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German Pages [664] Year 2016
Studien zur Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftspolitik Herausgegeben von Herbert Matis und Roman Sandgruber
Band 9
Fritz Weber
VOR DEM GROSSEN KRACH Österreichs Bankwesen der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe
2016
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Veröffentlicht mit der Unterstützung durch : Bank Austria MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der WU Wirtschaftsuniversität Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat : Andrea Traxler, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung : Balto Print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-78790-7
Inhalt Vorwort von Hannes Androsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Krise in Permanenz. Österreichs Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit . . . . 5 II. Zerfall der Monarchie und Inflation. Die Bankenkrise beginnt. . 1. Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation . 2. Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung . . . . . . . . 3. Die Banken im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Wiener Großbanken und das Ende der Monarchie . . .
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5. Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6. Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 7. Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung .. . . . . . . . . . . . . . . 147 III. Die goldenen 20er-Jahre.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929 . . . . . 174
2. Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung . 4. Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929 . . . . . . . . . . 5. Die Ära der Fusionen beginnt. Die Großbankfusionen der Jahre 1926 und 1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 204 . . 223 . . 257 . . 287
IV. Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert.. . . . . . . . 315
2. Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank und die Probleme des Industriekonzerns der Bank. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die drei großen Debitoren der »Boden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Ende der Boden-Credit-Anstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Auswirkungen der Fusion auf die Creditanstalt . . . . . . . . . . . .
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V. Die Krise der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe . . . 404
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Inhalt
1. Die große Depression in Österreich 1929 . . . . . . . . . . . . 2. Die Krise der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe. . . . . 3. Die Sanierung der Creditanstalt. Von der Staatshilfe über die Staatshaftung zur Staatsbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Diskussion um die Ursachen der Krise . . . . . . . . . . . 5. Die tieferen Wurzeln der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Die Folgen der Krise der Creditanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 1. Die große Bankfusion des Jahres 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
2. Brachiale Budgetsanierung und wirtschaftliche Ödnis als Nährboden für den »Anschluß«.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 Nachwort des Reihen-Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . I. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . II. Gedruckte Quellen. . . . . . . . . . . . III. Statistiken und Dokumentationen.. . IV. Zeitungen und Zeitschriften . . . . . .
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V. Bücher, Artikel in Sammelwerken, wissenschaftliche Artikel in Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 VI. Artikel in zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . 609 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Diagrammverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 Abkürzungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
Hannes Androsch Bundesminister für Finanzen (1970–81) und Vizekanzler (1976–81) in den Regierungen Kreisky I bis IV. Stellvertretender (1. 2.–30. 6. 1981) und dann bis 31. 1. 1988 Generaldirektor der Creditanstalt.
Vorwort Betrachtungen über Werden, Wirken und Verschwinden der Creditanstalt, und warum Geschichts- wie Zukunftsvergessenheit wirtschafts- und gesellschaftspolitische Kardinalsünden sind »Der Zustand des Geldwesens eines Volkes ist Symptom aller seiner Zustände.«
So urteilte Joseph A. Schumpeter in seiner Schrift »Das Wesen des Geldes«. Und, so könnte man hinzufügen, die Banken sind ihre Scharniere. Schumpeter war nicht nur ein bedeutender Theoretiker, sondern verfügte auch über einen praktischen Erfahrungsschatz, war er doch im Kabinett Renner II Staatssekretär für Finanzen (15. März bis 17. Oktober 1919) und Präsident der M. L. Biedermann & Co. Bankaktiengesellschaft, der er drei Jahre vorstand, ehe er sie 1924 im Zuge der Nachkriegswirren in die Pleite schicken musste. Trotzdem blieb er einer der meistumworbenen Ökonomen seiner Zeit und folgte 1932 einem Ruf nach Harvard, wo spätere Wissenschaftler von Weltruf wie Paul A. Samuelson oder James Tobin zu seinen Studenten zählten. Banken sind aufgrund der reziproken Beziehungen mit Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nicht nur Seismografen, sondern oft auch Katalysatoren für wichtige Ereignisse des Zeitgeschehens. Zum eindrucksvollen Beweis steht dafür die Creditanstalt, die einst führende österreichische Bank mit ihrer wechselvollen Geschichte, deren Ende fast 142 Jahre nach ihrer Gründung durch den Verkauf an die Bank Austria im Jahr 1997 besiegelt wurde. Ein österreichisches Paradoxon, ermöglicht durch schnöde Zukunftsvergessenheit, politisches Desinteresse und falschen persönlichen Ehrgeiz. Die Gründung der Bank erfolgte am 31. Oktober 1855, in der Hoch-Zeit der ersten industriellen Revolution als »kk privilegierte Creditanstalt für Handel und Gewerbe«. Am 1. Februar 1856 eröffnete die Creditanstalt ihre Schalter und nahm mit 17 Beamten, drei Skontisten und zwei Bürodienern ihre Geschäftstätigkeit im Hotel »Zum Römischen Kaiser« (heute Renngasse 1 im ersten Wiener Gemeindebezirk) auf. Die wirtschaftlichen Probleme nach dem Ersten Weltkrieg und die vom New Yorker
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Vorwort
Börsenkrach ausgelöste Weltwirtschaftskrise brachten die Bank in eine schwere Schieflage und führten neben anderen Zu-Fusionen – 1926 Übernahme der »Anglo-Österreichischen Bank« und 1929 der »Allgemeinen Bodencreditanstalt« im Jahr 1934 – zu einem Zusammenschluss mit dem »Wiener Bankverein«, was sich auch in der neuen Namensgebung »Österreichische Creditanstalt – Wiener Bankverein« niederschlug. Die in der Ringstraßenzeit Ecke Schottenring/ Schottengasse errichtete Unternehmenszentrale des »Wiener Bankvereins« wurde zum neuen Stammsitz der Bank, der Zeit ihres Bestehens im Gegensatz zur Namensgebung nicht mehr verändert werden sollte. Die während des NS-Regimes im Jahr 1939 erfolgte Umbenennung in »Creditanstalt-Bankverein« blieb auch in der Zweiten Republik bestehen, für die Bank selbst wurden im Zuge neuer Marketing-Strategien ab den späten 1970er-Jahren die Kürzel »CA-BV« und dann nur mehr »CA« geläufig. (In der Folge wird für die Bank auch die Bezeichnung »Creditanstalt« oder das Kürzel »CA« verwendet.) 1997 kam es zur Privatisierung der mehrheitlichen Bundesanteile der Creditanstalt (69,45 Prozent der Stimmrechte). Diese wurden an die »Bank Austria« veräußert, die ihrerseits sechs Jahre zuvor, 1991, aus der Fusion der »Zentralsparkasse der Stadt Wien« mit der staatlichen »Länderbank AG« hervorgegangen war. Der von der »Bank Austria« erlegte Kaufpreis lag mit 17,2 Milliarden Schilling deutlich unter dem Anteilswert, der zumindest 24 Milliarden Schilling ausmachte, jedoch weit über dem Anbot von acht Milliarden Schilling, das die Interessentengruppe um CA-Generaldirektor Guido Schmidt-Chiari geboten hatte. Der damalige mit der Privatisierung der Bundesanteile der Bank befasste Finanzminister Viktor Klima, der den Verkaufserlös für den Beitritt Österreichs zur Europäischen Währungsunion und die Erfüllung der dafür erforderlichen Kriterien benötigte, hätte sich mit einem Erlös von zwölf Milliarden Schilling zufrieden gezeigt. Die »CA« wurde zur Tochter der »Bank Austria«. Nach deren Verkauf im Jahr 2001 an die »Bayerische Hypo- und Vereinsbank« (HVB) wurde die »Bank Austria« (BA) mit der »Creditanstalt-Bankverein« (CA) zur »Bank Austria Creditanstalt« (BA-CA) verschmolzen. Hinter dem Verkauf der BA an die HVB stand das ehrgeizige Bestreben von BA-Chef Gerhard Randa, sicherlich aber auch die Notwendigkeit, die für Österreich zu große Bankenkonstruktion zu internationalisieren. Das Zusammengehen mit der HVB wurde erreicht, indem bei der Gemeinde Wien Angst vor dem Schlagendwerden der von ihr eingegangenen Haftungen für die »Zentralsparkasse und Kommerzialbank« (Z) gemacht wurde. Der Vertragsabschluss erfolgte ohne hinreichende Prüfung (Due Diligence). Man stützte sich stattdessen auf eine »Fairness Opinion« von Goldman Sachs, die acht Seiten samt allen darin aufgelisteten Vorbehalten umfasste. Rasch stellte sich heraus, dass die HVB ein Sanierungsfall war, wodurch die österreichischen Aktionäre der BA 70 Prozent des Wertes ihrer Beteiligung verloren. Inzwischen ist dieser Verlust längst auf 90 Prozent
Vorwort
angestiegen. Die zunächst verfolgte Absicht der HVB, die BA nach außen hin weiterhin als selbstständig zu präsentieren und mit der CA eine Zwei-Marken-Strategie zu fahren, wurde durch die Übernahme der HVB durch die UniCredit im Jahr 2005 Makulatur. Diese ließ den Namen »Creditanstalt« aus dem Schriftzug der »Bank Austria« per Ende März 2008 entfernen. Durch diese Entscheidung der UniCredit, inzwischen nicht nur eine der problematischsten Banken Italiens, sondern Europas, wurde die Creditanstalt endgültig aus der öffentlichen Wahrnehmung eliminiert. Mit ihrem Untergang erfuhr die CA ein ähnlich trauriges Schicksal aus Unvermögen und Unverstand wie ihr einstiger ideeller Gründer Karl Ludwig Freiherr von Bruck. Das österreichische Schicksal von Karl Ludwig Freiherr von Bruck, Spiritus Rektor der Creditanstalt und Vorkämpfer für Freihandel
Der mit kaiserlichem Handschreiben 1855 zum Finanzminister berufene Karl Ludwig Freiherr von Bruck, ein gebürtiger bürgerlicher Protestant aus dem Rheinland, war der eigentliche Initiator für die am 31. Oktober 1855 von Anselm Salomon Freiherr von Rothschild erfolgten Gründung der »k. k. privilegierten Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe«. Mit dem Haus Rothschild stand Bruck seit seiner Tätigkeit in der sich damals noch in österreichischer Hand befindlichen Hafenstadt Triest in engem Kontakt. Dort hatte Bruck nach dem Vorbild des Londoner Lloyd ein Versicherungsunternehmen mitbegründet, aus dem später der Österreichische Lloyd hervorging. Die Creditanstalt, die 15 Jahre vor der »Deutschen Bank« und 25 Jahre vor der »Österreichischen Länderbank« mit einem für die damalige Zeit enorm hohen Grundkapital von 60 Millionen Gulden gegründet wurde, sollte sich in ihrer fast 142-jährigen Geschichte zu einer Top-Adresse in der internationalen Bankenlandschaft entwickeln : Von der »Rothschild-Bank« zur »Bank zum Erfolg« und zur »monetären Visitenkarte Österreichs«. Auf das neue Bankhaus nahm Bruck großen Einfluss, er bestimmte über dessen leitenden Direktor, Franz Richter, einen großen Teil der Tätigkeit mit, die mit dem ausdrücklichen Auftrag zur Industriefinanzierung verbunden war. Diese bildete auch die Wurzel für seinen späteren umfangreichen industriellen Beteiligungsbesitz. Einer der Tätigkeitsschwerpunkte der neuen Bank war die Verdichtung des Eisenbahnnetzes im Sinne der von Bruck maßgeblich mitgetragenen Bestrebungen, die wirtschaftliche Modernisierung des Landes voranzutreiben. Diese suchte Bruck auch durch Investitionen in die Bildung, wie etwa durch Ausbau und Verbesserung des landwirtschaftlichen Schulwesens, zu beschleunigen.
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Vorwort
Übergeordnetes Ziel von Bruck war bei diesen Bemühungen, der österreichischen Monarchie eine wirtschaftliche Vorrangstellung zu verschaffen. Dieser Vorgabe hatte er sich zuvor bereits als Minister des im Revolutionsjahr neu gegründeten Handelsressorts im Kabinett von Felix Fürst zu Schwarzenberg verschrieben. An dem von Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg verfolgten Projekt – der Schaffung eines einheitlichen, 70 Millionen Menschen umfassenden Wirtschaftsgebietes in Europa –, arbeitete Bruck mit seinen Ideen und zahlreichen Ausarbeitungen federführend mit. Als Zentrum war der während des Wiener Kongresses gegründete und unter dem Vorsitz von Österreich stehende Deutsche Bund vorgesehen. Dieses Vorhaben, das auch die damals von Österreich beherrschten oberitalienischen Gebiete umfassen hätte sollen, scheiterten am frühen Tod von Fürst Schwarzenberg, der zunehmenden außenpolitischen Isolierung Österreichs, der wachsenden Konkurrenzsituation mit Preußen, aber auch an dem kurzsichtigen innerösterreichischen Widerstand protektionistisch gesinnter Kreise sowie der permanenten Überforderung der wirtschaftlichen Leistungskraft des Landes. Diese hatte bereits 1811 zum Staatsbankrott geführt. 44 Jahre später waren die Staatsfinanzen erneut gefährlich zerrüttet und Bruck wurde daher zum k. k. Finanzminister berufen. Sein Sanierungswerk, in dem die Gründung der Creditanstalt nur ein, wenn auch zentraler Bestandteil war, fußte auf der Überzeugung, dass die Gesundung der Staatsfinanzen nur über den Weg von wirtschaftlichem Wachstum, strukturellen Reformen und einer tief greifenden Modernisierung der Wirtschaft erfolgen könne. Ein Konzept, das für Österreich auch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts neuerlich von vordringlicher Aktualität wäre. Obwohl 1857 ein weltwirtschaftliches Krisenjahr war, begann das Sanierungskonzept von Bruck zu greifen. Dazu trug auch die von der Habsburger Monarchie eingenomme Haltung der bewaffneten Neutralität während der Krimkriege bei, die allerdings auf dem politischen Parkett die Beendigung der guten Beziehungen mit dem russischen Zarenreich bewirkte. Die Vollendung seines Sanierungswerks sollte Bruck, der als einer der größten Staatsmänner der österreichischen Finanz- und Wirtschaftsgeschichte gilt (Helmut Haschek), aber nicht vergönnt sein. Ein neuerlicher Krieg, in dessen Gefolge Österreich den Großteil seiner norditalienischen Besitzungen verlor, hatte nicht nur für die Staatsfinanzen fatale Folgen. Österreich wollte durch den Krieg die Unterstützung italienischer Freiheitskämpfer durch das Königreich Piemont-Sardinien sanktionieren. Als dessen Verbündeter Frankreich mit in den Krieg eintrat eskalierte der Krieg. In den verheerenden Schlachten bei Magenta (4. Juni) und Solferino (24. Juni) 1859, die den aus der Schweiz stammenden Augenzeugen Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes veranlassten, entschied sich die Niederlage Österreichs und leitete den
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Abstieg als Großmacht ein. Die Kosten des verlorenen Krieges brachten Österreich erneut an den Rand eines Staatsbankrotts. Die Verantwortung für die Niederlage hatte Kaiser Franz Joseph sowohl als Außenpolitiker als auch als oberster Feldherr persönlich zu tragen. Um von diesem Umstand abzulenken, wurde ein Karussell von Schuldzuweisungen in Gang gesetzt, die auch vor Bruck nicht haltmachten. Feinde von Bruck aus der erzkonservativen Militär aristokratie nutzten die Gelegenheit der »Affäre Eynatten«, um den erfolgreichen, aber auch in der Verfolgung seiner Ziele unbequemen Aufsteiger mit einer Intrige zu Fall zu bringen. Baron Eynatten, der für die Versorgung der Südarmee u. a. mit Vieh für die Fleischversorgung, Getreide und Wein verantwortlich war, wurde hoher Unterschlagungen mit der Konsequenz des Hauptverschuldens an der militärischen Niederlage in Italien bezichtigt. Da Franz Richter, Hauptdirektor und Protegé Brucks in der »k. k. privilegierten Creditanstalt für Handel und Gewerbe« den unter notorischem Geldmangel leidenden Eynatten bei dessen Bankgeschäften unterstützt hatte, wurde dieser gemeinsam mit einer Reihe von Triestiner Kaufleuten, die mit Bruck verkehrt hatten, in Untersuchungshaft genommen. Bruck selbst musste sich einem Verhör unterziehen. In einem in der Wiener Zeitung lancierten Bericht wurde er als Beschuldigter und nicht als Auskunftsperson angeführt, was von der Regierung berichtigt werden musste. Am Tag nach seiner Einvernahme durch den Untersuchungsrichter im Finanzministerium hatte Bruck eine Audienz beim Kaiser. Aus den bezeugten Umständen ist zu entnehmen, dass der Kaiser, so Bruck überhaupt ein Demissionsansuchen gestellt hatte, dieses nicht akzeptiert haben dürfte. Bruck schied in bestem Einvernehmen mit dem Herrscher. Einen Tag später, am Sonntag, den 22. April 1860, erhielt Bruck spätabends ein versiegeltes Schreiben des Kaisers zugestellt, in dem ihm dieser seine Entlassung aus dem Kabinett mitteilte. Bruck, der bei Erhalt dieser Nachricht zusammengebrochen war, nahm sich in derselben Nacht das Leben. Die wenig später erfolgte Rehabilitierung kam für ihn zu spät. Bezeichnend ist die Reaktion des Kaisers nach der vollständigen Rehabilitierung einer der fähigsten Wirtschafts- und Finanzminister. Er ließ der Witwe mitteilen, dass »Seine Majestät sich bewogen befunden, Euer Exzellenz eine Pension im Betrage von jährlich 3.000 Gulden zu bewilligen«. Der sprichwörtliche Dank des Hauses Habsburg bestand ausschließlich darin, etwas zu bewilligen, was der Witwe ohnehin zustand. Eine durchgreifende Sanierung der Staatsfinanzen, das ehrgeizige, durch seinen frühen Tod zunichtegemachte Ziel von Bruck, konnte bis zum Ende der Donaumonarchie nie erreicht werden. Und so kehrt die Geschichte gegenwärtig aktuell wieder. Der spanische Philosoph George Santayana meinte einmal : »Diejenigen, die sich nicht der Vergangenheit erinnern, sind verurteilt, sie erneut zu durchleben.« Auch in der Verkennung der Vorteile von Zollabbau und Freihandelsabkommen scheinen sich
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verhängnisvolle Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wie die TTIP-Diskussion verdeutlicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheiterten die von Freiherr von Bruck unterstützten Bemühungen einer österreichisch-deutschen Zoll- und Handelseinigung am Widerstand Preußens. Dort wurden die Vorteile einer solchen Politik für Österreich klarer erkannt als von den maßgeblichen Kreisen in Österreich, die zudem mehrheitlich jeder Verstärkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs feindlich gegenüberstanden. Als Preußen im Jahr 1862 mit Frankreich ein liberales Meistbegünstigungsabkommen abschloss, erlitt die Habsburgermonarchie vier Jahre vor ihrer militärisch-politischen Niederlage bereits ihr »wirtschaftliches Königgrätz« (Heinrich Benedikt). Im zweiten Dezennium des 21. Jahrhunderts droht erneut eine schwerwiegende Verkennung dringend benötigter wirtschaftlicher Chancen, sollte das bereits 2014 ausverhandelte, aber noch vom Europäischen Parlament zu beschließende Wirtschafts- und Freihandelsabkommen CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) zwischen der EU und Kanada oder das noch in Verhandlung stehende Abkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) zwischen der EU und den USA letztlich kippen. Der Preis wäre für die EU und im Speziellen auch für Österreich angesichts ohnehin anämischen Wachstums und ansteigender Arbeitslosigkeit hoch, würde die mit angstmachenden Parolen und schrebergartengetriebenen Vorurteilen agierende Gegnerschaft die Oberhand gewinnen. Wie die Geschichte zeigt, beleben Freihandelsabkommen die Wirtschaft. Isolierung und Autarkiestreben bewirken genau das Gegenteil. Zum Beweis dafür stehen die Länder des Sowjet-Imperiums, China oder Indien vor ihrer Öffnung. Möglichst freie Handelsmöglichkeiten – wie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg – bezeugen hingegen positive Wirkungen. So haben der nach 1945 im westlichen Bereich zunehmend liberalere Welthandel sowie die europäische Integration den Wohlstand in Europa maßgeblich gefördert. Ein solcher Effekt ist insbesondere auch von dem seit 2013 von der EU mit den USA verhandelten Freihandelsabkommen TTIP zu erwarten. Dieses stößt aber in den USA und in der EU, vor allem in Luxemburg, Österreich und Deutschland, auf lautstarke Kritik. In den USA geht die Angst vor einer übermächtigen Konkurrenz und Jobverlust um, in Europa vor einer Unterwanderung der Standards. Dabei feiert der politische Opportunismus mit antikapitalistischen und antiamerikanischen Klischees auf unheilvolle Weise fröhliche Urstände. Das Argument der TTIP-Gegner, die Europäer würden sich damit zum willfährigen Opfer amerikanischer Überlegenheit machen, ist Ausdruck einer Selbstverzwergung, würde dies doch bedeuten, dass die EU mit ihren 28 Mitgliedern (2016) und
Vorwort
über 500 Millionen Einwohnern als hoch entwickelte und den USA ebenbürtige Volkswirtschaft der freien Konkurrenz mit den USA nicht gewachsen wäre. Das beinhaltet zugleich eine fatale Einschätzung der Zukunftsfähigkeit Europas. Warum sollten europäische Produkte global nachgefragt werden, wenn Europa selbst die Einschätzung vorgibt, dass diese mit amerikanischen nicht mithalten können? Zudem wird von den TTIP-Gegnern verschwiegen, dass Schutzbestimmungen zumeist dem getarnten Schutz heimischer Industrien vor unliebsamer Konkurrenz dienen. Dies allerdings zum Nachteil der Verbraucher und zum Schaden aufstrebender Länder, für die der freie Handel den Weg aus der Armut erst möglich gemacht hat. Und letztlich auch zum Schaden der protektionistisch geschützten Länder, da die Folgekosten für einen auf diese Weise umgangenen Strukturwandel in der Regel später umso höher zu Buche schlagen. Es widerspricht auch jeder empirischen Evidenz, dass ein Freihandelsabkommen mit den USA die Arbeitslosigkeit in Europa automatisch erhöhen würde. Aus dem 1989 zwischen den USA und Kanada abgeschlossenen Freihandelsabkommen – dieses wurde 1994 mit Mexiko zur NAFTA (North American Free Trade Agreement) erweitert –, lassen sich für TTIP keine Schlussfolgerungen für eine Aushebelung von bestehenden Standards für Verbraucherschutz, die Umwelt oder Sozialstandards ableiten. Die von Kanada gemachten Erfahrungen lassen es aber als ratsam erscheinen, Regelungen für öffentliche Auftragsvergaben und Einwanderungsbestimmungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und bei Schiedsgerichtsverfahren danach zu trachten, juristische Spitzfindigkeiten zu vermeiden. Wie selbstverständlich die Vereinbarung solcher Verfahren auf bilateraler Ebene inzwischen geworden ist, verdeutlichen die weltweit etwa 1.500 Investitionsschutzabkommen mit Schiedsgerichten, die bestens funktionieren. Alle wirtschaftshistorischen Beispiele zeigen, dass freier Handel wirtschaftliche Prosperität fördert, die Arbeitslosigkeit verringert und den Wohlstand erhöht. Für diese Erfahrung stehen in Europa auch die im Vorfeld der EU abgeschlossenen Freihandelsvereinbarungen und zuletzt die im Zuge der Ostöffnung abgebauten Handelsbarrieren zum Beweis. Daher eröffnen sich durch TTIP für die wirtschaftliche Entwicklung der EU und ihrer einzelnen Mitgliedsstaaten dringend benötigte Chancen. Der sich immer deutlicher abzeichnenden Schwerpunktverlagerung der wirtschaftlichen Dynamik in andere Teile der Welt muss Europa mit einer Doppelstrategie entgegenwirken : Verdichtung der Integration und Schaffung eines transatlantischen Wirtschaftsraumes. Die große Gefahr bei den TTIP-Vertragsverhandlungen besteht daher darin, dass am Ende nicht zu viel, sondern zu wenig Freihandel erzielt werden würde. Zudem besteht beim Scheitern dieses Projekts die Gefahr, dass dann die von den USA mit Asien ausverhandelten Bestimmungen sämtliche Handelsbedingungen mit den USA vorgeben würden, was die Position der europäischen Wirtschaft auf
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diesem wichtigen Markt, auf den rund 20 Prozent der EU-weiten Exporte entfallen, erheblich schwächen würde. Die Vereinigten Staaten sind das wichtigste Exportland für die EU, noch vor China und der Schweiz. Auch für die Vereinigten Staaten ist die EU wichtigster Handelspartner, vor Kanada und China. Wie wichtig eine weitere Vertiefung der transatlantischen Kooperationen auch für die Vermeidung von Krisen ist, wurde nach der Lehman-Pleite deutlich. Der Schwarze Freitag 1929 und die von der Creditanstalt ausgelöste Bankenkrise 1931 – Lehrbeispiele für 9/15?
Ein italienisches Sprichwort besagt : »Der Kluge horcht in die Vergangenheit, denkt an die Zukunft und handelt in der Gegenwart.« Angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklung scheinen die Lehren aus den vergangenen Finanzkrisen allerdings nur ungenügend gezogen worden zu sein. Die dramatische Entwicklung der Creditanstalt, ihre am 11. Mai 1931 erreichte Zahlungsunfähigkeit, die eine Bankenkrise in ganz Mitteleuropa nach sich zog, ihre Notverstaatlichung – »too big to fail« – und ihre Sanierung, die das klein und zum Armenhaus Europas gewordene Österreich auf das Schwerste belastete, werden in der nunmehr veröffentlichten Habilitationsschrift von Fritz Weber eingehend beschrieben. Ebenso sei in diesem Zusammenhang auf das 1968 erschienene Werk von Karl Ausch »Als die Banken fielen« verwiesen. Beide Publikationen haben durch die von der Lehman-Pleite am 15. September 2008 ausgelöste schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit eine hoch aktuelle Dimension erhalten. Es hat den Anschein, als ob von den durch das Lehman-Momentum ausgelösten Folgewirkungen eine stärkere und weitreichendere Zäsur für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte ausgeht als von der Katastrophe 9/11, der terroristischen Zerstörung der Zwillingstürme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001. In Europa hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein Jahrzehnt mit so schwachem Wachstum wie seit 2007 gegeben. Dies trifft insbesondere für Österreich mit dem schwächsten Wirtschaftswachstum in der Eurozone zu. Von den Eurokrisenländern hat bis 2016 nur Irland das Vor-Krisenniveau des Bruttoinlandsprodukts von 2007 wieder erreicht. Im Euro-Währungsraum insgesamt lag die Wirtschaftsleistung weniger als zwei Prozent über dem Niveau vor der Pleite des Bankhauses Lehman Brothers. In Österreich hat die Investitionstätigkeit seither noch nicht das Niveau von vor 2008 erreicht. Zugleich scheint die Welt aus den Fugen zu geraten. Der Konjunkturmotor in China und den aufstrebenden Schwellenländern stottert, die Öl- und Rohstoffpreise fallen, zwischen Ost und West droht nach der Krim-, der Ukraine-Krise und dem Aufeinanderprallen der Interessen der ehemaligen beiden
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Supermächte in Syrien ein neuer Kalter Krieg. Im Nahen Osten und in Afrika lodert die Gefahr eines kriegerischen Flächenbrands. Eine neue Völkerwanderung hat eingesetzt. Weltweit sind fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Zerstörungen und radikalislamischem Terrorismus, aber auch vor Dürre oder der Suche nach besseren Lebenschancen als Wirtschaftsflüchtlinge. Auf diese Herausforderung hat sich die EU nicht vorbereitet, obwohl sich diese Entwicklung längst abgezeichnet hatte und die Nachrichtendienste davor gewarnt hatten. Die Aufnahmebereitschaft wurde zunehmend von Verdrängungs-, Abstiegs- oder Überfremdungsängsten, aber auch von Angst vor Terroranschlägen überlagert. Die Chancen der Zuwanderung für die zunehmend schrumpfende und überalterte Gesellschaft in Europa werden übergangen. Stattdessen wird in einer Festung Europa und nationalstaatlichen Wagenburgen etwa im Stil einer Alpenfestung und in einer Abschottung des Arbeitsmarkts Zuflucht gesucht. Die Einschränkung von Freiheiten und die Aufgabe der Menschenrechte als Verrat der eigenen Werte können Sicherheit aber nicht erzwingen. Wer aussperrt, sperrt sich selbst auch aus. Ausländerfeindlichkeit ist keine Inländerfreundlichkeit, sondern schadet uns wirtschaftlich selbst. Letztlich wird sich die Flüchtlingsproblematik nur durch gesamteuropäische Konzepte, die auch die Berücksichtigung der Ursachen an den Entstehungswurzeln beinhalten müssen, gütlich regeln lassen. »We have nothing to fear but fear itself«, mahnte Franklin Roosevelt in seiner Inaugurationsrede als 32. Präsident der USA am 4. März 1933. Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Dieses Schicksal droht der EU nicht nur durch Grexit und Brexit, sondern auch durch eine Festung Europa hinter Zäunen und Mauern, durch mangelnde Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen sowie der Mitwirkung an gemeinsamen Lösungsansätzen zur Bekämpfung der Ursachen. Wenn Europa auf der Weltbühne nicht Spielball, sondern Mitspieler sein will, dann müssen sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik verständigen. Dann darf Europa, das wirtschaftlich ein Riese ist, außenpolitisch nicht länger ein Zwerg und militärisch ein Wurm bleiben, wie es Egon Bahr einmal auf den Punkt gebracht hat. Der US-Starökonom Barry Eichengreen, Professor für Ökonomie und politische Wissenschaften an der University of California in Berkeley, beklagt, dass in den Wirtschaftswissenschaften die Geschichte oft vernachlässigt und angehenden Ökonomen zu wenig vermittelt wird. Auch wenn die Vergangenheit keine Lektionen bereithält, die man einfach in der Gegenwart umsetzen kann, so kann historisches Wissen dem besseren Verständnis aktueller Probleme dienlich und bei der Entwicklung neuer Lösungsansätze behilflich sein. Eichengreen, der in seinem Buch »Hall of Mirrors« das Verhalten von Notenbankern und Politikern während der Großen Depression mit der Finanzkrise 2008 verglichen hat, ist davon überzeugt, dass die Lehren aus 1929
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die amerikanische Zentralbank zum raschen Einschreiten nach 9/15 bewogen und so dafür sorgten, dass das weltweite Finanzsystem nicht kollabierte. 1929 wurde dies verabsäumt und die Leitzinsen wurden sogar erhöht, was sich als verhängnisvoller Fehler herausstellte. Andererseits war der Blick auf die Geschichte aber auch verengt, und man zog die falschen Lehren aus der Vergangenheit, als man zunächst glaubte, nur auf die großen Geschäftsbanken blicken zu müssen. Die Gefahren, die von Investmentbanken wie Lehman Brothers und Versicherungsfirmen wie AIG (American International Group, Inc.) ausgingen, wurden daher übersehen. Darum hat zunächst niemand vorausgeahnt, wie viel Unheil die Lehmann-Pleite letztlich anrichten würde. Von Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger und ehemaliger Chefökonom der Weltbank, stammt der Verweis, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzten starken staatlichen Rahmenbedingungen die Bildung größerer Spekulationsblasen verhinderten. 30 Jahre lang kam es zu keiner weltumspannenden Finanzkrise, bis die entsprechenden Vorschriften aufgrund der fälschlichen Annahme, die Märkte könnten sich selbst regulieren, unter Thatcher und Reagan aufgehoben wurden. Seit 1980 zählte Stiglitz weltweit rund 100 Krisen, was »the Masters of the Universe« aber nicht vom Glauben an die Selbstregulierungskräfte der Märkte abhielt. Die nach Lehman zugegebene Fehleinschätzung von Alan Greenspan kam zu spät. Die seit 2003 erhobenen Warnungen von William White, dem inzwischen verstorbenen Chefökonomen der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich), vor einem möglichen Platzen der Immobilienblase in den USA mit dem Gefahrenpotenzial unabsehbarer Folgen, blieben unbeachtet. Die tektonischen Wellen der Krise haben auch ökonomische Lehrsätze auf den Kopf gestellt. Die Volkswirtschaften der USA und Europas haben im Gegensatz zu früher mittlerweile nicht mehr mit zu hoher, sondern mit zu niedriger Inflation zu kämpfen. Eichengreen bezeichnet dieses Phänomen als »Mysterium« und eine Entwicklung, die wir jetzt noch nicht völlig verstehen und die uns erst kommende Historiker und Ökonomen erklären werden. So müssten etwa in Deutschland, wo die Arbeitslosigkeit auf einen sehr niedrigen Stand gesunken ist, die Löhne steigen, dann würden die Unternehmen die Preise für ihre Waren erhöhen, was eine Inflation in Gang setzen müsste. Aber dieser Zusammenhang scheint ausgehebelt. Ebenso der Automatismus, dass niedrige Zinsen als Stimulus für eine Ankurbelung der Investitionstätigkeit im privaten Sektor wirken. Die im April 2016 veröffentlichten Protokolle aus dem obersten Gremium der US-Notenbank enthüllten eine tiefe Verunsicherung über die Geldpolitik. Die einen wollen die Zinspolitik nach Jahren der Geldflutung wieder straffen, weil sie die Bildung einer neuen Finanzblase fürchten. Die anderen warnen vor Turbulenzen an den Finanzmärkten, wenn man das Geld wieder verteuert. In der Wirtschaftsgeschichte gibt es kein Vergleichsbeispiel für das jetzige Phä-
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nomen, dass Zinsen null oder negativ gewesen wären und Investoren derart orientierungslos nach Anlagemöglichkeiten gesucht hätten. Ohne Zinssignale wird auch die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Investitionen schwieriger, und es droht die Gefahr von massenhaften Fehlinvestitionen. Wenn ein solcher Boom zusammenbricht, so warnt Jaime Caruana, General Manager der BIZ, dann droht ein neuerlicher, noch massiverer wirtschaftlicher Absturz mit einer unvorhersehbar langen Talsohle und tiefen finanziellen Einschnitten mit entsprechenden Wohlstandsverlusten durch Bereinigung der Fehlinvestitionen. Die Nullzinspolitik der Notenbanken hat das Finanz- und Wirtschaftssystem in einen außerordentlichen Zustand versetzt. Weil die Regierungen nicht handeln, sind die Notenbanken monetärpolitisch gezwungen, alleine die Konjunktur zu steuern. Für Regierungen ist eine langfristige Nullzinspolitik durchaus bequem, denn Schulden und Schuldenmachen kosten fast nichts. Dennoch herrschen trotz Sparüberhang und Liquiditätsschwemmen privat wie öffentlich Investitionsschwächen bei gleichzeitiger Kreditklemme für Klein- und Mittelbetriebe. Die durch die Finanzkrise an die Oberfläche gespülte Schieflage der öffentlichen Haushalte wurde nicht eingedämmt, sondern hat sich in vielen Ländern, darunter auch Österreich, weiter verschärft. Angetrieben durch die weltweite ultraexpansive Geldpolitik ist die kumulierte Verschuldung der Weltwirtschaft deutlich höher als vor der letzten Krise. Trotzdem wurde das Ziel, mehr Kredite über billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen, nicht erreicht. Viele Unternehmen nutzten das billige Geld, statt zu investieren, etwa zum Rückkauf eigener Aktien. Zumeist aber blieb das Geld bei den Banken hängen. Vielleicht ist diese Entwicklung aber auch ein Anzeichen dafür, dass das in der Menschheitsgeschichte relativ junge Phänomen des wirtschaftlichen Wachstums möglicherweise seinen Zenit bereits wieder überschritten hat. Laut dem US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon fällt das durch die Erfindungen des Computerzeitalters generierte Wirtschaftswachstum im Vergleich zu den industriellen Wellen in der Zeitspanne von 1870 bis 1970 vergleichsweise gering aus. Und so geht Gordon davon aus, dass der scharfe Wachstumsrückgang der vergangenen 15 Jahre keine vorübergehende Krise, sondern ein Dauerphänomen ist, auf das wir uns einstellen müssen. In der öffentlichen Diskussion taucht auch immer häufiger die Überlegung der Notwendigkeit einer neuen Geldpolitik auf, wie etwa Vollgeld, wobei den Banken die Verpflichtung auferlegt würde, nur dann Kredite vergeben zu können, wenn sie im gleichen Ausmaß über Bargeldreserven verfügen. Ein Antrag auf eine entsprechende Volksabstimmung wurde in der Schweiz Ende 2015 eingebracht. Ebenfalls an Beachtung gewinnen Überlegungen zu Kryptogeld, also Geld, das im Gegensatz zu Zentralbankgeld ausschließlich durch Private geschöpft und in Form eines digi-
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talen Zahlungsmittels verwendet wird. Der seit 2009 gehandelte Bitcoin ist das erste, auf diese Weise öffentlich gehandelte Kryptogeld. Seither wurden zahlreiche weitere Kryptowährungen implementiert. Deren Gebrauchswert entsteht ausschließlich aus der Akzeptanz zwischen den Handelspartnern und den Vorteilen, die diese durch die Verwendung dieser Zahlungsform zu erkennen glauben. Die Sicherheit dieses digitalen Zahlungssystems soll durch die Prinzipien der Kryptografie gewährleistet werden. Die dafür entwickelte Blockchain-Technologie, die, vereinfacht ausgedrückt, ein Register für die Verzeichnung aller Transaktionen erstellt, das gleichzeitig von einer Vielzahl von Rechnern verwaltet wird, eröffnet für die Finanzwelt, aber auch für die staatlichen Behörden in puncto Sicherheit und lückenloser Nachvollziehbarkeit von Transaktionen neue Möglichkeiten. Allerdings hat die bisher einzige im großen Stil erprobte Blockchain-Technologie, die Digitalwährung Bitcoin, noch nicht annähernd die Kapazität, die etwa die Finanzwelt benötigt. Dennoch könnte die Technologie hinter der Digitalwährung Bitcoin die Welt der Finanzsysteme von Grund auf verändern. So etwa hat die polnische Regierung Anfang 2016 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um zu prüfen, wie die Bitcoin- und Blockchain-Technologie für die Digitalisierung von staatlichen Diensten eingesetzt werden kann. Ein praktisches Experiment startete die Stadt Zug in der Schweiz. Dort konnten in einem bis Ende 2016 befristeten Kontrollprojekt in der Zeit ab 1. Juli 2016 Gebühren bis zu 200 Franken mit Bitcoins beglichen werden. Es ist kein Zufall, dass Zug bei der staatlichen Anerkennung dieser kontrovers diskutierten Technologie eine Pioniertat setzte. In diesem Kanton haben sich inzwischen zahlreiche Firmen aus dem Bereich digitalisierter Finanzdienstleistungen und Blockchains angesiedelt, was Zug in Anlehnung an Silicon Valley in Kalifornien bereits die Bezeichnung »Crypto Valley am Zugersee« einbrachte. Das Vorpreschen der Behörden von Zug stieß aber auch auf geharnischte Kritik. Neben Befürchtungen der Untergrabung der Stellung des Bargeldes wurde der Stadt Zug auch die Untergrabung der Bundesverfassung vorgeworfen, da das Geldund Währungswesen in der alleinigen Kompetenz des Bundes liege. Wie immer das sehr eingeschränkte Experiment ausgehen wird, die Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Parallelwährungen hat neuen Auftrieb erhalten. Ungeachtet dessen wird eine der vordringlichen fiskalpolitischen Aufgaben die Bereinigung der Verwerfungen auf den Finanzmärkten und im Bereich der öffentlichen Haushalte bleiben. Dazu bedarf es der entsprechenden politischen Vorgaben samt dem erklärten Willen zu deren Umsetzung. Daran wird sich erweisen, ob die europäische Integration ihren Zenit schon überschritten hat oder die Kraft für eine fundamentale Neuausrichtung findet. Dazu bedarf es auch einer zukunftsstarken Wirtschafts- und Finanzpolitik samt einer wirksamen Strategie zur Bekämpfung der Schuldenkrise, ohne erneut in die Austeritätsfalle zu tappen. Dies erfordert eine Bud-
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getpolitik nach den Prinzipien Sparen, wo möglich, und Investieren, wo nötig. Also in die Zukunft und damit vorrangig in Bildung, Wissenschaft, Forschung und Innovationen. Dafür bedarf es als Vorleistung auch der Bereitstellung eines effizienten Finanz- und Kreditsektors mit Banken, die der Wirtschaft dienen und ihre Rolle als Scharniere im monetären Blutkreislauf wieder erfüllen. Eine EU-Reformagenda wird auch um einen Schuldenschnitt für Griechenland nicht umhinkommen, wofür inzwischen selbst vom Internationalen Währungsfonds immer deutlichere Signale ausgesendet werden. Den Gegnern sei die hellsichtige Warnung von John M. Keynes ins Gedächtnis gerufen, der als Berater der englischen Regierung vehement für die Beseitigung der bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg festgelegten Reparationszahlungen eintrat. Seine Warnungen blieben ohne Erfolg, Keynes legte daraufhin sein Mandat zurück. Die von ihm vorausgesagten politischen Folgen wurden bald bittere Wirklichkeit. Erinnert sei aber auch daran, dass Deutschland im 1953 abgeschlossenen Londoner Schuldenabkommen ein Nachlass von 62,6 Prozent und Österreich im selben Jahr im Abkommen von Rom ein noch höherer Schuldenschnitt, nämlich 71,5 Prozent der verbliebenen Vorkriegsschulden samt einer Verlängerung der Laufzeit eingeräumt worden war. Österreich tilgte die letzte Rate 1978. Schon im Alten Testament ist zurückgehend auf den Gesetzeskodex des babylonischen Königs Hamurabbi im Buch Levitikus nachzulesen, dass bei der Uneinbringbarkeit von Schulden auch die Gläubiger in die Pflicht zu nehmen sind. Daher war für Schulden, die auch nach fünfzig Jahren, im sogenannten »Jobeljahr«, nicht eintreibbar waren, ein Schuldenerlass vorgesehen (Levitikus 25, 8–38). Die wichtigste Währung ist Vertrauen. Infolge der krisenhaften Entwicklungen, aus der Politiker durch Populismus immer wieder Kapital zu schlagen versuchen, wird das Vertrauen der Bevölkerung in die EU und den Euro unterminiert. Wenn sich Europa politisch, wirtschaftlich, finanziell und sozial nicht selbst ruinieren möchte, bedarf es eines energischen Schulterschlusses der Reformer und statt bloßer Reformrhetorik einer Reformagenda samt deren strikter Umsetzung. Die USA hat die Krise nach 9/15 genutzt, um ihren Bankensektor zu reformieren. Die EU und ihre meisten Mitgliedsstaaten schieben diese Erledigung noch vor sich her. Dies gilt auch für Österreich, dessen gravierendste Probleme des Bankensektors sich zusätzlich zu den in Osteuropa angehäuften Klumpenrisken mit vier Worten zusammenfassen lassen : overbanked, overbranched, overstaffed and undercapitalized. Für die Möglichkeiten und Notwendigkeiten für eine erfolgreiche Restrukturierung bietet die Geschichte der Creditanstalt reiches Anschauungsmaterial, auch wenn diese keine Blaupausen sein können. Ebenso wie der je nach Gesichtspunkt als Austro-Keynesianismus oder Austro-Monetarismus bezeichnete pragmatische Policy
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Mix, mit dem Österreich die weltweite Rezession nach der Ölkrise in den 1970er-Jahren erfolgreich überwinden konnte, nicht auf andere Länder übertragbar war. Ein entsprechender von Frankreich unternommener Versuch scheiterte. Österreich aber brachte das auf das Land zugeschnittene Reformpaket mit dem Kern der Hartwährungspolitik und der damit verbundenen Strukturpeitsche auf die wirtschaftliche Überholspur. Diese wurde inzwischen gegen den Pannenstreifen eingetauscht, weil anstehende Reformen aufgeschoben, Regulierungen und Bürokratismus weiter ausgebaut und wichtige Investitionen in die Zukunft, also vor allem in Bildung, Wissenschaft und Forschung, unterblieben. »Wenn sich Fakten ändern, ändere ich meine Meinung« hat John Maynard Keynes einmal verlauten lassen. Ob primär die zeitlichen Umstände oder einzelne Persönlichkeiten für erfolgreiche Anpassungen bzw. Neuausrichtungen letztlich entscheidend sind, ist eine immer wieder diskutierte Frage. Die Eigentumsverhältnisse – privat oder Staat – können dabei durchaus von sekundärer Bedeutung sein, wie die Credit anstalt im Rückblick zeigt. Pragmatischer Dualismus : Staatliches Mehrheitseigentum und privatwirtschaftliches Handlungsprinzip
Nach der Notverstaatlichung in den Jahren 1931 bis 1933 waren die Republik Öster reich und ausländische Gläubiger die neuen Eigentümer der Creditanstalt. 1938, nach sieben schmerzhaften Jahren, war die redimensionierte Bank wieder ausreichend konsolidiert mit guten Zukunftsaussichten. Dies erweckte das Interesse des Dritten Reichs. Die Größe der Creditanstalt, ihr Filialnetz und ihre Beteiligungen ließen sie attraktiv für die deutsche Gesamtwirtschaftsplanung erscheinen. Insbesondere die Maschinen-, Metall- und Elektroindustrie, Berg- und Hüttenwerke sowie Unternehmen der Transportbranche standen ganz oben auf der Wunschliste der reichsdeutschen Wirtschaftsplaner. Nach der Annexion Österreichs musste die Bank aus ihrem Portefeuille 25, zum größten Teil wichtige Beteiligungen abtreten. Auf ähnliche Weise wurde dem Land unmittelbar nach dem Anschluss auch der Devisenund Goldschatz der Oesterreichischen Nationalbank, mit einem Wert von 2,7 Milliarden Schilling 18-mal größer als jener Deutschlands, entzogen und nach Berlin gebracht, wo er volle neun Monate die Finanzierung der deutschen Aufrüstung abdeckte. In Österreich brachte unterdessen der bayerische Hilfszug Lebensmittel zur Verteilung. Es bestand höchste Gefahr, dass die Bank von Hitlerdeutschland zur Gänze verein nahmt würde. Um die Erinnerung an ihren österreichischen Charakter auszulöschen, war ihr Name bereits 1939 auf »Creditanstalt-Bankverein« geändert worden. Es
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gelang jedoch Hermann J. Abs, Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Creditanstalt während des Zweiten Weltkriegs, gemeinsam mit Josef Joham, der vermutlich auch aufgrund seines guten Verhältnisses zu Abs im Vorstand der Creditanstalt verblieben war, die österreichische Bank in den Besitz der Deutschen Bank zu bringen. Nachdem die Deutsche Bank Ende 1938 von der Vereinigte-Industrie-Unternehmungen AG (VIAG) ein 25 %iges Aktienpaket der Creditanstalt erworben hatte, erreichte sie letztlich im Jahre 1942 die angepeilte Mehrheitsbeteiligung von 51 Prozent. Und es war in späteren Jahren auch Hermann J. Abs, der 1971 der Creditanstalt die Tür für den Beitritt zur EBICGruppe (European Banks International Company) und damit zur internationalen Banking Community öffnen sollte. Die dritte Persönlichkeit, die die Interessen des Erhalts der Eigenständigkeit der Creditanstalt mittrug, war der österreichische Rechtsanwalt und Wirtschaftsberater Kurt Grimm, über Jahrzehnte die Graue Eminenz der Bank. Bestens vernetzt, unterhielt er auch nach seiner Emigration in die Schweiz den Kontakt zu Joham und wohl auch zum amerikanischen Geheimdienst weiter aufrecht. 1945 wieder nach Wien zurückgekehrt, leistete Grimm als Konsulent wichtige Dienste für den Neustart der Bank. Diese öffnete nach nur dreimonatiger Unterbrechung am 3. Juli 1945 wieder ihre Schalter. Es war ein schwieriger Neubeginn, es mangelte an allem. Es gab keinen funktionsfähigen Kapitalmarkt zur Abdeckung selbst bescheidenster Investitionserfordernisse. Die Banken des Jahres 1945 waren praktisch illiquid und konkursreif. Pragmatische Überlegungen standen im Vordergrund politischen Handelns. Dringend benötigtes Aufbaukapital konnte nur im Wege über den Staat zur Verfügung gestellt werden. Mit dem von allen Parteien einstimmig beschlossenen Ersten Verstaatlichungsgesetz vom 26. Juli 1946 wechselten die Anteilsrechte an der Creditanstalt-Bankverein, der Österreichischen Länderbank, des ÖCI (Österreichisches Creditinstitut) sowie einer Reihe wichtiger Unternehmen aus Industrie und Gewerbe in das Eigentum der Republik Österreich. In deren Eigentum folgte mit einem weiteren Verstaatlichungsgesetz vom 26. März 1947 auch ein Großteil der Elektrizitätswirtschaft. Durch diese beiden Verstaatlichungen gelang es, große Teile des ehemaligen »Deutschen Eigentums« wieder in österreichische Hand zu überführen und eine Beschlagnahme durch die alliierten Besatzungsmächte tunlichst zu verhindern. Aufgrund dieser Ereignisse fand sich die Creditanstalt-Bankverein zum zweiten Mal in Staatsbesitz. Zwar kam es aufgrund der zwischen ÖVP und SPÖ in deren Koalitionsabkommen vom 4. Juli 1956 festgelegten Teilprivatisierung zu einem Verkauf von 40 Prozent des Aktienkapitals der Bank, nach der Platzierung von stimmrechtslosen Vorzugsaktien (30 Prozent des Grundkapitals) und zehn Prozent Stamm
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aktien hatte der Staat aber noch immer die Stimmenmehrheit. Trotzdem konnte die Creditanstalt-Bankverein den Zugewinn von fast 50.000 Aktionären verbuchen. Ein deutlicher Beweis für das hohe Standing und Vertrauen, welches der Bank in der Öffentlichkeit entgegenbracht wurde. Bei der Nachkriegsverstaatlichung in Österreich wurden zwar die Eigentumsverhältnisse verändert, nicht jedoch die privatrechtlichen Unternehmensformen. Dies war eine wichtige Voraussetzung für den Aufstieg der Creditanstalt, später vor allem unter dem öffentlichkeitswirksamen Kürzel »CA« bekannt, zur größten Bank des Landes mit beachtlicher nationaler und internationaler Reputation. In den 1970er-Jahren erlebte die Bank einen starken Wachstumsschub, der mit der Hinwendung zum Privatkundengeschäft, dem Ausbau des Filialnetzes und der Expansion auf dem internationalen Parkett einherging. Die vom Finanzminister durch Zuführung von Eigenmitteln ermöglichte Erhöhung des Grundkapitals von 1, 2 Milliarden Schilling auf 1,8 Milliarden Schilling im Jahr 1976 war dafür ebenso eine wichtige unterstützende Maßnahme wie die von ihm im Jahr 1977 in die Wege geleitete Liberalisierung der Zweigstellengründungen, womit für die CA der Grundstein zum Ausbau des Privatkundengeschäftes als Säule des Primärmittelaufkommens ermöglicht wurde. Neben der CA hat damals auch die Österreichische Länderbank eine Kapitalaufstockung des Bundes erhalten, was den Bundeskanzler zur Bemerkung veranlasste : »Für die Verstaatlichte hat der Finanzminister kein Geld, für seine Banken aber sehr wohl.« Der Ende der 1970er Jahre angefertigte Bericht des Rechnungshofes stellte der CA ein gutes Zeugnis aus. Dieses sollte sich aber bald als sonntägliche Beurteilung erweisen, weil die Industriebeteiligungen der Bank außen vor gelassen worden waren. Einige Firmen befanden sich aber in so kritischem Zustand, dass die Bank gefährdet war. Als kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 1981 der neue Generaldirektor von seinem Stellvertreter Guido Schmidt-Chiari nach seinem Eindruck über die Bank gefragt wurde, meinte Ersterer : »Die Bank steht besser da als ich vermutet hatte, aber die Industriebeteiligungen um vieles schlechter.« Die Sanierung der Konzernbetriebe : Hopp oder Dropp für die Bank
Die Rezession, die durch die beiden Erdölpreis-Krisen in den 1970er Jahren ausgelöst worden war, aber auch erhebliche Strukturprobleme schlecht geführter Unternehmen brachten auch einige Konzernbetriebe der CA in große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Lage war dramatisch, es mussten einschneidende Sanierungsschritte gesetzt werden. Den Anfang machte Semperit, dann folgten Andritz, die Steyr-DaimlerPuch AG, die Maschinenfabrik Heid AG und die Stölzle-Oberglas AG.
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1981 berichtete der Bankvorstand seinem Aufsichtsrat über die drohende Semperit-Pleite sowie die ernste Lage der übrigen Konzernunternehmen. Der Vorsitzende des Vorstands ließ sich vom Aufsichtsgremium zur Änderung des beteiligungspolitischen Konzepts der Bank und Umsetzung der notwendigen Sanierungsschritte durch Fusionen, Beteiligungsabgaben, Verkäufe oder notfalls auch Betriebsschließungen ermächtigen. Es bestand Gefahr im Verzug, denn die Verlustsituation bei Semperit, Steyr und Andritz bedrohte die Bank selbst. Die hauseigenen Ressourcen reichten zur Bewältigung der drohenden Illiquidität der Unternehmen nicht aus, es wurde ein Mittelzuschuss des Eigentümers Staat in Höhe von rund zehn Milliarden Schilling benötigt. Darüber hinaus galt es, die politischen Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass die Probleme bestimmter Unternehmen des Creditanstalt-Konzerns nur in den jeweiligen Unternehmen selbst zu lösen und von der Bank zu trennen waren. Im September 1983 wurde der damalige Finanzminister schriftlich mit Brief und Memorandum über die Situation des Konzerns informiert, verbunden mit dem Ersuchen um finanzielle Unterstützung bei der Problembewältigung bei Semperit, Steyr und Andritz. Diesem Ersuchen wurde schließlich am 6. November 1985 mit dem von allen im Nationalrat vertretenen Parteien beschlossenen Bundesgesetz (BGBl. Nr. 484) entsprochen, welches die Republik Österreich zur Leistung eines Gesellschafterzuschusses in Höhe von 7,3 Milliarden Schilling verpflichtete. Damit war die finanzielle Basis für die Umsetzung der bis 1987 weitgehend erledigten Sanierung des CA-Konzerns gelegt. Ein Mitglied des Vorstands der CA meinte daraufhin : »Herr Generaldirektor, ich danke Ihnen, Sie haben meine Pension gerettet.« Diese Stellungnahme fasste besser als großartige Analysen in einem Satz zusammen, wie sehr die Zukunft der Creditanstalt damals auf Messers Schneide stand. Die Sanierungsschritte erfolgten mit gewerkschaftlicher Rückendeckung und großer Kooperation der Belegschaftsvertretungen. Einige Beteiligungen wurden verkauft, wie etwa die Reifensparte von Semperit an den deutschen Conti-Konzern. Insgesamt wurden bis 1988 zwei Dutzend Firmen, die nichts mit dem Bankgeschäft zu tun hatten, an interessierte Firmen veräußert, die eine Weiterführung ermöglichten. Gemäß dem Credo »Industrielle sollen Betriebe führen, Banker die Bank« wurde im Zuge der Restrukturierung auch ein neues unternehmerisches Selbstverständnis entwickelt. In dem zum Jahresbeginn 1988 vorgelegten Prüfbericht des Rechnungshofes, der diesmal die Bank und ihre Konzernunternehmen umfasste, wurde die erfolgreiche Sanierung entgegen der sonst vom Rechnungshof geübten Praxis ausdrücklich hervorgehoben : »Der Bankvorstand unter seinem ab 1981 bestellten Vorstandsvorsitzenden legte als Schwerpunkt seines beteiligungspolitischen Konzepts fest, betriebswirtschaftliche Überlegungen bei notwendigen Sanierungen von Beteiligungsunternehmen vorrangig zu beachten … sie konnten in ihrer Gesamtheit nach vielen Jahren erstmals ein
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positives Unternehmensergebnis verzeichnen … dem Bankvorstand ist es gelungen, eine Vielzahl der zum Beginn des Prüfungszeitraums vorhandenen, notleidend gewordenen Beteiligungsunternehmen erfolgreich zu sanieren.« Viele der in den 1980er-Jahren verkauften CA-Konzernbetriebe sind bis heute erfolgreich am Markt tätig. Dieser Befund gilt auch für eine Reihe ehemaliger verstaatlichter Betriebe wie etwa die VOEST oder Böhler Uddeholm. Allerdings haben sich die untauglichen, auf den Erhalt des Status quo ausgerichteten Rettungsversuche der Verstaatlichten Industrie tief in das kollektive Gedächtnis Österreichs eingebrannt. Diese erforderten alleine in den Jahren zwischen 1981 und 1983 staatliche Zuschüsse in Höhe von über 20 Milliarden Schilling und kosteten den österreichischen Steuerzahler insgesamt rund 100 Milliarden Schilling. Dennoch gingen 90.000 Arbeitsplätze verloren. Die konträren Auffassungen über die Währungspolitik und die Lösung der Probleme der Verstaatlichten Industrie haben zum Zerwürfnis des damaligen Bundeskanzlers mit seinem Finanzminister und Vizekanzler beigetragen. Unterschiedliche Ausrichtungen gab es auch bei den Weichenstellungen für eine künftige Pensions- und Energiepolitik. Bei letzterer konnte der Finanzminister die von ihm verfolgte Linie der Hartwährungspolitik durchsetzen, was den Kanzler zum Bruch bewog. Die später erfolgte erfolgreiche Sanierung des CA-Konzerns trug nicht dazu bei, diesen wieder zu kitten. Auch wurde der positive Rechnungshofbericht entgegen den sonst üblichen Gepflogenheiten nicht im Parlament behandelt. 1988 betrug der Wert des 60 %igen der Republik Österreich an der CA 54 Milliarden Schilling. Dieser hat sich bis 1997 auf 24 Milliarden Schilling verringert. Der von der Bank Austria dafür erlegte Kaufpreis, 17,16 Milliarden Schilling, lag damit erheblich unter dem eigentlichen Wert. »Die Bank zum Erfolg« und die »monetäre Visitenkarte Österreichs«
Parallel zur Sanierung der CA-Konzernbetriebe musste auch die Bank selbst auf die Erfordernisse der Zeit und die sich rasch ändernden globalen Rahmenbedingungen ausgerichtet werden. Die Vorgabe lautete : »Die CA ist zwar auch nur eine Bank, doch gerade darin soll sie sich von allen anderen unterscheiden.« Die Schwächen der Bank selbst lagen in einer nicht mehr zeitgemäßen Unternehmensorganisation, einer fast nur auf das Inland gerichteten Geschäftstätigkeit, mangelnden Primäreinlagen sowie der Lösung des Funding-Problems. Zentrale Aufgaben waren daher u. a. der Verbesserung der Ertragskraft durch attraktive Produktinnovationen, Hinwendung zu Privatkunden, Aufbau eines flächendeckenden Außenstellennetzes, internationale Öffnung sowie substanzielle Investitionen in Personal, Ausbildung, Organisation, Automatisierung des Bankbetriebs und eine zielführende
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Kommunikation und Werbung, um ein Alleinstellungsmerkmal unter den Banken zu erreichen. Die Bank war solide und angesehen, wirkte mit ihrem noch aus der Vorkriegszeit stammenden Erscheinungsbild aber doch ein wenig verstaubt und altmodisch. Viele Baustellen, die einer dringenden Bearbeitung und Neuausrichtung bedurften. Wesentlich für den Erfolg waren die handelnden Menschen, die Mitarbeiter. Die Bank verfügte über eine hervorragende zweite Ebene : bestqualifiziert, hoch motiviert, top ausgebildet und kompetent. Das war die wirkliche Stärke der Bank, denn das bedeutete, dass auch die dritte und vierte Mitarbeiterebene gut waren. Nunmehr ging es darum, den patriarchalischen Führungsstil des Hauses zu eliminieren, die Mitarbeiter für die neuen Zielsetzungen der Bank zu aktivieren und stärker in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse einzubinden. Etwa durch Integration der Bereichsleiter in die wöchentlich stattfindenden Vorstandssitzungen oder Einbindung der gesamten Führungscrew in die jährlich stattfindenden Planungsklausuren. Dabei setzte der CEO auf das von Jack Welch, dem ehemaligen Chef von General Electric, definierte Prinzip einer erfolgreichen Motivation : »to energize people«. Wie sehr die getroffenen Maßnahmen griffen, zeigte sich an signifikant rückläufigen Krankenständen. Auch in der Fort- und Weiterbildung wurden mit der fortlaufenden Schulung der Führungsspitze, Nachwuchsführungskräfte und Mitarbeiter – heutzutage eine Selbstverständlichkeit in internationalen Konzernen – neue Wege eingeschlagen, und zwar sowohl über eine eigene CA-Akademie und ein CA-Colleg als auch über Weiterbildungsaufenthalte im INSEAD in Fontainebleau, schon damals eine der weltweit renommiertesten Business Schools. Das neu eingerichtete 15-monatige Trainee-Programm für Hochschulabsolventen war bald ein heißer Tipp unter Jungakademikern, wurde allerdings kurzsichtigerweise bald wieder gestrichen. Dabei hätte die Bank auch von jenen profitiert, die im Zuge ihrer Karriere zu anderen Unternehmen abgewandert wären, da die einmal gelegte persönliche Kontaktbasis erfahrungsgemäß in der Regel zum gegenseitigen Nutzen zeitlebens fortbesteht. Zur Steigerung der Bankreputation und Intensivierung ihrer Geschäftstätigkeit im In- und Ausland wurden auch zwei Beiratsgremien ins Leben gerufen : ein nationales und ein internationales. Im nationalen Beirat fanden sich bis zu 200 Top-Vertreter der österreichischen Wirtschaft – Unternehmer, Manager, Generaldirektoren. Im Internationalen Beirat, der auf 21 Mitglieder aus Europa, den USA und dem Fernen Osten anwuchs, waren prominente Namen aus Finanz und Industrie vertreten, wie etwa Lord Roll of Ipsden (Chairman S. G. Warburg & Co), Horst Jannott (Vorstandsvorsitzender der Münchner Rückversicherung), Otto Wolff von Amerongen (Vorstandsvorsitzender Otto Wolff AG), S. Parker Gilbert (Chairman Morgan Stanley Group), Dr. Michael von Clemm (Chairman Merrill Lynch Capital Markets) oder
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Robert S. Miller (Vice Chairman Chrysler Corporation), um nur einige Namen zu nennen. Dieses Gremium hatte große Bedeutung für die Bank – neben einem hohen Werbewert auch einen praktischen Geschäftswert, denn viele wichtige Verbindungen konnten damit geknüpft werden, was durchaus als eine Nobilitierung für die Creditanstalt, vor allem in ökonomischer Hinsicht zu werten war. Dieser Zielsetzung diente auch die Einbindung von Experten und Meinungsbildnern aus Wirtschaft, Medien, Politik, Kultur und Sport über den Weg von Veranstaltungen und Sponsorings. Dabei konnte etwa an regelmäßige Ausstellungen im Kassensaal der Zentrale, eingeführt von Generaldirektor Heinrich Treichl, angeknüpft werden. In Ergänzung zu diesen Aktivitäten wurde die sehr erfolgreiche Veranstaltungsreihe »Forum CA« ins Leben gerufen, für die prominente Persönlichkeiten und Zeitzeugen wie etwa Helmut Schmidt, Henry Kissinger, Edzard Reuter, János Fekete, Walter Scheel, Edward Heath, Gaston Thorn, Hermann J. Abs, Raymond Barre oder Leonard Bernstein gewonnen werden konnten. Diese Vortragenden verliehen den Veranstaltungen im Oktogon, dem traditionsreichen achteckigen Festsaal der Bank, hohe Exklusivität und stießen bei den Kunden auf größtes Interesse. Das Gleiche galt auch für die »CA-Tennis-Trophy«, und es wurden auch Turniere für Kunden mit österreichischen Tennis-Assen ausgerichtet. Das Selbstverständnis der Bank – höchste Professionalität und modernste Serviceleistungen im Dienste des Kunden – wurde durch eine neue Werbelinie, eine neue starke Corporate Identity und ein unverwechselbares Design vermittelt. Das attraktive Image der Bank sollte auf Kunden wie ein Magnetismus wirken. Es bewirkte aber auch in der Belegschaft unverkennbar eine Stärkung des Wir-Gefühls. Der markante Slogan »CA, die Bank zum Erfolg« erlangte bereits nach zwölf Monaten einen Bekanntheitsgrad von 62 Prozent in der österreichischen Bevölkerung und blieb über 20 Jahre als Werbekampagne bestehen. Auf sämtlichen Werbeträgern fand sich der Erfolgs-Slogan visualisiert. Vielleicht würde es diesen Slogan auch heute noch geben, hätte man nicht die Creditanstalt im Jahr 2002 in der Bank Austria aufgehen und mit dieser anschließend untergehen lassen. Entstanden ist dieser Slogan im Verlauf eines Abendessens mit dem Chef der renommierten österreichischen Werbeagentur Demner & Merlicek. Demner meinte : »Aber vielleicht genügt es, den Erfolg an die Wand zu schreiben, und schon tritt er nicht nur ein, sondern er wird auch akzeptiert. Außerdem ist ja der Erfolg des Kunden das Entscheidende. Eigentlich sollte das überhaupt das Dachkonzept sein, wofür die Bank steht.« Der Slogan entstand in einem Restaurant etwa so wie die sprichwörtliche Idee, die auf einer Serviette entsteht. Demner verwies aber auch auf die mangelnde Organisationsstruktur innerhalb der Bank. Werbung und Kommunikation waren keine Stabsfunktion und hatten keinen direkten Draht zum Büro
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des Generaldirektors. Die Einrichtung einer effizienten Stabsfunktion mit einem sehr erfolgreichen Kommunikationschef folgte auf dem Fuße. Ein weiterer Slogan, der für die Bank stand und zudem das Werbebudget in keiner Weise belastete, wurde bei einer Bilanzpressekonferenz geprägt, als der Generaldirektor die CA bei seiner Präsentation spontan als die »monetäre Visitenkarte Österreichs« beschrieb. Mit diesem Selbstverständnis wurde die Bank zu einem Stück österreichischer Identität. Expansionspolitik im Inland
Zu Beginn der 1980er-Jahre hatte die Creditanstalt ein großes Problem : ihre Funding-Schwäche. Die hohe Abhängigkeit als Industriefinanzierungsbank von Zwischenbankgeldern sowie der beachtliche Umfang höher verzinslicher eigener Emissionen beeinträchtigten die Ertragslage. Im Markt herrschte eine eklatante Verzerrung der Wettbewerbssituation. Die dezentralen, meist örtlich tätigen Sparkassen, Raiffeisenkassen und Volksbanken besaßen 85 Prozent der Außenstellen, aber nur einen 29 %igen Anteil an der für das Wirtschaftswachstum entscheidenden Industriefinanzierung, während die Banken mit einem nur 10 %igen Anteil der Außenstellen den Großteil der Industriefinanzierung zu tragen hatten. Die Creditanstalt hatte die Entwicklung der Masseneinkommen einfach verschlafen. Selbst eine Deutsche Bank erkannte wesentlich früher die Bedeutung der Bezieher kleiner Einkommen und reagierte mit der Einführung des genormten Privat-Kleinkredits. Es mangelte der CA an Primärmittelaufkommen. Und die Bank besaß zu wenige Außenstellen. Um an die Privatkunden heranzukommen, wurde daher eine neue Filialoffensive gestartet. Die Bank der Industrie und Hochfinanz hatte den »kleinen Mann« entdeckt. Ein Konto bei der Creditanstalt sollte für alle attraktiv sein. Der Privatkunde wurde in den Mittelpunkt der Marketing-Bemühungen gestellt und die Verbreiterung der Kundenbasis war erklärtes Hauptziel. Die Zielgruppenansprache konzentrierte sich einerseits auf vermögende Kundengruppen wie Freie Berufe, Klein- und Mittelbetriebe oder Senioren. Andererseits galt die Aufmerksamkeit auch der Sicherung des Kundennachwuchses mit dem »CA-Studentenservice« oder dem »CA-Konto der Jugend«. Mit ihrem Fokus auf junge Zielgruppen konnte sich die Bank sehr rasch als Bank für Aufsteiger positionieren. Jeder vierte Student stand in Geschäftsbeziehung mit der Creditanstalt, jeder fünfte Neukunde war zwischen 14 und 19 Jahre alt. Die Marktposition bei Gehalts- und Privatkonten sowie bei der Vermarktung der Scheckkarte wurde deutlich ausgebaut. Gleiches galt für das Dienstleistungs- und Produktangebot an Spar-, Veranlagungs- und Kreditformen. Folgerichtig konstatierte
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die Bank im Geschäftsbericht 1986 : »Privatkunden tragen in entscheidender Weise zum Primärmittelaufkommen der Bank bei, sie nehmen in rasch wachsendem Umfang die Beratungsleistungen unserer Bank, insbesondere im Veranlagungsgeschäft, in Anspruch und sind ein Wachstumsfaktor im Kreditgeschäft.« Es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, dass gerade jener Bereich, der sich ab den 1980er-Jahren zu einer Säule des Primärmittelaufkommens der »Bank zum Erfolg« entwickelte, nunmehr im Jahr 2016 von den jetzigen Eigentümern und Managern jener Bank, in deren Bestandteilen auch die ehemalige CA inkorporiert ist, wieder drastisch reduziert wird. Auch in das Firmenkundengeschäft gelangte in den 1980er-ahren neue Bewegung. Der Firmenkunde mutierte zum Partner der Bank. Selbstfinanzierung bzw. Finanzierung aus vermitteltem Risikokapital rückte immer mehr in den Fokus unternehmerischen Handelns. Multinationale Firmen schufen und perfektionierten konzerninterne Finanzierungsstrukturen, und im kurzfristigen Bereich gewann das Industrie-Clearing stark an Bedeutung. Der Wettbewerb um Firmenkunden verschärfte sich sehr und wurde im Markt auf der Konditionenfront unter Vernichtung von Margen ausgetragen. Die Creditanstalt hatte kein Interesse, dabei um jeden Preis mitzumachen. Die Bank reagierte vielmehr mit einer nachhaltigen Fokussierung auf ein adäquates Kreditmarketing und Zielgruppenorientierung. Ab etwa 1982 richtete die Bank ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Träger des heimischen Wirtschaftswachstums : Klein- und Mittelbetriebe, Jungunternehmer, Gemeinden, Wohnbauträger, Hausverwalter und Hausbesitzer. Auf der Angebotsseite lockten zahlreiche Produktinnovationen – die Gewerbemilliarde oder verschiedene Gewerbekredite – und Dienstleistungen, wie etwa das Export-Consulting oder maßgeschneiderte Veranstaltungsangebote und umfassende Publikationen. In ihrem Außenauftritt gab es eine klare Positionierung : die CA als Exportbank, Investitionsbank, Gewerbebank. Traditionell war die Bank bei den Exportfinanzierungen mit einem Anteil von 33 Prozent Marktführer. Im Bestreben um eine langfristige Bindung des Kunden an die Bank galt der Investitionsfinanzierung große Aufmerksamkeit. Bei den Großbetrieben (mehr als 500 Mitarbeiter) war die Bank hervorragend positioniert und verbuchte Kundenbeziehungen mit etwa 90 Prozent dieser Unternehmen. Global Player unter den 500 weltgrößten Banken
In ihrer fast 142-jährigen Existenz war die Creditanstalt über viele Jahrzehnte im Wege eigener Niederlassungen, Beteiligungen und Geschäftsaktivitäten international präsent und respektiert, insbesondere auch in ihrer Hochblüte am Ende des 19. Jahr-
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hunderts bis hin zum Ersten Weltkrieg. Diese internationale Präsenz kam entwicklungsbedingt zum Erliegen. Noch in den 1960er-Jahren waren die heimischen Banken in Binnenorientiertheit verharrt, ihr Auslandsgeschäft war auf funktionierenden Zahlungsverkehr, Devisenhandel, Dokumentengeschäft und Kontaktpflege reduziert. Auch die Creditanstalt war anfänglich keine Ausnahme davon. Aber sie machte sich als erste österreichische Bank zu Beginn der 1970er-Jahre wieder erfolgreich auf den Weg in die Globalität als Player auf den internationalen Finanzmärkten, Partner der »international financial community« und allseits anerkanntes Flagship Österreichs. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der CEO der Deutschen Bank, Hermann J. Abs, der Creditanstalt 1971 die Türe zur EBIC-Gruppe öffnete, die sich aus sieben renommierten europäischen Banken zusammensetzte (Deutsche Bank, AMRO Bank, Société Générale de Banque, Midland Bank, Société Générale, Banca Commerciale Italiana, Creditanstalt) und anfänglich eine Reihe von Joint Ventures betrieb. EBIC bedeutete damals den kostengünstigeren Zugang zum internationalen Bankgeschäft, Präsenz über Gemeinschaftsgründungen und Vertretung durch befreundete Banken, aber auch und vor allem für die kleineren Banken leistbaren Know-how-Transfer und Anschluss an die moderne Bankpraxis führender europäischer Institute. Davon profitierte auch die Creditanstalt. Ähnlich wie die anderen Banken der EBIC-Gruppe begann auch die Creditanstalt, zusätzlich zur Mitgliedschaft ihre eigene internationale Präsenz aufzubauen. Dies geschah anfänglich über Repräsentanzen oder eine Beteiligung an ausländischen Instituten, wie etwa an der brasilianischen Investmentbank Banco Bradesco de Investimento in São Paulo oder der Wirtschafts- und Privatbank Zürich. Die Eröffnung einer Repräsentanz in Budapest im Jahr 1975 signalisierte die naheliegende Rückkehr in das Nachbarland Ungarn, wo die Bank schon von 1857 bis nach dem Zweiten Weltkrieg eine Filiale unterhalten hatte. Die 1979 von Heinrich Treichl im Beisein des österreichischen Finanzministers eröffnete Repräsentanz in London wurde 1980 zu einer eigenen Filiale, eine weitere wurde im selben Jahr in New York eröffnet. Im aufstrebenden fernöstlichen Wirtschaftsraum, wohin es aufgrund des EBIC Joint Ventures »European-Asian Bank« gute Kontakte gab, wurde eine Repräsentanz in Tokio und eine Filiale in Hongkong errichtet, die ausgezeichnete Ergebnisse erzielten. Fortan sollte die CA mit Repräsentanzen und Beteiligungen rund um den Globus vertreten sein. In einer im Juli 1987 im »The Banker« veröffentlichten Liste der 500 Top-Bankunternehmen der Welt nahm die CA den 98. Platz ein.
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Vorreiter in Osteuropa
Im Vorstand der CA beschäftigte man sich bereits Jahre vor dem tatsächlichen Umbruch mit Bezug auf gemeinsame historische Wurzeln und die Logik der Geografie mit einer »gezielten Ostpolitik«. Als konsequenten Folgeschritt im Aufbau der bestehenden Kontakte im damaligen RGW-Raum (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion) eröffnete die CA bereits 1987 als erste österreichische Bank Repräsentanzen in Prag und Moskau sowie 1989 in Berlin. Dazu kamen Beteiligungen an der Central-European International Bank (CIB), einer äußerst lukrativen Offshore-Bank, sowie an der International Bank Moscow, der ersten Joint-Venture-Bank in der damaligen Sowjetunion. Ausgehend von dieser ersten Positionierung erfolgte sehr rasch der Aufbau der Marktpräsenz über die regionalen Kommerzbanktöchter, welche dann ihrerseits eigene regionale Filialnetze errichteten. In der Region erfolgte der Auftritt als CA-Gruppe über die Kommerzbanktöchter, die Creditanstalt Investmentbank AG sowie Tochterunternehmen spezialisierter Finanzierungsinstitute. Diese Ostkompetenz wurde von den CA-Kunden in London und New York sehr wohl als Asset gesehen. Mit der Ostöffnung und der neuen Umbruchseuphorie konnte die Bank letztlich einen weiteren Trumpf aus dem Ärmel ziehen : sie kehrte in Regionen zurück, in welchen sie sich über Jahrzehnte erfolgreich bewegt hatte und immer noch breit vernetzt war. Die CA verfolgte rasch und konsequent ihre Expansionsstrategie in den mittel- und osteuropäischen Ländern, wo der Name Creditanstalt einen hohen Bekanntheitsgrad genoss. Die zeitverzögert nacheifernden Finanzinstitute mussten in der Regel schon viel höhere Eintrittspreise in die neuen Märkte bezahlen. Die Creditanstalt hat seit den 1980er Jahren dieses für die UniCredit bis heute ertragreiche Ostgeschäft aufgebaut, das nicht nur aus historischen, sondern auch kulturellen Gründen besser von Wien aus zu handhaben ist. Es ist daher nur schwer verständlich, dass ab Ende 2016 das Ostgeschäft, ein wesentlicher Gewinnbringer für die UniCredit, über die Mailänder Zentrale abgewickelt werden soll. Dies ist allerdings auch der exorbitanten Bankensteuer in Österreich geschuldet. Das Ende der CA – ein österreichisches Paradoxon
Ab etwa 1992 begann sich der Untergang der Bank als selbständiges Finanzinstitut in 4 Schritten abzuzeichnen. Schritt 1 : die nicht sehr professionelle Privatisierung, Schritt 2 : der Erwerb durch die Bank Austria, Schritt 3 : Eingliederung zusammen mit der Bank Austria in die Bayerische Hypo- und Vereinsbank (HVB) und Schritt 4 : endgültige Löschung des Namens CA.
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»How Not to Privatize a Bank« – mit diesem Titel beschrieb das Wall Street Journal Europe den Prozess der Privatisierung der Creditanstalt, der sich über sechs Jahre (!) hinzog. Mit dem Bundesgesetz vom 05. April 1991 wurde Finanzminister Ferdinand Lacina beauftragt, die 60 Prozent Bundesanteile an der Creditanstalt bestmöglich unter Wahrung der nationalen Interessen mit mittelfristigem Zeithorizont nach den Möglichkeiten des Kapitalmarktes zu verkaufen. Damit war der Interessenskonflikt vorprogrammiert. Die Stolpersteine im Verkaufsprozess waren das anfängliche Fehlen eines Übernahmegesetzes und die absolut ungewöhnliche und international unübliche Umsetzung, die sich bis 1997 hinzog. Der Fehlstart begann, als das Finanzministerium im Gegensatz zur international erfolgreich geübten Praxis keine unabhängige und spezialisierte Investmentbank internationalen Zuschnitts mit der Abwicklung der Privatisierung beauftragte. Vielmehr ließ man der zum Verkauf anstehenden Creditanstalt und ihrem Generaldirektor freie Hand, sich als Alleinbeauftragte des Bundes selbst auf die Suche nach kaufwilligen Investoren zu machen. Die anfängliche Ansprache institutioneller Investoren verlief mehr oder weniger im Sand. Dies verwunderte wenig, da der damalige CEO der Creditanstalt nach dem Vorbild französischer und italienischer Bankprivatisierungen die Vision einer Eigentümerstruktur mit einem kleinen, harten Aktionärskern von institutionellen Anlegern internationalen und nationalen Zuschnitts und einer Vielzahl kleinerer privater Investoren verfolgte. Dafür wurde im Jahr 1993 das sogenannte »Österreich-Konsortium« gebildet, welches sich aus der EA-Generali, der Ersten Österreichischen Spar-Casse sowie weiteren in- und ausländischen Banken und österreichischen Industriellen zusammensetzte. Aber dieses Konsortium funktionierte nicht wirklich ; zu unterschiedlich waren die Vorstellungen über die strukturelle Darstellung einer erworbenen Creditanstalt. Der Deal scheiterte letztlich, weil dieses Konsortium nur etwa acht Milliarden Schilling zu zahlen bereit war. Um zwölf Milliarden Schilling hätte es wahrscheinlich den Zuschlag erhalten. Auf der anderen Seite wurden von dem sich »selbst verkaufenden Kaufobjekt Creditanstalt« potenzielle Interessenten wie etwa GE Capital, deutsche Allianz AG, Bayerische Hypotheken- und Wechselbank oder die Credit Suisse Holding erfolgreich verhindert. 1995 wurde der Verkaufsprozess auf neue, professionellere Beine gestellt. Der damalige Finanzminister Andreas Staribacher wollte wissen, wie hoch der Wert der Creditanstalt tatsächlich war. Die amerikanische Investmentbank J. P. Morgan wurde mit der Wertermittlung und einer geordneten professionellen Verkaufsabwicklung des Bundesbesitzes beauftragt. Sehr schnell hatte das Bundespaket ein Preisschild umgehängt : 17,5 bis 18,7 Milliarden Schilling. Das aufgrund von Neuwahlen kurz unterbrochene Verkaufsverfahren wurde vom neuen Finanzminister Viktor Klima reaktiviert. Ein Verkauf der Bundesanteile an der
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CA war insofern willkommen, als er sich bemühen musste, die Budgetsituation zu verbessern, um die Maastricht-Kriterien für den Beitritt zum Euro zu erfüllen. Am 15. November 1996 lagen vier Richtofferte vor, drei fanden Berücksichtigung ; diese kamen von der Bank Austria unter Generaldirektor Gerhard Randa, der Karl Wlaschek Privatstiftung und dem Österreich-Konsortium, angeführt von Guido Schmidt- Chiari. Das Anbot des Österreich-Konsortiums betrug 13,77 Milliarden Schilling. Der Finanzminister suchte nach weiteren ernsthaften Interessenten und fand diese in einer Gruppe mit den Hauptträgern Wiener Städtische Versicherung, Girozentrale, Postsparkasse und WestLB. Seitens der CA war der damalige Stellvertretende Generaldirektor E rich Hampel in dieses Vorhaben eingebunden. Es gelang Randa aber, das Zustandekommen eines Anbots der neuen Gruppe zu verhindern. Nachdem das Österreich-Konsortium nicht bereit war, entscheidend nachzubessern (lediglich von 13,77 auf 14,26 Milliarden Schilling), erhielt die Bank Austria mit einem marginal verbesserten Angebot von 17,16 Milliarden Schilling schließlich den Zuschlag. Bei einem Anteilswert von 24 Milliarden Schilling hat die Käuferbank ein gutes Geschäft gemacht, überdies war der Kaufpreis mit den Gewinnen der nächsten drei Jahre refinanziert. Die Fusion der Zentralsparkasse mit der Österreichischen Länderbank im Jahr 1990, aus der die Bank Austria hervorgegangen war, machte damals bankenökonomisch durchaus Sinn. Es war jedoch ein besonders schwerer Fehler, der Creditanstalt ihre Selbstständigkeit zu rauben. Daher sagte Heinrich Treichl über die CA-Privatisierung : »Unter dem Androsch wäre das nicht passiert !« Gerhard Randa, selbst vor seiner Tätigkeit als CEO der Bank Austria für rund zwei Jahre (1989–1990) Mitglied des Vorstands der CA, gewann mit der CA eine Bank, die – auch als Gruppe – hervorragend positioniert war : als erste Bankadresse Österreichs im internationalen Bankgeschäft und führende Auslandsbank in Mitteleuropa. Leider wurde seitens des neuen Eigentümers verabsäumt, dieses Juwel, welches durchaus kostengünstig vereinnahmt worden war, entsprechend zu schätzen und zu pflegen. Nur wenige Jahre später wurden im Jahr 2001 die Bank Austria und ihre Tochterbank CA ohne eingehende Due Diligence auf Basis einer achtseitigen »Fairness Opinion« an die angeschlagene Münchner HVB verkauft. Diese verschmolz beide Institute zur Bank Austria-Creditanstalt. Für die HVB waren die Gewinne der Bank Austria essenziell, und für die Bank Austria wiederum war die Creditanstalt die Cash Cow, von der auch nach der Fusion der Großteil der Gewinne stammte. Die CA an die Bank Austria zu verkaufen, um diese dann gemeinsam an die kaputte HVB zu veräußern, wäre wohl vermeidbar gewesen. Bei dem Deal verloren die österreichischen Aktionäre 70 Prozent ihres Aktienwertes. Warum man sich das damals nicht genauer angesehen hat, war und bleibt ein Rätsel und war wohl Gerhard Randas Ehrgeiz geschuldet. Sein
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Plan ging aber nicht auf : Er wurde weder Vorstandsvorsitzender der HVB noch als Player in die ebenfalls nicht gerade starke italienische UniCredit geholt, welche im Jahr 2005 die HVB und damit auch die Bank Austria-Creditanstalt übernahm. 2007 wurde der Name »Creditanstalt« aus dem Schriftzug der Bank eliminiert, sie firmiert seither unter dem Namen »Bank Austria. Member of UniCredit«. Was blieb, ist die Erinnerung und die bittere Erfahrung ehemaliger CA-Aktionäre, die im Zuge der mehrfachen Umtäusche zu UniCredit-Aktionären wurden. Ende 2015 waren ihre Aktien auf zehn Prozent des ursprünglichen Wertes gefallen. (Format, 20. 11. 2015). Fazit für Österreich
Das Verschwinden der CA von der Bildfläche der nationalen und internationalen Bankenwelt ist ein österreichisches Paradoxon : Die einst erste Bankadresse Österreichs wurde ohne jeden Sachzwang, aber zum großen Schaden des Landes und seines heimischen Finanzplatzes durch Versenkung preisgegeben. Eine österreichische Tragödie, die vermeidbar gewesen wäre. Eine noch weitreichendere Tragödie droht Österreich allerdings dann, wenn es seinen Abstieg aus der Top-Liga der Industrienationen nicht zu stoppen vermag. In rascher Folge wäre die Bevölkerung nicht nur mit einem massiven Verlust an Wohlstand und sozialer Sicherheit, sondern auch an Umweltstandards und Lebensqualität konfrontiert. Auch der soziale Friede würde bald auf dem Spiel stehen. Die letzten Wahlen signalisieren die große Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die althergebrachten Wahlkampfparolen und Schönredereien stoßen auf immer mehr Skepsis, klare Zukunftsperspektiven werden in einem Umfeld massiver technologischer Veränderungen, aber auch neuer politischer Unsicherheiten vermisst. Das war nicht immer so. Die Ausstellung auf der Schallaburg in Niederösterreich im Jahr 2016 trug den Titel : »Die 70er-Jahre. Damals war Zukunft«. Ein fast halbes Jahrhundert später braucht es in Österreich wieder eine Aufbruchsstimmung, müssen die Chancen der Zukunft und deren Gestaltung wieder zum öffentlichen Thema werden. Um für die Aufgaben der Zukunft gerüstet zu sein, bedarf es als Vorleistung eines zeitgemäßen Bildungssystems mit Ganztagsschulen und einem Bildungsverständnis, das Freude am Lernen vermittelt, die Talente der jungen Menschen fördert und das allgemeine Bildungsniveau hebt. Bildung ist ein wichtiger Schlüssel für ein selbstbestimmtes, als sinnvoll empfundenes Leben und beruflichen Erfolg. Die mit der modernen Arbeitswelt verbundenen digitalen Herausforderungen erfordern immer höher und besser qualifizierte Arbeitskräfte. Gleichzeitig werden im Verlauf der neuen industriellen Revolution (Industrie 4.0 und bald schon 5.0) erneut bessere und sichere Arbeitsplätze entstehen.
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Dafür bedarf es auch besserer Finanzierungsbedingungen und eines funktionierenden Kapitalmarkts. Unsinnige Belastungen bewirken das Gegenteil, wie etwa die Aktiengewinnsteuer, die die Wiener Börse knebelt. Oder die Bankensteuer nach dem Hypo-Alpe-Adria-Skandal, von der 40 Prozent an die Bundesländer gehen, ohne dass diese zur Bereinigung des von ihnen mitverschuldeten Debakels beitragen müssen. Auch die Forderung der Banken nach Einhebung einer Gebühr bei der Behebung von Geld bei Bankomaten ist mit der Bankensteuer in Verbindung zu bringen. Und nicht zuletzt mag wohl auch für die Verlagerung des gewinnbringenden Ostgeschäfts der UniCredit von Wien nach Mailand die österreichische Bankensteuer ins Gewicht gefallen sein. Das Ende der CA und die entstandenen Folgeschäden mögen zugleich Mahnung und Ansporn für die dringende Notwendigkeit der Wiederherstellung Österreichs als starker, international renommierter Bank- und Finanzplatz sein. Literatur Hannes Androsch. Helmut Haschek. Karl von Bruck. Ein österreichisches Schicksal. In : Jochen Jung (Hg.). Österreichische Porträts. Leben und Werk bedeutender Persönlichkeiten. Bd I. Residenz Verlag. Wie-Salzburg. 1985. S. 164–192 Hannes Androsch, Das Ende der Bequemlichkeit. 7 Thesen zur Zukunft Österreichs. Brandstätter Verlag. Wien 2013 Hannes Androsch. Ein Schreckgespenst namens Chlorhühnchen. Gastkommentar. Format, 23. 4. 2015 Hannes Androsch. Der Fluch der bösen Taten. Profil, 16.11.2015 Hannes Androsch. Niemals aufgeben. Lebensbilanz und Ausblick. Aufgezeichnet von Peter Pelinka. Ecowin. Wals bei Salzburg. 2015 Hannes Androsch. Josef Taus (Hg.). Österreich – Wohin soll das Land gehen? Überlegungen zur wirtschaftlichen Zukunft des Landes. NWV Neuer wissenschaftlicher Verlag, Wien 2015 Karl Ausch. Als die Banken fielen. Zur Soziologie der politischen Korruption. Wien. Theodor Kramer Gesellschaft 2013 (Neuausgabe der 1968 im Europa Verlag, Wien, erschienenen Erstveröffentlichung) Heinrich Benedikt. Geschichte der Republik Österreich. R. Oldenbourg. München 1954. Ralph Bollmann. Die TTIP-Gegner nerven. Das Abkommen mit Amerika ruft in Deutschland die größte Protestbewegung seit Jahrzehnten hervor. Woher kommt so viel Unvernunft? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. 10. 2015 Christina von Braun. Der Preis des Geldes. Aufbau Verlag, Berlin 2012 Sebastian Dullien. Eurokrise. Verlorene Jahrzehnte. ZEIT ONLINE (http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-01/euro-krise-griechenland-italien-bruttoinlandsprodukt-wachstum) Barry Eichengreen. Hall of Mirrors. The Great Depression, the Great Recession, and the Uses and Misuses of History. Oxford University Press. 2015 Robert Gordon. The Rise and Fall of American Growth : The US Standard of Living since the Civil War. Princeton University Press 2015
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Beat Gygi. Wohin treibt die Weltwirtschaft? Die Weltwoche 7/2016 John Maynard Keynes. Revision des Friedensvertrages. Duncker & Humblot. München-Leipzig 1922 Thomas Mayer. From Zirp, Nirp, QU, and helicopter money to a better monetary system. Flossbach von Storch Research Institute. Economic Policy Note 16/3/2016 Christoph Pfluger. Das nächste Geld. Die zehn Fallgruben des Geldsystems und wie wir sie überwinden. Edition Zeitpunkt, Solothurn 2015 Joseph A. Schumpeter. Das Wesen des Geldes. Eine im Nachlass gefundene Schrift aus dem Jahr 1929, die posthum veröffentlicht wurde. Joseph E. Stiglitz. »Wenn Blasen platzen : Die Finanzwelt am Abgrund« TV-Dokumentation. Spiegel. Geschichte 2014 Dr. Dr.h.c.mult. Hannes Androsch, geboren am 18. April 1938 in Wien, ausgebildeter Wirtschaftsprüfer und Steuerberater, war Bundesminister für Finanzen (1970–81) und Vizekanzler (1976–81) in den Regierungen Kreisky I bis IV. Stellvertretender Generaldirektor, Jänner bis Juni 1981, und dann bis Ende Jänner 1988 Generaldirektor der CA Creditanstalt Bankverein. Anschließend Konsulent der Weltbank. 1989 Gründung der AIC Androsch International Management Consulting GmbH und Aufbau einer industriellen Beteiligungsgruppe. Der Großindustrielle ist Verfasser umfangreicher Publikationen, Träger zahlreicher Auszeichnungen und in seinem Selbstverständnis als Citoyen wirtschafts-, gesellschafts-, kultur- und wissenschaftspolitisch vielfältig engagiert.
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Vorwort Noch vor 30 Jahren schien »Finanzkrise« zumindest für Europa ein »historischer« Begriff zu sein. Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Es genügt, das Wort Griechenland in den Mund zu nehmen, auf Arbeitslosenraten von 25 Prozent, und auf kostspielige Aktionen zur Rettung von Banken und die Sanierung von Staatsfinanzen zu verweisen. Dennoch kann, wie es heute passiert, nicht ohne weiteres mit der Finanzkrise der 30erJahre verglichen werden. Während die Krise von 2008 der Emanzipation des Finanzkapitals von seiner traditionellen Rolle als Kreditvermittler der Realwirtschaft geschuldet ist, war der Zusammenbruch der Creditanstalt im Jahr 1931 das Resultat einer engen Verflechtung der Banken mit der Industrie, welche die schwere Krise der zentraleuropäischen Ökonomie zu einer der Kreditinstitute werden ließ. Die Finanzmärkte waren zwar auch damals schon miteinander vernetzt, aber im Bewusstsein der kontinentaleuropäischen Politiker und Bankiers waren die USA weit entfernt und nur insoweit von Interesse, als Amerika den »lender of last resort« für die deutschen und österreichischen Banken darstellte, der kurzfristige Kredite aller Art zur Verfügung stellte. Als im Herbst 1929 die Wall Street mit einer dramatischen Börsenpanik konfrontiert war, schlug sich dies selbst in der Berichterstattung so großbürgerlicher Zeitungen wie der »Neuen Freien Presse« nur marginal nieder. Zu dieser Zeit blickte man in Österreich wie gebannt auf die Krise der Boden-Credit-Anstalt. Auf der anderen Seite wurde der Zusammenbruch einer der »systemrelevanten« Wiener Großbanken in der ausländischen Öffentlichkeit noch nicht als dramatisches Warnsignal wahrgenommen. Als eineinhalb Jahre später mit der Creditanstalt jenes Institut ins Trudeln g eriet, das die »Boden« aufgenommen hatte, löste dies eine internationale Finanzkrise aus. Die Finanzwelt war gegenüber 1929 hellhöriger geworden. Angst und Panik schweißen in Krisenzeiten die Finanzmärkte zusammen, machen aus voneinander weitgehend getrennt agierenden Terrains einen Markt, der gleichartige Reaktionen des »Rette-sich-wer-kann« gebiert. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht jedoch nicht die Finanzkrise des Jahres 1931 selbst, sondern deren Vorgeschichte. Diese beginnt im Herbst 1918 mit dem Auseinanderfallen der Habsburgermonarchie. Hier erweist sich die Wirtschaftsgeschichte der theoretisierenden Nationalökonomie als überlegen. Sie muss und darf nichts aus den ehernen Gesetzen des Marktes allein ableiten, sondern kann sich die Freiheit nehmen, zu analysieren, was sich ereignet hat, ist dazu aufgerufen, sozusagen alle Triebkräfte der Entwicklung namhaft zu machen. Wie man die europäische Wirtschaftsgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ohne die französische Revolution und ihre Folgewirkungen verstehen kann, so bildet auch der Erste
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Weltkrieg nicht nur einen politischen Strukturbruch, sondern auch eine ökonomische Wasserscheide, welche die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens in Mitteleuropa drastisch veränderte. Kam es schon im Krieg zu dem, was Karl Renner die »Durchstaatlichung der Ökonomie« genannt hat1, so setzten die nationalen Revolutionen am Ende des Weltkriegs viele nationale und merkantil abgeschottete Märkte an die Stelle des einen großen Wirtschaftsgebietes der Doppelmonarchie. Aufs Bankwesen übertragen bedeutete dies den Beginn des Endes der Vorherrschaft des Wiener Finanzplatzes im Donauraum. Dieses Buch beschreibt das Scheitern des Versuchs, die dominierende Stellung Wiens auch nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie weiter aufrechtzuerhalten. Dieser Prozess des Scheiterns lief, retrospektiv betrachtet, mit beinahe mechanischer Zwangsläufigkeit ab und endete mit dem Zusammenbruch einer Reihe von großen und mittleren Wiener Banken bzw. mit der mehr oder weniger unfreiwilligen Fusion verschiedener Institute zu großen Finanzkonglomeraten. Der Preis, der dabei zu zahlen war, bestand in großen Verlusten, für die letzten Endes der österreichische Steuerzahler aufzukommen hatte. Heute darf man das getrost wieder »Sozialisierung der Verluste« nennen. Die Frage, ob es nicht vernünftiger gewesen wäre, die »Stellungen« in den Nachfolgestaaten nach 1918 freiwillig zu räumen, hat bereits die Zeitgenossen beschäftigt. Ebenso die Überlegung, welcher Anteil an den Verlusten der Ungunst der ökonomischen Verhältnisse geschuldet und welche Quote auf das Konto managerieller Fehl entscheidungen zu buchen war2. Die historische Forschung hat bislang vor allem die »subjektive« Seite des Problems – also die »Schuldfrage« – in den Mittelpunkt der Erörterungen gestellt3. Diese kommt zwar auch in der hier vorliegenden Studie nicht zu kurz ; vorrangig sollen aber die »objektiven« Dimensionen der Dauerkrise des österreichischen Bankwesens in den 20er-Jahren diskutiert werden, die im Mai 1931 in der akuten Krise der größten Wiener Kommerzbank, der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, ihren dramatischen Höhepunkt fanden. Der Rahmen, der den Aktionsradius der Banken begrenzte und die – wie man in Anlehnung an die deutsche Diskussion um die »Handlungsspielräume« der Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise sagen könnte – bankpolitischen »Zwangslagen« der Zeit nach 1918 sind es, worauf sich das Interesse dieser Arbeit konzentriert4. 1 2
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Renner, S. 12. Vgl. Federn, Der Zusammenbruch der Österreichischen Kreditanstalt ; Rutkowski, Der Zusammenbruch der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe und ihre Rekonstruktion ; Wärmer, Das österreichische Kreditwesen. Siehe : Ausch, Als die Banken fielen ; Stiefel, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Siehe : Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik.
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Es sind vor allem vier Themenkomplexe, die dem Buch – über den konkreten Forschungsgegenstand hinaus – eine allgemeinere Relevanz verleihen : Erstens die Frage nach dem Verhalten der Banken in Zeiten der Inflation, die sie ja als Institutionen, die in der Zirkulationssphäre agieren, in besonderem Ausmaß betrifft und trifft ; zweitens jene nach den Antinomien des Systems des die Industrie »beherrschenden« Finanzkapitals in einer Zeit starker säkularer Stagnationstendenzen ; drittens die Frage nach den Auswirkungen eines historischen Strukturbruchs, wie der Zerfall der Monarchie einer war, auf ein »multinational« – vielvölkerstaatlich – verfasstes Bankensystem, das sich gleichsam über Nacht vor drastisch geänderte Aufgaben gestellt sah. Und viertens interessieren die langfristigen Folgen von unterlassenen oder falschen Entscheidungen bzw. Eingriffen. Die Arbeit schließt inhaltlich wie konzeptionell an den letzten Band der Studien zur österreichischen Bankengeschichte an, die Eduard März verfasst hat5. An dieser Arbeit habe ich selbst assistierend mitgewirkt. Der aufmerksame Leser wird aber rasch bemerken, dass die Analyse des Verhaltens der Banken in der Zeit der Nachkriegsinflation einige nicht unwesentliche neue Akzente erhalten hat. Nichtsdestoweniger verdanke ich meine grundlegenden Kenntnisse der Bankengeschichte und der spezifischen Funktionsweise des Mobilbankwesens den großen Erfahrungen, die mir mein Lehrer in unermüdlicher Kleinarbeit weitervermittelt hat. Die langjährigen Diskussionen mit ihm sind in der vorliegenden Studie auf vielfältige Weise gegenwärtig. Genauso spürbar sind die Früchte der jahrelangen Zusammenarbeit mit Hans Kernbauer, dessen parallel entstandene Geschichte der Oesterreichischen Nationalbank in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen bereits seit längerem vorliegt6. Der Zusammenarbeit mit beiden Genannten sind eine Reihe von gemeinsamen Veröffentlichungen entsprungen, deren Ergebnisse mit in diese Arbeit eingeflossen sind. Für die spezifischen Akzente, die ich den sehr oft gemeinsam ent wickelten Gedanken gegeben habe, bin ich aber selbstverständlich allein verantwortlich. Eine nicht hoch genug zu veranschlagende Hilfe waren mir auch die anregenden Gespräche mit einer Reihe anderer Wissenschafter, von denen ich Alice Teichova an erster Stelle nennen möchte. Ihr verdanke ich auch die Teilnahme an einer Reihe von internationalen Konferenzen und damit die Konfrontation mit den Meinungen und der Kritik von Bankhistorikern des Auslandes, die mir viele neue Impulse vermittelt haben. Aber auch österreichischen Historikern, wie Dieter Stiefel und Herbert Matis 5 6
März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I. ; ders., Österreichische Bankpolitik in der Zeit der großen Wende 1913–1923. Kernbauer, Währungspolitik in der Zwischenkriegszeit.
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von der Wiener Universität bzw. Wirtschaftsuniversität, schulde ich Dank für wertvolle Anregungen, die in die Arbeit Eingang gefunden haben. Die hier zusammengefassten Thesen sind der erste Teil einer geplant gewesenen umfassenderen Studie zum österreichischen Bankwesen im 20. Jahrhundert. Zu ihrem Zustandekommen trug die Creditanstalt-Bankverein, die heute als eigenständige Bank nicht mehr existiert, durch die großzügige Finanzierung der Forschungsarbeiten und durch die Erlaubnis zur Benützung von Teilen des bankeigenen Archivs nicht unwesentlich bei. Dass die geplante Drucklegung in den 90er-Jahren nicht zustande kam, hat Gründe, die außerhalb meiner Kompetenz lagen. Umso mehr ist es mir ein Bedürfnis, meinem zu früh verstorbenen Freund Gerald Feldman zu danken, der sich bei der Creditanstalt mit Vehemenz für die Veröffentlichung eingesetzt hat. Zu danken habe ich aber nicht zuletzt auch jenen, die als im Hintergrund agierende Mitarbeiterinnen zum Zustandekommen der Studie beigetragen haben : Gundl Herrnstatt-Steinmetz, die nicht müde wurde, auf bestimmte politische Implikationen und Weiterungen von vordergründig rein bankgeschichtlichen Phänomenen hinzuweisen, Ariane Heilingsetzer, die mir eine Zeit lang bei der Ordnung und Auswertung der Archivbestände der Creditanstalt-Bankverein assistierte, den Mitarbeitern der EDV-Abteilung der Wirtschaftsuniversität Wien, die mir das Scannen älterer Manuskriptteile ermöglichten, und – nicht zuletzt – Traudl Mayer, die bei der Verarbeitung der Texte immer den Überblick über die verschiedenen Einzeldateien bewahrte und das Umspeichern auf avanciertere Systeme in die Hand nahm. Eine ähnlich wichtige Rolle spielte Ursula Nemeth für die Modernisierung der Diagramme. Und schließlich schulde ich Andrea Traxler großen Dank für das gründliche finale Lektorieren des Textes. Da es üblich ist, wissenschaftliche Arbeiten einem Adressaten zu widmen, möchte ich die Studie meinem Freund Wolfgang Felber zueignen, der 1991 freiwillig aus dem Leben geschieden ist und mich so früh gezwungen hat, über die Relativität meiner wissenschaftlichen Existenz nachzudenken. Wien, im Herbst 2015
I. Krise in Permanenz Österreichs Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit
Die wirtschaftliche und politische Geschichte der Ersten Republik kann mit den knappen Worten »Krise in Permanenz« zusammengefasst werden. Diese Krise ist in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Zerfall der Monarchie zu sehen, auch wenn das Gebiet der österreichischen Republik zu den am meisten industrialisierten Teilen der Monarchie zählte. Auf Österreich entfielen (nach dem Stand von 1910) etwa 23 % der Bevölkerung, aber rund ein Drittel aller Fabriken und Industriearbeiter Cisleithaniens. Bei den Großbetrieben war der Anteil etwas geringer ; Klein- und Mittelbetriebe bildeten das Übergewicht. Von der aktiven Bevölkerung waren etwa 39 % in der Landwirtschaft beschäftigt, 32 % in Industrie, Bergbau und Handwerk, 16 % in Handel und Verkehr ; auf den öffentlichen Dienst und die privaten Dienstleistungen entfielen 13 Prozent1. Hinter diesen auf den ersten Blick vorteilhaften Zahlen verbarg sich jedoch eine Fülle von Problemen : Der Zerfall der Donaumonarchie bedeutete das Ende eines großen, historisch gewachsenen Wirtschaftsgebietes, das sich durch einen hohen Grad an regionaler Arbeitsteilung ausgezeichnet hatte. Die neuen Grenzen setzten eine Vielzahl von Märkten an die Stelle eines einheitlichen Absatzgebietes. Was bis 1918 Binnenhandel gewesem war, wurde nun in einem beträchtlichen Maß Bestandteil des Außenhandels. Dies hätte unter den Bedingungen eines internationalen Freihandels kein unlösbares Problem bedeuten müssen. Unter den Auspizien des aufkeimenden Neomerkantilismus im Donauraum jedoch war die Aufgabe, Österreichs Wirtschaft den neuen Umweltbedingungen anzupassen, äußerst schwierig. Die Wirtschaftsstruktur Österreichs wies gewaltige Disproportionen auf. Einige Industriezweige – insbesondere die im Krieg stark ausgeweitete Rüstungsindustrie, die Eisen- und Metallindustrie sowie der Lokomotiv- und Waggonbau – waren für einen Kleinstaat überdimensioniert ; andere – wie die Zucker- oder die Textilindustrie – konnten den Inlandsbedarf bei weitem nicht befriedigen. Insgesamt überwog im neuen Österreich die Verarbeitungs- und Veredelungsindustrie, die auf den Import von Rohstoffen und Halbzeug angewiesen war. Die meisten Industrien waren auf die Kooperation mit dem »Neuausland« hin orientiert ; der Zusammenhang der einzelnen Sektoren untereinander war dagegen so lose, dass ein zeitgenössischer Be1
Hertz, The Economic Problems, S. 137 f ; Kausel, S. 699.
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Krise in Permanenz
obachter die Frage aufwarf, ob man die »Summe der Wirtschaftszweige« Österreichs überhaupt als »Volkswirtschaft« bezeichnen könne2. Das neue Österreich konnte also nicht einfach den Weg fortsetzen, den es im Rahmen des Habsburgerreiches gegangen war. Diejenigen, die dies ignorierten und die Strategie des »business as usual« verfolgten, mussten dafür bitteres Lehrgeld bezahlen. Die ganze Struktur der Volkswirtschaft musste den neuen Verhältnissen angepasst werden, um so auf längere Sicht ein neues, nationalstaatliches Gleichgewicht zu erreichen. Dazu war es notwendig, die Landwirtschaft zu entwickeln, die heimischen Energiequellen (insbesondere die Wasserkräfte) zu erschließen, den staatlichen Verwaltungsapparat zu reduzieren sowie den gesamten Dienstleistungssektor (inklusive der Banken) den neuen Gegebenheiten im Donauraum anzugleichen. Dieser Umstellungsprozess hätte möglicherweise unter besseren weltwirtschaftlichen Umweltbedingungen und mit gezielter Unterstützung des Auslandes verhältnismäßig rasch vor sich gehen können. In den Jahren nach 1918 verlief er jedoch sehr stockend und langsam. Er war noch längst nicht abgeschlossen, als die Weltwirtschaftskrise ausbrach. Obwohl der Zerfall der Donaumonarchie krisenhafte Erscheinungen in so gut wie allen Nachfolgestaaten zur Folge hatte, waren die durch dieses Ereignis bewirkten Erschütterungen nirgends so tief und so nachhaltig wie im neuen Österreich (siehe Tabelle 1). Tabelle 1 : Durchschnittliches Wachstum des BNP 1913–1938 in verschiedenen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie und Westeuropas (in %) Österreich
Tschecho slowakei
Ungarn
Jugoslawien
Durchschnitt 4 NF-Staaten
Durchschnitt Europa*
1913–1929
0,3
2,7
1,2
2,1
1,6
1,9
1929–1938
–1,8**
–0,2**
1,1
1,3
0,4
1,1
* Ohne UdSSR. ** 1929–1937. Quelle : Maddison, S. 453.
In Österreich wurde das Niveau von 1913 erst in der zweiten Hälfte der 20erJahre wieder erreicht und in den Jahren 1928 bis 1930 leicht überschritten. In der 2
Bayer, S. 89.
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Krise in Permanenz
Tschechoslowakei und in Jugoslawien wurde diese Messgröße hingegen bereits 1923 egalisiert, in Ungarn 19253. Die Weltwirtschaftskrise traf Österreich besonders hart, weil der dramatische Rückgang der Konjunktur von einem niedrigen Niveau aus erfolgte. Aber selbst wenn man nur den Grad des Schrumpfungsprozesses in Erwägung zieht, schneidet Österreich schlechter ab als seine Nachbarn (siehe Tabelle 2). Tabelle 2 : Rückgang des BNP nach 1928 (in %, Differenz Höhepunkt–Tiefpunkt)
Österreich
Tschecho slowakei
Deutsches Reich
Ungarn
Jugoslawien
Polen
Durch schnitt 21 europäische Länder
–22,5
–18,2
–16,1
–11,5
–11,9
–20,7
–10,1
Quelle : Maddison, S. 458.
Im Jahr 1933, am Tiefpunkt der Krise, war das Volkseinkommen nicht viel höher als in der frühen Nachkriegszeit (1922/23). Die auf die Weltwirtschaftskrise folgende Erholungsphase brachte nur eine leichte Verbesserung. Im letzten Jahr der Ersten Republik lag das Bruttonationalprodukt in Österreich um 14 Prozentpunkte unter dem Niveau von 1929 und um 9 % unter dem Wert von 1913. Während der gesamten Zwischenkriegszeit war das BNP nur in den drei Jahren von 1928 bis 1930 höher als 1913 ; in den Perioden 1918 bis 1923 und 1932 bis 1935 war es erheblich niedriger als im letzten Friedensjahr (siehe auch Tabelle 3). Tabelle 3 : Bruttonationalprodukt (real, Index 1913 = 100) 1913
1920
1924
1929
1933
1937
100
66,4
88,5
105,1
81,5
90,9
Quelle : Kausel/Nemeth/Seidel, S. 5.
Die Entwicklung des gesamten BNP vermittelt ein eher grobes Bild von der Entwicklung einer Volkswirtschaft. Wir können die Krisenherde besser identifizieren, wenn wir das BNP nach Wirtschaftszweigen aufgliedern : Die Industrie, die als Lokomotive einer modernen Volkswirtschaft gilt, konnte dieser Funktion während 3
Maddison, Tabelle 22, S. 502 f.
8
Krise in Permanenz
der Zwischenkriegszeit niemals gerecht werden. Selbst im besten Konjunkturjahr (1929) lag die Industrieproduktion um 2 Prozentpunkte unter dem Niveau von 1913. Auf dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise fiel sie um etwa ein Drittel unter den Stand des letzten Friedensjahres ; 1937 war sie um 23 Prozent niedriger als 1913. Die Entwicklung des Baugewerbes, dem eine Schlüsselposition im Hinblick auf die Beschäftigungslage zukommt, war noch ungünstiger als die der Industrie. Sein Output war 1929 um 25 % niedriger als im Jahr 1913 und fiel 1933 auf kaum mehr als ein Drittel des Vorkriegsniveaus ; 1937 betrug das Bauvolumen knapp die Hälfte von 1913. Etwas günstiger schnitt das übrige Gewerbe ab, das zwar während der 20er-Jahre nur schleppende Fortschritte machte und niemals an das Vorkriegsniveau herankam, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise sich jedoch besser behaupten konnte als Industrie und Baugewerbe, da es vornehmlich für den lokalen Bedarf arbeitete. Es gab einige wenige Wirtschaftszweige, die sich von dem allgemeinen Bild der Stagnation und Rückbildung deutlich abhoben. An erster Stelle muss hier die Landwirtschaft genannt werden, die 1929 den Stand des letzten Friedensjahres deutlich überschritten hatte und später, als Nutznießer einer gezielten staatlichen Förderungspolitik, weitere bedeutende Fortschritte machte. Im Jahre 1937 lag ihre Produktion um 16 % über dem Niveau des Jahres 1913. Noch größere Fortschritte waren auf dem Gebiet der Energiewirtschaft und der persönlichen Dienstleistungen, insbesondere des Fremdenverkehrs, zu verzeichnen. Auch eine kleine Zahl von Industriezweigen, wie die auf heimischen Holzvorkommen aufbauenden Industrien und die chemische Produktion, konnten sich relativ gut halten, während der Investitionsgütersektor ein ähnliches Schicksal erlitt wie die Baustoffindustrie. Ein verlässlicher Gradmesser des wirtschaftlichen Zustandes eines Landes ist die Arbeitslosigkeit. Diese war, wie Tabelle 4 zu entnehmen ist, in der Zwischenkriegszeit nicht unerheblichen Schwankungen unterworfen. Nach Überwindung der unmittelbaren Nachkriegskrise, die durch den akuten Mangel an Energie und Rohstoffen bedingt war, herrschte durch etwa zwei Jahre (1920/21 und einen Teil des Jahres 1922) ein Zustand der Vollbeschäftigung, hauptsächlich bewirkt durch die inflationsbedingte Verschleuderung österreichischer Waren und Dienstleistungen an ausländische Käufer. Nach der Stabilisierung der Krone im Jahre 1923 kletterte die Arbeitslosenrate auf etwa 10 Prozent und verharrte bis zum Eintritt der Weltwirtschaftskrise auf einem relativ hohen Niveau von mehr als 8 Prozent. Im Jahre 1933 betrug die Zahl der unterstützten Arbeitslosen rund 329.000 Personen ; die Gesamtzahl der Arbeitslosen dürfte jedoch, wie die Volkszählung 1934 aufzeigte, beinahe 600.000 Menschen betragen haben. Zu diesem Zeitpunkt waren im verar-
9
Krise in Permanenz
beitenden Gewerbe und in der Industrie 47,5 Prozent der Arbeiter ohne Beschäftigung4. Die folgende Erholungsphase brachte nur geringe Fortschritte. Im Jahre 1937 dürfte die Arbeitslosenrate noch immer ein Viertel der Gesamtzahl der Arbeitnehmer betragen haben. Es gibt aber Schätzungen, die ein noch ungünstigeres Bild vermitteln5. Tabelle 4 : Gesamtzahl der Arbeitslosen und Zahl der unterstützten Arbeitslosen in Österreich 1919–1937 (Jahresdurchschnitt) Gesamtzahl der Arbeitslosen
Davon : Unterstützte
Arbeitslosenrate (Arbeitslose in % der Arbeitnehmer)
1919
355.000
147.200
18,4 ( 8,3)*
1920
79.000
32.200
4,2 ( 3,2)
1921
28.000
11.700
1,4 ( 1,1)
1922
103.000
49.400
4,8 ( 4,3)
1923
212.000
109.800
9,1 ( 9,4)
1924
188.000
95.200
8,4 ( 8,1)
1925
220.000
150.000
9,9 (11,4)
1926
244.000
176.500
11,0 (12,9)
1927
217.000
172.500
9,8 (12,7)
1928
183.000
156.200
8,3 (11,7)
1929
192.000
164.500
8,8 (12,2)
1930
243.000
208.400
11,2 (15,4)
1931
334.000
253.400
15,4 (19,4)
1932
468.000
310.000
21,7 (24,7)
1933
557.000
328.800
26,0 (27,2)
1934
545.000
278.000
25,5
1935
515.000
261.800
24,1
1936
515.000
259.200
24,1
1937
464.000
231.300
21,7
* abweichende Zahlen laut Butschek, Österreichische Wirtschaftsgeschichte, S. 213. Quelle : Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 29.
4 5
Hertz, The Economic Problems, S. 147 ff. WIFO, Heft 1–2/1945, S. 37.
10
Krise in Permanenz
Der Mangel an Dynamik, welcher der österreichischen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit innewohnte, wird am klarsten durch das fast völlige Brachliegen der Investitionstätigkeit illustriert. Im Jahr 1913 wurden 13 Prozent des verfügbaren Güter- und Leistungsvolumens investiert. Die Nettoinvestitionen dürften die Höhe von 7 Prozent erreicht haben. Im Durchschnitt der Jahre 1924 bis 1937 erreichten die Bruttoinvestitionen kaum mehr als 7 Prozent. Dies bedeutet, dass während dieser Zeit nur so viel investiert wurde, wie für den Ersatz alter Anlagen notwendig war. Die Schwankungen der Investitionsquote waren erheblich ; sie können Tabelle 5 entnommen werden : Tabelle 5 : Investitionsquote des verfügbaren Güter- und Leistungsniveaus (in %) 1913
1924
1929
1933
1937
12,9
6,0
9,9
5,1
7,4
Quelle : Kausel/Nemeth/Seidel, S. 19.
In den guten Konjunkturjahren 1924 bis 1929 nahmen die realen Bruttoinvestitionen um 13 Prozent pro Jahr zu. In der folgenden Depression 1929 bis 1933 schrumpften sie dagegen um 20 Prozent jährlich. Die Erholungsphase 1933 bis 1937 war durch eine jährliche Zunahme der Bruttoinvestitionen von 12 Prozent gekennzeichnet. Die Investitionen schwankten drei- bis fünfmal so stark wie das Nationalprodukt. Aber selbst 1929 verharrten sie erheblich unter dem Niveau von 1913. Die schwache und erratische Investitionstätigkeit der Ersten Republik bietet e inen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der wirtschaftlichen (und auch politischen) Misere dieser Periode. Warum legten die österreichischen Unternehmer so wenig Initiative und Innovationsbereitschaft an den Tag ? Werfen wir zuerst einen Blick auf das industrielle Erbe, das die Republik aus der Zeit der Monarchie übernommen hatte. Dieses bestand aus einigen schwer, d. h. nur auf mittlere Frist, korrigierbaren Disproportionalitäten : Die Energiebasis war schmal, manche Zweige der Investitionsgüterindustrie waren, wie bereits angedeutet, für den großen Markt der Monarchie bestimmt und somit überdimensioniert ; hingegen waren einzelne Branchen der Konsumgüterindustrie unterentwickelt oder fehlten zur Gänze. Einen guten Eindruck vom Aufbau der österreichischen Industrie in den Anfangsjahren der Republik vermittelt Tabelle 6, in der die einzelnen Industriezweige nach ihrer beschäftigungspolitischen Bedeutung geordnet sind.
11
Krise in Permanenz
Tabelle 6 : Struktur der Industriearbeiterschaft*
Metall- und Maschinenindustrie
Zahl der Arbeiter
in %
188.532
21,4
Baugewerbe
140.541
15,9
Bekleidungs- und Schuhindustrie
75.644
9,0
Holzindustrie
70.946
8,0
Textilindustrie
67.476
7,7
Nahrungsmittelindustrie
60.397
6,8
Handel und Verkehr
58.413
6,6
Bergbau
52.998
6,0
Hotel-, Gast- und Schankgewerbe
36.659
4,0
Papierindustrie
30.060
3,4
Chemieindustrie
26.778
3,0
Graphische Industrie
25.683
2,9
Industrie der Steine und Erden
24.537
2,8
Lederindustrie
13.166
1,5
Kautschukindustrie
5.550
0,6
Elektrische Ausrüstung
3.209
0,4
879.699
100,0
* Der Industriebegriff ist hier weiter als allgemein üblich gefasst. Nach den Schätzungen des Statistikers Felix Klezl wurden in dieser Kompilation rund 89 Prozent aller in der Industrie beschäftigten Arbeiter erfasst. Quelle : Layton/Rist, S. 30.
In der Metall- und Maschinenbauindustrie, die während des Krieges eine enorme Ausdehnung erfahren hatte, war während der 20er-Jahre die größte Zahl von Arbeitern beschäftigt. Dieser Industriezweig litt in der Zwischenkriegszeit in besonderem Maß unter den mannigfachen Handelshemmnissen, die den Export erschwerten. Nur in den Jahren der Inflationskonjunktur (1920–1922) konnte eine befriedigende Auslastung der Kapazitäten erreicht werden. Weitverbreitete Arbeitslosigkeit unter den Metallarbeitern und ein permanenter Schrumpfungsprozess, der das Wiener Neustädter Industriegebiet, das Zentrum der ehemaligen Rüstungsindustrie, besonders stark in Mitleidenschaft zog, waren die unvermeidlichen Folgen. Zu Anfang des Jahres 1925 waren 30 % der Arbeiter in der Eisen- und Metallindustrie beschäftigungslos ; in den Wachstumsbranchen Papier erzeugung und chemische Industrie hingegen machte die Arbeitslosigkeit nur 4 bzw.
12
Krise in Permanenz
3 % aus6. Auch die Bauindustrie litt in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen an chronischer Unterauslastung. Die wesentliche Ursache dafür ist im hohen Zinsniveau zu suchen, das langfristige Investitionen besonders verteuerte7. Die Metall- und Maschinenbauindustrie kann als typisch auch für eine Reihe anderer Industriezweige gelten8, die in Anbetracht des engen Binnenmarktes und eines weit verbreiteten Protektionismus – nicht nur in den Sukzessionsstaaten, sondern auch in hochindustrialisierten Ländern wie den USA9 – ihr Produktionspotential niemals befriedigend ausnutzen konnten. 1931 lagen die durchschnittlichen Zollsätze in 15 europäischen Ländern zwischen 17 und 97 (!) %. Nur in drei Staaten (Belgien, Schweden, Schweiz) war die Zollbelastung geringer als in Österreich10. Die Land- und Forstwirtschaft blieb auch in der Ersten Republik der wichtigste Erwerbszweig, wenn auch seine relative Bedeutung, verglichen mit »Altösterreich« oder gar der Monarchie, deutlich geringer war. Anfang der 20er-Jahre waren etwas weniger als 40 % der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft tätig. 1910 hatte ihr Anteil in Cisleithanien noch ca. 57 %, in Österreich-Ungarn sogar rund zwei Drittel betragen11. Die über 1,1 Millionen in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Österreicher waren jedoch während der Zwischenkriegszeit niemals in der Lage, die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung auch nur annähernd sicherzustellen. Der Einfuhrüberschuss an Gütern der Ernährungswirtschaft (Nahrungsmittel und Getränke, lebende Tiere) bildete den größten Passivposten der österreichischen Handelsbilanz. Er betrug in den Jahren 1924 bis 1937 rund 10,1 Mrd. Schilling und machte somit ca. 95 % des kumulierten Handelsbilanzdefizits dieser Periode aus12. Die Ursachen für die bescheidene Leistung der österreichischen Landwirtschaft sind vor allem in der aus der Zeit vor 1918 ererbten niedrigen Produktivität zu suchen. Diese resultierte, wie Karl Bachinger schrieb, »aus einer veralteten Betriebsweise und aus einer ungünstigen Betriebsgrößenstruktur«13. 6 Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte, S. 80. 7 Da die Mieterschutzgesetzgebung nicht für Neubauten galt, kann sie nicht für die geringfügige Bautätigkeit verantwortlich gemacht werden. 8 Eine eingehende Beschreibung des von der Monarchie übernommenen Industriepotentials soll hier unterbleiben. Vgl. dazu u. a. Koren, S. 297 ff ; Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte, S. 5l ff ; Bachinger, Umbruch und Desintegration, S. 153 ff ; Haber, S. 27 ff. Mit der Entwicklung der österreichischen Industrie werden wir uns in späteren Kapiteln noch öfter beschäftigen. 9 Lewis, S. 149 ff ; Henikstein, S. 36 ff. 10 Woytinsky, S. 277. England wurde in dieser Statistik nicht aufgeführt. Es war aber der vierte Staat mit niedrigeren Zollsätzen als den österreichischen. 11 Bachinger, Umbruch und Desintegration, S. 145. 12 Berechnet nach : Der Außenhandel Österreichs in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, S. 21. 13 Bachinger, Umbruch und Desintegration, S. 149 f.
13
Krise in Permanenz
Die Daten über die Berufsstruktur der Republik Österreich geben einen Hinweis auf die große Anzahl von Erwerbstätigen, deren Existenz aufs engste mit der Funktion Wiens als Hauptstadt eines Reiches mit ca. 52 Mio. Einwohnern verknüpft war (siehe Tabelle 7). Tabelle 7 : Berufsstruktur der Republik Österreich Zahl der Beschäftigten
in %
Land- und Forstwirtschaft
1.120.000
37,0
Industrie und Bergbau
1.025.000
34,0
Handel und andere private Dienstleistungen
375.000
12,5
Öffentliche Dienste
295.000
10,0
Freie Berufe
210.000
6,5
Quelle : Statistische Nachrichten, Jg. 1925, S. 49 ff.
In der ersten Hälfte der 20er-Jahre übten 29 % aller Erwerbstätigen einen Dienstleistungsberuf aus : Österreich, vor allem Wien, hatte nach dem Urteil Gustav Stolpers vor allem die »bürgerlichen« Funktionen für die Monarchie erfüllt. »Der Deutsch-Österreicher ist unter den Völkern der früheren Monarchie gewissermaßen der ›Bourgeois‹ gewesen. Er hat ihnen die Organisatoren, Kaufleute, Techniker, Gelehrten, Beamten, Offiziere geliefert. Für die bürgerlichen Dienste, die Deutsch-Österreich den nichtdeutschen Nationen leistete, hat es als Entgelt Einnahmen aus dem gesamten Gebiet des früheren Österreich-Ungarn bezogen.«14
Diese »Arbeitsteilung« zwischen den verschiedenen Regionen des Habsburgerreiches diente nach 1918 wiederholt als Argument gegen die »Lebensfähigkeit« Österreichs. Zweifellos war der Dienstleistungsbereich nunmehr überdimensioniert und damit eine Strukturanpassung an die Gegebenheiten der ökonomischen Neuordnung im Donauraum unerlässlich ; wie diese aber letztlich aussehen würde, war auch einige Jahre nach Kriegsende – zumindest bis zum Ende der Inflationsperiode – nicht klar erkennbar. Da zudem mächtige Interessensgruppen15, vor allem Banken und bestimmte Industrien, die Aufrechterhaltung der tradierten Funktionsteilung anstrebten, wurden in der Folgezeit keine entschiedenen Anstrengungen unternommen, um 14 Stolper, Deutschösterreich als Sozial- und Wirtschaftsproblem, S. 115. 15 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 284.
14
Krise in Permanenz
eine systematische Anpassung der österreichischen Wirtschaftsstruktur an die neuen Gegebenheiten im Donauraum in die Wege zu leiten. Zur Beseitigung der ererbten Strukturmängel des neuen Österreich hätte es einer zielstrebigen wirtschaftspolitischen Strategie bedurft. Ein solches Unterfangen stieß jedoch auf den erbitterten Widerstand von Politikern, die von ihrer orthodoxen Laissez-faire-Gesinnung nicht abzugehen bereit waren und dabei vom Ausland im Zeichen der »Genfer Sanierung« (und später, in den 30er-Jahren, im Gefolge der Lausanner Anleihe) aufs Entschiedenste unterstützt wurden. Die zweimalige ausländische Finanzkontrolle verurteilte von vornherein jeden Versuch zur Aussichtslosigkeit, der wirtschaftlichen Aktivität der öffentlichen Hand einen systematischeren Charakter zu verleihen. Zu den sozusagen »hausgemachten« gesellten sich andere Übel, die vom neuen Österreich kaum kontrollier- und beeinflussbar waren : Die Monarchie hatte zu den Ländern mit einer geringen Außenhandelsabhängigkeit gehört ; die Republik hingegen war als Kleinstaat in hohem Maße auf den Außenhandel angewiesen. Ihre »natürlichen« Handelspartner, so schien es zumindest am Anfang, waren die Nachfolgestaaten der Monarchie, zu denen Österreich noch immer mannigfaltige Beziehungen unterhielt. Die Intensität dieses Handelsverkehrs – und seine sukzessive Lockerung – kann Tabelle 8 entnommen werden. Tabelle 8 : Anteil der Nachfolgestaaten an den österreichischen Warenexporten 1920–1937 in Mio. S
in %
1920
790,0
58,6
1921
843,0
64,3
1922
816,9
51,4
1924
920,4
46,7
1929
846,4
38,7
1932
263,8
34,8
1937
387,1
31,8
Quellen : Österreichs Außenhandel in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, S. 82 ; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, 2.–4. Jg. (1921–1924). Ziffern für 1920 und 1921 : Schätzungen aufgrund der Angaben im Statistischen Handbuch.
Nach den Berechnungen von Friedrich Hertz schrumpfte der Handel der ehemaligen Nachfolgestaaten untereinander bis Mitte der 30er-Jahre auf etwa 15 % des Vorkriegswertes, mit anderen Worten : auf einen Bruchteil des Wertes zusammen, den er im
Krise in Permanenz
Rahmen der Monarchie ausgemacht hatte16. Aber schon in den 20er-Jahren war die Lage im Donauraum durch administrative zoll- und devisenpolitische Maßnahmen gekennzeichnet, die dem Warenverkehr schwer überwindbare Hürden in den Weg stellten. Österreich war der einzige Nachfolgestaat, der sich der Wirtschaftsdoktrin des Liberalismus verschrieben hatte. Erst gegen Ende der 20er-Jahre kam es auch hier zu den ersten protektionistischen Maßnahmen. Der wirtschaftliche Nationalismus im Donauraum hätte möglicherweise weniger großen Schaden angerichtet, wenn er in eine Zeit der weltwirtschaftlichen Expansion gefallen wäre. Die 20er-Jahre standen jedoch im Zeichen schwacher wirtschaftlicher Auftriebstendenzen. »Das auffallendste Faktum«, schrieb Derek H. Aldcroft, »ist die deutliche Verlangsamung des Einkommenswachstums in der ganzen Welt zwischen 1913 und 1929. Das Wachstum war keineswegs unbedeutend, aber sowohl das Gesamt- wie das Pro-Kopf-Einkommen (real ausgedrückt) wuchs spürbar langsamer ; verglichen mit der langen Expansionsperiode vor 1914, und im Vergleich zum gesamten 20. Jahrhundert (1913–1959) schneidet die Periode von 1913 bis 1929 schlecht ab.«17
Dies gilt in besonderem Maß für Europa : Während sich im Fernen Osten der Aufstieg Japans in den Rang einer ökonomischen Großmacht abzuzeichnen begann, präsentierten sich weite Teile West-, Zentral- und Südosteuropas in einem sehr ungünstigen Licht. »Europas Produktion weitete sich ungefähr um die Hälfte der Weltrate aus und nur um mehr als ein Drittel der außereuropäischen Rate«, schrieb Aldcroft und fügte hinzu, dass der überwiegende Teil des europäischen Rückstandes »dem langsamen Wachstum in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Osteuropa – mit Ausnahme der Sowjetunion und der Tschechoslowakei – zugeschrieben werden muß.« Besonders auffallend war die geringe Zunahme des europäischen Außenhandels, dessen Wachstumsrate »kaum ein Viertel derjenigen aus der Zeit von 1880 bis 1913 betrug«18. Unter diesen Umständen standen dem österreichischen Außenhandel im Donauraum nur geringe Entfaltungsmöglichkeiten offen. Doch die Neuorientierung nach dem Westen und den überseeischen Gebieten erwies sich als ein sehr langwieriger und friktionsreicher Prozess, der seinen Niederschlag in einem hartnäckigen chronischen Defizit der Handels- und Leistungsbilanz fand. 16 Hertz, The Economic Problems, S. 83 f. 17 Aldcroft, S. 326. 18 Ebenda, S. 339.
15
16
Krise in Permanenz
In den Jahren bis 1929 machte der Außenhandel zwar langsame Fortschritte, aber das Passivum der Handelsbilanz verharrte auf einem beunruhigend hohen Niveau. In der Weltwirtschaftskrise trat dann eine katastrophale Schrumpfung des Außenhandelsvolumens ein, das 1933 nur etwa 35 Prozent des Standes von 1929 umfasste. 1937 bestand zwar noch immer ein Einfuhrüberschuss in der Höhe von 236,8 Mio. Schilling ; dieser konnte aber aus den Einnahmen der von Österreich geleisteten internationalen Dienstleistungen gedeckt werden. Es gelang so in den letzten Lebensjahren der Ersten Republik, das Problem der passiven Zahlungsbilanz aus der Welt zu schaffen, aber der Preis hierfür bestand in einem Heer von einer halben Million Arbeitslosen, in ungenützten Kapazitäten in so gut wie allen Wirtschaftszweigen und in einer Wirtschaftsstruktur, die sich den äußeren Unbilden durch einen Prozess des kontinuierlichen Schrumpfens angepasst hatte. Nach den zutreffenden Worten Kurt W. Rothschilds handelte es sich dabei um eine »retrogressive« Anpassung, »bei der in einer allgemeinen Schrumpfung die überschüssigen und schlecht adjustierten Wirtschaftszweige stärker abstarben als die lebensfähigen«19. Trotz dieses ungünstigen Gesamtbildes wurden auch in den 20er-Jahren Schritte in Richtung einer Verbesserung der Handelsbilanz unternommen. Es kam zu den ersten Schritten beim Ausbau der Wasserkräfte und bei der Elektrifizierung der Bundesbahnen ; auch die Landwirtschaft war das Objekt gezielter Förderungsmaßnahmen. Aber all diese Maßnahmen erfolgten sehr zaghaft. Unter dem Eindruck des Inflationserlebnisses erhob man das ausgeglichene Budget in den Rang einer Staatsphilosophie, an der selbst in der Zeit der Weltwirtschaftskrise grundsätzlich festgehalten wurde. In dem oft zitierten »Bericht über die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs« aus dem Jahr 1931, an dessen Formulierung der bekannte Nationalökonom Ludwig Mises entscheidenden Anteil hatte, findet sich der bezeichnende Satz : »Für Bund, Land und Gemeinden hätte zu gelten, daß bei der wirtschaftlichen Notlage selbst an sich nützliche und wünschenswerte Ausgaben so lange unterbleiben müssen, bis sich die Lage gebessert hat.«20
Der deutsche Historiker Knut Borchardt hat vor einiger Zeit die Frage nach den »Handlungsspielräumen« der deutschen Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise gestellt21, Felix Butschek hat diese Diskussion auf die österreichischen Verhältnisse übertragen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Möglichkeiten einer 19 Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte, S. 88 f. 20 Bericht über die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs, S. 31. 21 Borchardt, Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik.
Krise in Permanenz
alternativen Wirtschaftspolitik sehr beschränkt gewesen wären. Es hätten, so lautet sein Résumé, »wohl Akzente anders gesetzt, kaum aber eine grundlegend andere Politik betrieben werden können«22. Dem Verweis auf die »Sachzwänge« der Wirtschaftspolitik ist zwar eine grundsätzliche Berechtigung nicht abzusprechen ; doch erscheint es zweifelhaft, ob man von einem »wirtschaftspolitischen Kurswechsel«23 in den Jahren nach 1933 sprechen kann. Denn auch unter den Auspizien der neuen ständisch-autoritären Ordnung wurde dem ausgeglichenen Budget und der Währungsstabilität oberste Priorität eingeräumt. Die sogenannte »Arbeitsschlacht« des Schuschnigg-Regimes war nicht wirtschaftspolitisch motiviert, sondern ein propagandistisches Manöver, das darauf berechnet war, der NS-Propaganda den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die wirtschaftlichen Belebungsmaßnahmen blieben daher halbherzig und waren wenig durchdacht. Erst in den letzten Lebenswochen der Ersten Republik schien sich eine Änderung der wirtschaftspolitischen Orientierung anzukündigen : Wenige Tage nach der Regierungsumbildung, die auf das Berchtesgadener Abkommen vom 12. Februar 1938 folgte, wurde im Ministerrat ein Arbeitsbeschaffungsprogramm in der Höhe von 300 Mio. Schilling beschlossen, das aber infolge des Einmarsches der deutschen Truppen im März 1938 nicht mehr zum Tragen kam24. Sieht man von dieser Episode ab, so muss man dem vernichtenden Urteil zustimmen, das Ernst Wagemann, der Leiter des Berliner Instituts für Konjunkturforschung, nach dem »Anschluß« über die Wirtschaftspolitik des Ständestaates gefällt hat : »Während andere Staaten, um die Not zu lindern und die Arbeitslosigkeit zu beheben, in erheblichem Umfang den Staatskredit einsetzten, war Österreich durch seine Auslandsgläubiger verpflichtet, seine Staatsausgaben aufs äußerste zu beschränken. […] Aber was die Auslandsgläubiger forderten, deckte sich weitgehend mit dem, was die österreichischen Regierungen von 1932 bis 1938 ohnehin als die zweckmäßigste Wirtschaftspolitik betrachteten.«25
Wenige Jahre bevor diese Zeilen geschrieben wurden, war mit der Fusion zwischen der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe und dem Wiener Bankverein der ein Jahrzehnt dauernde Konzentrations- oder besser : Kontraktionsprozess im österreichischen Bankwesen zu Ende gegangen. Von den zehn großen Aktien22 Butschek, Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert, S. 58 ; vgl. ders., Österreichische Wirtschaftsgeschichte, S. 225 ff. 23 Ebenda, S. 56. 24 Siehe : Tálos/Weber, S. 311. 25 KOFO, Heft 3/1938, S. 76.
17
18
Krise in Permanenz
banken Wiens aus der Vorkriegszeit waren 1937 nur mehr drei übriggeblieben : die quasi eine Monopolstellung einnehmende Österreichische Creditanstalt – Wiener Bankverein, die Wiener Filiale der 1921 in ein französisches Institut umgewandelten Länderbank und die Mercurbank, die wenig mehr war als eine Filiale der Dresdner Bank in Berlin. Der gesamte Zeitraum seit 1918 kann – bezogen auf das österreichische Bankwesen – als der eines Niedergangs und einer permanenten Krise beschrieben werden, in dessen Verlauf die Wiener Kommerzbanken praktisch alle Positionen im Donauraum hatten räumen müssen, die sie seit den Tagen ihrer Gründung mühsam aufgebaut hatten. Keine Möglichkeit zum Rückzug gab es hingegen aus den inländischen »Stellungen« der Mobilbanken. Schon bei der Gründung der Creditanstalt im Jahr 1855 hatte die aus Frankreich kommende Idee des Crédit Mobilier Pate gestanden26. Nach mancherlei Rückschlägen – schon bei der Krise von 1857 hatte die Bank Lehrgeld zahlen müssen – hatte sich in den letzten beiden Jahrzehnten vor 1914 jene enge Symbiose von Bank- und Industriekapital herausgebildet, die unter dem Namen »Finanzkapital« in die Geschichte eingegangen ist. Dass dieser Begriff von einem österreichischen Ökonomen stammt27, kann wohl kaum als Zufall gewertet werden. In diesen Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beteiligten sich die Wiener Banken in systematischer Weise an der Umwandlung von Personenfirmen in Aktiengesellschaften und entwickelten neue Techniken der Investitionsfinanzierung, indem sie ihren Konzernunternehmen formal kurzfristige Kontokorrentkredite gewährten, die auf lange Frist gegeben wurden. Zu einem günstigen Zeitpunkt wurden diese Kredite durch die Begebung von Aktien (oder die Umwandlung der Firmen in Aktiengesellschaften) konsolidiert. Auf diese Weise waren die Wiener Banken am Vorabend des Krieges mit Industrieunternehmen in ganz Cisleithanien und darüber hinaus in Ungarn verbunden. Der »Konzern« der Creditanstalt umfasste 1913 mehr als hundert Banken, Handelsgesellschaften, Verkehrsunternehmen und Industriefirmen, unter ihnen so bekannte wie die Skodawerke, der Stabilimento Tecnico Triestino und andere28. Der Zerfall des Habsburgerreiches musste also die Creditanstalt und andere Institute unmittelbar betreffen. Er war gleichbedeutend mit dem Verlust gerade des potentesten Teils ihrer Klientel, mit der Aufgabe des größten Teils der »neuausländischen« Filialen und mit einer durch die politischen Umwälzungen hervorgerufenen schockartigen Transnatio26 Siehe : März, Österreichische Industrie- und Bankpolitik in der Zeit Franz Josephs I., S. 29 ff. 27 Rudolf Hilferding, der diesen Begriff kurz vor dem Ersten Weltkrieg als Erster prägte, stammte aus dem Kreis der Austromarxisten. 28 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 73 ff.
Krise in Permanenz
nalisierung, die ihnen die Verwaltung und Betreuung des weniger ertragreichen Teils ihrer einstigen Imperien aufbürdete. Die 20er-Jahre akzentuierten aber auch die Gefahrenmomente, die in der engen Verbindung der Banken zur Industrie schon vor 1914 angelegt waren. Schon damals waren die Wiener Großbanken in einem größeren Ausmaß durch übergroßen Aktienbesitz und eingefrorene Kredite immobilisiert, als es die meisten Zeitgenossen ahnen mochten29. Nach dem Krieg wurde diese Tendenz zur »Überakkumulation« von Industriebeteiligungen und -krediten noch weiter verstärkt. Aber erst die Weltwirtschaftskrise sollte die Wahrheit ans Tageslicht bringen, welche die Bilanzen der Banken in den 20er-Jahren sorgsam (und erfolgreich) zu verbergen gesucht hatten. Gleichsam von Tag zu Tag wuchs der Grad der Immobilisierung vor allem bei jenen Instituten, die in den 20er-Jahren den expansivsten Kurs gesteuert hatten. Der Weg in die Katastrophe, der im Mai 1931 mit dem Zusammenbruch der Creditanstalt ihren Höhepunkt erreichte, wird im Folgenden nachgezeichnet.
29 So war z. B. ein größerer Teil des Aktienkapitals durch Aktien gebunden als bei den Berliner Großbanken. Wir werden darauf im weiteren Verlauf der Arbeit noch zurückkommen.
19
II. Zerfall der Monarchie und Inflation Die Bankenkrise beginnt
1. Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
Die Republik sah sich in ihrer Geburtsstunde mit einer akuten inflationären Situation konfrontiert. Während der Kriegszeit war die Geldentwertung ein fast ausschließlich »hausgemachtes« Phänomen gewesen. Nun kamen auch starke äußere Einflüsse hinzu, insbesondere die Baissespekulation gegen die Krone und der Preisauftrieb auf den internationalen Rohstoff- und Nahrungsmittelmärkten. Angesichts des rapiden inneren wie äußeren Wertverfalls der Krone erschien den Zeitgenossen der Kampf gegen die Inflation als das jede andere Frage überschattende Lebensproblem des jungen Staates. Die Wirtschaftspolitik der gesamten Ersten Republik war von diesem »Inflationstrauma« gekennzeichnet. »In der gesamten Geschichte des Geldes gab es niemals eine derart grundlegende Umwälzung aller monetären Bedingungen, die mit den Ereignissen im Gefolge des Weltkrieges vergleichbar wäre.«1
Dieses Wort des schwedischen Ökonomen Gustav Cassel trifft auch auf die Kriegsund Nachkriegsinflation in Österreich zu. In Österreich war es zuvor nur zu Beginn des 19. Jahrhunderts (als Folge der Finanzierung des Krieges gegen Napoleon durch die Banknotenpresse) zu einer so weitgehenden Entwertung des Geldes gekommen, die schließlich in den »Staatsbankrott« von 1811 mündete2. Das Ausmaß des Währungsverfalls war aber zur Zeit der Napoleonischen Kriege unvergleichlich geringer als nach dem Ersten Weltkrieg : Im Dezember 1810, als die »Bankozettel« auf ihren geringsten Wert gefallen waren, mussten für 100 Gulden Conventionsmünze rund das 9,6fache der Parität in Bankozetteln gezahlt werden. Der Dollarkurs der Krone wurde im Herbst 1922 aber bei dem 14.400fachen der Parität stabilisiert3. Der Wertverfall der Krone war also 1.500 mal größer als der Kursverlust der Bankozettel. 1 2 3
Cassel, Post-War Monetary Stabilization, S. 1 (Übers. v. Verf.). Beer, S. 44 ff. Ebenda, S. 397 ; Walré de Bordes, S. 135 f.
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
Eine Inflation dieses Ausmaßes musste zu weitreichenden Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge des neuen Gemeinwesens führen. Ein Verarmungsprozess setzte ein, der so gut wie alle Volksschichten berührte und eine deutliche Verschiebung in der sozialen Struktur des Landes bewirkte. Arbeiter und Angestellte, die während des Krieges eine schwere Bürde getragen hatten, vermochten – nach Überwindung der ärgsten Nachkriegsnot – einen Teil ihres einstigen Realeinkommens zurückzugewinnen. Der kleine Mittelstand dagegen – Beamte, Gewerbetreibende und Angehörige freier Berufe – musste sich mit dem dauernden Verlust seiner einstigen relativ gehobenen Position abfinden. Der Rentiersstand verschwand völlig von der Bildfläche. An seine Stelle trat eine kleine parasitäre Schicht von Spekulanten, die im Bewusstsein der breiten Massen einen symbolhaften Charakter annahm, obwohl sie nach dem abrupten Ende der Inflation rasch die historische Arena wieder verlassen musste. Die traumatische Erfahrung der Inflationszeit hinterließ in der Bevölkerung ein Legat aus antisemitischen Ressentiments, Resignation und einem tiefen Misstrauen der bürgerlichen Schichten gegen die Sozial demokratie, die man für die erlittene Depravierung verantwortlich machte. Aber die Inflation zeigte nicht bloß negative Auswirkungen. Auf den wachstumsfördernden Effekt des Inflationsprozesses ist in der ökonomischen Literatur wiederholt hingewiesen worden. In diesem Sinne bezeichnete Otto Bauer die Nachkriegsinflation als »ein unentbehrliches Mittel, das durch diese Katastrophe [die Auflösung der Monarchie, d. Verf.] völlig zerrüttete Wirtschaftsleben wiederherzustellen. Der elementare Prozeß der Geldentwertung setzte den kapitalistischen Warenaustausch und die kapitalistische Warenproduktion wieder in Gang«4.
Die stimulierenden Effekte des Inflationsprozesses schlugen in seiner letzten Phase, der Phase der Hyperinflation, die im Spätsommer 1921 einsetzte und im August 1922 ihren Höhepunkt erreichte, in ihr Gegenteil um : Die Beschleunigung der Geldentwertung beraubte die Industrie des Betriebskapitals, da die Verkaufserlöse zur Nachbeschaffung von Vorprodukten nicht mehr hinreichten. Auch der Rückgang der Reallöhne konnte den Verlust des Betriebsvermögens nicht mehr kompensieren. Die Produktion begann zu sinken ; die Arbeitslosigkeit lag im Jahr 1922 deutlich über dem Vorjahreswert5. Es waren vor allem die negativen Erfahrungen der Hyperinflation, die sich im Bewusstsein der Bevölkerung niederschlugen und das erwähnte »Inflationstrauma« bewirkten. 4 5
Bauer, Die österreichische Revolution, S. 749. Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, IV. Jg. (1924), S. 100.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Der Prozess der Geldentwertung setzte gleich nach Kriegsausbruch ein. Wie Diagramm 1 zeigt, blieb die Geldentwertungsrate bis zum Herbst 1921 bemerkenswert stabil. Erst im Oktober 1921 kam es zu einer »Explosion« des Preisniveaus, die zur Folge hatte, dass im September 1922 das Preisniveau rund 94 mal höher war als im September 19216. Auf die einzelnen Phasen des Inflationsprozesses kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden7. Es soll nur auf die auffallende Tatsache hingewiesen werden, dass in den sieben Jahren nach Kriegsausbruch, vom Juli 1914 bis Juli 1921, das Preisniveau im Jahresdurchschnitt um ca. 100 % anstieg ; auf Phasen der beschleunigten Geldentwertung, die regelmäßig in die zweite Jahreshälfte fielen, folgten jeweils Perioden der Beruhigung des inflationären Prozesses. Im Herbst 1921 setzte jedoch das Stadium der Hyperinflation ein, in welchem die Inflationsrate vierstellige Zahlen erreichte. Der Kaufkraftschwund der Krone auf den Binnenmärkten der Monarchie war von einem Sinken des Wechselkurses begleitet. Wie Diagramm 1 zeigt, wiesen Preisniveau und Wechselkurs einen unterschiedlichen Rhythmus der Entwertung auf, der während des Krieges besonders ausgeprägt war. Am Ende der Inflationsperiode, im September 1922, bestand aber eine fast vollständige Übereinstimmung zwischen dem Binnen- und dem Außenwert der Krone : Zu diesem Zeitpunkt war der Index des Dollarkurses nur noch um rund 7 % höher als der Lebenshaltungskostenindex (ohne Wohnung). Bis zum Ende der Monarchie war der Wechselkurs der Krone einem verhältnismäßig geringen Entwertungsprozess ausgesetzt gewesen. Während knapp nach dem Zusammenbruch (November 1918) der Lebenshaltungskostenindex (ohne Wohnung) auf das 16,4fache des Vorkriegsniveaus gestiegen war, notierte der Dollarkurs in Wien bloß das 2,9fache. Die weitgehende Unterbindung des Außenhandels, die fast völlige Behinderung der Kapitalflucht durch die Einführung der Devisenbewirtschaftung und die Kurspflegeoperationen der Österreichisch-ungarischen Bank wirkten zusammen, um ein starkes Sinken des Kronenkurses hintanzuhalten8. Bald nach Kriegsende setzte jedoch ein rasanter Sturz des Kronenkurses auf den Devisenmärkten ein. Er hatte zur Folge, dass schon weniger als zwei Jahre danach der Index des Wechselkurses den Lebenshaltungskostenindex überschritt9. Die Phasen des Verfalls des Wechselkurses, die regelmäßig von Perioden der Erholung abgelöst wurden, sind durch eine Reihe von Faktoren zu erklären, von denen die Höhe des Handelsbilanzdefizits 6 7 8 9
Walré de Bordes, S. 83. Vgl. Suppanz, Die österreichische Inflation 1918–1922 ; Weber, Zusammenbruch, Inflation und Hyperinflation. Zur politischen Ökonomie der Geldentwertung in Österreich 1918–1922. Popovics, S. 103 ff. Walré de Bordes, S. 83 und 116.
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und die Erwartungen der Spekulanten (Kapitalflucht) die wichtigsten sind10. Welche entscheidende Rolle die Erwartungen für die Entwicklung des Kronenwechselkurses spielten, zeigte sich Ende August 1922, als allein schon das Bekanntwerden der Absicht des Völkerbundes, eine Sanierungsaktion für Österreich einzuleiten, genügte, um den Kurs zu heben und zu stabilisieren11. Die Ursache der inflationären Auftriebstendenzen ist in der Vermehrung der Geldmenge nach dem Ausbruch des Weltkrieges zu suchen, die der Finanzierung des staatlichen Rüstungskonsums diente : Zu den ersten kriegswirtschaftlichen Maßnahmen 10 Bachinger, S. 261 ff. 11 Reisch, Aufgaben und Entwicklung der Oesterreichischen Nationalbank in den Jahren 1923 bis 1928, S. 283.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
zählte die Suspendierung der Bankakte durch eine kaiserliche Verordnung12, die dem Staat den unbehinderten Zugang zur Notenpresse eröffnete. Die Österreichisch-ungarische Bank wurde bis auf weiteres von der Verpflichtung entbunden, den Notenumlauf mindestens zu 40 % durch Gold und Golddevisen zu decken und die Parität des Kronenkurses mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu sichern. Außerdem konnte – dies war der Hauptzweck der Außerkraftsetzung der statuarischen Bestimmungen – die Bank direkte Darlehen an die beiden Staatsverwaltungen gewähren. Schon allein der Geldbedarf der ersten drei Kriegsmonate wurde auf 2,5 Mrd. Kronen geschätzt, was etwa 75 % der Staatsausgaben des Jahres 1913 entsprach13. Ein derart hoher Betrag konnte natürlich auf dem Kapitalmarkt nicht aufgebracht werden. Infolge der Kreditgewährung der Notenbank an den Staat stieg die Geldzirkulation rasch an. Schon im ersten halben Jahr nach Kriegsbeginn verdoppelte sich der Banknotenumlauf. Im September 1922, also acht Jahre später, stand der Index der Banknotenzirkulation auf 3728, während das Preisniveau das 14.153fache und der Dollarkurs das 15.154fache des Vorkriegsstandes erreichte. Diese Diskrepanz ist auf die unterschiedliche Entwicklung der Zeitreihen in der Phase der Hyperinflation zurückzuführen, denn noch im September 1921 betrug der Abstand zwischen dem Index des Banknotenumlaufs und dem Lebenshaltungskostenindex nur rund 10 %. Im letzten Abschnitt der Nachkriegsinflation, als die Erwartungen durchwegs auf ein weiteres Sinken des Geldwertes gerichtet waren, fand eine allgemeine »Flucht aus der Krone« statt, um der »Inflationssteuer« zu entgehen. John Maynard Keynes bezeichnet die Finanzierung der Staatsausgaben über die Banknotenpresse als eine bis zu einem bestimmten Punkt wirksame Form der Besteuerung, »der die Öffentlichkeit am wenigsten ausweichen kann und die sogar die schwächste Regierung, die keine anderen Maßnahmen durchsetzen kann, einzuheben in der Lage ist«14.
Aber wenn diese Steuer, fährt Keynes fort, nicht in maßvoller Weise eingehoben wird, »zerbricht dieses wirkungsvolle Instrument der gouvernementalen Steuereintreibung in den Händen ihrer Benützer und hinterläßt ihnen den Rest ihres Abgabensystems in völlig zerstörtem Zustand«15. 12 13 14 15
RGBl Nr. 188/1914 : Kaiserliche Verordnung vom 4. August 1914. Wysocki, S. 103. Keynes, S. 37 (Übers. v. Verf.). Ebenda, S. 45.
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Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
Die Flucht aus der Krone äußerte sich in einem beträchtlichen Rückgang der Kassenhaltung, deren Höhe mit einem Index der realen Geldmenge errechnet werden kann (vgl. Tabelle 9). Tabelle 9 : Der Realwert des Banknotenumlaufs 1914–1922 (Index Juli 1914 = 1) A
B
Juli 1914
1,0
1,0
Juli 1915
1,4
1,9
Juli 1916
0,8
2,0
Juli 1917
0,6
2,2
Juli 1918
0,7
4,9
Juli 1919
0,5
2,3
Juli 1920
0,6
1,1
Juli 1921
0,8
0,6
Juli 1922
0,4
0,2
September 1922
0,3
0,3
A : Index des Banknotenumlaufs/Index der Lebenshaltungskosten. B : Index des Banknotenumlaufs/Index des Dollarkurses. Quellen : Walré de Bordes, S. 46 ff und 114 ff ; eigene Berechnungen.
Die sprunghafte Erhöhung der Geldmenge nach Kriegsbeginn führte zu einem Anstieg des Liquiditätsgrades der Volkswirtschaft, der sich im Index des Realwertes der Geldmenge spiegelte, seinen Niederschlag aber auch in den Bilanzen der Banken fand : Die Debitoren der Banken wuchsen langsamer als ihre Kreditoren, die im Jahre 1915 ihr »Gegenüber« um über 15 % übertrafen. Vor dem Kriege hatten die Debitoren die Kreditoren überstiegen16. Am Ende des Krieges erreichten die Gesamtforderungen der Österreichisch- ungarischen Bank an die beiden Staatsverwaltungen rund 35 Mrd. Kronen17. Die Summe aus Banknotenumlauf und Giroguthaben hatte während des Krieges um ca. 30 Mrd. Kronen zugenommen18. Das kommerzielle Wechselportefeuille, das am 31. Juli 1914 über 53 % des Banknotenumlaufs betragen hatte, war am 31. Oktober 16 Kernbauer/Weber, Die Wiener Großbanken in der Zeit der Kriegs- und Nachkriegsinflation (1914– 1922), S. 147 und 181. 17 Popovics, Tabelle 2 (Anhang). 18 Ebenda.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
1918 auf 0,04 % der Notenzirkulation zurückgegangen19. Die Einreichung von Kommerzwechseln erlangte erst in den letzten Monaten der Nachkriegsinflation wiederum eine größere Bedeutung für den Geldschöpfungsprozess : Im August 1922 betrug der Anteil des Wechselportefeuilles am Banknotenumlauf über 39 %, ein Jahr davor hatte er kaum noch über 2 % ausgemacht20. Der Öffnung des »Geldhahnes« für die österreichischen Banken – zu einem Zeitpunkt, als die reale Geldmenge nur um ca. 10 % unter dem Niveau der Vorkriegszeit lag – muss zweifellos ein großer Anteil an der Beschleunigung des Inflationsprozesses im Herbst 1921 zugeschrieben werden. Die Inanspruchnahme der Notenpresse durch den Staat erwies sich während der ersten Nachkriegsjahre als unumgänglich, wollte man nicht die überaus labile politische und soziale Ordnung ernsthaft gefährden. Einen wichtigen Posten unter den neuen Ausgaben des Staates bildeten Lebensmittelzuschüsse, die im Budgetjahr 1920/21 (Juli 1920 bis Juni 1921) 25 %, im darauffolgenden Jahr schon 58 % der Staatsausgaben erreichten21. Um die Lebenshaltungskosten möglichst niedrig zu halten, musste die Regierung die mit Hilfe der »Reliefkredite« erworbenen Lebensmittel zu Preisen abgeben, die weit unter den Ankaufswerten lagen22. Die Subventionierung der Grundnahrungsmittel, die bis Ende 1921 fortgesetzt wurde23, war eine Quelle ständig steigender Budgetdefizite und damit der Geldvermehrung, weil das Sinken des Wechselkurses der Krone die Differenz zwischen An- und Verkaufspreis ununterbrochen erhöhte. Auch die Arbeitslosenunterstützung belastete in den beiden ersten Nachkriegsjahren das Budget, ebenso wie der überdimensionierte Beamtenapparat und die Defizite der staatlichen Betriebe, insbesondere der Eisenbahnen. Die Einnahmen des Staates konnten mit den gestiegenen Ansprüchen an das Budget nicht Schritt halten, zumal die Preise und Tarife für staatliche Leistungen nur in unzureichender Weise an die gesunkene Kaufkraft der Krone angepasst wurden. »Der Staat«, so wurde argumentiert, »müsse sich bei Einnahmensteigerungen möglichst zurückhaltend benehmen und seinen Bürgern ein Beispiel der Zurückhaltung geben.«24
19 20 21 22 23 24
Errechnet aus Popovics, Tabelle 2 und 4 (Anhang). Preßburger, S. 2293 und 2296. Kamitz, S. 173. Kienböck, S. 14. März, Österreichische Bankpolitik, S. 417 ff. Patzauer, S. 270. Patzauer weist im Anschluss an diese Stelle darauf hin, dass die Wiener Gemeindeverwaltung im Gegensatz zum Bund die Preise für kommunale Güter und Leistungen angemessen erhöhte, »ganz ohne Rücksicht auf das Betragen der Bevölkerung, aber in richtiger Wertung des ökonomischen Zwanges«.
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Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
Dass dies nur auf Kosten der Allgemeinheit und mit ungedeckten Noten geschehen konnte, wurde dabei geflissentlich übersehen. Die Anhebung der Steuern, ja selbst die Veranlagung von Steuernachzahlungen, stieß zudem auf den scharfen Protest vieler Unternehmerkreise und der konservativen Presse. So führte die »Neue Freie Presse« im Jänner 1919 eine sehr emotionale Kampagne gegen Finanzstaatssekretär Otto Steinwender, der die Steuerbehörden angewiesen hatte, fällige Steuern rigoros einzutreiben. Die Zeitung nahm zwei Selbstmorde Wiener Gewerbetreibender, die angeblich nach Erhalt von Vorschreibungen »ihrem unerträglich gewordenen Steuerdasein ein Ende bereitet« hatten, zum Anlass für eine Hetzkampagne gegen Steinwender, der als »Steuerhysteriker« bezeichnet wurde25. Steinwenders Schicksal als Finanzminister war damit besiegelt. Seinen Nachfolgern in diesem Amt gelang es, wie Tabelle 10 zeigt, in einem noch geringeren Maß die Staatsausgaben durch ordentliche Einnahmen zu bedecken. Tabelle 10 : Budgetdefizite 1918–1922 Ausgaben
Einnahmen
Defizit
in Mrd. K 1.11.1918 – 30. 6.1919
3,7
3,1
Einnahmen in % der Ausgaben
0,6
84
1. 7.1918 – 30. 6.1920
17,8
13,6
4,2
76
1. 7.1920 – 30. 6.1921
133,3
95,4
37,9
72
1. 7.1921 – 31.12.1921
218,8
78,0
140,8
36
1. 1.1922 – 31.12.1922
6.770,3
3.455,2
3.315,1
51
Quelle : Gratz, S. 278.
Die Finanzierung der Budgetdefizite auf dem Anleiheweg erwies sich sehr bald als unmöglich, da der Staatskredit infolge des Zusammenbruchs der Monarchie und der Defizitwirtschaft des Staates aufs Schwerste erschüttert war. Der österreichische Anleihemarkt war daher nur zur teilweisen Finanzierung des Ausgabenüberschusses der ersten Budgetperiode (von 1. November 1918 bis 30. Juni 1919) imstande. Die »1. deutschösterreichische Staatsanleihe«, die im Dezember 1918 begeben wurde, brachte immerhin noch einen Bareingang von 455 Mio. Kronen, was ca. 75 % des Budgetdefizits bis zum 30. Juni 1919 entsprach26. Das verbleibende Viertel dieses Abganges, wie auch der größte Teil der Defizite in den folgenden Jahren, wurde durch 25 Bachinger, S. 320 f. 26 Compass, Jg. 1925, S. 174.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
den Eskompte von Staatsschatzscheinen bei der Notenbank finanziert27. Am 30. November 1922 besaß die Zentralbank 2.560,8 Mrd. Kronen an Schatzscheinen in ihrem Portefeuille28. Die Zunahme des Banknotenumlaufs von der Notenabstempelung im März 1919, dem Zeitpunkt der Währungstrennung von den Nachfolgestaaten, bis November 1922 kann daher zu über 80 % auf den Eskompte von Staatsschatzscheinen zurückgeführt werden29. Die »Defizitwirtschaft« des Finanzministeriums, dessen Politik, wie Alexander Spitzmüller betont, »während der ganzen Zeit auf hemmungslose Geldausgabe gerichtet war«30, musste natürlich zu einer völligen Zerrüttung des Geldwesens führen. Darüber waren sich auch die verschiedenen Regierungen und insbesondere die Leiter des Finanzressorts völlig im Klaren. Es fehlte denn auch nicht an Reformvorschlägen und Sanierungsplänen, deren Ziel die Erreichung des Gleichgewichts im Budget und die Stabilisierung der Währung war. Der Nachfolger Steinwenders als Finanzminister, der berühmte Nationalökonom Joseph Schumpeter, arbeitete im Spätsommer 1919 einen Finanzplan aus, der (wie zahlreiche Reformvorschläge in den nächsten Jahren) keine unmittelbare Bedeutung erlangte. Schumpeter schied im Oktober 1919 – noch ehe er sein Elaborat dem Parlament präsentieren konnte – aus der Regierung aus31. »Oberster Grundsatz der Finanzpolitik muß sein«, hatten Schumpeters »Grundlinien der Finanzpolitik für jetzt und die nächsten drei Jahre« begonnen, »daß keine Banknoten oder Staatsnoten weiterhin ausgegeben werden dürfen, die direkt oder indirekt zur Deckung von Staatsbedürfnissen dienen. Deutschösterreich ist zweifellos an jener Grenze angelangt, wo die weitere Ausgabe ungedeckten Papiergeldes zur völligen Anarchie des Wirtschaftslebens führt. Die produktive Tätigkeit der Volkswirtschaft kann nur wieder einsetzen, wenn der Entwertung des Geldes und der durch sie hervorgerufenen wirtschaftlichen Demoralisierung Halt geboten wird.«32
Zu diesem Zweck war nach Schumpeter das laufende Budgetdefizit auf dem Kreditweg zu decken. Da aber nicht nur die Staatswirtschaft, sondern die gesamte Volkswirtschaft Kredit benötige, könne nur mit Hilfe von Auslandskrediten eine dauerhafte Stabilisierung der Währung und des Budgets erreicht werden. Aus diesem 27 28 29 30 31 32
Vogel, S. 38 f. Preßburger, S. 2309. Walré de Bordes, S. 48 ff. Spitzmüller, … und hat auch Ursach’, S. 334. März, Schumpeter als österreichischer Finanzminister, S. 150 f. Zitiert nach März, Österreichische Bankpolitik, S. 552.
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
Grund seien alle Maßnahmen, welche die Kreditwürdigkeit schädigen könnten (Sozialisierungspläne, Erklärung des Staatsbankrotts, Herabsetzung des Nominalwertes der Banknoten oder Staatsanleihen usw.) zu unterlassen. Die Aufgabe der Beseitigung des Budgetdefizits musste Schumpeter zufolge unverzüglich in Angriff genommen werden, würde aber nicht vor drei bis vier Jahren zu Ende geführt werden können. In diesem Zeitraum sollten – was sich nicht zuletzt auf den überdimensionierten Beamtenapparat bezog – die staatlichen Ausgaben drastisch reduziert und neue Einnahmequellen erschlossen werden. Zu diesen gehörte u. a. die indirekte Besteuerung, in der Schumpeter nichts anderes als den »Ausbau der Einkommensteuer nach unten« erblickte. Große Bedeutung in Schumpeters Finanzplan war einer Vermögensabgabe zugedacht, deren Einführung schon während des Krieges erwogen worden war. Vorschläge zur Heranziehung der Vermögensbesitzer zur Kriegsfinanzierung und zur Tilgung der Staatsschulden waren von den Finanzministern Spitzmüller und Ferdinand Wimmer, die dem konservativen Lager angehörten, und von dem parteiunabhängigen Sozialisten Rudolf Goldscheid in den letzten Kriegsjahren der Öffentlichkeit unterbreitet worden33. Schumpeters Entwurf zur Einhebung einer Vermögensabgabe enthielt insofern ein neues Element, als er durch verschiedene Begünstigungen die Vermögensbesitzer veranlassen wollte, dem Staat ausländische Kredite unter Beistellung ihrer Bürgschaft zu beschaffen. Die Vermögensabgabe sollte also die Staatskasse mit Geld in in- und ausländischer Währung füllen. Schumpeter war der festen Überzeugung, dass die gesamte Finanzpolitik in den Dienst der Kreditbeschaffung gestellt werden müsse. Im Juli 1920 wurde nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien ein Gesetz über die Vermögensabgabe beschlossen. Die Bewertung der steuer pflichtigen Vermögen und die Einzahlungsfristen waren derart geregelt, dass der Ertrag der Abgabe nur einen Teil des laufenden Defizits zu decken vermochte. Wie Viktor Kienböck, der spätere christlichsoziale Finanzminister und langjährige Präsident der Oesterreichischen Nationalbank, zu Recht betonte, stellte sich »die Einhebung der Vermögensabgabe in dem inzwischen entwerteten Geld […] im Ganzen als Schlag ins Wasser dar«34.
Schumpeter war sich ebenso wie Keynes der Tatsache bewusst, dass nur eine Regierung mit großer Autorität in der Lage war, eine wirksame Vermögensabgabe – als 33 Goldscheid, Sozialisierung der Wirtschaft oder Staatsbankrott ; ders., Staatssozialismus oder Staatskapitalismus. 34 Kienböck, S. 73.
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eine rationale Methode der Verteilung der Kriegskosten – gegen den Widerstand der vermögenden Schichten durchzusetzen. Keynes war jedoch der Ansicht, dass eine Interessenskoalition aus kleinen Sparern und Unternehmern wohl immer eine große Vermögensabgabe zu verhindern in der Lage sein würde : »Unglücklicherweise verkörpern gerade die kleinen Sparer, die am meisten durch eine Geldentwertung zu verlieren haben, den Typus des konservativen Bürgers, der sich am heftigsten der Abgabe widersetzt, während andererseits die Unternehmerklasse die Geld gentwertung vorzieht, die sie nicht sehr hart trifft und die sie sogar reicher machen kann. Die Vereinigung dieser beiden Kräfte wird im allgemeinen erreichen, daß ein Land den ungerechten und unheilvollen Weg der Geldentwertung einer wohldurchdachten Abgabe vorziehen wird.«35
Diese scharfsinnige Beobachtung von Keynes trifft auch auf die heftige Kontroverse um die Vermögensabgabe in Österreich in den Jahren 1919/20 zu, sofern man unter dem Begriff »Unternehmerklasse« auch die Landwirte subsumiert. Ein Punkt aus Schumpeters Finanzplan verdient besondere Erwähnung : »Die Gründung einer deutsch-österreichischen Notenbank gehört zu den nächsten und dringendsten Aufgaben der Finanzpolitik«, heißt es in seinem Sanierungsplan. Die neue Zentralbank sollte »außerhalb jedes Zusammenhanges mit den Staatsfinanzen gestellt« werden. Zur Einhaltung des Verbots der Kreditgewährung an den Staat – auch der Lombard von Staatspapieren sollte nicht mehr gestattet sein – war sogar ein etwai ges Kontrollrecht der Bundesländer vorgesehen36. Der Finanzplan Schumpeters erwies sich – ebenso wie zahlreiche andere, spätere Reformvorschläge – als eine Totgeburt. All diesen Sanierungsplänen war gemeinsam, dass sie fremde Kredithilfe im großen Maßstab vorsahen. Angesichts der chaotischen Budget- und Währungslage Österreichs war jedoch das Ausland nicht bereit, dem österreichischen Staat namhafte Valutadarlehen zu gewähren. »Seit den ersten Tagen des Jahres 1919«, sagte Sir William Goode, der Leiter der österreichischen Sektion der Reparationskommission,
35 Keynes, S. 55 (Übers. v. Verf.). 36 Schumpeter, zitiert nach März, Österreichische Bankpolitik, S. 562 (Herv. im Original). Die Institutionalisierung eines Kontrollrechtes der Länder über eine zukünftige Notenbank stellt eine Avance Schumpeters an die weitverbreitete Anti-Wien-Stimmung in der Christlichsozialen Partei dar, bei der er in immer stärkerem Maße Anlehnung suchte. Die politischen und wirtschaftlichen Machtträger der Bundesländer trachteten in den ersten Nachkriegsjahren danach, sich vom »jüdischen« Finanzkapital Wiens zu emanzipieren. Vgl. dazu Weber, Der finanzielle Länderpartikularismus.
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
»haben die Minister der neuen Regierung ihre Finanz- und Reformpläne unentwegt und vertrauensvoll auf der Basis ihrer rührenden Erwartung von ausländischen Krediten aufgebaut, die bisher nie eingetroffen sind«37.
Die ausländischen Banken waren verständlicherweise nicht gewillt, der österreichischen Regierung Kredite ohne eine entsprechende Besicherung zu gewähren. Der gesamte Besitz und alle Einnahmequellen Österreichs waren jedoch nach Artikel 197 des Friedensvertrages von St. Germain für Reparationsleistungen verpfändet38. Die Verhandlungen Österreichs mit den Alliierten und den Reliefkreditgläubigern um die Zurückstellung des Generalpfandrechts verliefen daher äußerst schleppend und konnten erst am 21. Juli 1922 zu einem vorläufigen Abschluss gebracht werden39. Die Reparationskommission beschloss an diesem Tag auf Antrag Österreichs, die Erträgnisse aus den Forsten, Salinen und Staatsdomänen für die Notenbankgründung sowie die Zolleinnahmen und die Überschüsse des Tabakmonopols als Sicherstellung für die geplante Auslandsanleihe freizugeben40. Damit war endlich die Grundlage für die Erlangung eines Devisenkredites gelegt, der weiterhin als unabdingbare Voraussetzung aller Reformbemühungen galt. Ausländische Kredite bildeten auch einen der Schwerpunkte in den Sanierungsvorschlägen der sozialdemokratischen Partei, die 1920 aus der Regierung ausgeschieden war. In dem vieldiskutierten Finanzplan Otto Bauers vom l. Oktober 192141 war allerdings auch eine innere Zwangsanleihe vorgesehen, die in Devisen und Effekten hätte entrichtet werden sollen. Fremde Hilfe sollte gemäß diesen Vorstellungen an ein nicht unbeträchtliches Maß an Selbsthilfe gebunden werden. Einen Schritt weiter ging der Publizist Gustav Stolper, der sich – allerdings erst nach der Bekanntgabe der Bereitschaft des Völkerbundes, Österreich eine große Sanierungsanleihe zu gewähren – um den Nachweis bemühte, dass das geplante Reformwerk zur Gänze aus inländischen Kapitalquellen finanziert werden könne42. Das chronische Budgetdefizit und der kontinuierliche Währungsverfall waren die äußeren Symptome einer aus dem Gleichgewicht geratenen Volkswirtschaft, deren krassestes Gebrechen in dem gewaltigen Importüberschuss bestand, mit dem die Re37 Goode, S. 195 ff. 38 Kienböck, S. 14. 39 Das Generalpfandrecht wurde erst im Rahmen der Haager Konferenz am 20. Jänner 1930 aufgehoben. ÖVW, 25. Jänner 1930, S. 453 ff. 40 Ladner, S. 76. 41 Bauer, Die österreichische Revolution, S. 811 ff. 42 Vgl. seine Artikelserie im »Österreichischen Volkswirt«, die mit einer vehementen Attacke auf die »Genfer Protokolle« begann. ÖVW, 7. Oktober 1922, S. 3 ff.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
publik von dem ersten Tag ihres Bestehens an konfrontiert war. Für das erste Nachkriegsjahr liegen keine statistischen Angaben über Außenhandelstransaktionen vor. Man kann jedoch davon ausgehen, dass das Außenhandelsvolumen sehr gering war. Mehrere Faktoren legen diesen Schluss nahe : Die Blockade der Alliierten gegen die »Feindstaaten« dauerte noch bis in das Jahr 1919 an. Die Verkehrsverhältnisse dieser Zeit waren äußerst chaotisch. Kohle sowie Rohstoffe und Vorprodukte für Industrie und Gewerbe waren auf den internationalen Märkten kaum oder nur zu sehr hohen Preisen zu erhalten, nicht zuletzt weil das Jahr 1919 in den Vereinigten Staaten und Westeuropa im Zeichen eines hektischen Nachkriegsbooms stand. Auch war das neue Österreich von Gold und Devisenreserven so gut wie völlig entblößt, sodass der Import von Lebensmitteln, der die Bevölkerung der Städte und Industriezentren vor dem Hungertod bewahrte, nur mit Hilfe von – im Anfang recht spärlich fließenden – »Reliefkrediten« finanziert werden konnte. Auf eigene Produkte konnte Österreich im Handel mit dem Ausland kaum zurückgreifen, da das Produktionsniveau angesichts des würgenden Mangels an Kohle und Rohstoffen sehr niedrig, der wirtschaftliche Kreislauf daher an vielen Stellen unterbrochen war. Erst im Jahr 1920, als die »Retablierungskonjunktur« in den westlichen Industriestaaten in eine kurze, aber tiefe Krise mündete, konnte Österreich wiederum als Käufer auf dem Weltmarkt auftreten43. Auch die Normalisierung des Wirtschaftslebens in den folgenden Jahren vermochte das fundamentale Ungleichgewicht der österreichischen Volkswirtschaft nicht zu beheben : Konsum, Investitionen und Importe überstiegen das inländische Angebot an Gütern und Dienstleistungen beträchtlich. Die Außenhandelsbilanz blieb während der gesamten Zwischenkriegszeit passiv. In den Jahren 1920 bis 1922 betrug der gesamte Importüberschuss mehr als 2,2 Mrd. Goldkronen (Tabelle 11). Tabelle 11 : Einfuhrüberschuss 1920–1922 (in Mio. GK) Einfuhr
Ausfuhr
Passivum
1920
1.704,1
935,9
768,2
1921
1.698,8
904,2
794,6
1922
1.757,3
1.103,7
653,6
Quelle : Der Außenhandel Österreichs, S. 9.
43 März, Österreichische Bankpolitik, S. 403 ff.
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Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
In den Jahren 1921 und 1922 stand der österreichische Außenhandel im Zeichen der inflationären »Exportprämie« oder, anders ausgedrückt, des »Valutendumpings«. Der Wechselkurs fiel in diesen Jahren schneller, als das Preisniveau im Inland anstieg, ein Umstand, der den Exporteuren einen Konkurrenzvorteil verschaffte : Sie konnten die Weltmarktpreise unterbieten und dennoch reiche Gewinne in inländischer Währung realisieren. Erst im letzten Stadium der Inflation begann die Exportprämie zu verschwinden (siehe Tabelle 12). Tabelle 12 : Jährliche Entwertung der Papierkrone (in %) gegenüber dem US-Dollar
effektive Ent wertung gegenüber »Währungskorb«*
Lebenshaltungs kosten (Inflationsrate)
1919
824
–
111
1920
311
–
84
1921
1.084
795
687
1922 (bis September)
1.169
1.018
2.047
* Gewichtet nach den Exportanteilen 1922. Quellen : Walré de Bordes ; Statistische Nachrichten, Jg. 1923 ; Amtliches Kursblatt der Wiener Börse, Jg. 1920–1923.
Charakteristisch für die Ära der Verschleuderungsprosperität ist denn auch ein beträchtliches Auseinanderklaffen zwischen den mengenmäßigen Exporten und der Entwicklung der Erlöse in stabiler Währung. Im Jahr 1921 fiel der Ausfuhrwert um 3,4 %, obwohl die exportierte Warenmenge um 12,4 % über dem Vorjahreswert lag. 1922 betrugen die entsprechenden Prozentsätze 22,1 % (wertmäßiger Exportzuwachs) und 39 % (mengenmäßiger Exportzuwachs)44. Es kam so in diesem Jahr zu einer deutlichen Verringerung des Passivums in der österreichischen Außenhandelsbilanz. Die Bilanz der Transaktionen mit dem Ausland (Zahlungsbilanz) ist, statistisch gesehen, immer ausgeglichen, da ein etwaiges Defizit der Handelsbilanz aus unsichtbaren Exporten, Zinseingängen und Krediten finanziert wird. Zu den wichtigsten Posten der Dienstleistungsbilanz zählen die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr, aus dem Transithandel, aus finanziellen Diensten (Banken, Versicherungen), aus Kapitalanlagen im Ausland (Dividenden, Zinsen) und aus den Geldüberweisungen von Auswanderern. Für die Inflationsjahre nach dem Krieg gibt es keine zuverlässigen Daten über die Höhe der Überschüsse bei den »unsichtbaren« Transaktionen. Der 44 Der Außenhandel Österreichs, S. 20.
34
Zerfall der Monarchie und Inflation
französische Ökonom Charles Rist schätzte die Nettoeinnahmen aus diesem Titel auf 500 bis 600 Mio. Goldkronen, d. h. etwa im Ausmaß des »normalen« Handelsdefizits Österreichs45. Friedrich Hertz hingegen bezifferte die Dienstleistungsbilanzüberschüsse (für 1923) auf weniger als 400 Mio. Goldkronen, für ein »Normaljahr« aber ebenfalls auf 500 bis 600 Mio. Goldkronen46. Mit noch größeren Schwierigkeiten sieht man sich bei dem Versuch einer Schätzung der Kapitalbilanz konfrontiert. Kapitalimporte erfolgten im Wesentlichen in der Form von Regierungskrediten (»Reliefkredite«, d. h. englische, französische, italienische, tschechische Kredite47) und des Transfers österreichischer Bank- und Industrieaktien48 ins Ausland, wobei der Verkauf der Mehrheitsanteile der Alpine Montangesellschaft die spektakulärste Transaktion dieser Art in der Nachkriegszeit darstellte. Im Gegensatz zu Deutschland kam der Spekulation auf eine Erholung des Kronenkurses in Österreich nur eine untergeordnete Bedeutung zu : »Die Mark«, schrieb Walré de Bordes, »wurde durch Jahre hindurch dadurch gestärkt, daß Ausländer sie zu kaufen bereit waren, während der Verfall der Krone unmittelbar einsetzte«49.
Österreich dürfte in der Inflationszeit sogar Kapital exportiert haben. Dieser Kapital export bediente sich teilweise »traditioneller« Kanäle : Die Finanzierung von Industrieunternehmungen in den Nachfolgestaaten durch österreichische Banken bildet dafür wohl das bekannteste Beispiel50. Zum größten Teil ist jedoch der Kapitalexport der Inflationsperiode als »Flucht aus der Krone« und »Devisenhamsterei« zu klassifizieren. Exporterlöse und andere Eingänge in ausländischer Währung wurden in nicht unbeträchtlichem Ausmaß auf ausländischen Bankkonten belassen, Kronennoten in großem Stil ins Ausland geschmuggelt und Scheintransaktionen zur Verschleierung des Eigenbesitzes an Devisen getätigt51. Walré de Bordes schätzt, dass die Österreicher während der Jahre 1919 bis 1922 ihre gehorteten Devisen jedes Jahr um mehrere 45 46 47 48 49 50
Walré de Bordes, S. 187. Hertz, Zahlungsbilanz und Lebensfähigkeit Österreichs, S. 60. März, Österreichische Bankpolitik, S. 470. Ebenda, S. 442. Walré de Bordes, S. 192. Auch ausländischen Regierungen gewährten die Wiener Banken Kredite. So wies die Presse »auf das unpatriotische Verhalten der Wiener Großbanken, namentlich des Wiener Bankverein hin, der für die Notenbank nur 4 Millionen Schweizer Franken zeichnet, während seine Filiale in Belgrad der jugoslawischen Regierung ein Darlehen von 1 Million Dollar gewährte.« ÖStA/AdR/BMF, Zl. AP 1438/1922. Ein US-Dollar entsprach ca. 5,3 SFrs. 51 Ladner, S. 54 ff.
35
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
hundert Millionen Goldkronen erhöhten52. Zum Unterschied von der Anhäufung offizieller Devisenreserven, die das Vertrauen in die Währung festigt, musste deren fortgesetzte »Privatisierung« (als Folge pessimistischer Erwartungen) zu einem vollständigen Zusammenbruch der Währung führen. Was waren die Auswirkungen der über acht Jahre andauernden inflationären Entwicklung in Österreich ? Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die dringendsten wirtschaftlichen Aufgaben der Nachkriegszeit, die Wiederingangsetzung des Wirtschaftsapparates, die Belebung des Außenhandels und die Eingliederung der demobilisierten Soldaten in den Arbeitsprozess, im inflationären Klima dieser Zeit verhältnismäßig rasch und reibungslos bewältigt werden konnten. Im Rückgang der Zahl der Arbeitslosen (vgl. Tabelle 13) kommt die inflationsbedingte Konjunktur der Jahre 1920 und 1921 deutlich zum Ausdruck. Tabelle 13 : Arbeitslosigkeit 1918–1922 Anzahl der Arbeitslosen (Jahresdurchschnittswerte)
Arbeitslosenrate (Arbeitslose in % der Arbeitnehmer)
1919
355.000
18,4
1920
79.000
4,2
1921
28.000
1,4
1922
103.000
4,8
Quelle : Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 29.
Im Jahr 1921 herrschte praktisch Vollbeschäftigung, obwohl das Bruttonationalprodukt kaum drei Viertel des Vorkriegswertes erreicht hatte. Die Produktivität der Arbeit lag demnach in den Inflationsjahren beträchtlich unter dem Niveau der Zeit vor Ausbruch des Weltkrieges. Dies ist teilweise auf die Vernachlässigung des Kapitalstocks zurückzuführen, dessen Erneuerung während der Kriegsjahre weitgehend unterblieben war. Aber auch die Verringerung der Arbeitszeit und die Lockerung der Arbeitsdisziplin, die in den Kriegsjahren »mit eiserner Faust erzwungen«53 worden war, dürften einen Rückgang der Produktivität in fast allen Zweigen von Industrie und Gewerbe bewirkt haben. Die Löhne und Gehälter unterlagen während der Inflationsperiode einer deutlichen Tendenz zur Nivellierung : Die realen Bezüge lagen durchwegs unter dem Vorkriegsniveau, wobei die Realeinkommen der am niedrigsten 52 Walré de Bordes, S. 192. 53 März, Österreichische Bankpolitik, S. 412.
36
Zerfall der Monarchie und Inflation
entlohnten Arbeitnehmerkategorie, die schon vor 1913 kaum die Subsistenzgrenze überschritten haben dürften, die geringsten Verluste erlitten hatten54. Am Ende der Hyperinflation bewegten sich die Reallöhne um ein bis zwei Fünftel unter dem Niveau von 1913. Das Bruttonationalprodukt des Jahres 1920, als der Tiefpunkt der Nachkriegskrise schon deutlich überschritten war, wurde vom Institut für Wirtschaftsforschung55 auf rund zwei Drittel von 1913 geschätzt. In den folgenden Jahren stieg es nach dieser Quelle um 10,7 bzw. 9 % und erreichte 1922 einen Wert von rund 80 % des letzten Friedensjahres. Die Produktionsleistungen der einzelnen Wirtschaftszweige wichen zum Teil sehr erheblich von diesem Durchschnittswert ab : die Bauwirtschaft produzierte 1922 42 %, die Industrie 56 % und die Land- und Forstwirtschaft 75,5 % des Realwertes von 1913. Die höchsten Produktionsindizes wiesen im letzten Inflationsjahr die Banken und Versicherungen mit ca. 180 % und die Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung mit rund 135 % des Vorkriegswertes auf56. Die Daten über die Produktionsleistung der einzelnen Wirtschaftssektoren müssen weiter disaggregiert werden, will man einen differenzierten Einblick in die ökonomische Entwicklung gewinnen. Innerhalb der Industrie gab es bedeutende Unterschiede zwischen den verschiedenen Zweigen der Konsumgüterindustrie (Textil, Leder, Bekleidung, Nahrungs- und Genussmittel), deren Ausstoß als Folge der geringen Kaufkraft der Bevölkerung zum Teil recht erheblich unter dem Vorkriegsniveau verblieb, und der Säge- und Holzindustrie sowie der Chemie- und Papierindustrie, die günstigere Marktbedingungen vorfanden. Eine Sonderkonjunktur erlebte der Kohlenbergbau, der schon im Jahre 1920 das Produktionsniveau von 1913 überschritt57. Industriezweige wie die Eisen- und Metallverarbeitung, deren Kapazität während der Kriegsjahre bedeutend erweitert worden war, litten schon in der Nachkriegsinflation unter einer niedrigen Kapazitätsauslastung, obwohl ihnen die Exportprämie zu zahlreichen Auslandsaufträgen verhalf. Die Auswirkungen der Periode der rapiden Geldentwertung auf die Kapitalbildung sind umstritten. Der deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser sowie die dänischen Ökonomen Karsten Laursen und Jörgen Pedersen58 haben die Meinung vertreten, dass das reale Investitionsniveau während der Nachkriegsinflation in Deutschland etwa gleich hoch einzuschätzen sei wie in den letzten Jahren vor 1913. Carl-Ludwig Holtfrerich hat diese These durch den Hinweis auf das inflati54 Kautsky, Löhne und Gehälter, S. 105 ff. 55 Kausel/Nemeth/Seidel, S. 40. 56 Ebenda. 57 März, Österreichische Bankpolitik, S. 424 ff. 58 Abelshauser, S. 168 ; Laursen/Pedersen, S. 82 f.
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
onsbedingte rasche Wachstum der Industrieproduktion in Deutschland untermauert, die sich während der Jahre 1919 bis 1922 fast verdoppelte59. Constantino Bresciani- Turroni hingegen bezeichnete die Investitionen der Inflationsperiode als »Fehlallokationen« von Kapital, die in der »reinigenden« Stabilisierungskrise rückgängig gemacht werden mussten60. Holtfrerich hat jedoch – unserer Ansicht nach zu Recht – eingewandt, dass die Nachfrageinsuffizienz der 20er-Jahre kaum der vorangegangenen Inflation zur Last gelegt werden könne. Er schrieb : »Die strukturelle Schwäche der deutschen Wirtschaft lag vielmehr in der zu geringen Investitionsbereitschaft in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, welche nationalen oder internationalen Ursachen dies auch immer gehabt haben mag.«61
Im Gegensatz zu Deutschland dürfte die Investitionstätigkeit in Österreich während der Inflationszeit relativ geringere Ausmaße angenommen haben. Der Herausgeber des »Volkswirt«, Walther Federn, vertrat damals die Auffassung : »Während die deutsche Industrie nach dem Kriege ungeheure Summen investierte, um sich technisch zu vervollkommnen und die durch die Gebietszerreißung entstandenen Lücken im Aufbau der Produktion auszufüllen, geschah das gleiche in Österreich nur ganz ver einzelt.«62
Und der Ökonom Julius Bunzel meinte im Hinblick auf die geringe Konkurrenz fähigkeit österreichischer Unternehmungen nach der Stabilisierung : »Es rächt sich eben, daß in den Tagen der Inflation die Banken den von ihnen kontrollierten Industrien zu wenig Geld zur Verfügung gestellt haben, und daß die Unternehmer selbst die in jener Zeit erzielten Gewinne oft zu Spekulationen verwendeten, statt die Einrichtung ihrer Betriebe zu verbessern, die Erzeugung zu spezialisieren, neue Produktionszweige – deren Einrichtung infolge der Absperrmaßnahmen der Nachfolgestaaten notwendig geworden war – aufzunehmen und unergiebig gewordene Erzeugungen aufzulassen.«63
Die wenig verlässlichen statistischen Angaben über die Wirtschaftstätigkeit während der Nachkriegsinflation lassen nur ein vages Bild von der Investitionstätigkeit zu. Sie 59 60 61 62 63
Holtfrerich, S. 199 f. Bresciani-Turroni, S. 403. Holtfrerich, S. 201 f. Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 65. Bunzel, Das neue Österreich, S. 438.
37
38
Zerfall der Monarchie und Inflation
legen jedoch eine gewisse Korrektur der eben zitierten Äußerungen nahe : Am Ende der Inflationsperiode gab es in Österreich um rund 1.200 Fabriken mehr als im Jahr 1919. Die Produktionskapazität der Industrie lag um etwa 20 % über dem Vorkriegsniveau64. Das Problem scheint ein anderes gewesen zu sein : Der Inflationsboom verdeckte die Strukturschwächen der Wirtschaft, vor allem die mangelnde internationale Konkurrenzfähigkeit der österreichischen Industrie. Er machte praktisch jede Investition rentabel. Da der Wiederaufbau blind und ungeplant vor sich ging, wurde die Wirtschaftsstruktur mehr verzerrt als den neuen Verhältnissen angepasst : Investitionen in der Landwirtschaft unterblieben fast völlig65 ; in vielen anderen Bereichen erwiesen sie sich – gemessen an den längerfristigen Erfordernissen – als »unvernünftig«. Vernünftig waren vor allem Investitionen, die der Importsubstitution oder der Verarbeitung inländischer Rohstoffe für den Export dienten. Dazu zählten der Ausbau der Wasserkräfte, die Modernisierung der Papierindustrie sowie die Erweiterung oder Neuerrichtung von Fabrikanlagen in der chemischen Industrie. Gigantische Fehlinvestitionen erfolgten im Zusammenhang mit der künstlichen Aufblähung der Zirkulationssphäre durch die Spekulation mit Waren und Wertpapieren, Devisen und Valuten. Die Zahl der protokollierten Kaufleute Wiens stieg vom 1. Jänner 1919 bis Anfang 1925 (zu welchem Zeitpunkt viele Händler schon wieder in Konkurs gegangen waren) um mehr als das Doppelte66. Die Zunahme der Zahl der Banken und ihre spätere Reduzierung kann der folgenden Zusammenstellung (Tabelle 14) entnommen werden : Tabelle 14 : Anzahl der Banken in Österreich 1913
1919
1923
1925
1927
1935
Aktienbanken
27
34
76
51
40
19*
Bankfirmen
150
146
282
230
152
131
* Ohne die Sparkassen-A.G. des Burgenlandes. Quellen : Federn, Die österreichischen Banken, S. 56 ; Compass, Jg. 1936.
Einen gewissen Einblick in das Investitionsverhalten gibt auch die Entwicklung des Kapitals der Aktiengesellschaften, da man davon ausgehen kann, dass Kapital 64 Rothschild, Wurzeln und Triebkräfte, S. 76 ; Pasvolsky, S. 350 f. 65 Kallbrunner, S. 6 ff. 66 Bunzel, Das neue Österreich, S. 431.
39
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
erhöhungen wohl zu einem beträchtlichen Teil der Finanzierung von Betriebsanlagen dienten. Wie aus Tabelle 15 hervorgeht, erweiterten Aktiengesellschaften in der Holz-, Elektro-, Leder- und chemischen Industrie ihre Kapitalbasis am stärksten. Diese Branchen konnten bekanntlich aus der Inflationskonjunktur den größten Nutzen ziehen67. Tabelle 15 : Kapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften 1919–1922 Aktienkapital 1919
Index (1919 = 100)
in Mio. K
1920
1921
1922
Berg- und Hüttenwerke
147
164
569
7.844
Steine und Erde
59
144
346
6.954
Metallverarbeitung
188
190
456
3.956
Maschinenbau
187
276
760
4.345
Elektroindustrie
148
239
721
17.395
Baugewerbe
60
130
355
4.017
Chemie
71
262
631
10.051
Papier, Druck, Verlag
111
232
512
8.525
Textilindustrie
87
178
331
2.060
Leder, Gummi
32
194
300
10.870
Holz
14
407
2.500
17.693
Nahrungs- und Genussmittel
165
114
238
1.956
Bekleidung und Reinigung
35
186
583
5.180
Quelle : Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, Jg. I–IV.
Die Erhöhung des Aktienkapitals brachte den Unternehmungen nicht immer einen Zufluss neuer Mittel, zumindest nicht in der Höhe der neu ausgegebenen Aktien. Es waren nicht nur die sogenannten »Emissionssyndikate«, die einen Teil des Emissionsgewinns einstreiften68. In vielen Fällen bedeutete die Ausgabe junger Aktien nichts anderes als die Umwandlung von Bankkrediten in Beteiligungskapital. Auf diese Weise erlangten die Banken die Kontrolle über Industrieunternehmungen zurück, die sie zum Teil während des Krieges eingebüßt hatten. Diese Transaktionen wurden 67 Zur Entwicklung der Exporte vgl. Der Außenhandel Österreichs, S. 10 f. 68 Zu den Emissionssyndikaten siehe Kapitel II-6, S. 140 f.
40
Zerfall der Monarchie und Inflation
auch – wie ein amerikanischer Diplomat resümierte – unter dem Gesichtswinkel einer gewissen »Wertsicherung« der veranlagten Gelder durchgeführt : »Was die Bank als Kreditgeber einbüßte, konnte sie mehr als wettmachen durch den höheren Wert ihres Anteils an den kontrollierten Unternehmen.«69
Aus Tabelle 16 geht hervor, dass das Kreditvolumen der Banken in den Nachkriegsjahren wesentlich stärker expandierte als während des Krieges. Tabelle 16 : Debitoren von sieben Wiener Banken 1913–1922 1913
Index 1913 = 1
in Mio. K
1919
1920
1921
1922
Creditanstalt
734,8
3,5
l2,9
105,2
1.740,6
Boden-Credit-Anstalt
326,4*
8,9
l6,2
94,7
3.049,8
Nö. Escompte-Gesellschaft
288,0
4,2
8,7
101,5
2.923,1
Bankverein
520,0
6,7
13,8
l35,l
1.760,4
Unionbank
191,7
4,1
11,8
89,8
983,5
Mercurbank
143,6
7,7
l6,1
123,9
1.864,8
Verkehrsbank
l74,6
6,8
20,9
97,1
l.654,3
* Inklusive Konsortialgeschäft. Quelle : Compass, Jahrgänge 1915, 1922, 1923, 1925.
Die Daten in Tabelle 16 unterschätzen den Zuwachs der Debitoren, da die meisten Banken am Beginn der 20er-Jahre dazu übergingen, die Debitoren in fremder Währung mit den Kreditoren zu kompensieren und nur die Saldi in Kronen umzurechnen70. Dennoch ergibt ein Vergleich mit dem Preisindex (Lebenshaltungskosten ohne Wohnung), dass im Jahre 1921 der Zuwachs der Debitoren gegenüber 1913 der Preissteigerungsrate ziemlich gleichkommt, obwohl 1919 der Index der Debitoren hinter dem Inflationsindex mit erheblichem Abstand zurückgeblieben war71. In der Phase der Hyperinflation stieg das Kreditvolumen der Banken weit weniger stark als das Preisniveau, ja es kam teilweise sogar zu einer Beschränkung der Kreditauswei-
69 NA, Microfilm, MC. No. 695. Roll 51, C.504 f. 70 ÖVW, Die Bilanzen, 19. Mai 1923, S. 254. 71 Walré de Bordes, S. 83.
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
tung »auf das für Lohnzahlungen benötigte Maß«72. Im Dezember 1922 betrugen die in den Bilanzen der sieben größten Wiener Banken ausgewiesenen Debitoren in Friedenskronen nur zwischen 8 und 26 % des Wertes von 1913. Die Zinssätze für Bankkredite stiegen zwar in der Inflationszeit stetig an, blieben aber beträchtlich hinter der Inflationsrate zurück. Die negative Realverzinsung, die natürlich die Nachfrage nach Krediten stimulierte, führte zu Verlusten der Bankinstitute, die diese aber zum größten Teil auf ihre Einleger abwälzen konnten73. Außerdem sicherten sich, wie erwähnt, die Banken durch die »Veraktionierung«, die im Jahre 1921 im großen Stil einsetzte, einen größeren Einfluss auf die Industrie, der sie für die erlittenen Verluste entschädigen sollte. Zum Unterschied von Deutschland, wo die Industrieunternehmungen sich während der Inflationsjahre von der Vorherrschaft der Banken emanzipieren konnten74, verstärkte sich die Machtstellung der österreichischen Banken in dieser Zeit. Dies sollte den Kreditinstituten jedoch, wie wir später sehen werden, langfristig nicht unbedingt zum Vorteil gereichen. Während die realwirtschaftlichen Auswirkungen der Inflation, insbesondere die Frage der Kapitalbildung in Zeiten der Geldentwertung, bis heute umstritten sind, besteht hinsichtlich der Effekte der Nachkriegsinflation auf die Einkommens- und Vermögensverteilung weitgehend Übereinstimmung75. Vielleicht die auffallendste Konsequenz der »Preisrevolution« war die Enteignung der »Rentiersklasse«76 : Die Republik Österreich leistete zwar den Schuldendienst für den von ihr übernommenen Anteil an den Kriegs- und Vorkriegsschulden Cisleithaniens, aber sie beglich ihre Schuld in Papierkronen. »In dem Maße, als der Wert der Papierkrone sank, wurde der Rentiersklasse der Boden entzogen. Die Zinsen, die der Staat den Rentiers zahlte, stellten 1920 nur noch ein Hundertstel, 1922 nur noch ein Zehntausendstel des versprochenen Wertes dar. Der Millionär, der sein Vermögen in Kriegsanleihe angelegt hatte, war zum Bettler geworden.«77
72 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1923, S. 213. 73 Da es nur wenige Angaben über die Währungszusammensetzung und Fristigkeitsstruktur der Debitoren und Kreditoren der Banken gibt, kann eine exakte Berechnung der Inflationsverluste nicht durchgeführt werden. 74 Born, Die Deutsche Bank in der Inflation, S. 27 f. 75 Keynes, S. 218 ff. 76 Kausel/Nemeth/Seidel, S. 15. 77 Bauer, Die österreichische Revolution, S. 756.
41
42
Zerfall der Monarchie und Inflation
In stabiler Währung gerechnet, konnten die Kriegs- und Vorkriegsschulden der öffentlichen Hand mit nur 0,3 % ihres Goldwertes getilgt werden78. So wie die Anleihe besitzer mussten auch die Eigentümer anderer Kategorien von Geldkapital (Aktien, Spar- und Scheckeinlagen, Bargeld) eine weitgehende Entwertung ihres Vermögens in Kauf nehmen. Die Nutznießer dieser »Expropriation der Gläubiger« waren die Unternehmer, die Bauern, der Staat in seiner Eigenschaft als Schuldner, d. h. alle jene, die in einer Nettoschuldnerposition waren. Zwar sahen sich viele Betriebe gezwungen, für Investitionen in Anlage- und Umlaufkapital neue Kredite in Anspruch zu nehmen. Solange die Geldentwertung fortschritt und die Realzinsen negativ blieben, konnten sie jedoch ihre Schulden mit entwertetem Geld abdecken79. Auch die unselbständig Erwerbstätigen mussten in den Inflationsjahren Reallohneinbußen hinnehmen, doch waren sie – als Folge gewerkschaftlicher Aktionen und der Einführung von Indexlöhnen – in der Lage, ein allzu tiefes Sinken ihres Lebensstandards zu verhindern. Es kam zwar, wie bereits erwähnt, zu einer Nivellierung der Einkommen und zu einer relativen Verschlechterung der Position der Beamten80. Im Ganzen gesehen, können aber die Arbeitnehmer nicht zu den Verlierern des inflationären Umverteilungsprozesses gezählt werden81. Dies erhellt aus den Daten über die Verteilung des Volkseinkommens (vgl. Tabelle 17). Tabelle 17 : Die Änderung der funktionellen Einkommensverteilung 1913
1924 in Mio. GK
Volkseinkommen
6.036,8
5.351,4 in %
Löhne und Gehälter
51,0
57,2
Einkommen aus Besitz und Unternehmen*
47,7
39,8
* Ohne Kapitalgesellschaften, einschließlich statistischer Korrekturen. Quelle : Kausel/Nemeth/Seidel, S. 15.
Die Einkommen aus Besitz und Unternehmertätigkeit sind in dieser Volkseinkommensschätzung nicht separat ausgewiesen. Nach Angaben des Instituts für Wirt78 79 80 81
Phillpotts, S. 10. Bachinger, S. 278 ff. Madlé, S. 133. Kautsky, Löhne und Gehälter, S. 105 ff.
Die Wirtschaft des neuen Staates im Zeichen der Inflation
schaftsforschung ist die Erhöhung des Anteils der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen auf das weitgehende Verschwinden der Einkünfte aus Vermögensbesitz zurückzuführen82. Auch in Deutschland zeigten sich die gleichen Umverteilungswirkungen der Inflation : Die »Unternehmerkapitalisten« konnten ihren Anteil am Volkseinkommen annähernd konstant halten, während der Anteil des »Rentiereinkommens« im Zeitraum 1913 bis 1925 von 15 auf 3 % des Volkseinkommens sank83. Den größten temporären Nutzen aus der Inflationskonjunktur zog eine Gruppe von Devisenspekulanten, Schiebern und anderen Inflationsgewinnern, die Otto Bauer charakterisierte als »zum großen Teil kulturell tiefstehende Elemente, die ihren Erfolg ihrer geschäftlichen Findigkeit und ihrer moralischen Skrupellosigkeit verdank[t]en«84.
Diese »neue Bourgeoisie«, aus der die »Großspekulanten« Sigmund Bosel und C amillo Castiglioni herausragten85, verprasste einen Teil ihres schnell erworbenen Vermögens durch einen luxuriösen Lebensstil, der Ablehnung und Hass beim verarmten altösterreichischen Bürgertum hervorrief. Bauer hat die Zuspitzung der sozialen Gegensätze in der Inflationsperiode, in der vielfach eine der Ursachen für die folgenschwere Verhärtung der politischen Fronten gesehen wird, in der folgenden Weise beschrieben : »Die neue Zeit hatte sie [die Bürger, d. Verf.] pauperisiert. Ihre Verelendung verbitterte sie. Ihre Erbitterung wandte sich gegen die beiden Klassen, die aus der Katastrophe, die das alte Bürgertum zugrunde gerichtet hatte, aufgestiegen waren : gegen die neue Bourgeoisie, die wirtschaftlich die Katastrophe genützt, und gegen die Arbeiterklasse, die die Katastrophe zu politischer Vorherrschaft gehoben hatte […]. Sehr bald wurde ihre Erbitterung gegen die Arbeiter stärker als ihre Erbitterung gegen die Schieber. Am Ende war der Schieber nichts als ein erfolgreicher Kaufmann […]. An der neuen Machtstellung, dem neuen Selbstbewußtsein der Arbeiter dagegen, stieß sich täglich ihr bürgerliches Vorurteil.«86
Es ist aus diesen Gründen nicht schwer zu verstehen, dass die politischen Parolen des Prälaten Seipel, der auf dem Höhepunkt der Inflation an die Spitze der Regierung trat, in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Zustimmung stießen. Seipel versprach, die ökonomischen und sozialen Umwälzungen seit dem Ende der Habsburgerherrschaft 82 83 84 85 86
Kausel/Nemeth/Seidel, S. 15. Holtfrerich, S. 266. Bauer, Die österreichische Revolution, S. 755. Lewinsohn, S. 236 ff. Bauer, Die österreichische Revolution, S. 758.
43
44
Zerfall der Monarchie und Inflation
rückgängig zu machen und den »revolutionären Schutt« zu beseitigen, kurzum : die althergebrachte soziale Ordnung wiederherzustellen87.
2. Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
Die Stabilisierung der österreichischen Währung im Jahre 1922 kann zu Recht als das Werk Ignaz Seipels bezeichnet werden, der am 31. Mai 1922 sein neugebildetes Kabinett der Öffentlichkeit vorstellte88. In den ersten drei Monaten nach der Bildung der bürgerlichen Koalitionsregierung, die aus Vertretern der Christlichsozialen und der Großdeutschen bestand – das Außenministerium hatte der parteilose Beamte Alfred Grünberger inne –, setzte sich aber der seit 1914 andauernde Wertverfall der Krone (siehe dazu Diagramm 1 ; Kapitel II/1, S. 23) im verstärkten Maße fort (vgl. Tabelle 18). Tabelle 18 : Die Entwertung der Krone im Sommer 1922 (in %) 1922
Dollarkurs
Preisniveau
Juni
76,5
71,5
Juli
83,2
41,4
August
113,4
124,4
September
15,5
90,7
Quelle : Walré de Bordes, S. 50, 83 und 130 ff.
Der Finanzminister des ersten Kabinetts Seipel, August Ségur, hatte am 21. Juni 1922 dem Nationalrat einen Finanzplan vorgelegt, der Maßnahmen enthielt, die für die Durchführung einer umfassenden Budget- und Währungsreform unerlässlich schienen : Gründung einer neuen Notenbank, Kürzung von Budgetausgaben, Erschließung neuer Einnahmen und die Emission einer (inneren) Anleihe89. Um die notwendigen Steuererhöhungen für die Bevölkerung erträglicher erscheinen zu lassen, sah Ségurs Finanzplan vor, dass die geplanten Steuererhöhungen erst in Kraft treten sollten, nachdem die Notenbank gegründet, die Einsparungen durchgeführt und die erste Rate
87 Staudinger, S. 249 ff. 88 Ladner, S. 36. 89 ÖVW, 24. Juni 1922, S. 935 ff.
Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
der Anleihe eingezahlt worden seien90. Karl Ausch91 bezeichnet diese Junktimierung als den »verhängnisvollen Kardinalfehler« des Sanierungsplans und Walther F edern92 wies in einem zeitgenössischen Kommentar darauf hin, »daß es eigentlich das Haus beim Dach zu bauen anfangen heißt, wenn man die Sanierung mit der Errichtung der neuen Notenbank beginnt, statt sie damit zu beenden«. Der Finanzminister konnte allerdings kaum voraussehen, dass sein Finanzplan scheitern und dieses Scheitern den Wertverfall der österreichischen Krone noch weiter beschleunigen würde, da sich die Wiener Großbanken bei einer Konferenz am 13. Juni zur Bereitstellung des notwendigen Kapitals für eine neue Notenbank verpflichtet hatten. Die Gründung einer Notenbank war Bestandteil eines jeden der zahlreichen Reformprogramme, die seit Schumpeters Finanzplan vom Oktober 1919 der Öffentlichkeit präsentiert worden waren93. Die Österreichisch-ungarische Bank, die Zentralbank der Monarchie, musste gemäß Artikel 206 des Friedensvertrages von St. Germain liquidiert werden94. Als der Friedensvertrag am 10. September 1919 in Kraft trat, war das Betätigungsfeld der Notenbank als Folge der Währungstrennung auf das Gebiet »Restösterreichs« und Ungarns eingeengt : Alle anderen Staaten, auf deren Territorium Banknoten der Österreichisch-ungarischen Bank seinerzeit zirkuliert hatten (Jugoslawien, Italien, Rumänien, Tschechoslowakei und Polen), hatten diese entweder in die eigene Währung umgetauscht oder durch Abstempelung zur Landeswährung erklärt95. Die Regulierung des Geldumlaufs und des Wechselkurses wurde von der jeweiligen Notenbank, in der Tschechoslowakei vom neu eingerichteten »Bankamt des Finanzministeriums«96, besorgt. In Österreich übte die sogenannte »Österreichische Geschäftsführung« der Österreichisch-ungarischen Bank, die im Dezember 1919 geschaffen worden war97, die Funktion einer Notenbank aus. Allerdings beschränkte sich ihre Tätigkeit im Wesentlichen auf das Drucken von Banknoten, hauptsächlich für den Staat, der seine Ausgabenüberschüsse mit Hilfe der Notenpresse finanzierte. Die Verantwortung für den Wechselkurs der Krone lag bei der Devisenzentrale, die seit Mai 1919 direkt dem Staatsamt für Finanzen unterstellt war98. 90 91 92 93 94 95 96 97
Ladner, S. 50. Ausch, S. 59. ÖVW, 24. Juni 1922, S. 939. Braun, S. 105 ff. Preßburger, S. 2078 ff. Ebenda, S. 2021 ff ; Schlesinger, S. 26 ff. Rašin, S. 79 ff. StGBl. Nr. 575/1919, Vollzugsanweisung der Staatsregierung vom 22. Dezember 1919 über vorläufige Verfügungen auf dem Gebiete des Notenbankenwesens. 98 ÖVW, 10. Mai 1919, S. 583.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Unter dem Druck der katastrophalen währungspolitischen Lage entschloss sich die Regierung Seipel-Ségur, konkrete Schritte zur Gründung eines neuen Noteninsti tuts zu unternehmen. Am 27. Juni 1922 wurde ein Gesetzesentwurf betreffend die Errichtung einer österreichischen Notenbank im Nationalrat eingebracht99. Nach knapp einem Monat, am 24. Juli, wurde das Notenbankgesetz in dritter Lesung vom Parlament angenommen100. Zwei Tage danach genehmigte der Hauptausschuss des Nationalrates die Statuten der Notenbank. Spätestens am 15. August sollte nach den Worten Hans Schürffs, der im Nationalrat über die Beratungen des Finanz- und Budgetausschusses Bericht erstattete, die Gründung der Nationalbank abgeschlossen sein101. Der Einspruch der ausländischen Verwaltungsräte der von englischen bzw. französischen Interessen dominierten Anglo- und Länderbank gegen die Bankstatuten verhinderte die für den Sommer 1922 geplante Notenbankgründung und besiegelte damit auch das Schicksal des Ségurschen Finanzplans. Der hauptsächliche Widerstand gegen die Gründung der neuen Notenbank ging von englischen Finanzkreisen, genauer von der Bank of England, aus, die zur Auffassung gekommen war, dass »eine Sanierung Österreichs durch private Kredite ohne direkte oder indirekte Beteiligung der alliierten Regierungen als illusorisch« zu betrachten sei102. Montagu Norman, der Gouverneur der Bank of England, die über die Mehrheit der Aktien der Anglobank verfügte, teilte seine Bedenken gegen die Bankgründung nach den Worten eines seiner Biographen schon vor der Beschlussfassung des Notenbankgesetzes der österreichischen Regierung mit. »Norman«, schrieb Clay, »hatte über die Anglo-Österreichische Bank der österreichischen Regierung den Rat zukommen lassen, sich an die Konferenz der Ministerpräsidenten der Alliierten, die in London stattfinde, zu wenden, da die beabsichtigte Notenbankgründung allein keine Lösung sei, und – falls es sich als notwendig erweisen sollte – zu demissionieren.«103
Im August 1922, in einer fast ausweglos erscheinenden Situation, richtete die österreichische Regierung ein Memorandum an den Alliierten Rat, in welchem sie nochmals alle Argumente zusammenfasste, die für eine unverzügliche internationale
99 Siehe Kernbauer, Währungspolitik in der Zwischenkriegszeit, S. 68 ff. Geregelt wurde die Gründung der Nationalbank durch die Gesetze BGBl. Nr. 490 und 823/1922. 100 BGBl. Nr. 490/1922, Bundesgesetz vom 24. Juli 1922 über die Errichtung einer Notenbank. 101 Sten.Prot., Sitzung vom 13. Juli 1922, S. 4017 ff. 102 Recker, S. 155. 103 Clay, S. 185.
Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
Kreditaktion zugunsten Österreichs sprachen104. Der Alliierte Rat ging jedoch nicht näher auf die Kreditwünsche Österreichs ein, sondern verwies die Regierung an den Völkerbund, der schon einmal – im Frühjahr 1921 – die Wirtschafts- und Finanzlage Österreichs untersucht und ein Sanierungsprogramm vorgeschlagen hatte105. Die Durchführung des seinerzeitigen Reformplanes war an der mit dem Friedensvertrag verknüpften Pfandrechtsfrage und auch an der unübersichtlichen innenpolitischen Lage Österreichs gescheitert106. Auch der neuerliche Appell an den Völkerbund wäre möglicherweise erfolglos geblieben, wenn es Bundeskanzler Seipel nicht gelungen wäre, durch einen geschickten diplomatischen Schachzug die Frage der Kreditgewährung an Österreich mit dem Problem der weiteren Selbständigkeit des Staates zu verknüpfen. Es folgte die berühmte Reise Seipels nach Prag, Berlin und Verona, durch welche er die Dringlichkeit einer konzertierten finanziellen Hilfsaktion der westlichen Alliierten im Interesse der Aufrechterhaltung des Status quo in Zentraleuropa in dramatischer Form unterstrich. »Die Rechnung hat gestimmt«, sagte der ehemalige Außenminister Ottokar Czernin zu Seipels Strategie, »und Genf ist das Resultat der Aktion«107. In Genf wurden am 4. Oktober 1922 von Vertretern Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, der Tschechoslowakei und Österreichs drei Protokolle unterzeichnet, die die Grundlinien der Budget- und Währungsreform für Österreich enthielten. Im ersten der drei Genfer Protokolle108 verpflichtete sich Österreich zur Anerkennung des »Anschlußverbots«, das im Artikel 88 des Vertrages von St. Germain enthalten war. Die Signatarstaaten garantierten ihrerseits die politische Unabhängigkeit, die territoriale Integrität und die Souveränität Österreichs. Das zweite Protokoll regelte die Garantieleistungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der Tschechoslowakei für eine von Österreich zu begebende Anleihe in der Höhe von 650 Mio. Goldkronen. Die Anleihebedingungen sollten von einem Kontrollkomitee der garantierenden Staaten, die Verwendung des Erlöses von einem Generalkommissär kontrolliert werden. Im dritten Protokoll von Genf waren alle jene Verpflichtungen niedergelegt, für deren Erfüllung sich Seipel im Namen der österreichischen Republik verbürgte : Ausarbeitung eines Reform- und Sanierungsprogramms, Zustimmung zur Ernennung eines Generalkommissärs, Verpfändung der Einnahmen aus den Zöllen und dem 104 März, Österreichische Bankpolitik, S. 572 ff. 105 Ladner, S. 18 f. 106 Ebenda. 107 ÖVW, 2. Dezember 1922, S. 219. 108 BGBl. Nr. 842/1922, Protokolle Nr. I, II samt Beilagen III, am 4. Oktober 1922 in Genf unterzeichnet.
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Tabakmonopol als Sicherstellung für die Anleihe, Verzicht Österreichs auf künftige Anleiheverhandlungen ohne Zustimmung des Generalkommissärs, Errichtung einer vom Staat unabhängigen Notenbank und schließlich eine Verpflichtungserklärung der Regierung, »alle Vorsorge zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu treffen«. Die Kritik der Opposition entzündete sich hauptsächlich am Punkt 3 des dritten Protokolls, der die zeitweilige Aufhebung der Budgethoheit des Nationalrates zum Inhalt hatte. Die sozialdemokratischen Politiker erkannten in dieser Bestimmung nicht zu Unrecht den von Seipel schon am 26. Mai 1922 propagierten Plan, zur rascheren Durchführung finanzpolitischer Maßnahmen eine mit besonderen Vollmachten ausgestattete Institution zu schaffen109. Dieser »Finanzdiktatur« konnte die Opposition nicht ihre Zustimmung erteilen. Sie wollte andererseits aber auch nicht das Genfer Sanierungsprogramm vereiteln, war doch die Erlangung von Auslandskrediten, die auch im sozialdemokratischen Finanzplan als für die Budget- und Währungssanierung unerlässlich bezeichnet worden war, in greifbare Nähe gerückt. So einigte man sich schließlich auf die Schaffung eines »außerordentlichen Kabinettsrates«, dem 26 Abgeordnete angehörten, die (mit einfacher Mehrheit) über die wichtigsten Reformmaßnahmen Beschlüsse fassen sollten110. Das Gesetz betreffend die Errichtung des außerordentlichen Kabinettsrates wurde am 26. November 1922 vom Nationalrat verabschiedet. Am gleichen Tag wurde auch das »Wiederaufbaugesetz« beschlossen, das als Ausführungsgesetz zu den in den Protokollen niedergelegten Richtlinien für ein Sanierungskonzept angesehen werden kann111. Den Genfer Protokollen wurde am 2. Dezember 1922 die Zustimmung erteilt, nachdem der Bundesrat gegen die Ratifizierung vom 24. November Einspruch erhoben hatte112. Die im Wiederaufbaugesetz enthaltenen Maßnahmen sollten binnen zwei Jahren das Gleichgewicht im Staatshaushalt wiederherstellen. Zu diesem Zweck waren die Ausgaben zu kürzen (Verwaltungsreform, Abbau von Staatsangestellten), bestehende Einnahmequellen ergiebiger zu gestalten und neue Steuern einzuführen113. Es war vor allem die drastische Erhöhung der Steuerlasten, die – schon früher als im Plan vorgesehen – zur Wiederherstellung des Budgetgleichgewichts führte114. Die Sanierung des Budgets über die Einnahmenseite gelang vor allem durch die Anhebung der Steuern auf den Massenkonsum (Warenumsatzsteuer, Verbrauchssteuern 109 Ladner, S. 34. 110 März, Österreichische Bankpolitik, S. 491 ff. 111 Kienböck, S. 22. 112 Ladner, S. 179. 113 Kienböck, S. 22 ff. Vgl. zur Finanz- und Wirtschaftspolitik der Inflationsperiode auch : Weber, Zusammenbruch, Inflation und Hyperinflation, S. 7–32. 114 Gratz, S. 282 f.
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Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
auf Branntwein, Bier, Zucker ; Zollerhöhungen). Aus Tabelle 19 ist ersichtlich, dass sich die Budgeteinnahmen im Jahre 1923 gegenüber dem Voranschlagsentwurf vom 6. November 1922 mehr als verdoppelten. Tabelle 19 : Budgetentwicklung 1923 (in Mio. GK) Entwurf vom 6. November 1922 Bruttoausgaben
487,1
Bruttoeinnahmen
Rechnungsabschluss 546,2
226,9
529,6
Bruttoabgang
– 260,2
– 16,6
Gesamtabgang
– 367,4
– 109,8
Quelle : Kienböck, S. 43.
Der Anstieg der Einnahmen verringerte das Defizit auf weniger als ein Drittel des ursprünglich veranschlagten Wertes. In den beiden letzten Monaten des Jahres 1923 übertrafen die Einnahmen sogar die Budgetausgaben um ca. 5,7 Mio. Goldkronen115. Im Jahre 1924 setzte sich die Entwicklung des Vorjahres fort. Laut Rechnungsabschluss überstiegen 1924 die ordentlichen Einnahmen die ordentlichen Ausgaben um fast 63 Mio. Goldkronen. Bei Berücksichtigung der Investitionen ergab sich allerdings ein Abgang von 9 Mio. Goldkronen116. Die kumulierten Defizite des Bundeshaushaltes bis zum Jahr 1924 waren weit geringer als die Autoren des Reformprogramms des Völkerbundes angenommen hatten. Im zweiten Genfer Protokoll war vereinbart worden, dass vom Gesamterlös der Anleihe (650 Mio. GK) 520 Mio. zur Deckung der Ausgabenüberschüsse der Jahre 1923 und 1924 und 130 Mio. zur Rückzahlung kurzfristiger Auslandskredite verwendet werden sollten. Tatsächlich wurden nur 308 Mio. Goldkronen zur Finanzierung der Gebarungsabgänge des ordentlichen Budgets in Anspruch genommen. Der Rest der Anleihe (inklusive des Zinsenzuwachses) konnte in den Jahren 1923 bis 1928 für Investitionsvorhaben verausgabt werden117. Die Völkerbundanleihe wurde erst im Laufe des Jahres 1923 auf den internationalen Kapitalmärkten zur Zeichnung aufgelegt118. Da die österreichische Regierung seit 115 Kienböck, S. 42. 116 Layton/Rist, S. 99. 117 Reisch, Aufgaben und Entwicklung, S. 285. 118 Karl, S. 24 ff.
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dem 18. November 1922 den Notenbankkredit nicht mehr für die Budgetfinanzierung in Anspruch nahm, musste sie bis zum Eingang des Anleiheerlöses ihre Mehrausgaben mit Hilfe von Zwischenkrediten bestreiten. Zunächst fuhr die Regierung mit der Begebung von 6%igen Schatzscheinen fort, die sie aber zum Unterschied von früheren Emissionen, die zur Gänze im Portefeuille der Notenbank gelandet waren, bei einem Konsortium von 11 Wiener Banken placieren konnte119. Mitte Dezember wurde die Ausgabe dieses Typs von Schatzscheinen eingestellt120. Zum gleichen Zeitpunkt wurde die österreichische Tranche einer kurzfristigen Anleihe aufgelegt – 8%ige auf US-Dollar lautende Schatzscheine mit einer Laufzeit bis 1. Juni 1923 –, die einen Erlös von 25,2 Mio. Goldkronen erbrachte. Kurze Zeit darauf wurden auf ausländischen Finanzplätzen – in England, Frankreich, Belgien, Holland, Schweden und der Schweiz – weitere Teilausgaben emittiert (Erlös : 3,5 Mio. £ oder 78,6 Mio. GK)121. Die Effektivverzinsung dieser Tranchen variierte zwischen 10,4 und 16,9 %122. Die kurzfristigen Kredite und die englischen, tschechischen und italienischen Vorschüsse wurden später aus den Eingängen der Völkerbundanleihe zurückgezahlt. Die »Garantierte österreichische Staatsanleihe 1923–1943«, wie der Name der Völkerbundanleihe offiziell lautete, wurde auf elf Finanzmärkten in zehn verschiedenen Währungen aufgelegt. Der Nettoerlös der Anleihe – ohne den Schweizerischen Regierungskredit von 20 Mio. Goldkronen, der erst 1927 in Anspruch genommen wurde – belief sich auf 611 Mio. Goldkronen. Die Effektivverzinsung der einzelnen Tranchen lag zwischen 9,5 und 10,2 %. Die unverbrauchten Anleihebeträge mussten zum größten Teil bei ausländischen Banken angelegt werden, zu Zinssätzen, die weit unter den von Österreich zu zahlenden Sätzen lagen123. Die Differenz zwischen der Verzinsung der Anleihe und jener der im Ausland gehaltenen Beträge belief sich nach den Worten des Generaldirektors der Oesterreichischen Nationalbank auf ca. 6 bis 7 %124. An den ungünstigen Konditionen sowie an der Höhe der Anleihe wurde in der Folge wiederholt Kritik geübt. Der ehemalige Finanzminister Franz Klein sah es als »unzweifelhaft« an, »daß die Anleihe mit ihren politischen und finanziellen Bedingungen weitaus zu hoch gegriffen war«125. Klein wies darauf hin, dass nur ein Teil des Erlöses zur Deckung von Budgetdefiziten verwendet werden musste. Investitionskredite wären aber zu weit erträglicheren 119 Kienböck, S. 34. 120 Compass, Jg. 1926, S. 182. 121 Kienböck, S. 35. 122 Freund, S. 81 ff. 123 Kienböck, S. 40. 124 Brauneis, S. 7. 125 Klein, S. 43.
Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
Bedingungen erhältlich gewesen. Die Zinssätze der Völkerbundanleihe erscheinen auch rückblickend als sehr hoch, insbesondere wenn man bedenkt, dass in Anbetracht der Regierungsgarantien der Kauf dieser Papiere praktisch risikolos war. »Die Anleihe«, schrieb ein deutscher Beobachter, »ist […] mit Garantien ausgestattet, wie sie noch niemals eine Anleihe hatte, und sie stellt daher wohl das sicherste Anleihepapier dar, das es heute auf der Erde gibt.«126
Wie hoch die Anleihe zu bemessen sei, um die Kreditvorschüsse zurückzuzahlen und die Budgetdefizite bis zur Erreichung des Gleichgewichts zwischen Ausgaben und Einnahmen zu decken, war im Herbst 1922 nur sehr schwer abzuschätzen. Das Finanzkomitee des Völkerbundes ging im September 1922 von einem Jahresdefizit des Budgets von 682 Mio. Goldkronen aus und auch der Budgetentwurf Ségurs vom November des gleichen Jahres rechnete für 1923 mit einem Ausgabenüberschuss von ca. 529 Mio. Goldkronen127. Die Experten des Völkerbundes präliminierten schließlich das Zuschusserfordernis für den Staatshaushalt für die Jahre 1923 und 1924 zusammen mit 520 Mio. Goldkronen. Die Zweifel waren weit verbreitet, schrieb Viktor Kienböck im Rückblick auf diese Monate, »ob, wenn es überhaupt gelingen werde, die Anleihe in der versprochenen Höhe zu erhalten, mit den Beträgen aus deren Erlös das Auslangen zu finden sei«128.
Noch bevor die definitiven Anleihebedingungen mit den ausländischen Banken ausgehandelt worden waren, trat am 15. Dezember 1922 der ehemalige Bürgermeister (1906–1922) von Rotterdam, Alfred Zimmermann, sein Amt als Generalkommissär des Völkerbundes in Wien an. Ihm oblag die Überwachung des in Genf beschlossenen Reformprogramms ; nur er konnte über die Eingänge aus der Auslandsanleihe verfügen. Die Kontrolle der österreichischen Wirtschafts- und Finanzpolitik seitens der ausländischen Kreditgeber wurde durch die Ernennung eines »Beraters« der Oesterreichischen Nationalbank, dem die gleichen Rechte wie dem Präsidenten eingeräumt wurden, vervollständigt. Der Gouverneur der Bank of England, Montagu Norman, war sogar für einen Ausländer als alleinigen Leiter der österreichischen Notenbank eingetreten129. 126 BArch, 09.01 AA 40.315, Bl. 50. 127 Kienböck, S. 409. 128 Ebenda. 129 Sayers, S. 167 f.
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Noch bevor fest umrissene Reformmaßnahmen beschlossen worden waren, zeigten sich die ersten Früchte der von Seipel gestarteten »Katastrophenaktion«130 : Schon die Nachricht von der Absicht des Völkerbundes, eine Sanierungsaktion für Österreich einzuleiten, reichte aus, um einen weiteren Kurssturz der Krone zu verhindern, ja sie führte sogar in kürzester Frist zu einer Erhöhung des Wechselkurses um ca. 15 %131. Am 25. August 1922 betrug der Wert einer Goldkrone 16.940 (Papier-)Kronen ; die Stabilisierung des Wechselkurses erfolgte schließlich bei 14.400132. Dieser Anstieg des Kronenwechselkurses wurde jedoch von manchen als unzureichend empfunden. Nach Kienböck »machten sich starke Strömungen geltend, die auf die Hebung des Kronenkurses hinarbeiteten und die Regierung zu einer ausgesprochenen Deflationspolitik drängen wollten.«133
Ein prominenter Befürworter dieser Tendenz war Alexander Spitzmüller, der Gouverneur der Österreichisch-ungarischen Bank in Liquidation. Bei einer Besprechung mit den Völkerbunddelegierten im Oktober 1922 trat er für eine Aufwertung der Krone ein. In einem Artikel der »Neuen Freien Presse« meinte Spitzmüller lakonisch : »Es wurde das abgelehnt und ich wurde dann einer weiteren Besprechung mit den Völkerbunddelegierten nicht mehr zugezogen.«134
Zu Anfang des Jahres 1924 trat Spitzmüller in einer Reihe von Vorträgen und Aufsätzen neuerlich für eine Höherbewertung der Krone ein135. Sein Hauptargument war der Hinweis auf den enormen Zustrom von Devisen zur Oesterreichischen Nationalbank im Jahre 1923, der zu einer Erhöhung des Geldumlaufs in Österreich geführt hatte. Im Anstieg der Geldmenge sah Spitzmüller ein inflationäres Potential, das die erzielten Stabilisierungserfolge gefährden könnte. Der Zustrom von Devisen zur Devisenzentrale, die zu dieser Zeit dem Finanzministerium unterstand, setzte bereits im September 1922 ein. Die Bestände an Devisen erhöhten sich im letzten Quartal 1922 um ca. 3,2 Mio. Pfund136 oder ca. 75,5 Mio. Goldkronen. Der Banknotenumlauf erfuhr im gleichen Zeitraum eine Vermehrung 130 März, Österreichische Bankpolitik, S. 573. 131 Reisch, Aufgaben und Entwicklung, S. 283. 132 Walré de Bordes, S. 132. 133 Kienböck, S. 27. 134 NFP, Das Schlußwort Dr. Spitzmüllers, 1. Februar 1924, S. 11. 135 März, Österreichische Bankpolitik, S. 524 ff. 136 Walré de Bordes, S. 205.
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um 189,3 Mio. Goldkronen, hauptsächlich als Folge der Zunahme der Wechsel und Staatsschatzscheine im Portefeuille der Notenbank. Im Laufe des Jahres 1923 setzte sich diese Entwicklung fort. Der Devisenbestand der im Dezember 1922 gegründeten Nationalbank, die mit Jahresbeginn auch die Geschäfte der Devisenzentrale übernommen hatte, wuchs um ca. 186,5 Mio. Goldkronen. Der Umtausch dieser Devisen in österreichische Kronen bewirkte eine starke Zunahme des Banknotenumlaufs, der am 31. Dezember 1923 um 213,3 Mio. Goldkronen höher lag als am 7. Jänner 1923137. Von Ende August 1922 bis zum Jahresende 1923 hatte sich der Banknotenumlauf um mehr als das Fünffache erhöht, lag aber Ende 1923 noch knapp unter dem Wert von 500 Mio. Goldkronen, der nach Walré de Bordes der Höhe des Vorkriegsumlaufs auf dem Territorium der Republik Österreich entsprach138. In der Zunahme des Banknotenumlaufs kam also der Umstand zum Ausdruck, dass bis zum Ende der Hyperinflation der reale Banknotenumlauf auf weniger als ein Fünftel des Friedenswertes gefallen war. Das Anschwellen des Notenumlaufs im Jahr 1923 rief, wie bereits erwähnt, die Befürchtung eines Wiederauflebens der Inflation hervor. Dies schien das Argument zu erhärten, dass der Wechselkurs der Krone auf einem zu niedrigen Niveau stabilisiert worden sei. Die meisten Fachleute waren aber fest davon überzeugt, dass eine Aufwertung der Krone die Schwierigkeiten der österreichischen Wirtschaft nach dem Ende der Inflationskonjunktur nur noch verschärfen würde. Außerdem konnten auch die durch die Inflation bewirkten Veränderungen in der Einkommens- und Vermögensverteilung durch eine forcierte Deflationspolitik nicht mehr rückgängig gemacht werden, worauf wohl manche Anhänger einer Aufwertungspolitik Hoffnungen setzten. Ludwig Mises, einer der einflussreichsten österreichischen Ökonomen der Zwischenkriegszeit, hielt den »Deflationisten« das folgende überzeugende Argument entgegen : »Die durch die Hebung des Geldwertes bereichert werden, sind nicht dieselben, die durch die Geldentwertung im Verlauf der Inflation geschädigt wurden, und die, welche die Kosten dieser Politik tragen müssen, sind nicht dieselben, die aus der Geldentwertung Vorteil gezogen haben. Man hebt die Folgen der Inflation nicht auf, wenn man Deflationspolitik treibt.«139
Die wirtschaftliche Entwicklung des Jahres 1923 stand im Zeichen einer durch Sonderfaktoren gemilderten Stabilisierungskrise. Ein Rückgang der Produktion machte 137 M/OeNB, 1/1924. 138 Walré de Bordes, S. 38. 139 Mises, Über Deflationspolitik, S. 16.
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sich schon in den letzten drei Monaten des Jahres 1922 geltend. Die Verschlechterung der Konjunktur setzte sich im ersten Quartal 1923 ungebrochen fort, wurde aber in der Folge von einer leichten wirtschaftlichen Erholung abgelöst, die bis in den Sommer des folgenden Jahres anhielt. Wie aus Tabelle 20 ersichtlich ist, lagen die Arbeitslosenziffern von November 1923 bis September 1924 unter dem entsprechenden Wert des vorangegangenen Jahres. Tabelle 20 : Unterstützte** Arbeitslose 1921*
1922*
1923
1924
Jänner
16.200
33.600
161.200
119.800
Februar
14.500
42.900
167.400
125.800
März
9.800
42.300
152.800
106.900
April
9.500
44.300
132.200
82.500
Mai
10.100
38.600
108.000
69.000
Juni
11.000
33.400
92.800
63.600
Juli
11.700
31.000
87.200
66.500
August
11.300
31.200
83.900
74.200
September
10.600
38.000
78.800
77.600
Oktober
8.700
58.000
75.800
89.000
November
9.800
82.900
79.300
113.500
Dezember
16.700
227.100
98.100
154.000
(Jahres)Durchschnitt
11.700
49.400
109.800
95.200
* Exklusive Burgenland. ** Von der Gesamtzahl der Arbeitslosen erhielten im Jahresdurchschnitt in den Jahren 1921 41,7, 1922 48,0, 1923 51,8 und 1924 50,7 % eine Unterstützung. Quelle : Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, diverse Jahrgänge.
Nach den Schätzungen des Wirtschaftsforschungsinstituts verringerte sich das Brutto nationalprodukt im Jahre 1923 um 1,1 % und stieg 1924 wieder um 11,7 %140. Die Stabilisierungskrise war demnach nicht sehr tief und nur von kurzer Dauer. Worauf war dies zurückzuführen ? Zwar wurde die wirtschaftliche Entwicklung des Jahres 1923 durch die Stabilisierung des Wechselkurses, die starke Verringerung des Budget defizits und das exorbitant hohe Zinsniveau negativ beeinflusst. Sie erhielt aber andererseits positive Impulse durch die Folgewirkungen der Ruhrkrise, die öffentliche 140 Kausel/Nemeth/Seidel, S. 43.
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Bautätigkeit und die real-wirtschaftlichen Auswirkungen der Börsenhausse, die von einer auffallenden Steigerung des Luxuskonsums einer kleinen zahlungskräftigen Schicht der Bevölkerung begleitet war. Als in der letzten Phase der Inflation das inländische Preisniveau stärker stieg als der Preis der ausländischen Währungen, wurde mit einem Mal die »Exportprämie«, deren sich die österreichische Industrie bis dahin erfreut hatte, beseitigt. In den letzten Monaten des Jahres 1922 sank das Preisniveau in Österreich ; aber im folgenden Jahr war wiederum eine Aufwärtsbewegung der Preise zu konstatieren : Im Dezember 1923 lagen die Großhandelspreise um 7 %, die Kleinhandelspreise (ohne Nahrungsmittel) um 13,5 % und der Lebenshaltungskostenindex der Paritätischen Kommission (mit Wohnung) um 19 % über dem Jännerwert141. Die Großsowie Kleinhandelspreise hatten damit die Goldparität (14.400 K = 1 GK) bereits deutlich überschritten, lagen aber immer noch weit unter der Weltmarktparität. Die österreichischen Preise hätten noch um mehr als 50 % über die Goldparität steigen müssen, um die Höhe des Weltmarktpreisniveaus zu erreichen : Im November 1923 überschritten nämlich die Großhandelspreise in den USA das Vorkriegsniveau um 52 %, in Großbritannien und Schweden um ca. 60 % und in der Schweiz sogar um über 82 %142. Der Preisanstieg der österreichischen Waren im Jahr 1923 hätte alleine schon eine Verschlechterung der Handelsbilanz bewirken müssen. Dazu kam, dass die österreichische Krone zwar gegenüber den Goldwährungen stabil blieb, gegenüber vielen anderen Währungen aber zum Teil eine beträchtliche Aufwertung erfuhr. Die Verteuerung der österreichischen Waren und die Aufwertung der Krone in Relation zu den Währungen wichtiger Handelspartner führten zu einer Erhöhung des Handelsbilanzpassivums von 653,6 Mio. Goldkronen im Jahr 1922 auf 800,3 Mio. Goldkronen 1923143. Während die Importe 1923 um 9,4 % gegenüber dem Vorjahr anstiegen, betrug die Zuwachsrate bei den Exporten bloß 1,7 %. Der Wert der Einfuhren lag in diesem Jahr um 70 % höher a1s der Wert der Ausfuhren. Gliedert man das Außenhandelsvolumen nach Herkunfts- und Bestimmungsländern, so zeigt sich, dass die Einfuhren 1923 aus allen Ländern (mit der alleinigen Ausnahme Deutschlands) zunahmen. Die Entwicklung der Ausfuhren wies hingegen ein recht heterogenes Bild auf (vgl. Tabelle 21).
141 Walré de Bordes, S. 83 und 99. 142 Ebenda, S. 100. 143 Der Außenhandel Österreichs, S. 20.
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Tabelle 21 : Zu- und Abnahme der Ausfuhren 1923 nach wichtigen Bestimmungsländern (in Mio. GK) Zunahme
Abnahme
Schweiz
31,0
Ungarn
56,5
Rumänien
14,4
Deutschland
33,8
Jugoslawien
12,2
Polen
11,7
Großbritannien
8,6
Italien
7,5
Tschechoslowakei
4,4
Quelle : Statistisches Handbuch, IV. Jg. (1924), S. 56 ff und V. Jg. (1924), S. 54 ff.
Die Handelsbilanz verschlechterte sich 1923 auch im Verkehr mit jenen Ländern, in welche die Exporte gegenüber 1922 gestiegen waren. Am ausgeprägtesten war die Passivierungstendenz aber im Handel mit Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Italien144. Unter den wichtigsten Handelspartnern Österreichs brachte nur der Warenaustausch mit Deutschland 1923 eine Verringerung des Handelsbilanzdefizits, da die Importe aus Deutschland stärker zurückgingen als die Exporte in diese Richtung. Die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen im Jänner 1923, welche die Lahmlegung der deutschen Schwerindustrie zur Folge hatte, eröffnete einigen österreichischen Unternehmungen, vor allem der Alpine Montangesellschaft, Exportmöglichkeiten nach Deutschland. So waren die Lieferungen von Eisen und Eisenwaren dem Wert nach um 25,7 Mio. Goldkronen höher als 1922145. Rückläufig war hingegen der Export von »Baumwolle, Garnen und Waren daraus« (–16 Mio. GK), von Holz (–9,6 Mio. GK) sowie von Papier und Papierwaren (–2,9 Mio. GK). Der beschleunigte Verfall der Reichsmark bildete ein wachsendes Hindernis für die Ausfuhr nach Deutschland146. Der Ausfall der deutschen Produktion führte nämlich zu Preissteigerungen bei Kohle, Eisen und Stahl, die den Sturz der deutschen Währung mehr als wettmachten, und verteuerte die Gestehungskosten der österreichischen Industrie. Je länger die Krise in Deutschland andauerte, desto stärker waren ihre negativen Auswirkungen in Österreich spürbar. Auch die Verbesserung der Handelsbilanz im Verkehr mit Deutschland hatte letztlich keine produktionssteigernde 144 Statistisches Handbuch, IV. Jg. (1924), S. 50 ff und V. Jg. (1924), S. 54 ff. 145 AuW, 15. Februar 1923, Sp. 159. 146 NFP, Banken und Industrie, 10. Juni 1923, S. 15. Zur Entwicklung des Wechselkurses der Reichsmark vgl. Compass, Jg. 1926, I. Bd., S. 177 f.
Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
Wirkung, da sie im Wesentlichen auf die verringerte Kohleneinfuhr (–70 Mio. GK) zurückzuführen war, die durch höhere und teurere Bezüge aus Polen (+88 Mio. GK) ersetzt werden musste147. Die Vergrößerung des Einfuhrüberschusses im Jahr 1923 wurde von der Wiener Handelskammer auf die gesunkene Konkurrenzfähigkeit der heimischen Produktion infolge überhöhter Löhne und Gehälter bei relativ geringer Produktionsleistung einzelner Arbeitnehmer zurückgeführt. Die Löhne, so argumentierte die Standesorganisation der Unternehmer, hätten 1923 die Friedensparität bereits erreicht oder gar überschritten, während die Arbeitsleistung noch weit hinter dem Vorkriegsniveau zurückgeblieben sei148. In der Tat hatte sich das Lohnniveau, wie einer Studie von Benedikt Kautsky, dem Leiter des Statistischen Büros der Wiener Arbeiterkammer, entnommen werden kann, 1923 stärker erhöht als die Preise149. Trotz dieses Reallohnanstieges lagen die Realeinkommen der Arbeitnehmer Ende 1923 aber noch deutlich unter dem Niveau der Vorkriegszeit. Dies hing unter anderem damit zusammen, dass die Lohnentwicklung in der Phase der Hyperinflation weit hinter dem Preisanstieg zurückgeblieben war. Gemessen am Verbrauch von Weizen, Zucker, Bier, Tabak, Fleisch, Butter und Milch war selbst im Jahre 1925, wie die Völkerbundexperten Walter Layton und Charles Rist eruierten, die Vorkriegshöhe noch nicht erreicht150. Nach Benedikt Kautsky betrug das Realeinkommen der Arbeiter und Angestellten im Jahre 1925 durchschnittlich 75 % der Vorkriegshöhe151. Wenn es auch unzweifelhaft erscheint, dass die Reallöhne Mitte der 20er-Jahre das Friedensniveau noch nicht erreicht hatten, so dürften die Lohnstückkosten tatsächlich etwas höher gewesen sein als vor dem Kriege. Dies war eine Folge der Verkürzung der Arbeitszeit (Übergang zum Achtstundentag), der Einführung des Arbeiterurlaubs und anderer sozialer Maßnahmen, wie der Arbeitslosenunterstützung152. Die Höhe der sozialen Leistungen in Österreich wurde vom Internationalen Arbeitsamt zum Jahresanfang 1925 mit ca. 9 % des Durchschnittslohnes berechnet153. Dies trug zwar, wie es in einem Bericht dieser Institution heißt, zur Verschlechterung der internationalen Konkurrenzfähigkeit Österreichs bei, doch darf bei einem solchen Vergleich 147 Statistisches Handbuch, IV. Jg. (1924), S. 50 ff und V. Jg. (1924), S. 54 ff. 148 Bericht über die Industrie, den Handel und die Verkehrsverhältnisse in Wien und Niederösterreich während des Jahres 1923, S. 18 f. 149 Kautsky, Löhne und Gehälter, S. 120 ff. 150 Layton/Rist, S. 65. 151 Kautsky, Löhne und Gehälter, S. 131. 152 Tálos, 176 ff. 153 Layton/Rist, S. 123.
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nicht unbeachtet bleiben, dass auch in anderen Staaten seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vergleichbare Sozialgesetze in Geltung getreten waren. Warum die Unternehmer aber gerade die sozialen »Lasten« für die unbefriedigende wirtschaftliche Lage des Jahres 1923 verantwortlich machten, wird in der schon erwähnten Denkschrift des Internationalen Arbeitsamtes mit folgendem Argument erklärt : »Während der Inflationszeit waren die Lasten, die sich aus der praktischen Anwendung der [sozialen, d. Verf.] Gesetzgebung ergaben, für die österreichische Industrie kaum fühlbar. Erst nach der Stabilisierung der Krone zu Ende des Jahres 1922, als eine wenigstens partielle Valorisierung der Löhne und Gehälter eintrat, zog diese eine proportionale Steigerung der sozialen Lasten nach sich. Bei den Produktionskosten hatten, von den Löhnen abgesehen, die übrigen Kostenelemente ihr Friedensniveau bereits erreicht und teilweise sogar überschritten. Die Löhne und sozialen Lasten, die nunmehr auch zu steigen begannen, erschienen mithin als ein für die Höhe der Produktionskosten entscheidender Faktor.«154
Der Anstieg der Reallöhne im Jahre 1923 führte zu einer Erhöhung der inländischen Gesamtnachfrage und kompensierte so – wenigstens teilweise – die deflationären Effekte, die von der Reduzierung des Budgetdefizits ausgingen. Der Ausgabenüberschuss des Staatshaushaltes betrug 1922 ca. 3.315 Mrd. Kronen155, was etwa 430 bis 530 Mio. Goldkronen entsprach156. Im ersten Jahr nach der Stabilisierung betrug das Budgetdefizit nur mehr ca. 110 Mio. Goldkronen157. Diesem Nachfragerückgang seitens des Staates stand ein Anstieg der Lohn- und Gehaltssumme gegenüber, den man auf ca. 560 Mio. Goldkronen (brutto) schätzen kann158. Berücksichtigt man die höhere Besteuerung, die 1923 im Vergleich zum Vorjahr eintrat, und ferner die sicherlich eher geringe Sparrate der Arbeiter und Angestellten, dann kommt man zum Ergebnis, dass der Nettoeffekt der Erhöhung der Masseneinkommen im Jahre 1923 der Verringerung der staatlichen Nachfrage beiläufig gleichkommt. Zweifellos 154 Ebenda, S. 113. 155 Gratz, S. 278. 156 Deflationiert mit dem Mittelwert der Goldparität in der ersten und letzten Jahreswoche 1922, ergibt sich ein Defizit von 427 Mio. Goldkronen. Verwendet man den Durchschnitt des Lebenshaltungskostenindex aus Jänner- und Dezemberwert als Deflator, so kommt man auf einen Abgang von ca. 528 Mio. Goldkronen. 157 Gratz, S. 282. 158 Dieser Schätzung liegen die Angaben des Wirtschaftsforschungsinstituts über die Lohn- und Gehaltssumme 1924 und die Annahme einer Nominallohnsteigerung von 30 % 1923 und 25 % 1924 zugrunde. Diese Prozentsätze wurden approximativ aus den von Benedikt Kautsky angeführten Daten berechnet. Kautsky, Löhne und Gehälter, S. 124.
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Genfer Sanierung und Währungsstabilisierung
hat die Zunahme der Massenkaufkraft der österreichischen Bevölkerung die Stabilisierungskrise gemildert159. Eine positive Wirkung auf die konjunkturelle Entwicklung im Jahre 1923 ging auch vom Anlaufen des Wohnbauprogramms der Gemeinde Wien aus, das den Bau von ca. 25.000 Wohnungen in einem Zeitraum von fünf Jahren vorsah160. Weitere Impulse kamen von der Weiterführung des Ausbaus der Wasserkräfte sowie von der Elektrifizierung der Bundesbahnen und der Wiener Stadtbahn161. Auch die Statistik der Konkurse und Ausgleiche zeigt, dass die befürchteten Folgewirkungen der Stabilisierung nicht unmittelbar 1923 eintraten, sondern erst mit einer gewissen Zeitverzögerung in den darauffolgenden Jahren wirksam wurden (siehe Tabelle 22). Tabelle 22 : Zahl der Konkurse und Ausgleiche 1921–1925 Konkurse
Ausgleiche
1921
33
92
1922
25
62
1923
110
533
1924
468
2.572
1925
681
2.860
1926
634
2.568
Quellen : Layton/Rist, S. 73 ; Mitteilungen des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers, Nr. 11–12/1925, Beilage IV und 1/1927, Beilage XIII.
Während die öffentliche Investitionstätigkeit durch die Währungsstabilisierung kaum beeinträchtigt wurde, wirkten sich die exorbitant hohen Realzinsen nachteilig auf die Investitionstätigkeit der Privatwirtschaft aus. Nur Unternehmungen, die Zugang zum Kapitalmarkt besaßen, konnten sich im Jahr der Stabilisierung Finanzierungsmittel zu günstigen Bedingungen verschaffen, dies umso mehr, als die Börse im Zeichen einer rasanten Aufwärtsbewegung stand. Wir werden auf die Kapitalmarktverhältnisse und insbesondere die Börsenhausse des Jahres 1923 im nächsten Abschnitt näher eingehen.
159 Vgl. auch Layton/Rist, S. 65. 160 Czeike, S. 1048. 161 März, Österreichische Bankpolitik, S. 504 ff.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Zusammenfassend kann man dem Urteil der »Neuen Freien Presse«162 zustimmen, dass die österreichische Wirtschaft im Jahre 1923 von einer »wirklichen Wirtschaftsund Handelskrise verschont« blieb. Wie auch aus den Bilanzbesprechungen im »Österreichischen Volkswirt« hervorgeht, war zwar im ersten Jahr der Stabilisierung die Geschäftstätigkeit vieler Unternehmen durch die Aufwertung der Krone und die zahlreichen Handelshemmnisse erschwert. Diesen Geschädigten stand allerdings ein großer Kreis von Firmen gegenüber, die aus der Ruhrkrise und vor allem aus der öffentlichen Investitionstätigkeit Nutzen zogen. Die differenzierte Konjunkturentwicklung schlug sich beispielhaft in der Geschäftstätigkeit der großen Elektrounternehmen (AEG, Elin, Brown-Boveri) für das Jahr 1923 nieder : Jene Abteilungen der Unternehmen, die für öffentliche Auftraggeber arbeiteten, waren gut beschäftigt, während der Auftragseingang aus der Privatindustrie deutliche Rezessionsspuren zeigte. Mit dem Wegfall der konjunkturstützenden Sonderfaktoren im Lauf des Jahres 1924 griff die Stabilisierungskrise auf fast alle Branchen der österreichischen Wirtschaft über.
3. Die Banken im Ersten Weltkrieg
Als die großen Wiener Aktienbanken im Jahr 1926 die sogenannten Goldbilanzen (per 1. Jänner 1925) veröffentlichten, nahmen die Geschäftswelt und die Wirtschaftskommentatoren der Presse mit einer gewissen Überraschung zur Kenntnis, dass sich die Position der Banken gegenüber 1913 drastisch verschlechtert hatte. Das Gold bilanzgesetz vom 4. Juni 1925 ermöglichte die grundlegende Neubewertung aller Vermögens- und Schuldenpositionen der Banken ohne die Hinnahme von steuerlichen Nachteilen. Nach dem verwirrenden Zahlenspiel der Inflationszeit vermittelten die Goldbilanzen so zum ersten Mal seit 1913/14 wieder ein realitätsnäheres Abbild des finanziellen Status der Kreditinstitute : Gegenüber 1913 waren sowohl die Bilanzsumme als auch das Eigenkapital der Wiener Großbanken stark geschrumpft (siehe Tabelle 23). Dabei fiel der Rückgang der eigenen Mittel – trotz der seit 1913 vorgenommenen Kapitalerhöhungen – deutlich stärker aus als jener des Fremdkapitals, sodass sich das Verhältnis des Eigenkapitals zu den fremden Mitteln merklich verschlechtert hatte. Das Eigenkapital der großen Banken betrug 1925 zwischen 19 und 34,5 % des Wertes von 1913 ; rechnet man den Goldwert der nach 1913 bei Kapitalerhöhungen eingezahlten neuen Mittel hinzu, so waren die Substanzverluste noch größer.
162 NFP, Das erste Jahr der österreichischen Sanierung, 1. Jänner 1924, S. 18.
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Die Banken im Ersten Weltkrieg
Tabelle 23 : Rückgang des Eigenkapitals 1925 gegenüber 1913 Eigenkapital 1925 in % des Wertes von 1913
in % des Wertes von 1913 zuzüglich Kapitalerhöhungen
Creditanstalt
20,0
15,7
Boden-Credit-Anstalt
19,0
16,2
Bankverein
24,0
15,4
Nö. Escompte-Gesellschaft
34,5
22,5
Quelle : ÖVW, 26. Juni 1926, S. 1074.
Dazu kam, dass gegenüber 1913 ein weitaus größerer Teil des Eigenkapitals der Banken in Effekten- und Konsortialbeständen gebunden war. Hatte diese Quote 1913 zwischen 38 und 64 % betragen – sie lag damals nur im Falle der Boden-Credit-Anstalt (BCA) niedriger, da bei dieser das Hypothekar- und Kommunalkreditgeschäft einen größeren Raum einnahm –, so machte sie 1925 zwischen 49,5 % (Bankverein) und 116,6 % (BCA) aus. Bei der Creditanstalt erreichte dieser Wert fast 90 % gegen 54 % im Jahr 1913163. Die Tatsache, dass sämtliche Wiener Großbanken in der Zeit zwischen 1913 und 1925 mehr als drei Viertel ihres Eigenkapitals eingebüßt hatten, muss zur Überlegung Anlass geben, in welchen Perioden und aus welchen Gründen diese Verluste eingetreten waren. Handelte es sich dabei um durch den Weltkrieg verursachte Verluste oder machten sich diese erst in der Frühzeit der Republik geltend ? Und wenn es Nachkriegsverluste waren, betrafen sie hauptsächlich das inländische Geschäft oder hingen sie mit dem mehr erzwungenen als freiwilligen Teilrückzug der Banken aus den Nachfolgestaaten zusammen ? Um die Einbußen an Vermögen und Einfluss zu ermessen, die die Wiener Großbanken in dem Jahrzehnt nach 1914 hatten hinnehmen müssen, ist es notwendig, sich noch einmal kurz die Ausgangsposition in Erinnerung zu rufen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges befanden sich die österreichischen Mobilbanken auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung. Die großen Wiener Kreditinstitute vereinigten 1913 ca. zwei Drittel des Aktienkapitals aller Aktienbanken der österreichischen Reichshälfte der Monarchie auf sich164. Und obwohl die Bedeutung Prags als zweiter Finanzplatz Cisleithaniens seit der Jahrhundertwende ständig zugenommen 163 Berechnet nach den Angaben des Compass, Jg. 1915 und 1927, jeweils Bd. I. 164 März, Österreichische Bankpolitik, S. 52 ff.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
hatte165, war die Stellung Wiens als Finanzzentrum der Donaumonarchie unangefochten. Die Wiener Großbanken nahmen aber nicht nur auf dem Kreditsektor eine dominierende Stellung ein. In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Krieg hatte sich eine enge Symbiose zwischen den Mobilbanken und der österreichischen Industrie herausgebildet, in deren Rahmen die Banken nicht bloß als Kreditgeber, sondern auch als Großaktionäre von Industriefirmen fungierten. Diese Entwicklung kann am besten am Beispiel der Creditanstalt verdeutlicht werden, deren Beteiligungen an verschiedenen Aktiengesellschaften sich von zwei im Jahr 1880 auf 103 im Jahr 1913 erhöhten. Unter diesen 103 Unternehmen befanden sich 86 Industriefirmen, deren Produktionsstätten über das gesamte Gebiet der Monarchie verstreut waren. Zum industriellen Konzern der Creditanstalt zählten das größte Schiffbauunternehmen der Monarchie, das Stabilimento Tecnico Triestino, die bedeutendsten Maschinenbaufirmen wie die Skodawerke und Breitfeld, Danek & Co und andere bekannte Großunternehmen166. Diese enge Verflechtung von Bank- und Industriekapital entstand aus dem Bedürfnis der Kreditinstitute nach Ausdehnung des laufenden Geschäfts zu einer Zeit, als die Finanzierung der Eisenbahnen und des Staates an Bedeutung verloren hatte. Der Wunsch nach intensiver Kooperation mit den Banken ging freilich auch von den Industrieunternehmungen aus, da diese in der Regel über geringe Eigenmittel verfügten und der unterentwickelte Kapitalmarkt der Donaumonarchie seine Funktion nur in unzureichendem Maße erfüllen konnte167. So trug die enge Beziehung zwischen Mobilbanken und Industrie nicht immer freiwilligen Charakter : Die Banken gewährten den Unternehmen Investitionskredite (zumeist in Form von Kontokorrentkrediten), die – in Anbetracht des langfristigen Charakters dieser Veranlagung – aus den eigenen Mitteln der Banken bzw. aus Spareinlagen finanziert werden mussten. In vielen Fällen wurden solche »eingefrorenen« Kredite in Aktienbeteiligungen umgewandelt. Die Kreditgewährung bildete so in der Regel die Vorstufe zur »Veraktionierung« von Privatfirmen168. Ob die Banken, wie man im Anschluss an Joseph Schumpeter169 mutmaßen könnte, auch durch Kreditschöpfung an der Einführung und Finanzierung von Inno vationen Anteil hatten, lässt sich aus ihren Aufzeichnungen nicht eruieren. Zwar beteiligten sie sich an Gründungsgeschäften. Aber diese Transaktionen bezogen sich meist auf Unternehmen in eingeführten Industriebranchen, wenn sie nicht gar – wie 165 1890 hatte das Verhältnis des in den Aktienbanken Wiens arbeitenden Kapitals zu dem der Prager Banken 9 :1 betragen, 1913 machte es hingegen nur noch ca. 4 :1 aus. Siehe : Baltzarek, S. 56. 166 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 73 ff. 167 Siehe dazu : Mosser, Die Industrieaktiengesellschaft, S. 130 ff und 175 ff. 168 Vgl. als ein Beispiel : Walter, S. 49 ff. 169 Siehe : Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung.
Die Banken im Ersten Weltkrieg
oben angedeutet – der bloßen Umwandlung von bereits bestehenden Unternehmen in Aktiengesellschaften dienten. Auf jeden Fall kann man diese Art der Finanzierung selbst als »Innovation« im Sinne Schumpeters bezeichnen. Walter Reik hat in einer aufschlussreichen Studie aus dem Jahr 1932 nachgewiesen, dass in den Jahren 1907 bis 1913 rund zwei Drittel des Aktienkapitals der neugegründeten Industrieunternehmen von den Banken übernommen wurden170. Natürlich waren die Banken bestrebt, den über den zur Kontrolle des jeweiligen Unternehmens hinausgehenden Aktienanteil an das Publikum weiterzugeben. Sie mussten jedoch – angesichts des unterentwickelten Zustands des österreichischen Kapitalmarktes – die Aktien für eine mehr oder minder lange Übergangszeit im Portefeuille behalten. Diese Geschäftspolitik und die daraus resultierende »Patronisierung« der Industrie durch die Kreditinstitute hatte zur Folge, dass schon vor dem Ersten Weltkrieg ein vergleichsweise hoher Prozentsatz der eigenen Mittel in »illiquiden« Effekten- und Konsortialbeständen gebunden war171. Das Verhältnis von Eigenkapital zu Effektenund Konsortialbeständen war noch ungünstiger als bei den deutschen Aktienbanken, wo diese Quote im Jahr 1913 etwa 41 % ausmachte. Es gehörte jedoch zur Praxis der Banken, Aktiva dieser Art sehr vorsichtig zu bewerten und auf diese Weise beträchtliche »stille« Reserven anzusammeln172. Die langandauernde Konjunktur vor dem Ersten Weltkrieg hatte nicht nur die Eigentumsverhältnisse in der Industrie revolutioniert ; sie hatte auch die Machtposition der Großbanken in der Volkswirtschaft – nicht zuletzt infolge der angespannten Lage auf dem Geldmarkt (siehe Tabelle 24) – nicht unwesentlich gefestigt. Dies sollte sich im Verlauf des Weltkrieges ändern, als sich die Industrie aufgrund der großen, durch die Rüstungskonjunktur bedingten Geldflüssigkeit von den Banken weitgehend emanzipieren konnte. »Manche interessante Veränderung«, schrieb ein zeitgenössischer Beobachter, »hat sich […] in den Beziehungen der Banken zu ihrer Kundschaft vollzogen. Industriegesellschaften und Unternehmer, die früher unter der genauesten Kontrolle ihrer Bankverbindung standen, haben im Jahre 1914 und in noch stärkerem Maße 1915 ihre Selbständigkeit wiedererlangt und ihre Unabhängigkeit von der Bankverbindung, zu der sie nicht mehr im Verhältnis des Schuldners, sondern des Gläubigers standen, entschieden betont.«173 170 Reik, S. 25. 171 Siehe : Kernbauer/Weber, Die Wiener Großbanken in der Zeit der Kriegs- und Nachkriegsinflation (1914–1922), S. 144. 172 Das Problem der in den Wertpapierbeständen der Banken liegenden »stillen« Reserven wird uns im Verlauf der Untersuchung noch wiederholt beschäftigen. 173 Müller, S. 58.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Indikatoren dieser Entwicklung waren der sinkende Zinsfuß und der Rückgang des Wechselumlaufs174 sowie die Veränderungen, die sich im Verhältnis von Bankkreditoren und -debitoren ergaben : Beginnend mit dem Jahr 1914 wuchsen die Kreditoren weit stärker als die Debitoren und überstiegen diese im Jahre 1918 um mehr als ein Viertel. Tabelle 24 : Kreditoren und Debitoren von vier Wiener Großbanken* (in Mio. K) Debitoren
Kreditoren
Kreditoren in % der Debitoren
1910
1.422,6**
1.483,9
104,3
1911
1.689,6**
1.668,4
98,7
1912
1.758,2**
1.723,3
98,0
1913
1.869,2**
1.835,7
98,2
1914
2.049,1**
2.121,8
103,5
1915
2.415,9
2.782,2
115,4
1916
3.698,5
4.390,7
118,7
1917
4.595,2
5.771,8
125,6
1918
5.208,4
6.685,7
128,4
* Creditanstalt, Boden-Credit-Anstalt, Bankverein, Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft. ** Die Boden-Credit-Anstalt verbuchte auch die Konsortialbeteiligungen unter Debitoren. Eine Bereinigung um diesen, nicht genau feststellbaren Betrag würde den Überschuss der Kreditoren um 2 bis 3 % erhöhen. Quelle : Compass, diverse Jahrgänge.
Während das Industriegründungsgeschäft fast völlig an Bedeutung verlor, bildete das laufende Bankgeschäft auch im Krieg den Schwerpunkt der Tätigkeit der Kreditinstitute. Dazu traten neue Geschäftszweige, wie die Teilnahme an der Gründung und Finanzierung der Kriegszentralen und Anleiheoperationen mit dem Ausland, die der Bündnispolitik der Monarchie untergeordnet waren. Das wichtigste neue Betätigungsfeld lag jedoch in der Finanzierung des staatlichen Rüstungsbedarfs, vor allem in der Placierung der Kriegsanleihen bzw. der Erteilung von Vorschüssen auf die diversen Kriegsanleihe-Emissionen. An den acht österreichischen Kriegsanleihen im Nominalbetrag von über 35 Mrd. Kronen beteiligten sich die österreichischen Kreditinstitute mit eigenen Zeichnungen in der Höhe von 5,4 Mrd. Kronen, d. h. mit einem Anteil von über 15 %. Dazu kam noch eine in ihrer Höhe nicht zu ermittelnde 174 Sokal, Die Tätigkeit der Banken [1914–1918], S. 1101 und 1134 ff.
Die Banken im Ersten Weltkrieg
Quote an den ungarischen Kriegsanleihen. Für die Unterbringung der Anleihen im Publikum entfalteten die Banken einen ungeheuren Propagandaaufwand, der ihren Apparat aufs Äußerste beanspruchte. Das große Engagement im staatlichen Kreditgeschäft wirft die Frage auf, ob den Banken daraus am Ende des Krieges nennenswerte Verluste erwuchsen. Vergleicht man die Bilanzen der Banken des Jahres 1917 mit jenen des letzten Kriegsjahres, so fällt das starke Anwachsen der liquiden Mittel im Jahr 1918 auf. Darin kommt einerseits die Stockung des Wirtschaftslebens nach dem Zusammenbruch der Monarchie zum Ausdruck, zum anderen aber auch das Bestreben der Banken, ihren Kriegsanleihebesitz zu liquidieren oder zumindest bei der Österreichisch-ungarischen Bank belehnen zu lassen. So stieg die Höhe der Lombarddarlehen der Notenbank allein im Oktober 1918 um 1,2 Mrd. Kronen, in den letzten beiden Monaten des Jahres 1918 sogar um 3,6 Mrd. und betrug Ende 1918 insgesamt 8,3 Mrd. Kronen. Ende 1917 hatte der Stand der Darlehen gegen Handpfand hingegen nur 3,4 Mrd. Kronen betragen175. Durch die Abstoßung von staatlichen Wertpapieren bzw. durch deren Lombardierung nahmen die zehn größten Aktienbanken zum Jahresende l918 gegenüber dem öffentlichen Sektor eine Nettoschuldnerposition ein. Zu diesem Zeitpunkt verfügten sie über Forderungen an den österreichischen bzw. österreichisch-ungarischen Staat aus laufenden Krediten in der Höhe von insgesamt 1,5 Mrd. Kronen, was 15,2 % der Debitoren oder 8,7 % aller Aktiva entsprach. Der Kriegsanleihebesitz betrug Ende 1918 nur ca. 600 Mio. Kronen ; den größten Teil der Nostrozeichnungen hatten die Banken somit zu diesem Zeitpunkt bereits wieder abgestoßen176. Die Creditanstalt wies beispielsweise Ende 1918 einen Kriegsanleihebestand von 44,9 Mio. Kronen aus, sie hatte demnach 90 % ihrer Nostrozeichnungen veräußert177. Der Kriegsanleihebesitz der Boden-Credit-Anstalt betrug zum selben Zeitpunkt 49,2 Mio.178, jener des Bankverein war mit 97 Mio. fast doppelt so hoch179. Vergleicht man diese Forderungen mit den Lombardverbindlichkeiten der Großbanken gegenüber der Österreichisch-ungarischen Bank, die zum Bilanzstichtag 1918 insgesamt 5,6 Mrd. Kronen
175 Popovics, Anhang ; Preßburger, S. 1876 f und 1979. 176 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 89.309/1919. Stand der Banken Österreichs am 31. Dezember 1918. Die Daten über die Bankbilanzen wurden dem Compass, Jg. 1920, Bd. 1, entnommen. 177 Quellen : Der eben zitierte Akt des Finanzarchivs sowie verschiedene Protokolle des CA-Verwaltungsrates. BA, VWP-CA 1914–1918. 178 BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1919, Beilage 1. 179 BA, ARP-WBV vom 16. Juni 1919, Bilanz per 31. Dezember 1918. Bericht an die Verwaltung (Beilage).
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Zerfall der Monarchie und Inflation
erreichten180, so ergibt sich eine Nettoschuldnerposition der Wiener Aktienbanken gegenüber der öffentlichen Hand von etwa 3,5 Mrd. Kronen. Diese Zahlen beziehen sich nur auf die direkten Forderungen und Verbindlichkeiten der Banken, nicht aber auf die Forderungen der Konzernbetriebe der Banken aus Kriegslieferungen an den Staat. Diese waren im letzten Kriegsjahr stark gestiegen, da das Militär bei der Begleichung seiner Schulden in einen immer größeren Rückstand geraten war. Die Höhe der Lieferforderungen der österreichischen Industrie an den Staat ist einem Bericht des Militärliquidierungsamtes an das Finanzministerium aus dem Jahr 1920 zu entnehmen : Danach betrug die Höhe der »liquiden, nicht beglichenen Forderungen der Gesamtindustrie Österreichs« im November 1918 mindestens 2 Mrd. Kronen, wovon etwa zwei Drittel auf Unternehmungen mit Sitz in der Republik Österreich entfielen181. Welcher Teil dieser Forderungen den Außenständen der Konzernbetriebe der Banken zugeschrieben werden muss, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Die Tatsache jedoch, dass allein die Schulden des Staates an Konzernunternehmen der Boden-Credit-Anstalt zu diesem Zeitpunkt 270 Mio. Kronen ausmachten182 und die Forderungen der Berndorfer Metallwarenfabrik A. Krupp AG, eines Konzernbetriebs der Creditanstalt, vermutlich über 60 Mio. Kronen betrugen183, lässt den Schluss zu, dass ein großer Teil der aushaftenden 2 Mrd. Kronen auf die Bankenkonzerne entfiel. Aber selbst wenn man von dieser ungünstigen Voraussetzung ausgeht, bleibt die erstaunliche Tatsache, dass die Großbanken inklusive ihrer Konzernbetriebe Ende 1918 höhere Verbindlichkeiten als Forderungen gegenüber dem öffentlichen Sektor (Staat und Notenbank) besaßen. Wenn man außerdem noch berücksichtigt, dass Rüstungsunternehmen mit hohen Außenständen im Jahre 1919 veräußert werden mussten184, wird die Tatsache erhärtet, dass die Wiener Banken aus den durch den Krieg veranlassten finanziellen Transaktionen mit dem Staat nur unbedeutende Verluste erlitten hatten. Aus all diesen Tatsachen darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass die Banken den Krieg ohne Vermögenseinbußen überstanden. Denn der mit der Auflösung der Monarchie verbundene Zerfall des einheitlichen Wirtschaftsgebietes und die 180 Preßburger, S. 2004 f. Der angeführte Betrag stellt die Forderung der Notenbank aus Lombarddarlehen an alle in Wien ansässigen Banken dar. Der überwiegende Teil davon dürfte auf Lombardverpflichtungen der Aktienbanken entfallen sein. 181 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 55.021/1920. 182 BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1919, Beilage 1. 183 ÖVW, Die Bilanzen, 12. April 1919, S. 106. 184 Das bekannteste Beispiel bilden die Skodawerke. Vgl. Teichova, An Economic Background to Munich, S. 92 ff.
Die Banken im Ersten Weltkrieg
bald nach Kriegsbeginn einsetzende Geldentwertung fügten den Banken empfindliche Verluste zu. Bei der Berechnung der inflationsbedingten Vermögensverluste der Banken ergeben sich große Probleme, denn diese Verluste können nicht einfach durch eine Deflationierung der Bankbilanzen mit Hilfe des Lebenshaltungskostenindexes bestimmt werden. Die eigenen Mittel der Banken waren zum überwiegenden Teil in Grund stücken und Gebäuden, in Wertpapieren und langfristigen Ausleihungen angelegt. Die Entwicklung des Eigenvermögens der Banken während der Inflationsjahre war daher im Wesentlichen davon bestimmt, wie sich der Wert der »illiquiden« Vermögensteile in Relation zur Preissteigerungsrate entwickelte. Wie hoch der Rückgang des Reinvermögens der Banken im Zeitraum 1913 bis 1918 war, als die Obligationskurse weitgehend konstant blieben und die Steigerung der Aktienkurse geringer war als die Inflationsrate185, lässt sich aus den Bilanzen nicht ermitteln. Retrospektiv betrachtet war die Bewertung der Aktien zum Jahresende 1918 angesichts der Unsicherheit über die allgemeine politische und wirtschaftliche Zukunft und das Schicksal der einzelnen Unternehmungen (insbesondere in den Sukzessionsstaaten) vollkommen willkürlich. Weiters ist die Zusammensetzung des Effektenportefeuilles der Banken nach verschiedenen Währungen nicht bekannt. Es ist einleuchtend, dass Wertpapiere, die auf Goldwährungen lauteten, besonders wertbeständig waren. Aber gerade diese Tatsache kam in den Bilanzen nicht zum Ausdruck : Die sogenannten »altausländischen« Effekten wurden – zumindest im Falle des Wiener Bankverein – bis zum Ende der Inflationsperiode sehr vorsichtig bewertet, nämlich zum Anschaffungspreis in der Vorkriegsparität186. Inwieweit dies allgemeine Praxis war, wissen wir nicht. Im Lichte der Unzukömmlichkeiten bei manchen Banken, die später zutage gefördert wurden, muss dies jedoch bezweifelt werden. Da wir über die Struktur der Debitoren und Kreditoren hinsichtlich der Fristigkeit und Währungszusammensetzung keine Zahlen zur Verfügung haben, ist es nicht möglich, die inflationären Einflüsse auf die Bankbilanzen zu korrigieren. Nur in diesem Fall wäre es möglich, die fremden Gelder mit den Ausleihungen entsprechender Fristigkeit zu kompensieren. Kreditoren und Debitoren können sich nämlich in der Zusammensetzung nach Währungen unterscheiden, ein Umstand, der vor allem in der Nachkriegsinflation eine große Rolle gespielt haben dürfte, als ein größerer Teil der Kreditoren als der Debitoren auf »harte« Währungen lautete. Einen gewissen Einblick in die Dimensionen dieses Problems kann man aus den sehr detaillierten Bilanzerläuterungen der Direktion des Bankverein gewinnen : An185 Sokal, Die Tätigkeit der Banken [1914–1918], S. 1141 f. 186 Vgl. die Bilanzberichte der Direktion des WBV an die Verwaltung für die Jahre 1918–1922.
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lässlich der Bilanz für das Jahr 1919 wurde das Anwachsen der Debitoren von 1,8 auf 3,5 Mrd. Kronen dahingehend kommentiert, dass von der Steigerung etwa 1,3 Mrd., also 75 %, auf die gleichsam selbsttätige Erhöhung des Kronenwerts von Auslandsguthaben der Bank zurückzuführen sei187. Es ist zu vermuten, dass das Steigen der Kreditorensumme um 1,6 Mrd. Kronen auf ähnliche Aufwertungsphänomene zurückzuführen war. Die Bilanzen sämtlicher Banken zeichneten sich – insbesondere in der Zeit von 1918 bis 1922 – durch einen hohen Grad an Unübersichtlichkeit und Unklarheit aus, was hauptsächlich mit den Buchungsmethoden im Fremdwährungsgeschäft zusammenhing. Die Bilanzierungsmethoden divergierten nicht bloß von Bank zu Bank, sie änderten sich auch bei den einzelnen Instituten manchmal von Jahr zu Jahr. In den Rechnungsabschlüssen der Jahre 1918 bis 1922 erscheinen die Auswirkungen der Inflation vermengt mit jenen des Währungsverfalls und der Auflösung der Monarchie. Das Bild, das die Bilanzen zeichnen, wird zusätzlich verunklart durch die mannigfachen offenen und stillen Rückstellungen für dubiose Forderungen bzw. für Schulden, die aufgrund der Bestimmungen des Friedensvertrages besonderen Charakter trugen. Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches stellte die Banken – gleichsam von einem Tag auf den anderen – vor völlig neue Probleme. Einen aufschlussreichen Eindruck davon vermittelt der erste Bericht, den die Direktion der Boden-Credit-Anstalt dem Verwaltungsrat des Instituts nach dem Ende der Monarchie vorlegte. »Jeder Tag«, heißt es darin, »bringt uns neue Verfügungen der nationalen Staaten, welche die Bewertung der Krone im Auslande auf das Ungünstigste beeinflussen und anderseits Gegenmaßnahmen der deutschösterreichischen Regierung notwendig machen, durch die der schon jetzt gedrosselte Verkehr zwischen den nationalen Staaten und insbesondere der bankgeschäftliche Verkehr noch mehr eingeschränkt werden wird. In dieser Beziehung sei auf die Abstempelung der Kronennoten, das Verbot der Überweisungen von Kronen in das Gebiet des czechoslovakischen Staates sowie auf die in Deutschösterreich erlassenen Verfügungen wegen Steuerflucht, etc. hingewiesen. Die großen wirtschaftlichen Interessen unserer Anstalt in den nationalen Staaten, unsere Beteiligungen an großen industriellen Unternehmungen und Banken der früheren Monarchie werden unter dem Drucke dieser Verhältnisse Belastungsproben unterworfen, die in einzelnen Fällen zu einer gänzlichen oder teilweisen Lösung unserer Engagements geführt haben. Bald machen es nationale Prestige-Forderungen unabweislich, daß wir die von uns und unseren Freunden innege habte Majorität des Aktienkapitals einzelner Unternehmungen zugunsten lokaler Interessenten aufgeben müssen, bald erweist sich die Nationalisierung eines Unternehmens als die 187 BA, ARP-WBV vom 4. Juni 1920, Bilanzbericht für das Jahr 1919.
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einzige Voraussetzung zur Hereinbringung staatlicher und privater Bestellungen, bald muß Vorsorge getroffen werden, daß solche Unternehmungen ihre laufenden bankgeschäftlichen Transaktionen bei nationalen Instituten abwickeln u. dgl. m. – All dies schränkt den Wirkungskreis unserer Anstalt in empfindlicher Weise ein und verringert ihre künftigen Einnahmen und Gewinne an Zinsen, Provisionen und an sonstigen finanziellen Trans aktionen.«188
4. Die Wiener Großbanken und das Ende der Monarchie
Der militärische und politische Zusammenbruch Österreich-Ungarns war begleitet von einer Welle des Nationalismus auch auf ökonomischem Gebiet. Die traditionellen Einflusssphären der Wiener Banken in den Nachfolgestaaten schienen aufs Schwerste gefährdet. Auf diese Herausforderung waren zwei alternative Antworten möglich : – Ein genereller Rückzug der Banken aus dem Donauraum (bei gleichzeitiger Reduzierung des Bankapparats) und Konzentration auf die Bedürfnisse der österreichischen Volkswirtschaft. – Der Versuch einer Verteidigung der traditionellen Interessensgebiete (womöglich mit der Unterstützung ausländischer Bündnispartner). Der Weg der »Austrifizierung« des Wiener Banksektors, der vor allem vom ehemaligen Generaldirektor der Creditanstalt und nunmehrigen Gouverneur der Österreichisch-ungarischen Bank, Alexander Spitzmüller, befürwortet wurde, stieß bei den Vertretern der Großbanken auf fast ungeteilte Ablehnung189. Die Entscheidung für die »Multinationalisierung« fiel daher sehr rasch ; sie wurde vom damaligen Finanzminister Joseph Schumpeter unterstützt190 und entsprach auch den Anschauungen eines Großteils der österreichischen Industrie191. Konzediert wurde allenfalls ein gewisser »taktischer« Rückzug aus Positionen im »Neuausland« – als Reaktion auf den von den Nachfolgestaaten ausgehenden politischen oder administrativen Druck. Auch 188 BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1919, Beilage 1. 189 Spitzmüller, … und hat auch Ursach’, S. 332. Ähnliche Ansichten finden sich auch im sogenannten Steirischen Wirtschaftsprogramm der Christlichsozialen aus dem Jahr 1925. Siehe dazu : ÖStA/ HHStA, Schüller-Faszikel. 190 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 333 ff. 191 Siehe : Berichte und Anträge der wirtschaftlichen Korporationen Deutschösterreichs zu den Bedingungen des Friedens mit Österreich.
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zeitweise auftretende Schwierigkeiten bei der Finanzierung der außerhalb Österreichs gelegenen Konzernunternehmen führten notgedrungen zur Räumung ausländischer Positionen. Beteiligungen der Wiener Großbanken an Kreditinstituten in den Nachfolgestaaten (Stand Ende 1923) Beteiligungsquote am AK Tschechoslowakei Böhmische Escompte-Bank und Kreditanstalt* (1919)**
Creditanstalt (22,5 %) Escompte-Gesellschaft (22,5 %)
Allgemeiner Böhmischer Bankverein* (1921)
Bankverein (35 %)
Slowakische Allgemeine Kreditbank (1921)
Creditanstalt
Polen Warschauer Discontobank* (1919)
Creditanstalt (30 %)
Galizische Aktien-Hypothekenbank* (1919)
Creditanstalt (30 %)
Bank Malopolski (1920)
Boden-Credit-Anstalt
Schlesische Kredit-Anstalt (1921)
Creditanstalt
Allgemeiner Bankverein in Polen* (1923)
Bankverein (40–50 %)
Jugoslawien*** Kreditanstalt für Handel und Industrie, Laibach* (1919)
Creditanstalt (vermutlich Majorität)
Kroatische Allgemeine Kreditbank (1921)
Creditanstalt, Boden-Credit-Anstalt
Kroatisch-Slawonische Landes-Hypothekenbank (1921)
Boden-Credit-Anstalt
Agrar- und Industriebank, Belgrad (1923)
Creditanstalt
*
Durch Umwandlung oder Einbringung von Filialen entstanden. Bei den übrigen angeführten Banken handelt es sich entweder um Neugründungen oder um den Erwerb größerer Aktienposten durch Wiener Institute. ** Gründungsjahr bzw. Jahr der Beteiligung. *** Der Wiener Bankverein wandelte seine jugoslawischen Filialen erst Anfang 1929 in den Allgemeinen Jugoslawischen Bankverein um. Das Wiener Institut war zeitweilig auch an der Laibacher Kreditbank beteiligt. Quellen : Compass, Jg. 1925 und 1930 ; BA, diverse VWP-CA und ARP-WBV.
In den ersten Jahren nach 1918 waren die Wiener Banken daher in ein zähes Ringen um die Aufrechterhaltung ihres Besitzes im »Neuausland« verwickelt, wobei sich bald herausstellte, dass an eine Weiterführung des alten Filialnetzes nicht zu denken war. Die in den Nachfolgestaaten gelegenen Zweigstellen mussten entweder in selbständige Banken umgewandelt oder bereits bestehenden Kreditinstituten angegliedert
Die Wiener Großbanken und das Ende der Monarchie
werden. Von den 143 zu Kriegsende ausländisch gewordenen Filialen der zehn größten Wiener Banken waren im Jahr 1924 nur mehr neun vorhanden, davon als einzig bedeutende die Budapester und Zagreber Niederlassungen des Bankverein192. In der folgenden Zusammenstellung sind die neuen Kreditinstitute angeführt, an denen die vier österreichischen Großbanken (Creditanstalt, Boden-Credit-Anstalt, Bankverein und Escompte-Gesellschaft) weiterhin mit zum Teil beträchtlichen Quoten beteiligt blieben193. Darüber hinaus gab es in den Nachfolgestaaten noch andere Institute, die Beteiligungen von Wiener Großbanken aus der Zeit vor 1918 aufwiesen : die Landesbank für Bosnien und Hercegovina (Bankverein), die Rumänische Kommerzialbank, die Rumänische Kreditbank (seit 1923 Creditanstalt, vorher Anglobank), die Banque Balkanique (Bankverein, seit 1905) in Sofia sowie die Banque Générale de Bulgarie (Boden-Credit-Anstalt). Die Bestrebungen der Regierungen in den Nachfolgestaaten um eine »Nationalisierung« der Wirtschaft richteten sich sowohl gegen die Filialen der Wiener Kommerzbanken als auch gegen die mit diesen verbundenen Industriegesellschaften. Im Allgemeinen hatten die Industrieunternehmen, auch wenn ihre Betriebsstätten über die ganze Monarchie verteilt waren und die Hauptbetriebe in anderen Landesteilen lagen, ihre Zentralverwaltung in Wien. Nach 1918 wurden die Industrie-Aktiengesellschaften dazu angehalten, ihren Hauptsitz in den jeweiligen neuen Staat zu verlegen oder das Unternehmen zu teilen und eigene nationale Firmen ins Leben zu rufen. Allein bis Mitte August 1919 hatten bereits 44 AG mit einem Gesamtkapital von etwa 400 Mio. Kronen ihre Sitzverlegung in die Tschechoslowakei entweder beschlossen oder durchgeführt194. Die österreichischen Banken versuchten der völligen Aufsplitterung von Konzernunternehmen mit Hilfe einer geschickten Gegenstrategie zu begegnen : Zugleich mit der Errichtung nationaler Aktiengesellschaften wurden im westlichen Ausland Holdinggesellschaften gegründet, welche die im Portefeuille der Wiener Institute befindlichen Aktienpakete der Konzernfirmen übernahmen. Beispiele dafür sind :
192 Quelle : Compass, Jg. 1919, Bd. 1 und Jg. 1925. 193 Auch die Wiener Mittelbanken (Depositenbank, Mercurbank, Unionbank und Verkehrsbank) trafen bezüglich ihrer »neuausländischen« Filialen ähnliche Arrangements. 194 ÖVW, Die Bilanzen, 23. August 1919, S. 893. Ein Akt des Finanzministeriums aus dem Jahr 1922, der eine Zusammenstellung über alle bis zu diesem Jahr erfolgten Sitzverlegungen enthielt, ist leider einer Skartierungsaktion zum Opfer gefallen.
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Zerfall der Monarchie und Inflation Österreichische Beteiligung Textilindustrie Transalpina Industrie- und Handels AG, Zürich
S.M.v.Rothschild
Tarbouches Trust S.A., Zürich
Creditanstalt
Färbereien und Druckereien Trust AG, Chur
Creditanstalt
Erdölindustrie Vereinigte Fanto Petroleum AG, Genf
Boden-Credit-Anstalt
N.V. Nederlandsche Petroleum Maatschappij Photogen
Creditanstalt S.M.v.Rothschild
Holzindustrie Mundus, Allgemeine Handels- und Industrie AG, Zürich
Creditanstalt
Timber Holding-Gesellschaft für Werte der Holzindustrie, Zürich
Unionbank
Zur Schwächung der Wiener Banken trug neben den Nationalisierungsbestrebungen der Nachfolgestaaten auch der Friedensvertrag von Saint Germain bei. Der ursprüngliche Entwurf enthielt einen Passus, wonach das österreichische Vermögen im Ausland, also auch in den Sukzessionsstaaten, ohne Entschädigung enteignet werden konnte. Der Generaldirektor der Creditanstalt, Ludwig Neurath, gab der deprimierten Stimmung, die der Vertragsentwurf in den Direktionsetagen der Wiener Banken hervorrief, anlässlich der Besprechung der Bilanz für das Jahr 1918 Ausdruck. Bei dieser Sitzung, die im Juni 1919 stattfand, antwortete Neurath auf die Frage nach der Zukunft der Bank, dass – sollte nicht jener Punkt des Friedensvertrages fallengelassen werden, »welcher unser Verhältnis zu den Nationalstaaten regelt« – der »völlige Zusammenbruch unserer Wirtschaft« unvermeidlich erscheine195. Der in Frage stehende Artikel wurde in der endgültigen Fassung des Friedensvertrages auf jene Länder eingeschränkt, die außerhalb der Grenzen der ehemaligen Monarchie lagen. Die tatsächliche Regelung fiel in den meisten Fällen noch vorteilhafter für die österreichischen Kreditinstitute aus : So musste zwar der Wiener Bankverein seine Filialen in Konstantinopel – die Stadt hieß erst ab 1930 offiziell Istanbul – und Smyrna aufgeben, er erhielt dafür jedoch eine angemessene Entschädigung von 7 Mio. Franc, die er zum Teil (weniger als 2 Mio. FFr) zur Finanzierung seiner 10-Prozent-Beteiligung an der Banque Française des Pays d’Orient verwendete. Diese Bank mit Sitz in Paris wurde zur Übernahme der Geschäfte der türkischen Filialen des Bankverein gegründet. Der Verkauf der Aktien der Bank für Orientalische Eisenbahnen brachte dem Bankverein gegenüber dem Buchwert im Jahr 1920 einen 195 BA, VWP-CA vom 20. Juni 1919.
Die Wiener Großbanken und das Ende der Monarchie
Gewinn von 55,6 Mio. Kronen196. Auch der Besitz der Wiener Banken an Orientbahn-Aktien – im Jahr 1913 hatte ein österreichisch-ungarisches Bankenkonsortium 51 % des Aktienkapitals übernommen – konnte zu relativ günstigen Bedingungen an eine französische Bankengruppe veräußert werden. Insgesamt flossen dem Bankverein 1920 aus derartigen Transaktionen Gewinne von 111 Mio. Kronen zu197. Auch bezüglich einiger Kreditinstitute auf dem Balkan, bei denen der österreichische (und ungarische) Einfluss im Weltkrieg verstärkt worden war, gelang es den beteiligten Wiener Banken, günstige Arrangements zu treffen ; in keinem Fall kam es zu Enteignungen. Als Beispiele dafür seien zwei bulgarische Banken genannt. Bei der Banque Balkanique in Sofia, an deren Gründung im Jahr 1905 sich der Wiener Bankverein beteiligt hatte, konnte eine österreichisch-ungarische Bankengruppe (die sogenannte »Orientgruppe«) ihren Einfluss im Jahr 1916 erheblich verstärken198. Nach dem Krieg suchten die mitteleuropäischen Banken wieder den Anschluss an die Banque de l’Union, mit welcher der Bankverein schon anlässlich der Gründung des bulgarischen Instituts kooperiert hatte. Die französische Bank übernahm aus dem Besitz des österreichisch-ungarischen Syndikats 10.000 Banque Balkanique-Aktien und sicherte sich eine stärkere Vertretung in der Leitung der Bank199. Im Falle der Banque Générale de Bulgarie, die 1905 gemeinsam von der Pester Ungarischen Commercialbank und der Banque de Paris et des Pays Bas gegründet worden war, war es während des Weltkrieges zu einem stärkeren Engagement der Boden-Credit-Anstalt gekommen. Die Banque Générale schuldete jedoch dem Pariser Institut aus der Vorkriegszeit einen größeren Betrag (in westlichen Währungen), sodass im Jahr 1921 ein Abkommen der bulgarischen Bank mit den französischen Gläubigern geschlossen werden musste, demzufolge die Schuld zu günstigen Bedingungen und auf eine Reihe von Jahren verteilt beglichen werden sollte. Dafür wurde der Banque de Paris et des Pays Bas ein größerer Einfluss auf die Gestion der bulgarischen Bank zugestanden, wobei aber, wie im Verwaltungsrats-Protokoll der Boden-Credit-Anstalt vermerkt wurde, die Position der österreichischen und der ungarischen Bank »in einer dem standing dieser Banken gebührenden Weise« erhalten blieb200. 196 BA, ARP-WBV vom 4. Juni 1920, Bilanzbericht für das Jahr 1919 und ARP-WBV vom 2. Juni 1921, Bilanzbericht für das Jahr 1920. 197 ÖStA/AdR/BMF, Dept. 17, Sammelakt 16 – Orientbahn-Aktien ; BA, ARP-WBV vom 2. Juni 1921, Bilanzbericht für das Jahr 1920. 198 Zur »Orientgruppe« siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 234 ff. 199 BA, ARP-WBV vom 9. März 1920. 200 BA, VWP-BCA vom 4. Oktober 1921. Die diesbezüglichen Verhandlungen mit der französischen Bank wurden zu Beginn des Jahres 1920 entriert. Siehe : VWP-BCA vom 31. März 1920, Reisebericht Generaldirektor Alexander Weiner (Beilage).
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In einigen Fällen konnten sich die Wiener Banken ein Rückoptionsrecht auf die veräußerten Aktien von Auslandsbeteiligungen sichern, z. B. im Falle der italienischen Schifffahrtsgesellschaft Austro-Americana, deren Aktienmajorität im Jahre 1913 von einem österreichischen Bankenkonsortium erworben worden war. Zu Kriegsende befand sich noch ein Drittel der Aktien in österreichischem Besitz. Dieses Paket wurde im Frühjahr 1919 an einen Triestiner Interessenten verkauft, wobei sich die Wiener Banken ein Rückoptionsrecht auf die Aktien für den Fall sicherten, dass Triest nicht unter italienische Hoheit fallen sollte201. Im Herbst desselben Jahres kam ein ähnliches auf politischen Erwägungen aufbauendes Geschäft in Bulgarien zustande. Der Bankverein veräußerte die 25%ige Beteiligung an dem Syndikat für die Bulgarische Zuckerindustrie an die Banque Balkanique und sicherte sich die Option auf einen Rückkauf der Anteile »in einem günstigeren Zeitpunkt«202. Über das Ausmaß des Aktienbesitzes der Wiener Banken an ausländischen Unternehmen herrschte weitgehende Unsicherheit. Nach einer Kompilation des Bankenverbandes, die sich auf den Stand vom Oktober 1919 bezog, betrug der alt- und neuausländische Aktienbesitz der Banken 5,6 Mrd. Kronen. Davon entfielen 2,2 Mrd. auf Industriebeteiligungen203. Eine andere Aufstellung des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers aus dem Juni 1919 wies den Wertpapierbesitz (unter Einschluss des Besitzes der Kommittenten) von 24 österreichischen Banken (6 Groß- und 3 Mittelbanken, 9 kleinere Aktienbanken und 6 Privatbankfirmen) an Industrieunternehmen in den Nachfolgestaaten zu diesem Zeitpunkt mit etwa 3,8 Mrd. Kronen aus204. Die Industriellen selbst nannten noch höhere Zahlen ; sie schätzten Mitte 1919 den Wert aller österreichischen Besitzansprüche auf Industrieunternehmen im Donauraum auf 20 bis 30 Mrd. Kronen205. Ohne Zweifel erreichte der österreichische Aktienbesitz an Firmen in den Nachfolgestaaten ein beträchtliches Ausmaß, auch wenn er an die zuletzt genannte Zahl von 20 bis 30 Mrd. Kronen bei Weitem nicht herangereicht haben dürfte. In der Folgezeit mussten die Wiener Banken jedoch bei ihren »neuausländischen« Industriebeteiligungen große Einbußen hinnehmen. Sie verloren gerade ihre wertvollsten Aktienbestände, vor allem Beteiligungen in Oberitalien, in der Tschechoslowakei und Rumänien. Die Creditanstalt musste bereits 1919 die Aktienpakete der Skodawerke, der Prager Maschinenbau AG und der Firma Breitfeld, Danek & Co – größtenteils an den französi201 BA, ARP-WBV vom 16. Juni 1919 und VWP-BCA vom 16. April 1919. 202 BA, ARP-WBV vom 27. Oktober 1919. 203 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 83.813/1919. 204 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 39.014/1919. 205 Berichte und Anträge der wirtschaftlichen Korporationen, Beilage : Deutschösterreichs Interessen an Industrieunternehmen der Sukzessionsstaaten, S. l.
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schen Schneider-Creusot-Konzern – abgeben. Auch die Niederösterreichische Escompte- Gesellschaft war gezwungen, ihren Besitz an Aktien der Skodawerke und der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft zu veräußern206. Die Boden-Credit-Anstalt verkaufte den größten Teil ihres Besitzes an Aktien der Berg- und Hüttenwerke (Tschechoslowakei) an die französische Rüstungsfirma Schneider-Creusot. Die schwerindustriellen Besitzungen der von der Bank kontrollierten Staatseisenbahn-Gesellschaft (STEG) gingen an die Acieres et Domaines de Resita in Rumänien über, von deren Aktienkapital die englische Firma Vickers & Co 1922 einen beträchtlichen Anteil erwarb207. In den ersten Jahren nach 1918 vollzog sich ganz allgemein ein Prozess der Abwanderung von in Wien domizilierten Wertpapieren insbesondere nach Prag, weil tschechoslowakische Kapitalgruppen bemüht waren, Aktien von Unternehmen zu erwerben, deren Produktionsstätten auf dem Gebiet der neuen tschechoslowakischen Republik lagen208. Was der Friedensvertrag in seiner ursprünglichen Form als politische Zwangsmaßnahme vorgesehen hatte – die teilweise Entblößung der Wiener Banken von ihrem Aktienbesitz in den Nachfolgestaaten – vollzog sich so als Folge der ökonomischen und nicht zuletzt auch politischen Schwierigkeiten, in welche die österreichische Volkswirtschaft und die Banken nach 1918 hineingeraten waren. Große Gefahr schien den österreichischen Banken von Artikel 248 des Friedensvertrages zu drohen. Dieser besagte, dass die privaten Vorkriegsschulden in der Originalwährung zurückzuzahlen seien oder, wenn sie in Kronen eingegangen worden waren, in der Währung des Gläubigerlandes zum Vorkriegswechselkurs. Aber auch die Valorisierung der Kronenschulden erwies sich letzten Endes als keine allzu große Belastung, denn die ausländischen Gläubiger waren zu großen Konzessionen hinsichtlich der Rückzahlungsbedingungen bereit. Die Strategie der Banken bei diesen Verhandlungen ging, wie es die Direktion des Bankverein formulierte, dahin, ein Arrangement zu treffen, »das unsere Gläubiger befriedigt und uns nicht in ungerechter Weise belastet« und das gleichzeitig eine gewisse Schadloshaltung der Banken durch den österreichischen Staat beinhalten sollte209. Bereits im Laufe des ersten Halbjahres 1922 konnte der Wiener Bankverein seine aus der Valorisierung der Kronenkredite er206 ÖVW, Die Bilanzen, 22. Jänner 1921, S. 60 ; Compass, Jg. 1920, Bd. 1, S. 1348 ff. Siehe dazu auch : Teichova, An Economic Background to Munich, S. 195 ff. 207 ÖVW, Die Bilanzen, 16. Oktober 1920, S. 11 ; Compass, Jg. 1925, S. 555 und 764 f. 208 Federn, Die Börse, S. 64. Vgl. auch Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1919 und 1920, S. 760. 209 BA, ARP-WBV vom 2. Juni 1921, Bilanzbericht für das Jahr 1920. Erläuternd hieß es dazu : »Von unseren Reserven werden bedeutende Summen bei der Begleichung unserer valutarischen Verpflichtungen und der Rückzahlung unserer aus der Vorkriegszeit stammenden Kronenschulden in Anspruch genommen werden.«
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wachsenen Verpflichtungen gegenüber französischen und belgischen Gläubigern zum größten Teil erfüllen, dies nicht zuletzt deshalb, weil das Institut über noch aus der Vorkriegszeit stammende größere Guthaben in Westeuropa verfügte210. Insgesamt wurden bis Ende 1924 »zwischen den englischen Gläubigern und den österreichischen Vorkriegsschuldnern Vergleiche in der Höhe von 4 Mio. Pfund geschlossen. Hievon wurden mindestens drei Viertel durch Aufnahme neuer Kredite konvertiert. Etwa 10 % wurden mit sequestierten österreichischen Forderungen an englische Schuldner kompensiert. Kaum eine halbe Million Pfund wurden in bar bezahlt. Mit Frankreich, Belgien und Italien konnte Österreich ähnliche Vergleiche abschließen.«211
Mit dem Vorkriegsschuldengesetz vom 16. Juli 1921 übernahm der Bundesschatz die Tilgung eines Teils der Verbindlichkeiten. Zu diesem Zweck wurden sogenannte Abrechnungsschuldverschreibungen ausgegeben212. In zwei Fällen strebten die Auslandsgläubiger und einige einflussreiche Wiener Bankdirektoren eine gänzlich andere Lösung an : Die Anglobank und die Länderbank hatten vor dem Krieg Filialen in London bzw. London und Paris unterhalten und waren daher in besonders hohem Maß ans westliche Ausland verschuldet. Da eine Rückzahlung dieser Kredite zu den im Friedensvertrag festgelegten Bedingungen nach Ansicht der Bankleitungen die Existenz der Institute aufs Schwerste gefährden musste, schlugen sie eine Sitzverlegung ins Ausland vor, wobei eine Umwandlung der französischen und englischen Forderungen in Aktien ins Auge gefasst wurde. Die Anglobank wies, laut Generalbilanz vom 31. Dezember 1920, valorisierte Kronenschulden im Gesamtbetrag von 5,5 Mrd. – bei einem Eigenkapital von 402 Mio. Kronen – aus. Das Obligo der Länderbank aus demselben Titel betrug – bei einem Eigenkapital von 817 Mio. – 7,7 Mrd. Kronen. Vom österreichischen Parlament eingesetzte Gutachter kamen jedoch, unter Hinweis auf die Auslandsschuldenverträge und bestehende Forderungen der Banken, zu dem Schluss, dass weder vom staatlichen noch vom Gesichtspunkt der Banken aus eine zwingende Notwendigkeit der Umwandlung in ein englisches bzw. französisches Institut gegeben sei. Trotzdem traten sie für eine »Verausländerung« der beiden Institute unter gewissen Kautelen213 ein und verwiesen auf die Vorteile einer solchen Regelung, die ihrer Ansicht nach 210 BA, ARP-WBV vom 12. Juni 1922, Bilanzbericht für das Jahr 1921. 211 Hertz, Zahlungsbilanz und Lebensfähigkeit, S. 35. 212 Federn, Das österreichische Bankwesen, S. 55 ; Sokal, Die Banken, S. 36. 213 So sollte die Verwendung eines bestimmten Teils der Aktiva für den Geschäftsbetrieb in Österreich zwingend vorgeschrieben sein.
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wesentlich zur Aufrechterhaltung der finanziellen Stellung Wiens im Donauraum beitragen könnte214. Im Oktober 1921 gab der österreichische Nationalrat seine Zustimmung zur Überführung der beiden alteingesessenen Finanzinstitute in englischen bzw. französischen Besitz. Der neue Name der Anglobank lautete Anglo-Austrian Bank Ltd ; der Anteil des Aktienkapitals, der in den Besitz eines englischen Konsortiums unter der Führung der Bank of England überging, betrug 55,6 %. Die österreichische Länderbank, deren Aktienkapital nach der Expatriierung zu etwa 70 % in französischen Händen lag, wurde in Banque des Pays de l’Europe-Centrale umbenannt215. Verbunden mit diesen beiden Transaktionen war eine Sitzverlegung nach London bzw. Paris. Eine »mildere« Variante solcher durch Währungsverhältnisse verursachte Eigentumsveränderungen betraf auch die Boden-Credit-Anstalt. Diese hatte im Jahr 1912 in Frankreich eine 50-Mio.-Franc-Anleihe aufgenommen. Gemäß einem im Herbst 1921 abgeschlossenen Abkommen musste nur ein Fünftel der Anleihe in Franc zurückgezahlt werden, der Rest in Kronen. Als Entschädigung erhielten die ausländischen Anleihebesitzer für je fünf Titres eine BCA-Aktie, außerdem zwei Sitze im Verwaltungsrat der Bank216. Bei dem Versuch der Aufrechterhaltung der angestammten Einflusssphären in den Nachfolgestaaten konnten die Wiener Großbanken nur aus der Defensive heraus agieren. Ihre Bemühungen waren in den einzelnen Staaten von unterschiedlichem Erfolg begleitet. Während sie ihre Position in den Agrarländern Polen und Jugoslawien – wenn auch mit bestimmten Abstrichen217 – halten konnten, war ähnlichen Bemühungen in Oberitalien und der Tschechoslowakei ein wesentlich geringerer Erfolg beschieden. In diesen beiden Gebieten standen finanzielle Institutionen bereit, die tendenziell die Rolle der Wiener Banken übernehmen konnten. Die engen Verbindungen Wiens zur oberitalienischen Industrie und zu den großen Schifffahrtsunternehmen (Stabilimento Tecnico Triestino, Österreichischer Lloyd, Austro-Americana) gingen bereits 1919/20 verloren ; die unter Beteiligung von Wiener Banken gegründete Banca Commerciale Triestina, die sich schon vor dem Krieg weitgehend von Wien emanzipiert hatte, löste im Jahr 1919 vorzeitig ihre vertraglichen Bindun214 ÖStA/AVA-FHKA, SDPK, Karton 45 : 71 – Angelegenheit Länderbank. 215 März, Österreichische Bankpolitik, S. 458 ff. 216 Siehe : BA, VWP-BCA vom 23. Dezember 1919, 4. Oktober 1921 und 20. Dezember 1922. 217 Bei der von BCA und Unionbank gegründeten Österreichisch-Bosnischen Bank, die nach dem Zusammenbruch der Monarchie den Namen »Bosnische Bank AG« annahm, zogen sich die beiden österreichischen Institute rasch aus dem Verwaltungsrat zurück. Allerdings beteiligte sich die BCA im Herbst 1922 neuerlich an einer Kapitalerhöhung der jugoslawischen Bank. BA, VWP-BCA vom 23. Oktober 1919 und 4. Oktober 1922.
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gen mit dem Wiener Bankverein und gliederte sich die Triester Filiale der Creditanstalt an. Zu den neuen Konzernunternehmen der Banca Commerciale Triestina zählten im Jahr 1923 fast alle oberitalienischen Großunternehmen, die früher mit den Wiener Banken zusammengearbeitet hatten218. In der Tschechoslowakei blieben zwar die Creditanstalt und die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft über die Böhmische Escompte-Bank und Kreditanstalt (BEBKA) weiter mit ihren alten Konzernunternehmen in Fühlung, aber nur als Unterbeteiligte an einem Finanzierungssyndikat, das von der Živnostenská banka geleitet wurde. Die im Besitz der tschechoslowakischen Filialen der Creditanstalt befindlichen Industriebeteiligungen und Konsortialbestände wurden von der BEBKA erworben. Auch das Zuckergeschäft der Creditanstalt ging verloren219. Für die Boden-Credit-Anstalt – ein streng zentralistisch organisiertes Institut, das keine Filialen unterhielt und keine Spareinlagen entgegennahm – stellte sich das Problem der Neustrukturierung ihrer Interessenssphäre in den Nachfolgestaaten in ganz besonderem Maße. Die Boden-Credit-Anstalt sah sich noch im Laufe des Jahres 1919 gezwungen, den größten Teil ihres laufenden Geschäfts in der Tschechoslowakei an die Živnostenská banka zu übertragen220. Der Generaldirektor der Bank, Alexander Weiner, brachte die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuorientierung der Geschäftspolitik in einer Verwaltungsratssitzung im Herbst 1919 zur Sprache : Nicht nur befinde sich ein wichtiger Teil des Industriekonzerns der Boden-Credit-Anstalt außerhalb Österreichs ; auch der »größte Teil« des Hypothekargeschäfts liege nun im Ausland. »Angesichts der engen Grenzen der Republik Österreich und der volkswirtschaftlichen Bedeutung der ferneren Betätigung unseres heimischen Kapitals in den neuausländischen Staaten« werde das Institut »neue Wege betreten und neue Formen finden müssen, um seine Stellung und seinen Rang zu behaupten.«221
Die »neuen Wege« der Boden-Credit-Anstalt wurden durch den Abschluss langfristiger Kooperationsverträge (10 Jahre) begangen : im Sommer 1919 mit der Živnostenská banka und zu Beginn des Jahres 1921 mit der Bank Malopolski, einer alteingesessenen 218 Siehe : ÖVW, Triests Wiederaufbau, 10. Mai 1924, S. 987. 219 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 57.606/1919, Abschrift des Vertrages zwischen der Creditanstalt und der Böhmischen Escompte-Bank und der Kreditanstalt. Über die Details der Abmachungen zwischen der BEBKA und der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft ist nichts bekannt. Die Böhmische Escompte-Bank, die unter Eingliederung der Creditanstalt-Filialen in die BEBKA umgewandelt wurde, war bis 1919 zu 100 % im Besitz der Escompte-Gesellschaft. 220 BA, VWP-BCA vom 23. Oktober 1919 sowie ÖVW, Die Bilanzen, 23. Dezember 1922, S. 89. 221 BA, VWP-BCA vom 21. November 1919.
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Bank in Krakau222. Weiters baute die Boden-Credit-Anstalt ihre Position in Jugoslawien aus, indem die im Herbst 1918 gemeinsam mit der Pester Ungarischen Commercialbank und jugoslawischen Interessenten gegründete Kroatische Handelsbank AG sich im Laufe des Jahres 1921 mit der Kroatisch-Slovenischen Landeshypothekenbank fusionierte223. Zugleich wurden in dieser Zeit die Verbindungen zur Pester Ungarischen Commercialbank und zur Banca Commerciale Triestina intensiviert224. Am besten von allen großen Wiener Kreditinstituten scheint es dem Bankverein gelungen zu sein, auch in der Tschechoslowakei seinen Einfluss zu wahren. Im Vergleich zum Bankverein mutet das Vorgehen der anderen Wiener Großbanken geradezu überstürzt an. Der Wiener Bankverein verfügte – ähnlich der Creditanstalt – über ein weit verzweigtes Filialnetz, dessen Schwerpunkt in der Tschechoslowakei lag. Von den 44 Zweigstellen des Bankverein befanden sich Ende 1918 35 im Ausland, davon 18 allein in der Tschechoslowakei225. Der Bankverein verhandelte über eineinhalb Jahre mit den tschechoslowakischen Behörden über eine »Nationalisierung« der Filialen, versicherte sich der Rückendeckung einer an Geschäften in der Tschechoslowakei interessierten belgischen Bankengruppe und wandelte mit dieser zusammen die Zweigstellen zu Beginn des Jahres 1922 in den Allgemeinen Böhmischen Bankverein um. Das Ende 1921 geschlossene Agreement mit der tschechoslowakischen Regierung fiel für die Wiener Großbank verhältnismäßig günstig aus : Zwar bestanden die Behörden auf einer Beteiligung der Mährischen Agrar- und Industriebank, zu welcher der Bankverein ohnehin freundschaftliche Beziehungen unterhielt, an dem neuen Institut, jedoch gab es eine interne Abmachung, derzufolge die mährische Bank »auf die Geschäftsführung des Allgemeinen Böhmischen Bankverein keinen wie immer gearteten Einfluss auszuüben berechtigt« war. Das Aktienkapital von 75 Mio. Tschechoslowakischen Kronen war mehrheitlich im Besitz des Bankverein (26 Mio.) und der belgischen Gruppe (30 Mio.), wobei sämtliche Aktien der neuen Bank auf sechs Jahre in einem Syndikat gebunden waren. Weiters wurde festgelegt, dass der Böhmische Bankverein im Zuge von wiederholten Kapitalerhöhungen, bei denen tschechoslowakische Interessenten bevorzugt behandelt werden sollten, sukzessive »nationalisiert« werden würde. Bei einem Aktienkapital von 225 Mio. Tschechoslowakischen Kronen sollte eine tschechische Aktienmajorität hergestellt sein. Die vom finanziellen Gesichtspunkt wohl wichtigste Bestimmung des Vertrags aber war, dass die österrei222 BA, VWP-BCA vom 23. Oktober 1919 und 14. Februar 1921. 223 BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1919, 23. Oktober 1919 und 4. Oktober 1921. 224 BA, VWP-BCA vom 20. Dezember 1922. 225 Quelle : Compass, Jg. 1921.
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chische Bank die in den tschechoslowakischen Filialen in den Jahren 1919 und 1920 erwirtschafteten Gewinne für sich behalten durfte226. Eine ähnlich günstige Regelung konnte die Direktion des Bankverein im Jahr 1923 auch für die galizischen Filialen durchsetzen, die in Kooperation mit den westlichen Geschäftspartnern und polnischem Kapital in den Allgemeinen Bankverein in Polen umgewandelt wurden. In diesem Falle sicherte sich die Wiener Bank nicht bloß die Hälfte des Aktienkapitals, sondern darüber hinaus – als Entgelt für die Abtretung der Zweigstellen – eine jährliche Pauschalprovision von 12 Mio. Polnischer Mark für 25 Jahre227. Die ursprünglich geplante Umwandlung der Filiale Czernowitz in eine eigenständige siebenbürgische Aktienbank unterblieb, da die Zweigstelle ihren Betrieb bald ohne nennenswerte Behinderungen weiterführen konnte228. Die Budapester Filiale des Bankverein entwickelte in den ersten Nachkriegsjahren (und auch später) eine rege Tätigkeit. In den Protokollen des Bankverein finden sich laufend Berichte über Kreditgewährungen an verschiedene ungarische Unternehmen sowie über die Beteiligung an Gründungsgeschäften und industriellen Aktienemissionen. Dasselbe gilt für die Zagreber Filiale und – nach einer gewissen Anlaufzeit – für die erst nach Kriegsende eröffnete Zweigstelle des Bankverein in Belgrad. Der Bankverein war noch aus der Zeit vor 1914 führend an der Landesbank für Bosnien und Hercegovina beteiligt229. Bei der Expansion dieses Instituts im Jahr 1922 (Fusion mit anderen Banken) konnte der Bankverein seine dominierende Stellung ausbauen, nicht zuletzt, weil er eine langfristige hohe Einlage zur Verfügung zu stellen in der Lage war. Die Umwandlung des neuausländischen Filialnetzes und der Versuch, die Verbindungen zur Industrie der Nachfolgestaaten im größtmöglichen Ausmaß aufrechtzuerhalten, bildeten einen Aspekt der Strategie der Wiener Banken, ihre Geschäftspolitik auf eine neue multinationale Grundlage zu stellen. Die andere Seite dieses Prozesses bestand in der Beteiligung westlicher Finanzgruppen an den österreichischen Großbanken. Sollte Wien weiter das führende Finanzzentrum des Donauraums bleiben, so war die wichtigste Voraussetzung dafür, die Eigenkapitalbasis der Großbanken zu stärken und die Kreditbeziehungen zum westlichen Ausland zu intensivieren. Zur Fortführung des Aktivgeschäfts auf multinationaler Grundlage hätte österreichisches Kapital auch unter »normalen« Umständen nicht ausgereicht ; umso weniger konnte es diese Funktion unter den Bedingungen der Inflation und des Währungsverfalls ausüben. Der Versuch der Wahrung der wirtschaftlichen Einfluss-Sphären in den 226 BA, ARP-WBV vom 9. Dezember 1920 und 15. Dezember 1921. 227 BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht für das Jahr 1922. 228 Ebenda. 229 BA, ARP-WBV vom 19. Oktober 1922.
Die Wiener Großbanken und das Ende der Monarchie
Nationalstaaten erforderte den Ersatz des dezimierten österreichischen Kapitals durch Einlagen aus dem westlichen Ausland. Über das Ausmaß, das dieser Substitutionsprozess in den Jahren der Nachkriegsinflation erreichte, geben die Bankbilanzen keinen Aufschluss. Es existieren lediglich Schätzungen einiger kompetenter Zeitgenossen : »Obwohl darüber keine näheren Daten vorliegen«, heißt es in der Analyse der CreditanstaltBilanz für das Jahr 1920, »steht es außer Zweifel, daß die Einlagen in fremder Währung und die Kronenguthaben von ausländischen Firmen einen großen Teil der sprunghaft angeschwollenen Kreditoren der Bank bilden.«230
Nach den Angaben Walther Federns dürften die ausländischen Kreditoren »zeitweilig bei einzelnen Banken bis zur Hälfte der Gesamtsumme« betragen haben231. Darunter befanden sich jedoch auch die Vorkriegsschulden der Banken gegenüber dem westlichen Ausland bzw. aus der Zeit vor der Währungstrennung stammende Verbindlichkeiten gegenüber den Nachfolgestaaten232. Da von einer engen Kooperation mit westlichen Banken auch eine Stärkung der Verhandlungsposition gegenüber den Regierungen der Nachfolgestaaten erhofft wurde, setzte bald nach dem Krieg eine rege »diplomatische« Reisetätigkeit der Wiener Bankdirektoren ein, mit dem Ziel, beteiligungswillige Finanzgruppen ausfindig zu machen233. Schon zu Anfang des Jahres 1920 plante der Bankenverband die Publikation einer eigenen »Propagandaschrift«, die, nach den Worten des Sekretärs des Verbandes, »auf die ersten Finanzkreise in den Ententeländern Eindruck zu machen geeignet wäre«234. Im Falle der Creditanstalt entschloss sich deren Großaktionär Louis von Rothschild zu einem spektakulären Schritt, indem er im Sommer 1921 die Funktion des Verwaltungsrats-Präsidenten übernahm und so gegenüber den »ersten Finanzkreisen« des Westens dokumentierte, dass die Bank auch weiterhin den Rückhalt des angesehenen Privatbankhauses genoss235. Das Haus Rothschild hatte schon vorher bei der Anknüpfung von Auslandsbeziehungen und der Mobilisierung westlicher Kredite eine wichtige Rolle innegehabt. Nur so konnte es der Creditanstalt gelingen, 230 ÖVW, Die Bilanzen, 16. Juli 1921, S. 167. 231 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 66. 232 ÖVW, Die Bilanzen, 8. Juli 1922, S. 251. 233 Siehe : Cottrell, S. 323 ff. 234 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 13.410/1920. Auch die Kennzeichnung der Broschüre als »Propagandaschrift« stammt von Max Sokal, dem Sekretär des Bankenverbandes. Es ist dem Verfasser allerdings nicht bekannt, ob die Broschüre, die detaillierte Angaben über den Industriekonzern der Banken enthalten sollte, tatsächlich zur Verteilung gelangte. 235 BA, VWP-CA vom 23. Juli 1921.
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selbst in der Periode des Währungsverfalls Kapital langfristig im Ausland anzulegen und ihre außerhalb Österreichs gelegenen Konzernunternehmen zu finanzieren236. Mit Unterstützung des Bankhauses S.M.v.Rothschild gründete die Creditanstalt 1920 in Holland die Amstelbank, die als Vermittler für ausländische Kredite sowohl an die Anstalt selbst als auch direkt an Konzernfirmen in den Nachfolgestaaten fungierte237. Im selben Jahr beteiligte sich die Creditanstalt an der International Acceptance Bank in New York, wobei ein Großteil der für die Zeichnung des Aktienkapitals und der als Sicherstellung für künftige Rembourskredite notwendigen Summe von 2 Mio. Dollar vom Haus Rothschild aufgebracht wurde238. Die Boden-Credit-Anstalt, die sich nicht auf so prominente Verbindungen stützen konnte, vermochte eine der Amstelbank vergleichbare Institution erst einige Jahre später aufzubauen. Sie erwarb im Herbst des Jahres 1924 gemeinsam mit der Amsterdamschen Bank die Aktienmajorität der Nederlandschen Reconstructiebank239. Dieses Institut war 1920 von der österreichischen Regierung und der Rotterdamschen Bankvereinigung mit dem Zweck gegründet worden, den Wiederaufbau der österreichischen Volkswirtschaft zu fördern240. Später verkaufte die österreichische Regierung ihren Aktienanteil an die Amsterdamsche Bank241. Diese erwarb dann, zusammen mit der Boden-Credit-Anstalt, die Beteiligungsquote der Rotterdamschen Bankvereinigung. Das Wiener Institut verfolgte, wie aus den Protokollen hervorgeht, mit dieser Transaktion das Ziel, eine »neue bedeutende Kreditquelle« für die österreichische Industrie zu erschließen. Die Bank sollte »sich aber auch in den Sukzessionsstaaten betätigen« und ferner das internationale Finanzgeschäft »in intensivster Weise« pflegen242. Sie wurde wenig später in Nederlandsche Bank voor Buitenlandschen Handel (Bank für auswärtigen Handel) umbenannt243. Die anderen Wiener Großbanken, die Nieder236 Zwischen 1919 und 1923 konnte die Creditanstalt 35 namhafte Neugründungen oder -beteiligungen im Ausland durchführen (davon nur vier Umwandlungen von Filialen). Siehe : März, Öster reichische Bankpolitik, S. 534. 237 Ebenda, S. 449 ff. 238 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 80.242 und 105.707/1920, 35.428 und 52.278/1921. 239 BA, VSP-BCA vom 3. Oktober, 9. und 12. Dezember 1924. Der Kaufpreis wurde der österreichischen Bank bis Dezember 1927 gestundet. Siehe : VSP-BCA vom 20. April 1925. 240 Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 48.334, 54.557, 54.558, 55.304, 57.367, 82.377, 102.827, 103.619 und 110.496/1919. 241 Zwischenzeitlich wurde auch der Verkauf der staatlichen Beteiligung an der Reconstructiebank an die Bayerische Vereinsbank erwogen. Siehe : ÖStA/AVA-FHKA, MRP vom 20. April 1923. 242 BA, VWP-BCA vom 3. März 1925. 243 BA, VSP-BCA vom 6. Juni 1925. Da die Bank ihrer Aufgabe nie zufriedenstellend nachkommen konnte, wurde ihre Umwandlung in eine Investment-Trust-Gesellschaft in Erwägung gezogen. Dieses Projekt konnte erst 1929, kurz vor dem Zusammenbruch der BCA, realisiert werden (»Amster-
Die Wiener Großbanken und das Ende der Monarchie
österreichische Escompte-Gesellschaft und der Bankverein, schlugen bei der Mobilisierung von Auslandskapital andere Wege ein : Der Wiener Bankverein suchte die direkte Verbindung zu ausländischen Großbanken, mit deren Hilfe er seine Konzernfirmen bereits während der Inflationszeit mit Fremdwährungskrediten versorgen konnte : Anlässlich der Beteiligung der Société Générale de Belgique und deren Tochtergesellschaft Banque Belge pour l’Étranger am Bankverein zu Ende des Jahres 1920 wurde eine Vereinbarung geschlossen, derzufolge die beiden belgischen Institute der Wiener Bank einen Rahmenkredit von 30 Mio. belgischen Franc zur Verfügung stellten244. Die Hoffnungen, die die Wiener Bankdirektoren mit der Anknüpfung von Beziehungen zum westlichen Ausland verbanden, trafen sich sozusagen auf halbem Wege mit den Aspirationen der ausländischen Kreditinstitute. Diesen erschienen die österreichischen Mobilbanken mit ihren weit verzweigten Industriekonzernen – jener der Creditanstalt umfasste im Jahre 1923 hundert Industrieaktiengesellschaften – als gleichsam riesige »Holdinggesellschaften«. In diesem Sinne wurden die ausländischen Banken auch von den westlichen Botschaften in Wien informiert. So machte der englische Gesandte bereits im September 1920 darauf aufmerksam, dass »jede Zusammenarbeit mit der Boden-Credit-Anstalt den Zutritt zu den bedeutendsten Industrien und Unternehmen Mitteleuropas bedeutet«.245
Die Beteiligung an einer Wiener Bank eröffnete den Zugang zum zentraleuropäischen Industriemarkt, ohne dass man das Risiko einer Direktbeteiligung an einem Industrie unternehmen mit ungewissen Zukunftsaussichten auf sich nehmen musste. Tatsächlich bildeten Industriebeteiligungen westlichen Kapitals in Österreich zu dieser Zeit die Ausnahme, wohingegen Kapital aus Deutschland hauptsächlich in den industriellen Sektor eindrang246. Als Beispiel für westliche Bankbeteiligungen in Österreich, die mit Blickrichtung auf eine Kooperation im Industriebereich erfolgten, seien die Interessennahme der Union Européenne Industrielle et Financière (Schneider-Creusot) an der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft als Konzernbank der Alpine Montangesellschaft und die Übernahme eines Aktienpakets der Boden-Credit-Anstalt durch die Mutuelle Mobilière et Immobilière (Solvay-Gruppe) genannt, die damit ihr Interesse für den tschechoslowakischen Chemiekonzern des Wiener Instituts bekundete247. damscher Investment Trust«). Vgl. VSP-BCA vom 8. September und 4. Dezember 1928, 28. Jänner, 12. Februar, 11. März und 2. Oktober 1929. 244 BA, ARP-WBV vom 9. Dezember 1920. Ein ähnliches Abkommen wurde eineinhalb Jahre später auch mit der Basler Handelsbank geschlossen. Siehe : ARP-WBV vom 2. März 1922. 245 Zitiert nach Recker, S. 72, Anm. 137. 246 Siehe : Weber/Haas, S. 185 ff. 247 Siehe : Kautsky, Volkswirtschaft, Sp. 494 sowie Teichova, An Economic Background to Munich, S. 279 ff.
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Im Vergleich zu den Möglichkeiten, die sich den ausländischen Finanzgruppen durch eine Beteiligung an einer Wiener Großbank eröffneten, war das finanzielle Risiko – wegen des Wertverfalls der österreichischen Krone auf den Devisenmärkten – gering (siehe Tabelle 25). Für einen Betrag von bloß 70.000 Pfund erwarb im Winter 1922 ein anglo- amerikanisches Bankensyndikat (J. P. Morgan und Schröder) 500.000 Aktien (etwa 21 % des Aktienkapitals) der Boden-Credit-Anstalt 248. Insbesondere nach der Stabilisierung der Krone wurden die – immer noch preiswerten – österreichischen Bankaktien im westlichen Ausland zu »Modeeffekten für große Finanzgruppen«249 (siehe Tabelle 25). Tabelle 25 : Kurswert des Aktienkapitals der Creditanstalt 1913–1924
Ende
Aktienkapital in Mio. K
Kurswert in Mio. $
1913
150,0
60,6
1918
200,0
24,1
1919
200,0
5,3
1920
320,0
2,4
1921
600,0
5,1
30. Juni
1922
1.000,0
1,5
Ende
1922
15.000,0
3,0
1923
20.000,0
31,0
1924
20.000,0
14,6
Quelle : Compass, Jg. 1915, Bd. 1 sowie Jg. 1925 und 1930.
Das Kapital, das den Wiener Großbanken durch die Placierung von eigenen Aktien im Ausland zufloss, kam hauptsächlich aus den Siegerländern des Ersten Weltkrieges sowie von den neutralen Finanzplätzen (Belgien, Holland, Schweiz). An der Mercurbank beteiligte sich deutsches Kapital (Darmstädter Bank), an der Depositenbank – vorübergehend – eine italienische Bankengruppe in größerem Ausmaß250. Der Gesamtbetrag der den Banken durch diese Transaktionen zugeflossenen ausländischen Gelder kann wegen des Fehlens zuverlässiger Angaben über die Übernahmekonditionen und Einzahlungstermine im Allgemeinen nicht eruiert werden. Im Falle der Creditanstalt machte er – nach zeitgenössischen amerikanischen Schätzungen – 800.000 US-Dollar 248 Cottrell, S. 323. 249 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 61. 250 Siehe : Weber/Haas, S. 186.
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aus251. Auch über die Währung, in der das neue Aktienkapital zur Einzahlung kam, ist in den meisten Fällen nichts bekannt. Bei der Creditanstalt-Kapitalerhöhung vom Frühsommer 1920 scheint die Einzahlung der ausländischen Aktionäre in deutschen Mark erfolgt zu sein252. Von der Kapitalerhöhung des Bankverein im Frühjahr 1922 wissen wir, dass die belgischen und schweizerischen Großaktionäre ihre Quote in ausländischer Valuta einbezahlten253. Der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft flossen 1921 anlässlich einer Kapitalerhöhung belgische und schweizerische Devisen von der Banque de Bruxelles bzw. dem Comptoir d’Escompte de Genève zu254. Infolge der wiederholten Aktienverkäufe ans Ausland kam es bis zum Ende des Jahres 1923 zu einer drastischen Änderung der Eigentumsverhältnisse bei den Wiener Banken gegenüber 1913 (siehe Tabelle 26) : Tabelle 26 : Auslandsanteil am Aktienkapital der größten Wiener Banken 1913 und Ende 1923 (in %) 1913
1923
Creditanstalt
3,9
20,2
Boden-Credit-Anstalt
17,8
ca. 46,0
Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft
0,7
36,0
Wiener Bankverein
18,3
38,4
Länderbank
31,4
ca. 70,0*
Anglobank
3,0
Unionbank
1,5
ca. 10,0
Mercurbank
3,4
60,0
?
37,6
?
16,3
10,4
30,5
Verkehrsbank Depositenbank Insgesamt (1923 ohne Anglo- und Länderbank)
55,6**
* Französisches Institut. ** Englisches Institut. Quelle : NA, Microfilm, MC. No. 695. Roll 51, C.337 ff, 692 und 734 ; Compass, Jg. 1918, Bd. 1, und 1925 ; Bilanzbesprechungen des ÖVW.
251 NA, Microfilm, MC. No. 695. Roll 51, C.342. 252 ÖStA/AdR/BMF, Zl.52.684/1920. Die handschriftliche Eintragung auf diesem Akt lautet : »Laut mündlicher Mitteilung : Warburg, Kuhn, Loeb Co. etc. Einzahlung dürfte in Mark erfolgen (ca. 27 Mill.?).« 253 BA, ARP-WBV vom 2. März 1922. 254 NFP, 6. Mai 1922, S. 11 f.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Die neuen Großaktionäre beteiligten sich meist auch an den Konzernbanken der Wiener Institute in den Nachfolgestaaten. Dies trifft in besonderem Maß auf den Wiener Bankverein zu, der seinen belgischen und Schweizer Freunden beträchtliche Quoten am Böhmischen Bankverein (40 %) und am Allgemeinen Bankverein in Polen (35 %) überließ255. Im Allgemeinen behielten die ausländischen Institute die Wiener Bankaktien auch nach Ablauf der ausgehandelten Sperrfristen im Portefeuille, zum Teil nahmen sie an Kapitalerhöhungen in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre teil ; in manchen Fällen kamen auch neue Großaktionäre aus dem Ausland hinzu. Erst gegen Ende des Jahrzehnts scheinen die westlichen Banken in bestimmten Fällen größere Posten von Aktien abgestoßen zu haben.
5. Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
Die Entscheidung für eine möglichst weitgehende Wahrung der Interessenssphären in den Nachfolgestaaten steckte den Rahmen ab, in dem sich die Geschäftspolitik der Wiener Banken bis zur großen Krise der 30er-Jahre bewegen sollte. Die Anknüpfung enger Bindungen zur internationalen Finanzwelt und die Errichtung neuer Bankstützpunkte im westlichen Ausland waren nur abgeleitete Schritte der einmal eingeschlagenen Strategie. In dieser multinationalen Sicht der Bankpolitik bildete das österreichische Geschäft nur eines unter vielen, denn der Schwerpunkt der Betätigung der großen Wiener Kreditinstitute lag bis zum Ende der Monarchie zweifellos nicht im Gebiet der späteren Republik Österreich. Die bedeutendsten Kunden der Creditanstalt, wie die Skodawerke, die Prager Maschinenbaugesellschaft, der Stabilimento Tecnico Triestino etc. hatten ihren Sitz in den tschechischen bzw. oberitalienischen Industriegebieten. Dementsprechend lag auch die Mehrzahl der Filialen der Bank – unter ihnen die bedeutendsten – außerhalb des österreichischen Gebietes. Im Jahr 1913 befanden sich von den 20 außerhalb Wiens gelegenen Zweigstellen der Creditanstalt nur vier in Österreich. Bei den anderen Großbanken waren die Verhältnisse ähnlich : Von den insgesamt 149 Filialen sämtlicher Wiener Groß- und Mittelbanken entfielen auf das österreichische Gebiet bloß 35. Am Ende des Ersten Weltkriegs lautete das Verhältnis 186 zu 43256.
255 Auch an der Böhmischen Escompte-Bank und Kreditanstalt waren die ausländischen Freunde der beteiligten Wiener Banken interessiert. 256 Angaben berechnet nach Compass, Jg. 1915, 1. Bd. sowie Compass, Jg. 1920.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
Zwischen der multinationalen Konzeption und der bankpolitischen Realität der ersten Nachkriegsjahre herrschte jedoch eine unübersehbare Kluft, die sich in dem Umstand ausdrückte, dass das österreichische Geschäft immer mehr an Bedeutung gewann. Denn der praktischen Umsetzung der Donauraumstrategie standen eine Reihe von gewichtigen Hindernissen entgegen. Diese lagen weniger in den mannigfaltigen Beschränkungen des freien Zahlungsverkehrs, sondern in der zunehmenden Entwertung der österreichischen Krone gegenüber den ausländischen Währungen. Dadurch gestaltete sich die Finanzierung von Unternehmen in Ländern mit einer härteren Währung – insbesondere Italien und die Tschechoslowakei – immer schwieriger257. Walther Federn hat das Dilemma der österreichischen Großbanken treffend charakterisiert : »Sie hatten zunächst nach der Auflösung der Monarchie mit der Bildung eigener Währungen als Kreditgeber überhaupt ausgespielt. In der Inflationszeit waren die Wiener Banken nicht in der Lage, ausländische Unternehmungen mit Kredit zu versorgen. Wohl waren und blieben sie noch Großaktionäre von Banken und Industrieunternehmungen in den Nachfolgestaaten und sie behielten auch Einfluß auf diese, aber dieser war überwiegend ein persönlicher der Wiener Bankleiter […]. Erst nach der Stabilisierung der österreichischen Währung wurden die Kreditbeziehungen in größerem Umfang wieder aufgenommen.«258
Die Probleme stellten sich jedoch für jede Bank in verschiedener Weise : Die Boden- Credit-Anstalt, die kein Filialnetz unterhielt, übertrug – wie bereits erwähnt – ihr tschechoslowakisches Geschäft noch im Sommer 1919 an die Živnostenská banka. Ein Vergleich der Bilanzen der Creditanstalt und des Wiener Bankverein zeigt v ielleicht am anschaulichsten die Auswirkungen des Verlustes des »neuausländischen« Geschäfts : Nachdem die Creditanstalt im Jahr 1919 die Umstrukturierung ihres ausländischen Filialnetzes abgeschlossen hatte, stiegen die Debitoren und Kreditoren gegenüber 1918 – nominell – um 53 bzw. 19,5 Prozent, beim Bankverein hingegen, dessen Filialnetz 1919 noch intakt war, lauteten die entsprechenden Werte 95 bzw. 99 %. Disaggregiert man die Daten für die Creditanstalt, so zeigt sich, dass das laufende Geschäft – bei einer Inflationsrate von etwa 100 % – auch nominell nur um 6 % zunahm, während die Guthaben bei Kreditinstituten um 124 % anstiegen259. Das Beispiel der Creditanstalt kann in gewisser Weise als typisch angesehen werden : An die Stelle der 257 So heißt es im VWP-BCA vom 15. April 1921, man bemühe sich zwar nach wie vor, »die Besitzstände in den Nachfolgestaaten zu wahren«, doch gestalte sich dies »bei der ungünstigen Lage der österreichischen Währung immer schwieriger«. 258 Federn, Der Zusammenbruch der österreichischen Kreditanstalt, S. 411 f. 259 Quelle : Compass, Jg. 1921, Bd. 1. Nach 1919 entfiel diese detaillierte Gliederung in den Bilanzen der Creditanstalt.
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Kreditgewährung an die Industrie in den Nachfolgestaaten traten weitgehend Einlagen bei den nationalen Kreditinstituten, in welche die Filialen der Wiener Banken eingebracht worden waren bzw. an denen sie sich in jüngster Zeit beteiligt hatten. Aber selbst diese beschränkte Finanzierungstätigkeit ließ sich bei der angespannten Lage der Wiener Banken nicht immer aufrechterhalten. So erwies sich bereits anlässlich der Gründungsverhandlungen der Böhmischen Escompte-Bank und Kreditanstalt in Prag im Sommer 1919 ein Sonderarrangement als notwendig, das die Bestimmungen des Syndikatsvertrages zwischen der Živnostenská banka, der Creditanstalt und der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft relativierte. Das Übereinkommen sah nämlich die Finanzierung der BEBKA durch die drei beteiligten Banken nach Maßgabe ihres jeweiligen Aktienbesitzes vor, »wobei sich jedoch«, wie im Verwaltungsrat der Creditanstalt berichtet wurde, »die Živnostenska banka bereit erklärte, während der Zeit der Währungsschwierigkeiten und auf die diesfalls seitens der anderen Institute gewünschten Zeitdauer die auf diese entfallende Quote ganz oder teilweise zu übernehmen«260.
Auch der Wiener Bankverein büßte mit dem Fortschreiten der Währungsentwertung seine Fähigkeit zur Kreditvergabe an ausländische Konzernunternehmen in zunehmendem Maß ein. Bis zum ersten Halbjahr 1920 begegnete – angesichts der großen Geldflüssigkeit in Österreich – die Beschaffung ausländischer Zahlungsmittel kaum Schwierigkeiten. Im Frühsommer dieses Jahres jedoch erwies sich der Ankauf tschechoslowakischer Devisen wegen des Kursverfalls der österreichischen Krone und der steigenden inländischen Kreditansprüche als zunehmend problematisch261. Im Falle der slowakischen Zweigwerke des Konzerns der Rimàmuranyer Eisenwerke war der Bankverein bereits 1919 dazu übergegangen, die Kreditversorgung mit der Mährischen Agrar- und Industriebank zu teilen262. Die Finanzierung des ungarischen Hauptunternehmens bereitete – wegen des raschen Wertverfalls der ungarischen Krone – bedeutend weniger Schwierigkeiten. Nicht nur nahm der Wiener Bankverein an sämtlichen Kapitalerhöhungen der Rimàmuranyer Werke in den Jahren 1918 bis 1922 teil263, das Unternehmen erhielt auch wiederholt Kredite in ungarischer Wäh260 BA, VWP-CA vom 30. Juli 1919. 261 BA, ARP-WBV vom 4. Juni 1920, Bilanzbericht für das Jahr 1919. 262 BA, ARP-WBV vom 16. Juni und 27. Oktober 1919. Die mährische Bank spielte später, wie bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnt, eine wichtige Rolle bei der Umwandlung der tschechoslowakischen Filialen des Wiener Bankvereins in ein selbständiges Institut. 263 Vgl. BA, ARP-WBV vom 22. Dezember 1919, 9. Dezember 1920, 2. Juni 1921 und 27. Juni 1922. Insgesamt erhöhten die Rimàmuranyer Eisenwerke ihr Aktienkapital zwischen 1919 und 1922 von 40 auf 200 Mio. ung. Kronen.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
rung. Allerdings musste die Bank im Sommer 1921 eine Schmälerung ihres Einflusses hinnehmen : Ein neuer Vertrag mit der Pester Ungarischen Commercialbank sah eine Reduzierung der dem Bankverein an allen Finanztransaktionen des Rimà-Konzerns zustehenden Quote von 70 auf 50 Prozent vor264. Mit der Wiederbelebung auch der inländischen Kreditnachfrage im Laufe des Jahres 1920 erwies sich auch die Bereitstellung von Investitions- bzw. kurzfristigen Industriekrediten für österreichische Firmen als immer schwieriger, zumal die Banken wegen der großen Fluktuation der Einlagen gezwungen waren, hohe Kassenbestände zu halten265, und die Aufbringung von Fremdmitteln überhaupt eine unbefriedigende Entwicklung zeigte. Die Erhöhung der Einlagen hielt, wie Eduard März gezeigt hat266, mit der Entwertung der Krone keineswegs Schritt, was angesichts eines Einlagenzinsfußes von 21/2 % noch zu Anfang des Jahres 1921 nicht zu verwundern vermag267. Da bis zur Stabilisierung der österreichischen Krone im September 1922 Fremdwährungskredite kaum zu erlangen waren und es zudem problematisch gewesen wäre, solche Kreditoren in Kronendebitoren zu veranlagen, galt es, andere Wege der Einlagenakquisition einzuschlagen. Das Feld, das die Großbanken in ihrem Bestreben, Einlagen an sich zu ziehen und neue Bereiche des Aktivgeschäfts zu eröffnen, betreten mussten, war in zweifacher Weise neu : einmal geographisch und zum anderen in Hinblick auf den Kundenkreis. Einen sichtbaren Ausdruck fanden die verstärkten Anstrengungen zur Suche nach einem Ersatz für das verlorengegangene Auslandsgeschäft in der Gründung einer großen Zahl von Filialen in den österreichischen Bundesländern sowie in der Beteiligung an den zum Teil neu errichteten Provinzbanken268. Bis zum Jahre 1918 hatten die Wiener Großbanken sich auf die Betreuung der industriellen Großkunden konzentriert. Diese waren entweder in Wien selbst beheimatet, dem Verwaltungssitz vieler Unternehmen, die ihre Produktionsstätten auf verschiedene Teile Cisleithaniens verteilt hatten, oder aber in den böhmischen, 264 BA, ARP-WBV vom 2. Juni und 30. September 1921. Diese Quoten-Verringerung stand allerdings im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Erweiterung der Einflusssphäre des Bankverein in Ungarn. Die Rimà-Werke hatten eine Interessengemeinschaft mit der Salgo-Tarjaner Steinkohlenbergbau AG geschlossen. An der laufenden Finanzierung des Kohlenunternehmens sollte der Bankverein in Hinkunft mit 25 % beteiligt sein. 265 Im Durchschnitt der Jahre 1910–1913 hatte die Creditanstalt 2,2 % der Aktiva in Kassenbeständen gehalten, in der Periode 1918–1921 waren es 5 %, 1918 bis 1920 sogar 5,6 %. Auf die hohe Kassenhaltung wurde auch in den Bilanzberichten der Direktion des Wiener Bankverein wiederholt hingewiesen. 266 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 435 f. 267 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 23.653/1921 : VWP-Unionbank vom 23. Februar 1921. 268 Vgl. Weber, Der finanzielle Länderpartikularismus.
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ährischen und oberitalienischen Industriezentren. Den Alpengebieten wandten die m Kreditinstitute geringeres Augenmerk zu. Erst in den Nachkriegsjahren versuchten sie verstärkt in der österreichischen Provinz Fuß zu fassen. Im Zusammenhang damit gewann auch die Pflege des Privatkundengeschäfts und des kleinen Gewerbekredits an Bedeutung269. Die Hinwendung der Großbanken zum Provinzgeschäft kann aus Tabelle 27 ersehen werden. Diese zeigt zugleich den Rückgang der Zahl der Bankfilialen nach dem Ende der Inflationsperiode. Tabelle 27 : Zahl der Filialen der zehn größten Wiener Banken außerhalb Wiens 1913–1929 Gesamt
Außerhalb des Gebietes der Republik Österreich
1913
149
114
35
1918
187
144
43
In den Bundesländern
1922
121
9
112
1924
104
9
95
1929*
36
3
33
* Vor der Fusion CA-BCA (7 Banken). Quelle : Compass, Jg. 1915, 1919, jeweils Bd. 1 sowie Jg. 1925 und 1930.
Natürlich bot die Expansion in die Bundesländer nur einen unzureichenden Ersatz für den Verlust des Industriegeschäfts in den Nachfolgestaaten. Allerdings wurde die Lockerung der Beziehungen zu den »neuausländischen« Konzernfirmen als bloß vorübergehend erachtet ; ferner war das Risiko der Banken bei der Gründung von Filialen verhältnismäßig gering, da die Kosten hierfür in der Inflationszeit eine untergeordnete Rolle spielten. Verschiedentlich scheint bei der Eröffnung von Bundesländerfilialen auch das Bedürfnis mitgewirkt zu haben, einen geeigneten Standort für Valutatransaktionen bzw. -spekulationen zu finden270.
269 In einem Akt des Finanzministeriums wurde ausdrücklich festgehalten, dass »in der Praxis der alten großen Aktienbanken […] insoferne eine gewisse Änderung eingetreten [ist], als sie durch ihre Filialen, welche seit dem Umsturze in vermehrter Zahl auch an kleineren Orten errichtet wurden, mehr als bisher das kleine Geschäft zu pflegen begannen«. ÖStA/AdR/BMF, Zl. 39.205/1920. 270 So wurde dem Staatsamt für Finanzen im Jahr 1920 mitgeteilt, »daß in Lustenau die Depositenbank und die Anglobank je eine Filiale errichtet haben, welche vornehmlich Schiebungen in Devisen und Valuten dienen sollen«. ÖStA/AdR/BMF, Zl. 43.773/1920. Die Information stammte vom Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender. Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 35.297/1920.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
Der Grad der Expansionsfreudigkeit war von Bank zu Bank verschieden : Am zurückhaltendsten war neben der Länderbank und der Unionbank die Creditanstalt, die im Zeitraum 1918 bis 1922 nur zwei neue Filialen errichtete (in Graz und Leoben 1921 ; 1923 und 1924 folgte die Eröffnung von Zweigstellen in Linz und Salzburg). Sie verfügte damit am Ende der Inflationszeit über sechs Filialen in den Bundesländern. Hinzu kam im Jahr 1922 die Beteiligung – zusammen mit der Amstelbank – an der Steiermärkischen Escompte-Bank271. Im gleichen Zeitraum (1918–1924) rief die Verkehrsbank drei neue Filialen ins Leben, die Mercurbank gründete sechs, der Wiener Bankverein sowie die Anglobank errichteten je 14 neue Zweigstellen. Den expansivsten Kurs steuerte – wie in vielen anderen Belangen – die Allgemeine Depositenbank, die die Zahl ihrer Bundesländerfilialen von zwei im Jahr 1918 auf 33 erhöhte. Insgesamt stieg die Anzahl der außerhalb Wiens auf österreichischem Gebiet gelegenen Filialen aller zehn großen Wiener Banken im Zeitraum 1918 bis 1922 von 43 auf 112. Obwohl die meisten dieser Filialen nach dem Ende der Inflations- und Spekulationsperiode wieder aufgelassen werden mussten, da ihre Erträgnisse die Spesen nicht zu decken vermochten272, sollte das »Provinzgeschäft« auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil des gesamten Geschäfts der Wiener Großbanken bleiben, zumal auch die größeren Provinzbanken innerhalb weniger Jahre in den Einflussbereich der Hauptstadt gerieten. Im Gegensatz zu den anderen Wiener Großbanken verfügte die Boden-Credit- Anstalt 1918 über keine nennenswerte Geschäftsbasis in den Bundesländern273. Das renommierte Institut hatte sich neben der Verwaltung der kaiserlichen Fonds hauptsächlich mit der Pflege des großen Hypothekargeschäfts und der Finanzierung seines Industriekonzerns befasst. Da das Hypothekargeschäft mit der Fortdauer der Inflation immer mehr an Bedeutung verlor und die Aufrechterhaltung der Kreditbeziehungen zu den größtenteils im Ausland liegenden Firmen des Industriekonzerns 271 Diese und die folgenden Daten beruhen auf den Angaben des Compass, Jg. 1919, Bd. 1, und Jg. 1925 sowie, im Falle der Creditanstalt, auch auf den Geschäftsberichten der CA für die Jahre 1921 bis 1923. 272 So hieß es bereits im Bilanzbericht der Direktion des Bankverein für das Jahr 1922 : »Einige der in den letzten Jahren neu eröffneten Filialen haben den in ihre Prosperität gesetzten Erwartungen nicht entsprochen, da ihre Einnahmen die großen Personalauslagen nicht zu decken vermochten.« BA, ARP-WBV vom 25. April 1923. 1923/24 wurden bereits die ersten Zweigstellen wieder geschlossen. Insgesamt sank die Zahl der Bundesländerfilialen der Großbanken auf 62 (Anfang 1925), bzw. 33 (Mitte 1929). 273 Die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft unterhielt zwar, wie die BCA, kein Filialnetz, verfügte aber noch aus der Zeit vor dem Krieg über Verbindungen zu zwei Bundesländerbanken, zum Bankhaus Carl Spaengler & Co in Salzburg und zur Steiermärkischen Escompte-Bank in Graz. Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 9. August 1924, S. 349.
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auf zunehmende Schwierigkeiten stieß, fasste die Direktion der Bank zu Anfang des Jahres 1921 den Beschluss, »dem inländischen Geschäfte erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden und aus der bisherigen Exklusive herauszutreten«. Den ersten Schritt dazu sollte der Zusammenschluss mit einer Bank bilden, »welche eine Organisation von Zweigniederlassungen besitzt, das Einlagengeschäft betreibt und das laufende Kundengeschäft pflegt«274.
Bei dem mit diesen Attributen ausgestatteten Institut handelte es sich um die Union bank, eine der vier Wiener Mittelbanken, mit der die Direktion der Boden-Credit-Anstalt im Frühjahr 1921 ein Übereinkommen schloss, demzufolge die Anstalt ein Viertel des Aktienkapitals der Unionbank gegen eigene Aktien und bares Geld übernehmen sollte. Jedes Institut sollte ferner zwei Verwaltungsräte in das Aufsichtsgremium des befreundeten Unternehmens entsenden. Schließlich war die Durchführung gemeinsamer Bankgeschäfte in Aussicht genommen – als Vorstufe zu einer später zu vollziehenden Fusion der beiden Banken275. Zu dieser Fusion ist es bekanntlich erst im Jahr 1927 gekommen276. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass im Verwaltungsrat der Boden- Credit-Anstalt im Frühjahr 192l als einer der Hauptbeweggründe für die Transaktion die »wertvollen Beziehungen« der Unionbank zu zwei Bundesländerbanken – der Bank für Oberösterreich und Salzburg und der Steirerbank – genannt wurden277. Da dieser »Umweg« in die Provinz mehrere Jahre in Anspruch nahm, begann die Boden-Credit-Anstalt nach einem direkten Zugang nach Westösterreich zu suchen. Sie beteiligte sich 1924 an der Agrarbank AG in Graz sowie an der Tiroler Hauptbank, zu deren Großaktionären die Deutsche Bank in Berlin zählte278. In den späteren 20er-Jahren traten weitere Verbindungen zu Provinzbanken hinzu ; 1926 zur immobilisierten Bank für Oberösterreich und Salzburg und 1928 zur Bank für Kärnten, die durch die 274 BA, VWP-BCA vom 16. April 1921. 275 Ebenda sowie : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 36.868/1921. 276 Siehe Kapitel III-5, S. 308 ff. 277 Von Interesse für die Boden-Credit-Anstalt war auch der verhältnismäßig große inländische Industriekonzern der Unionbank (u. a. die Veitscher Magnesitwerke) sowie deren Zweigstellennetz, dessen Schwerpunkt in Wien lag. Die Direktion der Boden-Credit-Anstalt trug sich zu dieser Zeit gerade mit dem Gedanken der Errichtung eines »Stadtbüros« in der Kärntner Straße, das sich – in der ursprünglichen Konzeption – hauptsächlich mit dem Akkreditivgeschäft befassen sollte, später jedoch auch das Spareinlagengeschäft betrieb. Das »Stadtbüro« nahm im Jänner 1922 den Betrieb auf. Siehe : BA, VWP-BCA vom 4. Oktober 1921, Bericht über die Halbjahresbilanz und VWPBCA vom 21. März 1922. 278 BA, VWP-BCA vom 10. November 1924.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
Umwandlung des von der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank kommanditierten Bankhauses Ehrfeld & Co in Klagenfurt entstand279. Die großen strategischen Entscheidungen über die Neustrukturierung des in- und ausländischen Geschäfts der Wiener Banken wurden erst im Jahr der Stabilisierung 1923/24 deutlich erkennbar. Die tatsächliche, sozusagen empirische Bankpolitik der kritischen Periode nach 1918 vollzog sich jedoch in der Form des tagtäglichen Vorwärtstastens in unbekanntem Terrain – in einem permanenten Improvisationsverfahren, bei dem die Entscheidungen nach der Methode des »trial and error« fielen. Denn mit einer Inflation und Währungsentwertung dieses Ausmaßes und dieser Dauer waren die Wiener Universalbanken niemals zuvor konfrontiert gewesen. Es ist klar, dass die Geldentwertung für Institutionen besonders schwerwiegende Probleme aufwerfen musste, für deren Bewältigung die bisherigen Erfahrungsmuster nur begrenzte Aussagekraft besaßen. Einer der Bankdirektoren hat diesen Sachverhalt damals mit den folgenden Worten ausgedrückt : »Der Zusammenbruch der Monarchie, die trostlose wirtschaftliche und finanzielle Lage der Republik Österreich, die erdrückenden Bestimmungen des Friedensvertrages und die unerträglichen Daseinsbedingungen üben tiefgehende Wirkungen aus auf unseren Bankbetrieb […], stellen uns immer aufs Neue vor außerordentlich komplizierte Probleme und fordern unausgesetzt Entscheidungen von ungeheurer Tragweite. Dementsprechend hat sich der Wirkungsbereich der geschäftsführenden Organe […] außerordentlich erweitert und ihre Verantwortung ist ins Riesenhafte gestiegen.«280
Zeitgenössische Beobachter haben sogar die Auffassung vertreten, dass die irregulären wirtschaftlichen Verhältnisse der Inflationszeit zu einer »Umwälzung in den Personalverhältnissen« bei den Großbanken geführt hätten. »Die alten Direktoren hatten sich […] auf die Rolle zurückgezogen, die Franz Josef im Weltkrieg spielte. Sie […] waren Scheinregenten geworden.«
Die wirkliche Geschäftspolitik dieser Periode sei hauptsächlich von den »Wunderkindern der Inflation« beeinflusst worden281. 279 Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 2575 und 76.720/1927 ; BA, VWP-BCA vom 10. November 1926 und 8. Oktober 1928 ; ÖVW, Die Bilanzen, 3. September 1927, S. 565 ; BArch, 09.01 AA 40.342, Bl. 135 f und 40.343, Bl. 212 f. 280 BA, VWP-BCA vom 22. November 1919 (Herv. v. Verf.). 281 Die neue Wirtschaft, Die Herren der Bankenwelt, 4. Jänner 1924, S. 2. Als Beispiel wurde unter
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Eine quantitative Analyse der Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in der Inflationsperiode muss notwendigerweise spekulative Züge tragen. Schon die zeitgenössischen Bilanzanalytiker haben festgestellt, »daß […] sowohl im Bilanz- als auch im Gewinn- und Verlustkonto vielfach soweit von der Wirklichkeit abweichende Bewertungen und Ertragsziffern eingesetzt sind, daß die Rechnungsabschlüsse nur als Entwicklungsbild und auch das nur mit großen Vorbehalten gewertet werden können, nicht aber als ein tatsächliches Bild der finanziellen Situation der Bank(en)«282.
Diese Unklarheit der Bewertungen mag manchem zeitgenössischen Beobachter als bewusste Verschleierungstaktik der Bankleiter erschienen sein. In Wirklichkeit war es selbst für das Management der Institute nicht immer leicht, einen Überblick über die Situation zu er- und behalten. Am besten scheint dies noch der Direktion der Boden-Credit-Anstalt gelungen zu sein, eine Tatsache, die zweifelsohne mit dem zentralisierten Betrieb der Bank zusammenhing283. Denn beim Bankverein, der über ein verhältnismäßig großes und über verschiedene Staaten verstreutes Filialnetz verfügte, erwies sich bereits im Jahr 1920 die Aufstellung der obligatorischen Halbjahresbilanz als unmöglich ; und als Grundlage für den Jahresabschluss dienten mehr oder minder vage provisorische Zahlen. Besondere Schwierigkeiten bereitete die Analyse des gewaltig angeschwollenen Debitorenkontos. »Wieviel von diesem Plus auf den sicher ungewöhnlich bedeutenden Zuwachs an Geschäftsdebitoren entfällt«, hieß es im Bericht der Direktion, »konnten wir leider bisher nicht genau feststellen.«284
Die Vorlage der Bilanzzahlen für das Jahr der Hyperinflation (1922) wurde mit der lapidaren Feststellung eingeleitet :
anderem Direktor Fritz Ehrenfest von der Creditanstalt angeführt, dessen Name anlässlich der Krise von 1931 im Mittelpunkt der öffentlichen Erörterung stehen sollte. 282 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1923, S. 213 (Herv. v. Verf.). 283 Dies dürfte auch für die NEG gelten. Doch sind von dieser Bank Aktenbestände nicht erhalten geblieben. 284 BA, ARP-WBV vom 2. Juni 1921, Bilanzbericht für das Jahr 1920. Ähnliche Bemerkungen finden sich auch im Jahr danach bei der Besprechung des Abschlusses für das Jahr 1921. Vgl. ARP-WBV vom 12. Juni 1922.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
»Ihrer Aufgabe, Rechenschaft über die in der abgelaufenen Geschäftsperiode geleistete Arbeit und deren Erfolge zu geben, können diese Zahlen […] keineswegs entsprechen.«285
Besonders starke Verzerrungen erfuhren die Rechnungsabschlüsse durch den multinationalen Charakter des Bankgeschäfts. Auf dieses Problem ging der »Österreichische Volkswirt« anlässlich der Besprechung der Bilanz der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft für das Jahr 1922 ein : »[Es] wären die Bilanzansätze«, hieß es, »noch ungleich größer gewesen, wenn die Bank nicht […] alle auf gleiche fremde Währung lautende Konti miteinander kompensiert und nur die Saldi aller in ein und derselben Auslandswährung geführten Konti unter den Kreditoren zu den Kursen des Abschlußtages, unter den Debitoren etwas niedriger in die Bilanz eingesetzt hätte. Wenn die Bank nicht so vorgegangen wäre, so hätten die Debitoren und Kreditoren nicht nahezu eine Billion, sondern mehrere Billionen erreicht […]. In den Erträgnissen ist der Spielraum für eine künstliche Verminderung der ausgewiesenen Summen natürlich ungleich größer, daher läßt das Steigen des Reingewinnes von 10,6 Millionen im Jahre 1913 […] auf das 1400-fache absolut nicht den Schluß zu, daß die Erträgnisse tatsächlich in Goldrechnung auf den zehnten Teil zurückgegangen sind.«286
Vielfach wurden Gewinne aus Konsortialgeschäften nicht verrechnet. So war bekannt, dass die Creditanstalt 1922 von 300 derartigen Transaktionen nur 30 verbucht hatte287. Wie groß die nicht ausgewiesenen Erträge waren, mag der Tatsache entnommen werden, dass die Dividenden, die der Escompte-Gesellschaft im Jahr 1922 aus dem Besitz an Aktien der Böhmischen Escompte-Bank und Kreditanstalt zuflossen, zum Kurs des Bilanztages »nahezu den ganzen Reingewinn, weit mehr als die ausgeschüttete Dividende«, ausmachten288. Durch die bewusste Niedrighaltung der ausgewiesenen Erträgnisse und die Beschränkung der Dividendenausschüttung versuchten die Banken der Scheingewinnbesteuerung zu entgehen und Mittel für die Aufrechterhaltung des Bankbetriebes sowie zur Absicherung gegen die Geldentwertung zu konservieren289. Zudem sahen sich die Kreditinstitute veranlasst, beträchtliche Reservierungen für die 285 BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht für das Jahr 1922. 286 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1923, S. 213. 287 ÖVW, Die Bilanzen, 19. Mai 1923, S. 254. 288 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1923, S. 214. 289 Eine namentlich nicht genannte »Autorität« teilte der Wirtschaftsabteilung der US-Botschaft in Wien mit, dass die österreichischen Aktiengesellschaften vor dem Krieg etwa 70 % der erzielten Erträgnisse ausgewiesen hätten, nach 1918 aber nur noch ungefähr 15 %. NA, Microfilm, MC. No. 695. Roll 51, C.463.
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aus der Begleichung der Vorkriegsschulden im westlichen Ausland zu erwartenden Belastungen vorzunehmen290. Wenn die in den Rechnungsabschlüssen erscheinenden Zahlen auch kein realistisches Bild von der Höhe der Gewinne vermitteln, so veranschaulicht doch der veränderte Stellenwert der einzelnen Gewinnquellen die Verschiebungen, die sich gegenüber 1913 in der Inflationsperiode ergaben (siehe Tabelle 28). Die auffälligsten Veränderungen betreffen die Gewinne aus Devisen- bzw. Effekten- und Konsortial geschäften, die nach dem Krieg in wesentlich größerem Maß zum gesamten Roherträgnis beitrugen als vor 1914. Beide waren 1923 auch in Goldkronen gerechnet mehr als doppelt so hoch wie 1913. In diesen zwei Posten spiegelt sich einerseits der multinationale Charakter des Bankgeschäfts wider, andererseits drückt sich darin die gute Börsenkonjunktur dieses Jahres aus291. Tabelle 28 : Zusammensetzung des Rohgewinns der Creditanstalt (ohne Gewinnvortrag) 1913–1923 (in %) 1913
1918
1919
1920
1921
1922
1923
Zinsen
70,3
74,9
44,2
41,2
35,8
35,2
25,7
Gewinn aus Effekten- und Konsortialgeschäften
6,6
–
24,6
19,6
13,8
13,4
28,8
Provisionen und Warengewinne
20,7
22,5
18,7
17,7
38,7
43,6
37,5
Gewinne aus Devisen
2,2
2,1
12,4
21,4
11,7
7,8
8,0
Quellen : Compass, verschiedene Jahrgänge ; März, Österreichische Bankpolitik, S. 447.
Die Erträgnisse des Devisengeschäfts schwankten zwar mit der Freigabe bzw. Kon trolle des Devisenverkehrs ; die staatliche Reglementierung scheint jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage gewesen zu sein, den Verkehr auf dem »freien« Devisenmarkt in nennenswertem Ausmaß zu beeinflussen. »Das freie Devisen- und Valutengeschäft«, berichtete die Direktion des Wiener Bankverein über das Jahr 1919, »hat auf dem Wiener Platz trotz der einschränkenden Verordnungen ganz enorme Dimensionen angenommen. Durch Freigabe des Handels in den Devisen der Nationalstaaten hat 290 Vgl. BA, ARP-WBV vom 2. Juni 1921 und 12. Juni 1922, Bilanzbericht für das Jahr 1920 bzw. 1921. Im Falle der Boden-Credit-Anstalt waren die Rücklagen ausreichend, um die Begleichung französischer Vorkriegsschulden vornehmen zu können, ohne dass diese Transaktion die Bilanz legung beeinflusst hätte. Siehe : BA, VWP-BCA vom 20. Dezember 1922. 291 Zur Börsenkonjunktur siehe das folgende Kapitel II-6, S. 112 ff.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
der Wiener Devisenmarkt stark an Bedeutung gewonnen und durch die stillschweigende Duldung des allgemeinen Devisenhandels konnte derselbe den Schleichweg verlassen«292.
Am 26. Oktober 1920 schließlich wurde der tatsächliche Zustand durch eine Verordnung des Finanzministeriums, die die Freigabe des Devisenverkehrs verfügte, auch offiziell zur Kenntnis genommen. In den beiden folgenden Jahren kam es jedoch wieder zu einer sukzessiven Einschränkung der Verkehrsfreiheit, bis am 19. Juli 1922 erneut die vollständige Einstellung des freien Devisenhandels proklamiert werden musste293. Ähnlich wie bei der Creditanstalt bildete auch beim Bankverein im Jahr 1920 der Gewinn aus dem Handel mit ausländischen Zahlungsmitteln nach den Zinserträgen die zweitgrößte Einnahmequelle. Der Verkehr in Valuten und Devisen wurde als »außerordentlich groß« beschrieben, die Gewinnmarge als exorbitant hoch. Der Handel mit Devisen war so umfangreich, dass der Bankverein mit den vorhandenen Arbeitskräften das Auslangen nicht finden konnte und gezwungen war, neues Personal einzustellen294. Ob der Handel mit ausländischen Zahlungsmitteln 1922 trotz aller Kontrollen eine nennenswerte Einschränkung erfuhr, ist zweifelhaft. Das folgende Diagramm 2 zeigt, dass bei der Boden-Credit-Anstalt die Devisenumsätze sowohl im ersten als auch im zweiten Halbjahr 1922 gegenüber der vorherigen Periode weitaus stärker wuchsen als die Gesamtumsätze295. Während die oben in Tabelle 28 wiedergegebenen Daten die Entwicklung der Effekten- und Devisengewinne der Creditanstalt zumindest in groben Zügen widerspiegeln, ging der Zinsenanteil am Bruttoertrag nur scheinbar von 70,3 % (1913) auf 25,7 % (1923) zurück. Zinsen und Provisionen müssen, wie es in einem Bericht der Direktion des Wiener Bankverein heißt, »insoferne in ihrer Gesamtheit« betrachtet werden, »als sie das Entgelt für die der Kundschaft zur Verfügung gestellten Gelder und für den großen Arbeitsaufwand, den das reguläre Bankgeschäft erfordert, bilden«296.
Zwar gelangten auf dem Provisionskonto auch Syndikatsprovisionen und – als Besonderheit bei der Creditanstalt – Gewinne der Warenabteilungen (Handel mit Zucker 292 BA, ARP-WBV vom 4. Juni 1920, Bilanzbericht für das Jahr 1919. 293 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 487 f. 294 BA, ARP-WBV vom 2. Juni 1921, Bilanzbericht für das Jahr 1920. 295 Tatsächlich dürfte sich die Devisenbewirtschaftung erst nach der Stabilisierung ausgewirkt haben. Beim Bankverein waren die Devisengewinne im ersten Semester 1923 geringer als im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres. Siehe : BA, ARP-WBV vom 23. Oktober 1923. 296 BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht für das Jahr 1922.
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und Textilien) zur Verrechnung, doch muss der überwiegende Teil den Zinserträg nissen zugerechnet werden. Ein zeitgenössischer Kommentator bezeichnete die Zunahme der relativen Bedeutung der Provisionsgewinne seit 1921 als »charakteristisch«. Sie sei Ausdruck einer geänderten Art der Zinsberechnung, »die heute komplizierter ist und bei der die Provisionen eine viel größere Rolle spielen als früher. Unter den Bankkonditionen ist der reine Zinssatz heute nicht mehr allein ausschlaggebend. In der Form von Provisionen und anderen Titeln werden dem Kreditnehmer Beträge angerechnet, die häufig über das Ausmaß der reinen Zinsen hinausgehen.«297
297 Kautsky, Die Bankbilanzen des Jahres 1925, Sp. 693.
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Die Entwicklung der auf diese Weise entstandenen »tatsächlichen« Zinsspanne ist aus den veröffentlichten Bilanzdaten nur als Trend zu rekonstruieren, dessen Aussagekraft umso beschränkter ist, als wir über den – sowohl tatsächlichen als auch rechnungsmäßigen – Anteil des in österreichischen Kronen abgewickelten laufenden Bankgeschäfts keinerlei Anhaltspunkte besitzen. Eines der wenigen Beispiele, wo wir über genaue Informationen verfügen, bildet das Debitorenkonto des Wiener Bankverein im Jahr 1919. Dieses war gegenüber 1918 von 1,8 auf 3,5 Mrd. Kronen gestiegen. Von diesem Zuwachs entfielen 1,3 Mrd. auf die rechnerische Aufwertung der Auslandsguthaben der Bank. Die tatsächliche Erhöhung der reinen Geschäftsdebitoren betrug bloß 410 Mio. Kronen298. Tabelle 29 zeigt die Entwicklung der tatsächlichen Zinsmarge für die Creditanstalt. Der für die Zeit vor dem Weltkrieg errechnete Zinsensaldo stimmt mit den Schätzungen zeitgenössischer Experten exakt überein299. Dagegen scheint für die Nachkriegsjahre der Überschuss der Zinsen und Provisionen ein wirklichkeitsnäheres Bild der Entwicklung zu geben (wobei die außerordentlich günstigen Zahlen für 1923 und 1924 das infolge der Börsenkonjunktur und der Deflation exorbitant hohe Debetzinsniveau reflektieren). Für die Jahre 1921 und 1922 bleibt jedoch selbst die aus den Bilanzdaten sich ergebende »tatsächliche« Zinsspanne hinter jenen Werten zurück (mindestens 4 % 1921, 6 % oder mehr 1922), die der »Österreichische Volkswirt« aufgrund genauer Kenntnis der Lage errechnet hat300. Tabelle 29 : Zinsspanne der Creditanstalt
1905–1913 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925
A
B
2,9 1,9 1,6 1,7 2,3 4,1 3,3 2,5
3,9 2,7 2,3 3,5 5,1 10,0 8,3 5,6
A : Zinsensaldo der Debitoren (in %) B : Zinsensaldo und Provisionen der Debitoren (in %) Quelle : Compass, verschiedene Jahrgänge.
298 BA, ARP-WBV vom 4. Juni 1920, Bilanzbericht für das Jahr 1919. 299 Layton und Rist berichten, dass die Zinsmarge vor 1914 »etwas weniger als 3 %« betrug. Layton/ Rist, S. 19. 300 ÖVW, Die Bilanzen, 2. Mai 1922, S. 184 und 14. April 1923, S. 214.
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Während des Krieges war das Zinsniveau in Österreich – aufgrund der großen Geldflüssigkeit – verhältnismäßig niedrig301. Erst für das Jahr 1918 konnten die Banken über ein starkes Anwachsen der Provisionsgewinne und eine bessere Ausnutzung der Zinsenmarge zwischen Debet- und Einlagezinsen berichten302. Hatte sich im letzten Kriegsjahr eine verstärkte Kreditnachfrage der Industrie fühlbar gemacht, so brachte das erste Halbjahr 1919, in dem die Unsicherheit über die wirtschaftliche Zukunft besonders groß war, eine – wie es in einem Administrationsrats-Protokoll des Bankverein hieß – »besondere Abundanz unserer Barmittel«303. Obwohl Thesaurierungstendenzen bei den Kunden der Banken nicht zu übersehen waren, wurde der Einlagenzinsfuß zweimal, im Jänner und im Mai, um je ein halbes Prozent gesenkt304. Und sobald sich die Kreditnachfrage verstärkte, schritten die Kreditinstitute an eine Erhöhung der Provisionssätze, mit dem Ergebnis, dass die Gewinne aus Provisionen im Jahr 1919 eine überdurchschnittliche Steigerung erfuhren305. Auch 1920 dürften die Provisionssätze weiter angehoben worden sein306 ; für das erste Halbjahr 1921 wurde eine Verbesserung der Zinsenmarge konstatiert, die mit einer starken Zunahme der Provisionsgewinne einherging307. Auf diese Weise gelang es den Banken, eine allmähliche Erhöhung der Kreditkonditionen durchzusetzen, die allerdings zur Inflationsrate in keinem Verhältnis stand. Nach den Schätzungen einer deutschen Zeitung betrug die Belastung der Kreditnehmer in Österreich im Frühjahr 1921 (unter Einrechnung der verschiedenen Gebühren und Provisionen) für erste Adressen mindestens 10 bis 14 %308. Der Lebenshaltungskostenindex (ohne Wohnungsaufwand) war jedoch allein in der Zeit von Dezember 1920 bis Juni 1921 um über 70 % gestiegen. Mit anderen Worten, die reale Zinsspanne wies einen negativen Wert für die Banken auf. Erst im letzten Stadium der Inflation scheinen die Bankinstitute an eine drastische Erhöhung der Konditionen geschritten zu sein. Sie stellten ihren Kunden nun auch
301 Siehe : Sokal, Die Tätigkeit der Banken [1914–1918], S. 1097 ff. 302 BA, ARP-WBV (undatiert), Bilanzbericht für das Jahr 1918. 303 BA, ARP-WBV vom 16. Juni 1919. 304 BA, VWP-BCA vom 16. April 1919, Bilanzbericht für das Jahr 1918 und VWP-BCA vom 23. Dezember 1919, Bericht über das erste Halbjahr 1919. 305 BA, VWP-BCA vom 23. Dezember 1919, Bericht über das erste Halbjahr 1919 und ARP-WBV vom 4. Juni 1920, Bilanzbericht für das Jahr 1919. 306 BA, VWP-BCA vom 9. Oktober 1920, Bericht über das erste Halbjahr 1920. 307 BA, VWP-BCA vom 4. Oktober 1921, Bericht über das erste Halbjahr 1921 und ARP-WBV vom 12. Juni 1922, Bilanzbericht für das Jahr 1921. 308 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 37.397/1921 (Zeitungsausschnitt, Frankfurter Zeitung vom 19. April 1921). Genaue Angaben über die Höhe der Debetzinsen wurden von den Banken nicht veröffentlicht.
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eine Risikoprämie für die Geldentwertung in Rechnung309. Schließlich gingen sie sogar zu einer Kontingentierung der Kronenkredite über310. Kontokorrentkredite in inländischer Währung wurden im Stadium der Hyperinflation offenbar »auf das zu Lohnzahlungen benötigte Maß« beschränkt311 und die darüber hinaus notwendige Kreditgewährung an heimische Industrieunternehmen in fremder Währung abgewickelt, um das Kursrisiko bei Außenhandelstransaktionen zu eliminieren bzw. die einem Gläubiger in der Inflation allgemein drohende Gefahr von Verlusten auszuschalten312. Zum Teil gelang es den Banken auch, bei den Industrieunternehmen eine Umwandlung bestehender Kronen- in Fremdwährungskredite durchzusetzen313. Aber auch in diesem Fall war das Vorgehen von Bank zu Bank verschieden : Während die Creditanstalt auf eine valutarische »Wertsicherung« Bedacht nahm (und wohl aufgrund ihrer Verbindung zu befreundeten Instituten im westlichen Ausland, wie der Amstelbank, am besten dazu in der Lage war), vergab der Wiener Bankverein kaum Kredite in ausländischer Währung314. Die Boden-Credit-Anstalt, deren Fähigkeit zur Mittelaufbringung eine sehr begrenzte war, verhielt ihre Konzernunternehmen in weit größerem Ausmaß als die anderen Institute dazu, eine Stärkung der Betriebsmittel durch Kapitalerhöhungen vorzunehmen315. Dennoch dürfte die in Diagramm 3 wiedergegebene Entwicklung der Kontokorrentumsätze bei der Boden-Credit-Anstalt den allgemeinen Trend repräsentieren. Es kann daraus deutlich die zurückhaltende Kreditvergabe der Bank im letzten Stadium der Geldentwertung ersehen werden316. Während des Weltkrieges hatten, wie bereits erwähnt, das laufende Geschäft wie auch die Bereitstellung von Investitionskrediten gleichermaßen an Bedeutung verloren. Aber bereits in der zweiten Jahreshälfte 1919 begann die Kreditnachfrage der Industrie zu steigen317, und von dieser Periode an berichteten die Banken regelmäßig 309 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 64. Noch 1924 betrugen die Debetzinsen (inkl. Provisionen) über 20 %. Layton/Rist, S. 92. 310 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 475. 311 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1923, S. 213. 312 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 476 und 487. 313 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 306 : Zeugenvernehmung Emmerich Werl, Finanzreferent der Berndorfer Metallwarenfabrik A. Krupp AG. Hier wird über ein derartiges Vorgehen der Credit anstalt gegenüber den Kruppwerken berichtet. 314 Dies geht aus verschiedenen Kreditverzeichnissen hervor. Siehe : BA, ARP-WBV vom 12. Juni, 2. Oktober und 21. Dezember 1922. 315 Siehe : BA, VWP-BCA vom 15. April und 4. Oktober 1921, 20. Mai, 4. Oktober und 25. November 1922. 316 Um möglichst liquide zu bleiben, gaben die Banken in wachsendem Umfang Akzepte aus, die der Mobilisierung von an die Industrie vergebenen Krediten dienten. Vgl. BA, ARP-WBV vom 12. Juni 1922. 317 BA, VWP-BCA vom 23. Dezember 1919.
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von einem ständig sich vermehrenden Kreditbedürfnis ihrer Klientel318. Dieses war zum Teil eine Folge der Zerreißung des einheitlichen Wirtschaftsgebietes der Donaumonarchie. Kohle, Rohstoffe und Halbfertigwaren mussten nun in großem Ausmaß aus dem »Neuausland« bezogen werden. Beim Export von Fertigwaren ergaben sich längere Umschlagsfristen der Produktion, Außenstände waren schwerer mobilisierbar, weil die auf ausländische Währung lautenden Wechsel nicht bei der Notenbank eskomptefähig waren319. Ferner benötigte die Industrie Investitionskredite zur Umstellung von der Kriegs- auf Friedensproduktion. Eine der wesentlichen Ursachen für die in diesen Jahren vielbeklagte »Kapitalnot« der Industrieunternehmen muss jedoch mit der Mitte 1920 einsetzenden »Ausverkaufskonjunktur« und dem Valutadumpingexport in Zusammenhang gebracht werden. Als Folge verfehlter Kalkulationsmethoden wurden Industrieprodukte unter ihrem Wert verkauft, was bedeutete, dass ein Teil des Betriebsvermögens der Unter318 BA, ARP-WBV vom 15. Dezember 1921. Dort heißt es : »Die seitens der industriellen und kommerziellen Kundschaft an uns gestellten Ansprüche wachsen von Tag zu Tag, so daß die uns zu Gebote stehenden […] Mittel eine starke Verminderung aufweisen […].« 319 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 62.
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nehmen verlorenging. Die Kalkulation zu Wiederbeschaffungswerten wurde – insbesondere in den ersten beiden Nachkriegsjahren – nicht von allen Firmen angewandt. Gustav Stolper, der Mitherausgeber des »Österreichischen Volkswirt«, hat sich dazu rückblickend folgendermaßen geäußert : »Die relativ niedrigen Preise der Industrieartikel in Österreich waren natürlich nicht etwa das Ergebnis von besonders günstigen Produktionsbedingungen, sondern vor allem der Ausdruck der ständig fortschreitenden Vermögensaufzehrung, die die Industrie mit falscher Kalkulation in bewußter oder unbewußter Selbsttäuschung betrieben hat […]. Wenn eine industrielle Anlage an Substanz 50 Milliarden wert ist (d. h. ihre Errichtung und Ausstattung mit Materialien und sonstigen Vorräten heute soviel kosten würde) und einen Reinertrag von einer Milliarde abwirft, so bedeutet das nichts anderes, als daß bei der angenommenen Notwendigkeit einer zehnprozentigen Abschreibung das Unternehmen nicht nur sein Kapital unverzinst läßt, sondern an Substanz jährlich 4 Milliarden einbüßt. Daran ändert sich gar nichts, ob diese Anlagen mit 50 Milliarden oder mit Null zu Buch stehen. Die Substanzaufzehrung ist ein physischer, kein bloß buchhalterischer Prozeß.«320
Aber selbst wenn die Industrieunternehmen methodisch richtig kalkulierten, war es nicht einfach, die künftige Entwertungsrate korrekt zu antizipieren. Der Wertverfall der Krone unterlag einem wechselnden Rhythmus und war immer wieder von Perioden der zeitweiligen Erholung unterbrochen (siehe dazu Diagramm 1 ; Kapitel II/1, S. 23). Besonders schwierig war das Problem der Kalkulation für Unternehmen, die Rohstoffe oder Halbzeug aus dem Ausland bezogen. Aber auch beim Absatz von Waren im Ausland war die Einführung einer »Valutaklausel« nur in Ausnahmefällen durchsetzbar321. Neben dem traditionellen Kreditgeschäft mit der Industrie begann im Lauf der Inflationsjahre ein neuer Geschäftszweig eine wichtige Rolle zu spielen : die Finanzierung des Ausbaus der österreichischen Wasserkräfte322. Die Wiener Großbanken beteiligten sich – nach anfänglicher Zurückhaltung, die auch darauf zurückging, dass in den Bundesländern eine starke Abneigung gegen das »jüdische« Wiener Finanzkapital existierte323 – sowohl am Aktienkapital der neuen Elektrizitätsgesellschaften als auch an der Aufbringung von Kreditvorschüssen und Obligationskapital324. Bereits zu Anfang des Jahres 1919 320 Stolper, Teuerung, S. 264. 321 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 306 : Zeugenvernehmung Emmerich Werl. 322 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 504 ff. 323 Als ein Beispiel vgl. Hanisch, Provinz und Metropole, S. 78 f. 324 So berichtete die Direktion der Boden-Credit-Anstalt, dass das Darlehensgeschäft im Jahr 1920 neue Impulse durch die Begebung von Kommunaldarlehen für Elektrizitätsgesellschaften erhalten habe. Siehe : BA, VWP-BCA vom 29. April 1921, Bilanzbericht für das Jahr 1920.
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hatte sich die Creditanstalt im Verein mit anderen Kreditinstituten an der Gründung eines »Studienbureaus für die Verwertung der Wasserkräfte Deutschösterreichs« beteiligt und so ihr Interesse am Ausbau der Elektrizitätswirtschaft dokumentiert325. Auch verschiedene Anleiheoperationen mit den Länderregierungen, die der Finanzierung von Investitionen dienten, wurden in den Tätigkeitsbereich der Banken in der Inflationszeit miteinbezogen. Eine größere Reserve legten sich die Kreditinstitute hingegen bei der Kreditgewährung an den österreichischen Staat auf, in dessen »Lebensfähigkeit« offenbar auch sie wenig Vertrauen setzten326. Walther Federn hat daher rückblickend den Vorwurf erhoben, dass die Großbanken sich »dem Staat fast ganz versagt haben«. Dieser habe »bis auf eine bescheidene Losanleihe« sein Defizit nur mit Hilfe der Banknotenpresse decken können327. Die Richtigkeit von Federns Bemerkung ist nicht zu bestreiten ; sie bedarf aber gewisser Ergänzungen : Nicht nur die Banken, alle »Kapitalisten« und Rentiers haben sich, nach den negativen Erfahrungen mit dem Schicksal der Kriegsanleihen, dem Staat »versagt«, genauso wie sie in der Zeit der Inflation im Allgemeinen festverzinsliche Wertpapiere mieden und ihr Kapital lieber in wertbeständigeren ausländischen Effekten bzw. Aktien österreichischer Unternehmen anlegten. Nur in bestimmten Perioden, wenn mit einer Stabilisierung der Krone bzw. einem künftigen Steigen des Kronenkurses gerechnet wurde, fanden auch Rentenpapiere besseren Absatz328. Tatsächlich gelang es der österreichischen Staatsverwaltung in der Inflationszeit lediglich, zwei Anleihen aufzulegen : die 4%ige Deutschösterreichische Staatsanleihe vom Dezember 1918 sowie die von Federn erwähnte 4%ige Staats-Losanleihe im Frühjahr 1920. In beiden Fällen zeichneten die Großbanken einen Betrag von je 150 Mio. Kronen ; beide Male konnte auch der Besitz an Kriegsanleihe zur Bezahlung verwendet werden. 1918 waren im Gesamterlös von 571 Mio. über 116 Mio. an Kriegsanleihe enthalten ; 1920 lautete das Verhältnis von Barzeichnung zu Kriegsanleiheverwendung 50 zu 50329. 325 BA, VWP-CA vom 4. Februar 1919. 326 So heißt es im Bilanzbericht der Direktion des Wiener Bankverein für das Jahr 1919 : »Unter den gegebenen Verhältnissen kann unser zerrissener Staat allein nicht leben, der Anschluß an Deutschland muß als das einzige Rettungsmittel bezeichnet werden […].« BA, ARP-WBV vom 4. Juni 1920. Auch in der Sitzung des Verwaltungsrates der Boden-Credit-Anstalt vom 29. April 1921 wurde die Lebensfähigkeit des österreichischen Staates in Zweifel gezogen. 327 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 59 f. 328 So berichtet Max Sokal in einem Rückblick auf die Jahre 1919 und 1920 von zeitweiliger stürmischer Nachfrage nach österreichischen Staatslosen (vor allem von Seiten ausländischer Käufer) sowie nach Pfandbriefen. Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1919 und 1920, S. 758 ff. 329 Siehe : Compass, Jg. 1925, S. 174 und 198 f ; BA, VWP-CA vom 3. und 17. Dezember 1918, ARPWBV vom 4. Februar 1919 und 4. Juni 1920, VWP-BCA vom 14. Februar 1919.
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Der österreichische Staat musste daher zu kurzfristigen Kreditoperationen Zuflucht nehmen : Am 20. März 1919 gab die Staatsverwaltung zum ersten Mal 21/2%ige Staatsschatzscheine aus, die in späteren Jahren von einem Typus mit 5 bzw. 6%iger Verzinsung abgelöst wurden330. Für diese Form der flüssigen Veranlagung bekundeten die Banken von Beginn an ein sehr reges Interesse. Mit der Übernahme der staatlichen Schuldscheine war kein Risiko verbunden. Sie konnten bei der Österreichisch-ungarischen Bank eingereicht werden, ohne dass – wie es in einem Verwaltungsrats-Protokoll der Creditanstalt hieß – »wir hiebei ein Obligo zu übernehmen haben«331. Damit war Folgendes gemeint : Während die Banken anfangs die Schatzscheine direkt bei der Notenbank einreichten, wurden sie später an die Österreichische Kontrollbank für Industrie und Handel (mit einem Aufschlag von 21/2 %) weitergegeben. Diese gab die Wechsel an die ÖUB weiter332. Es war dies also eine »elegantere« Variante der Notenbankfinanzierung, bei der die Banken für ihre Vermittlungsfunktion eine Nominalverzinsung von 5 % erhielten. Die Creditanstalt und die Boden-Credit-Anstalt beteiligten sich an der Übernahme der Schatzscheine im Rahmen und im Ausmaß ihrer Quote am Konsortium für staatliche Kreditoperationen, das unter der Führung der Postsparkasse stand. Die Creditanstalt zeichnete im Jahr 1919 über 200 Mio. 21/2%ige Staatsschatzscheine, die Boden-Credit-Anstalt von Mai bis Oktober desselben Jahres 176,5 Mio. Kronen333. Der Wiener Bankverein hingegen veranlagte hierfür weit höhere Beträge. Die Bank hatte anlässlich der ersten Schatzscheinausgabe den ihr zustehenden Konsortialanteil von 19,2 Mio. Kronen übernommen. In direkten Verhandlungen mit dem Finanzministerium erklärte sich die Direktion des Bankverein bereit, sofort weitere 350 Mio. solcher staatlicher Wechsel zu diskontieren334. Auch in den folgenden Jahren wurde wiederholt über die Hereinnahme von Schatzscheinen berichtet. Zu einer längerfristigen Veranlagung ihrer Mittel in Staatspapieren waren die Kreditinstitute jedoch erst wieder bereit, als die Hilfe des Völkerbundes zur vollendeten Tatsache geworden war335. 330 Die Ausgabe der Schatzscheine wurde im November 1922 gleichzeitig mit der Stilllegung der Notenpresse eingestellt. Bei der Errichtung der Nationalbank zu Anfang des Jahres 1923 wurden die Schatzscheine in eine Darlehensschuld des Bundes an die Notenbank umgewandelt. Diese machte fast 2,6 Billionen Kronen aus. Siehe : Compass, Jg. 1926, S. 233. 331 BA, VWP-CA vom 4. November 1919. 332 BA, ARP-WBV vom 27. Oktober und 22. Dezember 1919. 333 BA, VWP-BCA vom 23. Oktober 1919. Die Zahl für die Creditanstalt wurde aus einer Reihe von Verwaltungsratsprotokollen des Jahres 1919 kompiliert. 334 BA, ARP-WBV vom 16. Juni 1919. 335 Vgl. BA, VWP-CA vom 25. Oktober, 8. und 22. November sowie 6. Dezember 1922, die Übernahme der Goldschatzscheine, die zur Deckung des staatlichen Defizits bis zum Einlangen der Genfer Anleihe dienen sollten.
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Walther Federn wies bei seiner Kritik des Verhaltens der Wiener Großbanken gegenüber dem Staat auf die seiner Meinung nach »patriotischere« und konstruktivere Haltung der deutschen Bankwelt hin, die sich den Kreditbedürfnissen der öffentlichen Verwaltung bereitwillig zur Verfügung gestellt hätte336. Es ist anzunehmen, dass die deutschen Bankiers noch viel weniger als ihre österreichischen Kollegen an die Möglichkeit einer Hyperinflation und einer dauernden Entwertung der Währung dachten und davon ausgingen, dass die Währungsverhältnisse der Vorkriegszeit wiederhergestellt würden337. In Österreich war die wirtschaftliche Katastrophenstimmung schon im Oktober 1918 ausgeprägter als in Deutschland und den Banken standen – aufgrund ihrer engen Verflechtung mit der Ökonomie der Nachfolgestaaten – alternative Veranlagungsmöglichkeiten offen, die mit dem Fortdauern der Geldentwertung immer attraktiver wurden. Wenn die Wiener Banken auch, wie bereits erwähnt, nicht immer imstande waren, ihre im »Neuausland« gelegenen Konzernunternehmen mit Kredit zu versorgen, so ging ihr Bestreben doch dahin, zumindest ihren Aktienbesitz zu bewahren und auszubauen : Alle Banken versuchten, ihr Eigenvermögen in verhältnismäßig wertbeständigen ausländischen Effekten und – im letzten Stadium der Inflation – auch Devisen anzulegen338. Im Vergleich mit Deutschland erscheint auch eine zweite Besonderheit der Geschäftstätigkeit der österreichischen Banken in der Inflationszeit von Bedeutung. Während sich die Großindustrie im Deutschen Reich – wie bereits angedeutet – von den Banken emanzipierte und das Emissionsgeschäft bei den Kreditinstituten eine untergeordnete Rolle spielte339, vermochten die österreichischen Großbanken ihre industriellen Einflusssphären beträchtlich zu erweitern : Die Schrumpfung des Betriebskapitals zwang eine große Anzahl selbst renommierter und alteingesessener Privatfirmen, sich an die Kreditinstitute um finanziellen Beistand zu wenden340. Die Abhängigkeit vom Bankkredit bildete in den meisten Fällen die Vorstufe zur »Veraktionierung« der Unternehmen, da die Großbanken zum Zwecke der Sicherung ihres Eigenvermögens die Umwandlung von Kontokorrentforderungen in Aktienbe336 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 59. 337 Diesem Irrglauben unterlagen auch die Ausländer, die Mark-Forderungen in der Erwartung eines Wiederansteigens des Kurses der deutschen Währung akkumulierten. Siehe dazu : Holtfrerich, S. 279 ff. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang der Hinweis Holtfrerichs, dass unter den auf einen Anstieg der Mark spekulierenden Ausländern Österreicher eine wichtige Rolle spielten. 338 Zur Creditanstalt siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 534. Eine gleichartige Veranlagungspolitik wurde auch von den anderen Großbanken betrieben. 339 Siehe : Born, Die Deutsche Bank in der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, S. 27 f. 340 NA, Microfilm, MC. No. 695. Roll 51, C.508.
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teiligungen anstrebten. Die Praxis der »Veraktionierung« scheint in größerem Stil im Jahr 1920 begonnen zu haben. In diesem Jahr erhöhte eine Reihe von Industrieunternehmen das Aktienkapital, wodurch, wie ein zeitgenössischer Beobachter schrieb, »jeweils auch ein Teil des Debetsaldos bei den finanzierenden Banken abgedeckt wurde«341. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den Jahren 1922 und 1923, als neue Wertpapiere an der Börse leicht unterzubringen waren. Die Banken zeigten großes Interesse an der Umwandlung der inflationsgefährdeten Kontokorrentforderungen in die verhältnismäßig wertbeständige Form von Anteilsrechten an Unternehmen. Sie »horteten« gleichsam in- und ausländische Aktien in der Hoffnung, auf diese Weise dem inflationsbedingten Entwertungsprozess ihrer Aktiva gegensteuern und die Papiere später, nach der Wiederkehr ruhiger Zeiten, wieder veräußern zu können. Und noch ein zweiter Umstand zwang die Banken dazu, ihren Aktienanteil an Konzernunternehmen zu vergrößern : die Gefahr, die Kontrolle über Firmen an »neureiche« Spekulanten zu verlieren, die wiederholt Versuche unternahmen, in die angestammte Interessenssphäre der Großbanken einzudringen342. Sogar die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft sah sich damals genötigt, »von ihrem alten Grundsatz, keine Bestände an Aktien ihres Konzerns zu halten, abzugehen, da das üblich gewordene Eindringen in die Verwaltung durch Ankauf von Aktienpaketen sonst allzu sehr erleichtert [worden] wäre«343.
Im Jahr 1921 setzte die Flucht aus der Krone verstärkt ein. Devisenerlöse aus dem Warenexport wurden gehortet344, Kronen zu spekulativen Zwecken ins Ausland transferiert345. Dadurch und als Folge der Flucht in die Sachwerte (Umwandlung von Geldkapital in Immobilien, Aktien etc.) nahmen die Einlagen bei den Banken rascher ab, als dies dem Tempo der Geldentwertung entsprochen hätte. Allerdings war der materielle Anreiz, Geld den Banken zur Verfügung zu stellen, denkbar gering : Im August 1922, am Höhepunkt der Inflation, bot eine Salzburger Bank einem Großeinleger
341 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1919 und 1920, S. 782. 342 Besonders betont in : BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht für das Jahr 1922. 343 ÖVW, Die Bilanzen, 6. Mai 1922, S. 184. 344 Im Bericht der Direktion des Wiener Bankverein an den Administrationsrat für 1921 (verfasst im Juni 1922) heißt es, »daß viele unserer Schuldner in ausländischer Valuta, die sich aus der heimischen Industrie und Kaufmannschaft rekrutieren, vorderhand auch einer nur teilweisen Erfüllung ihrer Verpflichtung aus dem Wege zu gehen trachten.« BA, ARP-WBV vom 12. Juni 1922. 345 Nach den Schätzungen von Schweizer Banken erreichten die österreichischen Guthaben in der Schweiz Anfang 1922 die Höhe von 18 Mio. £. Walré de Bordes, S. 192.
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für Depositen mit halbjähriger Kündigungsfrist eine Verzinsung von 61/2 %346. Zwar fehlen vergleichbare Daten für die Wiener Großbanken, doch ist anzunehmen, dass sich die Verhältnisse in der Hauptstadt nicht wesentlich von Salzburg unterschieden. Um ihrer Fähigkeit zur Kreditvergabe nachkommen zu können, waren die Banken gezwungen, wiederholt Kapitalvermehrungen durchzuführen. Die Erhöhung des Aktienkapitals der vier größten Wiener Kreditinstitute machte (im Zeitraum Oktober 1918 bis September 1922) zwischen 460 % (Boden-Credit-Anstalt) und 1.290 % (Bankverein), im Durchschnitt etwa 1.000 % aus. Bei der Creditanstalt betrug die Quote 650 %347. Aber auch die aus den Kapitalerhöhungen einfließenden Mittel erwiesen sich als ungenügend, zumal ein Teil dieser Gelder von den Banken in wertbeständiger Form angelegt wurde und daher der Kreditgewährung entzogen war. Im letzten Stadium der Inflation gingen die Banken dazu über, eigene Akzepte und Anweisungen zu begeben, mit deren Hilfe die an die Industrie erteilten Kredite mobilisiert werden konnten348. Diese Wechsel wurden bei der Notenbank eingereicht und vermehrten so den Geldumlauf349. Es war diese Form der privaten Kreditschöpfung mehr als die staatliche Verschuldung, die in der Phase der Hyperinflation den Entwertungsprozess in Gang hielt350. Einen gewissen Eindruck von der Intensität der Entwicklung vermittelt das folgende Diagramm 4, in dem das Preisniveau und die Wechselumsätze bei der Boden-Credit-Anstalt einander gegenübergestellt werden. 346 HAUB, Faszikel 910 : Direktion der BHWB an Rudolf Schmitz, Luzern, August 1922. 347 Im Herbst 1922 wurde den Banken die Möglichkeit gegeben, durch Aufwertung von Aktienbeständen eine Aufstempelung des eigenen Aktienkapitals durchzuführen. Bei der Creditanstalt betrug der Aufstempelungssatz 1 : 10, bei den anderen Großbanken lag er etwas niedriger. Um ein höheres Eigenvermögen auszuweisen, brauchte die Creditanstalt bloß zwei in ihrem Portefeuille befindliche Aktienpakete ausländischer Unternehmen aufzuwerten. Siehe : Compass, Jg. 1925, S. 370. 348 So heißt es im Bilanzbericht der Direktion des Wiener Bankverein für das Jahr 1921 bei der Besprechung des Akzept-Kontos, das von 24,5 Mio. (1920) auf 796 Mio. Kronen angewachsen war : »Es handelt sich dabei um Ausschreibungen unserer Klientel behufs eventueller Mobilisierung der ihr eingeräumten Kreditbeträge […]. Im laufenden Jahr [also 1922, d. Verf.] sahen wir uns […] infolge des unausgesetzt wachsenden Geldbedarfs von Industrie und Handel veranlaßt, derartige Akzepte in reichlicherem Ausmaße zu begeben.« BA, ARP-WBV vom 12. Juni 1922. 349 Von August 1921 bis September 1922 stieg der Eskont von »kaufmännischen« Wechseln bei der Österreichisch-ungarischen Bank rascher als die Kreditgewährung der Notenbank an den Staat. Dies kann aus dem Verhältnis des Wechselportefeuilles zum Banknotenumlauf ersehen werden. Im August 1921 betrug diese Relation 2,1 %, Ende Dezember desselben Jahres 16,9 % und im September 1922 32,5 %. Preßburger, S. 2297. 350 Eine Tatsache, die auch den Zeitgenossen nicht verborgen blieb. So sagte z. B. der großdeutsche Vizekanzler Felix Frank in einer Ministerratssitzung des Jahres 1922 : »Es ist […] richtig, daß die letzte Inflationsperiode nicht so sehr durch eine staatliche, als vielmehr durch eine private Inflation verursacht war […].« ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 251 vom 21. Dezember 1922.
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Es ist einleuchtend, dass den Banken – trotz aller Vorsichtsmaßregeln – aus dem laufenden Geschäft in der Inflationszeit Verluste erwachsen mussten. Deren Ausmaß wäre jedoch nur dann einigermaßen verlässlich zu schätzen, wenn Daten über die Fristen und die Währungszusammensetzung von Kreditoren und Debitoren zur Verfügung stünden. Unter der Voraussetzung, dass Einlagen und Kredite auf gleiche Währung lauten, tragen die Gläubiger der Banken das Risiko der Geldentwertung. Der Verlust der Banken besteht in diesem Fall in der Differenz zwischen der Zinsspanne und der Inflationsrate. Dieser reale Zinssatz war, wie bereits angedeutet, in einem hohen Ausmaß »negativ«. Seine Auswirkungen bildeten im Sommer 1923 den Gegenstand einer Erörterung im Administrationsrat des Wiener Bankverein, zu einem Zeitpunkt, als die Klagen über die hohen Bankkonditionen – man sprach von 20 bis 30 Prozent und mehr351 – die österreichische Öffentlichkeit 351 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 64.
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bewegten. »Kaufmannschaft und Industrie«, lautete die Rechtfertigung der Direktion der Bank, »vergessen nur allzugerne, was die Banken ihnen in den schwersten aller Zeiten geleistet haben […]. Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, daß die Banken mit ihrem Gelde und ihrem Kredit die Gesamtwirtschaft erhalten haben. Unsere Klientel hat von uns enorme Beträge in gutem Gelde erhalten, dieselben in ihren Unternehmungen sehr nutzbringend verwendet und sodann in immer mehr entwerteten Noten zurückgezahlt. An die hieraus für uns resultierenden Entwertungsdifferenzen reicht das Konditionenplus […] auch nicht annähernd heran«352.
Viel gefährlicher als die negative Zinsspanne im Inlandsgeschäft war das ungünstige Verhältnis von Kreditoren und Debitoren in fremder Währung, das Tabelle 30 entnommen werden kann. Diese enthält die Daten für die 12 größten Wiener Aktienbanken nach dem Stand von Anfang 1920. Tabelle 30 : Valuta-, Effekten- und Kronenpositionen von 12 Wiener Aktienbanken gegenüber Frankreich, England und den USA (Angaben jeweils in Mio., Stand Anfang 1920) Forderungen Schulden
Geld
Effekten (Kurswert)
Saldo
– 110,59
+ 34,42
+ 56,48
– 9,69
in engl. Pfund
– 5,95
+ 0,95
+ 3,40
– 1,60
in US-Dollar
– 2,08
+ 1,71
+ 7,26
+ 6,89
in österr. Kronen
– 188,26
+ 9,35
–
– 178,91
in franz. Franc
Quelle : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 48.058/1920.
Das Verhältnis der Fremdwährungskreditoren zu den -debitoren war also – vor allem angesichts des auch in den Kronenbeträgen versteckten, weiter oben bereits erwähnten Valorisierungsrisikos353 – in der Tat ungünstig. Gemäß den Bestimmungen des Friedensvertrages unterlagen die an das Ausland geschuldeten Kronenbeträge, soweit sie vor Kriegsausbruch zustandegekommen waren, der Valorisierung, sodass die Entwertung der inländischen Kronenkreditoren in der Entwertung der Kronendebitoren 352 BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1922. 353 Siehe Kapitel II-4, S. 75.
Die Geschäftspolitik der Wiener Großbanken in den Anfangsjahren der Republik
insgesamt »nur ein unvollkommenes Korrelat« fand354. Die Position der Wiener Banken war demnach am Ende der Inflationsperiode trotz der verschiedentlichen Vorsorgen, Reservestellungen und Arrangements mit ausländischen Gläubigern alles andere als konsolidiert. Der exakte Status der Institute lag im Dunklen und erst allmählich gelang es den Bankdirektoren, einen gewissen Überblick wiederzugewinnen. In der Inflationszeit hatten sich auch manche Bankiers von den ins Astronomische wachsenden Ziffern blenden lassen. 1923 war das erste Jahr, in dem das Geschäftsergebnis einen stabilen Kronenkurs reflektierte. Bei allen Banken zeigten sich ganz gewaltige Zuwachsraten bei allen Bilanzposten – dies, obwohl die Bilanzierungsmethoden der Inflationszeit in Bezug auf die Fremdwährungsdebitoren und -kreditoren im Allgemeinen beibehalten wurden. Von 1922 auf 1923 verdoppelte sich die kumulierte Bilanzsumme der sieben größten Wiener Aktienbanken ; auch die zusammengefasste Debitorensumme der Banken nahm um 100 Prozent zu355. Die ausgewiesenen Gewinne der vier größten österreichischen Banken (Creditanstalt, Boden-Credit-Anstalt, Bankverein und Escompte-Gesellschaft) stiegen noch viel stärker, nämlich um das Fünffache. Auf der anderen Seite machte sich im Jahr 1923 ein starkes Steigen der Gehalte und Spesen bemerkbar, insbesondere bei jenen Banken, die ihr Filialnetz in der Inflationszeit ausgeweitet und daher ein überdurchschnittliches Anwachsen der Zahl der Angestellten zu verzeichnen hatten356. Das ungünstige Verhältnis von Kosten und Gewinnen wurde 1923 noch einmal verschleiert durch die großen – und wie sich zeigen sollte – einmaligen Erträgnisse aus dem Effekten- und Konsortialgeschäft. Aber spätestens im nächsten Jahr war es offensichtlich, dass sich die Verhältnisse gegenüber der Vorkriegszeit drastisch geändert hatten. Die Boden-Credit-Anstalt, eine der angesehensten Wiener Banken, wäre im Jahr 1924 außerstande gewesen, die Bilanz mit einem Gewinn abzuschließen, wenn sie nicht zu einer Methode der Gewinnermittlung gegriffen hätte, die für die weitere Entwicklung der Bank verhängnisvoll und für die nähere Zukunft des österreichischen Bankwesens überhaupt symptomatisch werden sollte : Nach längeren Diskussionen wurde in der Direktion der Bank beschlossen, sogenannte »stille« Reserven zur Ausweisung eines Gewinnes heranzuziehen357. Auch die Verkehrsbank, eine der
354 Joham, Geld- und Kreditwesen in Österreich, S. 4. 355 Berechnet nach den Angaben des Compass, Jg. 1925. 356 Sowohl beim Bankverein als auch bei der Länderbank (Bilanz des österreichischen Geschäfts) überstiegen die Regien (Gehalte und Spesen) die Erträgnisse des laufenden Geschäfts (Zinsen- und Provisionsgewinne). Diese beiden Banken unterhielten ein besonders ausgedehntes Filialnetz. Siehe : Ebenda, S. 346 ff und 411 ff. 357 Siehe : BA, VSP-BCA vom 24. und 27. Februar sowie vom 25. Mai 1925.
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größten Wiener Mittelbanken, scheint ähnlich vorgegangen zu sein358. Eine Reihe anderer Kreditinstitute sollte, wie noch zu zeigen sein wird, das Geschäftsjahr 1924 überhaupt nicht überleben. Dies waren die ersten Anzeichen einer Krise des österreichischen Bankwesens, die durch Krieg, Zerfall der Monarchie und Geldentwertung ausgelöst worden war und nun vom latenten in ein manifestes Stadium einzutreten begann.
6. Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
Anfang Mai 1924 erfuhr, wie der »Österreichische Volkswirt« schrieb, »[d]er erstaunte Bürger […] eines Morgens, daß Wien um eine selbständige Großbank weniger zählte«359.
Die 1871 gegründete Allgemeine Depositenbank war infolge von Spekulationsverlusten einiger ihrer Großaktionäre in Schwierigkeiten geraten ; die Arbeitsplätze von 1.800 Bankangestellten waren bedroht. Nach dem fehlgeschlagenen Rettungsversuch eines Konsortiums, dem die fünf führenden Wiener Großbanken angehörten, wurde schließlich Ende Juni 1924 die Liquidation des Instituts eingeleitet360. Die Depositenbank war die größte und renommierteste Bank, die im Laufe dieses Jahres ihre Schalter schließen musste. Eine Reihe anderer meist kleinerer Bank- und Börsenfirmen teilte ihr Schicksal. Schon vor der Depositenbank waren die Allgemeine Industriebank und die Wiener Lombard- und Eskomptebank zusammengebrochen, desgleichen drei Privatbanken, die an der Wiener Börse eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hatten : Kalmar & Co, Kettner & Co sowie Brüder Nowak361. Den unmittelbaren Anlass zu dieser Kette von Bankzusammenbrüchen bildete die missglückte Spekulation gegen den französischen Franc, an der sich die Aktionäre und Kunden der Banken bzw. die Institute selbst beteiligt hatten. Wien war, wie 358 Siehe : BA, VSP-BCA vom 29. April 1925. Dort wird über Gespräche mit der Leitung der Verkehrsbank berichtet und festgehalten : »Die Bilanz [der Verkehrsbank, d. Verf.] pro 1924 ist fertig und hat einen nicht unbeträchtlichen Verlust ergeben.« In der veröffentlichten Bilanz wurde jedoch ein Gewinn ausgewiesen. Vgl. Compass, Jg. 1926, S. 435. 359 ÖVW, Aus der Woche, 19. Mai 1924, S. 967. 360 Compass, Jg. 1925, S. 384. Das Stützungskonsortium wurde am 5. Mai ins Leben gerufen und stellte am 24. Juni 1924 seine Tätigkeit ein, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Immobilisierung der Depositenbank größer war als ursprünglich angenommen. 361 ÖVW, Die Bilanzen, 19. April 1924, S. 219 f und 26. April 1924, S. 230 sowie 3. Mai 1924, S. 236.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
ein französischer Historiker nachgewiesen hat, eines der Zentren der internationalen Spekulation gegen die französische Währung362. In Österreich bildete die Frankenkontermine-Bewegung den unrühmlichen Schlusspunkt einer langen Serie der verschiedenartigsten Spekulationen. Diese begannen im Weltkrieg mit Güterhortung und Kettenhandel, d. h. mit der Einschaltung unnotwendiger Zwischenglieder in den Warenhandel, mit dem einzigen Zweck, Vermittlergewinne einzuheimsen und so die Waren weiter zu verteuern. Zu diesen Schwarz- und Graumarktgeschäften gesellte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Spekulation mit Devisen und Wertpapieren, wobei sich die Spekulanten die quasi-automatische Schuldentilgung durch die Geldentwertung zunutze machten, indem sie ihre Geschäfte mit Hilfe von Krediten finanzierten, die sie zu einem möglichst späten Zeitpunkt in entwertetem Geld zurückzahlten. Während in der Inflationszeit die Spekulation mit Devisen im Vordergrund stand, erreichte die Aktienspekulation ihren Höhepunkt erst nach der Stabilisierung der Krone, im Lauf des Jahres 1923. Das böse Ende der fast ein Dezennium dauernden Spekulationsära bildete die Baisse-Bewegung gegen den französischen Franc in den ersten Monaten des Jahres 1924. Mit der überraschenden Stabilisierung des Franc im März 1924 brach die Spekulation jählings zusammen. In der Periode der Geldentwertung vollzog sich der spektakuläre Aufstieg der »neuen Bourgeoisie«, einer zahlenmäßig kleinen Schicht von Neureichen, Schiebern und Spekulanten, die den Grundstein zur Aufhäufung ihrer Vermögen meist schon während des Ersten Weltkriegs gelegt hatten. Im Wirtschaftsleben vor 1914 hatten sie kaum eine Rolle gespielt. Eine kurze Schilderung des Werdeganges zweier dieser Männer, Sigmund Bosels und Camillo Castiglionis, soll die Umschichtung illustrieren, die sich innerhalb des bürgerlichen Lagers zwischen 1914 und 1924 vollzog363. Sigmund Bosel war der Sohn eines kleinen Wiener Tuchhändlers. Er stieg nach 1914 zum größten Textillieferanten des österreichischen Heeres auf und gründete nach dem Krieg ein eigenes Bankhaus, ehe ihm ein noch größerer Coup gelang : die Eroberung der Aktienmajorität der Unionbank, einer der zehn größten Banken Österreichs. Später unternahm Bosel, der neue Verwaltungsrats-Präsident der Unionbank, auch noch einen gleichgearteten Versuch der Einflussnahme auf die BodenCredit-Anstalt. Die Verwaltung der Großbank reagierte darauf mit einer überstürzten 362 Siehe : Debeir, S. 40 ff. 363 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf verschiedene kleine Meldungen und Artikel im ÖVW sowie auf : Ausch, S. 260 ff und 288 ff, Lewinsohn, S. 236 ff und – neu erschienen – Stiefel, Camillo Castiglioni oder Die Metaphysik der Haifische. Auch Karl Kraus widmete den beiden Männern wiederholt bittere und ironische Kommentare. Vgl. als ein Beispiel Kraus, Die Fackel, Nr. 632 (1923), S. 155 ff.
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Kapitalerhöhung. Die Neuemission wurde von einem Konzernunternehmen des Instituts, der Staatseisenbahn-Gesellschaft, provisorisch übernommen. Eine feste Placierung der Aktien erwies sich bis zum Ende der Bank im Jahr 1929 als unmöglich364. Über Bosels besonderes Verhältnis zur Postsparkasse wird anlässlich ihrer Sanierung im Jahr 1926 noch zu berichten sein. Camillo Castiglioni, der vielleicht erfolgreichste aller Spekulanten, war der Nachkomme einer alten Triestiner Familie. Vor dem Krieg hatte er sich im Wiener Autoreifenhandel und als Reisender im Orient betätigt, ehe er schließlich zum Direktor einer Gummiwaren- und Reifenfabrik avancierte. Während des Ersten Weltkriegs, in dem sich Castiglioni für die Einrichtung einer eigenen österreichischen Flugzeugfabrikation einsetzte, erwarb er große Aktienpakete der Austro-Daimler-Werke, der Österreichischen Fiatwerke und der Semperit AG. Nach 1919 betätigte er sich als Vermittler zwischen österreichischen und italienischen Kapitalgruppen und stand in einem besonderen Naheverhältnis zu den Fiatwerken und der Alpine Montangesellschaft. Im Dezember 1919 erwarb er von Karl Skoda dessen ansehnlichen Besitz an österreichischen Industrieaktien : Anteile der Daimlerwerke, der Fischerschen Weicheisen fabrik und der Pulverfabrik Skodawerke-Wetzler AG. Später arbeitete er bei der Alpine Montangesellschaft mit Hugo Stinnes zusammen – er erhielt den Posten eines Vizepräsidenten des Unternehmens – und dehnte seinen eigenen Wirkungskreis auch nach Ungarn aus. Wie Bosel unterhielt auch Camillo Castiglioni ein eigenes Bankhaus in Wien, ehe er sich der Allgemeinen Depositenbank zuwandte, zu deren Präsidenten er 1919 berufen wurde. Im Frühjahr 1922 wurde Castiglioni von anderen Inflationsgewinnern aus seiner dominierenden Stellung bei der Depositenbank gedrängt. Die Karriere all dieser »Neureichen« zeigt ein gemeinsames Muster : Ihr Aufstieg fiel in eine Zeit, als die Grenzen zwischen »normalen« Geschäften und Spekulationsgeschäften zu verschwimmen begannen – in die Periode der kriegsbedingten Mangelwirtschaft und der zwei- bzw. dreistelligen Inflationsraten365. Männer dieses Schlages verstanden es als Erste, sich die Gesetzmäßigkeiten der Geldentwertung zunutze zu machen, und wurden so gleichsam durch Schuldenmachen reich. Sie spekulierten mit 364 Siehe : Sieghart, S. 196 ; BA, NL/Stern, Stern-Gutachten. 365 Bezeichnend für die damaligen Geschäftsmethoden erscheint die Tatsache, dass 14.000 der insgesamt 15.000 Aktien der Hotel Panhans AG im Jahr 1923 in doppelter Ausführung vorhanden waren und zwei Spekulanten, den Brüdern Bronner, als Unterlage für Effektenkredite dienten. Siehe : ÖVW, Aus der Woche, 17. Mai 1924, S. 1000 f. Einer der beiden, Heinrich Bronner, unternahm damals auch einen vergeblichen Versuch, den führenden Einfluss des Hauses Rothschild bei der Creditanstalt zu brechen, indem er ein großes Aktienpaket der Bank von einem rumänischen Spekulanten namens Emil Cyprut erwarb. Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 469 ; Lewinsohn, S. 249 ; BA, VWP-CA vom 5. Juli 1923.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
dem Kredit der Banken, in deren Verwaltung sie durch den Kauf größerer Aktien pakete kooptiert worden waren366. Bosel wusste sich bei seinen Transaktionen der Mithilfe der Postsparkasse zu versichern, die ihm die nötigen Gelder leihweise überließ. Bezeichnenderweise verfügte diese »neue Bourgeoisie« auch zu staatlichen Stellen, öffentlichen Institutionen und politischen Parteien über die besten Beziehungen, die ihnen – insbesondere nach dem Ende der Spekulationsära – zugute kamen : Weder Bosel noch Castiglioni wurden zur Rechenschaft gezogen ; nur ein anderer prominenter Inflationsgewinner, Sami Bronner, wurde im Mai 1927 wegen fahrlässiger Krida zu drei Monaten strengen Arrests verurteilt367. Der Aufstieg dieser nouveaux riches ist durchaus vergleichbar mit jenem der sogenannten »Oligarchen« nach dem Ende des realsozialistischen Systems in Russland. Karl Kraus nennt auch andere Namen. »Neben Castiglioni und Bosel«, schrieb er in der »Fackel«, »verblassen die übrigen jungen Reichen, die Ehrenfests und Regendanz [zwei Direktoren der Creditanstalt, d. Verf.], die angeblich reichsten Bankdirektoren, die Kuffners und Kufflers, die reichen Kaufleute, die Hafner und Cypruts, die großen Spekulanten.«368 Die großen Spekulanten bildeten bloß die Spitze eines sozialen Eisberges. Der Zusammenbruch ihrer Finanzimperien erregte wohl das größte Aufsehen, aber die ersten Skandale, die ans Tageslicht kamen, betrafen Kleinbanken bzw. einige der Öffentlichkeit kaum bekannte Mitarbeiter verschiedener Kreditinstitute. So berichtete der »Österreichische Volkswirt« bereits am 3. März 1923, also noch vor Beginn der großen Aktienhausse, von einer Häufung der Bank- und Börsenskandale im Gefolge der Währungsstabilisierung. »Dabei muß man sich eigentlich wundern«, schrieb Walther Federn in diesem Zusammenhang, »daß sich bisher nicht viel mehr ereignet hat als Defraudationen und Betrügereien von Leitern von Zwergbanken, von Schwindlern, die sich […] in die Beamtenschaft älterer Banken einzuschleichen wußten, und die Zusammenbrüche einiger kleiner Börsen firmen.«369 366 So stellte der »Volkswirt« schon anlässlich des Zusammenbruchs der Kontinentalen Bank, einer kleinen Aktienbank, im Frühjahr 1923 fest, es gäbe wenige Geschädigte, »da ja im wesentlichen die Bank nur Geschäfte mit und für ihre Verwaltungsratsmitglieder, Direktoren und Oberbeamten gemacht hat«. f., Sanierung der kleinen Banken, S. 821. 367 Der Gerechtigkeit halber sei jedoch vermerkt, dass es sich bei den großen Spekulanten nicht, wie die zeitgenössischen – und meist antisemitisch gefärbten – Vorurteile lauteten, um perfide und kulturlose »Verbrecher« handelte. Bosel zum Beispiel stellte im Winter 1923/24, als die finanzielle Lage der Wiener Universität besonders beengt war, über eine Million Goldkronen zur Sanierung von Universitätsinstituten zur Verfügung ; Castiglioni finanzierte die Renovierung des Theaters an der Wien. 368 Kraus, Die Fackel, Nr. 632 (1923), S. 157. 369 f., Bankskandale, S. 560.
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Die Börsenhausse des Jahres 1923 zögerte die Reinigungskrise im Spekulationsmilieu um ein ganzes Jahr hinaus, um dann mit umso größerer Vehemenz hereinzubrechen. Die Teilnehmer am spekulativen Treiben kamen, wie ein englischer Beobachter feststellte, »aus allen Klassen der Gesellschaft«370. Je mehr sich die Inflationsmentalität in der Bevölkerung verallgemeinerte, desto breiter wurde der Kreis derer, die sich am Börsenspiel (bzw. in manchen Zeitabschnitten der Inflationsphase am Schwarzmarkthandel in Devisen und Valuten) beteiligten. Die Zahl der ausgegebenen Börsenkarten stieg, um nur einen Indikator zu nennen, von 842 im Jahr 1913 auf fast 1.900 im Jahr 1923371. Daneben gab es viele, die über diverse Vermittler am Spekulationsgeschehen teilnahmen. Auch der »alte« Mittelstand erwies sich als empfänglich für das Spekulationsabenteuer. Die meisten der kleinen Geschäftsleute, Beamten und Angestellten, die dem Spekulationsfieber verfielen, zählten zu den großen Verlierern der Geldentwertung und versuchten, da sie den gewohnten Lebensstil beibehalten wollten, ihr Einkommen auf diese unorthodoxe Weise aufzubessern372. Eine weitere neuartige Form der Bereicherung bildete die Übernahme von Verwaltungsratsfunktionen bei neuen Aktienbanken durch Vertreter der staatlichen Bürokratie, durch ehemalige Minister und andere einflussreiche Persönlichkeiten, manchmal sogar durch den Übertritt dieser Männer in die Direktion der neuen Institute373. Die Nennung der Namen Bosel, Bronner und Castiglioni soll keineswegs den Eindruck vermitteln, dass nur Angehörige der jüdischen Minorität zu jenen zählten, die sich durch die Inflation bereicherten. Mindestens ebenso repräsentativ war das »arische« oder »bodenständige« Element im Spekulantenmilieu vertreten : Die Postsparkasse beispielsweise verlor dreimal so viel an den eigenen Aktien- und Francspekulationen, als sie aus ihrer Verbindung mit Sigmund Bosel abschreiben musste374. In einer Zeit der »Flucht in die Sachwerte« konnten die Aktien, die ja »Sachwerte« – Rohstoffe, Maschinen, Gebäude und Grundbesitz – repräsentieren, vom allgemeinen Spekulationstaumel kaum ausgenommen bleiben. Im Ersten Weltkrieg waren dem Wertpapierhandel lange Zeit hindurch institutionelle Hindernisse im Weg gestan370 Phillpotts, S. 27. 371 Sokal, Die Banken, S. 31. 372 Einen ausgezeichneten Überblick bietet : Bunzel, Geldentwertung und Stabilisierung in ihren Einflüssen auf die soziale Entwicklung in Österreich. 373 Siehe : Scheffer, S. 397 f. Eine von sozialdemokratischer Seite zusammengestellte Kompilation enthält die Namen von über vierzig aktiven höheren Beamten des Finanzministeriums, die Funktionen bei Banken übernommen hatten. ÖStA/AVA-FHKA, SDPK, Karton 115 : »Danneberg«. 374 Ausch, S. 294 f.
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den375. Nach der Kriegserklärung an Serbien war die Börse für unbestimmte Zeit geschlossen und erst im Frühjahr 1916 wieder eröffnet worden. Die offizielle Wiederaufnahme des Börsengeschäfts erfolgte unter dem Eindruck einer unkontrollierten und immer größere Ausmaße annehmenden Aktienspekulation, die sich in Kaffeehäusern und Winkelbanken (bzw. in zu Winkelbanken umfunktionierten Cafés) rings um die Börse breitzumachen begann. Bereits die Aktienhausse im Weltkrieg war Ausdruck der »Flucht in die Sachwerte«, wie Walther Federn im Sommer 1915 feststellte : »Diejenigen, welche heute Aktien kaufen, tun es zum größten Teil deshalb, weil sie bei der fortschreitenden Teuerung lieber an Unternehmungen beteiligt sind, welche Warenvorräte haben oder Waren erzeugen, als daß sie bares Geld haben, dessen Kaufkraft im Laufe des Krieges so sehr abgenommen hat.«376
Die Niederlage der Mittelmächte, der Zerfall der Monarchie, die sozialrevolutionäre Unrast und die daraus resultierende Sozialisierungsdebatte des ersten Halbjahres 1919 ließen die Aktienspekulation vorübergehend erlahmen377, ehe sie von neuem und mit umso größerer Vehemenz wieder einsetzte : Von der zweiten Hälfte des Jahres 1919 an setzte eine Aufwärtsbewegung an der Wiener Börse ein, die bis zur Jahreswende 1923/24 andauerte und nur zeitweise verebbte bzw. von kurzen Kurseinbußen unterbrochen wurde. Charakteristischerweise kam es immer dann zu einem Sinken der Aktienkurse, wenn die Notierung der Krone eine Tendenz zum Besseren zeigte378. Eine Sonderentwicklung bahnte sich nach dem November 1918, als der Wertverfall der Krone auch auf den ausländischen Devisenmärkten immer sichtbarer wurde, bei den sogenannten »Valutapapieren« an. Die Kurse von Aktien insbesondere tschechoslowakischer Unternehmen wiesen eine auffallend steigende Tendenz auf, da die Nachfrage nach diesen Wertpapieren überdurchschnittlich stark zunahm379. Die 375 Siehe dazu und zum Folgenden : Müller, S. 80 ff sowie März, Österreichische Bankpolitik, S. 155 f und 217 ff. 376 Federn, Die Kurssteigerung auf dem Effektenmarkt, S. 772. 377 So notierten die Aktien der Alpine Montangesellschaft Ende 1918 790 Kronen gegenüber 1.092 zu Jahresanfang. Im März 1919 war der Kurs auf 900 Kronen angestiegen und fiel dann im Gefolge der Sozialisierungsdiskussion auf einen Tiefstand von 525 Kronen am 5. Mai. Ende August war der Kurs wieder auf 1.265 gestiegen, erreichte Anfang November 1.700 und machte zu Ende des Jahres 1919 3.600 Kronen aus. Quellen : NFP, 19. August 1919, S. 10 ; Compass, Jg. 1921, S. 528 ; ÖStA/ AdR/BMF, Zl. 62.341 und 82.569/1919. 378 W.F., Finanzpolitik und Börsespekulation, S. 27. 379 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1919 und 1920, S. 757 ; ders., Die Tätigkeit […] 1921 und 1922, S. 485.
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»Valutaeffekten« sollen aber aus den folgenden Ausführungen weitgehend ausgeklammert bleiben ; unser hauptsächliches Interesse konzentriert sich auf die Anteilsscheine von Unternehmen, die ihren Sitz in Österreich hatten. Die Periode der Wertpapierspekulation in Österreich von Mitte 1919380 bis Ende 1923 kann in drei unterschiedliche Phasen unterteilt werden. Die erste dauerte bis zum Sommer 1921 ; sie deckte sich mit der Zeit der »trabenden« Inflation. In diesem Zeitraum gab es keinen engen Zusammenhang zwischen der Entwertung der Krone im Inland und auf den ausländischen Märkten (siehe Diagramm 1, Kapitel II-1, S. 23). Die Krone war gegenüber den ausländischen Währungen immer wieder gestiegen und diese Tatsache gab auch der Effektenspekulation der ersten Phase ihr spezifisches Gepräge : Die Spekulanten gingen in diesem Stadium der Inflation noch von der Annahme einer – zumindest partiellen – Wiederaufwertung der Krone aus. Dieses Verhalten kann sehr klar am Beispiel der Kronenbeschaffungsaktion einer bayerischen Bank in Verbindung mit dem Projekt einer Bankgründung in Salzburg studiert werden : Im Herbst 1920 war von der Direktion der Bayerischen Hypothekenund Wechselbank der Beschluss gefasst worden, eine Bank in Westösterreich zu gründen. Während die Verhandlungen mit verschiedenen österreichischen Interessenten und Behörden liefen, wurden auch finanzielle Vorbereitungen für die Bankgründung getroffen, und das Münchner Institut kaufte in der ersten Jahreshälfte 1921 sukzessive größere Beträge in österreichischen Kronen an. Die Weisungen zum Kronenkauf erfolgten bemerkenswerterweise immer zu jenen Zeitpunkten, in denen die österreichische Währung einem besonders scharfen Wertverfall unterlag. In den Büchern der Bayerischen Hypothekenbank waren jedoch die Kronen zu einem Kurs bewertet, der jenem vom April 1919, dem Zeitpunkt der Währungstrennung, entsprach. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass die Bank mit einem Wiederanstieg des Kronenkurses auf zumindest diesen Wert rechnete381. Die wechselhafte Währungssituation während der Periode bis zum Sommer 1921 bestimmte auch den Rhythmus der Effektenspekulation : Sobald sich die Krone erholte, verkauften die Spekulanten Aktien, um nicht in die unangenehme Lage zu geraten, die Rechnung für die auf Kredit und Termin gekauften Aktien in teurem Geld begleichen zu müssen. Auf der anderen Seite wurde in Phasen der Kursbesserung der Krone immer wieder die Beobachtung gemacht, dass österreichische Staatspapiere – 380 Die Zeit von November 1918 bis Sommer 1919 bleibt wegen der quasi »politischen« Kursbildung außerhalb unserer Betrachtung. 381 Siehe dazu : Natmeßnig/Weber, Die österreichischen Provinzbanken in den 1920er-Jahren, S. 101– 142.
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sehr oft von Ausländern – in der Erwartung erworben wurden, Zinsen in aufgewerteter Währung lukrieren zu können382. Das genaue Ausmaß der Kursschwankungen auf dem Effektenmarkt könnte nur in mühevoller Kleinarbeit rekonstruiert werden. Denn ein verlässlicher Aktienindex des Statistischen Zentralamtes steht erst von Jänner 1922 an zur Verfügung. Er basiert auf den Kursen von 77 österreichischen Aktiengesellschaften, die bereits 1913 existiert hatten383. Für die Jahre bis zu diesem Zeitpunkt haben wir einen eigenen Aktienindex auf der Grundlage einer repräsentativen Auswahl von dreißig Gesellschaften konstruiert, deren Aktienkurse in den verschiedenen Bänden des »Compass« angeführt werden. Allerdings existieren solche Daten in den meisten Jahren nur für das Jahresende ; nur für den Herbst der Jahre 1917 und 1921 verfügen wir aufgrund der Angaben des Bankiers Emil Wachtel384 bzw. von Moriz Dub385 über detaillierte Kenntnisse der Kursentwicklung. Das Ergebnis unserer Berechnungen ist im Diagramm 5 wiedergegeben. Aus diesem Schaubild ist zu ersehen, dass die Kursbildung am Aktienmarkt der Geldentwertung zwar in der Grundtendenz folgte, dass die Aktienkurse aber bei Weitem nicht in dem Maße anzogen, als der Wertverfall des Geldes voranschritt. Ein genügend großer Spielraum für spekulative Kursbewegungen auf dem Aktienmarkt war also vorhanden. Im Juli 1921 fasste die Direktion der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Transaktion den Beschluss, in ihren Büchern Verlustabschreibungen an den erworbenen Kronen vorzunehmen386. Sie folgte damit dem Beispiel anderer ausländischer Besitzer von Kronenguthaben, die nach dem Scheitern der Kreditbemühungen Österreichs beim Völkerbund die Hoffnung auf eine Kurssteigerung der Krone aufgegeben hatten. Die Spekulanten versuchten nun, ihre Kronenbestände möglichst rasch abzustoßen. Die Flucht aus der Krone nahm mit dem Einsetzen der Hyperinflation im Herbst 1922 einen immer hektischeren Charakter an. Die Reaktion der Börse auf diese Entwicklung bestand in einer wilden Aufwärtsbewegung der Kurse, die schon von den Zeitgenossen mit dem kontradiktorischen Begriff der »Katastrophenhausse«387 gekennzeichnet worden ist. Ganz offensichtlich orientierten sich, wie aus Diagramm 1 (Kapitel II-1, S. 23) ersehen werden kann, sowohl das Preisniveau als 382 Vgl. Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1919 und 1920, S. 758 ff. 383 Siehe : Statistische Nachrichten, 3. Jg. (1925), S. 4. 384 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 219 f. 385 Siehe : Dub, S. 10 f. 386 Weber, Zwischen »Anschluß«-Ambition und ökonomischem Kalkül, S. 197 f. 387 Siehe auch : f., Die Geldknappheit, S. 493.
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auch die Kurse am Aktienmarkt an der Notierung der Golddevisen (US-Dollar oder Schweizer Franken). Nach der Stabilisierung der österreichischen Währung wurde ein so großer Kurseinbruch an der Aktienbörse erwartet, dass sich die Großbanken präventiv zur Bildung eines Stützungskonsortiums entschlossen388. Aber wenige Monate später, im Februar 388 BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, DBP-WBV vom 29. Dezember 1922 und VWP-CA vom 3. Jänner 1923. Der ÖVW berichtete von einem »bedeutenden Fonds für Interventionen«, den die Großbanken für den Eventualfall zur Verfügung gestellt hatten. ÖVW, Die Bilanzen, 2. Dezember 1922, S. 65.
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und März 1923, setzte eine neue Aufwärtsbewegung der Aktienkurse ein, die ihren Ausgang von den Bankaktien nahm389. Diese dritte und letzte Periode der Spekulation wurde von den Zeitgenossen als »Aufwertungshausse« charakterisiert390. Aus der Tat sache, dass der durchschnittliche Kurs der österreichischen Aktien mit der Geldentwertung nicht Schritt gehalten hatte, wurde der Schluss gezogen, dass sie unterbewertet seien und daher »aufgewertet« werden müssten. Man führte in diesem Zusammenhang die sogenannte »Substanzwert-Theorie« ins Treffen, derzufolge für die Beurteilung des Wertes einer Aktie nicht der gegenwärtige oder zukünftige Ertrag als maßgebend anzusehen war, sondern deren sogenannter »innerer Wert«. Der Präsident der Boden-Credit- Anstalt, Rudolf Sieghart, drückte diese Auffassung mit den Worten aus : »[Z]iffernmäßig betrachtet, macht […] das Aktienkapital der […] Unternehmungen heute ein Vielfaches der Vorkriegszeit aus. Rechnet man jedoch das Aktienkapital der Gesellschaften auf Gold um und setzt man das so errechnete Aktienkapital in ein Verhältnis zu den effektiv vorhandenen, in den Bilanzen meist auf einige wenige Millionen Papierkronen abgeschriebenen goldhältigen Substanzwerten, über welche die Gesellschaften verfügen, so ergibt sich ein Verhältnis zwischen Substanz und Aktienkapital, das in der Regel als ungemein günstig bezeichnet werden muß.«391
Siegharts Ausführungen, die im Verwaltungsrat der Boden-Credit-Anstalt ohne Widerrede blieben, dürften einer weit verbreiteten Auffassung in Bankkreisen und in der österreichischen Öffentlichkeit entsprochen haben. Schon im Herbst 1921 hatte der damalige Finanzminister Alfred Gürtler öffentlich eine Unterbewertung der Aktien konstatiert und – mit dem Hinweis auf den angeblichen hohen »Substanzwert« – den Kauf von Wertpapieren dringend empfohlen392. Nur der »Österreichische Volkswirt« bewahrte zur Substanzwert-Theorie eine dezidiert kritische Distanz393, wiewohl auch seine Herausgeber von der Annahme einer gewissen, wenn auch keineswegs erheb lichen Unterbewertung der österreichischen Aktien ausgingen394. 389 Die Hausse der Bankaktien : ÖVW, Die Bilanzen, 7. April 1923, S. 209 f, weiters : 3. Februar 1923, S. 134 und 10. Februar 1923, S. 143 sowie 24. März 1923, S. 161 und 31. März 1923, S. 201. 390 Das Wirtschaftsjahr 1923, Statistische Nachrichten, 2. Jg. (1924), S. 2. 391 BA, VWP-BCA vom 17. April 1923. 392 Vgl. W.F., Finanzpolitik und Börsespekulation, S. 198 f. 393 In dem bereits zitierten Artikel »Finanzpolitik und Börsespekulation« hatte Federn (S. 198) darauf aufmerksam gemacht, dass die Unterbewertung der Aktien nur bei steigenden Devisenkursen gegeben sei : »Wie sieht es dann mit dem Substanzwert aus«, fragte Federn, »der ja nur in ganz entwerteten Kronen unterbewertet sein mag, aber im Augenblick überbewertet wäre, wenn sich dieser Kronenkurs nur in etwas erheblicherem Maße hebt ?« 394 Dies geht implizit aus der Bemerkung Gustav Stolpers im August 1923 hervor, dass die Börsenkurse
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Der Meinung des »Volkswirt« scheint auch einer der führenden Verwaltungsräte der Boden-Credit-Anstalt, der Vorsitzende der Verwaltungskommission der Österreichischen Bundesbahnen, Georg Günther, zugeneigt gewesen zu sein. Er erklärte nämlich in der Bilanzsitzung des Verwaltungsgremiums der Bank, die im Zeichen der Börsenkrise zu Ende Mai 1924 zusammengetreten war, dass, »wer auf einem Seile tanze, […] sich über den Sturz in die Tiefe nicht wundern [dürfe]. Die Entwicklung der Kurse an der Wiener Börse […] entstammt einer Zeit, wo jedermann sich auf Substanzwerte gestürzt hat und die Aktien einseitig nach diesem Kriterium einschätzte, ohne zu berücksichtigen, daß Effekten nur dann einen Wert haben, wenn sie auch ein entsprechendes Erträgnis liefern. Diese Diskrepanz zwischen Substanz- und Ertragswerten habe Verhältnisse gezeitigt, welche unmöglich von langer Dauer sein konnten.«395
Substanzwertähnliche »Theorien« pflegen bis in die jüngste Vergangenheit (siehe die Dotcom-Blase der 90er-Jahre) in Zeiten spekulativer Übertreibungen immer wieder aufzutauchen. Wir haben weiter oben festgestellt, dass die Aktienkurse der Entwertung der Krone anfangs nur mit großer Verzögerung nachfolgten. Während die Binnenkaufkraft der Krone bis zum Ende der Hyperinflation im September 1922 auf den 14.150sten Teil des Vorkriegsniveaus gesunken und der Wert des österreichischen Geldes gegenüber den Goldwährungen auf ein 14.400stel gefallen war, hatte der Aktienindex an der Wiener Börse erst den Wert von 502 (1. Halbjahr 1914 = 1) erreicht. Vom März 1923 an zeigten die Aktienkurse eine stark steigende Tendenz (siehe Tabelle 31) ; sie erreichten im Jänner 1924 mit 2.680 ihren Höhepunkt. Februar und März zeigten eine leicht fallende Tendenz, ehe die missglückte Francspekulation das fragil gewordene Kursgebäude zum Einsturz brachte : Bis Mitte Juli 1924 sank das Kursniveau gegenüber dem Höchststand um über 57 % ab396. Von diesem Kurseinbruch sollte sich die Wiener Börse in den 20er-Jahren nie wieder erholen.
zum Teil bereits »über das vernünftige Niveau« hinausgetrieben worden seien. st., Auslandskapital und Börse, S. 1261. 395 BA, VWP-BCA vom 24. Mai 1924. 396 Vgl. dazu auch Ausch, S. 120 ff.
123
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
Tabelle 31 : Aktienkursentwicklung an der Wiener Börse 1922–1924 (Monatsendstände, Index 1. Halbjahr 1914 = 1) Aktienkurse
Monat
Aktienkurse
September 1922
502
September
2.540
November
800
November
2.336
Dezember
720
Dezember
2.586
März 1923
882
Jänner 1924
2.680
April
1.176
Februar
2.474
Mai
1.284
März
2.367
Juni
1.479
April*
1.724
Juli
2.214
Mai
1.509
August
2.292
Juli*
1.141
* Monatsmitte. Quelle : Statistische Nachrichten, Jg. 1925, S. 4.
Die Entwicklung der Aktienkurse der einzelnen Unternehmen, aber auch einzelner Branchen, verlief erstaunlich uneinheitlich, wie Tabelle 32 zeigt. Tabelle 32 : Höhepunkte der Kursentwicklung einzelner österreichischer Aktienkategorien in den Jahren 1923/24 (Index Juli 1914 = 1) Höchster Kurs Banken Elektrizität Maschinen- und Waggonbau
Datum (jeweils 15. des Monats)
605
Februar 1924
822
Jänner 1924
1.720
”
Eisen- und Metallindustrie
1.872
Transportunternehmen
1.900
September 1923
Brauereien
3.084
Jänner 1924
Bau- und Baumaterialindustrie
3.550
”
3 884
Oktober 1923
Papier- und Druckindustrie Bergwerke
40.249
”
September 1923
GESAMTINDEX
2.680
Jänner 1924
Gesamtindex ohne Bergwerksunternehmen
1.799
”
Quelle : Statistische Nachrichten, Jg. 1924, S. 3 und Jg. 1925, S. 4.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Die großen Differenzen in der Kursentwicklung der einzelnen Aktienkategorien mögen auf den ersten Blick überraschen. Die unterschiedliche Bewertung scheint jedoch dem Grad der Verwässerung des Aktienkapitals der Unternehmen – ein Phänomen, das insbesondere in den Jahren nach 1920 in Erscheinung trat – Rechnung getragen zu haben : Die Aktienkurse der Bergwerksunternehmen, die ihr Kapital im Allgemeinen nach 1914 nicht erhöht hatten, notierten an der Börse mit den höchsten Werten. Die Indexziffer von über 40.000 (Juli 1914 = 1), die am Höhepunkt der Aktienspekulation für Bergwerkspapiere erreicht wurde, gibt einen Einblick in den irrationalen Charakter der Spekulation, die gelegentlich weit über die angeblichen »Goldwerte« oder »Substanzwerte« der Aktien hinausschoss. Der innere Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Kapitalverwässerung und der Bewertung der Aktien an der Börse kann durch statistische Evidenz untermauert werden : Tabelle 33 zeigt diesen Konnex anhand des Kursverhaltens einzelner ausgewählter Unternehmungen ; aus Tabelle 34 geht hervor, dass die Aktien jener Firmen am höchsten bewertet wurden, die über eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Anteilsscheinen verfügten und ihr Kapital, wie angenommen werden kann, in relativ geringem Ausmaß verwässert hatten : Unter den 46 österreichischen Aktiengesellschaften, deren Aktien im Februar 1924 mit über 1 Mio. Kronen (pro Stück) notierten, befand sich nicht eine einzige, deren Kapital auf mehr als 500.000 Aktien aufgeteilt war. Je größer die Anzahl der Aktien eines Unternehmens, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Wertpapier zu den »Spitzenreitern« an der Börse zählte397. Die »Aufwertungshausse« bildete die Fortsetzung der von der Inflation emporgetragenen Spekulation mit anderen Mitteln : Die Inflations- und Spekulationsmentalität war zunächst noch ungebrochen und das Vertrauen in eine endgültige Rückkehr zu stabilen Verhältnissen gering398. Die österreichische (und internationale) Spekulation wartete geradezu auf jede sich bietende Gelegenheit, ihre Aktivität in größerem Umfang wieder aufnehmen zu können. 397 Eine charakteristische Reaktion der Spekulation konnte zu Beginn des Jahres 1923 beobachtet werden : Allein das Gerücht, dass die Alpine Montangesellschaft eine neuerliche Kapitalerhöhung plane, reichte aus, um den Kurs der Alpine-Aktien fühlbar nach unten zu drücken. Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 3. Februar 1923, S. 134. 398 Noch im Sommer 1924 sprach sich Finanzminister Kienböck gegen die zur Erleichterung des Zahlungsverkehrs intendierte Ausgabe von l-Mio.-Kronen-Noten mit dem Argument aus, es »sei die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, dass die Ausgabe von Banknoten zu 1 Million Kronen gerade jetzt – in einer Zeit steigender Teuerung – von der Bevölkerung missdeutet und als Anzeichen einer neuen Inflationsperiode ausgelegt werden könnte«. ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 341 vom 30. August 1924.
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Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
Tabelle 33 : Aktienanzahl einiger ausgewählter österreichischer Unternehmen 1914 und 1923 sowie höchste Börsennotierung 1923/24 Aktienanzahl
Börsenhöchst kurse 1923/24 (Index 1914 = 1)
1914
1923
Vervielfachung 1923 gegen 1914
Steiermärkische Escompte- Bank
35.000
2.500.000
x 71,0
105
Bank für Oberösterreich und Salzburg Depositenbank Boden-Credit-Anstalt Wiener Bankverein Nö. Escompte-Gesellschaft Creditanstalt Alpine Montan-Gesellschaft 1. DDSG St. Egyder Eisen- und Stahl-industrie AG Veitscher Magnesit
15.000
2.000.000
x 133,0
140
82.000 180.000 375.000 250.000 469.000 360.000 57.600 20.000
7.500.000 3.600.000 6.000.000 3.125.000 6.250.000 3.000.000 218.250 20.000
x 91,0 x 20,0 x 16,0 x 12,5 x 13,0 x 8,5 x 3,8 –
255 560 620 675 760 860 2.900 16.300
20.000
20.000
–
49.900
Quelle : Compass, Jg. 1915, Bd. 2 und Jg. 1925.
Tabelle 34 : Aktienanzahl und Börsennotierung von 140 österreichischen Unternehmen (Ende Februar 1924)
Aktienanzahl
Anzahl der Unternehmen mit einer Kursnotierung (pro Aktie) von
Gesamt
unter 1 Mio. K
über 1 Mio. K
bis 10.000
1
12
13
bis 20.000
2
20
23
10.000–20.000 20.000–50.000 20.000–100.000 50.000–100.000 100.000–300.000 300.000–500.000 über 500.000
3 9 29 20 30 32 81
8 6 19 13 6 1 –
10 15 48 33 36 33 81
Insgesamt
175
46
221
Quelle : Statistische Nachrichten, 2. Jg., 1924, S. 156.
126
Zerfall der Monarchie und Inflation
Die unmittelbare Reaktion auf die Stabilisierung der Krone bestand in einer Flucht aus den Sachwerten, in der Lösung großer spekulativer Positionen in Devisen, Wertpapieren und Waren399. Zu dieser »Enthortung« trug die restriktive Politik der Nationalbank nicht unwesentlich bei, die viele Unternehmen zwang, zur Behebung ihrer Liquiditätsprobleme vor allem Wertpapiere zu verkaufen400. Das Vertrauen in die Stabilität der Krone und in das Gelingen des Völkerbund-Sanierungswerkes war jedoch noch so gering, dass jede neue internationale Konstellation, die das Genfer Reformprogramm in Frage zu stellen schien, prompte Reaktionen der Spekulation hervorrief. Da der freie Devisenhandel unterbunden war, kam es zu heftigen Kurssteigerungen an der Wiener Aktienbörse, also zu einer neuerlichen Flucht in leicht transferierbare Sachwerte : So führten Gerüchte über einen Sieg der faschistischen Bewegung in Italien und ein daraus abgeleitetes mögliches Misslingen der Völkerbundaktion zu verstärkten Käufen am Wertpapiermarkt401 ; auch das Scheitern der Pariser Konferenz über die deutsche Reparationsfrage zu Anfang des Jahres 1923 rief einen heftigen Ausschlag an der Wiener Börse hervor402. Umgekehrt bewirkte jede günstige Nachricht aus Genf sofort eine »intensive Verflauung« der Börsenkurse, wie es im Börsenjargon damals hieß403. Fortschritte bei den Kreditverhandlungen veranlassten die Spekulanten zu Verkäufen, »weil damit die Gefahr, daß die Krone wieder ins Weichen komme, beseitigt würde«404. Eine ähnlich dämpfende Wirkung auf das Börsenleben rief die offizielle Erklärung der Regierung hervor, in Zukunft auf die Inanspruchnahme der Notenpresse für Staatszwecke zu verzichten405. Die große Mehrheit der Wiener Spekulanten scheint jedoch ihr Hauptquartier nach der Stabilisierung der Krone im September 1922 – zumindest vorübergehend – nach Berlin verlegt zu haben. Denn im Herbst dieses Jahres bahnte sich in Deutschland eine Entwicklung an, wie sie Österreich kurze Zeit zuvor erlebt hatte : der Eintritt in die Phase der Hyperinflation und des rasanten Währungsverfalls. Im Februar 1923 berichtete Walther Federn im »Volkswirt« von der 399 f., Die Geldknappheit, S. 493. 400 Neue Kapitalerhöhungen : ÖVW, Die Bilanzen, 23. September 1922, S. 318. 401 ÖVW, Die Bilanzen, 4. November 1922, S. 34. 402 Insbesondere die Nachfrage nach sogenannten »Valutapapieren« stieg vorübergehend sprunghaft an, was aus der folgenden Notierung der Anglobank-Aktien innerhalb einer Woche ersehen werden kann : 125.000, 200.000, 154.000, 175.000 Kronen. Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 3. November 1923, S. 111, weiters : 20. Jänner 1923, S. 119 und 27. Jänner 1923, S. 126. 403 ÖVW, Die Bilanzen, 25. November 1922, S. 58 wie auch 7. Oktober 1922, S. 5. 404 ÖVW, Die Bilanzen, 3. Februar 1923, S. 134. 405 ÖVW, Die Bilanzen, 25. November 1922, S. 58.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
»ungeheure[n] spekulative[n] Betätigung des Wiener Marktes in Deutschland, wo man Wertpapiere, Waren, Häuser in größtem Umfange erwarb und noch erwirbt, und sich an dortigen Unternehmungen, auch Banken, dauernd beteiligt«406.
Es wurde sogar angenommen, »daß der Anstoß zu der explosiven Haussebewegung in Berlin von Wiener Spekulanten ausgegangen sei, die ihr Tätigkeitsfeld und ihren Wohnsitz vorläufig von Wien nach Berlin verlegt haben. Aber auch die in Wien verbliebenen Bankiers und Spekulanten scheinen in immer stärkerem Maße die Bewegung in Berlin mitzumachen. Deutsche Effekten werden unausgesetzt für Wiener Rechnung in großen Posten gekauft […]«407.
Von der nach Berlin weitergewanderten Spekulation scheint auch die Aktienhaussebewegung an der Wiener Börse im Jahr 1923 initiiert worden zu sein : Im Dezember 1922 konstatierte man zum ersten Mal ein gesteigertes Interesse an österreichischen Bankaktien in der deutschen Hauptstadt, insbesondere an den Anteilsscheinen der Creditanstalt408, und im Februar 1923 berichtete der Börsenkommentator des »Österreichischen Volkswirt« über eine »von Berlin ausgehende Festigkeit der Bankaktien«409, die in einem scharfen Kontrast zu Kursrückgängen bei anderen Aktienkategorien stand. Wenig später konnte man eine regelrechte Hausse in Bankaktien beobachten, wobei bereits im Anfangsstadium dieser Aufwärtsbewegung der Kurse beträchtliche Käufe des Auslandes eine wichtige Rolle spielten410. Die Beteiligung der ausländischen Spekulation an der Börsenbewegung in Wien stellte kein neues Phänomen dar. Schon die Spekulation gegen die Krone während der Periode der Geldentwertung war in beträchtlichem Maße von ausländischen Börsenspielern mitgetragen worden. Im September 1922 berichtete der »Österreichische Volkswirt« rückblickend, dass während der sogenannten »Katastrophenhausse« in den letzten Monaten der Hyperinflation an der Wertpapierbörse Ausländer »ständig als Käufer im Markt« gewesen seien411. Nach der Stabilisierung der Krone scheint das 406 f., Die Geldknappheit, S. 494. 407 ÖVW, Die Bilanzen, 11. November 1922, S. 43. 408 Am 16. Dezember 1922 berichtete der ÖVW, Die Bilanzen, S. 81 : »Es scheint, daß dort [in Berlin, d. Verf.] die niedrigen Kurse unserer Bankaktien […] das Interesse der deutschen Märkte wachgerufen haben.« 409 ÖVW, Die Bilanzen, 3. Februar 1923, S. 134 wie auch 10. Februar 1923, S. 143. 410 ÖVW, Die Bilanzen, 10. März 1923, S. 177. 411 ÖVW, Die Bilanzen, 23. September 1922 ; siehe auch : Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 786.
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128
Zerfall der Monarchie und Inflation
Interesse der ausländischen Spekulanten an österreichischen Aktien merklich nachgelassen zu haben412, ehe es – entfacht von der Spekulation in Berlin – im Frühjahr 1923 erneut aufflackerte413. Neben den »reichsdeutsche[n] Käufer[n], die auch in unseren Werten vor der Mark flüchten«414, traten nun in immer größerem Ausmaß auch Käufer aus Westeuropa an der Wiener Börse in Erscheinung415. Von den Bankaktien ausgehend, erfasste die Hausse in kurzer Zeit praktisch alle Aktienkategorien ; sie betraf nicht allein österreichische Wertpapiere, sondern zog auch die Aktien ungarischer und tschechoslowakischer Unternehmen, die in Wien notiert waren, in ihren Sog416. Die Umsätze erreichten schwindelerregende Höhen. Über ihre Dimensionen gibt Tabelle 35 in anschaulicher Weise Auskunft. Tabelle 35 : Effektenumsätze beim Wiener Giro- und Kassenverein 1910–1925 Effektenablieferung und Übernahme Gesamtumsatz in Bio. K
Stückumsatz in Mio.
1910
n. v.
8,8
1913
n. v.
7,2
1920
n. v.
32,0
1921
0,3
61,1
1922
9,0
157,6
1923
59,4
476,5
1924
1,1
182,3
1925
7,0
40,3
Quelle : Compass, Jg. 1930, S. 372.
Immer neue Aktien wurden auf den Markt geworfen ; eine immer größere Zahl von neuen Aktiengesellschaften trat ins Leben, von denen – ähnlich wie in den Jahren vor 1873 – viele als Schwindelgründungen zu bezeichnen waren. Das Ausmaß der 412 »Es scheint übrigens nicht«, heißt es an einer Stelle, »daß das Ausland von der für uns unwillkommenen Gelegenheit, unsere besten Wertpapiere zu äußerst niedrigen Kursen zu erwerben, viel Gebrauch macht.« ÖVW, Die Bilanzen, 2. Dezember 1923, S. 65. 413 Die führende Rolle des Auslandes bei der Aktienspekulation des Jahres 1923 wird besonders betont von Sokal, Die Tätigkeit der Banken im Jahre 1923, S. 438 ff. 414 ÖVW, Die Bilanzen, 23. Juni 1923, S. 306. 415 Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 9. Juni 1923, S. 287 sowie Die Hausse der Bankaktien : ÖVW, Die Bilanzen, 7. April 1923, S. 209 f. 416 ÖVW, Die Bilanzen, 14. Juli 1923, S. 332.
129
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
Gründungen bzw. Kapitalerhöhungen der bereits bestehenden Gesellschaften kann den Tabellen 36 und 37 entnommen werden. War die Börse nach der Währungsstabilisierung im September 1922 vorübergehend wieder zur alleinigen Domäne der Berufsspekulation geworden417, so wurden nach dem Einsetzen der Haussebewegung im Frühjahr 1923 immer breitere Schichten in das Gebäude am Ring gelockt. Das Geschäft an der Effektenbörse nahm einen solchen Umfang an, dass sich die Angestellten des Börsebüros im Juli des Jahres weigerten, länger als 56 Stunden pro Woche zu arbeiten, weil die Überstunden ein unerträgliches Ausmaß angenommen hatten418. Tabelle 36 : Neugründungen und Kapitalerhöhungen österreichischer Aktiengesellschaften 1923 und 1924 Neugründungen Zahl Nominal kapital in Mrd. K
Kapitalerhöhung Nominalkapital in Mrd. K
Zusammen in Mrd. K
1923 1. Quartal
88
14,4
16,7
31,1
2. Quartal
53
8,1
49,1
57,2
3. Quartal
47
14,7
40,8
55,5
4. Quartal
62
17,0
40,5
57,5
250
54,2
147,1
201,3
53
35,9
40,2
76,1
2. Quartal
57
103,8
23,3
127,1
3. Quartal
24
49,3
11,7
61,0
1923 gesamt 1924 1. Quartal
8
11,5
1924 gesamt
4. Quartal
142
200,5
106,4
31,2*
306,9
42,7
1923 und 1924 insgesamt
392
254,7
253,5
508,2**
* Darunter eine Elektrizitätsgesellschaft mit 20 Mrd. K. ** Statistische Nachrichten, Jg. 1926, S. 7, enthält abweichende Angaben, jedoch keine Detaillierung in Neugründungen und Kapitalerhöhungen bereits bestehender Firmen. Quelle : Statistische Nachrichten, Jg. 1924, S. 4 und Jg. 1925, S. 4.
417 Dies wurde wiederholt vom ÖVW festgestellt. So hieß es zu Ende Oktober 1922 : »Das Publikum hält sich von der Börse fern […].« ÖVW, Die Bilanzen, 28. Oktober 1922, S. 28. Und Anfang März 1923 : »Das Publikum bleibt der Börse andauernd fern […].« ÖVW, Die Bilanzen, 3. März 1923, S. 169. 418 Einschränkungen des Börsenverkehrs : ÖVW, Die Bilanzen, 28. Juli 1923, S. 350 f.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Tabelle 37 : Anzahl und Nominalkapital der österreichischen Aktiengesellschaften 1918–1924* Zahl 1918
(459)
Nominalkapital in Mrd. K (4,0)
1920
414
6,0
1921
548
15,4
1922
843
196,7
1923
1.103
515,8
1924
1.230
850,6
* Zahlen für 1918 enthalten auch Gesellschaften, deren Hauptbetriebe im Ausland lagen und die ihren Sitz in den darauffolgenden Jahren in die jeweiligen Nachfolgestaaten verlegten. Ab 1920 nur österreichische Gesellschaften. Quelle : Statistische Handbücher, Jg. 1921–1925.
Gustav Stolpers Beobachtung, dass »gut die Hälfte« der österreichischen Bevölkerung »am Aktienmarkt […] unmittelbar beteiligt« sei, mag übertrieben sein. Seine erläuternden Bemerkungen zu dieser Behauptung geben jedoch ein anschauliches Bild von den Verhältnissen des Jahres 1923 : »Es sind nicht nur die großen und kleinen Kapitalisten, Kaufleute und Gewerbetreibenden, die den größeren oder geringeren Teil ihres Vermögens in Aktien angelegt haben, es ist in den letzten Jahren das Börsenspiel tief in die Kreise der Bauernschaft und der kleinen Angestellten eingedrungen.«
Die »auf Millionen Stücke verwässerten ›billigen‹ Aktien« der neugegründeten Firmen seien zu »Spielmarken« der kleinen Leute in Wien und in den Bundesländern geworden. »Mit einem Einsatz von 20 bis 30 Goldkronen konnte man Aktionär werden und aus der Differenz einen willkommenen Zuschuß zum kargen regulären Einkommen erzielen.«419
Zum ersten Mal seit den Tagen der Gründerspekulation von 1873 beteiligte sich wieder ein großer Teil der Bevölkerung am Börsengeschehen. Eine entscheidende Rolle bei der Inganghaltung der Haussebewegung kam dem inländischen Publikum aller419 G.St., Die Krise, S. 978. Sozialdemokratischen Quellen zufolge sollen auch viele im Zuge der Genfer Sanierung abgebaute Staatsbeamte ihre Abfertigungen zum Kauf von Aktien verwendet haben. Siehe : Sozialdemokratisches Wahlhandbuch, S. 2.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
dings erst nach dem Sommer 1923 zu. Bis zu diesem Zeitpunkt standen Aktienkäufe durch Ausländer im Vordergrund. »In den letzten Wochen«, hieß es dazu Anfang August in einem Kommentar von Gustav Stolper, »haben die anhaltenden Auslandskäufe von österreichischen Aktien das Bedenken einer drohenden Überfremdung der österreichischen Wirtschaft wieder wachgerufen. Welchen Umfang diese Auslandskäufe […] haben, läßt sich auch nicht mit einiger Sicherheit abschätzen […] [S]icher ist, daß diese Käufe sich zu ungeheuren Beträgen summieren und daß sie dem Augenblicksbild der österreichischen Wirtschaft wesentliche und charakteristische Züge einprägen«420.
Das Ausland partizipierte an der Aktienhausse in mehrfacher Weise : einmal direkt als Käufer von Wertpapieren, zum anderen als Geldgeber – durch Bereitstellung kurzfristiger Kredite, die durch das hohe (und infolge der Börsenhausse sich ständig nach oben bewegende) Zinsniveau angelockt wurden. 1923 machte sich zum ersten Mal das Wirken jener internationalen Zinsarbitrage bemerkbar, das den 20er-Jahren ihr charakteristisches Gepräge gab. Stolper nannte die Summe der im Frühjahr und Sommer 1923 im westlichen Ausland aufgenommenen kurzfristigen Kredite, von der nur vage Schätzungen existierten, »erschreckend hoch« und warnte vor den Gefahren einer unvorsichtigen Veranlagung dieser Auslandsgelder. Angesichts der Ereignisse der späten 20er- und frühen 30erJahre kommt seinen Worten eine geradezu prophetische Bedeutung zu. »Am bedenklichsten […]« schrieb er, »ist die Finanzierung von Aktienkäufen durch kurzfristige Auslandskredite. Die Erfahrungen und Grundsätze der Vorkriegszeit sind in Vergessenheit geraten […] Sorge um entsprechende Liquidität ist in einer Zeit verloren gegangen, in der die Notenpresse eine praktisch unerschöpfliche Geldquelle war. Man hat jahrelang nur mühelose Erfolge erzielt und weiß daher gar nichts von den Gefahren des Geschäftes. Aber es ist kaum auszudenken, was mit dem Wiener Markt geschieht, wenn bei irgend einer drohenden politischen Komplikation in Westeuropa diese Kredite auch nur teilweise gekündigt werden […].«421
Stolper appellierte in diesem Zusammenhang an die Nationalbank, diese gefährliche Entwicklung zu beobachten und steuernd einzugreifen, um nicht die Kontrolle über den österreichischen Geldmarkt zu verlieren. 420 st., Auslandskapital und Börse, S. 1260. 421 Ebenda, S. 1261.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Wie recht Stolper mit seinen Warnungen hatte, bewiesen die Vorgänge nach dem Ende des Börsenbooms : Die mangelnde Bedachtnahme auf Liquidität führte im Frühjahr 1924, als nach der verunglückten Francspekulation und dem Zusammenbruch der Börsenhausse die kurzfristigen Auslandsgelder gekündigt wurden, zu einer akuten Kreditkrise, die das Gespenst einer Währungskrise heraufbeschwor : Hatte die Oesterreichische Nationalbank bereits im Jänner 1924 von ihrem rund 4 Bio. Kronen betragenden Devisenschatz 490 Mrd. (oder rd. 12 %) eingebüßt, so musste sie von Anfang März bis zum Juli erneut 1.250 Mrd. Kronen an Gold und Devisen an das Ausland abgeben422. Wenn auch über die Gesamtsumme der Aktienkäufe des Auslandes keine genauen Aussagen möglich sind, so kann doch mit Sicherheit gesagt werden, dass die überwiegende Anzahl der Käufe in spekulativer Absicht erfolgte und dass nur in wenigen Fällen eine dauernde Beteiligung an österreichischen Unternehmen ins Auge gefasst wurde. Lediglich den Wiener Großbanken gelang es, im Laufe des Jahres 1923 größere Posten neu emittierter Aktien bei westlichen Kreditinstituten unterzubringen423. Im Allgemeinen kam es den Ausländern nur auf die Erzielung eines möglichst hohen Differenzgewinnes an, wobei – wie Stolper es sarkastisch formulierte – »die obskursten österreichischen Aktien von Genfer und Brüssler Liftboys und Friseurgehilfen gekauft wurden«. »Es ist einfach nicht wahr«, setzte der Autor fort, »daß das ausländische Kapital in nennenswertem Umfang sich bisher für die österreichische Wirtschaft interessiert hätte. Das Ausland hat in Wien an der Börse gespielt, aber es hat sich – von einzelnen Transaktionen abgesehen – nicht in der österreichischen Wirtschaft festgelegt. […] Hält man Umfrage, wieviele neue Fabriken mit ausländischem Geld gebaut, wieviele Investitionen in alten Betrieben mit fremder Beteiligung durchgeführt wurden, so lautet die Antwort erschreckend negativ.«424
Den Höhepunkt erreichten die Aktienkäufe des Auslandes in den Monaten Mai und Juni des Jahres 1923 ; ab September überwogen die Verkäufe bereits die Käufe. Allerdings scheint, insgesamt betrachtet, das Ausland an seinem Aktienbesitz bis zum Abbröckeln der Kurse in den ersten Monaten des Jahres 1924 festgehalten zu haben425. 422 Siehe : ÖVW, 9. Februar 1924, S. 560 ; Ausch, S. 142. 423 Siehe dazu : März, Österreichische Bankpolitik, S. 442 f sowie Cottrell, S. 321 ff und 335 ff. 424 G.St., Die Krise, S. 975 f. 425 Sokal, Die Tätigkeit der Banken im Jahre 1923, S. 441. Im Jänner 1924 überstieg die private Devisennachfrage am Wiener Markt zum ersten Mal seit Februar 1923 das Angebot. Dies scheint – zumindest zu einem beträchtlichen Teil – mit dem Rückzug des Auslandes von der Börse zusammenzuhängen. Zu den Zahlen über den Devisenmarkt siehe : Layton/Rist, S. 85, Annex V.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
Es ist anzunehmen, dass die berufsmäßige Spekulation ihre zum Teil beträchtlichen Differenzgewinne rechtzeitig zu realisieren verstand, während die unerfahrenen Mitläufer – »die Friseurgehilfen« – erst reagierten, als der Kursrückgang bereits verstärkt einsetzte. Die internationale Spekulation wandte sich im September 1923 dem Deutschen Reich zu ; dies gilt auch für jene westlichen Financiers, die dem Wiener Platz kurzfristige Auslandskredite zur Verfügung gestellt hatten426. Die Bindung ausländischer Gelder an der Wiener Börse bzw. die Bereitstellung fremder Kredite an österreichische Banken bildete eine der finanziellen Quellen, aus denen die Aktienhausse des Jahres 1924 gespeist wurde. Ein weiterer bedeutender Zustrom von Mitteln erfolgte durch die Auflösung von Devisenhorten österreichischer Unternehmen und Privatpersonen, die sich zum überwiegenden Teil aus Fluchtgeldern zusammensetzten, die in der Inflationszeit ins Ausland transferiert worden waren. Karl Ausch hat errechnet, dass allein im Jahre 1923 aus privaten Transaktionen ein Betrag von 880 Mio. Goldkronen nach Österreich geflossen ist, wovon vermutlich der größte Teil auf die Repatriierung von Fluchtkapitalien entfallen sein dürfte427. Als dritte Quelle des Börsenkredits kommen schließlich Sparkapitalien in Betracht, die – angelockt durch die hohen Zinssätze – in Taggelder umgewandelt wurden. Auch Industrieunternehmen scheinen ihre flüssigen Mittel zum Teil nicht im Kontokorrent, sondern in der weit höher verzinslichen Form des Börsenkredits veranlagt zu haben428. Diese Taggelder stellten ein neues Phänomen dar, das – wie so viele andere auch – in der Periode der Geldentwertung seinen Ursprung hatte. Es handelte sich dabei nicht um »echte« Taggelder, d. h. jene Beträge, die sich die Banken gegenseitig zur Verfügung stellen, wenn die eine gerade über einen Überschuss an liquiden Mitteln verfügt, während die andere vorübergehend an einer Knappheit der Mittel leidet. Diese Beträge werden in der Regel ohne Deckung auf einen oder mehrere Tage (und zu einem niedrigen Zinsfuß) verliehen. Die Tag- und Wochengelder des Jahres 1923 hingegen dienten der Finanzierung der Börsenspekulation. Wiederum war es vor allem der »Österreichische Volkswirt«, der bereits frühzeitig vor den »Unsitten, die im Effektenprolongationsgeschäft an der Börse eingerissen« waren, eindringlich warnte. Im Besonderen wurde kritisiert, dass bei den Tag- und Wochengeldtransaktionen gegenüber der Zeit vor dem Ersten Welt426 Gustav Stolper berichtet, dass – während in Wien für Pfund- und Dollarkredite 12–14 % gezahlt wurden – erstklassige Berliner Firmen 20–30 % boten. Dies habe – angesichts der beschränkten Summen, die der Westen in Mitteleuropa zu placieren gewillt war – zu einem Abwandern der Gelder von Wien nach Berlin geführt. G.St., Die Krise, S. 977. 427 Ausch, S. 119. 428 Vgl. Sokal, Die Tätigkeit der Banken im Jahre 1923, S. 430 ff ; Ausch, S. 122 ; Federn, Die Geldknappheit, S. 494 f.
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krieg nicht mehr nur die Börsenfirmen als Kreditnehmer und die Banken als Geber auftraten, »sondern auch kleine und Mittelbanken, ja gelegentlich sogar Großbanken als Geldnehmer […] auf längere Zeit auftreten, hohe und höchste Zinssätze zahlen und das Geld nehmen, von wem sie es bekommen«429.
Noch gravierender war, dass sich viele Firmen, die als Geldgeber auftraten, die Eigenart des Reportgeschäfts zu waghalsigen Transaktionen zunutze machten : Sie verkauften zuweilen die Effekten, die sie als Unterlage für solche Kreditgeschäfte erhielten, an andere Klienten. Es handelte sich in diesen Fällen meistens um in den Jahren nach 1918 gegründete Banken430. Die Zinsen für diese kurzfristigen Gelder waren im letzten Stadium der Inflation auf einen Satz von 10 bis 12 % pro Woche bzw. 40 bis 50 % pro Monat hinaufgeschnellt, was einem Jahreszinssatz von 500 bis 600 % entsprach431. In den auf die Währungsstabilisierung folgenden Monaten und während des ganzen darauffolgenden Jahres verharrten die Zinsen für Tag- und Wochengelder – bei beträchtlichen Schwankungen – auf einem überaus hohen Niveau. Im Allgemeinen lag der Zinssatz zwischen 21/2 und 5 % pro Woche, was einem Satz von 125 bis 250 % p. a. entsprach432. Solche Zinssätze waren natürlich nur in einer Zeit möglich, während der man auf der Börse Gewinne in entsprechender Höhe realisieren konnte. In der volkswirtschaftlichen Literatur wurde und wird sehr oft der Standpunkt eingenommen, dass die Vorgänge an der Börse keinen nennenswerten Einfluss auf das »reale« wirtschaftliche Leben hätten und dass die Börse insbesondere nicht in der Lage sei, Kapital aus anderen Teilen der Ökonomie an sich zu ziehen433. Dies mag auf die »normale« Börsentätigkeit in einer »normal« funktionierenden Volkswirtschaft zutreffen. In einem Land wie Österreich, das sich 1923 noch in einem wirtschaftlichen »Ausnahmezustand« befand, war die Rolle der Börse jedoch von eminenter Bedeutung. Einige zeitgenössische Beobachter haben den Vorgängen auf der Börse sogar eine regelrechte Leitfunktion für die Ökonomie zugeschrieben. 429 F., Bankskandale, S. 562. 430 Vgl. den ebenda (S. 561 f ) genannten Fall der Börsenfirma Reinhard. Die meisten Missstände traten in der Regel erst beim Zusammenbruch der Börsenhausse im Jahr 1924 zutage. 431 ÖVW, Die Bilanzen, 26. August 1922, S. 308 und 23. September 1922, S. 316 ; st., Bezugrechtsraub, S. 1025. 432 Siehe : Federn, Die Geldknappheit, S. 493 sowie ÖVW, Die Bilanzen, 18. November 1922, S. 52 und 13. Jänner 1923, S. 111. 433 Vgl. Machlup ; Cassel, Sozialökonomie.
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»Daß die Börse unmittelbar zur hauptsächlichsten Einnahmsquelle der breitesten Volksschichten wurde«, meinte etwa Gustav Stolper, »hat nicht nur die Lebensform der Bevölkerung, sondern auch die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt.«434
Und angesichts der beginnenden Stagnation am Aktienmarkt zu Anfang des Jahres 1924 wurde festgestellt : »Sobald die Börse keine ergiebige Einkommensquelle ist, schrumpft die Verbrauchsfähigkeit des Publikums zusammen, läßt die Nachfrage zuerst in den Luxusgewerben […] nach und von da an breitet sich die Depression wellenförmig fortschreitend über die ganze Wirtschaft aus.«435
Diese unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse niedergeschriebenen Analysen mögen die Bedeutung der Börse überschätzen. Sie reflektieren jedoch die Tatsache, dass es während des Jahres 1923 – einer Beobachtung von Karl Ausch zufolge – in Österreich eine »gespaltene« Wirtschaft gab : einen »deflationistischen« Sektor – die Produktionsgüter- und die Exportindustrie, wo Betriebseinschränkungen, Kurzarbeit und steigende Arbeitslosigkeit an der Tagesordnung waren – und einen »inflationisti schen« Sektor – vor allem verschiedene Zweige der Luxusgüterindustrie sowie Teile des privaten Dienstleistungssektors, wie Restaurants, Nachtklubs etc. –, der sich einer Sonderkonjunktur erfreute. Während der eine Sektor unter den Auswirkungen der Währungsstabilisierung und der staatlichen Ausgabendrosselung litt, wurde die Luxusindustrie von der Börsenhausse alimentiert436. Es ist klar, dass die gute Beschäftigungssituation im »inflationistischen« Sektor der gesamten Industrie Impulse vermittelte. Bei den volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Börsenspekulation müssen kurzfristige und längerfristige Effekte unterschieden werden, wobei auf lange Sicht die negativen Folgen überwogen. Eine dieser wenig erfreulichen Wirkungen bestand in einer Überhöhung des Zinsniveaus. Dieses hätte sich angesichts des Kapitalverzehrs während der Inflationszeit, des industriellen Nachholbedarfs und des – verglichen mit dem Vorkriegsniveau – drastisch geschrumpften Geldumlaufs ohnehin weit über jenes der Jahre vor 1914 erheben müssen. Alle zeitgenössischen Beobachter waren sich jedoch 434 G.St., Die Krise, S. 976. An einer anderen Stelle heißt es : »Niemals seit dem Jahre 1873 hat ein so großer Teil der Bevölkerung sich an dem Börsentreiben beteiligt, niemals war ein so großer Teil der Produktion und des Handels auf den übersteigerten Verbrauch der Börsenspieler eingestellt […].« ÖVW, 19. April 1924, S. 875. 435 ÖVW, 2. Februar 1924, S. 527. 436 Ausch, S. 126 f.
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darin einig, dass die Ansprüche der vielen Börsenfirmen und kleinen Banken an den Geldmarkt das Zinsniveau zusätzlich in die Höhe trieben. So hieß es im »Volkswirt« : »Die entscheidende Ursache der bei stabiler Währung für die produzierende Wirtschaft unerträglich hohen Zinssätze liegt an der Börse. […] Die Zinssätze der Börse beherrschen die Wirtschaft, denn die Börse zieht aus allen Bezirken der Wirtschaft die freien Mittel an sich.«437
Der Zinssatz für Kontokorrentkredite an erste Industriefirmen schwankte während des ganzen Jahres 1923 – nachdem er nach der Währungsstabilisierung im September 1922 50 bis 100 % ausgemacht hatte438 – zwischen 20 und 40 %439. Für die »normale« Industriekundschaft lag er noch höher. Auch 1924 trat keine fühlbare Senkung der Debetzinsen ein ; erst in den Jahren danach setzte sich langsam eine nach unten gerichtete Tendenz durch440. Ein so hohes Zinsniveau musste für die Industrieunternehmen eine umso unerträglichere Belastung darstellen, als die meisten von ihnen an – wie es in der zeitgenössischen Diktion hieß – »Kapitalsknappheit« litten, d. h. an den Folgen des während der Inflation vor sich gegangenen Kapitalverzehrs. Der Begriff der »Kapitalknappheit« bezog sich in erster Linie auf das Fehlen von Mitteln zur Durchführung der dringend notwendigen Investitionen441, darüber hinaus aber auch auf den Mangel an flüssigen Mitteln zur Finanzierung des laufenden Betriebes. Zur Behebung der Kapitalnot (in ihrer kurzfristigen Form) standen den Unternehmen verschiedene Wege offen : Sie konnten Waren und Vorräte verkaufen, angehäufte 437 st., Die Geldteuerung, S. 16. Ähnlich bemerkte Max Sokal, ein Direktor des Wiener Giro- und Kassenvereins, dass die Börse bereits von der Währungsstabilisierung immer größere flüssige Mittel »absorbiert« habe und dass sich diese Tendenz gegen Ende des Jahres 1922 »besonders akzentuiert« habe : »Das flüssige Kapital des Publikums strebte jener Stelle zu, an welcher es die bestmöglichste Verwertung fand, was natürlich auf Kosten der anderen Kreditmöglichkeiten geschah.« Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 480. 438 G.St., Wirtschaftskrise und Finanzplan, S. 199. 439 f., Kreditteuerung und Wechsel, S. 44 ; G.St., Sanierungskrise, S. 347. 440 Siehe : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924, S. 128 f ; Layton/Rist, S. 18 f und 91 f ; KOFO, Heft 6/1938, S. 140. 441 Schon im Herbst 1922 machte Stolper auf die enorme Rückständigkeit der österreichischen Industrie aufmerksam : »Die Industrie verliert in wachsendem Maße die Fähigkeit, technisch mit den reichen Industriestaaten Schritt zu halten. Man hat nicht nur die Schäden gutzumachen, die die Kriegs- und Nachkriegszeit an der technischen Ausrüstung der Industrie angerichtet hat, man hat darüber hinaus die technischen Fortschritte nachzuholen, die in der Welt seit 1914 gemacht worden sind.« G.St., Wirtschaftskrise und Finanzplan, S. 199.
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Effektenbestände realisieren, Devisenhorte auflösen – oder eben Kredite zu den vorherrschend ungünstigen Bedingungen aufnehmen. Es gab allerdings auch eine andere wichtige Finanzierungsmethode : die Begebung neuer Aktien, die infolge der steigenden Börsenkurse mit einem beträchtlichen Agio im Publikum untergebracht werden konnten. Die Praxis der Kapitalverwässerung zur Linderung von Liquiditätsproblemen hatte sich – wie die meisten spezifischen Phänomene, die die Wirtschaftsentwicklung des Jahres 1923 prägten – in den Jahren der Inflation herausgebildet442. Die »Aktienfabrikation«443 als Pendant zur Banknotenfabrikation versorgte die Unternehmen bis zum September 1922 mit jenem Mindestmaß an Eigenmitteln, das zur Aufrechterhaltung der Produktion notwendig war, wobei in vielen Fällen auch die kreditgebenden Banken an der Umwandlung von Kontokorrentforderungen in Aktien interessiert waren, da sie Effekten als wertsicherer betrachteten als Geldforderungen444. Nach der Stabilisierung der Krone auf dem als niedrig erachteten Niveau von 14.400 Papierkronen zu einer Goldkrone bestand auf Seite der Industrie neuerlich die Geneigtheit zur Neuemission von Aktien, weil man mit einer gewissen Besserung des Kronenkurses rechnen konnte und daher die Debetsaldi bei den Banken zu reduzieren bemüht war, um nicht in die unangenehme Lage zu kommen, die Kredite in höherwertigem Geld zurückzahlen zu müssen445. Die fortdauernde Geldknappheit in den ersten Monaten des Jahres 1923 veranlasste viele Firmen, erneut den Aktienmarkt in Anspruch zu nehmen, was zunächst ein Überangebot an Wertpapieren und Kurseinbußen an der Börse zur Folge hatte, zumal auch die öffentliche Hand wiederholt den Kapitalmarkt in Anspruch nahm446. Sobald jedoch die Aktienhausse in Gang gekommen war, begegnete die Begebung von Neuemissionen keinen Schwierigkeiten mehr. Auf diese Weise flossen den Unternehmen beträchtliche Mittel zu. Nach den Berechnungen von Oskar Morgenstern erhielten die österreichischen Industrieaktiengesellschaften in den Jahren 1913 bis 1923 aus Kapitalerhöhungen rund 511,5 Mio. Schilling an neuen Mitteln447. In die442 1924 stellte Walther Federn rückblickend fest, die Industrie habe »jahrelang den Kapitalsmarkt mit neuen Emissionen zur Beschaffung von Betriebskapital in Anspruch genommen, um die hohen Bankzinsen zu ersparen, zumal sie nicht daran zu denken brauchte, die Aktien angemessen zu verzin sen.« W.F., Die Börsenkrise, S. 791. 443 Neue Kapitalserhöhungen : ÖVW, Die Bilanzen, 23. September 1922, S. 318. 444 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 475 ff ; ders., Die Tätigkeit […] 1919 und 1920, S. 755, konstatiert Ähnliches auch für die beiden ersten Nachkriegsjahre. 445 Neue Kapitalserhöhungen : ÖVW, Die Bilanzen, 23. September 1922, S. 318. 446 Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 11. November 1922, S. 43, 2. Dezember 1922, S. 65 und 9. Dezember 1922, S. 72. 447 Morgenstern, Kapital- und Kurswertänderungen der an der Wiener Börse notierten österreichischen Aktiengesellschaften 1913–1930, S. 252 f.
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ser Ziffer sind nicht bloß jene mehr als 200 Industrie-Aktiengesellschaften enthalten, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg existierten, sondern auch Firmen, die erst nach 1913 »veraktioniert« wurden. Nimmt man an, dass etwa die Hälfte dieses Gesamtbetrages in das Jahr 1923 fällt, so ergibt dies einen Betrag von etwa 2,5 Bio. Papierkronen448. Dies entsprach etwa 60 % der in den Bilanzen ausgewiesenen Debitoren der vier Wiener Großbanken449 des Jahres 1922 bzw. 36 % des entsprechenden Wertes von 1923. Aus dieser Relation kann der Umfang und die Bedeutung des Zuflusses an Mitteln aus Kapitalerhöhungen ersehen werden. Addiert man zu den oben genannten 511,5 Mio. Schilling noch jenen Betrag hinzu, der den Banken und Versicherungsgesellschaften durch Aktienneuemissionen zuströmte, so kommt man auf eine Gesamtsumme von fast 1,2 Mrd. Schilling, wovon – wie wir vermuten – mindestens 700 Mio. Schilling oder 71 Bio. Kronen auf das Jahr 1923 entfielen. Diese 700 Mio. Schilling entsprachen einer Summe von 486 Mio. Goldkronen, d. h. fast 80 % des Betrages von 611 Mio. Goldkronen, der 1923/24 aus der Genfer Anleihe netto erlöst wurde. Sie machten zugleich ein Vielfaches der Spareinlagen bei den Wiener Großbanken und den Sparkassen in den Landeshauptstädten aus : Diese betrugen zu Anfang des Jahres 1923 11 Mio., 1924 59,6 Mio. und 1925 215,6 Mio. Schilling. Selbst der Gesamtzuwachs an Spareinlagen von Anfang 1923 bis Ende 1926 belief sich bloß auf rund 630 Mio. Schilling450. Diese Vergleichszahlen vermitteln zugleich einen Eindruck von den Dimensionen, in denen sich die Börsenspekulation des Jahres 1923 bewegte. Zweifellos hatte der Wirtschaftsattaché (Commercial Secretary) der britischen Botschaft in Wien recht, als er rückblickend feststellte : »The boom was only rendered possible by considerable purchases by foreigners and by the credit too liberally given by the Viennese banks to Austrian speculators.«451
Es ist so kaum überraschend, dass der österreichische Kapitalmarkt 1924 nicht in der Lage war, die von den Ausländern verkauften Aktien sowie die Effektenpakete, 448 Andere Schätzungen sprachen von einem Gesamtwert der 1923 neu emittierten Aktien (inkl. Banken) von 4,5 Bio. Kronen. Für das erste Quartal 1924 wurde ein Betrag von 2 Bio. genannt. Siehe : Phillpotts, S. 13. 449 CA, BCA, BV, NEG. Es ist bei diesem Vergleich im Auge zu behalten, dass die Debitorensumme der Großbanken auch Ausleihungen an ausländische Industrieunternehmen bzw. die nicht unbeträchtlichen Guthaben bei ausländischen Banken enthält. Mit anderen Worten, der Betrag, der inländischen Unternehmen zur Verfügung stand, war wesentlich geringer. 450 Statistische Nachrichten, Jg. 1927, S. 7. 451 Phillpotts, S. 13.
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die von den in Schwierigkeiten geratenen Spekulanten abgestoßen werden mussten, aufzunehmen, und in der Folge total zusammenbrach. Von diesem Kollaps sollte sich die Wiener Börse nie mehr erholen. Die Ereignisse des Jahres 1924 hatten – ähnlich wie 1873 – eine »Scheu vor der Aktie« zur Folge, die (verstärkt durch die widrigen Konjunkturverhältnisse) zu einem Brachliegen dieser Institution führte. Die Lage am Wiener Aktienmarkt war so trist, dass nicht einmal die Schockwellen des amerikanischen Börsenkrachs vom Herbst 1929 einen Kurssturz bewirkten : In Österreich wies der Aktienindex nach einer kurzen Erholung im Jahr 1927 bereits seit 1928 wieder nach unten. Von diesem Zeitpunkt an fielen die Kurse ununterbrochen bis zum Jahr 1933 (siehe Diagramm 6). In der zeitgenössischen Diskussion der Jahre 1923 und 1924 spielte das Phänomen des »Bezugsrechtsraubes«452 eine zentrale Rolle. Es stand in einem engen Zusammenhang mit der Tätigkeit der sogenannten Emissionssyndikate, denen Karl Ausch in seinem Werk »Als die Banken fielen« breiten Raum gewidmet hat453, sodass an dieser Stelle einige wenige allgemeine Bemerkungen genügen. Auch im »Österreichischen Volkswirt« wurde wiederholt über diese Missstände geklagt und schließlich hat sich auch die Bankkommission454 mit diesem Thema auseinandergesetzt455. Welches war die Eigenart, Funktion und schädliche Wirkung der Emissionssyndikate ? Diese Syndikate traten vor allem im ersten Halbjahr 1923 stark in Erscheinung : Bei Kapitalerhöhungen wurde ein großer Teil der neu emittierten Aktien nicht den alten Aktionären zum Bezug angeboten, sondern an Emissionssyndikate begeben, die die Aktien zu einem Kurs übernahmen, der weit unter der Börsennotierung lag. Die Mitglieder des Syndikats – sehr oft führende Verwaltungsräte oder Direktoren der betreffenden Aktiengesellschaft bzw. der mit dieser liierten Bank – verkauften die Effekten zu einem späteren Zeitpunkt, als der Börsenkurs weit über den Kursstand zur Zeit der Emission gestiegen war, mit großem Gewinn weiter. Den Industrieunternehmen (aber auch vielen kleineren Banken) wurde auf diese Weise ein beträchtlicher Teil des Emissionsgewinnes entzogen, der ihnen – ohne die »Vermittlungstätigkeit« der Syndikate – zugeflossen wäre. Nach einem besonders gravierenden und aufsehenerregenden Vorfall dieser Art anlässlich einer Kapitalerhöhung der Alpine Montangesellschaft wurden die ärgsten Missstände durch ein Dekret des damaligen Finanzministers Kienböck aus der Welt geschafft : Ab Juli 1923 war ein Mindestbezugspreis bei jungen Aktien vorgeschrieben, 452 So der Titel eines Aufsatzes von Gustav Stolper [gezeichnet st.], S. 942 ff. 453 Ausch, S. 127 ff. 454 Zur Bankkommission siehe Kapitel II-7, S. 158 ff. 455 Siehe : Die Berichte der Bankkommission, Die neue Wirtschaft, 4. Juni 1924.
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Diagramm 6:
Aktienkurse an der Wiener Börse 1924–1934
(Durchschnitt 1924 = 100 / Semilogarithmischer Maßstab)
100
40
20
Quelle: KOFO, Heft 9/1935.
der mehr als 75 % des Börsenkurses betragen musste ; auch die Bezugsrechte der alten Aktionäre wurden wiederhergestellt456. Über das Ausmaß der Schädigung der Unternehmen durch die Emissionssyndikate kursierten unter den Zeitgenossen verschiedene Schätzungen : Die Zeitung »Die Stunde« gab die Summe der allein im ersten Quartal 1923 erzielten Syndikatsgewinne der Großbanken mit 1,5 Bio. Kronen an, ein Betrag, der nach Karl Ausch verdoppelt 456 Jede Kapitalerhöhung bedurfte der Genehmigung der Finanzbehörde, die auch Einfluss auf den Begebungskurs und die anderen Modalitäten solcher Transaktionen nehmen konnte.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
werden müsste, um der Realität für das ganze Jahr 1923 und für alle Syndikate gerecht zu werden. Der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Ellenbogen nannte am 20. Mai 1924 im Parlament eine noch höhere Zahl, nämlich 5 Bio. Kronen457. Dies erscheint angesichts eines vermutlichen Gesamtemissionsvolumens von 7 Bio. Kronen phantastisch hoch. Der den Unternehmen tatsächlich vorenthaltene Betrag muss viel niedriger gewesen sein458. Eine der – zumindest kurzfristig – positiven Auswirkungen der Börsenhausse bestand in der Verzögerung bzw. Abschwächung der Stabilisierungskrise. Denn die von der Börsenkonjunktur alimentierte Belebung des Luxuskonsums hatte zweifelsohne eine Vermehrung der Beschäftigung und damit eine Belebung aller Zweige der Konsumgüterindustrie zur Folge. Allerdings war dieser konjunkturelle Segen – längerfristig betrachtet – von recht zweifelhafter Art, denn der »Überkonsum«459 der an der Börse zu raschem Reichtum Gekommenen beruhte auf der Verwandlung von Kapital in Einkommen, auf der Aufzehrung von Kapital : Wer eine Aktie um 100.000 Kronen kaufte und um 200.000 Kronen wieder veräußerte, betrachtete die Differenz als zusätzliches Einkommen, das er verbrauchte. Die Volkswirtschaft war jedoch durch diese Transaktion nicht reicher geworden. Diese »Rechnung« wurde im Lauf des Jahres 1924 allen jenen präsentiert, die ihre Ersparnisse der Börsenspekulation zur Verfügung gestellt (und die dafür bereitwillig gezahlten hohen Zinsen ihrerseits als Einkommen angesehen und verbraucht) hatten. Ähnlich verhielt es sich mit den Aktienverkäufen an das Ausland : Wenn der ausländische Spekulant die Wertpapiere zu einem höheren Kurs als beim Kauf an der Wiener Börse realisierte, so verwandelte sich der vermeintliche Kapital import in einen Kapitalexport460. Eine der verderblichsten Folgen der Börsenhausse des Jahres 1923 bestand in einer weiteren Expansion des aus der Inflationszeit ohnehin schon künstlich aufgeblähten Bankensektors. In den Jahren von 1919 bis 1922 waren Hunderte neuer »Banken« ins Leben gerufen worden, von denen – wie Karl Ausch es treffend formulierte – »die 457 Alle Schätzungen zitiert bei Ausch, S. 131. 458 Möglicherweise beruhen diese hohen Schätzungen auf einer unzulässigen Berechnungsmethode, indem die Differenz zwischen dem Übernahmekurs des jeweiligen Syndikats und den tatsächlichen späteren Verkaufserlösen herangezogen wurde. In Wirklichkeit dürfte aber nur die Marge zum Bezugskurs der Aktionäre bzw. dem Börsenkurs im Emissionszeitraum als Berechnungsgrundlage genommen werden. 459 In einem seiner Berichte sprach Völkerbundkommissär Zimmermann von einem »fieberhaften Überkonsum«, der durch die Börsenhausse verursacht worden sei. Zitiert bei Ausch, S. 125 f. 460 Die Tatsache des Kapitalverzehrs gilt natürlich auch für das staatliche Budgetdefizit des Jahres 1923 (soweit es nicht durch produktive Investitionen verursacht war) und für die zu geringen Abschreibungen der Industrieunternehmen.
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meisten davon lebten, daß sie mithalfen, die Währung zu zerstören«461. Nach der Stabilisierung der Krone konnte man für kurze Zeit hoffen, dass der Hypertrophie des Bankwesens ein Ende bereitet würde, weil den Spekulationsfirmen der Nährboden entzogen schien. Man erwartete eine rasche, aber schwere Reinigungskrise im Banksektor und in all jenen Bereichen der Volkswirtschaft, die von der Spekulation alimentiert worden waren. »Hören die Inflationsgewinne auf«, schrieb damals Gustav Stolper, »dann ist der Ertrag der heimischen Wirtschaft bei weitem nicht groß genug, um den ungeheuren Überbau aus Bankgeschäften, Luxusindustrie, Gast- und Vergnügungslokalen zu tragen.«462
Die Börsenhausse bescherte Österreich einen weiteren Bankenboom : Zwischen März und Dezember 1923 wurden 80 neue Bankfirmen ins Handelsregister eingetragen463. Dazu kam eine große Zahl handelsgerichtlich nicht protokollierter Firmen sowie Hunderte von sogenannten Banken oder Wechselstuben, die ihre Geschäfte unbefugt betrieben – in Wohnungen, Kaffeehäusern und anderen Lokalitäten. Ein ausländischer Beobachter hat sie mit dem treffenden englischen Ausdruck »bucket shops« (Winkelbörsen) charakterisiert464. Insgesamt, so schätzte die Bankkommission in einer Denkschrift, gab es im Frühjahr 1923 nicht weniger als 1.500 Bankfirmen465. Es waren die »bucket shops«, die die Zinssätze in schwindelhafte Höhe trieben, weil sie für Einlagen und Taggelder jeden Preis zu zahlen bereit waren ; sie waren es auch, die am waghalsigsten an der Börse spekulierten und die – als die Kurse Anfang 1924 zu stagnieren begannen – als Erste in Schwierigkeiten gerieten. In welchem Ausmaß sie sich auch an der Spekulation gegen den französischen Franc beteiligten, ist nicht bekannt. Erste Anzeichen einer Hinwendung der internationalen (und damit auch der österreichischen bzw. zentraleuropäischen) Spekulation zum französischen Franc hatte es bereits frühzeitig gegeben. Erste Gerüchte über eine sich anbahnende Frankenkontermine tauchten bereits im November 1922 (!) auf466. Aber es sollte noch mehr als ein Jahr dauern, ehe die Wirklichkeit diese Gerüchte 461 Ausch, S. 134. 462 G.St., Wirtschaftskrise und Finanzplan, S. 199. 463 Denkschrift der Bankkommission, S. 2, Sp. 1. 464 Phillpotts, S. 16. 465 Denkschrift der Bankkommission, S. 3, Sp. 2. 466 »Wenn behauptet wird«, hieß es damals im »Österreichischen Volkswirt«, »daß die beweglichen Valutaschieber […] sich bereits zum Zuge nach Paris rüsten, so eilen die sich darin ausdrückenden Erwartungen den Tatsachen […] weit voraus.« ÖVW, Die Bilanzen, 18. November 1922, S. 50.
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einholte : Nachdem die Markkatastrophe vorüber war und an der Wiener Effektenbörse die Kurse zu stagnieren begannen – mit anderen Worten : nachdem diese beiden Einnahmequellen versiegt waren –, konzentrierte sich das Interesse der mitteleuropäischen Spekulation auf die französische Währung. Wien wurde zu einem der Zentren der auf ein weiteres Fallen des Franc setzenden Spekulation. Die Spekulation nahm verschiedenste Formen an : den Verkauf von französischen Franc mit späterem Liefertermin, kreditfinanzierte Käufe französischer Wertpapiere an der Pariser Börse sowie die Warenspekulation, d. h. den Erwerb französischer Produkte auf Kredit mit dem Ziel, die Waren zu einem späteren Zeitpunkt in entwerteten Franc bezahlen zu können. Den größten Umfang scheinen diese Warentermin geschäfte angenommen zu haben. »Von der kleinen Konfektionsfirma angefangen«, berichtete der »Österreichische Volkswirt«, »die ihren Jahresbedarf an belgischen Spitzen dreifach eindeckte und die Francs schuldig blieb, bis zu den Großindustriellen, die viele Waggons Terminzucker und dergleichen gekauft haben, den Händlern, die Hunderte Luxusautomobile bestellten, ist ein unübersehbar großer Kreis […] [von Verlusten aus Spekulationsgeschäften, d. Verf.] betroffen.«467
Auch die Zahl derer, die in französischen Aktien spekulierten, scheint nicht unbeträchtlich gewesen zu sein. Es gibt zwar keine genauen Angaben über die Gesamtverluste der Francspekulation, doch lassen die Verlustziffern in einzelnen Bereichen die Vermutung zu, dass es sich um beträchtliche Summen gehandelt haben muss : Anfang Mai 1924 wurde in einer Generalratssitzung der Oesterreichischen Nationalbank von 50 Mio. Franc gesprochen, die durch an der Wiener Börse offiziell durchgeführte Transaktionen verlorengegangen waren468. Dies entsprach einem Gegenwert von rund 225 Mrd. Kronen. Die wirklichen Verluste dürften aber weit höher gewesen sein ; sie betrugen – nach einer Aufstellung aus dem Nachlass von Hofrat Georg Stern – allein aus dem Usancengeschäft469 fast 62 Mio. Franc ; eine andere Kompilation, deren Quelle allerdings nicht ganz klar ist, spricht von »Verlust-Differenzen« in der Höhe von 80 Mio. Franc470. Diese letzte Zusammenstellung ist für uns von besonderem Interesse, weil sie eine Aufgliederung der Verluste nach Bankfirmen enthält. Danach traten die größten 467 G.St., Die Krise, S. 977. 468 Ausch, S. 139. 469 Beim Usancengeschäft handelt es sich um Devisentermintransaktionen in zwei Fremdwährungen, im vorliegenden Fall um den Verkauf von Franc gegen Dollar. 470 BA, NL/Stern, Materialien : Undatierte Durchschläge. Vgl. zu den Verlustschätzungen auch : Kernbauer, Währungspolitik in der Zwischenkriegszeit, S. 98.
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Verluste bei kleinen Privatbankfirmen bzw. neugegründeten Aktienbanken auf, von denen wir einigen im Folgekapitel wieder begegnen werden : Adriatische Bank, Austro-Orientbank, Austro-Polnische Bank, Allgemeine Industriebank, Niederösterreichische Bauernbank, Holzbank, Vereinsbank, Wiener Bank AG, Wiener Kaufmannsbank. Die größten Einzelverluste waren – nach dieser Quelle – bei der Allgemeinen Industriebank (4,6 Mio. FFr) sowie bei den Privatbankfirmen Franz Pollak (4,5 Mio. FFr) und Alois Mauthner (4,1 Mio. FFr) zu verzeichnen. Keine einzige Wiener Großbank befand sich unter den Verlustträgern, immerhin aber zwei von vier Mittelbanken (Depositenbank und Unionbank) sowie die Lombard- und Escompte-Bank als renommierte Kleinbank. Die »Arbeiter-Zeitung« schätzte die Gesamtverluste der österreichischen Spekulation gegen den Franc auf rund 500 Mrd. Kronen (100 Mio. FFr)471, ein Betrag, der angesichts der zitierten Verluste aus dem Devisentermingeschäft wohl nur die Untergrenze bildet. 500 Mrd. Kronen entsprächen etwa 0,65 % des österreichischen Volkseinkommens von 1924 oder – um die Ziffer in Relation zu einem möglichen alternativen Verwendungszweck zu setzen – 8 % der Bruttoanlageinvestitionen desselben Jahres. Die Francverluste betrafen hauptsächlich Bankfirmen bzw. einige wenige große Spekulanten, die in Kooperation mit solchen Banken gegen den Franc spekuliert hatten. Sie blieben, mit anderen Worten, auf eine verhältnismäßig kleine soziale Schicht begrenzt. Sie übertrugen sich aber durch die Wirkungen der Börsenkrise, die auf die missglückte Francspekulation folgte, in verheerender Form auf die gesamte Volkswirtschaft. Denn an der Effektenspekulation hatten sich, wie erwähnt, breite Kreise der österreichischen Bevölkerung beteiligt. Der Zusammenhang zwischen den beiden Spekulationsbereichen kann kurz folgendermaßen beschrieben werden : Als ein weiteres Hochtreiben der Aktienkurse in Wien nicht mehr möglich schien, weil sich das Ausland zurückzuziehen begann, wandte sich auch die Wiener Spekulation Paris zu : »Die Lustlosigkeit der Wiener Börse hängt wohl […] auch damit zusammen, daß die Berufsspekulation in Wien wie überall im Ausland augenblicklich ihre Mittel benützt, um nach erprobten Methoden in Paris Effekten zu kaufen […]. Die Kräfte reichen aber nicht aus, um gleichzeitig große Engagements in Paris und in Wien […] zu halten und so verödet das Geschäft in Wien […].«472
Große Aktienpakete kamen auf den Markt473, immer neue Engagements erwiesen sich als deckungsschwach und faul474. Nachdem aus diesen Gründen bereits ab Mitte 471 Zitiert bei Ausch, S. 139. 472 ÖVW, Die Bilanzen, 19. Jänner 1924, S. 116. 473 Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 26. Jänner 1924, S. 123 und 9. Februar 1924, S. 139. 474 ÖVW, Aus der Woche, 26. Jänner 1924, S. 496 und 9. Februar 1924, S. 559 f.
Börsenhausse und Börsenkrach 1923–1924
Jänner die Aktienkurse an der Wiener Börse abzubröckeln begonnen hatten, wurde diese nach unten gerichtete Bewegung durch die Verkäufe, die die Spekulanten zur Deckung ihrer Francverluste tätigten, enorm beschleunigt475. Die Kurseinbrüche konnten auch durch die Bildung eines Interventionssyndikats der Großbanken in der zweiten Märzhälfte 1924476 nicht verhindert werden : Es kam zwar zu keiner Börsenpanik, zu keinem »schwarzen Freitag«, die Kurse fielen aber innerhalb kurzer Zeit um 30 bis 40 Prozent. Als die Lage im April immer schwieriger wurde477, stellte Völkerbundkommissär Zimmermann dem Bankensyndikat aus dem Erlös der Genfer Anleihe einen Betrag von 300 Mrd. Kronen als kurzfristigen Kredit zur Verfügung478. Wenige Wochen später mussten die Großbanken die Allgemeine Depositenbank stützen ; eine Reihe anderer kleiner Aktienbanken brach zusammen, von den unzähligen Winkelbanken ganz zu schweigen, die so rasch von der Bildfläche verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Die Vernichtung von Sparkapital durch die Bankenzusammenbrüche, der Wegfall des Überkonsums der Spekulanten, die Freisetzung von Arbeitskräften in der Luxusgüterindustrie und im Dienstleistungssektor (insbesondere bei den Banken) waren allein schon geeignet, jener Krise zum Durchbruch zu verhelfen, die 1923 infolge der Börsenhausse und der oben angeführten anderen Ursachen hinausgezögert worden war. Die Krise wurde verstärkt durch den Abzug von kurzfristigen Auslandsgeldern und durch eine allgemeine »Kreditkrise«, da viele Banken und Industriefirmen in der Zeit der Börsenhausse auf das Kriterium der Liquidität nur wenig Bedacht genommen hatten. Die krisenhaften Erscheinungen im monetären Sektor spiegelten sich auch in einem dramatischen Schwund der Devisenreserven und einem nicht minder beunruhigenden Anwachsen der Wechseleinreichungen bei der Notenbank als dem »lender of last resort« wider (siehe Tabelle 38). Die Devisenbestände der Nationalbank nahmen vom 7. Jänner bis 7. Juni 1924 um ca. 27 % ab ; der Wechselbestand vermehrte sich vom 15. Jänner bis 7. August um fast 190 %. Dem entsprach eine Vermehrung des Notenumlaufs (Banknoten und Giroverbindlichkeiten) um 23,8 % zwischen dem 23. Jänner und dem 7. September dieses Jahres479. Dies wurde vom Völkerbundkommissär zum Anlass für eine heftige 475 ÖVW, Die Bilanzen, 22. März 1924, S. 186. Kurze Zeit später wurde berichtet, dass die »allerreichsten spekulativen Finanzmänner« seit Wochen große Aktienpakete abgäben, um ihre Verluste aus der Francspekulation zu decken bzw. gekündigte Kredite zurückzuzahlen. Siehe : W.F., Die Börsenkrise, S. 790. 476 Ebenda, S. 789. 477 Siehe : ÖVW, Aus der Woche, 5. April 1924, S. 811 f und 19. April 1924, S. 875 f. 478 Ausch, S. 142 ; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924, S. 119 f. 479 Quelle : Layton/Rist, Annex II. Die Inanspruchnahme der Notenbank durch die Wirtschaft war in
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146
Zerfall der Monarchie und Inflation
Polemik gegen die Notenbank genommen. Der Vorwurf lautete, die Bank gefährde durch die Vermehrung des Geldumlaufs die Währung ; sie betreibe »Kreditinflation«480. Obwohl der Präsident der Nationalbank, Richard Reisch, diesen Vorwurf entschieden zurückwies, erzwang Zimmermann im Verein mit dem neuen Berater der Nationalbank, dem Holländer Anton van Gyn, eine deflationistische Kreditpolitik : Am 5. Juni 1924 wurde unter dem Druck der Bank of England die Bankrate von 9 auf 12 % erhöht und am 13. August erneut um weitere 3 % auf einen Satz von 15 % hinaufgesetzt. Erst Anfang November des Jahres wurde mit einer Reduktion des Zinssatzes auf 13 % eine Wende eingeleitet481. Tabelle 38 : Wechselportefeuille und Devisenvorräte der Oesterreichischen Nationalbank im Jahr 1924 (in Mio. S) I Devisen 7. Jänner
436,8
II Wechsel
III Summe I + II
124,8
561,6
31. Jänner
390,2
125,1
525,3
29. Februar
402,7
173,5
576,2
31. März
406,1
173,2
579,3
30. April
377,6
213,1
590,7
31. Mai
345,2
265,9
611,1
30. Juni
328,6
308,1
636,7
31. Juli
336,4
330,3
666,7
31. August
356,1
322,5
678,6
30. September
383,4+
285,1
668,5
31. Oktober
414,2++
237,9
652,1
30. November
442,3+++
194,4
636,7
15. Dezember
453,7++++
184,6
638,3
+ Davon Kostdevisen 4,2 %. ++ 9,4 %. +++ 22,1 %. ++++ 26,7 %. Quelle : Layton/Rist, Annex II.
Wirklichkeit noch größer, da sich im Verlauf des Jahres 1924 die Bundesschuld an die Nationalbank von 253,3 auf 219,5 Mio. S verringerte. 480 Zitiert bei Ausch, S. 150. 481 Siehe : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924, S. 125 f.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Es ist zweifelhaft, ob die Erhöhung des Zinssatzes jene positive Wirkung hatte, die man ihr von ausländischer Seite zuschrieb. Vielmehr dürfte die im August eingeführte strenge Wechselzensur und die daraus resultierende Kreditdrosselung den Abbau des Wechselportefeuilles herbeigeführt haben. Die Politik des »teuren Geldes« führte aber zu einer Verteuerung der Kredite für die österreichische Wirtschaft in einem solchen Ausmaß, dass man geradezu von einem prohibitiven Zinsniveau sprechen muss. Denn nun, da den Unternehmen die Methode der Geldbeschaffung durch Aktien emissionen nicht mehr offen stand, waren sie umso stärker auf den Kredit der Banken angewiesen. Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit in der zweiten Jahreshälfte 1924 war daher teilweise auch auf die hohe Zinsbelastung der Industrie zurückzuführen. Nicht der von den Befürwortern des deflationistischen Kurses erwartete positive Selektionsprozess kam so in Gang, sondern es folgte ein Zustand der wirtschaftlichen Agonie, von dem sich Österreich erst allmählich wieder zu erholen vermochte.
7. Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Jedem unvoreingenommenen Beobachter des österreichischen Wirtschaftslebens war zu Ende der Inflationsperiode klar, dass die Probleme des durch die Geldentwertung künstlich aufgeblähten Banksektors einer dringenden Lösung bedurften : Bereits während der Inflation hatten die Beamten des Finanzministeriums in internen Stellungnahmen wiederholt ein Bankensterben für die Zeit nach der Währungsstabilisierung vorhergesagt482. Auch die Überdimensionierung des Apparats der Großbanken musste zu Sorge Anlass geben ; und nicht zuletzt hatten die Bankzinsen auch nach dem Ende der Inflationszeit ein alarmierend hohes Niveau beibehalten, das die durch die Stabilisierung der Währung entstandenen Probleme der österreichischen Indus trie weiter verschlimmerte. Die Krise des Bankwesens wurde 1923 durch die Börsenhausse und ihre Folgeerscheinungen (wie die Alimentierung der Luxusgüterproduktion) hinausgezögert ; die Banken konnten daher in diesem Jahr beträchtliche Gewinne lukrieren. Im darauffolgenden Jahr jedoch wurde der Kreditsektor von einer schweren Krise erschüttert. Die Allgemeine Depositenbank und die Wiener Lombard- und Eskomptebank waren nur die größten Institute, die im Gefolge der Börsenkrise zusammenbrachen. Daneben 482 Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 16.038, 46.945 und 94.1241/1921. In einem der Aktenstücke hieß es beispielsweise : »Wir haben […] nicht nur genug, sondern sogar zu viel Banken. Wenn einmal die Möglichkeit großer Gelegenheitsgewinne weggefallen sein wird, dürfte so manche Bank mangels eines genügend großen Wirkungskreises in Schwierigkeiten geraten.« Zl. 16.038/1921 (Herv. im Original).
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148
Zerfall der Monarchie und Inflation
Tabelle 39 : Bankensterben im Jahr 1924 Grün dungs jahr
Grün dungskapital
erhöht auf
Anmerkung
in Mio. K Liquidierende Banken Adriatische Bank
1905 bzw. 1921
15 Mio. ital. Lire
500
Allgemeine Handels- und Gewerbebank, Graz
1920
10
500
Allgemeine Industriebank
1921
1.000
2.000
Austria-Bank A.G.
1922
500
1.500
Austro-Holländische Bank
1921
10
1.000
Austro-Orient-Bank
1921
Austro-Polnische Bank
1922
400
4.400
Burgenländische Zentralbank
1922
300
1.500
DeutschösterreichischUngarische Wirtschaftsbank
1922
Deutsche Bodenbank
1918
5
600
Export- und Industriebank
1919
12
500
Internationale Handelsbank
1916
Nordisch-Österreichische Bank
1922
300
800
Oesterreichische Kaufmännische Bank
1923
2.000
5.000
Wiener Bank A.G.
1919
10
500
Wiener Handelskreditbank
1922
300
1.600
Wiener Kaufmannsbank
1922
300
1.200
1,5
300 (ungar. K)
2,5
50
1.250
2.000
Von anderen Instituten aufgenommene Banken Allgemeine Finanzierungs AG
1923
10.000
15.000
Neue Wiener Bankgesellschaft
Britisch-Österreichische Bank und Handels-A.G.
1922
350
3.000
»Kompaß« Allgemeine Kreditund Garantiebank
1920
12
3.000
Centralbank der deutschen Sparkassen
Österreichische allgemeine Kreditbank
1924
50
3.000
Treuga Bank A.G.
Wiener Merkantilbank (Wiener Transithandelsbank)
1922
20
2.000
Verkehrskreditbank
Niederösterreichische Bauernbank
Quelle : Compass, diverse Jahrgänge.
Aufnehmende Bank
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Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
stellten über zwanzig andere kleine Aktienbanken, die zum Teil erst nach dem Weltkrieg entstanden waren, den Betrieb ein. Einige andere wurden von befreundeten Instituten gestützt bzw. übernommen (siehe Tabelle 39). Tabelle 40 : Anzahl der Aktienbanken und der Privatbankfirmen in Österreich 1913–1927 (Jahresendstände) Aktienbanken 1913
27
(26)*
1918
31
1919
34
1920
36
1921
52
1922
70
1923
76
(61)*
1924
71
(58)++
1925
59
(31)+++
1926
36
(24)++++
1927
34
(152)+
1928
32
Privatbankfirmen und Kommanditgesellschaften 194
(150)*
(150)*
(282)+
(260)*
(146)+ 367
377
(260)+ (230)+
(175)*
236
+ ++
Angaben in Klammern laut Federn, Die österreichischen Banken, S. 56. Die in Klammern gesetzte Zahl ergibt sich nach Abzug der 13 Banken, die wegen Liquidation keine Bilanz vorlegten. +++ Nach Abzug von 28 Banken, die nicht bilanzierten. ++++ Nach Abzug von 12 Banken, die keine Bilanz vorlegten. * Nach Layton/Rist, S. 18. Quellen : Compass, Jg. 1915–1930 ; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, 1.–9. Jg. ; die in der Literatur (auch der zeitgenössischen) aufzufindenden Angaben weichen z. T. sehr erheblich voneinander ab. Sie betragen z. B. für die Aktienbanken im Jahr 1924 : 58, 61, 68 (zweimal genannt) und 71.
Bei den zusammengebrochenen Banken handelte es sich im Allgemeinen um schlecht fundierte Gebilde, deren Zweck – wenn auch nicht deklariert oder von vornherein angestrebt – sich fast ausschließlich im Betreiben von Spekulationsgeschäften erschöpft hatte. Trotz dieser ersten Welle des Bankensterbens gab es Ende 1924 noch immer eine weitaus größere Anzahl von Aktienbanken als vor dem Ersten Weltkrieg (siehe Tabelle 40). Die Jahre 1923 und 1924 markieren den Höhepunkt der Ausdehnung des Bankwesens, die sich nicht bloß auf die Aktienbanken beschränkte : Bei den
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Privatbanken war zweifellos eine noch größere Wucherung zu konstatieren. Bevor das Bankensterben einsetzte, gab es in Österreich etwa 1.500 »Bankgeschäfte« gegenüber einer Zahl von ungefähr 1.000 im September 1922483. Die offizielle Statistik spiegelt diesen Expansionsprozess nur sehr unvollkommen wider. Tabelle 40 enthält die Anzahl der Aktienbanken sowie jene der privaten Bankfirmen, soweit sie aus dem »Bankiersbuch« des »Compass« bzw. aus offiziellen statistischen sowie zeitgenössischen Veröffentlichungen zu rekonstruieren ist. Eine Aufstellung der Bankkommission über die Zahl der »Bankstellen« in Österreich in den Jahren 1914 bis 1923 kam auf eine noch größere Zahl von Kreditinstituten. Die Ergebnisse dieser Erhebung sind in Tabelle 41 zusammengefasst. Hand in Hand mit der Expansion des Bankwesens ging eine enorme Zunahme der Zahl der Bankangestellten. Diese hatte im Jahr 1913 (im Gebiet der späteren Republik) 8.000 betragen. 1919 machte sie 12.600 aus. Bis zum Anfang des Jahres 1924 war sie auf 25.500 gestiegen, wovon allein 22.500 auf die Großbanken (Creditanstalt, Boden-Credit-Anstalt, Bankverein, Anglobank, Länderbank, Unionbank, Verkehrsbank und Depositenbank) entfielen484. Tabelle 41 : Zahl der Bankstellen in Österreich 1914–1923 (nach den Erhebungen der Bankkommission) August 1914 Aktienbanken Filialen derselben Ges.m.b.H.
August 1919
August 1923
38
50
82
207
228
427
16
27
13
Kommanditgesellschaften
7
7
57
Filialen derselben
–
–
4
220
213
380
–
2
12
16
20
36
–
–
13
504
547
1.024
Bankfirmen in Wien Filialen derselben Bankfirmen in der Provinz Filialen derselben Insgesamt
Quelle : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 1406/1927. 483 Denkschrift der Bankkommission, S. 3, Sp. 2. 484 Federn, Die österreichischen Banken, S. 56. Die Zahl der Angestellten der Großbanken wurde errechnet aufgrund von Angaben, die sich im ÖVW, Die Bilanzen, verstreut über die Jahre 1924 bis 1927 sowie 1934 finden. Als Datenbasis diente weiters : BA, VWP-BCA vom 20. Mai 1925 und Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1925, S. 183 und 377.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
In einem Schreiben des »Verbandes österreichischer Banken und Bankiers« an den Völkerbundkommissär vom 26. August 1925 wurde die Notwendigkeit so großer Personalaufstockungen mit staatlichen Eingriffen (wie der Vermögensabgabe), den mit dem Friedensvertrag von St. Germain zusammenhängenden Arbeiten sowie mit der Währungstrennung und Geldentwertung begründet. In den letzten Stadien der Inflation hätten die Kunden der Banken größten Wert darauf gelegt, »selbst die kleinsten Eingänge in ausländischen Währungen« entsprechend verbucht zu sehen, was zu einem riesigen Anschwellen der Zahl der Konten geführt habe. Auf diese Weise sei »die Summe der Arbeit durch die vielstelligen Zahlen, welche infolge der Entwertung der Währung sich ergaben«, noch weiter gesteigert worden485. Zu dieser Zeit waren Rechenmaschinen im Bankwesen Österreichs noch weitgehend unbekannt ; sie wurden erst in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre in verstärktem Maße eingesetzt. Dies hatte zur Folge, dass die Zahl der Angestellten bei den Kreditinstituten tatsächlich proportional zu den »vielstelligen Zahlen« anschwoll. Auf diese Weise wurde in den Jahren bis 1923 ein Problem wesentlich gemildert, das unter dem Begriff der »Mittelstandskrise« die Zeitgenossen immer wieder beschäftigen sollte : Repräsentanten des Ancien Régime, vor allem ehemalige Offiziere und abgebaute Beamte, fanden in der Inflationszeit Anstellung bei den Banken und in den Comptoirs der Industrieunternehmen486. Nach dem Ende der Börsenhausse setzte allerdings ein rascher Abbau der Bankangestellten ein : Bis zum 1. Jänner 1925 war die Zahl der Mitglieder des Reichsvereins der österreichischen Bankangestellten auf 16.600, d. h. um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorjahrsstand gesunken487. Bereits im Juli 1924 schrieb Gustav Stolper in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel »Krisensymptome« : »Bis Ende des Jahres muß mit etwa 10.000 arbeitslosen Bankangestellten und mit einer weit größeren Zahl von arbeitslosen Handelsangestellten gerechnet werden. Das Problem, vor dem man bereits im Jahre 1919 stand, als es galt, Zehntausende von Offizieren bürgerlichen Berufen zuzuführen, und das damals im Handumdrehen gelöst werden konnte, weil der Zusammenbruch der Staatsfinanzen und die Inflationskonjunktur Arbeitsposten in Hülle und Fülle schufen – in dem großen Kapitalaufzehrungsprozeß konnten auch diese neu begründeten Berufsexistenzen eingegliedert werden –, taucht unter schwierigen Bedingungen von neuem auf. Zum großen Teil trifft die Not dieselben Personen, da sie als 485 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 76.843/1926. 486 Siehe : Uranitsch, S. 188 f ; Layton/Rist, S. 8. 487 Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924, S. 130.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Vertragsbeamte mit der relativ geringsten Zahl von Dienstjahren dem Abbau zuerst zum Opfer fallen.«488
Nach der Stabilisierung der Krone im Herbst 1922 war die Ausdehnung des Kreditsektors für eine kurze Zeit zum Stillstand gekommen, um im Frühjahr 1923 mit dem Erwachen der Börsenkonjunktur erneut (und mit umso größerer Heftigkeit) einzusetzen. In der Zeit von März bis Dezember 1923 wurden 80 neugegründete Bankfirmen ins Handelsregister eingetragen. Dazu kam eine nicht mehr feststellbare Zahl von Firmen, die handelsgerichtlich noch nicht protokolliert waren, als die Krise einsetzte. Ein wahrscheinlich noch größerer Teil war gewerbebehördlich nie angemeldet. Dies gilt vor allem für die große Zahl der Zwergbanken mit höchstens ein bis zwei Angestellten : Der Nachrichtendienst der Wiener Finanzlandesbehörde eruierte in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 120 derartige unbefugt betriebene Bankgeschäfte489. Die Inhaber bzw. Gesellschafter der neu ins Leben gerufenen Banken waren, wie die Bankkommission feststellte, »nur zum Teile Bankfachleute oder solche, die dafür gelten können. Marktkommissäre, Postoffiziale i.P., Ärzte wechseln ab mit Holzhändlern, Architekten, Textilhändlern, Elektromonteuren, Handelsagenten, Inhabern von Realitätenbureaus, Landwirten und Rentnern«490.
Zum Teil spielten auch, wie bereits erwähnt, Vertreter der hohen staatlichen Bürokratie oder pensionierte ehemalige Minister als Funktionäre oder Aufsichtsräte von Banken eine gewisse Rolle. Eine dieser Banken mit prominenter personeller Besetzung war die Biedermannbank. An der Umwandlung des Privatbankhauses M. L. Biedermann & Co., dessen Gründung auf das Jahr 1792 zurückging, in eine Aktienbank wirkte der bekannte Ökonom und Staatssekretär für Finanzen im Jahre 1919, Joseph Schumpeter, mit. Bei dieser Transaktion handelt es sich zweifellos um ein seriöses Bankprojekt. Im Zusammenwirken mit englischem Kapital sollte ein Institut entstehen, dem eine dreifache Aufgabe gestellt war : die Förderung des Klein- und Mittelbetriebes (als eines den neuen Kleinstaatverhältnissen adäquaten Typus), die Animierung westlichen Kapitals zur dauernden Veranlagung in Österreich und – darüber hinaus – die Pflege des »in488 G.St., Krisensymptome, S. 1256. 489 Denkschrift der Bankkommission, S. 2, Sp. 1. 490 Ebenda.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
ternationalen« Geschäfts, d. h. der Vermittlungsfunktion zwischen Westeuropa und dem Donauraum491. Neben Schumpeter, der selbst ein Fünftel des Aktienkapitals zeichnete, wirkten an der Gründung der Bank Gottfried Kunwald, der finanzpolitische Berater Ignaz Seipels, englische Erdölunternehmer (»Petroleure«, wie es in einem Akt des Finanzministeriums hieß), das Londoner Bankhaus Japhet & Co., das Haus Ofenheim sowie die Anglo-österreichische Bank mit492. Schumpeter wurde zum Präsidenten der Bank gewählt, Kunwald zu einem der beiden Vizepräsidenten. Die beiden erfahrenen Finanzleute hatten sich jedoch, was die Prosperität und die Entwicklungsmöglichkeiten des Instituts betrifft, gründlich geirrt. Weder gelang es, ausländisches Kapital in ausreichendem Maß zu mobilisieren, noch konnte die Bank ihrem eigentlichen Zweck (Förderung der mittelständischen Industrie und Wahrnehmung einer auf den gesamten Donauraum orientierten Funktion) gerecht werden. Dazu kam, dass die Periode der Inflation länger und intensiver ausfiel, als Schumpeter und sein Kollege angenommen hatten. Schon kurz nach dem Ende der Inflation hatte der »Österreichische Volkswirt« auf die außergewöhnlichen Schwierigkeiten der nach dem Krieg gegründeten Banken hingewiesen, die nicht, wie die alten Institute, »von altem Fett zehren« könnten493. »So weit solche Banken«, hieß es im »Volkswirt« weiter, »auch noch Industrieunternehmungen sich angegliedert haben, ist ihre Lage natürlich noch viel sorgenvoller, denn gewöhnlich sind es nicht die besten und konsolidiertesten Unternehmungen, die zu ihrer Kundschaft zählen, sondern schwache Pflanzen der Nachkriegskonjunktur […]«494.
Diese Feststellung traf in hohem Maß auch auf die Biedermannbank zu, die im Jahre 1924 große Verluste nicht bloß an Aktien, sondern auch im kommerziellen Kreditgeschäft erlitt,
491 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 16.038 und 34.021/1921. Siehe zur Biedermannbank auch : Ausch, S. 192 ff ; Resch, Die M.L. Biedermann & Co Bankaktiengesellschaft 1922–1927/31 ; Natmeßnig/Weber, Gemeinsam Reisen : Wirtschaftsgeschichte und Ökonomie, S. 188 f. 492 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 34.021/1921. Eine Beteiligung der Anglobank wird erwähnt in : Compass, Jg. 1925, S. 364 sowie NA, Microfilm, MC. No. 695, Roll 51, C.696 ff. Die Anglobank selbst hat eine solche Beteiligung immer in Abrede gestellt. 493 Krise im Bankgewerbe : ÖVW, Die Bilanzen, 25. November 1922, S. 59. 494 Ebenda, S. 60.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
»da gerade die mittleren Kreise von Industrie und Handel […] von der Krise besonders hart erfaßt wurden«495.
Die Biedermannbank hatte sich bereits 1923, entgegen ihren ursprünglichen Intentionen, an Effektenspekulationen beteiligt ; sie war auch in anderer Hinsicht gezwungen, ihrem Programm zuwiderzuhandeln, indem sie versteckte staatliche Subventionen, die ihr aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Beziehungen ihrer führenden Persönlichkeiten zugänglich waren, in Anspruch nahm. Das Unternehmen wurde mit der Abwicklung des Salzgeschäfts der Österreichischen Bundesbahnen betraut, nahm an Transaktionen der Tabakregie teil und erhielt beträchtliche öffentliche Mittel als Einlagen496. Die Bereitstellung staatlicher Gelder war eine Praxis, aus der einige Banken Nutzen zogen, die über »politische« Verbindungen verfügten und in Schwierigkeiten geraten waren (die, wie man fairerweise hinzufügen muss, von den verantwortlichen staatlichen Stellen für temporär gehalten wurden). Im Falle der Biedermannbank wurden einmal 3 Mrd. und im Herbst 1923 9 Mrd. Kronen vom Bund vorgestreckt, wobei der zuletzt genannte Betrag nur noch dazu diente, das Loch in der Gebarung der Bank zu stopfen. Auf diese Weise vermochte sich die Bank noch einige Zeit über Wasser zu halten. Aber schon anlässlich der Goldbilanzerstellung mussten 30 Mrd. Kronen an Verlusten – bei einem Eigenkapital von rund 36 Mrd. – abgeschrieben werden. 1925 wurde noch ein letzter Versuch zur Rettung der Bank gemacht, indem neue Verbindungen zu westlichen Kapitalgruppen geknüpft wurden. Als die Biedermannbank aber auch noch an einer dieser neuen Bankverbindungen, der Bankfirma Morgan, Livermore & Co. in New York, Verluste erlitt, waren ihre Tage gezählt : Eine gegen Ende des Jahres 1926 einberufene Generalversammlung beschloss, das Institut zu liquidieren497. Die 12 Mrd. Kronen (= 1,2 Mio. S), die der Bund der Bank als Einlage zur Verfügung gestellt hatte, waren verloren498. Besonders eng war die Verbindung von Geschäft und Politik bei der Mehrzahl der nach 1918 gegründeten Provinzbanken. Zwischen November 1918 und Ende 1923 wurden in den österreichischen Bundesländern insgesamt 20 Aktienbanken installiert, wobei in zehn Fällen Politiker bzw. hohe Beamte des jeweiligen Bundeslandes in den Verwaltungsgremien vertreten waren499. Daneben spielten Repräsentanten von 495 Compass, Jg. 1926, S. 366. 496 Ausch, S. 193 f. 497 Ebenda, S. 196 f. 498 Siehe : ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 859 vom 17. März 1933 ; März, Joseph Alois Schumpeter, Vorwort, S. 12 sowie die auf S. 169 ff wiedergegebenen Briefe Schumpeters. 499 Für eine detaillierte Schilderung siehe : Weber, Der finanzielle Länderpartikularismus ; Natmeßnig/ Weber, Die österreichischen Provinzbanken, S. 103 ff.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Institutionen wie Bauernorganisationen, Klerus usw. eine gewisse Rolle. Diese Provinzbanken waren Ausdruck der Selbständigkeitsbestrebungen der Bundesländer, wie sie auch auf politischem Gebiet beobachtet werden konnten : In der Hauptsache ging es darum, finanzielle Mittel unabhängig von Wien und von den Wiener Großbanken zum Zwecke der Förderung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus bzw. der Entwicklung dieser Regionen zu mobilisieren und »alle offiziellen oder halboffiziellen Finanzgeschäfte […] Instituten anzuvertrauen, die in den Ländern selbst basieren«500.
Einige der neugegründeten Provinzbanken nahmen sehr bald ein unrühmliches Ende, wie die Niederösterreichische Bauernbank und die Steirerbank. Unter den neuen Banken befanden sich aber auch eine Reihe seriöser Institute, wie die Kärntner Bank AG oder Bankunternehmen, die unter Beteiligung deutscher Banken errichtet worden waren : Die Salzburger Kredit- und Wechsel-Bank, das Bankhaus Ehrfeld & Co. in Klagenfurt501, die Tiroler Landesbank und die Tiroler Hauptbank. Besonders interessant erscheint der Fall der Hauptbank, zu deren Hauptaktionären die Deutsche Bank und – seit 1924, nach dem Austritt der Credito Italiano – die Boden-Credit-Anstalt gehörten. Dieses 1920 gegründete Institut war als Crédit-Mobilier-Bank konzipiert und sollte, wie aus dem gemeinsamen Konzessionsansuchen der Tiroler Landesregierung und der Deutschen Bank hervorgeht, »in erster Linie den Ausbau der Tiroler Wasserkräfte und die Errichtung anzuschließender Industrien […] finanzieren«502.
Die Entwicklung des Tiroler Bankwesens verlief überhaupt sehr bewegt : 1918 hatte es nur eine bodenständige Aktienbank gegeben, die Bank für Tirol und Vorarlberg, die 1904 unter Mitwirkung der Verkehrsbank in Wien gegründet worden war. Ende 1923 verfügte Innsbruck über fünf Aktienbanken ; Ende 1926 war diese Zahl bereits wieder auf zwei zurückgegangen. Die neugegründeten Banken waren die Tiroler Landesbank, deren Aktienmehrheit sich im Besitz der Tiroler Landesverwaltung befand, die Tiroler Hauptbank, an der das Land mit 30 % beteiligt war (die anderen Großaktionäre waren, wie gezeigt, der Credito Italiano sowie die Deutsche Bank in Berlin), die Alpenländische Vereinsbank, die als Kreditinstitut des Tiroler Klerus fungierte, und die 500 Die neue Wirtschaft, Die Konzentrationsbestrebungen der Banken, 23. Juli 1925. 501 Die Bank konnte erst 1927, gemeinsam mit der Boden-Credit-Anstalt, in die Bank für Kärnten AG umgewandelt werden. 502 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 52.064/1920.
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Agrarbank für die Alpenländer, in deren Administration die Vertreter der westösterreichischen Bauernorganisationen das Übergewicht hatten503. Die Sanierung der Tiroler Banken war von politischen Erwägungen geleitet, da bei einem etwaigen Zusammenbruch der Agrar- bzw. Vereinsbank eine Kompromittierung von Landespolitikern befürchtet wurde, die der Christlichsozialen Partei nahestanden504. Am offensichtlichsten war die Verquickung von Politik und Kommerz jedoch im Falle der Steirerbank in Graz. An diesem Institut waren verschiedene hohe Landespolitiker und -beamte als Aktionäre interessiert. Landeshauptmann Anton Rintelen war Präsident des Verwaltungsrates, sein Stellvertreter Jacob Ahrer Vizepräsident. Für die Errichtung der Steirerbank im Jahr 1920 hatte sich die gesamte Führungsspitze der Christlichsozialen Partei eingesetzt505. Die Bank wurde daher in späteren Jahren auch von den Beamten des Finanzministeriums als das »offiziöse christlichsoziale Landesinstitut« angesehen506. Gegen den Widerstand der beteiligten Beamten des Finanz- und Innenministeriums erhielt die Steirerbank von Anfang an ein Sonderstatut507, zu dem sich der zuständige Referent des Finanzministeriums, Ministerialrat Viktor Brauneis, wie folgt äußerte : »Am 14. d. M. [Februar 1920, d. Verf.] hat der gef. Referent an der vom St.A.f.I.u.U. anberaumten Besprechung über das vorliegende Projekt teilgenommen […]. Alle Teilnehmer dieser Besprechung wiesen darauf hin, daß der vorliegende Statutenentwurf einer sachlichen Überprüfung schwerlich standhalten könne und Bestimmungen enthalte, die mit den gesetzlichen Bestimmungen und den Grundsätzen einer jahrelangen Praxis der Konzessionsbehörde kaum vereinbar seien. Unter dem Einflusse des von den Gründern ausgeübten politischen Druckes haben jedoch alle beteiligten Herren Staatssekretäre den Referenten die Direktive gegeben, den Wünschen der Gründer in weitestgehendem Umfange entgegenzukommen.«508 503 Siehe dazu : Weber, Der finanzielle Länderpartikularismus ; Natmeßnig/Weber, Die österreichischen Provinzbanken, S. 130 ff. 504 Siehe : ÖVW, 31. Oktober 1925, S. 119 ; Ahrer, S. 120 f ; BA, VSP-BCA vom 3. November und 5. Dezember 1924. 505 Im Gründungsakt betreffend die Steirerbank aus dem Finanzministerium hieß es : »Es handelt sich hier um eine politische Gründung, was ausdrücklich von den Konzessionsbewerbern mitgeteilt wurde. Die Durchsetzung dieser Bankgründung aufgrundlage des vorliegenden Statutenentwurfes wird von der gesamten christlichsozialen Partei als Parteisache aufgefaßt.« ÖStA/AdR/BMF, Zl. 8211/1920. 506 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 42.003/1921. 507 Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 8211, 12.711 und 19.999/1920. 508 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 12.711/1920.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
In der zweiten Hälfte der 20er-Jahre, als die Steirerbank manövrierunfähig geworden war, waren es wiederum die Interventionen der Politiker – insbesondere des damaligen Finanzministers Ahrer –, die eine stille Sanierung der Bank mit öffentlichen Mitteln bezwecken sollten. Politische Interventionen gab es nicht nur bezüglich der Steirerbank und anderer Bundesländerbanken ; auch bei einigen Gründungen in Wien war die politische Hand mit im Spiel, so etwa bei der Deutschen Bodenbank, für die sich großdeutsche Politiker stark machten509, bei der Österreichischen Credit- und Escompte-Bank510 und anderen. Selbst in einem Artikel mit dem Titel »Wandlungen im Wiener Bankwesen«, den das Zentralorgan der Christlichsozialen Partei, die »Reichspost«, am 18. Mai 1921 veröffentlichte, wurde die liberale Konzessionsvergabe des Finanzministeriums angegriffen und zugleich auf die schädliche »Verquickung von Staatsdienst und Privatdienst«, d. h. die Betätigung aktiver Staatsbeamter auf dem Gebiet des Bankwesens, aufmerksam gemacht511. In der internen Verantwortung des Departement II des Finanzministeriums an den Minister wurde festgestellt, dass den Beamten »nahezu täglich« neue Bankprojekte vorgetragen würden, dass aber in der jüngsten Zeit keine neuen Gründungen bewilligt worden seien, mit Ausnahme der erwähnten Österreichischen Credit- und Escompte-Bank. Diese sei, so wurde betont, eine »Konzession an christlichsoziale Parteigänger« gewesen, »für welche sich die Partei mit allem Nachdruck eingesetzt hat«512. Generell klagte Ministerialrat Reissenberger, der die Verteidigung des Departement II formuliert hatte, über die zunehmenden Interventionen von Politikern, wobei er insbesondere die großdeutschen Abgeordneten Emil Kraft und Hans Schürff erwähnte. Es waren diese zunehmenden Widerstände in den Reihen der hohen Bürokratie, die schließlich 1922 dazu führten, dass die Konzessionsvergabe für Aktienbanken generell eingestellt wurde513. Zur selben Zeit machten sich auch Widerstände aus christlichsozialen Kreisen in den Bundesländern gegen die liberale Konzessionierung von Banken und Bankfilialen bemerkbar. Diese Bedenken wurden von den Beamten des Finanzministeriums in die Vorarbeiten für eine generelle Neuregelung der Vergabe von Bankkonzessionen integriert514. Diese Vorbereitungen sollten allerdings noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen. 509 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 44.744/1921. 510 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 42.447/1921. 511 Reichspost, 18. Mai 1921, S. 7. 512 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 42.447/1921, siehe auch : Zl. 47.508/1921. 513 ÖStA/AdR/BMF, Zl. AP 974/1927. 514 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 54.613/1920, 46.945/1921.
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Bei diesen legistischen Arbeiten spielte eine neu geschaffene Institution, die sogenannte Bankkommission, eine wichtige Rolle. Diese war 1921 begründet worden515 und hatte bereits in ihrem ersten, am 30. September 1922 vorgelegten Bericht die Hypertrophie des österreichischen Bankwesens infolge der allzu freigiebigen Konzessionserteilung bei Aktienbanken und der Konzessionsfreiheit bei Privatbankfirmen kritisiert516. Im Juli 1923 veröffentlichte die Kommission eine Denkschrift mit dem Titel »Gesetzesentwürfe der Bankkommission betreffend zivilrechtliche Haftungen beim Betrieb von Bankunternehmungen und Standesgerichtsbarkeit für Bankleiter«517. Kurz vor Ausbruch der Börsenkrise des Jahres 1924 wiederholte die Kommission in einer Denkschrift über die Missstände im Kreditwesen ihre bisherigen Vorschläge und erweiterte sie in Richtung auf die Einführung eines generellen Konzessionszwanges im Bankgewerbe sowie die Kodifizierung eines allgemeinen Bankrechtes518. Erst die Bankenzusammenbrüche, die dem Börsenkrach folgten, bewirkten, dass die Vorschläge der Bankkommission im Parlament einer rascheren Behandlung zugeführt wurden : Anfang Juli 1924 wurde der Gesetzesentwurf über die zivilrechtliche Haftung beim Betrieb von Bankunternehmungen mit der Zustimmung aller drei Parlamentsparteien dem Finanz- und Budgetausschuss zugewiesen und bereits am 29. Juli nahm der Nationalrat das sogenannte Bankhaftungsgesetz an, das man als die legistische Verarbeitung der negativen Erfahrungen der davorliegenden Jahre im Bankwesen betrachten kann519. Dieses Gesetz enthielt auch die Festsetzung der Konzessionspflicht für das private Bankgewerbe. Die von der sozialdemokratischen Opposition geforderte rückwirkende Inkraftsetzung für drei Jahre, die eine Ahndung der begangenen kriminellen Delikte erlaubt hätte, wurde abgelehnt520. Das Bankhaftungsgesetz wurde ergänzt durch das Konzessionsergänzungsgesetz vom Dezember 1924 und die Bankgewerbekonzessionsverordnung vom Sommer 1925521. Walther Federn hat in einem Artikel, der sich mit dem Gesetzesentwurf der Bankkommission auseinandersetzte, die gravierendsten Missstände der Spekulationsära anschaulich in acht Punkten zusammengefasst : 515 BGBl. Nr. 543/1921, Bundesgesetz vom 7. Oktober 1921, betreffend die Einsetzung einer Fachkommission für das Bankwesen (Bankkommissionsgesetz). 516 f., Der Bericht der Bankkommission, S. 155. 517 Darauf wird Bezug genommen im XX. Vierteljahresbericht der Bankkommission aus dem Dezember 1926 : ÖStA/AVA-FHKA, SDPK, Karton 115 : »Danneberg«. 518 Denkschrift der Bankkommission, S. 5. 519 BGBl. Nr. 284/1924, Bundesgesetz vom 29. Juli 1924 (Bankhaftungsgesetz). Siehe auch : WF, Die Verantwortung der Bankleiter, S. 1223 ; ÖVW, 2. August 1924, S. 1351 (Kalendarium). 520 ÖVW, 2. August 1924, S. 1332. 521 BGBl. Nr. 427/1924, Bundesgesetz vom 3. Dezember 1924 und Nr. 263/1925, Bundesgesetz vom 11. August 1925.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
»1. Zahlreiche Neugründungen und Übernahmen von Bankunternehmungen durch Personen, welche zur Leitung einer Bank nach ihrem Charakter und nach ihren Fähigkeiten absolut untauglich waren und denen es an jeder Erfahrung auf diesem Gebiete mangelte. 2. Infolgedessen leichtfertige und gewissenlose Führung dieser Bankunternehmungen. Übermäßige Höhe der für eigene Rechnung der Banken, für Rechnung der Machthaber und der Kunden aufgehäuften Engagements und deren mangelhafte Fundierung durch Taggeld und andere kurzfristige Kredite. 3. Ausnützung der Bankunternehmungen durch ihre Machthaber zu eigenen Geschäften, insbesondere in der Inflationszeit, indem sie große Kredite in Anspruch nahmen, die sie dann bestenfalls in entwerteten Kronen zurückzahlten. 4. Maßloses Börsenspiel in Effekten und Devisen durch die Bankleiter und auch durch einen großen Teil des Bankpersonals und Inanspruchnahme des Vermögens und Kredites der Bank zu diesem Zweck. 5. Massenhafte Heranziehung des Publikums zum Börsenspiel. 6. Schiebungen in der Buchhaltung der Banken durch maskierte Konti und durch Umbuchung von Geschäften, die anfangs für Rechnung der Bank gemacht worden waren, auf das Konto von Machthabern, sobald das Geschäft Gewinn versprach, und umgekehrt. 7. Verwendung der unbelasteten Depoteffekten der Kunden zur Geldbeschaffung für die Bankunternehmen. 8. Mangelhafte Organisation und Buchführung der Bankenunternehmungen, auch massenhafte Heranziehung von ungeschultem und nicht vertrauenswürdigem Personal.«522
Durch das Bankhaftungsgesetz vom 29. Juli 1924 sollten derartige Missbräuche und Übelstände für die Zukunft vermieden werden. Es sah die Verschärfung der Haftpflicht des Vorstandes und des Großaktionärs von Bankaktiengesellschaften vor. Irgendeine Form von öffentlicher Kontrolle bezüglich der Gebarung der Kreditinstitute war damit jedoch nicht verbunden. Die Bankkommission verdankte ihre Entstehung dem Versuch der Großdeutschen Partei, ihre Zustimmung zur Verausländerung der Länderbank und der Anglobank im Herbst 1921, die als »nationaler Verrat« an ihrer deutschlandfreundlichen Einstellung hätte gedeutet werden können, durch eine populistische Geste zu kaschieren : Das »Gesetz betreffend die Einsetzung einer Fachkommission für das Bankwesen« wurde in derselben Sitzung des Parlaments vom 6. Oktober 1921 behandelt wie das »Länderbankgesetz«. Die antisemitischen Töne, die seine Begründung durch die großdeutschen Abgeordneten begleiteten, waren unüberhörbar : Es war von »Judenbanken«
522 WF, Die Verantwortung der Bankleiter, S. 1223.
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die Rede und manches Wort (wie der Vorwurf des »reinen Erwerbsinteresses«523 der Banken) erinnert fatal an die späteren Phrasen von »raffendem« und »schaffendem« Kapital524. Das Gesetz wurde schließlich mit den Stimmen der Regierungsparteien angenommen ; die Sozialdemokraten stimmten dagegen, da sie, wie es der Vorsitzende der Bankangestelltengewerkschaft, Heinrich Allina, ausdrückte, nicht ein »nichtssagende[s] und inhaltslos[es] […] Verlegenheitsgesetz« unterstützen wollten525. Die Sozialdemokraten waren Gegner des Gesetzes, weil es der Bankkommission keine praktischen Vollmachten übertrug, sondern sie auf das bloße Sammeln von Statistiken und auf Vorarbeiten für ein künftiges Bankgesetz beschränkte. Der liberale »Volkswirt« zeigte sich aus anderen Gründen von der neuen Institution wenig begeistert. In einem ersten Kommentar bezeichnete Walther Federn die Kommission als »nutzlos und schädlich«, denn »bei dieser ganzen Kommissionstätigkeit wird gar nichts herauskommen, außer einem riesigen Apparat und zahlreichen Denunziationen«. »Man wisse auch ohne Kommission«, fuhr Federn fort, »welche Mißbräuche im Bankwesen bestehen.«526
Erst in späteren Jahren – die Bankkommission bestand bis zum 31. Dezember 1926 – hat die Redaktion des »Österreichischen Volkswirt« ihren Standpunkt geändert : Zu viele Tatsachen, die die Notwendigkeit einer gewissen Kontrolle vor allem der neu entstandenen Banken unterstrichen, waren in den Jahren nach 1923 ans Tageslicht gekommen. Die Kommission setzte sich aus 15 Mitarbeitern zusammen, die zum Teil vom Parlament bestellt wurden, zum Teil Staatsbeamte waren. Zum Präsidenten der Kommission wurde der ehemalige k.k. Eisenbahn-Minister Heinrich Wittek bestimmt, seine beiden Stellvertreter waren Otto Conrad, Sekretär der Handelskammer, und Georg Stern, ein ehemaliger Beamter der Länderbank, der später der Sozialdemokratischen Partei beigetreten war und als einer ihrer profundesten Bankexperten galt527. Die Bankkommission hat, wie aus ihrem abschließenden Bericht an den zuständigen Sonderausschuss des Nationalrates hervorgeht, in den fünf Jahren ihres Bestehens insgesamt 100 Untersuchungen bei Aktienbanken und 160 bei Privatbankfirmen durch523 55. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich am 6. Oktober 1921, Abg. Max Pauly, S. 2072. 524 Abg. Heinrich Clessin, ebenda, S. 2092 ff. 525 Abg. Heinrich Allina, ebenda, S. 2092 ff. 526 f., Eine Bankbeobachtungsstelle, S. 15. Auf diesen Artikel Federns beriefen sich die Beamten des Dept. II des Finanzministeriums bei der Begründung ihrer ablehnenden Haltung zur Kommission. Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 82.617/1921. 527 BA, NL/Stern, Lebenslauf Georg Stern, verfasst am 31. Mai 1934.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
geführt und eine Reihe von Denkschriften zu verschiedenen Themen veröffentlicht, ohne dafür den gebührenden Dank zu ernten : Sie wurde in der Öffentlichkeit immer wieder angegriffen, und auch das Finanzministerium nahm, wie der Präsident der Kommission sich vornehm ausdrückte, eine »reservierte Haltung« ein. »Während die Kommission stets bemüht war, allen Wünschen des Finanzministeriums Rechnung zu tragen, fanden die Versuche der Kommission, ein Zusammenwirken mit dem Finanzamte herzustellen, nur geringes Entgegenkommen.«528
Dies dürfte nicht nur, wie Ausch meint, mit der Tatsache zusammenhängen, dass Hofrat Stern, der auf sozialdemokratischen Vorschlag hin in die Kommission berufen wurde, sich immer mehr zur treibenden Kraft der neuen Institution entwickelte529, sondern vor allem damit, dass die Finanzminister Kienböck und Ahrer und eine Reihe hoher Beamter des Ministeriums in diverse geheime Stützungsaktionen für eine Reihe von Banken involviert waren, die den Regierungsparteien nahestanden und aus politischen Erwägungen nicht fallengelassen werden durften. Von den Bankiers wie auch von den maßgebenden Beamten des Finanzministeriums wurde der großdeutsche Vorschlag zur Einsetzung einer Bankkommission als Affront empfunden. In gemeinsamen Sitzungen wurden daher noch vor der Behandlung des Gesetzesentwurfes im Plenum des Nationalrates verschiedene Änderungen in den Bestimmungen des Gesetzes erarbeitet, die die Befugnisse der Kommission stark beschränkten530. Tatsächlich reflektierte ja die Einbringung des Antrages eine gewisse bankenfeindliche Stimmung, die sich in der Zeit der Inflation ausgebreitet hatte und während der Börsenhausse von 1923 und der sie begleitenden Erhöhung des allgemeinen Zinsniveaus immer offenere Formen annahm. Der Sekretär des Bankenverbandes, Max Sokal, ging in seinen jährlichen Berichten über die Lage der Banken wiederholt auf diese Ressentiments ein. Schon im Rückblick auf die Jahre 1919 und 1920 hatte er darüber geklagt, »daß die österreichischen Banken […] einer inneren Front gegenüberstehen, einer Front des Mißtrauens und des Unverständnisses«531. Auch das Bankendepartement des Finanzministeriums sprach von einer »nur zum geringen Teil gerechtfertigten Propaganda gegen unsere Banken« und einer »demagogischen Beeinflussung der Massen«532. 528 XX. Vierteljahresbericht der Bankkommission für die Zeit vom 1. September bis Ende Dezember 1926. 529 Ausch, S. 28 f. 530 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 82.617/1921. 531 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1919 und 1920, S. 747. 532 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 82.617/1921.
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Einen ersten Höhepunkt erreichte diese gegen die Banken gerichtete Stimmung im letzten Stadium der Inflation, als die Kreditinstitute bei der Vergabe neuer Kredite sehr zurückhaltend waren und die Kreditzinsen einen großen Risikoaufschlag enthielten, mit dessen Hilfe sich die Banken gegen die Geldentwertung abzusichern versuchten533. Dies scheint eine mit der Hyperinflation eng verknüpfte, generelle Erscheinung zu sein. Denn die deutschen Banken hatten sich ein Jahr darauf mit denselben Vorwürfen auseinanderzusetzen. Die Vorwürfe kamen nicht nur von Seiten der Sozialdemokraten, auch der liberale »Volkswirt« polemisierte oftmals gegen die Tatsache, »daß sie [die Banken, d. Verf.] sich für ihre Kreditgewährungen übermäßig hohe Zinsen und Provisionen ausbedingen«534.
Klagen wurden wiederholt auch seitens der Industriellen bzw. Gewerbetreibenden laut535. Einen Höhepunkt erreicht der Unmut über die hohen Bankzinsen mit der einstimmigen Verabschiedung eines Beschlusses im Wiener Gemeinderat am 9. Februar 1923, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, eine Enquete über die Herabsetzung der Bankzinsen durchzuführen536. Der Druck auch unter der christlichsozialen Anhängerschaft war so groß geworden, dass Bundeskanzler Seipel meinte, er halte es für »politisch bedenklich«, wollte man die Willensäußerungen des Wiener Gemeinderates in einer Frage übergehen, »die die Interessen des gesamten Wirtschaftslebens berührt«. Er schlug daher vor, die Wiener Initiative nicht nur aufzugreifen, sondern sogar zu erweitern »und in die Erörterung auch die Ursachen der jetzigen Wirtschaftskrise und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung im allgemeinen sowie die Kreditfrage im besonderen einzubeziehen«537.
Der Ministerrat folgte dem Vorschlag Seipels und betraute Sozialminister Richard Schmitz, den späteren Bürgermeister von Wien nach 1934, mit der Organisation der Enquete. Diese etwas ungewöhnliche Delegierung eines Gegenstandes, der an sich in die Kompetenz des Finanzministeriums gefallen wäre, erwies sich als notwendig, weil 533 Sokal, Die Tätigkeit der Banken in den Jahren 1921 und 1922, S. 475 ff. 534 f., Eine Bankbeobachtungsstelle, S. 15. 535 Vgl. die Stellungnahme dazu in BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1922. 536 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 265 vom 9. März 1923. 537 Ebenda.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Finanzminister Kienböck die Abhaltung einer solchen Enquete für schädlich hielt : Zum einen fürchtete er, »daß dabei wahrscheinlich das Verlangen nach einer weniger zurückhaltenden Eskompte politik der Notenbank gestellt werden dürfte«,
was die Gefahr einer neuerlichen Inflation heraufbeschworen hätte. Zum anderen hielt er den Wunsch »nach einer gesetzlichen Begrenzung der Höhe der Bankzinsen« für unerfüllbar : »Die Hauptinteressentin«, so lautete seine Argumentation, »die Industrie, sei bereits mit dem Bankenverbande wegen Ermäßigung der Bankkonditionen in Verhandlungen getreten, die durch eine öffentliche Erörterung des Gegenstandes wahrscheinlich nur gestört würden.«
Kienböck erklärte sich zwar bereit, im Sinne des Wiener Antrages bezüglich einer Ermäßigung der Bankkonditionen auf die Kreditwirtschaft einzuwirken, äußerte aber zugleich die Meinung, dass eine wirkliche Lösung des Problems nur in einem gleichsam marktkonformen Sinn möglich sei : Der »Angelpunkt« der »ganzen Angelegenheit«, sagte er, liege bei der »Herabminderung der Verwaltungsauslagen« und bei der »Einschränkung des Apparates« durch Fusionen insbesondere bei den Mittelbanken538. Die Bankenenquete wurde Anfang April 1923 abgehalten, ohne dass ein greifbares Ergebnis zustande kam539. Zwar fanden sich die Banken zu gewissen Zugeständnissen (hauptsächlich in der Frage der Provisionen) bereit, doch blieben diese Konzessionen angesichts der durch die Börsenhausse angeheizten Kreditnachfrage und des Konditionenkartells der Banken ohne praktische Auswirkung540. Da aber die Diskussion über die Höhe der Kreditzinsen weiterging541 und die Kreditbelastung für die Industrie tatsächlich untragbare Dimensionen annahm – wie bereits erwähnt, 30 bis 40 % und zum Teil noch mehr –, war der Druck auf die Banken groß : Anfang Oktober 1923 kam es zu neuerlichen Verhandlungen zwischen dem Hauptverband der Industrie und dem Bankenverband, die Mitte November abgeschlossen wurden 538 Ebenda. 539 st., Die Bankenenquete, S. 726 ff. 540 ÖVW, Aus der Woche, 24. November 1923, S. 215 f. Das Konditionskartell der Banken bezog sich hauptsächlich auf die Passivzinsen. Es sollte verhindern, dass sich die Banken bei den Einlagezinsen gegenseitig überboten. 541 Vgl. ÖStA/AdR/BMF, Zl. 64.132 und 80.462/1923.
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und zumindest gewisse Erleichterungen für die Kreditnehmer brachten, indem die Konditionen für die Industrie mit 16 (ohne) bzw. 281/2 % (inklusive Provisionen) festgesetzt wurden542. Im Durchschnitt jedoch lagen noch im Jahr 1924 die Belastungen industrieller Kreditnehmer (Zinsen plus Provisionen) bei über 22 %. Die Zinsenmarge pendelte 1924 um die 10-Prozent-Marke und war damit wesentlich höher als vor dem Ersten Weltkrieg, als sie rund 3 % betragen hatte543. Die Banken selbst begründeten die Notwendigkeit einer so hohen Zinsspanne mit den gegenüber der Vorkriegszeit gewaltig gestiegenen Personalkosten und den höheren steuerlichen Lasten, wobei insbesondere die Valuten-, die Bankenumsatzsteuer und die Anfang 1922 eingeführte Geldumsatzsteuer sowie die Fürsorgeabgabe der Gemeinde Wien – sie betrug für Banken 81/2 % zum Unterschied von nur 41/16 % für andere Unternehmen – hervorgehoben wurden. Als typisch für die Haltung der Banken können folgende Sätze aus dem Geschäftsbericht der Creditanstalt für das Jahr 1923 gelten : »Auf dem österreichischen Bankbetriebe lasten die Effekten-, Devisen- und Geldumsatzsteuern mit einer Wucht, welche – unter Berücksichtigung der für die Banken verdoppelten Fürsorgeabgabe – die Rentabilität des laufenden Bankbetriebes und die Konkurrenzfähigkeit mit den Auslandsbanken in gewissen Zweigen des Bankgeschäftes fast ausschließt.«544
Ähnliche Worte finden sich in den Bilanzberichten aller anderen Wiener Großbanken. Es ist kaum überraschend, dass die Argumentation der Banken in der österreichischen Öffentlichkeit nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte vertrat in einer Eingabe an die Nationalbank im Herbst 1923 – also zu einer Zeit, als die Banken infolge der Börsenhausse große Gewinne realisieren konnten – die Ansicht, es sei unzumutbar, wenn »die Banken fortgesetzt erklären, das sogenannte Bankgeschäft wäre passiv, während doch die enormen Gesamtgewinnresultate, die sich allerdings in den veröffentlichten Bilanzen nicht ausdrücken, allgemein bekannt sind«545.
542 ÖVW, 20. Oktober 1923, S. 75 und 24. November 1923, S. 232. 543 Layton/Rist, S. 92. 544 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1923. 545 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 80.462/1923.
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Diesem Argument begegneten die Banken mit dem Hinweis, dass man keinesfalls »Zufallsgewinne« aus dem Effekten-, Konsortial- oder Devisengeschäft als längerfristigen Gradmesser für die Lage der Banken ansehen dürfe. »Nach wie vor«, schrieb die Direktion des Wiener Bankverein in ihren Bilanzerläuterungen zum Jahr 1923, »muß es die Aufgabe der sich ihrer großen Verantwortung voll bewußten Bankleitungen bilden, die Einnahmen mit den Ausgaben in Einklang zu bringen, und zwar derart, daß die Regien aus den Einnahmen des regulären Bankgeschäftes, d. s. Zinsen und Provisionen, gedeckt werden können.«546
Diese Aufgabe erwies sich vor allem angesichts der stark angestiegenen Zahl der Beschäftigten als kaum lösbar : Beim Bankverein deckten vor der Stabilisierung der Währung die Gewinne aus Zinsen und Provisionen noch die Spesen547. Aber schon 1923 lagen die Auslagen mit 207 Mrd. Kronen um 23 Mrd. über den Erträgnissen des laufenden Bankgeschäfts548. Bei der Creditanstalt waren die Verhältnisse ähnlich : Die allgemeinen Regien (Gehälter, Spesen, Abgaben und Steuern) betrugen im Jahr 1923 220 Mrd. Kronen, die Einnahmen aus Zinsen und Provisionen 193,5 Mrd. Kronen549. Bei der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft war, wie es in einer Bilanzbesprechung der »Neuen Freien Presse« heißt, bereits 1922 »[d]as laufende Geschäft […] wie bei den meisten Banken infolge der eingreifenden Teuerung des Apparats, namentlich der Gehalte und Spesen, nicht mehr aktiv […]. Die Dividende wird ausschließlich aus den außerordentlichen Gewinnen an Devisen, Effekten und Konsortialgeschäften bezahlt.«550
Die gegenüber der Vorkriegszeit drastisch geänderte Kostensituation der Banken geht auch aus Tabelle 42 hervor. (Es ist dabei zu bedenken, dass 1923 ein besonders gutes Jahr für die Banken war und vermutlich nicht der volle Gewinn ausgewiesen wurde, 1924 hingegen ein schlechtes Geschäftsjahr, in dem die Erträgnissituation optimistischer dargestellt wurde, als sie in Wirklichkeit war.)
546 BA, ARP-WBV vom 29. April 1924, Bilanzbericht für das Jahr 1923. 547 BA, ARP-WBV vom 25. April 1923, Bilanzbericht für das Jahr 1922. 548 Geschäftsbericht des WBV für das Jahr 1923, Gewinn- und Verlustkonto. 549 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1923, Gewinn- und Verlustrechnung. 550 NFP, 11. April 1923, S. 13.
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Tabelle 42 : Gewinne und Unkosten von fünf Wiener Großbanken (CA, BCA, WBV, NEG, Unionbank) 1913, 1923 und 1924 (in Mio. GK)
1913
Bruttogewinn
Unkosten
Nettogewinn
Unkosten in % des Bruttogewinns
132,8
58,9
73,9
44,4
1923
72,1
50,1
21,9
69,6
1924
84,5
65,8
18,7
77,7
1928*
122,6
90,2
32,4
73,6
* 4 Banken. Quelle : Compass 1/1915, 1926 ; Puxbaum, S. 51.
Welche Wege zur Verbesserung der Kostenlage standen den Banken offen ? Zum einen waren sie – mit Hilfe der erwähnten Kartellvereinbarungen – in der Lage, die unverhältnismäßig hohe Zinsspanne weiter aufrechtzuerhalten. Es war jedoch absehbar, dass dies auf Dauer zu untragbaren Belastungen der Industrie und – in letzter Konsequenz – zu schädlichen Rückwirkungen auf die Banken selbst führen musste. Ein zweiter Weg lag in der Ausübung eines gewissen Drucks zugunsten einer Reduzierung der Steuern und Abgaben, die auf dem Bankbetrieb lasteten. In der Tat wurde im Herbst 1924 die Geld- und Valutaumsatzsteuer soweit ermäßigt, dass man praktisch von deren Abschaffung sprechen kann. Die hohe Fürsorgeabgabe der Gemeinde Wien blieb aber weiter aufrecht. Sie bildete in den folgenden Jahren den Gegenstand heftiger Polemiken seitens der Kreditinstitute551. Der dritte Weg zur Senkung der Lasten bestand in einer Reduzierung des Personalstandes und der Gehaltsaufwendungen. Obwohl die Löhne und Gehälter am Ende der Inflationszeit im Durchschnitt um etwa ein Drittel unter dem Niveau von 1914 lagen552, waren die Gesamtauslagen weit höher als 1913. Denn zum einen waren die Einkommen der unteren Kategorien verhältnismäßig weniger tief gesunken als bei den höheren Gehaltsgruppen553 ; zum anderen lagen die Lohnnebenkosten, die vieldiskutierten »sozialen Lasten«, beträchtlich über dem Niveau der Vorkriegszeit. Bei der Boden-Credit-Anstalt war (obwohl sie über keine Filialen verfügte) die Zahl der Angestellten von 418 im Jahr 1914 auf 835 am 1. Jänner 1924 angestiegen. Am 1. Jänner 1925 waren zwar nur mehr 628 Beschäftigte übriggeblieben, was einem 551 Vgl. z. B. den Geschäftsbericht der BCA für das Jahr 1928. 552 Kautsky, Löhne und Gehälter, S. 118 ff. 553 Siehe : BA, VWP-BCA vom 16. Februar 1923.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Abbau von etwa einem Viertel entsprach, aber dies waren noch immer um 50 % mehr als 1914. Der Personaletat hingegen war um 100 % höher als vor dem Weltkrieg – eine Folge der gestiegenen sozialen Abgaben : 1913 hatten Steuern, Gebühren und sozialpolitische Abgaben nur 5,5 % des Personaletats ausgemacht ; 1924 war dieser Anteil auf 21 % gestiegen. Im gleichen Zeitraum hatte sich der Reingewinn von 15,5 auf 3,6 Mio. Goldkronen vermindert ; die Steuern und Abgaben hatten von 3,1 auf 4,1 Mio. zugenommen, die Personallasten waren von 2,3 auf 4,1 Mio. Goldkronen angewachsen554. Beim Wiener Bankverein war die Lage ähnlich : Am 1. September 1924 beschäftigte die Bank 2.724 Beamte, Gehilfen und Jugendliche gegenüber 1.382 am 30. Juni 1914. Von diesem Zuwachs entfielen nur 184 Angestellte auf neu gegründete Filialen und Depositenkassen. »Unsere jetzigen Personallasten«, heißt es dazu kommentierend, »in Goldkronen ausgedrückt, übersteigen bereits jene, welche wir vor dem Kriege in der ganzen alten Monarchie zu tragen hatten. Unser Geschäftsumfang hingegen, der an den auf Goldkronen umgerechneten Bilanzsummen zu messen ist, macht nur einen Bruchteil unseres Friedensgeschäftes aus.«555
Die Angestelltenschaft, wurde hinzugefügt, sei »bei weitem nicht voll beschäftigt«, selbst bei einer »gewissen Wiederbelebung des Geschäfts« könne das Arbeitsquantum mit einer erheblich geringeren Angestelltenzahl bewältigt werden. Bei der Creditanstalt, die vor dem Krieg auf dem Gebiet der späteren Republik Österreich etwa 950 Angestellte beschäftigt hatte, war der Personalstand am Höhepunkt der Expansion auf fast 2.400 (31. Dezember 1922) gestiegen ; Ende 1925 betrug die Zahl der Beschäftigten mit 1.885 noch immer um 140 Personen mehr als 1914 für die gesamte Monarchie. Die Personallasten lagen 1925 mit 16,4 Mio. Schilling um 5,7 Mio. oder mehr als 50 % über dem Vergleichswert von 1913. Der Reingewinn betrug 6,6 gegenüber 33,1 Mio. Schilling vor dem Krieg556. Erst allmählich gelang es im Zuge der Fusionen im Großbankensektor und durch verstärkte Rationalisierungsmaßnahmen (insbesondere durch Einführung arbeitssparender Büro- und Rechenmaschinen), den Personalstand beträchtlich zu reduzieren (siehe Tabelle 43). Dennoch war es nicht möglich, durchgreifende und andauernde Ersparungen 554 Siehe : BA, VWP-BCA vom 4. November 1925. Einzelne Daten stammen aus VWP-BCA vom 3. März 1925. 555 BA, ARP-WBV vom 1. Oktober 1924, Zirkular an alle Angestellten des Wiener Bankverein, unterzeichnet von der Direktion und vom Betriebsrat (Beilage). 556 Geschäftsberichte der CA für die Jahre 1919–1925.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
zu erzielen : Während 1925 der Unkostenquotient557 bei den Wiener Großbanken 4,6 % ausmachte, war er bis 1927 auf 3,3 % gesunken ; 1928 lag er allerdings bereits wieder bei 4,2 %. Vor dem Ersten Weltkrieg (1913) hatte er nur 1,3 % betragen558. Tabelle 43 : Angestellte (Beamte und Hilfskräfte) der Wiener Großbanken 1913–1932 (Jahresendstände) 1913
5.500*
1923
16.000
1924
10.000*
1925
8.500*
1926
7.800*
1928
6.000*
1930
5.200
1932
3.800
* Schätzung. Quellen : Geschäftsberichte, Bilanzbesprechungen des ÖVW sowie Verwaltungsrats-Protokolle von BCA, CA, WBV ; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1931/32, S. 377 ; Federn, Die Wiener Banken, S. 56.
Obwohl der Personalabbau verhältnismäßig rasch vor sich ging – der Bankverein reduzierte z. B. bereits im Laufe des Jahres 1924 den Personalstand um ein Viertel559 – und die Zahl der aktiven Beamten innerhalb von drei Jahren (1923–1926) halbiert wurde, blieben die Personalausgaben der Großbanken hoch : Dies war zum einen die Folge der mit den Entlassungen steigenden Pensionslasten ; zum anderen waren die Banken, wie sie selbst gegenüber dem Völkerbund betonten, bestrebt, »zur Erhaltung ihres internationalen standing und ihrer Leistungsfähigkeit ihren alten und für den Verkehr mit den mittel-, süd- und osteuropäischen Wirtschaftsgebieten eingerichteten Apparat nicht allzu stark zu reduzieren, weil sie die Hoffnung hegen, daß die internationale Stellung Wiens sich behauptet, Wiens internationale Beziehungen aufrecht bleiben und wiederhergestellt werden, und somit die Umsätze der Wiener Banken wachsen werden.«560 557 Regien (Gehalte, Spesen und Steuern) in % des Betriebskapitals (= eigenes und fremdes Kapital plus Akzepte). 558 Puxbaum, S. 16 und 51 f. 559 ÖVW, Die Bilanzen, 13. Juni 1925, S. 282. 560 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 76.843/1926 : Schreiben des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers an den Völkerbundkommissär vom 26. August 1925.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Wir werden später sehen, dass sich die Hoffnung auf eine entscheidende Besserung der Ertragslage der Großbanken mittels einer Ausdehnung des internationalen Geschäfts nicht erfüllte561. Dies war aber eine Erkenntnis, die sich erst post festum in den 30er-Jahren durchsetzte. Die Aufrechterhaltung des verhältnismäßig großen Bankapparats wurde nach der Krise von 1931 allgemein kritisiert, in den 20er-Jahren jedoch auch von kritischen Zeitgenossen mit wohlwollendem Verständnis kommentiert. Im Gefolge der österreichischen Revolution hatten auch die im Allgemeinen gemäßigten und allen sozialen Experimenten skeptisch gegenüberstehenden Bankangestellten radikalere Forderungen erhoben. In den ereignisreichen Monaten März bis April 1919 war in Verhandlungen zwischen dem »Reichsverein« der Bankangestellten und einem Komitee der Banken die Einführung einer Dienstpragmatik beschlossen worden562. Diese regelte die Rechte und Pflichten der Angestellten und sah ein Mitbestimmungsrecht der Angestellten in Personalfragen und bei Avancements vor. Für Mitbestimmungsangelegenheiten wurden in den einzelnen Banken »Personalkommissionen« gebildet, deren Agenden später vom Betriebsrat übernommen wurden. Diese Zugeständnisse waren Ausdruck eines Zustandes, den Otto Bauer mit dem Begriff des »Gleichgewichts der Klassenkräfte« charakterisiert hatte563. Mit der Genfer Sanierung wurde dieses Gleichgewicht zuungunsten der Arbeitnehmer verändert, ohne dass es den Direktoren der Banken gelungen wäre, in ihrem Wirkungsbereich den gesellschaftspolitischen Status quo der Vorkriegszeit wiederherzustellen. Die meisten sozialen Errungenschaften der Bankangestellten wurden de facto erst nach der Bankenkrise des Jahres 1931, de jure nach der Abschaffung der parlamentarischen Demokratie im Jahr 1933 beseitigt564. Unmittelbar nach der Stabilisierung der Krone im Herbst 1922 gaben die im Bankenverband zusammengeschlossenen Banken und Bankiers gegenüber dem Reichsverein die Erklärung ab, »daß sie, an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, nicht in der Lage seien, den Angestellten die volle Auswirkung der sich für den Monat September ergebenden Indexsteigerung von 82 % zu konzedieren, vielmehr auf einer Einschränkung dieser Wirkung bestehen müssen.«565 561 Vgl. Kapitel III-4, S. 262 ff. 562 Siehe : BA, VWP-CA vom 1. und 15. April 1919 sowie ARP-WBV vom 16. April 1919, Bericht Dr. Alfred Heinsheimer (Beilage). 563 Siehe : Bauer, Die österreichische Revolution, S. 743. 564 Kernbauer, Währungspolitik in der Zwischenkriegszeit, S. 355 f. 565 BA, VWP-BCA vom 4. Oktober 1922.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
Zur selben Zeit war ein ähnlicher Konflikt zwischen den Metallarbeitern und den Unternehmern ausgebrochen, der nur durch die Vermittlung der drei Nationalrats präsidenten im Kompromissweg bereinigt werden konnte566. Zwischen den Banken und dem Reichsverein der Bankangestellten war es schon in den ersten Monaten des Jahres 1922 zu einem scharfen Konflikt mit Streikdrohungen und Straßendemonstrationen gekommen, als die Gewerkschaften anlässlich der Kollektivvertragsverhandlungen versuchten, eine Reform des Besoldungsschemas (Vereinfachung des Schemas und Erhöhung der Anfangsbezüge) durchzusetzen567. Hatten die Arbeitnehmer damals noch einen gewissen Erfolg erzielen können, so mussten sie sich im Herbst 1922 mit einer Verminderung der Bezüge abfinden. Erst die Börsenkonjunktur des Jahres 1923 verbesserte die Verhandlungsposition der Angestellten wieder ; sie konnten so eine Reihe von Gehaltserhöhungen durchsetzen. Die Erhöhung der Nominaleinkommen während des zweiten Halbjahres 1923 dürfte etwa ein Drittel betragen haben568. Das Ende der Börsenhausse und der daraus fließenden leichten Gewinne der Banken setzte der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften neuerlich enge Grenzen : Ein Jahr nach den Lohnerhöhungen des Jahres 1923 findet sich in den Protokollen des Wiener Bankverein die Notiz, dass die Gehälter der Bankangestellten bis zum Ende des Jahres 1924 »indexfrei stabilisiert« worden seien569. Dazwischen lag die größte Kraftprobe zwischen den Banken und der Angestelltengewerkschaft in der Ersten Republik, der Bankbeamtenstreik vom Februar und März 1924, der nach gescheiterten Kollektivvertragsverhandlungen ausbrach : Die Gewerkschaften proklamierten einen Streik in vier Großbanken, auf den der Bankenverband mit einer »Generalaussperrung« antwortete570. Zwar ging es bei den Auseinandersetzungen vordergründig um Gehaltsfragen, in Wirklichkeit wollten die Banken die 1919 geschaffene Dienstpragmatik entschärfen, um die für notwendig erachtete Reduzierung des Personals einleiten zu können. Der schließliche Kompromiss sah vor, dass zwar der Gewerkschaft Konzessionen in der Gehaltsfrage gemacht wurden, zugleich aber, wie es in einem Protokoll der Boden-Credit-Anstalt heißt, die Vertragsangestellten der Banken als »abbaufähig« anerkannt wurden. Sie wurden in den Jahren 1924 und 1925 tatsächlich zur Gänze entlassen571.
566 ÖVW, Chronik, 7. Oktober 1922. 567 st., Bankbeamtenbewegung, S. 689 f. 568 Siehe : BA, VWP-BCA vom 17. April, 11. Mai, 30. Juni und 9. November 1923. 569 BA, DSP-WBV vom 24. Oktober 1922. 570 BA, VWP-BCA vom 4. November 1925. 571 BA, VWP-BCA vom 4. und 10. November 1924.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
Der Konflikt nahm bei den einzelnen Banken unterschiedliche Intensität an. Während er bei der Boden-Credit-Anstalt mit aller Härte ausgetragen wurde572, besaß er bei der Creditanstalt geradezu »kollegialen« Charakter. Bei der Creditanstalt kam es zu keinen Maßregelungen573. In der Boden-Credit-Anstalt hingegen machte nicht nur die Härte des Vorgehens der Direktion böses Blut, sondern auch die Tatsache, dass jenen höheren Angestellten, die sich am Streik nicht beteiligt hatten, außerordentliche Gehaltserhöhungen gewährt wurden. In der Abbaufrage selbst gingen die Banken verhältnismäßig einheitlich vor : Die Vertragsbediensteten wurden zuerst entlassen, wobei die »weniger gut Qualifizierten« zuerst gekündigt wurden574. Auf diese Weise wurde der Personalstand bei den Mitgliedsbanken des Bankenverbandes von 1924 bis Mitte 1925 um etwa 30 % (6.100 Angestellte) reduziert575. Die Mitgliederzahl des Reichsvereins der Bankangestellten ging von Anfang 1924 bis Anfang 1925 von 25.000 auf 14.500, also um über 40 %, zurück und betrug ein Jahr später nur mehr 11.000576. Viel schwieriger gestaltete sich die Entlassung der Fixangestellten : Diese konnten gemäß den Bestimmungen der Dienstpragmatik bei einer Beschäftigungsdauer von bis zu fünf Jahren nur mit Zustimmung des Betriebsrates entlassen werden. Waren sie länger als fünf Jahre bei einer Bank beschäftigt, so bedurfte jede einzelne Entlassung eines Verwaltungsratsbeschlusses. Dem Entlassenen stand zudem eine Abfertigung zu577. Aber nur eine Minderheit der Angestellten war bereit, gegen Zahlung einer Abfertigung freiwillig auszuscheiden oder sich vorzeitig pensionieren zu lassen. Die Mehrzahl der Entlassungen war daher nur in zähem Kampf mit den Betriebsräten durchsetzbar. 1924 stand die Öffentlichkeit noch ganz unter dem Schock des Börsenkrachs. Es mag daher verwunderlich erscheinen, dass die Banken für das Jahr 1923 hohe Gewinne auswiesen und hohe Dividenden ausschütteten578. Denn die Geschäftsabschlüsse wurden zu einem Zeitpunkt erstellt, als die Katastrophe bereits im Gange war. Aber vermutlich wollten die Banken ihre in- und ausländischen Aktionäre beruhigen, Optimismus signalisieren und auf diese Weise verhindern, dass die Aktien572 Vgl. BA, VWP-BCA vom 24. Mai 1924 und 10. November 1924. 573 Siehe : BA, VWP-CA vom 20. Februar, 5. und 19. März 1924. 574 BA, VWP-CA vom 16. Juli 1924. Vgl. auch DSP-WBV vom 1. Oktober 1924, Abmachungen der Direktion des WBV mit den Betriebsräten der Beamten und Bankgehilfen betreffend den Angestellten-Abbau (Beilage). Das Ziel der Abmachungen war eine Reduzierung des Personalstandes bis Mitte 1925 um ein Drittel gegenüber dem Höchststand vom September 1922. 575 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 76.843/1926. 576 Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1927, S. 291. 577 BA, VWP-BCA vom 4. November 1925. 578 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 440 f.
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Zerfall der Monarchie und Inflation
verkäufe womöglich noch größere Ausmaße annähmen. Dies scheint – zumindest dem westlichen Ausland gegenüber – tatsächlich gelungen zu sein : Während kleinere Banken unter dem Rückzug ausländischer Kredite zu leiden hatten und österreichisches Kapital erneut die Flucht ins Ausland antrat (was aus dem Schwinden des Devisenschatzes der Oesterreichischen Nationalbank im Sommer 1924 ersehen werden kann), blieben die Großbanken selbst von Kreditkündigungen verschont. Zu einer Zeit, als die Kapitalflucht aus Österreich in vollem Gange war, sprach man in der Direktion des Wiener Bankverein über »reichlich vorliegende Offerte in ausländischen Währungen«579. Dieses Überangebot an ausländischen kurzfristigen Krediten sollte charakteristisch für die nächsten Jahre bleiben. So kündigten sich bereits 1924 all jene Probleme an, welche die österreichische Bankwelt in den kommenden Jahren in Atem halten sollten : – die prekäre Abhängigkeit von kurzfristigen Auslandskrediten, vor deren Gefahren manche Wirtschaftsexperten schon frühzeitig warnten580, da es offensichtlich war, dass die Fristen zwischen diesen Kreditoren und den Ausleihungen nicht übereinstimmten ; – die Liquidierung der Folgeerscheinungen der Inflation und der Aktienspekulation, zu denen auch die Hypertrophie des Bankapparates zählte ; – die mit dem Phänomen der hohen Zinssätze assoziierten Probleme, die von den Zeitgenossen als »Kapitalknappheit« rezipiert wurden. Banken und Industrie, in Österreich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eng liiert, rückten in der Inflationszeit und in den Jahren der Stabilisierung noch enger zusammen. Die Industrie war nun in einem viel höheren Maße als vor dem Ersten Weltkrieg auf die Bereitstellung von Krediten angewiesen. Andererseits nahm für die Banken jede Immobilisierung eines größeren Kreditnehmers angesichts des geschrumpften Geschäftsumfanges weitaus bedrohlichere Formen an als vor 1914, zumal auch das Eigenkapital der Banken in einem viel größeren Ausmaß als früher in Aktien von Industrieunternehmen gebunden war. 1923 war es zwar vorübergehend gelungen, größere Effektenpakete zu veräußern. Diese mussten jedoch nach dem Börsenkrach 579 BA, ARP-WBV vom 22. August 1924. Vgl. zu ausländischen Kreditangeboten auch ARP-WBV vom 27. August, 22. September, 10. und 17. November 1924. 580 Schon im Jahre 1926 machte Sigmund Schilder auf die Gefahren dieser Geschäftspolitik aufmerksam : »Hierbei wäre freilich der wichtige Umstand nicht außer acht zu lassen, daß die zahlreichen kurzfristigen Darlehen, die insbesondere das Jahr 1925 gebracht hat, infolge der Möglichkeit einer sofortigen Rückforderung oder Nichterneuerung stets wie eine dunkle Gewitterwolke über dem österreichischen Himmel hängen.« Schilder, S. 21.
Bankprobleme in den Jahren der Stabilisierung
von 1924 wieder aufgenommen werden – zumindest soweit es sich dabei um Aktien von Konzernfirmen handelte, an denen die Banken ein längerfristiges Interesse hatten. Der Optimismus der Bankiers nach dem Börsenkrach vom Frühjahr 1924 erscheint – aus heutiger Sicht – schwer verständlich. Denn zu diesem Zeitpunkt hätte man erkennen müssen, dass die Festlegung des Eigenvermögens der Banken in Aktien zur Dauererscheinung zu werden drohte. Offenbar erwartete die Haute Finance, dass sich die wirtschaftliche Lage in Österreich und darüber hinaus in ganz Mitteleuropa rasch bessern würde und dass die Banken im Gefolge eines Wirtschaftsaufschwunges wieder in die Lage kommen würden, ihre übergroßen Aktienbestände abzustoßen. Nur so ist es zu verstehen, dass sie bei den Verhandlungen über das Goldbilanzgesetz im Jahr 1925 auf die Aufnahme von Bestimmungen drängten, die eine sehr optimistische Bewertung ihres in Aktien angelegten Vermögens erlaubten581. Die Erwartung einer kräftigen und lang anhaltenden Periode guter Konjunktur mag aus heutiger Sicht illusionär erscheinen ; sie darf jedoch bei einer Generation von Bankiers nicht allzu sehr überraschen, deren Mentalität von den Erfahrungen der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg geprägt war. Diese optimistische Grundhaltung bildete die gleichsam psychologische Voraussetzung für eine Reihe von gravierenden Fehlentscheidungen, deren wahre Tragweite sich erst in den Jahren der Weltwirtschaftskrise nach 1929 offenbaren sollte.
581 Kernbauer/Weber, Die Wiener Großbanken in der Zeit der Kriegs- und Nachkriegsinflation (1914– 1922, S. 178 f. Vgl. zu den Goldbilanzen auch Weber, Große Hoffnungen und k(l)eine Erfolge, S. 19 ff. Siehe auch Kapitel V, S. 517 ff.
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III. Die goldenen 20er-Jahre
1. Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
Die Schockwirkung der Währungsstabilisierung war, wie bereits vermerkt, glimpflicher abgelaufen, als es manche Politiker und Wirtschaftsexperten befürchtet hatten. Die industriell-gewerbliche Produktion und die Bauwirtschaft stagnierten 1923, erholten sich aber merklich im folgenden Jahr. Das Bruttonationalprodukt, das 1923 gegenüber dem Vorjahr um etwa 1 % gefallen war, verzeichnete im Jahr darauf einen Anstieg um 11,7 %1. Es gab allerdings auch einige beunruhigende Symptome. So war die Arbeitslosenrate von 1922 bis 1923 auf etwas mehr als das Doppelte gestiegen und betrug im ersten Jahr der Stabilisierung 9,1 %. Ein Jahr später machte sie noch immer 8,4 % aus2. Dieses Emporschnellen der Arbeitslosenrate war auf mehrere Ursachen zurückzuführen : auf die tiefe Krise der im Krieg aufgeblähten Metallindustrie, die sich schon in der Inflationszeit angebahnt hatte, auf den Massenabbau im öffentlichen Dienst und auf die Entlassungen im Banksektor. Der Schrumpfungsprozess des Bankwesens, den die Börsenkrise und der Zusammenbruch der Depositenbank im Jahre 1924 signalisiert hatten, war einer der herausragenden Aspekte des vom Zerfall der Monarchie ausgelösten Umstrukturierungsprozesses, der von der Inflation mehrere Jahre gebremst worden war, nach Abschluss der Stabilisierung aber umso deutlicher in Erscheinung zu treten begann. Zeitgenössischen Beobachtern war es relativ früh bereits klar, dass die Währungsstabilisierung eine tiefgreifende Strukturkrise ausgelöst hatte, die allerdings nicht auf die Grenzen des neuen Österreich allein beschränkt bleiben sollte. So heißt es im Geschäftsbericht der Creditanstalt aus dem Jahre 1925 : »Wir teilen das wirtschaftliche Schicksal der meisten europäischen Staaten, insbesondere solcher mit beständiger Währung, welche an unzureichendem Warenabsatz kranken und welche – das kapitalistische England nicht minder, als das an eigenem Kapital arm gewordene Deutschland – gleich uns ein Heer von Arbeitslosen aufzuweisen haben. Der Anpassungsprozeß der Produktion an die veränderte Wirtschaftslage vollzieht sich – hier stärker, dort schwächer – in der ganzen Welt, nirgendwo sind die Produktionsanlagen voll ausgenützt, unter dem Zwange der erbitterten Konkurrenz um die Absatzmärkte erhöht 1 2
Kausel/Nemeth/Seidel, S. 40 und 43. Stiefel, Arbeitslosigkeit, S. 29.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
sich zwar die Intensität der Arbeitsleistung, es fehlt aber die Möglichkeit des Produzierens […].«3
Im selben Jahr 1925 veröffentlichten die zwei vom Völkerbund bestellten Wirtschaftsexperten, Walter Layton und Charles Rist, ihren Bericht über die Wirtschaftslage Österreichs4. Bevor wir die wichtigsten Feststellungen und Prognosen der beiden renommierten Ökonomen in gedrängter Form wiedergeben, müssen wir uns kurz die Zeitumstände ihrer Expertise vor Augen halten : Die von der Stabilisierung ausgelöste Krise hatte die von weiten Teilen der Bevölkerung gehegten Zweifel an der »Lebensfähigkeit« Österreichs neuerlich angefacht. Zur wirtschaftlichen Krise hatte sich so auch eine politische Krise gesellt, gegen die der Bericht der beiden Experten sich in erster Linie wandte. Der »Patient« Österreich war – nach Meinung von Layton und Rist – wohl geschwächt, aber er war nicht verloren und befand sich auf dem Weg der Genesung5. Die beiden Autoren gingen in ihrem Bericht zunächst auf drei Themenkreise ein : auf die Arbeitslosigkeit, die während des Winters 1924/25 besorgniserregend angestiegen war, auf die Handelsbilanz und deren chronisch passiven Charakter und schließlich auf die besondere Position Wiens, das viele Österreicher als »Wasserkopf« betrachteten. In Bezug auf Wien vertraten die zwei Experten einen durchaus optimistischen Standpunkt : Wien habe seine ehemals überragende Rolle im Donauraum keineswegs völlig eingebüßt und sei »der größte Finanzmarkt des östlichen Europa« geblieben6. Ferner sei Wien nach wie vor das Zentrum der sichtbaren und unsichtbaren Ausfuhr Österreichs. Auch die chronisch defizitäre österreichische Handelsbilanz hielten Layton und Rist nicht für dramatisch, da sie zum größten Teil aus den unsichtbaren Exporten Österreichs gedeckt werden könne. Sie lehnten sich dabei zweifellos an die bekannten – aber recht kontroversiellen – Untersuchungen von Friedrich Hertz an, der die Einkünfte Österreichs aus den Kapitalanlagen im Ausland mit 400 bis 500 Mio. Goldkronen im Jahr bezifferte und auch die Einnahmen Österreichs 3 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1925 (Herv. v. Verf.). 4 Layton/Rist. 5 Erst unter dem Eindruck der tragischen Ereignisse des 12. Februar 1934 änderte Charles Rist seine Meinung über die Lebenschancen Österreichs. In einem biographischen Werk über Berta Zuckerkandl findet sich der folgende Passus : »Just am 12. Februar ist der berühmte französische Nationalökonom Charles Rist, der im Auftrag des Quai d’Orsay in Wien weilt, bei Berta Zuckerkandl zum Tee angesagt. Der Gast bleibt jedoch aus. Er entschuldigt sich telefonisch aus der französischen Gesandtschaft, wo er vor den Straßenkämpfen Zuflucht gesucht hat : ›Ich kann nicht zu Ihnen kommen. Sie hören ja selbst das Maschinengewehrfeuer. Das ist Österreichs Selbstmord‹.« Meysels, S. 269. 6 Layton/Rist, S. 8.
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Die goldenen 20er-Jahre
aus dem Fremdenverkehr mit 100 bis 200 Mio. Goldkronen verhältnismäßig hoch veranschlagte7. Breiten Raum widmeten die Völkerbundexperten dem Problem der Arbeitslosigkeit, auf welches sie – manchmal indirekt – an verschiedenen Stellen ihrer Studie, so z. B. in den Abschnitten über Kapitalmangel, Konkurrenzfähigkeit der österreichischen Wirtschaft usw., eingingen. Primär hielten sie das Problem der Arbeitslosigkeit für eine »Frage des Absatzes«8 und damit des Behauptungsvermögens der österreichischen Industrie auf ausländischen Märkten. In diesem Zusammenhang gingen Layton und Rist auch auf das Wiederaufleben protektionistischer Ideen in Europa und insbesondere in den Nachfolgestaaten ein. Begünstigt durch eine Reihe von Absperrungsmaßnahmen wie Kontingente, Verbote und insbesondere prohibitive Zölle war es in den Nachfolgestaaten in relativ kurzer Zeit zur Errichtung erheblicher industrieller Kapazitäten gekommen. Die ungarische Mühlenindustrie zum Beispiel, die vor dem Krieg ungefähr 20 Mio. Meterzentner verarbeitet hatte, vermahlte im Jahr 1924 bloß 61/2 Mio., »da es die übrigen Staaten vorzogen, ihr Korn von nun an selbst zu mahlen«9. Ähnliches galt auch für die traditionellen Standorte der Textilindustrie, für die chemische Industrie, die Speiseöl industrie usw. Besonders betroffen von dieser Entwicklung waren die ehemaligen Industrieregionen der Monarchie : Layton und Rist veranschlagten in ihrem Bericht den Rückgang der Exporte der Tschechoslowakei und Österreichs nach Ungarn gegenüber den letzten Friedensjahren mit rund 60 %10. Die Donaumonarchie war ein beinahe autarker Wirtschaftsraum gewesen11. Das neue Österreich, das nur rund ein Achtel der Einwohner des alten Staatsgebietes umfasste, war in hohem Maße auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln, Brennstoffen, industriellen Rohstoffen und einem weiten Spektrum von Halbfabrikaten und Fertigwaren aus dem Ausland angewiesen. Die Lebensfähigkeit der Alpenrepublik musste daher nach Meinung der Völkerbundexperten vor allem auf dem Gebiet der Exportwirtschaft gesichert werden. Fast ebenso wichtig war eine Politik der systema 7 8 9 10
Hertz, Zahlungsbilanz und Lebensfähigkeit, S. 46 ff. Layton/Rist, S. 10. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 14. Obwohl die Berechnungen Laytons und Rists von Gustav Stolper in Frage gestellt wurden, dürften sie ein realistisches Bild von dem drastischen Rückgang der Nachfrage in dieser Region vermitteln. Vgl. Stolper, Der Expertenbericht, S. 1434. 11 »Der Außenhandel des alten Österreich-Ungarn war nicht bedeutend. Die Ausfuhr von 55 Kronen auf den Kopf war eine der schwächsten Europas.« Layton/Rist, S. 14.
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tischen Importsubstitution, insbesondere in den Bereichen der Landwirtschaft und der Energieversorgung. Österreich, so stellten die beiden Experten fest, habe unter dem protektionistischen System im Donauraum vielleicht mehr zu leiden als seine Nachbarn, weil »es mit Rücksicht auf die Verengung seines Innenmarktes mehr als andere das Bedürfnis nach einem fremden Markt hatte, um den Überschuß einer Produktion, wie jener Wiens zum Beispiel, abzusetzen, die in ihrer Gesamtheit vor dem Krieg für den Verkauf auf einem großem Territorium organisiert war.«12
In der Studie wurde in sehr differenzierter Weise auch auf die Entwicklung der Erzeugungskosten in der österreichischen Industrie eingegangen. Bezüglich der Kapitalkosten wurde festgehalten, dass die Inflation zu einer fast völligen Vernichtung des Sparkapitals geführt habe. Die Spareinlagen bei neun Wiener Banken betrugen im Sommer 1925 etwa 141/2 % des Vorkriegsstandes. Die fremden Gelder der acht führenden Aktienbanken waren auf ein Drittel geschmolzen13. Unter diesen Umständen kann es nicht wundernehmen, dass der von den Banken im Kontokorrentverkehr verrechnete Zinsfuß auch in den Jahren 1923 und 1924 auf einem außerordentlich hohen Stand verharrte. Layton und Rist berichteten, dass selbst erstklassige Kunden im Frühjahr und Sommer 1925 noch immer Kreditzinsen von 151/2 % zu zahlen hatten und dass der Zinssatz für Klienten zweiter Bonität 171/2 % betrug. Wären die Banken in der Lage gewesen, ihre Zinspolitik zugunsten ihrer industriellen Klienten zum Zeitpunkt der Expertise etwas zu lockern ? Die Experten glaubten, dass der Augenblick für eine Wende in der Bankpolitik tatsächlich gekommen sei, obgleich sie einräumen mussten, dass die Nettogewinne der Banken auf einen Bruchteil ihrer Vorkriegshöhe gesunken waren (siehe Tabelle 44). Tabelle 44 : Bilanzergebnisse von fünf Wiener Aktienbanken 1913 und 1924 (in Mio. S) Brutto gewinne
Kosten
Netto gewinne
Prozentsatz der Ausgaben im erhältnis zum Bruttogewinn V
1913
132,8
58,9
73,9
44,4 %
1924
84,5
65,8
18,7
77,7 %
Quelle : Layton/Rist, S. 19. 12 Ebenda, S. 16. 13 Ebenda, S. 17.
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Die goldenen 20er-Jahre
Layton und Rist zeigten in ihrer Studie zu einem relativ frühen Zeitpunkt das Dilemma auf, mit dem die österreichischen Großbanken in der Nachkriegszeit konfrontiert waren : Krieg und Inflation hatten einen beträchtlichen Teil ihrer Kapitalsubstanz aufgezehrt. Dazu kam, dass auch die laufenden Kosten – vor allem die Gehälter der Bankangestellten und die Steuern – gegenüber der Vorkriegszeit nicht unwesentlich angestiegen waren. Die Banken mussten also bestrebt sein, sich wenigstens für einen Teil der erlittenen Einbußen und für die hohen fiskalischen und sonstigen Belastungen schadlos zu halten14. Aufgrund von kartellähnlichen Abmachungen waren sie in der Lage, die hohe Spanne von 71/2 bis 91/2 %, die um die Mitte der 20er-Jahre zwischen dem im Kontokorrentverkehr verrechneten Zinsfuß und dem Einlagenzinsfuß bestand, auch tatsächlich durchzusetzen. Dies war die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite war die Rentabilität des Bankgeschäfts in weit höherem Maße als vor dem Krieg von den mit den Banken liierten Unternehmen abhängig geworden. In der Zeit der Nachkriegsinflation war nämlich das Ausmaß der Beteiligung des Banksektors an Industrie- und Bankunternehmen erheblich gewachsen, da die großen Kommerzbanken dazu tendierten, ihre vom Geldwertschwund bedrohten Außenstände in Eigentumstitel umzuwandeln. Die Zahl der Industrie- und sonstigen Beteiligungen der Banken hatte sich am Ende der Inflationsperiode gegenüber der Vorkriegszeit deutlich vermehrt, wie das Beispiel der Creditanstalt zeigt (Tabelle 45)15. Es wäre jedoch falsch, aus dieser statistischen Übersicht den Schluss zu ziehen, dass es der Creditanstalt gelungen war, ihren Industriekonzern mehr oder weniger unversehrt aus den Wirren der Kriegs- und Inflationszeit in eine ruhigere Entwicklungsphase hinüberzuretten. Es war zweifellos eine qualitative Verschlechterung in ihrem Besitzstand eingetreten. So ergibt ein Vergleich der Beteiligungen im Bereich der Maschinen- und Metallwarenindustrie, dass die Zahl der Unternehmungen, die der Creditanstalt nahestanden, in den Jahren 1913 und 1923 nahezu konstant geblieben war, dass aber nur 12 Firmen aus dem Jahre 1913 auch nach dem Kriege noch zum Konzern der Bank gehörten. Gerade die wichtigsten, größten und finanziell potentesten waren verloren gegangen. Auch der regionale Schwerpunkt der Konzernunternehmen hatte sich verlagert, da nun die Hauptbetriebe bzw. die Mehrzahl der Produktionsstätten nicht mehr im »Neuausland«, sondern im neuen Österreich lagen.
14 Im Bericht wird dies auf folgende Weise ausgedrückt : »Die Banken haben unzweifelhaft im Laufe der letzten Jahre Verluste erlitten, und es ist erklärlich, daß sie sich mit allen Kräften bemühen, sie wieder gutzumachen.« Ebenda, S. 19. 15 Vgl. März, Österreichische Bankpolitik, S. 537 ff.
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Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
Die für die Bankpolitik verantwortlichen Leiter der Wiener Großbanken mussten sich darüber im Klaren sein, dass eine Strategie des »teuren Geldes« nicht bloß die mit ihnen liierten Unternehmen empfindlich treffen würde, sondern letzten Endes auch ihre eigenen Interessen negativ berühren musste. Schon ein Jahr vor den beiden Experten hatte sich daher das Finanzkomitee des Völkerbundes für eine Senkung der Zinsbelastung ausgesprochen16. Doch war es nicht leicht, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden. Tabelle 45 : Zusammensetzung des Konzerns der Creditanstalt 1913 und 1923 (Anzahl der Beteiligungen) 1913
1923
Davon erhalten seit 1913
Neubeteiligungen bzw. Gründungen
Banken
5
20
2
18
Versicherungen
4
3
2
1
Handel, Transport, andere Dienstleistungen
8
13
3
10
Erdölindustrie
3
10
2
8
Berg- und Hüttenwesen
5
6
2
4
Maschinenbau und Metallwaren industrie
20
19
12
7
Elektrotechnische Industrie und Elektrizitätswerke
5
5
3
2
Baustoff- und Bauindustrie
6
7
4
3
Textilindustrie
8
7*
5
2
Diverse Konsumgüter
4
7
3
4
Nahrungsmittelindustrie
1
3
1
2
Zuckerindustrie
7
7
5
2
Spiritusindustrie
4
4
4
–
Brauereien
7
7
4
3
Chemische Industrie
6
5
2
3
Papierindustrie
4
5
2
3
Holz- und holzverarbeitende Industrie
6
8**
2
6
57
69
Insgesamt
103
136
* Darunter zwei Holdinggesellschaften. ** Darunter eine Holdinggesellschaft. Quelle : März, Österreichische Bankpolitik, S. 537. 16 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 342 vom 5. September 1924.
180
Die goldenen 20er-Jahre
Tabelle 46 : Zinssätze in Österreich 1924–1930 Einlagenzinsfuß
Prime Rate inkl. Provisionen
1924
8,6
17,8
9,2
1925
8,8
19,3
10,5
1926
4,9
14,7
9,8
1927
4,2
13,5
9,3
Zinsspanne
1928
4,2
13,5
9,3
1929
4,8
14,9
10,1
1930
4,1
12,9
8,8
Quellen : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1925–1932 ; KOFO, Heft 6/1938, S. 140 und 143.
Auch Walther Federn, einer der besten Kenner der finanzpolitischen Szenerie in Österreich, meinte etwa zum gleichen Zeitpunkt, dass die Banken vielleicht besser beraten gewesen wären, sich zunächst auf die Aufgabe des Wiederaufbaus der österreichischen Industrie zu konzentrieren17. Und Otto Bauer wies in einer Rede vor dem Kongress der Metallarbeitergewerkschaft auf die fatalen volkswirtschaftlichen Folgen der Hochzinspolitik hin : »Der hohe Zinsfuß hat natürlich die Wirkung, daß kein Kapitalist neue Fabriken baut, daß kein Kapitalist seinen Maschinenapparat erneuert oder vergrößert, wenn er nicht unbedingt muß. Er arbeitet lieber mit den älteren Maschinen weiter, er unterläßt lieber jede technische Erneuerung, so notwendig sie gerade wäre, um uns auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen, weil er sich das Geld nur zu den höchsten Zinsen beschaffen könnte und so hohe Zinsen sich nicht rentieren.«18
Aus Tabelle 46 wird klar, dass die Banken bis zum Einbruch der Weltwirtschaftskrise an einer Zinspolitik festhielten, die vor allem ihren eigenen vermeintlichen Interessen entsprach. Die Politik des »teuren Geldes« wurde bis zu einem gewissen Grad dadurch gemildert, dass es den renommiertesten Industrieunternehmen gelang, durch Vermittlung der Kommerzbanken billigere ausländische Kredite zu erhalten. Layton und Rist stellten in ihrem Bericht fest, dass die zu Beginn des Jahres 1925 an die österrei17 Vgl. Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken. 18 Bauer, Die Wirtschaftskrise im Ausland und in Österreich, S. 107 f.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
chischen Unternehmen erteilten Auslandskredite trotz der vorangegangenen heftigen Börsenkrise höher waren als zu Anfang 192419. Sie zogen daraus den Schluss, dass die zunehmende Verfügbarkeit ausländischer Gelder einen mäßigenden Einfluss auf den Zinsfuß der Schillingkredite ausübe. Aber die relativ leichte Mobilisierbarkeit fremden Kapitals hatte auch eine unverkennbare Schattenseite. Die Warnung, die die beiden Sachverständigen in diesem Zusammenhang an die Exponenten der Bank politik richteten, soll hier im vollen Wortlaut wiedergegeben werden : »Man kann aber die kurzfristigen Auslandskredite nicht ins Endlose vervielfachen. Sie beinhalten eine gewisse Gefahr, da, falls aus irgend einem Grunde die ausländischen Geldgeber ihr Kapital plötzlich zurückfordern sollten, die österreichischen Banken in eine umso unangenehmere Lage kämen, als die Kredite der österreichischen Industrie zwar in Form kurzfristiger Darlehen gegeben werden, aber in der Praxis nicht so schnell eingetrieben werden können. Was Österreich nötig hat, ist weniger eine Vermehrung der ausländischen Kredite für seine Industrie, als eine Konvertierung der Kredite in langfristige Darlehen.«20
Diese Probleme waren zwar, wie noch gezeigt werden wird21, den österreichischen Bankiers bewusst, dennoch wurde in den Jahren bis 1929 das Maß der kurzfristigen Auslandsverschuldung über Gebühr erweitert. Der Umstand, dass viele der in Österreich vergebenen Kredite praktisch eingefroren waren, war natürlich auch den Kennern der österreichischen Bankszene kein Geheimnis. Paradoxerweise zogen sie damals daraus den Schluss, dass man nicht zuletzt aus diesem Grunde das ausländische Geschäft besonders forcieren müsse. Noch 1928, eineinhalb Jahre vor dem Zusammenbruch der zweitgrößten Mobilbank Österreichs, der Boden-Credit-Anstalt, argumentierte Walther Federn, dass die »Kreditvermittlung zwischen West und Ost nicht wenig zu den Erträgnissen der Banken [beiträgt], deren Dividenden ganz oder zum größten Teil aus den ausländischen Anlagen« kämen. Die Kredite, die die Banken im Inland gewährten, seien »oft eher zu hoch als zu niedrig«, da sie zu einem großen Teil eingefroren seien, wenn sie nicht überhaupt abgeschrieben werden müssten. Man dürfe sich daher, so lautete Federns Schlussfolgerung, nicht darüber wundern, dass die Banken bestrebt seien, ihre Interessen im Ausland nicht abzubauen, sondern zu vermehren. Denn »auf das österreichische Geschäft beschränkt, könnten sie, wenn überhaupt, nur sehr bescheidene Dividenden ausschütten. Ihr Angestelltenapparat wäre noch schwerer aufrecht19 Layton/Rist, S. 19 f. 20 Ebenda, S. 20. 21 Vgl. Kapitel III-4, S. 263 ff.
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Die goldenen 20er-Jahre
zuerhalten, und der traurige Abbau müßte noch rascher vollzogen werden, als dies ohnehin der Fall ist.«22
Wir sind jedoch der Geschichte um mehrere Jahre vorausgeeilt und müssen nun zum Bericht der beiden Experten aus dem Jahre 1925 zurückkehren : Fast ebenso ausführlich wie auf die Kapitalkosten gingen Layton und Rist auf die damals heftig umstrittene Frage der Lohnkosten und der sogenannten sozialen »Lasten« ein, die der industriellen Produktion auferlegt waren. Nach dem Ende der Inflation war in Österreich ein heftiger Disput zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften darüber entbrannt, ob die Belastung aus Löhnen und Sozialleistungen nicht eine für die österreichische Wirtschaft untragbare Höhe erreicht hätte23. Da dem Streit der beiden Parteien keine hieb- und stichfesten Unterlagen zugrundelagen, besaß die Untersuchung der beiden Experten große Aktualität und politische Brisanz. Nach Ansicht von Layton und Rist hatte der Reallohn der unqualifizierten Arbeiter und der Frauen das Vorkriegsniveau erreicht oder sogar schon überschritten. Auch die Mehrzahl der qualifizierten Arbeiter hatte – angesichts des Umstandes, dass der Mietzins infolge des Mieterschutzes in der Nachkriegszeit zu einer nominellen Größe geschrumpft war – mit dem Stand der Vorkriegszeit gleichgezogen. Insgesamt, stellten die Sachverständigen fest, »ist der österreichische Unternehmer hinsichtlich der Billigkeit der Arbeit und der Arbeitsleistung gegenüber seinen Konkurrenten [im Ausland, d. Verf.] in derselben Lage.«24
22 Federn, Die Wiener Großbanken, S. 824. 23 Der Besuch der Völkerbundexperten kam auch im Ministerrat zur Sprache. Finanzminister Ahrer, der nach dem Rücktritt der Regierung Seipel-Kienböck in die Himmelpfortgasse eingezogen war, meinte warnend zu seinen Kollegen : »Es sei notwendig mit der Industrie- und Handelswelt in Verbindung zu treten, damit die Experten nicht mit den üblichen Klagen aus diesen Kreisen bestürmt werden. Das würde nämlich die Gefahr mit sich bringen, daß vom österreichischen Parlament wirtschaftliche Erleichterungen, d. h. Steuersenkungen verlangt werden.« ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 373 vom 15. April 1925. 24 Layton/Rist, S. 23. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Untersuchung des Internationalen Arbeitsamtes in Genf vom Juni 1924. Bei einer Ermittlung der Löhne in internationalen Lebensmittelkörben schneidet Wien etwas ungünstiger ab als die Metropolen seiner nördlichen und östlichen Nachbarn. Zitiert nach Jellinek, Die Industrie Deutschösterreichs, S. 81. Wien Prag Warschau Berlin 5,0 5,7 5,2 6,0
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
Auch bezüglich der Leistungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung kamen die beiden Autoren zu ähnlichen Schlussfolgerungen. In Prozenten des Lohnes gerechnet, heißt es in dem Bericht, »ist die Last, die sich aus diesen Versicherungen ergibt, geringer als in Deutschland und beinahe ebenso hoch wie in der Tschechoslowakei, die die ehemalige österreichische Gesetzgebung in ihren großen Zügen beibehalten hat.«
Allerdings seien Beitragsleistungen zur Arbeitslosenunterstützung, die beinahe zur Gänze von den Unternehmen und von den in der Industrie beschäftigten Arbeitnehmern getragen werden müsse, infolge der hohen Arbeitslosigkeit in einem solchen Maße gewachsen, dass die »soziale Belastung« zum Zeitpunkt der Expertise die der benachbarten Industrieländer überstiegen haben dürfte. Layton und Rist zogen zwei Schlüsse aus dieser Beobachtung : erstens, dass die sogenannten sozialen Lasten jene der anderen Staaten auf Dauer nur dann übertreffen würden, »wenn die Arbeitslosigkeit eine bestimmte Ziffer überschreitet« ; und zweitens, dass es zu überlegen wäre, ob man nicht den österreichischen Staat zu einer stärkeren Alimentierung der Arbeitslosenunterstützung verpflichten sollte, da es »unmöglich scheint, die Höhe der Unterstützung herabzusetzen«25. Während einige Bedingungen der Konkurrenzfähigkeit der österreichischen Industrie, wie Kapitalkosten, Löhne und Sozialausgaben in dem Bericht relativ ausführlich behandelt wurden, wurden andere, wie die technische Ausstattung und die Qualität der Arbeit und des Unternehmertums, nur mit einigen wenigen Worten berührt. Was Moral und Arbeitsleistung der Arbeiterschaft anbelangt, verwies der Bericht auf das positive Zeugnis der Industriellen. Die Erneuerung der technischen Ausrüstung der österreichischen Fabriken wurde vor allem mit Deutschland verglichen. Die Aussage lautete, dass die technologischen Fortschritte vermutlich geringer ausgefallen seien als im Nachbarland. Dies entsprach, wie wir gesehen haben, auch der Ansicht der meisten österreichischen Experten. In seinem informativen Artikel »Die Kreditpolitik der Wiener Banken« hat Walther Federn seine aus unmittelbarer Erfahrung erworbenen Eindrücke von der Investitionstätigkeit der Industrie in den Jahren der Kriegs- und Nachkriegsinflation in der folgenden Weise zusammengefasst : »Die gewohnten Rücklagen zur Erhaltung der Anlagen und zur Erweiterung der Produktion mußten in und nach dem Kriege zum Teil unterlassen werden. Die Anlagen waren herabgewirtschaftet, und es hätte große Geldmittel erfordert, um sie auch nur wieder auf den 25 Layton/Rist, S. 23.
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Die goldenen 20er-Jahre
Stand zu bringen, der vor dem Krieg erreicht war, geschweige denn die technischen Fortschritte, die im Ausland inzwischen gemacht worden waren, nachzuholen. Auch hätte das neue kleine Wirtschaftsgebiet nach der Loslösung von den Nachfolgestaaten einen neuen Aufbau der ganzen Industrie erfordert, um jene Produktionsstufen, die vordem in anderen Kronländern sich befanden, aber mit den in Neuösterreich sich befindlichen ein einheitliches Ganzes bildeten, zu ersetzen. Von all dem konnte nicht die Rede sein. Während die deutsche Industrie nach dem Kriege ungeheure Summen investierte, um sich technisch zu vervollkommnen und die durch die Gebietszerreißung entstandenen Lücken im Aufbau der Produktion aufzufüllen, geschah das gleiche in Österreich nur ganz vereinzelt.«26
Eine etwas andere Einschätzung der Lage finden wir in einem Spätwerk des bekannten österreichischen Nationalökonomen Friedrich Hertz. Hertz meinte, dass es während der Kriegszeit und in den Jahren der Nachkriegsinflation zu einer nicht unbeträchtlichen Erweiterung der industriellen Kapazitäten gekommen sei. »Von 1913 bis 1923 wuchs die Zahl der Fabriken auf dem Gebiete des heutigen Österreich von 5.670 auf 7.645, also um 35,7 Prozent. Es gibt Schätzungen, wonach sich das Produktionspotential in dieser Zeit um 20 % vermehrte.«
Aber Hertz fügt hinzu, dass sich diese Zunahme zu einem Großteil als zweifelhafter Segen erwiesen habe. »Zahlreiche Betriebe, die für militärische Zwecke errichtet worden waren, konnten nicht auf die Produktion von zivilen Gütern umgestellt werden. In dem Versuch, eine solche Restrukturierung zu bewerkstelligen, ist viel Kapital verlorengegangen. Während der Inflationszeit ist die Erzeugung zu Lasten des Massenkonsums stimuliert worden. Dazu kam, daß die kontinuierliche Entwertung des Geldes viele Menschen veranlaßte, sich ihres Geldes so rasch wie möglich durch dessen Veranlagung in neuen Industrien oder Banken zu entledigen, ohne ernstliche Prüfung der Zukunftsaussichten dieser Unternehmungen. Die meisten der Neugründungen brachen bald zusammen und verursachten so große Kapitalverluste.«27
Auch Hertz gelangte also zu dem Schluss, dass die Zahl der Fälle, wo es in dieser Periode zu dauerhaften Kapazitätsausweitungen gekommen war, eine sehr begrenzte gewesen sein muss. Die Ausführungen von Federn und Hertz legen die Vermutung 26 Federn, Die Kreditpolitik der Wiener Banken, S. 65. 27 Hertz, The Economic Problem, S. 140 (Übers. v. Verf.).
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Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
nahe, dass die österreichische Industrie in die Phase der Stabilisierung mit einem Produktionsapparat eingetreten war, der zum überwiegenden Teil der Erneuerung und Modernisierung bedurfte. Aus den Untersuchungen des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung geht zudem hervor, dass die Neuausstattung der österreichischen Industrie in der kurzen Phase der Erholung 1925 bis 1929 nur sehr schleppend in Gang kam (siehe Tabelle 47). Tabelle 47 : Index der Brutto-Anlageinvestitionen 19l3–1929 (Index 1913 = 100) 1913
1924
1925
1926
1927
1928
1929
100,0
42,6
53,1
60,3
57,2
70,4
77,4
Quelle : Kausel/Nemeth/Seidel, S. 43.
Wie man sieht, betrugen die Brutto-Anlageinvestitionen im Jahre 1924 kaum die Hälfte des im letzten Friedensjahr getätigten Investitionsvolumens. In den folgenden Jahren war zwar ein langsamer Erholungsprozess zu beobachten, aber selbst im Jahr 1929, also auf dem Höhepunkt der Entwicklung, wurde das Vorkriegsniveau auch nicht annähernd erreicht. Von einer umfassenden Erneuerung und Modernisierung des Produktionsapparates konnte demnach auch in dem Jahrfünft vor dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise nicht die Rede sein. Dies erhellt auch aus der Tatsache, dass die Investitionen des Bundes und der Gemeinde Wien zusammen rund ein Drittel der Bruttoinvestitionen im Zeitraum 1924 bis 1929 ausmachten, während beispielsweise in den 70er-Jahren der Anteil der öffentlichen Hand wesentlich bescheidener dimensioniert war, nämlich nur rund 15 Prozent der Sachanlageinvestitionen betrug28. Wir besitzen nur einige wenige Berichte über den Zustand des Produktionsapparates, über den Österreich nach Kriegsende verfügte. Sieht man von den Rüstungsbetrieben ab, die während der Kriegsjahre ihre Kapazität nicht unwesentlich erweitern konnten, hatte in fast allen Bereichen der österreichischen Industrie ein Prozess der Abnützung und Überalterung Platz gegriffen. Der Zustand der österreichischen Brauindustrie mag als charakteristisch gelten : »Die technischen Einrichtungen der Brauereien befanden sich zu Ende des Weltkrieges zumeist in einem recht kläglichen Zustande. Die Metallanforderungen der Heeresverwaltung hatten die Brauereien der meisten wichtigen Armaturen beraubt, die aus Kupfer, Zinn oder deren Legierungen bestanden. Die aus dem einzigen verfügbaren Material, dem Eisen, 28 Vgl. Fibich, S. 192 f.
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nachgeschafften Ersatzbestandteile verrosteten, und zwar in immer stärkerem Maße, mit den fortschreitenden Betriebsreduktionen ; die Brauereien waren ja schließlich auf 6–10 Prozent ihrer Friedenserzeugung gesunken […]. Das fast völlige Fehlen eines entsprechend geschulten Personals brachte […] eine erhöhte Auswirkung von an sich geringfügigen Betriebsstörungen mit sich. Dieselbe trostlose Vernachlässigung zeigte sich auch bei den meisten Baulichkeiten, für deren Instandhaltung ebenfalls Menschen und Material fehlten.«29
Allerdings kam es in einzelnen anderen Zweigen der Industrie im weiteren Verlauf zu beträchtlichen Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen. Dies gilt vor allem für die Elektroindustrie, die aus der Elektrifizierung der Bundesbahnen, dem Ausbau des Fernmeldewesens und gewissen inflationsbedingten Erfolgen im Außenhandel einen nicht unbeträchtlichen Nutzen ziehen konnte. Einigen Unternehmungen dieser Branche gelang es in dieser Zeit, sich auf den Bau großer Maschinenaggregate wie Turbinen und Transformatoren umzustellen30. Ein großer Teil der Investitionen in der Elektroindustrie wurde allerdings in Erwartung eines Nachkriegsbooms im Donauraum getätigt, der bekanntlich ausblieb. Auch die Nahrungs- und Genussmittelindustrie, vereinzelte Sparten der Maschinenindustrie und insbesondere die holzverarbeitende Industrie vermochten in den ersten Nachkriegsjahren ihr Produktionspotential nicht unbeträchtlich zu erweitern31. Insgesamt betrachtet dürfte der Gesamtzustand der Industrie zu Beginn der Stabilisierungsphase jedoch eher veraltet und technisch inadäquat gewesen sein. In einem 1925 gehaltenen Vortrag vor Vertrauensmännern der Industrieangestellten präsentierte Otto Bauer den folgenden ernüchternden Zustandsbericht über die österreichische Industrie : »Bezüglich der Technik und Arbeitsorganisation unserer Betriebe haben wir vor allem den furchtbaren Nachteil der Kleinheit unseres Landes. Und dann eine Industrie, die seit 1914 so gut wie nichts investiert hat und schon dadurch technisch veralten mußte. Man hat vier Billionen [österreichische Kronen, d. Verf.] in der Spekulation hinausgeworfen, für Investitionen hat man nichts gehabt. Daher haben wir eine Industrie, die, dank ihrer vielfach veralteten Wirtschaftsbetriebe und dank der Schutzzöllnerei um uns, heute ihre Kapazität 29 Mautner-Markhof, S. 78. 30 Vgl. ÖVW, Die Bilanzen, 30. Oktober 1925, S. 2. 31 So berichtete die Leykam-Josefsthaler A.G. für Papier- und Druckindustrie im Jahre 1924 über einen bedeutenden Ausbau ihrer Anlagen in Gratwein in der Steiermark. Damit, schrieb der »Volkswirt«, »ist die Josefsthaler in der Lage, ihren gesamten Zellulosebedarf aus eigenem zu decken. Um auch vom Bezuge fremder Kraft unabhängig zu sein, wird die in Gratwein verfügbare Wasserkraft entsprechend ausgebaut«. ÖVW, Die Bilanzen, 16. August 1924, S. 1.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
zu vierzig, und wenn es gut geht, zu sechzig Prozent ausnützt, aber nirgends zu hundert Prozent, und die daher teuer arbeiten muß. Wir haben eine Industrie, die, weil sie die alten Märkte verloren hat und neue nicht zu erobern vermag, an die Vorteile der Massenproduktion gar nicht denken kann. Im Grunde genommen sind selbst unsere großen Betriebe organisch gar keine Großbetriebe, sondern oft nur eine Summe von Greißlereien, in denen auf jeder Maschine etwas anderes erzeugt wird. Das macht unsere außerordentliche Schwäche aus. Und wenn auch ein Teil dieser Schwäche natürlich nur aus der momentanen Not der Zeit erklärlich ist, bleibt doch auch für die Zukunft die Tatsache bestehen, daß wir infolge der Armut an Naturschätzen und infolge der Kleinheit unseres Wirtschaftsgebietes unter sehr ungünstigen Bedingungen arbeiten.«32
Bauer beurteilte die Lage der österreichischen Industrie im Jahre 1925 weit skeptischer als Layton und Rist. Auch er hatte kein auf kurze Frist schlüssiges Konzept für die Überwindung der technischen und organisatorischen Rückständigkeit des heimischen Produktionsapparats anzubieten : »Wir werden in der großen Massenproduktion mit großen Ländern, welche unter günstigen Bedingungen arbeiten, wahrscheinlich auf die Dauer nicht konkurrieren können. Wir müssen also in anderen Dingen konkurrieren. Wir können nicht konkurrieren durch die Billigkeit des Rohstoffes, denn da sind uns die anderen überlegen, wir können nur durch die Qualität der Arbeit konkurrieren, wenn wir es dahin bringen, die höchste Arbeitsqualität zu haben. Es gibt für uns keine andere Möglichkeit, und das ist […] eine Funktion des Kulturniveaus.«33
Der bornierten bürgerlichen Politik der »Senkung des Kulturniveaus« der Arbeiter – der Lohnsenkung und der Reduzierung der öffentlichen Leistungen – zur Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit der österreichischen Wirtschaft setzte Otto Bauer eine offensive und nachhaltige Strategie der fordistischen Modernisierung entgegen, die in einer Rationalisierung der Produktion bei gleichzeitiger Erhöhung des Lohnniveaus bestehen sollte : »Die Kapitalisten glauben, nur durch eine Senkung des Kulturniveaus können wir uns konkurrenzfähig machen. Wir meinen eben das Gegenteil. Das kapitalistische System, die Löhne zu drücken, die Arbeitszeit zu verlängern, ist allerdings die bequemste Methode, weil sie den Unternehmern alles Nachdenken über die Organisation der Arbeit erspart. 32 Bauer, Die Wirtschaftskrise in Österreich, S. 263 f (Herv. v. Verf.). 33 Ebenda, S. 265.
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Umgekehrt, wenn wir auch angesichts der ungünstigen Bedingungen unserer Produktion unser Kulturniveau nicht herabdrücken lassen, dann ist für die Unternehmer der Zwang vorhanden, die Ungunst der Produktionsbedingungen durch Rationalisierung der Produktionsbedingungen zu kompensieren. So hängt mit der Hebung unseres Kulturniveaus ein Zweites zusammen : die Rationalisierung unserer Arbeitstechnik.«34
Eine andere Wirtschaftstherapie versprach das sogenannte »Steirische Wirtschaftsprogramm«, an dessen Zustandekommen der damalige Finanzminister Jacob Ahrer entscheidenden Anteil hatte. In die Realität umgesetzt wurde es nicht. Ahrer musste Österreich infolge seiner persönlichen Verstrickung in den Postsparkassenskandal vorzeitig verlassen35. Auch das »Steirische Wirtschaftsprogramm«, für das christlichsoziale Wirtschaftsfachleute verantwortlich zeichneten, wurde im Jahre 1925 der Öffentlichkeit vorgelegt. Es ging von dem Gedanken aus, dass die Genfer Sanierung die vordergründigen finanzpolitischen, nicht aber die tieferliegenden volkswirtschaftlichen Probleme gelöst hätte. Die Arbeitslosigkeit wurde als das dringendste Problem bezeichnet, das nach schleuniger Beseitigung verlange : »Gelingt die Lösung dieses Problems nicht, dann haben wir vergeblich alle die schweren Lasten auf uns genommen, die unter dem Namen der Genfer Sanierung zusammengefaßt werden können, dann sind aber auch alle anderen Versuche aussichtslos, der geordneten staatlichen Wirtschaft nunmehr auch eine geordnete Volkswirtschaft an die Seite zu stellen und ihr auf diese Weise das einzig mögliche Fundament zu geben, dessen sie bedarf, wenn sie nicht zusammenbrechen soll.«36
Ein wahrlich »griechisches« Dilemma, ist man heute versucht zu sagen. Auch die politische Brisanz des Phänomens der Massenarbeitslosigkeit wurde von den Autoren des »Steirischen Wirtschaftsprogramms« klar erkannt. Der Wiederaufbau der Wirtschaft und damit die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten entscheide auch über das Schicksal der Demokratie :
34 Ebenda, S. 267. 35 Schon vor seiner Verstrickung in den Postsparkassenskandal erfreute sich Finanzminister Jacob Ahrer nicht des besten Renommees in der Fachpresse. So bezeichnete ihn der »Österreichische Volkswirt« im Frühjahr 1925, nach der Rückkehr von einem Besuch in London, wohin er, wie der Kommentator meinte, niemals eingeladen worden war, als den »unzulänglichsten der österreichischen Finanzminister«. ÖVW, Aus der Woche, 11. April 1925, S. 753. 36 ÖStA/HHStA, Schüller-Faszikel, S. 1 f.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
»Erweist sie sich als zu schwach, um die ungeheuren Gefahren zu bannen, von denen wir bedroht sind, dann werden die verzweifelten Menschen auch an der Demokratie zweifeln und einen Ausweg suchen, der – ob er nun nach rechts oder links gefunden würde – die Zerstörung aller demokratischen Einrichtungen dieses Landes zur Folge hätte. Infolgedessen ist es die heilige Pflicht aller wachen Freunde der Demokratie, daß sie dazu beitragen, dem Volke den Beweis zu erbringen, daß diese Demokratie in gefährlichen Augenblicken stark genug ist, um alles vorzukehren, was die Gefahr des Augenblicks verlangt.«37
Das Programm griff auch die Zweifel an der transnationalen Orientierung des österreichischen Bankgeschäfts wieder auf, wie sie schon bald nach Kriegsende von Alexander Spitzmüller, dem damaligen Gouverneur der Österreichisch-ungarischen Notenbank, geäußert worden waren. »Nach meiner Ansicht«, schrieb Spitzmüller in seinen Lebenserinnerungen, »waren die Positionen in der Tschechoslowakei, in Polen, in Jugoslawien und auch in Ungarn abzustoßen, wodurch vor allem ein reichlicher Devisenbestand ins Land gekommen wäre und die Herstellung einer bescheidenen, aber doch soliden Grundlage für die österreichische Wirtschaft hätte erzielt werden können.«38
Ähnlich forderte auch das »Steirische Wirtschaftsprogramm«, dass die Wiener Großbanken ihre Auslandsengagements allmählich abbauen und die repatriierten Kapitalien zur Modernisierung der heimischen Wirtschaft verwenden sollten. »Man hat den Eindruck«, stellten die Verfasser des Programms fest, »daß das österreichische Kapital vielfach nicht glauben wollte, daß die durch den Staatsvertrag von St. Germain erzwungene Gebietsteilung eine endgültige sei, und immer noch hoffte, daß man das zerschlagene Gebiet in irgendeiner Form ganz oder zum größten Teil wieder vereinigen, die nationalen Gegensätze ausgleichen und die verkehrshemmenden Einrichtungen abbauen werde. Man zögert nunmehr durch sieben Jahre, die finanziellen und wirtschaftlichen Folgerungen aus dem Staatsvertrag von St. Germain zu ziehen, die wirtschaftlichen und finanziellen Positionen in den Sukzessionsstaaten zu liquidieren und die gesamten wirtschaftlichen Kräfte auf die Heimat zu konzentrieren.[…] Infolge des Überwiegens ausländischer Interessen fehlt den Banken der Wille, für eine österreichische, nationale Wirtschaft einzustehen. Würden sie an dem Gedeihen derselben mit ihrer gesamten Kapazität interessiert sein, so würde eine ganz andere Wirtschaftspolitik der österreichischen Regierung Platz greifen können.«39 37 Ebenda, S. 7. 38 Spitzmüller, … und hat auch Ursach’, S. 332. 39 ÖStA/HHStA, Schüller-Faszikel, S. 11 und 28.
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Ein Aspekt dieser Politik könnte darin bestehen, eine »allmähliche Repatriierung des jetzt im ausländischen Wirtschaftsleben tätigen Kapitales« in die Wege zu leiten. Ferner entfiele für Österreich die Notwendigkeit, »Geld zu drückendsten Bedingungen am Weltmarkte aufzunehmen und dadurch dem fremden Kapital tributpflichtig zu werden. Weiters bestünde nicht fortgesetzt die Gefahr einer Einflußnahme des ausländischen Kapitales auf den Stand unserer Währung durch die Möglichkeit des Entzuges kurzfristig gewährter Kredite.«40
Welchen Aufgaben sollte das repatriierte Kapital dienstbar gemacht werden ? Das Programm visierte die Forcierung einer Entwicklung an, die sich schon während der Nachkriegsinflation, wenn auch nur in den ersten Ansätzen, abgezeichnet hatte : »Aus unseren Naturschätzen müssen wir in weitgehender Veredelung das höchstwertige Finalprodukt schaffen. Nicht Erz-, Kohle- und Holzausfuhr kann das Land zum Wohlstande bringen, sondern die Verarbeitung des Erzes bis zum Qualitätswerkzeug, der Näh nadel und der Uhrfeder, die rationelle Verfeuerung der heimischen Kohle in den Kesseln der heimischen Betriebsanlagen und die Verarbeitung des Holzes zum Zündholz, Luxusmöbel oder zum Papier, Buch und Briefumschlag, kurz zu solchen Erzeugnissen, welche in die Hand des letzten Verbrauchers kommen.«41
Das »Steirische Wirtschaftsprogramm« hat in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung gefunden, was, wie bereits vermerkt, mit dem erzwungenen Rückzug Finanzminister Ahrers aus dem politischen Leben zusammenhängen dürfte. Wichtiger jedoch mag der Umstand gewesen sein, dass die für die Bankpolitik verantwortlichen Kreise keine zwingenden Gründe sahen, ihre schon seit 1918 verfolgte Orientierung radikal zu ändern. Budget und Währung schienen endlich gefestigt, die Verhältnisse im Donauraum gaben Anlass zu einem gedämpften Optimismus, und schließlich standen den Wiener Kommerzbanken relativ günstige ausländische Kredite zur Verfügung, mit denen die wirtschaftlichen Positionen in den Nachbarstaaten gehalten und ausgebaut werden konnten. Dazu kam, dass der Gedanke eines langfristig konzipierten Wirtschaftsprogramms im bürgerlichen Lager ein völliges Novum darstellte. Wir haben gesehen, dass der Prozess der Erneuerung des technisch obsoleten Produktionsapparates außerordentlich schleppend verlief. Die österreichischen Unternehmer standen zweifellos unter dem Zwang der Modernisierung und Rationa40 Ebenda, S. 13. 41 Ebenda, S. 14.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
lisierung ihrer veralteten, abgenützten technischen Anlagen, aber sie verfolgten in Anbetracht der ungünstigen Absatzchancen im Ausland und der beschränkten Aufnahmefähigkeit des Binnenmarktes eine von großer Vorsicht geprägte Investitionspolitik. In den Konjunkturjahren 1924 bis 1929 nahmen zwar die realen Bruttoinvestitionen um 13 % pro Jahr zu. Dennoch betrug die Investitionsquote selbst in den beiden Spitzenjahren 1928 und 1929 nicht mehr als etwa 10 % des verfügbaren Güter- und Leistungsvolumens und lag so deutlich unter dem Vorkriegsniveau42. Zudem erwiesen sich viele der in den 20er-Jahren vorgenommenen Modernisierungsinvestitionen als Fehlinvestitionen. Aus dem Dilemma – entweder nicht zu investieren und auf den Auslandsmärkten nicht konkurrenzfähig zu sein oder zu rationalisieren und eine dauernde Unterauslastung der Kapazitäten in Kauf zu nehmen – gab es für ein exportabhängiges Land wie Österreich kaum einen Ausweg. Selbst in der kurzen konjunkturellen Erholungsphase vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise kam es so zu keiner gründlichen Überholung und Modernisierung des Produktionsapparates. Erfolgreich waren die Bemühungen um eine rationellere und billigere Produktion nur in jenen Industriezweigen, die fast ausschließlich für den Inlandsmarkt arbeiteten : in der Brauindustrie, die nach 1918 einen starken Konzentrationsprozess durchmachte, und in anderen Zweigen der Lebensmittelindustrie. Interessanterweise wurde die Konjunktur einzelner Zweige der Industrie – und damit auch die Investitionstätigkeit – von bedeutenden Aufträgen der öffentlichen Hand stimuliert. Einer der wichtigsten Nutznießer dieser von Bund und Gemeinde Wien getragenen Sonderkonjunktur war die Elektroindustrie, die jedoch selbst in den Jahren der lebhaften Inanspruchnahme durch die öffentlichen Auftraggeber über große unausgenützte Kapazitäten verfügte. Hierfür war nicht bloß der unbefriedigende Geschäftsgang in den Nachfolgestaaten maßgebend, die den Aufbau einer heimischen Industrie vorantrieben, sondern auch die Geschäftspolitik der deutschen bzw. schweizerischen Muttergesellschaften, die ihre österreichischen Töchter auf den Absatz im Donauraum beschränkten43. Ähnlich wie in der Elektroindustrie kam es auch in der Kraftwagenerzeugung zu einer erheblichen Ausweitung der Kapazitäten. Der Schrittmacher dieser Branche war die Steyr-Werke AG, die bereits während des Ersten Weltkriegs die Weichen für
42 Klausel/Nemeth/Seidel, S. 42. 43 »Eine Hemmung der Ausfuhr der österreichischen Starkstromindustrie sind auch die Absatzrayonierungsübereinkommen der Siemens, A.E.G. und Brown-Boveri mit ihren Muttergesellschaften, wodurch sie in der Hauptsache auf den Absatz in den Nachfolgestaaten und auf dem Balkan beschränkt bleiben. Dagegen ist die Elin vollkommen frei, sie konnte auch einen ziemlich erheblichen Absatz in den übrigen europäischen Staaten erwerben.« Jellinek, Die Industrie Deutschösterreichs, S. 88.
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Die goldenen 20er-Jahre
die Umstellung auf die Autoproduktion gestellt hatten44. Die Steyrwerke führten als einziges österreichisches Automobil-Unternehmen um die Mitte der 20er-Jahre die Fließbandarbeit ein. Auf diese Weise wuchs das Produktionspotential der gesamten Automobilindustrie auf 12.000 bis 15.000 Stück im Jahr45, während die tatsächliche Jahresproduktion bloß 7.500 Kraftfahrzeuge betrug46. Die öffentlichen Investitionen bildeten, wie bereits erwähnt, einen bedeutenden Teil der Gesamtinvestitionen. Allerdings war die staatliche Investitionstätigkeit beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Infolge des akuten Brenn- und Treibstoffmangels der frühen Nachkriegszeit wurde dem Ausbau der Wasserkraft und der Elektrifizierung des Bahnwesens in den Anfangsjahren der Republik großes Augenmerk zugewandt : Schon im Jänner 1919 wurde das »Wasser- und Elektrizitätswirtschaftsamt« (WEWA) gegründet, das ein planmäßiges Vorgehen bei der Erschließung der »weißen Kohle« gewährleisten sollte47. Der Bau von Großwasserkraftanlagen mit einem Leistungsvermögen von über 500 PS machte in den 20er-Jahren bedeutende Fortschritte. Bis Ende 1928 wurden für Anlagen dieser Art und die dazugehörigen Leistungs- und Verteilungsinstallationen rund 400 Mio. Schilling investiert. Der Stromabsatz erreichte in diesem Jahr fast 2,5 Mio. kWh oder 400 kWh pro Kopf der Bevölkerung. Strom wurde zu zwei Drittel durch Wasserkraft erzeugt48. Die durch diese Entwicklung bewirkte Ersparnis an hauptsächlich aus dem Ausland bezogener Kohle wurde vom WEWA mit rund 1,5 Mio. Tonnen beziffert, was eine Entlastung der Zahlungsbilanz um rund 50 Mio. Schilling bewirkt haben dürfte49. Auch die Elektrifizierung der österreichischen Bundesbahnen wurde bald nach Kriegsende in Angriff genommen50, wobei auch in diesem Fall der Anstoß von der akuten Kohlennot dieser Zeit ausging. In den Jahren 1923 bis 1928 stieg die Verkehrsleistung der Bundesbahnen, gemessen in Brutto-Tonnenkilometer, um über ein Drittel, ihr Verbrauch an mineralischen Brennstoffen ging jedoch im selben Zeitraum um 21 % zurück51. Der Ausbau der Wasserkraft und die Elektrifizierung der Bundesbahnen kamen trotz dieser eindrucksvollen Leistungen und der günstigen Aus44 Vgl. Neubauer, Österreichische Waffenfabriksgesellschaft bzw. Steyr-Werke A.G. 1914–1934. 45 Ebenda, S. 184 ff. und 201 sowie Hanel, S. 570. 46 1927 erzeugten acht österreichische Fabriken (mit 11.000 Arbeitern und 1.000 Angestellten) bloß 7.500 Kraftwagen. Siehe : Bayer, S. 116. 47 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 504 ff. 48 BHA, Zl. 297/1929 : Dankschreiben für Übermittlung eines Berichtes des Öst. Wasserkraft- und Elektrizitäts-Wirtschaftsamtes über den Großwasserkraftausbau im Jahre 1928. 49 Berechnet nach : Der Außenhandel Österreichs zwischen den beiden Weltkriegen, S. 45. 50 Vgl. Freihsl, Bahn ohne Hoffnung. Die österreichischen Eisenbahnen 1918–1938. 51 KOFO, Die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft 1923–1932, S. 18 und 26.
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Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
wirkungen auf den Arbeitsmarkt gegen Ende der 20er-Jahre zu einem fast völligen Stillstand. Der drastische Verfall der Kohlenpreise und die budgetäre Notlage, die mit dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise entstanden war, müssen als die hauptsäch lichen Gründe für diese Entscheidung angesehen werden. Tabelle 48 : Investitionen des Bundes und der Gemeinde Wien 1924–1930 BNP in Mio. S
Investitionen d. Bundes
Investitionen in % d. BNP
Investitionen d. Gem. Wien in Mio. S
1924
9.257
103,7
1,1
79,2*
0,9
1925
10.296
90,6
0,9
116,9
1,1
Investitionen d. Gem. Wien in % d. BNP
1926
10.283
135,7
1,3
144,3
1,4
1927
11.110
195,7
1,8
95,4
0,9
1928
11.678
212,5
1,8
115,9
1,0
1929
12.087
147,2
1,2
121,0
1,0
1930
11.560
248,4
2,1
123,6
1,1
* Laut Voranschlag. Quellen : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924–1932 ; Czeike, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Gemeinde Wien, S. 157 ff.
Im Durchschnitt der Jahre 1923 bis 1926 lag der Anteil der Investitionsaufwendungen des Bundes an den gesamten Budgetausgaben bei 7,6 %. Er stieg in den folgenden Jahren nicht unbeträchtlich und erreichte 1928 und 1930 Anteile von 10,7 bzw. 10,8 %. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man den Investitionsaufwand des Bundes in Beziehung zu den gesamtwirtschaftlichen Daten setzt. Tabelle 48 zeigt den hohen Anteil der Investitionen der Gemeinde Wien an den gesamten öffentlichen Investitionen. Insbesondere in den Jahren 1924 bis 1926 erwies sich die Investitionstätigkeit der Gemeinde Wien als ein wichtiger konjunkturstützender Faktor. Die auffallende Zunahme der Bundesinvestitionen in der zweiten Hälfte der 20erJahre bedarf einer näheren Erklärung. Bekanntlich lag seit dem Anlaufen der »Genfer Sanierung« im Jahre 1923 die oberste Kontrolle über die Gebarung des Staatshaushaltes in den Händen eines vom Völkerbund bestellten Generalkommissärs, der eine Politik der rigorosen Kürzung aller nicht als unumgänglich erachteten Staatsausgaben verfolgte. Auch die für den Ausbau der Wasserkraft und die Elektrifizierung der Bundesbahnen in Aussicht genommenen Aufwendungen fielen zum Großteil dem Sparstift des ausländischen Kontrollors zum Opfer. Schon bei den Genfer Verhand-
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Die goldenen 20er-Jahre
lungen war die Frage einer produktiven Verwendung der verfügbaren Anleiheanteile völlig unter den Tisch gefallen. Nach den Worten Kienböcks fand »eine nähere Auseinandersetzung darüber […] nicht statt. Als man die Höhe der Anleihe zu fixieren unternahm, dachte man an eine Übergangszeit von zwei Jahren und urteilte, daß die Anleihe gerade genügen werde, um den wirklich unvermeidlichen Abgang in den kritischen zwei Jahren zu bestreiten. Die Aufmerksamkeit war so sehr auf diesen Punkt konzentriert, daß es zu einer Behandlung der Investitionsprobleme gar nicht kam.«52
Auch die Finanzdelegation des Völkerbundes, die zur Prüfung der finanzpolitischen Lage und zur Ausarbeitung konkreter Sanierungsmaßnahmen im Oktober 1922 in Wien weilte, vertrat den Standpunkt einer rigorosen Sparpolitik53. Dem damaligen Verkehrsminister Franz Odehnal wurde einfach mitgeteilt, »daß sie [die Völkerbunddelegierten, d. Verf.] den weiteren Ausbau der Wasserkraftwerke zu sperren beabsichtigen, weil nach ihrer Auffassung derartige Investitionen während der nächsten beiden Jahre nicht gemacht werden, sondern die dafür bestimmten Mittel zur Deckung des Abganges verwendet werden sollten.«
Er habe sich, so berichtete der Minister, gegen dieses Vorhaben energisch zur Wehr gesetzt und verlangt, »daß wenigstens jener Teil des Bauprogramms ausgeführt werden solle, der es ermöglicht, den Betrieb auf einem großen Teil der Bundesbahnen zu elektrifizieren.«54
Verständnis und Unterstützung fanden die Vertreter des Völkerbundes hingegen beim österreichischen Finanzminister Viktor Kienböck. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Odehnal warnte Kienböck in den Diskussionen des Ministerrates davor, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken,
52 Kienböck, S. 128 f. 53 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 237 vom 31. Oktober 1922. 54 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 241 vom 9. November 1922. Odehnal, ein Christlichsozialer, gehörte zu dem Kreis von konservativen Politikern, die der volkswirtschaftlichen Vernunft gegen einen blindwütigen Sparwillen Geltung zu verschaffen suchten. Vgl. seine Haltung bei späteren Beratungen des Ministerrates, insbesondere in MRP Nr. 246 vom 1. Dezember 1922 und Nr. 265 vom 9. März 1923.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
»als ob der Staat daranginge, aus seinen Mitteln eine Investitionspolitik zu betreiben. Es muß alles vermieden werden, was den Anschein erweckt, als würde etwas derartiges angestrebt werden, um nicht in der Industrie und in der Arbeiterschaft allerlei Begehrlichkeiten zu erwecken. Wir haben einfach nicht die Mittel dazu, um Aufwendungen für derlei Zwecke zu machen.«55
In derselben Sitzung vertrat Kienböck die Auffassung, er werde zwar »das eine oder andere Erfordernis […] schlucken müssen«, lehnte aber die Bereitstellung eines Betrages von ca. 7 bis 8 Mio. Schilling für die Fertigstellung gemeinnütziger Wohnbauten, die Sozialminister Richard Schmitz (der spätere Bürgermeister von Wien in der Zeit des Ständestaates) vorgeschlagen hatte, kategorisch ab56. In einer anderen Sitzung, bei der es um die Frage der Bekundung des Sanierungswillens der Regierung mittels einer »eklatanten Tat« ging, trat Kienböck für die Einstellung von Ausgaben für Investitionszwecke »selbst bei bereits begonnener Bauführung« ein57. Nachdem Ende 1923 die Konsolidierung des Staatshaushaltes als vollendete Tatsache betrachtet werden konnte, gingen die Auseinandersetzungen um die produktive Verwendung der brachliegenden Restbeträge der Genfer Anleihe mit unverminderter Heftigkeit weiter. Unter diesen Umständen kann es kaum überraschen, dass es dem Leiter der Verwaltungskommission der Österreichischen Bundesbahnen, Georg Günther, erst nach zweijährigen Verhandlungen gelang, einen Betrag von 126,7 Mio. Schilling aus den unverbrauchten Resten der Völkerbundanleihe für Elektrifizierungsvorhaben loszueisen58. Insgesamt wurden dann aber von dem Gesamterlös der Anleihe (936 Mio. S) 511,5 Mio. für produktive Investitionen der Eisenbahnen, der Post, der Tabakmonopole und für die Förderung der Milchwirtschaft verwendet59. Größere öffentliche Aufträge konnten erst zu dem Zeitpunkt vergeben werden, als die Genfer Vormundschaft beendet war (Ende 1926) und die Placierung einer internationalen Investitionsanleihe mit Zuversicht erwartet werden durfte. Der »Investitionsstoß« der Jahre 1928 und 1930, der das Übergreifen der Weltwirtschaftskrise auf Österreich deutlich verzögerte, erklärt sich so teilweise aus einem Zufall : aus dem Vorgriff auf die Internationale Bundesanleihe (IBA) bzw. aus ihrer 55 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 248 vom 11. Dezember 1922. 56 Ebenda. 57 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 247 vom 5. Dezember 1922. Tatsächlich verweigerte der Ministerrat vom 19. Dezember 1922 die Bereitstellung von Mitteln für die Vollendung von Bauten an der gynäkologischen Klinik in Innsbruck, sodass die Einstellung der Bauarbeiten verfügt werden musste. Siehe : MRP Nr. 277 vom 11. Mai 1923. 58 Dittes, S. 361 und 373 f. 59 Gruber (Franz), S. 274.
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196
Die goldenen 20er-Jahre
schließlichen Begebung im Jahr 1930 : Die großen Investitionen des Bundes und der Gemeinde Wien, so meinte ein zeitgenössischer Kommentator, waren die Ursache für das Andauern der guten Konjunktur im Jahr 1929, also zu einem Zeitpunkt, da das Konjunkturbarometer im benachbarten Deutschland bereits nach unten wies60. Als Kienböck im November 1922 das Amt des Finanzministers übernahm, beschrieb das einflussreiche Organ »Die Börse« seine Funktion noch wertfrei als die eines »Verbindungsoffiziers« zwischen dem Völkerbund und dem österreichischen Parlament. Am Ende seiner ersten Amtsperiode, im November 1924, wurde seine unbeirrbare Sparpolitik von derselben Zeitung recht kritisch bewertet : Kienböck sei »nur Finanzminister und als Finanzminister nur Steuerpolitiker« gewesen ; die Krise der österreichischen Wirtschaft erfordere aber, dass der »Steuertechniker« hinter den »Volkswirt« zurücktrete61. Tabelle 49 : Saldi der Bundesrechnungsabschlüsse und Investitionsausgaben des Bundes 1924–1930 (in Mio. S) Saldi
Saldi ohne Bankenstützungen
Investitionen des Bundes
1924
– 34,6
– 34,6
103,7
1925
+ 50,8
+ 50,8
90,6
1926
– 46,4*
+ 9,1
135,7
1927
– 84,5**
– 16,8
195,7
1928
– 80,9***
– 47,6
212,5
1929
+ 19,7
+ 25,2
147,2
1930
– 261,6
– 256,1
248,4
* Davon 55,5 Mio. S für die Liquidierung der Centralbank der deutschen Sparkassen. ** Davon 53,3 Mio. S Zuschuss an die PSK. *** Davon 27,8 Mio. S Zuschuss an die PSK. Quellen : Statistische Nachrichten, Jg. 1931, S. 219 ; Gruber (Franz), S. 271 f ; Fibich, S. 154 und 156.
Den Erfordernissen der Wirtschaft konnte freilich vom Standpunkt der Budgetpolitik erst Rechnung getragen werden, als mehr als ein Jahr später auch der Völkerbundkommissär, dem Kienböck so willig Gefolgschaft geleistet hatte, aus seinem hohen Amt ausgeschieden war. Die Defizite im Staatshaushalt hielten sich jedoch in den folgenden Jahren konjunktureller Erholung in engen Grenzen und waren in der Hauptsache auf die Zuschüsse zurückzuführen, die dem Bankensektor geleistet 60 Jellinek, Die Industrie Deutschösterreichs, S. 81. 61 Die Börse, Das System Kienböck, 12. November 1924, S. 3.
197
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
werden mussten. Der erhebliche Abgang des Jahres 1930 konnte aus den Mitteln der internationalen Bundesanleihe gedeckt werden (siehe Tabelle 49). Die deutliche Anhebung der Bundesausgaben für produktive Zwecke in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre übte unzweifelhaft einen belebenden Einfluss auf die private Investitionstätigkeit aus62. Das Produktionspotential der österreichischen Industrie wuchs in dieser Zeit langsam aber stetig, vor allem als Folge der Modernisierung des Maschinenparks und der Einführung arbeitssparender Fertigungsmethoden in bestimmten Branchen. In den Jahren 1923 bis 1929 erreichte der Gesamtwert der Maschineneinfuhr (insbesondere aus Deutschland) – um einen wichtigen Indikator zu nennen – den ansehnlichen Betrag von 704 Mio. Schilling63. In Anbetracht der Enge des Binnenmarktes – er nahm vermutlich nicht mehr als 55 Prozent der industriellen Produktion auf64 – zielten die Rationalisierungsmaßnahmen der österreichischen Industrie in erster Linie auf die Erhaltung und Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den ausländischen Märkten ab. Zu einer fühlbaren Ausweitung der Exporte ist es jedoch in dieser Entwicklungsphase nicht gekommen. 1929 lagen die Exporte noch immer unter dem Niveau von 1913. Tabelle 50 : Exportzuwachs 1924–1929 (in Mio. S) Gesamt
Fertigwaren
Zu laufenden Preisen
+218,4
+76,5
Zu Preisen von 1937
+151,1
+39,4
Quelle : Der Außenhandel Österreichs. S. 20 und 25.
Wie Tabelle 50 zeigt, konnte zwar der Wert der gesamten Ausfuhr von 1924 bis 1929 um 11 % gesteigert werden, doch erhöhte sich der Fertigwarenexport bloß um 5 % (real um 10 bzw. 3 %). Man erkennt, dass die angestrebte »Exportoffensive« nicht nur schleppend vorankam, sondern dass es überdies zu einer Primitivisierung der Exportstruktur kam. Diese Tendenz war seit der Stabilisierung der Währung wirksam : 1921 hatte der Anteil der Fertigwaren an der Gesamtausfuhr noch mehr als 92 % 62 Josef Jellinek erwähnt, dass die Bundesbahnen bei den österreichischen Waggonfabriken im Jahre 1928 6.000 Waggons bestellt hätten, »so daß nunmehr die Vollbeschäftigung [in diesem Bereich, d. Verf.] für geraume Zeit gewährleistet ist«. Jellinek, Die Industrie Deutschösterreichs, S. 96. 63 Vgl. Der Außenhandel Österreichs zwischen den beiden Weltkriegen, S. 67 f. 64 KOFO, Die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft 1923–1932, S. 27. Es gab auch wesentlich ungünstigere Schätzungen des Inlandsabsatzes der Industrie. Adolf Drucker veranschlagte ihn auf bloß 30 % der Gesamtproduktion. Siehe : Drucker, S. 53.
198
Die goldenen 20er-Jahre
ausgemacht ; 1924 war er bereits auf ca. 82 % gefallen ; 1929 betrug er nur mehr 77 %, 1932 70 %65. Die überaus bescheidenen Erfolge des österreichischen Außenhandels, insbesondere im Bereich der Fertigwarenexporte, waren hauptsächlich auf die folgenden Umstände zurückzuführen : auf die beschränkte internationale Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie, auf die Hochschutzzollpolitik der Nachfolgestaaten und auf die gedämpfte internationale Konjunktur der 20er-Jahre, die an ihrem Ende in die große Depression mündete. Dazu kam, dass einige wichtige österreichische Industrien (Eisen- und Stahlerzeugung, Elektroindustrie und Chemie) einen hohen Grad der Abhängigkeit von einigen ausländischen Konzernen aufwiesen, welche eine den österreichischen Interessen oft zuwiderlaufende Geschäftspolitik verfolgten. So waren die österreichischen Unternehmen der Starkstromindustrie, AEG und Siemens, die in den Jahren 1921 bis 1923 beträchtliche Investitionen vorgenommen hatten, durch die mit ihren deutschen Muttergesellschaften getroffenen Absatzrayo nierungsabkommen daran gehindert, Rückschläge im osteuropäischen Geschäft durch die Pflege anderer Märkte wettzumachen. Dagegen konnte die Elin AG, die sich in österreichischem Besitz befand, ihren Export insbesondere in überseeische Gebiete während der 20er-Jahre nicht unwesentlich steigern66. Eine der stärksten Wurzeln der nationalistischen Wirtschaftspolitik der Nachfolgestaaten war in dem Misstrauen gegenüber der früheren Metropole des Donauraumes begründet, der man – trotz der radikalen Verschiebung der Machtverhältnisse in dieser Region – noch immer hegemoniale Ambitionen zuschrieb. So kam es, dass der Artikel 222 des Vertrages von St. Germain, der Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei das Recht auf den Abschluss eines präferenziellen Zollregimes für eine Frist von fünf Jahren einräumte, ein toter Buchstabe blieb. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der Handelsverkehr im Donauraum den striktesten staatlichen Beschränkungen unterworfen. Später, als der zwischenstaatliche Warenaustausch sich zu normalisieren begann, umgaben sich die Nachbarstaaten Österreichs mit hohen Zollmauern. Diese bildeten schon vor dem Eintritt der Weltwirtschaftskrise ein schwer zu umgehendes Handelshindernis. Österreich hingegen, das sich den Zugang zu seinen traditionellen Absatzmärkten sichern wollte, versuchte zunächst an einer liberalen Handelspolitik festzuhalten (siehe Tabelle 51). Erst seit 1927 begann sich auch hier – unter dem wachsenden Druck der agrarischen Interessensverbände, aber auch der Industrie – eine Wende in der Zollpolitik abzuzeichnen. 65 Quellen : KOFO, Die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft 1923–1932, S. 28 ; Statistisches Handbuch, Jg. 1923, S. 60 ; Der Außenhandel Österreichs, S. 22. 66 Jellinek, Die Industrie Deutschösterreichs, S. 88.
199
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
Tabelle 51 : Zollsätze der Nachfolgestaaten 1925 und 1927 (in % des Einfuhrwertes)
Österreich Tschechoslowakei
1925
1927
16–21
18,6
21,5–40,7
35,8
Ungarn
28–40
30,7
Polen
49–67
43,3
Jugoslawien
27–41
33,6
Rumänien
19–26
33,4*
* Ohne Textilzoll. Unter Einrechnung des Zolls auf Textilwaren, der 293,6 % (sic) betrug, machte der durchschnittliche Zollsatz in Rumänien 99,2 % aus. Quellen : Layton/Rist, S. 13 ; Hertz, The Economic Problems, S. 71.
Die protektionistische Politik der engsten Handelspartner Österreichs bewirkte eine allmähliche Lockerung der Handelsbeziehungen im Donauraum und eine deutliche regionale Umstrukturierung des österreichischen Außenhandels. Dies kommt in Tabelle 52 zum Ausdruck. Tabelle 52 : Exportanteile nach Ausfuhrgebieten 1922–1929 (in %)
1922
Nachfolgestaaten
Deutschland
Westeuropa inkl. Italien
Übrige Welt
51,3
14,7
23,0
11,0
1924
46,7
13,1
26,0
14,2
1926
40,8
11,4
25,1
22,7
1929
38,7
15,9
24,8
20,6
Quellen : Haber, S. 1l8 f ; Der Außenhandel Österreichs, S. 82 f.
Es fällt auf, dass Österreich, welches infolge der Absperrungspolitik seiner Nachbarn zum Rückzug aus den südosteuropäischen Märkten gezwungen war, auch in Deutschland und in Westeuropa nur sehr langsam Fuß fassen konnte. Der Grund für diese Entwicklung lag nicht bloß in der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie, sondern auch in der Zollpolitik der drei bevölkerungsreichsten Länder dieser Region – Deutschland, Frankreich und Italien –, die sich mit höheren Zollmauern umgaben als Österreich. So geht aus einer Untersuchung der Internationalen Handelskammer hervor, dass im Jahr 1927 der durchschnittliche Zolltarif (berechnet als Prozentsatz der Warenwerte) in Deutschland und Italien höher und in Frankreich sogar beträchtlich höher
200
Die goldenen 20er-Jahre
lag als in Österreich. Nur in England waren die Zollsätze niedriger als in der Alpenrepublik (siehe Tabelle 53). Tabelle 53 : Durchschnittliche Zollsätze europäischer Staaten 1927 (in % des Warenwertes) Österreich
Deutschland
Frankreich
Italien
18,6
19,8
54
27,4
Quelle : Hertz, The Economic Problems, S. 70 f.
Welche Schwierigkeiten dem Versuch entgegenstanden, die negativen Auswirkungen der Hochschutzzollpolitik durch den Abschluss von Handelsverträgen abzuschwächen, schilderte Otto Bauer folgendermaßen : »In ganz Europa herrscht heute ein wirtschaftlicher Nationalismus, wie es ihn seit den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hat, eine Schutzzöllnerei, die jede wirtschaftliche Arbeit ganz besonders und ganz ungeheuerlich stört und Formen annimmt, die geradezu grotesk sind. Ein Beispiel : Österreich schließt mit Frankreich einen Handelsvertrag ab, der […] für die Automobilindustrie nicht unwichtig ist. In diesem Vertrag sichert Frankreich für ein Kontingent von Wagen die Mindestzölle zu. Nachdem der Vertrag unterschrieben ist, erhöht aber Frankreich diese Mindestzölle. So verfährt ein Land wie Frankreich. Da ist es ganz selbstverständlich, daß ein Land wie Ungarn noch ganz anders verfährt. […] Die österreichische Konfektion hat ihre Waren immer in großen Mengen nach Ungarn abgesetzt. Ungarn hat das nun unmöglich gemacht durch ein Einfuhrverbot. Unter ausländischen Einflüssen war Ungarn gezwungen, dieses Einfuhrverbot mit 1. Jänner aufzuheben, hat es auch getan, hat aber gleichzeitig den Zollzuschlag auf Konfektion gegenüber Geweben von 40 auf 100 Prozent erhöht. Das hat ja zunächst nichts gemacht, denn trotz des hundertprozentigen Zuschlags waren die ungarischen Einkäufer wieder in Wien und man konnte sofort sehen, wie die Arbeitslosigkeit im österreichischen Schneidergewerbe wieder zurückging. Aber kaum hat die ungarische Regierung das bemerkt, so hat sie über Nacht den Einfuhrzollzuschlag von 100 auf 200 % erhöht.«67
Mit Recht kommentierte Bauer Vorkommnisse dieser Art Mitte der 20er-Jahre mit der Bemerkung, dass die handelspolitischen Verhältnisse in Europa zu den Hauptursachen der Krise gezählt werden müssten. Um praktische Vorschläge befragt, musste aber auch er resignierend feststellen : 67 Bauer, Die Wirtschaftskrise in Österreich, S. 258.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
»Ich glaube nicht, daß es dagegen irgendein Wunderheilmittel gibt, ich glaube nur, daß sich Wahnsinn dieser Art allmählich selbst heilt.«68
Der Prozess der »Selbstheilung« sollte jedoch länger auf sich warten lassen, als es Bauer sich im Jahr 1925 vorzustellen vermochte. Bauer sah sehr richtig, dass Österreich mit zwei Arten von Krisen konfrontiert war, die einander verstärkten und in einem negativen Kreislauf festhielten : Hinter dem Auf und Ab der »normalen« konjunkturellen Krisen ortete er eine tiefe strukturelle Krise, die er in letzter Instanz auf die Zerreißung des alten Wirtschaftsgebietes der Monarchie, den Verlust von sieben Achteln des ehemaligen Absatzgebietes und die daraus resultierende Enge des inneren Marktes zurückführte. Die weitere Folge war die mangelnde Konkurrenzfähigkeit öster reichischer Exporteure auf den durch hohe Zollmauern geschützten Außenmärkten. Aber die österreichische Strukturkrise hatte auch eine »hausgemachte« Komponente, die in der veralteten Arbeitstechnik und Arbeitsorganisation der Betriebe und in der schwachen Investitionstätigkeit der Unternehmer wurzelte. »Wir haben eine Indus trie,« meinte Bauer in der soeben zitierten Rede, »die, weil sie die alten Märkte verloren hat und neue nicht zu erobern vermag, an die Vorteile der Massenproduktion gar nicht denken kann.«69
Drei Jahre später zeichnete Bauer in einer Rede auf dem Gewerkschaftskongress von 1928 das Bild einer allmählich gesundenden österreichischen Wirtschaft. Trotz der blutigen Ereignisse des Juli 1927 trug die Rede Bauers einen unverkennbar optimistischen Charakter : Die strukturelle Krise, so meinte er, könne im Laufe der nächsten acht Jahre überwunden werden, zumal sich in diesem Zeitraum eine relativ günstige demographische Konstellation ergeben würde, die eine Absorption der durch die Rationalisierung freigesetzten Arbeitskräfte erlauben werde. Schon die Länge dieser Prognosefrist verrät, mit welchen Zeiträumen einer relativ ruhigen wirtschaftlichen Entwicklung Bauer damals rechnete. Mit der zwar langsamen, aber stetig fortschreitenden Rationalisierung, führte er weiter aus, habe auch die notwendige Strukturanpassung begonnen. Auch wenn konjunkturell bedingte Krisen weiterhin zu erwarten seien, so sei doch im längerfristigen wirtschaftlichen Trend eine deutliche Wende zum Besseren eingetreten :
68 Ebenda, S. 259. 69 Ebenda, S. 264.
201
202
Die goldenen 20er-Jahre
»Die schweren Krisenjahre von 1924 bis 1927, das war die Zeit der akutesten Krankheit. Wir sind heute noch krank, wahrhaftig krank genug, aber wir sehen doch schon, daß der Gesundungsprozeß eingesetzt hat. Wenn wir auch damit rechnen müssen, daß er viele Jahre dauern wird und wir viele Jahre brauchen werden, bis von einer wirklichen Gesundung die Rede sein kann, wirklich von einer Sanierung, so scheint mir doch klar zu sein, daß wir mit einem hohen Maß von Wahrscheinlichkeit an diese allmähliche Wiederherstellung unserer Wirtschaft glauben dürfen.«70
Auch in der Frage der »Lebensfähigkeit« Österreichs nahm Otto Bauer, der nach dem Zusammenbruch der Monarchie für den »Anschluß« Österreichs an Deutschland eingetreten war, nun einen optimistischeren Standpunkt ein. So wie er dabei auf den Prozess der strukturellen Anpassung der österreichischen Wirtschaft an die neue Umwelt verwies, hatten – drei Jahre zuvor – Layton und Rist ihre Argumentation begründet : »Die Frage [nach der Lebensfähigkeit Österreichs, d. Verf.] ist offenbar zu bejahen, da es sich um ein Volk handelt, dessen Wirtschaftsleben eine deutliche, wenn auch langsame Besserung aufweist. Erinnert man sich an die verzweifelte Lage Österreichs nach dem Kriege, so kann man ohne Zögern sagen, daß das Land sich auf dem Wege zur vollen Genesung befindet und daß die Arbeitslosigkeit, so schwer sie auch sein möge, vor allem auf die Einführung wirtschaftlicherer Methoden in der Industrie, im Handel und im Bankwesen zurückgeht.«71
Weder Layton und Rist noch Otto Bauer konnten ahnen, dass die mit unvorstell barer Gewalt hereinbrechende Wirtschaftskrise diesen aufkeimenden Hoffnungen sehr bald ein jähes Ende bereiten würde. Die Jahre der »gedämpften« konjunkturellen Erholung waren von spektakulären Bankzusammenbrüchen und von einem raschen Konzentrationsprozess im Banksektor begleitet. Dieser Prozess wird weiter unten genauer dargestellt werden72. Es mag vom heutigen Standpunkt aus paradox erscheinen, dass das österreichische Bankwesen in einer Zeit der langsamen Konsolidierung der Wirtschaft in einen Zustand der permanenten Krise schlitterte. Die Wurzeln dieser Krise sind in einer Reihe von Umständen zu suchen : in den gewaltigen Substanzverlusten der österreichischen Wirtschaft, die Krieg, Zusammenbruch und Inflation verursacht hatten ; in gravie70 Bauer, Die wirtschaftliche und soziale Lage Österreichs, S. 652. 71 Layton/Rist, S. 25. 72 Vgl. Kapitel III-2, S. 204 ff und Kapitel III-5, S. 287 ff.
Die Phase der gedämpften konjunkturellen Erholung 1925–1929
renden bankpolitischen Fehlentscheidungen, unter welchen die folgenschwerste die Aufrechterhaltung des Bankgeschäfts im Maßstab des gesamten Donauraumes war ; und schließlich in der prekären Beschaffenheit großer Teile der österreichischen Industrie, mit welcher die Wiener Mobilbanken aufs engste liiert waren. Die Position der Wiener Banken verschlechterte sich im Laufe der 20er-Jahre, da die vergebenen Kredite in zunehmendem Maße einfroren und die Banken häufig gezwungen waren, Aktien ihrer industriellen Unternehmen und schließlich sogar ihre eigenen Aktien zum Zwecke der Kursstützung aufzukaufen. Auf der anderen Seite nahm die Verschuldung der Banken gegenüber dem Ausland ständig zu : Die wachsende Kreditaufnahme der österreichischen Banken im westlichen Ausland, die angesichts der geringen inländischen Einlagen zur Aufrechterhaltung ihrer Position im Donauraum erforderlich war, diente allerdings auch zur Finanzierung des anhaltend hohen Fehlbetrages der Leistungsbilanz. Das Defizit der Handelsbilanz betrug in den beiden Jahren 1925 und 1930 weniger und in den übrigen Jahren mehr als eine Milliarde Schilling. Soweit dem fragmentarischen Datenmaterial zu entnehmen ist, konnte der Einfuhrüberschuss durch die sogenannten »unsichtbaren« Exporte Österreichs (Fremdenverkehr, Transithandel, Einkommen aus Auslandsanlagen) auch nicht annähernd ausgeglichen werden. Nach Erhebungen des Finanzministeriums betrug der Fehlbetrag der Leistungsbilanz von 1923 bis 1929 etwa 500 bis 600 Mio. Schilling jährlich. Dies bedeutete, dass durch den Verkauf österreichischer Vermögenswerte ans Ausland und durch Kreditaufnahme auf den internationalen Finanzmärkten ein Betrag von insgesamt 3,5 bis 4,2 Mrd. Schilling aufgebracht werden musste73. Dies deckt sich mit den Schätzungen des Engländers Hugh Gaitskell, der die Gesamtsumme der zwischen 1923 und 1930 nach Österreich geflossenen ausländischen Kredite auf 3–4 Mrd. Schilling veranschlagte74. Von diesen entfielen rund 1,5 Mrd. Schilling auf langfristige Anleihen (inklusive der Genfer Anleihe)75, 1,75 Mrd. Schilling auf kurzfristige Auslandsverpflichtungen der österreichischen Banken und der Rest von etwa einer halben Milliarde auf den Überschuss von Kapitalimporten über Kapitalexporte in der Form von Wertpapiertransaktionen76. Als die Weltwirtschaftskrise ausbrach, war Österreich weder außenwirtschaftlich im Gleichgewicht, noch hatte es den Umstrukturierungsprozess, der nach der In73 Zienert, S. 295 ff ; Exner, Beiträge zur Zahlungsbilanz Österreichs in den Jahren 1926–1928 ; ders., Beiträge zur Zahlungsbilanz Österreichs in den Jahren 1927–1929, S. 103 ff. 74 Gaitskell, S. 199. 75 Berechnet nach den Angaben von Walther Federn, Die auswärtigen Anleihen Österreichs. Siehe auch : Compass, Jg. 1936. 76 Wärmer, Die Auslandsverschuldung Österreichs, S. 282.
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flation eingesetzt hatte, abgeschlossen. Dies kam deutlich in der Tatsache zum Ausdruck, dass das Bruttonationalprodukt 1929 den Wert von 1913 nur unwesentlich überschritt ; die Industrieproduktion lag sogar um zwei Prozentpunkte darunter. Aufgrund der eminenten Rolle, welche die Banken im österreichischen Wirtschafts leben einnahmen, ist es daher nicht verwunderlich, dass der Kreditsektor selbst in den »Goldenen 20er-Jahren« die größte Anfälligkeit für Krisen zeigte.
2. Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
Bei der Analyse der Ursachen des Zusammenbruchs der Allgemeinen Depositenbank im Frühjahr 1924 stachen den Zeitgenossen vor allem die ruinösen Praktiken der Leiter und Großaktionäre der Bank ins Auge. Aus heutiger Sicht sind jedoch andere Aspekte von Interesse, die den Fall der Depositenbank als ersten in einer Reihe von Zusammenbrüchen von österreichischen Großbanken erscheinen lassen. Im Bericht der Ausgleichsverwaltung des Instituts wurde unter anderem darauf verwiesen, dass die Bank bei der Kreditvergabe den »Gesichtspunkt der Liquidität […] in bezug auf das Verhältnis der eigenen zu den fremden Mitteln außerachtgelassen [hat], sodaß sich dieses Verhältnis immer mehr verschlechterte. Ein Kardinalfehler dieser Gestion bestand darin, daß fremde Mittel, die in kurzfristig gewährten Darlehen bestanden, in Industriekrediten festgelegt wurden, deren Einziehung an lange Fristen gebunden war. Die flüssigen Bestände der Bank wurden immer geringer, sodaß die Bank Abbuchungen größeren Umfanges bald nicht mehr gewachsen sein konnte.«
Zwar sei versucht worden, Forderungen einzuziehen, doch habe sich dies als unmöglich erwiesen, »da die Gelder vorwiegend in Industrien immobilisiert oder an Warenkaufleute verliehen waren, deren Bonität und Zahlungsbereitschaft infolge der Wirtschaftskrise stark gelitten hat.«77
Wir werden im weiteren Verlauf der Untersuchung sehen, dass die mangelnde Bedachtnahme auf Liquidität bei allen Bankzusammenbrüchen der Ersten Republik eine wichtige Rolle spielte. 77 Zitiert nach : Der Ausgleichsbericht der Depositenbank : ÖVW, Die Bilanzen, 4. Juli 1925, S. 310 f.
Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
Mit dem Zusammenbruch der Depositenbank und dem Verschwinden einer Reihe von kleinen Aktienbanken und Bankfirmen, die erst in der Inflationsperiode nach dem Krieg gegründet worden waren, schien jedoch für die Zeitgenossen der »Rückbildungsprozeß des österreichischen Finanzapparates«78 im Wesentlichen abgeschlossen. Die Geschäftsberichte aller Großbanken für das Jahr 1924 gaben dieser optimistischen Sichtweise Ausdruck. Die Direktion der Creditanstalt schrieb, das Jahr 1924 habe die »zeitweise stürmisch verlaufende Liquidation der Inflationsperiode« und das Verschwinden einer Reihe »wirtschaftlicher Eintagsfliegen« mit sich gebracht79. Im Geschäftsbericht des Bankverein heißt es : »Die Inflationszeit hatte eine gewisse Hypertrophie im Bank- und Handelswesen verursacht, die nach der erreichten Stabilisierung unserer Währung verschwinden mußte. Der Zusammenbruch zweier größerer Bankinstitute, die durch unverantwortliche Führung ihre frühere solide Basis verloren hatten, sowie von verschiedenen kleineren in keiner Weise existenzberechtigten Gesellschaften, bedeutete die Einleitung eines ebenso notwendigen als schmerzlichen Reinigungsprozesses. Das Lebensunfähige mußte verschwinden, um der gedeihlichen Entwicklung unserer Volkswirtschaft Platz zu machen. Dieser Reinigungsprozeß kann nunmehr als beendigt angesehen werden.«80
Es war allerdings vielen Beobachtern klar, dass der Reinigungs- und Ausleseprozess im Bankwesen noch eine gewisse Zeit lang weitergehen werde. Doch wurde davon ausgegangen, dass lediglich Kleinbanken davon betroffen sein würden. Mit dem Jahr 1925 schien, wie es der Sekretär des Bankenverbandes und Direktor des Wiener Giround Kassenvereines, Max Sokal, ausdrückte, die »Liquidationsfrist« abgelaufen zu sein. »Alles nicht natürlich Gewordene und fremdkörperartig Eingedrungene« sei »aus dem Bankorganismus entfernt« worden81. In der Tat waren die Jahre 1924 und 1925 gekennzeichnet durch das Sterben einer Reihe kleinerer Banken, entweder im Wege der Fusion oder der Liquidation. Von ihrem höchsten Stand im Jahr 1923 (76 Institute) ging, um eine weitere Zahlenvariante zu referieren, die Zahl der Aktienbanken in Österreich bis zum 30. Juni 1926 auf 78 Sokal, Die Tätigkeit der Banken im Jahre 1924, S. 504. 79 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1924. 80 Geschäftsbericht des WBV für das Jahr 1924. Ähnlich heißt es im Geschäftsbericht der BCA : Die Krise vom Frühjahr 1924 habe »wie jedes Mißgeschick […] auch […] ihr Gutes gehabt : Sie ist zur Reinigungskrise geworden. So ziemlich der ganze Ballast der in der […] Inflationszeit entstandenen, einer dauernden Daseinsberechtigung entbehrenden Gründungen ist verschwunden und das österreichische Bankwesen wieder einigermaßen auf seine natürlichen Proportionen zurückgeführt.« 81 Sokal, Die Tätigkeit der Banken im Jahre 1925, S. 514 f.
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49 zurück, wobei in letzterer Zahl sechs Banken enthalten sind, die in Fusion bzw. Liquidation begriffen waren82. Von der Krise waren Wiener Kleinbanken gleichermaßen erfasst wie Bankinstitute in den Bundesländern. In Wahrheit waren die Schwierigkeiten, in denen sich das österreichische Bankwesen befand, weitreichender und komplexer, als es selbst den meisten Bankiers bewusst war. Die Krise schwelte unter der Oberfläche und brach in vielen Fällen nur nicht offen aus, weil es zu »stillen« Sanierungen kam, an denen die Wiener Großbanken, die Postsparkasse, das Dorotheum, die Centralbank der deutschen Sparkassen und die Notenbank Anteil hatten. In einer Reihe von Fällen kam es auch zu Interventionen des jeweiligen Finanzministers (bis zum Rücktritt der Regierung Seipel im November 1924 Viktor Kienböck, danach Jacob Ahrer bzw. Josef Kollmann)83. Da wir auf diesen Aspekt der Krise des österreichischen Kreditwesens nur kursorisch eingehen können, wollen wir anhand der Verhältnisse in Tirol die Schwierigkeiten des Provinzbanksektors aufzeigen. Wie in den meisten anderen Bundesländern zeichnete sich auch das Tiroler Bankwesen durch eine enge Verquickung von Politik und Geschäft aus. Fast alle Banken, die in den Jahren nach 1918 gegründet worden waren, besaßen eine gewisse Rückendeckung durch prominente Politiker. Die erste Bank, die mit dem Überleben zu kämpfen hatte, war die Agrarbank für die Alpenländer, in deren Verwaltungsrat neben anderen Politikern der ehemalige Vizekanzler Jodok Fink sowie die christlichsozialen Landeshauptleute Josef Schraffl (Tirol), Otto Ender (Vorarlberg) und Franz Rehrl (Salzburg) Sitz und Stimme hatten. Der Agrarbank waren große Einlagen der Raiffeisenkassen (etwa 16 Mrd. K) und der Tiroler Bauernsparkassen (8 Mrd.) anvertraut worden. Doch hatte die Bank durch Börsenspekulationen ihres Geschäftsführers große Verluste erlitten und darüber hinaus einen beträchtlichen Teil ihrer Mittel dem Bankhaus Vonwiller zur Verfügung gestellt, das der Börsenkrise des Jahres 1924 zum Opfer gefallen war. Allein bei diesem Engagement verlor die Agrarbank über 15 Mrd. Kronen. Da ein Zusammenbruch (und damit der Verlust der Bauerngelder) ernste politische Konsequenzen für die Christlichsozialen nicht nur in Tirol befürchten ließ, wurde alles versucht, um das Institut zu retten. Bereits im Juli 1924 erschien eine Delegation in Wien und erhielt – aufgrund der Intervention der Regierung Seipel und ihres Finanzministers Kienböck – von den Großbanken und dem Industriellen82 Ebenda, S. 13. 83 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen : Ausch, S. 201 ff ; Der christlichsozial-großdeutsche Bankenskandal ; verschiedene Nummern der AuW, Jg. 1926 sowie des ÖVW.
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verband 10 Mrd. Kronen »à fond perdu«, wie es im Protokoll einer Vorstandssitzung der Boden-Credit-Anstalt heißt84. Nachdem im November 1924 eine Intervention des neuen Finanzministers Ahrer bei den Großbanken ohne Erfolg geblieben war85, erfolgte im Dezember ein neuer licher Interventionsversuch. Im Protokoll des Vorstandes der BCA heißt es dazu : »Der Finanzminister Dr. Ahrer hat den Präsidenten des Bankenverbandes dringendst ersucht, eine weitere Aktion für die Erhaltung dieser Bank [der Agrarbank, d. Verf.] durchzuführen. […] Präsident Dr. Reisch [von der Nationalbank, d. Verf.] setzt sich sehr für die Aktion ein. Im Falle die Bank, welche insbesonders als Einlagstelle für die Raiffeisenkassen A.G. fungiert, die Zahlungen einstellen müßte, so wäre die gegenwärtige Regierung stark kompromittiert. Das Postsparkassenamt und das Dorotheum haben sich bereit erklärt, an der Sanierung mitzuwirken […] Die Beträge [insgesamt 17 Mrd. Kronen, d. Verf.] werden nicht als Darlehen […] gegeben, sondern sind à fond perdu zu behandeln.«86
Ende Dezember desselben Jahres war eine weitere Nachzahlung an die Agrarbank notwendig. Insgesamt erhielt die Bank 34 Mrd. Kronen oder 3,4 Mio. Schilling. Diese verteilten sich auf die einzelnen Institute wie folgt87 : Postsparkasse
1,0 Mio.
Bankenverband
1,0
Credit-Institut für öffentliche Unternehmungen
0,75*
Industriellenverband
0,35
Nationalbank
0,3
Insgesamt
3,4
* Die Aktienmehrheit dieser Bank befand sich seit dem Sommer 1919 in der Hand des österreichischen Staates. Sie trat an die Stelle des Dorotheums, da sich die Vertreter der Gemeinde Wien im Kuratorium des Dorotheums gegen die Beteiligung an der Sanierung der Agrarbank aussprachen. Siehe : [Danneberg], Die Schiebergeschäfte der Regierungsparteien, S. 13.
Neben der Agrarbank hatte noch ein weiteres Institut, die Tiroler Vereinsbank, beim Zusammenbruch des Bankhauses Vonwiller Verluste erlitten. Die Vereinsbank war, nach dem Urteil des »Österreichischen Volkswirt«, das »Institut der hochklerikalen 84 BA, VSP-BCA vom 5. Dezember 1924 : »Die Agrarbank für Alpenländer hat bereits von den Banken einen Betrag von K 10 Mrd. zur Sanierung erhalten. Dieser Betrag wird à fond perdu gegeben.« 85 BA, VSP-BCA vom 3. November 1924. 86 BA, VSP-BCA vom 5. Dezember 1924. 87 Quelle : BA, VSP-BCA vom 10. November 1925.
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Kreise Tirols«88. An der Spitze des Verwaltungsrates stand der christlichsoziale Nationalratsabgeordnete Franz Schumacher. Obwohl die Vereinsbank bei einer missglückten Lirespekulation, die über die Banca Cattolica in Trient abgewickelt worden war, weitere 6 Mrd. Kronen verloren hatte, beteiligte sie sich an der Sanierung der Agrarbank für die Alpenländer. Im Herbst 1925 war jedoch die Tiroler Vereinsbank selbst sanierungsreif. Auch in diesem Fall griff der Finanzminister ein, da – wie er später schrieb – sich hier »parteipolitische Sorge mit allgemein-wirtschaftlichen Interessen« vermischt hätten89. Die Agrarbank erklärte sich nun in Umkehrung des Modus von 1924 bereit, an der Stützung der Vereinsbank mitzuwirken. Zu diesem Zweck erhöhte die Agrarbank für die Alpenländer ihr Aktienkapital um 700.000 Schilling, wovon 300.000 in Tirol, der Rest von den Wiener Banken und der Nationalbank aufgebracht wurden. Die Aktionäre der Vereinsbank erhielten gegen ihre Aktien solche der Agrarbank, wodurch, wie der »Österreichische Volkswirt« bissig kommentierte, »eine abgestempelte Straßenbahnkarte gegen eine andere« umgetauscht wurde90. Das Land Tirol selbst steuerte zur Sanierungsaktion 160.000 Schilling aus öffentlichen Mitteln bei, und zwar auf folgendem Wege : Die Agrarbank für die Alpenländer übernahm die volle Befriedigung der Gläubiger der Vereinsbank. Da die Mittel dazu nicht vorhanden waren, verzichtete die Tiroler Landesverwaltung auf die Abhebung eines Guthabens von 160.000 Schilling bei der Agrarbank und erwarb – einige Zeit später – mit diesem Betrag 1 Million neuer Aktien des Instituts. Offenbar wurde das Vorgehen der Tiroler Landesregierung bei einer Besprechung am 19. November 1925 in den Grundzügen festgelegt, die Ahrer in seinen Memoiren erwähnt, und an der – seinen Aufzeichnungen gemäß – »Dr. Seipel, Minister Kienböck und eine Tiroler Abordnung unter der Führung des Landeshauptmanns Stumpf« teilnahmen91. Die endgültige Regelung in Sachen Übernahme der Vereinsbank durch die Agrarbank war jedoch das Ergebnis langer in Wien und Innsbruck geführter Verhandlungen zwischen den »führenden Innsbrucker Kreisen« und Finanzminister Kollmann92. Der Verlustsaldo der Vereinsbank, für den die Agrarbank aufzukommen hatte, betrug 8 Mrd. Kronen (800.000 S), wobei neuerlich ein Betrag von 2 Mrd. »à fond perdu« aus Wien beigesteuert wurde. Mit der Übernahme der Geschäfte der Vereinsbank durch die Agrarbank war der Leidensweg der Einleger des letzteren Instituts noch nicht zu Ende. Denn diese Trans88 89 90 91 92
ÖVW, 31. Oktober 1925, S. 119. Ahrer, S. 123. ÖVW, 9. Jänner 1926, S. 385. Ahrer, S. 234. ÖStA/AdR/BMF, Zl. 23.465/1926.
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aktion überstieg die Kräfte der Agrarbank, die ja selbst, wie wir gesehen haben, auf keinem sehr soliden Fundament stand. Im November 1926, ein halbes Jahr nach den soeben beschriebenen Vorgängen, wurde offenbar, dass die Agrarbank für die Alpenländer nicht nur das Eigenvermögen vollständig eingebüßt, sondern darüber hinaus einen Verlust von 500.000 Schilling erwirtschaftet hatte – und dies, obwohl ihr an Stützungsgeldern – nicht eingerechnet die Beteiligung der Großbanken an der Kapitalerhöhung von 1926 – 3,8 Mio. Schilling zugeflossen waren. Bereits im Sommer desselben Jahres hatten Finanzminister Kienböck und Jodok Fink bei der Direktion der Boden-Credit-Anstalt den Plan einer Fusion der Agrarbank mit der Tiroler Hauptbank ventiliert, an der die Wiener Großbank seit 1924 beteiligt war93. Die Hauptbank hatte inzwischen ihrerseits den Zusammenschluss mit der Bank für Tirol und Vorarlberg vollzogen. An dieser war die Boden-Credit-Anstalt – durch die Übernahme der Verkehrsbank – ebenfalls, wenn auch indirekt, beteiligt94. Ende Oktober 1926 wurde der Fusionierungsplan Agrarbank – Hauptbank für Tirol und Vorarlberg von Jodok Fink erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Die Verhandlungen, an denen der neue Bundeskanzler Ignaz Seipel maßgeblichen Anteil hatte, besiegelten das Ende der Agrarbank für die Alpenländer : Am 31. Dezember 1926 beschloss eine außerordentliche Generalversammlung die Auflösung des Instituts im Wege seiner Vereinigung mit der Hauptbank für Tirol und Vorarlberg. Diese Transaktion wurde von der österreichischen Öffentlichkeit kaum mehr registriert. Denn zu dieser Zeit konzentrierte sich die Aufmerksamkeit bereits auf neue krisenhafte Ereignisse im Kreditsektor. Betroffen davon waren die Centralbank der deutschen Sparkassen und die Postsparkasse. Die Centralbank war bis zum Zusammenbruch Österreich-Ungarns die Zentrale von über 600 cisleithanischen Sparkassen gewesen. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag in Böhmen, daher hatte sie ihren Sitz auch bis 1916 in Prag. Erst in diesem Jahr wurde die Zentrale nach Wien verlegt. Nach dem Ende des Krieges verlor die Bank ihren Einfluss in der Tschechoslowakei und in Oberitalien. Die finanziellen Opfer, die sie bei den Ablöseverhandlungen mit den Nachfolgestaaten in Kauf nehmen musste, unterminierten ihre finanzielle Basis. Infolge der Inflation, die zu einem realen Rückgang der Einlagen und zu einer Entwertung der Anlagen (insbesondere Kriegsanleihen) führte, kam es zu einer weiteren Schwächung der Bank. In dieser Zeit veränderte sich auch der Charakter des Instituts : Der ursprüngliche Zweck, Bank der Sparkassen zu sein, trat immer mehr zurück, die Industriefinanzierung erhielt einen 93 DSP-BCA vom 2. November 1926. 94 Zur Fusion BCA-Verkehrsbank und zur Expansion der BCA in die Bundesländer vgl. Kapitel III-5, S. 292 ff und 309 ff sowie Kapitel IV-1, S. 319 ff.
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immer wichtigeren Stellenwert95. Die meisten der neuen Industriegeschäfte erwiesen sich jedoch als risiko- und verlustreich, da der Centralbank jegliche Erfahrung auf diesem Gebiet fehlte und es ihr in der Regel nur gelang, Industriebetriebe von schwächlicher Konstitution in ihren Aktionsradius einzubeziehen. Ein anderer Umstand wirkte sich noch verhängnisvoller aus : In den Jahren 1924 und 1925 bürdete man dem Institut zusätzliche schwere Lasten auf. Es musste Banken übernehmen, »die sich als lebensunfähig erwiesen und die gleich der Zentralbank […] deutschnational und christlichsozial orientiert waren«96.
Es handelte sich dabei vor allem um drei Institute : die Österreichische Industrie- und Handelsbank, die Niederösterreichische Bauernbank und die Steirerbank. Die Loslösung der Centralbank der deutschen Sparkassen von ihrem ursprünglichen Zweck zeigte sich anschaulich in der Struktur ihrer Einlagen. Am 30. Juni 1926, dem Tag vor dem Ausbruch der Krise, die auf einen Enthüllungsartikel der Zeitung »Der Abend« folgte, entfielen von den Gesamteinlagen von 111,3 Mio. Schilling nur 32,5 Mio. oder nicht ganz 30 % auf Depositen von Sparkassen. Dies entsprach weniger als 5 % des gesamten Einlagenstandes der österreichischen Sparkassen (von rd. 680 Mio. S)97. Von den 5 Mio. Aktien der Bank befanden sich nur 128.500 im Besitz von Sparkassen. Größter Aktionär des Instituts war der steirische Industrielle Viktor Wutte, der der Konstituierenden Nationalversammlung als großdeutscher Abgeordneter angehört hatte. Wutte hatte allerdings einen Großteil seines Aktienbesitzes nicht in bar erworben, sondern war den Betrag der Centralbank schuldig geblieben, wie es in der Zeit der Börsenspekulation Sitte – oder besser : Unsitte – geworden war. Darüber hinaus schuldete sein »Konzern«, zu dem unter anderem die Graz-Köflacher Eisenbahn zählte, der Centralbank mehr als 20 Mrd. Kronen (20 Mio. S) ; d. h. fast 20 % der fremden Mittel der Bank waren in Geschäfte ihres Großaktionärs investiert. Aus der Verbindung der Bank mit Wutte resultierten Verluste von 28,5 Mio. Schilling98. 95 Die folgende Darstellung stützt sich auf die in Anm. 7 genannte Literatur und den parlamentarischen Untersuchungsbericht des »Centralbankausschusses« (11. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates, Nr. 675 der Beilagen). 96 AuW, 15. Juli 1926, Sp. 585. 97 Wenige Tage vorher, am 24. Mai 1926, hatte die Direktion der Centralbank noch behauptet, vier Fünftel der Einlagen stammten von Sparkassen und öffentlichen Institutionen. 98 Nach Angaben von Hofrat Georg Stern, referiert bei Ausch, S. 24l.
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Die Centralbank hatte schon 1924 keinen Gewinn mehr erzielt ; 1925 wurde die Lage immer bedrohlicher. Die Bank suchte daher – schon lange vor dem 30. Juni 1926 – nach einem sanierungswilligen Geschäftspartner. Dieser wurde in der Deutschen Girozentrale in Berlin gefunden, einem öffentlich-rechtlichen Institut, das in Deutschland als Bank der Sparkassen fungierte. Die Verhandlungen mit der Berliner Girozentrale zogen sich jedoch aus verschiedenen Gründen in die Länge. Sie wurden schließlich im Frühjahr 1926 von österreichischer Seite abgebrochen, da der schwer passive Status der Centralbank ein erfolgversprechendes Kooperationsabkommen immer unwahrscheinlicher erscheinen ließ99. Dieser Umstand lässt klar erkennen, dass die späteren Anschuldigungen, der Artikel des »Abend« trage an der Krise der Bank die Schuld, nicht zutreffen : Schon vor dem 30. Juni 1926 hatte die Regierung – nachdem die Leitung der Bank sich außerstande erklärt hatte, eine wirklichkeitsgetreue Bilanz zu legen – erwogen, ein Zehntel des Aktienkapitals zu übernehmen. Und als die Nationalbank von der Centralbank eingereichte Wechsel zurückwies, verpfändete die Regierung bei der Notenbank Wertpapiere, um dem gefährdeten Institut für den 30. Juni 2,5 Mio. Schilling zur Verfügung zu stellen. Desgleichen war bereits vor diesem Termin in kleinem Kreis (Bundeskanzler Ramek, Finanzminister Kollmann, Notenbankpräsident Reisch, Kienböck und Direktoren der Centralbank) beschlossen worden, den christlich sozialen Abgeordneten Streeruwitz als Regierungsbevollmächtigten mit diktatorischen Vollmachten in die Verwaltung der Bank zu entsenden. Die Aufnahme der Industrie- und Handelsbank, der Niederösterreichischen Bauernbank und der Steirerbank durch die Centralbank der deutschen Sparkassen wurde von Karl Ausch ausführlich dargestellt100. Sein Urteil stützt sich im Wesentlichen auf die Untersuchungsergebnisse des parlamentarischen »Zentralbankausschusses«. Die Österreichische Industrie- und Handelsbank war 1910 gegründet worden. Sie stand der Großdeutschen Partei nahe, ohne jedoch in politische Belange so direkt involviert zu sein wie die beiden anderen Banken, die in der notwendig aufgingen. Ihre Verluste resultierten aus missglückten industriellen Beteiligungen und aus einem Großkredit an ihren Großaktionär Peter Westen, einen finanziellen Glücksritter, den man in eingeweihten Kreisen den »großdeutschen Bosel« nannte. Die Industrie- und Handelsbank wurde bereits im Frühjahr 1924 durch Aktientausch mit der Centralbank zusammengeschlossen. Diese Transaktion erfolgte trotz der offenen Bedenken der Centralbank unter dem Druck der Regierung und der Nationalbank. Andere derartige »Optio 99 Über die Verhandlungen geben Akten des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde genauere Auskunft : BArch, 09.01 AA 40.341 Bl. 198, 269–277, 285–29O. 100 Vgl. Ausch, S. 205 ff.
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nen«, die der Bank von der Notenbank nahegelegt wurden, wie die Übernahme der Deutschen Bodenbank, der Burgenländischen Zentralbank und der Deutschen Kredit anstalt wurden nicht weiter verfolgt. Die Niederösterreichische Bauernbank war 1925 fusionsreif. Über dieses Institut schrieb Karl Ausch : »In keiner der verkrachten Banken wurde so viel Geld in so kurzer Zeit verwirtschaftet, in keiner war die Mißwirtschaft so arg und die innere Organisation so mangelhaft […].«101
Die Bauernbank war Anfang 1920 von Vertretern der niederösterreichischen Bauernorganisationen und -sparkassen gegründet worden. 50 % des Gründungskapitals kamen von der Niederösterreichischen Genossenschaftszentralkasse ; diese war gleichsam die Zentralbank der Raiffeisenkassen. Bald nach der Gründung übernahmen insgesamt 233 lokale Raiffeisenkassen ein Viertel des Aktienkapitals. Neben der Zentralkasse und den Raiffeisenkassen waren Repräsentanten des Bauernbundes in den Gremien des Instituts vertreten : Josef Stöckler, Karl Buresch und Josef Reither (der spätere Landeshauptmann von Niederösterreich). Der Zweck der Bauernbank war, nach den Worten der christlichsozialen Zeitschrift »Der Bauernbündler«, »den Kampf mit dem gesinnungsfremden Großkapital aufzunehmen«102. Zur Realisierung dieser Intention erhielt die Bauernbank ähnlich wie die Steirerbank statutarische Sonderrechte, wobei in der Eingabe an das Finanz- bzw. Innenministerium die beantragten Sonderregelungen mit der Befürchtung begründet wurden, dass sonst »städtische Kapitalisten […] durch Majorisierung der ursprünglichen Zeichner die Bank ihrem ursprünglichen Zweck entfremden könnten«103.
Für die Abkehr der Bank von ihren eigentlichen Aufgaben, der Förderung der Landwirtschaft, sorgten jedoch die von den Bauernvertretern eingesetzten Geschäftsführer der Bank selbst. Wie der Oberprokurist der Bauernbank vor dem Zentralbankausschuss erklärte, sei es das »eigentliche Hauptgeschäft« des Instituts gewesen, Taggelder an der Börse zu verleihen. »Wir waren«, sagte er, »der größte Reportgeldgeber an der Börse.«104 101 Ebenda, S. 216. 102 Der Bauernbündler, 15. September 1921, zitiert nach : Der christlichsozial-großdeutsche Banken skandal, S. 19. 103 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 40.919/1921. 104 Parlamentarischer Untersuchungsbericht des »Centralbankausschusses« (11. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates, S. 143).
Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
Diese Kredite wurden ohne die geringste Sicherheit – von manchen Kunden wusste man nicht einmal die richtigen Namen – vergeben. 75 Mrd. Kronen (= 7,5 Mio. S) wurden auf diese Weise verborgt ; nach dem Stand vom Juni 1926 waren davon 6,4 Mio. Schilling als verloren anzusehen. Neunzehn Verwaltungsräte und Angestellte der Bank schuldeten ihrem eigenen Institut 1,3 Millionen. Allein der Verwaltungsrat Josef Hans Bertl stand bei der Bauernbank am Tage ihres Zusammenbruchs mit 783.000 Schilling in der Kreide. Ihr Aktienkapital betrug dagegen bloß 100.000 Schilling. Es war kaum eine Übertreibung, wenn der »Österreichische Volkswirt« die Bauernbank in einem Kommentar mit einer »Spielhölle« verglich105. Nachdem ein erster Sanierungsversuch im Jahr 1924, bei dem die bäuerlichen Genossenschaften hohe Verluste erlitten, fehlgeschlagen war, wurde die Bauernbank – unter Mithilfe der Oesterreichischen Nationalbank – 1925 mit der Centralbank der deutschen Sparkassen fusioniert. Dieses Vorgehen wurde bei einer »größeren Konferenz« beschlossen, an der neben Finanzminister Ahrer noch Viktor Kienböck und die niederösterreichischen Bauernvertreter Stöckler und Buresch teilnahmen106. Die Motive für die Transaktion, die entscheidend zum späteren Zusammenbruch der Centralbank beitrug, hat Ahrer selbst wie folgt beschrieben : »Das Tragische lag darin, daß die Zentral-Genossenschaftskasse, an der Tausende von Bauern im Wege der Raiffeisenkassen hingen, durch Übernahme von Aktien der Bauernbank mit derselben in Schicksalsverbindung stand. Auch blieb nichts anderes übrig, als das Übel zu heilen, ohne allzu großes Aufsehen zu machen, denn der Zusammenbruch der niederösterreichischen Raiffeisenkassen hätte unabsehbare Folgen nach sich gezogen, und zwar nicht nur in politischer Beziehung.«107
Das zweite Kreditinstitut aus den Bundesländern, das die Centralbank der deutschen Sparkassen mit in den Abgrund riss, war die Steirerbank, in deren Fall Finanzminister Ahrer, nach seinem eigenen Zeugnis, »mit der größten Delikatesse« vorging108. Die Steirerbank war durch missglückte Spekulationsgeschäfte hoher Landespolitiker und Landesbeamter in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Bereits an der Jahreswende 1924/25 initiierte die Leitung des Instituts Fusionsgespräche mit der Steiermärkischen Escompte-Bank. Nach deren Scheitern wurde der Plan einer Zusammenlegung der Steirerbank und der Kärntnerbank mit der Centralbank ventiliert, der jedoch wegen 105 Federn, Bauernbank, S. 41. Aus diesem Artikel stammt auch die Angabe über die Verschuldung Bertls. Die übrigen Zahlen wurden der Broschüre Der christlichsozial-großdeutsche Bankenskandal, S. 22, entnommen. 106 Ahrer, S. 159. 107 Ebenda, S. 162. 108 Ebenda, S. 134.
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anderer »äußerst dringende[r] Sanierungen […], bei denen es oft nach Tagen ging«, zurückgestellt werden musste109. Schließlich wurde die Centralbank der deutschen Sparkassen doch dazu verhalten, 90 % der Aktien der Steirerbank zu übernehmen. Damit war aber erst ein Beginn gesetzt : »Um die Steirerbank aktiv zu machen, mußten ihr bei 3 1/2 Mio. S Verpflichtungen, 700.000 S, also 20 % der Verpflichtungen, 6 % unter dem Bankzinsfuß ohne festgesetzte Rückzahlungspflicht geliehen werden, wenn nicht gar […] 2 Mio. S […]. Und nach dem Zusammenbruch der Centralbank mußten ihr wieder 400.000 S gegeben werden.«110
Dies alles geschah, obwohl ein volkswirtschaftliches Interesse am Weiterbestand des Instituts gar nicht vorhanden sein konnte : Von den Kreditoren der Bank bestand der überwiegende Teil (etwa 75 %) aus »politischen« Einlagen öffentlicher Institutionen (Postsparkasse, Bund, Land Steiermark), die der Steirerbank als Beitrag zur Stützung überwiesen worden waren111. Es stellte sich aber bald heraus, dass die Steirerbank trotz dieser wiederholten öffentlichen Finanzspritzen noch immer stark passiv war. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt (im Herbst 1926) ihren Betrieb praktisch eingestellt. Da das Finanzministerium jeden weiteren Beitrag zur Sanierung der Bank ablehnte, musste nach einer neuen Lösung gesucht werden, für die sich ein Interessent in Gestalt der Boden-Credit-Anstalt fand. Die Boden-Credit-Anstalt war seit dem Jahre 1924 Großaktionär der Agrarbank AG in Graz. Nach dem Zusammenbruch der Centralbank der deutschen Sparkassen wandte sich die Bundesregierung an die Wiener Großbank mit dem Vorschlag, die Liquidation der Steirerbank im Wege der Fusion mit der Agrarbank zu übernehmen112. Im November 1926 beschloss die Generalversammlung der letztgenannten Bank, ihr Aktienkapital von 200.000 auf 500.000 Schilling zu erhöhen, wobei das neue Kapital von der Boden-Credit-Anstalt gezeichnet werden sollte. Anfang des Jahres 1927 kam schließlich eine Einigung zwischen der Wiener Bank und den Liquidatoren der Centralbank zustande : Die Steirerbank wurde mit der Grazer Filiale der Centralbank, der Zweigstelle der Boden-Credit-Anstalt und der Agrarbank AG zur Bank für Steiermark zusammengeschlossen113. 109 Ebenda, S. 234 f. Die Kärntnerbank selbst geriet 1926 ebenfalls in Schwierigkeiten und musste den Ausgleich anmelden. 110 Federn, Panama, S. 1149. 111 Ders., Steirerbank, S. 102. 112 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 78.629 und 90.500/1926 ; AZ, 6. Oktober 1926 ; BA, VSP-BCA vom 1. Oktober 1926. 113 BA, VSP-BCA vom 27. Dezember 1926, 23. März 1927 und 27. April 1927.
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Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
Die Centralbank der deutschen Sparkassen, bei der die Steirerbank 1925 eine vorläufige Heimat fand, erlitt durch die Übernahme dieser und der beiden anderen genannten Institute einen Verlust, der das eigene Aktienkapital und die Reserven überstieg. Der Verlust setzte sich wie folgt zusammen : Industrie- und Handelsbank
9,1 Mio. S
Niederösterreichische Bauernbank
4,4 Mio. S
Steirerbank
1,1 Mio. S
Insgesamt
14,6 Mio. S
Eine Überprüfung der Centralbank nach dem Zusammenbruch ergab, dass die Passiva die Aktiva um einen Betrag von 82 Mio. Schilling überstiegen. Nach Abzug des Aktienkapitals und der ausgewiesenen Reserven verblieb ein Fehlbetrag von 68,6 Mio., der sich später auf 80 Mio. erhöhte114. Der bereits mehrmals erwähnte Artikel im »Abend«, der den Anstoß zum Run auf die Schalter der Centralbank gab, traf auf eine Öffentlichkeit, die für Bankzusammenbrüche eine gewisse Sensibilität entwickelt hatte : So viele Sparer hatten in der Periode nach 1924 ihr Geld verloren, dass Meldungen und Gerüchte von Verlusten irgendeiner Bank oder Sparkasse sofort Unruhe unter der Bevölkerung auslösten. Die Stimmung einer latenten Einlegerpanik hielt auch nach den Ereignissen um die Centralbank der deutschen Sparkassen an. Als im Herbst 1926 die Kärntner Bank in Schwierigkeiten geriet, kam es zu Angstabhebungen auch bei der Kärntnerischen Sparkasse115. Anfang April 1927 war das Dorotheum von einer Abhebungswelle betroffen116. Wenige Tage später griff die Panik auf die Eisenstädter Sparkasse über117. Schon vorher hatten die Vereinssparkassen, um für den Eventualfall vorzusorgen, mit der Creditanstalt und der Boden-Credit-Anstalt Fühlung aufgenommen : Gegen die Zusicherung, 30 % der Einlagen bei den beiden Großbanken zu halten, sollte den Sparkassen im Ernstfall mit Krediten unter die Arme gegriffen werden118. Bei der Centralbank der deutschen Sparkassen wurden innerhalb weniger Tage so hohe Beträge abgehoben, dass die Regierung ihre gesamten Kassenbestände (62,5 Mio. S) und die Notenbank 12,5 Mio. zur Verfügung stellen musste. Und dies, obwohl die Regierung am 30. Juni erklärt hatte, dass »sie für die Sicherung der Einlagen 114 Angaben laut Ausch, S. 236 und 243. 115 A-BHWB, Ehrfeld & Co an die Direktion der BHWB, 2. Dezember 1926. 116 BA, VSP-BCA vom 5., 7. und 8. April 1927. 117 BA, VSP-BCA vom 12. April 1927. 118 BA, VSP-BCA vom 3. Februar und 23. April 1927.
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der Centralbank Vorsorge treffe«119, und zwei Tage danach sogar eine formelle Regierungsgarantie für die Einlagen bei der Bank ausgesprochen wurde. Da die Abhebungen auch nach dem 2. Juli nicht aufhörten, wurde vom Kuratorium der Centralbank ein Moratorium verfügt, das durch das 1. Centralbankgesetz vom 12. Juli bis zum 31. Oktober ausgeweitet und später noch um einen Monat verlängert wurde120. Die Centralbank selbst wurde liquidiert. Ermöglicht wurde dies durch die Schaffung eines sogenannten Garantiefonds, der aus den Erträgnissen einer »Refundierungsanleihe« dotiert wurde121. Die Anleihe in der Höhe von 80 Mio. Schilling wurde in zwei Tranchen im Jahr 1927 begeben und von den Banken und Sparkassen übernommen. Die Mittel für Zinsen und Tilgung der Anleihe sollten durch eine 4,2%ige Steuer auf alle von Kreditinstituten an Einleger ausgezahlten Zinsen (also eine Art besonderer Zinsertragssteuer) aufgebracht werden. Lediglich Zinsen auf Guthaben in fremder Währung blieben von dieser Regelung ausgenommen. Kaum hatten sich die Gemüter nach dem Zusammenbruch der Centralbank der deutschen Sparkassen beruhigt, kam ein neuer Skandal ans Tageslicht, dessen Bereinigung sich für die österreichischen Steuerzahler als noch kostspieliger erweisen sollte. Wiederum war es der »Abend«, der die Affäre mit einer Artikelserie ins Rollen brachte. Doch diesmal kam es zu keinen Angstabhebungen, weil von vornherein klar war, dass der Staat für das betroffene Institut einspringen und die Einlagen garantieren würde. Dieses Institut war die Postsparkasse. Die Postsparkasse war 1883 als Staatssparkasse gegründet worden. Sie brachte ihre Mittel über Sparguthaben auf, die mit 3 % verzinst wurden. Ihre Aktiva waren in Staatspapieren angelegt122. Nach der Jahrhundertwende begann sich die Postsparkasse direkt in das Emissionsgeschäft für Staatsanleihen einzuschalten und erlangte bald eine führende Position in diesem für die Staatsfinanzen so bedeutsamen Geschäftszweig. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie beschränkte sich der Wirkungsbereich der Postsparkasse auf das Gebiet des neuen Österreich. Die »neuausländischen« Sparkonten und ein Teil der Aktiva wurden an die neu entstandenen Postsparämter in den Nachfolgestaaten übertragen. Aber nicht diese Entflechtung bereitete der Postsparkasse Schwierigkeiten. Es war vielmehr die Inflation, von der die Postsparkasse in mehrfacher Weise betroffen war : Auf der einen Seite gingen die Einlagen inflationsbereinigt stark zurück (von Ende 1920 bis Ende 1923 um 90 %), andererseits unterlagen die in festverzinslichen Staatspapieren angelegten Aktiva 119 Zitiert nach Ausch, S. 207. 120 Sokal, Die Tätigkeit der Banken im Jahre 1926, S. 556 f. 121 Vgl. zur Gründung des Garantiefonds : MRP Nr. 473 vom 24. November 1926, in : Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Ignaz Seipel, S. 107 ff. 122 Zur Geschichte der PSK vgl. Wagner, Hundert Jahre Österreichische Postsparkasse 1883–1983.
Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
einem raschen Entwertungsprozess. Da auch die Zinseinkünfte aus Staatspapieren zurückgingen, gleichzeitig jedoch der Personalaufwand stieg, konnten die Betriebskosten aus der Spanne zwischen Sparzinsen und Anleiherenditen nicht mehr gedeckt werden. »In dieser Situation«, schrieb Michael Wagner, »reagierte die Postsparkasse wie die meisten anderen österreichischen Geldinstitute, sie suchte ihr laufendes Einkommen durch spekulative Veranlagungen an der Effekten- und Devisenbörse zu verbessern.«123
Diese Spekulationen wurden nicht von der Postsparkasse selbst durchgeführt, sondern dem bekannten Spekulanten Sigmund Bosel übertragen, der in einem Naheverhältnis zu den führenden Kreisen der Regierungspartei stand. Der Öffentlichkeit konnte natürlich nicht verborgen bleiben, welcher Fonds sich Bosel bei seinen Spekulationen bediente. Bereits im Juli 1922 informierte der Vorsitzende der Bankkommission, der ehemalige k.k. Finanzminister Wittek, Bundeskanzler Seipel über »fragwürdige Devisengeschäfte« der Postsparkasse124. Da das Institut jedoch das Vertrauen der Regierung besaß, kam es zu keinen Untersuchungen bezüglich seiner Geschäftspolitik. Zwei Jahre später urgierten die Sozialdemokraten im Parlament eine Überprüfung der Geschäfte der Postsparkasse. Aber erst im darauffolgenden Jahr wurden erste Auskünfte von den verantwortlichen Männern des Instituts eingeholt, ohne dass das wahre Ausmaß der Verluste zutage trat. Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits klar war, dass die Postsparkasse bei missglückten Spekulationen 70 Mio. Schilling verloren hatte, wurde später eine Goldbilanz erstellt, derzufolge die PSK 1925 einen Gewinn von 0,5 Mio. und einen Reservefonds von 1,25 Mio. auswies. In Wirklichkeit hätte die Bilanz mit einem Verlust von 110 Mio. Schilling (!) abschließen müssen. Der Gesamtverlust des Staates bei der Postsparkasse sollte schließlich 160 Mio. Schilling erreichen – ein Betrag, der weit höher war als die produktiven staatlichen Investitionen des Jahres 1926 ; diese machten rund 136 Mio. aus. Die Verluste der Postsparkasse resultierten aus drei Quellen : – der Beteiligung an der Sanierung verkrachter Kleinbanken, die meist der Christlichsozialen Partei nahestanden, – den Geschäften mit Sigmund Bosel – sowie den eigenen Effekten- und Devisenspekulationen der Postsparkasse. 123 Ebenda, S. 36. 124 Zitiert nach Ausch, S. 249.
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Die Ereignisse um die Postsparkasse wurden, wie im Falle der Centralbank, von Karl Ausch breit dokumentiert, sodass wir uns auf die Schilderung der wesentlichen Sachverhalte beschränken können und nur Ergänzungen oder Korrekturen anzubringen brauchen125. Die Geschäfte der Postsparkasse mit Bosel und die eigenen Spekulationen des Instituts waren so eng miteinander verbunden, dass eine Zuordnung der dabei entstandenen Verluste kaum zweifelsfrei möglich ist. Zwischen Bosel und der Postsparkasse entwickelten sich nämlich, wie es in einem Untersuchungsbericht des Präsidenten der Nationalbank, Richard Reisch, heißt, »Effektengeschäfte […] ganz ungewöhnlicher Art. Bosel hat von der Postsparkassa Leihgelder gegen Effektenunterlagen bekommen. Wenn er diese Leihgelder nicht zurückzahlen konnte, hat er der Postsparkassa die Effekten angeboten und die Postsparkassa häufte so gewaltige Effektenpakete an, an denen sie bei Eintritt des Kurssturzes große Verluste erlitt. Daneben haben noch direkte Käufe und Verkäufe von Effekten zwischen der Postsparkassa und Bosel stattgefunden. In den Jahren 1922 bis 1925 hat Bosel um 139 Mio. Schilling Effekten an die Postsparkassa verkauft, wogegen er nur 49 Mio. Schilling Effekten von ihr übernahm. Die Postsparkassa machte das, was Bosel wollte, und 85 % aller Effektentransaktionen wurden mit oder durch Bosel, also offenbar nach seinen Wünschen getätigt. Bei dem Kursumschwung im Jahre 1924 haben sich an diesem Aktienbesitz der Postsparkassa große Verluste ergeben.«126
Um die Verluste im Effektengeschäft wettzumachen, betraute die Postsparkasse Bosel mit der Durchführung von Devisenspekulationen – mit dem Ergebnis, dass weitere große Verluste auftraten. Insgesamt hatte die Postsparkasse nach der Schätzung Reischs bis Ende 1924 43 Mio. Schilling aus Effektentransaktionen und 31 Mio. aus der missglückten Francspekulation, insgesamt also 74 Mio. Schilling, verloren. Aus dieser Tatsache zog Reisch, der zum provisorischen Gouverneur der PSK ernannt worden war, in dem Bericht den Schluss, »daß nicht die in der Öffentlichkeit besprochenen Engagements mit Bosel, der Treuga und der Verkehrskreditbank den größten Schaden gestiftet haben, sondern die eigentlichen Verlustgeschäfte schon in die Zeit vor dem Frühjahr 1925 fallen.«127 125 Ebenda, S. 247 ff. 126 MRP Nr. 470 vom 5. November 1926, Beilage B : Aufzeichnungen über den Bericht des Präsidenten Dr. Reisch über die Verhältnisse bei der Postsparkassa, in : Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Ignaz Seipel, S. 44. 127 Ebenda, S. 41.
Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
Am Schluss des Exposés wurde dieser Standpunkt noch einmal bekräftigt : »Ich lege Gewicht darauf zu betonen, daß die größten Verluste in laufenden Geschäften der Postsparkassa entstanden sind, nämlich in ihren großen Effektenkäufen und -verkäufen und in den großen Devisentransaktionen und daß gegenüber diesen Verlusten die anderen Verlustgeschäfte in den Hintergrund treten, so daß also die öffentliche Meinung nicht zutrifft, die besagt, daß die Engagements mit Bosel, der Verkehrskreditbank und der Treuga die Postsparkassa ins Verderben gestürzt haben.«128
Vertretern der Großbanken gegenüber vertrat Reisch jedoch wenige Tage vor seinem Bericht an die Regierung die gegenteilige Auffassung : »Der Verlust«, sagte er wörtlich, »resultiert in der Hauptsache aus den mit Bosel abgeschlossenen Geschäften.«129
Aus diesem Protokoll geht weiters hervor, dass die Regierung mit einem Run auf die Postsparkasse rechnete und an die Banken mit dem Ersuchen um Bereitstellung eines Kredites von 50 Mio. Schilling herangetreten war, da »die Zahlungseinstellung der Postsparkassa den Staatsbankrott bedeuten würde«. Zu diesem Run ist es, wie bereits erwähnt, dann doch nicht gekommen. Neben den Verlusten, die aus den durch Bosel in den Jahren 1923 und 1924 durchgeführten Spekulationsgeschäften resultierten, war der Postsparkasse aus dieser Verbindung noch eine weitere Belastung erwachsen : Bosel hatte gegenüber dem Institut Schulden in der Höhe von 3,6 Mio. Dollar (rd. 25,5 Mio. S) angehäuft. Anstatt diese Schuld durch den Verkauf von in seinem Besitz befindlichen Wertpapieren zu begleichen, verschob Bosel sein Vermögen ins Ausland und gründete zu diesem Zweck in Genf gemeinsam mit dem Comptoir d’Escompte de Genève die Union Trust AG. Der österreichische Finanzminister Ahrer traf nun 1925 mit Bosel eine Vereinbarung, derzufolge die PSK vom Union Trust (also von Bosel selbst) jene Aktien (vor allem solche der Unionbank und der Veitscher Magnesitwerke), die Bosel ihr eigentlich zur Sicherstellung seiner Schuld zur Verfügung hätte stellen müssen, zu einem Preis von 11,3 Mio. Dollar zurückkaufen würde. Auf diese Weise avancierte Bosel von einem Schuldner der Postsparkasse zu deren Gläubiger (mit 1,1 Mio. $), wobei das Institut darüber hinaus noch eine Schuld Bosels an den Genfer Comptoir d’Escompte in der Höhe von 6,6 Mio. Dollar übernahm. 128 Ebenda, S. 46. 129 BA, VSP-BCA vom 8. November 1926.
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Dieser Vertrag konnte später zwar etwas verbessert werden, der Verlust, der der PSK drohte, blieb aber dennoch beträchtlich und machte (nach Reischs Berechnungen) 25 bis 28 Mio. Schilling aus. Finanzminister Jacob Ahrer, der für die eigenartigen Vereinbarungen mit Bosel verantwortlich war, hatte sich wenige Wochen vor der Vorlage des Untersuchungsberichtes von Richard Reisch im September 1926 nach Kuba abgesetzt. Zeichnete für die spät auftretenden Verluste Ahrer hauptverantwortlich, so war für die Abgänge in den Jahren 1923 und 1924 auch der Umstand maßgebend, »daß die Geschäfte bei der Postsparkasse mit einer unglaublichen Primitivität geführt wurden. Es wurden Milliardengeschäfte telefonisch abgeschlossen und die schriftliche Bestätigung nicht nachgetragen. Die Korrespondenz wurde ungemein formlos geführt, […] eine geordnete Korrespondenz hat es nicht gegeben. Diese Mißstände haben sich […] auch auf die Buchhaltung erstreckt.«130
Die dritte Kategorie der Verluste erwuchs aus der Verbindung der Postsparkasse mit einigen Banken, mit denen sie aus missverstandener Loyalität mit der Regierung im Zuge »stiller« Sanierungsaktionen in Kontakt gekommen war. Die Beteiligung an der Hilfsaktion für die Tiroler Agrarbank (im Ausmaß von 1 Mio. S) wurde bereits erwähnt. Der Steirerbank war zu Stützungszwecken eine »politische« Einlage von 1,3 Mio. Schilling gegeben worden131. In einem noch größeren Ausmaß war die Postsparkasse bei der Zusammenlegung der Vereinsbank für Handel, Industrie und Gewerbe und der Merkantilbank mit der Verkehrskreditbank im Jahre 1924 involviert. Die Vereinsbank war eine Gründung des Niederösterreichischen Gewerbevereins ; in der Merkantilbank waren der Hochadel und der Klerus vertreten. Die PSK übernahm fast das gesamte Aktienkapital der fusionierten Bank. Darüber hinaus übertrug sie das risikolose Frachtstundungsgeschäft der ÖBB132 auf das neue Institut133. An der Verkehrskreditbank verlor die Postsparkasse mindestens 7,5 Mio. Schilling. 130 MRP Nr. 470 vom 5. November 1926, Beilage B, in : Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Ignaz Seipel, S. 43. Reisch sprach im Zusammenhang mit der Buchhaltung der PSK wörtlich von einem »wüsten Durcheinander«. 131 [Danneberg], Die Schiebergeschäfte der Regierungsparteien, S. 27. 132 Beim Frachtenstundungsgeschäft übernimmt ein Kreditinstitut für den Aufgeber der Ware die Haftung für die Zahlung der Fracht den Bundesbahnen gegenüber. Der Aufgeber händigt den Frachtbrief dem Kreditinstitut aus, das durch einen Beauftragten vom Empfänger der Ware die Frachtspesen einkassiert und an die Bundesbahn abführt. Das Geschäft ist für das durchführende Kreditinstitut, das eine Provision erhält, risikolos. 133 Die Verkehrskreditbank erhielt zusätzlich vom Finanzministerium das Zollkreditgeschäft übertragen.
Bankenkrise ohne Ende : Centralbank der deutschen Sparkassen und Postsparkasse
Im selben Jahr (1924) beteiligte sich die Postsparkasse auch an der 1920 gegründeten Treuga-Bank. Diesem Institut war die Aufgabe zugedacht, verkrachte Banken, die den Regierungsparteien nahestanden, zu übernehmen, zu sanieren oder zu liquidieren, was immer mit Zuwendungen der PSK verbunden war. Schließlich musste die Treuga-Bank selbst den Betrieb einstellen. Der Verlust der Postsparkasse machte in diesem Fall 18 Mio. Schilling aus134. In einer Reihe anderer Fälle wurde das Institut als Geldgeber oder Aktionär direkt von Verlusten betroffen. Nach einem Bericht Reischs vor dem Postsparkassen-Ausschuss des Nationalrates verlor die Postsparkasse bei folgenden Banken insgesamt 8 Mio. Schilling135 : – Allgemeine Industriebank – Depositenbank – Lombard- und Escompte-Bank – Deutsche Bodenbank – Internationale Handelsbank – Kaufmännische Bank – Austro-Holländische Bank – Allgemeine Kreditbank – S. Bronner Im weiteren Verlauf der Untersuchungen traten weitere Verlustquellen zutage : – Centralbank deutscher Sparkassen – Niederösterreichische Bauernbank – Steirerbank – Industrie- und Handelsbank – Merkantilbank – Vereinsbank – Verkehrskreditbank – Austria Bank – Treuga-Bank – Agrarbank für die Alpenländer – Tiroler Vereinsbank – Steirische Landwirtschaftliche Genossenschaften – Oststeirische Landwirtschaftliche Genossenschaften 134 Alle Angaben nach Ausch, S. 280 ff. 135 Zitiert ebenda, S. 293.
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Nach einer Schätzung des sozialdemokratischen Abgeordneten Robert Danneberg verteilte sich der Gesamtverlust der Postsparkasse wie folgt136 : Verluste aus eigenen Aktien- und Devisenspekulationen
75 Mio. S
Verluste aus den Geschäften mit Bosel
25 Mio. S
Verluste aus Hilfsaktionen für verkrachte Banken Insgesamt
25 Mio. S 125 Mio. S
Da aber der Gesamtverlust letzten Endes 160 Mio. ausmachte (wovon 83 Mio. auf eigene Spekulationen entfielen)137, dürfte der Anteil, der auf Verluste aus den diversen Stützungsaktionen entfiel, entsprechend höher gewesen sein. In der Bilanz der Postsparkasse per 1. Jänner 1927 wurde ein Verlust von 125 Mio. Schilling ausgewiesen, der durch eine Bundeshaftung in derselben Höhe buchmäßig gedeckt erschien. Das »Bosel-Loch«, wie es die Zeitgenossen nannten, musste sehr bald auch effektiv gestopft werden. Denn es erwies sich als notwendig, aus den Kassenbeständen des Bundes einen Betrag von 50 Mio. Schilling flüssig zu machen, um den Weiterbetrieb der PSK zu ermöglichen. Die sukzessive Abtragung der Verluste nahm Jahrzehnte in Anspruch. Reste dieses »Bosel-Loches« waren selbst 1945, nach dem Wiedererstehen einer selbständigen Österreichischen Postsparkasse, noch vorhanden. Mit dem Sanierungsgesetz vom 28. Dezember 1926 wurden zwar – auf Drängen der sozialdemokratischen Opposition – die organisatorischen Voraussetzungen für eine genauere Kontrolle der laufenden Geschäftstätigkeit der Postsparkasse geschaffen ; die tatsächliche Entwicklung folgte der rechtlichen jedoch nur zögernd nach. »Mit der gesetzlichen Sanierung«, schrieb Michael Wagner in seiner Studie über die Geschichte der Postsparkasse, »war indes kein endgültiger Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen. Schon während der Übergangszeit zwischen der Ablösung des alten Gouverneurs und der Verwirklichung des neuen Gesetzes wurde klar, daß die Verquickung von Politik und Geschäftsführung längst nicht aufgelöst war […]. Für die Postsparkasse schuf diese Einbindung in parteipolitische Auseinandersetzungen eine […] schwierige Lage : der Vorstand mußte noch bis zur Mitte der dreißiger Jahre einen erheblichen Teil seiner Sitzungen einer […] Abwicklung von Geschäftsfällen aus der vorangegangen Zeit widmen. 136 Ebenda, S. 294. 137 Laut Wagner, S. 38.
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Dabei bekam die Postsparkasse immer wieder den Auftrag, für sie unvorteilhafte Verträge mit Dritten, darunter auch sanierungsbedürftigen Banken, abzuschließen.«138
3. Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Die Jahre von der Gründung der Republik bis zur Überwindung der unmittelbaren Folgen der Börsenkrise von 1924 bildeten für die österreichischen Banken eine Art von Ausnahmezustand. Vom Ende des Jahres 1924 an setzte ein Prozess der zunehmenden Normalisierung ein, dessen augenfälligste Symptome der Übergang zur Schillingwährung139, die Freigabe des Devisenverkehrs im März 1925 und die Aufstellung von Goldbilanzen140 waren. Die Börsenderoute hatte für die Banken nicht bloß langfristig negative Auswirkungen, indem sie mit einem ins Riesige angeschwollenen Effektenportefeuille belastet wurden ; auch kurzfristig kam es zu einer Immobilisierung, die sich durch den Abzug ausländischer Kredite, durch erneute Kapitalflucht und durch die einsetzende Industriekrise weiter steigerte. »Unsere ganze Volkswirtschaft«, schrieb damals der »Österreichische Volkswirt«, »ist immobilisiert, die Banken sowohl wie die Industrie.«141 In dieser Situation wurde die Notenbank zur alleinigen Geldquelle der Volkswirtschaft. Denn das Anschwellen des Wechselportefeuilles der Nationalbank lief auf nichts anderes hinaus als auf die Mobilisierung festgefrorener Kredite bzw. die Ersetzung der gekündigten Auslandskredite durch den Kredit der Notenbank. Die »Kreditinflation« der Bank wurde von der österreichischen Öffentlichkeit durchwegs gutgeheißen142. Sogar Otto Bauer, ein grundsätzlicher Gegner jeder »inflationistischen« Politik143, hielt die »Expansion des Kredites zugunsten der Produktion« für notwendig144. Vor dem Metallarbeiterkongress des Jahres 1924 verteidigte er die Vorgangsweise der Notenbank mit den Worten :
138 Ebenda, S. 39. 139 BGBl. Nr. 461/1924, Bundesgesetz vom 20. Dezember 1924 (Schillingrechnungsgesetz). 140 BGBl. Nr. 184/1925, Bundesgesetz vom 4. Juni 1925 (Goldbilanzgesetz). 141 ÖVW, Aus der Woche, 7. Juni 1924, S. 1100. 142 Vgl. W.F., Nationalbank und England, S. 363 f. 143 Vgl. Weber-Felber, S. 193 ff und 237 ff. 144 Im Hauptausschuss des Nationalrates sagte Bauer damals : »Ein gewisses Maß von deflatorischer, restriktorischer Politik der Bank halten auch wir für notwendig, aber die Übertreibungen in dieser Richtung der Politik durch die Nationalbank haben zu einer Verschärfung der Krise geführt.« ÖStA/ AVA-FHKA, SDPK, Karton 21 : Hauptausschuss, Sitzung vom 12. Februar 1925.
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»In Wirklichkeit gibt die Bank der Industrie Geld, das zu einem sehr beträchtlichen Teil einfach zu diesem Zweck von der Nationalbank neu gedruckt wird, die es den Banken und durch diese der Industrie zur Verfügung stellt. […] Das ist nun in Wirklichkeit Inflation, noch immer Notendruckwirtschaft.« Bauer nannte diesen Umstand zwar »wenig wünschenswert«, meinte aber : »Wir wären wirtschaftlich vollständig zusammengebrochen, wenn die Nationalbank nicht so verfahren wäre.«145
Die Kritik Bauers richtete sich vor allem gegen die Finanzierung der Spekulation durch den Kredit der Notenbank. Das Ausland, im Besonderen die Bank of England und das Finanzkomitee des Völkerbundes (in dem Repräsentanten der englischen Notenbank eine gewichtige Rolle spielten), stand hingegen dem vom Präsidenten der Oesterreichischen Nationalbank, Richard Reisch, eingeschlagenen Kurs sehr kritisch gegenüber. Da die Ansprüche an die Notenbank unausgesetzt stiegen, sah sich die Bankleitung bereits zu Anfang Juni 1924 genötigt, den Diskontsatz von 9 auf 12 % zu erhöhen. Diese Maßnahme erwies sich jedoch praktisch als wirkungslos ; die Wechseleinreichungen schwollen weiter an. Auch eine neuerliche Erhöhung der Bankrate auf 15 % am 12. August zeigte so wenig Wirkung, dass sich manche Kommentatoren von einem »völligen Versagen« der Diskontpolitik zu sprechen gezwungen sahen146. Erst die wenige Wochen darauf verfügte Kreditrationierung führte – zusammen mit der Einführung des Devisen-Kostgeschäfts, auf die wir weiter unten eingehen werden – eine Umkehr des Trends herbei (siehe Tabelle 54). Die zweite Erhöhung der Bankrate wurde gegen den erklärten Willen Reischs von der Bank of England und dem Finanzkomitee des Völkerbundes durchgesetzt147. Es kam zu einem öffentlich ausgetragenen Konflikt zwischen dem Präsidenten der Oesterreichischen Nationalbank und dem Kommissär des Völkerbundes, Alfred Zimmermann. Damit waren jedoch die Differenzen noch lange nicht aus der Welt geschafft. Der Leiter der englischen Notenbank, Montagu Norman, setzte auch der Wiederherabsetzung der Bankrate entschiedenen Widerstand entgegen. Nach Reischs eigenem Zeugnis gelang es ihm Anfang November 1924 »nur unter Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit« eine Zinsfußermäßigung von 15 auf 13 % – ursprünglich waren 12 % vorgesehen – durchzusetzen. 145 Ders., in : Verhandlungen des 13. Verbandstages der Metallarbeiter Österreichs, S. 127 f. In dem darauf beruhenden nachfolgenden Artikel in der Arbeiter-Zeitung fehlt diese Passage. Siehe : Die Wirtschaftskrise im Ausland und in Österreich, abgedruckt in : Bauer, Werkausgabe, Bd. 7, S. 105–118. 146 Zeissel, S. 78. 147 Vgl. Ausch, S. 179 f ; siehe dazu und zum Folgenden auch : Kernbauer, Währungspolitik in der Zwischenkriegszeit, S. 146 ff.
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Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Tabelle 54 : Geldmenge (Banknoten und sofort fällige Verbindlichkeiten), Wechsel- und Kostdevisenbestand der Nationalbank Dezember 1923 bis August 1925 (in Mio. S) I Geldmenge
II Wechselporte feuille
31. Dezember (1923)
777
30. April (1924)
801
31. Mai
820
266
–
266
30. Juni
852
308
–
308
31. Juli
889
330
–
330
31. August
900
322
–
322
30. September
889
285
16
301
31. Oktober
872
238
39
277
III Kostdevisen
IV Summe II + III
132
–
132
213
–
213
30. November
856
194
98
292
31. Dezember
894
188
131+
319
23. März* (1925)
819
105
166
271
23. April
821
96
152
248
31. Juli
867
85
104
189
31. August
876
73
88
161
* Zeitpunkt der Aufhebungen der Beschränkungen im Devisenverkehr. + Nach den Schätzungen des ÖVW betrugen die Kostdevisen 175 Mio. S. ÖAW, Aus der Woche, 17. Jänner 1925, S. 419. Quellen : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924, S. 125 sowie Jg. 1925, S. 173 ; Zeissel, S. 99 ; Layton/Rist, Annex II.
»Das Kompromiß von 13 %«, berichtete der Notenbankpräsident den österreichischen Bankiers in einer vertraulichen Besprechung, »habe er eingehen müssen, weil Norman und die englischen Kreise absolut gegen eine Ermäßigung des Zinsfußes waren.«148
Im März 1925 brach ein neuer Konflikt mit Norman aus, in dessen Verlauf Reisch mit seinem Rücktritt drohte. Reisch war nach London gefahren, um eine Senkung der Bankrate auf 11 % zu erreichen, hatte jedoch unverrichteter Dinge wieder nach Wien zurückkehren müssen149. Erst im Laufe der nächsten Monate gelang es, den Diskontsatz allmählich herabzusetzen : auf 11 % (Ende April 1925), 10 % (Ende Juli) 148 BA, DSP-WBV vom 7. November 1924, Beilage D. 149 ÖVW, Aus der Woche, 28. März 1925, S. 699 ; vgl. auch : Ausch, S. 181 f.
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Die goldenen 20er-Jahre
und schließlich 9 % (Anfang September desselben Jahres). Dass im Zusammenhang damit auch eine regelrechte englische »Kreditblockade« gegen Österreich aufgehoben worden wäre, wie Ausch meint150, dürfte nicht der Realität entsprechen : Das Verbot der Bank of England von englischen Kapitalexporten im Herbst 1924/Frühjahr 1925 war allgemeiner Natur und hatte seine Ursache in den Vorbereitungen zur Rückkehr Englands zum Goldstandard151. Die Erschwerung des Zugangs zur Notenbank im Sommer 1924 hatte die Auf lösung der in der Inflationszeit angehäuften Devisenhorte zur Folge. »Da Unternehmungen, Kunstgegenstände, Waren und Effekten unanbringlich und neue Kredite nicht erreichbar sind«, heißt es in einem Kommentar des »Österreichischen Volkswirt«, »so bleibt zur Geldbeschaffung nur der Rückgriff auf alte Devisenreserven, die mehr und mehr zum Vorschein kommen. Nur so wird das Anwachsen des Metallbestandes der Notenbank […] bei anhaltender Kreditkrise und andauernder Passivität der Handelsbilanz verständlich.«152
Später flossen erneut ausländische Gelder nach Österreich, die anfangs – es herrschte ja noch immer Devisenbewirtschaftung – bei der Nationalbank eingeliefert werden mussten und gegen Kronen umgetauscht wurden. Ende August 1924 tauchen in den Protokollen der Großbanken zum ersten Mal Überlegungen auf, »Dollars abzuliefern und dafür mit dem Einreichen von Wechseln zurückzuhalten«153. Diese Anregungen wurden von der Nationalbank durch die Aufnahme des Devisentermin- bzw. Devisenkostgeschäfts Mitte September 1924 aufgegriffen154. Dabei kaufte die Notenbank gegen eine gewisse Provision (anfangs 4, ab November 3 %) ausländische Devisen an, mit der Zusicherung, dass der Einlieferer die Devisen nach drei Monaten zum selben Kurs wieder zurückkaufen könne. Bis zum 7. November flossen der Bank auf diese Weise Devisen im Wert von fast 13 Mio. Dollar (über 90 Mio. S) zu155. Gleichzeitig gingen die Wechseleinreichungen bei der Nationalbank zurück (siehe Tabelle 54), mit 150 Ebenda, S. 181. 151 Moggridge, S. 205 f. Es scheint allerdings, dass die Vertreter Englands im Finanzkomitee des Völkerbundes den österreichischen Politikern mit einem solchen »Kreditembargo« gedroht hatten, für den Fall, dass die Regierung nicht im Einklang mit den Vorschlägen des Völkerbundes handeln sollte. Hinweise darauf in : BA, VSP-BCA vom 3. Oktober 1925. 152 G.St., Krisensymptome, S. 1256. 153 BA, DSP-WBV vom 25. August 1924. 154 ÖVW, Aus der Woche, 20. September 1924, S. 1536 f ; BA, DSP-WBV vom 17. September 1924. 155 ÖVW, Aus der Woche, 13. Dezember 1924, S. 288 (unter Berufung auf Angaben des Völkerbund-Kommissärs).
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
anderen Worten, ein Teil der Schulden der österreichischen Banken gegenüber der Notenbank wurde wiederum in eine Zahlungsverpflichtung gegenüber dem Ausland rückverwandelt. Der prekäre Charakter der fast ausschließlich kurzfristigen Auslandsverschuldung der Großbanken war von Anfang an Zielscheibe der zeitgenössischen Kritik156. »Es ist nicht wünschenswert«, schrieb Walther Federn im »Volkswirt«, »daß der kurzfristige Devisenkredit in allzu hohem Ausmaß in Anspruch genommen wird […], der nur für Rohstoffbeschaffung und andere kurzfristige Betriebszwecke zur Verwendung gelangen sollte.«157
Als einige Monate später klar wurde, dass ein beträchtlicher Teil der Kredite für den Kauf von Investitionsgütern verwendet wurde, erneuerte der »Volkswirt« seine Kritik : »Bankpolitisch bedeutet […] die Festlegung kurzfristiger Kredite zu Investitionen eine noch größere Gefahr, als es die übergroße kurzfristige Verschuldung ans Ausland an sich ist.«158
Von der Möglichkeit der Einreichung der Reportdevisen machten im Herbst 1924 vor allem die Boden-Credit-Anstalt und die Creditanstalt Gebrauch, die auf diese Weise ihr Wechselobligo bis Anfang November auf 8 bzw. 5,6 Mio. Schilling abbauen konnten. Beim Bankverein, der sich eine wesentlich größere Zurückhaltung auferlegte, erreichte dieses Konto hingegen noch immer 17,5 (gegenüber einem Höchststand von 34 Mio. S im Juli 1924)159. Bei den in der Nationalbank eingelieferten Kostdevisen handelte es sich jedoch nicht immer um Auslandskredite : Im Falle der Creditanstalt elozierte die Oesterreichische Nationalbank ausländische Devisen bei der Amstelbank in Holland, welche wiederum der Creditanstalt die Gelder zur Verfügung stellte, die auf diesem Umweg wieder bei der Notenbank landeten. Als Direktor Heinsheimer vom Bankverein ein ähnlich lautendes Angebot ablehnte, wurde ihm vom verantwortlichen Direktor der Nationalbank der Vorschlag unterbreitet, dem Bankverein direkt Dollars zu über lassen, 156 Vgl. Layton/Rist, S. 20. 157 W.F., Der Devisenreport der Nationalbank, S. 538. 158 ÖVW, Aus der Woche, 15. August 1925, S. 1262. 159 BA, DSP-WBV vom 12. Dezember 1924, Beilage E und 7. November 1924, Beilage D. Dort heißt es : »Credit-Anstalt und Boden haben größere Geschäfte durch Hineingabe von Devisen getätigt, um das Obligo abzubauen, wobei sie die Zusage besitzen, im Eventualfalle das Obligo wieder entsprechend erhöhen zu dürfen.«
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Die goldenen 20er-Jahre
»die wir entweder verkaufen oder […] gegen Kronen hineingeben können. […] Diese Dollars hereinzunehmen«, setzte Heinsheimer seinen Bericht fort, »erscheint mir umso gefahrloser, als die Nationalbank über sehr große Dollar-Guthabungen verfügt und sicher mit deren weiterer Prolongation gerechnet werden kann, dieselben vielleicht eine ganz lange dauernde Einlage bilden werden, während man bei den Dollars vom Auslande immer das Damokles-Schwert der Fälligkeit vor Augen haben muß.«160
Der Bankverein (die einzige Wiener Großbank, in deren Protokollen sich detaillierte Zahlen über laufende geschäftliche Transaktionen finden) nahm von der Nationalbank Mitte November 1924 Devisen in der Höhe von 1 Mio. Dollar (zu einem Zinssatz von 6 %) herein ; diese wurden später mit 3 % von der Notenbank reportiert und in Kronen umgewandelt161. Dies entsprach – bei einem Diskontsatz von nunmehr 13 % – einer nicht unwesentlichen Verbilligung der Fremdmittelaufbringung. In der Tat war diese »Devisenreiterei« gleichbedeutend mit einer versteckten Zinssenkung, gegen die die Bank of England so energisch opponiert hatte, wie ja auch die Einführung des Devisenkostgeschäfts im September 1924 nichts anderes gewesen war als eine Fortsetzung der »Kreditinflation« mit anderen Mitteln, die das Eskompteportefeuille der Notenbank formal schrumpfen ließen. Auch dies kann an Hand der Aufzeichnungen des Wiener Bankverein nachvollzogen werden (siehe Tabelle 55). Mit der Aufhebung der Devisenkontrollen im März 1925 verlor das Kostgeschäft rasch an Bedeutung162 ; die im Ausland aufgenommenen Gelder wurden von den Banken entweder bei der Notenbank ohne Kurssicherung eingeliefert oder direkt an die Kreditnehmer weitergegeben. Da das Problem der wachsenden Verschuldung der Wiener Großbanken ans westliche Ausland weiter unten ausführlich untersucht werden wird163, genügen an dieser Stelle wenige Sätze zur Charakterisierung der Entwicklung : Anfangs verhielten sich die Banken bei der Vergabe von Krediten in ausländischer Währung verhältnismäßig zurückhaltend und versuchten, die Verschuldung gegenüber dem Ausland in Grenzen zu halten. Erst als sich herausstellte, dass die (formell kurzfristig gewährten) Auslandskredite immer wieder prolongiert wurden, wurde ein expansiverer Kurs eingeschlagen.
160 BA, DSP-WBV vom 7. November 1924, Beilage D. 161 BA, DSP-WBV vom 10. und 17. November 1924. 162 Auch der Abbau des Devisenkostgeschäfts war der Nationalbank von Montagu Norman nahegelegt worden. BA, VSP-BCA vom 2. April 1925. 163 Vgl. Kapitel III-4, S. 262 ff.
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Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Tabelle 55 : Wechselobligo und Verpflichtungen im Devisenkostgeschäft des Wiener Bankverein von Juli 1924 bis Mai 1925 (in Mio. S) I Wechselobligo
II Devisenreport
Summe 1+2
34,0
–
34,0
Anfang Juli 1924 Anfang Oktober 1924
24,0
?
?
Anfang November 1924
17,5
?
?
Anfang Dezember 1924
4,0
13,1
17,1
31. Dezember 1924
4,0
15,9
19,9
?
21,6
?
0,0
20,7
20,7
28. Februar 1925 31. Mai 1925
Quelle : BA, verschiedene DSP-WBV.
Der Übergang zu einer expansiven Geschäftspolitik erfolgte bei der Creditanstalt (aufgrund ihrer intimen Beziehungen zur Amstelbank und zum Londoner Haus Roth schild) verhältnismäßig früh. (Dies ist zumindest der Eindruck, den man aus den Kreditlisten der Bank gewinnt.) Auch die Boden-Credit-Anstalt scheint sich bei ihrem Versuch, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, frühzeitig auf die Bereitstellung ausländischer Mittel gestützt zu haben. Die Direktion der Bank verhielt sich jedoch von Anfang an unvorsichtiger als jene der Creditanstalt. Die »Boden« geriet bereits Ende 1925 – aufgrund einer Stockung beim Einfließen ausländischer Kredite, mit denen die Direktion anscheinend fest gerechnet hatte – zum ersten Mal in Liquiditätsschwierigkeiten164. Auf die Anlaufphase bei der Hereinnahme und Verwendung von Auslandskrediten folgte eine Periode, in der die kurzfristigen Auslandsgelder in Form von Investitionskrediten an die in- und ausländische Industrie weitergegeben wurden. Im mitteleuropäischen Konjunkturaufschwung nach 1927 schließlich fungierten die Wiener Großbanken in einem vermehrten Ausmaß als Kreditvermittler zwischen West und Ost, indem sie westliche Gelder an befreundete Banken oder Industriefirmen im gesamten Donauraum weitergaben.
164 BA, VSP-BCA vom 9. Dezember 1925.
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Die goldenen 20er-Jahre
Tabelle 56 : Differenz der österreichischen zur englischen und deutschen Bankrate 1924–1930 (Jahresdurchschnitte in Prozentpunkten : + = höher, – = niedriger) gegenüber England
gegenüber Deutschland
1924
+7,6
+1,6
1925
+6,3
+1,7
1926
+2,5
+0,8
1927
+2,6
+0,5
1928
+2,7
–0,7
1929
+1,9
+0,3
1930
+2,3
+0,8
Quellen : Compass, Jg. 1936. S. 271 : Moggridge, S. 226 ; Hardach, S. 570 ; KOFO, Heft 6/1938, S. 140.
Die mit dem Einfließen der billigen Auslandskredite verknüpfte Hoffnung auf eine allgemeine Senkung der hohen Belastung der Kreditnehmer165 wurde nur sehr langsam Wirklichkeit. Ein wichtiger Grund für die Verzögerung lag in der Hochzinspolitik der Nationalbank, die unter dem Druck der englischen Hochfinanz länger als notwendig aufrechterhalten werden musste. Die österreichische Bankrate lag, wie Tabelle 56 zeigt, in den Jahren 1924 und 1925 exorbitant, in den folgenden Jahren immer noch beträchtlich über der englischen. Auch der Abstand zum deutschen Diskontsatz war – mit Ausnahme der Jahre 1928 (Konjunkturaufschwung in Deutschland) und 1929 – nicht zu übersehen166. Die weitaus wichtigere Ursache für das nur sehr zögernde Nachgeben der Zinsen lag bei den Banken selbst : Diese entfalteten einen hartnäckigen hinhaltenden Widerstand gegen jede Senkung der Debetkonditionen, obwohl ihnen durch das Einfließen der Auslandskredite billige Fremdmittel zur Verfügung standen. »Die Banken zahlen dem Auslande«, schrieben Walter Layton und Charles Rist in ihrem Bericht über Österreich, »für diese Kredite Zinsen, die zwischen sechs und sieben Prozent schwanken, und geben sie zu elf oder zwölf Prozent weiter.«167
165 Vgl. W.F., Nationalbank und England, S. 363 f. 166 Der Zusammenhang, den wir unterstellen, ist der, dass der Konjunkturaufschwung in beiden Ländern zu einem großen Teil mit der Hilfe ausländischer Kredite finanziert wurde. 167 Layton/Rist, S. 20.
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Die Creditanstalt vergab solche Kredite an bevorzugte Kunden bereits 1923 zu einem Zinssatz, der halb so hoch war wie jener für Kronenkredite168. Die Vergabe von Fremdwährungskrediten zu günstigen Konditionen führte aber bald zur Herausbildung eines gespaltenen Kreditmarktes mit zwei verschiedenen Debitorenkategorien : den privilegierten Schuldnern, denen der Zugang zu den Auslandskrediten möglich war (dies waren in der Regel größere, exportorientierte und besonders kreditwürdige Konzernunternehmen), und auf der anderen Seite der – meist mit Klein- und Mittelbetrieben identischen – Schicht der benachteiligten Kreditnehmer, die mit den teuren Kronen- bzw. ab 1925 Schillingkrediten Vorlieb nehmen mussten169. Die Zinssätze für die hereingenommenen ausländischen Kredite lagen – wie Tabelle 57 zeigt – beträchtlich unter jenen, die die Banken ihren inländischen Einlegern vergüten mussten. Die in der Tabelle angeführten Passivzinsen (dasselbe gilt natürlich auch für die Debetkonditionen) geben nur das durchschnittliche Niveau wieder. Im »grauen« Bereich kam die Mittelaufbringung den Banken noch viel teurer zu stehen. In der Steiermark und in Kärnten z. B. waren Anfang 1925 »Einlagezinsen von 20 Prozent fast allgemein üblich«170 ; und Großeinleger in Wien forderten (und erhielten) zur selben Zeit zwischen 12 und 15 Prozent. Ein Jahr später war dieser Satz allerdings bereits auf 8 % abgesunken171. Das hohe Zinsniveau der ersten Stabilisierungsjahre muss allerdings auch unter einem anderen Blickwinkel betrachtet werden : Nach der Erfahrung der Hyperinflation waren die Banken inflationssensibel geworden. Nach dem September 1922 war die Gefahr einer galoppierenden Geldentwertung zwar gebannt, aber der Preisindex wies auch weiterhin eine nach oben gerichtete Tendenz auf (siehe Tabelle 58). Mit anderen Worten : Die »reale« Zinsbelastung der Kreditnehmer war wesentlich geringer, als dies in den nominellen Ziffern über die Konditionen zum Ausdruck kam. Erst 1925 nahm mit dem Aufhören der Inflation die Höhe der Debetzinsen ein unerträgliches Ausmaß an.
168 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1923. 169 In der bereits mehrmals zitierten Zusammenstellung des Bankenverbandes für die Völkerbundexperten hieß es dazu, »daß die österreichische Industrie, besonders diejenige, welche exportiert, vielfach Kredite in ausländischer Währung zu wesentlich niedrigeren Sätzen als sie für Kredite in inländischer Währung üblich sind, in Anspruch nimmt«, wobei, wie es ergänzend hieß, die »Marge zwischen ausländischem und inländischem Satz sehr stark von der Dauer des Kredits abhängig ist«. ÖStA/AdR/BMF, Z1.76.843/1926. 170 ÖVW, Aus der Woche, 28. Februar 1925, S. 587. 171 BA, DSP-WBV vom 13. Februar 1925 und 29. März 1926.
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Die goldenen 20er-Jahre
Tabelle 57 : Bankrate, Einlagezinsen, Debetkonditionen und Zinsmarge in Österreich 1924–1925 (in %) Einlagezinsen Bankrate
Nominell
Tatsächl. Durch schnittswert
1.1.– 9. 6.
9
7
8,1
21,0*
13–14,0
10.6.–13. 8.
12
9
10,5
22,0
11,5–13,0
13.8.– 5.11.
15
12
13,5
22,5
9–10,5
13
10
11,5
22,5
11–12,5
Debetzinsen + Provisionen
Marge
1924
ab 6.11.1924 bis 31. 3.1925
(18,6)** 1925 1.4.–26.4.
13
9
10,0
16,5
7,5–9,5
(18,1) (27.4.–26.7.)
8
11
9,0
16,6
8,5–10,0
(17,9) (27.7.–30.8.)
7
10
8,0
15,5
7,5–8,5
(17,1) (ab 31.8.)
(9)
(7)
(9,1)
(16,1)
* »up to 30 per cent« nach den Angaben von Phillpotts, S. 15. ** Die in Klammern hinzugefügten Angaben stammen aus dem Wirtschaftsstatistischen Jahrbuch, Jg. 1925. Quellen : Layton/Rist, S. 19 und 92 ; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1925, S. 176.
Tabelle 58 : Inflationsrate(n) 1923–1925 Lebenshaltungskosten
Groß-
Klein-
(o. Wohnung)
(m. Wohnung)
handelspreise
1923
+24,2
+23,1
+15,9
+10,4
1924
+21,3
+16,1
+14,3
+16,5
1925
+ 0,7
+ 0,3
+ 1,2
–14,7
Quelle : Statistische Nachrichten, 3. Jg., 1925, S. 13 sowie 4. Jg., 1926, S. 50 und 264 f.
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Die ersten Bemühungen zur Senkung der Debetzinsen (und vor allem der mannigfaltigen »Provisionen«, die in der Inflationszeit von den Banken eingeführt worden waren) wurden im Herbst 1923172 unternommen : Ein Jahr darauf, am 5. September 1924, berichtete Finanzminister Kienböck dem Ministerrat über die Verhandlungen mit den Delegierten des Finanzkomitees des Völkerbundes. Diese hatten eine Abschaffung der Valuten- und Bankenumsatzsteuer sowie eine generelle Ermäßigung der Bankkonditionen verlangt173. Nachdem Verhandlungen zwischen dem Finanzminister und Vertretern der Kreditwirtschaft noch im September begonnen worden waren, wurde am 16. Oktober 1924 eine Einigung erzielt174 : Ab 1. November ermäßigten die Banken – wie im Bericht der Direktion des Wiener Bankverein ausdrücklich hervorgehoben wurde : »losgelöst von den Steuergesetzen«175 – die Bankspesen beträchtlich : Die sogenannte »Vorlageprovision« wurde um 2 % ermäßigt, die »Kreditbereitstellungsprovision«, ebenfalls eine Erfindung der Inflationszeit, entfiel völlig ; auch die Manipulationsgebühren erfuhren eine Ermäßigung176. Wenige Tage nach dem positiven Abschluss der Verhandlungen brachte die Regierung im Parlament eine Vorlage ein, welche die Reduzierung der Geld- und Valutaumsatzsteuer auf 1/100 vorsah. Das diesbezügliche Gesetz wurde am 29. Oktober 1924 beschlossen177. Diese Maßnahmen sollten – zusammen mit der für November geplanten Senkung des Diskontsatzes – die untragbaren Kreditlasten der Industrie erleichtern. Die Aufspaltung des Kreditmarktes in billige Devisen- und teure Kronen- bzw. Schillingkredite war nicht die einzige Ursache dafür, dass der Mechanismus der »natürlichen« Selektion durch den hohen Zinssatz – auf den die in- und ausländischen Ökonomen und Bankiers (Kienböck, das Finanzkomitee des Völkerbundes, Montagu Norman) so große Hoffnungen setzten – in Österreich nicht den Gesetzen des »freien« Marktes unterworfen war. Unter den Bedingungen einer starken Kreditnachfrage befanden sich die Banken in einer ausgesprochen starken Position ; sie waren daher in der Lage, den Zinssatz durch ein Konditionenkartell zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Auf diese Weise wurde aber die Grenze für die »Lebensfähigkeit« der Kreditnehmer so 172 Siehe Kapitel II-7, S. 162 ff. 173 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 342 vom 5. September 1924. Der Wunsch nach Abschaffung der erwähnten Steuern scheint den Delegierten gegenüber zuvor von den österreichischen Bankiers vorgetragen worden zu sein. Derartige Gespräche sind erwähnt in : BA, VWP-CA vom 10. September 1924, Bericht von Generaldirektor Ludwig Neurath. 174 Siehe : BA, VWP-CA vom 9. Oktober 1924, DSP-WBV vom 1., 15. und 17. Oktober 1924 ; ÖVW, Die Bilanzen, 11. Oktober 1924, S. 14 und 11. November 1924, S. 39. 175 BA, DSP-WBV vom 17. Oktober 1924. 176 ÖVW, Chronik, 25. Oktober 1924, S. 108. 177 ÖVW, Aus der Woche, 25. Oktober 1924, S. 91 und 1. November 1924, S. 138 ; Chronik, 8. November 1924, S. 163.
233
234
Die goldenen 20er-Jahre
weit verschoben, dass – der Tendenz nach – fast die gesamte österreichische Industrie davon betroffen war. Klagen von Industriellen, dass »die Konditionen […] außerordentlich hoch sind und daß so hohe Zinsen nicht zu verdienen sind«178, wurden daher in den 20er-Jahren immer wieder an die Bankiers herangetragen. Schon die Erhöhung der Debetkonditionen der Banken parallel zur Anhebung der Bankrate im Sommer 1924 war von verschiedenen Seiten kritisiert worden : von der Industrie, von sozialdemokratischen Wirtschaftsexperten179, dem Ökonomen Richard Kerschagl180 sowie vom »Österreichischen Volkswirt«. Dieser vertrat die Auffassung, dass »die Banken wahrscheinlich ihren eigenen Interessen mehr dienen, wenn sie zur Überwindung der Krise vorübergehend selbst Verluste auf sich nehmen würden«.181
Im Frühjahr 1925 wiederholte der »Volkswirt« diese Kritik : »Die Banken sollten einsehen, daß jede Erleichterung, die sie der Produktion verschaffen, in ihrem eigenen Interesse liegt, daß sie gar nichts davon haben, wenn sie immer höhere Debetsaldi durch Zinszuschreibung in ihre Bücher einstellen, die aber die Industrie schließlich nicht zahlen kann, weil die Zinsenlast sie konkurrenzunfähig macht.«182
Diese Kritik – retrospektiv fast ein Jahrzehnt später vom holländischen Generaldirektor der Creditanstalt in den 30er-Jahren, Adrianus van Hengel, bestätigt183 – stieß bei den Bankiers keineswegs auf taube Ohren. Allerdings war ihr Spielraum – aufgrund der angespannten Kostensituation – verhältnismäßig gering : Als die Banken Anfang 1926 aufgefordert wurden, die Zinsen um 1 % zu ermäßigen, antworteten sie darauf, »daß eine Verringerung der Zinsspannung für die Banken die schwerwiegendsten Folgen hätte«.184 178 Vorgebracht vom Präsidenten (Isidor Mautner) und von dem Generaldirektor (Arthur Kuffler) der Textilwerke Mautner AG gegenüber der BCA-Direktion. BA, VSP-BCA vom 13. Mai 1929. 179 Siehe : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924, S. 128 f. 180 Vgl. Zeissel, S. 74. 181 ÖVW, Aus der Woche, 21.Juni 1924, S. 1157. 182 ÖVW, Aus der Woche, 2. Mai 1925, S. 840. 183 In einem Brief an den damaligen Nationalbankpräsidenten Kienböck schrieb van Hengel 1933 : »Daß die Industrie heute so schlecht dasteht, ist teilweise eine Konsequenz der wahnsinnigen Debetzinsen, die die Banken gerechnet und die sie, weil die Zinsen nicht oder nur teilweise verdient wurden, den Debetsaldi hinzugeschrieben haben.« NL/vHengel, van Hengel an Kienböck, 17. Jänner 1933. 184 BA, VSP-BCA vom 27. März 1926.
235
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Andere Kreditinstitutionen, die mit einem gesicherten Mittelaufkommen rechnen konnten und nicht mit einem großen Apparat belastet waren, sahen sich in der Lage, weitaus günstigere Konditionen zu bieten. So vergab die Zentralsparkasse der Gemeinde Wien – im Bestreben, die wirtschaftsfördernde Wohnbaupolitik der Kommunalverwaltung zu unterstützen – 1926 Kredite »zu 1 % über Rate« an die Bauindustrie185. Im Allgemeinen blieben die Zinsen aber sehr hoch (siehe Tabelle 59). Tabelle 59 : Zinsenbelastung der österreichischen Kreditnehmer (inkl. Provisionen) im internationalen Vergleich 1924–1930 (Jahresdurchschnitte) Österreich
Deutsches Reich
Schweiz
England
1924
21,7
20,0*
7,0
5,8
1925
19,3
–
–
–
1926
14,7
–
–
–
1927
13,5
–
–
–
1928
13,5
10,0
6,5
6,3
1929
14,9
9,5
6,5
6,3
1930
12,9
–
–
–
* Erstes Jahr nach der Hyperinflation. Quellen : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924–1930/31 ; KOFO, Heft 6/1938, S. 140 ; Layton/ Rist, S. 19 und 92.
Auch die Großbanken beschlossen im März 1925 – freiwillig und unter Vorwegnahme der auf einen späteren Zeitpunkt verschobenen Senkung des Diskontsatzes – eine veränderte Berechnung der sogenannten »Vorlageprovision«, wodurch sich die Kreditkosten um rund ein Viertel ermäßigten (siehe auch Tabelle 57)186. Von diesem Zeitpunkt an setzte ein allmähliches, aber stetiges Sinken der Kreditbelastung der Industrie ein, die freilich im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch blieb (siehe Tabelle 59). Die Banken konnten das Problem der hohen Kreditkosten umso weniger ignorieren, als sie wiederholt mit Beschwerden ihrer industriellen Klientel konfrontiert und zudem Jahr für Jahr gezwungen waren, einer Reihe von Konzernunternehmen Zinsen zu stunden bzw. Zinsnachlässe zu gewähren. So betrug z. B. der Nachlass, den die 185 BA, DSP-WBV vom 1. März 1926. 186 ÖVW, Aus der Woche, 28. März 1925, S. 700 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 76.843/1926.
236
Die goldenen 20er-Jahre
Creditanstalt, die Anglobank und der Bankverein im Jahr 1924 den Daimlerwerken an Zinsforderungen gewähren mussten, jeweils 50 %187. Je länger der Zustand der unerträglich hohen Zinsbelastung der Industrieunternehmen andauerte, in desto größerem Ausmaß errichteten die Banken in ihren Bilanzen ein System von Fiktionen, um die Abschreibungserfordernisse zu reduzieren bzw. auf erhoffte bessere Zeiten zu verschieben. Eine dieser bilanztechnischen »Notoperationen« bestand in der Einführung der sogenannten »bedingten Nachlässe« und der Erfindung der »Besserungsscheine« im Jahr 1928. Es handelte sich dabei um temporäre Zinsreduktionen und -nachlässe mit der Auflage, die gestundeten Beträge später (bei gutem Geschäftsgang) nachzuzahlen. Die »bedingten Nachlässe«, die einer der Bankdirektoren rückblickend als eine unübliche Art der Bilanzführung mit »starken Schönheitsfehlern« bezeichnete188, erreichten bei der Creditanstalt 1928 immerhin 11 Mio. Schilling oder mehr als 20 % der Zins- und Provisionseinnahmen189. Der folgende Auszug aus dem Bericht der Direktion des Bankverein über das erste Halbjahr 1926 mutet angesichts des soeben geschilderten Sachverhalts wie eine Selbstkritik an. »Angesichts des Zurückgehens der Bilanzsumme und der Umsätze«, heißt es dort, »sowie der Steigerung der Spesen und Gehalte [gegenüber 1913, d. Verf.] mußten […] die Banken ihre Konditionen für die Kundschaft gegenüber der Vorkriegszeit bedeutend erhöhen, um aus der größeren Spannung zwischen Kredit- und Debetzinsen und aus den höheren Ansätzen für die verschiedenen Arten von Provisionen die erforderlichen Beträge ins Verdienen zu bringen. Die Notwendigkeit der Deckung der Selbstauslagen hat aber auf dem Gebiet der Konditionen bewirkt, daß die österreichischen Banken gezwungen waren, diese Konditionenerhöhung in einem solchen Ausmaße vorzunehmen, daß dadurch die Leistungsfähigkeit mancher Kunden überschritten wurde.«190
Im Geschäftsbericht derselben Bank für das Jahr 1927 wurde dieser Gedanke noch weiter akzentuiert. In Österreich, heißt es dort, sei »das Verhältnis zwischen Banken und Industrie ein so enges, daß eine Förderung derselben sehr stark auch von der Unterstützung und dem Entgegenkommen der Banken abhängig ist ; die Geldinstitute müssen also im Interesse einer Erstarkung der ihnen nahestehenden Unter187 BA, DSP-WBV vom 20. April 1925. 188 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 9 : Vernehmung Direktor Otto Deutsch. 189 Ebenda, OZ 566 : Bilanzfragen 1928. 190 BA, ARP-WBV vom 19. Oktober 1926, Bilanzbericht der Direktion für das 1. Halbjahr 1926 (Herv. v. Verf.).
237
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
nehmungen durch Herabsetzung ihrer Konditionen Opfer bringen, deren Früchte sie erst nach längerer Zeit, wenn überhaupt, in Form erhöhter Umsätze und Gewinne in allen Zweigen des Bankgeschäfts werden ernten können.«191
Trotz aller guten Vorsätze seitens der Banken erfuhr jedoch die eminent hohe Spanne zwischen Einlagezinsen und Debetkonditionen, wie aus Tabelle 60 hervorgeht, auch nach 1926 keine wesentliche Reduktion. Tabelle 60 : Einlagezinsen, Debetkonditionen (Prime Rate) und Zinsspanne in Österreich 1924–1930 (Jahresdurchschnitte) Einlagezinsfuß
Prime Rate (inkl. Provisionen)
Zinsspanne
1924
8,8–10,2
21,7
11,5–12,9
1925
8,8
19,3
10,5
1926
4,9
14,7
9,8
1927
4,2
13,5
9,3
1928
4,2
13,5
9,3
1929
4,8
14,9
10,1
1930
4,1
12,9
8,8
Quellen : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1925–1937 ; KOFO, Heft 6/1938, S. 140 und 143.
Die auf diese Weise errechnete »ideale« Zinsspanne entsprach nicht der Realität. Ein Vergleich mit der »realen« Zinsspanne der Creditanstalt für die Jahre 1925 bis 1929 zeigt, dass die tatsächlich realisierbaren Zinseinnahmen weitaus niedriger waren. Stellt man zudem noch in Rechnung, dass die ausgewiesenen Zinsengewinne der Creditanstalt aus dem laufenden Geschäft zu einem großen Teil auf der internen Aufwertung stiller Reserven beruhten192, so kommt man zu einem desillusionierenden Ergebnis (siehe Tabelle 61).
191 Geschäftsbericht des WBV für das Jahr 1927 (Herv. v. Verf.). 192 BA, NL/Stern, Stern-Gutachten.
238
Die goldenen 20er-Jahre
Tabelle 61 : Zinsspanne der Creditanstalt 1925–1929 »Ideale«
»Realistische«* Zinsspanne
»Tatsächliche«**
1925
10,5
5,6
?
1926
9,8
4,2
3,7
1927
9,3
4,4
2,9
1928
9,3
4,2
3,1
1929
10,1
3,8
2,5
* Einnahmen aus Zinsen und Provisionen in % der Debitoren. ** »Realistische« Zinsspanne nach Abzug der Aufwertungen an stillen Reserven (Effekten), die zum Gewinnausweis herangezogen wurden. Quellen : Siehe Tabelle 60 ; weiters : Geschäftsberichte der Creditanstalt 1925–1929 ; März/Weber, The Antecedents of the Austrian Financial Crash of 1931, S. 515.
Die hohe Zinsmarge war Ausdruck einer äußerst ungünstigen Kostensituation der Banken, die weder durch Personaleinsparungen noch durch Rationalisierungsmaßnahmen – etwa durch die Einführung neuer »arbeitssparender Maschinen« in der Buchhaltung193 – entscheidend verbessert werden konnte194. Denn sowohl im Passivals auch im Aktivgeschäft sahen sich die Großbanken mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, die einer durchgreifenden Besserung der Verdienstmöglichkeiten im Wege standen. Die empfindliche Reduzierung der Gewinne war, wie der Präsident der Boden-Credit-Anstalt, Rudolf Sieghart, einmal feststellte, Ausdruck einer strukturellen Veränderung des österreichischen Bankwesens. Dieses hatte »unter den Rückwirkungen des Krieges und der Inflationszeit außerordentlich gelitten. Sein Wirkungsbereich ist nicht nur territorial auf einen Bruchteil des früheren eingeschrumpft, sondern auch die Quantität und Qualität der Geschäfte erscheint wesentlich restringiert.«195
Siegharts Worte bezogen sich vor allem auf das Aktivgeschäft ; aber auch bei der Mittelaufbringung im Inland sahen sich die Großbanken einer verschärften Konkurrenz auf einem geschrumpften Markt gegenüber. Bis 1918 waren ihnen die Einlagen und Kreditoren ganz Cisleithaniens zur Verfügung gestanden. Nach dem Krieg hatten sie sich in vermehrtem Ausmaß dem Kleinkundengeschäft, insbesondere der Akquisition 193 BA, ARP-WBV vom 13. April 1928, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1927. 194 Siehe Kapitel II-7, S. 165 ff. 195 BA, VWP-BCA vom 4.November 1925.
239
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
von Sparguthaben, zugewandt196. 1923 dürften die großen Institute einen Teil ihrer Klientel an die neugegründeten Spekulationsbanken und ähnlich dubiose Institutionen, die ihre Kundschaft mit einer märchenhaften Verzinsung anzulocken verstanden, verloren haben. Nach der Börsenderoute vom Frühjahr 1924 und den ersten Bankzusammenbrüchen fand ein beträchtlicher Teil der Ersparnisse den Weg zurück zu den Großbanken. Die Creditanstalt vermochte z. B. ihre Spareinlagen im Lauf des Jahres von 1,6 auf 19,6 Mio. Schilling zu erhöhen, was einer Verzwölffachung entsprach197. Tabelle 62 : Anteil der Banken und Sparkassen* an den Spareinlagen 1924–1929 Banken
Sparkassen
Mio. S
%
Mio. S
Gesamt %
Mio. S
Jän. 1924
27,1
43,4
35,3
56,6
62,4
Dez. 1924
70,8
32,2
149,2
67,8
220,0
Dez. 1925
174,1
32,6
360,4
67,4
534,5
Dez. 1927
367,3
35,5
667,7
64,5
1.035,0
Dez. 1929
506,5
35,3
928,5
64,7
1.435,0
* Banken = Wiener Großbanken (1924 : 9 ; 1929 : 5) Sparkassen = Wiener Sparkassen, Sparkassen in den Landeshauptstädten, Wiener Konsumgenossenschaften, Dorotheum, Niederösterreichische Landes-Hypotheken-Anstalt. Quelle : Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1924–1929/30.
Auf der anderen Seite erwuchs den Banken in den großen kommunalen Sparkassen (wie der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien) ein scharfer Konkurrent um die Ersparnisse des kleinen Mannes. Wie Tabelle 62 zeigt, konnten die Sparkassen (inkl. des Dorotheums, das 1924 das Einlagengeschäft aufnahm) ihren Anteil an den gesamten Spareinlagen beträchtlich erhöhen. Bis 1929 gelang es den Banken nicht, das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Die Spareinlagen flossen ihnen so nur auf einem indirekten Weg in Form von langfristig gebundenen Großeinlagen der Sparkassen zu, die unter den Kreditoren verbucht wurden198. Dennoch hatten die Großbanken zu Ende der 20er-Jahre 196 Siehe Kapitel II-5, S. 89 ff. 197 ÖVW, Die Bilanzen, 13. Juni 1925, S. 281. 198 Zusätzlich verteuernd wirkte der Umstand, dass sich die Banken gegenseitig konkurrenzierten. So heißt es z. B. 1927 : »Die beabsichtigte Vereinbarung der BCA und der Credit-Anstalt mit den Vereinssparkassen hat die Aufmerksamkeit der übrigen Banken wachgerufen. Die Escompte-Gesellschaft wollte sich durchaus eindrängen und da ihr die beiden Banken dies abgelehnt haben, so hat sie nunmehr im Verein mit dem Wr. Bankverein und mit der Länderbank eine Gegenofferte an den
240
Die goldenen 20er-Jahre
einen weitaus größeren Teil der Spareinlagen an sich gezogen als vor dem Ersten Weltkrieg. 1913 machte der Anteil der Großbanken (in deren Zahlen die Sparguthaben aller cisleithanischen Filialen enthalten waren) an den Sparguthaben im Gebiet der späteren Republik Österreich 26,6 % aus, war daher vermutlich noch beträchtlich niedriger199. Das Anschwellen der Spareinlagen – so positiv es als Symptom des wiederkehrenden Vertrauens in den Kreditapparat und der Abwendung von der Börsenspekulation war – wies auch eine beunruhigende Komponente auf. Die vermehrte Spartätigkeit war – insbesondere in den Jahren 1925 und 1926 – nur ein anderer Ausdruck für die mangelnde Anlagebereitschaft und Investitionslust weiter Kreise der Bevölkerung, die der sicheren (und höheren) Verzinsung des Sparbuchs den Vorzug gab. Friedrich Hertz hat errechnet, dass der jährliche Zuwachs an Spareinlagen bei den österreichischen Sparkassen in den Jahren 1903 bis 1913 durchschnittlich 136 Mio. Schilling betrug ; in den Jahren 1924 bis 1927 machte er hingegen 247 Mio. pro Jahr aus. Hertz kommentierte diese Zahlen mit den Worten, dass dies »offenbar […] sehr mit dem Mangel anderer Anlagemöglichkeiten zusammen[hängt]«200. Es dürfte aber nicht so sehr der Mangel an Anlagemöglichkeiten beim Verhalten der Sparer den Ausschlag gegeben haben, als vielmehr die Frage der Verzinsung : Schon 1925 war es lukrativer, sein Geld auf die Bank zu tragen, als es in Aktien anzulegen201. Aber selbst im Konjunkturjahr 1929 waren die Einlagezinsen um das Dreifache höher als die durchschnittliche Rendite der an der Wiener Börse notierten österreichischen Aktien202. Die Scheu vor der Aktie – als Reaktion auf den Börsenkrach des Jahres 1924 und die weiterhin ungünstigen Zukunftsaussichten der österreichischen Industrie – schlug sich bei den Großbanken in Form äußerst niedriger Gewinne aus dem Effekten- und Konsortialgeschäft nieder, die selbst in den guten Konjunkturjahren 1927 bis 1929 keine durchgreifende Wendung zum Besseren zeigten. Besonders krass war der Rückgang der Umsätze im Effektengeschäft im Jahr 1925 : Er betrug beim Wiener Bankverein zum Beispiel (gegenüber 1924) 22 %203. Aus der Unzahl von Klagen über den Zustand der Börse seien folgende Sätze aus dem Bilanzbericht der Direktion des Bankverein für das erste Semester 1928 angeführt. Reichsverband der Vereinssparkassen eingereicht und die Konditionen der beiden erstgenannten Banken unterboten. Die BCA und die Credit-Anstalt haben beschlossen, mit den übrigen Banken in keine Vereinbarungen einzutreten, sondern die bisher gemachten Konditionen etwas zu verbessern.« BA, VSP-BCA vom 23. April 1927. 199 Berechnet nach Hertz, Kapitalbildung, Kapitalbedarf und Volkseinkommen in Österreich, S. 69 f. 200 Ebenda, S. 79. 201 Layton/Rist, S. 89. 202 WIFO, Heft 1–2/1945, S. 41. 203 BA, DSP-WBV vom 4.Jänner 1926.
241
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
»Besonders ungünstig aber«, heißt es dort, »wirkte die Gestaltung des Börsengeschäftes sich aus, das im ersten Halbjahr 1928 mehr noch als früher darniederlag. […] Das Brachliegen eines einstmals so wichtigen Zweiges der bankgeschäftlichen Tätigkeit bei gleichzeitiger Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des dafür geschaffenen Apparates ist nebst den […] Regiefaktoren einer der Hauptgründe für die Unmöglichkeit, ein angemessenes Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben herbeizuführen.«204
Boden-Credit-Anstalt und Escompte-Gesellschaft wiesen die Gewinne aus dem Effektengeschäft pauschal mit jenen des Devisengeschäfts und den Provisionseinnahmen aus ; lediglich die Creditanstalt und der Wiener Bankverein führten die Gewinne aus Effekten- und Konsortialgeschäften gesondert an ; der Bankverein hatte in seinem Erfolgskonto sogar eine Rubrik »Gewinne aus Wertpapieren«. Tabelle 63 zeigt die ungünstige Entwicklung dieser Gewinnkonti in den 20er-Jahren im Vergleich mit den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Banken vor 1914 nur einen Teil der verdienten Beträge tatsächlich offenlegten, während sie in der Zwischenkriegszeit, wie bereits an anderer Stelle angedeutet205, sogar stille Reserven zur Gewinnausschüttung heranziehen mussten. Tabelle 63 : Effektengewinne der Creditanstalt und des Wiener Bankverein 1910/1913 bis 1929 (in Mio. S) Bankverein*
Credit anstalt**
BV + CA Zusammen
1910/13
2,9
(4,4)
12,4
15,3
(16,8)
1923
3,2
(6,7)
8,8
12,0
(15,5)
1924
1,8
(5,8)
3,2
5,0
(9,0)
1925
1,0
(3,5)
2,0
3,0
(5,5)
1926
1,2
(3,9)
4,0
4,2
(6,7)
1927
2,7
(5,6)
5,2
7,9
(9,8)
1928
2,0
(4,3)
4,3
6,3
(9,1)
1929
0,8
(3,0)
3,0
3,8
(6,0)
* 1. Wert = Gewinne aus Wertpapieren. Wert in Klammern = 1. Wert plus Gewinne aus Konsortialgeschäften. ** Gewinne aus Effekten, Konsortialgeschäften und Kommanditen. Quellen : Geschäftsberichte der CA und des WBV.
204 BA, ARP-WBV vom 2. Oktober 1928, Bilanzbericht der Direktion für das 1. Halbjahr 1928. 205 Vgl. Kapitel II-5, S. 112 ff.
242
Die goldenen 20er-Jahre
Die Stagnation der Börse – die im allgemeinen Kursindex nicht getreu zum Ausdruck kam, weil 1927/28 vor allem die ausländischen Wertpapiere im Kurs stiegen, wohingegen die österreichischen Aktien weiterhin pessimistisch bewertet wurden – hatte für die Banken zwei negative Auswirkungen. Wie bereits vermerkt, hatten die Banken in der Inflationszeit Wertpapiere gehortet, in der Hoffnung, diese später wieder mit Gewinn veräußern zu können. Auch die Goldbilanzen wurden – trotz des 1924 eingetretenen Kurssturzes und der dadurch notwendig gewordenen großen Stützungskäufe – noch immer unter dieser optimistischen Prämisse aufgestellt206. Die Goldbilanzen waren, so betrachtet, wenig mehr als ein Wechsel auf eine glückliche ökonomische Zukunft, die – wie wir heute wissen – sich nicht einstellen sollte. Da die Aktien, die die Großbanken im Portefeuille hielten, weder beim inländischen Publikum noch im Ausland Anklang fanden, stieg der Grad der Immobilisierung der Banken (siehe Tabelle 64), während zur gleichen Zeit die Gefahr der Entwertung der von den Banken gehaltenen Effekten bestände wuchs. Tabelle 64 : Effekten- und Konsortialbestände 1913–1929 (in % des Eigenkapitals* 1913
Goldbilanz
1926
1927
1928
1929
CA
54
89
83
70
93
76+
BCA
20*
117
135
90
89
–
WBV
49
49
52
50
74
85
NEG
57
71
72
80
84
86
Alle 4
45
80
83
72
86
81+
* Aktienkapital und offene Reserven. + Von der BCA übernommene Effekten nicht berücksichtigt. Quellen : Geschäftsberichte der vier Großbanken.
Aber nicht bloß alte Aktien waren an der Wiener Börse nicht an den Mann zu bringen ; auch Neuemissionen konnten nur in den seltensten Fällen gewagt werden, da sich die Börse als nicht aufnahmefähig erwies (siehe Tabelle 65).
206 Siehe Kernbauer/Weber, Die Wiener Großbanken in der Zeit der Kriegs- und Nachkriegsinflation, sowie Weber, Große Hoffnungen und k(l)eine Erfolge.
243
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Tabelle 65 : Kapitalerhöhungen und Neugründungen österreichischer Aktiengesellschaften 1903/1913 sowie 1925–1929 (Nominalkapital, in Mio. S)
ø 1903–13 1925
Gesamtsumme
Gesamtsumme ohne Kapitalerhöhungen der Banken
144,0*
108,5
32,8
32,0
1926
32,5
16,3
1927
115,4
39,0
1928
123,8
121,5
1929
91,3
45,0
* Schätzung von Friedrich Hertz. Quellen : Compass, Jg. 1915 und 1932, 1. Bd. ; Die Gründungstätigkeit seit 4. Juni 1925, in : WBK, 5. August 1929 ; Hertz, Kapitalbedarf, S. 74 ; Reik, S. 63 f ; Rutkowski, S. 73.
Die wenigen Kapitalerhöhungen, die in der Periode 1925 bis 1929 möglich waren, bedeuteten im Allgemeinen die Umwandlung von Krediten, welche die Banken den Industrieunternehmen vorgeschossen hatten, in Aktien, welche sie sodann ins Portefeuille zu nehmen gezwungen waren. So berichtete die Direktion des Wiener Bankverein, dass sich die Debitorenstände im 1. Halbjahr 1927 um 35,5 Mio. Schilling vermehrt hätten. Dieser Saldo setzte sich aus einem Zuwachs von 80 Mio. Schilling und einer Verminderung um 44,5 Mio. infolge von »Konsolidierungsoperationen«, d. h. zumindest zu einem gewissen Teil Kapitalerhöhungen von Konzernunternehmen, zusammen207. Unter den gegebenen Umständen bedeutete dieser Austausch von Aktiva (wenn wir davon ausgehen, dass die Banken die Konzernaktien im eigenen Besitz behielten) wenig mehr als die Bannung einer Gefahr (der drohenden Immobilisierung von Forderungen) durch die Heraufbeschwörung einer anderen (die Festlegung des Eigenkapitals – und darüber hinaus fremder Mittel – in Aktien). Erschwerend kam hinzu, dass in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre der Investitionsbedarf der Industrie verhältnismäßig groß war und – darüber hinaus – auch ein gewisser Teil des Betriebskapitals von den Banken zur Verfügung gestellt werden musste. Den Banken fiel so die Aufgabe zu, den erhofften Aufschwung der österreichischen Volkswirtschaft gleichsam vorzufinanzieren, indem sie Investitionskredite im Wege des Kontokorrents vergaben.
207 BA, ARP-WBV vom 3. Oktober 1927, Bilanzbericht der Direktion des WBV über das 1. Halbjahr 1927.
244
Die goldenen 20er-Jahre
Einen gewissen Eindruck von dieser Funktion vermittelt Diagramm 7, in welchem die Entwicklung der gewerblichen Produktion (Industrie und Gewerbe) und der Bankdebitoren einander gegenübergestellt sind. Daraus geht deutlich hervor, dass die Kreditvergabe der Banken dem Wachstum der Wirtschaft zum Teil beträchtlich vorauseilte. Die wichtige Funktion des Bankkredits wird durch Untersuchungen von Alois Mosser und Alice Teichova untermauert, die sich auf die Bilanzergebnisse der Industrieunternehmen stützen. Mosser kommt nämlich zu dem Ergebnis, »daß das in der Periode von 1923/24 bis 1927, in geringerem Ausmaß auch 1922 und 1928/29, für Produktionsgüter aufgewendete Geldkapital volumensmäßig die interne Kapitalbildung überschritt« und spricht von der »verstärkten Heranziehung externer Finanzierungsquellen«.208 208 Mosser, Industrielle Entwicklung und konjunkturelle Dynamik, S. 317. Mosser unterschätzt aller-
245
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Solche »externe« Finanzquellen waren vor allem beim Ausbau der österreichischen Wasserkräfte von großer Bedeutung. Bei derartigen Großprojekten schlossen sich die Banken in der Regel zu Finanzierungs-Syndikaten zusammen. In einigen Fällen gingen sie aber auch gemeinsam mit ausländischen Instituten vor oder sie betätigten sich als Vermittler bei der Auflegung von ausländischen Anleihen für die Elektrizitätsgesellschaften209. In Tabelle 66 sind die Beteiligungen der Wiener Großbanken an der österreichischen E-Wirtschaft zusammengefasst. Tabelle 66 : Beteiligungen der Wiener Großbanken an der österreichischen E-Wirtschaft (Stand Mitte 1929) Beteiligte Banken
Auslandsbeteiligung
OWEAG*
BCA + NEG + BV
Elektrobank, Zürich
TIWAG
BCA + NEG + CA
Elektrobank, Zürich Feltrinelli-Gruppe Mailand
STEWEAG
BCA + NEG + CA
Zillertaler Wasserkraftwerke AG
BCA + NEG + CA
NEWAG
NEG
Vereinigte Elektrizitäts-Gesellschaft**
NEG
KÄWAG
NEG
Plansee GmbH
BCA + NEG
* 1929 mit der Elektrizitätsfirma Stern & Hafferl zur ÖKA zusammengeschlossen. ** 1930 mit der NEG fusioniert. Quellen : Geschäftsberichte der Großbanken ; Compass, Jg. 1932.
Der Ausbau der österreichischen Wasserkräfte wurde von den Banken nicht nur im allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesse unterstützt, sondern auch aus einsichtigen »selbstsüchtigen« Motiven vorangetrieben : Jede der Großbanken war mit zumindest einem größeren Unternehmen der elektrotechnischen Industrie verbunden (siehe Tabelle 67) und daher bestrebt, ihrem jeweiligen Konzernbetrieb einen entsprechenden Anteil am Auftragsvolumen solcher Bauvorhaben zu sichern.
dings die Rolle des Bankkredits und überschätzt die Finanzierung durch Aktienemission. Ähnlich : Mosser/Teichova, S. 129 f. 209 Vgl. dazu auch März, Österreichische Bankpolitik, S. 504 ff.
246
Die goldenen 20er-Jahre
Tabelle 67 : Beteiligungen der Wiener Großbanken an der elektrotechnischen Industrie Österreichs (Stand Mitte 1929) Beteiligte Banken AEG-Union
CA + BCA
Österreichische Siemens-Schuckertwerke
CA + BCA + BV + Österreichische Eisenbahn verkehrs-Anstalt
Elin*
CA + BV
»Ericsson« Österreichische Elektrizitäts AG
CA
Österreichische Brown-Boveri-Werke
NEG
Felten & Guilleaume
NEG
Kabel- und Drahtindustrie AG
BV
* Bis 1926 auch Anglobank beteiligt. Quellen : Geschäftsberichte der Großbanken ; Compass, Jg. 1931.
Auf diese Weise kam es im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg zu einem raschen Ausbau der Wasserkraft, der nicht nur an der Zunahme der Stromerzeugung, sondern auch an der Entwicklung der Zahl und des Kapitals der Elektrizitätsunternehmen abgelesen werden kann (siehe Tabelle 68). Tabelle 68 : Anzahl und Höhe des Aktienkapitals der Unternehmen der Elektrizitätserzeugung 1918–1929 Zahl
Eingezahltes Kapital Mio. K
1918
6
41,7
1920
7
113,7
1921
9
432,7
1922
10
14.936,0
1923
17
6,6
1924
21
13,1
1925
22
19,9
1926
21
99,0
1927
22
108,0
1928
25
125,7
1929
23
160,2
Mio. S
Quelle : Compass, Jg. 1932, S. 949.
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Eine besondere Aktivität entfalteten die Boden-Credit-Anstalt und die Escompte-Gesellschaft. Die NEG orientierte sich in ihrer Geschäftspolitik im Laufe der 20er-Jahre immer stärker auf den Elektrizitätssektor. Sie nahm auch an ausländischen Projekten Anteil und vollzog 1930 sogar die Fusion mit der Vereinigten Elektrizitäts-Gesellschaft, deren Stab danach als »Abteilung für Energiewirtschaft der NÖ. Escompte-Gesellschaft« weitergeführt wurde210. Aber auch die Creditanstalt ließ gegen Ende der 20er-Jahre ein gesteigertes Interesse am Ausbau der österreichischen Wasserkräfte erkennen, das nicht bloß mit der Übernahme der BCA-Engagements infolge der Fusion vom Oktober 1929 zusammenhing, wie dem Geschäftsbericht der Anstalt für dieses Jahr entnommen werden kann : »Wir haben im abgelaufenen und auch in diesem Geschäftsjahre unsere Bemühungen zur Nutzbarmachung der heimischen Wasserkräfte fortgesetzt. Das Projekt des großen Kraftwerkes an der Donau bei Persenbeug, das wir […] gemeinsam mit dem Wiener Bank-Verein und der Schweizerischen Gesellschaft für elektrische Industrie, Basel, verfolgen, ist – den günstigen Abschluß der Verhandlungen mit den Bundesländern Wien, Niederösterreich und Oberösterreich […] und […] der Gemeinde Wien wegen des Stromabsatzes vorausgesetzt – für die Konzessionserteilung reif. […] Das Projekt der Ausnützung der Westtiroler Wasserkräfte ist gleichfalls aktuell und wird von uns und der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft behandelt. Das durch die Größe der Aufgabe besonders interessante Projekt für die Wasserkräfte der Tauern wird von allen daran interessierten Faktoren energisch bearbeitet. Wir werden nach dem bereits mit den offiziellen Stellen verhandelten Programm eine führende Stellung in der zum Ausbau des Werkes zu bildenden Gesellschaft besitzen.«211
Im Geschäftsbericht des Bankverein wurde ergänzend festgestellt : »Unsere gemeinsam mit der Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe und mit der Schweizerischen Gesellschaft für elektrische Industrie geführten Verhandlungen wegen der Errichtung des Donaukraftwerkes Ybbs-Persenbeug haben während des ganzen Jahres angedauert und dazu geführt, daß zunächst im Mai 1929 die Kommissionierung an Ort und Stelle beendigt und hierbei festgestellt wurde, daß aus technischen und öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkten keinerlei Einwendungen mehr gegen das Werk bestehen. Hierauf wurde im Dezember vorigen Jahres die Zustimmung der Internationalen Donaukommission zur Ausführung der Anlage erteilt und dieselbe als eine Maßnahme anerkannt, welche die Groß-Schiffahrt zu fördern geeignet ist. Die Konzessionierung ist indessen noch 210 Vgl. Geschäftsbericht der NEG für das Jahr 1929, S. 24 f. und W.F., Escompte-Gesellschaft, S. 906 ff. 211 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1929 (Herv. im Orig.).
247
248
Die goldenen 20er-Jahre
nicht erfolgt, weil auf Grund eines Gesetzes vom Jahre 1919 die Länder Oberösterreich, Niederösterreich und Wien das Recht für sich ableiten, die Konzessionserteilung von gewissen Bedingungen abhängig zu machen, über welche die Verhandlungen noch im Zuge sind. Wegen des Stromabsatzes werden Verhandlungen mit dem Elektrizitätswerke der Gemeinde Wien und mit der Newag gepflogen. Die Durchführung dieses großen Werkes mit einem Investitionsaufwande von rund 150 Millionen Schilling wäre berufen, in besonderem Maße zur Linderung der österreichischen Wirtschaftskrise beizutragen.«212
Der mit der Weltwirtschaftskrise verbundene drastische Rückgang der Nachfrage nach elektrischer Energie und die Krise der Bank selbst machten jedoch alle diese Pläne zunichte. Erst nach dem »Anschluß« an Deutschland im Jahr 1938 erlebte der Ausbau der weißen Energie einen neuen Aufschwung, der sich auch nach 1945 fortsetzte. Die »Wasserkräfte der Tauern« wurden schließlich – man denke nur an das Kraftwerk Kaprun – geradezu zu einem Symbol des Wiederaufbaues nach 1945. Die verstärkte Inanspruchnahme der Banken durch die Industrie kam in der Steigerung der Summe der Bankdebitoren von 1,4 Mrd. Schilling (1923) auf über 2,7 Mrd. im Jahre 1929 zum Ausdruck. Dies entsprach einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme von 11,7 %, wobei die Steigerung bei den Wiener Großbanken bedeutend größer war (14,6 %) und bei den »Big Four« (ab Herbst 1929 »Three«) – als Folge der Aufnahme anderer Institute im Fusionsweg – mit 21,9 % noch höher ausfiel. Die zunehmende Konzentration der Kreditvergabe bei den Großbanken kann Tabelle 69 entnommen werden. Tabelle 69 : Bankdebitoren 1923 und 1929 (in Mio. S) 1923 Mio.
Anteil in %
1929 Mio.
Anteil in %
Steigerung in %
Großbanken*
1.111
78,9
2.521
92,3
126,9
BIG 4(3)**
685
48,9
2.262
82,8
228,3
Banken insgesamt
1.408
2.731
93,6
* CA, BV, BCA, NEG, Mercur-, Union-, Verkehrsbank ; Wiener Filialen der Anglo- und Länderbank. ** CA, BV, NEG, BCA. 1929 ohne BCA, aber inkl. der Debitoren, welche die Creditanstalt von der BCA übernommen hatte. Quelle : Compass, Jg. 1925 und 1931.
212 Geschäftsbericht des WBV für das Jahr 1929 (Herv. v. Verf.).
249
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Der Zuwachs verteilte sich allerdings – wie Tabelle 70 zeigt – auf die einzelnen Banken und die einzelnen Jahre sehr verschieden. Es ist dabei zu beachten, dass die Ziffern der Tabelle fusionsbereinigt sind. Tabelle 70 : Jährliche Veränderung der Debitorenstände der Großbanken 1923–1929 (in %) 1923/24
1924/251
1925/26
1926/27
1927/28
1928/29
77,2
30,8
22,3
12,9
9,2
14,2b
BCA
31,4*
33,0**
26,8
1,9
–14,43
4
3,2
CA
2
a
–2,5c
BV
8,2
15,5
23,4
20,3
6,9
NEG
27,7
4,9
5,0
4,4
8,5
10,2
9,9
31,5
13,7
9,0
–
–
–
–
–
–
–
–
–
Länderbank
60,8
26,3
Anglobank
8,1
–29,85
Unionbank
26,0
3,8
Verkehrsbank
9,5
–25,7
7,3
Mercurbank
42,4
15,1
–1,0
–9,2
16,9
7,7
Alle 9 Großbanken6
36,0
14,7
13,6
8,7
5,9
6,1
BIG 4(3)
46,2
24,5
31,6
23,7
4,9
5,8
* Unter Eliminierung des bei der BCA abgewickelten Abrechnungsverkehrs des Depositenbank-Stützungssyndikats. Nomineller Wert wäre : 74,3 %. ** Unter der Annahme, dass das Depositenbank-Geschäft bereits abgerechnet war und dass anlässlich der Goldbilanzerstellung keine Abschreibung daran vorgenommen wurde. Nomineller Wert wäre : 0,8 %. l Differenz Goldbilanz – Bilanz 1925. 2 Fusionsbereinigt. 3 470 Mio. S Debitoren, die von der CA übernommen wurden. 4 Auswirkungen der Umwandlung der jugoslawischen Filialen in eine eigene AG eliminiert. Ohne diese Korrektur ergäbe sich ein Wert von –3,7 %. Der BV spricht (Halbjahresbilanzbericht 1928) von einem »effektiven« Zuwachs von 21,7 %, da 1927 eine Reihe transitorischer Posten im Zusammenhang mit der Anleihe der Gemeinde Wien verbucht gewesen seien. 5 Nach den Angaben der Anglobank in ÖStA/AdR/BMF, Zl. 34064/1925. 6 Ab 1926 acht, ab 1927 sechs, ab 1929 fünf Banken. a) Steigerung gegenüber der gemeinsamen Debitorensumme von CA und Anglobank 1925 = 13,5 %. b) Steigerung gegenüber der gemeinsamen Debitorensumme CA und BCA 1928 = 5,4 %. c) Berechnet als Steigerung gegenüber der gemeinsamen Debitorensumme von BCA, Unionund Verkehrsbank 1926.
250
Die goldenen 20er-Jahre
Während die Steigerungsrate der Creditanstalt-Debitoren sogar ohne Berücksichtigung der Fusionszuwächse in allen sechs Jahren über dem Durchschnitt der Großbanken lag, überschritten die Debitoren des Wiener Bankverein und der Wiener Filiale der Zentraleuropäischen Länderbank immerhin in vier bzw. fünf von sechs Jahren diesen Mittelwert. Die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft verhielt sich anfangs vorsichtig und schlug erst in den Jahren 1928/29 einen expansiveren Kurs ein. Hingegen kam die Expansion der Boden-Credit-Anstalt bereits nach wenigen Jahren zum Stillstand, ein Umstand, der im weiteren Verlauf der Untersuchung Anlass zu detaillierteren Betrachtungen sein wird213. Auch die Schwierigkeiten der Anglobank-Filiale sowie der Union- und der Verkehrs bank, die zur Auflösung dieser Institute als selbständige Banken führten, lassen sich der Tabelle unschwer entnehmen. Einen besonders erratischen Eindruck hinterlässt die Entwicklung der Mercurbank, einer verhältnismäßig vorsichtig geführten Mittel bank, die über einen vergleichsweise kleinen Industriekonzern verfügte. Die Bank dürfte die Jahre 1926 und 1927 nur dank ihrer engen Beziehungen zur Darmstädter und Nationalbank in Berlin überlebt haben214. Die in Tabelle 70 wiedergegebenen Werte sagen nichts über die regionale Verteilung der vergebenen Kredite (Inland/Ausland) und die Verwendung für industrielle Zwecke oder über die Veranlagung in Form von Guthaben bei anderen, in der Regel ausländischen Banken aus. Im Allgemeinen ist es so gut wie unmöglich, die Daten über die Bankdebitoren zu disaggregieren. Einige Angaben aus den Bilanzberichten der Direktion des Bankverein erlauben jedoch punktuelle Einblicke, die ein gewisses Licht auf die allgemeine Entwicklung werfen. Allerdings sind die Verhältnisse des Bankverein nur cum grano salis auf die anderen Banken zu übertragen, da das Institut besonders vorsichtig und konservativ geführt wurde. Von den 194 Mio. Schilling Debitoren der Bank im Jahr 1926 entfielen 173 Mio. Schilling auf die Zentrale ; davon wiederum waren nur 82 Mio., also weniger als die Hälfte, industrielle und kommerzielle Debitoren. 65 Mio. wurden als Guthaben bei anderen Banken (in der Mehrzahl im Ausland) gehalten215. Im darauffolgenden Jahr machten die Debitoren der Zentrale 276 Mio. Schilling aus. Davon entfielen 169 Mio. (61 %) auf inländische Kunden, der Rest von 107 Mio. aufs Ausland. Die Bankguthaben betrugen 74 Mio. Schilling. Aufgrund der Kombination mit anderen Daten kann der in den Nachfolgestaaten veranlagte Teil der Debitoren auf rund 85 Mio. Schilling 213 Vgl. Kapitel IV-1, S. 327 ff. 214 Die Gerüchte um eine mögliche Fusion der Mercurbank mit anderen Instituten mögen in dem beengten Status der Bank ihre Ursache gehabt haben. Vgl. Kapitel III-5, S. 307 f. 215 BA, ARP-WBV vom 2. Mai 1927, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1926.
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
(oder rd. 30 % der Debitoren des von der Wiener Zentrale besorgten Geschäfts) geschätzt werden, wovon rund die Hälfte Guthaben bei Banken darstellten216. Dieser Wert liegt zwar beträchtlich über den Berechnungen von Desirée Verdonk, wonach von der kumulierten Summe der Kredite, die der Wiener Bankverein über den Zeitraum 1924 bis 1934 vergab, 15,2 % auf ausländische Kunden entfallen seien217. Doch ist der Widerspruch ein scheinbarer, da Verdonk in ihre Fließgrößenberechnung auch die Kreditprolongationen miteinbezogen hat, die rund ein Fünftel der Gesamtsumme ausmachten und von denen das Gros auf österreichische Kreditnehmer entfiel. Der Versuch, die alte Position im Donauraum wiederzuerringen, wird im nächsten Kapitel gesondert beschrieben werden218. Er wurde von vielen Zeitgenossen, insbesondere von sozialdemokratischer Seite, kritisiert. Man warf den Banken vor, der österreichischen Volkswirtschaft Kapital zu entziehen219. Am entschiedensten kam die Kritik an den Wiener Großbanken aber wohl im sogenannten »Steirischen Wirtschaftsprogramm« der Christlichsozialen von 1925 zum Ausdruck, zu dessen Hauptinitiatoren der damalige Finanzminister Jacob Ahrer zählte220. Ahrer trat, wie bereits an anderer Stelle vermerkt, für die Schaffung einer »nationalen Wirtschaft« ein und forderte – als einen wichtigen Schritt dazu – die sukzessive Repatriierung des von den österreichischen Banken im Ausland angelegten Kapitals : »Der Besitz unserer Banken an ausländischen Aktien bietet der inländischen Produktionstätigkeit keinerlei Stütze, im Gegenteil wird ein der österreichischen Wirtschaft schädlicher Gegensatz zwischen der bodenständigen Industrie und den Banken geschaffen. Abgesehen von dem großen Portefeuillebesitz an ausländischen Beteiligungen, fließen aber auch bedeutende Kapitalien der Banken in Form von Krediten jenen ausländischen Unternehmungen zu, an welchen sie interessiert sind, und stärken demnach Produktionsstätten, welche im Wege des Dumpings nicht nur unsere industriellen Exporte, sondern auch die heimische Absatzbasis unserer Industrie verringern und eine lukrative inländische Produktionstätigkeit lähmen. Infolge des Überwiegens ausländischer Interessen fehlt den Banken der Wille, für eine österreichische nationale Wirtschaft einzustehen.«221 216 BA, ARP-WBV vom 13. April 1928, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1927 und DSP-WBV vom 4. Jänner 1928. 217 Verdonk, S. 7. 218 Vgl. Kapitel III-4, S. 257 ff. 219 Vgl. Die Enquete über die Bankkonditionen, in : AuW, 15. April 1923, Sp. 257 f. 220 Ahrer vermochte sich aber gegen den »bankenfreundlichen« Flügel der Wiener Christlichsozialen um Ignaz Seipel und Viktor Kienböck nicht durchzusetzen. Vgl. Kapitel III-1, S. 188 ff. 221 ÖStA/HHStA, Schüller-Faszikel, S. 28.
251
252
Die goldenen 20er-Jahre
Die Banken rechtfertigten sich gegenüber diesen Vorwürfen mit dem Argument, dass sie aus Mangel an gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten in Österreich den Weg ins Ausland suchen müssten. So heißt es anlässlich einer Bilanzbesprechung der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft lapidar : »Bei den geringen Möglichkeiten, die das österreichische Geschäft bietet, müssen die Wiener Banken ihre Mittlerstellung zwischen Ost und West auszubauen versuchen.«222
Selbst Walther Federn, mit dessen bankenkritischer Haltung der Leser bereits vertraut ist, schloss sich der Argumentation der Bankiers an, indem er ein äußerst pessimistisches Bild der Lage im Inland zeichnete : Im Interesse der Verbilligung des österreichischen Industriekredits, meinte er, »müssen sie [die Banken, d. Verf.] das internationale Geschäft pflegen«. Denn die »Kreditvermittlung zwischen West und Ost« trage »nicht wenig« zu den Erträgen der Banken bei. Hingegen sei das inländische Kreditgeschäft »nicht ertragreich«, die gewährten Industriekredite »oft eher zu hoch als zu niedrig«. Man müsse es daher begrüßen, »daß die Banken bestrebt sind, ihre Interessen im Ausland nicht abzubauen, sondern zu vermehren«223. Eine wichtige Voraussetzung für die Wiederaufnahme der transnationalen Funktion der Großbanken bildete die Aufstockung der durch Inflation und Verlust der ausländischen Filialen arg geschrumpften eigenen und fremden Mittel. In einem noch viel größerem Ausmaß als bei den Spareinlagen schlug sich das Misstrauen gegen die kleinen Banken bzw. das Verschwinden einer großen Zahl von Kreditinstitutionen in einem Zustrom von Kreditoren zu den Großbanken nieder224. Nicht zufällig wurde für das erste Halbjahr 1925 von »in reichlichem Ausmaße neu zugeflossenen fremden Geldern« berichtet225. Der Konzentration der Debitoren bei den Großbanken im Verlauf der zweiten Hälfte der 20er-Jahre entsprach also eine ähnliche Entwicklung auf der Kreditorenseite (siehe Tabelle 71), wobei wir (aus Mangel an Information über den Stand der Kreditoren der Boden-Credit-Anstalt zum Zeitpunkt der Übernahme durch die Creditanstalt das Jahr 1928 als Vergleichsbasis heranziehen müssen. Ein verhältnismäßig großer Teil der neu zufließenden Gelder bestand aus kurzfristigen Termineinlagen des Auslandes, die den Großbanken insbesondere in den Jahren 222 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1928, S. 332. 223 Federn, Die Wiener Großbanken, S. 824. 224 Vgl. die diversen Bilanzbesprechungen im ÖVW in den Monaten April/Mai 1925, S. 257 ff. und 280 ff. 225 BA, ARP-WBV vom 5. Oktober 1925, Bilanzbericht der Direktion für das 1. Halbjahr 1925.
253
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
1925 bis 1928 reichlich zur Verfügung standen226. Die Auslandskredite erfüllten die Funktion einer Senkung des Diskontsatzes ; sie verbilligten die Mittelaufbringung der Banken und ermöglichten so die kontinuierliche Ermäßigung der Kreditkosten der Industrie. Tabelle 71 : Bankkreditoren 1923 und 1928 1923 Mio.
1928 Anteil in %
Mio.
Anteil in %
Summe
1.098
–
3.090
–
BIG 4*
727
66,2
2.611
84,5
* CA, BV, BCA, NEG. Quellen : Compass, Jg. 1925 und 1931 ; KOFO, Heft 6/1938, S. 138.
Das Ausmaß der hereingenommenen Gelder war wiederholt Schwankungen ausgesetzt, die nicht von einer Verknappung des Angebots herrührten, sondern vom Verhalten der Wiener Banken bestimmt waren : Sanken die Kosten der ausländischen Gelder relativ zum österreichischen Zinsniveau (wie etwa in der zweiten Hälfte 1927, als nach den Ereignissen des 15. Juli die Bankrate erhöht wurde), so stieg die kurzfristige Verschuldung gegenüber dem Westen. Verteuerten sich die Kapitalimporte (wie im ersten Halbjahr 1928, als wegen der Börsenhausse in den USA die Zinsen für Dollarkredite anzogen), so zahlten die Wiener Banken Kredite zurück oder versuchten auf billigere Fremdwährungskredite auszuweichen227. 1928 wurden z. B. in vermehrtem Ausmaß Franc-Kredite in Anspruch genommen. So stiegen die Remboursverpflichtungen des Bankverein in französischen Franc von null (Juni 1928) auf 30,9 Mio. (31. Dezember 1928) und erreichten im August 1929 mit 40,6 Mio. Franc ihren Höhepunkt228. Bedingt durch die große Nachfrage – auch die deutschen Banken traten als Kreditsucher auf dem Pariser Markt auf ; die Deutsche Bank hatte sich beispielsweise bis zum November 1928 350 Mio. Franc Rembourskredite verschafft – zogen aber auch in Frankreich die Geldsätze an229. Obwohl gesicherte Daten fehlen, kann man davon ausgehen, dass in den Jahren 1924 bis 1929 im Durchschnitt ein Drittel der Kreditoren der Wiener Großbanken 226 Vgl. BA, ARP-WBV vom 13. April 1928, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1927. 227 Hinweise darauf finden sich in den Halbjahresbilanzberichten der Direktion des WBV für 1927 und 1928. BA, ARP-WBV vom 3. Oktober 1927 und 2. Oktober 1928. 228 BA, DSP-WBV vom 18. Mai 1928, 4. Jänner und 28. August 1929. 229 BA, VSP-BCA vom 26. November 1928.
254
Die goldenen 20er-Jahre
aus Einlagen westlicher Geldinstitute stammten230. In Deutschland dürfte der Anteil der Auslandskredite noch größer gewesen sein. Er stieg von etwa einem Drittel im Jahr 1925 auf rund 38 % (1929) an231. Die ständige Steigerung der fremden Mittel machte – angesichts der Tatsache, dass das Verhältnis von fremden zu den eigenen Mitteln von vornherein bei allen Banken ein ungünstiges war – auch eine Stärkung der Eigenkapitalbasis notwendig. Bei der Creditanstalt und der Boden-Credit-Anstalt ergab sich diese Notwendigkeit aus der Fusion mit der Wiener Filiale der Anglo-Austrian Bank (1926) bzw. mit der Union- und der Verkehrsbank im Frühjahr 1927232. Darüber hinaus stand die Stärkung der Eigenmittel bei allen Großbanken in einem inneren Zusammenhang mit der beabsichtigten (oder bereits in Gang befindlichen) Expansion im Donauraum233. In Tabelle 72 sind sämtliche Kapitalerhöhungen des Zeitraums 1926 bis 1929 (mit Ausnahme der gesondert dargestellten Fusion Creditanstalt – Boden-Credit-Anstalt im Herbst 1929) zusammengefasst. Tabelle 72 : Kapitalerhöhungen der Wiener Großbanken 1926–1929 (ohne Fusion CA-BCA im Herbst 1929) Nominalbetrag d. KE in Mio. S
Anzahl d. neuen Aktien
1926
15
1927
20
BV
1927
BCA NEG
CA
Davon an ausländ. Banken
Name der ausländischen Bank
375.000
215.400
Anglo-Austrian Ltd., London
500.000
370.000
Goldmann, Sachs & Co., New York ; International Acceptance Bank, N.Y
15
750.000
500.000 250.000
Dillon, Read & Co, N.Y. ; Soc. Générale de Belgique, Brüssel ; Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft, Berlin ; Banque Belge pour l’Étranger, Brüssel ; Basler Handelsbank
1927 1928
15 10
300.000 200.000
60.000
Union Européenne Industrielle et Financière
1929
1.562
15.625*
–
–
* Umwandlung von Reserven in Aktienkapital. Quellen : Geschäftsberichte der Banken ; Compass, Jg. 1931. 230 Vgl. Kapitel III-4, S. 265 ff. 231 ÖVW, Die Bilanzen, 13. April 1925, S. 309 ; Born, Die deutsche Bankenkrise 1931, S. 20. 232 Vgl. Kapitel III-4, S. 300 ff. 233 Vgl. Kapitel III-4, S. 278 ff.
Das österreichische Bankwesen 1924–1929. Allgemeine Entwicklung
Die Tendenz zur Internationalisierung des Wiener Bankwesens, die bereits in den ersten Nachkriegsjahren mit der Übernahme großer Aktienpakete durch westliche Banken begonnen hatte, setzte sich also auch in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre unvermindert fort. 1923 hatte der Auslandsanteil am Aktienkapital der Groß- und Mittelbanken, wie erinnerlich, 30,5 % betragen. In welchem Ausmaß sich diese Quote bis zum Jahr 1929 erhöhte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, da nicht bekannt ist, ob die ausländischen Aktionäre der »frühen« Phase ihre Beteiligungen aufrechterhielten, reduzierten oder etwa zur Gänze abstießen. Man erhält jedoch den Eindruck, dass – mit Ausnahme der Boden-Credit-Anstalt, deren Direktion in Permanenz mit der festen Unterbringung frei »floatender« Aktienmassen beschäftigt war234 – die westlichen Aktionäre ihre Wiener Beteiligungen bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Portefeuille behielten. Vor der Krise der Boden-Credit-Anstalt, die sich im Frühjahr des Jahres 1929 in Form eines permanent überhöhten Refinanzierungsbedürfnisses bei der Notenbank bereits ankündigte, standen selbst so profunde Kenner der Situation am Wiener Bankplatz wie Walther Federn unter dem Eindruck einer weitgehenden Konsolidierung der Großbanken. Das österreichische Kreditwesen, meinte der Herausgeber des »Österreichischen Volkswirt« in einer Sondernummer seiner Zeitschrift, sei nach Jahren der Krise »wieder gesund«235. In einem ähnlich optimistisch gehaltenen Ton beschrieb auch Hans Puxbaum in einer vom Mitteleuropa-Institut des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages im Frühjahr 1929 herausgegebenen Broschüre den Status der Wiener Großbanken236. Die Magie der bloßen Zahlen, gepaart mit einer optimistischen Beurteilung der weltwirtschaftlichen Lage, mag diese vorschnelle Freude provoziert haben : 1928 erreichte die Bilanzsumme der Creditanstalt bereits wieder 70 % des Wertes von 1913, der Unkostenquotient der Banken wies allgemein eine sinkende Tendenz auf und das internationale Geschäft schien einer neuen Blüte entgegenzugehen. Die Liquidität der Institute zeigte eine Tendenz zum Besseren, auch wenn das Deckungsverhältnis (das Verhältnis der eigenen zu den fremden Mitteln) noch immer viel ungünstiger war als vor dem Ersten Weltkrieg (siehe Tabelle 73). Aber war das wirklich alarmierend ? Hatte sich nicht das Deckungsverhältnis in allen europäischen Ländern verschlechtert ? Felix Somary wies in seiner »Bankpolitik« zu Recht darauf hin, dass sich die Bedeutung des Eigenkapitals bei allen europäischen 234 Vgl. Kapitel IV-2, S. 338 f. 235 Federn, Die österreichischen Banken, S. 57. 236 Puxbaum, S. 14 f. und 50 f. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag war 1925 von Julius Meinl initiiert worden, um die Diskussion um den »Mitteleuropa«-Gedanken auf wirtschaftlichem Gebiet wieder in Gang zu bringen. Der Institution gehörten namhafte Industrielle, Bankiers und Politiker aus Deutschland und allen Nachfolgestaaten der Monarchie an.
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256
Die goldenen 20er-Jahre
Kreditbanken vermindert hatte : In London war das Eigenkapital der Banken von 9,6 % der Bilanzsumme (1912) auf 6 % (1929) zurückgegangen, bei den fünf großen französischen Banken von 14,6 % auf 7,6 %, bei den Berliner Großbanken von 30 % auf 6,7 %, obwohl in Deutschland, wie Somary kritisch vermerkte, »sich die Illiquidität des Geschäftes eher gesteigert hat[te]«237. Somary fügte allerdings hinzu, er halte es für einen Fehler, dass die alte Bankregel, das Geschäft nicht zu sehr anwachsen zu lassen, wenn es keine Möglichkeit gibt, eigene Aktien zu placieren, fallengelassen worden sei. »Heute geht man über dieses Bedenken«, schrieb er, »leichter hinweg – ob nicht zu leicht, das mag erst eine große Krise erweisen.«238
Es ist kaum anzunehmen, dass Somary ahnte, wie nahe der Zeitpunkt der »großen Krise« bereits herangerückt war, die zu einem Bankensterben in ganz Europa führen sollte. Tabelle 73 : Deckung, Liquidität und Unkosten der Wiener Großbanken in den Jahren 1913, 1925 und 1927 (in Mio. S)
1913*
1925*
1927**
Eigenkapital (Aktienkapital und Reserven)
2.000,7
291,6
348,5
Fremdkapital (Kreditoren, Einlagen und Akzepte)
4.043,4
1.660,4
2.417,6
30 %
17,5 %
14,3 %
Deckungsverhältnis (Verhältnis des eigenen zum fremden Kapital inkl. Akzepte) Liquide Anlagen (Kasse, Portefeuille, Darlehen, Report)
1.480,5
240,5
476,1
Liquidität (Verhältnis der liquiden Anlagen zum fremden Kapital)
36 %
14 %
20 %
Unkosten (Gehalte, Spesen inkl. Steuern)
70,1
90,7
92,5
5.244,1
1.952,0
2.766,1
1,3 %
4,6 %
3,3 %
Betriebskapital (eigenes und fremdes Kapital inkl. Akzepte) Unkostenkoeffizient
* Creditanstalt, Boden-Credit-Anstalt, Bankverein, Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft, Unionbank, Verkehrsbank. ** Wie *, nur Unionbank und Verkehrsbank bereits durch Fusion von Boden-Credit-Anstalt übernommen ; Anglobank mit der Creditanstalt fusioniert. Quellen : Puxbaum, S. 16 ; Compass, Jg. 1931.
237 Somary, S. 13. 238 Ebenda, S. 14.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
Welche Kredite in welchem Ausmaß an einzelne Unternehmen vergeben worden waren, in wie hohem Maße die Banken durch ihren übergroßen Aktienbesitz immobilisiert waren und auf welche – oft bizarre – Weise die ausgewiesenen Gewinne nach oben korrigiert worden waren, konnte im Frühjahr 1929 wohl kaum jemand ahnen. Erst der Zusammenbruch der Boden-Credit-Anstalt, deren Leitung die ärgsten »Sünden« begangen hatte, machte die österreichische und die internationale Öffentlichkeit (soweit sie an den Wiener Banken interessiert war) hellhörig. Die Bestellung des ehemaligen Leiters der Budapester Anglobank-Filiale und Vertrauensmannes der Bank of England, Zoltan Hajdu, zum Vorstandsmitglied der Creditanstalt am 10. November 1929, also wenige Wochen nach der in einem wahren Feuerwehrtempo über die Bühne gebrachten Fusion mit der Boden-Credit-Anstalt239, war ein deutliches Symptom des beginnenden Misstrauens in den Zustand des Wiener Bankwesens. Was sich hinter den veröffentlichten Bilanzzahlen der Großbanken tatsächlich verbarg, wird der Leser im Verlauf der nächsten Abschnitte erfahren.
4. Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
In den ersten Jahren nach 1918 konzentrierten sich die Wiener Großbanken auf die Schaffung der organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für die künftige transnationale Orientierung – durch Anbahnung von Beziehungen zum westlichen Finanzkapital und durch Beteiligung an Instituten in den Nachfolgestaaten bzw. durch Umwandlung oder Einbringung der eigenen Bankfilialen in nationale Gesellschaften. Nur selten – insbesondere im Falle der Filialen des Wiener Bankverein in Budapest und in Jugoslawien – gelang die Aufrechterhaltung direkt kontrollierbarer Stützpunkte im sogenannten »Neuausland«. Zwischen der transnationalen Konzeption und der bankpolitischen Realität der Inflationsjahre bestand jedoch ein großer Widerspruch : Die Kreditgewährung an Unternehmen außerhalb Österreichs erwies sich aufgrund der mannigfaltigen Beschränkungen des Zahlungsverkehrs im Donauraum, vor allem aber wegen des Wertverfalls der österreichischen Krone, in zunehmendem Maß als unmöglich. Einzig die Creditanstalt war in der Lage (und auch dies nur in beschränktem Umfang), ihren ausländischen Konzernunternehmen über den Umweg der 1920 gegründeten Amstelbank in Holland den nötigen finanziellen Beistand zu gewähren. Das Wiener Stammhaus selbst war – wie alle anderen österreichischen Institute – zu weitgehender Untätigkeit im Auslandsgeschäft verurteilt. Es partizipierte hauptsächlich an der Neugründung 239 LA, Prozessakte Ehrenfest, OZ 11 : Vernehmung Direktor Zoltan Hajdu.
257
258
Die goldenen 20er-Jahre
von Aktiengesellschaften bzw. an der Kapitalerhöhung von Unternehmen im Donauraum240 – eine Strategie, in der auch die allgemeine Tendenz zum Erwerb von »Sachwerten« während der Inflationsperiode zum Ausdruck kam. In den Jahren der Inflation beteiligte sich die Creditanstalt auch an Finanzinstituten im Deutschen Reich : Ende 1921 wurde die Kommanditierung der Münchner Bankfirma Schneider & Münzing vorm. Oberndörfer vom Verwaltungsrat beschlossen241. 1922 erfolgte die Gründung der Bank für auswärtigen Handel in Berlin, gemeinsam mit der Amstelbank, der Böhmischen Eskompte-Bank und Kreditanstalt und der Živnostenská banka. Die Creditanstalt erwarb 36 % des Aktienkapitals, die BEBKA zeichnete 32 %, die Živnobanka und die Amstelbank übernahmen je 16 %. Das ursprüngliche Interesse der beteiligten Banken bestand in der Schaffung eines Instituts, das sich der Devisenarbitrage widmen sollte, da solche Geschäfte in Österreich und der Tschechoslowakei wegen der strengen Devisenbestimmungen nicht möglich waren. Die Creditanstalt verband darüber hinaus mit der Bankgründung die Intention, im Falle eines »Anschlußes« Österreichs an das Deutsche Reich über einen Stützpunkt in Berlin zu verfügen242. Da aber 1923 die Devisenvorschriften auch in Deutschland verschärft wurden, vermochte die Berliner Bank den ursprünglichen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Sie widmete sich in der Folgezeit drei Hauptgeschäftszweigen : der Vergabe von Hypo thekarkrediten, der Pflege des Effektenkredits und dem laufenden Industriegeschäft. Die Creditanstalt übernahm wie die anderen Großaktionäre des Berliner Instituts Garantien bzw. Subgarantien (Rückhaftungen gegenüber der BEBKA) für verschiedene Kreditoren, die ihren Höchststand im Jahr 1929 mit rund 19,7 Mio. Schilling erreichten. Nachdem die Bank für ausländischen Handel im Gefolge der Krise des Jahres 1931 schwere Verluste erlitten hatte, trat sie Mitte der 30er-Jahre in stille Liquidation. Die Bank für auswärtigen Handel scheint niemals zur Unterstützung des ausländischen Industriekonzerns der Creditanstalt herangezogen worden zu sein. Bei der Amstelbank hingegen entfielen mehr als 90 % der Aktiva und Passiva auf Geschäfte außerhalb Hollands. Sie gewährte Kredite an Unternehmen in Österreich (z. B. an die Hirtenberger Patronenfabrik und an die Climax-Motorenwerke), in Jugoslawien, 240 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 534. 241 BA, VWP-CA vom 26. Oktober und 9. November 1921. 1923 wurde die Verbindung zur Münchner Bank wieder gelöst, ohne dass irgendwelche Transaktionen in den Protokollen der Creditanstalt Spuren hinterlassen hätten. 242 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 503 : Bericht und Gutachten Sedlak/Neumann/Letz vom 16. Mai 1935 über die Amstelbank, Bank für auswärtigen Handel, Beer Sondheimer & Co ; OZ 9 : Vernehmung Dir. a. D. Otto Deutsch ; OZ 321 : Zeugenvernehmung Direktor Franz Feilchenfeld. Auf diesen drei Quellen beruhen auch die folgenden Angaben.
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Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
Polen, Ungarn und in der Tschechoslowakei, insbesondere aber an die mit der Credit anstalt verbundenen Banken wie die Warschauer Discontobank, die Schlesische Kredit anstalt und die Agrar- und Industriebank in Belgrad243. Wir sind über die Aktivitäten der holländischen Bank allerdings nur sehr unvollständig informiert. Denn obwohl die Creditanstalt an der Bank mit fast 50 % des Aktien kapitals beteiligt war und zwei ihrer Vertrauensleute (die Direktoren Fritz Ehrenfest und Wilhelm Regendanz) Einblick in die Geschäfte der Bank hatten, ging die Amstelbank bei der Beschaffung und Veranlagung ihrer Mittel ziemlich eigenständig vor. Die Gremien der Creditanstalt diskutierten die Entwicklung der Amstelbank in den gesamten 20er-Jahren nur wenige Male, sieht man von der Besprechung einzelner gemeinsamer Transaktionen der beiden Institute ab244. Zwischen 1920 und 1929 wurde bloß vier Mal über Haftungsübernahmen der Wiener gegenüber der holländischen Bank gesprochen245. Das Ausmaß der Garantien kann der folgenden Tabelle 74 entnommen werden. Tabelle 74 : Haftungen der Creditanstalt für Kreditoren der Amstelbank 1925–1931 (in Mio. S) 17. 2.1925
52
30.10.1925
47
30. 3.1926
25
15. 6.1928
124
4. 1.1929
150
12. 4.1929
158
31. 3.1930
128
30. 9.1930
142
31.12.1930
135
31. 5.1931
108
Quellen : LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 503 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 1539/06/1931 (vorläufiger Bericht der Fa. Deloitte, Plender, Binder & Co über die von ihr bei der Österreichischen Creditanstalt für Handel und Gewerbe vorgenommene Bucheinsicht). 243 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 503 ; OZ 424 : Beantwortung des Requisitoirs vom 23. März 1933, erstattet von Fritz Ehrenfest, Lissabon ; OZ 441 : Eingabe Fritz Ehrenfest ; OZ 11 : Vernehmung Direktor Zoltan Hajdu. 244 Z. B. BA, VWP-CA vom 24. Oktober 1924 : Gemeinsamer Kredit von 100.000 Dollar an die Gandenbergersche Maschinenfabrik, VSP-CA vom 11. Dezember 1928 : 200.000-Dollar-Kredit an die Vereinigten Maschinenfabriken Zieleniewski und Fitzner-Gamper in Krakau (CA-Anteil : ein Drittel), VWP-CA vom 20. Februar 1929 : 250.000-Dollar-Kredit an die Golleschauer Zementwerke (Polen) zu je 50 %. 245 BA, VWP-CA vom 18. Februar 1925 und 15. April 1929, VSP-CA vom 30. März 1926 und 15. Juni 1928.
260
Die goldenen 20er-Jahre
Rechnet man zu diesen Beträgen noch die Außenstände der Amstelbank im Kontokorrentverkehr mit der Wiener Bank hinzu, so betrug das Engagement der Creditanstalt Ende 1928 über 171 Mio. Schilling (bei einem buchmäßigen Eigenkapital von 120 Mio.) und Ende 1930 158 Mio. (bei einem Eigenkapital von 177 Mio.). 1928, zu einem Zeitpunkt, als der französische Finanzmarkt wieder größere internationale Bedeutung erlangte (Stabilisierung des Franc und Verteuerung der amerikanischen Kredite aufgrund der Börsenhausse in den USA), versuchte die Creditanstalt auch einen Stützpunkt in Paris zu errichten : Sie beteiligte sich, zusammen mit ihren tschechoslowakischen und ungarischen Geschäftsfreunden (BEBKA und Ungarische Allgemeine Kreditbank), anlässlich einer Kapitalerhöhung an der Société de Banque pour le Commerce et l’Industrie in Paris. Deren Großaktionär wiederum, die zum Schneider-Creusot-Konzern zählende Holdinggesellschaft Union Européenne Industrielle et Financière, übernahm im Juni desselben Jahres Aktien der Creditanstalt, nachdem sich die Firma 1927 bereits an der Boden-Credit-Anstalt beteiligt hatte246. Wir haben bereits darauf verwiesen, dass die einzelnen Wiener Großbanken vom Zerfall der Monarchie bzw. der Nationalisierungswelle in den Nachfolgestaaten in unterschiedlichem Ausmaß betroffen waren. Die Boden-Credit-Anstalt, die über kein Filialnetz verfügte, hatte unter den neuen Verhältnissen im Donauraum ganz besonders zu leiden. Sie war gezwungen, das tschechoslowakische Geschäft im Sommer 1919 auf die Živnostenská banka zu übertragen. Auf der anderen Seite vermochte sie mit der Bank Malopolski in Krakau ein neues Kooperationsabkommen abzuschließen und ihre Beziehungen zu befreundeten ungarischen und jugoslawischen Banken zu intensivieren. Auch die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft, die einen ähnlich zentralisierten Betrieb wie die BCA unterhielt, begegnete solchen Schwierigkeiten. Die NEG war bis 1919 praktisch Alleinaktionär der Böhmischen Escompte-Bank (seit 1901). Nach der Umgruppierung des Jahres 1919 musste sie sich (ebenso wie die Creditanstalt) mit einem Minoritätsanteil von 22,5 % am Aktienkapital der Böhmischen Eskompte-Bank und Kreditanstalt begnügen. In Jugoslawien blieb die NEG an der Bosnischen Landesbank beteiligt. Erst im Jahr 1927, als sich eine Wende in der bis dahin flauen mitteleuropäischen Konjunktur anzukündigen schien, kam es mit dem Erwerb von Aktien der Bank Handlowy und der Banque de Varsovie (beide in Polen) zu einem erneuten Vorstoß der NEG in traditionelles Terrain247. Wie bereits erwähnt, konnte der Wiener Bankverein wohl am besten von allen Wiener Kreditinstituten seine Einflusssphäre im Donauraum durch eine geschickte Kooperation mit westlichen Bündnispartnern behaupten. Es gelang ihm auch, ebenso 246 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1928 ; Cottrell, S. 335 f. 247 NWT, 30. April 1927, S. 12 ; NFP, 13. April 1928, S. 12 f.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
wie der Creditanstalt, die ausländischen Konzernunternehmen (insbesondere in Ungarn) mit Kredit zu versorgen. Allerdings wurden die Kredite von den »neuausländischen« Filialen des Wiener Bankverein vergeben. Die Kreditgewährung ans Ausland seitens der Wiener Zentrale wurde nicht vor Mitte 1923 (und auch dann nur sehr zaghaft und vorsichtig) aufgenommen248. Die größte österreichische Bank, die Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, vermochte insbesondere polnische, jugoslawische und ungarische Firmen – zumindest in einem Minimalansprüchen genügenden Ausmaß – über die Zeit der österreichischen Inflation hinweg zu betreuen. In Ungarn ging die Kreditgewährung an verschiedene Textilfirmen, die dem Färbereien- bzw. Fezfabriken-Komplex angehörten, auch bis 1923 weiter. In Zusammenarbeit mit S.M.v.Rothschild wurde die Mineralölraffinerie Budapest finanziert, ein Unternehmen, das zum weitverzweigten Photogen-Konzern zählte, dessen administratives Zentrum in der Nachkriegszeit nach Amsterdam verlegt worden war. Auch die polnischen Zweigbetriebe der »Photogen« und andere galizische Petroleumfirmen wie die Dabrowa-Gesellschaft waren während der Inflationszeit Nutznießer größerer Kreditoperationen seitens der Creditanstalt. Andere wichtige Kreditkunden der Bank waren die Lemberger Brauerei, Polski Glob, zwei große Zementfabriken (Szczakowa und Golleschau, die beide seit langer Zeit zum Konzern der Creditanstalt gehörten) und – nicht zuletzt – Zieleniewski, die größte polnische Maschinenfabrik. Die weitaus wichtigste ausländische Kredittransaktion der Creditanstalt während der Inflationszeit betraf einen Investitionskredit an Zieleniewski, der im Frühjahr 1921 gemeinsam mit befreundeten polnischen Banken gewährt wurde. Der Kredit betrug 450 Mio. polnische Mark, von denen 63 Mio. (= 14 %) von der Wiener Bank beigesteuert wurden249. Im Gegensatz zu den Aktivitäten in den genannten drei Staaten, die einer ausgebauten finanziellen Infrastruktur ermangelten, kam es bis 1923 nur zu einer einzigen finanziellen Transaktion mit einem tschechoslowakischen Unternehmen. Die Creditanstalt erteilte gemeinsam mit der Živnostenská banka einen größeren Kredit an die Helios AG, den größten tschechischen Zündholzproduzenten250. In einer Reihe weiterer Fälle ist es schwer zu beurteilen, ob Kredite, welche die Creditanstalt an Unternehmen mit Sitz in Österreich gewährte, als »inländisch« gewertet werden können, da Firmen wie die Eisenwerke Rothau-Neudeck, die Schodnica Petroleum AG oder 248 Letzteres gilt auch für die BCA, deren erste wichtigere Kreditoperation im Ausland in den Spätsommer 1923 fiel. BA, VWP-BCA vom 24. September 1923, vgl. auch VWP-BCA vom 9. November 1923, Halbjahresbericht der Direktion der Bank für das erste Semester 1923. 249 BA, VWP-CA vom 27. Mai 1921. 250 BA, VWP-CA vom 30. März und 27. Mai 1921.
261
262
Die goldenen 20er-Jahre
gewisse Textilunternehmen wichtige bzw. die wichtigsten Produktionsstätten in den anderen Nachfolgestaaten unterhielten. Während die Wiener Großbanken bis Ende 1922 nur in der Lage gewesen waren, ihren ausländischen Konzernunternehmen ein Minimum an Kredit zur Verfügung zu stellen, war es 1923 bereits klar, dass sich eine Verhaltensänderung anbahnte, die freilich vorerst noch nicht in Form einer expansiven Kreditvergabe zum Ausdruck kam : Zu Beginn des Jahres vermochte die Boden-Credit-Anstalt, die bis zu diesem Zeitpunkt zu völliger Inaktivität im Ausland verurteilt gewesen war, ein neues Arrangement mit der Živnostenská banka betreffend die Finanzierung der Mautner-Textilwerke zu erreichen. Der Mautner-Konzern zählte zu den bedeutendsten Textilproduzenten des Donauraums. Er musste nach 1918 in seine einzelnen nationalen (tschechoslowakischen, ungarischen, jugoslawischen und österreichischen) Bestandteile aufgelöst werden, wobei die tschechischen Werke das wichtigste Aktivum des Konzerns bildeten. Gemäß dem neuen Übereinkommen von 1923 war die Boden-Credit-Anstalt künftig wieder mit einer Quote von 50 % als gleichberechtigter Partner der Živnobanka an der Finanzierung der tschechoslowakischen Mautner AG beteiligt251. Ein weiteres Symptom für die geänderte Haltung des Wiener Finanzkapitals war das Abkommen über den Eintritt der Creditanstalt in die Verwaltung der Rumänischen Kreditbank vom Sommer 1923. Die Creditanstalt übernahm dabei die frühere Quote der Anglobank. Dieses Engagement beinhaltete auch die Bereitstellung von 500.000 Dollar, über welche die rumänische Bank frei disponieren konnte252. Schließlich signalisierte ein Kredit der Creditanstalt in der Höhe von 1 Mio. Dollar an die Timber AG in Zürich, eine länderübergreifende Holz-Holdinggesellschaft, den Beginn einer neuen Ära der Expansion im Auslandsgeschäft der österreichischen Großbanken253. 1923 war nur die »Rothschildbank« zu ausländischen Transaktionen vom Ausmaß des oben erwähnten »Timber«-Kredites in der Lage. Die Vorbedingung einer expansiven Kreditpolitik im Donauraum war die Aufnahme westlicher Gelder durch die Wiener Großbanken selbst. Der Creditanstalt kam dabei von Anfang an das Renommee ihres neuen Präsidenten Louis von Rothschild zugute, welches ihr einen relativ leichten Zugang zu internationalen Kreditquellen gewährte. Im Gegensatz dazu hatten die übrigen Banken – in Anbetracht des kurzfristigen Charakters der Auslands251 BA, VWP-CA vom 16. Februar 1923. Auch an künftigen Kapitalerhöhungen der Mautnerwerke sollte die BCA im selben Verhältnis beteiligt sein. Vgl. BA, VWP-BCA vom 24. Mai 1924. 252 BA, VWP-CA vom 17. Juli und 5. September 1923. 253 BA, VWP-CA vom 12. Dezember 1923. Die Timber AG war von der Unionbank gegründet worden. 1925 waren fast alle an die Timber AG gewährten Kredite wieder zurückgezahlt und die Creditanstalt zog sich von diesem Engagement zurück. Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 21. November 1925 S. 62.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
kredite – mit dem jederzeitigen Abzug dieser Gelder zu rechnen. Sie verhielten sich daher bis zum Jahr 1925 sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, ihre Verpflichtungen gegenüber westlichen Banken zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für den Wiener Bankverein254 und die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft. Sogar die Direktion der im Allgemeinen expansiv orientierten Boden-Credit-Anstalt legte bis Mitte 1925 eine auffallende Zurückhaltung bezüglich der Hereinnahme kurzfristiger westlicher Auslandskredite an den Tag255. Erst zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich eine Wende ab, die mit einer Änderung im Aktivgeschäft korrespondierte. Der 1919 mit der Živnobanka abgeschlossene Vertrag wurde nun so interpretiert, dass das tschechoslowakische Geschäft nur für den Zeitraum abgetreten worden sei, in welchem die BCA nicht über die finanziellen Reserven verfügt habe, derartige Finanzgeschäfte selbst durchzuführen. Erstes greifbares Resultat dieser Haltung war die Beteiligung der Boden-Credit-Anstalt als gleichberechtigter Partner (zu einem Drittel) an der Kreditvergabe an die Ringhoffer-Werke in Prag, gemeinsam mit der Živnostenská banka und der BEBKA256. Obwohl die Hereinnahme ausländischer Einlagen einen essentiellen Bestandteil der österreichischen Bankstrategie seit 1918 bildete, wäre es falsch, die zunehmende kurzfristige Auslandsverschuldung der Wiener Banken in der zweiten Hälfte der 20erJahre als bloßen »pull«-Effekt zu interpretieren. Denn schon Mitte 1924 – zu einem Zeitpunkt, als die kleineren Kreditinstitute sich mit der Rückforderung ausländischer Guthaben konfrontiert sahen – sprach man in den Direktionsetagen der Großbanken von »reichlich vorliegende[n] Offerte[n] in ausländischen Währungen«257. Der Zustand einer vom Ausland alimentierten Geldflüssigkeit blieb für die gesamten 20er-Jahre charakteristisch. So berichtete z. B. im Frühjahr 1928 die Direktion des Wiener Bankverein : »[D]er Zustrom von Geldanlagen ist infolge der Zurückhaltung des Publikums von Investitionen an österreichischen Verhältnissen gemessen eher reichlich, und überdies stehen den 254 Vgl. BA, VWP-WBV vom 7. Oktober 1924, darin die diesbezüglichen Bemerkungen über das erste Semester 1924 im Bericht der Direktion über das erste Halbjahr 1924. Vgl. ferner BA, DSP-WBV vom 10. Juni 1924. 255 Dies kann indirekt den Worten des Präsidenten der Bank, Rudolf Sieghart, entnommen werden : »Was dem Lande und der Wirtschaft nottue, seien dermalen langfristige Kredite.« BA, VWP-BCA vom 24. Mai 1924. Ähnlich hieß es im Bericht der Direktion über das erste Halbjahr 1925 : »An kurzfristigen Auslandskrediten ist allerdings kein Mangel, doch hat die Industrie hiefür nur beschränkte Verwendung.« VWP-BCA vom 4. November 1925. 256 BA, VSP-BCA vom 10. Juli 1925. 257 BA, DSP-WBV vom 22. August 1924. Beispiele solcher Kreditofferte finden sich in den DSP-WBV vom 27. August und 22. September 1924.
263
264
Die goldenen 20er-Jahre
Wiener Großbanken ausländische Kredite weit über das von ihnen in Anspruch genommene Maß hinaus zur Verfügung.«258
Kein Wunder, dass manche Banken von diesen Offerten über Gebühr Gebrauch machten. Die Ursachen für das beständige Überangebot an kurzfristigen Auslandskrediten, welches manche Beobachter geradezu von einer »Aufdringlichkeit«259 der westlichen Banken sprechen ließ, sind sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite zu suchen. Im Laufe des Jahres 1924 traten – im Zusammenhang mit der Entwicklung in Deutschland (Dawes-Plan) – zum ersten Mal US-Banken als Kreditgeber auf den Plan. Ein bekannter Brüsseler Bankier machte damals die Direktion der Boden-Credit-Anstalt darauf aufmerksam, »daß die Amerikaner, welche mit Europa bisher noch wenig Kreditgeschäfte gemacht haben, nunmehr Geld nach Europa geben würden«.260
Zum anderen scheint das hohe Zinsniveau in Österreich eine unwiderstehliche Attraktivität auf jene Finanzkreise ausgeübt zu haben, die an einer dauernden Veranlagung ihrer Gelder nicht interessiert waren. Das im Vergleich zum Westen hohe Zinsniveau in Zentraleuropa wird in Tabelle 75 veranschaulicht. Tabelle 75 : Vergleich der Bankrate in England, Deutschland und Österreich 1924–1931 (Jahresdurchschnitte) England
Deutschland
Österreich
1924
4,0
10,0
11,6
1925
4,6
9,2
10,9
1926
5,0
6,7
7,5
1927
4,7
5,8
6,3
1928
4,5
7,0
6,3
1929
5,5
7,1
7,4
1930
3,4
4,9
5,7
1931
4,0
6,9
7,2
Quellen : Compass, Jg. 1936, S. 271 ; Moggridge, S. 226 ; Hardach, S. 570 ; KOFO, Heft 6/1938, S. 140. 258 BA, ARP-WBV vom 13. April 1928, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1927 (Herv. v. Verf.). 259 A-BoE, OV 28/30 : Zimmermann an Norman, 16. April 1925. 260 BA, VSP-BCA vom 17. November 1924. Die Bemerkung stammt von Direktor Emmanuel Janssen von der Mutuelle Solvay & Cie, einem der westeuropäischen Aktionäre der BCA.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
Wie angebracht die Vorsicht bei der Hereinnahme kurzfristiger Auslandsgelder war, zeigte sich immer wieder am Beispiel kleinerer Bankhäuser. So wurde z. B. dem alt angesehenen Bankhaus Theodor Kantor Anfang 1925 ein holländischer Großkredit überraschend gekündigt. Die Zahlungseinstellung der Privatbank konnte nur dank der Hilfe des Hauses Rothschild vermieden werden261. Wie bereits angedeutet, waren sich die Bankmanager der Tatsache durchaus bewusst, dass die Industrie in Österreich und im gesamten Donauraum vor allem langfristige Investitionskredite benötigte262. Doch war es nicht möglich, ausländisches Kapital in genügendem Ausmaß zur langfristigen Veranlagung in Mitteleuropa zu animieren. Darüber hinaus gewannen die Wiener Banken im Laufe des Jahres 1925 den Eindruck, dass ihnen die westlichen Depositen zwar formell kurzfristig (in Form von Drei-Monats-Geldern), de facto aber längerfristig zur Verfügung standen, da die Einlagen in der Regel nicht gekündigt, sondern zu wiederholten Malen prolongiert wurden. Über kurz oder lang gingen sie daher dazu über, diese Gelder auch längerfristig in Österreich sowie in anderen Ländern im Donauraum zu veranlagen. Im Allgemeinen sind wir über das Ausmaß der kurzfristigen Auslandsverschuldung der Wiener Banken nicht sehr genau informiert. Wir können aber zumindest den Anfangs- und den Endpunkt der Entwicklung rekonstruieren. Am Ende des Jahres 1924 betrug die gesamte Auslandsverschuldung der größten österreichischen Banken (inklusive der Kronendepositen von ausländischen Banken, die im Wege des Reports zur Verfügung gestellt wurden) schätzungsweise 370 Mio. Schilling, d. h. rund 30 % der gesamten Kreditoren263. Bis Ende 1930 war die Verschuldung auf 980 Mio. angewachsen, exklusive der 135 Mio. Schilling betragenden Garantien der Creditanstalt gegenüber der holländischen Amstelbank. Der Anteil an den Gesamtverpflichtungen (ohne Spareinlagen) war mit 30 % gegenüber 1924 stabil geblieben264. Leider verfügen wir über keine ähnlich verlässlichen Angaben für die dazwischenliegenden Jahre. Aber es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das Ausmaß der Verschuldung in den Jahren nach 1925 stärker anwuchs und dass der Anteil der ausländi261 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 27.537/1925. 262 Noch 1929 sagte der Vizepräsident der NEG, Kraßny-Krassien, über das ausländische Geldangebot dieses Jahres : »Es waren aber Gelder, die mehr oder minder nur zur kurzfristigen Anlage bestimmt sind, während unsere Wirtschaft gerade langfristige Darlehen benötigt.« Zitiert nach NFP, 16. März 1929, S. 13. 263 Grundlage der Schätzung bilden ÖStA/AdR/BMF, Zl. 76.843/1926 (eine Zusammenstellung des Bankiersverbandes über die Auslandsverpflichtungen der Banken) sowie BA, DSP-WBV vom 2. Jänner 1925 (mit detaillierten Angaben zu den Kroneneinlagen des Auslandes beim Wiener Bankverein). 264 Quelle : Wärmer, Die Auslandsverschuldung Österreichs, S. 282.
265
266
Die goldenen 20er-Jahre
schen an den gesamten Depositen zumindest in den Jahren 1927 und 1928 höher war als 30 Prozent. Tabelle 76 gibt jene Zahlen über die Auslandsverschuldung einzelner Wiener Banken wieder, die als einigermaßen gesichert gelten können. Tabelle 76 : Kurzfristige Auslandsverpflichtungen der Wiener Großbanken (nur Drei-MonatsGelder, ohne Rembourse) 1924–1932 (in Mio. S) Wiener Bankverein Dez. 1924
Boden-CreditCreditanstalt Anstalt
16
?
Nö. Esc. Gesellschaft
Summe 4 Großbanken
?
?
250 (370) 360*
Dez. 1926
37
118
?
29
Jän. 1927
35
105
?
?
Dez. 1927
54
63
?
?
340*
Dez. 1928
39
104
200
52
395
Jän. 1929
50
115 (232)
?
?
?
Juli 1929
71
73 (225)
233
?
?
Okt. 1929
73
?
197
?
Dez. 1929
56
–
(472)
95
(625)
Dez. 1930
47
–
(466)
?
(980)
Apr. 1931
65 (120)
–
(442)
?
922
?
?
( ) Gesamte Auslandsverschuldung. * Schätzung. Quellen : BA, DSP-WBV vom 4. Februar und 7. August 1929, VSP-BCA vom 31. Juli 1929, DSP-WBV vom 2. Jänner 1925 und 2. Februar 1927 sowie 16. Oktober 1929 und 5. Mai 1931, DSP-BCA vom 7. Februar 1927 ; Bilanzbesprechungen des ÖVW 1927–1930 ; LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 9 ; BA, NL/Stern, Materialien ; BHA, Geschäftsbericht der OeNB für das Jahr 1931.
Im Juli 1927 wurde die gesamte kurzfristige Auslandsverschuldung der österreichischen Banken auf 850 bis 900 Mio. Schilling geschätzt. Der Präsident der Notenbank, Richard Reisch, sprach sogar von einem Betrag von mehr als 1 Mrd.265. Im Verlauf des Jahres 1928 gingen die Verpflichtungen gegenüber dem westlichen Ausland zurück. Die Abnahme wurde auf 70 bis 80 Mio. Schilling geschätzt266. Setzt man diese Angaben zu den Gesamtkreditoren in Beziehung, so kommt man zu dem Ergebnis, dass im Sommer 1927 35 bis 45 % der Kreditoren, im September 1928 30 bis 40 % auf kurzfristige Auslandskredite entfielen. Schätzt man die Auslandsverschuldung 265 NFP, Auswirkung der Exzesse auf die Wirtschaft, 24. Juli 1927, S. 17. 266 NFP, Weitere Rückzahlung von kurzfristigen Dollarkrediten, 18. September 1928, S. 11.
267
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
Mitte 1927 auf 900, im darauffolgenden Jahr auf 800 Mio. Schilling, so scheint dies ein realitätsnahes Bild zu ergeben, wie ein Vergleich mit den Daten des Wiener Bankverein ergibt (siehe Tabelle 77). Tabelle 77 : Auslandsverschuldung des Wiener Bankverein und aller österreichischen Banken 1924–1930 (Index Dezember 1924 = 100) WBV
Gesamt
Dezember 1924
100
100
Juli 1927
250
260
August 1928
225
230
Dezember 1930
300
280
Quellen : BA, verschiedene DSP-WBV ; NFP, 24. Juli 1927 und 19. September 1928 ; Wärmer, Die Auslandsverschuldung Österreichs, S. 282.
Die Datenreihen, die aus den Kompilationen des Wiener Bankverein zusammengestellt werden können, bilden überhaupt die einzig verlässliche Quelle bezüglich der Auslandsverschuldung der Wiener Banken in den 20er-Jahren. Sie enthalten zugleich (allerdings in weniger detaillierter Form) Angaben über die Veranlagung der kurzfristigen Auslandsgelder. In den Protokollen der BCA wird nur bei wenigen Gelegenheiten auf die Höhe der ausländischen Depositen Bezug genommen267. Die Direktion der Creditanstalt hat uns kein einziges Dokument aus den 20er-Jahren hinterlassen, aus dem sich die Auslandsverschuldung der Bank rekonstruieren ließe. Die Protokolle des Bankverein wurden inzwischen auch von anderen Forschern in zweierlei Hinsicht ausgewertet : Cottrell und Stone stützen sich in ihrer Analyse der kurzfristigen Kapitalströme zwischen den USA, Westeuropa und dem Donauraum in den 20er-Jahren nicht nur auf das Archivmaterial des Wiener Bankverein, sondern auch auf Archivbestände der Londoner Bank Kleinwort Sons & Co. Das wichtigste Ergebnis ihrer in einem kurzen Aufsatz zusammengefassten Untersuchung kann in der Erkenntnis gesehen werden, dass diese Kredite – selbst wenn sie in Form von Dollarkrediten vergeben wurden – nicht von amerikanischen, sondern hauptsächlich von westeuropäischen (vor allem englischen und Schweizer) Banken an die öster reichische Bank flossen268. Nathan Marcus hingegen zeigt, dass die Schwankungen in der Höhe der von 1927 bis 1929 nach Wien gegebenen a usländischen Gelder in 267 Vgl. z. B. BA, VSP-BCA vom 7. Februar 1927 und 31. Juli 1929. 268 Siehe : Cottrell with Stone, Credits, and deposits to finance credits, S. 61 ff.
268
Die goldenen 20er-Jahre
Kurzfristige Auslandskredite des Wiener Bankverein 1924–1933
Diagramm 8:
(in öS)
__ 3-Monats-Gelder
90.000.000 80.000.000 70.000.000 60.000.000 50.000.000 40.000.000 30.000.000 20.000.000 10.000.000
15.06.1933
31.12.1932
15.09.1932
31.07.1932
31.05.1932
30.04.1932
31.12.1931
30.11.1931
31.10.1931
30.09.1931
31.08.1931
31.07.1931
01.07.1931
01.06.1931
15.04.1931
10.02.1931
15.12.1930
15.09.1930
31.03.1930
30.11.1929
30.09.1929
15.08.1929
30.06.1929
03.05.1929
31.12.1928
07.12.1928
15.09.1928
15.03.1928
15.12.1927
16.08.1927
15.06.1927
31.12.1926
15.09.1926
15.03.1926
15.09.1925
30.04.1925
28.02.1925
15.01.1925
12.12.1924
0
Quelle: ARP und DSP des WBV.
der Hauptsache nicht durch die Bewegung der Zinssätze verursacht wurden, sondern eine Reaktion auf politische Spannungen darstellten. Interessant dabei ist, dass die »Märkte«, wie man heute zu sagen pflegt, das Massaker des 15. Juli 1927 positiv bewerteten, aber durch den Rücktritt von Bundeskanzler Seipel und die Putschdrohungen der Heimwehr im Jahr 1929 in Unruhe versetzt wurden269. Aber auch aus den Statistiken des Bankverein kann kein durchgängig vollständiges Bild der Auslandsverschuldung gewonnen werden. Die Protokolle enthalten nämlich immer detailliertere Angaben über die Auslandsverpflichtungen, ohne dass ersichtlich wäre, ob und in welcher Höhe bestimmte neu angeführte Kategorien (z. B. Rembourse, Tratten) vor dem Zeitpunkt der ersten statistischen Evidenz in den Direktionsbesprechungs-Protokollen schon mitberücksichtigt worden waren. Diagramm 8 stützt sich auf die Daten betreffend die Drei-Monats-Gelder, die dem Bankverein zur Verfügung gestellt wurden. Diagramm 9 zeigt die Verteilung der hereingenommenen Gelder auf Pfundund Dollarkredite. Für die Zeit von September 1928 bis Sommer 1931 wurden die Zahlen für die gesamte kurzfristige Auslandsverschuldung der Bank (also inklusive der Verpflichtungen aus sogenannten »unechten« Rembourskrediten) berücksichtigt, d. h. von Auslandswechseln, hinter denen kein Warengeschäft stand. Deren Höhe wurde bankintern nur für diesen kurzen Zeitraum gesondert ausgewiesen (siehe Diagramm 10). 269 Marcus, Fears and Hopes in Numbers : Financial Data and the Writing of History.
Quelle: ARP und DSP des WBV.
7.000.000
5.000.000
4.000.000
3.000.000
1.000.000
15.06.1933
(in US$ und Engl. £)
31.12.1932
30.11.1931
31.10.1931
30.09.1931
31.08.1931
31.07.1931
01.07.1931
01.06.1931
15.04.1931
10.02.1931
8.000.000
15.09.1932
31.07.1932
31.05.1932
30.04.1932
31.12.1931
30.11.1931
31.10.1931
30.09.1931
(in öS)
31.08.1931
31.07.1931
15.12.1930
15.09.1930
31.03.1930
30.11.1929
30.09.1929
15.08.1929
30.06.1929
03.05.1929
31.12.1928
07.12.1928
Engl. £
01.07.1931
01.06.1931
15.04.1931
10.02.1931
15.12.1930
15.09.1930
31.03.1930
140.000.000
30.11.1929
30.09.1929
15.08.1929
30.06.1929
15.09.1928
15.03.1928
15.12.1927
16.08.1927
US$
03.05.1929
31.12.1928
07.12.1928
15.06.1927
31.12.1926
15.09.1926
15.03.1926
15.09.1925
30.04.1925
US$
15.09.1928
15.03.1928
15.12.1927
16.08.1927
15.06.1927
31.12.1926
15.09.1926
Diagramm 10:
15.03.1926
28.02.1925
15.01.1925
Diagramm 9:
15.09.1925
30.04.1925
28.02.1925
12.12.1924
0
15.01.1925
12.12.1924
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
269
Kurzfristige Auslandskredite des Wiener Bankverein 1924–1931 Engl. £
1.000.000 900.000
6.000.000 800.000
700.000 600.000
500.000
400.000
2.000.000 300.000
200.000 100.000 0
__ US$ __ Engl. £
Quelle: ARP und DSP des WBV.
Gesamte kurzfristige Auslandskredite des Wiener Bankverein 1924–1933
__ kurzfristige 3-Monats-Gelder
_ _ inkl. unechte Rembourse
120.000.000
100.000.000
80.000.000
60.000.000
40.000.000
20.000.000
0
270
Die goldenen 20er-Jahre
Die »unechten« Rembourse entsprachen in ihrer Funktion den Drei-Monats-Geldern, welche die westlichen Banken den Wiener (ebenso wie den Berliner) Großbanken zur Verfügung stellten. Schon die zeitgenössischen Beobachter haben darauf aufmerksam gemacht, dass ein beträchtlicher Teil der kurzfristigen Auslands-Verpflichtungen der zentraleuropäischen Banken in den späten 20er-Jahren auf diesen »unechten« Remboursen beruhte270. Beim Wiener Bankverein machte der Anteil dieser Kategorie im Jahr 1929 zwischen 20 und 33 % der gesamten Auslandsverschuldung aus271. Die erste Erwähnung fanden die »unechten« Remboursen in den Protokollen der Bank im Sommer 1927272. Bei der Boden-Credit-Anstalt finden sich erste Hinweise auf derartige Geschäfte im Frühjahr 1928273. Noch schwieriger als bei den Kreditoren ist es bei den Debitoren, den Anteil des Auslandsgeschäfts zu schätzen. Selbst der Oesterreichischen Nationalbank war es bis zur Bankenkrise des Jahres 1931 nicht möglich, sich einen genauen Überblick über die ausländischen Engagements der Privatbanken zu verschaffen. 1927 urgierte Notenbankpräsident Reisch die Veröffentlichung von detaillierten Zwei- oder Drei-Monats-Bilanzen durch die Kreditinstitute. Der Bankenverband beschloss jedoch, »die Veröffentlichung von 2 oder 3 Monatsbilanzen abzulehnen und sich im äußersten Falle dazu zu verstehen, Halbjahresbilanzen, jedoch nur Bilanz-Konti ohne Gewinn- und Verlust-Konti, zu veröffentlichen«.274
Einzig Direktor Heinsheimer vom Bankverein hielt die Publikation von Drei-Monats-Bilanzen (ohne Gewinnausweis) für ungefährlich. Der Widerstand gegen die Veröffentlichung von sogenannten »Zwischenbilanzen« wurde schließlich aufgegeben. Die Banken veröffentlichten ab 1927 Halbjahresbilanzen mit Gewinn- und Verlustausweisen. In einem Punkt blieben die Vertreter des Bankverbandes jedoch unnachgiebig. Sie sprachen sich vehement dagegen aus,
270 Kalveram, S. 94 f. 271 Nach dem November 1929 wurden an Stelle der Kategorien »echte und unechte Rembourse« Exportund Importtratten ausgewiesen. 272 BA, DSP-WBV vom 31. Juli 1927. Die Zahlen beziehen sich jedoch auf den Gesamtbetrag von echten und unechten Remboursen. 273 Siehe : BA, VSP-BCA vom 25. und 29. Mai 1928. 274 BA, VSP-BCA vom 1. Juni 1927. Der Vorschlag zur Publikation von Zwischenbilanzen war von Reisch zum ersten Mal im Mai 1926 ventiliert worden. Siehe : DSP-WBV vom 31. Mai 1926.
271
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
»ein Detail der Debitoren und Kreditoren nach in- und ausländischen Konti zu geben, da […] aufgrund solcher Daten eventuell Kritik geübt werden könnte, wenn eine Bank an das Ausland Kredite erteilt«.275
So sind wir bezüglich des ausländischen Engagements der Wiener Banken im Aktivgeschäft in noch höherem Ausmaß auf zeitgenössische Schätzungen und auf das qualitative Bild angewiesen, das die Protokolle der Banken bieten. Die Zahlen, die anlässlich der Schätzung der österreichischen Zahlungsbilanz durch Hugo Zienert, einen Bundesbeamten, bzw. durch das Finanzministerium zusammengestellt wurden, erlauben zumindest eine Rekonstruktion des Trends (siehe Tabelle 78). Diese Zahlen können als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass die Wiener Großbanken tatsächlich erst in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre den Kapitalexport in die Nachfolgestaaten wieder aufgenommen haben und dass – wenn wir auch Tabelle 79 in Betracht ziehen – 1928 tatsächlich ein »Jahr des Kapitalexportes«276 war. Die Tabelle zeigt zugleich ein anderes wichtiges Phänomen : Das ausländische Engagement der Banken wuchs unabhängig vom wechselnden Rhythmus der Mittelaufnahme bzw. -rückzahlung im Westen kontinuierlich an. (Die folgenden Zahlen dürften das Ausmaß der Schwankungen bei den Auslandskreditoren überzeichnen. Nichtsdestoweniger vermitteln sie einen Eindruck vom Trend der Entwicklung.) Tabelle 78 : Gesamtdebitoren und Auslandsdebitoren der österreichischen Banken (ohne Länderbank und Anglo-Austrian Bank) 1923–1928 (Index 1923 = 100)
1923
Gesamtdebitoren
Auslandsdebitoren
100
100
1924
137
112
1925
158
152
1926
186
175
1927
212
217
1928
223
239
Quellen : KOFO, Jg. 1938, S. 138 ; Zienert, S. 301 ; Statistische Nachrichten, Jg. 1930, S. 48.
Tabelle 79 zeigt deutlich zwei Entwicklungssprünge : 1925 (mit einer Zunahme der Auslandsdebitoren um 16 %) war offensichtlich jenes Jahr, in dem die Banken 275 BA, VSP-BCA vom 8. Juni 1927. 276 Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1928, S. 393.
272
Die goldenen 20er-Jahre
zum ersten Mal ausgiebig von der Möglichkeit Gebrauch machten, kurzfristige Auslandskredite aus dem Westen an ihre alte Klientel in den Nachfolgestaaten weiterzugeben. 1927 (+24 %) markiert das Jahr des beginnenden kurzen Wirtschaftsaufschwungs in Zentraleuropa, in dem die Wiener Bankdirektoren, und nicht bloß diese allein, die Wiederkehr der »gewohnten« Prosperität der Zeit vor 1914 zu erkennen meinten. Tabelle 79 : Auslandskreditoren und -debitoren der Wiener Banken 1923–1928 (in Mio. S) Kreditoren
Debitoren
1923
377
305
1924
594
341
1925
480
465
1926
685
535
1927
836
662
1928
649
728
Quellen : Exner, 10 Jahre Wiederaufbau, S. 301 ; Statistische Nachrichten, Jg. 1930, S. 48.
Trotz der beträchtlichen Steigerungsraten in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre kann die Offensive der österreichischen Großbanken zur Wiedererrichtung ihrer alten Einflusssphären im Donauraum nicht als erfolgreich bezeichnet werden. Billigen wir den Zahlen, die Hugo Zienert und die Beamten des Finanzministeriums eruierten, eine gewisse Plausibilität zu (bzw. nehmen wir an, dass die Fehlerquellen, die darin enthalten sind, verhältnismäßig konstant waren), so blieb der Anteil der ausländischen Debitoren an den Gesamtdebitoren der Banken zwischen 1923 und 1930 nahezu gleich : Er machte 1923 30 % aus (wobei es sich allerdings zu einem Großteil um Devisenhorte aus der Inflationszeit gehandelt haben dürfte) und betrug 1928 ungefähr 28 %. Auch 1930 war diese Quote – zumindest im Falle der Creditanstalt – nicht höher277. Unterstellen wir, dass vor 1914 rund zwei Drittel des laufenden Bankgeschäfts auf Kredite an Unternehmen entfielen, die ihren Sitz bzw. ihre Hauptbetriebsstätten außerhalb des Gebietes des späteren Österreich hatten. (Eine grobe Schätzung, die aber kaum zu hoch gegriffen sein dürfte. So entfielen, um nur ein Indiz zu nennen, bei der Creditanstalt in den Jahren 1913/14 fast 94 % 277 Sie betrug etwa ein Drittel. Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 77.685/1932 : Bericht des Generaldirektors Dr. A. J. van Hengel an die ausländischen Gläubiger der Österreichischen Credit-Anstalt, 19. November 1932.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
der in 21 Zweigstellen realisierten Gewinne auf Filialen in den späteren Nachfolgestaaten278.) Wenn diese Annahme richtig ist, so war das ausländische Kreditgeschäft zu Ende der 20er-Jahre auf ein Fünftel des Vorkriegsniveaus geschrumpft. Dabei ist zu bedenken, dass ein beträchtlicher Teil der Auslandsdebitoren auf Guthaben bei Banken in den Nachfolgestaaten bzw. im Westen entfiel (bei der Creditanstalt 1927 rd. 20, 1928 etwa 30 %). Die am Donauraum und an der Internationalisierung des Finanzplatzes Wien orientierte Geschäftspolitik der Großbanken wurde nach dem Ausbruch der Krise von 1931 von verschiedenen Seiten kritisiert. So wurde der Vorwurf erhoben, dass ausschließlich die »Spekulationen im Auslande« an den »Unglücksfällen der österreichischen Finanzinstitute« Schuld trügen279. Walther Federn, der Herausgeber des »Österreichischen Volkswirt«, und Gustav Wärmer, ein hoher Beamter der Oesterreichischen Nationalbank, haben sich in den 30er-Jahren der Kritik am Engagement der Banken in den Nachfolgestaaten (in allerdings modifizierter Form) angeschlossen280. Sogar der damalige Generaldirektor der Österreichischen Creditanstalt – Wiener Bankverein281, Josef Joham, distanzierte sich 1937 rückblickend von der Geschäftspolitik seiner Vorgänger in den 20er-Jahren : »Die Aufrechterhaltung des überdimensionierten österreichischen Bankenapparates«, sagte er in einem Vortrag, »wurde durch die Überzeugung gefördert, daß zwischen den Wirtschaftsgebieten der Sukzessionsstaaten und dem Wiener Platz ein enger organischer Zusammenhang bestehe. […] In dieser Überzeugung wurden die Wiener Banken […] durch die […] Wirtschaftskreise im westlichen Auslande bestärkt. […] Daraus ergab sich […] eine Bankpolitik, die nicht eine Anpassung der Bankenorganisation an die neuen kleinen Dimensionen, sondern […] deren Ausdehnung verfolgte.«282
Auch Johams Vorgänger, der Holländer Adrianus van Hengel (von 1932 bis 1936 Leiter der Bank), vertrat die Auffassung, dass der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie die Direktion der Creditanstalt
278 Quelle : BA, VWP-CA vom 12. Jänner 1915, Bericht der I. Sektion über die Revision der Filialbilanzen per 30. Juni 1914 (Beilage). 279 WBK, Ist die österreichische Industrie Schuld an der Finanzkrise ?, 22. Juni 1931. 280 Siehe : Federn, Der Zusammenbruch der österreichischen Kreditanstalt, S. 410 ff ; Wärmer, Das österreichische Kreditwesen, S. 7 ff. und 37 f. 281 Die Adjektiva »österreichisch« und »Wiener« im Namen der Bank wurden erst nach dem »Anschluß« Österreichs an das Deutsche Reich gestrichen. 282 Joham, Geld- und Kreditwesen in Österreich, S. 51.
273
274
Die goldenen 20er-Jahre
»vor eine unlösbare Aufgabe gestellt [hat], wenn als solche Aufgabe der Versuch anzusehen ist, in Wien eine internationale […] große Bank zu erhalten«.283
In ähnlicher Weise charakterisierte Wärmer die Entwicklung in den 20er-Jahren : »Diese Zerreißung ihrer früheren Tätigkeitsbereiche stellte die österreichischen Banken in struktureller wie in materieller Hinsicht vor die ernstesten und vielleicht folgenschwersten Entscheidungen. Ergab sich doch die Alternative, entweder auf der bisherigen Basis, d. h. unter weitestgehender Rücksichtnahme auf die neuausländischen Interessenssphären, zu arbeiten oder auf veränderter Grundlage das Geschäft ausschließlich auf den verkleinerten Wirtschaftsraum Neuösterreichs abzustellen. Neben dem wirtschaftlichen Beharrungsvermögen hatten mannigfache Erwägungen die Entscheidung für die erste Lösung zur Folge. Die eingewurzelte Überzeugung von dem engen Zusammenhang der Wirtschaftsgebiete der Sukzessionsstaaten mit dem Wiener Platze wurde durch die psychologisch günstige Einstellung einzelner interessierter Wirtschaftskreise des Neuauslandes gestärkt. Hiezu kam die Unterstützung des Altauslandes, welches in den Wiener Banken nach wie vor die Hauptexponenten der mitteleuropäischen Kreditbeziehungen erblickte. Ja, noch viel weiterreichende handelspolitische und sogar politische Kombinationen wurden zeitweise diskutiert, welche den Banken gleicherweise wie deren Konzernindustrien neue Hoffnung boten. Das nicht unberechtigte Schlagwort von der geographisch bedingten Mittlerrolle Österreichs als Zentrum des mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes tat ein übriges. Schließlich bestand in maßgebenden Kreisen hierzulande die bestimmte Hoffnung, durch eine expansive Handels- und Wirtschaftspolitik die Wirtschaftslage Österreichs bessern zu können, wozu eine möglichst starke Position der Geldinstitute auch im Neuauslande von großer Bedeutung war. Alle diese Erwägungen aber förderten noch eine aus der Vorkriegszeit übernommene Geschäftspolitik, die es den Bankleitern angezeigt erscheinen ließ, in einem wahrhaft heroischen Kampf die alte Position zu halten, um darauf das Zukunftsgeschäft aufbauen zu können […]. Die Auswirkung der strukturellen Veränderungen hat man aber grundlegend verkannt oder doch unterschätzt. Die Tatsache, daß der nationale Selbständigkeitsdrang, unterstützt von den zunehmenden Autarkiebestrebungen, die die alten wirtschaftlichen Beziehungen zu Wien und Budapest als Abhängigkeit empfinden ließen, in überraschend kurzer Zeit in den zerrissenen Wirtschaftsgebieten die erforderlichen Komplementärgrößen schuf, machte dem historischen und kreditpolitischen Zusammenhang in kürzester Zeit ein Ende. Die Politik der Wahrung des Besitzstandes stieß bald in allen Nachfolgestaaten auf stärkste Hemmnisse, die teils wirtschaftlicher, teils politischer Natur waren. 283 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 233 : Aide-mémoire Generaldirektor van Hengels.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
Viel zu spät erkannte man auch in Österreich, daß diese Tendenz stärker war als der früher bestandene organisatorische Zusammenhang. Die industriepolitischen Konsequenzen der staatsrechtlichen Trennung waren von den Nachfolgestaaten nicht sofort, sondern in den meisten Fällen nur allmählich zu Autarkiebestrebungen ausgenutzt worden. Daher offenbarte sich die in falscher Richtung orientierte Bankpolitik erst in einem Zeitpunkt, in welchem zu große Opfer für diese Politik bereits gebracht worden waren, als daß eine freiwillige Umkehr hätte in Betracht gezogen werden können.«284
In neuerer Zeit sind Karl Ausch und Karl Bachinger285 der Kritik der 30er-Jahre gefolgt. Rückblickend muss in der Tat die Donauraum-Orientierung als Fehlentscheidung mit weitreichenden Folgen interpretiert werden. Aber es erscheint mehr als fraglich, ob zu Anfang der 20er-Jahre die spätere Entwicklung, insbesondere die Weltwirtschaftskrise, voraussehbar war. In der unmittelbaren Nachkriegszeit traten jedenfalls so prominente Persönlichkeiten wie Joseph A. Schumpeter, damals Leiter des Finanzressorts286, sowie der Gouverneur der Bank of England, Montagu Norman287, für die Fortsetzung des »business as usual« ein. Die unter explizitem Verweis auf das starke Engagement in den Nachfolgestaaten zustandegekommenen optimistischen Stellungnahmen Walther Federns aus den späten 20er-Jahren wurden bereits erwähnt288. Zur selben Zeit wurde in einer Aussendung der »Christlichsozialen Nachrichtenzentrale« die Auslandsexpansion der Banken mit sichtlicher Sympathie als Versuch geschildert, »einen großen Teil des Bankgeschäfts in den östlichen Ländern an sich zu reißen« und »jene Stellung wieder zu gewinnen, die es [das Bankwesen, d. Verf.] vor dem Krieg innegehabt hat«289.
Gegen die multinationale Strategie der Banken nahmen in den 20er-Jahren nur wenige Zeitgenossen Stellung, am entschiedensten wohl das bereits mehrmals erwähnte Steirische Wirtschaftsprogramm der Christlichsozialen aus dem Jahr 1925290. Wir sind auf eine wichtige Konsequenz der Donauraum-Orientierung im Zusammenhang mit 284 Wärmer, Das österreichische Kreditwesen, S. 8 f. 285 Ausch, S. 312 f. und 344 ff ; Bachinger, S. 958 ff. 286 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 333 ff. 287 Siehe : Cottrell, S. 309 ff. 288 Siehe Kapitel III-1, S. 181 und Kapitel III-3, S. 252, 289 ÖStA/AVA-FHKA, CSPK, Mappe 8 : Die Bilanzen der Wiener Großbanken. Christlichsoziale Nachrichtenzentrale, 1. April 1929. 290 Vgl. dazu Kapitel III-1, S. 189 f.
275
276
Die goldenen 20er-Jahre
dem Problem der Personallasten bereits eingegangen291. In der Tat war es so, wie der Sekretär des Bankiersverbandes rückblickend zugab, dass »der damalige Bankenapparat durch das österreichische Geschäft allein nicht erhalten werden konnte, die Banken also auf ihre Vermittlerrolle zwischen westlichem Anlagebedürfnis und mitteleuropäischem und osteuropäischem Geldbedarf angewiesen waren«292.
Die Kosten für die Erhaltung dieses teuren Apparates wurden auf die in- und ausländischen Kreditnehmer überwälzt – eine Vorgangsweise, die sich langfristig auch auf die Banken selbst fatal auswirken musste, weil die Industrie außerstande war, eine so hohe Zinsenlast zu tragen. Die Vorgangsweise der Banken wurde von den Zeitgenossen wiederholt kritisiert. So meinte z. B. Gustav Stolper, der Mitherausgeber des »Österreichischen Volkswirt«, im Jahre 1925, »daß dieser ganze große Apparat heute sich allein dadurch erhält, daß die Spanne zwischen Aktiv- und Passivzinsen drei- bis viermal so hoch ist wie vor dem Krieg.«293
In den Protokollen der Wiener Großbanken finden sich wiederholt Hinweise auf die Probleme, die den Industriefirmen aus den hohen Kreditkosten erwuchsen. Ein besonders drastisches Beispiel mag dies dokumentieren : Der Mautner-Textilkonzern, dessen Hauptsitz in der Tschechoslowakei lag, wurde in der zweiten Hälfte der 20erJahre gemeinsam von der Boden-Credit-Anstalt und der Živnostenská banka, einer der führenden Prager Banken, finanziert. Zwischen den beiden Instituten gab es eine Reihe von Konflikten bezüglich der Politik, die gegenüber den Mautner-Werken zu verfolgen sei. Einer davon bezog sich auf die Höhe der Kreditkosten. Es ist bezeichnend, dass sich zu Ende des Jahres 1927 die tschechoslowakische Bank für eine Senkung der Zinsen gegenüber dem Mautner-Konzern aussprach, »da die Textilwerke Mautner A.G. eine so hohe Zinsenbelastung nicht vertragen könne und die Zivno nur deshalb so hohe Zinsen berechnet, weil die BCA diesen Satz festgesetzt hat.«294
Wenige Monate später heißt es :
291 Siehe Kapitel II-7, S. 166 ff. 292 Sokal, Neugestaltung und Zusammenfassung im österreichischen Bankwesen, S. 32. 293 Stolper, Der Expertenbericht (III), S. 1433. 294 BA, VSP-BCA vom 2. Dezember 1927.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
»Dr. Preiss [der Generaldirektor der Živnostenská banka, d. Verf.] will eine durchgreifende Sanierung der Mautner A.G. dadurch herbeiführen, daß die Banken den Debetzinsfuß auf 6 % reduzieren und daß von der Ausschüttung einer Dividende Abstand genommen wird. […] Eventuell könnte die Zinsdifferenz in Evidenz genommen werden und bei besserem Geschäftsgang von den Banken die Nachzahlung der Zinsdifferenz verlangt werden. Die BCA wäre bereit, im Zinsfuß ebenfalls ein Entgegenkommen zu beweisen, aber maximal 7 1/2 % im Durchschnitte aller Währungen295, verlangt aber unbedingt die Ausschüttung einer 5 bis 6 %-igen Dividende.«296
Der Spielraum der Wiener Bank war eben wesentlich geringer als jener der Živnostenská banka. Denn grundsätzlich war die Direktion der Boden-Credit-Anstalt bereits Anfang Oktober 1927 dafür eingetreten, »pro futuro« Zinsermäßigungen bei den schlecht gehenden Konzernindustrien wie der Fanto AG (Erdöl), den Steyrwerken und der Mautner AG »eintreten zu lassen, da die hohe Zinsenbelastung die Entwicklung der Unternehmungen hemmt«.297
Betrachtet man die Geschäftspolitik der einzelnen Großbanken im »Neuausland«, so fällt auf, dass die Creditanstalt und die Boden-Credit-Anstalt einen verhältnismäßig expansiven Kurs steuerten, während der Bankverein und die Escompte-Gesellschaft eine zurückhaltendere oder besser : »selektivere« Kredit- und Beteiligungsstrategie verfolgten. Da wir auf die Konzernpolitik der CA und der BCA in einem anderen Zusammenhang genauer eingehen werden298, mag an dieser Stelle eine allgemeine Charakterisierung ihrer Geschäftsstrategie genügen : Die Tatsache, dass die Auslands tätigkeit der beiden Banken eines systematischen Zugs entbehrte, scheint sowohl mit Mängeln im Management zusammenzuhängen, als auch mit dem Umstand, dass diese Institute mit dem Erbe der »alten« Konzernstruktur aus der Vorkriegszeit belastet waren. Beide Banken verfügten über Verbindungen zum Erdölsektor, die sich in der Folge als besonders verlustreich erwiesen ; bei der Boden-Credit-Anstalt kamen die Mautner-Textilwerke als Verlustquelle hinzu, bei der Creditanstalt das rumänische Zuckergeschäft, ein Engagement, das allerdings erst 1927 eingegangen wurde299. 295 Dazu kam, wie aus dem VSP-BCA vom 9. Dezember 1927 hervorgeht, noch eine Umsatzprovision. 296 BA, VSP-BCA vom 4. Februar 1928. 297 BA, VSP-BCA vom 4. Oktober 1927 (Herv. v. Verf.). 298 Vgl. dazu Kapitel IV-2, S. 338 ff und Kapitel V-5, S. 512 ff. 299 Siehe zu Letzterem : BA, VWP-BCA vom 6. Juli 1927 sowie Spitzmüller, … und hat auch Ursach’, S. 332.
277
278
Die goldenen 20er-Jahre
Im Gegensatz zur CA und BCA ging die Direktion des Wiener Bankverein bei der Wiederanknüpfung der Kreditbeziehungen mit den Nachfolgestaaten mit äußerster Vorsicht zu Werke. Im Sommer 1924, als die allgemeine Lage nach dem Zusammenbruch der Allgemeinen Depositenbank sehr unsicher erschien, wurden auch die ausländischen Filialen des WBV zur Zurückhaltung gemahnt. »Es wird neuerlich«, hieß es zum Beispiel im Direktionsbesprechungs-Protokoll vom 18. August, »nach Agram geschrieben, daß es zurückhaltend sein soll.«300
Erst im Herbst des Jahres, als sich die Wogen am österreichischen Kreditsektor geglättet hatten, ist ein auffallendes Anwachsen der Debitoren der Budapester und der jugoslawischen Filialen (sehr oft in Form von Dollar-, Pfund- oder SFrs-Krediten) zu bemerken. Auch die Wiener Zentrale der Bank begann, größere Beträge im Ausland zu placieren : 70.000 Dollar an die Preßburger Kabelfabrik301, 200.000 Schweizer Franken an die Firma Sigmund Singer & Bruder in Budapest302, 100.000 Dollar an eine Baumwollweberei in Galizien303. Die in den Jahren 1924/25 eingeschlagene Politik wurde im Halbjahresbericht 1926 von der Direktion des Bankverein selbst als Versuch einer Expansion in die Nachfolgestaaten beschrieben, »wie dies seit dem Umsturze unser Programm ist«304. Dieses Bekenntnis zu einer expansiveren Strategie wurde durch einige größere internationale Engagements unterstrichen : Auf Initiative des Bankverein war ein Konsortium zur Gewährung eines Investitionskredites an das Triester Schifffahrts unternehmen Cosulich gebildet worden. Die Familie Cosulich, eine altangesehene Triestiner Reederfamilie, war seit 1918 im Administrationsrat der Bank vertreten. Das Syndikat, das unter der Führung der Basler Handelsbank (eines Großaktionärs des Bankverein) stand, gewährte der Firma vorerst einen bis Ende 1927 befristeten Kredit von 12 Mio. Schweizer Franken, an dem der Bankverein mit einer Quote von einer Million beteiligt war. Andere Konsorten waren unter anderem die Banca Commerciale Triestina, das Bankhaus Carl Arnstein (Triest), Blankhart & Cie und die Amsterdamsche Bank305. 300 BA, DSP-WBV vom 18. August 1924. Zwei Wochen später heißt es : »Filiale Agram hat wieder Geld verlangt ; wir werden dem Verlangen nicht entsprechen.« DSP-WBV vom 3. September 1924. 301 BA, DSP-WBV vom 15. und 17. Oktober 1924, VWP-WBV vom 7. Oktober 1924. 302 BA, DSP-WBV vom 10. Oktober 1924. 303 BA, DSP-WBV vom 19. Dezember 1924. 304 VWP-WBV vom 19. Oktober 1926, Semesterbilanz 1/1926. 305 BA, VWP-WBV vom 19. Oktober 1926, DSP-WBV vom 7., 15., 18., 26. und 28. Juni sowie vom 16. August 1926, Beilage A.
Die Wiener Banken und der Donauraum 1923–1929
Durch diese Transaktion kam der Bankverein nach langer Pause wieder in Fühlung mit dem Triester Platz. In der Folge ergaben sich eine Reihe neuer Geschäftsmöglichkeiten, die an die Wiener Bank herangetragen wurden : Der Triester Lloyd, das Stabilimento Tecnico Triestino sowie die Schifffahrtsunternehmen Adria und Gerolimich zeigten sich nicht uninteressiert, Kredite des Bankverein in Anspruch zu nehmen. Zustande kam aufgrund der vorsichtigen Haltung des WBV-Managements allerdings lediglich ein 1,5 Mio.-SFrs-Kredit an die Navigazione Generale Gerolimich & Comp. S.A.306. Von einem zu Anfang des nächsten Jahres diskutierten Investitionskredit an die Navigazione Libera Triestina in der Höhe von 5 Mio. Schweizer Franken nahm der Bankverein Abstand ; die Transaktion wurde von der Boden-Credit-Anstalt im Verein mit ausländischen Konsorten (Mendelssohn & Co, Berlin, Schweizer Bankverein u. a.) durchgeführt307. Das größte Auslandsengagement des Bankverein im Jahre 1926 dürfte wohl die Finanzierung der »Taborient« (Société Anonyme des Tabacs d’Orient et d’Outre Mer) gewesen sein, die auf ihrem Höhepunkt den Betrag von 862.000 Dollar (rd. 6 Mio. S) beanspruchte308. Diese Summe war höher als die Dollar-Dotierung der Zagreber Filiale des Bankverein, die zur Kreditgewährung an verschiedene jugoslawische Unternehmen bestimmt war (690.000 $)309, und überstieg das Gesamtengagement der Bank in Polen (bestehend aus Aktien des Allgemeinen Bankverein in Polen, der Bank Polski, den Debetsaldi dieser Institute gegenüber der Wiener Bank sowie den direkten polnischen Anlagewerten) beträchtlich ; dieses machte nämlich bloß rund 300.000 Dollar aus310. Der Bilanzbericht der Direktion des Wiener Bankverein für das Jahr 1926 verwies zum ersten Mal seit 1918 wieder stolz auf die »Teilnahme an interessanten ausländischen Finanztransaktionen«311. Und in dem für die Öffentlichkeit bestimmten Geschäftsbericht für 1927 findet sich die Feststellung, dass die Steigerung des Gewinnes »in der Hauptsache der internationalen Ausbreitung und Verflechtung unseres Geschäftes« zuzuschreiben sei. »In dieser Orientierung unserer Tätigkeit«, heißt es weiter, »liegen auch
306 BA, VWP-BCA vom 2. Mai 1927, DSP-WBV vom 26. Juli, 20. August, 3., 8. und 17. November 1926, 17. Jänner und 4. März 1927, Beilage A. 307 BA, DSP-WBV vom 2. Februar 1927, VSP-BCA vom 10. und 14. Februar 1927 und VWP-BCA vom 15. Oktober 1927. Der Bankverein beteiligte sich jedoch an einem Konsortialkredit (unter der Basler Handelsbank) an die bekannte ligurische Werft »Ansaldo« San Gorgio S.A., Genua. VWPWBV vom 2. Mai 1927. 308 BA, DSP-WBV vom 12. Mai 1926. 309 BA, DSP-WBV vom 18. Juni 1926. 310 BA, DSP-WBV vom 17. Mai 1926. 311 BA, ARP-WBV vom 2. Mai 1927, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1926.
279
280
Die goldenen 20er-Jahre
für die weitere Entwicklung unseres Instituts interessante Möglichkeiten, die ihrerseits wieder der heimischen Wirtschaft zugute kommen werden.«312
Im Lichte dieser Orientierung müssen Diskussionen über die »Möglichkeiten einer Fusion des Böhmischen Bank-Verein«313 und den Erwerb der Budapester Filiale der Anglo-International Bank314 gesehen werden, die zu Ende des Jahres 1926 im Schoße der Direktion des Wiener Bankverein geführt wurden. Weniger konkret, aber deswegen nicht weniger symptomatisch für den neuen Kurs der Bankpolitik, waren Gespräche über die Gründung einer Bank für den gesamten südosteuropäischen Raum (inkl. der Türkei) in Kooperation mit der Banque Belge bzw. über die Perspektiven einer Fusion der Banque Balkanique, einer bulgarischen Bank, an welcher der Bankverein seit Jahren beteiligt war, mit der Banque Franco-Belge de Bulgarie315. Den deutlichsten Ausdruck fand die neue expansive Politik der Direktion in der Kapitalerhöhung vom Mai 1927 von 40 auf 45 Mio. Schilling, die ein Netto-Agio von 5,9 Mio. erbrachte316. Es war das erklärte Ziel der Kapitalemission, durch eine Stärkung der Eigenmittel für die beabsichtigte weitere Expansion in Südosteuropa gerüstet zu sein. Diese Intention drückte sich auch in der Wahl neuer Geschäftspartner aus : Von der Kapitalerhöhung übernahm einen Großteil die US-Bankfirma Dillon, Read & Co (500.000 Stück) ; 150.000 Aktien wurden von der Deutschen Bank übernommen, zu der die Beziehungen nach dem Ende des Weltkrieges gelockert worden waren317. Die restlichen 100.000 neuen Aktien wurden von den alten ausländischen Aktionären des Bankverein in der Schweiz und in Belgien gezeichnet318. Im darauffolgenden Jahr (1928) wurden auf Anregung der belgischen Großaktio näre des Bankverein die jugoslawischen Filialen der Bank in den Allgemeinen Jugoslawischen Bankverein umgewandelt. Hinter dieser Aktion stand das Bestreben, die Geschäftsbasis über Jugoslawien hinaus nach Rumänien und in die Türkei zu erweitern. Diese Gründung schloss also direkt an die Überlegungen des Jahres 1926 an, die 312 Geschäftsbericht des WBV für das Jahr 1927. 313 BA, DSP-WBV vom 1. Dezember 1926. Auch eine Kombination mit der zum Anglobank-Konzern zählenden Anglo-československá banka war im Gespräch. DSP-WBV vom 19. November 1926. 314 BA, DSP-WBV vom 10. und 24. November 1926. In letzterem Protokoll heißt es : »Aus Anglo, Pest, ist vorläufig nichts geworden«. 315 BA, DSP-WBV vom 23. August 1926. In diesem Zusammenhange wurde auch eine Interessennahme an der Banque de Salonique erwogen (DBP-WBV vom 21. April 1927). Zu den traditionell engen Beziehungen der österreichischen Banken zum Balkan vgl. Mitrović, S. 7–33. 316 Geschäftsbericht des WBV für das Jahr 1927. 317 Die deutschen Banken zeigten Mitte der 20er-Jahre allgemein wieder einen stärkeren »Drang nach Osten«. Vgl. dazu Lamer, S. 490 ff. 318 BA, ARP-WBV vom 2. Mai 1927, Bilanzbericht der Direktion für das Jahr 1926.
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bereits im Frühjahr 1927 zu einer grundsätzlichen Einigung mit den belgischen und schweizerischen Geschäftsfreunden des Bankverein geführt hatten319. Am Aktienkapital der neu gegründeten Bank waren der Bankverein selbst mit 40 %, die belgischen Institute mit 30 %, die Basler Handelsbank mit 10 % und jugoslawische Gruppen mit 20 % beteiligt. Die westlichen Banken stellten dem neuen jugoslawischen Institut gemeinsam mit dem Bankverein auch Kredite zur Verfügung bzw. beteiligten es an ihren eigenen Konsortialgeschäften320. 1928 kam es zu einer weiteren wichtigen Veränderung im ausländischen Bankkonzern des Bankverein : zur Fusion des Allgemeinen Böhmischen Bankverein mit der Böhmischen Unionbank. Im Zusammenhang damit übernahm nun auch die Basler Handelsbank, die bis dahin am Böhmischen Bankverein nicht beteiligt gewesen war, eine Quote am Aktienkapital der fusionierten Böhmischen Unionbank. Auch in Bulgarien wurde das Geschäft des Bankverein auf eine breitere Grundlage gestellt. Im Frühjahr 1928 wurde die Banque Balkanique, an welcher der Bankverein seit 1905 beteiligt war, nach großen Verlusten im Zuckergeschäft einer Reorganisation unterzogen und 1929 mit der Banque Franco-Belge de Bulgarie fusioniert. Die Beteiligung und Vertretung des Bankverein am fusionierten Institut blieb im alten Verhältnis gewahrt. In Polen führte der Allgemeine Bankverein in Polen, der – wie erinnerlich – nach dem Krieg gegründet worden war, 1928 und 1929 Kapitalerhöhungen durch, um seine Eigenmittel für erwartete künftige vergrößerte Aufgaben zu stärken321. Bereits 1927 hatte sich das Engagement der Wiener Bank in Polen bedeutend verstärkt, als dem Allgemeinen Bankverein in Warschau 250.000 Dollar neu zur Verfügung gestellt wurden322, was beinahe einer Verdoppelung jener Beträge gleichkam, die der Wiener Bankverein 1926 in Polen insgesamt investiert hatte. Zählt man zu all diesen Engagements noch die seit Anfang der 20er-Jahre bestehende enge Verbindung zur Laibacher Kreditbank hinzu, so verfügte die Wiener Bank zu Ende dieses Jahrzehnts über ein weitverzweigtes Netz von affiliierten Kreditinstituten im Donauraum und am Balkan, das es ihr – bei günstiger Konjunktur – erlaubt hätte, ihre Vermittlertätigkeit zwischen West und Ost in größerem Umfang aufzunehmen. Auch die Boden-Credit-Anstalt versuchte 1927 ihre Offensive in den Nachfolgestaaten durch den Erwerb neuer Positionen im Bankwesen auf eine breitere Grundlage zu stellen. Überlegungen zum Erwerb einer Aktienbeteiligung an der rumänischen COMRO-Bank (Rumänische Kommerzialbank) – gemeinsam mit der 319 BA, DSP-WBV vom 15. April 1927. 320 BA, ARP-WBV vom 3O. Oktober 1927. 321 Geschäftsberichte des WBV für die Jahre 1928 und 1929. 322 BA, DSP-WBV vom 20. Juni 1927.
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Živnostenská banka – scheinen die Direktion der BCA nur sehr kurzfristig beschäftigt zu haben323. Ernster gemeint waren die ebenfalls im Frühjahr 1927 entrierten Bemühungen um die Übernahme der prosperierenden Budapester Filiale der Anglo- International Bank324, für die sich der Bankverein bereits Ende 1926 vergeblich interessiert hatte. Die Verhandlungen, die anfangs ohne Einschaltung der Londoner Zentralinstanzen mit Direktor Zoltan Hajdu, dem Leiter des Budapester Instituts, geführt wurden325, machten zuerst gute Fortschritte326 und schienen zu Beginn des Jahres 1928 in ein entscheidendes Stadium zu treten. Dennoch kam die Transaktion nicht zustande. Ausschlaggebend dafür war offenbar die strikt ablehnende Haltung eines wichtigen Großaktionärs der Boden-Credit-Anstalt, des Londoner Bankiers Baron Schröder, dem wir bei der Schilderung des Untergangs der Bank als unermüdlichem Warner wieder begegnen werden. Die letzte auf das Budapester Übernahmegeschäft bezügliche Eintragung in den Vorstandssitzungs-Protokollen der BCA lautet nämlich : »Schröder ist entschieden dagegen, daß wir in Ungarn die Filiale der Anglobank übernehmen, er sieht darin nur ein neues Engagement, wodurch unsere Anspannung vergrößert wird.«327
Die Budapester Niederlassung der Anglo-International Bank existierte noch einige Zeit weiter, ehe sie zu Anfang des Jahres 1930 von der Britisch-Ungarischen Bank übernommen wurde. Sie war zu diesem Zeitpunkt jedoch, nach dem Urteil eines ungarischen Bankfachmannes,
323 BA, VSP-BCA vom 2. Mai, 3. und 7. Juni 1927. 324 Nach Angaben des »Volkswirt« nahm die Budapester Filiale der Anglobank im ungarischen Bank wesen »eine führende Stellung« ein. ÖVW, Die Bilanzen, 30. August 1924, S. 368. 325 Direktor Hajdu war zu diesem Zeitpunkt bereits als Vertreter der Anglo-International Bank Verwaltungsrat der Creditanstalt, zu deren Vorstandsmitglied er 1929 ernannt wurde. 326 Siehe : BA, VSP-BCA vom 9., 12. und 23. April sowie 2. und 4. Mai 1927. Erläuternd heißt es zu den Bedingungen Hajdus : »Der Personalstand ist 121 Angestellte […] ; es könnte […] ein Abbau von etwa 20 oder mehr Angestellten durchgeführt werden. Der Abbau ginge zu Lasten der Anglobank […]. Die Realitäten würden […] nicht zum Buchwerte […] zu bezahlen sein […]. Von den Debitoren können wir diejenigen übernehmen, welche uns konvenieren, die anderen ausschalten […]. Die Effekten und Schulden müßten von uns nicht übernommen werden. Wir könnten mit Aktien zahlen, welche auf drei Jahre blockiert werden […]. Die englische Gruppe wäre bereit, uns £ 500.000 zu borgen und dann eventuell zu prolongieren.« VSP-BCA vom 9. April 1927. 327 BA, VSP-BCA vom 20. Februar 1928. Zu den Verhandlungen mit dem Londoner Management der Anglo-International Bank siehe VSP-BCA vom 18. und 28. Jänner 1928.
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»bereits ziemlich unbedeutend, nachdem wiederholt ein starker Abbau vorgenommen und die industriellen Beteiligungen nach und nach völlig aufgegeben worden waren«.328
In Jugoslawien war dem Expansionsstreben der Boden-Credit-Anstalt ein größerer Erfolg beschieden : Die Wiener Bank hatte bereits 1921 ihre Position ausgebaut, als die Kroatische Handelsbank AG (im Herbst 1918 gemeinsam mit der Pester Ungarischen Commerzialbank und jugoslawischen Interessenten gegründet) mit der Kroatisch-Slavonischen Landes-Hypothekenbank fusioniert worden war329. Anlässlich der Verhandlungen wegen Übernahme der Budapester Filiale hatte sich die BCA auch für den Besitz der Anglo-International Bank an Aktien der Kroatischen Escompte-Bank interessiert330. Dieser Vorstoß erwies sich insofern als erfolgreich, als die Londoner Bank in ihrem Bestreben, ihr Engagement im Donauraum zu reduzieren, einer Fusion ihrer Konzernbank mit der Hypothekenbank zustimmte. Die Kroatische Escompte-Bank, eines der ältesten Zagreber Kreditinstitute, ging zu Anfang des Jahres 1928 in der Kroatisch-Slavonischen Landes-Hypothekenbank auf, die ihren Namen in Jugoslawische Escompte- und Hypothekenbank AG umänderte. Die nunmehr größte Bank Kroatiens erhielt von den Engländern im Zusammenhang mit dieser Transaktion einen mehrjährigen Kredit von 375.000 Pfund zu günstigen Bedingungen331. Noch im selben Jahr wurde die neue Bank durch Aufnahme der Bosnischen Bank AG (gegründet 1908 von der BCA und der Pester Ungarischen Commercialbank) und der Agrar- und Commercialbank, Zagreb, die der Böhmischen Union-Bank nahestand, weiter vergrößert. Ihr Name lautete nun Jugoslawische Union-Bank AG. Mit einem Aktienkapital von 175 Mio. und ausgewiesenen Reserven von mehr als 50 Mio. Dinar zählte die Union-Bank zu den größten Banken Jugoslawiens, mit Hauptniederlassungen in Zagreb und Belgrad sowie 12 Filialen in verschiedenen Regionen des Landes332. Damit war der Konzentrationsprozess unter den mit Wien verbundenen jugoslawischen Banken jedoch keineswegs abgeschlossen : 1928 wurde auch die mit der Creditanstalt liierte Agrar- und Industriebank in Belgrad, die sich seit geraumer Zeit in Schwierigkeiten befand, in die Jugoslawische Union-Bank eingebracht. Allem Anschein nach war die Creditanstalt darüber hinaus bereit, die Credit-Anstalt für Handel und Industrie in Laibach (die ehemalige Filiale der Creditanstalt) zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls der Union-Bank anzuschließen333. Diese Transaktion kam jedoch nicht mehr zustande. 328 ÖVW, Die Bilanzen, 15. Februar 1930, S. 227. 329 BA, VWP-BCA vom 14. Februar und 23. Oktober 1919 sowie 4. Oktober 1921. 330 BA, VSP-BCA vom 12. April 1927. 331 BA, VWP-BCA vom 15. März 1928. 332 BA, VWP-BCA vom 8. Oktober 1928. 333 BA, VWP-BCA vom 13. März 1929.
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Weniger glücklich verlief das Engagement der Boden-Credit-Anstalt bei der alteingesessenen Krakauer Bank Malopolski, zu der seit Beginn des Jahres 1921 engere Beziehungen bestanden334. Anlässlich der polnischen Währungskrise im Sommer 1925, in deren Gefolge die renommierte Bank Handlowy ihre Zahlungen einstellen musste, kam es auch bei der Bank Malopolski zu namhaften Angstabhebungen, sodass die Boden-Credit-Anstalt gezwungen war, ihrer Affiliation mit Stützungskrediten beizustehen. Wie groß das Ausmaß der Hilfestellung war, geht aus den Protokollen der Wiener Bank nicht ganz genau hervor, doch scheint es sich um Beträge in der Größenordnung von 500.000 bis 700.000 Dollar gehandelt zu haben335. Eine durchgreifende Besserung konnte jedoch nicht erzielt werden : Noch für das Geschäftsjahr 1928 war die Krakauer Bank außerstande, eine Dividende auszuschütten336. Im Gegensatz dazu gelang es dem polnischen Bankverein, dank einer äußerst vorsichtigen, auf größte Liquidität und geschickte Veranlagung (sogar das eigene Kapital der Bank wurde während der Krise in Dollar angelegt) Bedacht nehmenden Politik, die Goldsubstanz zu bewahren337. Anlässlich der Sanierungsaktion in den Jahren 1925/26 vermochte die Boden-Credit-Anstalt ihren Einfluss auf die Geschäftsführung der Bank Malopolski zu vergrößern. Auf diese Weise war es nach der großen Wiener Bankenfusion des Jahres 1927, auf die wir im nächsten Kapital zu sprechen kommen werden, möglich, die Aktien mehrheit der Polnischen Union-Bank an das Krakauer Institut zu übertragen. Die seit 1927 beabsichtigte Fusion der beiden polnischen Banken kam jedoch bis zum Zusammenbruch der Boden-Credit-Anstalt nicht mehr zustande338. Eine weitere Polen betreffende Transaktion, welche die Boden-Credit-Anstalt gemeinsam mit dem Wiener Bankverein und einer Reihe westlicher Banken durchführte, kam aufgrund der turbulenten Ereignisse des Jahres 1929 nicht mehr zum Tragen : Die 1928 gegründete Finanzierungsgesellschaft Union Financière Polonaise mit Sitz in Brüssel sollte der Beschaffung von langfristigen Krediten für die polnische Wirtschaft dienen bzw. das westliche Ausland für polnische Effekten interessieren339. 334 BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1921. 335 BA, VSP-BCA vom 14., 16., 18., 21., 22. und 28. September sowie 23. Oktober und 9. Dezember 1925. 336 BA, VSP-BCA vom 11. März 1929. 337 BA, DSP-WBV vom 17. August 1925 (Beilage B) und 25. Jänner 1926. 338 BA, VSP-BCA vom 22. und 28. September 1925 sowie VWP-BCA vom 15. Oktober 1927, Geschäftsbericht der BCA für das Jahr 1928. 339 BA, VWP-BCA vom 13. März und 2. Oktober 1929. Die Gesellschaft gründete 1929 eine Tochtergesellschaft mit dem Namen »Société générale d’Industrie en Pologne«. Die Firma, deren Sitz ebenfalls Brüssel war, sollte konkrete Projekte in der chemischen und metallurgischen Industrie verfolgen.
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Ebenso klar wie beim Wiener Bankverein und der Boden-Credit-Anstalt traten die expansiven Züge im Auslandsgeschäft auch bei der vierten Wiener Großbank, der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft, zutage. Bis 1926 agierte die Bank vorsichtig, was sich auch in einer betonten Reserve bei der Aufnahme kurzfristiger Gelder im Westen niederschlug340. Das einzig relevante Auslandsengagement der NEG in dieser Zeit betraf die polnische Erdölindustrie : 1924 beteiligte sich die Bank an der Gründung der Petroleum AG Gartenberg & Schreier in Amsterdam und deren Tochterfirma in Polen. Ins selbe Jahr fiel eine gemeinsam mit ausländischen Geschäftsfreunden durchgeführte Transaktion, die Zur-Verfügung-Stellung einer großen Kreditsumme an die Galizische Karpathen-Petroleum AG vorm. Bergheim & Max Garvey zum Zweck der Aufnahme aller polnischen Zweigunternehmen der französischen Dabrowa-Holding AG341. Die Gesellschaft schuldete der NEG zu Ende des Jahres 1925 1,7 Mio. Dollar. 1926 wurden diese Petroleuminteressen der NEG weiter ausgebaut342. Konsequenterweise konzentrierten sich auch die ausländischen Bankinteressen der NEG auf Polen : 1927 beteiligte sich die Wiener Bank gemeinsam mit ihren ausländischen Aktionären Harriman & Co und der Banque de Bruxelles sowie mit der Banca Commerciale Italiana an der Banque de Varsovie343 sowie an der Bank Handlowy, deren Sitz ebenfalls in Warschau lag. Diese Transaktion wurde gemeinsam mit den englischen (Hambros Bank), belgischen und amerikanischen Freunden der NEG durchgeführt. Im Frühjahr 1928 wirkte die NEG an der Kapitalerhöhung der BEBKA in der Tschechoslowakei mit. Zugleich wurden die Beziehungen zu Rumänien durch ein Übereinkommen mit den Großaktionären der Banque Chrissoveloni in Bukarest intensiviert. Der Vizepräsident des Verwaltungsrates der Escompte-Gesellschaft, Maxime Kraßny-Krassien, vertrat im Zusammenhang damit in einem Pressegespräch die Auffassung, dass aufgrund des Vertrauens der »Kapitalszentren der Welt« die Wiener Großbanken wieder in die Lage versetzt worden seien, ihre »Position als Hauptvermittler des Geldverkehrs zwischen den großen Kapitalsplätzen und den Sukzessionsstaaten immer mehr in den Vordergrund zu schieben«344.
Die Politik der NEG zeigt vielleicht am klarsten (weil in sehr systematischer Weise verfolgt) die grundlegende Idee, die hinter der Auslandsexpansion der Wiener Groß340 NWT, 30. April 1927, S. 12. 341 BA, DSP-BCA vom 13. November 1925 ; NWT, 20. Mai 1925. Die Dabrowa AG war, wie andere galizische Erdölunternehmen, nach dem Krieg in französische Hände übergegangen. 342 NWT, 30. April 1927, S. 12. 343 Ebenda. 344 NFP, 13. April 1928, S. 13.
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banken stand : Die Beteiligung der Escompte-Gesellschaft an der Banque Chrissoveloni bildete nämlich nur den Auftakt zu einem großen industriellen Engagement, das sich auf die Finanzierung der Jalomita Wasserkraft AG bezog. Diese Transaktion erfolgte gemeinsam mit der »Hydrofina« (Compagnie Financière d’Exploitations Hydroélectriques), einer belgischen Holdinggesellschaft, die der Banque de Bruxelles (wie erinnerlich ein Großaktionär der NEG) nahestand345. Die Jalomita AG sollte die Gemeinde Bukarest mit Strom versorgen. »In der Interessennahme der Escomptegesellschaft an großen ausländischen Unternehmungen«, heißt es dazu in einem Kommentar der »Neuen Freien Presse«, »tritt deutlich das Bestreben zutage, nicht bloß die eigene bankgeschäftliche Tätigkeit zu erweitern, sondern auch der österreichischen Industrie und namentlich den Konzerngesellschaften neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.«346
Im Falle der Jalomita traf dies für die Union-Baugesellschaft und die österreichischen Brown-Boveri-Werke zu. Wenn in späteren Jahren das Auslandsengagement der Wiener Banken kritisiert wurde – auch die Banque Chrissoveloni geriet in der Weltwirtschaftskrise in Schwierigkeiten und musste unter Opfern von der NEG saniert werden347 –, so ist dabei immer zu bedenken, dass 1927 oder 1928 der Ausbruch einer weltweiten Depression solchen Ausmaßes kaum vorausgesehen werden konnte. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass die multinationale Expansion der Banken selbst unter dynamischeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen größere Erfolge hätte zeitigen können. Denn Wien hatte als Finanzplatz in den ersten Jahren nach dem Krieg so sehr an Bedeutung eingebüßt, dass an eine Wiederherstellung des alten Status nicht mehr zu denken war. Vor 1914 war Wien neben Berlin das zweite Finanzzentrum Zentraleuropas gewesen und hatte relativ autonom in seinen Beziehungen zu den großen Finanzplätzen des Westens – London und Paris – agiert. Es war gleichrangig mit, wenn nicht sogar wichtiger als Amsterdam, Brüssel oder Zürich gewesen. Nach 1918 hatte Wien an Bedeutung gegenüber den eben genannten Städten eingebüßt und war – wie wir aus den Kompilationen des Wiener Bankverein 345 1928 beteiligte sich die NEG auch mit einer größeren Quote an der Zeichnung der rumänischen Stabilisierungsanleihe. Zugleich partizipierte sie (gemeinsam mit rumänischen Banken und der österreichischen Glanzstoff-Fabrik in St. Pölten, die der NEG nahestand) an der Gründung der Ersten Rumänischen Kunstseidefabrik. Siehe : NFP, Beteiligung an Syndikatgeschäften, 16. März 1929, S. 12. 346 NFP, 13. April 1928, S. 12. 347 ÖVW, Die Bilanzen, 23. April 1932, S. 296 und 12. Juni 1933, S. 298.
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wissen – permanent Schuldner gegenüber Schweizer, belgischen und holländischen Banken (die ihrerseits nur als Vermittler amerikanischer Gelder fungierten)348. In den 20er-Jahren verfügte Wien als Finanzplatz kaum über größeres Prestige als Prag. Sein wirklicher Vorsprung beruhte auf dem internationalen Bekanntheitsgrad seiner Großbanken (also auf seiner historischen Tradition als Finanzplatz), nicht mehr auf seiner realen Funktion, die in wenig mehr bestand als in der Kreditvermittlung für jene agrarischen Länder, die über keine selbständige Banktradition verfügten. Wenn die Funktion eines Finanzzentrums darin besteht, Kredite möglichst zu verbilligen, so hat Wien in den 20er-Jahren das Gegenteil getan. Wien war, wie eine jugoslawische Zeitung anlässlich der Creditanstalt-Krise von 1931 schrieb, »ein teurer und unrationeller Vermittler für Südosteuropa, der durch seine Vermittlung die […] Produktionsbedingungen in diesen Ländern nur verteuer[te]«349.
Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, dass die jugoslawischen, rumänischen oder polnischen Banken auch ohne die Ereignisse des Jahres 1931, die Wiens Rolle als Finanzzentrum grundlegend erschütterten, versucht hätten, auf Dauer die Wiener Vermittlung zu umgehen und direkten Zugang zu den billigen westlichen Finanzmärkten zu suchen350.
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Fusionen zwischen Großbanken bzw. das Aufgehen kleinerer Wiener oder Provinzbankinstitute in Großbanken hatten in Österreich – zum Unterschied vom Deutschen Reich und von Ungarn – bis in die 20er-Jahre kaum eine nennenswerte Vorgeschichte. In Deutschland hatte bereits in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein markanter Konzentrationsprozess im Kreditwesen eingesetzt, der auch nach der Jahrhundertwende nicht zum Stillstand kam und mit der Verschmelzung der D eutschen Bank
348 Vgl. zur Geschichte und Rangordnung der Finanzzentren : Reed, S. 91 ff. 349 Privredni Pregled vom 14. Juni 1931. Zitiert nach der Übersetzung in : ÖStA/HHStA, Karton 152. In dem Artikel wird ausdrücklich auf die hohen »Regien« der Wiener Banken als einen verteuernden Faktor hingewiesen. 350 Nicht zufällig heißt es an derselben Stelle : Es sei jetzt der Augenblick gekommen, »unsere direkten Verbindungen mit dem westlichen Kapital […] zu stärken und dieses Kapital in direkte Verbindung mit unseren Industrien zu bringen«.
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und der Bergisch-Märkischen Bank im Jahre 1914 einen Höhepunkt erreichte351. In Ungarn vollzog sich eine ähnliche Entwicklung durch die Angliederung kleiner Banken an die Großbanken. Hier nahm die Zahl der von den Großbanken kontrollierten Institute von 19 im Jahre 1900 auf 153 bei Ausbruch des Weltkrieges zu352. In der österreichischen Reichshälfte kam es kaum zur Aufsaugung von Provinz instituten durch die Wiener Banken, sieht man von einigen Beteiligungen der Credit anstalt in Schlesien353, der Gründung der Bank für Tirol und Vorarlberg durch die Verkehrsbank, der Bank für Oberösterreich und Salzburg durch die Unionbank sowie der Beteiligung der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft an der Steiermärkischen Escompte-Bank ab. Auf dem Prager Platz waren die Wiener Großbanken durch Filialen vertreten. Nur die Escompte-Gesellschaft hatte durch die Übernahme des gesamten Aktienkapitals der Böhmischen Escompte-Bank im Jahr 1901 eine andere Form der Präsenz gewählt. Diese Quasifusion stellt das einzig bedeutende Beispiel dieser Art in Cisleithanien bis zum Jahr 1918 dar354. Einige geplante Transaktionen dieser Art kamen nicht zustande : 1910 war eine Interessensgemeinschaft zwischen der Boden-Credit-Anstalt und der Böhmischen Union- Bank, einer der großen »deutschen« Prager Banken, im Gespräch355, doch scheiterte diese Konstruktion schließlich am Widerstand des böhmischen Instituts. »Die größte Provinzbank«, heißt es dazu rückblickend in einem zeitgenössischen Kommentar, »die Böhmische Union-Bank, wacht eifersüchtig über ihre Selbständigkeit und hat mit Unterstützung anderer Wiener Großbanken den etliche Jahre vor dem Krieg gegen sie geführten Anschlag der Bodenkreditanstalt abzuwehren gewußt.«356
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges stand eine andere Kombination zur Diskussion, nämlich die Fusion der Mercurbank und der Verkehrsbank, zweier aufstrebender Mittelbanken, zu einem Großinstitut, das den alteingesessenen Großbanken Konkurrenz zu machen imstande gewesen wäre. Der beabsichtigten Verschmelzung wurden jedoch durch den raschen Zerfall Österreich-Ungarns die materiellen Grundlagen entzogen357. 351 Siehe : Pohl, Entstehung und Entwicklung des Universalbankensystems, S. 62 ff. 352 Berend/Ranki, S. 34. 353 Siehe : März, Österreichische Bankpolitik, S. 95 ff. 354 1910 erwarb die NEG auch noch eine Beteiligung an der Industriebank für Galizien und das Königreich Lodomerien. 355 ÖVW, Boden-Credit-Anstalt – Böhmische Unionbank, 1. Dezember 1910, S. 255 f. 356 Federn, Interessensgemeinschaft »Mercur«-Verkehrsbank, S. 680. 357 Ebenda, S. 680 ff ; vgl. auch NFP, 12., 14. und 16. Juni 1918. In den Generalversammlungen der
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Den Weitblickenderen unter den Zeitgenossen war es nach dem Ende des Krieges bald klar, dass die zu erwartende Einschränkung des Betätigungsfeldes der Wiener Banken über kurz oder lang Fusionen zur Folge haben würde. Eine solche Meinung wurde zuerst von einem Vorstandsmitglied der Creditanstalt im Herbst 1919 in einem vertraulichen Memorandum vertreten358. Zweieinhalb Jahre danach sprach auch Finanzminister Viktor Kienböck von der Notwendigkeit der »Einschränkung des Apparates« der Banken durch Fusionen, insbesondere unter den Mittelbanken (Depositenbank, Unionbank, Verkehrsbank und Mercurbank). Nach Kienböcks Ansicht sollten dadurch Einsparungen erzielt werden, die in Form verbesserter Debetkonditionen an die Kunden weiterzugeben gewesen wären359. Der Weg dahin erwies sich jedoch als langwieriger, als Paul Hammerschlag und Kienböck angenommen hatten, obwohl sehr früh Aussicht auf eine rasche Lösung zu bestehen schien : Der erste Versuch zur Herstellung einer Interessensgemeinschaft (als Vorstufe eines späteren direkten Zusammenschlusses) fiel bereits in die Phase der Nachkriegsinflation. Damals waren die Boden-Credit-Anstalt und die Unionbank einander bei gemeinsamen Transaktionen (wie der Gründung der Braubank AG) nähergekommen360. Die BCA hatte Ende 1920 auch schon an führender Stelle am Garantiesyndikat für die Emission neuer Unionbank-Aktien teilgenommen361. Wenige Monate danach kam es zu ernsthaften Besprechungen über noch engere Formen der Kooperation zwischen den beiden Banken. Die Abmachungen sahen den gegenseitigen Erwerb von Aktien, die Entsendung von je zwei Vertretern in den Verwaltungsrat der anderen Bank sowie ein gemeinsames Vorgehen bei geschäftlichen Transaktionen vor362. Den Hintergrund der beabsichtigten Kooperation bildete die besondere Situation der Boden-Credit-Anstalt. Die BCA hatte sich, wie der »Volkswirt« am Ende der Inflationsperiode schrieb, nach 1918 immer mehr in Richtung einer »qualifizierten Vermögensverwaltung«363 entwickelt und jede Initiative im aktiven Bankgeschäft vermissen lassen. Als streng zentralisiert geführtes Institut war sie vom Zerfall der beiden Banken im Sommer 1919 wurde die beabsichtigte Transaktion nicht einmal mehr erwähnt. Vgl. NFP, 19. Juni und 1. Juli 1919. 358 Paul Hammerschlag, Gegenwärtiger Stand und Zukunft der Banken Österreichs ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 83.613/1919. 359 ÖStA/AVA-FHKA, MRP Nr. 265 vom 9. Mai 1923. 360 Die Braubank sollte als Holdinggesellschaft für die alpenländische Brauindustrie fungieren. Vgl. BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1921. An dieser Transaktion nahm neben den beiden erwähnten Kredit instituten auch die Bank für Oberösterreich und Salzburg teil, die zum Konzern der Unionbank zählte. 361 BA, VWP-BCA vom 14. Februar 1921. 362 BA, VWP-BCA vom 15. April 1921 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 35.702/1921 : Bericht über die Sitzung des Verwaltungsrates der Unionbank vom 15. April 1921. 363 Boden-Credit-Anstalt : ÖVW, Die Bilanzen, 23. Dezember 1922, S. 89.
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Monarchie besonders arg in Mitleidenschaft gezogen und in ihrer Bewegungsfreiheit am meisten eingeschränkt worden. Auch der österreichische Teil des Geschäfts litt unter diesem zentralistischen Manko. Hatte die Boden-Credit-Anstalt 1910 versucht, durch das Arrangement mit der Böhmischen Union-Bank ihre Geschäftsbasis in Cisleithanien auf eine breitere Grundlage zu stellen, so sollte die im Jahr 1921 angestrebte Konstruktion dazu dienen, das Geschäft innerhalb der Grenzen des neuen Österreich auszubauen und, wie der »Volkswirt« meinte, »den Zusammenschluß mit einem Institut einzuleiten, welches eine Organisation von Zweigniederlassungen besitzt, das Einlagengeschäft betreibt und das laufende Kunden geschäft pflegt«364.
Eine künftige Fusion der beiden Banken wurde überaus positiv beurteilt. »Die industriellen Verbindungen dieser Bank«, heißt es in einem Verwaltungsrats-Protokoll der BCA, »bieten der Boden-Credit-Anstalt so manche Aussicht auf einen erfreulichen Ausbau ihres Konzerns.«
(Vermutlich dachte man hier insbesondere an die Veitscher Magnesitwerke, eines der bedeutendsten Aktiva der Unionbank.) Hervorgehoben wurden weiters die »wertvollen Beziehungen zu zwei gut fundierten Provinzbanken«, der Oberbank in Linz und der Steirerbank in Graz, die aber in Wirklichkeit das Prädikat »gut fundiert« eher nicht verdienten. Der Weg in die »Provinz«, der in diesen Bemerkungen eine erste programmatische Formulierung erfuhr, wurde von der Boden-Credit-Anstalt in den folgenden Jahren mit beinahe schicksalshafter Konsequenz weiterverfolgt : 1924 beteiligte sich die Bank an der Tiroler Hauptbank und an der Agrarbank AG in Graz, später an der Bank für Oberösterreich und Salzburg, der Bank für Tirol und Vorarlberg, die später mit der Hauptbank verschmolzen wurde, an der Bank für Steiermark und schließlich 1928 an der Bank für Kärnten365. Die Motive der Unionbank lagen einerseits in dem Bestreben, einen Majorisierungsversuch Camillo Castiglionis abzuwehren366, zum anderen in der Absicht, sich neue Betätigungsfelder zu erschließen, da die Bank durch den Zerfall der Monarchie 364 BA, VWP-BCA vom 15. April 1921. 365 Vgl. Kapitel IV-1, S. 319 ff. 366 Die Auflösung der Interessensgemeinschaft Boden-Credit-Anstalt – Unionbank : ÖVW, Die Bilanzen, 27. Mai 1922, S. 210.
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eine starke Verengung ihres Aktionsradius hinnehmen hatte müssen : den Verlust ihrer Beziehungen zu einer Reihe von Budapester Kreditinstituten, vor allem aber die Aufgabe ihrer Triester Filiale und des Mehrheitsbesitzes am Österreichischen Lloyd. Hinzu kam noch die äußerst konservative Orientierung der Geschäftspolitik, die vor allem mit der Person des betagten Präsidenten der Unionbank, Eugen Minkus, zusammenhing367. Im April 1921 beschloss der Verwaltungsrat der Unionbank, 125.000 neue Aktien zu emittieren, die an die BCA begeben werden sollten. Diese Transaktion ging im Herbst desselben Jahres über die Bühne ; im Dezember erwarb die Unionbank 45.000 Aktien der Boden-Credit-Anstalt368. Im Herbst 1921 wurde auch die gegenseitige Beschickung der Verwaltungsräte durchgeführt369. Die Transaktion trug jedoch ein Element der Ungleichheit in sich : Während die BCA nun fast ein Viertel des Aktienkapitals der Unionbank kontrollierte, verfügte die Unionbank über eine wesentlich geringere Quote am Kapital ihres neuen Geschäftspartners. Und diese Tatsache scheint auch den Anstoß für das Scheitern der Interessensgemeinschaft gegeben zu haben. Bereits im Mai 1922 musste Präsident Sieghart dem Verwaltungsrat der Boden-Credit-Anstalt die vorzeitige Lösung des Vertrages mit der Unionbank zur Kenntnis bringen370. Obwohl die genauen Hintergründe für den Abbruch der Beziehungen zwischen den beiden Banken nie genau bekannt wurden, ist doch gesichert, dass die Initiative dazu von der Unionbank ausging371. Nach der Lösung des Vertrags trat die Unionbank erneut in eine enge Beziehung zu Castiglioni, der zunächst gemeinsam mit der Dresdner Bank und der Böhmischen Union-Bank die Hälfte des Aktienkapitals erwarb. Kurze Zeit später gelang es jedoch Castiglionis größtem Konkurrenten auf dem Feld der Spekulation, Sigmund Bosel, eine beträchtliche Quote (etwa ein Viertel) des Kapitals an sich zu bringen und diesen Besitz Zug um Zug zu vermehren, bis schließlich ein regelrechter Kampf um den beherrschenden Einfluss in der Unionbank entbrannte, der mit dem Sieg Bosels endete372. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen, während derer 367 Siehe : ÖStA/AdR/BMF, Zl. 36.868/1921, Bericht des »Frankfurter Handelsblattes«, enthalten als Zeitungsausschnitt. 368 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 35.702/1921 ; BA, VWP-BCA vom 16. April und 5. Dezember 1921 ; Compass, Jg. 1925, S. 438. 369 BA, VWP-BCA vom 4. Oktober 1921. 370 BA, VWP-BCA vom 20. Mai 1922. 371 Die Auflösung der Interessengemeinschaft Boden-Credit-Anstalt – Unionbank : ÖVW, Die Bilanzen, 27. Mai 1922, S. 210. 372 Vgl. jeweils ÖVW, Die Bilanzen : Union-Bank, 28. Oktober 1922, S. 29 f ; Mehrheitskämpfe bei den Banken, 25. November 1922, S. 60 ; Der Kampf um die Unionbank, 16. Dezember 1922, S. 83 ; Union-Bank, 30. Dezember 1922, S. 97 f.
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»Verwaltung, Direktion und Beamtenschaft [der Unionbank, d. Verf.] monatelang in ihrer Tätigkeit lahmgelegt [wurden]«373,
zog sich der alte Präsident Minkus resigniert von der Geschäftsführung zurück374. Im März 1923 kam es zu einem Agreement zwischen den beiden Großspekulanten, durch welches Bosel über 80 % des Kapitals der Unionbank in seiner Hand zu konzentrieren vermochte375. Nachdem der Versuch einer Verbindung Boden-Credit-Anstalt – Unionbank gescheitert war, sollten Jahre vergehen, ehe eine neue Initiative dieser Art möglich wurde. Das Objekt der Expansionsbestrebungen der BCA war diesmal die Allgemeine Verkehrsbank, die einzige der nach dem Zusammenbruch der Depositenbank im Jahr 1924 noch »freien« Mittelbanken. Denn die Mercurbank hatte in der Zwischenzeit Beziehungen zur Berliner Danatbank (Darmstädter und Nationalbank) angeknüpft. Die Verkehrsbank war – wie die Unionbank – verhältnismäßig früh, nämlich im Jahr 1864, gegründet worden376. Sie verfügte am Ende der Inflationsperiode nach dem Ersten Weltkrieg über enge Beziehungen zur Schoellergruppe, welche mit Hilfe von Syndikatsverträgen etwa ein Drittel des Aktienkapitals kontrollierte377. Die Verkehrsbank war besonders eng mit der Eisenindustrie und dem steirischen Fabrikwesen verbunden. Zu ihrem Konzern zählten die Schoeller- und die mit diesen später fusionierten Bleckmann-Stahlwerke, die Blech- und Eisenwerke Styria, die Eisen- und Maschinenfabriken vorm. Adolf Finze, die Eisenwarenfabrik AG Graz-Sopron und eine Reihe von Unternehmen der Papierindustrie, der Schuherzeugung, die Hotel Bristol und die Hotel Imperial AG u. a. m.378. Die Verkehrsbank geriet durch die Misstrauenswelle nach dem Zusammenbruch der Allgemeinen Depositenbank im Frühjahr und Sommer 1924 in eine ernste Liquiditätskrise, da sie in besonderem Maße unter Angstabhebungen und Kreditkündigungen des Auslandes zu leiden hatte379. Für das Jahr 1924 musste so ein »nicht unbeträchtlicher Verlust«380 in Kauf genommen werden. Und obwohl der Bank in diesem Jahr von der Nationalbank mit Stützungsgeldern größeren Umfanges unter
373 Der Besitzwechsel in Unionbank-Aktien : ÖVW, Die Bilanzen, 10. März 1923, S. 178. 374 Der Kampf um die Unionbank : ÖAW, Die Bilanzen, 16. Dezember 1922, S. 83. 375 ÖVW, Die Bilanzen, 14. April 1923, S. 216. 376 Die Unionbank war 1870 aus dem Zusammenschluss mehrerer kleinerer Banken entstanden. 377 ÖVW, Die Bilanzen, 25. November 1922, S. 60. 378 Laut Compass, Jg. 1925, S. 448 f. 379 ÖVW, Die Bilanzen, 20. Juni 1925, S. 290 ff. 380 BA, VSP-BCA vom 29. April 1925.
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die Arme gegriffen wurde381, blieb ihre Lage auch weiterhin prekär. Neben Liquiditätsproblemen, welche die Kreditversorgung des Industriekonzerns in zunehmendem Maße in Frage stellten (von 1924 auf 1925 nahmen die Debitoren um mehr als ein Viertel ab)382, bildeten die rückfließenden Aktien das größte Problem : Rund 28 % des Aktienkapitals der Verkehrsbank waren 1925 nur notdürftig beim Börsenstützungs komitee der Großbanken, einem unter der Führung des Hauses Schoeller stehenden Bankenkonsortium, und beim Wiener Bankverein untergebracht383. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten, die natürlich zur Zeit der Bilanzveröffentlichung eine besondere Brisanz erhielten, kam es Ende April 1925 zu ersten, streng vertraulichen Sondierungsgesprächen zwischen Vertretern der Verkehrsbank und der Boden-Credit-Anstalt384. Bei diesen Besprechungen ventilierten die Direktoren der BCA den Erwerb der Aktienmajorität der Verkehrsbank gegen Hingabe eigener Aktien. An eine Fusion, so wurde versichert, sei »absolut nicht gedacht«385. Obwohl Recherchen ergaben, dass die stillen Reserven auf dem Effektenkonto der Verkehrsbank mit 10 Mio. Schilling beinahe gleich hoch waren wie das ausgewiesene Eigenkapital (11,7 Mio. S)386, wurde in einer Vorstandssitzung der Boden-Credit-Anstalt am 12. Juni 1925 beschlossen, »derzeit von der Durchführung der Transaktion abzusehen«387. Einen Monat später wurde dieser Beschluss jedoch revidiert, unter der Voraussetzung, dass ausländische Partner gefunden werden könnten und der Erwerb der Verkehrsbank-Aktien möglich sein würde, ohne dass bare Mittel in Anspruch genommen werden müssten388. Nachdem verschiedene weitergehende Lösungen – wie eine gleichzeitige Fusionierung von Verkehrsbank und Mercurbank oder die Einbeziehung der Wiener Filiale der Živnostenská banka389 – sich als nicht durchführbar erwiesen hatten, kam es im März 1926 schließlich doch zum Abschluss einer Interes381 BA, VSP-BCA vom 7. Juli 1925. Die Notenbank elozierte, wie aus dem Protokoll hervorgeht, Dollarbeträge bei der Verkehrsbank. 382 Vgl. Tabelle 70 (Kapitel III-3, S. 249). 383 BA, VSP-BCA vom 15. Mai 1925. 384 BA, VSP-BCA vom 20. und 28. April 1925. 385 BA, VSP-BCA vom 29. April 1925. Dass die Direktion der BCA dabei ein auch noch in anderer Hinsicht nützliches Geschäft verfolgen wollte, nämlich die Unterbringung von BCA-Aktien, die sich im Besitz der Bank selbst befanden, geht aus VSP-BCA vom 11. Mai 1925 hervor. Darin wird einem andersgearteten Vorschlag des Präsidenten der BCA, Sieghart, entgegengehalten, dass dabei »Aktien der B.C.A. […] nicht verwendet werden könnten«. 386 BA, VSP-BCA vom 2. Juni 1925. Die Bewertung erfolgte zu Tageskursen. 387 BA, VSP-BCA vom 12. Juni 1925. 388 BA, VSP-BCA vom 9. und 17. Juli 1925. 389 BA, VSP-BCA vom 21. Juli, 22. September 1925 und 16. April 1926.
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sensgemeinschaft zwischen Boden-Credit-Anstalt und Verkehrsbank. Seitens der BCA wurden Vizepräsident Alfred Herzfeld sowie die Vorstandsdirektoren Adolf Stern und Ernst Garr in den Verwaltungsrat der Verkehrsbank entsandt, Herzfeld und Stern traten auch in das Exekutivkomitee der Bank ein390. Zur selben Zeit wurde in der Vorstandsetage der Boden-Credit-Anstalt ein noch weitergehender Plan diskutiert, nämlich die Übernahme der Aktienmehrheit der Anglo-Austrian Bank in London (und damit der Wiener Filiale des Instituts). Das hauptsächliche Ziel der Transaktion sollte jedoch nicht die Einverleibung der Wiener Niederlassung sein, sondern der Erwerb einer Präsenz am Londoner Platz, um so ausländisches Kapital leichter nach Österreich (und darüber hinaus in den gesamten Donauraum) leiten zu können391. Dieser Plan gelangte jedoch über das Stadium grundsätzlicher Erwägungen nicht hinaus. Denn die Bank of England – als Großaktionär der Anglo-Austrian Bank – dachte nicht daran, die Kontrolle über die Bank aus der Hand zu geben. Wohl aber waren andere Überlegungen zu diesem Zeitpunkt in ein konkretes Stadium getreten. Sie bezogen sich auf einen Rückzug aus Österreich und den Verkauf der Wiener Filiale der Anglobank. Die 1863 gegründete Anglo-Österreichische Bank, kurz : Anglobank – neben der Ottoman Bank die erste der sogenannten englischen »Foreign Banks« –, war Ende 1921 in ein englisches Institut umgewandelt worden392. Die von englischer wie von österreichischer Seite gleichermaßen an die Gründung der Anglo-Austrian Bank geknüpften Hoffnungen können dem Geschäftsbericht der Bank für das Jahr 1920 entnommen werden. Dieser entstand zu einem Zeitpunkt, als die grundsätzlichen Abmachungen mit der Bank of England und dem Bankhaus Glyn, Mills, Leurie & Co bereits getroffen waren : »Wir hoffen«, heißt es dort, »daß es uns auf diese Weise gelingen wird, eine maßgebende und bedeutungsvolle Stelle in der Vermittlung finanzieller Beziehungen zwischen England einerseits, Österreich, den Sukzessionsstaaten, dem Balkan und vor allem Deutschland andererseits zu erringen. Die Tatsache, daß wir in Hinkunft nicht mehr eine österreichische, sondern eine englische Bank sein werden, wird uns nicht nur die Aufrechterhaltung, sondern den Ausbau unserer Position in den genannten Ländern ermöglichen.«393 390 BA, VSP-BCA vom 10., 20., 22., 23. und 27. März 1926. 391 Vgl. BA, VSP-BCA vom 3. und 19. März, 8., 16. und 26. April 1926. Es war daran gedacht, die Transaktion gemeinsam mit der Živnostenská banka und der Pester Ungarischen Commercialbank durchzuführen. Ein Jahr zuvor hatte der BCA-Vorstand aus einem Bewusstsein der Schwäche heraus ähnlich geartete Vorschläge des Prager Bankiers Julius Petschek abgelehnt. 392 Vgl. März, Österreichische Bankpolitik, S. 459 ff ; Natmeßnig, Britische Finanzinteressen in Österreich. 393 Geschäftsbericht der Anglo-Austrian Bank für das Jahr 1920.
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Montagu Norman, der Gouverneur der Bank of England, wollte darüber hinaus mit Hilfe der Anglobank auch Einfluss auf die mitteleuropäischen Zentralbanken sowie auf die Sanierung der Staatsfinanzen der betreffenden Länder nehmen394. Während der letztere Teil des Programms erfolgreich beendet werden konnte395, vermochte die Bank ihre Funktion als Kapitalvermittler zwischen England und dem Donauraum nur in sehr beschränktem Umfang wahrzunehmen. Auch begegnete sie – trotz der Verausländerung – in der Tschechoslowakei denselben Schwierigkeiten wie die übrigen Wiener Großbanken und war so gezwungen, die tschechoslowakischen Filialen 1922 in eine selbständige Bank, die Anglo-československá banka, umzuwandeln396. Tabelle 80 soll einen Eindruck von den weitverzweigten finanziellen und industriellen Interessen der Anglo-Austrian Bank in Zentraleuropa vermitteln : Tabelle 80 : Konzern der Anglo-Austrian Bank 1924/25 (Anzahl der Beteiligungen)
Industrie, Handel, Verkehr
Öster reich
Tschechoslowakei
Ungarn
77
14*
18
Jugo slawien
Rumänien
Gesamt
8**
9
126 10
Banken
1
2
4
1
2
Versicherungen
4
–
–
–
–
4
Insgesamt
82
16
22
9
11
140
* Inklusive Beteiligungen der Anglo-československá banka. ** Inklusive Beteiligungen der Kroatischen Escompte-Bank. Quellen : Geschäftsberichte der Anglo-Austrian Bank für die Jahre 1920–1924 ; BA, VWP-CA vom 2. August 1926.
Die wichtigsten Aktiva der Anglobank lagen in ihrem Aktienbesitz an der Anglo-československá banka (gegründet im April 1922) sowie an der Kroatischen Escompte-Bank in Zagreb, die vor 1922 zum Konzern der Länderbank gehört hatte. Diese beiden 394 Siehe dazu neben Natmeßnig, S. 42 ff, auch : Recker, England und der Donauraum. 395 Rückblickend heißt es zu diesem Aspekt der Tätigkeit der Anglo-Austrian Bank : »In one respect the experiment was an unqualified success. The name of the Anglo-Austrian Bank is written in large letters in the history of Central European Reconstruction. By providing a bridge between London and Central Europe and by interesting British financial circles in the fate of the Succession States at a time when the outlook was at its blackest, the bank has rendered to Central Europe, and especially to Austria and to Hungary, services which can hardly be overestimated. The successful floatation of the Czechoslovak State Loan and of the Austrian and Hungarian Reconstruction Loans was in a large measure due to the initiative of the Anglo-Austrian Bank.« PRO, FO 371/11213–82091 : Monthly Review of Central Europe, Anglo-Austrian Bank Ltd., No. 21, Mid-September 1926. 396 Siehe : Natmeßnig, S. 246 ff ; Teichova, Versailles and the Expansion of the Bank of England, S. 380 ff.
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Posten repräsentierten allein über 50 Prozent des Wertes des Aktienportefeuilles der Anglo-Austrian Bank. Dies kam auch in der regionalen Verteilung des Aktienbesitzes der Bank zum Ausdruck (siehe Tabelle 81)397. Tabelle 81 : Regionale Verteilung des Aktienbesitzes* der Anglo-Austrian Bank 1923 (in %) Österreich
Tschechoslowakei
Jugoslawien
Ungarn und Rumänien
33
45
11
11
* Gewichtet nach dem Marktwert der Wertpapiere. Quelle : Geschäftsbericht der Anglo-Austrian Bank für das Jahr 1923.
Die Schwerpunkte des österreichischen Industriekonzerns der Bank lagen in der Maschinen- und Metallindustrie, in der chemischen Industrie und in der Lederwaren erzeugung. Zu den bekannteren Konzernunternehmen zählten die Daimlerwerke, Austro-Fiat, die Puchwerke, Brevillier & Urban, die Schoeller-Bleckmann Stahlwerke, die Enzesfelder Metallwerke, die Universale Bau AG, die Pulverfabrik Skodawerke- Wetzler AG, die ELIN AG, die DELKA Schuhindustrie- und Handels AG und andere Schuhfabriken, die »Herlango« AG für photographische Industrie, die Josef Manner & Comp. AG sowie die Adolf Gans AG398. Auch das Filialnetz der Bank war – selbst nach der Einbringung der tschechoslowakischen Zweigstellen in die Anglo-československá banka – noch immer imposant (siehe Tabelle 82). Tabelle 82 : Filialnetz der Anglo-Austrian Bank 1922–1926 1922
1923
1924
1925
Juni 1926
Wien
22
20
18
?
?
Österreichische Bundesländer
24
14
13
?
29
Ungarn
3
3
2
2
2
Rumänien
3
2
2
?
?
Jugoslawien
1
1
–*
–
–
Italien
1
1
3
3
–**
* Filiale Maribor in die Kroatische Escompte-Bank eingebracht. ** Im Jänner 1926 an die Banca Italo-Britannica verkauft. Quellen : Geschäftsberichte der Anglo-Austrian für die Jahre 1920–1924 ; ÖVW, Die Bilanzen, 7. Mai 1927, S. 362 ; PRO, FO 371/112. 397 Vgl. dazu die davon abweichenden Angaben für 1921/22 bei Natmeßnig, S. 237 ff sowie die dort angeführten Daten zum Industriekonzern der Bank. 398 Geschäftsbericht der Anglo-Austrian Bank für das Jahr 1924.
Die Ära der Fusionen beginnt. Die Großbankfusionen der Jahre 1926 und 1927
Die an die Verausländerung der Anglobank geknüpften Erwartungen wichen bald einer gewissen Skepsis : Im Geschäftsbericht für das Jahr 1923 wurden zum ersten Mal pessimistischere Töne in Bezug auf die künftige zentrale Stellung Wiens im Donauraum laut. Von österreichischer Seite mehrten sich ab 1924 die Klagen über die zurückhaltende Geschäfts- und die konservative Dividendenpolitik der Londoner Leitung : 1923 gingen die Stammaktionäre leer aus, ein Schicksal, das im darauffolgenden Jahr auch die Besitzer der Preferred Shares (Vorzugsaktien) ereilte399. Begründet wurde diese Vorgangsweise vor allem mit den Verlusten der Wiener Niederlassung, aber auch mit den Schwierigkeiten der Anglo-československá banka, die 1923 und 1924 ebenfalls von der Verteilung einer Dividende Abstand nehmen musste. Die rigiden Grundsätze englischer Bankpolitik erlaubten es eben nicht, dass die Anglo-Austrian Bank – zum Unterschied von den in österreichischen Händen verbliebenen Großbanken – ihre Dividende aus den stillen Reserven schöpfte. Obwohl von englischer Seite betont wurde, »daß wir nicht die Absicht haben, unser österreichisches Geschäft einzuschränken«, und auf die »ansehnlichen Beträge« verwiesen wurde, die in Form von kurzfristigen Krediten dem Handel im Donauraum und der österreichischen Industrie zur Verfügung gestellt worden waren400, wollten die Gerüchte nicht verstummen, die besagten, die Bank habe die Absicht, sich aus Österreich zurückzuziehen. Im Frühjahr 1925 hieß es zum Beispiel, dass die Anglo-Austrian Bank mit der (ebenfalls von der Bank of England kontrollierten) Londoner Merchant Bank verschmolzen werden sollte, wobei die Wiener Niederlassung in die Zentraleuropäische Länderbank und die Budapester Filiale in die Pester Ungarische Commercialbank aufgehen würde401. Heute wissen wir, dass diese Gerüchte eine reale Grundlage hatten und dass zu dieser Zeit tatsächlich Sondierungsgespräche mit französischen Politikern und Bankiers über eine Übernahme der Wiener Filiale stattgefunden haben ; diese Absichten scheiterten jedoch vor allem am Widerstand der Paribas, des Großaktionärs der Länderbank402. Die Kritik, die von österreichischer Seite an der Anglo-Bank geübt wurde, bezog sich einerseits auf die strikte Kontrolle der Geschäftstätigkeit der Wiener Filiale durch die 399 So heißt es z. B. 1924 in der Bilanzbesprechung des »Volkswirt« : »Die Anglo-Austrian Bank bereitet dieses Jahr ihren österreichischen Aktionären eine peinliche Über raschung.« ÖVW, Die Bilanzen, 30. August 1924, S. 367. 400 Geschäftsbericht der Anglo-Austrian Bank für das Jahr 1924. Im Gegensatz dazu schrieb der »Volkswirt« : »Die Drosselung des Geschäfts zeigt sich in der Entwicklung der Bilanzposten.« Im Vergleich mit den Zahlen der anderen österreichischen Großbanken »ist die Zunahme bei der Anglo-Bank im österreichischen Geschäft ganz geringfügig«. ÖVW, Die Bilanzen, 8. August 1925, S. 345. 401 ÖVW, Die Bilanzen, 14. März 1925, S. 182. 402 PRO, FO 120/1009–2064/1.
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Londoner Zentralinstanzen, zum anderen auf die grundsätzliche Orientierung der englischen Bankpolitik. »Im Laufe des Jahres«, schrieb der »Volkswirt« im Sommer 1925, »ist wiederholt darüber geklagt worden, daß die Londoner Verwaltung der Anglo-Bank das österreichische Geschäft unterbindet, indem sie die englischen Geschäftsprinzipien auch hier anwendet und der Wiener Geschäftsleitung keinerlei Bewegungsfreiheit gewährt.«
Dies habe dazu geführt, dass die Anglobank keine einzige größere Transaktion initiiert habe. »Die […] Bank«, heißt es weiter, »hatte ungeheure Chancen, aber sie hat sie zum Nachteil der Bank und der österreichischen Volkswirtschaft unausgenützt gelassen.«
Sie habe zwar der Industrie Gelder nicht entzogen ; denn dies sei gar nicht möglich gewesen, weil die Bank »trotz aller Bemühungen so wenig wie […] andere […] die der Industrie erteilten Kredite heraus[zu]ziehen« vermochte. »Die Drosselung äußerte sich vielmehr darin, daß dringend gebrauchte und geschäftlich motivierte, auch nicht bedeutende Zusatzkredite entweder verweigert oder erst nach monatelangen Verhandlungen gewährt wurden, sodaß zum Schaden der Entwicklung der Unternehmen kostbare Zeit verstrich.«403 Tabelle 83 : Debitoren der Wiener Niederlassung der Anglo-Austrian Bank 1923–1926 (Steigerung in %) 1923/24
1924/25
12/1925– 3/1926
3–6/1926
1925/26
Anglo-Bank
+ 8,1
– 29,8
+ 1,4*
+ 12,5
–
Durchschnitt 4 Großbanken**
+ 46,2
+ 24,5
–
–
+ 31,6
* Konzerndebitoren –8,3 %. ** CA, BV, BCA, NEG. Quellen : ÖVW, Die Bilanzen, 30. August 1924, S. 367 und 8. August 1925, S. 345 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 34.064/1926 ; LG, Prozessakte Ehrenfest, Materialien, Bd. XXIII : Aufstellung der Oberbuchhaltung der CA-BV vom 30. Oktober 1935, S. 555.
403 ÖVW, Die Bilanzen, 8. August 1925, S. 345 f.
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Der Eindruck des Bilanzexperten des »Österreichischen Volkswirt« findet seine Bestätigung in den (zum Teil nicht veröffentlichten) Daten über die Debitoren der Wiener Filiale der Anglobank (siehe Tabelle 83). Diese zeigen, zumal für das Jahr 1924/25, eine auffallende Schrumpfung. In einem ähnlich gehaltenen Kommentar kam die prinzipielle Ablehnung der Geschäftspolitik der Anglobank noch klarer zum Ausdruck : Die Londoner Leitung des Instituts, heißt es dort, wolle »durchaus […] englische Prinzipien der Bankpolitik auf kontinentale Verhältnisse anwenden«. Sie »perhorresziere« industrielle (= Investitions-)Kredite und Industriebeteiligungen, »ohne zu bedenken, daß man nicht einfach die historischen Gegebenheiten eines Landes außer acht lassen und sie durch die eines anderen ersetzen kann. Vielleicht sind die englischen Bankprinzipien die gesünderen. Aber in Mitteleuropa lassen sich auf diese Art die Geschäfte nicht führen und vor allem läßt sich das Geschäft einer großen Bank nicht von heute auf morgen nach solchen Prinzipien umorganisieren. […] Am allerwenigsten läßt sich aber eine solche Umstellung in einer Zeit der Krise durchführen, ohne der Bank selbst und der angeschlossenen Industrie den schwersten Schaden zuzufügen. Immer erbitterter werden die Klagen auch gesunder und lebensfähiger Unternehmungen des Anglobank-Konzerns, daß sie wegen Verweigerung auch kleiner Kredite in Schwierigkeiten geraten und ihre Entwicklung unterbunden wird.«404
Vom bankpolitischen Standpunkt aus betrachtet, waren – wie die Geschichte des österreichischen Kreditwesens im folgenden Jahrzehnt zeigen sollte – die englischen Methoden der Bankführung tatsächlich die »gesünderen«. Denn die Strategie der Engländer lief darauf hinaus, »unter den mit uns in Verbindung stehenden Industrieunternehmungen eine richtige Auswahl in der Weise zu treffen, daß wir Unternehmungen, die eine günstigere Entwicklung für die Zukunft erwarten lassen, unterstützen und ihnen die volle Ausnützung ihrer Leistungsfähigkeit ermöglichen, während wir andererseits Konzernunternehmungen, die sich als nicht lebensfähig erwiesen haben, ausschalten wollen. Dies ist natürlich ein langsamer Prozeß, der übrigens auch von der Entwicklung der österreichischen Industrie im allgemeinen abhängt.«405
Volkswirtschaftlich betrachtet, hätte eine Verallgemeinerung der Strategie der Anglo- Austrian Bank fatale Auswirkungen gehabt. Die Arbeitslosigkeit, ohnehin schon ein 404 ÖVW, Die Bilanzen, 14. März 1925, S. 182 f. 405 Geschäftsbericht der Anglo-Austrian Bank für das Jahr 1924.
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schwer zu bewältigendes Problem, wäre gesteigert und schon lange vor der Weltwirtschaftskrise wären ganze Regionen in Industriefriedhöfe verwandelt worden. Zum Unterschied von der Anglobank entschieden sich die anderen Wiener Großbanken – mit unterschiedlich starkem Engagement – für eine Kreditpolitik, die da rauf abzielte, den Industrieunternehmen über die schwierige Zeit des Übergangs von der Inflationsära zur erhofften »Normalisierung« hinwegzuhelfen. Durch die Bereitstellung von Investitionskrediten nahmen die Banken einen beträchtlichen Teil des Unternehmerrisikos auf sich – in der Hoffnung auf eine baldige Wiederkehr jener Prosperität, die vor dem Ersten Weltkrieg im Donauraum geherrscht hatte und von den Bankiers als »Normalzustand« angesehen wurde. Aus heutiger Sicht wäre in den 20er-Jahren eine von Skepsis geleitete Vorsicht im Bankgeschäft am Platz gewesen, eben jene Politik, die vom »Österreichischen Volkswirt« und anderen Publikationen an der Anglobank bemängelt wurde. Die Strategie der Wiener Bankiers war jedoch durch eine grundsätzlich optimistische Haltung geprägt. Diese bildete die Grundlage für eine ganze Kette von Fehlentscheidungen. Sobald nämlich der Weg einer expansiven Strategie einmal eingeschlagen war, sollte es sich als zunehmend schwierig, ja beinahe unmöglich erweisen, von diesem Kurs wieder abzugehen und rechtzeitig Korrekturen an der Geschäftspolitik vorzunehmen. Wir werden später Gelegenheit haben, diese »Zwangsläufigkeit« der Entwicklung am Beispiel einiger Konzernunternehmen der Creditanstalt und der Boden-Credit-Anstalt zu studieren. Handelte es sich aber wirklich um bloße »Fehlentscheidungen« ? Eine auf pessimistischen Prinzipien beruhende Investitionspolitik hätte bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt Kreditsperren notwendig gemacht und die Banken – wie es ein Vorstandsdirektor der Creditanstalt rückblickend ausdrückte – veranlasst, »den Kampf gegen die Misskonjunktur aufzugeben«. Es war dem übertriebenen Optimismus der Bankiers zu verdanken, wenn sie so lange – vielleicht allzu lange – davor zurückscheuten, »große Industrieunternehmungen stillzulegen, solange noch […] Aussicht bestand, diese Unternehmungen wieder in die Höhe zu bringen«406.
Kehren wir zur kurzen, abortiven Geschichte der österreichischen Filiale der Anglobank zurück. 1924 wurde ein letzter Versuch unternommen, das Steuer herumzureißen und eine Aktivierung der Wiener Niederlassung einzuleiten : Zoltan Hajdu, der erfolgreiche Leiter der Budapester Filiale, wurde zum Generaldirektor für Öster-
406 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 9 : Vernehmung Direktor Otto Deutsch. Deutsch trat 1925 in den Vorstand und Verwaltungsrat der Creditanstalt ein. Er war zuvor Direktor der BEBKA in Prag gewesen.
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reich ernannt407. Hajdu, dem wir später als Vertrauensmann der Bank of England im Verwaltungsrat bzw. der Direktion der Creditanstalt noch begegnen werden, leitete den Abbau des auf 2.000 Angestellte angeschwollenen Apparats in Österreich ein408. Auch der restriktive Kurs in der Kreditpolitik der Bank im Jahr 1925 scheint mit seinem Amtsantritt ursächlich zusammenzuhängen. Bereits zu Anfang des Jahres 1925, als es klar wurde, dass die Bilanz der Wiener Niederlassung für 1924 defizitär sein würde, nahmen die Überlegungen, den Stützpunkt in Wien aufzugeben, konkrete Formen an. Darüber hinaus wurde erwogen, das Engagement in ganz Mitteleuropa zu reduzieren bzw. auf eine neue, weniger risikoreiche Grundlage zu stellen. »Some time ago«, heißt es dazu rückblickend im September 1926, »it was decided that the bank should dispose of its foreign branches, as soon as circumstances permitted, and should operate on the Continent through the medium of first-class local banks. The first step in this policy was the sale of the Italian branches of the Anglo-Austrian Bank to the Banca Italo-Britannica in January 1926.«409
Wenige Monate später nahm die Anglo-Austrian Bank Sondierungsgespräche in Wien auf. Allem Anschein nach wurde zuerst mit dem Wiener Bankverein verhandelt410, ehe sich der Schwerpunkt der Gespräche zur Creditanstalt verlagerte411. Die erste Eintragung in den Protokollen der Creditanstalt findet sich allerdings erst nach dem Abschluss der Verhandlungen412. In einem beiliegenden Exposé für die Generalversammlung der Creditanstalt wurde die folgende kurze Charakteristik des am 12. Juni 1926 abgeschlossenen Vertrages gegeben : »Die Anglo-Austrian-Bank, Zweigniederlassung Wien, tritt in Liquidation und unsere Anstalt übernimmt bestimmte Aktiven und Passiven auf nachfolgender Basis. Der größte Teil der Debitoren der Anglo-Austrian Bank geht zu Bedingungen, welche einer vorsichtigen
407 Geschäftsbericht der Anglo-Austrian Bank für das Jahr 1924. 408 Bis Mitte 1925 war die Zahl der Angestellten in Österreich bereits auf 1.400 bis 1.500 reduziert worden. ÖVW, Die Bilanzen, 8. August 1925, S. 345. 409 PRO, FO 371/11213–82091. 410 ÖVW, Die Bilanzen, 15. Mai 1926, S. 255. Die Verhandlungen wurden dahingehend charakterisiert, dass sie »weder abgebrochen, noch zu einem positiven Ergebnis gelangt« seien. In den Protokollen des Bankverein findet sich kein Hinweis auf die Gespräche. 411 ÖVW, Aus der Woche, 22. Mai 1926, S. 931 und 5. Juni 1926, S. 991. Vgl. die Darstellung der Fusionsverhandlungen bei Natmeßnig, S. 260 ff. 412 BA, VWP-CA vom 22. Juni 1926.
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Bewertung entsprechen, auf die Oesterreichische Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, Wien, über. Ebenso werden die im Übereinkommen näher bezeichneten Passiven von uns übernommen ; die sich am Stichtag ergebende Differenz zwischen Debitoren und Creditoren wird bar ausgeglichen. Wir übernehmen ferner industrielle Beteiligungen der Anglo- Austrian Bank zum Teile – insbesondere es sich um große Gesellschaften handelt – direkt in unser Portefeuille, zum Teile durch Beteiligung an einer Holding Co., in welche die Anglo-Austrian Bank ihre Interessen an kleineren industriellen Gesellschaften einbringt. Ferner geht an uns der Häuserbesitz der Anglo-Austrian Bank mit Ausschluß des Bankpalais über. Für diese Beteiligungen und Realitäten werden Aktien unserer Anstalt an die Anglo- Austrian Bank in Zahlung gegeben. Ferner übernimmt die Anglo-Austrian Bank London einen bedeutenden Aktienposten unserer Anstalt gegen Barzahlung. Für diese beiden zuletzt genannten Zwecke wird eine Kapitalserhöhung unserer Gesellschaft vorzunehmen sein, bezüglich welcher wir Ihnen in einer demnächst einzuberufenden außerordentlichen Generalversammlung die entsprechenden Anträge stellen werden. Schließlich wurde mit der Anglo- Austrian Bank vereinbart, daß uns dieselbe auf eine Reihe von Jahren einen Pfundkredit zu vorteilhaften Bedingungen zur Verfügung stellt und daß Funktionäre der Anglo-Austrian Bank in unseren Verwaltungsrat und solche unserer Anstalt in deren Board eintreten.«413
Weiters wurde betont, dass bei der Transaktion »die Unabhängigkeit der Geschäftsführung« des Vorstandes der Creditanstalt gesichert worden sei und dass bei dem notwendigen Abbau der Angestellten der Anglobank »die Frage der Abfertigung in humanem Sinne« gelöst wurde. Die getroffenen Regelungen waren für die Creditanstalt, wie es schien, sehr vorteilhaft : Von den rund 1.000 Angestellten der Anglobank-Filiale wurden 226 fix und 150 provisorisch für zwei Jahre übernommen. Die Abfertigung für die Entlassenen ging zu Lasten der Anglo-Austrian-Bank ; die Creditanstalt hatte lediglich für die Pensionen aufzukommen. Sie erhielt darüber hinaus die Gelegenheit, alle Debitoren der Anglobank über 100.000 Schilling genau zu überprüfen, Debitoren nach ihrem Gutdünken nicht zu übernehmen bzw. bei als schlecht erachteten Positionen Abstriche zu verlangen414. In der Liste der von der Anglobank übernommenen Debitoren, deren Gesamtbetrag rund 150 Mio. Schilling ausmachte415, finden sich folgende, mit roter Tinte gemachte Eintragungen : 413 Ebenda. 414 ÖVW, Aus der Woche, 19. Juni 1926, S. 1047 ; LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 11 : Vernehmung Direktor Zoltan Hajdu. 415 LG, Prozessakte Ehrenfest, Bd. XXII, S. 555 : Aufstellung der CA-BV-Oberbuchhaltung vom 30. Oktober 1935.
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Die Ära der Fusionen beginnt. Die Großbankfusionen der Jahre 1926 und 1927 Caro & Jellinek Speditions und Lagerhaus AG
Abstrich 30 %
Österreichische Daimler Motoren AG
Abstrich 30 %
Feinstahlwerke Traisen-Leobersdorf AG vorm. Fischer
Abstrich 30 %
Enzesfelder Metallwaren AG
Abstrich 50 %
Holzwerke Höfler AG
Abstrich 50 %
Internationale Export und Import AG
Abstrich 50 %
»Kamig« Österreichische Kaolin- und Montanindustrie
Abstrich 50 %*
* BA, VWP-CA vom 4. August 1926, Direktionskomitee-Sitzung vom 30. Juli 1926 (Beilage).
Die von der Creditanstalt für notwendig gehaltenen (und von der Anglo-Austrian- Bank konzedierten) Nachlässe erreichten eine Gesamthöhe von 300.000 Pfund, das waren rund 10 Mio. Schilling. Weitere Debitoren im Wert von 750.000 Pfund (25,5 Mio. S) wurden überhaupt nicht übernommen416. Die gewährten Nachlässe waren, wie sich einer der Direktoren der Creditanstalt einige Jahre später erinnerte, »überreichlich«417. Der langfristige Pfund-Kredit der Bank of England im Ausmaß von 750.000 Pfund wurde auf drei Jahre gegeben418. Zugleich übernahm die Anglo-Austrian Bank 375.000 Aktien der Creditanstalt, die zu diesem Zweck ihr Kapital von 50 auf 65 Mio. Schilling erhöhte. Ein Teil der neuen Aktien (159.600) wurde der englischen Bank als Entgelt für die eingebrachten Aktiva übergeben ; die restlichen 215.400 Aktien wurden von der Anglobank zu einem über dem Tageskurs stehenden Wert (57,60 S bei einem Nominale von 40 S) übernommen. Insgesamt investierte die Bank 0,5 Mio. Pfund in Aktien der Creditanstalt419. Nach den Aufzeichnungen der Bank of England (an die die CA-Aktien in letzter Instanz übertragen wurden) hielten die Engländer zu Anfang des Jahres 1927 – nach weiteren Käufen – insgesamt 584.300 Aktien oder 22,8 % des Aktienkapitals der österreichischen Bank. Im April 1927 wurde allerdings ein größeres Paket (100.000 Stück) an die Londoner Versicherungsgesellschaft Prudential Insurance Company weiterverkauft. Bis 1931 ging der Anteil, den die Bank of England direkt oder indirekt in ihrem Besitz hielt, auf 191.600 Aktien zurück420. 416 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 11 : Vernehmung Direktor Zoltan Hajdu. 417 Ebenda, OZ 9 : Vernehmung Direktor Otto Deutsch. 418 Ebenda, OZ 11. Andere Zeitgenossen, wie der ÖVW, sprachen von 1,5 Mio. £. ÖVW, Aus der Woche, 19. Juni 1926, S. 1048. 419 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 11 ; BA, VWP-CA vom 4. August 1926. 420 A-BoE, OV 28–321 : Bank of England, Chief Cashier an Anglo-Austrian Bank, 11. Juni 1926 ; Credit Anstalt an Bank of England, 4. August 1926 ; Anglo-International Bank an Bank of England,
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Die goldenen 20er-Jahre
Von den umfangreichen österreichischen Industriebeteiligungen der Anglobank übernahm die Creditanstalt nur ausgewählte Kategorien, vor allem Anteile solcher Unternehmen, an denen die Anstalt selbst bereits interessiert war. Insgesamt wurden Aktien im Wert von 2,9 Mio. Schilling erworben, und zwar : ELIN, STEWAG, Puch, Hirtenberger Patronenfabrik, Schoeller-Bleckmann, Meinl, Skodawerke-Wetzler AG, Grünbacher Seilbahn AG, Phönix-Elementar- und Phönix-Lebens-Versicherung sowie ein Posten Alpine-Montan-Aktien421. Die übrigen Aktien wurden in die holländische Holdinggesellschaft Amsterdamsche Maatschappij voor Industrie en Handel eingebracht, die bereits im Juli 1926 ihre Tätigkeit aufnehmen konnte422. Wir werden später sehen, dass diese Regelung zum Vorbild einer ähnlich gearteten Transaktion der Boden-Credit-Anstalt wurde, die jedoch weitaus mehr Zeit darauf verwenden musste, die Holdinggesellschaft auf die Beine zu stellen. Die Fusion Anglobank – Creditanstalt erregte in Österreich großes Aufsehen. Immerhin handelte es sich hierbei um den ersten Zusammenschluss von Wiener Großbanken seit dem Entstehen des Aktienbankwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite war die Öffentlichkeit nicht gänzlich unvorbereitet, da die Tendenz zum Rückzug der Anglobank schon seit geraumer Zeit mit Missvergnügen beobachtet worden war und die Fusion nur noch als letzte Konsequenz dieser Entwicklung empfunden wurde423. Die Meinung der Wiener Haute Finance zum Fall Anglobank kann anhand des Bilanzberichtes der Direktion des Wiener Bankverein über das erste Semester 1926 studiert werden. »Die Tatsache«, heißt es darin, »daß die seinerzeit mit so großen Hoffnungen vorgenommene Umwandlung der alten Anglo-Oesterreichischen Bank in ein englisches Institut die Erwartungen der Beteiligten nicht erfüllte, wirft ein scharfes Licht auf die schwierigen Erwerbsverhältnisse, unter denen das österreichische Bankgeschäft, insbesondere das dezentralisierte, geführt werden muß. […] Wenn auch voraussichtlich individuelle Vorgänge, die uns näher nicht bekannt sind, die Entschließungen der Londoner Machthaber der Anglo-Bank beeinflußt haben mögen, so dürfte doch der letzte Grund für die Aufgabe 20. Juli 1927 ; Anglo-International Bank an Bank of England, 19. Mai 1927. Weiters : ÖVW, Die Bilanzen, 7. Mai 1927, S. 363 ; Compass, Jg. 1932, S. 267. 421 BA, VWP-CA vom 4. August 1926, Fusionsvertrag (Beilage) ; Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1926. 422 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1926. Dort wird auch berichtet, dass 1926 bereits »einige Aktienpakete« aus dem Besitz der Firma verkauft worden seien. 423 Vgl. ÖVW, Aus der Woche, 19. Juni 1926, S. 1047 f ; Wirtschaftsstatistisches Jahrbuch, Jg. 1926, S. 373 ff.
Die Ära der Fusionen beginnt. Die Großbankfusionen der Jahre 1926 und 1927
des österreichischen Geschäftes in dem allgemeinen Mißverhältnis zu suchen sein, welches, zwischen dem Rückgang des Geschäftsumfanges der hiesigen Banken in Gold gerechnet, gegenüber der Vorkriegszeit auf der einen Seite und der Steigerung der Gehalte, Spesen, Steuern und sozialen Lasten besteht, sowie in den geringen Ertragschancen, die sich infolge dieses Verhältnisses bieten.«424
In der Direktionsetage der Creditanstalt selbst wurde die Transaktion natürlich überaus optimistisch bewertet. In dem Bericht an die Generalversammlung der Bank heißt es : »Wir haben uns veranlaßt gesehen, auf die uns gemachte Anregung […] einzugehen, weil wir der Ansicht sind, der österreichischen Wirtschaft dadurch dienlich zu sein, daß wir denjenigen Teil des Geschäfts der Anglo-Austrian Bank in Österreich aufrecht zu erhalten bestrebt sind, welcher sich als gesund und existenzfähig erweist, weil wir ferner hoffen, dadurch den zahlreichen, dem Konzern der Anglo-Austrian Bank angehörigen industriellen Unternehmungen durch Kreditgewährung die weitere Existenz zu ermöglichen, und weil wir schließlich der Überzeugung sind, die ganze Transaktion auf eine Basis gestellt zu haben, welche auch die Aktionäre unserer Anstalt entsprechende Chancen erhoffen läßt.«425
Wir wollen dem Leser an dieser Stelle – dem Lauf der Entwicklung etwas vorauseilend – nicht vorenthalten, wie sich die Umstände der Transaktion zu Beginn der 30erJahre einem ehemaligen Vorstandsmitglied der Creditanstalt, Direktor Otto Deutsch, darboten. Nicht ohne eine gewisse Bitterkeit stellte dieser fest, die Anglobank habe »wie alle anderen Banken bei ihrem österreichischen Geschäftsbetrieb schwere Verluste erlitten und die englischen Aktionäre und Gläubiger waren nicht mehr gewillt, die Bank, bei der sie eine Rentabilität nicht mehr für möglich hielten (wahrscheinlich in klarerer Erkenntnis der österreichischen Verhältnisse, als sie damals bei den österreichischen Bankbeteiligten bestand) weiterzuführen.«426
Die Engländer waren in der Tat froh, ihr Engagement in Österreich (und darüber hinaus im gesamten Donauraum) reduziert zu haben. Um die Tätigkeit der noch immer bestehenden Londoner Anglo-Austrian Bank in den Nachfolgestaaten zu erleichtern, wurde beschlossen, den Namen in Anglo-International Bank umzuändern 424 BA, ARP-WBV vom 19. Oktober 1926, Bericht der Direktion des Wiener Bankverein über das erste Halbjahr 1926. 425 BA, VWP-CA vom 22. Juni 1926, Beilage. 426 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 9 (Herv. v. Verf.).
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und das Institut mit der British Trade Corporation zu vereinigen, die ähnlich gelagerte geschäftliche Interessen verfolgte. Diese Transaktion wurde im Herbst 1927 durchgeführt427. In der Selbsteinschätzung der Anglo-International Bank wurde dieser Schritt als endgültige Wende in Richtung auf eine neue geschäftliche Ära interpretiert : »In any estimate of future prospects proper caution must be observed with regard to so unstable an element as Central Europe still represents today, but there can be no doubt that the new bank has many advantages over the old Anglo-Austrian Bank. The institution is now in the position of an English bank able to carry on a normal foreign banking business. Instead of directly financing Continental industries, it will now operate through first-class local banks such as the Oesterreichische Creditanstalt für Handel und Gewerbe, the Anglo-Czechoslovakian Bank and the Croatian Discount Bank, in all of which it has important holdings.«428
Die Eingliederung der Filiale der Anglo-Austrian Bank fiel in eine Phase der allgemeinen geschäftlichen Expansion der Creditanstalt. Hauptsächlich als Folge der Reintensivierung der Kreditbeziehungen zum Donauraum zeigte die Debitorensumme des Instituts exorbitante Steigerungsraten (siehe Tabelle 70, Kapitel III-3, S. 249). Zum Zeitpunkt der Fusion (Mitte 1926) wurde von der Creditanstalt mitgeteilt, dass sich durch diese Transaktion die Bilanzsumme der Bank um ein Drittel erhöhen werde. Die tatsächliche Steigerung übertraf diese Voraussage beträchtlich : Die Bilanzsumme stieg 1926 gegenüber dem Vorjahr von 608 auf 927 Mio. Schilling, also um mehr als 50 %429. Die Stärkung der Stellung der Creditanstalt veränderte die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg herrührende traditionelle »Rangordnung« unter den Großbanken. Die Akquisition der Anglobank »beunruhigte«, wie der ausländische Berater der Oesterreichischen Nationalbank nach England berichtete, insbesondere die Leitung der Boden-Credit-Anstalt430. Die Ereignisse des Jahres 1927, in deren Verlauf auch die BCA ihren Wirkungskreis enorm erweiterte, müssen also auch unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. Vorläufig stand die österreichische Öffentlichkeit allerdings noch im Bann anderer Turbulenzen auf dem Kreditsektor : Wenige Tage nach dem Bekanntwerden der Fusion Anglobank – Creditanstalt erfuhr das Land von den Schwierigkeiten der Centralbank der deutschen Sparkassen ; einige Monate später wurde der Postsparkassenskandal 427 Siehe : Natmeßnig, S. 264 ff. In der Folge spielte die Anglo-International Bank auch eine wichtige Rolle bei Devisentransaktionen der Bank of England. Siehe : Sayers, S. 426 f. 428 PRO, FO 371/11213–82091. 429 Geschäftsbericht der CA für das Jahr 1926. 430 A-BoE, OV 28–32 : Kay an Norman, 20. September 1926.
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aufgedeckt. Auch die Kalamitäten verschiedener Provinzbanken konnten nicht mehr verborgen werden431. Der gesamte Kreditsektor wurde zum Gegenstand öffentlicher Erörterungen, Mutmaßungen und Gerüchte in Österreich wie auch in den umliegenden Ländern, die zum sogenannten »Neu-Ausland« gehörten432. So kann es nicht wundernehmen, dass seit dem Frühjahr 1926 verschiedene Fusionskombinationen zwischen den Wiener Banken im Gespräch waren. Selbst in den Direktionsetagen der Großbanken wurde wiederholt »über Fusionsmöglichkeiten anderer Banken gesprochen«433. Die folgende Zusammenstellung soll einen Eindruck vom »Fusionskarussell« der Jahre 1926 bis 1928 vermitteln. Folgende Kombinationen wurden damals kolportiert: Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft
– Unionbank1
Boden-Credit-Anstalt
– Wiener Bankverein2
Boden-Credit-Anstalt
– Creditanstalt3
Boden-Credit-Anstalt
– Länderbank4
Mercurbank
– Verkehrsbank5
Länderbank
– Creditanstalt6
Boden-Credit-Anstalt
– Mercurbank7
1 2 3 4 5 6 7
BA, DSP-WBV vom 31. März 1926. BA, VSP-BCA vom 23. März 1926 sowie 5., 7., 11. und 12. Jänner 1927. BA, VSP-BCA vom 18. Mai 1926 und 20. Februar 1928. BA, VSP-BCA vom 5. Juni und 13. September 1926. BA, VSP-BCA vom 1. Dezember 1926. BA, VSP-BCA vom 4. und 12. Februar sowie 23. März 1927. BA, VSP-BCA vom 27. Jänner und 24. Februar 1927 sowie 26. November 1928 und 22. Februar 1929.
Insbesondere die letzte Kombination wurde in den Jahren 1927 bis 1929 immer wieder in Erwägung gezogen. In ein ernsthaftes Stadium trat die Fusionsfrage allerdings erst durch die Krise der Postsparkasse im Herbst 1926, in deren Gefolge ein Vertrag geschlossen wurde, der vorsah, dass der Bosel’sche Besitz an Unionbank-Aktien (75 % des Aktienkapitals) in den Besitz 431 Vgl. Kapitel III-2, S. 206 ff. 432 Schon Ende 1925 sagte die Prager Presse einen baldigen Zusammenschluss von Bankverein und Unionbank voraus. Siehe : BA, DSP-WBV vom 23. Dezember 1925. 433 BA, DSP-WBV vom 14. April 1926.
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der PSK übergehen sollte434. Die Postsparkasse war jedoch als öffentliche Institution an einer dauernden Kontrolle über die Unionbank nicht interessiert. Trotz der Tatsache, dass das Geschäft dieser Bank 1926 eine schrumpfende Tendenz aufwies und eine Reihe von Kunden ihre Geschäftsbeziehungen aufgelöst hatten435, bildete sie ein in vieler Hinsicht (Veitscher-Magnesit-Aktien-Besitz !) interessantes Kaufobjekt für andere Großbanken, zumal Bosel die »tatsächliche Herrschaft« über die Bank erst mit Jahresbeginn 1925 angetreten hatte436 und seine Schwierigkeiten sich nicht auf das Institut übertragen hatten. Die Creditanstalt schied als einzige österreichische Großbank aus dem Kreis der ernsthaften Bewerber um die Unionbank von vornherein aus, da sie noch damit beschäftigt war, die Fusion mit der Anglobank zu »verdauen«. Von den übrigen schienen vor allem die Escompte-Gesellschaft und der Bankverein an der Transaktion interessiert, während sich die BCA anfangs eher im Hintergrund hielt437. Die ersten Bewerber waren jedoch, wie der »Volkswirt« schrieb, »reichsdeutsche Banksyndikate«, die Commerz- und Privatbank im Verein mit der Deutschen Effektenbank auf der einen, die Deutsche Bank und Speyer, Elissen & Co auf der anderen Seite438. Dieser zweiten Gruppe schloss sich der Wiener Bankverein an ; und obwohl die Direktion des Bankverein sich einen Monat lang intensiv mit der Transaktion befasste, kam ein positiver Abschluss nicht zustande. Er scheiterte am Widerstand des geschäftsführenden Gouverneurs der Postsparkasse, Richard Reisch439. Reisch, Mitglied der Direktion der Boden-Credit-Anstalt bis zu seiner Berufung zum Präsidenten der Nationalbank im Jahr 1922, spielte in den folgenden Wochen auch die entscheidende Rolle beim Zustandekommen der Kombination BCA – Unionbank. Nach dem Ausscheiden des Bankverein aus dem Kreis der ernsten Bewerber um die Unionbank waren nur noch die BCA und die Niederösterreichische Escompte- Gesellschaft übrig geblieben. Das für die Postsparkasse zumindest nicht ungünstigere Angebot der NEG wurde von oberster politischer Stelle neutralisiert. »Die Regierung«, wurde dem Vorstand der BCA mitgeteilt, »würde es vorziehen, wenn die B.C.A. das Geschäft macht.«440 Reisch, der der Boden-Credit-Anstalt diese 434 Vgl. Ausch, S. 269 ff. 435 Siehe : ÖVW, Die Bilanzen, 19. März 1927, S. 280 f. 436 BA, VSP-BCA vom 20. Jänner 1925. 437 BA, VSP-BCA vom 25. September und 17. November 1926, DSP-WBV vom 29. Oktober und 8. November 1926. 438 ÖVW, Die Bilanzen, 20. November 1926, S. 93. 439 BA, DSP-WBV vom 8. November, 13. und 18. Dezember 1926, VSP-BCA vom 17. November und 18. Dezember 1926. Aus den Aufzeichnungen der BCA geht eindeutig hervor, dass Reisch bereits im November gegen die Bankverein-Gruppe opponierte, eine endgültige Ablehnung jedoch erst am 17. Dezember aussprach. 440 BA, VSP-BCA vom 20. Dezember 1926. Dies scheint die These von Karl Ausch zu bestätigen, dass
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aufmunternden Nachrichten zukommen ließ, versorgte die Bank auch mit den nötigen geschäftlichen Informationen441, ehe schließlich bei Gesprächen auf dem Semmering, die über die Weihnachtsfeiertage stattfanden, die endgültige Vorentscheidung zugunsten der Boden-Credit-Anstalt fiel. Das Offert der BCA wurde Reisch offiziell am 10. Jänner übermittelt, der Vertrag zwei Tage später fixiert442. Die Direktion der BCA hatte ursprünglich einen äußerst zinsgünstigen Kredit (5 %) der Postsparkasse zum Zwecke des Ankaufs der Unionbank-Aktien für notwendig gehalten443 ; der endgültige Vertrag sah jedoch einen 5,3 Mio.-Dollar-Kredit der BCA an die PSK (mit einer Verzinsung von 7 %) vor, der auf ein Jahr gegeben wurde und verlängerbar war. Die weiteren Klauseln enthielten eine Gewinnbeteiligung der Postsparkasse an eventuellen Effektenverkäufen aus dem Unionbank-Besitz, fixierten den Umtauschschlüssel der BCA gegen die Unionbank-Aktien und bestimmten, dass die von der PSK übernommenen Aktien der Boden-Credit-Anstalt auf längere Zeit gesperrt bleiben sollten, wobei das Stimmrecht für diese Effekten der BCA-Direktion überlassen wurde444. Der Erwerb der 75-Prozent-Majorität der Unionbank bildete nur den ersten Schritt eines weitergehenden Planes, der im Schoß der Direktion der Boden-Credit-Anstalt am 15. Dezember gefasst worden war : der Fusion BCA – Unionbank – Verkehrsbank. Zu diesem Schritt hatten die sich mehrenden Konflikte zwischen der Boden-Credit-Anstalt und Teilen des Managements der Verkehrsbank beigetragen. Während die Boden-Credit-Anstalt die Tatsache kritisierte, dass die Verkehrsbank – unter Berufung auf die enge Verbindung mit der BCA – sich selbständig mit ausländischen Krediten versorgte445, fühlten sich einzelne Direktionsmitglieder der Verkehrsbank bei wichtigen geschäftlichen Entscheidungen übergangen446, die ganz offensichtlich auf eine »Vorbereitung der Übernahme des Industriekonzerns [der Verkehrsbank, d. Verf.] durch die B.C.A.« hinaus liefen447. Da die Boden-Credit-Anstalt sich in der Zwischenzeit in den Besitz der Aktienmajorität der Verkehrsbank gesetzt hatte, war das Ergebnis der Auseinandersetzungen von vornherein klar : Am 17. Jänner 1927 beschlossen die Verwaltungsratsgremien beider Banken, eine volle Fusion durchzuführen. Die Transaktion selbst wurde einige Zeit die NEG-Transaktion am Widerstand des Finanzministers Viktor Kienböck gescheitert sei, der der NEG die engen geschäftlichen Beziehungen zum »roten« Wien übelgenommen habe. Ausch, S. 301. 441 BA, VSP-BCA vom 21. Dezember 1926. 442 Ausch, S. 300 ; BA, VSP-BCA vom 10. Jänner 1927. 443 BA, VSP-BCA vom 15. Dezember 1926. 444 BA, VWP-BCA vom 17. Jänner 1927. 445 BA, VSP-BCA vom 4. Juni 1926. 446 BA, VSP-BCA vom 17. November 1926. 447 Diese Kritik wurde im VSP-BCA vom 15. Juni 1926 referiert.
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später in die Tat umgesetzt448. Der Umtauschschlüssel war wesentlich ungünstiger als jener für die Aktien der Unionbank. Jener Teil der Aktien, der sich bereits im Besitz der BCA (bzw. der Verkehrsbank selbst) befand, wurde vernichtet. Zur Durchführung der Transaktion erhöhte die Boden-Credit-Anstalt ihr Aktienkapital von 30 auf 45 Mio. Schilling ; in einer zweiten Etappe wurde das Kapital auf 55 Millionen aufgestockt (und eine Agioreserve von 9,9 Mio. gebildet) ; der größte Teil der Emission wurde im Inland untergebracht, der kleinere, wie bereits erwähnt, von der französischen Holdinggesellschaft Union Européenne (Schneider-Creusot-Konzern) übernommen449. Die Fusion wurde rückwirkend mit dem 1. Jänner 1927 vollzogen, ein gemeinsamer Betrieb de facto aber erst ab Ende März 1927 geführt. Von den 1.133 Angestellten der Union- und der Verkehrsbank wurde weniger als die Hälfte, nämlich nur 450, von der BCA übernommen, davon 177 definitiv, der Rest provisorisch bis Ende 1928450. Auf diese Weise sank die Zahl der bei den drei fusionierten Banken insgesamt beschäftigten Angestellten von 1.760 (Ende 1926) auf 1.000 (Ende 1927), 960 (Ende 1928) und 900 (Mitte 1929). Die Personalausgaben und Regien konnten so bereits im ersten Jahr (1927) von 20,8 Mio. (1926, für alle drei Banken zusammengenommen) auf 15,6 Mio. gesenkt werden451. Mit der Übernahme der beiden Institute erfuhr der Industriekonzern der Boden-Credit-Anstalt eine beträchtliche Erweiterung. Um das Effektenportefeuille der Bank zu entlasten und die Mobilität zu erhöhen, gründete man nach dem Vorbild der Creditanstalt im Dezember 1927 in Kooperation mit ausländischen Geschäftspartnern (dem Londoner Bankhaus Schröder & Co, der Amsterdamschen Bank, der Mutuelle Solvay, Brüssel, und der Schweizerischen Bankgesellschaft) eine Effekten-Holdinggesellschaft in den Niederlanden. Vom Aktienkapital der »Maatschappij voor Beheer van Effekten« in der Höhe von 1 Mio. Gulden zeichnete die Boden-Credit-Anstalt die Hälfte ; ihre Partner übernahmen den Rest und stellten einen Kredit im Ausmaß von 1 Mio. Pfund zur Verfügung. In diese Gesellschaft wurden vor allem Aktien der ehemaligen Konzernbetriebe der Unionbank und der Verkehrsbank eingebracht. Die BCA sicherte sich ein Optionsrecht auf einen späteren Rückkauf der Aktien sowie das Stimmrecht in den Verwaltungsräten und den Generalversammlungen der betreffenden Firmen452. 448 BA, VSP-BCA vom 17. Jänner 1927 und VWP-BCA vom 17. Jänner 1927. 449 BA, VWP-BCA vom 15. Oktober 1927. Vgl. auch den darin enthaltenen Bilanzbericht für das erste Halbjahr 1927. 450 BA, VWP-BCA vom 2. Mai 1927. 451 BA, VWP-BCA vom 14. Mai und 15. Oktober 1927, 15. März 1928 sowie 13. März und 2. Oktober 1929. 452 BA, VSP-BCA vom 16. Mai und 14. Juni 1926 sowie VWP-BCA vom 15. Oktober 1927 und 15. März 1928.
Die Ära der Fusionen beginnt. Die Großbankfusionen der Jahre 1926 und 1927
Nicht nur der Industriekonzern der Boden-Credit-Anstalt wurde erweitert ; der Bank wuchs durch die Fusion auch das lang ersehnte österreichische Filialnetz zu : Von den insgesamt 26 Zweigstellen der beiden aufgenommenen Banken wurden einige zusammengelegt ; zehn Wiener Filialen und zwei in Niederösterreich (Krems und Wiener Neustadt) wurden weiter betrieben453. Darüber hinaus gewann die BCA Einfluss auf einige Kreditinstitute in den Bundesländern : Bereits 1926 hatte die Verbindung mit der Verkehrsbank die Fusion der Tiroler Hauptbank (an der die BCA seit 1924 beteiligt war) mit der Bank für Tirol und Vorarlberg möglich gemacht ; des Weiteren kam es zur Zusammenlegung der Grazer Agrarbank, die seit 1924 zum BCA-Konzern gehörte, und der Verkehrsbank-Filiale zur Bank für Steiermark454. Sowohl die Innsbrucker als auch die Grazer Bank wurden im darauffolgenden Jahr zum Kristallisationspunkt neuer, erweiterter Kombinationen : Die Hauptbank für Tirol und Vorarlberg nahm die Agrarbank für die Alpenländer auf, die Bank für Steiermark kam in die unangenehme Lage, die Grazer Filiale der ehemaligen Centralbank der deutschen Sparkassen und die marode Steirerbank zu übernehmen455. Unabhängig von der mit der Übernahme der Verkehrsbank verbundenen Expansion in die österreichische Provinz gelang es der Boden-Credit-Anstalt im Jahr 1926, anlässlich einer notwendig gewordenen Stützungsaktion, auf die Bank für Oberösterreich und Salzburg Einfluss zu gewinnen. Die Bank, an der das Land Oberösterreich, die Bayerische Vereinsbank und eine »Schweizer Gruppe« als Großaktionäre beteiligt waren456, hatte seit der Stabilisierungskrise mit wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Sie verfügte über ein ausgedehntes Filialnetz in Oberösterreich und Salzburg sowie über ausgezeichnete Verbindungen zur regionalen Industrie, insbesondere zu der ältesten großen österreichischen Elektrizitätsgesellschaft Stern & Hafferl457. Nach den beiden großen Fusionen der Jahre 1926 und 1927 schien die Konzen trationsbewegung im österreichischen Großbankensektor zum Abschluss gekommen zu sein. Dieser Auffassung gab Hans Puxbaum in seinem Buch über das mitteleuropäische Bankwesen ebenso Ausdruck458 wie der sonst so skeptische Walther Federn in der großen Rückschau des »Österreichischen Volkswirt« auf die ersten zehn Jahre Wirtschaftsentwicklung in den Nachfolgestaaten. 453 BA, VWP-BCA vom 2. Mai 1927 und VSP-BCA vom 7. März 1927. 454 BA, VWP-BCA vom 10. November 1926. 455 BA, VWP-BCA vom 17. Jänner 1927. 456 BA, VWP-BCA vom 10. November 1926. Wen die ominöse »Schweizer Gruppe« repräsentierte, ist unklar. Möglicherweise handelte es sich hierbei um Bosels »Union-Trust«, denn in den ersten Nachkriegsjahren war noch immer die Unionbank an der Oberbank interessiert gewesen. 457 Vgl. zum Konzern und Filialnetz der Oberbank : Compass, Jg. 1925, S. 460 f. 458 Puxbaum, S. 14.
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»Das österreichischen Bankwesen«, heißt es bei Federn explizit, »ist wieder gesund. Nach unsäglichen Verlusten sind […] nur jene Banken […] aufrecht geblieben, die über Krieg und Inflation unter ihrer alten Leitung geblieben sind. Wo der Besitzwechsel der Aktien die neuen so rasch erloschenen Sterne auf dem Finanzhimmel an die Spitze der Banken gebracht hat, sind sie alle unrettbar schmählich verkracht. Es sind solche darunter, die eine ehrenvolle Vergangenheit gehabt haben, die Unionbank, die Depositenbank, die Lombard- und Escomptebank, die Centralbank der deutschen Sparkassen, die Österreichische Industrie- und Handelsbank und all die neu gegründeten, von denen man fast schon die Namen vergessen hat : Die Bodenbank, die Allgemeine Industriebank, die Bauernbank, die Steirerbank, ein paar Tiroler Banken und noch viele andere, bei deren Gründung – auch das ist charakteristisch – fast überall Parlamentarier Pate gestanden sind, haben rasch ein unrühmliches Ende genommen. Die Banken, welche übrig geblieben sind, sind der Größe des heutigen Österreich angepaßt.«459
Solche und ähnliche Äußerungen sind typisch für die Phase der Konjunkturbelebung in den Jahren 1927 bis 1929. Keiner der zeitgenössischen Kommentatoren konnte wissen, dass die Welt am Vorabend eines bis dahin nie gekannten Konjunktureinbruchs stand ; und die wenigsten von ihnen ahnten, auf welch schwachen Füßen die verbliebenen Großbanken selbst während des kurzen Wirtschaftsaufschwungs standen, der 1927 einsetzte. Lediglich die Leitung der Oesterreichischen Notenbank bewahrte auch nach den fusionsreichen Jahren 1926 und 1927 eine gewisse Skepsis bei der Beurteilung der Lage am österreichischen Kreditsektor. »Im allgemeinen darf angenommen werden«, heißt es im Geschäftsbericht der Nationalbank für das Jahr 1927, »daß der heutige Stand der österreichischen Bankenorganisation den wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt ist und einer weitergehenden Konzentration nicht mehr bedarf, wobei allerdings vorausgesetzt wird, daß Österreich in seiner wirtschaftlichen Entwicklung günstigeren Zeiten entgegensehen und seine Mittlerrolle zwischen West und Ost aufrechterhalten und weiterentwickeln kann.«460
Die Fusionen der Jahre 1926 und 1927 vollzogen sich nicht im Klima einer allgemeinen wirtschaftlichen Expansion ; sie wurden den Akteuren von der Ungunst der Verhältnisse aufgezwungen. Sie waren weniger Ausdruck eines Konzentra459 Federn, Die Wiener Banken, S. 57 (Herv. v. Verf.). 460 BHA, Zl. 631/1928 : Sten.Prot. der Jahressitzung der Generalversammlung der OeNB vom 16. März 1928.
Die Ära der Fusionen beginnt. Die Großbankfusionen der Jahre 1926 und 1927
tions- als vielmehr Symptome eines Kontraktionsprozesses im Wiener Bankwesen, in dessen Verlauf sich eine Anpassung des Kreditapparats an die neuen, geänderten Verhältnisse und an die geschrumpften Betätigungsmöglichkeiten im Donauraum vollzog. Während die Öffentlichkeit die Probleme des Bankensektors als gelöst ansah, wurden in den Direktionsetagen der Großbanken – wie in diesem Kapitel gezeigt – bereits wieder neue Fusionskombinationen durchgespielt. Völlig unbemerkt – und auch von der historischen Forschung noch nicht entdeckt – zeichnete sich während der Fusionsverhandlungen über die Unionbank für wenige Tage eine Perspektive ab, die in ihrem Ausmaß weit über das hinausging, was sich 1927 tatsächlich vollzog : der ernsthafte Gedanke einer Fusion Unionbank – Verkehrsbank – Boden-Credit-Anstalt mit dem Wiener Bankverein. Die Idee einer solchen Großlösung wurde insbesondere von den Vertretern jener beiden Banken ventiliert, die sich zusammen mit dem Bankverein um das Aktienpaket der Unionbank bemüht hatten : Otto Aschaffenburg vom Frankfurter Bankhaus Speyer-Ellissen und Oscar Wassermann von der Deutschen Bank461. Die Transaktion scheiterte an unüberbrückbaren Differenzen zwischen den beiden österreichischen Großbanken : Die Boden-Credit-Anstalt wollte zuerst ihre Position bei Fusionsverhandlungen durch die vorherige Aufnahme der Verkehrs- und der Unionbank stärken ; sie stellte ferner die Forderung, den Generaldirektor der Vereinigten BCA-Bankverein zu stellen ; und sie wollte à tout prix verhindern, »vor Abschluß der Fusionsvereinbarungen dem Wiener Bankverein Einsicht in die interne Situation der B.C.A zu gewähren«462.
Wir werden später sehen, aus welchem Grund die Direktoren der Boden-Credit-Anstalt ihre Kollegen im Bankverein über den Status ihrer Bank im Unklaren lassen wollten. Das Management des Bankverein wiederum lehnte die Unionbank-Transaktion ab, beharrte auf dem Vorsitz im Vorstand der »vereinigten Bank« und ließ erkennen, dass der Personalabbau nach einer Fusion vor allem zu Lasten der BCA gehen sollte463. Nach einer Woche ergebnisloser Verhandlungen übermittelte Rudolf Sieghart in seiner Eigenschaft als Präsident der Boden-Credit-Anstalt dem leitenden Direktor des Wiener Bankverein, Alfred Heinsheimer, ein Schreiben des Inhalts, 461 BA, VSP-BCA vom 5. Jänner 1927. Interessanterweise fanden die nun folgenden Besprechungen in den Direktionsbesprechungsprotokollen des WBV keinen Niederschlag. 462 BA, VSP-BCA vom 10. Jänner 1927. 463 BA, VSP-BCA vom 7., 10., 11. und 12. Jänner 1927.
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»daß noch immer Meinungsverschiedenheiten sachlicher Natur bestehen, über die wir nicht hinwegkommen können. So wünschenswert die Durchführung der geplanten Transaktion auch ist, wird doch im gegenwärtigen Momente sich kaum ein Weg ergeben, um zu einer Einigung zu kommen, und die Angelegenheit wird daher einem günstigeren Zeitpunkt vorbehalten werden müssen.«464
Ein solcher »günstiger Zeitpunkt« sollte sich nicht mehr ergeben. Als der Bankverein sich im Herbst 1929 ein zweites Mal kurz mit der Möglichkeit einer Fusion befasste, stand die Boden-Credit-Anstalt bereits am Rande des Abgrunds.
464 BA, VSP-BCA vom 12. Jänner 1927.
IV. Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
1. Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert
Nach den turbulenten Entwicklungen der Jahre 1926 und 1927 – im Provinzbankwesen, bei der Postsparkasse, der Centralbank der deutschen Sparkassen und infolge der Fusionen unter den Wiener Großbanken – schien das österreichische Bankwesen endlich wieder ruhigeren Zeiten entgegenzugehen. Diese Periode des Optimismus sollte jedoch nicht lange währen. Der im Frühjahr 1929 veröffentlichte Geschäftsbericht der Oesterreichischen Nationalbank für das Jahr 1928 warf – für den uneingeweihten Beobachter vielleicht überraschend – die Frage auf, »ob die unveränderte Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Bankenapparates zweckmäßig ist«1.
Auch der Bilanzexperte des »Volkswirt« (wahrscheinlich Walther Federn selbst) stellte nun anlässlich der Besprechung der Jahresbilanzen für 1928 erste Überlegungen darüber an, »ob alle Wiener Banken im vergangenen Jahr und ebenso in den Vorjahren die beschlossene Dividende voll verdient haben«2.
Besonders deutlich wurde diese Kritik in Bezug auf die Boden-Credit-Anstalt ausgesprochen, die eine Dividende von 15 % zur Verteilung gebracht hatte, obwohl die Bilanz eine nur unbedeutende Ausweitung des Geschäfts anzeigte und die Erträgnisse eine nach unten gerichtete Tendenz aufwiesen. Die Leitung der Boden-Credit-Anstalt sah sich in diesen Wochen nicht zum ersten Mal der Kritik der Öffentlichkeit ausgesetzt. Bereits Anfang 1928 hatten in Wien Gerüchte kursiert, die von einem beengten Status der Bank sprachen3. Auch die Expan sionspolitik des Instituts war von manchen Zeitgenossen mit Unbehagen registriert 1 2 3
BHA, Zl. 453/1929 : Sten.Prot. der VI. am 14. März 1929 abgehaltenen regelmäßigen Jahressitzung der Generalversammlung der OeNB. ÖVW, Die Bilanzen, 16. März 1929, S. 276. ÖVW, Die Bilanzen, 17. März 1928, S. 279.
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Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
worden. Insbesondere stand jedoch die Nähe zur Politik – zur Christlichsozialen Partei und zur Heimwehr – wiederholt im Mittelpunkt öffentlicher Erörterungen : Die Ressentiments der politischen Linken gegen das »Finanzkapital« konzentrierten sich in den Jahren nach 1926 auf die Boden-Credit-Anstalt4. Und da die Bank andauernd das Objekt negativer Gerüchte war (von denen viele eben nicht einer Grundlage entbehrten), kehrte sich auch, wie der »Volkswirt« schrieb, »die ungünstige Börsenstimmung […] besonders gegen die Aktien ihres Konzerns«5 und machte wiederholte Interventionskäufe notwendig. Die eingangs wiedergegebene Auffassung der Oesterreichischen Nationalbank beruhte, wie wir heute wissen, auf einer ziemlich genauen Kenntnis der Lage der Boden-Credit-Anstalt. Wenige Wochen vorher hatte der Präsident der Notenbank, Richard Reisch – ein ehemaliger Direktor der BCA –, Einblick in die interne Bilanz des Instituts genommen6. Es war dies nicht das erste Mal, dass Reisch die Direktion der Bank um zusätzliche Informationen ersucht hatte. Schon Anfang 1927 hatte er sich, wie einem Vorstandssitzungs-Protokoll der BCA zu entnehmen ist, erkundigt, »aus welchen Gründen wir Ende Dezember [1926, d. Verf.] einen so großen Geldbedarf haben«7.
Ende 1927 fand erneut eine längere Besprechung statt, bei der Reisch den beengten Status der Bank monierte und dazu riet, eine Kapitalerhöhung vorzunehmen8. Offensichtlich war Reisch zu diesem Zeitpunkt noch nicht völlig über das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten der Boden-Credit-Anstalt informiert : Die Bank konnte an eine solche Kapitaltransaktion nicht schreiten, weil sie noch 143.000 Aktien aus älteren Emissionen besaß (13 % des Aktienkapitals), die auf Syndikatskonto verbucht waren. Auch die Begebung von mehrjährigen Bonds im Ausland (nach dem Muster einzelner deutscher Banken) erschien, wie in der Diskussion der leitenden Direktoren gesagt wurde, »bei unseren Verhältnissen etwas unnatürlich und würde keinen sehr guten Eindruck machen«9.
4 5 6 7 8 9
Siehe den Rückblick in : Sozialdemokratisches Wahlhandbuch, S. 12 ff. ÖVW, Die Bilanzen, 16. März 1929, S. 260. BA, VSP-BCA vom 28. Februar 1929. BA, VSP-BCA vom 14. Jänner 1927. BA, VSP-BCA vom 3. Dezember 1927. BA, VSP-BCA vom 6. Februar 1928.
Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert
Versuche, im Lauf des Jahres 1928 die im eigenen Portefeuille befindlichen Aktien an den großen Finanzplätzen des Westens (New York, London, Paris) oder in Berlin fest unterzubringen10, scheiterten nicht zuletzt daran, dass auch das internationale Renommee der Boden-Credit-Anstalt nicht das beste war. In italienischen Bankkreisen herrschte z. B. die Meinung vor, »daß die Bodencreditanstalt […] sehr beengt sein soll, sie suche […] Geld und zahle viel höhere Konditionen für Auslandseinlagen wie andere Banken«11.
Die Bank trat also in das letzte Jahr ihrer Existenz unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen ein : Nicht nur hatte sie einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Vermögens in eigenen Aktien gebunden. Ihr Obligo bei der Notenbank war mit 55 Mio. Schilling an der Obergrenze dessen, was für »normal« gehalten werden konnte. Einige ihrer Konzernunternehmungen – Steyr, Mautner, Fanto und die DDSG – hatten mit immer wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Dennoch hätte vermutlich kaum jemand den nahen Zusammenbruch der Boden-Credit-Anstalt für möglich gehalten. Denn die Bank zählte zu den ältesten und renommiertesten Aktienbanken der ehemaligen Monarchie. Sie war 1864 mit der Absicht gegründet worden, dem Mangel an Realkredit abzuhelfen. Zu diesem Zeitpunkt existierte nämlich nur ein einziges Institut, welches das Hypothekargeschäft betrieb : die Notenbank selbst. Die Boden-Credit-Anstalt war keine Bank des »kleinen Mannes«. Ihr Kundenkreis setzte sich vornehmlich aus hochadeligen Kreisen zusammen. Sie verwaltete die Gelder und Vermögen des Hofes und der Aristokratie. Da der Bank normale Bank- und Börsengeschäfte aufgrund der Statuten untersagt waren, gründete sie 1869 den Wiener Bankverein. Dieser stellte »sozusagen die Credit-Mobiliarabteilung der Boden-Credit-Anstalt«12 dar. Durch misslungene Aktien spekulationen des Bankverein wurde die Boden-Credit-Anstalt von der Börsenkrise des Jahres 1873 so schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass die Regierung helfend eingreifen musste13. Diese Krise konnte jedoch rasch überwunden werden, und in den folgenden Jahrzehnten machte die Bank eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung durch. 1899 wurde eine Statutenänderung beschlossen, die es ihr ermöglichte, das eigentliche, reguläre Bankgeschäft selbst auszuüben.
10 11 12 13
Siehe : Bennett, S. 42 und 102 sowie BA, verschiedene VSP-BCA des Jahres 1928. BA, VSP-BCA vom 16. April 1928, vgl. auch 4. Februar 1928. Rutkowski, S. 62, Anm. 139. Vgl. März, Industrie- und Bankpolitik, S. 149 f und 180 f.
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Unter der Leitung Theodor von Taussigs wurde die Hinwendung zum Industriegeschäft vollzogen und der Aufbau eines Industriekonzerns (insbesondere im Textilsektor) in Angriff genommen. Aber Taussig starb 1910. Sein Nachfolger als »Gouverneur« der »Boden« (der vom Kaiser selbst ernannt wurde) war Rudolf Sieghart, der Vorstand der Präsidialkanzlei des österreichischen Ministerpräsidenten. Sieghart, dessen Ernennung gegen den Widerstand des Thronfolgers Franz Ferdinand und des einflussreichen Bankiers Albert Rothschild erfolgte14, wurde 1916 (nach dem Tod Kaiser Franz Josephs) abgesetzt. Nach dem Ende der Monarchie kehrte Sieghart jedoch erneut in die Boden-Credit-Anstalt zurück. Die Republik hatte den vom Kaiser ernannten Gouverneur abgeschafft und durch einen vom Verwaltungsrat gewählten Präsidenten ersetzt. In diese Position wurde Sieghart am 21. November 1919 durch einen einstimmigen Beschluss des Verwaltungsrates der Boden-Credit-Anstalt gewählt15. Die Persönlichkeit Siegharts prägte der weiteren Entwicklung der Bank den Stempel auf, insbesondere nach dem Ausscheiden von Generaldirektor Alexander Weiner im September 1923. Der Konflikt zwischen Weiner und Sieghart war, wie der gewöhnlich gut informierte »Österreichische Volkswirt« bemerkte, »mehr persönlicher als geschäftlicher Natur«16. Denn dem Präsidenten der Boden-Credit-Anstalt standen viel weitergehende als bloß repräsentative Funktionen zu : Präsidium und Direktion bildeten zusammen den Vorstand der Bank. Und da sowohl Sieghart als Weiner die Führungsrolle beanspruchten, eskalierte der Konflikt so weit, dass eine Koexistenz zweier so machtbewusster Persönlichkeiten unmöglich wurde. Weiner trat nach seinem Ausscheiden aus der Boden-Credit-Anstalt als Teilhaber in das bekannte Wiener Bankhaus Ephrussi & Co ein17. Der Verlust eines so erfahrenen Bankfachmannes in einer Phase des Umbruchs wurde von Direktor Ernst Mosing in der letzten Generalversammlung des Instituts am 14. November 1929 als »das erste jener unglücklichen Ereignisse« bezeichnet, »die der Bodencreditanstalt in ihrer weiteren Entwicklung so schwer geschadet haben«18. Weiners Nachfolger Rudolf Steiner vermochte der von Sieghart diktierten Geschäftspolitik keinen entscheidenden Widerstand entgegenzusetzen. Auch wenn – wie aus den Protokollen der Boden-Credit-Anstalt hervorgeht – Siegharts Entscheidungen nicht 14 Den Erinnerungen des damaligen Generaldirektors der Creditanstalt, Alexander Spitzmüller, zufolge soll Albert Rothschild wörtlich gesagt haben : »Er [Sieghart, d. Verf.] wird die Bank und uns alle in den Abgrund stürzen.« Spitzmüller, … und hat auch Ursach’, S. 83. 15 Vgl. zu Siegharts Lebensweg : Sieghart, S. 155 ff. 16 Der Rücktritt des Generaldirektors Weiner : ÖVW, 29. September 1923, Die Bilanzen, S. 422. 17 Compass, Jg. 1925, S. 619. An der Bank war u. a. die Berliner Disconto-Gesellschaft kommanditorisch beteiligt. 18 Ernst Mosings Rede ist enthalten in : LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 209, Subbeilage 1.
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immer unwidersprochen blieben, so setzte sich seine Linie letzten Endes immer durch. Diese beruhte auf zwei Grundaxiomen : dem engen Bündnis mit der großen bürgerlichen Partei, den Christlichsozialen, und einem uneingeschränkten Bekenntnis zu einer expansiven Geschäftspolitik. Nachfolgend soll die Entwicklung der Boden-Credit-Anstalt in den Jahren bis 1929 unter diesen beiden Gesichtspunkten analysiert werden. Die Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Inflationsperiode wurden bereits ausführlich dargestellt19 : Die Boden-Credit-Anstalt war vom Zusammenbruch der Donaumonarchie in zweifacher Hinsicht stärker betroffen als andere Wiener Großbanken : Sie war mit verhältnismäßig hohen Vorkriegsschulden in ausländischer Währung belastet und sie verfügte über keine einzige Filiale in Österreich oder im Ausland. Das Schuldenproblem wurde durch die Übertragung von Eigentumsrechten an die französischen Gläubiger gelöst. Die Verbindung zu den »neuausländischen« Konzernunternehmen war hingegen weitaus schwieriger aufrechtzuerhalten. Noch 1919 wurde das tschechoslowakische Industriegeschäft an die Živnostenská banka übertragen. Nach der Währungsstabilisierung wurde dieser Kooperationsvertrag revidiert, wodurch sich die Boden-Credit-Anstalt wiederum eine substantielle Quote an der Kreditgewährung an ihre tschechoslowakischen Konzernindustrien – im Falle der Mautner-Werke 50 % – sicherte. Auch in den anderen Nachfolgestaaten ging die Wiener Großbank damals zu einer expansiveren Geschäftspolitik über : In Ungarn arbeitete sie mit der Pester Ungarischen Commerzialbank zusammen ; in Jugoslawien und in Polen sicherte sie sich den bestimmenden Einfluss auf einzelne »nationale« Finanzinstitute20. Die komplementäre Institution zum Ausbau der Bankstützpunkte in den Nachfolgestaaten war die Nederlandsche Reconstructiebank (später : Nederlandsche Bank voor Buitenlandschen Handel) in Amsterdam, deren Aktienmehrheit die Boden-Credit-Anstalt 1924 gemeinsam mit der Amsterdamschen Bank erwarb. Dieses Institut sollte, wie erinnerlich, eine ähnliche Funktion erfüllen wie die Amstelbank für die Creditanstalt. Sie konnte dieser Aufgabe jedoch nie zufriedenstellend nachkommen. Womöglich noch expansiver ging die Direktion der Boden-Credit-Anstalt vor, als es galt, das österreichische Geschäft nach dem Krieg auf eine neue Grundlage zu stellen. Da die Boden-Credit-Anstalt – wie die anderen Großbanken – den Alpenländern vor 1918 nur geringes Augenmerk zugewandt hatte, war sie seit Anfang der 20er-Jahre auf der Suche nach einem kooperations- bzw. fusionswilligen Partner mit einem ausgebauten inländischen Filialnetz. Wie gezeigt, wurde dieser Wunsch erst 1926/27 mit der Fusion der Unionbank und Verkehrsbank erfüllt. 19 Vgl. Kapitel II-3, S. 69 ff. 20 Vgl. Kapitel II-4, S. 78 ff.
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Bis zu diesem Zeitpunkt war die Wiener Bank aber nicht untätig geblieben und hatte begonnen, ihre Präsenz in der »Provinz« auf einem anderen Weg systematisch auszubauen : durch die direkte Beteiligung an bereits bestehenden Bundesländerbanken. 1924 nahm die Boden-Credit-Anstalt an der Agrarbank AG in Graz sowie an der Tiroler Hauptbank Interesse. 1926 trat sie in ein Naheverhältnis zur Bank für Oberösterreich und Salzburg ; zwei Jahre später nahm sie an der Gründung der Bank für Kärnten teil. Die Grazer Agrarbank darf nicht mit der Agrarbank für die Alpenländer mit Sitz in Innsbruck verwechselt werden, die Anfang 1927 mit der Hauptbank für Tirol und Vor arlberg (wie die Hauptbank nach der 1926 vollzogenen Fusion mit der Bank für Tirol und Vorarlberg hieß) verschmolzen wurde. Mit den Tiroler Banken (und den mit diesen eng liierten christlichsozialen Politikern) war die Boden-Credit-Anstalt 1924 nicht nur anlässlich der Beteiligung an der Hauptbank in Kontakt gekommen, sondern auch im Zuge wiederholter Sanierungsaktionen für die Innsbrucker Agrarbank, die von Finanzminister Kienböck entriert worden waren, weil, wie der »Österreichische Volkswirt« schrieb, »der Zusammenbruch der Bank, in deren Verwaltungsrat die ersten Größen der christlichsozialen Partei saßen, die Raiffeisenkassen und zahlreiche andere wirtschaftliche Organisationen des Landes mitgerissen […] hätte«21.
Nachdem die schwach fundierte Agrarbank 1926 durch die Übernahme der bankrotten Alpenländischen Vereinsbank erneut in Schwierigkeiten geraten war, ventilierten Viktor Kienböck und Jodok Fink bei der Direktion der Boden-Credit-Anstalt den Plan einer Fusion der Agrarbank für die Alpenländer mit der Tiroler Hauptbank, welcher einige Zeit später unter Mitwirkung von Bundeskanzler Ignaz Seipel in die Tat umgesetzt wurde22. Nach dieser Transaktion gab es in Tirol nur noch zwei Aktienbanken : die Tiroler Landesbank, die von der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft und der Bayerischen Vereinsbank kontrolliert wurde, und die Hauptbank für Tirol und Vorarlberg, deren Geschäftsführung die Boden-Credit-Anstalt und die Deutsche Bank in Berlin überwachten. Die wichtigere von beiden war zweifellos die Hauptbank. Sie hatte von der alten Hauptbank die engen Verbindungen zur Tiroler Industrie und zum Handel übernommen, von der Bank für Tirol und Vorarlberg die wichtigen Kontakte zur Vorarlberger Wirtschaft und von der Agrarbank für 21 ÖVW, Aus der Woche, 31. Oktober 1925, S. 119. 22 BA, VSP-BCA vom 2. November 1926 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 97.645 und 97.872/1926 sowie 2599/1927.
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die Alpenländer die Beziehungen zu den bäuerlichen Kreditorganisationen. Im Jahr 1930 wurde die Konzentrationsbewegung im Tiroler Bankwesen mit dem Zusammenschluss der Hauptbank für Tirol und Vorarlberg und der Tiroler Landesbank zur Hauptbank für Tirol und Vorarlberg – Tiroler Landesbank endgültig abgeschlossen. Die Initiative zur Fusion ging von der Hauptbank, vermutlich von deren deutschem Großaktionär aus. »Die Vereinigung der […] Institute«, heißt es ergänzend in einem Kommentar des Finanzministeriums, »wurde dadurch ermöglicht, daß die Creditanstalt die seinerzeit von der Boden-Credit-Anstalt übernommene Beteiligung an die Hauptbank für Tirol und Vorarl berg abgegeben hat, weil der Creditanstalt ein Interesse an dieser Beteiligung fehlte.«23
Anlässlich der großen Bankfusion des Jahres 1934 kam die Creditanstalt allerdings – über den Umweg der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft – doch wieder in ein Naheverhältnis zur Hauptbank. Die Agrarbank AG in Graz hatte mit dem namensgleichen Institut in Innsbruck eines gemein : die enge Verbindung zu christlichsozialen Landespolitikern. Der Präsident ihres Verwaltungsrates, Hannes Schreckenthal, war zugleich Präsident des steirischen Landtages24. 1926 stellte sich heraus, dass der Bank große Verluste (im Ausmaß von 1 Mio. S) drohten25. Zur selben Zeit war die österreichische Regierung damit beschäftigt, eine endgültige Lösung für die Probleme der Steirerbank zu finden. Die Hausbank der steirischen Christlichsozialen befand sich seit 1924 in permanenten Schwierigkeiten, die nach dem Zusammenbruch der Centralbank der deutschen Sparkassen neuerlich in ein akutes Stadium getreten waren26. In ihrer Not wandten sich die Bundes- und die steirische Landesregierung mit dem Ersuchen an die Boden- Credit-Anstalt, der Steirerbank (und damit den in diese Angelegenheit involvierten Christlichsozialen) beizuspringen. Nach anfänglicher Ablehnung stimmte die Leitung der Wiener Bank – angesichts der Probleme der Agrarbank und der in Aussicht gestellten niedrigverzinslichen Ein-
23 ÖStA/AdR/BMF, Zl. 33.181/1930. 24 Schreckenthal trat 1926 im Zusammenhang mit dem sogenannten STEWEAG-Skandal (Kurstreibereien zum Schaden des Landes Steiermark) zurück. Vgl. Ausch, S. 230 ff ; siehe auch : BA, VSPBCA vom 25. September 1926. 25 BA, VSP-BCA vom 27. September und 1. Oktober 1926. Die Verluste hingen zum Teil mit missglückten Spekulationen von Kunden der Agrarbank mit STEWEAG-Aktien zusammen. 26 Die Centralbank war, wie erinnerlich, aus politischen Gründen gezwungen worden, fast das gesamte Aktienkapital der bankrotten Steirerbank zu übernehmen. Vgl. Kapitel III-23, S. 213 ff.
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lagen des Landes Steiermark und der Postsparkasse27 – dem Plan zu, die Steirerbank im Wege der Fusion mit der Agrarbank zu liquidieren. Die schließlich Anfang 1927 getroffenen Vereinbarungen sahen vor, die Steirerbank mit der Grazer Filiale der Cen tralbank, der (von der Verkehrsbank übernommenen) Zweigstelle der Boden-Credit- Anstalt und der Agrarbank AG zur Bank für Steiermark zusammenzufassen. Der zu erwartende Fusionsverlust von 200.000 Schilling ging zu Lasten des Wiener Instituts28. 1928 war die neue Bank jedoch bereits soweit konsolidiert, dass mit einem positiven Jahresergebnis gerechnet werden konnte29. Die Tiroler und steirischen Bankkrisen waren – unter Mitwirkung der Boden-Credit-Anstalt – noch gar nicht bereinigt, als die Schwierigkeiten einer anderen Bundesländerbank virulent wurden : Die Kärntnerbank AG, eine jener Banken, die nach dem Ersten Weltkrieg im Gefolge der politischen Separationsbestrebungen der Länder unter Mitwirkung von lokalen Politikern gegründet worden waren, hatte seit 1924 mit großen Problemen zu kämpfen. Sie hatte ein Drittel der eigenen Aktien zu Stützungszwecken an der Börse aufnehmen müssen und war mit einer Anzahl schlechter Debitoren belastet. Im Herbst 1926 musste die Kärntnerbank die Hilfe der Nationalbank in Anspruch nehmen. Und noch bevor die Öffentlichkeit (wieder einmal) alarmiert war, wandte sich der Generaldirektor der Notenbank, Viktor Brauneis, an die Boden-Credit-Anstalt mit dem Bemerken, »daß die Nationalbank das größte Interesse habe, daß die Kärntnerbank in Ordnung gebracht werde« ; er, Brauneis, gebe diese Information deshalb weiter, »weil sich die B.C.A. anscheinend für die Fusionierung und Sanierung von Provinzialbanken interessiere«30.
Obwohl die Großbank sich – wie im Falle der Steirerbank – anfangs reserviert verhielt31, war sie schließlich doch bereit, an der Liquidierung der Kärntnerbank mitzuwirken, zumal es nicht unmöglich schien, interessante neue Kunden wie die Holzfirma Drauland AG und die Bleiberger Bergwerks-Union für sich zu gewinnen. Die Boden-Credit-Anstalt wollte dabei gemeinsam mit dem Klagenfurter Bankhaus A. Ehrfeld & Co. vorgehen, das seit Beginn der 20er-Jahre von der Bayerischen Hypo27 28 29 30
AZ, 6. Oktober 1926 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 78.629/1926 ; BA, VSP-BCA vom 27. April 1927. Compass, Jg. 1936, S. 389 ; BA, VSP-BCA vom 27. April 1927. BA, VSP-BCA vom 29. September 1928. BA, VSP-BCA vom 2. November 1926. Am selben Tag findet sich übrigens auch eine ausführliche Eintragung über die von Tiroler politischer Seite angeregte Fusion Agrarbank – Tiroler Hauptbank. 31 Die erste Eintragung bezüglich der Kärntnerbank lautet : »Es wird beschlossen, daß wir uns mit dieser Sache derzeit nicht befassen.« BA, VSP-BCA vom 30. Oktober 1926. Erst eine Intervention des Notenbankpräsidenten Reisch scheint den Meinungsumschwung herbeigeführt zu haben.
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theken- und Wechselbank kommanditiert wurde. Der Plan sah vor, zum Zweck der Liquidation der Kärntnerbank ein neues Bankinstitut zu gründen32. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die Konkurrenz schneller gewesen war : Sowohl die NEG als auch der Wiener Bankverein hatten für die Kärntnerbank Interesse bekundet ; lediglich die Creditanstalt hatte sich als einzige der Wiener Großbanken abseitsgehalten. Der wie immer vorsichtig und selektiv agierende Bankverein hatte sich bereits im Dezember 1926 als Gegenleistung für einen Kredit an das Klagenfurter Institut das Vorkaufsrecht auf gute Debitoren und Beteiligungen gesichert33. Das wichtige Drauland-Engagement und andere Kunden wurden später in der Tat vom Bankverein übernommen34. Ein anderer Teil der Aktiva fiel dem Bankhaus Ehrfeld zu35. Mit dieser »Niederlage« war aber die Geschichte der Beziehungen der Boden-Credit-Anstalt zum Kärntner Bankwesen noch lange nicht zu Ende. Im März 1927 fanden erste Sondierungsgespräche von Landeshauptmann Vinzenz Schumy (Landbund) mit der Wiener Großbank statt. Im April beschloss die BCA-Direktion, die Verhältnisse in Kärnten neuerlich zu studieren »und möglicherweise eine bodenständige Bank dort [zu] gründen«36. Das Ergebnis der Expertise lautete : »Die Gründung einer neuen Filiale ohne Übernahme eines entsprechenden Geschäftes erscheint uns zu riskant ; wir könnten aber die Bank für Steiermark ausdehnen, eine Niederlassung derselben in Kärnten schaffen und die Firma ›Bank für Steiermark‹ auf ›Bank für Steiermark und Kärnten‹ ändern.«37
Dieser Plan wurde jedoch nicht weiter verfolgt, zumal die Bank für Steiermark 1927 mit großen eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Aus dem Zusammengehen mit dem Bankhaus Ehrfeld bzw. der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank ent wickelte sich aber allmählich eine tragfähige Konstruktion für eine Bankgründung in Kärnten : Die von Landeshauptmann Schumy parallel zu den Verhandlungen mit der Boden-Credit-Anstalt geführten Gespräche mit der »Bayernbank« über die Umwand32 BA, VSP-BCA vom 21. Jänner 1927. Diese Lösung passte hervorragend in die Geschäftsstrategie der BHWB, die seit Jahren bestrebt war, das Bankhaus Ehrfeld & Co. in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Vgl. HAUB, Faszikel 1058 : Ehrfeld. 33 BA, DSP-WBV vom 13. Dezember 1926 und VSP-BCA vom 21. Jänner 1927. 34 BA, DSP-WBV vom 15. Jänner, 5., 14. und 26. Februar, 14., 18. und 28. März sowie vom 8. April 1927, Beilage A. 35 ÖStA/AdR/BMF, Zl. AP 974/1927. 36 BA, VSP-BCA vom 30. April 1927. 37 BA, VSP-BCA vom 1. Juli 1927.
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Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
lung der Klagenfurter Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesellschaft wurden im Sommer des Jahres 1927 mit den BCA-Unterhandlungen koordiniert38. Aus dieser Initiative ging 1928 die Bank für Kärnten hervor, an deren Aktienkapital die Wiener und die Münchner Bank mit je 50 % beteiligt waren. Die Geschichte der Beteiligung der Boden-Credit-Anstalt an der Bank für Oberösterreich und Salzburg nahm ihren Anfang unabhängig von der Übernahme der Unionbank durch die Boden-Credit-Anstalt. (Die Unionbank war schon zuvor an der Oberbank beteiligt gewesen.) Das Linzer Institut war, wie fast alle kleineren österreichischen Banken, nach der Stabilisierung der Krone und dem Zusammenbruch der Börsenhausse 1924 in Schwierigkeiten gekommen, die 1926 ein solches Ausmaß erreichten, dass sie vor der Öffentlichkeit nicht länger verborgen werden konnten. Die Probleme wurden durch Einlagenabhebungen als Reaktion auf den Zusammenbruch anderer Provinzbanken noch zusätzlich verschärft39. An der Oberbank war neben der Unionbank und der Bayerischen Vereinsbank auch das Land Oberösterreich durch einen größeren Aktienbesitz direkt beteiligt. Da jedoch keiner der Großaktionäre in der Lage war, der in Bedrängnis geratenen Landesbank beizustehen, trat im Sommer 1926 die Boden-Credit-Anstalt auf den Plan, nachdem Sieghart, wie das Vorstandssitzungs-Protokoll vage mitteilt, »über den Stand der Oberbank informiert« worden war40. Eine erste Überprüfung ergab kein ungünstiges Bild vom Status der Bank : Sie konnte mit einer dauernden hohen Einlage des Landes Oberösterreich rechnen ; die laufenden Verluste schienen durch einen Abbau des Personals kompensierbar. »Das Geschäft«, hieß es, »ist an und für sich gesund ; es wurde nur ungeschickt geführt.«41 Eine zweite, anlässlich des Neueintritts der Boden-CreditAnstalt in den Verwaltungsrat der Oberbank durchgeführte Überprüfung führte jedoch zur Erkenntnis, dass das Institut Ende 1926 nicht nur sein Eigenkapital (2,5 Mio. S), sondern darüber hinaus eine weitere Million Schilling verloren hatte. Aufgrund dieser inneren Bilanz erklärte sich die Boden-Credit-Anstalt zur weiteren Teilnahme an der Geschäftsführung der Bank nur unter der Bedingung bereit, dass das Land Oberösterreich die Haftung für 5 Mio. Schilling dubioser Posten übernähme. Erst nachdem die Landesregierung diesem Ersuchen nachgekommen war, gewährte die Wiener Großbank dem oberösterreichischen Institut den zugesagten Stützungskredit in der Höhe von 5 Mio. Schilling42. In der Folge erhielt die Oberbank einen neuen Direktor und war gezwungen, ihren Personalstand durch Entlassung von neunzig 38 39 40 41 42
ÖStA/AdR/BMF, Zl. AP 974 und 18.190/1927. ÖVW, Die Bilanzen, 3. September 1927, S. 565. BA, VSP-BCA vom 19. August 1926. BA, VSP-BCA vom 6. September 1926. ÖStA/AdR/BMF, Zl. 2575/1927.
Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert
Angestellten drastisch zu reduzieren43. In der Folge entwickelte sich die Bank jedoch günstig. 1928 konnte die Dividende gegenüber 1927 erhöht werden44. Mit der Beteiligung an sanierungsbedürftigen Provinzbanken waren die österreichischen Aktivitäten der Boden-Credit-Anstalt nicht erschöpft. Mit der Centralbank der deutschen Sparkassen war nämlich zugleich die Geldzentrale für die österreichischen Sparkassen und einen Teil der Raiffeisenkassen in Wegfall gekommen. Die Centralbank hatte diese Aufgabe in den letzten Jahren ihrer Existenz allerdings nur mehr sehr beschränkt erfüllt, da sie – wie erinnerlich – unter der Ägide ihres neuen Großaktionärs Wutte nach 1922 sich immer mehr ins sogenannte »Industriegeschäft« verstrickt hatte und auf der anderen Seite einzelne Sparkassen und Kreditgenossenschaften ihre Einlagen reduziert hatten, da sie die Bank für nicht mehr ganz zuverlässig hielten45. Die gewerblichen (Schultze-Delitzsch)-Kreditgenossenschaften hatten 1922 ein eigenes Zentralinstitut, die Österreichische Zentralgenossenschaftskassa, gegründet46. Nach dem Zusammenbruch der Centralbank bestand zunächst seitens der Regierung der Plan, die entstandene institutionelle Lücke durch die Installierung der Postsparkasse als Zentralstelle der Sparkassen zu schließen. Diese Idee wurde später dergestalt erweitert, dass die PSK auch als Geldausgleichsstelle für die landwirtschaftlichen und gewerblichen Kreditgenossenschaften fungieren sollte47. Anfang 1927 kam eine neue Variante ins Gespräch : die Gründung einer von Regierung und Postsparkasse unabhängigen Institution. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Direktion der Boden- Credit-Anstalt bereits begonnen, sich für die Angelegenheit zu interessieren und war in die Vorgespräche mit Regierungsmitgliedern und der Deutschen Girozentrale eingeschaltet48. Die Gründung einer alle genossenschaftlichen Kreditbereiche umfassenden Zentrale scheiterte am Widerstand der Sparkassen49. Im Sommer 1927 wurden daher die Pläne auf eine neue Grundlage gestellt : Das Ziel war nun die Schaffung eines Instituts unter Ausschluss des Staates und des Sparkassensektors. »Die in Form einer Aktiengesellschaft geplante Girozentrale«, heißt es in einem Kommentar des »Österreichischen Volkswirt«, »soll […] die Dachorganisation für die Raiffeisenkassen 43 44 45 46 47
ÖVW, Die Bilanzen, 3. September 1927, S. 565. BA, VSP-BCA vom 29. September 1928 und 13. März 1929. Fritz, Bd. 1, S. 812. Zahn, Die Aufgaben einer genossenschaftlichen Geldzentralstelle, S. 450. Vgl. MRP Nr. 472 vom 15. November 1926, in : Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Ignaz Seipel, S. 87 ff. 48 BA, VSP-BCA vom 30. November und 21. Dezember 1926, 20. Mai und 8. Juni 1927. 49 Vgl. Fritz, Bd. 1, S. 814 f.
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Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
[…] bilden und den Spitzenausgleich zwischen diesen und den gewerblichen Kreditkassen und deren Zentrale besorgen. Nach außen hin soll sie die Verbindung zum allgemeinen Geldmarkt herstellen und so als oberste Geldsammel- und Verteilungsstelle dienen.«50
An der Mitte August 1927 gegründeten Girozentrale der österreichischen Genossen schaften, die über ein Aktienkapital von 5 Mio. Schilling verfügte, war die Boden- Credit-Anstalt mit 2 Mio. beteiligt ; die Preussische Genossenschafts-Zentralkasse (»Preussenkassa«) hatte 1,5 Mio. Schilling beigesteuert. Einen ebenso hohen Betrag zeichneten drei andere deutsche Genossenschaftsverbände. Von ihrem Besitz gab die Boden-Credit-Anstalt Aktien im Nominalwert von 400.000 Schilling an die österreichischen Raiffeisen- und Gewerbekreditgenossenschaften weiter. Im Verwaltungsrat der Girozentrale waren die österreichischen Genossenschaftsvertreter mit neun von achtzehn Sitzen vertreten und stellten den Präsidenten. Die deutschen Aktionäre verfügten über sieben, die Boden-Credit-Anstalt bloß über zwei Mandate. Diese, die Beteiligungsverhältnisse nur sehr unzureichend widerspiegelnde Verteilung war ganz offensichtlich dem Wunsch geschuldet, »dem Mißtrauen der [österreichischen, d. Verf.] Genossenschafter gegen die Beteiligung des Finanzkapitals entgegenzuwirken«51.
Die Gründung der Girozentrale wurde von der österreichischen Öffentlichkeit durchwegs positiv aufgenommen. Selbst der im Allgemeinen gegenüber der Boden-Credit-Anstalt sehr kritisch eingestellte »Volkswirt« vertrat die Auffassung, dass damit ein Institut geschaffen worden sei, »an dessen Errichtung im alten Österreich seit Jahrzehnten erfolglos gearbeitet wurde. Im vielsprachigen alten Österreich gelang es nicht, die vielerlei unüberbrückbaren Gegensätze auszugleichen. Auch in der einheitlichen österreichischen Republik bedurfte es des Zusammenbruches der von Genossenschaftsverbänden gegründeten oder sonst mit ihnen in enger Verbindung arbeitenden Bankinstitute und zahlreicher Genossenschaften, um die Errichtung der Girozentrale reifen zu lassen.«52
Ein Zentralinstitut für den Sparkassensektor kam in den Jahren 1927 und 1928 trotz intensiver Bemühungen nicht zustande. Die Girovereinigung der Sparkassen wurde 50 J.Z., Genossenschaftliche Geldausgleichsstelle, S. 1095. 51 ÖVW, Aus der Woche, 20. August 1927, S. 1250 ; BA, VWP-BCA vom 15. Oktober 1927. 52 ÖVW, Aus der Woche, 20. August 1927, S. 1250.
Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert
erst im Dezember 1937, kurz vor dem Ende der österreichischen Unabhängigkeit, installiert53. Die Beteiligung der Boden-Credit-Anstalt an der Girozentrale ging 1929 an die Postsparkasse über (1,2 Mio. S) ; Anfang 1934 wurden die deutschen Anteile aus politischen Erwägungen austrifiziert und von der PSK, dem Creditinstitut für öffentliche Unternehmungen und Arbeiten sowie den heimischen Genossenschaften angekauft. Zu Beginn des Jahres 1935 übernahmen die Kreditgenossenschaften das Paket des Creditinstituts und gelangten so in den Besitz der Aktienmajorität54. Wir wissen nicht, in welchem Ausmaß die Mittel der Boden-Credit-Anstalt beim Girozentralen-Engagement über die Aktienzeichnung hinaus in Anspruch genommen wurden. Anlässlich der Gründung dieser Institution wurde im Vorstandssitzungs-Protokoll der Großbank jedenfalls mit einer gewissen Erleichterung konstatiert, dass die »Preussenkassa« sich bereit erklärt habe, der Girozentrale »Leihkapital« zur Verfügung zu stellen55. Gewiss ist den leitenden Männern der Bank zu diesem Zeitpunkt nie der Gedanke gekommen, dass die Expansionspolitik die Kräfte des Instituts über Gebühr beanspruchen könnte : 1927 konnte bei jeder neuen Transaktion auf die billigen und leicht verfügbaren Auslandskredite zurückgegriffen werden und die Grenzen der Finanzierbarkeit neuer Projekte schienen weit hinausgeschoben. Die Beteiligungspolitik der Boden-Credit-Anstalt am österreichischen Banksektor hatte 1926/27 einen Zug hektischer Betriebsamkeit angenommen. Die Bank schien von einem wahren Heißhunger nach anderen Finanzinstituten getrieben zu sein und nahm jede sich bietende Gelegenheit zur Expansion wahr. Doch jede neue Akquisition band neue Mittel, nicht bloß zum Erwerb von Aktien, sondern darüber hinaus auch zur – zumindest zeitweiligen – Dotierung bzw. Stützung von meist schlecht fundierten Kreditinstituten : Die Oberbank benötigte 1927 5 Mio. Schilling, die Bank für Steiermark 7 bis 8 Mio. als Einstandszahlung, um wieder in die Gewinnzone zu kommen56. Darüber hinaus wurde die Wiener Bank durch die Sanierung der Provinzbanken immer weiter in den Aktionsradius der Parteipolitik hineingezogen. Eine 53 54 55 56
Fritz, Bd. 1, S. 817 ff. Compass, Jg. 1931, S. 405 und Jg. 1936, S. 394. BA, VWP-BCA vom 15. Oktober 1927. BA, VSP-BCA vom 4. November 1927 ; ÖStA/AdR/BMF, Zl. 2575/1927. Wenn daher in einem namentlich nicht gezeichneten Exposé, welches im Archiv des Finanzministeriums erhalten geblieben ist, davon gesprochen wird, dass bei den Provinzbankbeteiligungen der BCA »in keinem einzigen Falle irgendwie nennenswerte Kapitalsinvestitionen oder nennenswerte langfristige Kredite erforderlich waren«, so entsprach dies nicht ganz der Wahrheit. Der Verfasser der Notiz, offenbar jemand, der der BCA nahestand bzw. deren Verhältnisse gut kannte, dürfte die großen Industrieengagements der Bank als Maßstab für »nennenswerte« Summen genommen haben. Diesen gegenüber nehmen sich die in die Bundesländerbanken investierten Summen in der Tat recht bescheiden aus. ÖStA/ AdR/BMF, Zl. 28.752/1930.
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Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
gewisse Nähe zur Politik war allerdings von vornherein in der Person Siegharts gegeben : Sieghart, der als Privatperson (nicht als Funktionär der Boden-Credit-Anstalt) den Steyrermühl-Verlag – und damit vier Wiener Tageszeitungen – erworben hatte, stand der Christlichsozialen Partei und Ignaz Seipel nahe. Politik war auch bei der größten Transaktion der Boden-Credit-Anstalt im Jahr 1927, der Übernahme der Unionbank, mit im Spiel. Wir haben diese Transaktion im letzten Kapitel ausführlich beschrieben, sodass an dieser Stelle nur ein – allerdings nicht unwichtiger – Aspekt nachzutragen bleibt, nämlich die Ausschaltung der Niederösterreichischen Escompte-Gesellschaft als potentieller Konkurrentin. Die NEG hatte schon 1925 Interesse an der Unionbank bekundet, doch waren die Verhandlungen, wie der »Österreichische Volkswirt« schrieb, »auf Betreiben des [damaligen, d. Verf.] Finanzministers Dr. Ahrer« gescheitert57. Auch das Ende 1926 ausgesprochene Angebot zum Kauf der Unionbank beschwor die Gegnerschaft des Finanzministers, diesmal Viktor Kienböcks, herauf. Die Escompte-Gesellschaft wurde, Walther Federn zufolge, »offenbar von der Regierung von vornherein disqualifiziert, weil sie die ›Breitner-Bank‹ sei«. Wenn aber eine Institution, so führte Federn weiter aus, nur deswegen »parteiisch« behandelt werde, weil sie »der Bankier der Gemeinde Wien« sei, so könne man dies nur als Skandal bezeichnen, »der hierzulande nur darum nicht in seinem vollen Ausmaß gewertet wird, weil man an noch viel größere Skandale gewöhnt ist«58. Federns Vorwurf wird durch die Protokolle der Boden-Credit-Anstalt bestätigt. Die Regierung, heißt es dort, würde es »vorziehen, wenn die B.C.A. das Geschäft [die Übernahme der Unionbank, d. Verf.] macht«59.
Andere Anschuldigungen, die damals von sozialdemokratischer Seite erhoben (und später von Karl Ausch wiederholt) wurden60, die Postsparkasse als Besitzer der Union bank-Aktien sei von der Boden-Credit-Anstalt übervorteilt worden, lassen sich durch die Quellen hingegen nicht verifizieren. Wohl stieg, wie Ausch nachweist, in der »kritischen« Periode von Dezember 1926 bis Jänner 1927 der Kurs der BCA-Aktie, während die Unionbank-Aktie im Wert fiel, doch lag der schließlich erzielte Umtauschschlüssel nicht ungünstiger als jene Offerte, die der Bankverein und die 57 58 59 60
W.F., Boden-Credit-Anstalt – Unionbank, S. 418. W.F., Boden-Credit-Anstalt – Escompte-Gesellschaft, S. 446. BA, VSP-BCA vom 20. Dezember 1926. Vgl. Ausch, S. 299 ff.
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Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert
Escompte-Gesellschaft gestellt hatten. Und angesichts des von der Direktion der Boden-Credit-Anstalt nach Abschluss der Transaktion ermittelten inneren Wertes der Unionbank-Aktie (d. h. einer geschätzten Ertragsfähigkeit) von 4,80 Schilling61 muss das Umtauschverhältnis von drei Unionbank-Aktien gegen eine BCA-Aktie als nicht ungünstig bezeichnet werden. Es entsprach nach dem Börsenkurs vom Abschlusstag einem Wert von 61/2 Schilling, nach dem Kurs vom Beginn der Übernahmeverhandlungen 51/3 für die Unionbank-Aktie62. Der Kursverfall der Unionbank-Aktien (sie notierten am 16. Dezember 1926 10 S, am 31. Dezember 8,20) muss nicht auf böswillige Manipulationen zurückgegangen sein. Darin dürften sich vielmehr die monatelangen Diskussionen um die Bank ausgewirkt haben, in deren Verlauf ihr ja auch Einlagen entzogen worden waren (siehe Tabelle 84). Zudem war schon anlässlich der Verhandlungen mit dem Bankverein durchgesickert, dass viele Bewertungen einer eingehenden Überprüfung nicht standhielten und dass eine Reihe von Aktien über dem Kurswert in die Bilanz eingestellt waren63, sodass eine stille Reserve kaum vorhanden gewesen sein dürfte. Tabelle 84 : Wechseleinreichungen der Unionbank bei der Nationalbank Ende 1926 (in Mio. S) 1. September
0,3
1. Oktober
2,3
7. November
5,2
7. Dezember
9,3
31. Dezember
13,8
15. Jänner 1927
13,2
Quelle : Angaben von Nationalbankpräsident Richard Reisch im Kuratorium der PSK am 4. November 1929. BA, NL/Stern, Materialien : Handschriftliche Notiz von Georg Stern, undatiert.
Die Vermögensbilanz der Fusion mit der Union- und der Verkehrsbank stellte sich für die Boden-Credit-Anstalt folgendermaßen dar (siehe Tabelle 85). Die Fusionsreserve wurde geteilt in eine Reserve A (für die Aufbringung der Pensionen der Angestellten der aufgenommenen Banken) und eine Reserve B, von welcher in den Jahren 1927 und 1928 7,2 Mio. für Dubiosenabschreibungen verwendet wurden. Der Restbetrag 61 BA, VSP-BCA vom 15. Jänner 1927. Laut »Volkswirt« erhielt die BCA »erst am Abschlußtag in die Einzelheiten der Bilanz und der Bewertungsgrundsätze [der Unionbank, d. Verf.] Einblick«. W.F., Boden-Credit-Anstalt – Escompte-Gesellschaft, S. 445. 62 W.F., Boden-Credit-Anstalt – Unionbank, S. 417. 63 Ebenda.
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von 9 Mio. Schilling war beim Ende der Boden-Credit-Anstalt noch vorhanden und ging auf die Creditanstalt über64. Tabelle 85 : Vermögenszuwachs der Boden-Credit-Anstalt anlässlich der Fusion mit der Union- und Verkehrsbank (in Mio. S) Buchmäßiges Vermögen der VB und UB Ende Dezember 1926 Bewertungsrichtigstellung VB + Abfertigungen für die Angestellten der UB und VB + Überleitungsspesen
49,9 – 11,9
Nominalbetrag der hingegebenen BCA-Aktien
– 15,0
Buchwert der im Portefeuille der BCA befindlichen VB-Aktien
– 5,8
Fusionsreserve
17,2
Quelle : LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 209, Beilage B.
Wir können allerdings keine konkreten Angaben darüber machen, ob der Status der Boden-Credit-Anstalt den Umtauschschlüssel von 1 :3 rechtfertigte. Doch deuten verschiedene Indizien darauf hin, dass ihre Lage weniger günstig war, als die Öffentlichkeit annahm, und dass insbesondere ihre Liquidität zu wünschen übrig ließ : Solche Indizien waren der bereits erwähnte »große Geldbedarf«65 der Großbank zum Jahresultimo 1926 und 1927 sowie das Veto des Londoner Großaktionärs der BCA, Baron Schröder, gegen den Kauf der Anglobank-Filiale Budapest mit dem expliziten Hinweis auf die »große Anspannung« der Halbjahresbilanz vom Juni 192766. Auch ein Vergleich der Inanspruchnahme der Notenbank durch die Boden-Credit-Anstalt und die Creditanstalt in den Jahren 1927 und 1928 (siehe Tabelle 86) legt die Vermutung nahe, dass die Direktion der BCA gut daran getan hätte, das Bündel der bankpolitischen Transaktionen 1926/27 enger zu schnüren und der Escompte-Gesellschaft bei der Fusion mit der Unionbank den Vortritt zu lassen.
64 LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 209, Beilage B. 65 BA, VSP-BCA vom 14. Jänner 1927. 66 BA, VSP-BCA vom 20. Februar 1928.
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Der Weg in die Krise. Die Boden-Credit-Anstalt expandiert
Tabelle 86 : Notenbankverschuldung von Creditanstalt und Boden-Credit-Anstalt 1927 und 1928 (in Mio. S) BCA
Ultimo
1 Gesamte Wechseleinreichun gen
2 Davon Mobilisie rungswechsel
2/1927
10,0
10,0
CA 2 in % von 1
100,0
1 Gesamte Wechseleinreichun gen
2 Davon Mobilisie rungswechsel
14,1
8,2
2 in % von 1
58,2
3/1927
23,9
23,3
97,5
27,2
13,4
49,3
6/1927
41,2
38,0
92,2
36,8
15,1
41,0
9/1927
47,4
40,6
85,6
53,6
36,9
68,8
12/1927
65,1
60,0
92,2
59,6
25,6
43,0
3/1928
67,0
61,7
92,1
48,2
30,3
62,9
6/1928
69,7
63,4
91,0
79,1
39,4
49,8
9/1928
60,8
56,4
92,8
56,8
31,1
54,8
12/1928
90,2
85,1
94,3
78,9
42,2
53,5
Quelle : BHA, Zl. 1256/1929 : Schreiben Brauneis an Rizzi vom 16. Oktober 1929.
Die angespannte Lage der Boden-Credit-Anstalt kommt in diesen Zahlen deutlich zum Ausdruck : Obwohl auch die Wechseleinreichungen der Creditanstalt eine steigende Tendenz aufwiesen (sie reflektierten aber nicht zuletzt auch ein gegenüber der Boden-Credit-Anstalt größeres Geschäftsvolumen), war diese Steigerung vergleichsweise weniger dramatisch. Der qualitative Unterschied zwischen den beiden Großbanken drückte sich aber vor allem im Anteil der Mobilisierungswechsel aus, d. h. von Wechseln, die von der jeweiligen Bank auf ihre Kreditnehmer gezogen und zwecks Refinanzierung bei der Notenbank eingereicht wurden. Diese Quote machte im Falle der Boden-Credit-Anstalt in der Regel mehr als 90 % aus, während sie bei der Creditanstalt nur in Ausnahmefällen die 60-Prozent-Marke überschritt. Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, das Anwachsen der Notenbankverschuldung der BCA mit der laufenden Vergrößerung des Industriekonzerns der Bank in Zusammenhang zu bringen, welche die Anforderung an die Finanzierungskapazität der Bank fortwährend steigerte und offensichtlich eine Über-Anspannung der Mittel herbeiführte. Eine zweite Erklärung wäre, dass bei der Boden-Credit-Anstalt ein verstärkter Rückzug kurzfristiger Auslandsgelder bereits 1927 einsetzte bzw. ein möglicherweise erhoffter Zuwachs dieser Kategorie von Krediten sich nicht einstellte.
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Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
Es könnte sich auch um eine Kombination beider Phänomene gehandelt haben, für die es in den Quellen aber keine Evidenz gibt, weil die Aufzeichnungen der BCA um vieles weniger genau und aussagekräftig sind als beim Bankverein.
2. Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank und die Probleme des Industriekonzerns der Bank
Einer der Gründe für den Expansionsdrang der Boden-Credit-Anstalt in den 20er-Jahren ist in der tiefgreifenden Veränderung der Bilanzstruktur zu suchen, die sich als quasi naturwüchsiges Ergebnis der Inflationsperiode eingestellt hatte : im Zusammenbruch des Hypothekargeschäfts. Dessen Anteil an der Bilanzsumme ging von knapp der Hälfte im Jahr 1913 auf 0,1 % 1922 zurück. 1928 war er erst wieder auf den bescheidenen Wert von 4 % gestiegen (siehe Tabelle 87). Von einem ähnlichen Phänomen waren in derselben Zeit auch die deutschen Hypothekenbanken betroffen. Bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank zum Beispiel sank der Anteil der Hypothekarkredite an der Bilanzsumme von fast 90 % vor dem Ersten Weltkrieg praktisch auf Null im Jahr 1923. Der Ertrag des Hypothekargeschäfts reichte in diesem Jahr, wie es in einem Geschichtswerk heißt, »nicht einmal mehr aus, um auch nur einen Fernbrief zu frankieren«67. Auch die bayerische Bank war gezwungen, ihre Geschäftspolitik den neuen Bedingungen anzupassen und eine industriepolitische Offensive einzuleiten. Sie tat dies allerdings mit Umsicht und größter Behutsamkeit. Tabelle 87 : Anteil des Hypothekargeschäfts an der Bilanzsumme der Boden-Credit-Anstalt 1913–1928 (in Mio. S) Bilanzsumme
Hypothekargeschäft*
Anteil des Hypothekar geschäfts an der Bilanzsumme in %
1913
1.324,9
590,0
44,5
1922
113,5
0,1
0,1
1928
845,9
34,5
4,1
* Inkl. Kommunal- und Eisenbahndarlehen. Quellen : Geschäftsberichte der BCA für die Jahre 1913, 1922 und 1928.
67 125 Jahre Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank, S. 52.
Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank
Zum Unterschied von der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank war die Direktion der Wiener Großbank im letzten Inflationsjahr sehr wohl in der Lage, die Auslagen für die Geschäftskorrespondenz aus dem Gewinn des Hypothekargeschäfts (92 Mio. K) zu bestreiten. Wie gering dieser Betrag dennoch war, kann aus der Tat sache ersehen werden, dass die Witwe des Gouverneurs Taussig mit Wirksamkeit vom 1. September 1922 eine Pensionserhöhung von 150.000 auf 1,5 Mio. Kronen im Monat als Kompensation für die Preissteigerungen zugestanden erhielt68. Es ergab sich also auch für die Boden-Credit-Anstalt die unbedingte Notwendigkeit, andere Geschäftssparten als den Hypothekarbereich auszubauen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass erst durch die Folgen der Inflation (und den Wegfall des Hypothekargeschäfts in den Nachfolgestaaten) die Boden-Credit-Anstalt wirklich zu einer Mobilbank mit einer angeschlossenen kleinen Hypothekarabteilung wurde. Unter diesen Vorzeichen erscheint die expansive Politik der Bank als verzweifelter Versuch der Anpassung an die neuen Bedingungen der Nachkriegsära, ohne dabei Einbußen an Einfluss und Größe hinnehmen zu müssen. Insoferne mag die unbeeinflussbare und ungewollte strukturelle Verschiebung des Wirkungskreises der Boden- Credit-Anstalt auch als »Milderungsgrund« bei der historischen Beurteilung der Geschäftspolitik der Männer um Rudolf Sieghart gelten. Die vielen bankpolitischen Fehler, die ihnen dabei unterliefen, rechtfertigen es jedoch, von einem Versagen des Managements in einer historischen Umbruchsituation zu sprechen, die energisches, aber vorsichtiges Vorgehen eher als ungerechtfertigten Optimismus erfordert hätte. Aber Sieghart und die meisten seiner Vertrauten gehörten eben einer Generation an, auf die Schumpeters Charakterisierung des Entrepreneurs als eines »Feldherren« zuzutreffen scheint, der sich durch »Siegerwillen«, »Kämpfenwollen« und »Erfolghabenwollen des Erfolgs als solchen wegen« auszeichnet69. Die Erfahrungen der Hochkonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg vor Augen, war das Management der Boden-Credit-Anstalt (und wie wir noch sehen werden : auch anderer Wiener Großbanken) unfähig zu einer Geschäftspolitik abwägender Expansion. Alle Schwierigkeiten wurden als vorübergehend interpretiert ; und da die Probleme, die in der Ertragsrechnung der Bank unübersehbar zum Ausdruck kamen, immer größer wurden, verstrickte man sich umso mehr in offensive, von Zweckoptimismus geleitete Maßnahmen – mit dem Ergebnis, dass man sich noch weiter auf ein geschäftspolitisch gefährliches Terrain begab. Nach außen – in den veröffentlichten Bilanzen – wurde ein System von Fiktionen aufgebaut, das sich von der inneren Bilanzwahrheit von Jahr zu Jahr weiter entfernte, bis – früher oder später – die Stunde der Enthüllung nahte. 68 BA, VWP-BCA vom 4. Oktober 1922. 69 Schumpeter, S. 115 und 138.
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Das Ende der Boden-Credit-Anstalt und ihre Fusion mit der Creditanstalt im Herbst 1929
Einen unfehlbaren Gradmesser für den Zustand eines Kreditinstituts bildet die Inanspruchnahme der Notenbank über das »normale« Maß hinaus. Dies war bei der Boden-Credit-Anstalt, deren Refinanzierungsplafond bei der Oesterreichischen Nationalbank 60 Mio. Schilling betrug, seit dem Frühjahr 1928 der Fall : Von Ende März dieses Jahres an gelang es der Bank nur noch selten, das Obligo wieder unter die 60-Millionen-Grenze zu drücken70. Aber nicht nur die verantwortlichen Leiter der Notenbank begannen Zweifel am Gesundheitszustand der Boden-Credit-Anstalt zu hegen. Auch aufmerksame journalistische Beobachter wie der Bilanzexperte des »Österreichischen Volkswirt« interpretierten die veröffentlichten Bilanzzahlen von Jahr zu Jahr kritischer. Die Bilanzbesprechungen 1925 und 1926 waren noch in einem sehr wohlwollenden und optimistischen Ton gehalten71. Erste Zweifel kamen auf, als der Effektenbesitz der Boden-Credit-Anstalt (der schon anlässlich der Goldbilanzerstellung sehr hoch war) immer weiter anschwoll. Anfang 1928 äußerte der »Volkswirt« gewisse Bedenken bezüglich der stillen Reserven der Boden-Credit-Anstalt : Diese seien womöglich nur unter der Voraussetzung vorhanden, dass sich einige wichtige Konzernunternehmen der Bank in Zukunft günstiger entwickelten als in den vergangenen Jahren72. Der Verfasser ging in diesem Zusammenhang auch ausführlich auf Gerüchte ein, die besagten, dass der Status der Boden-Credit-Anstalt angespannt sei, Gerüchte, die – wie wir bereits wissen – nicht ohne Realitätsgehalt waren. Nach Auffassung Federns gab es gewisse Indizien für eine Beengtheit der Bank : Obwohl das Effektenkonto durch Übertragung von Wertpapieren im Betrag von 28 Mio. Schilling an eine holländische Firma (die Maatschappij voor Beheer van Effekten) sowie durch Wegfall der Verkehrsbank-Aktien (infolge der Fusion) eine erhebliche Reduzierung erfahren haben musste, hatte es gegenüber 1926 bloß um 19 Mio. abgenommen, während sich die Konsortialstände sogar um 7,8 Mio. erhöht hatten73. Mit Bezug auf das Geschäftsjahr 1928 wurde die Kritik an der Bank noch deutlicher : Das Effekten- und Konsortialkonto sei »durch die ständige Aufnahme von Konzernpapieren« weiter angestiegen. Erhebliche Kredite an nahestehende Industriefirmen seien – wie bei anderen Banken – eingefroren. Die Aufrechterhaltung einer Dividende von 15 % erscheine ungerechtfertigt angesichts einer nur unbedeutenden 70 BHA, Zl. 1256/1929 : Aktennotiz Brauneis betreffend die Vereinbarungen mit der Allgemeinen Österreichischen Boden-Credit-Anstalt und der Oesterreichischen Credit-Anstalt anläßlich der Fusion vom 2. Oktober 1929. 71 ÖVW, Die Bilanzen, 8. Mai 1926, S. 241 und 7. Mai 1927, S. 363 f. 72 ÖVW, Die Bilanzen, 17. März 1928, S. 281. 73 Ebenda, S. 279 ff. Der holländische Effektentrust war, wie erinnerlich, gegründet worden, um die von der Union- und der Verkehrsbank übernommenen Aktienbestände aufzunehmen.
Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank
Zunahme des Geschäftsvolumens und sinkender Erträge im laufenden Bankgeschäft als Folge schrumpfender Zinsspannen (insbesondere bei Fremdwährungskrediten), der weiteren Herabsetzung der Provisionen sowie geringer Gewinne aus Effekten und Konsortialgeschäften74. Und anlässlich der Besprechung der Bilanz des Wiener Bankverein wurde zum ersten Mal – ganz offensichtlich mit Blick auf die Boden- Credit-Anstalt – der Verdacht geäußert, dass einige Wiener Banken stille Reserven zur »Aufbesserung des Jahresgewinnes« herangezogen hätten75. Dies war in der Tat bei der Boden-Credit-Anstalt der Fall. Sie hatte schon die Dividende für das Jahr 1924 aus ihren Reserven bestreiten müssen76. Auch bezüglich des Jahres 1928 gibt es Indizien für die Heranziehung der stillen Reserven – nach Angaben der Direktoren der Boden-Credit-Anstalt war eine solche Ende 1928 noch im Ausmaß von ca. 29 Mio. Schilling vorhanden77 – für den Gewinnausweis78. Die Anreicherung des Ertragskontos mit Aufwertungsgewinnen (und die damit verbundenen Dividendenausschüttungen) erscheinen umso unverantwortlicher, als der Direktion der Boden-Credit-Anstalt die wenig rosige Lage der Bank schon seit geraumer Zeit gegenwärtig war : Am 6. Juni 1925 wurde in einer Vorstandssitzung die Frage beraten, ob sich das Institut im Wege des Aktientausches an der Anglo-Austrian Bank beteiligen sollte. Dies wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dass kein Interesse bestehe, der Bank of England, der Hauptaktionärin der Anglo-Austrian Bank, Einsicht in die interne Bilanz zu gewähren, weil »dann […] das Umtauschverhältnis ein solches sein [würde], daß vielleicht eine größere Anzahl von BCA-Aktien einer kleineren Anzahl von Anglobank-Aktien entsprechen würde«.79
Trotz dieser Erkenntnis verfolgte die Boden-Credit-Anstalt eine auf längere Sicht verhängnisvolle Prestigepolitik. Die Dividendenzahlungen der Bank waren schon vor dem Ersten Weltkrieg beträchtlich über jenen der anderen Großbanken gelegen. Dies hatte seine Berechtigung in den sicheren und hohen Gewinnen gehabt, die dem Institut aus dem Hypothekargeschäft zuflossen. Nach 1918 hatte die Aufrechterhaltung 74 75 76 77 78
ÖVW, Die Bilanzen, 16. März 1929, S. 259 f. ÖVW, Die Bilanzen, 23. März 1929, S. 276. BA, VSP-BCA vom 15. Mai 1925. LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 209, Beilage B. In einem VSP findet sich eine Eintragung, in der von jenem Teil der Tantiemen gesprochen wird, »welcher dem Gewinn- und Verlust-Konto aus der Fusionsreserve oder sonstigen stillen Reserven zugeführt wird«. BA, VSP-BCA vom 18. September 1929. 79 BA, VSP-BCA vom 6. Juni 1925.
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einer hohen Dividende allein schon wegen der verheerenden Auswirkungen der Inflation auf diesen Geschäftszweig jede Berechtigung verloren. Dennoch hielten die Leiter der Boden-Credit-Anstalt an der traditionellen Politik der hohen Dividendenausschüttung fest (siehe Tabelle 88). Tabelle 88 : Dividende der Boden-Credit-Anstalt, der Creditanstalt, der Niederösterreichi schen Escompte-Gesellschaft und des Wiener Bankverein 1913–1928 (in %) BCA
CA
NEG
WBV
1910
18
10
9 /2
7 1/ 2
1911
19
10 /16
10
7 1/ 2
1912
19
10 5/15
10
1913
20
10 /8
10 /2
8
1
5
5
7 1/ 2 1
1925
14 /5
10
12 /2
9
1926
14 2/5
10
12 1/2
9
1927
15
10
12 /2
9
1928
15
10
12 1/2
7 1/ 2
2
1
1
Quellen : Compass, Jg. 1917, Bd. 1 und Jg. 1931 ; Geschäftsberichte der Banken.
Die Direktion der Boden-Credit-Anstalt widersetzte sich in verschiedenen Besprechungen mit Vertretern der anderen Großbanken jedem Versuch, die Dividende zu ermäßigen80. Ein solcher Vorstoß wurde 1926 von der Escompte-Gesellschaft unternommen, 1929 vom Bankverein81. Beide Male stieß die Idee, die Dividenden auf ein realitätsnäheres Maß zurückzuführen, bei den anderen Banken auf taube Ohren. Aber während sich die NEG 1926 der Disziplin der Großbanken unterordnete, hatte die Direktion des Bankverein den Mut, als einziges Institut die Dividende für das Jahr 1928 um 11/2 % zu kürzen. Für die Haltung des Managements der Boden-Credit-Anstalt erscheint charakteristisch, dass die Dividende für 1927 demonstrativ von 142/5 auf 15 % erhöht wurde, um dem Gerücht entgegenzutreten, dass die Lage der Bank angespannt sei82. Wir werden bald Gelegenheit haben zu sehen, dass das Management der Boden-Credit-Anstalt auch bezüglich der Dividendenleistungen mancher Konzernbetriebe eine ähnlich 80 Am Rande sei vermerkt, dass auch die Repräsentanten der Creditanstalt eine ähnlich intransigente Haltung einnahmen. 81 BA, VSP-BCA vom 24. April 1926 und 9. Februar 1929. 82 ÖVW, Die Bilanzen, 17. März 1928, S. 279.
Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank
lockere Hand bewies. Der Gerechtigkeit halber sei jedoch vermerkt, dass Direktor Steiner im Frühjahr 1926 im Kreise der BCA-Direktion die Frage einer Dividenden ermäßigung zur Diskussion stellte. Er vermochte sich allerdings bei seinen Kollegen nicht durchzusetzen83. Eine eminent wichtige Weichenstellung für das weitere Schicksal der Bank wurde mit der Aufstellung der Goldbilanz getätigt. Für die Goldbilanz der Boden-Credit-Anstalt traf in einem besonderen Maß zu, was die Autoren des »Steirischen Wirtschaftsprogramms« der Christlichsozialen befürchtet hatten : dass sich die Großbanken aus Sorge um ihre Kreditfähigkeit im Ausland gezwungen sehen könnten, ein möglichst hohes Eigenkapital auszuweisen. »Die Banken«, heißt es in dem Programm, »stehen vor dem peinlichen Dilemma, entweder bei Erstellung der Goldbilanzen ein hohes Eigenkapital auszuweisen und die laufende Betriebsrechnung mit Verlust schließen zu lassen, oder aber bei Aufstellung der Goldbilanzen ihr Eigenkapital entsprechend gekürzt auszuweisen und latente Reserven beizubehalten, welche hinreichen, Betriebsverluste pro 1925 und folgende, ohne sie ausweisen zu müssen, […] decken zu können.«84
Die Boden-Credit-Anstalt nahm anlässlich der Goldbilanzerstellung sehr große Korrekturen vor und wertete das Effekten- und Konsortialkonto gegenüber der Bilanz des Jahres 1924 mit 110 % weitaus stärker auf als die anderen Großbanken (Creditanstalt : 60 %, Bankverein : 35 %, Escompte-Gesellschaft : 20 %). Um ihrem Status ein liquideres Erscheinungsbild zu geben, wurden Effektenbeteiligungen unter den Debitoren verbucht85, eine Übung, die auch später noch zur Anwendung kam : Bei der Erstellung der Halbjahresbilanz 1927 wurden Syndikatsbeteiligungen, welche die Boden-Credit- Anstalt von der Unionbank und der Verkehrsbank übernommen hatte, unter den Debitoren ausgewiesen und die Post-»Effekten« um 5 Mio. Schilling gekürzt86. In der Jahresbilanz 1927 wurden zudem 146.000 eigene Aktien der Boden-Credit-Anstalt auf dem Syndikatskonto verbucht87. Über die Praxis anderer Jahre ist nichts Genaues bekannt, doch wird man nicht fehlgehen, ihr ähnliche Züge zuzuschreiben. Bei all diesen Bilanzverschönerungen verstieß die Bank jedoch nicht gegen bestehende Gesetze oder Bilanzierungsvorschrif83 84 85 86
BA, VSP-BCA vom 24. und 26. April 1926. ÖStA/HHStA, Schüller-Faszikel, S. 18. BA, NL/Stern, Stern-Gutachten. BA, VSP-BCA vom 10. Oktober 1927. Man erfährt aus dem Protokoll, dass die Boden-Credit- Anstalt damit nur die Übung der beiden übernommenen Institute fortsetzte. 87 BA, VSP-BCA vom 4. Februar 1928.
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ten, die in Österreich viel weiteren Raum für abstrakte Wahrheiten ließen als in anderen Ländern88. Im Deutschen Reich waren die Kreditinstitute schon vor dem Ersten Weltkrieg zur Erstellung von Zweimonatsbilanzen und zu einer weitaus detaillierteren Rechnungslegung verpflichtet worden. Die Wiener Banken hingegen zeichneten sich nach dem Urteil eines zeitgenössischen Experten »von jeher durch die Dürftigkeit ihrer Bilanzveröffentlichungen […] aus […]. In ihren Bilanzen gaben die österreichischen Banken weder Auskunft über die Zusammensetzung des Kreditoren-Kontos hinsichtlich der Fälligkeit, die für die Beurteilung der Liquidität von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, ebensowenig nahmen sie Veranlassung, die Nostroverpflichtungen auszuweisen und Avalverpflichtungen und Giroverbindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen.«89
Ganz offensichtlich hing die Zuspitzung der Schwierigkeiten der Boden-Credit-Anstalt, die 1928 im Ausmaß und Charakter der Notenbankverschuldung zum Ausdruck kam, aufs engste mit der Expansion der Jahre 1926/27, insbesondere mit der Fusion mit der Union- und der Verkehrsbank, zusammen. Von 1927 an zeigte ihr Refinanzierungsbedarf eine steigende Tendenz. Auf welche Umstände war dies zurückzuführen ? Die Boden-Credit-Anstalt hatte, wie alle anderen Wiener Großbanken, in der Inflationsperiode nach dem Ersten Weltkrieg eine Politik der Hortung der Aktien ihrer Konzernunternehmen betrieben bzw. den Kreis der ihr nahestehenden Firmen durch eine Strategie der »Veraktionierung« beträchtlich erweitert. Und sie war nach dem Zusammenbruch der Börsenspekulation im Frühjahr 1924 gezwungen gewesen, die auf den Markt geworfenen Aktien solcher Unternehmen aufzukaufen und – unfreiwillig – im Portefeuille zu behalten. »Zu all diesen Übeln«, schrieb Rudolf Sieghart rückblickend in seinen Memoiren, »kam damals bei der Boden-Credit-Anstalt noch eine besondere Schwierigkeit.« Er meinte damit jene Kapitalerhöhung, welche die Bank 1923 mit dem erklärten Ziel durchführte, einen Majorisierungsversuch des Großspekulanten Sigmund Bosel abzuwehren. Die neu ausgegebenen Aktien konnten, wie Sieghart schrieb, »nur mühselig und vorübergehend zu ungünstigen Bedingungen bei Geschäftsfreunden untergebracht werden« und bildeten in den folgenden Jahren eine schwere Last für die Bank, da es niemals gelang, sie dauernd zu placieren90. 88 Dieser auch in Österreich immer wieder kritisierte Umstand wurde von Walther Federn anlässlich des Zusammenbruchs der Boden-Credit-Anstalt ausführlich zur Sprache gebracht. Siehe : W.F., Lehren aus dem Fall Boden-Credit-Anstalt, S. 72. 89 Rutkowski, S. 60 f. 90 Sieghart, S. 196.
Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank
Sieghart analysierte rückblickend sehr präzise die Gründe, die zu den Schwierigkeiten der Boden-Credit-Anstalt führten, wenn er auf die »freundliche Illusion« verweist, die nach dem Börsenkrach von 1924 das Urteil des Wiener Bankiers »verwirrt« habe. »Man nahm an«, schrieb er, »der Marasmus der Börse werde nicht ewig dauern, sondern über kurz oder lang wieder einer Belebung des Marktes Platz machen«, die den Banken Gelegenheit bieten würde, alte Aktienbestände und Neuemissionen zum Abbau der Bankschulden der Industrie im Publikum unterzubringen. Aber »[a]uch dieses Bild zerrann. Immer höher stiegen die Kredite der Industrie, immer größere Mittel froren bei den Banken ein.«91 Dieser allgemeinen Situationsschilderung bleibt nur hinzuzufügen, dass die Boden-Credit-Anstalt allen diesen Widrigkeiten zum Trotz eine expansive Beteiligungspolitik einschlug, welche die beschriebenen Probleme nur vergrößern konnte. Dieser offensive Kurs zielte weniger auf den direkten Erwerb von Industriebeteiligungen ab (obwohl auch dies vorkam), sondern vielmehr auf die Kontrolle anderer Kreditinstitute. Beispiele für Direktbeteiligungen an Industrieunternehmen in den Jahren 1925 bis 1927 bilden die Astarte Lederwerke AG und die Erste Stadlauer Lederwerke AG, die Umwandlung der Hutstumpenfabrik Giuseppe Bossi in die Bossi Hutfabriks AG sowie die Übernahme der Trumau-Marienthaler Baumwollspinnereien und der Tiroler Aktienbrauerei Kundl92. 1926 wurde die Humanic Leder und Schuh AG aus der Konkursmasse der Centralbank der deutschen Sparkassen erworben ; 1927 kam es zur Umwandlung einer niederösterreichischen Metallwarenfirma in die G. A. Scheid Metallwerke AG, die bald danach mit vier anderen Unternehmen zur Vereinigte Metallwerke AG zusammengefasst wurde93. Die positive Rolle der Boden-Credit-Anstalt – wie der anderen Banken – auf dem Gebiet der Elektrizitätswirtschaft wurde bereits beschrieben und muss an dieser Stelle nur noch kurz in Erinnerung gerufen werden94. Im Zuge der Aufnahme der Union- und der Verkehrsbank wuchs der Boden-Credit- Anstalt zwar eine stattliche Fusionsreserve (17,2 Mio. S) zu, von der allerdings bereits in den folgenden Jahren 7,2 Mio. zur Dubiosenabschreibung herangezogen werden mussten95. Die markanteste Begleiterscheinung der Fusion war jedoch eine enorme Ausweitung des Konzerns. Von der Unionbank wurden folgende Portefeuilleaktien übernommen : 91 92 93 94 95
Ebenda, S. 195. BA, VWP-BCA vom 4. November 1925, 19. Jänner und 10. November 1926 sowie 17. Jänner 1927. BA, VWP-BCA vom 10. November 1926, 12. Mai und 15. Oktober 1927 sowie 15. März 1928. Siehe Kapitel III-3, S. 245 ff. LG, Prozessakte Ehrenfest, OZ 209, Beilage B. Die Hälfte der Reserve (8,6 Mio. S) war für Personalauslagen, vermutlich Abfertigungen, im Zusammenhang mit der Fusion reserviert.
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Veitscher Magnesitwerke Automobilfabrik Gräf & Stift Schlick-Nicholson Maschinenfabrik (Ungarn) Michael Stadler Drahtindustrie (Ungarn) Kleinmünchner Baumwollspinnerei (Aktienmajorität) Deutsche Textilwerke Mautner AG Österreichische Brau AG (25 % ; die BCA selbst besaß ebenfalls 25 %) Wiener Hotel AG
Zu diesen prosperierenden Unternehmen kamen eine Reihe von Firmen, deren Geschäftsgang zu wünschen übrig ließ, wie die Österreichische AG für Bauunternehmungen, die ZIAG Ziegelindustrie AG, die AG für öffentliche Lagerhäuser und zwei galizische Erdölunternehmen, die »Mraznica« und die »Bonariva«. Darüber hinaus verfügte die Unionbank über die Verbindung zu zwei Tabakhandelsfirmen in Sofia und Luzern, besaß einige interessante Minderheitsbeteiligungen (Leykam-Josefsthal, Schoeller-Bleckmann, 1. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) sowie zwei Bank affiliationen, die Union-Bank in Polen (AM) und die Hollandsche Bank voor de Middellandsche Zee (25 %). Die Aktienmajorität der bekannten Telefonfirma Czeija, Nissl & Co war 1926 von der Unionbank veräußert worden96. Die Verkehrsbank hatte, wie der »Volkswirt« schrieb, »in der steirischen eisenverarbeitenden Industrie und in der Papierindustrie geradezu eine beherrschende Stellung«
eingenommen97. Die wichtigsten übernommenen Firmen – an einigen war die Boden- Credit-Anstalt selbst schon vorher beteiligt gewesen – waren : – – – – – – –
Neusiedler AG für Papierfabrikation Prager Neusiedler AG Steyrermühl Papierfabriks und Verlags AG Lenzinger Papierfabriks AG (AM) Schoeller-Bleckmann Stahlwerke AG Blech- und Eisenwerke Styria AG AG vorm. Adolf Finze & Co (AM)
96 ÖVW, Die Bilanzen, 19. März 1927, S. 280 f. 97 ÖVW, Die Bilanzen, 26. März 1927, S. 289. Aus derselben Quelle stammen auch die folgenden Angaben über den Konzern der Verkehrsbank.
Die Verwandlung der Boden-Credit-Anstalt in eine Industriebank
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Eisenwarenfabriks AG Sopron-Graz (Ungarn) Vereinigte Styria-Fahrrad und Dürkopp-Werke AG Grazer Waggon- und Maschinenfabriks AG Maschinen- und Waggonfabriks AG, Simmering Ungarische Waggon- und Maschinenfabriks AG (Györ) Leipnik-Lundenburger Zuckerfabriks AG AG der Liesinger Brauerei Hütteldorfer Bierbrauerei AG Wien-Floridsdorfer Mineralölfabrik Hotel Imperial AG Hotel Bristol AG Phönix und Wiener Versicherungs AG Lebensversicherungs-Gesellschaft Phönix
Gewiss stellten manche der neuen Konzernunternehmen wertvolle Aktiva dar, wie die Veitscher Magnesitwerke, die Papierfabriken, die Styria-Dürkopp-Werke, die 1928 eine enge Interessensgemeinschaft mit den Steyrwerken eingingen98, oder die Elektrizitätsfirma Stern & Hafferl, die der Oberbank nahestand und 1929 mit der OWEAG zur OEKA fusioniert wurde. Aber all diese Positiva wurden mehr als aufgewogen durch das überdimensionierte Anwachsen des Gesamtkonzerns in einer Situation, die durch ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem großen Kreditbedarf der Industrie und den beschränkten Möglichkeiten der Bank gekennzeichnet war : Von den 127 Unternehmen des Konzerns der Boden-Credit-Anstalt im Jahr 192999 waren 44 von der Union- und Verkehrsbank übernommen bzw. die Beteiligungsquoten daran erhöht worden. Dies entsprach einem Zuwachs von rund 30 %. Unter der etwas vereinfachten Annahme einer linearen Steigerung des Kreditbedarfes bedeutete dies, dass die Boden-Credit-Anstalt für eine um ein Drittel gewachsene Kreditsumme Vorsorge zu treffen hatte. Dass die Bank dazu nicht in der Lage war, geht aus dem Anwachsen des Obligos bei der Notenbank sowie aus Tabelle 70 (Kapitel III-3, S. 249) hervor, die eine kleine Schrumpfung für 1927 und eine marginale Zunahme der Debitoren für 1928 ausweist. 98 BA, VSP-BCA vom 17. Februar 1928 ; Compass, Jg. 1931, S. 783. Hier heißt es, bezugne