Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt: »Neutestamentliche Grenzgänge« im Dialog 9783666550232, 9783525550236, 9783647550237

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Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt: »Neutestamentliche Grenzgänge« im Dialog
 9783666550232, 9783525550236, 9783647550237

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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments In Verbindung mit der Stiftung „Bibel und Orient“ der Universität Fribourg/Schweiz herausgegeben von Max Küchler (Fribourg), Peter Lampe, Gerd Theißen (Heidelberg) und Jürgen Zangenberg (Leiden)

Band 78

Vandenhoeck & Ruprecht

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Gerd Theißen

Von Jesus zur urchristlichen Zeichenwelt „Neutestamentliche Grenzgänge“ im Dialog

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55023-6 ISBN 978-3-647-55023-7 (E-Book) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einleitung ...................................................................................................... 7 1. 40 Jahre Arbeiten zum Neuen Testament 1969–2009. Ein Werkbericht über meine Arbeiten .................................................. 15 2. Die semiotische Kathedrale des Urchristentums. Zu U. Luz: Der frühchristliche Christusmythos. .................................. 69 3. System und Konflikt im Urchristentum. Zu H. Räisänen: Eine Kathedrale aus dem Chaos?............................... 83 4. Sozialgeschichte und Postminimalismus in der Jesusforschung. Zu Bengt Holmberg: Von der Jesusbewegung zu Jesus ....................... 91 5. Kynische und urchristliche Wandercharismatiker. Zu W. Stegemann: „Hinterm Horizont geht’s weiter“........................ 101 6. Pauperismus und paulinisches Urchristentum. Zu A. Merz: G. Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte ................... 117 7. Literaturgeschichte und Literaturästhetik. Zu D. Trobisch: Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem ............................................................................................... 128 8. Neutestamentliche Literaturwissenschaft. Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte“? ..................... 138 9. Innovation in der Religionsgeschichte. Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems ...... 147 10. Antike Psychologie und Anachronismusverdacht. Zu P. v. Gemünden: Psychologische Auslegung ................................ 159

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Inhalt

11. Zwischen Korrelations- und Performanzhermeneutik Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“ ..................... 169 12. Angesprochensein als Kriterium der Predigt. Zu H. Schwier: Im Dialog mit der Bibel............................................. 179 13. Entmythologisierung und Mythenhermeneutik. Zu E. Faust: Globaler Klimawandel ................................................... 183 14. Biblischer Glaube und Evolution. Der antiselektive Indikativ und Imperativ .......................................... 188

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Einleitung

Zu meinem 65. Geburtstag haben Kollegen und Freunde am 4.–6. Juli 2008 ein Symposium mit Vorträgen veranstaltet, die sich mit verschiedenen Aspekten meiner Arbeiten beschäftigten und diese durch eigene Gedanken weiterführen. Sie wurden durch zwei Beiträge von Ulrich Luz und Bengt Holmberg ergänzt, die vorher aus anderem Anlass entstanden waren. Alle erschienen in einem Buch „Neutestamentliche Grenzgänge“.1 Mein Dank für dieses außergewöhnliche Geschenk besteht darin, dass ich das Gespräch mit jedem dieser Beiträge aufnehme und jeweils eine Stellungnahme formuliere, teils als Antwort auf Kritik, teils als Weiterführung von Gedanken, teils aber auch einfach als Ergänzung. Dabei sage ich manchmal auch etwas über den biographischen Hintergrund mancher Gedanken – besonders dort, wo Mutmaßungen über solche Hintergründe geäußert wurden. Meine Ausführungen sind in sich verständlich. Niemand braucht (noch einmal) die Artikel lesen, auf die ich mich beziehe. Auf die Einleitung von Peter Lampe, in dem er mein Gesamtwerk als Gedanken eines „Grenzgängers“ zwischen Exegese, Soziologie, Psychologie und Literaturwissenschaft vorstellt, antworte ich indirekt – mit einem Werkbericht über meine Arbeiten zum Neuen Testament, in denen ich die wichtigsten Thesen vorstelle und hin und wieder ihre Entstehungssituation skizziere. Vieles davon verdanke ich Dissertationen, die ich angeregt und betreut habe. Auch sie sind in diesen Bericht über meine Werke einbezogen. Sie werden sehr positiv charakterisiert, wenn man sie als „Grenzgänge“ bezeichnet. Sie sind Ausdruck eines experimentellen Denkens, das an vielen Stellen Fragment bleiben und scheitern muss, aber dennoch notwendig ist. Das Neue Testament ist ein kleines Buch. Jedes Wort wurde intensiv interpretiert. Gerade deshalb muss es immer wieder neu lebendig ausgelegt werden. Denn es ist der Grundlagentext der christlichen Kirchen und gehört zur Grundinformation unserer ganzen Kultur. Bei seiner Interpretation muss man „Grenzen“ überschreiten, um sich neue Inspiration zu holen. Einige der Beiträge haben in meinen Arbeiten eine Einheit gefunden, die mich überrascht hat, andere meinen, diese Einheit sei zu groß und führe zur Vernachlässigung historischer Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit. —————

1 P. Lampe/H. Schwier (Hg.), Neutestamentliche Grenzgänge. Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißen. Festschrift für Gerd Theißen zum 65. Geburtstag, NTOA 75, Göttingen 2010.

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Einleitung

Beides ist richtig: Umfassende Darstellungen sind ohne vereinfachende Konstruktion nicht möglich. Wir ordnen die Dinge, ehe wir sie voll wahrgenommen haben, und korrigieren danach unsere Bilder durch genaues Hinschauen und Überprüfen unserer Ideen. Ein konstruktives Ordnungsbild habe ich in Form der Metapher von der urchristlichen Religion als semiotischer Kathedrale geprägt. Es suggeriert eine Ordnung, die sich bei näherem Hinsehen als Ergebnis einer Baugeschichte mit vielen Brüchen und Inkonsequenzen erweist. Ulrich Luz und Heikki Räisänen fragen mit Recht, ob durch dieses Bild die dynamischen und chaotischen Aspekte dieser Kathedrale – die Bedeutung ihrer Geschichte sowie der vielen Konflikte bei ihrer Entstehung – nicht allzu unsichtbar werden. Konflikte bei ihrer Baugeschichte haben zum Ausschluss von Gruppen geführt, die wir jetzt zu wenig wahrnehmen. War diese Baugeschichte also vor allem eine Geschichte von Macht, Zensur und Herrschaft? Jedoch muss man immer wieder daran erinnern: Diese Kathedrale entstand zu Zeiten, als das Urchristentum keine zentralen Leitungsstrukturen hatte; es gab keine Synoden, keine Bischöfe mit anerkanntem Primat, erst recht keinen Kaiser, der an einer geschlossen wirkenden Kirche interessiert war. Diese Kathedrale eröffnete einen Lebensraum, der für Pluralität Platz ließ, wenn er auch nicht alles tolerierte. Man betrat sie freiwillig. Sie hat auf eine erstaunlich sanfte Weise ihren eigenen Stil und ihr Profil gefunden. Dennoch suche ich nach wie vor nach einer umfassenden „Systematik“ – weder mit Hilfe der traditionellen Dogmatik noch einer semiotischen „Megatheorie“, sondern mit Hilfe einer Religionsphilosophie, die mit evolutionären Gedanken und phänomenologischen Ansätzen arbeitet. Sie kann m.E. den narrativen Strukturen der christlichen Religion gerecht werden. Denn die Evolution arbeitet mit dem weiter, was kontingent entstanden ist, und geht durch Brüche, Konflikte und Irrwege ihren Gang. Sie hat eine narrative Struktur und kann trotzdem plausibel machen, wie durch trial and error eine Ordnung aus all diesen Konflikten und Irrwegen entsteht. In einem abschließenden Beitrag habe ich meine Gedanken zu solch einer evolutionären Theorie der Religion noch einmal niedergeschrieben, so, wie sie dem jetzigen Stand meines Wissens und Irrens entsprechen. Es bleibt möglicherweise ein unerfüllter Traum, dass ich solch eine „Philosophie“ der urchristlichen Religion entwickeln kann. Wie notwendig sie ist, zeigt sich daran, dass die moderne Religionskritik manchmal mit evolutionären Theorien der Religion meint, die Religion endgültig erklärt und entzaubert zu haben. Sie ist m.E. ernst zu nehmen, auch wenn sie oft einseitig und ungerecht ist. Mit Hilfe sehr formaler Konzepte finden einige in meinen Arbeiten eine verborgene hermeneutische Leitlinie. Martin Leiner schlägt vor, bei neu entstehenden religiösen Zeichensystemen deren innovative Kraft in der „Rekapitulation“ älterer Zeichensysteme zu sehen: Elemente der jüdischen

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Einleitung

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Religion werden mit neuen Signifikaten versehen und rücken in eine Zentralstellung, von der aus sie das System neu organisieren. Das führt zu einer Relektüre vergangener Zeichensprachen, vor allem zu einem neuen Verständnis des Alten Testaments. Er möchte daraus eine allgemeine Theorie von Revolutionen und Neuanfängen in der Religionsgeschichte, ja in der Geschichte der Welt überhaupt, entwickeln. Die Alternative ist also nicht: Chaos oder Ordnung, sondern es stellt sich die Frage danach, wie aus einer alten Ordnung durch eine instabile Phase mit kreativem Chaos hindurch eine neue Ordnung entstehen kann. Der Gedanke der Rekapitulation stammt aus der Theologie des Epheserbriefs. Daher skizziere ich in meiner Stellungnahme zu M. Leiners Beitrag kurz, wie ich dessen kosmische Theologie in der Gegenwart fortführen zu können meine. Elisabeth Parmentier sieht in meinen Arbeiten zur Bibeldidaktik eine Korrelationshermeneutik, wie sie Paul Tillich vertreten hat: Auf der einen Seite steht eine zeitübergreifende Botschaft, auf der anderen die gegenwärtige Situation, die beide in Korrelation gebracht werden müssen. Grundmotive der Bibel finden so Resonanz in säkularen Überzeugungen der Gegenwart. In meinen Predigten und meiner Predigtlehre sieht sie dagegen noch einen anderen Ansatz wirksam, der an die Kerygmatheologie Karl Barths und Rudolf Bultmanns anknüpft. Hier wird das Wort der Bibel im Lichte einer Performanzhermeneutik als ein schöpferisches Wort gedeutet. Die eigenen Arbeiten von E. Parmentier sind beiden Traditionen zuzuordnen. Ich stelle am Ende dar, wie ich die religionsphilosophische Tradition (wie sie P. Tillich repräsentiert) mit der sprachtheologischen Tradition (wie sie von G. Ebeling und E. Fuchs vertreten wird) weiterführe und verbinde. Die Beiträge in den „neutestamentlichen Grenzgängen“ erhellen aber nicht nur allgemeine und strukturelle Züge meiner Arbeiten, sondern beschäftigen sich auch mit konkreten Themen und Arbeitsfeldern. Die Jesusforschung ist für mich ein zentrales Feld: Bengt Holmberg zeichnet nach, wie ich ausgehend von sozialgeschichtlichen Überlegungen zu einer konservativeren Position gelangt bin, die an der historischen Auswertbarkeit der Jesusüberlieferungen festhält und die Erinnerung an Jesus nicht in einem nachösterliches Kerygma unerkennbar umgeschmolzen sieht. Ich möchte in meinen weiterführenden Gedanken zeigen, dass man keineswegs ein naives Verständnis von historischen „Fakten“ hat, wenn man daran festhält, dass wir in der Jesusüberlieferung Zugang zu einer „wirklichen“ Geschichte erhalten. Eine naive Anschauung von historischen Fakten als „Elementarteilchen“ der Geschichtswissenschaft ist so überholt wie Atommodelle vor der modernen Kernphysik. Aber das erlaubt keine Absage an die historische Forschung, sondern ist eine Aufforderung dazu, durch differenziertere Vorstellungen der Wirklichkeit näher zu kommen. Es ist keine Legitimation dafür, sich mit einem Spiel mit subjektiven Bildern zu

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Einleitung

begnügen. Daher skizziere ich in diesem Zusammenhang auch einige Eckdaten, an denen sich m.E. die Erforschung des historischen Jesus orientieren kann. Mit der Sozialgeschichte habe ich in der Wissenschaft einst mein eigenes Thema gefunden: Wolfgang Stegemann zeigt, wie die These von einem urchristlichen Wanderradikalismus kritisiert wurde und bis heute „überlebt“ hat. Heimatlose Charismatiker haben als Apostel und Missionare die Anfänge des Christentums bestimmt. W. Stegemann selbst hat sehr früh problematisiert, welche Rolle dabei kynische Einflüsse und Deutungen gehabt haben könnten. Dieses Thema hat dann später die Jesusforschung stark bewegt. Zeitweise hielt man Jesus sogar für einen jüdischen Kyniker. Ich möchte zeigen, dass kynische Deutungen in der Tat „sekundär“ sind, wie W. Stegemann von Anfang an angenommen hat – aber sie sind von Anfang an sekundär, d.h. sie wurden oberflächlich auf jüdische Phänomene angewandt, wahrscheinlich schon auf Judas Galilaios, wie ich in meiner Stellungnahme zeigen möchte. Annette Merz zeigt, wie der „neue Konsens“ hinsichtlich der geschichteten Sozialstruktur hellenistischer Gemeinden, der von W.A. Meeks und mir mit kleinen Varianten vertreten wurde, mit moralisch aufgeladener Kritik angegriffen und als Ausdruck konservativer Ideologie entlarvt wurde. Aber am Ende stellen die Kritiker diesem neuen Konsens ein Bild entgegen, das ihn bestätigt: Die Gemeinden des hellenistischen Urchristentums umfassen Menschen aus verschiedenen Schichten, aber stehen insgesamt den imperialen Oberschichten fern. In meinen weiterführenden Gedanken in diesem Buch möchte ich zeigen, dass auch das von mir entworfene Bild der hellenistischen Gemeinden ein kritisches Potential enthält und kein Ausdruck einer konservativen Ideologie ist. Die soziale Schichtung in den hellenistischen Gemeinden ist die Voraussetzung für jene innere Dynamik, die ich einen „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten“ genannt habe: Untere Schichten eignen sich das Verhalten von Oberschichten in schichtbedingter Abwandlung an. Darin sehe ich eine „Wertrevolution“, die bis heute Nachwirkungen hat. Ich stelle das in diesem Buch am Beispiel der Motivation zur Hilfe im Urchristentum dar. Eine Literaturgeschichte des Neuen Testaments war für mich seit meinem Germanistikstudium und meiner (sehr begrenzten) Mitarbeit an der „Geschichte der urchristlichen Literatur“ meines Lehrers Philipp Vielhauer (1975) ein Ziel: Mein Entwurf einer Literaturgeschichte des Neuen Testaments, der auf einem Vortrag vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 2004 basiert, unterscheidet vier Phasen in dieser Geschichte. Am Anfang standen mit Jesus und Paulus zwei prägende, charismatische Größen, dann folgte eine Phase anonymer Nachahmer, die pseudonyme Überlieferungen und Schriften im Namen Jesu und des Paulus produzierten. Sie wurde abgelöst von einer dritten Phase mit einer Eigendy-

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Einleitung

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namik verschiedener Formen: Historiographie in der Apostelgeschichte, Apokalyptik in der Johannesoffenbarung. Die letzte Phase war die Kanongeschichte; in ihr wurde das Neue Testament religiöse Weltliteratur. David Trobisch schlägt vor, eine solche an der diachronischen Entstehungsgeschichte orientierte Literaturgeschichte durch eine an der synchronen Endgestalt des Kanons orientierte ästhetische Betrachtungsweise zu ergänzen, die historisch das Neue Testament im Kontext des zweiten Jahrhunderts liest. Ich führe seine Gedanken weiter, indem ich zeige, dass man auch auf dem Boden einer synchronischen Lektüre des Neuen Testaments in seiner Endgestalt zu einer diachronischen Sicht kommen muss. Sie ist im Neuen Testament selbst angelegt. Den literaturästhetischen Ansatz bejahe ich ausdrücklich. Er lässt sich m.E. sehr differenziert durchführen, wenn man die mannigfaltigen Phänomene des „Ästhetischen“ vom Grotesken bis zum Idyllischen und Tragischen berücksichtigt. Oda Wischmeyer insistiert mit Recht darauf, dass jede Literaturgeschichte des Neuen Testaments den Kriterien und Standards der allgemeinen Literaturgeschichtsschreibung entsprechen soll, sieht aber, dass die antike Literatur schon bei der Bestimmung dessen, was Literatur ist, nicht von modernen Literaturkonzepten her zu verstehen ist. Daran anknüpfend zeige ich, dass wir bei der Entwicklung des Literaturbegriffs zwei Tendenzen beobachten können: Bei altorientalischen Texten werden fast alle Texte, die nicht Listen und Abrechnungen sind, als „Literatur“ behandelt, während die Moderne nur fiktionalen Texten mit ästhetischer Qualität das Merkmal der „Literarizität“ zubilligt. Wir begegnen hier einer wachsenden Ästhetisierung des Literaturbegriffs. Umgekehrt finden wir, ausgehend von der Poetik der Antike und ihren klassischen Gattungen, eine Ausweitung des Literaturbegriffs. Die Gegenwart kann fast alle Texte einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung würdig achten und den Literaturbegriff insofern entästhetisieren. Aus Literaturwissenschaft wird dann eine allgemeine Textwissenschaft. Im Mittelpunkt meines Gesprächs mit Oda Wischmeyer steht freilich die spezielle Frage, inwieweit Jesus und Paulus von mir mit Recht als die entscheidenden „Ursprungsgestalten“ der urchristlichen Literaturgeschichte angesehen werden. Ist das nicht eine Erneuerung der biographischen Literaturgeschichtsschreibung, die sich in der allgemeinen Literaturwissenschaft nur begrenzt als tragfähig erwiesen hat? Die Psychologische Exegese war seit meiner Studienzeit eine meiner Visionen für die neutestamentliche Exegese: Ich wünsche, dass ich noch erlebe, wie sie als eine kontrollierbare und seriöse Methodik in die neutestamentliche Wissenschaft Einzug hält – anlog zur sozialgeschichtlichen Fragestellung. Sie soll nicht psychologische Lebenshilfe sein, soll auch nicht Texte als therapeutische Impulse deuten, sondern ihre psychologische Dimension wahrnehmen und erkennen – unabhängig davon, ob uns das in der

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Einleitung

Gegenwart hilft oder nicht. Sie soll daher wie jede methodisch kontrollierte Exegese identitätsoffen und applikationsfern sein – gerade weil sich nur so kritische Menschen diesen Texten anvertrauen können, ohne sie anachronistisch zum Spiegelbild gegenwärtigen Lebens zu machen. Petra von Gemünden hat dazu wichtige Beiträge inhaltlicher wie methodischer Art geliefert. Sie zeigt, dass es schon im Urchristentum und seiner Umwelt Ansätze zu einer psychologischen Auslegung gab. Diese ist daher kein Anachronismus. Dass auch kontrollierte Anachronismen eine erhellende Kraft haben können, habe ich von ihr gelernt. Ihre Gedanken weiterführend, versuche ich, verschiedene Formen von Anachronismen zu unterscheiden – und den Anachronismusverdacht rekursiv auf sich selbst anzuwenden: Der grundsätzliche Wandel aller Dinge gehört so sehr zu den Selbstverständlichkeiten der modernen Welt, die wir ihn manchmal zu schnell in vergangene Zeiten hinein projizieren und Konstanten und Kontinuitäten übersehen. Meine Beiträge zur Didaktik und Homiletik hat Elisabeth Parmentier mit Recht einer Korrelationshermeneutik zugeordnet. Sie betont, dass die neutestamentliche Botschaft nicht nur ein Licht aus der Vergangenheit ist, das die Gegenwart beleuchtet, ohne sie zu verändern, sondern dass sie eine performative Kraft hat und in der Gegenwart etwas verändern will. Hier wirkt (auch bei mir) die Kerygmatheologie weiter. Helmut Schwier zeigt am Beispiel einer von mir über „Thomas den Zweifler“ gehaltenen Predigt, wie deren Rezeption empirisch erforscht werden kann, indem man das Angesprochensein von Menschen während dieser Predigt kontinuierlich einschätzen lässt. Man erhält dann „Kurven“ des Angesprochenseins, die Vermutungen über die Wirkung von Predigten nachprüfbar machen. Dabei zeigt sich, dass die von mir selbst als so wichtig betrachtete „kosmische“ Dimension des Glaubens heute in der Predigt wenig anspricht. Der Versuch, den christlichen Glauben in die Evolutionsgeschichte einzuzeichnen, erreicht nur schwer die Herzen der Menschen. Für mich ist dieser Versuch dennoch sehr wichtig. Einen Beitrag zur Mythenhermeneutik ist der Aufsatz von Eberhard Faust. Er untersucht eine konkrete mythische Tradition: apokalyptische Untergangsbilder, die im gegenwärtigen Klimadiskurs aufleben und dabei ambivalente Wirkungen haben. In meinen Gedanken zur evolutionären Deutung des urchristlichen Glaubens habe ich am Anfang der 80er Jahre solche mythischen Bilder aufgegriffen – damals nicht mit der „Klimakatastrophe“ verbunden, sondern mit dem drohenden Umschlag des kalten in einen heißen Krieg. Ich zeige in diesem Buch, wie in der gegenwärtigen Diskussion nur isolierte mythische Versatzstücke aufgegriffen werden, während die traditionellen mythischen Symbolwelten als ganze ein Gleichgewicht in sich hatten, die bei dieser steinbruchartigen Verwendung von Krisen-Mythologemen verloren geht.

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Einleitung

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Am Ende greife ich noch einmal auf meine unveröffentlichte Heidelberger Antrittsvorlesung (1980) zurück, die in „Neutestamentliche Grenzgänge“ zum ersten Mal publiziert wurde. Ich versuche abschließend, den Stand meiner Gedanken zu Evolution und Glauben in einer Skizze dazulegen, in der sich beide gegenseitig interpretieren. In einem ersten Durchgang versuche ich eine Deutung der Evolution im Rahmen des Schöpfungsglaubens, dann eine Deutung der biblischen Religion im Rahmen der Evolutionstheorie. Das Ergebnis beider Versuche ist: Wir sind Geschöpfe einer langen Evolution, die Lebewesen hervorgebracht hat, die diese Evolution erkennen können und nach einem Sinn in diesem kosmischen Prozess suchen. Wir sehen: Alles Leben tastet in trial and error nach Anpassung an vorgegebene Grundstrukturen des Seins. Wir haben das Privileg, an diesem Versuch bewusst teilzunehmen. Religion ist der bewusste Versuch, in Entsprechung zur letztgültigen Wirklichkeit zu leben. Dabei fand eine Evolution der Evolution statt: Das Leben suspendiert im Rahmen offener Systeme das Entropieprinzip, die Kultur suspendiert im Rahmen humaner Gesellschaften das Selektionsprinzip. Aber beide, Leben und Kultur, gehören zu einem einheitlichen Evolutionsprozess, der uns einen „antiselektiven Imperativ“ mitgab, Leben auch dort zu ermöglichen, wo es unter natürlichen Umständen keine Chancen hat. In der biblischen Religion kommt dieser in jeder humanen Kultur wirksame antiselektive Imperativ zu Bewusstsein und rückt ins Zentrum ethischer Verpflichtung. Der Versuch, die biblische Religion in diesen evolutionären Gesamtprozess einzuzeichnen, bleibt ein unvollendetes Projekt. Vielleicht darf es unvollendet bleiben. Denn in einer von uns nie voll überschaubaren Wirklichkeit ist wichtiger als eine Gesamtsicht ein innerer ethischer Kompass, der uns eine Richtung weist. Diesen ethischen Kompass meine ich, im antiselektiven Imperativ und seiner Begründung in einem antiselektiven Indikativ gefunden zu haben. Er wurde in der Bibel entdeckt und bewusst gemacht. Ein Symposium mit Beiträgen, die alle in verschiedener Weise ein Echo meiner Arbeiten sind, ist ein ungewöhnliches Geschenk. Dieses Buch ist ein Echo auf dieses Echo, ein kleiner Dank. Es soll Gespräche bei neutestamentlichen Grenzgängen weiterführen – das alles im Bewusstsein, dass bei Gesprächen niemand das letzte Wort hat. Dieses Buch entstand aus einem kleinen Heft, mit dem ich mich bei allen Beiträgern bedanken wollte. Ich danke Ines Pollmann für die Hilfe beim Formatieren und Bearbeiten des Textes und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der die Anregung aufgriff, es in überarbeiteter und erweiterter Form zu veröffentlichen. Heidelberg, April 2011

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Gerd Theißen

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1. 40 Jahre Arbeiten zum Neuen Testament 1969–2009. Ein Werkbericht über meine Arbeiten1

1943 wurde ich im Rheinland geboren. Mein Vater war Mathematik- und Physiklehrer, meine Mutter Fürsorgerin. Bei ihrem Tod 1946 hinterließ sie vier Kinder. Mein Vater war damals noch lange in Kriegsgefangenschaft. Wir wuchsen dennoch unter glücklichen Umständen auf. In meiner Schulzeit (in der Oberstufe) hat mich die Lektüre von Karl Jaspers und Max Weber beeindruckt. Ich wollte, dadurch motiviert, Soziologie und Psychologie studieren. Mein Vater war dagegen. Er hielt das für brotlose Künste. Aufgrund persönlicher Entscheidungen und Erfahrungen studierte ich dann am Ende Theologie und Germanistik, um Pfarrer und Lehrer zu werden. Ich versprach mir mehr Freiheit, wenn ich nicht in einer, sondern in zwei Institutionen tätig werden konnte. Weil mein Vater zwölf Semester studiert hatte, war er so fair, mir ebenso viel zu finanzieren. Das reichte, um während des Studiums (in Bonn) eine Promotion im Fach Neues Testament zu schreiben und 1968 abzuschließen. Sie basierte auf einer Seminararbeit, in der ich das lukanische Doppelwerk mit dem Hebräerbrief verglichen hatte. Da dieser Vergleich wenig erhellend ist, arbeitete ich nur einen Teil der Arbeit aus:2 Ich deutete den himmlischen Gottesdienst im Hebräerbrief als Kritik am irdischen Gottesdienst der Christen und las vielleicht zu sehr die Vorbehalte eines Reformierten gegenüber einer liturgischen Frömmigkeit in diesen Brief hinein. Übertriebene Erwartungen an den Kult seien enttäuscht worden, die der Verfasser durch Aufwertung des himmlischen Gottesdienstes zu überwinden suche. Er motiviere dazu, den Weg durch die Wüste der Welt zu gehen und belebe dazu seine Variante futurischer Eschatologie: Das Irdische werde bald verschwinden, damit die allein wahre himmlische Wirklichkeit übrig bliebe. Er werte so jeden irdischen Kult, nicht nur den jüdischen ab, insbesondere aber ein mysterienhaftes Verständnis des christlichen Abendmahls. Mein Ger—————

1 Diese Werkbiographie basiert auf meiner Antrittsrede an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 12. Juli 2003, Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2003, Heidelberg 2004, 147–149, und auf G. Theissen, Von der Literatursoziologie zur Theorie der urchristlichen Religion, in: E.-M. Becker (Hg.): Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, UTB 2475, Tübingen/Basel 2003, 176–185. 2 G. Theissen, Untersuchungen zum Hebräerbrief, StUNT 2, Gütersloh 1969.

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Gerd Theißen: Werkbericht über 40 Jahre

manistikstudium habe ich während der Arbeit an der Promotion vernachlässigt. Nach meinem Rigorosum heiratete ich mit 25 Jahren (1968) meine Frau, Christa Schaible, damals Assistentin am Psychologischen Seminar in Bonn. Danach war ich ein Jahr in Göttingen – für mich und meine Frau wegen unglücklicher Verhältnisse an meiner ersten Assistentenstelle ein schwieriges Jahr. Danach war ich vier weitere Jahre in Bonn Assistent. Weil sich damals viele Studienkameraden von der Theologie abwandten, schrieb ich Anfang der 70er Jahre nieder, warum ich es nicht tat. Später habe ich diese Gedanken (1978) unter dem Titel: „Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand?“ veröffentlicht. Grundgedanke war, dass Religion auf Resonanzerfahrung basiert und sich mit Absurditätserfahrungen auseinandersetzt. Anstoß dazu war das religionskritische Werk von E. Topitsch: „Vom Ursprung und Ende der Metaphysik“ (1958). Nach ihm projizieren alle Religionen und Philosophien psycho-, techno- und soziomorphe Modelle in die Wirklichkeit und verleihen ihr dadurch eine Intentionalität, die sie nicht hat. Meine Überlegung war: Wollte man diese Projektionen rechtfertigen, müsste es eine Übereinstimmung zwischen Mensch und umgebender Wirklichkeit geben, die von solchen Projektionen entdeckt wurde. Bei solch einer Übereinstimmung muss man kein Intentionalitätszentrum hinter der Wirklichkeit postulieren. Ein Klangkörper schwingt in Übereinstimmung mit einer Saite, ohne dass sein Mitschwingen intendiert ist. Religion basiert auf solchen Resonanzerfahrungen, die eine Antwort auf etwas „Objektives“ in der umgebenden Wirklichkeit sind. Dazu gehören die Rationalität der Natur, auf die unser Verstand nur ein schwaches Echo ist, der Willen zum Leben in allem Lebendigen, vor allem aber die zwischenmenschliche Liebe. Umschreibungen Gottes in der modernen Zeit, die ihn zum Garanten der „Ordnung in der Natur“ (im Deismus) oder zum Grund des Lebenswillens (in der Lebensphilosophie) oder als „Woher unserer Mitmenschlichkeit“ (im existenztheologischen Humanismus) definieren, erfassen aber nicht Gott selbst, sondern nur, was von ihm erkennbar ist, und auch das nur partikular. Gott selbst bleibt das Geheimnis hinter allen Resonanzerfahrungen. Wer von ihnen erfasst wird, kommt an den Punkt, wo es nicht mehr um die Frage geht: Wie stimmt die Wirklichkeit mit meinen Bedürfnissen überein? sondern: Wie kann ich den Herausforderungen der Wirklichkeit gerecht werden? Das ist die entscheidende Umkehr im Leben. Die große Herausforderung der Religion ist das Verstummen von Resonanz in Absurditätserfahrungen. Jesus war mir wichtig – einerseits als Verkündiger der Liebe und Ausdruck der intensivsten Resonanzerfahrung, andererseits als Gekreuzigter und Symbol tiefster Absurdität. Glaube definierte ich als Mut zum Leben, der mit Christus gekreuzigt wird und mit ihm immer wieder neu aufersteht.

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Arbeiten zum Neuen Testament 1969–2009

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Meine Predigten mit dieser liberalen Theologie im Hintergrund kamen gut an. Aber ich war unsicher, ob solch eine Liberalität in Kirche und Theologie wirklich vertretbar war. Daher beeilte ich mich mit meiner Habilitation (1972), um für andere Lebenswege offen zu sein. Ich war nun 29 Jahre alt, hatte zwei Kinder, rechnete nicht mit einer Hochschullaufbahn und wollte sie im Grunde auch nicht. Grund dafür waren abstoßende Erfahrungen auf meiner ersten Stelle an der Universität Göttingen. Daher schloss ich ein paar sozialgeschichtliche Studien ab, um meine Schubladen zu lehren, und nahm nach fünfjähriger Assistentenzeit mein Germanistikstudium wieder auf. Wir hatten dafür gespart. Nach Abschluss des neuen Studiums 1975 unterrichtete ich Religion und Deutsch an Gymnasien 1976–1978. Ich war gerne Lehrer. Meine wissenschaftlichen Arbeiten wurden positiver aufgenommen, als ich je gehofft hatte. Ich wurde primo loco für eine Professur in Kiel vorgeschlagen. Die Berufung scheiterte 1976 am informellen Einspruch der Kirche. Ich erfuhr von diesem Einspruch erst später durch einen Mitarbeiter im zuständigen Oberkirchenrat. Der Listenplatz in Kiel war trotzdem eine Empfehlung. Ich erhielt fast gleichzeitig eine Einladung zu einer Gastprofessur an die Vanderbuilt University in den USA und einen Ruf an die Universität Kopenhagen. Ich hatte zehn Wochen Zeit bis zu meiner ersten Vorlesung, um Dänisch zu lernen. Noch heute bin ich stolz darauf, dass ich es geschafft habe. Das war auch gut so. Denn ein Literaturwissenschaftler, Kollege an der Universität Kopenhagen, schrieb Artikel gegen meine Berufung mit der populistischen These, man könne nur in der Muttersprache Theologie unterrichten, da nur die Muttersprache das Herz der Menschen erreiche; das Evangelium spräche nun einmal das Herz an. Ich muss hinzufügen: Im Allgemeinen wird man in Dänemark mit mehr Offenheit begrüßt. Manchmal war es schwer klarzumachen, dass bei meiner gescheiterten Berufung in Deutschland der Radikalenerlass keine Rolle gespielt hatte, mit dem damals junge Menschen mit extremer Kritik am kapitalistischen System vom öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland ausgeschlossen wurden. Hin und wieder musste ich unverdiente Sympathiegewinne zurechtrücken. 1980 erhielt ich einen Ruf nach Heidelberg. Mein Weggang nach nur zwei Jahren hat in Dänemark nicht nur Zustimmung gefunden. Es lag auch Versöhnung darin, dass mich die Universität Aarhus zu ihrem 75jährigen Jubiläum im Jahr 2003 einlud. An der Universität Kopenhagen habe ich seitdem mehrfach Vorträge gehalten. Versöhnung lag auch darin, dass die Badische Landeskirche meine Berufung nach Heidelberg nachdrücklich befürwortet hat. In meinen wissenschaftlichen Arbeiten zum Neuen Testament habe ich meine ursprünglichen Studienwünsche verwirklicht, die ich durch Konzent-

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ration auf die Theologie hatte vernachlässigen müssen: Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Auf diese Weise konnte ich der neutestamentlichen Wissenschaft einige neue Impulse geben. Der Widerstand meines Vaters gegen meine Studienpläne hatte insofern auch etwas Gutes.

1) Arbeiten zur Literaturgeschichte Exegese ist Literaturwissenschaft. Meine Beiträge dazu führen die Arbeit meines Lehrers Philipp Vielhauer an einer „Literaturgeschichte des Urchristentums“ (1975) fort, die wiederum von seinem Lehrer Martin Dibelius inspiriert war. Ich stehe hier in einer langen Tradition. Meine Habilitationsschrift (1972) behandelte die Wundergeschichten.3 Eigentlich wollte ich über die Nag-Hammadi-Texte arbeiten und hatte dazu im Sommer 1969 bei Christa Müller im Privatunterricht in Göttingen Koptisch gelernt. Aber Ph. Vielhauer bat mich, das Ergänzungsheft zu R. Bultmanns „Geschichte der synoptischen Tradition“ fortzuführen.4 Das war nur zu schaffen, wenn ich im Bereich der synoptischen Evangelien mein Habilitationsthema suchte. In den synoptischen Wundergeschichten entdeckte ich mit Hilfe des Strukturalismus eine innere Logik von Personenrollen, Motiven und Themen. Je nachdem, welche Person in den Mittelpunkt rückt, kann man Therapien und Exorzismen, Norm- und Geschenkwunder, Rettungen und Epiphanien unterscheiden. Bei Therapien steht der Hilfesuchende im Mittelpunkt, bei Exorzismen der Dämon, bei Epiphanien der Wundertäter selbst. Bei Normwundern treten die Gegner hervor, bei Geschenkwunder die anonyme Menge, bei Seerettungen die Jünger. Ich stellte mir vor, dass die Erzähler solcher Wundergeschichten die zugrunde liegenden Gattungsstrukturen und Motivrepertoires beherrschten und jede ihrer Neuerzählungen einer Wundergeschichte eine Neuschöpfung war. Die Geschichten selbst schienen mir Perlen volkstümlichen Erzählens zu sein. Der in ihnen gestaltete Protest gegen menschliches Leid sprach mich an. Moderne Exegese übersieht ihn oft zugunsten abstrakter theologischer Gedanken. Schon früh wurden diese populären Geschichten im Volk überliefert – auch dort, wo die Gedanken Jesu kaum bekannt waren, und konnten dort nach den typischen Mustern antiken Wunderglaubens gestaltet werden. Ich deutete sie als —————

3 G. Theissen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 1974, 71998, engl. 1983. 4 Ergänzungsheft zu R. Bultmann: Geschichte der synoptischen Tradition. Bearbeitet von G. Theißen und Ph. Vielhauer, Göttingen 1971. In den 90er Jahren habe ich diese Arbeit noch einmal aufgenommen in: Die Erforschung der synoptischen Tradition seit R. Bultmann. Ein Überblick über die formgeschichtliche Arbeit im 20. Jahrhundert, Nachwort zu R. Bultmann: Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1995 10. Aufl., 409–452.

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symbolische Handlungen, mit denen Menschen sich gegen konkrete Nöte auflehnten: Symbolisches Handeln war dabei der Akt des Erzählens von Wundergeschichten. Die erzählten Wunder wurden selbstverständlich wörtlich verstanden. Die zweite Aufgabe war, im Unterschied zu dieser volkstümlichen Wunderüberlieferung die ganz anders geprägte Wortüberlieferung von Jesus einzuordnen. Meine Antrittsvorlesung als Privatdozent 1972 behandelt deren Radikalismus:5 Nur bei heimatlosen und frei lebenden Charismatikern konnte ich mir vorstellen, dass man seine Familie verlässt, ohne Arbeit wie die Vögel unter dem Himmel lebt und demonstrative Schutzlosigkeit praktiziert. Für diese Erscheinung prägte ich den Begriff „Wanderradikalismus“. Er lässt sich in den Evangelien vor allem durch die Berufungsgeschichten und die Aussendungsrede, in der Didache durch Anweisungen zum Umgang mit wandernden Aposteln und Propheten belegen und findet sich noch in den pseudo-klementinischen Briefen De virginitate. Die Anregung zu dieser Idee kam mir bei der Beratung eines Mitdoktoranden, dessen Arbeit über die Logienquelle in eine Krise geraten war. Ich regte an, er solle den Gedanken ausarbeiten, dass die Trägergruppe der Logienquelle heimatlose Anhänger Jesu gewesen seien. Seine Arbeit wurde nie fertig. Mit meinen Arbeiten zu den Wundergeschichten und den Worten Jesu hatte ich somit zwei Überlieferungsströme unterschieden: Jüngerüberlieferungen waren die Worte Jesu, Volksüberlieferungen die Wundergeschichten. Später arbeitete ich (1989) als dritten Traditionsstrom Gemeindeüberlieferungen mit einem Sitz im Leben ortsfester Gemeinden heraus. Zu ihnen rechnete ich größere schriftliche Textkomplexe wie die Passionsgeschichte und die synoptische Apokalypse (Mk 13parr). Die Form der Evangelien basiert auf diesen Quellen, da diese dadurch entstand, dass die Evangelien die Passionsgeschichte mit ihrer Aneinanderreihung von Episoden ins Leben Jesu hinein verlängerten. Die Evangelien passen die radikale Jesusüberlieferung an die Bedürfnisse von Ortsgemeinden an. Um deren Vorgeschichte in mündlichen und schriftlichen Traditionen zu erhellen, reichen textimmanente Analysen nicht aus. Man muss vielmehr externe Indizien aus Geschichte, Landeskunde und Archäologie heranziehen, um wenigstens einige Überlieferungen als Eckdaten einer Literaturgeschichte lokalisieren und datieren zu können. Das war das Ziel meiner Studien zu „Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den synoptischen Evangelien“ (1989).6 In ihnen schlägt sich das Ergebnis einer Studienreise nach Syrien und Palästina 1980 ————— 5 G. Theissen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245–271 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, 31989, 79–103. 6 G. Theissen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, NTOA, 8, Fribourg/Göttingen 1989, 21992; engl. 1992; span. 1997.

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nieder, die durch ein gemeinsames Seminar mit dem dänischen biblischen Archäologen J. Strange vorbereitet worden war. Mein Interesse an Realgeschichte und Landeskunde verbindet mich mit Max Küchler, mit dem zusammen ich seit 1985 die Reihe Novum Testamentum et Orbis Antiquus (NTOA) herausgebe. Es war die erste von Katholiken und Protestanten gemeinsam herausgegebene exegetische Reihe. Zu den Gleichnissen hatte ich, angeregt durch Arbeiten von H.-J. Klauck, folgende Idee: Die in ihnen entfalteten Metaphern stammen aus traditionellen Bildfeldern mit sinnverwandten Bildern. Man darf diese Bilder nicht einzeln betrachten, sondern muss das ganze Bildfeld und dessen Veränderungen untersuchen. Dazu regte ich zwei Dissertationen an. Petra v. Gemünden wies in ihrer Arbeit zur Vegetationsmetaphorik7 nach, dass die Teilbildfelder von Saat und Ernte, Baum und Frucht sachlich eine einleuchtende Ordnung aufweisen: Es sind entweder Gerichts- und Entsprechungsbilder, Ankündigungs- bzw. Wachstumsbilder, Zugehörigkeits- und Differenzierungsbilder. Erst im Neuen Testament wurde das Teilbildfeld Saat und Ernte auf eine Gemeinschaft gedeutet, während das andere Teilbildfeld Baum und Frucht schon immer so deutbar war. Das erklärt, warum gerade zu den Wachstumsgleichnissen eine allegorische Auslegung nötig wurde, als sie auf die Gemeinschaft der Jünger gedeutet wurden; hier musste eine Lücke im Bildfeld gefüllt werden. Catherine Heszer führte für die Lohnmetaphorik8 einen Vergleich mit rabbinischen Gleichnissen zu Mt 20,1–16 durch – mit dem Ergebnis, dass der Gnadengedanke des Lohns in manchen (sehr späten) rabbinischen Gleichnissen stärker betont wird als bei Jesus. Nur in Mt 20,1–16 wird freilich eine Vergütung nach Güte und nach Gerechtigkeit im selben Gleichnis miteinander konfrontiert. Mit Vorlesungen zur Entstehung der Evangelien in Budapest (1993), Cambridge (1994) und Hongkong (2000) kehrte ich zu meinen literaturgeschichtlichen Arbeiten zurück. Ich vermutete hinter den Evangelisten urchristliche Schriftsteller, die mit ihrer Schriftstellerei ihre Gemeinden lenken und beeinflussen wollten. Daher nannte ich diese Vorlesungen: „Gospel Writing and Church Politics“ (2001).9 So wie die Paulusbriefe ihre Entstehung gemeindeleitenden Interessen verdanken, so auch die Evangelien. Sie suchen nach einem Konsens als Grundlage für das Zusammenleben in der Gemeinde, bestimmen die Identität christlicher Gruppen gegenüber ihrer Mutterreligion, geben Orientierung für das Verhalten zur nicht-christlichen —————

7 P.v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Fribourg/Göttingen 1993. 8 C. Heszer, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1–16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse, NTOA 15, Fribourg/Göttingen 1990. 9 G. Theissen, Gospel Writing and Church Politics. A socio-rhetorical Approach, Chuen King Lecture Series 3, Hong Kong 2001; span., kor. 2002; chin. 2006.

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Umwelt, vermitteln in internen Konflikten und begründen Autoritätsstrukturen in den Gemeinden. Das Markusevangelium ist u.a. geschrieben, um Christen ein gutes Gewissen zu geben, wie ihr Meister im Verborgenen geheim zu leben, bis sie sich dem unvermeidlichen Konflikt mit der Welt stellen und sich zu ihrer Identität als Christen bekennen müssen. Es interpretiert die Traditionen des Wanderradikalismus neu, indem es auch ortsfeste Christen in der Gestalt des Levi als „Nachfolger Jesu“ darstellt: Deshalb fehlt Levi später unter den zwölf Jüngern; er darf zu Hause bleiben.10 Das Matthäusevangelium ist geschrieben, um Juden- und Heidenchristen durch ein Bild von Jesus als humanem Gesetzeslehrer eine gemeinsame Basis des Zusammenlebens zu geben. Das Lukasevangelium ist der Versuch einer christlichen Geschichtsschreibung: Gott interveniert in der Geschichte vor allem durch seinen Geist, der in den Menschen wirkt und diesen die Augen für die Geschichte Gottes öffnet. Diese Geschichte gliedert sich in Erwartungs- und Erfüllungszeit, wobei die Zeit der Erfüllung in drei Phasen gegliedert ist: in Vorgeschichte Jesu, Jesusgeschichte und Geschichte der Kirche. Das Johannesevangelium will einfache Christen (simplices) zur vertieften Einsicht in die Bedeutung Jesu, die nur Pneumatiker haben, führen. Dabei knüpft es an Vorstellungen einfacher Christen an. Es benutzt etwa den alltäglichen Titel „Kyrios“ in einer Weise, der mit dem Fortgang des Evangeliums immer mehr für die göttliche Würde Jesu transparent wird.11 Einige von mir angeregte Dissertationen zeigen, wie in den Evangelien um Kompromisse zwischen verschiedenen Gruppen und Sozialformen des Christentums gerungen wird. Taeseong Roh zeigt in: „Die familia dei in den synoptischen Evangelien“ (1997),12 dass es neben der NachfolgeBeziehung der Wandercharismatiker noch eine zweite Form der Beziehung zu Jesus gab: die Zugehörigkeit zur Familie Gottes. Sie umfasste auch die ortsansässigen Christen. Kun Chun Wong entfaltet in: „Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium“ (1991),13 die These, dass das Matthäusevangelium geschrieben wurde, um Juden- und —————

10 G. Theissen, Die pragmatische Bedeutung der Geheimnismotive im Markusevangelium – ein wissenssoziologischer Versuch, in: H.G. Kippenberg/G. Stroumsa (Hg.), Secrecy and Concealment. Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions, Leiden/New York/Köln 1995, 225–245. 11 So die These der Heidelberger Dissertation von Woo-Jin Shim, Kyrios im Johannesevangelium. Eine exegetische Untersuchung zum Kyrios-Titel im Johannesevangelium, 2003. 12 Veröffentlicht als: T. Roh, Die familia dei in den synoptischen Evangelien. Eine redaktionsund sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld, NTOA 37, Fribourg/Göttingen 2001. 13 Veröffentlicht als: K.Ch. Wong, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium, NTOA 22, Fribourg/Göttingen 1992.

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Heidenchristen eine gemeinsame Basis für ein dauerhaftes Zusammenleben zu geben. Der Autor des Matthäusevangeliums weiß nicht wie wir, dass das nur ein vorübergehender Zustand sein würde. Er rechnet damit, dass beide Gruppen bis ans Weltende in einer „multikulturellen Gemeinde“ nebeneinander leben werden. Ho-Seung Ryu sammelt in: „Johannes der Täufer im Matthäusevangelium“ (2004/5), Argumente dafür, dass sich das Matthäusevangelium noch in einer aktuellen Auseinandersetzung mit Täufergruppen befindet. Astrid Schlüter arbeitet in ihrer Dissertation: „Die Selbstbezeugung des Wortes“ (1996)14 heraus, dass Jesus im Johannesevangelium drei konkurrierende Stellvertreter hinterlässt: Petrus, den Lieblingsjünger und den Parakleten. Das sich selbst offenbarende Wort wird in ihm zur Grundlage christlicher Identität. Generell gilt für die urchristliche Literatur, dass sie urchristlichen Gemeinden eine kollektive Identität geben will. Gunnar Garleff hat das in seiner Arbeit: „Urchristliche Schriften als kollektive Identitätskonzeptionen. Studien zur Literaturgeschichte des Urchristentums (2003),15 für drei aus dem Judenchristentum kommende Schriften, Matthäusevangelium, Jakobusbrief und Didache, gezeigt. Die Didache versteht er als Fortsetzung des Matthäusevangeliums: Sie bringt die am Ende des Matthäusevangeliums angekündigte Tauflehre, die Matthäus selbst nicht mehr ausführt. In einem kleinen Büchlein „Das Neue Testament“ (2002)16 skizzierte ich eine neutestamentliche Literaturgeschichte bis zur Kanonbildung. Dass der Kanon eine solche Bedeutung für mich erhielt, verdanke ich David Trobisch. Er verstand, Anregungen des canonical approach aufnehmend, das Neue Testament in seiner Endgestalt als Einheit: Im 2. Jh. n.Chr. habe einer der erfolgreichsten „Verleger“ der Weltgeschichte eine Edition des Neuen Testaments herausgebracht. Dabei habe er durch den Kodex die bisher dominierende Buchrolle verdrängt sowie durch Abkürzung der nomina sacra, durch die Anordnung der Schriften und die von ihm gestalteten Überschriften seiner Edition einheitliche Identitätsmerkmale gegeben. Der 2. Petrusbrief sei ein Editorial für diese Gesamtausgabe. Auch Joh 21 sowie die ganze Apostelgeschichte seien redaktionell geschaffene Teile. Der weitere Streit um den genauen Umfang des Neuen Testaments beziehe sich auf —————

14 A. Schlüter, Die Selbstbezeugung des Wortes. Selbstreferenz und Fremdreferenz in der Textwelt des Johannesevangeliums, Diss. HD 1996. Die Veröffentlichung dieser Arbeit kam leider nicht zustande. 15 Veröffentlicht als G. Garleff, Urchristliche Identität im Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief, BVB 9, Münster 2004. 16 G. Theissen, Das Neue Testament, München 2002; engl., jap., ital., span. 2003; kor 2005; port. 2007; tschech. 2009. Die englische Übersetzung: Fortress Introduction to the New Testament, Minneapolis 2003, ist eine stark erweiterte Fassung.

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diese Edition.17 War das Neue Testament also doch – nicht nur aus theologischen, sondern auch aus historischen Gründen – sehr viel mehr als eine Einheit zu betrachten? Diesem Gedanken kann man auch dann viel abgewinnen, wenn man die Einzelbegründungen nicht teilt. Einen Grundriss zu einer Literaturgeschichte des Neuen Testaments trug ich im Jahre 2004 vor der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vor.18 Diesen Vortrag arbeitete ich zu einem programmatischen Grundriss: „Das Problem einer Literaturgeschichte des Neuen Testaments“ (2007) aus. Ich unterschied bei der Entstehung des Neuen Testaments vier Phasen: Zwei charismatische Gestalten, Jesus und Paulus, gaben in sehr verschiedener Weise den entscheidenden Anstoß zur Entstehung der beiden Grundformen: Evangelium und Brief.19 Ohne das Wirken Jesu und seine Verkündigung wäre die Form des Evangeliums nicht entstanden. Ohne Paulus wäre der Freundschaftsbrief nicht zum Gemeindebrief geworden mit Anfängen einer christlichen Publizistik im Römerbrief.20 Diese beiden Grundformen waren ein so großer Erfolg, dass sie in einer zweiten pseudepigraphen Phase nur noch nachgeahmt wurden: Die deuterokanonischen Briefe legen ihre Theologie Paulus, die Redaktoren der Evangelien ihre Botschaft Jesus in den Mund. Zur Charakterisierung dieser zweiten Phase übernahm ich von Annette Merz den für die Deuteropaulinen geprägten Begriff einer „fiktiven Selbstauslegung“, sei es des Paulus oder

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17 D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 31, Fribourg/Göttingen 1996. 18 Der Vortrag wurde auf Französisch veröffentlicht: G. Theissen, Les quatre phases de la naissance du Nouveau Testament. Esquisse d’une histoire de la littérature du christianisme antique, RHPhR 87 (2007), 19–53. In die Heidelberger Akademie wurde ich 2002 aufgenommen. 19 D. Trobisch verdanke ich viele Anregungen zur Literaturgeschichte der neutestamentlichen Briefe. Seine Dissertation: Die Entstehung der Paulusbriefsammlung, Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik (1987/88), NTOA 10, Freiburg/Göttingen 1989, hat zum ersten Mal den Gedanken zur Diskussion gestellt, dass Paulus eine erste Sammlung seiner Briefe als Autorenrezension selbst gestaltet hat. Ihm verdanke ich die Hypothese, dass die Anordnung der Paulusbriefe nach ihrer Länge jeweils einen Neuansatz zeigt: mit dem Epheserbrief eine Sammlung, die echte und deuteropaulinische Briefe umfasst, mit den Pastoralbriefen Briefe an Einzelpersonen. 20 In G. Theissen/Ch. Hartwig, Die korinthische Gemeinde als Nebenadressat des Römerbriefs. Eigentextreferenzen des Paulus und kommunikativer Kontext des längsten Paulusbriefs, NovTest 46 (2004), 229–252, entwickelten wir – angeregt durch Gedanken von D. Trobisch – die These, dass wir bei Paulus im Römerbrief den Übergang von Briefkorrespondenz zu einer urchristlichen Publizistik beobachten können. Der Römerbrief hat neben der römischen Gemeinde nicht nur die Gemeinde in Ephesus und Jerusalem, sondern auch die in Korinth als Nebenadressaten. Daher werden in ihm viele Dialoge mit den Korinthern neu aufgegriffen und zu Ende geführt. Der Aufsatz basiert auf der unveröffentlichten Dissertation von Charlotte Hartwig: Die korinthische Gemeinde als Nebenadressat des Römerbriefs. Eine Untersuchung zur Wiederaufnahme von Themen aus dem 1. Korintherbrief im Römerbrief, Heidelberg 2001.

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Jesu selbst.21 In einer dritten Phase wurden die Grundgattungen des Neuen Testaments durch funktionale Gattungen ergänzt, die sehr häufig im apokryphen Schrifttum, aber jeweils nur einmal im Neuen Testament vertreten sind: eine Apokalypse als Johannesoffenbarung, ein Geschichtswerk als Apostelgeschichte und eine kunstvolle Rede als Hebräerbrief. Die Erfüllung von Gattungsnormen erhielt ein größeres Gewicht. Im 2. Jh. wurde dann in einer kanonischen Phase die entstehende urchristliche Literatur in einer heiligen Schriftensammlung gesammelt, wobei (gegen Markion) eine innere Pluralität an Schriften bewahrt wurde: Nicht nur das Neue, sondern auch das Alte Testament, nicht nur ein Evangelium, sondern vier Evangelien, nicht nur ein Apostel, sondern mehrere sollten im Kanon versammelt sein. Charakteristisch für die Geschichte der urchristlichen Literatur ist das Überschreiten von Grenzen: zwischen Judentum und nichtjüdischer Welt, zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Am Anfang stand die Autorität von zwei Charismatikern, dann die Autorität der Tradition, der Gattung und am Ende die der Kirche. Die Literaturgeschichte korreliert insofern mit der Sozialgeschichte des Urchristentums, die von charismatischen Anfängen zu einer institutionalisierten Autorität führt. Die Sozialgeschichte war zweifellos der Schwerpunkt meiner Arbeit, mit dem ich am meisten bekannt wurde und oft identifiziert wurde.

2) Arbeiten zur Soziologie des Urchristentums Nach dem Abschluss meines Germanistikstudiums im Mai 1975 wurde der Beginn der Einstellung in den öffentlichen Dienst überraschend um einige Monate auf den Februar 1976 verschoben. Das war für eine vierköpfige Familie ein Problem, für mich aber eine Chance, um eine Vorlesung zur Sozialgeschichte der ersten Anhänger Jesu zu einem kleinen Buch „Soziologie der Jesusbewegung“ (1977) auszuarbeiten. In ihm interpretierte ich den urchristlichen Wanderradikalismus als eine Variante sozialer Entwurzelung und diese als Ausdruck einer Krise der jüdisch-palästinischen Gesellschaft. Ursache dieser Entwurzelung war Anomie: eine Erschütterung traditioneller Muster des Lebens durch soziale Veränderungen. Anomie wird sowohl durch Abstiegs- als auch durch Aufstiegsprozesse hervorgerufen. Die Jesusbewegung ist also nicht nur durch Verelendung entstanden, sondern durch Veränderungen überhaupt. Soziopolitische Konflikte zwischen —————

21 A. Merz, Der intertextuelle und historische Ort der Pastoralbriefe (Diss. 2001) = Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe, NTOA 52, Fribourg/Göttingen 2004.

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verschiedenen Machtstrukturen, sozioökonomische Spannungen zwischen Armen und Reichen, sozioökologische Gegensätze zwischen Stadt und Land und die soziokulturelle Distanz zwischen Heiden und Juden haben hier eine „Religion“ von Aussteigern hervorgerufen.22 Ermöglicht wurde ihre marginale Existenz durch ein Netz von unterstützenden Sympathisantengruppen in den Ortsgemeinden. Wandercharismatiker und Ortsgemeinden lebten in einer Symbiose. Beide hingen einem Traum von Versöhnung ohne Gewalt an. Einzelpunkte blieben umstritten: Kehrten die Jünger am Abend in ihre Orte zurück? War ihre Heimatlosigkeit Ausdruck ökonomischer Not? Wie weit wurden sie nach dem Modell von „Kynikern“ dargestellt? Trotz aller Kritik begegnet der Begriff „Wanderradikalismus“ immer wieder, ohne dass auf meine Arbeit hingewiesen wird – was mich jedes Mal freut. Sollte es wirklich so sein, dass eine Idee von mir in den anonymen Schatz exegetischen Wissens eingegangen und zur Selbstverständlichkeit geworden ist?23 1989 entwickelte ich in einem Vortrag vor der Studiorum Novi Testamenti Societas in Cambridge meine Vorstellungen zur Jesusbewegung weiter: Sie war revolutionär, strebte aber weder einen politischen Umsturz noch eine soziale Reform zur Erneuerung des galiläischen Dorflebens an. Das Neue war eine Wertrevolution. Darunter verstand ich nicht jeden radikalen Wertwandel, sondern die Aneignung von Oberschichtwerten durch einfache Menschen bei gleichzeitiger Kritik an diesen Oberschichten. Dieses Phänomen nannte ich eine „charismatische Wertrevolution“ und ihr Ergebnis einen „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten“.24 In einer Neubearbeitung meiner Soziologie der Jesusbewegung: „Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte“ (2003)25 habe ich diese Wertrevolution näher zu bestimmen versucht und sie durch die Beobachtung ergänzt, dass sich dieser Abwärtstransfer von Oberschichtwerten mit einem Aufwärtstransfer von Unterschichtwerden verbunden hat. Wie so viele andere so genannte „millenaristische Bewegungen“ erwartete auch die

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22 G. Theissen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, TEH 194, München 1977 71997; engl., franz. 1978; ital., dän., span. 1979; kor., jap. 1981; port. 1989; griech. 1997; holl. 1998; poln. 2004; G. Theissen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, 31989, engl. 1982/1992; span. 1985; kor. 1986; port., ital. 1987; jap. 1991; franz. 1996. 23 Vgl. das zusammenfassende Buch von M. Tiwald, Wanderradikalismus. Jesu erste Jünger – ein Anfang und was davon bleibt, ÖSB 20, Frankfurt aM-2002. 24 G. Theissen, Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, NTS 35 (1989), 343–360 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 135–151. 25 G. Theissen, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2003, span. 2005; franz. 2006; ung. 2006; ital. 2007; port. 2008; jap. 2010.

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Jesusbewegung eine neue Welt, aber es kam eine neue Religion, die unsere Werte und Einstellungen reorganisierte.26 Durch Sozialgeschichte versuchte ich ferner, die Unterschiede zwischen der von Krisen geschüttelten Welt Palästinas und der etwas friedlicheren Welt des Paulus zu erklären. In den paulinischen Gemeinden der hellenistischen Mittelmeerstädte konnte sich ein gemäßigter „Liebespatriarchalismus“27 herausbilden, der soziale Unterschiede im Geist der Rücksichtnahme abmilderte, aber nicht beseitigte. Die paulinischen Gemeinden schienen mir mehr auf einen Ausgleich im Innern und mit der Umwelt bedacht zu sein als die Bewegung von sozial entwurzelten Wandercharismatikern in Palästina. Auch wenn Paulus sagt, dass nur wenige Christen zu den gehobenen Schichten gehören (1Kor 1,26), zeigte eine Auswertung aller Daten über Personen und Gruppen, dass gerade sie in der Gemeinde tonangebend waren.28 Ihr Liebespatriarchalismus wird später in den deuteropaulinischen Haustafeln deutlicher manifest. Aber er bereitet sich schon bei Paulus vor, wenn er zwischen Starken und Schwachen in Korinth mit der Empfehlung vermittelt, die Starken sollten auf die Schwachen Rücksicht nehmen. Hinter diesen Spannungen vermutete ich einen schichtbedingten Konflikt: Die Starken hatten keine Skrupel, heidnisch geschlachtetes Fleisch zu verzehren, weil sie zu den besser gestellten Schichten gehörten, die gewohnt waren, im Alltag Fleisch zu essen. Das war oft nicht rituell geschlachtet und wurde von ihnen nicht im Rahmen eines Götterfestes verzehrt. Für sie gab es daher keine feste Verbindung zwischen Götzendienst und Fleischgenuss. Die Schwachen gehörten dagegen zu den unteren Schichten, die Fleisch fast nur im Rahmen von Festen und Feiern aßen. Für sie war Fleischgenuss und Götzendienst eng verbunden.29 Auch beim Abendmahl machten sich ————— 26

Als Ausdruck einer charismatischen Wertrevolution interpretiert Common Lung Pun Chan, Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung der Metapher des Lammes in der Johannesapokalypse, Diss. 2008, die kriegerischen Bilder der Johannesapokalypse. Das kriegerische Lamm ist zugleich Opfer, das seine Macht in gewaltloser Weise durchsetzt. 27 Der in Anlehnung an E. Troeltsch geprägte Begriff „Liebespatriarchalismus“ war für die emotionale Akzeptanz dieser Idee nicht günstig: Für einige vereinte er etwas zutiefst Verwerfliches (den Patriarchalismus) mit dem höchsten ethischen Wert (mit der Liebe). Warum ich selbst des „Patriarchalismus“ bezichtigt wurde, weil ich über den „Liebespatriarchalismus“ geschrieben habe, habe ich nie begreifen können. 28 G. Theissen, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, ZNW 65 (1974), 232–272 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 231–271. 29 G. Theissen, Die Starken und die Schwachen in Korinth. Soziologische Analyse eines theologischen Streits, EvTh 35 (1975), 155–172 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 272–289. Mit der z.T. berechtigten Kritik an meinen Analysen habe ich mich auseinandergesetzt in: The Social Structure of Pauline Communities. Some critical remarks on J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, JNTS 84 (2001), 65–84; ders. Social Conflicts in the Corinthian Community. Further Remarks on J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, JNTS 25 (2003), 371– 391.

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schichtbedingte Konflikte bemerkbar: Entsprechend damaligen Unsitten teilte man Menschen mit verschiedenem Status verschiedene Portionen beim Essen zu. Das verdarb auch nach antiken Maßstäben die Gemeinschaft, war aber weit verbreitet. Für Paulus ist es ein Verbrechen an Christus, wenn man so die Gemeinschaft aufhebt.30 Im johanneischen Christentum sah ich eine dritte Sozialform: Es waren Freundeskreise von Christen, die im Glauben fortgeschritten waren. Das Johannesevangelium will die Simplices zur vertieften Erkenntnis der Pneumatiker führen, aber auch die Einheit zwischen diesen Gruppen sichern: Deswegen betet Jesus in diesem Evangelium so intensiv um die Einheit aller Christen (Joh 17). Das Werben um eine vertiefte Erkenntnis Christi im Johannesevangelium nannte ich die johanneische „Stufenhermeneutik“.31 Sie erklärt, warum Texte und Gedanken im Johannesevangelium häufig wiederholt und vertiefend neu gedeutet werden. Die Struktur des ganzen Evangeliums ist von dieser Stufenhermeneutik geprägt, wenn es eine Offenbarung des Lebens im öffentlichen Teil (Joh 1–12) durch eine Offenbarung der Liebe in den nicht-öffentlichen Abschiedsreden (Joh 13–17) vollendet. Die synoptische Christologie wird deutlich überboten – nicht nur durch den Gedanken der Präexistenz Jesu, sondern vor allem durch eine Selbstoffenbarung des Erlösers in Bildern und Metaphern. Meine Gedanken zum Johannesevangelium trug ich zum ersten Mal 1987 in Vorträgen an der Protestantischen Fakultät in Montpellier vor, wo ich Jean Zumstein kennen lernte. Meine Stufenhermeneutik bzw. herméneutique étagée hinterließ Spuren in seiner Auffassung des Johannesevangeliums als relecture.32 Insgesamt fand ich so im Urchristentum Vorformen von drei Sozialgestalten, die E. Troeltsch für die ganze Christentumsgeschichte herausgearbeitet hat: Sekte, Kirche und Spiritualismus! Zwischen Wanderradikalismus und anderen Missionaren, die sich am Liebespatriarchalismus der Ortsgemeinden orientierten, herrscht dabei eine tiefe Spannung, die sich in Konflikten zwischen Paulus und konkurrierenden Missionaren zeigt. Paulus verstieß z.B. gegen ein Gebot des Wanderradikalismus, wenn er sich von —————

30 G. Theissen, Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1Kor XI,17– 34, NovTest 16 (1974), 179–206 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 290–317. 31 G. Theissen, Conflits d’autorité dans les communautés johanniques. La question du Sitz im Leben de l’évangile de Jean, in: Histoire sociale du christianisme primitif. Jésus, Paul, Jean, Genève 1996, 209–226. Vgl. die von mir angeregte Arbeit von Ralfs Kokkins, Das Verhältnis von CXICRJ und \YJ im Johannesevangelium. Stufenhermeneutik in der Ersten Abschiedsrede, Diss.theol. Heidelberg 1999. 32 Vgl. J. Zumstein, Das Johannesevangelium. Eine Strategie des Glaubens (frz. 1989), in: ders., Kreative Erinnerung, Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999, 31– 45, dort S. 39.

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seinen Gemeinden nicht unterhalten ließ.33 Vergleichbare Spannungen finden wir im 3. Johannesbrief und in der Didache. Später kehrte ich noch einmal zum Problem von Sekte und Kirche zurück:34 „Kirche“ definierte ich (2005) als eine umfassende Sozialform, die notfalls auch eine Sekte in sich tolerieren kann, während eine „Sekte“ keine Ansätze einer Kirche in sich duldet. Den entscheidenden Schritt zur Kirche sah ich im Apostelkonzil, weil es verschiedene rituelle Traditionen in derselben Gemeinschaft akzeptierte: Die für Judenchristen selbstverständliche Beschneidung wurde den Heidenchristen freigestellt. Diese innere Pluralität wurde noch einmal befestigt, als sich in der Mitte des 2. Jh. n.Chr. Rom und Kleinasien darüber verständigten, verschiedene Ostertermine zu akzeptieren. Unabhängig von seiner Größe waren die kleinen urchristlichen Gemeinden deshalb schon eine „Kirche“ und keine Sekte. Die Sozialgeschichte hat aber nicht nur verschiedene Sozialformen des Urchristentums herausgearbeitet, sondern auch Tendenzen, die für das ganze Urchristentum gelten: 1) Urbanisierung: Das Christentum begann auf dem Land, breitete sich aber in den Städten aus. Weil Christen dort das prekäre Gleichgewicht zwischen Juden und Heiden störten, kam es dort zu Konflikten mit den lokalen und imperialen Machthabern. 2) Universalisierung: Eine jüdische Erneuerungsbewegung öffnete sich für Heiden und zog besonders „Gottesfürchtige“ an, d.h. Sympathisanten des Judentums, die Beschneidung und Speisegebote nicht übernahmen. Das führte zu Konflikten: Eine Gegenmission gegen Paulus versuchte, seine Gemeinden durch Übernahme von Beschneidung und Speisegeboten ins Judentum zu reintegrieren. 3) Aufstiegsdynamik: Das Urchristentum entstand in den Unterschichten, aber nach Plinius d.J. waren schon Anfang des 2. Jh. Christen in allen Ständen (ordines) vertreten (Plin.ep.XI, 96,9). Auch diese Aufstiegsdynamik führte z.B. in Korinth beim Herrenmahl zu Konflikten zwischen Reichen und Armen und insgesamt zwischen Starken und Schwachen. —————

33 G. Theissen, Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, NTS 21 (1975), 192–221 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 201–230. 34 G. Theissen, Kirche oder Sekte? Über Einheit und Konflikt im frühen Urchristentum, Theologie der Gegenwart 48 (2005), 162–175 = überarbeitet in; A. Alexeev/Ch. Karakolis/U. Luz (Hg.), Einheit der Kirche im Neuen Testament. Dritte europäische orthodox-westliche Exegetenkonferenz in Sankt Petersburg 24.–31. August 2005, WUNT 218, Tübingen 2008, 81–101. Diese Gedanken trug ich zum ersten Mal in der kath. Theologischen Fakultät in Erfurt vor – in einem Raum, in dem schon Luther geredet hatte. Meine katholischen Zuhörer reagierten sehr positiv auf meine Würdigung der Kirche als ein Dach, unter dem auch andere Sozialformen wie Sekten, Denominationen und Kulte eine Heimat finden können.

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4) Spiritualisierungstendenz: Jesus befreit als Messias nicht Israel von seinen Feinden, sondern alle Menschen von Sünde, Tod und Gesetz. Auch diese Spiritualisierung führte zu Konflikten. Das Christentum versprach Freiheit für alle Menschen. Mussten die Christen nicht ihren versklavten Mitgliedern reale Freiheit verschaffen? Paulus setzte sich im Philemonbrief in einem Einzelfall für eine pragmatische Lösung ein, die einem Sklaven faktisch Freiheit verschaffen sollte. Insgesamt aber blieb die Freiheit ein innerer Wert. So wie der Kaiser in allen Provinzen seine Sozialklientel (sein Haus und sein Heer) hatte und zusammen mit der lokalen Aristokratie die Oberschicht bildete, entstand in den Unterschichten konkurrierend dazu eine überregionale Gemeinschaft in den urchristlichen Gemeinden, die sich durch ihre Bindung an den KYRIOS der ganzen Welt überlegen wusste und für Menschen aus allen Schichten und Nationen offen war. Das Urchristentum schuf dabei in Anknüpfung und Konkurrenz zur verbreiteten Metapher vom „Leib“ als Bild für ein Gemeinwesen das Bild vom „Leib Christi“, in dem nicht das stärkste Glied dominiert, sondern alle Mitglieder sich am schwächsten Glied ausrichten. Matthias Walter sichtete in seiner Dissertation: „Leibmetaphorik im Neuen Testament und bei den Apostolischen Vätern“ (1998) die antiken Parallelen und verglich sie mit dem paulinischen Gebrauch.35 Meine sozialgeschichtlichen Arbeiten setzen eine lange Tradition fort, die eine Zeit lang unter dem Einfluss der Kerygmatheologie zurückgedrängt worden war. Sie wurden als „revolutionärer“ erlebt, als sie es wirklich waren. Denn die Entstehung der Sozialgeschichte ist ein Beispiel für den normalen Prozess der inneren Ausdifferenzierung einer Wissenschaft durch Entwicklung neuer Methoden und Theorien. Ihre Wurzeln liegen im 19. Jh. Das hat Ralph Hochschild in seiner Geschichte der sozialgeschichtlichen Exegese gezeigt.36 Normal ist auch, dass bei solchen Neuansätzen verschiedene Varianten konkurrieren: sozialdeskriptive (M. Hengel), sozialkerygmatische (L. Schottroff; W. Stegemann), sozialwissenschaftliche (W.A. Meeks; G. Theißen) und materialistische Ansätze (F. Bélo). Die kulturanthropologische Exegese ordnet Hochschild der sozialwissenschaftlichen Richtung zu. Der Vergleich mit ethnologischen Analogien gehörte in der Tat von Anfang an zur sozialgeschichtlichen Exegese. Die Kulturanthropologie gewann jedoch ein eigenes Gewicht, da sie auch fremdes Erleben unter—————

35 Veröffentlicht als M. Walter, Gemeinde als Leib Christi. Untersuchungen zum Corpus Paulinum und zu den „Apostolischen Vätern“, NTOA 49, Fribourg/Göttingen 2001. 36 Diese Dissertation (1993) erschien unter dem Titel: R. Hochschild, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung, NTOA 42, Fribourg/Göttingen 1999.

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sucht und dadurch zur historischen Psychologie wird. Das gilt vor allem dann, wenn sie historisch betrieben wird wie von Klaus Neumann und Christian Strecker,37 von dem ich in einem gemeinsamen Seminar 2005/6 sehr viel gelernt habe. Eine Soziologie des Urchristentums ist insgesamt eine Vertiefung der Geschichtsschreibung des Urchristentums. Es ist aber berechtigt, die Ereignisgeschichte im engeren Sinne von einer Sozialgeschichte als Geschichte der Strukturen zu unterscheiden. Daher referiere ich meine Beiträge zur Geschichte des Urchristentums in einem eigenen Abschnitt.

3) Arbeiten zur Geschichte des Urchristentums Die Jesusbewegung war eine der vielen innerjüdischen Erneuerungsbewegungen, bei denen man zwei „Wellen“ unterscheiden kann: Die älteren Erneuerungsbewegungen (wie die Pharisäer und Essener) reagierten auf das Vordringen der hellenistischen Kultur im 2. Jh. v.Chr., die jüngeren wie Johannes der Täufer und Jesus auf das Vordringen der Römer im 1. Jh. v.Chr. Dabei reihen sich der Täufer und Jesus in eine Reihe von jüdischen Propheten im 1. Jh. n.Chr. ein. In einer Studie aus dem Jahr 1976 deutete ich ihr Auftreten als Konflikt von Stadt und Land.38 Die frühen Propheten vor der Caligulakrise (39/40 n.Chr.) standen in Opposition zum Tempelkult, die späteren in Opposition zu den Römern – mit Ausnahme des Jesus ben Ananias, der den Untergang des Tempels weissagte. Auch zu diesem Thema kehrte ich später zurück: In der Vision eines neuen Tempels sah ich schon bei Jesus die Vorahnung eines neuen Kultes und darin eine Brücke zur Kirchengründung mit einer inneren Tendenz zu einer neuen Religionsbildung. Eine zusammenfassende Skizze über die Bedeutung der Tempelprophetie Jesu für die Geschichte des Urchristentums schrieb ich 2009 in einer Festschrift für meinen Freund Max Küchler.39 —————

37 Vgl. unser gemeinsames Themenheft: Kulturanthropologische Exegese, EvTh 68 (2008) 403–478, darin Chr. Strecker, Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, EvTh 68 (2008), 460–472; K. Neumann, Sexualität im Urchristentum. Kulturanthropologische Aspekte, EvTh 68 (2008), 444– 459; G. Theissen, Kulturanthropologie – ein Korrektiv der Kulturtheologie? Zur theologischen Bedeutung kulturanthropologischer Exegese, EvTh 68 (2008) 405–414. 38 G. Theissen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land, ThZ 32 (1976), 144–158 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 142–159. 39 G. Theissen, Prophetie und Tempelzerstörung. Die Wirkungsgeschichte der Tempelprophetie Jesu im 1. Jh., in: G. Theißen/H.U. Steynmans/S. Ostermann u.a. (Hg.), Jerusalem und die Länder. Ikonographie, Topographie, Theologie, FS Max Küchler, NTOA 70, Fribourg/Göttingen 2009, 149–201.

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Die Jerusalemer Gemeinde war wegen des Tempels das erste Zentrum der Christen. Gegen eine verbreitete historische Skepsis versuchte ich zu zeigen, dass die Überlieferung von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde einen historischen Kern hat. Es gab in der Jerusalemer Gemeinde die (hellenistische) Parole „Allen ist alles gemeinsam“ – wahrscheinlich bei Auseinandersetzungen um die Gleichbehandlung von Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1ff). Ich schrieb diese Arbeit nach der Wende 1989, als viele alle „kommunistischen“ Ideen undifferenziert verurteilten. Das Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ war für mich kein Grund, Traditionen eines sozialistischen Humanismus abzuwerten. Er hat biblische Wurzeln.40 Er ist ein notwendiges Gegenmittel gegen eine kapitalistische Marktdynamik, die sich gegen alle sozialen Verpflichtungen durchsetzt. Meist nimmt man an, dass der Konflikt zwischen Hellenisten und Hebräern (in Apg 6,1ff) zur Gründung zweier getrennter Gemeinden geführt hat. Da aber die Hellenisten wie in jüdischen Ortsgemeinden ein Siebenergremium bildeten, die Hebräer dagegen ein Zwölfergremium, schlug ich eine andere Deutung vor: Ein hellenistisch besetzter Ortsvorstand der Gemeinde in Jerusalem habe sich unterhalb eines Leitungsgremiums für ganz Israel gebildet. Die Mitglieder des für ganz Israel zuständigen Zwölferkreises waren als Wandermissionare meist abwesend. Natürlich gab es Spannungen zwischen diesen sich konzentrisch überschneidenden und überlagernden Autoritätsstrukturen.41 Als einen meiner wichtigsten Beiträge zur Geschichte des Urchristentums betrachte ich, dass ich an mehreren Stellen mögliche Zusammenhänge zwischen Politik und Geschichte des Urchristentums aufgedeckt habe, die man vorher so nicht gesehen hatte. Sehr wichtig ist mir dabei eine neue Würdigung der Caligulakrise (39/41 n.Chr.) als Ursache einer politisch bedingten Wende schon in den Anfängen des Christentums. Da sie nirgendwo direkt im Neuen Testament erwähnt wird, unterschätzt man ihre Bedeutung. Die Krise entstand, weil der Kaiser Gaius Caligula den Jerusalemer Tempel für den Kaiserkult umwidmen wollte. In Fortsetzung einer alten Auslegungstradition deutete ich die Quelle hinter Mk 13 als eine damals entstandene Prophetie: Sie schaut m.E. auf den Nabatäerkrieg 35/6 n.Chr. zurück, der eine Naherwartung wiederbelebt hatte; wurde doch in den Augen des Volkes in diesem Krieg Johannes der Täufer von Gott gerächt; der aber hatte das nahe Ende der Welt vorausgesagt. Jedoch brachte —————

40 G. Theissen, Urchristlicher Liebeskommunismus. Zum „Sitz im Leben“ des Topos RCPVCMQKPC in Apg 2,44 und 4,32, in: Text and Contexts, FS Lars Hartmann, Oslo/Copenhagen 1995, 689–711. 41 G. Theissen, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung der Urgemeinde? in: H. Lichtenberger (Hg.): Geschichte –Tradition – Reflexion, Bd III. Frühes Christentum, FS M. Hengel, Tübingen 1996, 323–343.

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dieser Krieg „noch nicht das Ende“ (13,7), sondern nur den „Anfang der Wehen“ (13,8). Diese begannen in der Gegenwart erneut damit, dass der „Gräuel der Verwüstung“ (d.h. die Statue des Caligula) in Phönikien auf den Transport nach Jerusalem wartete. Während für andere Gruppen in Judäa deren Überführung nach Jerusalem das Zeichen zum militanten Widerstand gewesen war, wollten die Christen fliehen und durch Rückzug reagieren.42 Ferner deutete ich die Versuchungsgeschichte in der Logienquelle als Verarbeitung der überstandenen Caligulakrise: Der Satan, der göttliche Verehrung für sich verlangt, trägt Züge des Kaisers Gaius. In Rom hatte er die Proskynese von den Senatoren gefordert, in Jerusalem wollte er sich als Gott verehren lassen. Seine Länder vergab er an seine Freunde, z.B. an Herodes Agrippa I. Der Teufel erscheint hier in Gestalt einer politischen Macht, die ihre eigene Apotheose betreibt.43 Nach dem Ende der Krise durch Ermordung des Kaisers (im Januar 41) kamen schwere Zeiten für alle Tempelkritiker, unter ihnen vor allem für die Christen. Sie schienen widerlegt. Gott selbst hatte den Tempel geschützt. Man konnte leicht den Zorn der aufgewühlten Bevölkerung gegen sie lenken. So erklärte ich die Verfolgung der Urgemeinde durch Herodes Agrippa I., der nach der Caligulakrise von Claudius die Verantwortung für Judäa übertragen bekam. Er ließ den Zebedaiden Jakobus hinrichten, Petrus aber entkommen, der daraufhin Jerusalem verlassen musste (Apg 12,1ff). In der Folge davon veränderte sich die Autoritätsstruktur in der Urgemeinde. Für ein Amt qualifizierte man sich durch Dienst bis hin zur Martyriumsbereitschaft – und nicht allein durch eine Berufung durch Jesus. Das spiegelt sich in Mk 10,35–45 mit einer deutlichen Bezugnahme auf den Tod des Zebedaiden Jakobus (und eine Todesgefahr für seinen Bruder Johannes).44 Als die Caligulakrise das Judentum erschütterte, hatten die aus Jerusalem geflohenen Hellenisten in Antiochien ein neues Zentrum des Urchristentums gegründet und waren dazu übergegangen, Heiden in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Um das zu verteidigen, kamen Paulus und Barnabas als Abgesandte der Gemeinde in Antiochien zum Apostelkonzil und brachten (wegen einer Hungersnot in Palästina 46/48) eine große Spende mit sich – aber auch, um mit Geld diplomatisch den Boden für die Zustimmung zur Aufnahme von Heiden vorzubereiten. Für den Verfasser der Apg ist der finanzielle Einfluss auf theologische Entscheidungen ein Gräuel, wie seine ————— 42

Vgl. G. Theissen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte, 133–176. Vgl. G. Theissen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte, 212–245. 44 G. Theissen, Die Verfolgung unter Agrippa I und die Autoritätsstruktur der Jerusalemer Gemeinde. Eine Untersuchung zu Act 12,1–4 und Mk 10,35–45, in: U. Mell/U.B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte, FS J. Becker, BZNW 100, Berlin 1999, 263– 289. 43

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Polemik gegen Simon Magus zeigt, der von den Aposteln mit Geld die Fähigkeit erkaufen wollte, den heiligen Geist zu verleihen (Apg 8,18–24). Daher verteilte der Verfasser der Apg Spende (Apg 11,30) und Diplomatie (Apg 15,1ff) auf zwei getrennte Reisen nach Jerusalem.45 Beide dürfen nichts miteinander zu tun haben. Die Aufnahme von Heiden ohne Übernahme aller rituellen Gebote wurde auf dem Apostelkonzil (zwischen 46/48 n.Chr.) anerkannt und gab der Heidenmission einen großen Auftrieb, führte aber eben deswegen schon bald danach in Rom (49 n.Chr.) zu Unruhen, auf die Claudius mit der Ausweisung führender Judenchristen reagierte. Nach seiner konservativen Religionspolitik sollten alle Gruppen bei ihren Traditionen bleiben. Das traf besonders die Mission des Paulus. Denn Paulus wich von religiösen Traditionen ab und schuf dadurch Unruhe. Paulus hat seine Mission gegen die Religionspolitik des Kaisers Claudius durchführen müssen. Ich konnte einen spanischen Augustinermönch für eine Doktorarbeit über dieses Thema und diese These gewinnen: David Alvarez.46 Sein Augustinerorden gab ihm die Erlaubnis, bei mir zu promovieren, meine Fakultät aber lehnte seine Zulassung zur Promotion wegen seiner katholischen Konfession ab, obwohl für eine Zulassung das rechtliche Instrumentarium vorhanden war: Es war ein qualifizierter Mehrheitsbeschluss dazu nötig. Aber es fehlte eine Stimme zu dieser Mehrheit. Aus dieser Situation half mir mein katholischer Kollege H.-J. Klauck. David Alvarez konnte in Würzburg bei ihm promovieren; ich konnte weiterhin sachlich seine Dissertation betreuen. Dass die Mission des Paulus der Religionspolitik des Claudius widersprach und die friedliche Entwicklung des Christentums gefährdete, gab den Gegnern des Paulus Auftrieb. Eine Gegenmission wollte seine Gemeinden in das Judentum reintegrieren und verlangte zu diesem Zweck die Übernahme minimaler ritueller Merkmale einer Zugehörigkeit zum Judentum: Beschneidung und Speisegebote. Ich deutete diese Gegenmission in Fortsetzung einer langen Tradition von F.Chr. Baur bis G. Lüdemann als Einheitsfront und meine, eine Schwierigkeit dieser Einheitsdeutung lösen zu können: Die Gegenmission konnte in Korinth gemäßigter als in Galatien und in Philippi auftreten, weil die Korinthergemeinde im Prozess vor Gallio als Teil des Judentums anerkannt wurde oder schon anerkannt worden war.

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45 G. Theissen, Paulus als ökumenischer Kirchenpolitiker. Seine Erfolg und sein Scheitern, unveröffentlichter Vortrag zum 50. Jahrestag der Gründung der japanischen Neutestamentlervereinigung 10. Sept. 2010 in Fukuoka. 46 D. Alvarez, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die paulinische Mission, HBS 19, Freiburg 1999.

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In Korinth war es daher nicht erforderlich, zu diesem Zweck Beschneidung und Speisegebote zu praktizieren.47 Als Claudius am 13.10. 54 starb, konnte Paulus aufatmen. Während Lebzeiten des Kaisers war der Weg nach Rom für ihn versperrt. Als er auf seiner ersten Europamission schon in Korinth angekommen war, um von dort aus nach Rom weiter zu ziehen, waren die aus Rom von Claudius ausgewiesenen Christen Aquila und Prisca in Korinth angekommen und hatten Informationen aus Rom gebracht, die Paulus wahrscheinlich an der Weiterreise gehindert haben: Gerade Christen, die von jüdischen Traditionen abwichen, waren ausgewiesen worden. Paulus ihr prominentester Vertreter war jetzt unerwünscht. Sein Name war in Rom vielleicht schon bekannt geworden. Nach dem Tod des Claudius war endlich der Weg nach Rom frei. Am Anfang des Römerbriefs spielt Paulus m.E. auf den Tod und die dann folgende Apotheose des Claudius an, die schon damals in Rom von Seneca in seiner Apocolocyntosis oder dem Ludus de morte Claudii Neronis satirisch in Frage gestellt wurde: Im Unterschied zu Claudius aus dem julisch-claudischen Hause, der nach seinem Tod angeblich zum „Sohn des Vergöttlichten“ (divus filius) geworden war, war Jesus aus dem Stamm David wirklich zum „Sohn Gottes“ eingesetzt worden (Röm 1,3f). Jetzt war Paulus nicht mehr gehindert, nach Rom zu kommen (Röm 1,13).48 Vorher aber wollte er noch nach Jerusalem reisen, um die Kollekte zu überbringen. Das Ende des Paulus ist von Tragik gekennzeichnet: Er wollte durch seine Reise nach Jerusalem Versöhnung zwischen Juden- und Heidenchristen schaffen. Aber sein Auftreten in Jerusalem stürzte nach seiner Inhaftierung und Überführung nach Rom die Jerusalemer Gemeinde ins Verderben: Wegen angeblichen Gesetzesbruchs wurde ihre Führungsgruppe in Jahr 62 n.Chr. hingerichtet, der Herrenbruder Jakobus gesteinigt. Das Verhalten des Paulus hatte diese an und für sich gesetzestreue Gemeinde dem Verdacht des Gesetzesbruches ausgeliefert. Nach der Ankunft des Paulus in Rom wurde auch die dortige Gemeinde das Opfer der neronischen Verfolgung (ca. 64 n.Chr.): Wiederum war sie wahrscheinlich durch Paulus zum Politikum geworden. Nero konnte den Verdacht der Brandstiftung gegen die Christen lenken, weil er durch das Verfahren gegen Paulus über diese kleine Gruppe oberflächlich informiert war. Gegen seinen Willen erwies sich

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47 G. Theissen, Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und Korinth. Versuch einer Einheitsdeutung, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte, FS U.B. Müller, BZNW 163, Berlin 2009, 277–306 . 48 G. Theissen, Auferstehungsbotschaft und Zeitgeschichte. Über einige politische Anspielungen im ersten Kapitel des Römerbriefs, in: Auferstehung hat einen Namen, FS H.J. Venetz, Luzern 1998, 58–67.

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Paulus somit als „Unglücksstifter“. Das alles versuchte ich mit kriminalistischer Kombinatorik aus den wenigen Quellen zu erschließen.49 Das Auftreten zweier Propheten in Jerusalem nach der Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus interpretierte ich als eine Reaktion auf die Katastrophe der Jerusalemer Gemeinde im Jahr 62 n.Chr. Noch im selben Jahr erneuerte der erste dieser beiden Propheten, Jesus der Sohn des Ananias, Jesu Weissagung gegen den Tempel. Die Überlieferung, die Zerstörung des Tempels sei Strafe für die Hinrichtung des Jakobus gewesen, hat hier ihren Grund. Ein anonymer zweiter Prophet forderte etwas später die Urgemeinde zum Auszug aus Jerusalem auf. Manches spricht dafür, dass er tatsächlich erfolgt ist.50 Der jüdische Krieg wurde so nach der Caligulakrise zur zweiten politischen Krise, welche die Geschichte des Urchristentums nachhaltig verändert hat. Ich versuchte das vor allem durch Spuren dieser Krise in den Evangelien zu belegen. Das Markusevangelium entstand m.E. kurz nach der Zerstörung des Tempels. Ich deutete seine Botschaft als ein Antievangelium gegen den Aufstieg des Vespasian. Die Nachricht von dessen Machtantritt hatte sich laut Josephus wie „Evangelien“ verbreitet. In der Tat kam durch ihn das Römische Reich nach einer schweren Krise wieder zur Ruhe. Josephus sieht in ihm die Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen. Das Markusevangelium sagt dagegen: Die messianischen Erwartungen gingen nicht in diesem Kaiser in Erfüllung, sondern waren schon lange vorher in Jesus in Erfüllung gegangen.51 Das Matthäusevangelium kennt die Erwartung eines messianischen Erlösers aus dem Osten im jüdischen Krieg und verarbeitet das Scheitern dieser Erwartung, indem ausgerechnet Magier aus dem Osten diesen Erlöser mit Jesus identifizieren. Es betont demonstrativ dessen friedliche Züge: Nicht durch Truppen, sondern durch seine Worte wird Jesus die ganze Welt erobern.52 Eine Dissertation von Louise Tsui-Yuk Liu, „Herodes im MtEv – Symbol einer Fremdherrschaft“ (2009), zeigt zudem, dass Herodes im Matthäusevangelium kein Symbol für das jüdische Volk ist, das die Christen verfolgt, sondern ein Symbol für die Römer, die das jüdische Volk und mit ihm auch die Christen unterdrücken. So wie sich im Matthäusevangelium Herodes vor einem neuen davidischen Herrscher —————

49 G. Theissen, Paulus – der Unglücksstifter. Paulus und die Verfolgung der Gemeinden in Jerusalem und Rom, In: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 228–244. 50 G. Theissen, Prophetie und Tempelzerstörung, 183–187. 51 G. Theissen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte, 270–284. Diese These wurde in der Forschung an mehreren Stellen aufgegriffen. 52 G. Theissen, Vom Davidssohn zum Weltherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: M. Becker/W. Fenske (Hg.): Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt, FS H.W. Kuhn, AGAJU 44, Leiden 1999, 145–164.

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fürchtet, so fürchteten die Römer nach 70 n.Chr. neue Herrscherprätendenten aus königlichem Haus. Das lukanische Doppelwerk sieht für das Christentum eine Chance im Römischen Reich, grenzt sich aber umso schärfer von der religiösen Verklärung der politischen Mächtigen ab. Ilze Kezbere zeigte in einer Arbeit: Das lukanische Doppelwerk unterscheidet zwischen der wahren Apotheose Jesu und der falschen Apotheose der Machthaber – vielleicht in Opposition gegen den gesteigerten Kaiserkult Domitians,53 möglicherweise unmittelbar nach dessen Tod, aber das bleibt unsicher. Die Zerstörung des Tempels war Gegenstand einer symbolpolitischen Auseinandersetzung: Nachdem durch Parteigänger des Vespasian bei Kämpfen in Rom der Tempel des Jupiter Capitolinus in Brand geraten war, musste zum Ausgleich der Tempel der Juden in Brand gesetzt werden. Wahrscheinlich wurde er bewusst von Titus angezündet, wie H. Schwier wahrscheinlich gemacht hat54 Nach der Zerstörung des Tempels hatte der Traum von einem gemeinsamen Kult von Juden und Christen seinen realen Anhalt verloren. Paulus hat m.E. bis zu seiner letzten Reise nach Jerusalem diesen Traum geträumt: Wenn die Vollzahl der Heiden (in den Tempel) hineingehen wird, dann werde Israel erlöst. So deute ich Röm 11,26.55 Nach dem Krieg wurde dieser Traum von einer gemeinsamen Gottesverehrung dann in seiner Schule transformiert: Der Epheserbrief sieht Christus als Friedensstifter, der Juden und Heiden in einem gemeinsamen Kult vereint. Eberhard Faust hat gezeigt, dass dieses Christusbild vom Friedensstifter ein Gegenbild zum Kaiser ist, der gewaltsam eine kultische Einheit der von ihm beherrschten Völker herbeiführen wollte.56 Die römische Politik hat dann noch einmal die Geschichte des Urchristentums tief beeinflusst, als das Christenedikt des Trajan seine Rechtsstellung festschrieb (Plin.ep. XI, 96): Die Tatsache des Christseins als solches (das nomen ipsum) wurde seitdem kriminalisiert, vorausgesetzt, Christen nutzten nicht die Chance, sich durch eine Loyalitätsgeste gegenüber dem Kaiser von ihrem „Aberglauben“ zu trennen. Aktiv sollten Christen nicht aufgespürt werden. Eine solche rechtliche Lage musste das Aufkommen von privatisierenden Formen des christlichen Glaubens begünstigen. Daher vermute ich, dass eine gnostische Frömmigkeit damals einen Auftrieb bei —————

53 I. Kezbere, Umstrittener Monotheismus. Wahre und falsche Apotheose im lukanischen Doppelwerk, NTOA 60, Göttingen/Fribourg 2007. 54 Vgl. H. Schwier in seiner Dissertation: Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66–74 n.Chr.), NTOA 11, Fribourg/Göttingen 1989. 55 G. Theissen, Prophetie und Tempelzerstörung, 2009, 167–169. 56 E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief, Diss. 1991 = NTOA 24, Fribourg/Göttingen 1993.

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Christen erhielt, die ihre Identität in der Öffentlichkeit bewusst verheimlichen wollten. Die Entstehung und Verbreitung der Gnosis hat natürlich sehr viel komplexere Ursachen. In einem Beitrag zur Entwicklung des Simon Magus aus einem samaritanischen Charismatiker zum Vermittler einer erlösenden Gnosis im Laufe von ca. 100 Jahren versuchte ich zu zeigen, dass die Entwicklung dieser Gestalt parallel zur Transformation der Gestalt Christi verlief und zu einer frühen Form der Gnosis (ohne einen Demiurgen als Weltschöpfer) führte.57 Die Gnosis deutete ich als Durchbruch einer Grundform religiösen Erlebens: der Mystik. Mystik nimmt im Urchristentum in der Gnosis eine dualistische Gestalt an – nicht zuletzt deshalb, weil die christliche Predigt von der Liebe Gottes diese Welt immer dunkler erscheinen lässt. Die Gnosis habe ich vor allem in meinem Beitrag zur Psychologie des Urchristentums gewürdigt.

4) Arbeiten zur Psychologie des Urchristentums Obwohl „Psychologie“ unter Exegeten noch umstrittener ist als Soziologie, hatte ich schon früh den Plan, eine methodisch kontrollierte Psychologie des Urchristentums zu entwickeln. Sie soll nicht Lebenshilfe mit biblischen Texten sein (wie bei E. Drewermann), obwohl das wünschenswert ist, sondern sie soll in erster Linie der historischen Erkenntnis und der sachlichen Auslegung der Bibel dienen. Das Wissen über menschliches Erleben und Verhalten, das wir der Psychologie verdanken, kann für die Erhellung der Religion von großem Gewinn sein. Meiner Frau, einer für viele psychologische Ansätze offenen Verhaltenstherapeutin, verdanke ich eine gewisse Skepsis gegenüber manchen tiefenpsychologischen Ansätzen, die in den Geisteswissenschaften lange einen zu großen Einfluss hatten. Hinzu kam, dass ich nach meiner Habilitation eine lange Zeit neben meinem Germanistikstudium und dem Unterricht an einer Schule nebenbei Privatdozent war (1993–1998). In dieser Zeit konnte ich nur schon vorher Konzipiertes ausarbeiten und nahm mir vor, den Texten des Neuen Testaments durch neue psychologische Fragen etwas Neues abzugewinnen. Dazu reichten meine Vertrautheit mit dem Neuen Testament und Grundkenntnisse in Psychologie, die ich mir mit Hilfe meiner Frau erwarb.58 Nur so konnte ich bei knap————— 57 G. Theissen, Simon Magus – die Entwicklung seines Bildes vom Charismatiker zum gnostischen Erlöser, in: A.v. Dobbeler/K. Erlemann/R. Heiligenthal (Hg.): Religionsgeschichte des Neuen Testaments, FS K. Berger, Tübingen 2000, 407–432. 58 Damals schrieb ich z.B. im Sommer 1977 einen Aufsatz nieder, den ich erst 20 Jahre später in überarbeiteter Form veröffentlichte: G. Theissen, Der Ambivalenzkonflikt mit Gott dem Vater. Über die therapeutische Funktion religiöser Symbolik bei Paulus, in: M. Josuttis/H. Schmidt/S.

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per Zeit in Neuland vorstoßen. Nach meiner Berufung nach Kopenhagen habe ich diese Fragestellung weiter verfolgt. Anfang der 80er Jahre veröffentlichte ich als Ergebnis dieser Zeit ein Buch über „Psychologische Aspekte paulinischer Theologie“ (1983). Dabei profitierte ich von der „kognitiven Wende“ in der Psychologie in den 70er Jahren. „Kognitiv“ meint dabei alles, was mit menschlichem Denken und Erkennen zusammenhängt. Dass der Begriff inzwischen zum Markenzeichen neuer humanwissenschaftlicher Ansätze aufstieg, wird als Abwendung von einer empirischen Haltung verständlich, die sich strikt auf Beobachtbares beschränken will. Beobachtbar sind beim Menschen nur die Stimuli der Umwelt und die Reaktionen seines „Organismus“, was zur Formel S–O–R (Stimulus-Organismus-Reaktion) als Modell menschlichen Verhaltens führte. Was zwischen Stimuli und Reaktion vorgeht, ist für den Blick der empirischen Wissenschaft wie in einer „black box“ verborgen: unser Vorstellen, Denken, Fühlen, Werten, ja, unser ganzes Erleben einschließlich des Glaubens. Aufgrund der kognitiven Wende wurde eben das wieder entdeckt und aufgewertet; und genau das interessiert den Exegeten: die Interpretationen, mit denen Menschen ihre Welt und sich selbst deuten. Mein Buch über die paulinische Theologie59 will zeigen, dass Paulus unbewusste Tiefen des Menschen mit Hilfe religiöser Symbole aufdeckt: durch die Vorstellung von Gott, der das Verborgene des Herzens durchschaut (1Kor 4,1–5); durch das Bild von der Decke über dem Herzen, die in Christus weggenommen wird (2Kor 3,12–18); durch seine Aufdeckung der repressiven Aspekte des Gesetzes (Röm 3,21–8,39; Gal 3,1–4,7) sowie durch seine Darstellung der Glossolalie (1Kor 14) . Ein pluralistischer Ansatz, der tiefenpsychologische, verhaltenstheoretische und kognitive Ansätze verbindet, wird m.E. seinen Texten am ehesten gerecht. Diese Paulusstudien möchte ich gerne in einer Gesamtauslegung des Römerbriefs fortführen. Ich sehe (in einem zusammen mit P. v. Gemünden verfassten Aufsatz) diesen Brief sehr viel mehr durch Bilder bestimmt als durch abstrakte theologische Gedanken. So wird die Wende zur Erlösung anhand der drei grundlegenden Rollen im antiken Haus dargestellt: der des Sklaven (6,12ff), der Frau (7,1ff) und des Sohnes (8,14ff). Erlösung wird mit einem Herrenwechsel des Sklaven, mit einer zweiten Ehe der Frau und einer Adoption zum Sohn verglichen.60 Umrahmt werden diese Bilder von ————— Scholpp (Hg.): Auf dem Weg zu einer seelsorglichen Kirche. Theologische Bausteine, Göttingen 2000, 223–244. 59 G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, FRLANT 131, Göttingen 1983, 21993, engl. 1987; jap. 1991. 60 P.v. Gemünden/G. Theißen: Metaphorische Logik und Aufbau des Römerbriefs, in: R. Bernhart/U. Link-Wieczorek (Hg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur, FS D. Ritschl, Göttingen 1999, 110–131.

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öffentlichen Rollen wie der des Königs, der als Richter für Gerechtigkeit und als Kultherr für die Sühne menschlicher Vergehen sorgt. P.v. Gemünden zeigte in einem anderen Aufsatz, wie sich das Bild von Gott im Laufe des Römerbriefs vom Zorn zur Liebe verändert – und parallel dazu die Auffassung vom Menschen.61 Friederike Wendt verglich die Vorstellungen der Gerechtigkeit bei Paulus mit denen in Plutarchs De sera numinis vindicta, um zu erfassen, wie die Botschaft von der rettenden Gerechtigkeit in der damaligen Zeit verstanden und rezipiert werden konnte.62 Meine psychologischen Studien behandeln nicht nur die Theologie, sondern auch die Entwicklung des Paulus. Seine Bekehrung habe ich als Ende einer längeren Umorientierungsphase gedeutet, bei der Bekehrte nachträglich ein Erlebnis als besonders einschneidend herausheben. Schon mit seiner Hinwendung zum Pharisäismus begann diese Umorientierung, im Pharisäismus schloss er sich dann einer radikalen Gruppe der „Eiferer“ an, bis er durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zu einem gemäßigten Judentum (nun in Gestalt des neuen christlichen Glaubens) zurück fand.63 Wichtig zur Deutung seiner Bekehrung ist, dass seine Gesetzeskritik nicht vom Himmel gefallen ist. Es gab vereinzelte gesetzeskritische Motive im Judentum, die unterdrückt und verdrängt wurden; die Rebellion des Simri gegen das Gesetz des Mose bei Josephus, die Depression des IVEsra über die Unerfüllbarkeit des Gesetzes, die Unterscheidung eines „Zusatzes“ zum Gesetz vom eigentlichen Gesetz bei Philo usw. Diese Motive hängen geschichtlich und sachlich nicht miteinander zusammen. Umso mehr erstaunt es, dass sie bei Paulus dicht nebeneinander begegnen – nun nicht in verdrängter Form, sondern offen ausgesprochen und gegen das Gesetz gewandt. Eine kulturpsychologisch verdrängte Kritik wird von ihm offen artikuliert. Er muss sie wie ein Magnet aus seiner Tradition angezogen haben. I. Pollmann schrieb darüber ihre Dissertation: „Gesetzeskritische Motive im Judentum und die Gesetzeskritik des Paulus“ (2011). Später setzte sich Paulus in Konflikten indirekt mit seiner eigenen Vorzeit auseinander. Dabei nimmt er seine Gegner verzerrt wahr. Er bekämpft in ihnen seine eigene frühere Intoleranz. Im Römerbrief arbeitet Paulus seine theologische Entwicklung dann systematisch auf: Paulus begann mit einer Gesetzesfrömmigkeit, die das Heil durch Tun der Werke des Gesetzes erwartete; das entspricht der Erlösungslehre im ersten Teil des Römerbriefs —————

61 P. v. Gemünden, Gottesbild und Menschenbild im Römerbrief (1997), in: dies., Affekt und Glaube. Studien zur historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA 73, Göttingen 2009, 207–225. 62 F. Wendt, Gerichtshandeln Gottes bei Paulus und Plutarch, Diss. theol. Heidelberg 2005 = Frankfurt a.M. 2010. 63 G. Theissen, Die Bekehrung des Paulus und seine Entwicklung vom Fundamentalisten zum Universalisten, EvTh 70 (2010), 10–25.

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(Röm 1,18ff). Paulus bekehrte sich dann durch die Begegnung mit Christus zu einer Auffassung vom Heil allein durch Glauben (3,21ff), vertiefte aber diese Auffassung vom Heil später durch die Notwendigkeit einer inneren Verwandlung, um den Vorwurf des Libertinismus zurückzuweisen (6,1ff). Hier könnte der antiochenische Konflikt im Hintergrund stehen. Am Ende, als er sich auf seine letzte Reise nach Jerusalem vorbereitet, entwickelte er die Konzeption eines Heils durch eine souveräne Erwählung Gottes, um dessen Gnade vom Unglauben (insbesondere vom Unglauben Israels) unabhängig zu machen.64 Gerade dieser Israelteil des Römerbriefs habe ich als einen sehr persönlichen Abschnitt gedeutet: Der in ihm dargestellte Riss durch Israel ist ein innerer Riss in Paulus, die Versöhnung mit Israel auch Versöhnung des Paulus mit sich. Was Paulus über Israel sagt, sagt er auch über sich selbst.65 Im ganzen Römerbrief befindet er sich in einem inneren Dialog mit dem Judentum. Man kann in den verschiedenen Teilen des Briefes verschiedene jüdische Gruppen und Strömungen als Dialogpartner entdecken.66 Meine Paulusdeutung steht in der Tradition M. Luthers und R. Bultmanns: Paulus ist ein Rebell gegen seine eigene Tradition und bearbeitet persönliche Erfahrungen. Unabhängig davon aber muss man mit der so genannten „new perspective on Paul“ seine Rechtfertigungsbotschaft als eine Öffnung des Gottesvolkes für alle Völker verstehen. Die soziale Dimension der Rechtfertigungsbotschaft und die persönlichen Konflikte des Paulus und anderer Christen hängen eng zusammen. Krisen im Sozialbezug eines Menschen sind immer auch Krisen im Selbstbezug. Einige Schwierigkeiten und Grenzen der new perspective lassen sich m.E. mit Hilfe des von mir vertretenen psychologischen Ansatzes überwinden. Das war das Thema eines Vortrags in Princeton (2007).67 Ein Forschungsjahr im „Heidelberger Altertumswissenschaftlichen Kolleg“ gab mir die einmalige Chance, 2005/2006 meine psychologischen Arbeiten in einem Werk über die Psychologie des Urchristentums zusam—————

64 G. Theissen, Von Gesetzesfrömmigkeit zur Erwählungsgewissheit. Die theologische Entwicklung des Paulus im Spiegel des Römerbriefs (unveröffentlichter Vortrag am 17. 9.2010 an der St. Paul’s University in Tokyo). 65 G. Theissen, Röm 9–11 als Auseinandersetzung des Paulus mit Israel und mit sich selbst. Versuch einer psychologischen Auslegung, in: I. Dunderberg/Ch. Tuckett/K. Syreeni (Hg.), Fair Play: Diversity and Conflicts in Early Christianity, Essays in Honour of Heikki Räisänen, NT.S 103, Leiden 2002, 311–341. 66 G. Theissen, The Letter to the Romans and Paul’s Plural Identity, A Dialogical Self in Dialogue with Judaism and Christianism, FS, Vortrag 26.7.07 SBL Wien (noch nicht erschienen). 67 G. Theissen, The New Perspective on Paul and its Limits. Psychological Considerations, Alexander Thompson Lecture Princeton 26.2.07, PSB The Princeton Seminary Bulletin 27 (2007), 64–85.

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men zu fassen.68 In einem ersten Teil zeichnete ich die Entwicklung der Person nach: Eine einheitliche Person entstand in Israel durch Ausrichtung aller Kräfte auf Gott, bei den Griechen dagegen durch Unterordnung aller Kräfte unter die menschliche Vernunft. Dieses Bild einer sich selbst steuernden Person wurde im Urchristentum durch eine tiefe Krise hindurch erneuert. Sie zeigt sich besonders bei Paulus. Als ich an meiner Psychologie des Urchristentums arbeitete, schloss Laurenzo Scornaienchi seine Arbeit über „Der Mensch zwischen Destruktivität und Konstruktivität. Eine Untersuchung zu 5CTZ und 5YOC bei Paulus“ (2006) ab.69 In ihr zeigt er, wie sich für Paulus der „Leib“ von einem passiven Körper zu einem aktiven Menschen im Dienst Gottes verwandelt, während gleichzeitig das „Fleisch“ aus einem aktiven Feind Gottes durch Tötung seiner Begierden inaktiv wird. Der „geistliche Leib“ wird in Gottes Ewigkeit aufgenommen, das Fleisch bleibt ausgeschlossen. Paulus vertritt keine Leibfeindschaft, sondern eine ambivalente Haltung gegenüber dem natürlichen Menschen.70 So wie die Begriffe „Leib“ und „Fleisch“ die körperliche Dimension des Menschen in seinen Beziehungen zu anderen Menschen darstellt, so das „Gewissen“ die innere Dimension. Kristina Wagner zeigt, dass das Gewissen bei Paulus ein „interaktives Gewissen“ ist, interaktiv auch in der Rücksichtnahme auf das abweichende schwache Gewissen anderer Menschen. Für diese Rücksichtnahme auf das abweichende Gewissen anderer Menschen gibt es keine Parallele bei Philo und Seneca.71 Im Hauptteil der Psychologie des Urchristentums interpretierte ich die urchristliche Religion als Grenzüberschreitung in Mythos, Ethos und Ritus: In ihr werden immer wieder Regeln durchbrochen – durch kontraintuitive Vorstellungen vom gekreuzigten Gottessohn, durch paradoxe Interventionen wie den Verzicht auf Gegenwehr oder durch eine tabuverletzende Symbolik, wenn das Abendmahl zur symbolischen Anthropophagie wird! ————— 68

G. Theissen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, jap. 2008, ung. 2008, ital, 2010, franz. 2011. 69 Veröffentlicht unter dem Titel: L. Scornaienchi, Sarx und Soma bei Paulus. Der Mensch zwischen Destruktivität und Konstruktivität, NTOA 67, Fribourg/Göttingen 2008. 70 Vgl. G. Theissen, The pessimistic Anthropology of Paul and The Opening of Early Christianity to Aliens and Pagans, in: Jesús Campos Santiago/Victor Pastor Julián (ed.), Congreso Internacional Biblia, Memoria histórica y encrucijada de culturas Actas, Zamora 2004, 72–82. Hier habe ich die Anthropologie des Paulus so zu interpretieren versucht: Jede Bindung an andere Menschen setzt Abgrenzung von anderen voraus, auch die Öffnung für Fremde. Sie gelingt nur dann, wenn man sich von sich selbst abgrenzt, nämlich von den antisozialen Impulsen in einem selbst. Die extreme Öffnung für andere ist daher bei Paulus kompatibel mit dem Pessimismus gegenüber der eigenen Natürlichkeit. 71 K. Wagner, Das interaktive Gewissen bei Paulus, in: G. Theissen/P.v. Gemünden, Erkennen und Erleben, 301–318. Der Aufsatz enthält die zentrale These ihrer noch nicht abgeschlossenen Dissertation.

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Die Regeln von Alltagsontologie und Alltagsmoral werden durchbrochen. Die urchristliche Religion verbindet dabei extrem- und moderatreligiöses Erleben und Verhalten. Wir finden neben einem kontraintuitiven Mythos vom gekreuzigten Gottessohn allgemein einleuchtende Weisheiten, neben radikalen Geboten die universale Goldene Regel, neben Tabuverletzungen die Verpflichtung zum Teilen von Lebensmittel. Für fast alle Verhaltensund Erlebensmuster konnte ich dieses Nebeneinander einer extremreligiösen und moderatreligiösen Variante nachweisen: das symbolische Sehen der Welt steht neben den Ostervisionen, das Vaterunser neben der Glossolalie, der Sühnopfergedanke neben der Vergebungsbotschaft, das Familienethos neben der radikalen Askese usw. Wahrscheinlich hatte die urchristliche Religion aufgrund grenzüberschreitender und anstößiger Elemente einen Attraktionswert, durch den sie Aufmerksamkeit weckte, aber sie hat nur deswegen nachhaltig gewirkt, weil sie in sich einen Ausgleich mit einer moderaten Frömmigkeit anbot. Es mag im Übrigen kein Zufall sein, dass ich in meinen soziologischen und psychologischen Analysen zu einem formal verwandten Ergebnis kam: Im sozialen Leben des Urchristentums gab es eine Symbiose von Wanderradikalismus und moderaten Ortsgemeinden, im psychischen Leben eine Symbiose von extrem- und moderatreligiösem Verhalten und Erleben. Beides ist notwendig – so wie in der Gegenwart das Nebeneinander einer radikalen dialektischen und einer moderaten liberalen Theologie. Die psychologische Exegese wirft viele grundsätzliche methodische und hermeneutische Fragen auf. Martin Leiner hat sie besonnen aufgearbeitet. Sein Buch „Psychologische Exegese“ ist eine Grundlegung dieser neuen Richtung.72 Ich habe nur wenige Dissertationen und Arbeiten auf diesem Gebiet angeregt. Erfolgreich waren vor allem die Arbeiten zu verschiedenen Affekten, die von Petra von Gemünden zur allgemeinen antiken Affektpsychologie,73 von Thea Vogt zur Angst im Markusevangelium,74 von Anke Inselmann zur Freude im Lukasevangelium.75 Dazu kommt das ganz unabhängig von mir entstandene Buch meines japanischen Freundes Takas-

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72 Ursprünglich sollte diese Dissertation vor allem die bisherigen Versuche einer psychologischen Exegese forschungsgeschichtlich sichten. Die systematische Einleitung wurde ein eigenes Buch. Vgl. M. Leiner, Psychologie und Exegese. Grundlagen einer textpsychologischen Exegese des Neuen Testaments, Diss. 1993 = Gütersloh 1995. 73 P. v. Gemünden, Affekt und Glaube. Studien zur historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA 73, Fribourg/Göttingen 2009. 74 Th. Vogt, Angst und Identität im Markusevangelium. Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag (Diss. 1992) = NTOA 26, Fribourg/Göttingen 1993. 75 A. Inselmann, Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese (Diss. 2008) erscheint in WUNT ca. 2011/2

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hi Onuki über den Neid in der Gnosis.76 Der gemeinsam mit P.v. Gemünden herausgegebene Sammelband „Erkennen und Erleben“ dokumentiert, dass von verschiedenen Ansätzen her eine methodisch kontrollierte historische Psychologie möglich ist.77 Die psychologische Untersuchung des Erlebens und Verhaltens der ersten Christen berührt immer wieder Fragen der Moral und Ethik: Das Thema der Affektkontrolle war in der Antik ein zentrales Thema der Individualethik, das Thema des Gewissens und Gesetzes führt direkt zur Ethik.

5) Arbeiten zur Ethik des Urchristentums Eine meiner wichtigsten Vorlesungen war eine Ethik des Urchristentums, aus der ich immer wieder einige Gedanken veröffentlicht habe. Ein Leitgedanke ist, dass das urchristliche Ethos eine Synthese von biblischer Gebotsund antiker Einsichtsethik ist und dass wir hier eine Antwort auf das Problem jeder Ethik finden:78 Jede Anweisung oder Wertung ist Ausdruck von Macht. Jemand befiehlt oder lobt aus einer überlegenen Position heraus. Das wird bei den Griechen durchbrochen, indem sie die Macht unserer Vernunft zur Grundlage der Ethik machten: Wer sich selbst beherrscht, muss sich nicht von anderen beherrschen lassen. Das wird bei den Juden dadurch durchbrochen, dass sie den Appell, der vom Hilfebedürftigen und Schwachen ausgeht, zur Grundlage der Ethik machen. Die ethische Verpflichtung geht hier nicht von den Mächtigen, sondern von den Ohnmächtigen aus, mit denen sich Gott identifiziert. Wir verdanken diesen beiden Traditionen zwei Grundwerte, die bis heute gelten: Rationalität und Nächstenliebe bzw. Autonomie und Barmherzigkeit. Der biblische Beitrag zu dieser Ethik besteht in einer Verbindung von Nächstenliebe und Demut, die zum Statusverzicht verpflichtet. Sehr viel verdanke ich zwei von mir betreuten Arbeiten über diese beiden Grundwerte des Urchristentums: Hubert Meisinger schrieb über die Nächstenliebe im Neuen Testament,79 Gudrun Guttenberger über den Statusverzicht.80 Beide —————

76 T. Onuki, Der Neid in der Gnosis, in: G. Theissen/P.v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des Urchristentums, Gütersloh 2007, 321–342. 77 G. Theissen/P.v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des Urchristentums, Gütersloh 2007. 78 G. Theissen, Urchristliches Ethos – eine Synthese aus biblischer und griechischer Tradition, in: Chr. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text, FS W. Stegemann, Stuttgart 2005, 209–222. 79 H. Meisinger, Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft (Diss. 1994/5) = NTOA 33, Fribourg/Göttingen 1996. Sein spezifischer Beitrag liegt in der Behandlung des Problems, dass die soziobiologische Forschung echten Altruismus leugnet.

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Grundwerte gehören zusammen. Denn der Nächste wird nur dann zum gleichberechtigten Mitmenschen, den man „wie sich selbst“ lieben kann, wenn der Überlegene sich auf seine Ebene stellt.81 Im Neuen Testament wird diese Verpflichtung zum Statusverzicht anschaulich im Jakobusbrief dargestellt, als ein hochgestellter Mensch in die Gemeinde kommt. Der Jakobusbrief schärft ein: Nächstenliebe und Bevorzugung des sozial Hochstehenden schließen einander aus. Das sympathische Ethos dieses Briefes deutete ich als bewusste Verteidigung des Judenchristentums gegen das negative Bild, das die Briefe des Paulus von seinen judenchristlichen Gegenspielern hinterlassen hat. Mit seiner Verbindung von Nächstenliebe und Demut ist es ein Höhepunkt urchristlicher Ethik.82 Dieses Ethos von Nächstenliebe und Demut verbindet sich im Neuen Testament (und auch im Jakobusbrief vgl. Jak 1,25) mit der aus dem Griechentum kommenden Autonomie- und Freiheitstradition. Die Verbindung beider Traditionen begann im hellenistischen Judentum. Eine Arbeit von Annegret Ade untersucht unter diesem Aspekt die Aussagen Philos von Alexandrien zu Sklaverei und Freiheit.83 Freiheit ist bei Paulus geschenkte Freiheit, die darin besteht, sich dem Nächsten unterzuordnen, aber nicht um den Preis eines Verzichts auf notwendige Konflikte, wie Paulus zeigt.84 Sie richtet sich durch freie Selbstbestimmung an denen aus, die als Schwächere auf unsere Hilfe angewiesen sind. Das Hilfsethos in der Bibel deutete ich als „Demokratisierung“ eines aristokratischen Hilfsethos, das oft nur Königen zugeschrieben wird, als „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten“, der sich mit einer Aneignung von Unterschichtwerten durch die Oberschicht verbindet – also mit einem gegenläufigen Aufwärtstransfer von unten nach oben. Die Feindesliebe war ursprünglich Privileg des Herrschers, der so mächtig war, dass er selbst seine Feinde gütig behandeln konnte. Sie wird in neutestamentlicher Zeit zum Protestmittel des jüdischen Volks gegen die mächtigen Römer – verbunden mit Gewaltverzicht gegenüber überlegenen Waffen: Gewaltfreie Demonstrationen gegen Pilatus und den Legaten Pet—————

80 G. Guttenberger Ortwein, Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt (Diss. 1997) = NTOA 39, Freiburg Schweiz/Göttingen 1999. 81 G. Theissen, Nächstenliebe und Statusverzicht als Grundzüge christlichen Ethos, in: W. Härle/H. Schmidt/M. Welker (Hg.), Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums, Gütersloh 2000, 119–142. 82 G. Theissen, Amour du prochain et égalité. Jac 2,1–13 un moment fort de l’éthique chrétienne primitive, ETR 76 (2001), 325–346 = P.v. Gemünden/M. Konrad/G. Theißen, Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“. BVB 3, Münster 2003, 119–142. 83 Vgl. A. Ade, Freiheit und Sklaverei bei Philo von Alexandrien, Diss. theol. Heidelberg 1996. 84 G. Theissen, Zum Freiheitsverständnis bei Paulus und Philo. Paradoxe und kommunitäre Freiheit, in: H.-R. Reuter/H. Bedford-Strohm/H. Kuhlmann/K.-H. Lütke (Hg.), Freiheit verantworten, FS W. Huber, Gütersloh 2002, 357–368.

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ronius waren damals erfolgreich. Ein Mitglied des Kreises, der die Montagsdemonstrationen in Leipzig vor der Wende organisiert hat, hat mir gesagt, sie hätten meinen Aufsatz im Vorfeld der Demonstrationen mit Gewinn gelesen.85 Die Wohltätermaxime „Geben ist seliger als nehmen“ war ursprünglich eine Richtlinie für Könige. Sie wird im Neuen Testament zur Richtschnur von Menschen, die hart arbeiten müssen, damit sie von ihrem Ertrag abgeben können.86 Vergleichbar ist das Vorbild der armen Witwe, die ihre letzten beiden Scherflein opfert. Die arme Frau rückt in die Rolle einer reichen Wohltäterin. Die Bewertung eines Verhaltens gegenüber Gott, der auch das Opfer der Armen akzeptiert, wird hier auf das Verhalten gegenüber anderen Menschen übertragen: Die arme Wohltäterin ist den Reichen an Wert überlegen. Die christlichen Gemeinden haben mit solchen Geschichten ihre Armen zum Abgeben motiviert, um nicht zur Sozialklientel ihrer reichen Mitglieder abzusinken.87 Schließlich finden wir diesen Abwärtstransfer von Oberschichtwerten in der Goldenen Regel. Sie gilt in der Antike in ihrer positiven Form: „Behandle alle Menschen so, wie du willst, dass sie dich behandeln“, nur für privilegierte Verhältnisse, u.a. für das Verhältnis des Herrschers zu seinen Untertanen. In ihrer negativen Form gilt sie für alle Beziehungen. Ist es doch leichter, Böses zu unterlassen als Gutes zu tun. In der Bergpredigt aber ist die Goldene Regel in ihrer positiven Form für alle Menschen verpflichtend und gilt allen Menschen gegenüber (Mt 7,12). Diese Zuspitzung der verbreiteten Tradition könnte auf Jesus selbst zurückgehen. Wieder wird ein Herrscherverhalten auf alle übertragen.88 Auch die Bereitschaft zur Vergebung beruht auf einem Abwärtstransfer von Oberschichtwerten: Herrscher erlassen in kritischen Situationen ihren Untertanen Steuern und amnestieren Sünder. Jeonsong Park zeigte in seiner Dissertation: „Sündenvergebung im Matthäusevangelium zwischen Herrschafts- und Bruderschaftsethos“ (2001), wie im Matthäusevangelium die—————

85 G. Theissen, Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38–48/Lk 6,27–38) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 31983, 160– 197. Nach Mitteilung des Leipziger Studentenpfarrers Stephan Bickurth am 21./22. Januar 1999 kannte der Vorbereitungskreis der Montagsmarschierer diesen Aufsatz. 86 G. Theissen, „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20,35). Zur Demokratisierung antiker Wohltätermentalität im Urchristentum, in: Kirche, Recht und Wissenschaft, FS A. Stein, Neuwied 1995, 197–215. 87 G. Theissen, Die Witwe als Wohltäterin. Überlegungen zur urchristlichen Sozialmoral anhand von Mk 12,41–44, in: M. Küchler/P. Reindl (Hg.), Randfiguren in der Mitte, FS H.-J. Venetz, Luzern/Freiburg 2003, 171–182. 88 G. Theissen, Die Goldene Regel (Matthäus 7:12/Lukas 6:31): Über den Sitz im Leben ihrer positiven und negativen Form, Biblical Interpretation 11 (2003), 386–399.

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ses hoheitliche Recht zur Sündenvergebung demokratisiert wurde. Wichtig ist dabei, dass dieses aristokratische Ethos immer mit einem Bruderschaftsethos verbunden wird, das nicht aus den Oberschichten stammt.89 In der Antike war ein zentrales Thema der Ethik die Selbststeuerung des Menschen: Wie wird er Herr über seine Affekte? Zur Sexualität und Aggression, schrieb ich jeweils eine kleine Studie. Zu Paulus vertrat ich die These,90 dass in der asexuellen „Agape“ viel sublimierter „Eros“ steckt. Paulus überwindet die Enge der erotischen Zuwendung, die sich jeweils nur einem Sexualpartner zuwendet, durch eine „Agape“, die allen Christen, ja, allen Menschen gilt. In ihr wird Askese vorausgesetzt. Die Begeisterung für sie erklärte ich dadurch, dass ein neues Eheideal eine hohe emotionale Bindung an den Partner forderte und gleichzeitig den Verzicht auf Nebenbeziehungen sowie auf Abtreibung oder Aussetzung als Formen der Geburtenkontrolle. Geburtenkontrolle und Treue ließen sich in der Ehe nur durch teilweise Askese erreichen. Auch die Verheirateten mussten für asketische Ziele offen sein. Daher finden wir nebeneinander Lebensformen, die beides kombinieren: eine Aufeinanderfolge von Ehe und Askese (viele blieben nach dem Tod des Ehepartners unverheiratet), den Übergang zur Askese in der Ehe oder von vornherein ein Zusammenleben in einer pneumatischen Ehe mit Verzicht auf Sexualität, wie es sich in 1Kor 7 anbahnt. Bei der Aggression differenzierte ich in folgender Weise:91 Das Ethos der ersten Christen war nicht-aggressiv und hatte eine reale Chance in manchen Nischen der Römischen Gesellschaft. Der Mythos der ersten Christen aber ist voll Aggressivität. Das zeigen die Bilder vom Jüngsten Gericht, vom Sühnetod Christi oder von der Vernichtung satanischer Geistermächte. Der Ritus der ersten Christen verbindet Gewaltreduktion im Verhalten und Gewaltzunahme in der Imagination: Die urchristlichen Riten lösten die blutigen Opfer ab, belebten aber als Imagination das Menschenopfer neu. Wir finden nebeneinander eine Verringerung von Aggression im Ethos, eine Zunahme von Aggressivität im Mythos und eine Verschränkung beider Tendenzen im Ritus. Die urchristliche Ethik lädt zu grundsätzlichen Überlegungen einer Meta-Ethik ein. Der Goldenen Regel liegt m.E. ein Ausgleich von drei Orientierungen zugrunde, die in jeder Ethik wiederkehren: Wir orientieren uns an allgemeinen Regeln, an Empathie in andere Menschen und an unseren eigenen Bedürfnissen. Der kategorische Imperativ fordert Regelorientie—————

89 Vgl. die Zusammenfassung seiner Dissertation in: J. Park, Sündenvergebung im Matthäusevangelium. Ihre theologische und soziale Dimension, EvTh 66 (2006), 210–227. 90 G. Theissen, Eros und Urchristentum. Am Beispiel des Paulus, in: H.G. Pott (Hg.), Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen, München 1997, 9–30. 91 G. Theissen, Aggression und Aggressionsbearbeitung im Urchristentum. Ein Beitrag zur historischen Psychologie des Urchristentums, ZNT 17 (2006), 31–40.

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rung, die Nächstenliebe Empathie, die hellenistische Ethik Autonomie. Die Goldene Regel verbindet diese drei Orientierungen: Die eigenen Bedürfnisse werden zum Maßstab für das Verhalten gegenüber anderen. Das wird als allgemeine Regel gefordert. Diese Regel aber muss durch Empathie konkretisiert werden. In der Spannung zwischen der Orientierung an einem zeitlosen Gesetz mit strenger Regelorientierung (Mt 5,18), dem Liebesgebot mit Empathie (Mt 5,39–48) und der Berufung je einzelner Jünger (Mt 19,16ff) kehrt die Spannung zwischen diesen drei Grundorientierungen jeder Ethik in unseren Texten wieder.92 Die urchristliche Ethik würde ich gerne in eine allgemeine Theorie menschlicher Kultur einordnen. Die Grundthese ist: Kulturelle Evolution ermöglicht durch Technik, Wissen und Solidarität Leben auch dort, wo es unter natürlichen Umständen nicht möglich wäre. Auf eine Formel gebracht: Kultur reduziert Selektionsdruck. Die Religionen kodieren in ihren Zeichensprachen dieses Programm und motivieren dazu, ihm in Krisen treu zu bleiben. Buddhismus und Christentum zeichnen sich durch Antiselektionismus aus, der Buddhismus, indem er den Lebensdurst überwinden, das Christentum, indem es ihn in Liebe verwandeln will. Beiden schwebt als Ziel vor, dass Leben nicht auf Kosten anderen Lebens lebt. Beide folgen einem „antiselektiven Imperativ“.

6) Arbeiten zum historischen Jesus Meine Arbeiten zum historischen Jesus wollen zeigen, dass „Jesus“ ein wenig historischer, ein wenig jüdischer und ein wenig politischer war, als meine Lehrer meinten. Über Jesus schrieb ich einen semifiktionalen Roman „Der Schatten des Galiläers“ (1986).93 Die ersten Kapitel entstanden für meinen Religionsunterricht im Sommer 1978, erst in einem Forschungssemester 1982/3 schloss ich den ersten Entwurf ab. In dieser Erzählung sammelt ein junger Jude als Spion des Pilatus Material über Jesus. Er begegnet ihm nie, sondern muss sich (wie ein moderner Historiker) aus Überlieferungen ein Bild von ihm rekonstruieren. Er begegnet nur seinem Schatten. Mein Anliegen war, die Botschaft Jesu im Rahmen der Konflikte seiner Zeit lebendig darzustellen und ihn im Zusammenhang des Judentums so zu interpretieren, dass dabei Sympathie für das Judentum entsteht. Da ich nie —————

92 G. Theissen, Gesetz und Goldene Regel. Die Ethik des Matthäusevangeliums zwischen Regel- und Empathieorientierung, in: Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium, FS Ulrich Luz, Neukirchen 2008, 237–254. 93 G. Theissen, Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, München 1986 = Gütersloh 202007; engl. 1987; franz., holl., dän., kor., span. 1988, port. , finn., chin., jap., ung. 1989; ital. 1990; indon. 1990; tschech. 1996; poln. 1999; russ. 2006.

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den Ehrgeiz hatte, einen Roman zu schreiben, hatte ich beim Schreiben vor allem die Sorge, er könne mir ästhetisch misslingen. Aber ich erhielt für ihn sogar einen kleinen Literaturpreis in Frankreich. Er wurde oft bearbeitet: als Hörbuch und Hörspiel, als Laienspiel, als Musical und Kirchenspiel. So wurde er mein bekanntestes Buch. Zusammen mit Annette Merz veröffentlichte ich zehn Jahre nach meinem Jesusroman ein Lehrbuch für Studierende: „Der historische Jesus“ (1986). Es war eine gute Zusammenarbeit. Wir hatten nicht den Ehrgeiz, unsere Sicht von Jesus in den Mittelpunkt zu stellen, sondern wollten in die Forschungsgeschichte einführen, die wichtigsten Jesustraditionen unter Rückgriff auf die Primärtexte interpretieren und den Stand der hermeneutischen Reflexion zur Bedeutung seiner Verkündigung und seines Geschicks vermitteln. Unter den deutschsprachigen Neutestamentlern hatten wir ein größeres Zutrauen in die historische Auswertbarkeit der Jesusüberlieferung als andere. Dieses größere Zutrauen ist erst allmählich entstanden, manchmal durch kleine Einzelbeobachtungen. So meine ich, eine Erklärung für die rätselhafte Frage Jesu in Mt 11,7f gefunden zu haben: „Warum seid ihr in die Wüste hinausgegangen? Um ein im Wind schwankendes Rohr zu sehen? Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Um einen Menschen in weichen Kleidern zu sehen? Siehe, die weiche Kleider tragen sind in den Häusern der Könige!“ Eine Münze des Herodes Antipas, die er anlässlich der Gründung seiner Hauptstadt Tiberias geprägt hat, zeigt dort, wo man sonst den Kopf des Herrschers erwartet, ein Schilfrohr – wohl als Symbol des galiläischen Sees. Daraufhin wurde er wahrscheinlich als „schwankendes Schilfrohr“ verspottet. Solch eine Anspielung konnte man nur in großer lokaler und zeitlicher Nähe zu Jesu Auftreten verstehen.94 Hinzu kam eine grundsätzliche Beschäftigung mit den Kriterien der Jesusforschung. Zusammen mit Dagmar Winter schrieb ich ein Buch,95 in dem wir zu zeigen versuchten, dass das zweiseitige Differenzkriterium („Echt ist, was sich vom Judentum und Urchristentum unterscheiden lässt“) aufgrund vieler Bedenken schon lange erodiert war. Daher schlugen wir vor, es durch ein zweiseitiges Plausibilitätskriterium zu ersetzen: Danach ist alles echt, was sich aus einem jüdischen Kontext des 1. Jh. n.Chr. ableiten lässt und in diesem Kontext Individualität erkennen lässt (Kontextplausibilität) und was gleichzeitig die urchristlichen Texte von Jesus als Ergebnis seiner Wirkungsgeschichte erklären kann – sei es, dass sich seine Wirkung —————

94 G. Theissen, Das "schwankende Rohr" in Mt 11,7 und die Gründungsmünzen von Tiberias, ZDPV 101 (1985), 43–55 = Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, 26–44. 95 G. Theissen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium, NOA 34, Freiburg/Göttingen 1997; engl. 2002.

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in wiederkehrenden Motiven gegen die Pluralität der Jesusbilder, sei es, dass sich seine Wirkung in tendenzwidrigen Elementen gegen die Interessen und Vorstellungen des Urchristentums behauptet hat (Wirkungsplausibilität). Meine eigenen Erkenntnisse zu Jesus veröffentlichte ich sehr viel mehr als in unserem Lehrbuch in kleinen Studien, die in einem Sammelband „Jesus als historische Gestalt“ (2003) enthalten sind. Hier zeige ich zum Beispiel, dass Jesus theologisch mitten im Judentum steht, aber als Wanderprediger sozial am Rand des Judentums lebte. Darin ist er den Kynikern in der griechischen Welt vergleichbar, die zwar am Rande der Gesellschaft lebten, aber dennoch deren zentrale Werte wie Autonomie und Autarkie verkörperten.96 Jesus grenzt sich von diesen Kynikern in seiner Aussendungsrede bewusst ab. Dazu entwickelte ich die Hypothese, dass er sich damit von dem einzigen vor ihm nachweisbaren Wanderprediger, von Judas Galilaios und seiner Agitation gegen die Römer, distanzierte. Denn Josephus scheint Judas Galilaios, den Gründer „der vierten Philosophie“ der Juden, für eine Art Kyniker gehalten zu haben.97 Jesus selbst steht nicht hellenistischen Kynikern, sondern jüdischen Gruppen nahe. Wenn er in einigen Punkten den Sadduzäern ähnelt (z.B. in der Ablehnung der mündlichen Vätertradition), so könnte das dadurch bedingt sein, dass Galiläa unter der Herrschaft von Sadduzäern mit dem jüdischen Stammland wieder vereinigt wurde und dass aufgrund dieser positiven Erfahrung dort sadduzäische Traditionen positiver aufgegriffen worden sind und länger weiter wirkten als anderswo.98 Auch das doppelte Liebesgebot stammt aus dem Judentum. Es ist durch den Täufer inspiriert, wahrscheinlich hat Jesus es sogar direkt von ihm übernommen. Ich vermute, dass es bei Josephus hinter der hellenisierenden Zusammenfassung der Predigt des Täufers als Lehre von den zwei Tugenden steht: „Frömmigkeit“ gegen Gott meint die Liebe zu ihm und „Gerechtigkeit“ gegenüber Menschen die Nächstenliebe. Mit denselben Stichworten bezeichnet nämlich auch Justin das doppelte Liebesgebot.99 Die Eschatolo————— 96

G. Theissen, Jesus im Judentum. Drei Versuche einer Ortsbestimmung, Kirche und Israel 14 (1999), 93–109 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 35–56. 97 G. Theissen, Jesus as an Itinerant Teacher, Reflections from Social History on Jesus’ Roles, in: J.H. Charlesworth/P. Pokorný (Hg.), Jesus Research. An International Perspective, Grand Rapids/Cambridge U.K. 2009, 98–122. 98 G. Theissen, Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der synoptischen Überlieferung, in: Tro og historie, FS N. Hyldahl, Forum for bibelsk eksegese 7, København 1996, 224–245 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 111– 131. 99 Chanwong Park, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth. Eine sozio-redaktionelle Untersuchung zu ihrem Bild bei Josephus und Lukas, Diss. HD 1997/8, zeigt, dass Josephus zwar viele Menschen als „fromm“ und „gerecht“ charakterisiert, dass er aber nur dem Täufer eine Lehre

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gie Jesu erklärte ich zusammen mit A. Merz als Verarbeitung der nicht erfüllten Naherwartung des Täufers: Jesus deutet die weiter existierende Welt als Zeichen der Gnade Gottes, der weiterhin seine Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen lässt.100 Parusieverzögerungsmotive in der Jesusüberlieferung können daher nicht einfach als Ausdruck urchristlicher Erfahrungen gedeutet werden, sie gehen im Kern auf Jesus zurück. Dadurch hatte das Urchristentum seit seinem Beginn gedankliche Mittel und Motive, um mit der Verzögerung der Parusie fertig zu werden. Es kam ihretwegen deswegen nie zu einer großen Krise.101 Ferner lässt sich die Eschatologie Jesu mit der Verkündigung eines millenaristischen Propheten vergleichen, wie sie im Spannungsfeld von Kolonialmacht und kolonialisierten Kulturen auftreten – nur mit einem wichtigen Unterschied: Die späteren Anhänger Jesu eroberten die fremde Kultur, was man von keiner millenaristischen Prophetenbewegung sagen kann.102 Mit Messiaserwartungen musste sich Jesus schon zu Lebzeiten auseinandersetzen, aber er biegt sie um: Wenn er die Zwölf zu Richtern Israels einsetzt, überträgt er ihnen die Aufgabe des Messias. Jesus vertritt damit einen „Gruppenmessianismus“. Seine Gründung eines messianischen Kollektivs erklärt leichter, warum es nach seinem Tod zur Entstehung einer Kirche kommen konnte. Jesus hatte schon immer seine Jünger an seiner Aufgabe beteiligt.103 Diesen Jüngern sprach er aber nicht nur die Rolle von hochgestellten „Richtern“ über Israel zu. Er spricht von ihnen auch als „Gewalttätern“, die die Gottesherrschaft „rauben“. Darin kann man eine bewusste Selbststigmatisierung einer Minorität sehen, die demonstrativ ihre Abwertung durch die Gesellschaft positiv umwertet und dadurch einen Wandel von Werten und Bewertungen provoziert: Nicht sie sind im Unrecht, sondern die, die sie als asoziale Erscheinungen diskriminieren.104 Die Theorie von Selbststigmatisierung als Strategie kulturellen Wandelns übernahm ich ————— über die „Frömmigkeit“ und „Gerechtigkeit“ in den Mund legt. Er wird also nicht einfach nach einem Schema dargestellt. Daraus leitete ich u.a. die Vermutung ab, dass der Täufer ein Doppelgebot vertreten hat: G. Theissen, Das doppelte Liebesgebot in der Jesusüberlieferung, in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 57–72. 100 G. Theissen/A. Merz, Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus, in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 229–253. 101 G. Theissen/A. Merz, The Delay of the Parousia as a Test Case for the Criterion of Coherence, Louvain Studies 32, 2007, 49–66. 102 G. Theissen, Jesus – der Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, EvTh 59 (1999), 402–415 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 197–228. 103 G. Theissen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, JBTh 7 (1992), 101–123 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 255–281. 104 G. Theissen, Jünger als Gewalttäter (Mt 11,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität, StTh 49 (1995), 183–200 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 153–168.

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von W. Lipp, M.N. Ebertz und H. Mödritzer,105 der sie in seiner Arbeit auf Johannes den Täufer, Jesus, Paulus und Ignatius von Antiochien mit Erfolg angewandt hat. Jesu Wirken hatte eine politische Dimension.106 Er zog politische Erwartungen auf sich, widersprach Zwang und Gewalt und wurde am Ende aufgrund eines politischen Missverständnisses selbst Opfer von Gewalt. Seine Symbolhandlungen lassen sich als Ausdruck einer symbolpolitischen Auseinandersetzung zwischen Führungsschicht und Volk verstehen: Die Einsetzung der Zwölf ist Kritik an bestehenden Herrschaftsformen, der Einzug in Jerusalem eine Gegendemonstration gegen den Einzug des Präfekten.107 Insgesamt wird man die „Politik“ Jesu in die Tradition des Ideals eines humanen Herrschers einreihen, der seine Herrschaft selbst beschränkt. Ein sehr ansprechender Beleg dafür ist der „Heilandsruf“ Jesu: Er ist das Werben der Weisheit und eines milden Herrschers. Nur von Herrschern ist die Wendung „mein Joch“ bezeugt.108 Dem Übergang vom historischen Jesus zum kerygmatischen Christus habe ich mehrere Aufsätze gewidmet. Dabei versuchte ich, soziologische Rollenanalysen zur Erhellung christologischer Titel fruchtbar zu machen.109 „Prophet“ und „Lehrer“ waren verbreitete Rollenerwartungen, in deren Licht Jesus gesehen wurde. Vieles, was man der impliziten Christologie (ohne Titel) zuordnet, lässt sich leicht dem Wirken eines Propheten und Lehrer zuordnen. Messias und Menschensohn waren dagegen Rollen, die nur als „Unikate“ (manchmal auch durch zwei Messiasse) realisiert wurden. Es gab eine große Unsicherheit, was man von ihnen erwarten konnte und wer eine solche Rolle ausfüllen sollte. Diese Unsicherheit finden wir auch bei Jesus. Jesus teilte die antike Vorstellung von Statuskontingenz: Nur ein ————— 105

Die von W. Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Schriften zur Kultursoziologie 1, Berlin 1985, entwickelte Theorie der Selbststigmatisierung als Strategie kulturellen Wandels wurde von M.N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 45, Tübingen 1987, für die Analyse der Jesusbewegung fruchtbar gemacht und von H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Göttingen/Fribourg 1994, auf das ganze Urchristentum angewandt. 106 G. Theissen, The Political Dimension of Jesus’ Activities, in: B. J. Malina/W. Stegemann/G. Theissen (Hg.), The Social Setting of Jesus and the Gospels, Minneapolis 2002, 225–250 = gekürzt in: Die Politische Dimension des Wirkens Jesu, in: B.J. Malina/W. Stegemann/G. Theissen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2003, 112–122. 107 G. Theissen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung, EvTh 57 (1997), 378–400 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 169–193. 108 G. Theissen, Wer sind die Mühseligen und Beladenen in Mt 11,28–30? Befreiungstheologische Motive im Heilandsruf Jesu, in: F. Crüsemann u.a. (Hg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel, FS L. Schottroff, Gütersloh 2004, 49–66. 109 G. Theissen, Vom Historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn. Soziologische Rollenanalyse als Beitrag zum Verständnis neutestamentlicher Christologie, EvTh 68 (2008), 285– 304.

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Überlegener kann einem anderen eine Rolle und einen Status zuerteilen. Er selbst schrieb sich zwar die entscheidende Rolle zwischen Gott und Mensch zu, brachte sie aber nicht mit einem Titel zum Ausdruck. Er konnte offen lassen, welche Rolle ihm Gott letztlich zusprechen werde. Aber auch so stellte er sich eindeutig auf die Seite der Menschen. Er ist nicht Gott. Erst als die Jünger, die ursprünglich das Kommen Gottes erwarteten, in den Ostererscheinungen Jesus als Auferstandenen begegneten, rückte er für sie auf die Seite Gottes.110 Seine Erhöhung zu göttlichem Status aber ist Ausdruck einer monotheistischen Dynamik. So wie nach der ersten Zerstörung Jerusalems die Niederlage auf Erden durch einen Sieg des Gottes JHWH im Himmel ausgeglichen wurde und er zum einen und einzigen Gott wurde, so wurde nach der Kreuzigung Jesu dessen Sieg durch einen Triumph im Himmel ausgeglichen.111 Er wurde zum Mittelpunkt einer neuen Religion, durch die Gott in neuer Weise verehrt wurde.

7) Arbeiten zur Theorie des Urchristentums Gewöhnlich wird dieser Prozess, der zur Verehrung Jesu als Gottheit führt, in den „Theologien des Neuen Testaments“ dargestellt. Aber mir erschienen diese „Theologien“ zu sehr aus einer theologischen Binnenperspektive heraus den urchristlichen Glauben zu betrachten. Ich näherte mich ihm immer wieder auch aus einer Außenperspektive. Eine erste zusammenfassende Darstellung gab ich im Rahmen einer Analyse der biblischen Religion in einem evolutionären Rahmen (1983).112 Die Idee dazu war mir bei der Vorbereitung eines Christologiekurses für die Oberstufe des Gymnasiums auf einer Osterwanderung 1978 gekommen. Wie sollte ich jungen Menschen erklären, dass Jesus etwas Besonderes ist – ein Mensch und doch mehr als das? Als didaktisches Hilfsmittel wählte ich damals das Modell der „Mutation“ in der Evolution, durch die (sehr selten) neue Umwelträume erschlossen werden. War Jesus vielleicht solch eine Mutation – nicht im biologischen, sondern im geschichtlichen-kulturellen Sinne? Wurden durch ihn neue Dimensionen erschlossen? Jesusüberlieferung und die ganze Bibel bezeugen in der Tat etwas, das der bisherigen Evolution widerspricht: einen Aufstand gegen das Selektionsprinzip zu————— 110 G. Theissen, Le Jésus historique et le kérygme. La construction scientifique et l’accès à la foi, in: De Jésus à Jésus-Christ I. Le Jésus de l’Histoire, Paris : Mane-Desclée 2010, 215–235. 111 G. Theissen, Monotheistische Dynamik im Neuen Testament. Der Glaube an den einen und einzigen Gott und die neutestamentliche Christologie, KuI 20 (2005), 130–143. 112 G. Theissen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984; engl. 1984/1985; 2007; ital. 1999; span. 2002; russ. 2009.

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gunsten einer Solidarität mit den Schwachen und „Unangepassten“. Das ist eine ungeheure Erweiterung des Resonanzfeldes der Wirklichkeit. Gerade die Verlorenen sollen in die menschliche Gemeinschaft einbezogen werden. Wie Entropie durch das Leben „suspendiert“ wird, so Selektion durch menschliche Kultur, ohne dass deswegen die entsprechenden Naturgesetze aufgehoben werden. Sie werden nur in einem begrenzten Bereich (in der Natur innerhalb offener Systeme, in der Kultur innerhalb einer humanen Gesellschaft) unterlaufen, wirken aber weiter. Evolutionstheoretisch schien mir ferner zum Teil erklärbar, warum es zu Resonanzerfahrungen kommt: Sie sind die emotional-motivationale Erfahrung unserer gelungenen Anpassung an die Strukturen der Wirklichkeit. Daher weisen sie auf eine objektive Realität. Mein Versuch, die Religion in eine naturwissenschaftlich inspirierte Rahmentheorie einzuzeichnen, rief freilich mehr Kopfschütteln als Zustimmung hervor, wofür ich Verständnis habe. Meine Gedanken schienen mir oft selbst zu kühn. Aber ich fühlte mich durch die dänische Schöpfungstheologie und vor allem durch Arbeiten im Umkreis der amerikanischen Zeitschrift Zygon bestärkt. Später habe ich diese evolutionären Gedanken für mich ergänzt und revidiert. Es muss eine Übereinstimmung zwischen Mensch und Universum geben, die nicht durch Anpassung entstanden ist: Wenn die Natur komplizierten mathematischen Formeln gehorcht, so kann die dazu „passende“ Mathematik nicht Anpassung unseres Gehirns an die objektive Welt sein, um die Überlebenschancen des Organismus zu steigern! Hier begegnet eine ursprünglichere Verwandtschaft zwischen Mensch und Universum! Religion ist daher nicht nur eine sekundäre Anpassung an die objektive Wirklichkeit, sondern auch Ausdruck einer ursprünglich in uns vorhandenen transzendentalen Aktivität, die es uns möglich macht, Wirklichkeit überhaupt erfahren zu können. Ihre Kategorien gelten für alle möglichen Welten. Es muss eine vorgängige Verwandtschaft zwischen unserer Vernunft und den Grundstrukturen der Wirklichkeit geben. Aber wodurch erschließt die Religion Räume, die unser Alltagsbewusstsein überschreiten? Religionen sind ja keine organischen Systeme. Ich experimentierte mit dem Gedanken, dass Religionen Zeichen- oder Symbolsysteme sind.113 In der paulinischen Theologie hatte ich schon sehr früh (1974) ein kleines „System“ von Bildern entdeckt:114 Neben den soziomorphen Beziehungsbildern von Befreiung, Rechtfertigung und Versöh—————

113 Den Gedanken fand ich bei E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1964, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1060, vor allem aber bei seiner Schülerin S. K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M. 1965. 114 G. Theissen, Soteriologische Symbolik in den paulinischen Schriften. Ein strukturalistischer Beitrag, KuD 20 (1974), 282–304.

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nung stehen bei Paulus physiomorphe Bilder einer Verwandlung: durch ein Gestaltwerden wie Christus, ein Sterben und Auferstehen mit ihm und eine Vereinigung in ihm (im Leib Christi). Keine einzelne Symbolik, auch nicht die Rechtfertigungssymbolik, nur das ganze Feld der Bilder erschließt uns seine Theologie. Es dauerte mehr als 20 Jahre, bis ich weit genug war, diese Idee, dass die urchristliche Religion eine besondere Zeichenwelt ist, durchzuführen. Eine Einladung, 1998/1999 in Oxford die Speaker’s Lecture for Biblical Theology zu halten, gab mir die Gelegenheit, ein Gesamtbild vom Urchristentum als ein Zeichensystem in einer Theorie der urchristlichen Religion auszuarbeiten.115 Schon lange träumte ich von solch einer Theorie, die frei von theologischen Prämissen ist, aber den Zugang zu einer theologischen Deutung nicht versperrt. Ich wollte die urchristliche Religion mit religionswissenschaftlichen Kategorien darstellen und sie sowohl von innen als auch von außen, d.h. für Glaubende und Nichtgläubige, zugänglich machen. Dabei genügt es nicht, sie als subjektives Erleben des Heiligen darzustellen. Religionen sind vielmehr objektive Zeichensprachen, die Kontakt mit einer letztgültigen Wirklichkeit verheißen, um dadurch Lebensgewinn zu vermitteln. In einer einstündigen Vorlesung im Sommersemester 1900 hatte ich zum ersten Mal meine Idee zu solch einer „Theorie der urchristlichen Religion“ skizziert. Bei deren Weiterentwicklung habe ich viel von Andreas Feldtkeller gelernt, der das syrische Urchristentum mit anderen Religionen mit Hilfe systemtheoretischer Überlegungen verglichen hat – nicht nur im Blick auf Einzelmotive, sondern auf deren inneren Zusammenhang in einem Ganzen.116 Religionen bilden Zeichensysteme, die eine innere Ordnung haben. Ausdrucksformen dieser Zeichensprachen und Zeichensysteme sind Mythos, Ritus und Ethos. Unter Mythos verstehe ich dabei die religiöse „Grunderzählung“, mit denen eine Religion ihre Lebensform begründet. Im Neuen Testament liegt eine enge Verbindung von Geschichte und Mythos vor: Schon der historische Jesus lebte im „Mythos“ des mit ihm kommenden Gottesreiches, der Durchsetzung der Herrschaft des einen und einzigen Gottes. Das Problem —————

115 G. Theissen, A Theory of Primitive Christian Religion, London 1999 = Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 32002; holl., ung. 2001, franz., span. 2002., ital., dän. 2004, port., kor. 2009. 116 Die Dissertation von A. Feldtkeller, Das entstehende Heidenchristentum im religiösen Umfeld Syriens zur Prinzipatszeit, Diss. theol. Heidelberg 1992, erschien in zwei Teilen: Identitätskrise des syrischen Urchristentums, Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, NTOA 25, Fribourg/Göttingen 1993, und: Im Reich der syrischen Göttin. Eine religiös plurale Kultur als Umwelt des frühen Christentums, Studien zum Verstehen fremder Religionen 8, Gütersloh 1994.

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war: Wie konnte er nach seinem Tod neben Gott gerückt werden und den von ihm selbst nachdrücklich vertretenen Monotheismus verändern? Im urchristlichen Ethos entdeckte ich ein Ineinander eines Abwärtstransfers von Oberschichtwerten und eine Öffnung ethnischer Werte für alle Völker. Liebe und Statusverzicht sind die Grundwerte dieses Ethos. Der Ritus stellt in verdichteter Form das Wesentliche dar. Bei den Bildern von Jesus als Opfer Jesu faszinierte mich das Nebeneinander von Gewaltzunahme in der Phantasie bei gleichzeitiger Gewaltreduktion im Ritus, als an die Stelle blutiger Opfer das Abendmahl trat! Ein solcher ritueller Wandel signalisiert am deutlichsten, dass eine neue Religion entsteht. Diese neue Religion gewann in drei Krisen ihre Autonomie: in der judaistischen Krise ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Judentum (im 1. Jh.), in der gnostischen Krise (im 2. Jh.) ihre Eigenständigkeit gegenüber allgemeinen religiösen Symbolsystemen und in ständig wiederkehrenden prophetischen Krisen (zuletzt im Montanismus) ihre Widerstandsfähigkeit gegen alle Anpassungsversuchungen. Höhepunkt ihrer Entstehungsgeschichte ist das Johannesevangelium: Hier reflektiert sie ihre innere Autonomie. Sie begründet sich durch Offenbarung als einer Form von Selbstlegitimation. Die formalen Konstruktionsprinzipien dieser Zeichenwelt beschrieb ich als Axiome und Grundmotive des Glaubens – eine Idee, die ich D. Ritschl verdanke: „Implizite Axiome“ steuern als regulative Prinzipien die religiöse Sprache.117 Sie sind die Grammatik religiöser Zeichensprachen. Sie sind zugleich das, was in ihnen einen evolutionären „Anpassungswert“ hat und das Erleben der äußeren Wirklichkeit organisiert. Aber sie sind m.E. mehr als Anpassung an die faktische Wirklichkeit durch Trial and Error, sondern auch Ausdruck einer „transzendentalen“ Aktivität, mit der Kategorien für jede mögliche Welt entworfen werden. Für diese Zeichenwelt schlug ich die Metapher einer „semiotischen Kathedrale“ vor, d.h. einer Kathedrale, die nicht aus Steinen, sondern aus Zeichen erbaut wurde: aus Texten, Bildern, Riten und Verhaltensweisen. Sie ist wie alle Kathedralen ganz und gar von Menschen gemacht, aber man versteht sie nur, wenn man weiß, dass sie gemacht wurde, um Gott zu verehren. Grundaxiome der zweigeteilten Bibel sind für das Alte Testament der Monotheismus, für das Neue Testament der Glaube an einen Erlöser: die Christologie. Eines der großen Rätsel des Urchristentums ist, wie mit Christus eine zweite Gestalt neben Gott treten konnte, ohne dass das als eine Verletzung des Monotheismus erlebt wurde. Ich sah in dieser Erhöhung eines Menschen zu Gott einen Ausdruck monotheistischer Dynamik: So wie ————— 117

D. Ritschl, Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte, München 1986, 147–166.

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JHWH im Exil nach einer Niederlage auf Erden zum alleinigen Sieger im Himmel aufgestiegen war, so wurde auch jetzt die „Niederlage“ der Kreuzigung durch die Erhöhung des Gekreuzigten kompensiert. Die christologische Modifikation des Monotheismus wurde auch dadurch erleichtert, dass das monotheistische Grundbekenntnis Israels in der LXX als Bekenntnis zu dem „einen Gott“ (GKLSGQL) formuliert worden ist, nicht zu dem „einzigen Gott“ (OQPQLSGQL). Seit Xenophanes ist die griechische Tradition, vom „einen Gott“ zu sprechen, mit einem milden Polytheismus vereinbar, während die Formel vom „einzigen Gott“ exklusiv ist. Es ist kein Zufall, dass im Neuen Testament die letzte Formel zurücktritt. So das Ergebnis einer Dissertation von Darina Staudt: „Heis theós und mónos theós. Monotheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden“ (2008).118 Neben diesen einen Gott trat Jesus. Die Erzählung vom gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn, die die Rolle des Mythos im Urchristentum einnimmt, rückt in den Mittelpunkt der semiotischen Kathedrale des Urchristentums. Ich schlug vor, bei Paulus zwischen dem Kreuz als Sühne und Ärgernis zu unterscheiden. Die Sühnedeutung seines Todes ist für moderne Menschen anstößig, weil wir es ablehnen, Schuld auf andere zu übertragen; in der Antike war sie dagegen kulturkonform. Sofern das Kreuz dagegen ein Ärgernis war, weil es die tiefste Erniedrigung bedeutete, wurden in der Antike alle Maßstäbe der Welt in Frage gestellt. Von einem Sterben für andere ist in diesem Zusammenhang (1Kor 1,18ff; Phil 2,5ff) nicht die Rede. Diese Deutung war damals ein echtes Ärgernis; in der Gegenwart aber ist sie kulturkonform, denn die Moderne stellt immer wieder ihre Werte auf den Kopf. Obwohl viele Theologen die Deutung des Kreuzes als „Sühne“ entfernen oder minimieren, versuchte ich, dieses Bild so zu interpretieren, dass es auch unter modernen Prämissen akzeptiert werden kann: Menschen bekennen durch dieses Bild, dass sie bereit sind, auf Kosten anderen Lebens zu leben. Sie offenbaren dadurch ihre Barbarei. Die „Sühne“ ist nicht Grund des Heils, sondern Aufdeckung unseres Unheils, also nicht causa salutis, sondern causa cognitionis, die dem Menschen sein Unheil vor Augen führt.119 Nicht die Sühnedeutung ist daher zu überwinden, sondern die ihr zugrunde liegende Bereitschaft, andere für sich sterben zu lassen. Ein gutes Gewissen für diese Neuinterpretation gab mir die Beobachtung, dass für Paulus das Kreuz nur zusammen mit seiner Überwindung in der Auferstehung Heil begründet. Gott schafft nicht Heil durch Töten, sondern durch Überwindung des Todes. ————— 118

Diese Arbeit erscheint in der Reihe NTOA ca. 2011. G. Theissen, Das Kreuz als Sühne und Ärgernis. Zwei Deutungen des Todes Jesu bei Paulus, in: D. Sänger (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 427–455. 119

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Dieses Zentrum der neutestamentlichen Botschaft von der erlösenden Wirkung des Todes Jesu und seiner Auferstehung wird im Ritus inszeniert. Ritualtheoretische Überlegungen hatten mich gelehrt: Jeder Ritus steht in Spannung zur Alltagswelt und setzt deren Normen außer Kraft oder stellt sie im Grenzfall auf den Kopf, indem das, was sonst Tabu ist, in symbolischer Weise ausagiert wird. Die urchristlichen Sakramente deutete ich als Inszenierung von Tabubrüchen, das Abendmahl als symbolischen Kannibalismus, die Taufe als symbolischen Suizid.120 Das war wohl die „steilste“ Theorie, die ich je zur Diskussion gestellt habe. Aber ich konnte mit dieser Deutung eine Abendmahlsliturgie entwerfen und praktizieren, ohne je damit Anstoß zu erregen. An der Weiterentwicklung dieser ritualtheoretischen Deutung der Sakramente arbeite ich noch immer: Die Sakramente enthalten drei Sinnschichten, zunächst einen sozialen Sinn, indem sie Zugehörigkeit signalisieren und durch kostenaufwändige Teilnahme deren Aufrichtigkeit versichern; ferner einen ethischen Sinn, indem sie auf die beiden zentralen Grundwerte, in der Taufe auf Freiheit, beim Abendmahl auf Solidarität, verpflichten; schließlich einen soteriologischen Sinn, indem sie Vergebung allen anbieten, die an diesen Grundwerten gescheitert sind.121 Auch wenn viele Beteiligte an Ritualen nur den sozialen Sinn teilen, soll man an deren tieferen symbolischen Sinn festhalten. Er wird in modernen Ritualtheorien unterschätzt. Erst nach Abschluss meiner Arbeit an einer Theorie der urchristlichen Religion entdeckte ich durch den ungarischen Neutestamentler István Czachesz den Wert, den die kognitive Religionswissenschaft für eine systematische und evolutionäre Erforschung der Religion bringt.122 Deren naturalistische Sicht der Religion leugnet zwar das „Übernatürliche“, aber sie sagt auch: Religion ist nichts „Unnatürliches“. Sie weist die Religionskritik von Marx, Freud und Durkheim zurück. Die Religion führt sie auf die natürliche ————— 120

G. Theissen, Ritualdynamik und Tabuverletzung im urchristlichen Abendmahl, in: D. Harth/G. J. Schenk (Hg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004, 275–290; ders., Sakralmahl und sakramentales Geschehen. Abstufungen in der Ritualdynamik des Abendmahls, in: M. Ebner (Hg.): Herrenmahl und Gruppenidentität, Quaestiones Disputatae 221, Freiburg 2007, 166–186; G. Theissen, Der Sinn des Abendmahls. Zehn Thesen und eine Abendmahlsliturgie, Pastoraltheologie 93 (2004), 352–360. 121 G. Theißen, Vom Zauber der Rituale. Ist eine protestantische Ritualkultur möglich?, in: F Lienhard (Hg.), Feste in Bibel und kirchlicher Praxis, Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 16, Berlin 2010, 43–60. 122 Vgl. u.a. I. Czachesz, The Gospels and Cognitive Science, in: A. A. MacDonald, M. W. Twomey and G. J. Reinink, eds., Learned Antiquity: Scholarship and Society in the Near-East, the Greco-Roman World, and the Early Medieval West, Leuven, 2003, 25–36; ders., The Transmission of Early Christian Thought, Toward a Cognitive Psychological Model, Studies in Religion 36 (2007), 65–84; ders., Kontraintuitive Ideen im urchristlichen Denken, in: G. Theissen/P.v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben, 197–208.

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kognitive Ausstattung des Menschen zurück, weder auf eine unterdrückte Klasse noch auf neurotischen Zwang noch auf die Macht der objektiven Gesellschaft über den einzelnen Menschen. Vielmehr haben sich in einer langen Evolution die religiösen Ideen durchgesetzt, die eine optimale Verbindung von minimalen kontraintuitiven Zügen und intuitiven Ideen darstellen. Durch kontraintuitive Züge zogen sie Aufmerksamkeit auf sich, durch intuitive Züge erlangten sie Nachhaltigkeit. So kann man erklären, warum Paulus mit seiner Theologie des Paradoxes und des Kreuzes zum großen Missionar des Urchristentums wurde.123 Offen bleibt der adaptive Wert der Religion. Die Meinungen dazu sind geteilt: Ist sie ein parasitäres System, das sich schädigend in seinen Gastorganismen verbreitet hat? Oder ist sie der Ausdruck einer evolutionären Weisheit, in der Vorinformationen über eine geheimnisvolle Wirklichkeit kodiert sind, die wir noch immer nicht ganz begreifen?124 In neueren Beiträgen versuche ich, den kognitiven Ansatz durch die ältere Religionsphänomenologie und die zurzeit dominierende Kulturwissenschaft zu erweitern. Während der klassische kognitive Ansatz in religiösen Vorstellungen nur ein Überschreiten von Seinsbereichen innerhalb der Welt sieht, wird m.E. im Schöpfungsgedanken das Sein als Ganzes in Richtung auf das Nichts transzendiert. Mit diesem kognitiven Ansatz kann man die urchristliche Christologie interpretiert. Sie ist in einem evolutionär deutbaren Erleben des Heiligen begründet, das auf der physiognomischen Wahrnehmung der Wirklichkeit basiert, d.h. auf abschreckenden Physiognomien böser Geister und beruhigenden Physiognomien guter Geister. Die religiöse Wahrnehmung des Numinosen stellt eine Balance zwischen beidem dar und führt zu einem Gebanntsein zwischen Abstoßung und Anziehung. In der Christologie wird diese Erfahrung auf einen einzigen Menschen konzentriert: das Tremendum des Gerichts und das Fascinosum der Liebe bilden bei ihm ein Gleichgewicht. Innerhalb dieser Christologie macht der irdische Jesus in seiner Bildersprache das Sein für Gott transparent. Das Kerygma konfrontiert dagegen direkt mit Gott, der aus dem Nichts schafft. Die christologischen Bilder, in denen irdischer Jesus und Kerygma verschmolzen sind, begründen eine durch Liebe und Statusverzicht gekennzeichnete Le————— 123 G. Theissen, Sozialgeschichte und kognitive Religionswissenschaft, Eine Deutung der missionarischen Sozialdynamik des Urchristentums. Alte Texte in neuen Kontexten. Sozialwissenschaftliche Interpretationen zum Neuen Testament, erscheint Stuttgart ca. 2011. 124 Beiträge, in denen ich Ideen der kognitiven Religionswissenschaft aufgegriffen und abgewandelt habe, sind u.a.: G. Theissen, Jesusüberlieferungen und Christuskerygma bei Paulus. Ein Beitrag zur kognitiven Analyse urchristlicher Theologie, in: G. Thomas/A. Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus, FS M. Welker, Leipzig 2007, 119–138; G. Theissen, Cognitive Analysis of Faith and Christological Change, A contribution to a Psychology of Early Christian Religion, in: Changing Minds, Religion and Cognition through the Ages. Groningen Studies in Cultural Change, Groningen, erscheint ca. 2011, 81–101.

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bensform. Rituell wird sie durch Abendmahl und Taufe inszeniert. Legitimiert wird sie durch kontraintuitive Grenzüberschreitungen, die auf eine Macht weisen, die ex nihilo schafft.125 Bei einer evolutionären Deutung der Religion sollte man sich vor der direkten Übertragungen von Modellen aus der biologischen Evolution auf die kulturelle Entwicklung hüten. Die kulturelle Entwicklung verläuft anders als die biologische Entwicklung, aber es gibt Analogien. Der klassische Philologe W. Burkert arbeitet mit solchen Analogien, wenn er die Überlebensfunktion der antiken Religionen in vier Aufgaben sieht: Sie begründen Autorität, sichern Aufrichtigkeit durch den Eid, bewältigen kontingentes Unheil durch Sühnopfer und Heilkulte und sichern die Reziprozität von Gabe und Gegengabe. In Auseinandersetzung mit ihm wies ich darauf hin, dass im Urchristentum all das in Frage gestellt wird: Wer Autorität anstrebt, soll Sklave werden; der Eid wird abgelehnt; die charismatischen Heilungen werden durch das Kreuz relativiert; die Reziprozität von Gabe und Gegengabe wird unterbrochen.126 Aber muss das alles nicht in einer Religion in Frage gestellt werden, die den antiselektiven Imperativ der Kultur so deutlich zum Ausdruck bringt?

8) Arbeiten zur Forschungsgeschichte Dieser antiselektive Imperativ wurde immer wieder verraten, auch in der jüngeren Geschichte von Theologie und Kirche. Ich stieß darauf, als ich im Jahr 2007–2009 Sekretar der Phil.-hist. Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften war und diese ihr 100. Jubiläum feierte. Die Akademie veröffentlichte ein kleines Buch über die zwischen 1933–1945 vertriebenen Mitglieder. Vorbild dafür war ein Gedenkbuch, das ich für die Peterskirche in Heidelberg als Ort des Universitätsgottesdienstes angeregt und redigiert hatte und in dem alle aus der Universität vertriebenen Wissenschaftler seit Gründung der Universität 1386 mit Lebensdaten enthalten sind. Die Akademie umfasste jedoch nicht nur vertrieben Mitglieder, sondern auch solche, die einmal die nationalsozialistische Politik ihrer Vertreibung vertreten hatten. Jeder, der in Freiheit aufgewachsen ist, wird zurückhaltend über die urteilen, die sich in einer Diktatur verbiegen mussten. Aber wie sollen wir —————

125 G. Theissen, Kontraintuitive Bilder. Eine kognitive Analyse der urchristlichen Christologie, erscheint in: EvTh (2011). 126 G. Theissen, Theory of Primitive Christian Religion and New Testament Theology. An evolutionary essay, in: Ch. Rowland/Ch. Tuckett (Hg.), The Nature of New Testament Theology, Oxford 2006, 207–230 = Theorie der urchristlichen Religion und Theologie des Neuen Testaments. Ein evolutionärer Versuch, in: A. Wagner (Hg.), Primäre und sekundäre Religion, BZAW 364, Berlin/New York 2006, 227–248.

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über die urteilen, die sich noch vor 1933 einer menschenfeindlichen Ideologie angeschlossen hatten und die sich nach 1945 einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit entzogen haben – beides unter freien Verhältnissen. In E. Klee: „Das Personallexikon zum dritten Reich“ entdeckte ich über 70 Mitglieder unserer Akademie, die zwischen 1945 und 1978 in die Akademie gewählt worden waren. Zu ihnen gehörte auch der Neutestamentler K.G. Kuhn, der schon 1932 der NSDAP beigetreten war. Weil eine umfassende Aufarbeitung aller problematischen Zuwahlen nicht möglich und von einigen auch nicht erwünscht war, konzentrierte ich mich auf diesen Vertreter meines Faches. Als positives Gegenbeispiel wählte ich G. Bornkamm.127 G. Bornkamm (1905–1990) verlor in der NS-Zeit zwei Mal seine Stelle, weil er zur Bekennenden Kirche gehörte. K.G. Kuhn (1906–1976) versuchte vergeblich eine Professur für „Judenkunde“ mit Schriften, die den Antisemitismus wissenschaftlich begründen sollten, zu erlangen. Er wurde 1954 nach Heidelberg berufen und 1964 auf Vorschlag von Günther Bornkamm in die Akademie gewählt, weil er die Qumranforschung in Deutschland begründet hatte. Über K.G. Kuhns antisemitische Aktivitäten in der NS-Zeit war damals bekannt: Er hatte am 1.4.1933 öffentlich auf dem Tübinger Marktlatz zum Judenboykott aufgerufen. Er beendete am 19.12.1934 seine Antrittsrede als Privatdozent für Orientalistik mit einem Bekenntnis zum Antisemitismus. Er hat in öffentlichen Reden die Kristallnacht 1939 rechtfertigt. Die Rede liegt als Schrift vor: „Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem“ (1939). Nicht bekannt war, dass er 1940 im Warschauer Ghetto in Begleitung eines SS-Offiziers jüdische Archivalien beschlagnahmt hat. Sein Weg in die neutestamentliche Wissenschaft wurde möglich, weil er nach dem Krieg in zwei Spruchkammerverfahren als unbelastet eingestuft wurde. Er widerrief 1951 die Schrift, in der er die Kristallnacht gerechtfertigt hat, weigerte sich jedoch 1968, seine anderen antisemitischen Schriften zu widerrufen, auf die sich noch heute Neonazis im Internet berufen. Er verteidigte sie als wissenschaftliche Arbeiten. In der Tat wollte er den Antisemitismus in der Tat „objektiv“ und „wissenschaftlich“ begründen. Dazu gehörte für ihn auch, dass er (nicht ohne Mut) falschen Vorurteilen gegenüber Juden im Dritten Reich widersprochen hat. Seine Einstellung erinnert an die antike Judenfeindschaft: Juden hätten in der Diaspora die feindselige Haltung gegenüber anderen Völkern auf ihre unmittelbaren Nachbarn übertragen und seien daher voll Feindseligkeit gegenüber anderen. Meine Untersuchung macht wahrscheinlich, dass K.G. Kuhn in der —————

127 G. Theissen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 47, Heidelberg 2009.

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Weimarer Republik als Philosemit begann. Er hatte am Breslauer Rabbinerseminar den Talmud studiert. Seine ersten Schriften sind frei von Antisemitismus. Der Sekretar, der für das Zuwahlverfahren 1964 leitete, der klassische Philologe Franz Dirlmeier, war selbst Abteilungsleiter im SSAhnenerbe in München gewesen. Wenn man zur nationalsozialistischen Politik die Expansion nach Osten, die Eliminierung der Juden aus dem sozialen Leben, die Gleichschaltung der Institutionen, Volksideologie und Führerkult zählt, so fanden sich unter den nach 1945 in die Akademie gewählten Mitglieder allzu viele, die ihre Wissenschaft oder ihre Universitätsämter für diese Ziele eingesetzt haben. Nach dem Krieg bildeten einige von ihnen „Netzwerke des Verschweigens“, die eine offene Auseinandersetzung über ihr Verhalten in der NS-Zeit erschwert haben. Karl Georg Kuhn gehörte zu den wenigen, die sich kritisch zu ihrem Verhalten in der NS-Zeit geäußert haben, aber er hätte nicht durch einen Ehrendoktor der Göttinger Theologischen Fakultät 1955 oder durch Aufnahme in die Akademie 1964 geehrt werden dürfen. Um deutlich zu machen, dass unsere Fakultät auch ganz andere Vertreter dieser Generation umfasst, stellte ich ein Porträt von G. Bornkamm daneben. G. Bornkamm ist mit dem Entmythologisierungprogramm R. Bultmanns verbunden. Dazu entwickelte ich folgende Hypothese, die eine schon von anderen geäußerte Annahme konkretisiert: Das Entmythologisierungsprogramm war m.E. ein Gegenprogramm zum hermeneutischen „Erneuerungsprogramm“ der Deutschen Christen. Die nationalsozialistischen Christen wollten durch Überwindung des Jüdischen, Bultmann durch Interpretation des Mythischen das Christentum erneuern. R. Bultmann widersprach mit seinem Plädoyer für eine Entmythologisierung 1941 dem Nationalsozialismus, als dieser auf dem Höhepunkt seiner Macht war. G. Bornkamm war bei dem Entmythologisierungsvortrag in Alpirsbach anwesend. Er hat zeitlebens dieses Programm verteidigt. Als das Manuskript zu diesem Buch schon beim Verlag war, erhielt ich den Brief einer mir unbekannten Frau. Sie bedankte sich für eine meiner (gedruckten) Predigten. Thema dieser Predigt war der Tod. Ich habe selten ein so positives Echo auf eine Predigt erhalten wie diesen Brief. Am Ende gab sie sich als Tochter von K.G. Kuhn zu erkennen. Von meiner noch nicht erschienenen Publikation über ihren Vater konnte sie nichts wissen. Ich informierte sie darüber in einem langen Brief. Mein Urteil über ihren Vater empfand sie als zu hart, aber sie konnte besser verstehen, warum sie ihren Vater als einen von Problemen und Ängsten belasteten Menschen erlebt hatte. Aus neuen Erkenntnissen nach Veröffentlichung meines Buches erhielt ich den Eindruck, dass in den Akademien nach 1945 einige überdurchschnittlich qualifizierte Wissenschaftler einen Ort fanden, in dem sie ihre Vergangenheit im Schutz akademischer Reputation verdrängen

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konnten. Umso mehr sind Menschen wie G. Bornkamm zu bewundern, der als Rektor 1965 mit einer aufrichtigen Rede eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einleitete.

9) Arbeiten zur praktischen Theologie Immer wieder habe ich gepredigt. Ich nahm mir dazu viel Zeit – weit mehr, als ein Pfarrer für eine Predigt investieren kann. Die Predigt ist eine Herausforderung für die eigene Theologie, für Sprache und Ästhetik. In meinen Predigten finden sich viele meiner Gedanken in einer verständlichen Sprache.128 Viele Ausschnitte aus ihnen wurden in Religionsbüchern für den Unterricht abgedruckt. Meine Homiletik entstand aufgrund eines Missverständnisses. Ich hatte bei einem Gespräch zugesagt, meine Überlegungen zur Predigt in einem (einzigen) Vortrag zusammenzufassen. Die schriftliche Bestätigung dieses Gespräch (durch einen anderen Kollegen) dankte mir dafür, dass ich für eine Studienwoche über die Predigt zugesagt hatte. Daraus wurden einige Vorträge in Fribourg, die als „Le défi homilétique. L'exégèse au service de la prédication“ (1993) veröffentlicht wurden.129 In ihr entwickelte ich den Gedanken, dass Religion eine Zeichenwelt ist, die durch eine Grammatik aus Axiomen und Grundmotiven gesteuert wird. Wenn wir über biblische Texte predigen, erfassen wir intuitiv diese Grammatik der biblischen Zeichenwelt und schaffen aufgrund unserer Regelkompetenz aus dem Geist der biblischen Religion neue Texte. Das erlaubt Freiheit gegenüber dem Bibeltext bei gleichzeitiger Verwurzelung in der biblischen Sprache und Gedankenwelt. Mit dieser Freiheit rechtfertigte ich das Spielen mit biblischen Texten, wenn man sie in der Predigt z.B. abwandelt oder durch erfundene Gestalten kommentiert. Auch gelingt es in dieser Freiheit leichter, Bilder des Textes in verschiedenen Dimensionen fruchtbar zu machen und ihre kosmische, soziale und existenzielle Bedeutung aufzuzeigen. Hat der Prediger die Grammatik der biblischen Zeichenwelt internalisiert, so wirkt er —————

128 G. Theissen, Die offene Tür. Biblische Variationen zu Predigttexten, München 1990 21992, engl. 1991, span., ital. 1993; G. Theissen, Lichtspuren. Predigten und Bibelarbeiten, Gütersloh 1994; engl. 1996; franz. 1996; G. Theissen, Lebenszeichen. Meditationen und Predigten, Gütersloh 1998; engl. 1998; G. Theissen, Erlösungsbilder. Predigten und Meditationen, Gütersloh 2002; G. Theissen, Protestantische Akzente. Predigten und Meditationen, Gütersloh 2008. 129 G. Theissen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994 2 2001; franz. 1994; engl. 1995; chin. 2009. Vgl. ferner: Über homiletische Killerparolen oder die Chancen protestantischer Predigt heute, Praktische Theologie 32 (1997), 179–202; Exegese und Homiletik. Neue Textmodelle als Impulse für neue Predigten, Lernort Gemeinde 17 (1999), 21–26 = U. Pohl Patalong/F. Muchlinsky (Hg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektiven, Hamburg 2001, 55–67.

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glaubwürdig. Sein Leben und seine Identität schwingen in der Predigt mit. Vor allem dient die Aktualisierung der biblischen Zeichenwelt einer Dialogaufnahme mit Gott, auch wenn Gott im inneren Dialog über den Sinn von Welt und Leben anonym immer gegenwärtig ist. Das Predigtwort schaltet sich in diesen verborgenen Dialog ein. Grundgedanken der später entstandenen Theorie der urchristlichen Religion sind in dieser kleinen Predigtlehre im Keim vorhanden. Fast gleichzeitig mit meiner Predigtlehre hatte ich diese Gedanken in einem Beitrag zur Bibeldidaktik formuliert. 1992 war ein „Jahr mit der Bibel“ geplant. Deswegen lud mich die Dekanskonferenz der Badischen Landeskirche 1991 ein, in der Evangelischen Akademie Herrenalb meine Gedanken zur Bibel vorzutragen. Hier skizzierte ich zum ersten Mal meinen Versuch, das „Wesentliche“ der Bibel in einer Reihe von Grundmotiven zu formulieren: die Motive der Schöpfung, der Weisheit, des Wunders, der Umkehr, des Exodus, der Inkarnation, des Glaubens, der Liebe, des Statusverzichts, der Rechtfertigung usw.130 Meine Bibeldidaktik entstand zwar erst zehn Jahre später (2003), geht aber im Grunde auf meine zweite Examensarbeit als Lehrer über „Motivierende Unterrichtsgestaltung“ (1976) zurück.131 Mein Anliegen war es, „zur Bibel zu motivieren“. Die praktische Theologie sah ich oft auf einer Flucht vor den Bibeltexten. In der Predigt werden sie zu Stichwortgebern, im Religionsunterricht spielen sie eine geringe Rolle. Bei der Auswahl der Bibeltexte sollte die Grammatik der biblischen Religion eine wichtige Rolle spielen: Texte, die ihren Grundmotiven entsprechen, sollten für einen exemplarischen Unterricht ausgewählt werden. Weil alle Grundmotive der Bibel Entsprechungen im säkularen Denken haben, erlauben sie den Dialog mit nicht-religiösen Menschen. Da eine Zuwendung zur Bibel meist mit konservativen theologischen Positionen verbunden wird, wollte ich zeigen, dass auch eine liberale Position mit Liebe zur Bibel verbunden sein kann. Ich griff alle großen didaktischen Strömungen auf, den hermeneutischen, problemorientierten und symboldidaktischem Ansatz, rehabilitierte sogar die viel kritisierte Bibeldidaktik der dialektischen Theologie, die evangelische Unterweisung. Sie hatte daran festgehalten: Religiöse Texte haben einen Transzendenzbezug. Ihn soll man im Unterricht zwar nicht durch Predigt herstellen, wohl aber durch eine religionswissenschaftliche Betrachtung der Texte. Leider verweigern sich große Teile der Religionswissenschaft (im Unterschied zur älteren Religionsphänomenologie) heute einer solchen Aufgabe. —————

130 G. Theissen, Die Bibel an der Schwelle zum dritten Jahrtausend n. Chr. Überlegungen zu einer Bibeldidaktik für das Jahr 1992, Theologia Practica 27 (1992), 4–23. 131 G. Theissen, Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003; ital. 2005; kor. 2010; gekürzt engl. 2007.

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Schließlich seien meine wenigen Beiträge zur Diakoniewissenschaft genannt. Sie beschäftigen sich mit der Legitimationskrise des christlichen Hilfsethos. Hilfe wird heute soziologisch als Form von Machtausübung, psychologisch als Selbstausbeutung, biologisch als dysfunktionale Suspension der Selektion kritisiert. Auch wenn man gute Argumente dafür bringen kann, dass sie in sozialen, psychischen und biologischen Systemen funktional sein kann, werden wir nie sicher sein, ob sie im Zusammenhang nicht doch dysfunktional wirkt. Keiner durchschaut den Zusammenhang, in dem er wirkt. Hilfsmotivation erodiert, wenn sie nicht durch die Not von Menschen, die eine unauslöschliche Würde haben, motiviert wird. In Auseinandersetzung mit dieser Legitimitätskrise des Helfens habe ich das urchristliche Hilfsethos anhand der Texte vom barmherzigen Samariter und vom Gericht des Menschensohns gedeutet.132 Der barmherzige Samariter hilft als Fremder, der wenig Macht hat. Er begrenzt seine Hilfe. Und er handelt unabhängig von genetischen Verwandtschaftsbeziehungen. Eine umfassende „Theorie der Hilfe“ habe ich nicht entworfen, aber mich darüber gefreut, dass einige meiner Gedanken in solch einer Theorie aufgegriffen wurden.133 Im Zusammenhang mit der Frage, ob es zur Diakonie der Kirche gehören könnte, Heilgottesdienste zu veranstalten, beschäftigte ich mich auch noch einmal mit den Wundern Jesu. Die ethnologischen Parallelen zu Wunderheilern zeigen, dass man mit Heilungen und Exorzismen Jesu rechnen muss. Das Besondere an den Heilungen Jesu ist, dass Jesus die heilende Macht des Glaubens erkannt hat: „Dein Glaube hat Dich gerettet!“. Das Besondere in den Exorzismen ist, dass er sie eschatologisch als Zeichen dafür deutet, dass die Welt von Dämonen frei sein wird.134 Er war kein moderner Aufklärer, der die Dämonen aus unseren Köpfen vertreiben will, aber er wollte sie aus der Welt vertreiben – und das kommt am Ende auf dasselbe heraus. In unserer Zeit werden Krankheit und Besessenheit freilich anders „konstruiert“ und nach anderen „kulturellen Skripten“ zum Aus————— 132

G. Theissen, Die Legitimitätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter. Ein Versuch, die Bibel diakonisch zu lesen, in: G. Röckle (Hg.), Diakonische Kirche. Sendung – Dienst – Leitung, Neukirchen 1990, 46–76 = V. Herrmann/M. Horstmann, Studienbuch Diakonik. Bad. 1: Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie, Neukirchen-Vluyn 2006, 88–116; G. Theissen, Universales Hilfsethos im Neuen Testament? Mt 25,31–46 und Lk 10,25–37 und das christliche Verständnis des Helfens, Glauben und Lernen 15 (2000), 22–37. 133 Ein Entwurf liegt inzwischen dazu aus unserem diakoniewissenschaftlichen Institut vor: Anika Christina Albert, Helfen als Gabe und Gegenseitigkeit. Perspektiven einer Theologie des Helfens im interdisziplinären Diskurs, Heidelberg 2010. 134 G. Theissen, Die Wunder Jesu. Historische, psychologische und theologische Aspekte, in: W.H. Ritter/M. Albrecht (Hg.), Zeichen und Wunder, BThS 31, Göttingen 2007, 30–52; ders. Symbolisches Heilen in der Nachfolge Jesu. Neutestamentliche Überlegungen zum diakonischen Heilungsauftrag, in: J. Eyrich/Chr. Oelschlägel (Hg.), Diakonie und Bildung, FS H. Schmidt, Stuttgart 2008, 43–67, überarbeitet in: Jesus and his Followers as Healers, Symbolic Healing in Early Christianity, W. Sax u.a. (Hg.), The Problem of Ritual Efficacy, Oxford 2009, 45–65.

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druck gebracht. Um die Krankheitskonstrukte im Neuen Testament zu verstehen, muss man wie Annette Weißenrieder in ihrer Dissertation medizinhistorische Texte der damaligen Zeit heranziehen.135

10) Arbeiten zur Hermeneutik Implizit enthalten alle meine Veröffentlichungen zur praktischen Theologie eine Hermeneutik, von der ich hoffe, dass ich sie einmal zusammenfassend darstellen kann. Eine erste Leitlinie ist für mich ein prinzipieller Pluralismus. Darin teile ich die postmoderne Situation, obwohl mir viele postmoderne Gedanken antimoderne Irrationalismen zu sein scheinen, von denen nichts Gutes zu erwarten ist. Eine zweite Leitlinie ist die Auseinandersetzung mit dem „hermeneutischen Konflikt“ zwischen religionskritischen Auslegungen und einer bewahrenden Auslegung der Bibel (P. Ricoeur) ein Grundzug aller meiner Überlegungen zur Hermeneutik. In einem Kurzvortrag auf dem Wiener Theologentag 1993 skizzierte ich eine pluralistische Methodik: Neben exegetischen Methoden gibt es engagierte Lektüren (wie die kerygmatische und feministische Lektüre der Bibel) und praktische Vermittlungsformen wie das Bibliodrama.136 Auch die wissenschaftliche Exegese zeugt von Engagement: Während die Kerygmatheologie am Glauben orientiert ist, Befreiungstheologie und Feminismus Verbündete für ihre Hoffnung auf eine bessere Welt suchen, kann die wissenschaftliche Arbeit von einer Liebe zum Text um ihrer selbst willen zeugen. Liebe ist hermeneutisch dem Glauben und der Hoffnung überlegen. Sie ist am ehesten für einen Pluralismus der Ansätze und Ergebnisse offen. Sie freut sich über jeden neuen Aspekt in dem von ihr intendierten Gegenstand. Dadurch relativierte ich die Suche nach der einen richtigen Auslegung, nach der una sancta interpretatio. Der Reichtum eines Textes entfaltet sich in vielen mehr oder weniger berechtigten Interpretationen. Auch die eigentliche Hermeneutik konzipierte ich pluralistisch. Texte haben mehrere Sinndimensionen. Zwar wurde der vierfache Schriftsinn des Mittelalters mit Recht durch die Reformation aufgelöst. Im Laufe der letzten Jahrhunderte entstand jedoch im Protestantismus ein neuer vierfacher Schriftsinn:137 durch Kritik des kirchlichen Dogmas im Liberalismus, durch —————

135 A. Weißenrieder, Krank in Gesellschaft. Krankheitskonstrukte im LkEv auf dem Hintergrund antiker medizinischer Texte, Diss. 2001 = Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights of Ancient Medical Texts, WUNT 164, Tübingen 2003. 136 G. Theissen, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 127–140. 137 G. Theissen, Protestantische Exegese. Plädoyer für einen neuen vierfachen Schriftsinn, Sacra Scripta 5 (2007), 164–191.

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Erneuerung des Transzendenzbezugs in der Kerygmatheologie, durch Vertiefung des Lebensbezugs in der Existenztheologie und durch eine ökumenische Erweiterung des Kirchenbezugs in der Gegenwart. Der neue vierfache Schriftsinn besteht im Wissen um eine historisch-kritische, kerygmatische, existenziale und kanonische Dimension des Bibeltextes. Schließlich ist auch der Gegenstand der Bibelwissenschaft pluralistisch: Die Bibel ist eine Bibliothek von Büchern, in denen viele Stimmen zu Wort kommen, die einander widersprechen. Das beginnt mit dem Nebeneinander von Altem und Neuem Testament. Aufgrund meiner reformierten Herkunft stand für mich das Alte Testament gleichberechtigt neben dem Neuen Testament. Den Eigenwert des Alten Testaments habe ich immer verteidigt.138 Man muss mit Liebe an das erinnern, was unsere Vorgeschichte ist. Aber das Alte Testament ist nicht nur dazu da, das Neue Testament vorzubereiten. In ihm wurde der eine und einzige Gott entdeckt. In ihm erklingt das Lob der Schöpfung. In ihm wurde die Nächstenliebe „erfunden“. In ihm liegt über dem irdischen Leben die Verheißung von Freude und Erfüllung – trotz allen Leids. Dem Alten Testament verdanken wir eine Erinnerungskultur, die auch das festhält, was kontrapräsentisch zur Gegenwart ist und teils der Kritik an der Gegenwart, teils ihrer Transzendierung durch Zukunftsbilder dient. Auch das Christentum war von dieser kontrapräsentischen Erinnerung bestimmt, als es am Alten Testament festhielt. 1986 formulierte ich meinen Gedanken der „kontrapräsentischen Erinnerung“ im Rahmen einer Ringvorlesung zum Thema Kultur und Gedächtnis.139 J. Assmann griff den Gedanken in: „Das kulturelle Gedächtnis“ auf.140 Weil zu diesem Thema in Deutschland die Erinnerung an das NS-Reich gehört, formulierte ich im Anhang meines Aufsatzes ein paar Gedanken dazu.141 Lieber wäre mir gewesen, wenn ein eigener Beitrag nur diesem Thema gewidmet gewesen wäre. ————— 138

G. Theissen, Neutestamentliche Überlegungen zu einer jüdisch-christlichen Lektüre des Alten Testaments, in: Kirche und Israel 10 (1995), 115–136; ders., Der Eigenwert des Alten Testaments. Überlegungen eines Neutestamentlers aus reformierter Tradition, in: M. Oeming/W. Boës (Hg.), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS J. Kegler, BVB 18, Münster 2009, 15–28. 139 G. Theissen, Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis, in: J. Assmann/T. Hölscher (Hg.) Kultur und Gedächtnis, stw 724, Frankfurt a.M. 1988, 170–196. 140 J. Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, 24. 141 Sie erschienen auch gesondert in: G. Theissen, Kultur und Gedächtnis als ethische Aufgabe, in: M. Wermke (Hg.): Die Gegenwart des Holocaust. ‚Erinnerung‘ als religionspädagogische Herausforderung, Münster 1997, 15–22.

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Arbeiten zum Neuen Testament 1969–2009

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Das Alte Testament richtet alles auf den einen und einzigen Gott aus. Für das Verstehen von Bibeltexten ist diese kerygmatische Dimension entscheidend. Ihr Transzendenzbezug ist heute das zentrale Problem jeder Hermeneutik, Homiletik und Didaktik. Die Erfahrung Gottes ist in der modernen Welt problematisch geworden. Die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufzuweisen, ist m.E. eine der wichtigsten Aufgaben der Theologie, oder besser der Religionsphilosophie. Mir ist dabei bewusst, dass meine religionsphilosophischen Ideen Gedanken eines Außenseiters sind. Ich unterschied drei Erfahrungen Gottes:142 In Grenzerfahrungen stoßen wir nur indirekt auf ihn, insofern wir mit unserem Erkennen und Handeln scheitern, dabei aber einen deutlichen Widerstand spüren, so dass wir gewiss sind: Wir begegnen hier einem fremden Widerstand und nicht nur uns selbst. In Kontingenzerfahrungen erfahren wir uns und alles Sein als zufällig. Alles könnte auch nicht sein und könnte anders sein, einschließlich unserer selbst. Da wir zur Kontingenz unserer eigenen Existenz unmittelbaren Zugang haben, durchbrechen wir hier die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz: Auch das, was hinter dieser Grenze liegt, hat teil an dem allumfassenden Wunder, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Hier scheint ein Vorhang zu zerreißen. In Resonanzerfahrungen aber wird er transparent: Wir ahnen in der Ordnung der Natur, im Willen zum Leben und in der zwischenmenschlichen Liebe, dass wir nicht allein sind, sondern unser eigenes Leben Antwort auf eine Fülle von Sinn ist, den wir nicht selbst geschaffen haben. Wie aber verhalten sich die biblischen Texte zu solchen Erfahrungen? Die Möglichkeit zu solchen Erfahrungen liegen in uns: Menschen haben kein latentes Bewusstsein von Gott, verfügen aber über Kategorien, ohne die man den Gottesgedanken nicht formulieren kann: Menschen haben einen Sinn für das Unbedingte, wenn sie die Wahrheit der Illusion vorziehen, einen Sinn für Freiheit, wenn sie ihr eigenes Handeln als so kontingent erleben wie die Welt überhaupt, und einen Sinn für Ewigkeit, wenn sie für eine Aussage Geltung beanspruchen: Denn dann gilt sie für n+x Jahre, wenn sie überhaupt gilt. Und wenn sie nicht gilt, ist sie auch in n+x Jahren falsch. Die Bilder der Bibel aktivieren in uns dieses Bewusstsein und machen es durch Bilder (auch Bilder von Gott) kommunikationsfähig.143 Das Wichtigste aber, was biblische Texte in den Menschen schaffen, ist Glauben als ein unbedingtes Vertrauen. Darüber hielt ich Ende 2009 einen Vortrag in einer Vorlesungsreihe im Studium Generale der Universität ————— 142 G. Theissen, Religionsphilosophische Gedanken über „Gott“ und religiöse Erfahrung als hermeneutisches Problem, in: M. Wladika (Hg.), Gedachter Glaube, FS H. Hofmeister, Würzburg 2005, 88–110. 143 G. Theissen, Die Bibel in der säkularen Welt. Biblische Bildersprache zwischen Dichtung und Wahrheit, in: Beiträge pädagogischer Arbeit 24 (2004), 1–18.

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Gerd Theißen: Werkbericht über 40 Jahre

Heidelberg. In ihm ging ich von den drei von L. Wittgenstein beschriebenen religiösen Grunderfahrungen aus: dem Staunen darüber, dass überhaupt etwas existiert; der Erfahrung einer absoluten Geborgenheit und der Erfahrung von Schuld als Ausdruck unserer Freiheit. Ich bezog diese drei Erfahrungen eng aufeinander und zeigte, dass der biblische Glauben im Alten Testament diese Erfahrungen in den Symbolen von Gott als Schöpfer, Vater und Richter zum Ausdruck bringt und im Neuen Testament die unvermeidliche Krise dieses Glaubens im Symbol von Kreuz und Auferstehung: Glaube ist Mut zum Leben, der mit Christus gekreuzigt wird und aufersteht. Er muss sich auch angesichts des Todes bewähren. Dieser ist ein Schattenriss Gottes. Wir treten mit ihm in einen Raum ein, der unendlich und unbedingt ist.144

* Mit all meinen Arbeiten setze ich Traditionen der liberalen Theologie von Lessing bis Albert Schweitzer fort. Ihr Programm ist: Aufklärung in der Religion über die Religion zu schaffen – und nicht gegen die Religion, wie das oft geschieht. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass wir von diesem Ziel weit entfernt sind. Aber ich hoffe, mit meinem Lebenswerk ein wenig zu diesem unvollendeten Projekt beitragen zu können.

————— 144

G. Theissen, Glauben als unbedingtes Vertrauen. Theologische Aspekte, in: Vertrauen; Studium Generale, Heidelberg 2011, 9–39.

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2. Die semiotische Kathedrale des Urchristentums. Zu U. Luz: Der frühchristliche Christusmythos.1

U. Luz knüpft in seinem 2003 zum ersten Mal veröffentlichten Beitrag an mein Bild von der „semiotischen Kathedrale“ der urchristlichen Religion an: Religionen sind aus Zeichen erbaut und vereinen drei Zeichenarten zu einem Bau: Mythos, Ritus und Ethos. Sie sind Kathedralen vergleichbar: Menschen haben sie erbaut, aber sie dienen dem Lob Gottes, mag auch noch so sehr ein menschlicher Machtanspruch mit ihnen erhoben worden sein. In der Gegenwart haben Kathedralen eine Doppelfunktion: In ihnen versammelt sich eine Gemeinde, um Gott zu verehren. Aber viele besuchen sie als Touristen, um sich von der Kühnheit der Konstruktion und der Poesie der Räume beeindrucken zu lassen. Beides schließt sich nicht aus. Wer zu Hause die Kirche besucht, besichtigt im Urlaub oft Kathedralen. U. Luz stellt in seinem Beitrag mit Recht die drei Fragen, ob in meiner Rekonstruktion der semiotischen Kathedrale (1) ihre Pluralität und Entstehungsgeschichte, (2) die narrative Struktur des urchristlichen Zeichensystems und (3) ihre ambivalente Wirkungsgeschichte zu kurz kommen.

1) Pluralität und Geschichte in der semiotischen Kathedrale Auch U. Luz will religiöse Zeichensysteme (oder die christliche Religion) auch für Außenstehende interpretieren – so wie ein guter Pfarrer Touristen sachkundig durch seine Kirche führen kann, ohne sie mit seiner Predigt zu konfrontieren. Er bejaht diese Außenansicht. Das bedeutet wissenschaftlich, dass die bisher hermeneutisch privilegierten Methoden der Textauslegung um religions- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen erweitert werden. Zu diesem Zweck schlägt er einige „Umbauten“ und Erweiterungen in der urchristlichen Zeichenkathedrale vor. Mythos, Ritus und Ethos sollen als ihre wichtigsten Baumaterialien um Gebete, Frömmigkeitsformen, Handlungsimpulse und Gemeinschaftsformen ergänzt werden (S. 32). Das ist inzwischen geschehen. In einem Buch zur Religionspsychologie des —————

1 Vgl. U. Luz: Der frühchristliche Christusmythos. Eine Auseinandersetzung mit Gerd Theißens Verständnis der urchristlichen Religion, zuerst veröffentlicht ThLZ 128 (2003), 1243–1258 = P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 31–50.

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Die semiotische Kathedrale des Urchristentums

Urchristentums2 wurden Mythos, Ritus und Ethos um die Dimension der Erfahrung erweitert und dabei Emotionen, Gebet und Glossolalie, Bekehrungserlebnisse und Glauben behandelt. Der Ritus wurde zu „Ritus und Gemeinschaft“ erweitert, das Ethos zu „Ethos und Praxis“. Die Kathedrale wurde ausgebaut. Aber nicht nur die Baumaterialen dieser urchristlichen Kathedrale muss man sich mannigfaltiger vorstellen, war nicht auch ihre Einwohnerschaft pluralistischer, als sie es in meiner Darstellung zu sein scheint? Müssen wir in ihr nicht auch für Judenchristen, Gnostiker und Montanisten eine kleine Kapelle einrichten? Waren sie nur eine Krise in ihrer Baugeschichte? Gehören sie nicht wesentlich zu ihr? (S. 33f). Dazu ist zu sagen: Nach meiner Konzeption wurden die drei wichtigsten Baumaterialien unserer semiotischen Kathedrale in Krisen getestet und geformt. Die Judenchristen hinterließen bleibende Spuren bei der Ausgestaltung des Ritus, weil sie ungewollt die rituelle Verselbständigung des Urchristentums vorantrieben. Denn der Versuch einer judenchristlichen Gegenmission gegen Paulus, durch Einführung von Beschneidung und Speisegeboten die ersten Christen in das Judentum wieder einzugliedern, scheiterte. Eigene Riten sind in der Religionsgeschichte immer Zeichen und Instrumente der Verselbständigung. Die Gnostiker hinterließen bleibende Spuren in der Gestaltung des Mythos. Die Grunderzählung der ersten Christen wurde irreversibel mit dem einmaligen historischen Jesus verbunden und die Möglichkeit abgewehrt, dass sich die Jesusgeschichte in ein allgemeines symbolisches Geschehen auflöst, das sich immer wiederholt. Das Ethos des Urchristentums wurde in ständiger Auseinandersetzung mit radikalen Strömungen getestet – vom Wanderradikalismus bis zum Montanismus. Alle genannten abweichenden Gruppen waren mehr als „Störenfriede“, ohne sie wäre der Bau anders geworden. Sie hinterließen nicht nur einige „Kratzer“ an der urchristlichen Kathedrale, sondern beeinflussten ihren Bauplan und die eingesetzten Baumaterialien. Dennoch haben sich einige dieser Gruppen nicht auf Dauer durchsetzen können. Die Gnostiker bildeten noch lange einen inneren Kreis in der Gemeinde, ohne sich grundsätzlich von ihr zu trennen, und wurden erst allmählich ins Abseits gedrängt. Manchen fällt deshalb beim Bild der „Kathedrale“ ein, dass sie als Bischofssitz ein Zentrum innerkirchlicher Herrschaft ist. Daher muss man mit Recht fragen: Wurde nicht auch die semiotische Kathedrale des Urchristentums mit Macht erbaut – mit jener Macht, welche die eigenen Positionen zur Orthodoxie erklärt, die der anderen aber zur Häresie? Dabei ist die Orthodoxie in der Regel nur die Häresie, die sich durchgesetzt hat. Wäre also das Bild von einer Katakombe nicht ————— 2

G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007.

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angemessener für die Anfänge des Urchristentums? War es nicht sehr viel mehr eine Untergrundkirche, eine Kirche ohne Macht? Das Urchristentum hatte keine zentralen Herrschaftsstrukturen, keinen Bischof, der sich gegen andere durchgesetzt hatte, keine Synoden, die einen Konsens formulieren konnten. Das Bild von der Kathedrale erlaubt es m.E. dennoch verständlich zu machen, warum sich einiges durchgesetzt hat, anderes aber nicht: Die erkennbaren Konstruktionsprinzipien dieser Kathedrale, d.h. die Axiome und Grundmotive des urchristlichen Glaubens, haben definiert, was in dieser Kathedrale Platz finden kann. Sie lassen für judenchristliche Schriften wie die Logienquelle und die späteren judenchristlichen Evangelien Raum, ebenso für moderate gnostische Schriften ohne satanischen Demiurgen, zu denen auch das Thomasevangelium gehört.3 Die Montanisten sind schon in der alten Kirche nicht als häretisch bekämpft worden. Sie waren keine Provokation für den Glauben, sondern für die Praxis. Ihre Prophetensprüche hätten ohne weiteres in den Kanon aufgenommen werden können, wenn dieser nicht schon weitgehend abgeschlossen gewesen wäre. Grundsätzlich gilt: Der faktische und der virtuelle Bau unserer semiotischen Kathedrale müssen nicht übereinstimmen. Der virtuelle Bau ist reicher als alles, was sich faktisch durchgesetzt hat. Anbauten wären selbst heute noch möglich. Eine stärkere Vertretung mystischer Strömungen (wie sie durch das Thomasevangelium bezeugt sind) wäre z.B. wünschenswert. In meiner Religionspsychologie (2007) habe ich deshalb vor allem die Gnosis positiv besprochen. Sie wird dort als Ausdruck einer Mystik gedeutet, die schon im Urchristentum neben die dominierende prophetische Frömmigkeit trat. Aber es gab Grenzen dafür, wie weit man diese alternative mystische Frömmigkeit damals akzeptieren konnte: Die Infragestellung des Monotheismus durch zwei Gottheiten sowie die Verflüchtigung der Inkarnation (bei Markion und radikalen Gnostikern) zu einer nur scheinbaren Menschwerdung passten nicht mehr in die semiotische Kathedrale des Urchristentums. So blieb die Mystik nur in Form der paulinischen und johanneischen Christusmystik erhalten, die Stimme des Thomasevangeliums aber ging (m.E. unberechtigter Weise) verloren. Die urchristliche Zeichenkathedrale war im Übrigen eine ständige Baustelle. U. Luz fragt mit Recht: Wie verhalten sich dann semiotische und geschichtliche Perspektive zueinander (S. 33)? Metaphern wie die der „Kathedrale“ können in der Tat in die Irre führen. Sie suggerieren einen Bauplan, der von Anfang existierte. Beim Bau des Urchristentums gab es jedoch keinen Bauplan, der von vornherein feststand, auch wenn viele bewusst an einzelnen Teilen bauten. Keiner überschaute das Ganze, keiner ————— 3

G. Theissen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 381–384.

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Die semiotische Kathedrale des Urchristentums

konnte das Ziel vorwegnehmen. Religionen entstehen wie Sprachen ohne Plan und entwickeln trotzdem eine geordnete Struktur oder Grammatik. Ihre Benutzer haben an Einzelteilen sehr bewusst gearbeitet, aber insgesamt sind sie Teil einer Entwicklungsgeschichte, die sie nicht beherrschen und steuern. Wenn einmal bestimmte „Entscheidungen“ gefallen sind (d.h. wenn sich unter mehreren Möglichkeiten eine durchgesetzt hat, ohne dass eine bewusste Wahl zwischen ihnen getroffen worden ist), dann konnte man nur an den inzwischen erzielten Ergebnissen anknüpfen. Ähnlich entstehen Stadtarchitekturen, Kunstgattungen, Institutionen. Die Metapher einer „Baugeschichte“ mit Krisen und Katastrophen, Konflikten und Weggabelungen kann man also beibehalten, wenn man nur festhält: Kein menschlicher Architekt für das Ganze hat in dieser Baugeschichte seine Spuren hinterlassen.

2) Große und kleine Erzählungen in der urchristlichen Zeichenwelt Der größte Teil des Beitrags von U. Luz konzentriert sich auf das zentrale „Baumaterial“ der semiotischen Kathedrale des Urchristentums: auf den Mythos. Man kann auch von der Grunderzählung des Urchristentums sprechen. Charakteristisch für sie ist eine unlösbare Verbindung von Mythos und Geschichte. Übernatürliche Subjekte und eine historische Gestalt sind in ihr verbunden. Den Mythos habe ich unter drei Aspekten behandelt: als konkrete Erzählung, als lebensbestimmende Kraft und als allgemeine Denkstruktur. U. Luz will das Besondere des urchristlichen Mythos in den ersten beiden Bestimmungen sehen: in einer Grunderzählung, die das Leben der ersten Christen bestimmte. Einigkeit besteht darin, dass im Zentrum dieser Grunderzählung eine geschichtliche Person steht: Jesus von Nazareth. Was von ihr nachwirkt, ist vom Mythos durchdrungen. Dadurch wird die Erzählung von ihm zu einer „inklusiven“ Geschichte, die im Leben der Christen real präsent wurde und in der sich die ersten Christen wieder finden konnten; sie formte und verwandelte ihr Leben. U. Luz möchte diese besondere Geschichte nicht als Ausdruck einer allgemeinen anthropologischen Denkstruktur werten, die man entweder als Alternative zum wissenschaftlichen Denken akzeptiert oder als Gegensatz zu ihm entmythologisiert bzw. eliminiert. Aber de facto greift auch er auf allgemeine mythische Denkstrukturen zurück, in diesem Fall auf M. Eliades Auffassung des Mythos als Ursprungsgeschichte. Wenn man sie auf das Urchristentum anwendet, muss man sie nur ein wenig modifizieren: Der Mythos ist für M. Eliade eine grundlegende Geschichte am Anfang der Zeiten, in der die Dinge so geordnet wurden, wie sie für alle Zeit danach waren und sind. Im Urchristentum

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aber wird mitten in der Geschichte von einer solchen grundlegenden Geschichte gesprochen, die die Welt neu gegründet hat. Hier geschieht noch einmal eine „neue Schöpfung“. Was in diesem Geschehen mitten in der Zeit begründet wurde, wiederholt sich immer wieder in der Verkündigung und im Zusammenleben der ersten Christen. Die Ursprungslogik wiederholt sich. Man muss jedoch fragen: Wurden von dieser neuen Schöpfung nicht auch vermeintlich allgemeine mythische Denkstrukturen erfasst? Wurden sie im Urchristentum verändert? Wäre es dann nicht ein Widerspruch in sich, mit allgemeinen Strukturen diese mythisch-geschichtliche Erzählung zu erfassen und zu deuten? Die Suche nach mythischen Denkstrukturen Diese Fragen sind berechtigt. Dennoch sollte man weiterhin die Frage nach allgemeinen Denkstrukturen des Mythos stellen. Die Suche nach ihnen wird wahrscheinlich zu einer allgemeinen Theorie der Religion, wie sie sich in der kognitiven Religionswissenschaft anbahnt, führen. Ein erster Schritt in diese Richtung war für mich die Erkenntnis, dass Widersprüche und Paradoxien ein Leitfaden für die Erforschung der urchristlichen Gedankenwelt sind.4 Ein zweiter Schritt war die „kognitive Religionswissenschaft“,5 die lehrt, solche Widersprüche besser zu verstehen. Einer ihrer Grundgedanken ist, dass in der Religion „natürliche“ kognitive Möglichkeiten des Menschen zum Zug kommen, die in einer langen bio-kulturellen Evolution entstanden sind. In ihr setzte sich durch, was diesen kognitiven Strukturen am besten entspricht. Die Grundannahme ist dabei sehr einfach: Unter allen denkbaren menschlichen Vorstellungen verbreiten sich diejenigen, die dem Gesetz der Kognitionspsychologie genügen, dass sich Menschen an neue Sachverhalte am besten erinnern, wenn sie gegenüber schon Bekanntem abweichen und auffallen, aber nicht so stark, dass nicht eine Verknüpfung mit den schon vorhandenen Einsichten möglich wäre. Optimale Überlieferungsbedingungen haben daher minimale „kontraintuitive“ Vorstellungen in einem Netzwerk „intuitiver Ideen“. Ihre Kontraintuitivität erklärt, dass sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ihr intuitiver Charakter, dass sie auf Dauer akzeptiert werden. Das erklärt, warum die altkirchliche Christologie die mit —————

4 Vgl. G. Theissen, Widersprüche in der urchristlichen Religion. Aporien als Leitfaden einer Theologie des Neuen Testaments, EvTh 64 (2004), 187–200. 5 P. Boyer, Religion Explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought, London 2001; I. Pyysiäinen, How Religion Works. Towards a New Cognitive Science of Religion, Leiden 2001. Zur Anwendung auf das Urchristentum vgl. I. Czachesz, Kontraintuitive Ideen im urchristlichen Glauben, in: G. Theißen/P.v. Gemünden, Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 187–208.

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ihr konkurrierenden gnostischen und judenchristlichen Christologien überlebt hat. Gnostische Christusbilder waren oft doppelt kontraintuitiv. Sie sprachen von einem göttlichen Wesen, das in mehreren Formen erschien, an mehreren Orten zugleich sein konnte und seiner eigenen Kreuzigung zuschaute. Judenchristliche Christologien fehlte diese Kontraintuitivität: Jesus war hier ein „einfacher Mensch“, der in besonderer Weise vom göttlichen Geist erfasst worden war.6 Beide Formen von Christusbildern prägten sich aus entgegen gesetzten Gründen nur wenig ein. Die einen waren zu kontraintuitiv, die anderen zu wenig. Um das zu erklären, muss die Unterscheidung zwischen paradoxen und kontraintuitiven Erscheinungen erläutert werden. Kontraintuitiv ist, was den ontologischen Kategorien eines Seinsbereichs widerspricht oder Kategorien aus einem Seinsbereich in einen anderen überträgt, paradox ist dagegen ein unwahrscheinlicher Sachverhalt ohne Kategorienverstoß. Kontraintuitiv ist z.B. „ein Schrank, der sich nicht erinnert“, paradox „ein Schrank, der 15 Meter groß ist“. Die kognitive Religionswissenschaft analysiert dabei nicht nur Vorstellungen, sondern auch Ereignisse wie Wunder oder den Alltag sprengende Riten. Basiert die vormoderne Heiltätigkeit, zu der wir die Heilungen und Exorzismen Jesu zählen müssen, etwa darauf, dass Menschen die durch Heiler hypnotisierbar und beeinflussbar waren, mehr überlebten als andere – so dass sich auf diesem Wege evolutionär die Gabe verbreitet hat, auf suggestive Heilmethoden anzusprechen? Der unbestreitbare Placebo-Effekt bezeugt noch bei modernen Menschen die heilende Kraft der Suggestion, die sachlich nach unserer Schulmedizin eigentlich nicht berechtigt wäre, wenn man nur die physische Wirkung der Medizin analysiert. Auch der Ritus wird verständlicher: Riten mit geringer Frequenz prägen sich besser dem Gedächtnis ein als ständig wiederholte Riten mit taedium-Effekt. Wir sollten daher m.E. weiterhin nach evolutionär entstandenen, allgemeinen kognitiven Strukturen suchen, welche die Verbreitung von Mythos, Ethos und Ritus des Urchristentums verständlich machen. Gerade ihre kontraintuitiven und paradoxen Züge, etwa die Inkarnation eines Gottes in einem partikularen Menschen und die Kreuzigung des Sohnes Gottes, sichern ihr eine hohe Aufmerksamkeit. Ihre intuitiv einleuchtenden Vorstellungen – wie die Aufwertung des Menschen zwischen Geburt und Grab als potentiellen —————

6 Vgl. meine Versuche in: Jesusüberlieferungen und Christuskerygma bei Paulus. Ein Beitrag zur kognitiven Analyse urchristlicher Theologie in: G. Thomas/A. Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus, FS M. Welker 2007, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007, 119–138; Cognitive Analysis of Faith and Christological Change. A contribution to a Psychology of Early Christian Religion, in: Changing Minds, Religion and Cognition through the Ages. Groningen Studies in Cultural Change, Groningen ca. 2011; Universal and Radical Tendencies in the Message of Jesus, The historical Jesus and the Continuum between Judaism and Christianity, in: T. Holmén (Hg.), WUNT, Tübingen ca. 2011.

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Trägers eines unendlichen Werts (oder eines göttlichen Seins) – sichern ihnen eine nachhaltige Verankerung im Bewusstsein der Menschen. Trotz dieses Festhaltens an allgemeinen mythischen (und religiösen) Denkstrukturen stimme ich in einem wichtigen Punkt den Überlegungen von U. Luz zu: Die neutestamentlichen Erzählungen sind bedeutender als christologische Titel und theologische Gedanken, zumal diese oft nur Abbreviaturen von Geschichten sind. Dennoch sind abstrakte Gedanken und Motive nicht nutzlos. Wenn wir Erzählungen immer wieder neu erzählen, stellt sich die Frage: Was ist eine legitime, was eine illegitime Neuerzählung? Hier ist der Ort, wo alle Erzähler intuitiv nach Axiomen und Grundmotiven suchen, welche die Erzählungen als deren narrative Grammatik steuern. Erfassen wir nämlich deren Grammatik, so können wir kreativ eine angefangene Erzählung in deren Geist weiterführen und neue Erzählungen schaffen, die mit der Ursprungserzählung in wesentlichen Zügen übereinstimmen. Sie enthalten dieselben Axiome und Grundmotive wie die Ursprungserzählung. Sofern diese Erzählungen in unserem Leben präsent sind, leben diese Grundmotive in uns (D. Ritschl). Dennoch bleiben Erzählungen etwas Singuläres. Man kann sie nie in ein „System“ verwandeln. Erst recht gilt das für die Grunderzählung der ersten Christen, die überzeugt waren, mit ihr beginne eine neue Welt. Muss man also hier den Versuch aufgeben, von allgemeinen anthropologischen Strukturen her die Zeichensprache des Neuen Testaments zu verstehen? Die Evolutionstheorie als letzte „große Erzählung“? Dazu ist zu sagen: Eine evolutionäre Sicht der Religion, wie sie der kognitive Ansatz vertritt, bettet die konkrete Erzählung des Urchristentums in die letzte „große Erzählung“ ein, die überlebt hat, die Evolutionstheorie. Wir kennen diese Erzählung immer nur in Ausschnitten, wohl aber die Grundprinzipien, durch die sie vorangetrieben wird. Mutation und Selektion, trial and error, sind die wichtigsten, dazu Isolierung und Austausch sowie die Irreversibilität der Entwicklung. Wenn die Evolution einmal in eine bestimmte Richtung gegangen ist, kann sie nicht mehr „zurückgespult“ werden. Sie baut vielmehr auf dem einmal Entstandenen auf. Ihre narrative Struktur geht daraus hervor, dass sie alle Einzelphänomene in eine zeitliche Reihenfolge einordnet, bei der sie (aufgrund von Mutationen und Austausch von Genen) mit kontingenten Neuanfängen rechnet. Die weitere „Erzählung“ kann nur fortsetzen, was schon begonnen worden ist. Wenn die Würfel einmal so und nicht anders gefallen sind, ist nicht mehr jede Fortsetzung möglich, sondern nur eine begrenzte Zahl von Fortsetzungen. Genau so funktionieren Erzählungen. Sie führen immer wieder kontingent zu Punk-

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ten, von denen aus sie in verschiedene Richtung weiter verfolgt werden könnten; aber wenn einmal eine bestimmte Richtung eingeschlagen wurde, gibt es kein Zurück. Im Rahmen eines evolutionären Verständnisses der Wirklichkeit kann daher theoretisch die Möglichkeit gedacht werden, dass die menschliche Kultur in bleibender Weise auf ein kontingentes Ereignis in der Geschichte zurückgreift und von ihm bestimmt ist: von der Geschichte des Jesus von Nazareth. Man kann zwar nicht beweisen, dass er ein entscheidender Verzweigungspunkt war, durch den alle weitere Entwicklung bestimmt wurde. Aber es ist eine Denkmöglichkeit. Denkmöglich und wahrscheinlich ist auch, dass es neben ihm weitere Verzweigungspunkte gegeben hat. Die Evolutionstheorie unterscheidet sich jedoch in einem Punkt von allen bisherigen „großen Erzählungen“: Sie bietet keine Sinngebung des Geschehens, die Bibel bietet dagegen bis heute einen umfassenden narrativen Rahmen mit einer Zielrichtung und einer Aufgabe für den Menschen. Sie enthält eine „Geschichtstheologie“. Gott offenbart sich in den Ereignissen der Geschichte. Zwar ist es ein Missverständnis dieses biblischen Geschichtsverständnisses, wenn man ihm eine vorgegebene Teleologie zuschreibt, als liege ihr ein unveränderbarer göttlicher Plan zugrunde, der alles zu einem guten Ende führt. Die biblische Heilsgeschichte ist vielmehr eine Dialoggeschichte zwischen Mensch und Gott, bei der offen ist, wie sie jeweils weiter geht. Durch jeden dialogischen Akt kann sie sich verändern. Aber dennoch lebt sie von einem Vertrauen, dass Gott alles zu einem guten Ende führen wird. Daher finden wir hin und wieder in der Bibel Andeutungen eines göttlichen Plans (z.B. Dan 2). Geschichtstheologie ist heute suspekt. Die deutschen Christen meinten einst, Gottes Handeln werde in der deutschen Geschichte besonders sichtbar: in der Reformation und in der Gegenwart als „nationale Erneuerung“.7 Viele Theologen aus der Lutherforschung haben sich auf diesem nationalistischen Irrweg verlaufen. Ihre Geschichtstheologie wurde diskreditiert und hat den deutschen Protestantismus in seine größte Krise geführt. Nach dem Krieg dauerte es eine Weile, bis eine neue Geschichtstheologie unter dem Einfluss der alttestamentlichen Theologie Gerhard von Rads konzipiert wurde – jetzt nicht mehr als National-, sondern als Universalgeschichte.8 In ihr ist die Geschichte des Jesus von Nazareth der Schlüssel zur Geschichte, weil seine Auferstehung eine „Prolepse“ des Ziels der ganzen Geschichte sei. Wie man einen Text erst ganz verstehen kann, wenn man ihn bis zum —————

7 Der Karl Holl-Schüler H. Rückert veröffentlichte 1933 eine Schrift mit dem Titel: „Das Wiedererwachen reformatorischer Frömmigkeit in der Gegenwart“ und meinte damit einen vom Nationalsozialismus ergriffenen Protestantismus. 8 Vgl. W. Pannenberg (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961.

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Ende gelesen hat, so werde von diesem vorweggenommenen Endereignis her die ganze Geschichte verständlich, mag sie auch im Einzelnen dunkel bleiben. In diese Neukonzeption einer Geschichtstheologie wurde die Geschichte der Natur nicht einbezogen, obwohl eine wirklich universalgeschichtliche Sicht auch sie umfassen müsste. Im Rahmen eines umfassenden evolutionären Wirklichkeitsverständnisses gibt es jedoch kein vorgegebenes Ziel – es sei denn eine „Anpassung“ an die Grundbedingungen der Wirklichkeit, die allen Dingen und Lebewesen vorgegeben ist; denn nichts kann ohne ein gewisses Maß an Anpassung überleben. Man kann das als „inneres Ziel“ der Evolution ansehen, das in einzelnen Erscheinungen schon mitten in der Zeit und nicht erst an ihrem Ende erreicht wird. Gleichzeitig gibt es innerhalb eines evolutionären Wirklichkeitsverständnisses einzelne Punkte, durch die die Entwicklung irreversibel in eine bestimmte Richtung geht. Die Frage ist: War Jesus von Nazareth ein solcher Entscheidungspunkt? Wurde in ihm etwas sichtbar, das mit der letzten Wirklichkeit besser übereinstimmt als alles, was wir bisher kannten? Wurde in ihm das „innere Ziel“ der Evolution schon erreicht? Hier sei noch einmal der große Unterschied zwischen den „großen Erzählungen“ der Vergangenheit und der modernen Evolutionstheorie betont. Die Heilsgeschichte der Bibel, der Fortschrittsglaube der Aufklärung, die Selbstentfaltung des Geistes im Idealismus oder der Weg zur klassenlosen Gesellschaft im Marxismus – alle diese großen Erzählungen bieten eine Sinngebung der Geschichte. Worauf sie hinsteuert, ist vorgegeben. Der Mensch muss sich nur noch in diese Geschichte einreihen. Das ist bei der Evolutionstheorie grundsätzlich anders: Sie kann nur erzählen, was faktisch geschehen ist, sagt nichts über das Ziel dieser Entwicklung. Im Gegenteil, sie erklärt den Schein einer Teleologie durch das Zusammenspiel von Mutation und Selektion, von trial and error, und entzaubert so die Welt. Aber sie kann die Entstehung eines homo sapiens verständlich machen, der nach Sinn und Wert fragt. Es könnte einen hohen Überlebenswert haben, wenn Menschen für sich und ihre Gruppen von Sinn und Wert überzeugt sind. Aber die Evolution selbst lässt eine Leerstelle. Es gibt in ihr in dieser Welt keinen vorgegebenen Sinn. Jesus kann zwar theoretisch ein Neuansatz in der kulturellen Evolution sein, aber er kann nur in dem Sinn die Antizipation des Endes bedeuten, dass er die Leerstelle des Sinnes neu füllt, ohne zu garantieren, dass sich dieser Sinn universal durchsetzt. Er erfüllt diese Leerstelle dadurch, dass er wie das Erreichen des inneren Ziels der Evolution erscheint: als Entsprechung zu ihren unbekannten Grundbedingungen, an die sich alles anpassen muss. Es geht daher eine durch keine Theorie abgedeckte Wertung in meine Aussage ein, wenn ich sage: Jesus war ein singulärer Neueinsatz und ein Aufscheinen des „inneren Ziels“ der Evolution. Auch in der Religion gibt

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Die semiotische Kathedrale des Urchristentums

es analog zu „Mutationen“ in der biologischen Evolution Kopierabweichungen beim Überliefern, es gibt Neukonstellationen und Vermischungen – und sie bringen manchmal etwas Neues hervor. Das Neue im Urchristentum meine ich, in einem „antiselektiven Ethos“ gefunden zu haben. Es ist nicht radikal neu; denn absolut Neues gibt es in der Evolution nicht. Das antiselektive Ethos des Urchristentums macht vielmehr ein Element jeder kulturellen Evolution bewusst: die Überwindung von Selektionsdruck, um die sich Menschen schon immer mit kulturellen Mitteln bemüht haben. Es rückt diese Überwindung von Selektionsdruck in den Mittelpunkt der Religion, verpflichtet Menschen auf sie und gibt ihnen die Kraft zur Umkehr, wenn sie diese Verpflichtung missachten. Sie gibt damit einen Maßstab, an dem sich alle messen lassen müssen. Alle werden gefragt, was sie „den Geringsten unter meinen Brüdern“ getan haben: wie sie den Hungernden, Durstenden, den Frierenden, den Kranken, Heimatlosen und Gefangenen geholfen haben. Daher muss eine Religion wie das Christentum sich immer wieder auf diesen „singulären Neueinsatz“ besinnen und auf seine kontingente Geschichte zurückgreifen. U. Luz hat sich in einem beeindruckenden Plädoyer für „kleine MetaErzählungen“ nach dem Ende der großen Erzählungen ausgesprochen9 und betont: „Aber wir brauchen sie nicht in der Gestalt von beherrschenden und manchmal versklavenden Ideologien und Systemen. Vielmehr brauchen wir sie in der Gestalt von Visionen, von Geschichten, Träumen, Gebeten und Fragezeichen. Sie können nicht universale Gültigkeit beanspruchen, sondern sie sind zunächst individuell, darüber hinaus vielleicht regional, bestenfalls kontextuell und an einen bestimmten, ambivalenten und individuell gestaltbaren Lebensraum gebunden. Wir haben solche ‚Meta-Erzählungen‘ nötig für unsere Identitäts-Diskurse ...“.10 Die Bibel ist ihm ein Modell für kleine Meta-Erzählungen. Denn sie ist in sich eine vielfarbige Bibliothek. Und keiner hat heute die intellektuelle Macht, aus ihr eine große MetaErzählung zu formen, und keine Kirche hätte die soziale Macht, sie durchzusetzen. Meine Vision ist, dass man die Geschichte der Religionen und der Bibel dennoch in den großen Rahmen der Evolutionstheorie einzeichnet – also in einen Rahmen, der von der Bibel selbst nicht vorgegeben ist, der aber unseren Überzeugungen entspricht. In diesem Rahmen bleibt die hermeneutische Selbstbegrenzung durch Absage an die „großen Erzählungen“ sinnvoll: Die Evolution sagt uns nicht, welche Rolle wir in ihr spielen sollen – außer der, dass sie uns mit der Fähigkeit geschaffen hat, nach dieser Rolle —————

9 U. Luz, Postmoderne Bibelinterpretation? Interpretation der Bibel in der Postmoderne, FZPhTh 56 (2009), 403–422. 10 U. Luz, Postmoderne Bibelinterpretation?, 420.

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zu suchen. Sie enthält einen Hohlraum, den wir selbst füllen müssen. Wir füllen sie mit „kleinen Meta-Erzählungen“ aus, die sich selbst relativieren. Die Fähigkeit, diese „kleinen Meta-Erzählungen“ schaffen zu können, ist aber in der letzten großen Erzählung verankert, die wir kennen: in der Evolution. Was sich nämlich in ihr als adaptiv herausgestellt hat, ist ein Netzwerk von vielen Axiomen und Grundmotiven, die in kleinen Geschichten konkretisiert werden. Schon wenige dieser Geschichten sind genug, um das Ganze zu erfassen. Für den antiselektiven Imperativ reichen Erzählungen wie die vom Überleben der Sintflut, von der Fürbitte Abrahams für Sodom, vom Verzeihen Josephs, vom Exodus der vom Kindermord bedrohten Israeliten – bis hin zur Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wir brauchen diese kleinen Geschichten, denn die „großen Erzählungen“ drohen immer wieder, intolerant zu werden. Wie aber können wir das verhindern?

3) Intoleranz und Toleranz des biblischen Glaubens U. Luz fragt mit Recht: Wird in meinem Bild von einer attraktiven „semiotischen Kathedrale“ nicht deren ambivalente Wirkung ausgeblendet? Der Geschichts-Mythos des Urchristentums soll Menschen verwandeln und ergreifen, aber werden als Kontrast dazu Juden und Heiden nicht in unerträglicher Weise im Neuen Testament negativ gezeichnet? Der Antijudaismus ist zweifellos eine Geburtsnarbe des Urchristentums. Wir haben im Neuen Testament einige „vergiftete Texte“, die wir historisch-kritisch so deuten müssen, wie wir sie im Neuen Testament vorfinden – unabhängig davon, ob wir ihre Aussage akzeptieren können. Aber wir sind verpflichtet, die Wirkung dieser Texte stillzulegen und müssen die Kathedrale notfalls „umbauen“, wenn sie heute noch benutzbar sein soll. Wir müssen sie vor allem als eine Konstruktion begreifen, die auf dem Boden des Judentums entstanden ist. Selbst die Tendenz zu einem christologischen Monotheismus ist Ausdruck einer genuin jüdischen, monotheistischen Dynamik.11 Dasselbe gilt für die Abgrenzung zum Heidentum, die jüdisches Erbe ist. Sie ist durch den Monotheismus und seine Ablehnung des Polytheismus bedingt. Mit Recht wird heute gefragt: Stoßen wir bei diesem jüdischen Erbe nicht immer auf einen Dualismus von Wahrheit und Irrtum, Erwählten und Verworfenen, Gläubigen und Ungläubigen? Der Universalismus des christlichen Glaubens ändert nichts daran, sondern verschärft das Problem, wie U. Luz mit Recht betont: Wenn der eine Kyrios auf die ganze Menschenwelt —————

11 Ich habe das noch einmal in einem R. Rendtorff gewidmeten Beitrag dargestellt: Monotheistische Dynamik im Neuen Testament. Der Glaube an den einen und einzigen Gott und die neutestamentliche Christologie, KuI 20 (2005), 130–143.

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Die semiotische Kathedrale des Urchristentums

seinen Anspruch erhebt, wird jeder alternative Glauben erst recht abgelehnt. Die semiotische Kathedrale ist zwar für die ganze Menschheit offen, aber auf ihr scheint ein Warnschild zu stehen: Wehe dem Menschen, der sie trotz dieser Einladung nicht betreten will! Ist das Neue Testament also notwendigerweise intolerant? Als Spitzenaussagen seiner „Intoleranz“ gelten Apg 4,12: „In keinem andern ist das Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden“, ferner Joh 14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben: niemand kommt zum Vater denn durch mich“, oder das universale Bekenntnis aller Wesen zu dem einen Kyrios Jesus Christus im Philipperhymnus (Phil 2,11). Aber in eben dieser Christologie liegt ein großes Toleranzpotenzial. Christus ist Urbild dafür, dass sich ein unbedingter Anspruch durch Verzicht auf Macht durchsetzt. Gott offenbart sich in Krippe und Kreuz: in der Hilflosigkeit eines Kindes und in der Entrechtung eines Hingerichteten. Intoleranz benutzt Macht und Gewalt. Hier aber offenbart sich die größte Macht im Himmel und auf Erden durch Verzicht auf ihre Macht. Dem entspricht Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft: Die Herrschaft Gottes setzt sich in ihr nicht mit Gewalt durch, sondern wächst so zwanglos wie der Same, der zur Frucht reift. Dazu passen die Gebote der Feindesliebe und des Gewaltverzichts. Wie aber gehen wir mit den „intoleranten“ Texten um? Die Aussage: „In keinem andern ist das Heil“ (Apg 4,12), steht in einer Predigt, die zur Umkehr ruft. Bei Lukas definiert Jesus seine Sendung zusammenfassend als Ruf zur Umkehr, wenn er sagt: „Ich bin gekommen, die Sünder zur Umkehr zu rufen und nicht die Gerechten“ (Lk 5,32). Der Absolutheitsanspruch Christi ist ein Absolutheitsanspruch der Umkehr. Sie wird unbedingt gefordert. Ohne sie kommen Menschen nicht zum Heil. Der Glaube an die Umkehr des Menschen aber ist ein Glaube an seine Freiheit. Er sagt, dass der Mensch nicht auf das festgelegt ist, was er einmal geworden ist. Er kann sich bis zuletzt vom Bösen abwenden. Das Lukasevangelium hat diesen Gedanken in einer beeindruckenden Szene am Kreuz gestaltet. Zwei Räuber werden mit Jesus gekreuzigt. Einer verspottet Jesus, der andere kehrt um (Lk 23,39–43). Umkehr ist Selbstkorrektur und verwirklicht den Grundwert der Freiheit. Diesen Weg der Umkehr müssen alle Religionen und Überzeugungen gehen. Der zweite Text ist Jesu Wort im Johannesevangelium: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben: niemand kommt zum Vater denn durch mich!“ (Joh 14,6). Hier ist zu fragen: Was ist das für ein Weg und für ein Leben? Im 1. Johannesbrief wird der Weg konkretisiert: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinüber geschritten sind; denn wir lieben die Brüder“ (Joh 3,14). Der Weg, auf dem die Christen vom Tod zum Leben schreiten sollen, ist der Weg der Liebe. Das aber heißt: Der Absolutheitsan-

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Zu U. Luz: Der frühchristliche Christusmythos

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spruch Jesu ist ein Absolutheitsanspruch der Liebe. Die Liebe steht für den zweiten menschlichen Grundwert. Für diesen Weg der Liebe darf man auch in einer pluralistischen Gesellschaft Absolutheit fordern. Der dritte Text ist das universale Bekenntnis aller im Himmel, auf Erden und unter der Erde zu dem einen „Kyrios Jesus Christus“ (Phil 2,11). Wir müssen auch dieses Bekenntnis im Zusammenhang des ganzen Philipperhymnus lesen: Hier wird ein gottgleiches Wesen besungen, das auf seine Gottgleichheit verzichtete, um menschliche Gestalt anzunehmen, das dann durch hingerichtet und als Kyrios über alle anderen Mächten und Gewalten inthronisiert wurde. Dieser Mythos mahnt zum Statusverzicht in der Gesellschaft – so wie der Präexistente auf seinen Status verzichtete. Er ermutigt zur Annahme der eigenen Endlichkeit – so wie der Kyrios menschliche Endlichkeit angenommen hat. Aber er zielt über solch eine Ethik des Statusverzichts und der Selbstannahme hinaus auf eine viel grundsätzlichere Annahme der Wirklichkeit: auf ein Bekenntnis zu Gott und der Wirklichkeit in ihrer Totalität – im Himmel und auf Erden, in Gegenwart und Zukunft, unter Juden und Heiden, unter Toten und Lebenden. Paulus hat die Zuversicht: Gerade der Gott, der in Christus Mensch geworden ist, wird von allen anerkannt werden. Wir hören nichts von Menschen, die ihm nicht zustimmen, nichts von Dämonen und Mächten, die vernichtet werden. Man könnte sagen: Das sei extrem tolerant. Alle werden gerettet. Keiner wird verworfen. Andere werden sagen: Das ist extrem intolerant. Denn diese universale Rettung wird durch eine Person vermittelt: durch Jesus Christus. Freilich muss man hier an etwas Elementares erinnern: Wenn wir etwas für wahr halten, setzen wir voraus, dass es universale Zustimmung finden kann, sofern alle Hindernisse wegfallen, es anzuerkennen. Deshalb ist ein Wahrheitsanspruch an sich nicht intolerant, intolerant sind nur Wahrheitsansprüche, die mit Macht und Gewalt durchgesetzt werden. Der Philipperhymnus ist ein Gegenbeispiel zur Durchsetzung von Wahrheit mit Gewalt. Er sagt: Die höchste Macht im Himmel und auf Erden verzichtet auf ihre Macht. Sie setzt sich nicht mit Zwang durch, sondern dadurch, dass sie sich mit einem Opfer von Gewalt identifiziert. Der Weg des Status- und Machtverzichts ist Teil des von ihr vertretenen Wahrheitsanspruchs. Seine Durchsetzung kann erhofft, aber nicht erzwungen werden. Wird sie erzwungen, so gibt sich diese Wahrheit selbst auf und wird zur Unwahrheit. Man kann das in folgendem Bild zum Ausdruck bringen: Wenn einmal die himmlische Akademie der Wissenschaften alles prüfen wird, was Menschen gedacht haben, um es in einer Enzyklopädie der Wahrheit zusammenzutragen, dann werden viele Texte aufgenommen werden: Texte aus dem Koran, aus den buddhistischen Sutren, aus Immanuel Kant und Karl Marx (ich weiß nur nicht welche). Ich bin zuversichtlich, dass die besten Texte der Bibel aufgenommen und einige der vergifteten Texte in ihr weg-

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Die semiotische Kathedrale des Urchristentums

gelassen werden. Die ausgewählten Texte werden universale Zustimmung finden. In ihrem Zentrum steht die Person Jesu. Sie vertritt einen Weg der Gewaltlosigkeit – auch in der Verbreitung der Wahrheit. Was sie an Wahrheit vertritt und verkörpert, wird dann mit allen anderen Wahrheiten vereinbar sein, auch wenn wir das jetzt nicht sehen. Denn wir gehören nicht zur himmlischen Akademie der Wissenschaften. Die „intoleranten“ Aussagen des Neuen Testaments beziehen sich also auf den Weg der Umkehr, der Liebe und der Wahrheit. Sie insistieren auf den Grundwerten der Freiheit zur Umkehr, der Liebe zum Nächsten und der universalen Wahrheit. Freiheit, Liebe und die Suche nach der Wahrheit müssen gegen Intoleranz verteidigt werden. Ihr Geltungsanspruch muss „intolerant“ gegen Widerspruch vertreten werden, darf aber nur „tolerant“ durchgesetzt werden. Das Urchristentum arbeitet wie alle anderen humanen Strömungen hier an einer Aporie des Menschseins: Wir müssen intolerant gegenüber Intoleranz sein, dürfen ihr gegenüber aber nicht alle Mittel einsetzen. Das Neue Testament verpflichtet zu einem gewaltfreien Vorgehen. Die Grundfigur seiner mythisch-geschichtlichen Grunderzählung ist: Das Unbedingte setzt sich im Bedingten ohne Gewalt durch.

* U. Luz Beitrag ist für mich sehr wertvoll, weil er die narrative Grundlage des urchristlichen Glaubens in einer aus Geschichte und Mythos untrennbar zusammengesetzten „Grunderzählung“ in den Mittelpunkt stellt. Will man diese Grunderzählung in einer umfassenderen „Systematik“ einordnen, so geht das nur im Rahmen evolutionstheoretischer Überlegungen: Auch sie rechnen mit einem einmaligen, kontingenten, dann aber für alles Weitere entscheidenden Ereignis. Sie können m.E. die Bindung des Glaubens an ein geschichtlich kontingentes Ereignis verständlich machen und dem Geschichtsbezug des christlichen Glaubens eine Begründung geben. Sie können argumentativ zeigen, warum es vernünftig sein kann, sich an ein konkretes geschichtliches Ereignis zu binden, auch wenn die Entscheidung für dieses und kein anderes Ereignis, für diese und keine andere Person immer nur nachträglich erläutert, aber nicht zwingend begründet werden kann.

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3. System und Konflikt im Urchristentum. Zu H. Räisänen: Eine Kathedrale aus dem Chaos?1

Heikki Räisänen hat mit kritischer Sympathie meinen Entwurf einer „Theorie der urchristlichen Religion“ dargestellt und mit Recht einen Widerspruch herausgestellt, der in diesem Entwurf enthalten ist: einerseits die Anerkennung einer historischen Vielfalt im Urchristentum, andererseits die Suche nach Ordnung in ihr. Es ist die Spannung zwischen Geschichte und System, zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit – aber nicht unbedingt die Spannung zwischen liberaler und konservativer Theologie. Das muss deshalb betont werden, weil sich konservative Theologen in Finnland auf mein Bild einer „semiotischen Kathedrale“ berufen haben, um die von Heikki Räisänen vorangetriebene Entdeckung der Mannigfaltigkeit und Unvereinbarkeit verschiedener urchristlicher Theologien und Gruppen in Frage zu stellen. Diese Kathedrale aus Zeichen soll gewiss einige einheitliche Konstruktionsprinzipien aufweisen und in einem einheitlichen Stil erbaut sein. Wenigstens habe ich mich darum bemüht, in ihr eine verborgene Ordnung zu finden. Das aber habe ich als Vertreter einer liberalen Theologie getan. Denn im Prinzip ist eine liberale Theologie denkbar, die im Urchristentum wenige „Axiome“ und „Grundmotive“ findet, vorausgesetzt, dass es „liberale“ Prinzipien sind bzw. in einem liberalen Sinn gedeutet werden können. Umgekehrt ist eine konservative Theologie mit einem starken Sinn für die Pluralität im Urchristentum und in den kanonischen Schriften denkbar, wenn dadurch leichter der ganze Kanon akzeptiert werden kann und Konflikte im Urchristentum so gedeutet werden, dass durch sie die Grenze zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei gezogen wurde.

1) Familienähnlichkeiten in der urchristlichen Kathedrale Heikki Räisänens Anfrage zielt darauf, ob mein Entwurf nicht zu viel „Ordnung“ in einem „brodelnden Chaos“ finden will. Das ist möglich. Immer wieder habe ich in Vorlesungen betont, dass die Wirklichkeit weit —————

1 Vgl. H. Räisänen: Eine Kathedrale aus dem Chaos? Ein Gespräch mit Gerd Theißen über Einheit und Vielfalt in der urchristlichen Religion, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 53–64.

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System und Konflikt im Urchristentum

komplexer ist als alle geordneten Darstellungen in der akademischen Welt – und habe diese Verschiebung zwischen historischer Realität und ihrer Darstellung aus didaktischen Gründen mit folgendem Gedanken rechtfertigt:2 Es ist besser, dass in unseren Köpfen deutlich mehr Ordnung herrscht als in der chaotischen Wirklichkeit, als umgekehrt, dass das Chaos in unseren Köpfen größer ist als das Chaos der Wirklichkeit. Es prägt sich nur das ein, was eine einfache Struktur hat. Es wirkt nur das in uns als lebendiges Wissen, was wir intellektuell fassen können. Wenn wir nicht vereinfachen, bleiben uns viele Gebiete unzugänglich und werden nicht existenziell wirksam. Unabhängig von solchen didaktischen Überlegungen gilt: Erkenntnis zielt darauf, Ordnung und Zusammenhänge zu finden, wo „Chaos“ zu herrschen scheint. Gleichzeitig aber zielt Erkenntnis darauf, Differenzen zu erkennen, wo vorher eine Einheit angenommen wurde. Beides ist notwendig. Und das gilt auch für die Erforschung des Urchristentums. Die verborgene Ordnung, die ich in ihm zu entdecken meine, ist in sich sehr viel mannigfaltiger als die Kritik an meinem Entwurf wahrhaben möchte. Ich sehe sie nämlich in einer Pluralität von „Grundmotiven“, deren Liste ich nicht einmal behaupte, umfassend und erschöpfend beschrieben zu haben. Diese Grundmotive bilden kein „System“. Vielmehr habe ich bewusst darauf verzichtet, sie in eine systematische Ordnung zu bringen. Sie sind vergleichbar den „Familienähnlichkeiten“ L. Wittgensteins. In einer Familie von sieben Personen haben vielleicht fünf die für die Familie typische Nase, zwei aber haben eine andere Nase. Vier sind musikalisch begabt, drei dagegen nicht. Von den dreien hat einer die typische Nase, zwei andere nicht. Rote Haare finden sich wiederum bei vier Mitgliedern, ohne dass diese geschlossen eine der anderen Gruppen angehören usw. L. Wittgenstein war überzeugt, dass die meisten unserer Begriffe sich auf Sachverhalte beziehen, die nur durch solche Familienähnlichkeiten zusammengehalten werden. Kurz, die Ordnung, die ich als Familienähnlichkeit hinter den sehr unterschiedlichen urchristlichen Texten und Gruppen erkenne, enthält in sich selbst schon etwas „Chaos“ oder anders ausgedrückt: Sie enthält Pluralität und Widersprüche. Wir müssen die zehn oder fünfzehn Merkmale keineswegs in jedem Text belegt finden, wir müssen sie noch nicht einmal stillschweigend voraussetzen. Wenn ein Text ca. 5–7 der Grundmotive —————

2 D. Trobisch, Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem, in: Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 114–119, dort S. 116, hat m.E. richtig festgestellt: „Der Grund für Theißens wunderbare Mischung aus sorgfältiger Erforschung des sozialen Chaos mit all seine Ausdrucksformen und aus unermüdlichem Eifer, in dem Chaos eine Ordnung zu finden liegt vielleicht auch in seinem didaktischem Interesse, Studierenden komplexe Sachverhalte und innovative Forschungsansätze bleibend zu vermitteln.“

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Zu H. Räisänen: Eine Kathedrale aus dem Chaos?

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enthält, die für die urchristliche Religion charakteristisch sind, kann er als Ausdruck dieser Religion anerkannt werden. Diese Grundmotive müssen wir aber noch einmal in sich betrachten. Wir haben sie bisher wie eindeutige und feste „Merkmale“ behandelt. Aber ich stelle mir auch sie nur als Familienähnlichkeiten vor. Das Motiv der Erneuerung kann sich in sehr spannungsvoller und widerspruchsvoller Weise realisieren: als apokalyptische Erneuerung der ganzen Welt oder als innere Erneuerung des Menschen schon hier und jetzt, als Erleuchtung oder als Reue, als Wiedergeburt oder als Umkehr. Der Zusammenhang zwischen diesen Vorstellungen geht aus dem Neuen Testament klar hervor. Die spirituelle präsentische Eschatologie des Johannesevangeliums ist z.B. eine Verinnerlichung apokalyptischer Hoffnungen. Trotz dieser Offenheit für eine innere Mannigfaltigkeit der Grundmotive habe ich eine Hierarchie von „Grundüberzeugungen“ angenommen: Zwei „Axiome“ betrachte ich allen Grundmotiven als übergeordnet: den Glauben an den einen und einzigen Gott und den Erlöserglauben. Das ist kein Widerspruch zur Annahme, dass es sich nur um Familienähnlichkeiten handelt. Auch bei einer „Familie“ gibt es einige Merkmale, die wir allen zuschreiben: Sie haben alle dieselben Eltern (durch Geburt oder Adoption). Sie sind genealogisch verwandt. Charakteristisch für meine beiden Grundaxiome aber ist, dass auch sie in sich nicht widerspruchsfrei sind: der Glaube an den einen und einzigen Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet, steht in deutlicher Spannung zum Glauben an einen Menschen, der gottgleichen Status neben ihm erhält. Dennoch glaube ich, dass alle urchristlichen Schriften in der einen oder anderen Weise einen christologisch modifizierten Monotheismus enthalten oder voraussetzen – selbst im Jakobusbrief, in dem die Christologie sehr zurücktritt (vgl. jedoch Jak 1,1; 2,1). Die Bandbreite, wie der erhöhte Jesus mit dem einen und einzigen Gott in Beziehung gesetzt wird, ist sehr weit. Sie reicht von der Annahme der Gleichheit mit Gott im Johannesevangelium bis zum Glauben an einen Menschen, der vom Geist ergriffen wurde, in judenchristlichen Gruppen. Die von mir in der urchristlichen Religion vermutete „Ordnung“ ist also etwas sehr Lebendiges, sie enthält in sich große Spannungen. Kann man dann aber noch von einer Einheit sprechen? Ja, man kann. Für die vermutete Ordnung habe ich weit häufiger noch als das Bild von der Kathedrale die Metapher einer „Grammatik“ gewählt. Das Regelsystem der Langue ist zu unterscheiden vom hörbaren und sichtbaren Ausdruck in der konkreten Parole. Ein solches Regelsystem enthält wie jede Grammatik Spannungen und Inkonsequenzen in sich. Man denke nur an das Nebeneinander von starker und schwacher Konjugation im Deutschen, die das Erlernen unserer Sprache so sehr erschwert. Ferner finden wir im Deutschen Differenzierungen, die schon lange keinen „Sinn“ mehr haben wie die Unterscheidung

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System und Konflikt im Urchristentum

zwischen den Genera: männlich, weiblich und neutral. Sie erhöhen nach wie vor die Kohärenz syntaktischer Gefüge, haben aber semantisch keine Bedeutung mehr. Eine solche „Grammatik“ mit inneren Spannungen und Inkonsequenzen, sie sich nur historisch durch die Entstehungsgeschichte erklären lassen, vermute ich auch hinter den Ausdrucksformen der urchristlichen Religion. Die Grundspannung in ihr ist die zwischen dem Monotheismus und Christologie.

2) Konflikte in der urchristlichen Kathedrale Stiftet solch eine einheitliche Grammatik schon „Konsens“? Auf keinen Fall! Wenn man dieselbe Sprache spricht, kann man im Grunde sehr viel intensiver streiten, als wenn man sich gar nicht versteht. Der antiochenische Konflikt ist dafür ein Beispiel (Gal 2,11–14): Die Jakobusleute haben dieselbe religiöse Sprache wie Petrus und Paulus gesprochen, nur deshalb konnten sie ihnen gegenüber auf bestimmten Normen bestehen. Ihr Ziel, ein einheitliches Verhalten durchzusetzen, setzt voraus, dass sie eine Einheit für möglich hielten. Das gilt auch für spätere Konflikte. Wo Paulus missioniert hat, begegnet oft später eine Gegenmission. Ich vermute, sie stehen alle – von Galatien, Philippi bis Korinth – seinen Gegnern in Palästina nahe: Sie wollen seine Gemeinden ins Judentum reintegrieren, fordern deshalb in Galatien und Philippi die Übernahme der jüdischen Identitätsmerkmale Beschneidung und die Einhaltung der Speisegebote. Sie können aber in Korinth auf diese Forderung verzichten, da dort die Gemeinde als Teil des Judentums anerkannt war, wie der Gallioprozess zeigt. Gallio lehnte es ab, den Prozess gegen Paulus zu eröffnen, weil er erkannte: Es handelt sich um eine innerjüdische Auseinandersetzung. Damit wurde die christliche Gemeinde de facto als Teil des Judentums von einem römischen Statthalter behandelt. Paulus hat maßlos gegen seine Gegner polemisiert, die diese Anerkennung der Christen als Teil des Judentums durch Übernahme von Beschneidung und Speisegeboten sicherstellen wollten.3 Eine Generation später wird es Paulus heimgezahlt: Alle fünf Reden des Matthäusevangeliums enthalten m.E. eine verdeckte Polemik gegen Paulus:4 Er ist in der Bergpredigt der Lehrer, der die kleinsten Gebote auflöst und deshalb den geringsten Platz im Himmelreich erhält (Mt 5,19). Er ist in —————

3 G. Theissen, Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und Korinth. Versuch einer Einheitsdeutung, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte, FS U.B. Müller, BZNW 163, Berlin/New York 2009, 277–306. 4 G. Theissen, Kritik an Paulus im Matthäusevangelium? Von der Kunst verdeckter Polemik im Urchristentum, in: O. Wischmeyer/L. Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur, BZNW 170, Berlin/New York 2011, 465–490.

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Zu H. Räisänen: Eine Kathedrale aus dem Chaos?

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der Aussendungsrede gemeint, wenn Jesus davor warnt, sich zur Bewältigung von Reisen und Mission Geld zu erwerben (Mt 10,9). In der Gleichnisrede ist seine Lehre die Saat des „feindseligen Menschen“ im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30). In der Gemeinderede ist es Paulus, der den „Kleinen“ Ärgernis gegeben hat (Mt 18,6f), während Petrus durch Anpassung an die Umwelt Ärgernis vermeidet (Mt 17,24–27). In der eschatologischen Rede haben die Weherufe gegen die Pharisäer indirekt den Pharisäer Paulus im Blick, der die ganze Welt durchzieht, um Proselyten zu machen und diese zu Höllenkindern verdirbt (Mt 23,15). Der Inhalt des Matthäusevangeliums ist „dieses Evangelium von der Gottesherrschaft“ (Mt 24,14) bzw. „dieses Evangelium“ (Mt 26,13) und nicht etwa das des Paulus. Dieses Evangelium und kein anderes soll weltweit verkündigt werden. Wir stoßen hier und an anderen Stellen auf tiefgehende Konflikte. Dennoch können wir sie nicht verstehen, ohne dass eine gemeinsame „Grammatik“ vorausgesetzt wird: eine Orientierung an dem einen und einzigen Gott und Christus sowie einer Reihe von Grundmotiven, die auch von den Gegnern geteilt werden. Konflikte haben die Funktion, das auszuloten, was an Gemeinsamkeiten belastbar ist und was nicht. In ihnen erkennen Menschen und Gemeinschaften, was für sie wichtig und unaufgebbar ist. Es kommt aufgrund von Konflikten erst dann zu Trennungen und Scheidungen, wenn unvereinbare Grundmotive das Handeln der Konfliktpartner bestimmen. Ein Punkt wird umstritten bleiben, weil hier so Vieles im Dunkeln liegt: Lässt sich die Kanonbildung als Bekenntnis zu einer inneren Pluralität deuten? Ich meine, dafür sprechen gewichtige Argumente: Einerseits lief eigentlich alles in der Antike auf eine Höherschätzung der Einheit hinaus. Auch eine vom Judentum geprägte Gruppe musste diese Tendenz zur Einheit teilen. Stand doch der eine und einzige Gott im Zentrum ihres Glaubens. Dasselbe wiederholte sich auf anderer Ebene. In vielen Bereichen des Urchristentums herrschte de facto ein Ein-Evangelien-Prinzip. Markion war kein Revolutionär, wenn er nur ein Evangelium und einen Apostel zur Grundlage seines Glaubens machte. Die Durchsetzung einer Pluralität von Evangelien und einer Pluralität von Apostelschriften wurde ziemlich sicher dadurch erleichtert, dass man in Markion einen gemeinsamen Gegner hatte, der nur ein Evangelium und nur einen Apostel anerkannte. Insofern vermute ich hier eine „bewusste“ Entscheidung für eine Pluralität, die ja auch bei Irenäus als Bekenntnis zu einer Vielfalt der Evangelien intensiv reflektiert wird (Iren. haer. 3,11,8). Ich meine aber, dass bei der Kanonbildung auch Traditionen verloren gingen, die nicht aufgrund der urchristlichen Grundmotive hätten verloren gehen müssen: Die judenchristlichen Schriften mit ihrer „niedrigen Christologie“ hätten durchaus in den Kanon gepasst. Auch das Markusevangelium enthält keine „hohe“, sondern eine adoptianische

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System und Konflikt im Urchristentum

Christologie. Im Verein mit den anderen Evangelien hätten ferner die uns erkennbaren Fragmente unbekannter judenchristlicher Evangelien eine bereichernde Stimme sein können. Dasselbe gilt für die Mystik des Thomasevangeliums. Die Paulusbriefe und das corpus johanneum enthalten zwar in unserem Kanon eine beeindruckende Mystik. Aber sie wäre durch das Thomasevangelium ergänzt worden mit einem Akzent auf einer individualistischen Mystik des Einzelnen. Der Verlust dieser und anderer Traditionen erkläre ich durch kontingente Faktoren. Welche Funktion aber hat das Bild von der Kathedrale? An Kathedralen wird ständig gebaut. Sie sind ohne ewige Dombaustätten nicht denkbar. Sie wurden selten in ihrer Entstehungszeit vollendet. Der Kölner Dom und das Ulmer Münster erhielten ihre Türme erst im 19. Jahrhundert. Insofern ist das Bild von Ulrich Luz vom Urchristentum als einer Dombaustelle treffend. Für mich hat das Bild vor allem den Reiz, dass es die menschliche Baukunst ohne Vorbehalt bejaht. Keiner bestreitet, dass Menschen unsere Kathedralen erbaut haben. Gleichzeitig aber würdigen wir Kathedralen von ihrem Zweck her: Sie sollen Gott verehren. Menschliche Entstehung und Transzendenzbezug werden in diesem Bild verbunden. Es könnte sein, dass einige Konservative diese Implikationen des Bildes (noch) nicht begriffen haben. Richtig ist: Ich wollte meine religionswissenschaftliche Darstellung des Urchristentums durch dieses Bild akzeptabler machen. Die Resonanz, die es gerade bei konservativen Theologen gefunden hat, zeigt, dass ich das auch teilweise erreicht habe.

3) Ordnung in der urchristlichen Kathedrale Ganz gegen meine Absicht ist es, unter Berufung auf die „semiotische Kathedrale“ des Urchristentums die Bedeutung religiöser Erfahrung zu relativieren. Diese religiöse Erfahrung wird zwar von den Deutungen der religiösen Tradition mit bestimmt, denn die objektive Zeichenwelt der Religionen geht dem Erleben und Verhalten des Einzelnen immer schon voran, aber diese Zeichenwelt würde nicht tradiert, wenn sie nicht immer wieder im Erleben und Verhalten von Menschen Resonanz fände. Daher habe ich in meiner „Psychologie der urchristlichen Religion“ den drei Säulen „Mythos, Ethos und Ritus“ die in allen drei Ausdrucksformen vorausgesetzte Erfahrungsdimension hinzugefügt. Darüber hinaus aber war ich wirklich fasziniert davon, wie im Urchristentum ein lebendiges System einer neuen Religion entstanden ist, wie die wichtigsten Konflikte Klärungen herbeigeführt haben, die in den neu entstehenden Bau eingingen: Das Element einer Ordnung soll im Bild der

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Zu H. Räisänen: Eine Kathedrale aus dem Chaos?

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Kathedrale festgehalten werden. Aber ist das eine Systematik, die für konservative Dogmatiker geeignet ist? Steht in mir der Historiker und der Systematiker in Spannung zueinander? Die Frage ist berechtigt. Ich predige über biblische Texte, baue auf ihnen normative Aussagen auf, plädiere dafür, dass sie im Unterricht nicht nur archivarisch behandelt werden. Ich kann mir durchaus vorstellen, auch eine „Theologie des Neuen Testaments“ oder der „Bibel“ zu schreiben; sie würde die Spuren meines liberalen reformierten Christentums tragen.5 Mein Traum für die Bibelwissenschaft aber geht in eine andere Richtung: Zu einer Theorie der urchristlichen Religion gehört eine Philosophie dieser Religion. Nicht die konfessionell begrenzte Dogmatik kann diese Aufgabe leisten, die „semiotische Kathedrale“ des Urchristentums auf Elemente hin zu überprüfen, die auch heute noch gültig sind. Das ist ohne Dialog mit anderen Konfessionen und ohne Auseinandersetzung mit allen Religionen heute nicht mehr möglich. Ein solches Unternehmen setzt eine allgemeine Philosophie der Religion, eine Erkenntnistheorie, philosophische Anthropologie und Geschichtsphilosophie voraus. Gewiss übernehmen heute systematische Theologen viel von dieser Aufgabe. Sie sind in der Regel in der Religionsphilosophie sehr gut zu Hause. Aber systematische Theologie versteht sich auch heute noch weitgehend als bekenntnisgebundene Fortschreibung einer bestimmten Tradition. Die Prüfung des Glaubens ist aber m.E. eine philosophische Aufgabe, die so durchgeführt werden muss, dass sie für alle Menschen zugänglich ist – ebenso wie eine Theorie der urchristlichen Religion. Dann aber kann sie nur eine philosophische Aufgabe sein. Philosophen sind freilich auch „Systematiker“, auch wenn in postmodernen Zeiten z.T. ein antisystematischer Affekt in die Philosophie eingezogen ist. Philosophen sind mit Recht vorsichtiger geworden. Eine Religionsphilosophie, die u.a. an den späten L. Wittgenstein anknüpft, wird nicht eine „ideale“ religiöse Sprache konstruieren, sondern die tatsächliche religiöse Zeichensprache untersuchen. Aber auch dann hat die religionsphilosophische Suche nach Prinzipien einen systematisierenden Zug. Mein Traum von einer Religionsphilosophie des urchristlichen Glaubens kann daher ganz gewiss nicht die Befürchtungen einer allzu großen Systematisierung widerlegen, wohl aber die Annahme, dass damit konservativen Positionen Vorschub geleistet wird.

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5 G. Theißen, Der Eigenwert des Alten Testaments. Überlegungen eines Neutestamentlers aus reformierter Tradition, in: M. Oeming/W. Boës (Hg.), Alttestamentliche Wissenschaft und kirchliche Praxis, FS J. Kegler, BVB 18, Münster 2009, 15–28.

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System und Konflikt im Urchristentum

* Heikki Räisänens Darstellung und kritische Anfragen sind für mich von großem Wert. Er hat mir geholfen, an einigen Punkten klar zu sehen, in welche Richtung ich ungern verstanden werden möchte. Inzwischen hat er sein Programm einer Darstellung der urchristlichen Vorstellungswelt in überzeugender Weise durchgeführt.6 Sie ist gerade im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit und Pluralität ein großer Fortschritt – aber auch in der Reduktion dieser Mannigfaltigkeit auf wenige Themen. Sie enthält mehr „Ordnung“, als die programmatischen Aussagen von Heikki Räisänen erwarten lassen – so wie mein Entwurf einer Theorie der urchristlichen Religion mehr Chaos enthält, als es die klare Gliederung erwarten lässt.

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H. Räisänen, The Rise of Christian Beliefs. The Tought World of Early Christians, Minneapolis 2010.

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4. Sozialgeschichte und Postminimalismus in der Jesusforschung. Zu Bengt Holmberg: Von der Jesusbewegung zu Jesus.1

Bengt Holmbergs Darstellung meiner Arbeiten zu Jesus stellt dar, wie sich meine formgeschichtlich begründete Skepsis in der Jesusforschung im Laufe der Jahre in einen „Postminimalismus“ verwandelt hat, der sich zutraut, über Jesus historische Aussagen zu machen. Das entspricht der allgemeinen Entwicklung im Rahmen der „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus. Die Erforschung der Real- und Sozialgeschichte Palästinas hinterließ intuitiv bei ihren Vertretern den Eindruck, dass die Jesusüberlieferung in diesem konkreten historischen Kontext entstanden sein muss und sich weit besser als Ergebnis der jüdischen Geschichte erklären lässt denn primär als Ausdruck urchristlichen Glaubens und Lebens. Die Erforschung der Geschichte des Urchristentums erlaubte zudem, hin und wieder deutliche Spannungen zwischen der Jesusüberlieferung und Tendenzen in der Geschichte der späteren Gemeinden festzustellen. Manchmal führte diese neue Zuversicht sogar dazu, wieder Entwicklungen in der Verkündigung Jesu feststellen zu können (M. Ebner, P. Bilde, C.S. Keener).2 Gerade deshalb ist festzuhalten, dass das sozialgeschichtliche Interesse einmal zu ganz anderen Ergebnissen geführt hat. Der liberale Theologe A. Kalthoff (1850–1906) war einer der profilierten Vertreter der Ungeschichtlichkeit Jesu. Er nannte sein 1902 erschienenes Buch eine „Sozialtheologie“, weil er den Glauben an Jesus aus der sozialen Sehnsucht der damaligen Massen heraus erklärte.3 Die Formgeschichte begründete später mit soziologischen Fragestellungen ihre historische Skepsis: Weil die Überlieferungen durch ihren sozialen „Sitz im Leben“ geformt waren, seien sie —————

1 Vgl. B. Holmberg: Von der Jesusbewegung zu Jesus. Gerd Theißens Entwicklung in der Jesusforschung, Übersetzung von B. Holmberg, Från Jesusrörelse till Jesus själv. Gerd Theißens utveckling inom jesusforskningen, STK 79, 2003, 16–21 = P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 65–75. 2 M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, HBS 15, Freiburg 1998, ders., Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 2003. P. Bilde, Den historiske Jesus, Kopenhagen 2009; C.S. Keener, The Historical Jesus of the Gospels, Grand Rapids, Cambridge UK 2009. 3 A. Kalthoff, Das Christus-Problem. Grundlinien zu einer Sozialtheologie, Leipzig 1902, 19032.

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keine zuverlässigen Erinnerungen. Freilich dachten manche Formgeschichtler bei dem „Sitz im Leben“ oft mehr an die theologische Überzeugungswelt der ersten Christen als an ihr alltägliches Gemeindeleben. Auch verzichteten sie darauf, das soziale Leben der ersten Christen in die soziale Realität der antiken Gesellschaft einzuzeichnen.

1) Eine Revision von Voraussetzungen der Jesusforschung? Wenn gerade real- und sozialgeschichtlich interessierte Neutestamentler diese Entwicklung zu einem Postminimalismus in der Jesusforschung gefördert haben, so hängt das mit einigen grundlegenden Überzeugungen (oder „Axiomen“) zusammen, die nicht von allen Exegeten geteilt werden. Sie betreffen die Texte selbst, ihre Interpretation und die Geschichte hinter den Texten. 1) Zunächst ist die Überzeugung zu nennen, dass man Texte aus ihrem realen Lebenszusammenhang heraus deuten soll und deuten kann. Vorausgesetzt ist, dass Texte ihren realen Lebenszusammenhang jenseits der Texte erkennen lassen. Sie müssen dazu „Fenster“ nach außen hin haben. Diese Überzeugung von „Textfenstern zur Realität“ wird kombiniert mit einem zweiten hermeneutischen Axiom: 2) Historische Arbeit kann Interpretationen davor beschützen, Jesus zu „modernisieren“. Der in und hinter den Texten erkennbare historische Lebenszusammenhang ist so konkret, d.h. so jüdisch, so galiläisch und so unverkennbar antik, dass er sich vom modernen Lebenszusammenhang unterscheiden lässt, in dem wir heute die Texte interpretieren. Wir sind nicht schutzlos unseren Anachronismen ausgeliefert. 3) Eine dritte Überzeugung ist: Es gibt historische Daten in der Geschichte, an denen historische Rekonstruktionen überprüft und falsifiziert werden können. Auch wenn „Fakten“ durch unsere Wahrnehmung und Interpretation mit konstituiert sind, bilden sie einen Widerstand, durch den sich fiktive Romane und Geschichtsschreibung deutlich unterscheiden. Man kann diese Überzeugungen so zusammenfassen: Die Texte (auch die der Jesusüberlieferung) sind transparent für die Geschichte, und diese Geschichte übt einen „Widerstand“ gegen alle modernisierenden und unhistorischen Interpretationen aus – und das gilt auch für die Gestalt des historischen Jesus, obwohl sie mit so vielen aktuellen Interessen verbunden ist. Nach wie vor wird Albert Schweitzer (1875–1965) als Kronzeuge dafür aufgerufen, um die Vergeblichkeit der historischen Erforschung der Jesusüberlieferung zu belegen. Hatte nicht seine Geschichte der Leben-Jesu-

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Forschung4 bewiesen, dass alle historisch-kritischen Forscher ihr subjektives Jesusbild nach ihren Interessen geformt hatten? Alle suchten in Jesus einen Verbündeten und fanden ihn. Ihr Jesusbild war ihr Selbstbild. Sie meinten, eine Biographie Jesu zu schreiben, schrieben aber an ihrer Autobiographie. Umso bemerkenswerter ist es, dass A. Schweitzer trotz der von ihm erkannten Subjektivität aller Jesusbilder in drei großen Grundsatzfragen der bisherigen Jesusforschung einen objektiven Ertrag sah.5 Erstens muss jede kritische Jesusforschung geschichtlich argumentieren und auf die Annahme übernatürlicher Vorgänge verzichten; das war der bleibende Ertrag der Debatte um D.F. Strauß (1808–1974). Ferner muss sich alle Jesusforschung primär auf die synoptischen Evangelien stützen und nicht auf das Johannesevangelium; das war der bleibende Ertrag der Diskussion um die literarischen Verhältnisse der Evangelien untereinander und seit H.J. Holtzmann (1832–1910) Konsens. Schließlich muss alle Jesusforschung dem eschatologischen Charakter seiner Verkündigung gerecht werden, während seine nicht-eschatologische Deutung unzulässig ist. Hier schrieb A. Schweitzer sich und J. Weiß (1863–1914) das Verdienst zu, durch ihre „konsequente Eschatologie“ dafür den Grund gelegt zu haben. Das Ergebnis war: Die historische Jesusforschung muss Jesus geschichtlich, synoptisch und eschatologisch deuten. Vor allem die Erkenntnis des eschatologischen Rahmens der Verkündigung Jesu war für A. Schweitzer ein Schutz gegen eine anachronistische Vereinnahmung Jesu für die Überzeugungen der Gegenwart. Denn dieser eschatologische Rahmen war der Gegenwart so fremd und hatte sich durch die Weiterexistenz der Welt bis heute selbst so sehr dementiert, dass es unmöglich eine Modernisierung Jesu sein kann, wenn man ihn als Propheten des nahen Weltendes interpretierte. Diese Erkenntnis muss man ein paar Generationen nach A. Schweitzer nur generalisieren: Nicht nur die Eschatologie bildet den historischen Rahmen für das Wirken Jesu, sondern auch das Land Palästina, die damaligen Gruppenkonflikte im Judentum, die Entwicklung der Weisheitstradition, der antike Wunderglaube usw. Erst die Erkenntnis aller historischen Rahmenbedingungen (und nicht nur der Eschatologie als einer Rahmenbedingung unter anderen) schützt uns wirksam und nachhaltig vor Anachronismen.

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4 A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906 = Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913; 91984. 5 Schweitzer, Leben-Jesu Forschung, 254: Drei große Entweder-Oder hat die Forschung entschieden: „Das erste hat Strauß gestellt: entweder rein geschichtlich oder rein übernatürlich; das zweite hatten die Tübinger und Holtzmann durchgekämpft: entweder synoptisch oder johanneisch; nun das dritte: entweder eschatologisch oder uneschatologisch.“ Die dritte Alternative war durch A. Schweitzer und J. Weiß aufgeworfen worden.

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Richtig ist: Alle drei von A. Schweitzer formulierten Prämissen der Jesusforschung wurden in der Gegenwart erneut in Frage gestellt.6 Umstritten wurde, ob es wirklich objektive Einsichten waren. Oder bildeten nicht auch sie nur ein subjektives Vorverständnis? Kulturanthropologische Einsichten in das Erleben fremder Kulturen haben die Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen durchlässig gemacht. Was für uns „übernatürlich“ ist, war in anderen Kulturen „natürlich“. Unser Wachbewusstsein ist z.B. ein Grenzfall vieler möglicher Bewusstseinszustände. In einem altered state of consciousness erleben wir die Realität in ganz anderer Weise. Aber gleichzeitig wird die Möglichkeit eines solchen abweichenden Bewusstseinszustandes mit neurophysiologischen Überlegungen in einen naturwissenschaftlichen Rahmen eingeordnet und damit die Erweiterung des „Natürlichen“ wieder eingefangen.7 Ferner gab es eine Rebellion gegen die „Tyrannei des synoptischen Jesus“.8 Man wollte alle Quellen als prinzipiell gleichwertig anerkennen. Besonders das 1945 in Nag-Hammadi gefundene Thomasevangelium bot sich als gleichwertige Quelle neben den kanonischen Evangelien an. Heute erkennen wir: Es gab im 2. Jh. eine Blütezeit der Jesusliteratur, von der uns nur Bruchstücke erhalten sind, aber wie durch ein Wunder das Thomasevangelium als ganzes. Diese Jesusliteratur erhellt die Wirkungsgeschichte der synoptischen Evangelien, öffnet aber keine neuen Wege zum historischen Jesus. Das gilt auch dann, wenn man in ihr und besonders im Thomasevangelium mit der Möglichkeit einer autonomen Jesusüberlieferung rechnet, die von den synoptischen Evangelien nicht durchgehend abhängig ist. Neben der eschatologischen Auslegung Jesu entstand gleichzeitig das Leitbild eines neuen non-eschatological Jesus. Jesus wurde als kynischer Wanderprediger gedeutet, der paradoxe Weisheiten formulierte, das Königreich des Weisen proklamierte, nicht aber das Königreich Gottes als Weltende erwartete. Aber dieser non-eschatological Jesus hat mehr amerikanisches Lokalkolorit als galiläisches. Ihm wurde entschieden in Amerika selbst widersprochen. Jesus gehört zum Typus des millenaristischen Propheten, der einen radikalen Umschwung der Dinge erwartet, aber nur einen

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Vgl. W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Biblische Enzyklopädie 10, Stuttgart 2010, 114–

120.

7 Vgl. z.B. P. Craffert, Neutestamentliche Forschungen nach der Revolution in den Neurowissenschaften. Ungewöhnliche menschliche Erfahrungen ins Bewusstsein rufen, in: G. Theissen/P.v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, 91–117. 8 C.W. Hedrick, The Tyranny of the Synoptic Jesus, Semeia 44, 1988, 1–8.

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grundlegenden Wandel unserer ethischen Werte und religiösen Einstellungen bewirkte.9 Man kann heute feststellen: Die drei von A. Schweitzer formulierten Erkenntnisse haben sich bewährt. Es ist keineswegs so, dass man A. Schweitzer als Kronzeugen für die Beliebigkeit und Interessenabhängigkeit aller Erkenntnisse der Jesusforschung anrufen kann. Als Reaktion auf die wachsende historische Zuversicht der „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus hat sich freilich in Fortsetzung der alten Skepsis eine „neokerygmatische“ Reaktion gebildet, die sich primär für die christologischen Bilder interessiert, die in den Menschen wirksam geworden sind (K. Wengst, R. Zimmermann, J. Schröter).10 Charakteristisch ist die Position von R. Zimmermann. Er schreibt in seiner Einleitung zu einem Handbuch zur Gleichnisforschung skeptisch: „Die Suche nach dem authentischen Jesusgleichnis ist im Ansatz verfehlt“.11 Dann stellt er theologisch fest: „Der Gleichniserzähler ist selbst das ‚Gleichnis Gottes‘.“12 Er bejaht die neuere Jesusforschung, der er zugesteht, sie sei „vorsichtiger in der Rekonstruktion von so genannten ‚historischen Fakten‘ geworden, da sie sich schon aufgrund der Quellenlage, aber mehr noch aus geschichtsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Gründen verbieten“.13 Hier finden wir jene typische Abwertung historischer Fragestellungen in Verbindung mit einem theologischen Pathos, das für die kerygmatheologisch bestimmte Generation meiner Lehrer charakteristisch war.

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9 D.C. Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, Minneapolis 1998. Vgl. G. Theissen, Jesus – der Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, EvTh 59 (1999), 402–415, = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 197–228; G. Theissen, Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, NTS 35 (1989), 343–360 = in: Jesus als historische Gestalt, 135–151. 10 K. Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen, Stuttgart 1999 = Jesus zwischen Juden und Christen, Re-Visionen im Verhältnis der Kirche zu Israel, Stuttgart 22004. R. Zimmermann, Jenseits von Historie und Kerygma. Zum Ansatz einer wirkungsästhetischen Christologie des Neuen Testaments, in: U.J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert, Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen 2001, 153–188. J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Biblische Gestalten 15, Leipzig 2006. 11 R. Zimmermann u.a. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 4. 12 R. Zimmermann u.a. (Hg.), Gleichnisse Jesu, 5. 13 R. Zimmermann u.a.(Hg.), Gleichnisse Jesu, 4. Der Satz enthält einen Widerspruch: „Vorsicht“ in Authentizitätsfragen ist nicht vereinbar mit der Erkenntnis, dass sich diese Fragen verbieten. Verbotene Fragen darf man überhaupt nicht verfolgen, auch nicht in vorsichtiger Weise. Ganz konsequent will R. Zimmermann historische Fragen nicht ausschließen. Dass sich historische Fakten verbieten, ist eine Stilblüte, wie sie jedem unterlaufen.

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2) Eine Revision des Begriffs „historischer Daten“? Aber können wir historische Fakten oder Daten so leicht verabschieden? Oder sollten wir nicht lieber ein naives Konzept historischer Fakten aufgeben? In jeder Auffassung von dem, was ein historisches „Faktum“ ist, muss freilich ein Grundsatz erhalten bleiben: Historische Daten üben einen Widerstand gegen moderne Interpretationen aus und lassen nicht alles mit sich machen. Sonst wäre Jesusforschung keine historische Wissenschaft, sondern Dichtung. 1) Historische Fakten enthalten oft in sich einen „Spielraum von Möglichkeiten“. Als Beispiel sei angeführt: Wir können als Faktum ansehen, dass Jesus in Gleichnissen gesprochen hat, wir wissen aber nicht genau, welche Gleichnisse auf ihn zurückgeführt werden können. Wir können ferner als Faktum ansehen, dass er den traditionellen Bilderschatz des Judentums narrativ entfaltet hat, zu dem auch Bilder von Herr und Knecht gehörten, wir wissen aber nicht, welche Gleichnisse von Knechten und ihrem Herren authentisch sind – auch wenn dabei ein traditionelles jüdisches Bild zugrunde liegt, das Jesus sicher benutzt hat. Wir halten es für historisch, dass Jesus männliche Jünger hatte, aber es bleibt darüber hinaus eine Möglichkeit, dass ihm auch Jüngerinnen folgten. Zumindest Maria Magdalena dürfte zusammen mit den anderen Jüngern sein Wanderleben geteilt haben. Wir gelangen daher in der Jesusforschung wie in aller historischen Forschung nur zu einer „Plausibilität“, da alles von einem Spielraum des Möglichen durchzogen ist. 2) Historische Fakten enthalten ferner einen „Hof von Interpretationen“: Zu diesen Interpretationen gehören sowohl die Deutungen derer, die in der Geschichte handeln und sprechen, wie die Deutungen derer, die von ihr berichten. Auch diese Interpretationen sind Teil der „Fakten“, haben aber eine gewisse „Plastizität“. So gehört zum Auftreten Jesu sicher die Verkündigung der „Gottesherrschaft“, aber dieser Begriff war mehrdeutig. Man konnte ihn damals verschieden interpretieren. Es muss näher bestimmt werden: Wie viel Politik umschließt er? Lässt er sich auf den Nenner eines „radikalen Monotheismus“ bringen? Oder ist er eine Variante von „Apokalyptik“, freilich einer Apokalyptik ohne gelehrtes schriftliches Medium, sondern in populärer mündlicher Form? 3) Historische Fakten sind eingebettet in ein „Netzwerk von Fakten“. Das gilt auch für ihre Rekonstruktion. Wenn wir nur eine einzige Überlieferung von einem historischen Datum besitzen, halten wir sie eher für historisch, wenn sie sich in ein Netzwerk anderer uns bekannter „Fakten“ (von Ereignissen, Entwicklungen, Traditionen und Institutionen) gut ein-

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ordnen lässt. Je besser wir Jesusüberlieferungen in das Netzwerk der uns bekannten Daten aus dem jüdischen Palästina des 1. Jh. n.Chr. einordnen können, um so eher werden wir sie als historisch beurteilen. 4) Historische Fakten begegnen in einem „Schleppnetz von Wirkungen“. Diese Wirkungen verändern den Blick – je nachdem, wie weit man ihn richtet. Es macht einen Unterschied, ob man in der Jesusbewegung den Ursprung einer antiken Subkultur vor der konstantinischen Wende sieht oder den Ursprung der offiziellen Religion nach dieser Wende. Sieht man in ihr den Ursprung einer heute noch gültigen Lebensorientierung, so werden unsere Urteile anderes ausfallen, als wenn man sie z.B. als Vorläufer eines in der Neuzeit überwundenen Irrtums ansieht. Aber auch diese Änderungen durch rückläufige Interpretationen können nie die „Fakten“ selbst verändern. 5) Historische Fakten begegnen auch in historisch kritischen Darstellungen in einem Rahmen „erzählerischer Strukturen“ der Geschichtsschreiber. Der Geschichtsschreiber muss ein verständliches Buch mit einer inneren Ordnung schreiben. Er folgt dabei bewusst oder unbewusst bestimmten narrativen Schemata. Aber die Anordnung und Deutung von Daten im Rahmen solcher Schemata muss sich in den Geschichtswissenschaften mehr an diesen Daten orientieren als an der Wirkung einer Erzählung auf ihre Leser. „Historische Fakten“ sind also Sachverhalte mit inneren Möglichkeitsräumen, umgeben von einer offenen Interpretationsaura und von einem Netzwerk kontextueller Daten. Sie ziehen ein Schleppnetz von Wirkungen nach sich und werden in narrativen Zusammenhängen mit wiederkehrenden Mustern dargestellt. „Historische Fakten“ sind daher keine „Bauklötze“, die gleich bleiben, unabhängig davon, was Kinder mit ihnen spielen. Aber dennoch üben sie einen energischen Widerstand aus: Nicht jede historische Aussage ist möglich, nicht jede Interpretation passend, nicht jeder Kontext trifft zu und nicht alle wirkungsgeschichtlichen Folgen sind plausibel. Auch lassen sie sich nicht in jedes Skript „integrieren“. Der historisch-kritische Jesus ist einerseits das, was wir aufgrund historisch-kritischer Methoden aus den Quellen kontrolliert „konstruieren“ – und zugleich das, was wir dabei als Widerstand der Geschichte erfahren. Die neue kerygmatheologische Skepsis möchte sich wie die alte diesem Widerstand der Geschichte entziehen, um dann umso unbeschwerter theologische Aussagen machen zu können. Die Sozialgeschichte hat diesen Widerstand der Geschichte wieder spürbar gemacht. Darum gelangte sie zu einem historischen „Postminimalismus“ in der Jesusforschung.

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3) Eckwerte für eine Rekonstruktion des historischen Jesus Ist es deshalb möglich, wenigstens einige Eckpunkte für eine Jesusforschung zu nennen? Abschließend sein ein Versuch gewagt, der ein wenig an die sieben Säulen des P.W. Schmiedel erinnert, an denen er die Jesusforschung orientieren wollte.14 Zu den Eckdaten der Jesusforschung gehören m.E. folgende Sachverhalte: Die Taufe Jesu ist an erster Stelle zu nennen. Sie setzt ein Sündenbewusstsein Jesu voraus und passt zu seiner Aussage in Mk 10,18: „Gott ist allein gut“, mit der er die Anrede „guter Meister“ abwehrt. Die urchristliche Überlieferung hat das abgemildert. Im Johannesevangelium kommt Jesus beladen mit Sünden zur Taufe, aber nicht mit seinen Sünden, sondern mit den Sünden der Welt (Joh 1,29). Unbestreitbar ist Jesu Wirken als Wanderlehrer. Sein Wanderleben wird von Kelsus gegen Jesus ausgespielt. Kelsus beruft sich auf einen Juden, der gegen Jesus einwendet: „Nirgends wagst du zu bleiben, du entweichst mit deinen Jüngern bald hierhin bald dorthin“ (Or. c.Cels I, 65). Ziemlich sicher hatte Jesus einen Jüngerkreis. Ohne ihn wäre die Entstehung der ersten Gemeinden nach seiner Hinrichtung nicht zu verstehen. Die Berufungsgeschichten sind stilisiert, aber weisen auf einen Bruch mit der Familie. Er wird in der Aufforderung deutlich, sich nicht mehr um das Begräbnis des Vaters zu kümmern und die Toten die Toten begraben zu lassen (Mt 8,21par). Eine solche anstößige Forderung ist schwer erfindbar. Im Zentrum seiner eschatologischen Verkündigung steht die „Gottesherrschaft“, die in allen Überlieferungsströmen der Jesusworte bezeugt ist (Mk; Q; MtS; LkS; Joh; ThomEv) und selbst bei Paulus in wenigen Worten nachwirkt. Einige Radikalismen der ethischen Verkündigung Jesu sind sicher authentisch: So die Forderung des Gewaltverzichts und der Feindesliebe, des Besitzverzichts und die Kritik am Mammon. Wir können die Formensprache seiner Worte gut bestimmten: Er sprach in Gleichnissen und Bildworten, verband in seiner Verkündigung weisheitliche und eschatologische Sprüche; er formulierte Weherufe und Makarismen. Ebenso sind Grundformen seines Handelns erkennbar. Gut bezeugt ist die Wundertätigkeit, auch wenn einzelne Wunder in der Fama von ihm erdichtet wurden. Die Exorzismen haben den Vorwurf des Teufelsbündnisses ausgelöst, der schwer erst nach Ostern erfunden wurde (Mk 3,20.27). —————

14 Vgl. P.W. Schmiedel, Art. Gospels, in: EB(C) 2, 1901, Sp. 1761–1898. Dazu G. Theissen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, Freiburg/Göttingen 1997, 83–87.

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Charakteristisch für Jesus sind ferner symbolische Handlungen wie die Berufung der Zwölf und die Mahlgemeinschaft mit marginalisierten Menschen. Die Kreuzigung ist ein sicheres historisches Eckdatum: Eine so schmachvolle Hinrichtung für Sklaven und Aufrührer war für Juden wie Heiden schwer vermittelbar; sie war ein Ärgernis für die Juden, für die Heiden eine „Torheit“. Sie ist kein Produkt urchristlicher Phantasie. Die Sozialgeschichte hat nicht zu allen hier aufgeführten Eckpunkten etwas beigetragen, jedoch hat sie geholfen, den Täufer und seine Taufe besser in die jüdische Geschichte des 1. Jh. n.Chr. einzuordnen, die Kontinuität zwischen Jesus und seinem Anhängerkreis herauszuarbeiten, die Wundergeschichten durch kulturanthropologische Analogien besser einschätzen zu können, die symbolischen Handlungen Jesu im Rahmen seiner Zeit zu verstehen15 und die Kreuzigung als Teil eines politischen Konflikts zu deuten.

* Am Anfang wurde die Sozialgeschichte oft verdächtigt, sich den soliden Methoden der traditionellen historisch-kritischen Forschung zu entziehen. Den Widerspruch gegen sie artikulierten vor allem Theologen, die das kerygmatheologische Marburger Reinheitsgebot aufrechterhielten. Nach ihrer Überzeugung wirkte Gottes Kerygma nur in die nicht objektivierbare „Geschichtlichkeit“ menschlicher „Existenz“ hinein, nicht aber in der objektivierbaren jüdischen „Geschichte“ des 1. Jh. n.Chr. in Galiläa. Die historisch-kritische Forschung wurde zum Instrument einer historischen theologia negativa. Sie sollte zeigen, dass Gottes Ruf in der Geschichte historisch nicht greifbar war. Historische Skepsis erhielt fast Bekenntnisrang. Die Kerygmatheologie vertrat ein berechtigtes Anliegen, wenn sie eine naive Geschichtstheologie ablehnte. Historisch greifbar ist in der Tat nur menschliches Erleben und Verhalten. Dass wir durch solches Erleben und Verhalten in Kontakt mit Gott treten, ist nicht nachweisbar. Aber daraus die theologische Verpflichtung zu einer historischen Skepsis hinsichtlich der Gestalt Jesu abzuleiten, ist absurd. Was historisch an ihr erforschbar ist, muss historisch erforscht werden. Und das ist weit mehr, als viele Kerygmatheologen meinen. Die von ihnen oft bekämpfte Sozialgeschichte war —————

15 G. Theissen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung, EvTh 57 (1997), 378–400 = in: Jesus als historische Gestalt, Göttingen 2003, 169–193.

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viel historisch-kritischer als ihre Theologie, unabhängig davon dass diese ihre Berechtigung hat. Aber die Sozialgeschichte hat auch zur Klärung der theologischen Fragen um den historischen Jesus beigetragen: Die „neue Frage“ nach dem historischen Jesus fragte vor allem nach Ansätzen der Christologie bei Jesus selbst: Vertrat er eine implizite Christologie ohne Titel? War mit ihm eine evozierte Christologie von Erwartungen verbunden, die andere Menschen an ihn stellten? Oder bekannte er sich zu einer expliziten Christologie als Menschensohn oder Messias? Schon in der „Soziologie der Jesusbewegung“ (1977) hatte ich die Aussagen über den Menschensohn als eine „Rolle“ analysiert, die strukturell der Rolle der Wandercharismatiker auf Erden entspricht. Erst in den letzten Jahren habe ich, daran anknüpfend, christologische Titel als Rollenerwartungen gedeutet. Einige dieser Rollen waren damals relativ klar definiert, etwa die Rolle des Lehrers und Propheten. Fast alles, was man als „implizite Christologie“ versteht, lässt sich diesen Rollen zuordnen, etwa das „Ich aber sage euch“ der Antithesen oder das vorangestellte „Amen“. Diffuser waren die Erwartungen an einen „Messias“, weil nicht geklärt war, wie politisch dieser Messias sein sollte. Der „Menschensohn“ war dagegen ein allgemeiner Ausdruck für jeden Menschen, den erst Jesus mit Hoheit füllen musste, ehe er zum Titel wurde. Entscheidend ist: Sozialgeschichte kann zeigen, dass in der Antike nur ein Höhergestellter Rolle und Status verleihen kann. „Statuskontingenz“ sagt: Der Status und die Rolle eines Menschen ist für ihn unverfügbar. Daher konnte Jesus es Gott überlassen, wer er letztlich ist. Seine Zurückhaltung gegenüber christologischen Titeln ist Ausdruck seines Vertrauens auf Gott.16

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G. Theißen, Vom Historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn. Soziologische Rollenanalyse als Beitrag zum Verständnis neutestamentlicher Christologie, EvTh 68 (2008), 285–304.

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5. Kynische und urchristliche Wandercharismatiker. Zu W. Stegemann: „Hinterm Horizont geht’s weiter“1

Wolfgang Stegemann beschäftigt sich in seinem Beitrag mit meiner These, am Anfang sei das Urchristentum eine von Jesus selbst angestoßene Bewegung von Wandercharismatikern gewesen. Er zeigt, dass sie eine längere Vorgeschichte hat: A.v. Harnack entdeckte nach der Veröffentlichung der Didache 1883 in dieser urchristlichen Schrift eine sehr alte Kirchenordnung, die sich auf wandernde Apostel und Propheten stützt.2 G. Kretschmar sah in solchen wandernden Gestalten den Ursprung der Askese und weitete die Quellenbasis für sie auf die spätere Schrift de virginitate aus (1964).3 Erst durch eine neue Interpretation der Logienquelle durch P. Hoffmann wurde 1972 diese rekonstruierte Schrift zur wichtigsten Quelle für solche wandernde Propheten im Urchristentum.4 Parallel zu ihm schloss ich (in meiner Antrittsvorlesung 1972) aus der Überlieferung der Worte Jesu auf Wandercharismatiker als Überlieferungsträger dieser Worte und bediente mich dabei literatursoziologischer Argumente in Weiterführung der formgeschichtlichen Frage nach dem Sitz im Leben urchristlicher Texte. Dabei wies ich auf kynische Wanderphilosophen als Analogie hin.5 Wenige Jahre später deutete ich das Wandercharismatikertum als ein Phänomen sozialer Entwurzelung und Ausdruck einer Krise der jüdisch-palästinischen Gesellschaft (1977). Was ich in der damaligen Forschungssituation vorgefunden habe, war also die These von wandernden Propheten und Aposteln. Was ich an Neuem beigetragen habe, war ihre soziologische Deutung als „Wandercharismatiker“, den Hinweis auf die kynischen Analogien und den Begriff „Wanderradikalismus“. Denn ich hatte aus den Worten Jesu auf ein radikales Ethos der Heimatlosigkeit, Besitzlosigkeit, Familienferne und Schutzlo—————

1 Vgl. W. Stegemann: „Hinterm Horizont geht´s weiter“. Erneute Betrachtung von Gerd Theißens These zum Wanderradikalismus der Jesusbewegung, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 76–95. 2 A.v. Harnack, Die Lehre der Zwölf Apostel, Leipzig 1884. 3 G. Kretschmar, Ein Beitrag zur Frage nach dem Ursprung urchristlicher Askese, ZThK 61 (1964), 27–67. 4 P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster 1972. 5 G. Theissen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973), 245–271 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 79–105.

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sigkeit geschlossen und diese Praxis nur bei wandernden Charismatikern für möglich gehalten. Für einige war diese These anrüchig. Als mein katholischer Kollege H. J. Venetz sie in einem populären Buch übernahm,6 erhielt er ein Schreiben der Glaubenskongregation aus Rom mit kritischen Anfragen. Deren Vorsitzender war damals Kardinal Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. Dass die Kirche aus einer Bewegung von Vagabunden entstanden sein könnte, löste in Rom wenig Begeisterung aus. In meinem semifiktionalen Roman „Der Schatten des Galiläers“ (1986) habe ich dann im Gegenzug den inquisitorischen Kardinal Ratzinger in den lieben „Herrn Kratzinger“ verwandelt, der die Entstehung meines Jesusromans mit milder Skepsis verfolgt. Meine These wurde quer durch die Konfessionen akzeptiert, aber auch abgelehnt. Der katholische Neutestamentler M. Tiwald hat sie 2002 umfassend verteidigt.7 Der Begriff „Wanderradikalismus“ ist inzwischen in die neutestamentliche Sprache eingedrungen und wird benutzt, ohne meinen Namen zu nennen. Dennoch ist die These in einigen Punkten umstritten, zu denen ich in diesem Beitrag Stellung nehme. 1) So wurde kritisch gefragt: Hat diese Theorie vielleicht einen Subtext in der deutschen Wandervogelbewegung, die als Ausdruck eines „German imperialism“ die Deutung der Didache schon Ende des 19. Jahrhunderts beeinflusst hat (W.E. Arnal)?8 2) Kann man aus den Texten auf eine dauerhafte heimatlose Existenz der Jesusjünger schließen oder stellten die Jünger nur die Kommunikation zwischen den Dörfern Galiläas her und kehrten am Abend in ihre Häuser zurück (J.S. Kloppenborg u.a.)?9 Kurz: Handelt es sich um Langstreckenoder Kurzstreckenapostel? 3) Weiter ist die religionsgeschichtliche Frage zu klären: Welche Rolle spielen die kynischen Analogien von Wanderphilosophen, insbesondere unter dem Aspekt, dass sich die Aussendungsrede gegen die sichtbaren kynischen Identitätsmerkmale, Stab, Ranzen und Mantel, abgrenzt? Waren diese jüdischen Wandercharismatiker etwa selbst Kyniker (D. Crossan; B.L. Mack)?10 ————— 6

H.-J. Venetz, So fing es mit der Kirche an. Ein Blick in das Neue Testament, Zürich 51992. M. Tiwald, Wanderradikalismus. Jesu erste Jünger – ein Anfang und was davon bleibt, OSB 20, Frankfurt a.M. 2002. 8 W.E. Arnal, Jesus and the Village Scribes, Galilean Conflicts and the Setting of Q, Minneapolis 2001. 9 J.S. Verbin Kloppenborg, Excavating Q. The History and Setting of the Sayings Gospel, Edinburgh 2000. 10 J.D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Edinburgh 1991; Burton L. Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993. 7

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4) Schließlich ist die Frage zu beantworten: Ist diese Bewegung Ausdruck einer Krise der Gesellschaft? Verließen die Wandercharismatiker freiwillig oder aufgrund ökonomischer Not ihr bisheriges Leben? Oder wurden einige von ihnen wie die Hellenisten um Stephanus durch Verfolgung und Vertreibung heimatlos?11 Könnte man aus ihrer Existenz vielleicht sogar erschließen, dass sie eine wirtschaftliche Blütezeit bezeugen, in der die sesshafte Bevölkerung so viele vagabundierende Gestalten ernähren konnte (so G. Schöllgen mündlich mir gegenüber)? W. Stegemann hat selbst einen wichtigen Beitrag zur Beziehung zwischen kynischen Wanderphilosophen und urchristlichen Wandercharismatikern geleistet. Im Rahmen eines komparativen Vergleichs hatte ich auf die Kyniker hingewiesen, bei denen man eine Verbindung von Wanderexistenz und radikalem Ethos der Heimat-, Familien- und Besitzlosigkeit feststellen kann und auch Gewaltlosigkeit eine wichtige Rolle spielt. W. Stegemann hat diese Analogie positiv aufgegriffen, wollte sie aber auf die lukanische Interpretation der urchristlichen Wandercharismatiker beschränkt wissen.12 Implizit setzte er dabei voraus, dass die urchristlichen Wandercharismatiker ein jüdisches Phänomen waren, das erst sekundär nach paganen Modellen interpretiert worden ist. Explizit ging es ihm darum, den Eintritt in die Wanderexistenz nicht als Folge einer Lebensentscheidung (wie bei den Kynikern), sondern als Ausdruck ökonomischer Not in Palästina zu deuten. Andere Exegeten sahen dagegen in den urchristlichen Wandercharismatiker von vornherein „jüdische Kyniker“, die einen geschichtlichen Einfluss des Kynismus in Galiläa bezeugten. Galiläa wurde als offen für heidnische Einflüsse dargestellt. Bei D. Crossan (und anderen) wird sogar Jesus selbst als jüdischer Kyniker interpretiert. Am scharfsinnigsten hat diese letzte These B. Lang 2010 vertreten: Er sieht im Kreis um Johannes den Täufer und Jesus eine Synthese jüdischer Elia-Elisa Erinnerungen auf der einen Seite und kynischer Traditionen auf der anderen Seite. Den Einfluss kynischer Traditionen auf das Judentum weist er nicht nur durch die im Ostjordanland beheimateten kynischen Traditionen nach, sondern auch durch deren Spuren im Prediger Salomo und in einer Quelle, die von Philo in De specialibus legibus II,41–261 verarbeitet wurde.13

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11 So Th. Schmeller, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989. 12 W. Stegemann, Wanderradikalismus im Urchristentum? Historische und theologische Auseinandersetzung mit einer interessanten These, In. W. Schottroff/W. Stegemann, Der Gott der kleinen Leute, Bd.2, München/Gelnhausen 1979, 94–120. 13 B. Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010.

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Aus der Forschung hebe ich zwei weitere wichtige Erkenntnisse hervor: R. Uro14 kam bei seiner Interpretation der Aussendungsrede zu dem Resultat, dass in ihr wohl eine sachliche Analogie zu den kynischen Wanderphilosophen sichtbar wird, aber nur in Form einer negativen Abhebung. Die Jünger sollen gerade nicht wie Kyniker auftreten, also ohne Bettelsack, Stab und Mantel. Eine positive Einflussnahme des Kynismus ist daher unwahrscheinlich. Aber man kann m.E. daraus schießen, dass man in Galiläa „kynische Gestalten“ kannte, sonst würde man sich nicht von ihnen abgrenzen müssen. Das passt gut zu einem zweiten Ergebnis: Untersuchungen über Galiläa und seine religiöse Mentalität haben den jüdischen Charakter Galiläas immer wahrscheinlicher gemacht und die Annahme eines für das Heidentum offenen Galiläas als einen „Mythos“ dargestellt.15 Das macht den Einfluss kynischer Gedanken in Galiläa weniger wahrscheinlich – es sei denn in Form einer Abgrenzung von ihnen. W. Stegemann hat also schon früh ein echtes Problem gesehen: Kyniker gehören zur paganen Welt. Wir müssen erklären, warum mit Motiven, die an Kyniker erinnern, ein genuin jüdisches Phänomen gedeutet wurde. Als W. Stegemann 1978 seine Kritik der Wanderradikalismusthese veröffentlichte, ging es ihm freilich weniger um die religionsgeschichtliche Ableitung des Wandercharismatikertums als um dessen „idealistische“ Deutung im Lukasevangelium als Ausdruck einer Nachfolgeentscheidung (nach dem Modell der Kyniker) bzw. seine „materialistische“ Deutung als Ausdruck ökonomischer Not, die er für die ersten Wanderpropheten hinter der Logienquelle annahm. Er vertrat zusammen mit Luise Schottroff eine sozialkerygmatische Interpretation: Die ersten Wanderpropheten brachten Hoffnung für die Armen und eine soziale Botschaft.16 Dieser Typos von Kritik hat mich seitdem begleitet: Mein sozialgeschichtlicher Zugang galt vielen als zu wenig „materialistisch“ und „sozial engagiert“, ja man empfand die in meiner Arbeit erkennbare Haltung als „konservativ“ und kritisierte sie daher aus der Sicht einer befreiungstheologischen, feministischen oder jüdisch-christlichen Exegese. In der Regel bin ich auf Überlegungen zu meinen politischen Überzeugungen in diesem Zusammenhang nicht eingegangen. Darum darf ich es hier ausnahmsweise tun, um im ersten Teil einige Dinge zurechtzurücken.

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14 R. Uro, Sheep among the Wolves. A Study of the Mission Instructions of Q, AASF 47, Helsinki 1987, 119. 15 M. Chancey, The Myth of Gentile Galilee, MSSNTS 118, Cambridge 2002. 16 L. Schottroff/W. Stegemann, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978.

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1) Der Wanderradikalismus und sein zeitgeschichtlicher Kontext Es geht in diesem ersten Abschnitt um den zeitgeschichtlichen Kontext der Wanderradikalismusthese, d.h. konkret, um mein Verhältnis zur Wandervogelbewegung und zum Wandern, zum Radikalismus und zum soziologischen Strukturfunktionalismus als einer konservativen Sozialtheorie. Danach diskutiere ich die Frage, ob es sich bei den Wandercharismatikern um Lang- oder Kurzzeitapostel handelte, wie ihr Verhältnis zu den Kynikern war und ob sie Ausdruck einer Anomiekrise waren oder einer pauperistischen Verelendung. Wanderradikalismusthese und Wandervogelbewegung Der Verdacht, A.v. Harnack sei bei seiner 1884 veröffentlichten Interpretation der Didache auf wandernde Autoritäten im frühen Urchristentum von der deutschen Wandervogelbewegung bestimmt gewesen (W.E. Arnal), wird durch die Chronologie widerlegt: Der Wandervogel entstand erst vierzehn Jahre nach der Veröffentlichung der Didache 1896 in Berlin, die eigentliche Vereinsgründung geschah erst 1901 in Berlin-Steglitz. Er war eine Protestbewegung, Ausdruck von romantischer Natursehnsucht und Zivilisationskritik, Lebensphilosophie und Lebensreform. Diese Jugendbewegung war in die Geschichte des deutschen Imperialismus verstrickt, aber etwas anders, als W.E. Arnal meint: Am Anfang des 1. Weltkriegs zogen viele Wandervögel begeistert in den Krieg. Von den Überlebenden wurden einige zu Militaristen, andere zu Pazifisten. Nach 1919 formierten sie sich neu als „Bündische Jugend“. Diese wurde von den Nationalsozialisten bekämpft. Sie sahen in ihr eine Verlotterung der deutschen Jugend, ahmten jedoch in der Hitlerjugend deren Lebensformen nach. Nicht alle Gruppierungen der von ihnen bekämpften Bündischen Jugend waren demokratisch. Viele konnten nach 1933 ohne inneren Bruch in der Hitlerjugend aufgehen. Jedoch gab es auch die deutsche „Freischar“, die sich mit der Pfadfinderbewegung zusammentat und eine der wenigen demokratischen Bewegungen in der Weimarer Republik war. Aus dieser „Freischar“ ging die „Deutsche Jungenschaft“ hervor. Einige Mitglieder des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der „Weißen Rose“ um die Geschwister Scholl stammen aus der „d.j.1.11.“, der „Deutsche Jungenschaft vom 1.11.“, wie sie sich nach ihrem Gründungsdatum nannte. Ihr Gründer Eberhard Koebel, genannt „Tusk“, musste 1934 emigrieren. Er hatte in die Jugendbewegung die Jungenschaftsjacke eingeführt und aus Lappland die Kohte importiert: ein Zelt, in dem man Feuer machen und im Winter zelten kann. Die Jungenschaft internationalisierte ferner das bis dahin deutsche Liedgut der Jugend-

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bewegung. An seine Stelle trat die Folklore aller Völker. Warum erzähle ich das so ausführlich? Ich bin in dieser Jugendbewegung groß geworden, habe ihre Jungenschaftsjacken getragen, habe in ihren Kohten übernachtet und ihre Lieder mit Gitarre begleitet. Ich bin 1956 durch Lappland gewandert und wandere noch heute gerne. Bei den „Christlichen Pfadfindern“ gehörte ich zum so genannten „jungenschaftlichen Flügel“, der gegenüber den prämilitärischen Traditionen der Pfadfinderbewegung misstrauisch war. Dieser Flügel war romantisch-anarchistisch, aber nicht mehr, als Jugendliche manchmal romantisch und anarchistisch sind. Erklärt das die Wanderradikalismusthese? War sie für mich so plausibel, weil ich wusste, dass man beim Wandern ohne festen Ort auf radikale Ideen kommen kann? War es wichtig, dass wir keine Kurzstreckenwanderer waren, die abends zu ihrem Standort zurückkehrten, sondern Langstreckenwanderer, die jeden Abend anderswo ihre Zelte aufschlugen, obwohl das an den meisten Orten verboten war? War für mich deshalb plausibel, dass man mit wenig Geld lange Strecken wandern kann, weil wir spartanisch lebten und (damals) mit zwei D-Mark pro Tag auskamen? Natürlich ist richtig: Wer immer wieder Unterschlupf bei fremden Menschen fand, wenn er vom Regen durchnässt war, hält es leichter für möglich, dass das ganze Leben eine Wanderexistenz ist. Abwegig aber ist, dass in der Wanderbewegung ein deutscher Expansionsdrang steckt, erst recht, dass solche Motive in der Wanderradikalismusthese stecken! Es gab nach 1945 nationalistische Elemente in der Jugendbewegung, aber gerade ihretwegen heftige Konflikte. Als wir 1956 zu einer Reise durch Finnland, Schweden und Norwegen aufbrachen, wollte der Leiter der „Fahrt“ die Nationalflagge jeden Morgen in einem Flaggenappell im Lager hissen. Ich protestierte dagegen. Deshalb wurde ich von der Fahrt ausgeschlossen, dann aber gegen das Versprechen zugelassen, die Flaggenzeremonie nicht zu stören. Sie hat nur einmal stattgefunden, da sie auch bei den anderen nicht ankam. Insgesamt gilt aber auch hier: Eine Interpretation erhält ihre Geltung nicht durch ihren Entstehungskontext, sondern durch Beobachtungen und Argumente. Entstehungs- und Geltungszusammenhang sind zu unterscheiden. Die Entstehungsgeschichte der Wanderradikalismusthese führt zwar in den Kontext des „Wandervogels“, aber der erklärt allenfalls den ersten Teil des Begriffs „Wandern“. Insofern hat W.E. Arnal intuitiv etwas Richtiges gesehen. Für den zweiten Teil „Radikalismus“ ist ein anderer Kontext viel wichtiger. Wanderradikalismus und Radikalismus in den 70er Jahren Als ich in meiner Antrittsvorlesung als Privatdozent 1972 den Begriff „Wanderradikalismus“ prägte, hatte er einen anderen „Subtext“: Bei „Radi-

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kalismus“ dachten alle an die Studentenbewegung von 1968. Sie radikalisierte sich damals in einigen ihrer Ausläufer. Die Baader-Meinhof-Gruppe wollte mit Terror eine gerechtere Welt herbeizwingen. In Reaktion darauf wurde am 28. Januar 1972 der Radikalenerlass beschlossen, der jedem in der Bundesrepublik Deutschland den Eintritt in den öffentlichen Dienst verwehrte, wenn er in den Verdacht politischer Radikalität gekommen war. Als ich am 25.11.1972 meine These zum „Wanderradikalismus“ öffentlich vortrug, war das indirekt ein Protest gegen den Radikalenerlass: Selbst Jesus und die ihm nachfolgenden Gründer des Christentums hätte man des Radikalismus verdächtigen können! Als im Jahr 1975/6 meine Berufung an die Universität Kiel am (informellen) Einspruch der nordelbischen Kirche scheiterte, kam ich im Ausland in den (unzutreffenden) Ruf, Opfer des Radikalenerlasses zu sein. Nach meiner Berufung an die Universität Kopenhagen im Jahr 1978 habe ich das in Gesprächen richtig gestellt. Ich war kein „Märtyrer“ des Radikalenerlasses, aber ich habe ihn abgelehnt. Er war ein Verlust an Liberalität in unserem Land. Willy Brandt, der ihn auf Vorschlag der Innenministerkonferenz eingeführt hatte, hat ihn später als Fehler bewertet. Wenn es also einen entstehungsgeschichtlichen Subtext für den „Wanderradikalismus“ gibt, so ist er hier zu suchen. Hier stimmt die Chronologie. Anfang des Jahres 1972 wurde der Radikalenerlass beschlossen, im Laufe des Jahres entwickelte ich den Begriff „Wanderradikalismus“ und trug ihn im November desselben Jahres öffentlich vor. Natürlich kann man einwenden: Waren solche Wortschöpfungen vielleicht nur Mimikry eines zutiefst konservativ denkenden Menschen, der sich nur oberflächlich an eine „progressive“ Umwelt angepasst hat? Diese Frage wurde tatsächlich gestellt. Wanderradikalismus und Strukturfunktionalismus R.H. Horsley hat eine konservative Ideologie hinter meinen theoretischen Überlegungen zu einer Soziologie des Urchristentums vermutet.17 Als konservativ gilt dabei vor allem der Funktionalismus, der alle Erscheinungen des sozialen Lebens daraufhin untersucht, welchen Beitrag sie zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung leisten. Dieser Funktionalismus ist bei schriftlosen Kulturen berechtigt, auch wenn er in ihnen nicht alles erklären kann, wie u.a. die interpretative Kulturanthropologie zeigt. Durch T. Par—————

17 R.A. Horsley, Sociology and the Jesus Movement, New York 1989, Part I: Theissen’s Sociology of Early Palestinian Christianity, S. 13–64. Horsley deutet die Jesusbewegung als eine Bewegung zur Erneuerung des Lebens in den jüdischen Dörfern – schreibt ihr also eine „Funktion“ zur Erhaltung dieses Lebens zu. Seine Deutung ist weit mehr eine funktionalistische Deutung der Jesusbewegung als meine Interpretation.

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sons wurde der Funktionalismus dann als Strukturfunktionalismus zur Analyse differenzierter Gesellschaften weiter entwickelt. Anfang der 70er Jahre gab es (nach meiner damals begrenzten Wahrnehmung) in der Soziologie vor allem die Alternative zwischen marxistischen, struktur-funktionalistischen und verstehenden Ansätzen. Sie entsprachen den drei großen Klassikern der Soziologie: Karl Marx, E. Durkheim und M. Weber. Ich wählte den funktionalistischen Ansatz als Rahmen, versuchte aber in diesen Rahmen, marxistisch inspirierte Konflikttheorien einzuzeichnen und verband damit einem verstehenden Ansatz, der für eine von Texten ausgehenden Sozialgeschichte ohnehin der nächstliegende Ansatz war. Um Veränderungen zu verstehen, ist man zunächst auf eine verstehende Soziologie angewiesen. „Verstehen“ nimmt den Sinn ernst, den Menschen ihren Handlungen zuschreiben. Aus dieser Tradition übernahm ich von Max Weber den Gedanken, dass „Charisma“ eine Kraft der Veränderung ist: Einzelne Menschen gewinnen aufgrund einer irrationalen Ausstrahlungskraft Anhänger und formen aus ihnen eine Bewegung, die neuen Mustern des Verhaltens oder des Denkens zum Durchbruch verhilft. Wenn ich die Träger der neuen Jesusbewegung „Wandercharismatiker“ nannte, hatte ich diese innovative Kraft von Charisma vor Augen. Wenn man nach der Funktion solcher sozialer Erscheinungen fragt, schien es mir sinnvoll, nicht nur nach ihrer Funktion für die Erhaltung der bestehenden Ordnung, sondern mehr noch nach ihrer Rolle bei Änderungen zu fragen. Denn ich war überzeugt, dass nur sich verändernde Gesellschaften langfristig eine Chance haben. Von R. Dahrendorf, einem liberalen Gesellschaftstheoretiker, übernahm ich den Gedanken: „Konflikte“ (einschließlich des Klassenkonflikts) sind „Mittel sozialer Veränderung, ohne die keine Gesellschaft überleben kann“.18 Darin besteht ihre „Funktion“, also gerade nicht in der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Durch Aufnahme solcher konflikttheoretischer Überlegungen wollte ich der Bedeutung des Klassenkampfs gerecht werden, verband aber mit ihm nicht die utopische Vision seiner Überwindung in einer klassenlosen Gesellschaft. Weil ich daran nie geglaubt habe, bin ich nie ein Marxist gewesen, wohl aber Anhänger eines „demokratischen Sozialismus“ oder einer „sozialen Demokratie“ – und bin es noch heute. Meine Überzeugung war und ist: „Formalisiert man den marxistischen Ansatz zu einer allgemeinen Konflikttheorie der Gesellschaft, so kann er für die Analyse des Urchristentums wertvoll sein. Neue Bewegungen wie die —————

18 Vgl. G. Theißen, Theoretische Probleme religionssoziologischer Forschung und die Analyse des Urchristentums, NZThR 16 (1974), 35–56, dort S. 46 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, 66.

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Jesusbewegung entstehen oft im Spannungsfeld sozialer Konflikte: dem soziopolitischen Konflikt zwischen verschiedenen Herrschaftsstrukturen in Palästina, zwischen Imperium, Monarchie und Theokratie, dem sozioökologischen Konflikt zwischen Stadt und Land, dem sozioökonomischen zwischen produzierenden und profitierenden Schichten, dem soziokulturellen zwischen verschiedenen Gruppen, die das ‚wahre Israel‘ zu verkörpern beanspruchen.“19 In einem Vortrag in Cambridge habe ich 1988 dieses konfliktorientierte Geschichtsbild in zwei Thesen zusammengefasst: „Erstens: Geschichte lässt sich als Verteilungskampf um Lebenschancen begreifen. Dieser Verteilungskampf geht nicht nur zwischen Individuen vor sich, sondern auch zwischen sozialen Gruppen und Klassen. Gerungen wird um die Verteilung von Macht, Reichtum, Bildung und Prestige. Zweitens: Jeder Verteilungskampf ist mit einem Legitimationskampf verbunden, in dem Anspräche begründet, verteidigt oder angefochten werden. ... In vorindustriellen Gesellschaften geschieht dieser Legitimationskampf mit Hilfe religiöser Überzeugungen und Symbole.“20 Ist das konservative Ideologie? Wohl kaum! Wenigstens bin ich meinem Selbstverständnis nach nie konservativ gewesen, sondern habe mich eher als „linksliberal“ betrachtet.

2) Wandercharismatiker – Kurz- oder Langstreckenwanderer? Doch kommen wir von solchen biographischen Fragen zurück zu den entscheidenden sachlichen Problemen. Die Hauptfrage ist: Gab es überhaupt wandernde „Existenzen“ im Urchristentum? Oder handelt es sich nur um Verbindungsleute zwischen galiläischen Dörfern, die abends nach Hause zurückkehrten?21 Schon Jesus könnte eine Basis in Kapernaum gehabt haben und sich jeden Tag am Abend dorthin zurückgezogen haben. In Galiläa sind viele Orte durch einen Tagesmarsch erreichbar. Freilich halte ich einen Wirkungsradius von mehr als 30 km für unwahrscheinlich – das entspräche Märschen von 60 km pro Tag von ca. zwölf Stunden, zu der an den Zielorten ja noch Zeit für einen Aufenthalt kommen muss. Ohne Übernachtungen hätten Jesus und seine Jünger von Kapernaum aus nicht einmal ganz Galiläa erreichen können, erst recht nicht die Gebiete jenseits der Grenzen Galiläas: Von Tyros und Sidon, Caesarea Philippi oder von der Dekapolis aus war an eine sofortige Rückkehr nicht zu denken. Aber auch innerhalb von Galiläa ————— 19

G. Theissen, Theoretische Probleme, 49 = Studien, 69. G. Theissen, Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, NTS 35 (1989), 343–360, S. 343 = Jesus als historische Gestalt, 135. 21 So zuletzt noch einmal J-P. Michaud, De quelques présents débats dans la troisième quête, in : De Jésus à Jésus-Christ, I. Le Jésus de l’Histoire, Paris 2010, 189–214, bes. 201–203. 20

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lagen Sepphoris und Nazareth von Kapernaum gesehen zu weit weg, um noch am selben Tag zurückkehren zu können. Sollten längere Reisen wirklich nur Ausnahmen gewesen sein, wie manche meinen? Aber nicht nur die geographischen Distanzen, auch die Texte sprechen eher für Wanderungen mit Übernachtungen. Was meint die Aussendungsrede anderes, wenn sie davon spricht, dass die ausgesandten Jünger in Häusern und Dörfern „aufgenommen“ werden (Lk 10,8.10; Mk 6,11)? Sollen sie nur mit einem Essen bewirtet werden, oder ist dabei auch an Übernachtung gedacht? Das Wort „Aufnehmen“ (FGEGUSCK) umschließt an anderen Stellen eindeutig auch eine Übernachtung – so in der Geschichte von der Abweisung Jesu und seiner Jünger in einem samaritanischen Dorf (Lk 9,51–56) oder bei der Aufnahme der Kundschafter durch die Hure Rahab (Hebr 11,31 vgl. Jos 2). Wahrscheinlich ist das auch für 2Kor 7,15 und Kol 4,10 vorauszusetzen. Man kann diese Bedeutung für die Aussendungsrede auf keinen Fall ausschließen, zumal die Mahnung, nicht von Haus zu Haus zu wechseln (Lk 10,7) bzw. im selben Haus zu „bleiben“ (Lk 10,7 u.ö.) einen besseren Sinn macht, wenn sie sich auf ein sukzessives Übernachten in verschiedenen Häusern bezieht. „Bleiben“ meint ja auch in Lk 24,29, Joh 4,40, Apg 16,15 u.ö. ein Verweilen mit Übernachtung für eine Nacht oder mehrere Nächte. Ferner setzen manche Texte wie die Perikope von der Aufnahme Jesu in einem samaritanischen Dorf (Lk 9,51–56), die Aufnahme Jesu durch Zachäus (Lk 19,1–10) und die Emmausgeschichte (Lk 24,13–32) ganz selbstverständlich voraus, dass Jesus und seine Jünger bei ihren Wanderungen auswärts übernachteten (vgl. Joh 4,40). Praktisch war das möglich: Jesus hatte zwölf Jünger aus verschiedenen Orten Galiläas und vielleicht Judäas, zu deren Häusern und Dörfern Beziehungen vorhanden waren. Vor allem wird ihm seine charismatische Heilgabe die Türen geöffnet haben. Dass man vorbeikommende Bekannte beherbergt, zeigt das Gleichnis vom bittenden Freund, der um Übernachtung bittet (Lk 11,5–8). Nicht die Bitte um Übernachtung, ist hier das Problem, sondern dass der Freund erst um Mitternacht anklopft. Trotzdem hören wir die Klage, dass der Menschensohn nichts hat, wohin er sein Haupt legen kann, aus der Luft gegriffen sein (Mt 8,20)? Nicht überall fand er eine Unterkunft. Die Aussagen der Apostelgeschichte über die Wanderungen der Apostel weisen ebenfalls auf Übernachtungen: Petrus übernachtet einmal in Joppe und bleibt in Caesarea mehrere Tage (Apg 10,9.48). Ähnliches darf man für die Wanderungen des Philippus zwischen Samarien, Aschdod und Caesarea vermuten (Apg 8,4–40). Die schnelle Ausbreitung der Jesusbewegung bis nach Damaskus und Antiochien erklärt sich ungezwungener, wenn man mit „Langstreckenaposteln“ rechnet. Wie wäre sonst denkbar, dass in Antiochien kurz nacheinander eine Gruppe von Propheten um Agabus, dann

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Petrus und schließlich noch Gesandte des Jakobus auftreten konnten (Apg 11,27f; Gal 2,11ff)? Das „Langstreckenmodell“ dieser Apostel konnten Paulus und Barnabas viel besser weiterentwickeln, als sie zu Wandermissionaren wurden, als das „Kurzstreckenmodell“. Bei ihrer Zypern- und Kleinasienmission konnten sie unmöglich jeden Tag nach Hause zurückkehren. Dasselbe gilt für die Gegenmissionare des Paulus in Galatien, Philippi und Korinth. Hinzu kommt, dass die Didache für Apostel nur eine, höchstens zwei Übernachtungen vorsieht, also mit Langstreckenaposteln rechnet, die nicht am selben Tag zurückkehren. Alternative Deutungen der Didache sind m.E. sehr gezwungen. Nun wird eine Annahme vor allem dann historisch abgesichert, wenn man Parallelen in der damaligen Zeit findet. Kynische Wanderphilosophen waren ein vertrautes Phänomen. Aber wie konnten sie Einfluss auf einfache Menschen im Judentum ausüben? Dazu sei in Fortführung der Diskussion über Kynismus und urchristliche Wanderexistenz, die W. Stegemann einst angestoßen hat, eine Deutung mit einigen neuen Akzenten skizziert.

3) Wandercharismatiker und Kyniker In der jüdischen Welt kommt nur Judas Galilaios als Wanderlehrer vor Jesus in Frage!22 Judas stammt aus der Gaulanitis. Er lehrte eine Zeit lang in Galiläa und wurde in dieser Zeit der „Gaulaniter“ genannt (Ant 18,4). Als er nach 6 n.Chr. in Judäa gegen die Steuerschätzung agitierte, nannte man ihn den „Galiläer“ (Ant 18,23; 20,102; Bell 2,433; vgl. Apg 5,37). Die beiden Beinamen lassen darauf schließen, dass Judas zwei Mal den Ort seiner Wirksamkeit verlegt hat. Tat er es, indem er sein Lehrhaus verlegte? Oder trat er als wandernder Lehrer auf? Für die zweite Möglichkeit spricht folgende Überlegung: Wenn Judas Galilaios das ganze Volk zur Steuerverweigerung aufrufen wollte, konnte er nicht in seinem Lehrhaus warten, bis Schüler zu ihm kamen. Er musste den Menschen in den Dörfern seine Botschaft bringen. Das spricht dafür, dass er und sein Mitstreiter, der Pharisäer Sadduk, als Wanderlehrer gewirkt haben. Eine Analogie zwischen ihrer Kampagne gegen die Steuerzahlung mit einer späteren Werbung für die Steuerzahlung macht das plausibel. Kurz vor Ausbruch des jüdischen Kriegs wollte die jüdische Aristokratie in einer letzten Kraftanstrengung —————

22 Das Folgende habe ich ausführlicher entfaltet in: Jesus as an Itinerant Teacher. Reflections from Social History on Jesus’ Roles, in: J.H. Charlesworth/P. Pokorný, Jesus Research. An International Perspective. The First Princeton-Prague Symposium on Jesus Research, Grand Rapids/ Cambridge U.K. 2009, 98–122.

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den Frieden retten: „Die Volksführer und Ratsherren verteilten sich auf die Dörfer und sammelten die Steuern ein“ (Bell 2,405). Mussten sich die Gegner der Steuerzahlung nicht ebenso auf die Dörfer verteilen? Wie anders hätten sie das Volk beeinflussen können? Es fällt nun auf, dass sich Jesus in seiner Aussendungsrede zweimal von anderen Gruppen abzugrenzen scheint: Erstens befiehlt er, in die Häuser mit dem Friedensgruß einzutreten (QLk 10,5). In der lukanischen Version der Aussendungsrede ist der Frieden davon abhängig, dass man im Hause einen „Sohn des Friedens“ antrifft (Lk 10,6). Es ist nicht nötig, solche Worte in die Zeit des jüdischen Kriegs zu datieren, in der sich christliche Missionare von der Kriegspartei abgrenzen mussten (P. Hoffmann).23 Wahrscheinlicher ist, dass die Aussendungsrede das Auftreten der Jünger Jesu von der Kampagne des Judas Galilaios abgrenzen will. Seine Steuerverweigerung war eine Kriegserklärung. Die Jesusboten aber sollten von Anfang an klar machen, dass ihr Erscheinen kein Wiederaufleben dieser Kampagne war. Noch ein zweiter Zug der Aussendungsrede enthält eine Abgrenzung: Die Instruktionen zur Ausrüstung nehmen kritisch auf die Identitätsmerkmale kynischer Wanderphilosophen Bezug. Die Jesusboten sollen ohne Ranzen und Stab losziehen, also nicht wie Kyniker. Das macht nur Sinn, wenn kynisch stilisierte Wanderprediger bei den Adressaten bekannt waren. Nun sind kynische Traditionen in der Nachbarschaft Galiläas belegt. In Gadara können wir sie über Jahrhunderte hinweg verfolgen. Es ist daher möglich, dass die äußeren Identitätsmerkmale kynischer Wanderphilosophen in Galiläa bekannt waren. Beide Abgrenzungen gehören m.E. zusammen. Es könnte sein, dass sich Judas Galilaios (und einige seiner Anhänger) als kynische Wanderphilosophen stilisiert haben. Josephus stellt ihn als Gründer einer „vierten Philosophie“ im Judentum vor (Ant 18,23). Er vergleicht die Essener mit den Pythagoräern (Ant 15,371), die Pharisäer mit den Stoikern (Vita 12) und suggeriert bei den Sadduzäern eine Verwandtschaft mit den Epikuräern. Für die vierte Philosophie bleiben dann nur die Kyniker als Entsprechung zu den bekannten Philosophenschulen übrig. Dafür spricht auch folgendes Argument: Josephus betont, dass Judas Galilaios mit seiner vierten Philosophie in allem den Pharisäern folgt – bis auf eine unbändige Liebe zur Freiheit. In seinen Augen ist die Philosophie des Judas Galilaios also eine radikale Abspaltung von der pharisäischen „Philosophie“. Letztere hatte er mit der Stoa gleichgesetzt (Vita 12). Dann aber mussten er und andere gebildete Leser Judas Galilaios für eine Art Kyniker halten. Denn der Kynismus ————— 23

P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA N.F. 8, Münster 1972 31982, 296–302.310–311.

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wurde als ein radikalisierter Stoizismus erlebt. Ein kynischer Einfluss ist bei Judas Galilaios zudem geschichtlich möglich. Er stammte aus Gamala, einer jüdischen Stadt auf den Golanhöhen, die nicht allzu weit von Gadara lag, wo kynische Traditionen über mehrere Jahrhunderte hinweg nachweisbar sind. Seine kynische Schale wird oberflächlich gewesen sein. Man konnte mit Bart, Ranzen und Wanderstock herumlaufen, ohne ein echter Kyniker zu sein. Historisch gesichert ist ferner, dass sich Jesus von der Lehre des Judas Galilaios abgrenzen musste. Das belegt das Gespräch über die Steuerfrage (Mk 12,13–17). Denn nur Judas Galilaios hatte vor Jesus diese Frage aufgeworfen. Wenn sich Jesus dagegen wehren musste, in die Nähe des Judas Galilaios gerückt zu werden, so ist nicht undenkbar, dass er sich auch an anderen Stellen von ihm indirekt abgegrenzt hat – und das um so mehr, als er mit Judas Galilaios einen Grundzug der Verkündigung teilte: die radikaltheokratische Botschaft von der Herrschaft Gottes. Sie wirkte wie eine Neuauflage der Botschaft des Judas Galilaios, dass Gott allein herrschen soll. Wenn Jesus seine Jünger mit der Botschaft vom nahen Gottesreich in die Dörfer Galiläas und Judäas schickte, so tat er gut daran, ihnen Instruktionen mit auf den Weg zu geben, die sie davor bewahrten, mit Vertretern der letzten großen Kampagne verwechselt zu werden. Daher die Betonung der Friedensbotschaft, daher die Abgrenzung vom typisch kynischen „Outfit“. Diese Hypothese könnte m.E. das Wahrheitsmoment der umstrittenen „Kynikerthese“ erfassen, rechnet aber im Unterschied zu ihr nicht mit einem direkten Einfluss des Kynismus, sondern nur mit einem indirekten Einfluss durch Abgrenzung. Sie setzt auch nicht voraus, dass Judas Galilaios ein wirklicher Kyniker war. Er war es so wenig, wie die Pharisäer Stoiker oder die Essener Pythagoräer waren. Angenommen wird nur eine äußere Angleichung an die Kyniker. Die Wanderexistenz Jesu könnte insofern indirekt auf kynischen Einfluss zurückgehen. Aber auch manche Inhalte haben erstaunliche Parallelen bei den Kynikern. An erster Stelle ist die Forderung des radikalen Besitzverzichts zu nennen, zu der es im Judentum keine Analogien gibt (Mk 10,21), oder die provozierende Verletzung von Pietätsnormen, wenn ein Nachfolger seinen verstorbenen Vater nicht begraben darf (Mt 8,21f). Ein allgemeines Sprichwort wie das von den Gesunden, die den Arzt nicht nötig haben (Mk 2,17), hat Parallelen bei Kynikern (Dio von Prusa or. 8,4–5). Für Feindesliebe und Gewaltverzicht finden wir in Epiktets Rede über den Kyniker eine wichtige Entsprechung (Epikt. Diss. III, 22,54) Aber weder Judas Galilaios noch Jesus von Nazareth folgten mit ihrem Verhalten direkt griechischen Modellen. Sie waren tief in den Traditionen ihres eigenen Volkes verwurzelt, die sich aber nicht isoliert von ihrer Umwelt entwickelt hatten. Mit ihrer Selbststilisierung knüpften sie mehr an die Symbolhandlungen der jüdischen Propheten an als an das Auftreten kynischer Wanderphilosophen,

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Kynische und urchristliche Wandercharismatiker

von denen sie sich betont unterschieden. Darin unterscheidet sich meine Deutung auch von der bestechenden kynischen Deutung Jesu durch B. Lang. Wer sagt: „Ihr sollte das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zertreten“ (Mt 7,6) hat kein positives Verhältnis zu heidnischen Kynikern, sondern warnt eher vor ihnen. „Schweine“ lassen assoziativ an Heiden denken. „Hunde“ könnten sogar direkt Kyniker meinen, die Hunde-Philosophen der Antike. Dieses Wort Jesu ist freilich sehr dunkel und konnte von niemandem bisher befriedigend gedeutet werden.24 W. Stegemann hatte schon früh in der „kynischen Deutung“ des urchristlichen Wandercharismatikertums ein Problem gesehen. Nur dem späteren (mit der griechisch-hellenistischen Welt vertrauten) Lukasevangelisten traute er eine solche Deutung zu. Richtig war bei seiner Anfrage, dass die Deutung der Jünger Jesu nach kynischen Modellen ein geschichtliches Rätsel aufwirft: Wie konnte ein griechisch-hellenistisches Lebensstilmodell unter Juden wirksam werden? Vielleicht habe ich mit meinen Überlegungen zeigen können, in welcher Richtung die Lösung dieses Rätsels zu suchen ist.

4) Wandercharismatiker – Ausdruck von Anomie oder Pauperismus? Die zweite von W. Stegemann zusammen mit L. Schottroff aufgeworfene Frage betraf die ökonomische Bedingtheit sozialer Entwurzelung, wie sie sich in heimatlosen Wandercharismatikern zeigt. Auch hier sollten die Unterschiede zwischen unseren Deutungen nicht übertrieben werden. Gemeinsam ist uns eine Krisendeutung der Jesusbewegung, also die Annahme, dass ihre Entstehung durch Spannungen in der jüdischen Gesellschaft in Palästina bedingt ist. Die Unterschiede liegen darin, dass ich keine pauperistische Erklärung der ganzen Jesusbewegung vertreten habe. Einige Jünger werden von ökonomischer Not getrieben Haus und Hof verlassen haben, aber nicht alle. Entscheidend war für mich die Entstehung von „Anomie“, eine Auflösung traditioneller Lebensorientierungen. Sie entsteht auch dann, wenn in einer Gesellschaft die Wirtschaft aufblüht, wenn einige rasch aufsteigen, andere aber zurückbleiben oder von Abstieg bedroht sind. In solch einer Krise kann soziale Entwurzelung zunehmen – und die Verhal————— 24

5

Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt1–7), EKK I/1, Düsseldorf/Neukirchen 2002, 494–498.

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Zu W. Stegemann: „Hinterm Horizont geht’s weiter“

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tensrolle von „Aussteigern“ aus der Gesellschaft auch von denen übernommen werden, die ökonomisch nicht in Not sind. Für soziale Entwurzelung waren neben ökonomischer Not auch Verfolgungen verantwortlich. Das gilt sicher für die nachösterliche Zeit. Die Verfolgung des Stephanus hat einige seiner Anhänger wie den Philippus zu Wandermissionaren gemacht. Aber auch für die Lebzeiten Jesu müssen wir mit Konflikten rechnen, die hin und wieder Jünger in die Wanderexistenz getrieben haben. Konflikte sind nicht unbedingt ökonomisch bedingt. Wahrscheinlich war Galiläa im damaligen Palästina nicht die allerärmste Region. Josephus schildert sie als eine blühende Landschaft. Knochenfunde von Menschen aus jener Zeit weisen nicht auf Unterernährung. Wenn in dieser Zeit viele Menschen eine Gruppe von Wandercharismatikern zusätzlich unterhalten konnten, muss es bei den sesshaften Sympathisantengruppen einen Überschuss gegeben haben, den man „vagabundierenden Bettlern“ schenken konnte (G. Schoellgen). Wenn diese „Bettler“ demonstrativ Reichtumskritik und Besitzverzicht vertraten, so konnten sie damit Resonanz bei Armen und Reichen finden. Reichtumskritik gab es auch in den gehobenen Schichten, obwohl es eine Übertreibung ist, dass wir sie nur hier finden.25 Vieles spricht also dafür, dass das Heimatland der Jesusbewegung damals wirtschaftlich aufblühte und eben deswegen eine Krise erlebte. In solchen Zeiten werden traditionelle Werte genauso in Frage gestellt wie in Zeiten des Abstiegs und Verfalls. In solch eine Zeit würde die Verkündigung Jesu gut passen. Vor ihm hatte Judas Galilaios die entscheidende Alternative in der Wahl zwischen Gott und dem Kaiser gesehen. Jesus sieht dieselbe Alternative auf dem Gebiet der Ökonomie. Für ihn lautet die radikaltheokratische Alternative: Gott oder Mammon.26

* Wie immer man die Jesusbewegung mit der damaligen sozialen Situation in Verbindung bringt, man muss nach solchen Zusammenhängen fragen. Das wurde erst mit der sozialgeschichtlichen Exegese eine Selbstverständlichkeit. Dabei spielt eine geringere Rolle, ob man sozialgeschichtliche Exegese sozialdeskriptiv, sozialwissenschaftlich, sozialkerygmatisch oder “materia—————

25 Vgl. die These von Th.E. Schmidt, Hostility to Wealth in the Synoptic Gospels, JSNT.S 15, Sheffield 1987. 26 Vgl. A. Merz, Mammon als schärfster Konkurrent Gottes – Jesu Vision vom Reich Gottes und das Geld, in: S.J. Lederhilger (Hg.), Gott oder Mammon. Christliche Ethik und die Religion des Geldes, Linzer philosophisch-theologische Beiträge 3, Frankfurt a.M. 2001, 34–90.

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Kynische und urchristliche Wandercharismatiker

listisch“ treibt.27 Alle Ansätze haben ihre Berechtigung, auch wenn solch ein Pluralismus für viele ein typisch „liberales“ akademisches Denken ist, das einer „engagierten Lektüre“ im Wege steht, die aus den Texten nur die eine bewegende Botschaft heraushören möchte. Innerhalb der deutschsprachigen Exegese sah es damals oft so aus, als würde sich die sozialgeschichtliche Exegese in einen „engagierten“ und einen „akademischen“ Flügel spalten. W. Stegemann hat in dieser Situation Brücken gebaut und beide Flügel in einem „Neuendettelsauer Arbeitskreis“ in den 80er und 90er Jahren zusammengeführt. Später hat er auf internationaler Ebene die KontextGruppe um B.J. Malina, die sich zunächst deutlich von der traditionellen sozialgeschichtlichen Forschung abgegrenzt hatte, in Tutzing im Jahr 1999 und 2009 mit deutschsprachigen Vertretern der Sozialgeschichte zusammengebracht.28 Durch Einführung der kulturanthropologischen Exegese hat er zudem die Sozialgeschichte vertieft. Hinter jedem Horizont geht es weiter. Die urchristlichen Wandercharismatiker wandern auf jeden Fall noch immer durch die Köpfe vieler Exegeten – und einige sind davon überzeugt, dass sie auch einst in Wirklichkeit durch Palästina gewandert sind.

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27 Zu dieser Einteilung der Richtungen innerhalb einer sozialgeschichtlichen Exegese vgl. R. Hochschild, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung, NTOA 42, Fribourg/Göttingen 1999, 207–244. W. Stegemann begann als Vertreter einer sozialkerygmatischen Richtung, er entwickelte sich in Richtung einer sozialwissenschaftlichen Exegese, die vor allem kulturanthropologische Ansätze aufgriff. 28 Die Ergebnisse der ersten Tagung in Tutzing wurden veröffentlicht in: B.J. Malina/W. Stegemann/G. Theissen (Hg.): Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2003. Die Ergebnisse der zweiten Tagung sind im Druck.

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6. Pauperismus und paulinisches Urchristentum. Zu A. Merz: G. Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte1

Der Beitrag von Annette Merz stellt den so genannten „neuen Konsens“ in der Sozialgeschichte des Urchristentums dar, nach dem sich das Urchristentum außerhalb Palästinas in Gemeinden organisiert hat, die Unter- und Oberschichten umfasst haben, jedoch in der Regel auf Gruppen unterhalb der lokalen und imperialen Machtträger beschränkt blieb: Das Urchristentum war nur „subdekurional“ verbreitet. Die Gemeinden mussten aber innerhalb der nicht zur Elite gehörenden Bevölkerung verschiedene Schichten integrieren und Menschen mit heterogenen kulturellen Prägungen vereinen. Meine Beiträge zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums haben Konflikte herausgearbeitet, die sich wahrscheinlich durch diese innere Schichtung erklären lassen – Konflikte zwischen Starken und Schwachen in Korinth, zwischen Reichen und Armen beim Abendmahl, aber auch Konflikte zwischen verschiedenen Parteien, die sich jeweils um einige wohlhabende Hausbesitzer scharten. W.A. Meeks hat dagegen eher die integrative Funktion der urchristlichen Gemeinden betont. Wir beide werden gerne zusammen als Exponenten des „neuen Konsens“ beurteilt, aber auch kritisiert. Die erste zusammenfassende Darstellung stammt von W.A. Meeks: The First Urban Christians (1983). Mit Recht wurde 25 Jahre nach Erscheinen dieses Klassikers eine Bilanz der sozialgeschichtlichen Forschung zu den paulinischen Gemeinden unter dem Titel: „After The First Urban Christians. The Social-Scientific Study of Pauline Christianity Twenty-Five Years Later“ (2009) veröffentlicht.2 Annette Merz erinnert mit Recht daran, dass es eigentlich nie einen „alten Konsens“ gegeben hat. Die von A. Deißmann auf einer Tagung des Evangelisch sozialen Kongresses vorgetragene pauperistische Deutung des Urchristentums als Bewegung der unteren Schichten wird zwar oft als Ausdruck eines solchen alten Konsenses genannt, aber sie war nie Allgemein-

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1 Vgl. A. Merz: Gerd Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums in der neueren Diskussion, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 96–113. 2 T.D. Still/D.G. Horrell (Hg.), After The First Urban Christians. The Social-Scientific Study of Pauline Christianity Twenty-Five Years Later, Edinburgh 2009.

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Pauperismus und paulinisches Urchristentum

gut der Forschung.3 J.J. Meggitt4 und S.J. Friesen5 haben nun mit deutlichem moralischen Pathos die von A. Deißmann vertretene pauperistische Deutung des Urchristentums erneuert. Das moralische Pathos zeigt sich vor allem in einer Kritik an der vermeintlichen ideologischen Verblendung der Vertreter des „neuen Konsenses“, wobei ich in der Regel als weit mehr von konsumkapitalistischer Mentalität geblendet dargestellt werde als W.A. Meeks. Zunächst zu diesen moralischen Tönen: Sofern dahinter das Erschrecken junger Menschen über die einseitige Verteilung von Lebenschancen steckt und die Enttäuschung darüber, dass so wenige Gelehrte diese Probleme zu ihrem Thema machen, kommt in ihnen eine sympathische Gesinnung zum Ausdruck: ein moralischer Schmerz über die Ungerechtigkeit der Welt. Die Stimme der Armen wird oft überhört. Die Gelehrtenwelt lebt an ihr vorbei. Aber ich bin erstaunt, wie schnell der Schmerz darüber in Abwertung anderer Wissenschaftler verwandelt wird. Ich bin ich mir meines politischen Standpunktes ziemlich sicher: Zehn Jahre lang war ich Mitglied der sozialdemokratischen Partei, trat 1998 aus Protest aus, weil sie zusammen mit den anderen „staatstragenden Parteien“ CDU und FDP den großen Lauschangriff gegen Privatpersonen beschloss – in meinen Augen ein Verfassungsbruch, und das genau 150 Jahre nach der ersten (gescheiterten) demokratischen Verfassung Deutschlands von 1848, in der die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert worden war. Dennoch wähle ich weiterhin die Sozialdemokratie. Die Tradition des demokratischen Sozialismus ist heute m.E. aktueller denn je. Die neue „Linke“ stellt m.E. einige richtige Fragen, aber solange sie vor allem populistische Antworten darauf gibt, wird sie meine politische Heimat nicht sein können. Aber selbstverständlich hätte ich das gute Recht, auch politisch konservativ zu sein – und konservative Positionen zu vertreten.

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3 Zum forschungs- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang von A. Deißmann, Das Urchristentum und die unteren Schichten, Tübingen 1898, vgl. R. Hochschild, Sozialgeschichtliche Exegese, NTOA 42, Fribourg/Göttingen 1999, 103–115. 4 J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, Edinburgh 1998. Zu diesem Buch habe ich in zwei Aufsätzen Stellung genommen: G. Theissen, The Social Structure of Pauline Communities. Some critical remarks on J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, JNTS 84 (2001), 65–84; ders., Social Conflicts in the Corinthian Community. Further Remarks on J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, JNTS 25 (2003), 371–391. Auf meine Kritik hat J.J. Meggitt in: Response to Martin and Theissen, JSNT 84 (2001), 85–94, geantwortet. 5 S.J. Friesen, Poverty in Pauline Studies: Beyond the So-called New Consensus, JSNT 26 (2004), 323–361.

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Zu A. Merz: Hellenistisches Urchristentum

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1) Der neue Konsens Annette Merz hat gezeigt, wie die Kritiker des neuen Konsenses am Ende zu Ergebnissen gelangen, die mit dem so genannten neuen Konsens konvergieren. Dieser neue Konsens besteht in der Annahme von vier Tendenzen in der Geschichte des Urchristentums. Die erste Tendenz ist eine Urbanisierung: Das Christentum begann auf dem Land unter Fischern und Bauern, breitete sich aber in den Städten der Mittelmeerwelt aus. Vor allem Paulus hat diese Entwicklung vorangetrieben, aber sie hatte schon vor ihm begonnen. In den Städten kam es früh zu Problemen: Christen störten das religiöse Leben einer Stadt, vor allem das prekäre Gleichgewicht zwischen Juden und Heiden. Deswegen gab es zunächst Konflikte mit den lokalen Magistraten, sehr früh aber schon Konflikte mit imperialen Machthabern: Claudius hatte in seiner Religionspolitik Juden (aber auch ihre heidnischen Gegner) darauf verpflichtet, bei ihren Traditionen zu bleiben. Die Christen aber waren im Judentum eine Gruppe, die auch weiterhin gegen diese Religionspolitik verstieß. Sie änderte jüdische Traditionen. Daher kam es zwischen ihr und Claudius zum Konflikt. Claudius wies 49 n.Chr. Judenchristen aus Rom nach Unruhen in der dortigen jüdischen Gemeinde aus. Die zweite Tendenz ist eine Universalisierung. Eine ursprünglich jüdische Erneuerungsbewegung öffnete sich (schon vor Paulus) für Heiden und zog besonders „Gottesfürchtige“ an, d.h. heidnische Sympathisanten des jüdischen Glaubens, die Beschneidung und Speisegebote nicht übernahmen. In der Synagoge waren diese Gottesfürchtigen Mitglieder zweiter Klasse, in der christlichen Gemeinde wurden sie gleichberechtigt. Kein Wunder, dass einige von ihnen Christen wurden. Das Judentum verlor dadurch wichtige Fürsprecher und Vermittler in einer nicht-jüdischen Umwelt. Andere Nichtjuden traten direkt vom Heidentum zum Christentum über. Auch diese Öffnung des Judentums führte zu Konflikten: Eine Gegenmission gegen Paulus versuchte, einige Gemeinden für die jüdischen Identitätsmerkmale Beschneidung und Speisegebote zu gewinnen, um sie ins Judentum zu reintegrieren und damit Spannungen zwischen den Christen und ihrer Umgebung abzubauen. Die dritte Tendenz ist eine soziale Aufstiegsdynamik: Das Urchristentum entstand in den Unterschichten. Aber schon einige der „Gottesfürchtigen“ gehörten zu den besser gestellten Gruppen. Plinius d.J. berichtet am Anfang des 2. Jh.s, Christen seien in allen Ständen (ordines) zu finden (Plin.ep. XI, 96,9). Die drei ordines waren Senatoren, Ritter und Dekurionen (d.h. die Ratsmitglieder in den Städten). Plinius muss zumindest Christen gekannt haben, die zu den Dekurionen gehörten. Sonst wäre seine Übertreibungsrhetorik, mit der er die Ausbreitung des Christentums als Gefahr beschwört,

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Pauperismus und paulinisches Urchristentum

völlig unglaubwürdig. Dass Senatoren und Ritter zu seiner Zeit schon Christen waren, ist dagegen sehr unwahrscheinlich. Jedoch konnte das Christentum Ende des 1. Jh.s eine weibliche Angehörige des Kaiserhauses, Flavia Domitilla, für sich gewonnen – ich vermute, eher als eine distanzierte Patronin, die nicht direkt am Gemeindeleben teilnahm, aber mit der Gemeinde sympathisierte, und weniger als aktives Gemeindeglied. Diese Form der Patronage war damals weit verbreitet. Den „Oikonomos der Stadt“ Erastus in Korinth könnte ich mir ebenfalls als solch einen distanzierten Patron vorstellen. Auch die Aufstiegsdynamik des Christentums führte zu Konflikten. Das Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Schichten kann leicht in Widerspruch zum egalitären Ideal der christlichen Gemeinschaft geraten. Einige Konflikte in Korinth haben einen sozialen Hintergrund, besonders der Konflikt beim Herrenmahl zwischen denen, die „haben“, und denen, die „nichts haben“, aber auch der Konflikt zwischen „Starken und Schwachen“. Schließlich gab es eine Spiritualisierungstendenz. Der Messias ist bei Paulus ein Davidssohn aus königlichem Geschlecht (Röm 1,3), aber er befreit Israel nicht von seinen Feinden, sondern Menschen von Sünde, Tod und den Schattenseiten des Gesetzes. Auch diese Spiritualisierung hat zu Konflikten geführt. Das Heil konnte nach wie vor auch wörtlicher verstanden werden. Das Christentum versprach Freiheit für alle Menschen. Mussten die Christen nicht ihren versklavten Mitgliedern reale Freiheit verschaffen? Paulus setzte sich im Philemonbrief in einem Einzelfall für eine pragmatische Lösung ein: Ein Sklave, der nach einem Streit mit seinem Herrn seine Vermittlung aufgesucht hat, soll zukünftig Paulus zur Verfügung stehen und wäre damit seinem Herrn entzogen worden.6 Ignatius von Antiochien bezeugt, dass es zu Freikäufen auf Gemeindekosten gekommen ist, auch wenn er von ihnen abrät (Ignatius Pol 4,3). Die vier genannten Entwicklungstendenzen führten zu Gemeinden in den Städten, in denen Menschen aus verschiedenen Völkern und Schichten zusammenfanden: Es war eine Gemeinschaft im „Geiste“. Dass sie sich auch in konkreter Hilfe im „Leiblichen“ zeigen sollte, war zwar Konsens; wie weit diese Hilfe aber gehen sollte, war offen. Was diese Hilfsmotivation angeht, so habe ich in der Tat aus der neueren Diskussion gelernt: Nach wie vor sehe ich in den paulinischen und vor allem den deuteropaulinischen Gemeinden ein Ethos des „Liebespatriarchalismus“, aber es wird durch egalitäre Tendenzen unterlaufen: Alle sollen sich in den urchristlichen Gemeinden unterstützen, auch die Armen sollen zu Subjekten der Hilfe —————

6 P. Lampe, Keine Sklavenflucht des Onesimus, ZNW 76 (1985), 135–137. Die deuteropaulinischen Briefe (Kol, Eph und die Pastoralbriefe) dämpfen vielleicht schon allzu große Hoffnungen der Sklaven. Vgl. A. Merz, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe, NTOA 52, Fribourg/Göttingen 2004, 245–267.

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Zu A. Merz: Hellenistisches Urchristentum

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werden. Auch das hat Annette Merz registriert. Anhand der Erklärung der urchristlichen Hilfsmotivation und der dadurch begründeten Attraktivität der Gemeinden sei im Folgenden ein kleiner Unterschied zwischen mir und W.A. Meeks aufgezeigt.

2) Die Attraktivität der urchristlichen Gemeinden und ihr Hilfsethos Wir erklären mit zwei etwas verschiedenen sozialgeschichtlichen Theorien die Attraktivität des Urchristentums: auf der einen Seite durch die Theorie der Statusdissonanz (W.A. Meeks), auf der anderen durch die Theorie eines Abwärtstransfers von Oberschichtwerten (G. Theißen). W.A. Meeks hat die These vertreten, dass Menschen mit Statusdissonanz von den urchristlichen Gemeinden angezogen wurden, weil sie in ihnen diese Statusdissonanz reduzieren konnten.7 Statusdissonanz ist ein Ergebnis von sozialer und lokaler Mobilität. Wer durch ökonomischen Erfolg aufgestiegen ist, kann diesen Erfolg oft nicht in Prestige und Einfluss umsetzen. Er bleibt ein homo novus außerhalb der traditionellen Eliten. Aufwärts- und Abwärtsmobilität führen so dazu, dass der Status von Menschen nach verschiedenen Kriterien dissonant bewertet wird. Lokale Mobilität hat vergleichbare Folgen: Wer als Fremder in einer anderen Stadt lebt, mag reich sein, bleibt aber als Fremder ein Bürger zweiter Klasse. Nun breitete sich das Urchristentum unterhalb der dekurionalen Ebene in den Städten aus, wo die soziale und lokale Mobilität weit größer war als auf dem Land. Es sprach peregrini wie die Purpurhändlerin Lydia in Philippi an. Es verbreitete sich genau dort, wo das Römische Reich eine Integrationsschwäche hatte: Unter Menschen, die es nicht dadurch integrieren konnte, dass sie politisch an der Selbstverwaltung der Städte teilnehmen konnten oder den Kaiserkult organisierten, was oft durch reiche Freigelassenen geschah. Ein wichtiges Merkmal der Oberschichten war ihre Aktivität als öffentliche Wohltäter. Sie spendeten für ihre Vaterstädte Gebäude, Pflasterung von Straßen, Spiele und Opferfeste. Gegenleistung war politische Loyalität. Menschen aber, die (aufgrund von Herkunft und niederer Geburt oder bescheidener Mittel) keine Chance hatten, in die Oberschicht aufzusteigen, konnten in kleinen Vereinen und Gemeinschaften dennoch als Wohltäter zu Ansehen gelangen. Gerade für sie war nach W.A. Meeks das Urchristentum attraktiv. Hier fanden sie eine Chance, sich in führenden Stellungen zu betätigen, Notleidenden Hilfe zu gewähren und dafür Anerkennung zu finden. Darüber hinaus fanden sie hier ein Netzwerk überregionaler Gemeinden zu ihrer ————— 7

W.A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden (engl. 1983) Gütersloh 1993, 111–157.

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Pauperismus und paulinisches Urchristentum

Unterstützung – wie die Empfehlung des Paulus für Phoibe zeigt, man möge sie „in jeder Sache“ unterstützen (Röm 16,2). Nach dieser Theorie der Dissonanzreduktion waren einige Christen in der Gesellschaft aufgrund ihrer relativ gehobenen Stellung einer Statusdissonanz ausgesetzt, die sie innerhalb der christlichen Gemeinde überwinden konnten. Hier konnten sie im Kleinen entsprechend ihren Mitteln „Herrscher“ und Wohltäter sein. Analoges gilt für alle, die Ämter in paganen Vereinen übernahmen. In Vereinen konnten sie jenes Prestige finden, das ihnen durch öffentliche Ämter versagt blieb. In diesem Punkte unterschieden sich die christlichen Gemeinden nicht von anderen Vereinen. Man kann aber auch eine Gegenrechnung aufmachen: Durch Mitgliedschaft in der christlichen Gemeinde verminderten viele Christen nicht nur ihre Statusdissonanz, sondern erhöhten sie – und das unterschied die christlichen Gemeinden von paganen Vereinen:8 Christen mussten zur Selbststigmatisierung bereit sein, d.h. zur Übernahme einer Rolle in der Gesellschaft, in der sie keine Chance hatten, öffentlich anerkannt zu werden.9 Zwar wurden nur wenige Märtyrer, aber fast alle erlebten im Alltag Diskriminierung. Sie übernahmen aber mit dem Christentum nicht nur Rollen, in denen sie gesellschaftlich „unterbewertet“ wurden, sondern griffen gleichzeitig nach Rollen, in denen sie sich „überbewerteten“. Selbst in der Rolle der stigmatisierten Unterlegenen erhoben sie einen Führungsanspruch, wie ihn sonst nur aristokratische Kreise kannten. Das besagt die Theorie vom „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten“: Im Urchristentum wurden Einstellungen und Haltungen der Oberschicht so umformuliert, dass sie einfachen Menschen zugänglich wurden.10 Einfache Menschen griffen nach Mustern des Verhaltens und Erlebens, die in Schichten über ihnen zu Hause waren. Wir finden daher unter den Christen ein hohes Selbstwertbewusstsein, das wir sonst eher in der Oberschicht erwarten. Drei Beispiele seien dafür genannt: Die Bergpredigt ist das erste Beispiel: Sie spricht einfachen Menschen zu, „Licht der Welt“ und „Salz der Erde“ zu sein. Sie sollen wie Könige Frieden stiften (Mk 5,9) und wie Herrscher großzügig mit Feinden umgehen (Mt 5,43ff). Kleine Leute gehen wie Könige durchs Leben. Die Pneumatiker in Korinth sind das zweite Beispiel. Paulus schreibt ihnen ein Selbstbewusstsein weit über ihrem „natürlichen“ Status zu. Er ruft —————

8 B.W. Longenecker, Socio-Economic Profiling of the First Urban Christians, in: T.D. Still/ D.G. Horrell (Hg.), After The First Urban Christians. The Social-Scientific Study of Pauline Christianity Twenty-Five Years Later, Edinburgh 2009, 36–59. 9 H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Fribourg/Göttingen 1994. 10 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 123–167; ders., Die Jesusbewegung, Gütersloh 2004, 248–268.

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Zu A. Merz: Hellenistisches Urchristentum

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ihnen zu: „Ihr seid schon satt geworden? Ihr seid schon reich geworden? Ihr herrscht ohne uns? Ja, wollte Gott, ihr würdet schon herrschen, damit auch wir mit euch herrschen könnten!“ (1Kor 4,8). Der Epheserbrief ist ein drittes Beispiel: Nach ihm sind die Christen schon jetzt „auferweckt und eingesetzt im Himmel in Christus Jesus“ (Eph 2,6). Sie sind aus Fremden „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen geworden“ (Eph 2,19). Diese Aufwertung kleiner Leute ist nicht erst im hellenistischen Urchristentum zu finden, sie geht auf Jesus zurück. Er hat den Zwölfen, also einfachen Fischern und Bauern, verheißen, dass sie Israel richten und regieren werden (Mt 19,28).11 Die ersten Christen haben also nicht nur auf widerfahrene Statusdissonanz reagiert, um sie zu überwinden, sie haben bewusst riskiert, Statusdissonanz durch Übernahme einer diskriminierten Rolle zu vergrößern. Gleichzeitig griffen sie nach Werten und Einstellungen der Oberschicht und erhöhten dadurch noch einmal ihre Dissonanz. Beides könnte zusammenhängen: Mit erhöhtem Selbstbewusstsein wird Selbststigmatisierung erträglich gemacht. Auch für die Hilfsmotivation im Urchristentum war der Griff nach Oberschichtwerten wichtig. Denn der antike Euergetismus (die Wohltätigkeitsmentalität der aristokratischen Schichten) war ein Oberschichtwert,12 der im Urchristentum für kleine Leute zugänglich gemacht wurde. Das sei mit drei neutestamentlichen Texten belegt, die zur Hilfe motivieren. Das erste Beispiel ist die Geschichte vom Scherflein der Witwe (Mk 12,41–44).13 Diese Witwe übertrifft mit ihrer kleinen Spende die größeren Spenden der Reichen. Die vielen Analogien zu dieser Perikope in der Antike lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Einerseits sind es Überlieferungen vom Opfer der Armen. Hier ist Gott der Adressat. Betont wird, das Opfer des Armen sei vor Gott wohlgefälliger ist als das der Reichen. Andererseits gibt es Überlieferungen von sozialen Wohltaten, die nicht Gott zum Adressaten haben, sondern andere Menschen. Sie verschaffen dem Wohltäter Überlegenheit über den Empfänger. In diesen Überlieferungen geht es meist um das richtige Maß des Gebens. Die Geschichte von der armen Witwe verbindet beide Überlieferungsstränge: die Vorstellung vom religiösen Opfer der Armen für Gott und die Wohltätermentalität bei sozialen Gaben —————

11 Zur Authentizität dieses Logions vgl. H. Roose, Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung, NTOA 54, Fribourg/Göttingen 2004, 30–95. 12 Über die Wohltätermentalität der Antike vgl. P. Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike (franz. 1976), Darmstadt 1988. 13 Vgl. G. Theißen, Die Witwe als Wohltäterin. Überlegungen zur urchristlichen Sozialmoral anhand von Mk 12,41–44, in: M. Küchler/P. Reindl (Hg.): Randfiguren in der Mitte, FS H.-J, Venetz, Luzern/Fribourg 2003, 171–182.

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Pauperismus und paulinisches Urchristentum

für andere Menschen. Aus der Tradition der religiösen Opferbewertung stammt die Aufwertung des Armen. Vor Gott ist ihre Gabe mehr wert als die der Reichen. Aus der antiken Wohltätermentalität stammt die Adressierung der Gaben an andere Menschen. Die neue Bewertung verändert die Logik der sozialen Gabe: Im Christentum soll nicht gelten, was sonst überall selbstverständlich war, dass die Reichen und Überlegenen die großen Spender sind, vielmehr gilt: Die Armen sind gleichberechtigte Spender! Sie geben nicht nur nach Maß, sondern ihren ganzen Lebensunterhalt. Ein traditioneller Oberschichtwert wie die Möglichkeit, durch Spenden und Wohltaten Ansehen zu erwerben, wird hier auf alle übertragen. Auch Arme sollen Wohltäter sein! Das zweite Beispiel für den Abwärtstransfer antiker Wohltätermentalität ist die Abschiedsrede des Paulus mit dem Jesuswort „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20,35).14 Es handelt sich ursprünglich um eine Königsmaxime. Dem persischen König Artarxerxes wird der Satz zugeschrieben: „Es ist königlicher, etwas zu geben, als wegzunehmen“ (Plut. Mor 173D). Der ptolemäische König Ptolemaios Lagos soll ähnlich gesagt haben: „Es ist besser, reich zu machen als reich zu sein“ (Aelian var. hist. 13,13). Die nikomachische Ethik generalisiert das für alle Freie: „Tugend oder Trefflichkeit (im Griechischen: CXTGVJ) zeigt sich mehr im Tun als im Empfangen von Wohltaten“ (Aristoteles Eth. nic. IV,1,1120a). Paulus macht deutlich, dass diese ursprünglich königliche Wohltätermaxime15 im Christentum gerade für einfache Menschen gilt. Denn er sagt, er, Paulus, habe mit seinen Händen gearbeitet, um die Schwachen zu unterstützen, und so das Wort Jesu erfüllt: „Geben ist seliger als nehmen.“ Darin sei er ein Vorbild für Gemeindeleiter. Das dritte Beispiel ist die Kollekte des Paulus und Barnabas, die sie im Auftrag der antiochenischen Gemeinde nach Jerusalem bringen, um der Gemeinde in einer großen Hungersnot zu helfen (Apg 11,27–30). Wahrscheinlich kamen Paulus und Barnabas mit solch einer Kollekte zum Apostelkonzil und haben diese Gabe auch für ihre Diplomatie genutzt: Wer Geld —————

14 G. Theißen, „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20,35). Zur Demokratisierung antiker Wohltätermentalität im Urchristentum, in: Kirche, Recht und Wissenschaft, FS A. Stein, Neuwied 1995, 197–215. 15 Zur Wohltätigkeit als Tugend des Königs vgl. Diotogenes VII, 62: Ein König muss reich sein, „denn es ist nötig, dass er Geldmittel besitzt, um den Freunden wohlzutun, den Bedürftigen unter die Arme zu greifen und sich gegen die Feinde in gerechter Weise zu verteidigen“ (Vgl. L. Delatte, Les Traités de la Royauté d’Ecphante, Diotogène et Sthénidas, Paris 1942, S. 40). Der Aristeasbrief bezeugt dieses Ideal auch für das Judentum. Auf die Frage, wie er reich bleiben könne, antwortet einer der jüdischen Weisen dem ptolemäischen König: „Wenn er keinen sinnund nutzlosen Aufwand treibe, sondern seine Untergebenen durch Wohltaten zum Wohlwollen gegen sich veranlasse“ (Arist 205 vgl. 226; 227). Hiob erscheint im Testament des Hiob als ein König, der durch seine Freigebigkeit und Armenfürsorge alle übertraf (Test Hiob 9–10).

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Zu A. Merz: Hellenistisches Urchristentum

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mitbringt, darf damit rechnen, dass man seine Anliegen ernst nimmt. Der Verfasser der Apostelgeschichte hat diese Kollekte aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und deutlich vom Apostelkonzil in Jerusalem getrennt. Ihm ist jeder Anschein, dass man mit Spenden Kirchenpolitik macht, zuwider. Denn das war die große Sünde des Simon Magus (Apg 8,14–24). Bewusst oder unbewusst hat der Verfasser der Apostelgeschichte von einer gesonderten Kollektenreise des Paulus und Barnabas erzählt, von der Paulus selbst nichts weiß. Denn Paulus beteuert nachdrücklich, nur einmal vor dem Apostelkonzil in Jerusalem gewesen zu sein (Gal 1,13ff). Paulus und Barnabas aber stehen nicht allein mit ihrer Hilfsaktion. Zur Zeit der großen Hungersnot in Jerusalem ließ die Königin Helena von Adiabene Lebensmittel aus Zypern und Ägypten nach Jerusalem bringen und rettete durch diese Nahrungsmittel viele vor dem Hungertod (Josephus ant. 20, 52). Überregionale Unterstützungen und Spenden waren ein „königliches“ Verhalten. Mächtige und Reichen wurden auch in anderen Städten aktiv. Die kleinen Leute in den christlichen Gemeinden aber taten es ihnen nach. Sie treten neben die Königin von Adiabene. Wie aber konnte man es kleinen Leuten ermöglichen, als Wohltäter aufzutreten? Die Kollekte zeigt den ersten Weg: Wenn viele Menschen kleine Beiträge zusammenlegen, kann eine große Summe entstehen. Paulus zeigt einen zweiten Weg: Durch eigene Arbeit können auch arme Menschen so viel schaffen, dass sie abgeben können. Die arme Witwe zeigt einen dritten Weg. Sie gibt alles weg, was sie zum Lebensunterhalt braucht. Das ist nicht nur Übertreibungsrhetorik. Die Witwe wird an diesem Tag fasten. Die arme Witwe ist das erste Beispiel für ein diakonisches Fasten im Urchristentum.16 Als individuelles Verhalten finden wir das diakonische Fasten in den Sprüchen des Sextus (226f):17 „Von deiner Nahrung teile jedem mit. Dafür, dass der Bettler zu essen bekommt, ist es gut, sogar zu fasten.“ Nach dem Hirten des Hermas sollen Christen einige Tage nur von Brot und Wasser leben und das, was sie für ein besseres Essen ausgegeben hätten, den Armen spenden (sim V, 3,7).18 Die Apostolischen Konstitutionen (ca. 380 n.Chr.) ordnen sogar ein regelmäßiges diakonisches Fasten für die ganze Gemeinde an: Sie verlangen, „alle Mittwoche und Freitage zu fasten und —————

16 A. Guillaume, Jeune et charité dans l’Église latine, des origines au XIIe siècle an particulier chez saint Léon le Grand, Paris 1954, bes. 21–27. 17 Origenes zitiert hier aus einem Buch mit apostolischer Verfasserschaft einen ansonsten nicht belegten Makarismus: „Selig ist, wer auch für den Zweck fastet, dass er den Armen ernährt“ (Or. Hom in Lev X, 2,110). 18 Herm sim V,3,7: „Wenn du alles vorher Geschriebene erfüllt hast, sollst du an jenem Tag, an dem du fastest, nichts genießen außer Brot und Wasser; und von deinen Speisen, die du verzehren wolltest, sollst du die Höhe der Kosten jenes Tages überschlagen, die du aufwenden wolltest, und sollst es zurücklegen und einer Witwe oder Waise oder einem Bedürftigen geben.“

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Pauperismus und paulinisches Urchristentum

das, was bei eurem Fasten übrig bleibt, den Armen zu geben“ (Const Apost V, 20,18). Daneben kennen sie ein individuelles Fasten, das sie den Ärmeren empfehlen, damit sie etwas zum Spenden haben.19 Während es also in der Antike ein Zeichen der Oberschicht war, sich durch Wohltaten Ansehen und Einfluss zu verschaffen, wird diese Wohltätermentalität im Urchristentum auf kleine Leute übertragen. Die arme Witwe rückt in die Rolle einer Wohltäterin und Königin. Sie wird aus einem Adressaten der Hilfe zum Subjekt der Hilfe. Dem entspricht die Lebenswirklichkeit in den urchristlichen Gemeinden. Entscheidend war nicht, dass viele in ihnen Unterstützung empfingen, sondern dass alle motiviert wurden, Unterstützung zu geben – auch die ganz Armen. Darin liegt ein Schutz vor einer Ausnutzung des urchristlichen Hilfssystems sowohl durch Reichen als auch Hilfsbedürftige: Das Urchristentum hat nicht nur Reiche zur Hilfe motiviert, sondern auch Menschen, die selbst auf Hilfe angewiesen waren. Dieses System einer horizontalen Hilfe auf Gegenseitigkeit hat die Gemeinden davor bewahrt, zur Sozialklientel ihrer reichen Mitglieder abzusinken. Gleichzeitig war es ein Schutz dagegen, dass ihr Sozialsystem von Hilfsbedürftigen ausgenutzt wurde: Wer zur Gemeinde gehörte, wurde sofort zur Hilfe verpflichtet, mochte er auch noch so arm sein. Das Geheimnis, wie die urchristlichen Gemeinden effektiv zur Hilfe motivieren konnten, war also: Sie machten Empfänger von Hilfe zu Subjekten des Helfens. Von jedem wurde ein kleiner Beitrag verlangt, mochte er auch noch so winzig sein. Zur Erhellung der Hilfsmotivation im Urchristentum müssten jetzt noch weitere Motive genannt werden: Der Abwärtstransfer von Oberschichtwerten war gleichzeitig ein Aufwärtstransfer von Unterschichtwerten – vor allem von Demut und Nächstenliebe, den beiden zentralen Werten des urchristlichen Ethos.20 Der Abwärtstransfer von Oberschichtwerten beruhte auch nicht auf einer Bewunderung der oberen Schichten, sondern ist mit einer scharfen Kritik an ihnen verbunden: Die Jesusüberlieferung überträgt die Spendefreudigkeit der Reichen zwar auf kleine Leute, kritisiert aber schroff die Reichen: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme“ (Mk 10,25). Zwar wird den zwölf Jüngern die Regierung über das erneuerte Israel zugesprochen (Mt 19,27–28), aber die Mächtigen werden scharf kritisiert, weil sie ihre Völker unterdrücken (Mk 10,41–45). Die Unmündigen und Unverstän—————

19 Vgl. Const. Apost. V,1.4: „Deswegen sollen alle Gläubigen durch euren Bischof den Heiligen aus ihrem Besitz und ihrer Arbeit dienen. Wenn aber einer nichts hat, so soll er fasten und die Tagesportion für die Heiligen bestimmen. Wenn aber jemand Überfluss hat, so soll er im Verhältnis zu seinem Vermögen mehr geben. Wenn er sogar in der Lage ist, ihn mit Dahingabe seines ganzen Vermögens aus dem Gefängnis zu befreien, so ist er selig und ein Freund Christi.“ 20 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 101–167.

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Zu A. Merz: Hellenistisches Urchristentum

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digen werden wegen ihres Offenbarungswissens gepriesen (Mt 11,25), die Schriftgelehrten aber angegriffen. Diese Verbindung einer Übernahme von Oberschichtwerten bei scharfer Kritik der Oberschicht – verbunden mit einer Aufwertung der Werte kleiner Leute, habe ich eine „Wertrevolution“ genannt.21 Vielleicht werden auch jetzt noch einige sagen: All das ist das Mimikry eines zutiefst bürgerlichen Autors. Daher sei noch einmal betont: Es gibt keine Verpflichtung, eine bestimmte politische Gesinnung zu haben, wenn man Sozialgeschichte treibt. Diese Forschung wäre auch legitim, wenn ich sie aus tief konservativer Überzeugung heraus betrieben hätte.

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G. Theißen, Die Jesusbewegung, Gütersloh 2004.

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7. Literaturgeschichte und Literaturästhetik. Zu D. Trobisch: Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem 1

Mein Buch: „Die Entstehung des Neuen Testament als literaturgeschichtliches Problem“ sollte ursprünglich kein Grundriss einer Literaturgeschichte werden, sondern eine programmatische Skizze. Der Grund für die Ausweitung über eine Skizze hinaus liegt darin, dass es noch immer eine verbreitete Skepsis dagegen gibt, ob es überhaupt möglich ist, eine Literaturgeschichte des Urchristentums und des Neuen Testaments zu schreiben. R. Bultmann selbst hat diese Skepsis geäußert.2 Das Gewicht seines Namens ist mit ihr verbunden. Man muss daher konkret zeigen, dass eine Literaturgeschichte möglich ist und wie sie aussehen könnte. Definitionen und Ankündigungen allein genügen nicht. Vorweg seien die Grundlinien meines Entwurfs zusammengefasst.3

1) Vier Phasen einer Literaturgeschichte des Neuen Testaments Ausgangspunkt ist die Formensprache des Neuen Testaments. Es umfasst Evangelien und Briefe als Grundformen, dazu Apostelgeschichte, Apokalypse und den Hebräerbrief (eine Rede in Briefform) als nur je einmal belegte Gattung. Eine Literaturgeschichte stellt ihre geschichtliche Entwicklung dar und ordnet sie in die antike Literaturgeschichte ein. Der Sondercharakter dieser urchristlichen Schriften wurde bisher in der Forschung dreifach bestimmt: Als Urliteratur ist das Neue Testament eine originäre Schöpfung des Urchristentums, als Kleinliteratur Produkt literaturferner Unterschichten, als Koineliteratur ein Teil der durch die Septuaginta (LXX) bestimmten jüdisch-hellenistischen Sonderliteratur. Aber nicht alle neutestamentlichen Schriften sind schöpferische Urliteratur; zehn sind ge—————

1 Zu David Trobisch: Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 114–119. 2 R. Bultmann, Art. Literaturgeschichte, Biblische, RGG2 III (1927), 1675–1682. 3 Vgl. die Zusammenfassung: G. Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Sitzung der Phil.-historischen Klasse vom 27.11.04; Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2004, Heidelberg 2005, 90–92.

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Zu D. Trobisch: Das NT als literaturgeschichtliches Problem

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fälscht. Alle sind zwar Kleinliteratur, aber ihre Autoren gehören gewiss nicht nur zur unliterarischen Unterschicht. Alle entstanden unter dem Einfluss der LXX, aber Evangelium und Briefsammlung haben als Gattungen keine Vorbilder in der Septuaginta, sondern in der paganen Literatur. Eine Literaturgeschichte des Neuen Testaments kann manche Probleme lösen, indem sie verschiedene Phasen unterscheidet, eine charismatische, pseudepigraphe, funktionale und kanonische Phase, und indem sie zeigt: Es handelt sich um eine Literatur, für die Grenzüberschreitungen charakteristisch sind. Die charismatischen Anfänge führen auf zwei Personen zurück: auf Jesus und Paulus. Jesusüberlieferungen existierten am Anfang mündlich und wandten sich nur an das jüdische Volk, die Briefe des Paulus waren von vornherein schriftlich und wandten sich an einzelne heidenchristliche Gemeinden. Die Jesusüberlieferung wurde erst nachträglich durch Verschriftlichung, die Paulusbriefe erst durch ihre Edition in einer Briefsammlung zur „Literatur“ mit einem allgemeinen Adressatenkreis. Nur für diese erste Phase ist der Begriff „Urliteratur“ (im Sinne einer entstehenden Literatur) berechtigt, aber nicht im Sinne analogieloser Schöpfungen. Denn das Evangelium war ein Bios, das in der nicht-jüdischen Literatur viele Modelle hatte. Alle Evangelien weiten die Verkündigung Jesu auf nicht-jüdische Adressaten aus. Diese Universalisierung zeigt sich im Begriff euaggélion, das weltweit verkündigt werden soll (Mk 13,10; 14,9). Mk greift mit seinem Bios formal die Ausdrucksform einer literarischen Oberschicht auf und füllt sie als euaggélion mit einer Kommunikationsform der imperialen Oberschicht: Sein Evangelium konkurrierte mit den euaggélia vom Aufstieg Vespasians zum Kaiser. Paulus hatte zu dieser Zeit schon den Privatzum Gemeindebrief entwickelt. Sein Brief an die Römer steht auf der Schwelle zur Publizistik. Auch in ihm begegnet der Begriff euaggélion als Proklamation eines Herrschers (Röm 1,1–3). Aber erst die Sammlung seiner Briefe nach dem Modell antiker Briefsammlungen machte seine Briefe zu Literatur. Paulus und der Mk-Evangelist schufen somit die beiden Grundformen der urchristlichen Literatur, indem sie den öffentlichen Anspruch ihrer Verkündigung in Anlehnung an eine politische Botschaft artikulierten. Auf die charismatische Phase folgte eine pseudepigraphe Phase: Als die Autoritäten der ersten Generation ausgestorben waren, schrieb man entweder in ihrem Namen Briefe oder griff direkt auf die Autorität Jesu zurück, indem man Evangelien verfasste. Das ist ein Bruch mit der schöpferischen Phase des Anfangs. Die damals neu entstandenen Briefe sind fiktive Selbstauslegungen des Paulus (A. Merz). Man konnte z.B. nicht leugnen, dass Paulus verlangt hatte, Sklaven als Brüder zu behandeln (Phlm). Daher musste der fiktive Paulus einschärfen, dass Sklaven ihre Herren respektieren (Kol 3,22–25). Die späteren Evangelien sind fiktive Selbstauslegung

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130 Literaturgeschichte und Literaturästhetik des Neuen Testaments Jesu: Jesus offenbart sich im Johannesevangelium als Bote der Liebe, im Thomasevangelium als Vermittler höherer Erkenntnis – beide gehen weit über das hinaus, was die synoptischen Evangelien von Jesus sagen. Konnten wir in der ersten Phase die Aneignung von Oberschichtformen durch literaturferne Kreise beobachten, so zeigt die pseudepigraphe Phase das Eindringen der mündlichen Kultur einfacher Menschen in die neu entstehende Literatur. Das Botenbewusstsein der Autoren (die Autoren sprechen an der Stelle von Paulus oder Jesus) und die begrenzte Gattungskompetenz der Adressaten (sie akzeptieren die Autorität eines Autors, aber nicht die Autorität der Form) wurden von den uns unbekannten Autoren hinter den pseudepigraphen Briefen übernommen und ermöglichten Fälschungen mit erstaunlich gutem Gewissen. Erkennbar ist im Neuen Testament, aber vor allem in der sonstigen urchristlichen Literatur eine dritte funktionale Phase: Hebräerbrief, Apostelgeschichte und Johannesapokalypse sind im Neuen Testament Ausdruck einer Tendenz zu funktionalen Gattungen. Die Autorität der Form ergänzt in ihnen die Autorität der Autoren: Im Hebräerbrief liegt eine in sich gerundete Rede vor, die Apostelgeschichte ist ein historiographisches Werk, die Johannesapokalypse ein Offenbarungsbuch. Diese Schriften hatten eine Chance, allein durch ihre Gattung Ansehen zu gewinnen. Die nichtkanonische urchristliche Literatur setzte diese Tendenz fort. In den Kanon gelangten nur drei Schriften von ihnen – und auch sie nicht allein aufgrund ihrer Form. Der Hebräerbrief wurde im Schlepptau der Paulusbriefe, die Apostelgeschichte im Schlepptau des Lukasevangeliums, die Johannesapokalypse im Schlepptau des corpus johanneum kanonisiert. Die kanonische Phase ist in gewisser Weise der Höhepunkt der urchristlichen Literaturgeschichte, denn erst durch sie wurde sie auf Dauer religiöse Weltliteratur: Die Kanonbildung bestand aus einem Kompromiss zwischen kleinasiatischen Gemeinden und Rom, der sich unabhängig von Markions Kanon gebildet hat. Die Ablehnung des (aus einem Evangelium und zehn Paulusbriefen bestehenden) Kanons Markions bestärkte den Konsens über vier Evangelien statt eines einzigen, über die Briefe mehrerer Apostel statt nur des Paulus und über zwei Testamente statt des einen Neuen Testaments. Markions Kanon diente nicht als positives Vorbild für den Kanon, sondern als negatives Modell und Katalysator für die Kanonbildung. Die ersten Christen haben aufgrund eines schöpferischen Impulses durch zwei Charismatiker, Jesus und Paulus, zwei literarische Grundformen hervorgebracht, diese durch eine fiktive Selbstauslegung der ersten Autoritäten weitergeschrieben, ansatzweise verschiedene funktionale Formen entwickelt und den Kanon mit einer großen inneren Pluralität geschaffen. Die vier Phasen spiegeln den Weg von den charismatischen Anfängen zu einer Kirche mit innerer Vielfalt. Die Formensprache des Neuen Testaments

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Zu D. Trobisch: Das NT als literaturgeschichtliches Problem

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entsprach nämlich der geschichtlichen Dynamik des Urchristentums. Die neutestamentlichen Schriften sind grenzüberschreitende Literatur, in der die Grenze zwischen Charisma und Institution, Unter- und Oberschicht, Judenund Heidentum überschritten wurde. Man merkt ihr an: Es war die Literatur einer kleinen Subkultur, die der Anfang einer neuen Menschheit sein wollte. D. Trobisch und O. Wischmeyer werfen in ihren Beiträgen die ganz grundsätzliche Frage auf: Was hat eine Literaturgeschichte des Neuen Testaments eigentlich als Gegenstand? Sie ist nicht einfach zu beantworten. Eine Literaturgeschichte will mehr sein als eine „Einleitung in das Neue Testament“, die aus einzelnen Einleitungen zu den neutestamentlichen Schriften entstanden ist. Meine kleine Literaturgeschichte verfährt diachronisch, wenn sie Phasen der literaturgeschichtlichen Entwicklung unterscheidet, bezieht sich historisch auf die Geschichte von zwei profilierten Personen wie Jesus und Paulus, korreliert die Entwicklung der Literatur mit der Entwicklung der Geschichte des Urchristentums und behandelt auch das Ganze (also den Kanon) primär kanongeschichtlich, d.h. unter der Frage, welche Normen und welche Schriften sich dabei durchgesetzt haben.

2) Die Alternative: Das Neue Testament als kanonische Einheit D. Trobisch plädiert für eine Alternative bzw. eine Ergänzung dieses diachronischen und historischen Ansatzes. Zur literaturgeschichtlichen Analyse soll eine literaturästhetische Betrachtungsweise treten. Das Ganze des Neuen Testaments kann man ja nicht nur diachronisch, sondern auch synchronisch betrachten als eine Komposition von Schriften, die im gegenwärtigen Kanon auf derselben Ebene nebeneinander stehen: Dass der Hebräerbrief vielleicht erst nach Paulus entstanden ist, ist in diesem Zusammenhang irrelevant; denn im Zusammenhang des Kanons will er zweifellos als Paulusbrief gelesen werden. Die historische Frage nach authentischen oder nicht-authentischen Briefen wird unwichtig, wenn man das Neue Testament dazu ästhetisch als „Kunst“ liest. Literatur enthält Fiktionales und bringt gerade darin tiefe Erfahrungen zum Ausdruck. Ein historischer Aspekt fehlt auch bei dieser Betrachtungsweise nicht: Das Neue Testament wird im Kontext des 2. Jahrhunderts gelesen – aber in diesem Kontext weniger entstehungsgeschichtlich als rezeptionsgeschichtlich. Implizit vorausgesetzt ist, dass der Kanon des Neuen Testaments tatsächlich im 2. Jahrhundert als Ganzes und als ein großer literarischer Entwurf entstanden ist. D. Trobisch will durch solch eine synchronisch-ästhetische Betrachtungsweise andere Fragen nicht ausschließen. Er überträgt die Unterscheidung von „Literatur“ und „Dokument“ aus der Papyrologie auf die Entste-

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132 Literaturgeschichte und Literaturästhetik des Neuen Testaments hungsgeschichte des Neuen Testaments und betrachtet als „Literatur“ im engeren Sinne nur die tatsächlich veröffentlichten, d.h. die in Abschriften erhaltenen Schriften. Der eigentliche Gegenstand einer Literaturgeschichte beginnt danach erst mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung urchristlicher Dokumente durch Abschriften. Worin aber besteht der Unterschied zwischen Literatur und Dokument? Ein „Dokument“ existiert in der Regel nur einmal als Original, es sei denn, es handelt sich um einen Vertrag, bei denen die Vertragsurkunde an zwei Seiten ausgeliefert wurde – oder um Erlässe, die inschriftlich „veröffentlicht“ und damit vervielfältigt wurden. „Literatur“ aber existiert nur in Abschriften, in Vervielfältigungen, die den Texten eine möglichst große Verbreitung in einer mehr oder weniger unbestimmten Öffentlichkeit sichern. Viel von dem, was meine kleine Literaturgeschichte behandelt, müsste man dann zur Vorgeschichte dieser Literaturgeschichte zählen. Wenn nur schriftliche Texte, die mehrfach (zur Veröffentlichung) abgeschrieben wurden, zur „Literatur“ gehören, dann beginnt der Gegenstand der urchristlichen Literaturgeschichte vielleicht erst Ende des 1. Jahrhunderts. Aber auch wenn ich die Kriterien von D. Trobisch zugrunde legen würde, würde ich an einer Literaturgeschichte im weiteren Sinne festhalten. Die Worte Jesu und die paulinischen Briefe sind mehr als Vorgeschichte. Mündliche Texte, die von missionierenden Boten übermittelt werden, sind schon vor ihrer Verschriftlichung „veröffentlichte Texte“, spätere Schriften wurden durch Vorlesen (d.h. als mündliche Texte) verbreitet. Mündlichkeit geht den Schriften sowohl voraus und folgt ihnen auch nach. Schon im ältesten Paulusbrief mahnt Paulus, den Brief allen vorzulesen (1Thess 5,27). Der faktische Empfänger soll ihn nicht als Privatbrief betrachten. Und wenn die (umstrittene) Vermutung einer kleinen Zahl von Exegeten richtig ist, dass eine Abschrift des Römerbriefs an die Gemeinde in Ephesus ging (weil m.E. dort Exilanten der römischen Gemeinde waren), wenn dazu die (weniger umstrittene) These zutreffend ist, dass der Römerbrief ein theologisches Testament des Paulus ist, dann wäre spätestens mit dem Römerbrief auch bei Paulus der Schritt zur „Publizistik“, d.h. zu veröffentlichten Dokumenten, schon geschehen. Die urchristlichen „Dokumente“ sind sehr früh auf Veröffentlichung angelegt. Ferner kann man m.E. zeigen, dass auch bei einem Ausgangspunkt beim Kanon in seiner Endgestalt die diachronische Frage unvermeidlich ist und dass somit auch ein stärker literaturästhetischer Ansatz letztlich zu einer Literaturgeschichte führt: Von den Evangelien werden aufgrund von Eigenaussagen das Lukas- und Johannesevangelium als jüngere Evangelien betrachtet: Der Prolog des lukanischen Doppelwerks bezieht sich auf vorhergehende Versuche der Evangelienschreibung, der Epilog des Johannesevangeliums setzt viele Evangelien voraus, die durch das Evangelium eines

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Zu D. Trobisch: Das NT als literaturgeschichtliches Problem

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sehr lange lebenden Lieblingsjünger überboten wurden. Wenn unter diesen anderen Evangelien das Markus- und Matthäusevangelium verstanden werden soll, müssten sie also älter sein als das lukanische Doppelwerk und das Johannesevangelium. Unter den Paulusbriefen soll der Leser auch bei einer streng kanonischen Lektüre zweifellos alle Gefangenschaftsbriefe aufgrund der in ihnen spürbaren Todesnähe für jünger betrachten als die anderen Briefe. Gefangenschaftsbriefe sind: Philipperbrief, Philemonbrief, Kolosserbrief, Epheserbrief, 2. Timotheusbrief. Wir finden im Kanon also implizit ein Bild von einer Entstehungsgeschichte der Schriften. Historische Forschung mag es korrigieren, aber sie widerspricht mit ihren diachronischen Fragen nicht der „kanonischen“ Intention. Richtig aber ist: Das Neue Testament muss gleichzeitig auch synchronisch als Ganzheit betrachtet werden. Das gilt umso mehr, je mehr man Spuren einer Gesamt-Edition erkennen kann: die Form des Kodex, die Abkürzung der Nomina sacra, die Überschriften und die Reihenfolge der Schriften. Von einer Gesamt-Redaktion würde ich erst sprechen, wenn man umfangreichere Texte dieser Redaktion zuordnen könnte. D. Trobisch denkt an Joh 21, Mk 16,9ff, die Apostelgeschichte und den 2. Petrusbrief. Aber diese sehr verschiedenen Texte zeigen keine Spuren einer einheitlichen Redaktion oder Edition. Am ehesten ist der 2. Petrusbrief ein „Editorial“ in Briefform: ein Metatext, der eine Verbindung von Evangelien und Briefen voraussetzt und unter den Briefen zwei Gruppen unterscheidet: Paulusbriefe und die katholischen Petrusbriefe. Daher sollte man allenfalls von einer „Edition“ des Neuen Testaments im 2. Jahrhundert sprechen, nicht von einer durchgreifenden „Rezension“. Aber selbst beim 2. Petrusbrief wird diese Deutung als „Editorial“ oft abgelehnt. Daher seien hier einige Argumente zur Unterstützung der These von David Trobisch genannt: Exkurs: 2. Petrusbrief als Editorial des neutestamentlichen Kanons. Der 2. Petrusbrief kennt m.E. eine Paulusbriefsammlung. Darauf weist die Rede von „allen Briefen“ des Paulus (2Petr 3,16). Das würde auch dann gelten, wenn man die Stelle so versteht, dass Paulus zur eschatologischen Geduld „in all den Briefen“ mahnt, „sofern er in ihnen auf (das Ende) zu sprechen kommt“.4 Dann wäre mit der Wendung „alle Briefe“ keine abgeschlossene Sammlung von Paulusbriefen gemeint, wohl aber alle Briefe mit eschatologischer Thematik. Aber diese Teilmenge würde eine Gesamtmenge aller Paulusbriefe voraussetzen. Die im Anschluss daran vom 2. Petrusbrief kritisierte Unverständlichkeit der Paulusbriefe dürfte sich auf jeden Fall auf alle Paulusbriefe beziehen. Ganz gewiss aber setzen die dann genannten „übrigen Schriften“ eine Gesamtmenge

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So M. Ruf in einer exzellenten Arbeit: Die heiligen Propheten, eure Apostel und ich. Metatextuelle Studien zum zweiten Petrusbrief, Diss. theol. Utrecht 2010, 104.

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134 Literaturgeschichte und Literaturästhetik des Neuen Testaments voraus – unabhängig davon, ob man an paulinische Briefe oder andere neutestamentliche Schriften denkt. Sicher ist im 2. Petrusbrief das Matthäusevangelium in der Verklärungsgeschichte in 2Petr 1,17f vorausgesetzt. Das zeigen Wortübereinstimmungen in der Himmelsstimme. Denn nur im Matthäusevangelium sagt diese bei der Verklärung: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mt 17,50). Man kann noch weiter gehen. In der Himmelsstimme von 2Petr 2,17f verschmelzen m.E. Tauf- und Verklärungsstimme: Dass Jesus Ehre und Herrlichkeit von Gott empfängt und dabei die Stimme Gottes hört, passt nur auf die Himmelsstimme bei der Taufe – streng genommen sogar nur auf deren Darstellung im Markusevangelium, da sich nur bei ihm durch die Taufe der Status Jesu verändert. In den anderen Synoptikern offenbart die Stimme einen durch Geistzeugung begründeten schon vorher existierenden göttlichen Status Jesu. In der Verklärung aber fallen der Empfang von göttlicher Würde und die Himmelsstimme, wie es 2Petr 2,17f voraussetzt, gerade nicht zusammen. Vielmehr offenbart Jesus seine schon vorher existierende göttliche Hoheit, die erst nachträglich durch die Gottesstimme bestätigt wird. Jesus „empfängt“ hier also keine Ehre und Herrlichkeit von Gott, sie wird nur sichtbar. Auch der Relativsatz „an dem ich Wohlgefallen habe“ ist für die Taufstimme typisch und wird nur bei Matthäus auch in die Verklärungsstimme eingetragen. Ferner stammt das merkwürdige „hinein“ (GKXL) 2Petr 1,17) eher aus der Tauferzählung. Dort kommt nämlich der Geist „in ihn“ (GKXLCWXVQP) herab. Wenn in 2Petr 2,16–18 Taufe und Verklärung verschmolzen sind, muss der 1. Petrusbrief ganze Evangelien vor Augen haben und keineswegs nur eine Einzelperikope. Neben dem Matthäusevangelium müsste es ferner auch das Markusevangelium sein, da nur hier die Taufe einen Statuswandel Jesu bezeugt. Daneben ist aber auch das Lukasevangelium bekannt. Denn nur hier wird die Verklärung als Offenbarung seiner „Herrlichkeit“ (FQZC) und seiner Hoheit (OGICNYUWPJ) bezeichnet (vgl. Lk 9,31.32 mit 2Petr 2,17; Lk 9,43 mit 2Petr 2,16). Dass sich der 2. Petrusbrief kaum auf ein einziges Evangelium bezieht, könnte auch aus 2Petr 3,2 hervorgehen. Dort wird von dem „von den Aposteln (überlieferten) Gebot des Herrn und Retters“ gesprochen. Hier wird vorausgesetzt, dass die eine Botschaft Jesu (GXPVQNJim Singular) durch mehrere Apostel (im Plural) übermittelt wird. Theoretisch könnte hier zwar ein einziges Evangelium (das des Apostels Matthäus) zusammen mit den Briefen der Apostel Paulus und Petrus gemeint sein. Aber in Kombination mit den auf mehrere Evangelien weisenden Beobachtungen spricht alles für eine Vielzahl von Evangelien, die im 2. Petrusbrief als bekannt vorausgesetzt wird. Soll man die Erinnerungen, für die Ps-Petrus sorgen will (das „Testament des Petrus“), auf den 2. Petrusbrief selbst beziehen?5 Das Futur: „ich werde mich bemühen“ (URQW FCUY) in 2Petr 1,15 passt nicht zu dieser Annahme. Eigentlich wäre der Aorist des Briefstils zu erwarten. Der Leser bezieht das Futur zunächst auf einen noch zu schreibenden Briefteil, also auf den folgenden Text mit der Verklärungsgeschichte. Hier bezieht sich der 2. Petrusbrief aber eindeutig auf Evangelienüberlieferung – und dabei möglicherweise

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M. Ruf, Propheten, 160.

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Zu D. Trobisch: Das NT als literaturgeschichtliches Problem

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auch auf das Markusevangelium. Das weist dann doch auf eine Erinnerungssicherung in Form eines Evangeliums. Dass die schriftliche Form dieser Erinnerung nicht erwähnt wird, ist kein Gegenargument. Aufgrund von 1Petr 5,12 weiß nämlich der Leser, dass Petrus nicht selbst schreibt, sondern andere schreiben lässt. Nach 1Petr 5,12 ist Silvanus der Schreiber des 1. Petrusbriefs. Neben Sylvanus wird nur „Markus“, der „Sohn“ des Petrus, genannt. Muss der Leser nicht notwendigerweise darauf schließen, dass Markus der Testamentsvollstrecker des Petrus sein soll? Denn über Petrus liegt schon im 1. Petrusbrief der Schatten des Todes (1Petr 5,1). Als „Sohn“ wäre Markus zweifellos der berufene Testamentsvollstrecker. Schwieriger ist es, eine Bekanntschaft des 2. Petrusbriefes mit dem Johannesevangelium nachzuweisen. Nach M. Ruf bezieht sich die Todesankündigung Jesu an Petrus in 2Petr 1,14f nicht auf Joh 21,18f.6 Denn in Joh 21 habe die Todesweissagung eine räumliche und zeitliche Dimension: Der Märtyrertod werde an einem anderen Ort stattfinden als in Galiläa, wo das Gespräch zwischen dem Auferstandenen und Petrus stattfindet, und er sei nicht „bald“ zu erwarten. Hier ist die Wahrscheinlichkeit einer Bezugnahme auf das Johannesevangelium m.E. jedoch sehr groß, wenn man den 2. Petrusbrief in Zusammenhang mit dem 1. Petrusbrief liest, auf den er sich ausdrücklich bezieht (2Petr 3,1). Durch den 1. Petrusbrief ist klar, dass Petrus in „Babylon“, d.h. in Rom ist (1Petr 5,13). In den Augen des Briefschreibers hat er im 2. Petrusbrief die „Reise“ von Palästina an einen fernen Ort schon hinter sich. Da der Schatten des Martyriums in 1Petr 5,1 über Petrus liegt, muss sein Tod im 2. Petrusbrief ganz „nahe“ sein. Die Unterschiede zwischen der Todesankündigung in 2Petr 1,14f und Joh 21,18f lassen sich also sehr gut erklären, wenn man den 2. Petrusbrief zusammen mit dem 1. Petrusbrief liest. Zu bedenken ist ferner, dass der 2. Petrusbrief das Johannesevangelium gar nicht voraussetzen darf, weil dieses Evangelium nach Joh 21 erst nach dem Tod des Petrus entstanden sein will – nämlich aufgrund des Zeugnisses des Lieblingsjüngers, der Petrus lange überlebt haben soll. Natürlich könnte man sich vorstellen, dass eine einzelne Petrustradition über eine Weissagung seines Todes im Urchristentum schon lange vor der Niederschrift des Johannesevangeliums kursierte. Aber viel näher liegt es, an das Johannesevangelium zu denken. Man kann nämlich auch sonst das Petrusbild des 2. Petrusbriefes als bewusste Korrektur des Petrusbildes im Johannesevangelium verstehen: Petrus versteht im Johannesevangelium Jesus meist falsch, während der Lieblingsjünger ihn richtig versteht. Der 2. Petrusbrief betont dagegen schon im Präskript, Petrus vertrete den wahren und wertvollen Glauben und wünsche allen, in der Erkenntnis Gottes und Jesu (GXRKIPYUKL)җ zu wachsen. Der Schlusswunsch spricht von einem Wachsen in der Erkenntnis (IPYUKL). Petrus verkörpert das wahre Verstehen – und kann selbst Paulus zurechtrücken. Worin besteht nun der Beitrag des 2. Petrusbriefs zur Kanonbildung? Der entscheidende Beitrag ist m.E. die Verbindung der beiden Grundformen „Paulusbriefe“ und „Evangelien“ durch die Erfindung der katholischen Briefe: Petrus als höchste Autorität kann beide Grundformen verbinden, weil er einerseits selbst Briefe schreibt und anderer-

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M. Ruf, Propheten, 149–158.

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136 Literaturgeschichte und Literaturästhetik des Neuen Testaments seits für die Authentizität der Jesusüberlieferung in den Evangelien als „Augenzeuge“ bürgt. Er ist die Klammer, die beide Grundformen verbindet. Daher haben wir im 2. Petrusbrief eine der ganz wenigen Fälle, wo in einem urchristlichen Brief nicht nur ein Jesuswort aufgegriffen wird, sondern eine Jesuserzählung. Selbst wenn man den 2. Petrusbrief nicht auf einen im 2. Jh. schon abgeschlossenen Kanon beziehen will, kann man ihn doch auf die Grundstruktur des Kanons als Verbindung von Evangelien- und Briefliteratur beziehen. In dieser bescheidenen Form ist die These von David Trobisch m.E. haltbar: Der 2. Petrusbrief ist ein Editorial in Briefform für eine kanonische Ausgabe des Neuen Testaments im 2. Jahrhundert.

3) Die literaturästhetische Betrachtung des Neuen Testaments Eine Betrachtung der Texte in ihrer Endgestalt ist noch keine literaturästhetische Betrachtungsweise, sie ist aber eine gute Voraussetzung für diesen Zugang. Er scheint viele Probleme der Exegese zu lösen: Der immer wieder problematisierte Geschichtsbezug der Texte wird bei fiktionaler Literatur irrelevant. Die Texte sprechen in sich und für sich. Man kann sich ganz auf das konzentrieren, was einen bei ihrer Lektüre anspricht. Und dennoch sind eine ästhetische und eine religiöse Betrachtungsweise zu unterscheiden. Ästhetische Wahrnehmung ist zwar an der Existenz ihrer Gegenstände nicht desinteressiert (in Widerspruch zum „interesselosen Wohlgefallen“, in dem I. Kant das Wesentliche der ästhetischen Erfahrung sah), aber richtig ist: Eine ästhetische Wahrnehmung weigert sich, sie auf einen Zweck außerhalb ihrer selbst zu beziehen. Eine religiöse Lektüre des Textes aber nimmt ihn als Medium für eine Dialogaufnahme mit Gott. Wird hier nicht der Text zu einem „Instrument“? Ist er nur in der ästhetischen Wahrnehmung wirklich ein Selbstzweck? Aber neben dieser Spannung zwischen einer religiösen und einer ästhetischen Wahrnehmung des Textes gibt es eine tiefe Verwandtschaft: Alles was in sich Selbstzweck ist, kann transparent für ein Absolutes werden, das in sich und für sich selbst Zweck ist. Eine Transparenz für etwas Ganz Anderes begründet religiöse Wahrnehmung. Sie kann sich selbst nicht genüge sein, wie ästhetische Wahrnehmung es sein kann. Sie sucht in den Texten nach einer Dialogaufnahme mit Gott. Aber eben die Realität Gottes ist ein Zweck in sich selbst.7 Damit aber werden ästhetische und religiöse Erfahrung aufeinander bezogen. Der Selbstzweckcharakter des Ästhetischen kann gleichzeitig über sich hinausweisen auf Gott, der in sich Selbstzweck ist. Hat man das einmal ————— 7

G. Theissen, Moderne religiöse Kunst. Theologische Ästhetik zwischen theologia gloriae und theologia crucis, EvTh 67 (2007), 5–22.

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Zu D. Trobisch: Das NT als literaturgeschichtliches Problem

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erkannt, dann muss man sich darum bemühen, die ästhetische Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit für religiöse Erfahrungen transparent zu machen. Das Ästhetische gab es schon seit je her in den beiden Gestalten des „Schönen“ und des „Erhabenen“. Aber darüber hinaus gibt es viele ästhetische Qualitäten: das Groteske, das Humoreske, Ironische, Tragische, Komische, Idyllische. Die apokryphe urchristliche Literatur ist z.B. ein Musterbeispiel für groteske Gestaltung, wenn man an die verzerrten Körper in der Hölle der Petrusapokalypse denkt.8 Manche Gleichnisse sind voll feiner Ironie: Der Geldverleiher in dem Gleichnis von den Talenten, der ungerechte Verwalter, der ungerechte Richter – sie alle werden zu Bildern Gottes, und doch spüren wir eine Distanzierung von diesen Bildern. Gott ist noch einmal ganz anders. Die lukanische Geburtsgeschichte ist eine biblische Idylle. In ländlichem Milieu unter Hirten wird der Heiland der Welt geboren. Die Passionsgeschichte ist eine tragische Geschichte: einerseits der Fall eines „Königs“, andererseits wird mit dieser Tragik von einem einfachen „Menschen“ erzählt. Eine differenzierte ästhetische Betrachtung der urchristlichen Literatur ist noch ein Desiderat. Sicher ist: Wer mit modernen ästhetischen Augen und Kategorien das Neue Testament liest, kommt ihm näher, als wer klassizistische Maßstäbe des „Schönen“ hat. Das Neue Testament gibt wie die moderne Literatur den Leidenden und Gescheiterten ihre Würde zurück. Man kann sogar fragen, ob die Entwicklung der modernen Kunst und Literatur zu einer Ästhetik des Hässlichen, Gebrochenen und Absurden ohne den biblischen Hintergrund der jüdisch-christlichen Kultur denkbar gewesen wäre. Die Darstellung des Gekreuzigten ist wahrscheinlich das häufigste Thema christlicher Kunst. Eine lange Sehtradition hat uns gelehrt, im gemarterten Menschen die Würde Gottes zu sehen. Als um 1900 die moderne Kunst ihren Durchbruch hatte, stellte sie auch im Scheiternden und Hässlichen die zerbrochene Würde des Menschen dar. In vielen modernen Gestaltungen ist die Abwesenheit Gottes so spürbar wie in der Finsternis bei der Passion Jesu. Es lohnt sich, den Kanon synchronisch und literaturästhetisch zu lesen, aber das ist kein Widerspruch zu einer literaturgeschichtlichen Betrachtungsweise.

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I. Czachesz, The Grotesque Body in Early Christian Literature: Hell, Scatology, and Metamorphosis, Diss. theol. habil. Heidelberg 2007.

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8. Neutestamentliche Literaturwissenschaft. Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte“?1

Eine Literaturgeschichte der neutestamentlichen Schriften muss sich nach zwei Seiten hin rechtfertigen: Einerseits muss eine literaturgeschichtliche Betrachtung im Vergleich zur traditionellen theologischen „Einleitungswissenschaft“ einen Mehrwert haben. Die „Einleitungen“ fragen bei jeder einzelnen Schriften nach Authentizität, Entstehungszeit und -ort, Quellen, Gliederung und Intention. Eine Literaturgeschichte wird sehr viel mehr Zusammenhänge zwischen den einzelnen Schriften herstellen und das Ganze des urchristlichen Schrifttums im Blick haben. Andererseits muss man zeigen, dass eine Literaturgeschichte der neutestamentlichen Schriften gegenüber der allgemeinen Literaturwissenschaft keinen Minderwert hat, sei es, weil die geringe Textmenge und unser begrenztes Wissen eine eigentliche Literaturgeschichte unmöglich machen, sei es, weil sie methodisch hinter der modernen Literaturgeschichtsschreibung zurückbleibt. Eine Literaturgeschichte erhebt den Anspruch, dass die urchristlichen Schriften nach Maßstäben betrachtet werden, die sich in der allgemeinen Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft bewährt haben. O. Wischmeyer hat in vielen Veröffentlichungen immer wieder das Anliegen vertreten, neutestamentliche Exegese auf der Höhe der gegenwärtigen Text- und Literaturwissenschaften zu treiben.2 Daher ist es nahe liegend, dass sie meinen Entwurf mit Hilfe der allgemeinen Maßstäbe prüft, die sie sich erarbeitet hat. Sie stellt vor allem drei Fragen, auf die ich in meiner Stellungnahme eingehen möchte: 1. Was wird unter Literatur verstanden, wenn man von urchristlicher Literatur spricht? Hier geht es um den Literaturbegriff. 2. Warum entstand eine urchristliche Literatur? Hier geht es um die Paradoxie, dass im Urchristentum in Literatur in einem unliterarischen Milieu entstand. —————

1 Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte des Neuen Testaments“?, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 120–139. 2 O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, Tübingen/Basel 2004. Dies. u.a., Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin u.a , 2009.

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Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte des NT“?

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3. Inwiefern wurde sie nachhaltig durch Personen wie Jesus und Paulus geprägt? Hier geht es um die beiden Grundformen des Neuen Testaments, um Evangelien und Paulusbriefe. Richtig sieht O. Wischmeyer, dass mein Entwurf einer Literaturgeschichte historisch ist: Texte sollen aus ihrem Lebenszusammenhang heraus erklärt werden und dadurch, dass man sie in diesen Lebenszusammenhang stellt, wieder lebendig werden. Das schließt andere literaturästhetische Zugangsweisen nicht aus.

1) Fiktionale Dichtung und religiöse Literatur Der moderne Literaturbegriff wird manchmal auf fiktionale Dichtung beschränkt. Religiöse Schriften wären dann keine „Literatur“. Die Aussagen religiöser Schriften beziehen sich auf eine Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst. Für die Autoren und die ersten Leser waren Texte wie die Schöpfungsgeschichte keine Fiktion. Religiöse Texte wollen vielmehr als referentielle, nicht als fiktionale Texte gelesen werden. Fiktionale Dichtungen bauen eine erfundene Wirklichkeit auf, die außerhalb der Texte nicht existiert. Sie sind fiktional, nicht fiktiv, weil über ihre Fiktionalität zwischen Autor und Leser Einvernehmen besteht. Natürlich gibt es Überschneidungen: Lyrik sind (meist) nicht fiktionale Dichtungen. Die in ihnen zum Ausdruck kommenden Stimmungen und Emotionen sind Realität. Die Psalmen sind religiöse Lyrik, die nicht fiktional ist, es sei denn, es werden erzählende Motive (wie im Hohelied Salomos) eingebaut. Umgekehrt sind die Dialoge des Buchs Hiob und die Gleichnisse Jesu religiöse Literatur, die von vornherein als fiktionale Texte intendiert waren. Oda Wischmeyer betont mit Recht: In der Antike ist der Literaturbegriff weiter als in der modernen Zeit. Philosophische Schriften wie die Dialoge Platons und die Geschichtsschreibung sind selbstverständlich Gegenstand einer antiken Literaturgeschichte. Der Literaturbegriff lässt sich hier nicht auf fiktionale Dichtung beschränken. Geht man nämlich noch weiter in die Anfänge der Antike zurück, so erweitert sich der Begriff „Literatur“ noch einmal. Wenn ein Forschungsprojekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften die „Edition literarischer Keilschrifttexte aus Assur“ zum Ziel hat, werden unter literarischen Texten Mythen, Epen und Fabeln, historische Texte und religiöse Rituale, Beschwörungen und Omina verstanden. Der Literaturbegriff wird umso weiter, je mehr wir in der Zeit zurückgehen. Die Menge der zu untersuchenden Texte wird gleichzeitig geringer (auch wenn die Assyrologie heute durch noch unedierte Funde regelrecht überflutet wird). Jedoch werden auch die Ansprüche an „Literarizität“ geringer.

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Ph. Vielhauer hat mit Recht im Blick auf die urchristliche Literatur festgestellt: „Der schwierigen Frage der modernen Literaturwissenschaft, was aus der Sintflut bedruckten Papieres als ‚Literatur‘ zu gelten habe und somit Gegenstand der Literaturwissenschaft und -geschichte sei..., ist man mangels Masse enthoben.“3 Man könnte daher von den Anfängen in der Antike bis heute eine „Ästhetisierung“ des Literaturbegriffs feststellen. Philosophische und historische Werke fallen heute nicht mehr unter diesen engeren Begriff von Literatur. Gegenläufig macht sich in moderner Zeit eine Entästhetisierung bemerkbar: Der dichterisch-fiktionale Literaturbegriff wird als elitär kritisiert und alle Texte als literarische Sonderformen bewertet, so dass man ein Telefonbuch als Drama mit Null-Handlung und extrem langem Personenverzeichnis verstehen kann. Nun stehen im Zentrum der Verkündigung Jesu fiktionale Texte: die Gleichnisse. Sie sind kleine Dichtungen. Jesus ist zwar auch dann ein Dichter, wenn er in seinen Bildworten seine Lehre formuliert und in metrisch gebundenen Sentenzen spricht. Denn in vormodernen Zeiten gehört auch die „Lehre“ zu den Aufgaben des Dichters. Docere und delectare sind klassische Zweckbestimmungen der Dichtung. Aber es kann kein Zweifel sein: Die Gleichnisse sind in besonderer Weise Dichtung. Und es stellt sich die Frage, ob man von ihnen her auch andere neutestamentliche Aussageformen verstehen kann. Auf eine Formel gebracht lautet die Frage: Spricht Jesus nur in Gleichnissen oder ist er selbst das „Gleichnis Gottes“. Dann wären die Evangelien als Ganze ebenso eine Art Gleichnis wie die Verkündigung von Jesus in den Briefen. Die Frage ist also: Gibt es einen Grund, eine bestimmte Gattung wie die Gleichnisse zum hermeneutischen Modell für alle Formen des Neuen Testaments zu machen? Im Folgenden sei ein Versuch skizziert, mit Hilfe der kognitiven Religionswissenschaft die Gleichnisse als eine zentrale religiöse Aussageform zu begreifen. Sie übertragen Bilder vom menschlichen Leben auf Gott und überschreiten damit Grenzen zwischen Seinsbereichen. Sie sind kontraintuitiv. Kontraintuitive Aussagen sind solche, in denen kategoriale Erwartungen an bestimmte Seinsbereiche verletzt oder Kategorien von einem Seinsbereich in einen anderen übertragen werden (jemand geht über das Wasser, überlebt seinen Tod usw.). Solche Aussagen sind für die Religion charakteristisch. Eben sie gehören zur Gattung der Gleichnisse. Sie tragen in den Bereich dessen, was jenseits aller Seinsbereiche liegt, z.B. Kategorien von Personen ein. Gleichzeitig enthalten sie (besonders in den so genannten Parabeln) extravagante Züge innerhalb eines Seinsbereich, ohne kategoriale Erwartungen zu verletzen. Ein König erlässt eine unvorstellbar hohe Summe. Alle Arbeiter erhalten trotz verschiedener Leistung denselben Lohn. ————— 3

Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 5 Anm. 7.

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Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte des NT“?

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Die Bettler und Außenseiter werden zum Festmahl geladen. Einfache Menschen aus dem Volk, Fischer und Bauern sollen das zukünftige Israel regieren usw. Das sind nicht kontraintuitive, sondern paradoxe Züge ohne Verletzungen von Seinskategorien. Solche Paradoxien sind ein Bildsignal dafür, dass etwas ganz Anderes gemeint ist. Erst wenn wir an dieses ganz Andere denken, an Gott, werden kontraintuitiv Seinsgrenzen überschritten. Sieht man in kontraintuitiven Grenzverletzungen das Wesen der Religion, so sind Gleichnisse und Symbolhandlungen daher nicht irgendwelche beliebige Sprachformen. Sie sind die Sprachform, die dem Wesen der Religion am meisten entspricht. Die Welt wird transparent für etwas ganz Anderes. Dann aber können wir auch die Verwandlung Jesu ins Kerygma verstehen: In der Auferstehung von den Toten tritt die Macht Gottes, auf welche die Gleichnisse indirekt verweisen, direkt ins Leben der Menschen. Sie wird aktiv an Jesus, der gekreuzigt und begraben wurde. Sie überschreitet die entscheidende Grenze: die zwischen Nichts und Sein. Aus dem historischen Jesus, der in Gleichnissen sprach und handelte und dadurch einen Zugang zu Gott schuf, wurde durch das Kerygma Jesus, der als Gekreuzigter und Lebendiger selbst zum Gleichnis Gottes wurde. Wie verhält sich nun die Bildlichkeit im Wirken Jesu zur Bildlichkeit des Kerygmas? Der historische Jesus steht auf Seiten des Menschen, der nach Spuren Gottes in dieser Welt sucht; mit dem kerygmatischen Christus aber bricht eine Spur Gottes in diese Welt hinein. Beides gehört zusammen. Die Gleichnisse sind also nicht zufällig zentraler Bestandteil des Neuen Testaments. Diese fiktionale Gattung kann den Weg zum Verständnis anderer religiöser Texte bahnen. Die Abgrenzung zwischen fiktionaler und religiöser Literatur fällt uns heute ohnehin schwer, weil wir religiöse Texte oft als fiktionale Texte (d.h. als Poesie und Dichtung) rezipieren. Andere rezipieren religiöse Texte religionskritisch als Fiktion, ebenso viele aber auch religionsbejahend als „Poesie des Heiligen“, ohne sie deshalb „wörtlich“ nehmen zu müssen. Wir entdecken heute auch in „weichen“ poetischen Aussagen ein Stück Realität – und in „harten“ wissenschaftlichen Aussagen jenes Element von Fiktion, das wir „Konstruktion“ nennen. Nach diesen religionstheoretischen Überlegungen zum religiösen Charakter der Gleichnisse zurück zu der historischen Frage: Wie konnte es zur Entstehung einer religiösen Literatur des Urchristentums kommen? Sie ist keineswegs selbstverständlich.

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Neutestamentliche Literaturwissenschaft

2) Die Entstehung der urchristlichen Literatur als Paradox Mein Entwurf einer Literaturgeschichte entstand aus einem kurzen Akademievortrag. In der Diskussion warf Martin Hengel die Frage auf, wie die Entstehung urchristlicher Literatur zu erklären sei, da sie angesichts der akuten Naherwartung ein Paradox sei. Wer schreibt noch Bücher, wenn die Welt morgen untergeht? Dadurch angeregt habe ich nachträglich einen Abschnitt über die Unwahrscheinlichkeit der urchristlichen Literatur in mein Buch eingefügt. Paradox ist die Entstehung der urchristlichen Literatur angesichts der apokalyptischen Naherwartung auch dann, wenn man voraussetzt, dass mehrheitlich nicht-apokalyptische Texte im Urchristentum entstanden sind (so O. Wischmeyer, S. 127). Die Naherwartung ist ja auch in vielen anderen Texten vorausgesetzt – in der Paränese oder in den Gleichnissen, auch wenn diese keine apokalyptischen Texte sind. Meine Überlegung, dass ein hohes Selbstwertbewusstsein einer der Gründe ist, warum in einem unliterarischen Milieu Menschen eine Literatur schaffen und dafür Adressatenkreise finden, möchte ich gegen die Skepsis von O. Wischmeyer verteidigen. Wenn trotz der Naherwartung „biographische“ Texte wie die Evangelien entstanden, die auf eine Gestalt in der Vergangenheit zurückblicken und nicht den Kommenden proklamieren, so erklärt sich das m.E. durch den großen Wert dieser einen Person Jesus. Seine zentrale Stellung beim Übergang von der alten zur neuen Welt erhöhte seinen Wert. Dasselbe gilt für seine Anhänger. Sie haben als Bürger der neuen Welt unendlichen Wert. Ihr Selbstwertbewusstsein können wir auch dort einschätzen, wo sie nicht als individuelle Personen erkennbar sind (anders O. Wischmeyer). Wenn der unbekannte Verfasser des Epheserbriefes sagt, alle Christen seien schon jetzt in den Himmeln „mit eingesetzt“ (Eph 2,6), so lässt sich ein solches Hoheitsbewusstsein kaum überbieten. Die Christen schufen aus einem hohen Selbstwertbewusstsein heraus eine eigene Bibel ohne Anlehnung an die Formensprache der schon bestehenden Bibel. Sie hatten eine eigene Botschaft. Und dafür wählten sie Formen, die bisher in ihrem Traditionsbereich nicht für religiöse Literatur vorgesehen war. Aber sie stellten diese Formen neben das von ihnen als heilige Schrift anerkannte „Alte Testament“. Schon früh beanspruchten sie dabei für ihre Texte nicht nur Gleichwertigkeit mit dem „Alten Testament“, sondern Überlegenheit. Richtig ist: Auch im Judentum entstanden viele normative Texte neben der Bibel. Aber nur selten wollten sie die Bibel erweitern. So hatte die Tempelrolle wohl den Ehrgeiz, ein sechstes Buch Mose zu werden. Man darf aber nicht die gegenüber der hebräischen Bibel neuen (apokryphen) Schriften in der Septuaginta durchweg als Erweiterung der jüdischen Bibel bewerten. Einige von ihnen wurden erst durch das Christentum kanonisch.

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Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte des NT“?

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Auch wenn die Schriften der Septuaginta durch und durch jüdische Schriften sind, dürfte ihre Wertschätzung und Durchsetzung als Bibel oft erst auf das Christentum zurückgehen. Oder unterliegen wir hier einer „optischen“ Täuschung, weil uns die griechischsprachige Literatur des hellenistischen Judentums weithin in christlicher Überlieferung erhalten ist. Daher kennen wir sie vor allem als Erweiterungen in der christlichen Tradition über die alttestamentlichen Bücher hinaus, nicht aber als genuin jüdische Tradition.

3) Die literaturgeschichtliche Bedeutung von Jesus und Paulus Meine literaturgeschichtliche Skizze greift Impulse aus vorhergehenden Ansätzen auf: von J.G. Herder den Gedanken einer ästhetischen Literatur des Volkes, von F. Overbeck den Gedanken einer persongebundenen Urliteratur, von den Formgeschichtlern den einer sozial niedrig stehenden Kleinliteratur, von gegenwärtigen literaturgeschichtlichen Überlegungen den einer besonderen jüdischen Koineliteratur. In den von mir unterschiedenen vier Phasen der urchristlichen Literaturgeschichte kommen m.E. jeweils verschiedene Motive zum Tragen, jedoch ist es eine Besonderheit dieses Entwurfs, dass zwei individuellen Gestalten durchgehend eine große Bedeutung zukommt: Am Anfang sind zwei charismatische Personen wie Jesus und Paulus entscheidend. Von Jesus geht vermittelt durch eine mündliche Traditionsgeschichte der Anstoß zur Evangelienbildung aus. Durch Paulus wurde der Freundschaftsbrief zum Gemeindebrief entwickelt – mit einem Anspruch im Römerbrief, dass er nicht nur für die römische Gemeinde, sondern für alle Menschen eine Botschaft enthält. Die Bedeutung dieser beiden Gestalten war so groß, dass sie in einer zweiten Phase urchristlicher Literatur nur noch pseudepigraphe Nachahmer fanden: Wer nach ihnen noch eine wichtige Botschaft hatte, musste sie Jesus oder Paulus in den Mund legen, sei es durch pseudepigraphe Briefe, sei es durch redaktionelle Arbeit an den Worten Jesu und den Erzählungen von ihm. Eine Lösung von diesen beiden Gestalten wird erst in der dritten Phase sichtbar: Funktionale Notwendigkeiten führen zu einer Erweiterung der Gattungsvielfalt, die sich innerhalb des Neuen Testaments nur begrenzt niederschlägt, dafür aber in der apokryphen urchristlichen Literatur dominiert. Aber nur im Schlepptau der beiden auf Jesus und Paulus zurückgehenden Gattungen gelangten diese neuen Formen ausnahmsweise ins Neue Testament: die Apostelgeschichte setzte das Lukasevangelium fort, der Hebräerbrief bringt als Paulusbrief eine beeindruckende urchristliche Rede im Kanon unter. Die Apokalypse stilisiert sich als Brief.

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Selbst in der letzten Phase der urchristlichen Literasturgeschichte spielen die beiden grundlegenden Autoritäten bei der Kanonisierung eine entscheidende Rolle: Die Texte erhalten immer dort eine kanonische Qualität, wo die schon vorher im Urchristentum anerkannte Autorität des Kyrios und des Apostels auf Schriften übergeht, die vom Kyrios zeugen oder auf Paulus zurückgehen. Paulus erhält in den katholischen Briefen ein Gegengewicht durch andere Apostel. Aufgrund der Autorität des Kyrios und des Apostels kann die neue Schriftensammlung als normative Grundlage neben die erste Bibel gesetzt werden. Trotz aller historischen Skepsis und trotz unseres begrenzten Wissens halte ich daher an Jesus und Paulus als den entscheidenden Ursprungsgestalten einer urchristlichen Literaturgeschichte fest. O. Wischmeyer betont mit Recht, dass Jesus und Paulus in verschiedener Weise für die urchristliche Literaturgeschichte wirksam und bedeutsam geworden sind. Jesus hat für die Entstehung einer urchristlichen Literatur nur eine indirekte Bedeutung. Viele der ihm zugeschriebenen Worte gehen auf ihn zurück, aber die Erzählungen über ihn sind von anderen formuliert. O. Wischmeyer hat daher Recht, dass Jesu Worte anders zu beurteilen sind als Erzählungen über ihn. Aber wie stark ist der Neueinsatz wirklich? Auch die Logienquelle wird durch eine Erzählung eingeleitet und enthält die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum. Aber erst in den Evangelien werden Erzählungen zum umfassenden Rahmen, in den die Worte eingebettet werden. In der Logienquelle sind dagegen die wenigen Erzählungen in Wortsammlungen eingebettet. Paulus ist daher zweifellos der Autor der ersten erhaltenen Schriften im Urchristentum. Diesen Rang kann ihm Jesus nicht streitig machen. Aber auch Paulus entwickelt seine Briefe erst Schritt für Schritt aus Gelegenheitsschreiben zu einem Testament. Er ist erst im Römerbrief „der erste christliche Autor im Vollsinn des Begriffs“ (O. Wischmeyer, 139). Gleichberechtigt neben ihm steht in dieser Rolle nicht Jesus, sondern der Markusevangelist als „Autor“ einer Schrift. Dennoch halte ich an Jesus und Paulus als den beiden entscheidenden Gestalten für die Anfänge der urchristlichen Literatur fest. Der entscheidende Unterschied zwischen ihnen ist der von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Dieser Unterschied relativiert sich durch das Phänomen sekundärer Mündlichkeit. Schriften wurden in der Antike weniger individuell gelesen als vorgelesen und durch Hören verbreitet. Schriften wurden also weithin in mündlicher Form präsentiert. Die Briefe des Paulus erlebten die meisten Menschen in seinen Gemeinden ohnehin als mündliche Rede durch deren Verlesung im Gottesdienst. Selbst der Römerbrief ist von Wendungen durchzogen, die aus mündlicher Kommunikation stammen: „Was sollen wir dazu sagen?“ (Röm 3,5; 4,1; 6,1; 7,7 usw.) „In menschlicher Weise spreche ich“ (6,19). „Zu denen, die das Gesetz kennen, rede ich“ (7,1). „Wahrheit spreche ich“ (9,1). „Ich sage nun“ (11,11). „Aufgrund der mir gegebenen

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Zu O. Wischmeyer: Was meint „Literaturgeschichte des NT“?

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Gnade sage ich“ (12,3). Nur 15,15 belegt, dass Paulus „schreibt“. Diese sekundäre Mündlichkeit ergibt sich daraus, dass nur wenige eine Schrift besaßen. Zugang zu Büchern hatten schon deshalb die meisten durch Zuhören. Umgekehrt ist bei Jesus zu fragen: Stand er dem schriftlichen Medium wirklich so fern, wie manchmal dargestellt wird? Die Evangelien lassen ihn in Synagogen auftreten und die Schrift lesen und auslegen. War er nicht durch Zuhören und (Vor-)Lesen mit der Schrift vertraut? Nicht alle intertextuellen Bezüge auf die Bibel sind erst durch urchristliche Schriftgelehrsamkeit in die Überlieferung von ihm eingetragen worden. C.A. Evans hat gute Beobachtungen dafür gesammelt, dass wir in Schriftzitaten bzw. Anspielungen hin und wieder einen so kühnen „subversiven“ Umgang mit der Schrift finden, dass er nur Jesus selbst zuzutrauen ist.4 So dankt Jesus in seinem Jubelruf (Mt 11,25/Lk 10,21) für die Offenbarung eines Geheimnisses, das Gott den Weisen und Verständigen verschlossen, den Unmündigen aber mitgeteilt hat. Dass die ersten Christen eine Überlieferung erfanden, in der die Jünger und sie selbst als „Unmündige“ abgewertet wurden, ist schwer vorstellbar. Der Jubelruf Jesu könnte schon deshalb echt sein. Dan 2,20–23 ist zudem sein alttestamentlicher Bezugstext, dessen Sinn konterkariert wird; denn Daniel dankt für die Offenbarung göttlicher Geheimnisse an die Weisen und Verständigen, Jesus dankt dagegen dafür, dass sie den Weisen und Verständigen vorenthalten wurde. Diese Jesusüberlieferung ist ein Zeuge für sekundäre Mündlichkeit bei Jesus selbst. Wenn man diese Verwurzelung in sekundärer Mündlichkeit bei Jesus wie bei Paulus sieht, kann man sie literaturgeschichtlich nicht unbefangen gegeneinander ausspielen. Zwar ist der Bezug dieser sekundären Mündlichkeit jeweils verschieden. Beide beziehen sich auf die alttestamentliche Schrift. Aber nur Paulus schreibt Briefe, die auch seine eigenen Gedanken in eine sekundäre Mündlichkeit einspeisen. Paulus war zweifellos darin ein Schritt weiter, dass er das schriftliche Medium für seine eigenen Gedanken nutzte. Aber er schrieb immer nur an konkrete Gemeinden – selbst im Römerbrief. Jesus war in seiner mündlichen Verkündigung dagegen darin weiter, dass er seine Gedanken von vornherein für alle Menschen im (jüdischen) Volke, oft aber sogar in ganz allgemein menschlicher Weise für alle formulierte. Trotz dieser Bedeutung von zwei „Ursprungsgestalten“ wie Jesus und Paulus, lässt sich die Literaturgeschichte des Urchristentums nicht der „biographisch“ orientierten Literaturgeschichtsschreibung zuordnen. Nicht umsonst spreche ich von „Charismatikern“. Charismatiker sind Personen, aber was sie zu Charismatikern macht, basiert auf der Interaktion zwischen —————

4 C.A. Evans, „Have You Not Read ...?“ Jesus’ Subversive Interpretation of Scripture, in: J.H. Charlesworth/P. Pokorný (Hg.), Jesus Research. An International Perspective, Grand Rapids/Cambridge UK 2009, 182–198. Das folgende Beispiel findet sich dort S. 186–188.

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ihnen und ihren Anhängern wie Gegnern. „Charisma“ ist ein soziales Phänomen. Die individuellen Charismatiker werden schnell zu „Ikonen“, in denen Verehrung und Erinnerung sich unlöslich vermischen. Schon in der pseudepigraphen Phase der urchristlichen Literatur sind Jesus und Paulus eine Quelle unbedingter Autorität für die christliche Gemeinschaft geworden. Wenn wir an Jesus und Paulus als den Ursprungsgestalten der urchristlichen Literatur festhalten, dann sollte weder eine chronologisch aufgebaute Literaturgeschichte noch eine traditionelle Einleitung ins Neue Testament mit der Behandlung der Paulusbriefe beginnen, obwohl diese die ältesten erhaltenen Schriften des Urchristentums sind. Am Anfang sollte auch hier Jesus und seine Verkündigung stehen. Kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage: Worin liegt der Mehrwert der Literaturgeschichte gegenüber der traditionellen Einleitungswissenschaft? Die klassischen Einleitungen behandeln die einzelnen Schriften meist isoliert. Zu jeder Schrift wird eine Einleitung geschrieben. Der Mehrwert der Literaturgeschichte liegt in allen Zusammenhängen, welche die einzelnen Schriften verbinden und dabei Kanongrenzen überschreiten. Innerhalb des Gesamtkorpus urchristlicher Schriften sucht eine Literaturgeschichte vor allem nach durchgehenden Entwicklungslinien, sie definiert Entwicklungsphasen wie die oben skizzierte charismatische, pseudepigraphe, funktionale und kanonische Phase. Ferner hat eine Literaturgeschichte den Ehrgeiz, die ganze Formensprache des urchristlichen Schrifttums zu erfassen und sie in die jüdische und pagane Literatur der Antike einzuordnen. Sie versteht sich als Teil der Geschichtsschreibung des Urchristentums: In den literarischen Formen spiegelt sich dessen Entwicklung und soziale Dynamik. Hinter den Standards moderner Literaturgeschichtsschreibung will sie nicht zurückfallen, aber das religiöse Schrifttum einer kleinen Subkultur des römischen Reichs hat Besonderheiten, die zu berücksichtigen sind, und Einschränkungen, die respektiert werden müssen. Keine Einschränkung ist, dass wir von den Autoren nicht viel wissen. Von den beiden wichtigsten Gestalten, von Jesus und Paulus, die nachhaltig in sehr verschiedener Weise die urchristliche Literaturgeschichte geprägt haben, wissen wir für antike Verhältnisse eine ganze Menge. Die historische Frage nach der Entwicklung der Gattungen und Formen im Neuen Testament darf aber nicht die grundsätzlichere Frage nach der theologischen oder religiösen Bedeutung der neutestamentlichen Gattungen verdrängen: Die Gleichnisse Jesu haben hier eine Zentralstelle. Von ihnen her erschließt sich noch heute die Besonderheit religiöser Sprache.

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9. Innovation in der Religionsgeschichte. Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems 1

Martin Leiners Beitrag ist mehr als eine „Rekapitulation“ meiner theoretischen Überlegungen, sondern deren eigenständige Weiterführung. Er entwickelt mit Hilfe des Begriffs „Rekapitulation“ ein Modell, um zu erklären, wie in drei Bereichen etwas Neues entstehen kann: in der Geschichte der Religionen, der Welt und der Seele. Die drei Dimensionen scheinen auf den ersten Blick getrennt zu sein: Es geht konkret darum, wie aus der jüdischen Religion eine neue Religion entstanden ist, wie in der Evolution des Kosmos eine neue Evolutionsphase entstehen konnte und wie die „Seele“ in der Geschichte eine neue Struktur und Dynamik erhielt. In meinen Arbeiten zum Urchristentum habe ich zwar alle drei Prozesse behandelt, aber sie nur zurückhaltend synoptisch zusammen gesehen. Eine neue Religion entstand dadurch, dass neben dem einen und einzigen Gott Jesus als neues Zentrum eines religiösen Zeichensystems trat, von dem her alles neu gestaltet wurde.2 Die Evolution trat in eine neue Phase, weil anstelle einer Evolution durch Mutation und Selektion eine Evolution durch ein antiselektives Ethos möglich wurde, nach dem sich Leben nicht auf Kosten anderen Lebens entwickeln muss. Es ereignete sich dadurch eine Evolution der Evolution. Dass durch Hingabe des eigenen Lebens Heil bewirkt wird, ist eine Gegenbotschaft zum Grundgesetz der bisherigen Evolution, dass durch Opfer anderen Lebens Fortschritt bewirkt wird.3 Die Geschichte der „Seele“ schließlich erhielt im Urchristentum einen neuen Impuls, weil nach einer tiefen Gefährdung der Einheit des Menschen diese Einheit erneuert wurde – nicht durch Ausrichtung aller Seelenkräfte auf die Vernunft wie bei den Griechen oder durch Unterordnung aller Vermögen unter den einen und einzigen Gott wie bei den Juden, sondern durch eine Verwandlung des Menschen durch den Geist Gottes, aufgrund derer er —————

1 Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems. Rekapitulation der Welt, Rekapitulation der menschlichen Seele als Person, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 140–160. 2 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000. 3 G. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984.

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das Ziel von Griechen und Juden zu erreichen meint: dass sein Leben durch Vernunft und Glauben bestimmt werde.4

1) Der Begriff „Rekapitulation“ Man könnte für die Entstehung von etwas Neuem auch den philosophischen Begriff „Emergenz“ verwenden. Wir gebrauchen ihn oft dann, wenn wir das Neue nicht aus dem Alten ableiten können. Der Begriff „Rekapitulation“ hat zwei Vorteile. Emergenz meint formal und allgemein: Es entsteht etwas Neues, aber wir können es nicht erklären. Rekapitulation meint dagegen eine spezifische Art, wie Neues entsteht, und enthält einen Erklärungsansatz. Ein Element aus dem vergangenen System wird zum „Haupt“ (caput) des neuen Systems und organisiert dadurch das Ganze neu. Für die neutestamentliche Wissenschaft ist es zudem ein Vorteil, dass der Begriff der „recapitulatio“ oder CXPCMGHCNCKYUKLauf das Neue Testament zurück geht und in der Theologiegeschichte eine ehrwürdige Tradition hat. Der Begriff begegnet zum ersten Mal in Eph 1,10: In Christus wird das All zusammengefasst. Er meint zunächst auf einer „objektsprachlichen“ Ebene eine vereinheitlichende kosmische Dynamik des Alls: Christus wird zum „Haupt“, das alle Mächte überragt (Eph 1,22). Er wird allen kosmischen Mächten in zweifacher Weise übergeordnet: Er unterwirft sich in „despotischer Weise“ die Welt als ihr Herr, durchdringt aber „in euergetischer Weise“ seinen Leib, die Kirche, als ihr Wohltäter.5 „Rekapitulation“ wäre hier als „Zusammenfassung“ zu übersetzen. Darüber hinaus meint die Rekapitulation des Alls auf „metasprachlicher“ Ebene auch die Erkenntnis dieses kosmischen Prozesses: Durch Christus wird die Welt als Einheit erkennbar und lesbar. Er gibt Menschen eine „Überschrift“ (= recapitulatio), durch die sich die Mannigfaltigkeit der Dinge wie durch eine Zusammenfassung erschließt, die als „Leseanleitung“ über einem komplizierten Text steht. Alles kommt aus einer Einheit und alles strebt zu einer Einheit. Das gilt für alle kosmischen Mächte, die sich dem einen „Haupt“ unterordnen, das gilt für die ganze Menschheit aus verfeindeten Juden und Heiden, die in der Kirche einen Leib bilden. Das gilt schließlich für Mann und Frau, deren sexuelle unio zum Abbild der kosmischen Einheit und des Verhältnisses von Christus zur Kirche wird. Der Epheserbrief vertritt diese Gedanken im Rahmen eines „Revelationsschemas“. Danach war das Geheimnis ————— 4

G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, Gütersloh 2007. Den Unterschied zwischen der repressiven Macht Christi über den Kosmos und seine euergetische Macht über die Kirche hat E Faust, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief, NTOA 24, Fribourg/Göttingen 1993, herausgearbeitet. 5

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Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems 149 Christi bisher verborgen, ist aber in der Endzeit offenbar geworden (Eph 3,1–7 und 8–13). Seine bisherige Verborgenheit kontrastiert mit seiner gegenwärtigen Erschließung. Durch Irenäus wurde die „Rekapitulation“ zum zentralen Stichwort einer heilsgeschichtlichen Theologie mit wichtigen Änderungen gegenüber dem Epheserbrief: In Christus wurde nicht etwas bisher Unbekanntes offenbar, sondern die ursprüngliche Schöpfung wurde wiederhergestellt und „rekapituliert“. Der Kontrast zwischen den Zeiten der Verborgenheit und der Offenbarung wurde aufgehoben: Die Rekapitulation vollzieht sich nämlich in vielen heilsgeschichtlichen Schritten. Sie begann mit der Erwählung Israels, setzte sich mit der Gesetzgebung auf dem Sinai und dem Wirken der Propheten fort und wird durch das zweimalige Kommen Christi vollendet. Christus stellt nur wieder her, was durch Adams Fall zerstört wurde. Und diese Wiederherstellung hat eine lange Vorgeschichte, in der sich die Geschichte sukzessiv ihrer Vollendung und Erlösung nähert. Auch der von Martin Leiner verwandte Begriff „Rekapitulation“ hat mehrere Ebenen. Er schließt sich nicht an die heilsgeschichtliche Konzeption des Irenäus an. Das Neue ist für ihn nicht eine Wiederherstellung des Alten. M. Leiner will vielmehr mit diesem Begriff die Entstehung von etwas wirklich Neuem erfassen, ohne zu leugnen, dass es auf vorher bestehenden Elementen aufbaut. Er entwickelt eine eigenständige Theorie über semiotische Revolutionen in der Religionsgeschichte, die zu neuen Religionen führen.

2) Die Entstehung neuer Religionen durch „Rekapitulation“ M. Leiner skizziert eine Theorie zur Entstehung neuer Religionen. Dabei definiert er vier Bedingungen, die gegeben sein müssen, dass es nicht bei einer Reform bleibt, sondern dass eine neue Religion entsteht. 1) Semiotische Zeichensysteme erhalten durch neue Identifikationen neue Signifikate: Der Messias wird mit Jesus identifiziert, Simon Kimbangu mit dem Parakleten usw. 2) Diese Gestalten werden das Zentrum bzw. das „Haupt“, von dem her das ganze Zeichensystem neu strukturiert wird. 3) Dessen neue Deutung wird gegen eine vorher bestehende Auslegungsvielfalt durchgesetzt. Es wird dabei ein Auslegungsmonopol für die eigene Deutung beansprucht. 4) Diese Auslegung wird durch sukzessive Relektüren des alten Zeichensystems durchgeführt. Das wird anhand des Abendmahls gezeigt. Symbolische Handlungen des historischen Jesus erhalten sukzessiv eine neue

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Deutung zunächst als Passahmahl und – nach der Zerstörung des Tempels 70 n.Chr. – als Versöhnungstag. Durch analoge semiotische Revolutionen mit diesen vier Schritten entsteht immer wieder Neues in der Religionsgeschichte. Das Neue im Urchristentum lässt sich aber auch in die Geschichte der Welt einschreiben. Innerhalb eines evolutionstheoretischen Ansatzes kann man das Urchristentum als eine so grundlegende Innovation deuten, dass hier eine Evolution der Evolutionsprinzipien sichtbar wird, d.h. ein Übergang von einer Welt des Selektionsprinzips zu einer vom Solidaritätsprinzip gekennzeichneten Welt. Neben die semiotische „Rekapitulation“ innerhalb bestehender Zeichensysteme in der Religionsgeschichte tritt damit eine kosmische „Rekapitulation“ der ganzen Welt. Sie bekommt in Christus ein verborgenes Zentrum. Wenn das Rekapitulationsmodell tragfähig ist, müssten die vier Bedingungen für Neues auch auf diese kosmische Evolution zutreffen. Die erste Frage ist dann: Welches schon vorhandene Element wurde zum Zentrum und „Haupt“ eines neuen Systems von Verhaltensweisen? Hier ist an kooperatives Verhalten zu denken. Das Neue Testament stellt eindeutig die „Liebe“ ins Zentrum des Verhaltens von Gott und Mensch. Sie ist gewiss keine „Erfindung“ des Neuen Testaments. Schon im Alten Testament wird die Nächstenliebe entdeckt (Lev 19,18) und schon hier auf den Schwachen, den Fremden und den Feind vor Gericht ausgeweitet. Darüber hinaus gab es kooperatives Verhalten seit eh und je in der biologischen Evolution. Gene sind mit dem Stichwort „das egoistische Gen“ (R. Dawkins) einseitig charakterisiert und lassen sich genauso gut als „kooperative Gene“ (J. Bauer) beschreiben. Was bedeutet hier „Rekapitulation“ der bisherigen Evolution? Wir gehen dabei davon aus, dass die schon vorher bekannte „Liebe“ zu etwas Zentralem wurde, was sie vorher so nicht war, und dass ein kooperatives Verhalten ins Zentrum rückte, obwohl das Leben vorher ohne Kooperation unmöglich war. Fragen wir, ob die vier oben definierten Bedingungen gegeben sind. 1) Erhielt die Liebe zum Nächsten, die sich durch eine lange Evolution entwickelt hat, neue Signifikate? Sie wurde bei Jesus zur Liebe des Feindes, des Fremden und des Sünders ausgeweitet. Nun gab es schon immer neben der bisherigen Evolution durch die harte Selektion des SichDurchsetzens, Verdrängens und Tötens auch eine sehr viel sanftere Selektion durch sexuelle Wahl.6 Etwas vereinfacht gesagt: Es gab schon immer neben dem „Kampf“ die „Liebe“ als Motor der Evolution. Aber ————— 6

G. Hüther, Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und was Darwinisten nicht wahrhaben wollten, Göttingen 1999.

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Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems 151 es war die Liebe zu dem, was sexuell attraktiv war. Sexuell attraktive Lebewesen hatten mehr Chancen, ihre Gene zu vermehren als andere. Wenn diese Liebe einen neuen Adressaten erhält, so erhält sie ein neues Signifikat: Sie wird im Urchristentum zur Liebe zu dem, was nicht attraktiv ist, was im Gegenteil schwach, krank, fremd und feindselig ist. 2) Wurde die Liebe Gottes und der Menschen wirklich zu einem Zentrum, um das sich eine neue Ordnung aufbaute? Ein Indiz dafür ist die enge Verbindung von Gott und Liebe im Neuen Testament. Gott wird nur drei Mal in ihm in einer Definition beschrieben, in allen drei Fällen in den johanneischen Schriften: Gott ist Geist (Joh 4,24), Gott ist Licht (1Joh 1,5), Gott ist Liebe (1Joh 4,16). Die Liebe erhält die Position des höchsten Wertes, wie es Paulus in seinem Hohelied der Liebe sagt (1Kor 13). Dazu passt, dass in der Ethik ausdrücklich die Gottes- und Nächstenliebe als höchstes Gebot definiert werden (Mk 12,28–34 parr). 3) Ist diese neue Ordnung unvereinbar mit anderen Entwicklungen, die sich aus der bisherigen Evolution ableiten lassen? Die ersten Christen haben in der Tat ein „eschatologisches“ Bewusstsein entwickelt. Sie waren überzeugt, Bürger einer neuen Welt zu sein, die mit der alten Welt und ihren Verhaltensweisen unvereinbar war. Die Liebesordnung des Neuen Testaments wird in den Texten auf der einen Seite mit dem „Fressen und Gefressenwerden“ in der Natur konfrontiert (so beim Nächstenliebegebot in Gal 5,14 und 15). Auf der anderen Seite wird es mit der staatlichen Ordnung kontrastiert, die das Böse bekämpfen und das Gute belohnen muss: Dem Staat ist das Schwert gegeben (Röm 13,1–7). Die Liebe aber besiegt das Böse durch das Gute (Röm 12,21) und tut dem Nächsten nichts Böses an (Röm 13,8–10). Durch die Zentralstellung der Liebe wird in der Tat die Spannung zur Natur (des Fressen und Gefressenwerdens) und zur Gesellschaft (der harten Zwangsordnung des Staates) sichtbar. 4) Erlaubt dieser neue zentrale Wert eine Relektüre der bisherigen Evolution? Sehen wir in ihrem Licht rückwirkend manches ganz anders und neu? Relektüre heißt sowohl eine Wiederentdeckung des Neuen im Alten als auch die Umdeutung des Alten in etwas Neues – einschließlich einer Unterdrückung dessen, was zum Neuen nicht passt. Die ersten Christen haben im Alten Testament den Gedanken der Liebe entdecken können: Das Nächstenliebegebot wird in Lev 18,19 formuliert. Der Gott des Alten Testaments ist ein Gott der Liebe (Hos 11,1ff). Aber manches mussten sie auch umdeuten: Nur in einer allegorischen Interpretation konnten sie sich viele Texte des alten Zeichensystems aneignen. Wenn man ein Konzept wie das der Rekapitulation in mehreren Kontexten verwendet, müssten die vier Kriterien erfüllt sein. Ein kurzer Test hat ge-

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zeigt, dass man in der Tat auch die Evolution durch „Liebe“ vom Rekapitulationsgedanken erfassen kann.

3) Die Entstehung der einheitlichen Person als „Rekapitulation“ Sogar meine Überlegungen zu einer Psychologie des Urchristentums kann M. Leiner in sein „Rekapitulationskonzept“ integrieren: Das Personkonzept ist geschichtlich geworden. Die Einheit der Person hat sich dort entwickelt, wo der Mensch seine divergierenden Kräfte entweder durch Selbststeuerung und Vernunft oder durch die Ausrichtung aller seiner Kräfte und Vermögen auf den einen transzendenten Gott disziplinierte. Das Grundbekenntnis des Juden fordert dazu auf, Gott mit allen Vermögen zu lieben, „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5). Dadurch werden das ganze Leben und die ganze Person auf ein externes Zentrum ausgerichtet. Das ist eine ganz unwahrscheinliche Entwicklung; und so ist es nicht verwunderlich, dass sie bedroht war. Der Mensch erlebte sich in vielen Dokumenten aus neutestamentlicher Zeit zwischen vielen Tendenzen und Impulsen zerrissen, unabhängig davon, ob dieser Konflikt psychologisch oder dämonologisch gedeutet wird. In jüdischen und urchristlichen Texten spüren wir etwas von dieser Gefährdung der Einheit der Person. Aber diese Einheit der Person wurde im Urchristentum durch eine Krise hindurch erneuert. Der Mensch ist noch nicht bei dieser Einheit angelangt, sondern muss sie durch eine Verwandlung hindurch erreichen. Diese Verwandlung ist so tief greifend wie ein Sterben und Neugeborenwerden. Der Mensch muss die Energien von Sünde und Fleisch in sich „töten“, damit sie neu auferstehen und sich auf positive Ziele lenken. Die harten Aussagen vom Töten der Begierden des Fleisches sind immer auf dem Hintergrund zu sehen, dass der Gedanke der „Auferstehung“ dieser Energien in verwandelter Gestalt mit gedacht ist. Es geht also nicht einfach um Unterdrückung des „alten Menschen“. Der Gedanke der Vergebung und Rechtfertigung lässt vielmehr die Annahme der verdrängten Tiefen im Menschen zu, wie P.v. Gemünden in ihrer Analyse des Hirten des Hermas gezeigt hat.7 Das transformative Menschenbild des Urchristentums8 zielt auf einen erneuerten Menschen und damit auf eine „Rekapitulation“ der Seele als Person: Er gewinnt seine Selbststeuerung wieder. Auch hier müssten wir ————— 7 P.v. Gemünden, Affekte und Affektkontrolle im antiken Judentum und Urchristentum, in: dies., Affekt und Glaube. Studien zur historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums. NTOA 73, Fribourg/Göttingen 2009, 309–328. 8 Vgl. G. Theissen, Sarx, Soma and the transformative Pneuma. Personal identity endangered and regained in Pauline anthropology, in: M. Welker (ed.), The Depth of the Human Person: A Multidisciplinary Approach, erscheint ca. 2011.

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die oben genannten vier Bedingungen nachweisen, wenn wir dieses transformative Menschenbild des Urchristentums als Rekapitulation verstehen wollen: 1) Die verschiedenen Kräfte und Seelenteile im Menschen hatten im Judentum durch Ausrichtung auf den einen und einzigen Gott ein zentrales „Signifikat“ und dadurch eine innere Einheit erhalten. Für uns ist diese Einheit der Person eine solche Selbstverständlichkeit, dass wir dissoziative Phänomene spontan als pathologische Abweichungen betrachten. Aber in archaischen Zeiten und vormodernen Kulturen finden wir weit verbreitet die Vorstellung einer normalen „Seelenvielfalt“. Sobald sich in Israel die Ausrichtung auf den einen Gott durchgesetzt hatte, machte sich diese Pluralität im Innern des Menschen wieder bemerkbar. Die Ausrichtung auf den einen Gott wurde durch andere Kräfte durchkreuzt. In dieser Situation erhielt das Seelenleben eine neues „Signifikat“: Christus tritt im Urchristentum neben den einen und einzigen Gott. Alle Kräfte und Vermögen werden nun durch ihn bestimmt. Er übernimmt die Rolle des Kyrios, dem sich alle Knie beugen müssen im Himmel, auf Erden und unter der Erde (Phil 2,10). Man kann das so deuten: Er erneuert nach einer Krise die Ausrichtung der ganzen Person auf ein einziges Zentrum. 2) Diese Ausrichtung auf das eine Zentrum (auf Gott und Christus) hat zweifellos einen Druck auf das Binnensystem der Seele ausgeübt, so dass sie immer mehr nach einer grundlegenden Transformation verlangte. Das Urchristentum versprach eine solche Transformation des Menschen und stützte sie durch viele transformative Deutungen: Die ganze Welt war in Transformation begriffen, weil der Messias und Erlöser gekommen war. Das Christusgeschehen war ein Übergang vom Tod zum Leben. Die Sakramente schrieben diese Transformation dem Menschen auf den Leib. Von dem einen Zentrum her, so erhoffte und glaubte das Urchristentum, werden sich Welt und Mensch verändern. 3) Ferner kann man sagen, dass durch diese Reorganisation des inneren Seelenlebens alternative Weiterentwicklungen und Deutungen ausgeschlossen wurden. Schon vom biblischen Glauben an den lebendigen Gott her war jeder Fatalismus unmöglich. Der Mensch war keinem Schicksal ausgeliefert, in das er sich nur zu fügen hatte. Er stand in einem Dialog mit Gott, der ihn für sein Leben verantwortlich machte. Ebenso wenig konnte er sich als hilflose Marionette von Dämonen und Geistermächten betrachten. 4) Geschah im Zeichen der Ausrichtung des Seelenlebens auf ein neues Zentrum eine Relektüre der Vergangenheit? Hat man die neue Ausrichtung aller Seelenkräfte auf Christus in das alte Zeichensystem der Religion hineinprojiziert? Kehrseite dieser Hinwendung des Menschen mit

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allen seinen Kräften zu Jesus ist die Abwendung von seinem Gegenspieler, dem Teufel. Dessen Wirken wird an vielen Stellen im Alten Testament entdeckt, wo gar nicht vom Teufel die Rede war – beginnend mit der Schlange im Paradies. Aber auch Christus entdeckte man im Alten Testament, wo ursprünglich nicht an ihn gedacht war: Er war die Weisheit, mit der Gott die Welt geschaffen hatte (Prov 8). Er war der Menschensohn, dem Gott am Ende die Weltherrschaft übergeben wird (Dan 7). Er war die königliche Gestalt, die Gott als „Sohn“ anredet (Ps 2,7) usw.

4) Die Entstehung von Neuem in der Evolution als „Rekapitulation“ Wir können somit vom Rekapitulationsgedanken nicht nur die Religionsgeschichte als eine Geschichte semiotischer Revolutionen und der Entstehung neuer religiöser Zeichensysteme durch „Semiose“ (d.h. durch den Prozess der Zeichenentstehung) verstehen, sondern ebenso den evolutionären Weltprozess und die psychohistorische Verwandlung der Person. Es könnte in der Tat so sein, dass formale Strukturen von Veränderungsprozessen in verschiedenen Bereichen ähnlich sind – von Mikrovorgängen in der Natur bis hin zu Neuentwicklungen in Kultur und Geschichte. Immer wird ein bestehendes System dadurch geändert, dass ein eher marginales Teilelement ins Zentrum rückt und das Ganze umstrukturiert. Ein Wort, das im Satzzusammenhang eingebettet war, wird gewissermaßen zur neuen „Überschrift“ und gibt dem Ganzen einen neuen Sinn. Aber es ist kein Zufall, dass wir diesen Gedanken zunächst für die Veränderung eines Zeichensystems wie der Religion entwickelt haben. Seine Ausdehnung auf den Kosmos einerseits, die Person andererseits wird immer im Verdacht stehen, Grenzen zu überschreiten, auch wenn diese Grenzüberschreitung bescheiden ist: In der Veränderung des religiösen Zeichensystems in urchristlicher Zeit, so lautet die These, wird der schon immer sich vollziehende Übergang in eine neue Evolutionsphase bewusst und zur zentralen Verpflichtung. Und das vollzieht sich in einer inneren Erneuerung einzelner Menschen. Durch ihre Umkehr und Verwandlung tun sie einen Schritt in eine „neue Welt“. Zurück zum Epheserbrief, aus dem der Gedanke einer „Rekapitulatio“, durch die sich alles erschließt, stammt. Der Epheserbrief überschreitet unbefangen alle Grenzen. Hier ist Christus das Teil, das zum „Haupt“ des Alls geworden ist, um alles miteinander zu versöhnen. Schon immer war er verborgen da. Denn er existierte präexistent vor allen Zeiten. Aber er trat erst in der Gegenwart aus seiner Verborgenheit heraus und wurde offenbar. Der Epheserbrief entfaltet von dieser einen Mitte her eine kosmische Theologie: Die Wirklichkeit stammt aus dem einen und einzigen Gott und strebt

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Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems 155 zur Einheit zurück. Christus soll diese Einheit herbeiführen. Alle kosmischen Mächte im Himmel und auf Erden sind ihm untergeordnet, auch politische Mächte und Gewalten. Das geschieht ferner durch soziale Versöhnung: In der Kirche werden Juden und Heiden vereint. Das geschieht schließlich im persönlichen Bereich: Auch die sexuelle Vereinigung in der Ehe ist im Epheserbrief Ausdruck des Geheimnisses der Einheit mit Gott, zu der alles strebt. Dieses Geheimnis wird nach dem Epheserbrief in Christus offenbar. Er ist die eine Stelle in der Weltgeschichte, an dem alles einen Sinn erhält, weil alles mit Gott verbunden wird. Die entscheidende Frage ist: Wie sollen wir uns heute diese kosmische Dimension des Glaubens vorstellen, ohne in vormoderne Spekulationen zu verfallen? Dass durch Christus ein religiöses Zeichensystem verändert wurde, können wir gut nachvollziehen. Aber wie können wir darin eine Veränderung der ganzen Welt erkennen? Das ist das Problem. Ich will daher mit einem Versuch abschließen, die kosmische Weisheit des Epheserbriefs in unsere Sprache zu übersetzen. Grundlegend für alles ist: Gott erfahren wir ganz unmittelbar, wenn wir darüber staunen, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Dann berühren wir den, der aus dem Nichts schafft – der uns überlegen ist, der uns durchdringt, der uns umhüllt. Entscheidend ist nun: Wir sind das Ebenbild dieses Gottes. Denn auch unser Handeln könnte nicht sein. Das sagt uns unser Freiheitsbewusstsein, gleichgültig, wie wir es erklären. So wie Gott eine Welt geschaffen hat, die auch nicht und anders sein könnte, so handeln wir als sein Ebenbild so, dass unser Tun auch nicht oder anders sein könnte. Darin sind wir Echo seiner Wirklichkeit. Deshalb haben wir Verantwortung. Wir tasten die Wirklichkeit in allen Bereichen ab, um zu finden, wo wir sein Echo sein dürfen. Dabei entdecken wir eine große Geborgenheit, sofern die Wirklichkeit uns verwandt ist – das Wunder des Seins umfasst ja auch unsere eigene Existenz. Wir werden zugleich in eine große Freiheit gestoßen, sofern unser Tun ebenso grundlos ist, wie alles Sein, so dass wir für dieses Tun Verantwortung übernehmen müssen und kein anderer. Ich skizziere nun drei Schritte, wie wir die Wirklichkeit in einem religiösen Licht als Ort von Geborgenheit und Verantwortung erfahren. Der erste Schritt erschließt uns die Ordnung der Natur: Im Lichte des Geheimnisses allen Seins enthüllt sich die Weisheit Gottes im Kosmos. Alle Naturwissenschaftler kennen die mathematische Verstehbarkeit der Welt, die unwahrscheinliche Passung von Grunddaten zu unserem Leben, das periodische System der Elemente. Die Natur ist in mathematischer Sprache geschrieben – und wir können sie verstehen. Aber das ist an sich kein Erleben Gottes. Viele Naturwissenschaftler haben ein sehr tiefes Wissen von der Ordnung des Kosmos, aber deuten sie nicht in einer religiösen

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Weise. Erst wenn sich dieses Wissen mit dem Staunen über das Wunder des Seins verbindet, wenn also diese Ordnung der Natur als ebenso kontingent und unerklärbar erlebt wird wie die Existenz der Welt überhaupt, erst dann wird aus solchem Erleben der Natur eine Ahnung Gottes: Dieser Gott erscheint dann in der verstehbaren Ordnung der Natur als überlegene Intelligenz, von der unsere Verstand nur ein schwacher Abglanz ist. Das schenkt Geborgenheit. Diese Resonanzerfahrung wird aber zugleich als Imperativ erfahren, die erfahrene Ordnung aufrecht zu erhalten. Dieser Imperativ ist unbedingt. Es ist der kategorische Imperativ, unser Handeln an genau so generellen Regeln auszurichten, wie wir sie überall in der Natur finden – ohne uns deshalb nach den Regeln der Natur zu richten, als könne sie uns sagen, wie wir handeln sollen. Wir sollen vielmehr in unserem Verantwortungsbereich so Ordnung schaffen, als wären wir die Gesetzgeber der Welt. Wir sind das Ebenbild dessen, der Ordnung schafft. Daher sollen wir unserem Handeln Gesetze und Regeln geben, die so universal sind wie die, die wir in der Natur finden. Das meint der kategorische Imperativ. Der zweite Schritt führt uns in den Bereich des Lebens. Alle Naturwissenschaftler kennen seit Anfang dieses Jahrtausends das menschliche Genom mit der DNA-Schrift, in der das ganze Leben verfasst ist. Wir erkennen den universalen Bauplan des Lebens. Wir erkennen, wie Leben sich vermehren konnte und sich in einem unendlichen Prozess von trial and error, von Variation und Selektion entwickelte und dass alles Leben tief verwandt ist. Erst wenn wir diese Erkenntnisse mit einem Staunen über das Wunder der Existenz verbinden, kann man in ihnen die „Weisheit“ Gottes ahnen. Dieser Gott erscheint jetzt nicht mehr als Ordnung, sondern als Wille zum Leben, der in unserem Leben ein Echo findet. Wir gehören zu einem gewaltigen Lebensstrom, teilen mit den nächsten organischen Verwandten fast alle Gene. Und wir erfahren diese Verwandtschaft als Ehrfurcht vor dem Leben. Das ist zunächst ein Gefühl tiefer Geborgenheit in diesem großen Leben. Es ist aber zugleich eine Verpflichtung, Leben zu bewahren, zu fördern und den Konflikt zwischen Leben und anderem Leben zu begrenzen. Wir sind das Ebenbild dessen, der Leben ist und Leben gibt. Für den vierten Schritt greife ich direkt auf den Epheserbrief zurück. Der Epheserbrief sieht die entscheidende Offenbarung Gottes in der Einheit der Menschen, darin, dass Juden und Nicht-Juden zusammenfinden, Menschen einander helfen und einander (auch in der Ehe) lieben. Was in der physikalischen und organischen Natur geahnt wurde, wird erst zwischen Menschen offenbar. Christus ist die Offenbarung der Einheit und Versöhnung zwischen den Menschen. Manche mögen sagen: Aber damit wird doch alles auf einen Menschen konzentriert, und es werden unendlich viele Menschen ausgeschlossen, die keinen Zugang zu Christus haben. Aber das Geheimnis, das in ihm offenbar wird, zielt auf alle Menschen. Der Epheserbrief betont

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Zu M. Leiner: Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems 157 am Anfang: „Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens ..., dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist.“ (Eph 1,9–10). Nicht Ausgrenzung, sondern Versöhnung aller, nicht Feindschaft, sondern Frieden zwischen Feinden – das ist die Botschaft, die der Epheserbrief mit dem Erscheinen Christi verbindet. Entscheidend ist auch hier, dass wir mit diesem einen Christus das Wunder verbinden, dass überhaupt etwas existiert: das Geheimnis Gottes schlechthin. Dieser Eine will uns die „Augen des Herzens“ (Eph 1,18) für die Universalität dieses Wunders öffnen. Wir leben in diesem Wunder. Wie der Epheserbrief sagt: Es ist uns überlegen, es durchringt uns, es umhüllt uns. Gott ist über uns, durch uns und in uns (Eph 4,6). Wir werden ihm nicht nur durch den kategorischen Imperativ gerecht, nicht nur durch die Ehrfurcht vor allem Leben, sondern durch zwischenmenschliche Liebe. „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ – so sagt der 1. Johannesbrief. Wir sind das Ebenbild dessen, der Liebe ist. Ich habe das religiöse Abtasten der Welt auf Resonanzmöglichkeiten als einen Weg von Existenz-, Natur-, Lebens und Liebesresonanz beschrieben, Aber in der individuellen Entwicklung verläuft dieser Weg eher in andere Richtung: von der ganz persönlichen Liebe zur kosmischen Ordnung. Wir sind als Kleinkinder auf die Liebe unserer Bezugspersonen angewiesen, sind in ihr geborgen und werden von ihnen schrittweise durch wachsende Verantwortung gefordert. Die Welt wird uns durch sie eröffnet. Sie zeigen uns die Welt. Dadurch, dass wir sie mit ihnen teilen, entsteht das Bewusstsein einer objektiven, von mehreren Menschen geteilten intersubjektiven Wirklichkeit, die wir nach und nach auf ihre Resonanzmöglichkeiten hin abtasten. Die Erfahrung der Welt in emotionaler Geborgenheit, in persönlicher Verantwortung des Handelns und einer Objektivität des Erkennens wird uns also individuell durch die Liebe anderer Menschen erschlossen. In dieser Liebe wurzelt unser Mut zum Leben. Warum aber kann Christus in solch einer Wirklichkeit zu jenem Punkt (und zu jener Rekapitulatio) werden, von dem her sich die Wirklichkeit erschließt? Weil dieser natürliche Mut zum Leben in Konfrontation mit der Wirklichkeit notwendig gekreuzigt und begraben wird, aber wie durch eine neue creatio ex nihilo immer wieder aufersteht! Der Epheserbrief ist mit seiner kosmischen Theologie eine bleibende Kritik an existenzialistischen Engführungen des Christentums. Aber wir können seine kosmische Theologie nur übernehmen, wenn wir sie auf eine Veränderung der „Augen des Herzens“ beziehen, durch die für uns der Kosmos in seiner Absurdität und Resonanzfülle erlebbar wird.

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Innovation in der Religionsgeschichte

Der Rekapitulationsgedanke kann fruchtbar sein, um die Entstehung von etwas Neuem in der Welt, der Religion und der Psyche besser zu verstehen. Die Elemente sind vorhanden, aber sie erhalten ein neues Zentrum, eine neue Überschrift, ein neues Haupt. Die ersten Christen haben in Christus dieses Zentrum gesehen: Durch ihn wurde die Welt erneuert, der religiöse Glaube erhielt ein neues Zentrum, alle Kräfte der Seele wurden auf ihn ausgerichtet. Der Epheserbrief bringt das in einer mythischen-vormodernen Sprache zum Ausdruck: In ihm erschien eine antiselektive Wirklichkeit und ein antiselektiver Imperativ, als Bewusstwerden einer neuen Evolutionsphase, einer neuen Beziehung zu Gott, einer neuen Ausrichtung aller Kräfte im Menschen.

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10. Antike Psychologie und Anachronismusverdacht. Zu P. v. Gemünden: Psychologische Auslegung1

Die Legitimität neuer exegetischer Methoden ergibt sich an erster Stelle daraus, dass man sie erfolgreich auf konkrete Texte anwendet. Auslegungsmethoden bestehen in einer Gruppe von Fragen mit intersubjektiven Kriterien, nach denen sie beantwortet werden können. Erfolgreich sind sie, wenn man mit ihrer Hilfe Neues entdecken und Erkenntnisse nachvollziehbar begründen kann. Zu einer solchen methodischen Begründung der psychologischen Exegese hat P.v. Gemünden am Beispiel der Trauer einen grundlegenden Aufsatz veröffentlicht.2 Sie zeigt dort, dass die psychologische Fragestellung in vielen Methoden präsent ist, z.B. in Wortgeschichte, Metaphernuntersuchungen, Ikonographie, Ritualstudien und Diskursanalysen. Darüber weist sie in ihrem Beitrag über „Ansätze zur psychologischen Auslegung im hellenistischen Judentum und Urchristentum“ auf einen weiteren Weg, die Legitimität einer noch ungesicherten Methode abzusichern: Wenn man in der Entstehungszeit der Texte auf einen vergleichbaren Umgang mit den Texten stößt, kann eine psychologische Exegese kein völliger Anachronismus sein. Was die „psychologische Exegese“ angeht, so kann man sich nicht auf methodisch reflektierte Ansätze in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft stützen. Am ehesten käme der traditionelle biographische Ansatz in Frage. Er ist fruchtbar, wo wir viele Quellen über das Leben von Dichtern und Schriftstellern haben, auch wenn wir mit all unserem biographischen Wissen seine Dichtung letztlich nicht erschließen können. Ein Werk spricht für sich selbst. Dennoch wird kein Literaturwissenschaftler auf biographisches Wissen zur Kontrolle einer Interpretation verzichten, auch wenn er damit eine Interpretation nicht begründen, sondern nur absichern kann. Auch werden Texte für uns lebendiger, wenn wir die Autoren als Menschen in Umrissen erkennen. Dieser biographische Ansatz ist im Neuen Testament nur sehr begrenzt allenfalls bei Paulus möglich. Neben ihm treten in

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1 Zu P. v. Gemünden: Ansätze zur psychologischen Auslegung im hellenistischen Judentum und frühen Christentum, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 161–176. 2 P.v. Gemünden, Methodische Überlegungen zur Historischen Psychologie exemplifiziert am Themenkomplex der Trauer in der Bibel und ihrer Umwelt, EvTh 65, 2005, 86–102 = dies., Affekt und Glaube. Studien zur historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums, NTOA 73, Fribourg/Göttingen 2009, 13–33.

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Antike Psychologie und moderner Anachronismusverdacht

urchristlichen Texten nur Jesus von Nazareth und Ignatius von Antiochien als individuelle Personen hervor. Bei der Jesusüberlieferung ist freilich umstritten, in wieweit sie zu einer historischen Person einen Zugang ermöglicht. Es gibt psychohistorische Ansätze, aber sie sind Ausnahmen. War Jesus etwa ein vaterloses Kind, für den Gott zum fürsorgenden Vater im Himmel wurde?3 Fand er in der familia dei, was er in der realen Familie vermisste? Oder spiegelt sich darin die Spannung zwischen Wanderradikalismus und Familienexistenz in der Zeit nach Jesus? Bei Ignatius von Antiochien ist sogar umstritten, ob die Briefe von ihm stammen.4 Sie zeigen uns den Verfasser in einer Extremsituation auf der Reise zum Martyrium in Rom. Umstritten ist: Ist das der historische Ignatius, der seine Todesangst in Märtyrersehnsucht verwandelt? Oder ist es ein imaginierter Ignatius, dessen Bild modelliert wurde, um die Möglichkeit des Martyriums in ein verklärtes Licht zu tauchen?

Wegen der Schwierigkeit eines biographischen Ansatzes (abgesehen von der Auslegung der Paulusbriefe) sind im Neuen Testament andere textorientierte Methoden psychologischer Auslegung gefordert. Sie richten sich weniger auf Individuen, sondern auf typische Muster des Erlebens und Verhaltens, wie sie in einer Gruppe oder in einer Bewegung verbreitet sind. Psychologische Auslegungen dieser Art begegnen oft unter einem anderen Etikett, z.B. als historische Anthropologie, Kulturanthropologie, Mentalitätsgeschichte usw.5 Bei allen aber stellt sich der gleiche Anachronismusverdacht.

1) Formen des psychologischen Anachronismus Dieser Anachronismusverdacht richtet sich zwar im Prinzip gegen alle exegetischen Fragestellungen, aber stellt sich besonders intensiv bei der psychologischen Exegese, weil wir bei der Erforschung fremden Erleben und Verhaltens immer von unserem eigenen Erleben und Verhalten ausgehen – auch da, wo wir die Fremdheit einer anderen psychischen Welt bewusst erkennen und anerkennen wollen. Dabei kommt es zu verschiedenen Formen des Anachronismus: —————

3 A. van Aarde, Jesus as fatherless Child, in: W. Stegemann u.a. (Hg.), The Social Setting of Jesus and the Gospels, Minneapolis 2002, 65–84. 4 R.M. Hübner, Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, ZAC 1 (1977), 44–72. 5 Zur Grundlegung einer Textpsychologie im Neuen Testament vgl. M. Leiner, Psychologie und Exegese. Grundlagen einer textpsychologischen Exegese des Neuen Testaments, Gütersloh 1995.

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Zu P. von Gemünden: Psychologische Auslegung

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1) Der naive Anachronismus projiziert die eigene Welt in die vergangene Welt und formt sie nach dem eigenen Bild um. So hat man lange Zeit Jesus im Lichte des Geniegedankens wahrgenommen. Das Genie entzieht sich traditionellen Regeln, sondern hat die schöpferische Kraft und das Recht, neue Regeln zu setzen.6 Der große Neutestamentler W. Bousset sah Jesus als solch ein Genie im Gegensatz zu seiner Zeit. Daher gab er seiner Darstellung den Titel: „Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum“.7 Natürlich wurde durch diesen Anachronismus das Bild Jesu für die damalige Zeit lebendiger, aber es geriet in einen historisch unhaltbaren Gegensatz zum Judentum. Man wird jedoch zugeben müssen, dass manches, was früher einer „genialen Persönlichkeit“ zugeschrieben wurde, heute als Ausstrahlung eines „Charismatikers“ gilt, wobei wiederum umstritten ist, ob „Charisma“ eine angemessene Kategorie für Jesus ist. Zwei weitere Formen von Anachronismen entstehen nun gerade dadurch, dass man einen naiven Anachronismus vermeiden will: 2) Der indirekte Anachronismus macht die Vergangenheit zu einem Gegenbild der Gegenwart. Er begibt sich damit in „Gegenabhängigkeit“ von der modernen Zeit. Dazu neigt die historische Psychologie des Neuen Testaments von K. Berger, die sich bewusst von der Gegenwart distanziert und jede Übernahme moderner psychologischer Theorien ablehnt.8 Programmatisch heißt es im Vorwort: „Ziel dieses Buches ist es auch, allen Psychologen oder denen, die sich dafür halten, einen direkten und ungenierten Zugriff auf das Neue Testament unmöglich zu machen. Oder positiver formuliert: Es geht darum, die psychologischen Eigenaussagen der Bibel als ebenso interessant und wichtig wie mit neuzeitlichen Ansichten unverrechenbar darzustellen.“9 Freilich passt diese historische Psychologie allzu gut in eine postmoderne Mentalität Ende des letzten Jahrhunderts, so dass auch sie nicht frei von Anachronismen ist. Die Antike ist das, was eine postmoderne Mentalität der Modernen entgegensetzt. Aber K. Berger entdeckt so viele interessante Phänomene. —————

6 Vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur. Philosophie und Politik 1750–1945, Bd I. Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Bd 2. Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt 1985 = Heidelberg 32004. 7 W. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz um Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892. W. Bousset folgte Thomas Carlyle in seiner Verehrung großer Heroen und Genien. Vgl. Th. Carlyle, On heroes, hero-worship and the heroic in history, London 1846. W. Bousset leitet das o.g. Jesusbuch mit einem Zitat von Th. Carlyle ein. Zur Bedeutung des Heldenund Genieideals in der Jesusforschung vgl. G. Theissen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Fribourg/Göttingen 1997, 45–58. 8 K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments, SBS 146/147, Stuttgart 1991. 9 K. Berger, Historische Psychologie, 9.

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Antike Psychologie und moderner Anachronismusverdacht

3) Der generalisierende Anachronismus geht von einem allgemeinen Bild von der Antike aus, das sich betont um Distanz von der modernen Welt bemüht, übersieht aber, dass es in jeder Zeit Menschen und Erscheinungen gibt, die ungleichzeitig zu ihrer eigenen Zeit sind. Die Gefahr solcher „flächendeckender“ Verallgemeinerungen ist in der kulturanthropologischen Exegese spürbar: Die Antike wird im Gegensatz zur Gegenwart als eine shame and honour Kultur dargestellt, in der das soziale Leben durch patrons and clients reguliert wurde. Die moderne Kultur sei dagegen eine individualistische Schuldkultur, die sich von der Außensteuerung durch shame and honour frei gemacht habe und in der nicht mehr die Beziehung zu mächtigen Patronen entscheidend sei. Dabei werden Erscheinungen in der Antike übersehen, die sich der Regulierung durch äußeres Ansehen entziehen: also alle Formen von Selbststigmatisierung; umgekehrt werden in der Moderne alle Erscheinungen unterschätzt, die nach dem Beziehungsmuster von patron and client funktionieren (nicht zuletzt in der akademischen Welt). Dennoch hat die kulturanthropologische Exegese mit ihren schematischen Entgegensetzungen zweifellos für Verhaltensmuster sensibilisiert, die man sonst zu schnell übersehen hat. 4) Ein kontrollierter Anachronismus nutzt gerade die Verschiedenheit von damals und heute als Erkenntnischance. Denn die (etischen) Kategorien, mit denen wir Fremdes analysieren, werden sich immer von den (emischen) Kategorien unterscheiden, mit denen fremde Kulturen sich selbst auslegen. In allen methodisch reflektierten und disziplinierten Verfahren ist ein „kontrollierter“ Anachronismus enthalten.10 Darüber hinaus aber gilt: Jedes Vorverständnis enthält „Vorurteile“. Aber sie haben erschließende Kraft, wie H.G. Gadamer immer wieder betont hat. Ohne sie wird kein historischer Gegenstand verständlich. Jede Belebung der Vergangenheit enthält ein Element unseres eigenen Lebens. Aber auch die Berufung auf den großen Heidelberger Philosophen der Hermeneutik und noch feinere Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von Anachronismus bewahren uns nicht vor anachronistischen Fehlleistungen.

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Auf den Begriff „kontrollierter Anachronismus“ hat mich P.v. Gemünden aufmerksam gemacht. Vgl. N. Loraux, Éloge de l’anachronisme en historie, in: Le genre humain, 1993, 23–38.

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Zu P. von Gemünden: Psychologische Auslegung

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2) Die psychologische Auswertbarkeit von Bildlichkeit Der Beitrag von Petra von Gemünden zeigt, dass schon in urchristlicher Zeit, Texte und Vorstellungen (auch) psychologisch verstanden werden konnten. Der Nachweis eines solchen Verstehens ist freilich nur dort möglich, wo wir einen Text haben, der sich auf einen anderen Text bezieht: Entweder handelt es sich dabei um das Verhältnis von Kontext zum kontextualisierten Text, wobei es wiederum verschiedene Möglichkeiten der Beziehung zwischen Text und Kontext gibt. Die elementarste Möglichkeit ist die Metapher, wenn man unter ihr ein Wort in einem konterdeterminierten Kontext versteht. In dem Satz: „Der Mond weint“, lässt das Verb „weinen“ ein menschliches Subjekt erwarten. Aber gegen diese syntaktisch-semantische „Determination“ ist ein „Naturgegenstand“ Subjekt des Satzes. „Mond“ und „weinen“ treten in eine semantische Interaktion. Dass solche Metaphern mit ihrer Spannung zwischen Bildspender und Bildempfänger psychische Vorgänge – hier eine traurige Stimmung – zum Ausdruck bringen können, ist evident. Eine zweite Möglichkeit ist, dass durch eine psychologische Symbolisierung der Text im weiteren Kontext neu gedeutet wird. Die Blindenheilung in Mk 8,22–26 wird dadurch, dass Jesus vorher das Unverständnis der Jünger angesichts seiner Wunder als „Blindheit“ kritisiert und nachher Petrus das Messiasbekenntnis spricht, symbolisch aufgeladen; es ist die innere Blindheit der Jünger, dass sie in Jesus trotz seiner überwältigenden Wunder nicht den Sohn Gottes erkennen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass psychologische und nichtpsychologische Aussagen unverbunden parallelisiert werden. So tritt der Geist für die Gläubigen in der Tiefe des Herzens ein (WBBRGTGPVWIECPGK) und inspiriert sie zum Gebet (Röm 8,26–27). Parallel dazu tritt Jesus vor dem Gerichtsforum Gottes für die Gläubigen ein (GXPVWIECPGKWBBRGTJBBOYP) und überwindet die Anklage gegen sie (Röm 8,31–34). Dadurch wird auch das Gerichtsforum Gottes zu einem inneren Forum, das in den Tiefen des Herzens stattfindet. Neben diesen Formen von Text und Kontext kann viertens aber auch das Verhältnis von Auslegung zum ausgelegten Text ausgewertet werden, dann nämlich, wenn der ausgelegte Text allegorisch auf Verhalten und Erleben von Menschen bezogen wird, also sich direkt auf psychische Vorgänge bezieht. Die Auslegung des Gleichnisses vom Sämann und der Saat auf den vierfachen Acker bezieht sich auf Menschen mit verschiedenen Anlagen (Mk 4,1–20). Interessant ist, dass dabei vier Formen von Bildlichkeit zu Trägern einer psychologischen Bedeutungszuschreibung werden, wobei ich an die Unter-

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Antike Psychologie und moderner Anachronismusverdacht

scheidungen anknüpfe, mit denen P. v. Gemünden in ihrer Arbeit über „Vegetationsmetaphorik“ eine lange literaturwissenschaftliche Reflexion über verschiedene Formen der Bildlichkeit von Sprache zusammengefasst hat:11 a) Die Metapher beruht auf einer Interaktion zwischen Wort und Kontext. Die Bedeutung eines Wortes wird zum Bildspender für eine Sache, die das Bild empfängt. Manchmal wird dabei besonders einprägsam ein psychischer Prozess zum Ausdruck gebracht. Paulus mahnt in Röm 6,19, die Glieder nicht zum Sklavendienst der Unreinheit hinzugeben – und spielt damit auf die sexuelle Ausbeutung von Sklaven an, die sich gegen Übergriffe ihrer Herren nicht wehren konnten: Sie waren ihr Besitz, mit denen diese machen konnte, was sie wollten. Vergleichbar erlebt er die Abhängigkeit des Menschen von der Sünde überhaupt.12 Eine Metapher darf aber nicht wörtlich genommen werden. Paulus spricht hier also nicht über die sexuelle Ausbeutung von Sklaven, er benutzt sie als Bild. b) Das Symbol gibt realen Vorgängen einen zusätzlichen zweiten Mehrwert an Sinn: Die Blindenheilung wird durch den Kontext zum Symbol einer inneren Erleuchtung. Die Realität der Blindenheilung wird dabei festgehalten. Sie hat einen wörtlichen und zusätzlich einen übertragenen Sinn. Der übertragene Sinn kann ein psychologischer Sinn sein. Wenn die Frauen am Grab in Mk 16,1ff das Grab offen finden und der Stein hinweggewälzt ist, so meint der Erzähler das zunächst im wörtlichen Sinne, aber zugleich ist der Stein ein Symbol für die Überwindung von Tod und Todesangst. Die Unausweichlichkeit des Todes (symbolisiert durch die verschlossene Grabkammer) hat sich für das Leben „geöffnet“. c) Psychomythische Parallelismen wie die zwischen der Liebe Gottes und der Liebe der Menschen stellen dagegen zwei analoge Realitäten nebeneinander. Keine von ihnen ist im Verständnis der Sprachbenutzer ein bloßes Bild. Die äußere Nacht der ägyptischen Finsternis und die innere Nacht der Todes- und Gewissensangst sind beide real (SapSal 17,1– 18,4). Im Römerbrief gibt es mehrere solcher Parallelismen: Das endzeitliche Gericht Gottes und das Gericht im Innern des Menschen bilden in Röm 2,12–16 einen psychomythischen Parallelismus, ebenso die Liebe Gottes im Geschick Christi und die Liebe Gottes in den Herzen der Menschen (Röm 5,1–11), die Fürsprache des Auferstandenen im Himmel und die Fürsprache des Geistes in den Herzen der Menschen (Röm 8,27 und 34). ————— 11 Vgl. P.v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung, NTOA 18, Fribourg/Göttingen 1993, 4–45. 12 Vgl. P.v. Gemünden, Affekt und Glaube, 265f.

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Zu P. von Gemünden: Psychologische Auslegung

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d) Bei den wenigen Allegoresen, also den allegorischen Auslegungen im Neuen Testament, finden wir eine intendierte psychologische Anwendung von Gleichnistexten, d.h. metasprachliche Aussagen über einen anderen Text. Die Auslegung auf eine psychische Realität, d.h. auf das Erleben und Verhalten von Menschen, ist nicht notwendig und bedarf einer besonderen Leseanleitung, die in der Allegorese gegeben wird. P. v. Gemünden zeigt immer wieder, wie solche Deutungen durch traditionelle Bildfelder und Bildtraditionen gestützt werden: Es gibt z.B. in der Antike eine lange Tradition, Blindheit und mangelnde Erkenntnis gleichzusetzen. Das erleichtert die Deutung der Blindheit auf einen inneren Zustand. Bei der Auslegung von Bildern aus dem Bildfeld Saat und Ernte fehlte solch eine stützende Bildtradition: Der Baum und seine Frucht war das übliche Bild für eine den Wechsel der Generationen überdauernde Gemeinschaft, nicht aber das Wachstum von der Saat zur Ernte, das nur ein Jahr umfasst. Gerade deshalb finden wir hier (und nur hier) im Neuen Testament allegorische Auslegungen.

3) Allegorische Auslegung als psychologische Exegese Das Ergebnis des Beitrags von P.v. Gemünden ist in einer Hinsicht eindeutig: Vielen Texten wurde schon in der antiken Welt eine psychologisch Dimension zugeschrieben. Diese antiken Ansätze psychologischer Auslegung können wir inhaltlich meist nicht übernehmen, auch wenn es faktisch manchmal geschieht. Auch methodisch wird man nicht wie die allegorische Exegese vorgehen können – dann würde man in den manchmal sehr ansprechenden, aber oft unkontrollierbaren tiefenpsychologischen Allegorien von E. Drewermann enden. Aber auch bei ihnen darf man nach einem berechtigten „Kern“ fragen. P.v. Gemünden wertet in ihrem Beitrag nämlich auch die allegorische Auslegung biblischer Figuren bei Philo von Alexandrien aus: Adam wird von Philo als Vernunft, Eva als Sinnlichkeit interpretiert (leg.all. I,90–107). Zwei biblische Figuren einer fiktiven Außenwelt werden damit zu inneren Vermögen der Menschen. An anderer Stelle zeigt sie, wie Philo ein anderes biblisches Figurenpaar, Abraham und Lot, allegorisch deutet. Der Konflikt zwischen ihnen wird als innerer Konflikt zwischen dem Streben nach den Gütern der Seele und dem Streben nach den materiellen Gütern des Körpers interpretiert (Abr 217–224). Solche Deutungen von Figuren auf innere Teile des Menschen oder sein typisches Verhalten hat einen Anhalt im ganz normalen Lektüreprozess, insofern wir uns beim Lesen probeweise mit diesen Gestalten identifizieren. Dabei wählen wir keineswegs von Anfang bis

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Antike Psychologie und moderner Anachronismusverdacht

Ende des Textes immer dieselbe Figur. Wir können uns vielmehr nacheinander mit verschiedenen Gestalten identifizieren. Wenn wir dabei entdecken, dass wir uns partiell sowohl in Abraham wie in Lot wieder erkennen, können wir in ihnen tatsächlich verschiedene Seiten unserer eigenen Person erkennen, die im Konflikt miteinander stehen. Durch sukzessive Identifikationen im Leseprozess kann es daher zu einer berechtigten „subjektalen“ Deutung von Figuren kommen, bei der verschiedene Figuren verschiedene psychische Aspekte, Instanzen oder Prozesse repräsentieren. Philo führt uns das bei vielen biblischen Personen vor. Wenn die hier skizzierte Überlegung zutreffend ist, so können wir eine solche Auslegung auch bei biblischen Personen durchführen, bei denen uns keine allegorische Auslegung überliefert wurde. So kann man im Gleichnis vom verlorenen Sohn den älteren und den jüngeren Sohn auf Tendenzen in jedem Menschen deuten, die in Konflikt geraten können: den Willen zum Aufbruch in neues Land und den Sinn für Verantwortung. Wir können sogar ein inneres Instanzenmodell auf diese Figurenkonstellation anwenden: Der ältere Sohn symbolisiert das Überich in uns, der jüngere Sohn das wunschbesessene Es, der Vater das vermittelnde Ich. Wahrscheinlich ist es am besten, sorgfältig die innere Dynamik dieses Gleichnisses nachzuzeichnen, wie es A. Inselmann in getan hat: Das Gleichnis selbst spricht ja von Affekten, ihrem Wandel und ihrer Beherrschung. Jede der drei Gestalten enthält ein Lernangebot. Mit jedem der drei Gestalten kann sich der Leser identifizieren.13

4) Psychologische Theorien in antiken Texten Doch zurück zum Anachronismusverdacht. Dazu sei noch ein letzter Weg genannt, ihn zurückzuweisen. Wir finden in der Antike nicht nur Ansätze einer psychologischen Exegese, sondern in Philosophie, Rhetorik, Poetik und Medizin auch psychologische Theorien, die in der Gegenwart nachwirken. Schon die Antike hat eine Attributionstheorie entwickelt. Für Epiktet war die Frage: „Was hängt von uns ab und was nicht?“ der Schlüssel zur Lebensführung (diss 1,1; ench 1). Wenn wir in einer Psychologie des Urchristentums mit der Frage nach Kausalattribution an antike Texte herantreten, kann das kein verwerflicher Anachronismus sein. —————

13 A. Inselmann, Affektdarstellung und Affektwandel in der Parabel vom Vater und seinen beiden Söhnen. Eine textpsychologische Exegese von Lk 15,11–32, in: G. Theißen/P.v. Gemünden, Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 271–299.

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Zu P. von Gemünden: Psychologische Auslegung

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Schon die antiken Philosophen haben eine Affekttheorie entworfen, die sich mit modernen Emotionstheorien in Verbindung bringen lässt (vgl. zusammenfassend Diog.Laert. 7,110f). Aristoteles hat zur Affektbearbeitung im Drama eine Katharsistheorie entworfen (Arist. Poet 6), die in der Psychologie bis heute nachwirkt. In der antiken Rhetorik finden wir ein reiches sozial- und kommunikationspsychologisches Wissen über die Möglichkeiten der Einflussnahme auf andere Menschen. Entscheidend ist in jedem Fall, ob man konkrete Texte im Lichte dieser Theorien, seien sie nun modern oder antik, besser verstehen kann.

5) Anachronistische Züge im Anachronismusverdacht? Die Frage bleibt, wie viel Kontinuität der Mensch auch in seinem psychischen Verhalten und Erleben über die Jahrhunderte hinweg zeigt. Gibt es trotz allen Wandels in uns nicht eine Ebene des Erlebens und Verhaltens, auf der wir mit früheren Menschen „gleichzeitig“ sind? Könnte die Beschäftigung mit antiken Texten nicht auch den Sinn haben, dass sie eine die Zeiten überdauernde kontinuierliche „Schicht“ in uns bewusst macht? Die moderne Gesellschaft erlebt sich als eine Welt im Wandel: Selbst in unserer kurzen Generation haben wir eine tief greifende Änderung in Lebensformen und Moral erlebt, eine Säkularisierung und Individualisierung der Religion, die digitale Revolution der Kommunikation, eine unwahrscheinliche Ausweitung der Bildung, eine durchschnittliche Verlängerung des Lebens und eine vorher nicht vorstellbaren Wohlstand für einige (aber nicht für alle). Es gehört zu unseren modernen Selbstverständlichkeiten, dass sich der Mensch verändert – und dass diese Veränderungen auch grundsätzliche Überzeugungen umfassen. Könnte es sein, dass der Anachronismusvorwurf selbst die Spuren seiner Herkunft zeigt: Dass er eine Rückprojektion einer sich schnell wandelnden Gesellschaft in vergangene Zeiten darstellt? Am Anfang unseres bewussten Lebens sahen Welt und Leben anders aus als heute. Wir können nicht anders, als uns die Zeiten vorher als ganz anders vorzustellen. Und auch das könnte ein Anachronismus sein, kein naiver, kein indirekter, kein generalisierender und auch kein kontrollierter Anachronismus, sondern ein Anachronismus, den wir nur durch einen rekursiven Anachronismusverdacht, der auf sich selbst angewandt wird, entdecken. Es könnte nämlich sein, dass wir über dem raschen Wandel aller Dinge übersehen, wie viel Kontinuität sich durch all diesen Wandel durchgehalten hat. Aber auch hier gibt es eine Gegentendenz: Die kognitive Religionswissenschaft geht davon aus, dass Menschen über Jahrtausende hinweg mit denselben kognitiven Möglichkeiten ausgestattet waren. Alle neurophysio-

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Antike Psychologie und moderner Anachronismusverdacht

logisch begründeten Annahmen über den Menschen neigen dazu, nicht mit einer grundlegenden Veränderung seiner Möglichkeiten in der Geschichte zu rechnen. Der enorme geschichtliche Wandel zeigt nur, dass wir grundlegende Kompetenzen in kulturell sehr unterschiedlicher Weise aktivieren. Als Beleg dafür gilt die universale Sprachkompetenz des Menschen, die sich in vielen konkreten Sprachen der Menschen realisiert. Diese verändern sich ständig. Eine vernünftige hermeneutische Haltung gegenüber der Vergangenheit rechnet daher mit beidem: mit Kontinuum und Veränderung.

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11. Zwischen Korrelations- und Performanzhermeneutik. Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“1

Für meine Generation war es selbstverständlich, dass zwischen Theorie und Praxis eine Wechselwirkung besteht: Gedanken entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern werden durch Interessen und Biographien gesteuert und sind daher ideologiekritisch zu hinterfragen. Theorien sind kein Selbstzweck, sondern haben eine praktische Relevanz im Guten wie im Bösen; daher muss man ihre Praxisrelevanz reflektieren, wenn man seine Verantwortung als Wissenschaftler wahrnimmt. Diese Einstellung führte oft zum Konzept einer „engagierten Wissenschaft“. Hier sagt man sich: Wenn alle Erkenntnis ohnehin interessegeleitet ist, kommt es darauf an, legitime Interessen zu definieren und ihnen zu dienen. Wenn alle Erkenntnis der Praxis dienen soll, kommt es darauf an, legitime praktische Ziele zu definieren und sie anzustreben.

1) Exegese und Praxis: Engagierte Bibellektüren In der Bibelwissenschaft entwickelten sich aus diesem allgemeinen Ansatz drei interessegeleitete „Lektüreformen“, wie ich sie im Unterschied von streng an den Texten orientierten Methoden nannte: Die feministische, die befreiungstheologische und die jüdisch-christliche Bibellektüre. Die feministische Lektüre sah in der Emanzipation von Frauen das legitime Interesse und wollte es manchmal sogar als „Wahrheitskriterium“ einführen. Unter möglichen Auslegungen sollen die bevorzugt werden, die feministischen Interessen dienten. Die befreiungstheologische Bibellektüre sah in der Emanzipation der Armen und Unterdrückten ihr legitimes Interesse. Bibelauslegung habe das sozialkerygmatische Potential der biblischen Texte herauszuarbeiten, die Option Gottes für die Armen, die uns in den Überlieferungen Israels und des Urchristentums begegnet. Die jüdisch-christliche Bibellektüre sah in der Überwindung des Antisemitismus und Antijudaismus ihr legitimes Interesse. Bibelauslegung habe dem Ziel zu dienen, das —————

1 Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“. Inspiration für die Praktische Theologie als theologische Sprachlehre, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 177–185.

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Zwischen Korrelations- und Performanzhermeneutik

Gift des Antijudaismus offen zu legen und aus einer unheilvollen Auslegungs- und Wirkungsgeschichte auszusteigen, vor allem aber die Liebe zu Israel zu stärken. Israel entdeckte den einen und einzigen Gott und stellte sich in seinen Dienst, um ihn der ganzen Welt zu bezeugen. Auch für mich war klar: Erkenntnis und die Reflektion der Praxis gehören zusammen. Ich habe immer die Legitimität der drei oben umrissenen moralischen Interessen anerkannt. Sie sind für mich nicht nur in einem allgemeinen humanistischen Ethos begründet, sondern in der biblischen Tradition; denn die drei engagierten Lektüreformen entsprechen der Überwindung sozialer Unterschiede in Christus: In ihm gibt es weder Juden noch Griechen, Sklaven noch Freie, Mann noch Frau, wie Paulus in einem seiner schönsten Worte feststellt und fordert (Gal 3,28). Dennoch war ich überzeugt, dass die engagierten Lektüreformen ein Korrektiv durch eine streng an den Texten und der Geschichte orientierte Auslegung haben müssen. Nur so kann man in ihnen offen wahrnehmen, was unseren Werten und Interessen widerspricht. Applikationsferne und Identitätsoffenheit sind daher für mich wichtige Kriterien einer methodischen Exegese. Aber das hat mich nicht gehindert, sondern eher motiviert, auch Beiträge zur praktischen Theologie über Homiletik und Didaktik zu schreiben. Denn die wissenschaftliche Aufgabe ist nicht abgeschlossen, wenn man Texte im Rahmen ihres historischen Kontextes auslegt. Man muss bei allen großen Texten auch fragen: Was bedeuten sie im Rahmen des gegenwärtigen Kontextes – oder eines der vielen Kontexte der pluralistischen Gegenwart. Dabei zeigen sich Spannungen zwischen einer methodischen Exegese und engagierter Lektüre, aber gerade deshalb können sich beide gegenseitig befruchten. Die Unterscheidung von methodischer Exegese und praktischem Engagement dient m.E. beiden am meisten. Denn die Praxis ist auf Erkenntnisse angewiesen, die sie korrigieren können. Die Exegese ist auf Inspiration zu neuen Fragestellungen angewiesen, die aus der Praxis stammen. E. Parmentier würdigt in ihrem Beitrag umfassend mein Oeuvre, wenn es nach dessen Bedeutung für die praktische Theologie fragt. Sie hat an anderer Stelle die Bedeutung meiner Arbeiten für ein zentrales Feld der systematischen Theologie, für die Christologie, mit kritischer Sympathie dargestellt,2 so dass es wohl niemanden sonst gibt, der so umfassend meine Arbeiten dargestellt und interpretiert hat. Innerhalb der Praktischen Theologie sieht sie eine Spannung zwischen zwei Aufgaben: Eine praktische Theologie, die ihren „Sitz im Leben“ im allgemeinen Wissenschaftsauftrag staatlicher Universitäten hat, neigt dazu, ihre Aufgabe als „Hermeneutik der gelebten Religion“ zu bestimmen, eine ————— 2

E. Parmentier/M. Deneken, Catholiques et Protestants, Théologiens du Christ au xxe siècle, Jésus et Jésus-Christ 96, Paris 2009, 489–511.

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Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“

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praktische Theologie, die ihren „Sitz im Leben“ in der kirchlichen Ausbildung hat, versteht sich dagegen sehr viel mehr als Anleitung und Reflexion der „Kommunikation des Evangeliums“. Wenn man Wissenschaft und Praxis aufeinander bezieht, muss man nach einer Konzeption suchen, die beides verbindet. In ihrem Beitrag bietet sie zwei Konzeptionen an, auf der einen Seite die Korrelationshermeneutik Paul Tillichs, auf der anderen Seite die Performanzhermeneutik der modernen Sprachphilosophie, mit der sie die Sprachtheologie G. Ebelings erneuert.

2) Korrelations- und Performanzhermeneutik Die Korrelationshermeneutik legt Wert auf eine Korrelation zwischen zeitloser Botschaft und aktueller Situation. Die Botschaft muss in Korrelation zur jeweiligen Situation gesetzt werden, und das heißt: In der Botschaft muss entdeckt werden, was die gegenwärtige Situation erhellt. Eine Korrelationshermeneutik verbindet also beide Pole: die Hermeneutik des gegenwärtigen religiösen Lebens mit der Kommunikation des Evangeliums. Sofern es aber um Aufdeckung einer vorhandenen Korrelation geht, wird sie notwendig von der Gegenwart her gesteuert: Aus der Botschaft wird das aktualisiert, was die Gegenwart erhellt, auch wenn damit gerechnet wird, dass diese Botschaft die Gegenwart verändern kann. Die Performanzhermeneutik verbindet ebenfalls beide Pole, Botschaft und Gegenwart, aber sie geht eindeutig von der Botschaft aus, der sie eine verwandelnde Kraft zutraut, die Menschen in der Gegenwart zu verändern. Das „Wort“ der Botschaft verweist nicht nur konstativ auf eine bestehende Wirklichkeit, sondern stellt sie performativ her. Es hat eine wirklichkeitsverändernde Dynamik. Es ist kein Zufall, dass E. Parmentier den Gedanken der Korrelation zwischen Botschaft und Gegenwart vor allem durch meine Bibeldidaktik belegt. Nicht zufällig gab es in der katholischen Religionspädagogik einen korrelationsdidaktischen Ansatz, der viel mehr als der gleichzeitige „problemorientierte“ Ansatz der evangelischen Religionspädagogik davor geschützt war, den Religionsunterricht zu einer allgemeinen Lebenskunde zu verändern. Unterricht zielt auf Verstehen und Einsicht, wenn auch nicht nur in kognitiver Hinsicht: Verstehen, das von Respekt und Achtung bestimmt ist, ist auch ein emotionales und pragmatisches Lernziel. Den Gedanken der Performanz findet E. Parmentier mit Recht sehr viel mehr in meiner Homiletik wirksam.3 Die Predigt will den Menschen verändern. Das Predigtwort will wirkendes Wort sein, das nicht nur über die Schöpfung nachdenkt, ————— 3

Vgl. E. Parmentier, Prêcher avec la Bible pour interlocutrice, RScR 80 (2006), 463–479.

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Zwischen Korrelations- und Performanzhermeneutik

sondern den Menschen so verwandelt, dass er sich als Geschöpf versteht. Die Predigt will nicht nur über Vergebung sprechen, sondern Vergebung zusagen, will nicht nur die Verpflichtung zur Liebe fordern, sondern von Egozentrizität befreien und den Menschen für seinen Nächsten öffnen. Gleichzeitig aber zielt die Predigt auf Verstehen und verändert den Menschen auch durch kognitive Umstrukturierung seiner Gedanken. Worin sieht E. Parmentier die Brücke, die Botschaft und Situation verbindet? Sie weist auf die Deutung der Bibel als Zeichenwelt, die durch eine verborgene „Grammatik“ bestimmt wird. Diese Grammatik besteht in zwei Grundaxiomen, den Glauben an den einen und einzigen Gott und an den Erlöser, und in vielen Grundmotiven. Die Einzelaussagen der Bibel mögen uns fremd sein, aber wer diese Grammatik erfasst hat, kann über die Zeiten hinweg die „biblische Welt“ mit der „heutigen Welt“ korrelieren. Konkret bedeutet das: Zu den biblischen Grundmotiven gibt es Korrelate in Grundüberzeugungen der modernen Welt, sei es weil diese von derselben biblischen Traditionen geformt wurde, sei es, weil es sich um unabhängige Antworten auf dieselbe Wirklichkeit handelt. Der Glaube an den Schöpfer findet Resonanz im Kontingenzbewusstsein des modernen Menschen, der Glaube an seine in die Schöpfung investierte Weisheit findet sie in der modernen Prämisse, dass die Wirklichkeit wissenschaftlich erkennbar und mathematisch lesbar ist, die Überzeugung von der Umkehrmöglichkeit findet Resonanz in einer therapeutischen Kultur, die an menschliches Lernen als Veränderung von Verhalten und Erleben glaubt usw. Wie aber kann die biblische Botschaft heute performativ den Menschen verändern? Der Mensch tritt durch Internalisierung der in der biblischen Zeichenwelt vorhandenen Axiome und Grundmotive in einen Dialog mit Gott. Er muss dazu oft aus seiner Alltagswelt herausgerissen werden. Und das geschieht u.a. durch „semantische Störungen“, d.h. durch neue überraschende Verbindungen zwischen Signifikant und Signifikat. Daher muss man immer wieder neue Metaphern und Bilder entwerfen, durch die vertraute Bilder auf unvertraute Bereiche angewendet werden. Heute würde ich, wie E. Parmentier andeutet, beide Formen des Brückenschlags zwischen biblischer Botschaft und Gegenwart, einerseits die performative „Kommunikation des Evangeliums“, andererseits die korrelative „Hermeneutik der religiösen Lebenswelt“, mit zwei Grundmöglichkeiten religiöser Erfahrung in Verbind bringen: In Transparenzerfahrungen wird die uns vertraute Lebenswelt für eine transzendente Realität durchsichtig, in Grenz- und Durchbruchserfahrungen zerreist die uns vertraute Lebenswelt und wir werden aus ihr herausgerissen. Religion besteht aus beiden Möglichkeiten. Beide sind notwendig, um eine Religion Lebenskraft im alttäglichen Leben und in Grenzsituationen zu geben.

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Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“

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Schließlich sei auf zwei Differenzierungen von E. Parmentier hingewiesen, die das Bild dieses Brückenschlags scheinbar komplizieren, es aber sachlich klären. Biblische Botschaft und gegenwärtige Situation stehen nicht bipolar gegenüber, sondern es gibt hier eine tripolare Beziehung. Denn sowohl die Entfaltung der Botschaft als auch die Deutung der Situation wird durch theologische Reflexion vermittelt (J. Ansaldi). Zwischen Exegese antiker Texte und der Erfahrung des gegenwärtigen Glaubens steht die systematisch-theologische Reflexion der Botschaft. Wir beziehen nicht nur „korrelativ“ Botschaft und Gegenwart aufeinander, sondern reflektieren immer schon „metakorrelativ“ über diese Beziehung mit theologischhermeneutischen Theorien. Wir verändern durch unser Sprechen nicht nur „performativ“ menschliches Leben, sondern vergewissern uns „metaperformativ“, von welchen Regeln und Werten wir bei unserem performativen Sprachhandlungen bestimmt sind, eine Vergewisserung, die nicht nur kognitiv, sondern in feierlichen Riten vor sich geht. Denn gerade religiöse Riten hat man als „metaperformative“ Handlungen gedeutet, d.h. als Handlungen, in denen wir nicht nur etwas vollziehen und realisieren, sondern die Normen und Werte bekräftigen, die wir bei unserem Handeln voraussetzen. Wir versprechen also nicht nur etwas, sondern betonen durch ein feierliches Versprechens, dass wir zu der Norm stehen: Versprechen muss man einhalten. 4 Eine zweite Differenzierung betrifft die Kontinuität über den Zeitabstand zwischen biblischer Botschaft und Gegenwart. Seine Überbrückung durch eine „Grammatik der biblischen Zeichenwelt“ zielt nicht auf eine Wiederholung dieser Zeichenwelt in der Gegenwert, also nicht auf identité, sondern auf eine Treue zu sich selbst durch alle Wandlungen hindurch, also auf eine ipseité. Sie wendet damit eine Unterscheidung an, die auf P. Ricoeur zurückgeht. Der Beitrag von E. Parmentier hat viele Ansätze in meinen Arbeiten verbunden und macht eine implizite Hermeneutik in meinen praktischtheologischen Arbeiten bewusst. Von außen sieht man aus einem Abstand oft mehr sachliche Zusammenhänge, als wenn man sich im Netz seiner eigenen Gedanken bewegt. Ebenso wichtig ist mir, dass sie meine Ansätze in die Theologiegeschichte einordnet und sie zwei Traditionen zuweist, mit denen ich in meinem Studium konfrontiert wurde: die Theologie Paul Tillichs und die Hermeneutik des Verstehens von G. Ebeling. Bei Paul Tillich habe ich immer bedauert, dass er die kraftvolle Sprache der Bibel so wenig aufgreift. Er geht weniger von einer verborgenen Grammatik der biblischen —————

4 So R.A. Rappaport, Ritual und performative Sprache, in: A. Belliger/D. Krieger, Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998; 42008, 189–210 = engl. R. A. Rappaport, Ecology, Meaning, and Religion, Berkeley 1979, 175–221 (in Auswahl).

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Texte aus als von seinen philosophischen Gedanken. Beides muss aber zusammenkommen. Im Protestantismus hat nur das Durchschlagskraft, was sich im Dialog mit der Bibel bewährt. Die schwache biblische Begründung und die geringe biblische Sprachkraft der Theologie Paul Tillichs hat deren Wirkung nachhaltig eingeschränkt. Bei G. Ebeling habe ich immer bedauert, dass die Reflexion über theologische Reflexion in einem Missverhältnis zur Durchführung der theologischen Reflexion selbst steht. Hermeneutische Metareflexion ist notwendig, aber wirkt manchmal wie eine Ferne vom tatsächlichen Leben.

3) Versuch einer religionsphilosophisch reflektierten Hermeneutik Abschließend skizziere ich einen Versuch, eine Philosophie der Religion mit einer biblischen Hermeneutik zu verbinden.5 Dabei gehe ich wie P. Tillich von einer religionsphilosophisch gedeuteten Erfahrung des Seins aus und stelle wie G. Ebeling und E. Fuchs sprachtheologisch Bilder und Metaphern in den Mittelpunkt. Der Philosoph L. Wittgenstein hat in seiner aphoristischen Religionsphilosophie religiöse Erfahrungen und Meinungen unterschieden.6 Seine These ist: Nicht religiöse Erfahrungen und Symbole sind wahr oder falsch, sondern nur damit verbundenen Meinungen. Wittgenstein nennt drei religiöse Grunderfahrungen:7 Das Staunen über die Existenz der Welt, die Erfahrung einer absoluten Sicherheit und die Erfahrung von Schuld. Das Staunen über die Existenz der Welt ist keine „Meinung“ über die Entstehung der Welt, keine Theorie darüber, dass sie vor 4.000 Jahren entstand oder vor Milliarden von Jahren. Über solche Meinungen kann man streiten, nicht aber darüber, dass Menschen davon ergriffen werden, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Denn das Geheimnis, dass überhaupt etwas existiert, besteht unabhängig von unseren Theorien und ist ————— 5

Im Folgenden wurde breiter entfaltet in Gerd Theißen: Glauben als unbedingtes Vertrauen. Theologische Aspekte, Studium Generale. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg: Winter 2011, 9–39. 6 Zu L. Wittgensteins Religionsphilosophie vgl. F. Ricken, Religionsphilosophie, Grundkurs Philosophie Bd. 17, Stuttgart 2003, 29–56; ders., Glauben weil es vernünftig ist, Stuttgart 2007. 7 L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik, in: L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. J. Schulte, stw 770, Frankfurt a.M. 1989, 9–19, bes. S. 14–19. „Denn das erste dieser Erlebnisse (sc. das Staunen über die Existenz der Welt) ist, glaube ich, genau das, worauf sich die Menschen früher bezogen, wenn sie sagten, Gott habe die Welt erschaffen. Und das Erlebnis der absoluten Sicherheit ist mit den Worten beschrieben worden, dass wir uns in Gottes Hand geborgen fühlen. Ein drittes Erlebnis der gleichen Art ist das des Schuldgefühls, und dies wiederum hat man mit der Formulierung gekennzeichnet, Gott missbillige unser Benehmen. In der ethischen und religiösen Sprache verwenden wir also, wie es scheint, ständig Gleichnisse.“

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Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“

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souverän gegenüber Meinungen über die Weltentstehung. Dieses Staunen über die Existenz der Welt lässt grundsätzlich jede Wissenschaft hinter sich. Denn es ist nicht wertfrei. Wir können es als unendlichen Wert erleben, dass etwas existiert. Aber es kann uns auch schwindelig werden, wenn uns aufgeht, alles könnte auch nicht sein. Das Geheimnis des Seins ist Grund und Abgrund. Warum sich die Bejahung des Seins souverän immer wieder durchsetzt, lässt sich nicht erklären. Sein und Wert erfahren wir hier als Einheit. Die Wissenschaft fällt dagegen keine Werturteile und sagt nichts über den Sinn des Lebens. Die zweite religiöse Grunderfahrung ist Geborgenheit. Auch diese Erfahrung drängt sich souverän auf. Das wird im Umgang mit Kindern bewusst. Denn obwohl unsere Erwachsenenkultur zynisch und pessimistisch ist, ist die Moral unserer Kinderbücher optimistisch. Wir infizieren unsere Kinder nicht mit unserem Pessimismus, als spüren wir, dass wir kein Recht haben, ihren Lebenswillen zu untergraben.8 Im Umgang mit Kindern setzt sich daher immer wieder ein Vertrauen souverän gegenüber unseren Meinungen durch. Diese zweite religiöse Grunderfahrung der Geborgenheit steht in Zusammenhang mit der ersten: Das Staunen, dass etwas existiert und nicht nichts, umfasst unsere eigene Existenz. Es schließt uns mit allen Dingen zusammen. Das Geheimnis des Seins durchzieht alle Dinge und umgreift auch uns. Wenn wir das positiv erleben, schafft das Geborgenheit durch Verbundenheit mit allen Dingen. Die dritte religiöse Grunderfahrung ist die Erfahrung der Schuld oder der Verantwortung. Was wertvoll ist, soll auch sein. Auch dazu kann man viele Meinungen entwickeln. Wir können moralische Imperative als verinnerlichte Stimme der Eltern auffassen, als evolutionäres Überlebensprogramm, als Selbstgesetzgebung der Vernunft oder als Gebot Gottes. Das sind Meinungen. Wenn wir über diese Meinungen mit anderen streiten, folgen wir schon immer einem Imperativ, der uns verpflichtet, für unsere Überzeugungen um die freie Zustimmung der anderen zu werben: uns vor ihnen zu verantworten. Auch hier gibt es eine Verbindung zu anderen religiösen Grunderfahrungen. Wir erleben im Staunen über die Existenz aller Dinge deren Kontingenz. In der Erfahrung von Verantwortung erleben wir dieselbe Kontingenz unseres eigenen Handelns: Wir könnten auch anders oder auch nicht handeln. Und wenn wir um die freie Zustimmung anderer werben, setzen wir deren Freiheit voraus. Während das Geborgenheitsgefühl uns in den Zusammenhang aller Dinge einbettet, schafft dieses Freiheitsbewusstsein eine Distanz gegenüber allem. Wenn Freiheit die Fähigkeit ist, eine Kausal————— 8

Das Argument der optimistischen Moral unserer Kinderbücher verdanke ich K.E. Løgstrup, Skabelse og tilintetgørelse Metaphysik IV, Kopenhagen 1978, 251f.

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kette aus Nichts zu beginnen, so sind wir durch sie Ebenbild jener Macht, die aus Nichts schaffen kann. Religion und religiöser Glauben basieren u.a. auf diesen drei elementaren Erfahrungen. Nun könnte man mit Recht einwenden: Verbinden die Religionen mit solchen Grunderfahrungen nicht sehr fragwürdige „Meinungen“? Erdichten sie nicht merkwürdige Mythen von Weltentstehung und Weltvernichtung und phantasievolle Göttergeschichten? Die Religionen machen durch solche Bilder, Symbole und Gleichnisse religiöse Erfahrungen kommunikationsfähig. So werden die drei genannten Grunderfahrungen in drei biblischen Bildern für Gott „kodiert“. Wenn die Bibel von „Gott dem Schöpfer“ spricht, weist dieses Bild auf das Wunder der Existenz. Die Alternative von Sein und Nichtsein wird als Entscheidung Gottes dargestellt. Und Gott sprach: „Es werde Licht! Und es ward Licht“ (Gen 1,3). Die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts wurde freilich erst in urchristlicher Zeit voll entwickelt.9 Wenn die Bibel von „Gott dem Vater“ spricht, werden in diesem Bild Erfahrungen unbedingter Geborgenheit kodiert. Von ihnen spricht Psalm 131,2: „Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.“ Im Neuen Testament dominiert die Vatermetaphorik.10 Wenn in der Bibel von „Gott als Gesetzgeber und Richter“ die Rede ist, so weist dieses Bild auf einen Imperativ, den wir uns nicht selbst geben können. Er wird bildlich als Gebot Gottes dargestellt: „Du sollst nicht töten! Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht falsch Zeugnis reden gegen deinen Nächsten!“ (Ex 20,13–16). Erst durch ihre sprachliche Formulierung werden elementare religiöse Erfahrungen zu Erfahrungen Gottes. Es sind drei Aspekte der Sprache, die dabei eine Rolle spielen: ihre appellative, metaphorische und narrative Macht. Die Bibel ist immer wieder Anrede. Die Anrede lässt keinen Abstand zum Hörer und Leser wie die narrative Ferne einer Geschichte oder das poetische Spiel der Bilder. Wenn es heißt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein!“ (Jes 43,1), so ist der eine direkte Anrede ebenso wie die Gebote: „Du sollst nicht töten!“ Aber auch Geschichten und Bilder werden in der Predigt so ausgelegt, dass sie zu solch einer Anrede —————

9 Erst bei dem christlichen Gnostiker Basilides (am Anfang des 2. Jh.) liegt diese Vorstellung voll entwickelt vor. Vgl. G. May, Schöpfung aus dem Nichts: Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Arbeiten zur Kirchengeschichte 48, Berlin 1978. 10 J. Jeremias, Abba, in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15–82, betonte einseitig das Proprium der urchristlichen Vateranrede. Vgl. E. Tönges, „Unser Vater im Himmel“. Die Bezeichnung Gottes als Vater in der tannaitischen Literatur, BWANT 147, Stuttgart 2003.

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Zu E. Parmentier: Die „Zeichensprache des Glaubens“

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werden. Warum ist die anredende Sprache so wichtig? Wir wurden Menschen, weil andere Menschen uns angesprochen haben. Unser Ich hat sich gebildet, weil es von einem Du und als ein Du angesprochen wurde. Wenn wir alle als Kinder auf Worte „von außen“ angewiesen waren, um uns zu entwickeln, ist es da nicht wahrscheinlich, dass wir auch bei einer Entwicklung über unser physisches Existieren hinaus auf solch ein Wort von außen angewiesen bleiben? Eine Anrede von außen hat gewiss eine größere Chance, uns aus Ichbezogenheit herauszureißen als das Selbstgespräch. Aber der Vergleich mit der Anrede des Kindes zeigt: Diese Anrede kann schnell zu mächtig werden. Erwachsene müssen sich gegenüber Kindern zurücknehmen, um sie nicht zu erdrücken. Wir erzählen Kindern daher Geschichten, in denen die Welt geordnet wird und wir gemeinsam ein wenig Abstand von den Dingen nehmen. Auch die religiöse Sprache kennt zwei Formen, um ein wenig Abstand zu gewinnen: Bilder und Erzählungen. Die Bibel ist voll von sprachlichen Bildern und Metaphern. Bilder weisen nicht nur auf etwas, was wir auch ohne sie beschreiben könnten, sie öffnen die „Augen“ für etwas, das wir nur durch diese Bilder hindurch erkennen und erfassen können. Deshalb kann man sagen: Die Sprache eröffnet uns erst jene Tiefendimension religiöser Erfahrung, die wir mit „Gott“ bezeichnen. Gott erschließt sich in dieser Sprache. Daher spielt das Wort eine so große Rolle in den biblischen Religionen. Alle biblischen Religionen sind überzeugt, dass sich Gott in seinem Wort erschließt, durch eine dynamische Kraft des Wortes, die Motivationen und Einstellungen von Menschen zu verändern.11 Im Zentrum der christlichen Religion steht Jesus, der von Gott in Bildern und Gleichnissen redete – und den seine Anhänger später als „Gleichnis Gottes“ verehrten: als „Bild Gottes“, das den Menschen verwandelt, so dass er Zugang zu Gott findet. Diese eine Person gilt im Neuen Testament als „das Wort Gottes“, das den Menschen die Kontaktaufnahme mit Gott ermöglicht. Aber Bilder lassen auch eine Freiheit. Der Hörer und Leser muss selbst bestimmen, inwiefern sie zutreffen oder nicht zutreffen. Eine Metapher sagt immer zugleich: A = N und A ist nicht = N. Gott ist ein Vater, aber er ist es auch nicht. Ein Symbol ist eine Realität, die zugleich auf etwas anderes weist: A = N und N = B. Das „Kreuz“ auf Golgatha ist sowohl ganz wörtlich ein Hinrichtungsinstrument als auch Symbol für eine Wende zum Heil. Der Gott der Bibel ist ein Gott, von dem man Geschichten erzählt. Geschichten spielen in der Vergangenheit und schaffen deshalb schon ein ————— 11 Das ist das Wahrheitselement der Kerygmatheologie, die von der Selbsterschließung Gottes in seinem Wort ausgeht. Aber das Wort ist nicht die Sache selbst. Das Wort weist auf die Sache hin. Wird die Bibel mit dem „Wort Gottes“ identifiziert, kommt es zu einer Mythologisierung dieses Wortes. Vgl. J. Lauster, Zwischen Entzauberung und Remythisierung. Zum Verhältnis von Bibel und Dogma, ThLZ.F 21, Leipzig 2008, 9–38.

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wenig Abstand zwischen Erzählern, Hörern und dem Erzählten. Sie haben folgende Merkmale: 12 Geschichten beginnen unmotiviert. Ihre Form enthält eine Spur der Kontingenz jedes Anfangs. Sie entsprechen dadurch einem Gott, der einen Anfang macht und in dem Wunder steckt, dass überhaupt etwas existiert. Sie entsprechen zugleich dem Menschen als dessen Ebenbild, der immer wieder einen Anfang machen kann. Die biblische Erzählung ist eine Kette von Neuanfängen Geschichten entwickeln narrative Folgen: Einmal begonnen, können sie zwar in verschiedene Richtungen weitergehen, aber nicht in alle. Mit jedem Schritt scheiden Möglichkeiten aus, die Geschichte das fortsetzen, was sich bisher ergeben hat. Freiheit und Bindung strukturieren sie. Sie entsprechen damit der menschlichen Existenz: Sie ist gebunden durch das, was schon geschehen ist, und doch frei, in verschiedene Richtungen eine Fortsetzung zu finden. Geschichten enthalten Modelle und Rollen, mit denen wir uns identifizieren, um in ihrem Lichte Erfahrungen machen zu können oder zu handeln. Sie wirken dabei nicht durch Vorschriften, sondern durch eine kreative Art, sie eigenständig weiterzuführen. Eine narrative Ethik ist weniger präskriptiv als andere Ethiken. Die biblischen Erzählungen bilden Rollenangebote für die Menschen. Dazu gehört immer wieder die Aufnahme einer Rollenbeziehung zu Gott. Geschichten hören abgerundet auf. Die reale Geschichte geht immer weiter. Geschichten können es dagegen in einer begrenzten Zeit zu einer narrativen Erfüllung bringen, auch wenn am Ende ein Scheitern steht. Über ihnen liegt eine Verheißung von Sinn durch Abrundung. Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens stehen die Geschichten und die Geschichte von Jesus. Er ist das „Bild“ und das „Wort“ Gottes, das ihn in dieser Welt sichtbar und hörbar macht: GKXMYPund NQIQLSGQW. Bilder und Worte haben performative Macht. Sie verändern den Menschen, so dass er erst durch sie für das Bezeichnete und Gemeinte offen wird. Das gilt besonders für religiöse Bilder und Worte.

—————

12 Grundlegend: P. Ricoeur, Zeit und Erzählung 1. Zeit und historische Erzählung, München 1988; 2. Zeit und literarische Erzählung, München 1989; 3. Die erzählte Zeit, München 1991. Eine gute Einführung ist P. Kemp, Tid of fortaelling. Introduktion til Paul Ricoeur, Aarhus 1995.

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12. Angesprochensein als Kriterium der Predigt. Zu H. Schwier: Im Dialog mit der Bibel1

Kann man durch empirische Untersuchungen Predigttheorien bestätigen, widerlegen oder präzisieren? Predigttheorien basieren nicht nur auf homiletischen Traditionen und eigenen Gedanken, sondern auch auf persönlicher Erfahrung: auf einer Praxis des Predigens und der informellen Rückmeldungen, die meist wenig spezifisch sind. Der Prediger bekommt wohl nach einem Gottesdienst generell sehr gut zu spüren, ob seine Predigt gut angekommen ist oder nicht, aber es bleibt offen, was im Konkreten Erfolg oder Misserfolg bedingt hat. Er wird bei positivem Feedback weiter so predigen wie bisher – und sich möglicherweise gerade in den Aspekten seiner Predigtweise bestärkt sehen, die nicht positiv erlebt wurden. Worauf er ein generalisiertes positives (oder negatives) Echo konkret bezieht, ist in der Regel seiner Interpretationskunst überlassen. Solch eine persönliche Alltagserfahrung ist nicht das, was in empirischen Untersuchungen als „Erfahrungsbasis“ dient. Die empirische Analyse von Hörerreaktionen gibt konkretere Hinweise, welche Teile besonders angesprochen haben und bei welchen die Aufmerksamkeit gesunken ist, vor allem aber kann sie die Reaktionen quantitativ messen und leicht mit anderen empirischen Ergebnissen vergleichen, als das durch qualitative Einschätzungen möglich ist. Dennoch müssen auch empirische Untersuchungen interpretiert werden; und manchmal gibt es mehrere plausible Interpretationen oder Gesichtspunkte für eine Interpretation. Die analysierte Predigt „Thomas der Zweifler und die Glaubwürdigkeit der Osterbotschaft“ aus dem Jahr 19882 hat vier Teile, die sich z.T. in der Kurve des Angesprochenseins niederschlagen, denn es gibt entsprechend den vier Teilen erkennbar vier Gipfel. Der erste und dritte ist weit ausgeprägter als der zweite, wobei alle Gipfel durch die Klimax am Schluss überboten werden. Auffällig ist das Absinken der Kurve vor dem letzten Anstieg im Finale. Wie soll man es deuten? —————

1 Zu H. Schwier: Im Dialog mit der Bibel. Gerd Theißens Impulse für Theorie und Praxis der Predigt, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 186–201. 2 In: G. Theissen, Die offene Tür. Biblische Variationen zu Predigttexten, München 1990, 125– 132.

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Angesprochensein als Kriterium der Predigt

1) Die kosmische Predigtdimension: Erschwertes Angesprochensein Eine erste Deutung könnte sein, dass die Predigt mit zwanzig Minuten zu lang war. Der Tiefpunkt des Angesprochenseins liegt bei 14 Minuten – also dort, wo ein an kürzere Predigten gewöhnter Zuhörer ein Schlusscrescendo erwartet. Anstatt dessen kommt an dieser Stelle noch einmal eine neue Problemexposition, nämlich die Darstellung eines wissenschaftlichen bzw. szientistischen „Nihilismus“. So etwas ist riskant. Der Hörer erwartet den Schluss, und es wird ihm ein neuer Anlauf zu einem in sich gewichtigen Gedanken zugemutet. Freilich sind solche Hörererwartungen hinsichtlich der Länge von Predigten kulturell bedingt. Wer aus einer reformierten Gemeinde kommt wie ich, ist Predigten von 45 Minuten Länge gewöhnt. Er ist bei allzu schnellem Abschluss einer Predigt eher irritiert. Eine zweite Deutung könnte sein, dass – unabhängig von der Länge der Predigt – drei Teile einer etablierten Predigterwartung entsprechen, so dass der erneute Anlauf zu einem vierten Teil diese unbewusste Erwartung durchkreuzt. Immer tiefer hatte sich die Predigt in „außernormale“ Nebenwirklichkeiten begeben: zunächst in die Welt der Träume und des Unbewussten, dann in die der Esoterik und der Ethnologie. Die Rückkehr in die Welt einer nüchternen und ernüchternden Naturwissenschaft könnte wie ein Bruch erlebt worden sein – und man fragt sich, wie von diesem Eintauchen in die intelligente Skepsis eines naturalistischen Weltbildes aus eine abschließende Antwort auf die Bedeutung der Osterbotschaft gefunden werden kann. Eine dritte Deutung könnte das unter Hinweis auf die unterkühlte „wissenschaftliche“ Sprache weiter untermauern. Mit ihr wird bewusst eine „wissenschaftliche“ Atmosphäre erzeugt, die durch ihren emotionalassoziativen Hof wenig attraktiv ist: „radikale Aufklärer“, „psychische Fehlentwicklung“, „körperliche Dysfunktion“, „Materie“, „die sich überkompliziert selbst organisiert hat“, „Funktionieren der Gesellschaft“, „kosmischer Wärme- oder Kältetod“. Hier scheint die Predigt selbst einem „Kältetod“ nahe zu sein. Das kontrastiert mit der menschlich ansprechenden Problematik der Apartheid unmittelbar vorher. Erst als Thomas, der Zweifler, diese unterkühlten Erkenntnisse persönlich reflektiert, steigt die Kurve wieder an. Aber wie soll man nun diesen Kurvenverlauf bewerten? Wenn die Aufmerksamkeitskurve am Ende dennoch bald alles Bisherige überbietet – kann der verfremdende Umweg so ganz falsch gewesen sein?

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Zu H. Schwier: Theorie und Praxis der Predigt

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2) Die existenzielle Dimension: Unmittelbares Angesprochensein Vielleicht kann man noch näher den Anlass der Überbietung der ganzen bisherigen Aufmerksamkeit erkennen. Es ist eine Kumulation von biblisch inspirierten Bildern. Die aus dem Nichts schaffende Macht Gottes „wälzt den Stein der Todesangst (Mk 6,1ff) immer wieder vom Herzen und nimmt dem Tod seinen Stachel (1Kor 15,55). Sie verlässt die Menschen nicht in den Tunneln des Schreckens, und im finsteren Tal ist sie bei ihnen (Ps 23). Gleichzeitig werden damit Motive aus der bisherigen Predigt aufgenommen, besonders aus der zweiten „Lektion“, in der Träume als Zugang zur Osterbotschaft dienten. Dort war davon die Rede, dass in einem Traum „der Stein der Todesangst“ schwer auf dem Herzen lag, dass ein Untier mit einem „Stachel des Todes“ den Träumer bedrohte, dass er durch einen „langen, dunklen Tunnel“ hindurchgehen musste. Nur die Anspielung an das „finstere Tal“ aus Ps 23 ist keine Wiederaufnahme. Als diese Motive zum ersten Mal begegneten, blieb die Aufmerksamkeit auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Bei ihrer Wiederholung kommt es zu einem auffälligen Anstieg des Angesprochenseins. Wären diese Motive nicht vorbereitet gewesen, wäre dann mit ihrer erneuten Aufnahme die Kurve so schnell und so deutlich am Ende nach oben gegangen? Was die Predigthörer und Predigtanalytiker nicht ahnen können und sollen, ist, dass die Erzählung von den beiden Träumen autobiographischen Hintergrund hat. Ich habe beide Träume im Alter von ca. 30 Jahren einmal nacheinander geträumt: Der erste Traum ist ein Gang durch einen langen Tunnel, in dem mir ein bedrohliches Insekt mit dem „Stachel des Todes“ entgegenkommt und sich wider alle Erwartungen ängstlich an mir vorüberdrückt, so dass ich diesen Traum als Todesüberwindung erlebte. In der nächsten Nacht hatte ich dann einen realistischen Traum von einer schweren Krankheit mit Todesgewissheit, als sollte der erste Traum dementiert oder korrigiert werden. Wenn man nach etwas Erlebnisechtem sucht, dann steckt es in diesen Bildern. Hat vielleicht deshalb ihre Wiederholung so stark gewirkt? Auf jeden Fall sprechen diese Bilder mit einer ausgesprochen existenziellen Intensität am Ende besonders stark an. H. Schwier betont mit Recht, dass die existenzielle und theologische Dimension für die Predigthörer die entscheidenden Dimensionen sind: Sie wollen mit ihrem persönlichen Leben in einen Dialog mit Gott eintreten. Die soziale und kosmische Dimension sei dagegen weniger wichtig. Das wird durch die vorgelegte Predigtanalyse teils bestätigt, teils aber auch nicht. Das Absinken der Aufmerksamkeit bei der Beschwörung der kosmischen Verlorenheit des Menschen in einem sinnlosen Universum, bestätigt, wie wenig der Blick auf kosmische Zusammenhänge Menschen bewegt.

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Angesprochensein als Kriterium der Predigt

Auch der kleine „Einbruch“ des Angesprochenseins kurz vor dem Ende könnte durch das Wiederaufgreifen der kosmischen Thematik in der Bildlichkeit bedingt sein: Als die Predigt die überall gegenwärtige Macht Gottes mit einem riesigen Feld aus elektromagnetischen Wellen“ vergleicht, sinkt bei einigen die Resonanz. Naturwissenschaft und kosmische Dimensionen sind etwas Fremdes und Verfremdendes.

3) Die soziale Dimension: Reflektiertes Angesprochensein Das gilt jedoch nicht für die soziale Dimension der Predigt. Es fällt auf, dass der erste und der dritte Gipfel der Aufmerksamkeit auch auf eine soziale Thematik reagiert. Beim ersten Mal wird die Welt der Bücher durchbrochen durch die reale Welt, „wo Menschen gefoltert und gekreuzigt werden.“ Der dritte Gipfel bezieht sich auf die Apartheid in Südafrika. Das „Soziale“ und „Politische“ spricht vielleicht doch mehr an, als es zunächst scheint. Es muss jedoch in konkreten Schicksalen anschaulich werden. Sozialstatistiken schaffen das nicht.

* Predigen ist eine anspruchsvolle und fordernde Aufgabe. Sie hat Rückwirkungen auf den Prediger selbst. Es war für mich sehr wichtig, dass meine Predigten mit einer sehr liberalen Theologie im Hintergrund „gut ankamen“. Das verstärkte in mir das Bewusstsein, dass meine Gedanken vielleicht anderen helfen können, obwohl sie sich von jeder Variante von Religionskritik haben irritieren lassen. Meine kleine Homiletik hat gewiss nur wenig in die praktische Theologie hineingewirkt, aber ich weiß, dass sie einige junge Pastoren und Pastorinnen zum Predigen motiviert hat. Als ausgerechnet die chinesische Ausgabe dieser Homiletik „Zeichensprache des Glaubens“ die 90. Übersetzung meiner Bücher wurde, hat mich das sehr gefreut: Wenn in einem ganz anderen Kulturraum einige diese Gedanken als hilfreich erleben, so gibt es wohl kein schöneres Echo als das.

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13. Entmythologisierung und Mythenhermeneutik. Zu E. Faust: Globaler Klimawandel1

Fragen der Mythentheorie und der Entmythologisierung werden meistens abstrakt erörtert, hier dagegen werden sie anhand eines konkreten Beispiels diskutiert. Es geht darum, wie mythische Bilder von Endzeitkatastrophen heute in Wissenschaft und Massenmedien die Diskussion um den Klimawandel beeinflussen. Mythische Denkkategorien haben sich ansonsten in andere Kulturbereiche zurückgezogen. Die Entzauberung der Welt hat alle göttlichen numina aus der Natur „vertrieben“; es gibt keine besonderen Bezirke mehr, die durch die Anwesenheit von Nymphen und Gottheiten unberührbar gemacht werden. Nur im ästhetischen Erleben und Gestalten lebt die „Verklärung“ der Welt neben einem nüchternen naturwissenschaftlichen Zugang weiter. Hier hat sie ihre Berechtigung und bringt nach wie vor ein authentisches Naturerleben zum Ausdruck, aber sie hat es schwer, ihre Legitimität neben der wissenschaftlichen Analyse der Welt zu behaupten. Dennoch dringen mythische Bilder von Weltkatastrophen, von Sintflut und Apokalypse angesichts des Klimawandels in die Erklärungen von Wissenschaftlern und Politikern ein – teils um politisch für neue Gesetze, Vereinbarungen und Verhaltensänderungen zu werben, teils um emotionale Zukunftsängste zum Ausdruck zu bringen und zu bewältigen, teils aber auch nur, um mit einem Thema auf dem Markt der Massenmedien Aufmerksamkeit zu erzielen und Profit zu machen. Dabei verändern sich die wissenschaftlichen Aussagen und werden etwas anderes. Aus der Natur wird eine vergeltende Gottheit, aus Hypothesen werden Gewissheiten, aus Prognosen werden Prophetien, aus Verhaltensempfehlungen unbedingte Imperative. Eberhard Faust zeigt, wie kontraproduktiv diese mythischen Bilder und Aufwertungen für eine verantwortliche und notwendige Klimapolitik sein können.

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1 Zu E. Faust: Globaler Klimawandel, globale Klimakatastrophe: Mythische Elemente in der kulturwissenschaftlichen und medialen Diskussion, in: P. Lampe/H. Schwier, Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 2002–227.

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Entmythologisierung und Mythenhermeneutik

1) Mythische Bilder machen aus realistisch zu erwartenden begrenzten Katastrophen einen globalen Weltuntergang. Gegen begrenzte Katastrophen kann man etwas tun, gegen den Weltuntergang nichts. 2) Mythische Bilder stimulieren eine irrationale Angst und verhindern dadurch eine distanzierte kognitive Analyse der Probleme. 3) Mythische Übertreibungen dementieren sich auf Dauer selbst: Geht die Welt ihren alltäglichen Gang weiter, werden selbst berechtigte Problemanzeigen als übertriebene „Spinnerein“ bagatellisiert. Nun hat E. Faust vorwiegend mythische Katastrophenbilder im gegenwärtigen Klimadiskurs untersucht. Die Frage ist, ob deren ambivalente Wirkungen wirklich Auswirkung des mythischen Denkens per se sind oder nur einiger mythischer Bilder, die einseitig aus dem Kontext mythischer Weltinterpretationen gelöst und reaktiviert werden: Weltuntergang und Weltschöpfung gehören im mythischen Denken zusammen. In der jüdischen Apokalyptik ist das Ende der alten Welt Durchgang zu einer neuen Welt. Im Urchristentum beginnt diese neue Welt schon hier und jetzt. Die mythischen Bilder stehen hier immer in größeren Zusammenhängen. Auch die Schreckensbilder haben einen Ort, der sie relativiert. Auch im gegenwärtigen ökologischen Diskurs ist dieser Zusammenhang der einzelnen mythischen Bilder noch präsent. Neben der großen negativ konnotierten Weltkatastrophe spielt auch ein durchwegs positiv konnotierter Begriff von Schöpfung (und insbesondere der „Erhaltung der Schöpfung“) eine Rolle. Er löst keine Angst aus, sondern auf der einen Seite Gefühle der Geborgenheit und des Zutrauens, auf der anderen Seite ein Bewusstsein von Verpflichtung und Beauftragung. Die mythischen Katastrophenbilder werden im tatsächlich stattfindenden Diskurs also ausgeglichen durch mythische Vertrauensbilder. Man kann diese Balance sogar innerhalb einiger biblischer Katastrophenbilder feststellen. Die Erzählung von der Sintflut ist zweifellos eine Angst machende Erzählung, aber sie endet damit, dass der Regenbogen über der geretteten Welt aufgeht und Gott versichert: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22). Gewiss ist diese Zusage bedingt und auf die Zeit begrenzt, solange die Erde noch steht. Aber diese Zusage ist eine Entkatastrophisierung der Zukunft. Ich meine, in den mythischen Bildern selbst eine dreifache Spannung und Asymmetrie entdecken zu können: zwischen Zukunfts- und Vergangenheitsbildern, zwischen Angst- und Geborgenheitsbildern und zwischen Zuspruchs- und Auftragsbildern.

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Zu E. Faust: Globaler Klimawandel

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1) Mythische Zukunfts- und Vergangenheitsbilder Die Schöpfung ist ein mythisches Urzeitbild, der Weltuntergang ein Zukunftsbild. Beide begegnen zwar in der Gegenwart, aber doch in einer gewissen Asymmetrie: Es kann kein Zufall sein, dass futurische Katastrophenbilder im aktuellen Umweltdiskurs sehr viel wirken mehr als mythische Vergangenheitsbilder. Denn es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen mythischen Vergangenheits- und Zukunftsbildern. In schriftlosen Kulturen wandert die Vergangenheit wie ein Horizont mit. Nur wenige Generationen der Ahnen gehören zum kollektiven Gedächtnis, dann beginnt „jene andere Zeit“, in der die Götter die Welt geschaffen und geordnet haben. Den Blick in die Vergangenheit bis zu diesem Horizont einer mitwandernden Urzeit konnten wir in entwickelten Gesellschaften „rationalisieren“, indem wir mit Hilfe der Schrift und schriftlicher Dokumente ein Geschichtsbewusstsein entwickelt haben, das einige Jahrhunderte zugänglich macht. Erst an seinem Ende, dort, wo unser Bewusstsein in einer grauen Vorzeit im Dunkeln strandet, beginnt der Bereich, in dem nur noch Mythen die Vorgeschichte erhellen. Ganz am Anfang steht eine apodiktisch gesetzte Schöpfung. Ganz anders verhalten wir uns zur Zukunft. Die Zukunft werden wir nie in vergleichbarer Weise „rationalisieren“ können. Auch sie wandert wie ein vor uns liegender Horizont mit uns durch die Zeit. Aber die Strecke bis zu diesem Horizont bleibt ewig dunkel. Die assyrische Kultur hat versucht, diese Zeit vor uns durch ein fast „wissenschaftliches“ System der Zukunftsweissagungen und Orakel zu „rationalisieren“, aber sie hat damit die Zukunft nicht beherrschbar gemacht. Während wir also viele Generationen in die Vergangenheit blicken können, schauen wir nur wenige Jahre in die Zukunft. Bei der Vergangenheit haben wir den Eindruck: Sie wird immer mehr erforscht. Sie nimmt immer klarere Konturen an, auch wenn unser persönliches Wissen beschränkt und begrenzt ist. Die Zukunft aber bleibt grundsätzlich in Nebel und Ungewissheit gehüllt. Diese kognitive Dunkelheit der Zukunft macht sie dafür geeignet, dass selbst in der modernen Zeit mythische Bildern in sie hinein projiziert werden – und dass selbst wissenschaftliche Erklärungen mythische Muster als Subtext erhalten. Dieselben Menschen, die das vergangene Paradies als einen „Mythos“ verspotteten, konnten von der „klassenlosen Gesellschaft“ in der Zukunft träumen.

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2) Mythische Angst- und Geborgenheitsbilder Eine zweite Überlegung weist auf die Balance zwischen Angst und Geborgenheit, die wir in mythischen Bildern finden. Im Rahmen solch einer Balance kann man auch angstbesetzten Katastrophenbildern eine positive Funktion zuschreiben: Angst ist nicht an sich etwas Schlechtes, sie ermöglicht es, dass wir eingeschliffene Reaktionsmuster verändern können. Sie löst erlernte Verbindungen im Gehirn auf.2 Begrenzte Angst ist daher sinnvoll und funktional. Ohne sie verändern wir nicht unser Verhalten. Ganz gewiss aber sind globale Katastrophenbilder und die Überflutung durch Angst dazu nicht geeignet. Denn sie suggerieren, dass man einem Untergang ausgesetzt ist, angesichts dessen man ohnmächtig ist. Das lähmt. Dennoch kann Angst als Alarmfunktion begrenzt sinnvoll sein. Panikattacken erleben wir als sinnlos. Kollektive Panikattacken sind sogar gefährlich. Aber Realangst gehört zum Leben und darf auf keinen Fall verdrängt werden. Auch hier herrscht freilich wie bei den mythischen Vergangenheitsund Zukunftsbildern eine Asymmetrie. Wir sind aufgrund unserer evolutionären Vorgeschichte darauf programmiert, stärker auf Angstsignale zu reagieren als auf Signale des Vertrauens. Denn Lebewesen, die auf Raubtiere und Feinde nicht blitzschnell reagierten, schieden als unsere Vorfahren aus. Unsere mediale Welt bevorzugt daher bis heute die „schlechten Nachrichten“. Denn auf sie müssen wir gegebenenfalls schnell reagieren, während uns die guten Nachrichten meist Zeit lassen.

3) Mythische Zuspruchs- und Auftragsbilder Zur Balance zwischen Vergangenheits- und Zukunftsbildern, Vertrauensund Angstbildern muss eine dritte Balance treten: ein Gleichgewicht zwischen Seins- und Sollens-Bildern, zwischen mythischen Bildern von dem, was die Wirklichkeit ist, und mythischen Bildern von dem, was der Mensch in ihr tun soll. Mag die Geschichte noch so voll von Katastrophen sein, wenn der Mensch in ihnen eine Aufgabe hat, kann er sie leichter bewältigen als wenn er von ihnen überrollt wird. Die biblischen Bilder entwerfen ein Bild von der Welt, in dem diese als ein großer Dialog zwischen Gott und dem Menschen gedeutet wird, bei dem der Mensch zur Rechenschaft über sein Handeln gezogen wird. Man kann durchaus von einer „Tribunalisierung“ der Wirklichkeit sprechen, aber sie ist nur die Kehrseite eines Auftrags, den der Mensch hat. Gott hat ihm in seiner Thora das Gute und Böse vorgelegt. Er gibt dem Menschen immer wieder eine Chance zur Umkehr, ————— 2

G. Hüther, Biologie der Angst. Wie aus Streß Gefühle werden, Göttingen 1997.

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denn er will nicht dass der Sünder stirbt, sondern dass er umkehrt und lebt (Ez 33,11). Die Dialoggeschichte zwischen Gott und Mensch ist offen. Es hängt auch vom menschlichen Verhalten ab, wie sie endet. Sie ist auf keinen Fall ein stummes Fatum. Mein Argument zielt darauf, dass es weniger darum geht, ob mythische Bilder in eine moderne Diskussion als „Subskript“ oder Zitat begegnen, sondern ob diese so ausgewogen verwandt werden, wie sie es im mythischen Kosmos sind. Dort finden wir in den durch viele Jahrhunderte geformten Systemen aus Erzählungen, Bildern und Symbolen oft eine verborgene Weisheit, die verloren geht, wenn man isoliert einzelne Bildkomplexe reaktiviert. Ein Beispiel für die produktive Rolle von apokalyptischen Weltuntergangsängsten könnte das Mittelalter bieten. Hier erwartete man immer wieder – intensiv besonders um das Jahr 1.000 herum – das Ende der Welt. Das könnte eine Rolle bei der Hinwendung zur empirischen Natur gespielt haben: Man musste die Zeichen der Zeit in der Natur erkennen, wenn man das Ende erwartete – und konnte sich nicht allein mit einer Auslegung der Schriften begnügen.3 Diese empirische Motivationskraft hatte die Apokalyptik aber nur, weil der Weltuntergang nicht nur Angst machte, sondern auch als Sinnerfüllung der Geschichte galt und weil die Natur im Rahmen des Schöpfungsglaubens studiert wurde. Ein anderes Beispiel für die produktive Kraft der Apokalyptik ist ihre legitimierende Funktion für einen Bruch mit der Tradition überhaupt. Es kann kein Zufall sein, dass Jesus, Mohamed und Luther alle eine Naherwartung teilten. Das gibt ihnen die Kraft, sich von der Vergangenheit zu lösen und frei zu werden für etwas Neues. Etwas anderes ist die Frage, welche Funktion solche mythischen Bilder denn überhaupt haben können, ob sie ein Relikt aus vergangener Zeit sind oder ob man mit ihrer Hilfe etwas in der Wirklichkeit entdecken kann, was uns ohne sie verborgen bliebe. Dabei handelt es sich um die Grundfrage, die die theologische Arbeit bestimmt: Welche Legitimität haben die Symbolsysteme der Religion und der Kunst in einer wissenschaftlichen Welt?

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So die These von J. Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft, München 2001.

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14. Biblischer Glaube und Evolution. Der antiselektive Indikativ und Imperativ1

Meine Antrittsvorlesung „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein“ an der Heidelberger Universität im Oktober 1980 deutete die neutestamentlichen Bilder von Christus im Rahmen der Evolutionstheorie und weckte vor mehr als 30 Jahren nicht nur Interesse, sondern löste auch Irritationen aus.2 Mein damaliger Grundgedanken lässt sich so zusammenfassen: Wenn das Neue Testament in Christus einen neuen Menschen sieht, der Nächstenliebe verkündigt und lebt, so kann das mit Hilfe der beiden evolutionären Faktoren Mutation und Selektion interpretiert werden. Vorausgesetzt ist, dass man diese Faktoren in abgewandelter Form auch in der kulturellen Evolution wirken sieht. Neue Konfigurationen kultureller Elemente und kultureller Traditionen (also Ideen, Imaginationen, Werte und Einstellungen) lassen sich im übertragenen Sinne als „Mutationen“ verstehen. Hin und wieder gehören sie zu den wenigen selektionsprämierten Mutationen, die zu neuen Einsichten und Möglichkeiten führen und bewahrt werden; andere Konfigurationen kultureller Elemente und Traditionen sind nicht überlebensfähig und werden ausgeschieden. Dazwischen gibt es die große Menge selektionsneutraler Varianten. Entscheidend ist: Auch kulturelle Überzeugungen und Konfigurationen werden durch Selektion gesiebt – durch trial and error als einer „weichen Selektion“ von Gedanken und Verhaltensweisen, durch die wir uns selbst korrigieren. Diese Selbstkorrektur kann eine „harte Selektion“ unserer Organismen begrenzt unterlaufen: Wenn wir unsere Hypothesen opfern, ersparen wir es uns, Leben opfern zu müssen, und erhöhen unsere Lebenschancen und die unserer —————

1 Der Artikel basiert u.a. auf G. Theissen, Evolution, in: Th. D. Wabbel (Hg.), Am Anfang war (k)ein Gott. Naturwissenschaftliche und theologische Perspektiven, Düsseldorf 2004, 147–158. 2 Der Vortrag: „Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein“ vom 29.10.1980 wurde erst 30 Jahre später in P. Lampe/H. Schwier (Hg.), Neutestamentliche Grenzgänge, Göttingen 2010, 228–247, veröffentlicht, nachdem er von einer theologischen Zeitschrift mit der wohlwollenden Bitte abgelehnt worden war, ihn im eigenen Interesse nie zu veröffentlichen. Daraufhin arbeitete ich diese Gedanken in dem kleinen Buch: G. Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1983, aus (= engl.: Biblical Faith. An Evolutionary Approach, London 1984/ Philadelphia 1985 = Minneapolis 2007; ital. Come cambia la fede. Una prospettiva evoluzionistica, Torino 1999; span. La fe bíblica. Una perspectiva evolucionista, Estella 2002; russ. ȻȃȻɅǼɃɋȀȺə ǺǼȇȺ ȼ ɗȼɈɅɘɐȃɈɇɇɃ ɉǼɊɋɉȿɄɌɂȼȿ, Moskau 2009.

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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Mitmenschen (K. Popper).3 Die Idee meiner Antrittsrede war: Jesus Christus ist einer solchen (selektionsprämierten) „Mutation“ vergleichbar; in seiner Verkündigung und der urchristlichen Verkündigung von ihm wurden überlieferte Traditionen und Elemente neu kombiniert. Diese kulturelle „Mutation“ begründete eine neue Lebensform und machte durch sie bisher unbekannte Lebensräume zugänglich – so wie Mutationen einmal dem Leben den Weg vom Wasser auf das Land ermöglicht und damit bisher unzugängliche Lebensräume erschlossen haben. Diese Öffnung neuer „Lebensräume“ kann wie eine „Offenbarung“ erlebt werden. Entscheidend ist, was dabei inhaltlich offenbart wurde. Das Neue bestand m.E. im Protest gegen das zweite Prinzip der Evolution: gegen das harte „Selektionsprinzip“, das die biotische Evolution ermöglicht. Bisher hat sich gelungenes Leben auf Kosten weniger gelungenen Lebens entfaltet. Die Vermehrungswahrscheinlichkeit gelungenen Lebens wurde erhöht und die Chancen des Lebens mit geringerer Fitness vermindert. In der Verkündigung Jesu und den christologischen Bildern von Jesus begegnet dagegen ein Leben, das sich für Leben einsetzt und opfert, welches keine Chance hat. In diesen Bildern wird bewusst gemacht, dass der Mensch in dieser neuen Lebensform eine Schwelle transzendiert, die über die biotische Evolution mit harter Selektion in eine kulturelle Evolution hinausführt, die durch eine weiche Selektion des Verhaltens (einschließlich der inneren Gedanken und Überzeugungen) angetrieben wird. In der neutestamentlichen Eschatologie wird dieses Überschreiten einer epochalen Schwelle in mythischen Bildern artikuliert: Eine alte Welt geht zu Ende, und mitten in der alten Welt beginnt eine neue Welt. Der Mensch ist Bürger zweier Welten, er gehört mit seinem Organismus zum „Fleisch“, wird aber so tief greifend verwandelt, dass er im „Geiste“ lebt und die Welt des „Fleisches“ verlassen kann. Er betritt eine neue Welt. Charakteristisch für diese neu erschlossene Lebenswelt ist ein Protest gegen das (harte) Selektionsprinzip: ein „antiselektiver Imperativ“, der in einem vorhergehenden „antiselektiven Indikativ“ begründet ist, nämlich auf die religiöse Erfahrung einer Verbundenheit mit allen Dingen oder auf einen „Bund“ mit allem Sein, der uns gewiss macht, dass die Wirklichkeit in ihrer Tiefe und als Ganze das Selektionsprinzip aufhebt, auch wenn wir das nicht sehen, sondern nur darauf vertrauen können. Das Verhältnis zwischen Evolution und Religion ist heute umstritten. Es gilt entweder als kontra-, ko- oder unproduktiv: Für viele ist die Evolutionstheorie ein Argument gegen den christlichen Glauben. Der Mensch müsse ————— 3 K. Popper, Die Evolution und der Baum der Erkenntnis, in: ders., Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, 283–312, S. 289: „Während also das tierische Wissen hauptsächlich dadurch wächst, dass diejenigen, die untüchtige Hypothesen haben, selbst ausgemerzt werden, läßt die wissenschaftliche Kritik oft unsere Theorien an unserer Stelle sterben; sie merzt dann unsere falschen Vorstellungen aus, ehe wir selbst ihretwegen ausgemerzt werden.“

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Biblischer Glaube und Evolution

sich als Produkt der Natur selbst konsequent „naturalistisch“ deuten, auch seine Religion. Sie wird dabei entzaubert und gilt als evolutionär kontraproduktiv: Selbst wenn sie in archaischen Zeiten eine Funktion gehabt hat, habe sie diese heute verloren und sei nur noch dysfunktional. Die meisten sehen das Verhältnis von Religion und Evolution nicht so konträr. Evolutionstheorie und Glaube liegen für sie so weit auseinander wie Kunst und Wissenschaft und stören sich wenig, weil sie sich auf Verschiedenes beziehen. Ihr Verhältnis gilt als unproduktiv. Das schließt nicht aus, dass Vertreter von Wissenschaft und Religion zur Erhaltung der Schöpfung und der Natur kooperieren und in ihrem ethischen Engagement einander respektieren.4 Diese Trennung von Naturwissenschaft und Religion enthält ein Element Wahrheit, ist aber in dieser Verallgemeinerung einseitig. Weit näher liegt m.E. die Sicht, nach der die Evolutionstheorie eine Herausforderung ist, den christlichen Glauben neu zu formulieren und die Religion als evolutionär koproduktiv zu deuten: Religion ist in dieser Sicht eine Fortsetzung der biotischen Evolution auf einer neuen Stufe der Entwicklung. Aber sie ist etwas anderes als die Wissenschaft. Wissenschaft erforscht mit kontrollierbaren Theorien, was die Welt faktisch ist. Die Religion deutet den Sinn der Welt mit Bildern und gibt eine in Riten vermittelte Antwort darauf, wie wir in ihr leben sollen und leben können. Beide beziehen sich auf dieselbe Wirklichkeit. Durch eine verschiedene Einstellung zu ihr entdecken sie in ihr verschiedene Dimensionen, die man kann aber aufeinander beziehen kann: Entweder zeichnet man naturwissenschaftliche Erkenntnisse in den biblischen Glauben als Deutungsrahmen ein – die Frage ist dann: Wie kann man die Evolution des Lebens schöpfungstheologisch interpretieren? Oder man interpretiert den biblischen Glauben in einem naturwissenschaftlichen Rahmen als einen neuen Schritt in der Evolution des Lebens und der Kultur – die Frage ist dann: Wie kann man die Religion im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen evolutionstheoretisch deuten? Dort geht man von einer Binnensicht des Glaubens aus, hier von einer Außensicht. Gehen wir von der biblischen Binnensicht aus, so kann man argumentieren: Gott hat die Materie so geschaffen, dass sie in sich die Fähigkeit zu einer Evolution zu immer höherer Organisation hat. Sie schuf im Laufe der Zeit Lebewesen mit der Fähigkeit zu Freiheit und Altruismus, ja sogar mit einem Sinn dafür, den Schöpfer der Evolution zu verehren.5 Die sieben Schöpfungstage gelten als vorwissenschaftliche Bilder, die man heute als —————

4 Vgl. das Plädoyer für eine solche Zusammenarbeit in Form literarischer Briefen an einen fundamentalistischen Baptisten aus den Südstaaten bei E.O. Wilson, The Creation. An Appeal to Save Life on Earth, New York/London 2006. 5 Vgl. Ph. Hefner. The Human Factor. Evolution, Culture, and Religion, Minneapolis 1993.

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Evolutionsphasen deuten kann. Warum sollen nicht Menschen schon vor der Entstehung der modernen Naturwissenschaft geahnt haben, dass die Welt nicht auf einmal entstanden, sondern durch eine Folge von Entstehungsakten? Was in diesen Phasen faktisch geschah, sagt die Naturwissenschaft, wie es bewertet werden soll, die Bibel. Ernesto Cardenal hat solch eine Mischung von naturwissenschaftlicher Information und religiöser Bewertung in einem seiner lateinamerikanischen Psalmen poetisch gestaltet. Nur der Anfang eines dieser Psalmen sei zitiert: 6 „Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott, Du bist groß. Du bist in Atomenergie gekleidet wie in einen Mantel. Wie auf einer Töpferscheibe hast Du aus einer Wirbelwolke kosmischen Staubes die Spiralen der Milchstraße gezogen. Unter Deinen Händen begann das Gas sich zu verdichten und zu glühen, so formtest Du die Sterne. Wie Sporen oder Samen hast Du die Planeten ausgestreut und sätest Kometen wie Blumen. ...“

Soweit gehen wir vom biblischen Glauben aus und zeichnen in ihn naturwissenschaftliche Erkenntnisse ein. Freilich ist die vorausgesetzte Binnensicht des biblischen Glaubens nicht fundamentalistisch und nimmt die Aussagen der Bibel nicht wörtlich, sondern unterscheidet hermeneutisch zwischen Aussage und Intention und Bedeutung: Erst in solch einer freien Interpretation kann der biblische Glauben zu einem Rahmen werden, in den man unser Wissen von der Welt einzeichnen kann. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Entstehung der biblischen Religion in den Rahmen einer evolutionären Weltinterpretation einzuzeichnen – wobei die menschliche Kultur als letzte Stufe eines evolutionären Prozesses aufgefasst wird. Zu beantworten ist dann die Frage: Welche Rolle hat die Religion innerhalb dieser Evolution? Soziobiologen stehen vor dem Rätsel, wie altruistische Verhaltensweisen in der menschlichen Kultur auf genetisch nicht verwandte Menschen ausgeweitet werden konnten. In der biologischen Evolution setzt sich nach der derzeit vorherrschenden Theorie altruistisches Verhalten nur durch, wenn es sich „bezahlt“ macht, d.h. wenn es die Fortpflanzungswahrscheinlichkeit der eigenen Gene erhöht.7 Biolo—————

6 E. Cardenal, Das Buch von der Liebe. Lateinamerikanische Psalmen, GTB 168, Gütersloh 1981, 130. Klassiker eines solchen Versuchs ist Teilhard de Chardin, der die Geschichte der Religion in eine teleologisch gedeutete Sicht der Gesamtevolution des Kosmos einzeichnet. 7 Was hier anhand der Ethik diskutiert wird, gilt natürlich auch für die Religion überhaupt. Auch der Gottesglaube könnte seinen Trägergruppen einen Selektionsvorteil verschafft haben, so

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gisch gesehen lohnt sich allenfalls ein Altruismus auf Gegenseitigkeit oder für genetisch Verwandten. Streng genommen gibt es in diesem Rahmen keinen echten Altruismus. Unser moralischer Sinn aber fordert Hilfe für Mitmenschen unabhängig davon, ob sie verwandt sind oder nicht. Daher kann man fragen: Hat etwa die Religion Menschen dazu gebracht, nichtverwandte Mitmenschen als „Brüder“ und „Schwestern“ zu betrachten?8 Hat sie den altruistisch Handelnden so viel Reputation in einer Gruppe verschafft, dass sich ihr Verhalten auf lange Sicht für sie dennoch lohnte? Hat sie durch Empathie, zu der uns unser Großhirn befähigt, eine Ethik ermöglicht, die auch biologisch Unangepasstes schützen will? Wenn wir im Folgenden zunächst die Evolution in den biblischen Glauben und dann den biblischen Glauben in die Evolution einzeichnen, müssen wir uns zuerst Rechenschaft darüber abgeben, was wir unter „Evolution“ und „Schöpfungsglauben“ verstehen wollen.

1) Was bedeutet „Evolution“? Die Evolutionstheorie wurde von Wissenschaftlern entwickelt, die mit der Theologie vertraut waren. Ch. Darwin hatte Theologie studiert. Er war von W. Paley (1743–1805) beeinflusst, der in der Anpassung der Lebewesen an ihre jeweilige Umwelt einen Beweis für die Existenz Gottes als Konstrukteur der Natur sah. Er war überzeugt, dass die Arten seit der Schöpfung konstant geblieben waren. Das entspricht alltäglicher Erfahrung: Lebewesen bringen ihresgleichen hervor, eine Katze immer nur Katzen. Es war kühn, als J.B. Lamarck (1744–1829) gegen den Augenschein behauptete, dass sich die Arten in einer langen Evolution entwickelt hatten. Er meinte, dass Lebewesen durch Anpassung erworbene Eigenschaften ihren Nachkommen vererbten. Die Natur übermittle ihre Lernerfolge nachfolgenden Generationen. Die Änderung der Arten wäre dann ein gerichteter Prozess.9 Erst Ch. Darwin (1809–1892) tat in seinem Buch „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ (1859) den entscheidenden Schritt, den gleichzeitig mit ihm auch A.R. Wallace machte: Er erklärte die Evolution ————— dass er sich deshalb durchsetzen konnte. Vgl. S.M. Daecke/J. Schnakenberg (Hg.), Gottesglaube – ein Selektionsvorteil?, Gütersloh 2000. 8 Vgl. R.W. Burrhoe, Religion’s Role in Human Evolution: The Missing Link between Apeman’s Selfish Genes and Civilized Altruism, in: R.W. Burrhoe, Toward a Scientific Theology, Belfast/Dublin/Ottawa 1981, 201–233. Eine hervorragende Diskussion dieses Problemfelds findet sich bei H. Meisinger, Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, NTOA 33, Fribourg/Göttingen 1996. 9 Obwohl Lamarck lange als überholt galt, gibt ihm die Epigenetik in gewisser Weise wieder Recht: Auch erworbene Eigenschaften können vererbt werden.

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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des Lebens durch Variation und Selektion. Arten entwickeln sich dadurch, dass Lebewesen durch zufällige erbliche Änderungen (Mutationen) neue Erscheinungsbilder hervorbringen. Die Änderungen fördern nicht automatisch die Anpassung an die jeweilige Umwelt. Aber einige wenige selektionsprämierte Mutationen haben einen höheren Anpassungswert als andere. Was diese zufälligen Veränderungen anging, hatte Darwin unklare Vorstellungen. Erst der Augustinermönch G. Mendel (1822–1884) lieferte durch seine Erbgesetze einen Teil der Erklärung, einen anderen Teil brachte die moderne Molekulargenetik. Heute wissen wir: Die Re-Kombination von Genen sowie kleine Fehler beim „Kopieren“ der Gene sind Grund für die Variabilität von Lebensformen, des ersten Faktors der Evolution. Den zweiten Faktor sah Darwin darin, dass die Natur aus den zufällig entstandenen Varianten analog einem menschlichen Züchter die am meisten geeigneten Varianten „auswählt“. Ihre Selektion lässt sich rein natürlich erklären ohne Annahme eines von Zwecken gesteuerten Prozesses. Darwin übertrug dabei bevölkerungstheoretische Erkenntnisse von Th.R. Malthus (1766–1834), eines ehemaligen Pfarrers, auf die Natur: Danach vermehrt sich die Bevölkerung in geometrischer Reihe (2, 4, 8, 16) sehr viel schneller als die Nahrungsmittel in arithmetischer Reihe (2, 4, 6, 8). Die Folge ist ein ständiger Kampf um die knappen Nahrungsmittel und eine Anpassung der Bevölkerungsdichte an sie durch Hungersnöte und andere Katastrophen. In diesem Kampf setzen sich die stärksten (d.h. die für den Überlebenskampf am besten geeigneten) Menschen durch. Darwin nahm analog an, dass in der Natur alle Lebewesen einen Überschuss an Nachkommen hervorbringen, die um Nahrung und Lebensraum konkurrieren. Dadurch erhalten die schlechter ausgestatteten Varianten des Lebens weniger Chancen, sich zu vermehren, werden vernichtet und sterben aus, besser angepasste Varianten setzen sich dagegen im struggle for life durch. Der Wandel der Arten geschieht durch natürliche, ungeplante Auslese hin zu Formen mit effektiverer Anpassungsleistung. Auch der Mensch hat sich aus höheren Primaten aufgrund dieser natürlichen Evolutionsgesetze entwickelt. Das von manchen Darwinisten entworfene Bild von der Natur scheint auf den ersten Blick hart und grausam zu sein. Das Fallbeil der Selektion schwebt über allen Lebewesen, wenn sie nicht die nötige fitness besitzen, um sich bzw. ihre Gene mehr als andere zu vermehren. Dabei werden freundlichere Züge der Evolution oft übersehen: Übersehen wird, dass die Natur viele Varianten des Lebens toleriert, selbst wenn sie nicht optimal angepasst sind. Sie zeigt eine Fehlerfreundlichkeit. Nur das ganz und gar Unangepasste verschwindet. Aber zwischen unangepassten Lebensformen, die aussterben, und den seltenen Durchbrüchen zu neuen Anpassungsformen halten sich viele Formen, deren Mannigfaltigkeit ein großer Reichtum des Lebens ist. Nur wenige Mutationen und

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Biblischer Glaube und Evolution

Lebensformen sind selektionsprämiert, nur wenige werden durch Selektion ausgemerzt. Die meisten sind selektionsneutral. Jedoch gibt es auch innerhalb dieser großen Variationsbreite eine „Toleranzgrenze“, die diese Mannigfaltigkeit einschränkt. Es bleibt eine grundlegende Härte. Sollte es aber undenkbar sein, dass in dieser Natur ein Lebewesen entsteht, das gegen diese Härte aufbegehrt und die „Fehlerfreundlichkeit“ der Welt zu einer Toleranz gegenüber den Fehlenden und Versagenden weiter entwickelt? Übersehen wird oft, dass Selektion nicht nur durch natürliche Selektion aufgrund vieler Faktoren wie Klima, Feinde, Mikroorganismen, Umweltgefahren geschieht, sondern auch durch sexuelle Selektion, durch „Liebe“:10 Durch sexuelle Attraktivität erhalten manche Geschlechtspartner größere Fortpflanzungschancen als andere. Konkurrenz und Leid gehören freilich auch zur sexuellen Selektion. Aber die Auswahl und Vermehrung des Positiven ist ein schnellerer und „freundlicherer“ Weg der Evolution als die Ausscheidung des Negativen. Sollte es undenkbar sein, dass einmal Lebewesen auftreten, die den Weg der „Liebe“ weiter entwickeln – nicht nur als Liebe zu dem, was im Sinne biologischer Fitness attraktiv ist, sondern auch als Liebe zu dem, was erst durch diese Liebe und Zuwendung attraktiv wird? Und ist eine Liebe zum Verlorenen und Schwachen von vornherein undenkbar? Übersehen wird oft, dass es neben dem „egoistischen Gen“ auch das „kooperative Gen“ gibt.11 Wir finden in der Natur nicht nur den struggle for life, sondern auch eine Kooperation auf allen Ebenen – nicht nur bei der sexuellen Verbindung und Vermehrung, sondern auf vielen Ebenen. Eine „Kooperation“ von Elementarteilchen ermöglicht die Vielfalt der Elemente und Stoffe. Eine Kooperation von Genen ermöglicht das Leben. Soziale Lebewesen haben erfolgreich Kooperationsformen ausgebaut. Vor allem die Erforschung des Verhaltens von Primaten hat gezeigt: Es gibt schon im Tierreich soziales Verhalten: Empathie, Diplomatie und Versöhnungsbereitschaft.12 Neben der Konkurrenz spielt in der Evolution die Kooperation eine wichtigere Rolle, als man oft annahm, auch wenn umstritten ist, ob wir deshalb darwinistische Grundannahmen revidieren müssen. Kooperation kann sich auf lange Sicht nur durchsetzen, sofern sie selektionsprämiert das Überleben sichert. Aber ist es undenkbar, dass der Mensch diese Kooperation weiter entwickelt und selbst Konkurrenz durch Fairnessregeln in eine Form erfolgreicher Kooperation umwandelt? —————

10 G. Hüther, Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 1999. 11 J. Bauer, Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus, Hamburg 2008. 12 Vgl. die Veröffentlichungen von F. de Waal, u.a.: Primates and Philosophers: How Morality Evolved, Princeton/Oxford 2006 = Primaten und Philosophen: Wie die Evolution die Moral hervorbrachte, München 2008.

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Dennoch bleibt eine fundamentale Härte: Es gibt Varianten des Lebens, die sich wegen mangelnder Fitness nicht erhalten können. Das Gesamtsystem der Natur lässt Entwicklungen immer wieder scheitern. Dazu kommt, dass Katastrophen der Evolution hin und wieder eine Wende gegeben haben. Hier waren es nicht Grundstrukturen der Natur, die Grenzen setzen und Leben vernichtet haben, sondern blinde Zufälle, die von außen in funktionierende Systeme einbrachen: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge. So könnten die Saurier aufgrund einer großen Katastrophe ausgestorben sein.

2) Was ist „Schöpfungsglaube“? Nun zur zweiten Frage: Was ist Schöpfungsglaube? Wenn wir unter Schöpfungsglauben den Glauben daran verstehen, dass die Welt in sieben Tagen entstanden ist, wie der „Kreationismus“ in wörtlicher Auslegung der Bibel behauptet, gibt es keine Vereinbarkeit zwischen Schöpfungsglauben und Evolutionslehre. Der biblische Schöpfungsbericht ist von seiner Intention her aber kein Bericht, der für ein intelligent design als naturwissenschaftliche Erklärung der Welt wirbt. Sein Sinn liegt vielmehr darin, dass er uns das Staunen darüber lehrt, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts, dass er Dankbarkeit in uns für eine dem Leben dienenden Ordnung schafft und Verantwortung dafür einschärft, dass wir als Ebenbild des Schöpfers für die Erhaltung dieser Ordnung zu sorgen haben. Diese Deutung religiöser Schöpfungsberichte auf eine Wahrnehmung der vorgefundenen Welt mit einer emotionalen und motivationalen Reaktion auf sie ist ohne weiteres mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar. In diesem Schöpfungsglauben sind mehrere religiöse Grunderfahrungen enthalten. L. Wittgenstein nennt sie in seinem Vortrag über Ethik erstens das Staunen über die Existenz der Welt, zweitens das Gefühl absoluter Sicherheit, drittens das Schuldgefühl, das ich ein Bewusstsein der Verantwortung nennen würde (da es nicht nur in einem Bewusstsein der gescheiterten Verantwortung besteht) und dem ich als vierte Grunderfahrung Resonanzerfahrung als Reaktion auf die überwältigende Ordnung in der uns umgebenden Wirklichkeit an die Seite stellen möchte.13 Zunächst besteht Schöpfungsglaube in der religiösen Grunderfahrung: Es ist nicht selbstverständlich, dass überhaupt etwas existiert. Überall, wo das bewusst wird, berührt unser Bewusstsein das Sein Gottes. Über Gott kann man nur eine einzige unbildliche Aussage machen: Er ist das „Sein selbst“ ————— 13

Vgl. L. Wittgenstein: Vortrag über Ethik, in: L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. J. Schulte, stw 770, Frankfurt a.M. 1989, 9–19, bes. S. 14–19.

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(P. Tillich).14 Die Kontingenz aller Dinge wird anschaulich im Bild vom Schöpfer zum Ausdruck gebracht, der alles ex nihilo geschaffen hat. In diesem Bild wird im „Sein selbst“ zwischen der Welt und ihrem Schöpfer unterschieden. In aller Kontingenz wird eine Macht, die aus dem Nichts schafft, erfahren. Das ist eine bildliche Redeweise. Sie ist unvermeidlich, denn man kann mit ihr eine dreifache Unterscheidung zum Ausdruck bringen: Erstens die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem: Das Sein geht in keinem einzelnen Seienden auf. Das ist die so genannte ontologische Differenz. Zweitens die Unterscheidung zwischen dem, was wir erkennen können, und dem, was sich unserem Erkennen entzieht. Das ist die epistemische Differenz zwischen Sein und Erscheinung. Drittens die Unterscheidung zwischen Sein und Wert: „Und siehe, alles war gut“, lautet der Refrain im biblischen Schöpfungsbericht. Wertungen schreiben wir Personen zu. Daher kann man die Differenzierung des „Sein selbst“ in einen Schöpfer und die geschaffene Welt als bildliche Formulierung dafür verstehen, dass es in der religiösen Grunderfahrung nicht nur um das „Sein selbst“ als ein geheimnisvolles Faktum geht, sondern auch darum, es mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Kräften als etwas Wertvolles zu bejahen. Es ist nicht nur alles kontingent, sondern es ist auch gut, dass es existiert. Darin zeigt sich eine axiologische Differenz zwischen Sein und Wert. Die Erfahrung der Kontingenz alles Seins geht solchen Überlegungen voraus. Der Glaube an Gott als Schöpfer ist der bildliche Ausdruck dieser Erfahrung. Die Erfahrung der Kontingenz des Seins kann die Grundlage für ein unbedingtes Geborgenheitsgefühl geben. Sie schließt uns mit allen Dingen zusammen – mögen sie Jahrmillionen entfernt oder vergangen oder zukünftig sein: Alles ist kontingent und dadurch ist alles mit der eigenen Existenz verbunden. Wir sind vereint mit allen Kreaturen, partizipieren an demselben Sein wie jedes Elementarteilchen, jede Mikrobe, jede Galaxie und das ganze Universum. Man kann diese Geborgenheit als „Kreaturgefühl“ erfahren, durch die wir in alles eingebettet sind, aber es bleibt nicht dabei. Komplementär gibt es eine in Spannung dazu stehende dritte religiöse Grunderfahrung. Diese dritte religiöse Erfahrung hebt uns aus allen Dingen heraus. Die alles durchdringende Kontingenz umschließt nicht nur die Tatsache, dass wir kontingent existieren, sondern auch, dass wir kontingent handeln. Unser Handeln geschieht nicht notwendig so, wie wir faktisch handeln. Wir könnten auch anders handeln und könnten auch nicht handeln. Darin stoßen wir auf unsere Freiheit: So wenig notwendig, wie die ganze Welt existiert, so ————— 14

Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie 1, Stuttgart 1956, 273–280; Th. Rensch, Gott. Grundthemen Philosophie, Berlin/New York 2005.

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wenig notwendig ist es, dass wir uns so und nicht anders verhalten. Sofern der Mensch alle Dinge als Ausdruck einer creatio ex nihilo erfährt, erfährt er sich in diesem Freiheitsbewusstsein als „Entsprechung“ zu der Macht, die aus dem Nichts schafft. Man kann dabei einen starken und einen schwachen Begriff von Freiheit zur Erfassung dieses Phänomens benutzen: Der starke Begriff von Freiheit besteht in der Fähigkeit, eine Kausalkette aus dem Nichts beginnen zu lassen. So übermächtig das Universum ist und so sehr der Mensch in ihm verschwindet, so sehr wird er durch dieses Verantwortungsbewusstsein über alles erhoben. In ihm spiegelt sich jene Macht, die aus dem Nichts schafft. Der Mensch ist ihr Ebenbild. Wenn man diesen starken Begriff von Freiheit ablehnt, weil man den Menschen für determiniert hält, bleibt ein schwacher Begriff von Freiheit: Alle Dinge erleben wir als kontingent und ebenso unser Handeln; denn wir können uns immer vorstellen, es könnte auch anders sein. In der Kontingenz unseres Handelns spiegelt sich dann die Kontingenz der ganzen Welt – und wahrscheinlich sind wir die einzigen der uns bekannten Lebewesen, die zu diesem Kontingenzbewusstsein gelangt sind. Eine vierte religiöse Grunderfahrung nenne ich „Resonanzerfahrung“:15 Daseinsbejahung, Geborgenheit und Freiheit, die in den ersten drei religiösen Erfahrungen begründet sind, setzen voraus, dass sich der Mensch in einer geordneten Welt vorfindet, die seine Existenz ermöglicht hat und in Zukunft weiterhin ermöglichen wird. Der Mensch erfährt die Wirklichkeit nicht als Chaos, sondern als Ordnung: als Ausdruck einer überwältigenden Vernunft, von der seine eigene Vernunft ein schwaches Echo ist – trotz aller Verlorenheit in einem unermesslichen Universum. Er erfährt alles Leben als tief verwandt – trotz des unerbittlichen struggle for life, in dem sich Leben mit Leben entzweit. Er erfährt durch Mitmenschen Geborgenheit – trotz aller Barbarei, die das Zusammenleben zur Hölle machen kann. Immer sind es Erfahrungen von Entsprechungen zwischen uns und der umgebenden Wirklichkeit, die wir emotional mit großer Intensität erfahren. Alle Entsprechungsstrukturen und Entsprechungserlebnisse werden für das „Sein selbst“ freilich erst dann transparent, wenn wir sie als kontingent erfahren, emotional intensiv auf sie (z.B. mit Dankbarkeit oder Trotz) reagieren und uns durch sie verpflichtet fühlen. Wir können nicht aus dem periodischen System der Elemente oder aus dem Lebenswillen in allem Leben oder aus der mitmenschlichen Liebe „Gott“ erkennen, wohl aber erfahren wir etwas von ihm, wenn wir die Ordnung der Natur, das Leben und unsere Mitmenschen als kontingent erleben und dafür dankbar sind: Sie sind da, und könnten ebenso auch nicht oder anders sein. Dann rühren wir an das Wunder, ————— 15

G. Theissen, Argumente für einen kritischen Glauben, München 1978 31988.

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dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Intensiv erlebte Kontingenz ist das Zeichen Gottes in allen Dingen. Sie wird zur „Resonanzerfahrung“. Religiöse Grunderfahrungen sind nicht selbstverständlich. Sie setzen eine Einstellung voraus, in der sich die Wirklichkeit in einer Tiefendimension erschließt, an der wir im Alltag vorbei leben. Zu ihre gibt es viele Gegenprogramme im Leben und in der Gesellschaft: Nicht Staunen, Dankbarkeit und Verantwortung bestimmen unser Leben, sondern Tendenzen zur Gleichgültigkeit, Trägheit und egoistischen Ausnutzung aller Dinge. Menschen sind oft in die Bewältigung des Lebens so sehr verstrickt, dass sie sich nicht für die umgreifende Wirklichkeit öffnen können, auf die ihr Leben antworten soll. Der Mensch lebt getrennt vom Grund der Dinge. Die religiöse Tradition nennt das Sünde: Entfremdung und Trennung von Gott. Unsere Frage ist nun: Wie lässt sich solch ein Schöpfungsglauben, der die Bibel hermeneutisch und nicht fundamentalistisch versteht, mit unseren Erkenntnissen über die Evolution der Wirklichkeit verbinden? Lässt sich die Evolutionslehre in diesen Schöpfungsglauben einzeichnen? Lässt sich umgekehrt der biblische Glaube in die Evolution einzeichnen? Wir skizzieren nacheinander beide Versuche – auch wenn es dabei zu Wiederholungen und Überschneidungen kommt.

3) Schöpfung als Deutungsrahmen der Evolution Es mag auf den ersten Blick schwer sein, die Inhalte der Evolutionslehre, also Ergebnisse eines langen Forschungsprozesses, in den Schöpfungsglauben einzuzeichnen. Leichter lässt sich das für den Prozess des Forschens und Erkennens tun. Kontingenz, Freiheit, Ordnung und Resonanz, also verschiedene Aspekte des Schöpfungsglaubens, sind Bedingungen der Möglichkeit naturwissenschaftlichen Forschens. Sie werden im wissenschaftlichen Forschen vorausgesetzt, sind aber nicht ihr Gegenstand. Kontingenz ist eine Voraussetzung der Wissenschaft: Das Wissen um die Kontingenz der Welt motiviert empirische Forschung. In der Natur könnte alles anders sein. Bildlich gesprochen heißt das: Gott könnte sie anders gewollt haben.16 Daraus folgt: Kein apriorischer Gedanke kann ihre Ordnung vorwegnehmen; sie kann nur a posteriori nachkonstruiert werden. Der Schöpfungsglaube hat insofern den empirischen Blick auf die Wirklichkeit gefordert und gefördert. Sogar die experimentelle Vorgehensweise konver—————

16 Hinsichtlich der Kontingenz der Schöpfung widerspricht die biblische Tradition der antiken Kosmosfrömmigkeit. Diese wollte das Sosein der Welt als notwendig erkennen, Juden und Griechen aber führten es auf den unbegründbaren Willen Gottes zurück. Vgl. A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, 9–13.

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giert mit ihm: Wenn Gott als „Techniker“ die Welt geschaffen hat, kann man sie am besten durch Nachkonstruktion erkennen – so wie man das Werk eines Töpfers besser versteht, wenn man selbst töpfert. Historisch gesehen, könnten aber auch apokalyptische Endzeiterwartungen eine große Rolle bei der Hinwendung zur empirischen Natur gespielt haben: Man musste die Zeichen der Zeit in der Natur erkennen, wenn man das Ende erwartete – und konnte sich nicht allein mit der Auslegung der Schriften begnügen.17 Obwohl die Kontingenz aller Dinge in der empirischen Forschung vorausgesetzt wird, wird sie nie zu ihrem Gegenstand. Es gibt kein Experiment, in dem wir kontingentes und nicht-kontingentes Sein vergleichen können. Freiheit ist eine zweite Voraussetzung der Wissenschaft: Wer nach Wahrheit sucht, geht davon aus, dass seine Aussagen und Ergebnisse nicht vollständig durch die Vergangenheit determiniert sind. Wären sie das, so würde Erkennen bedeuten, darauf zu warten, zu welchen Feststellungen Forscher determiniert werden. Jeder Streit um die Wahrheit wäre nutzlos. Wir müssten nicht um die Geltung von Argumenten mit Gründen streiten, sondern könnten im Grunde darauf warten, welche Kausalfaktoren sich in unserem Argumentieren durchsetzen. Obwohl Freiheit die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Forschens ist, wird sie selbst nicht zum Gegenstand der Forschung. Bisher konnte sie weder empirisch nachgewiesen noch empirisch widerlegt werden. Eine dritte Voraussetzung jeder Wissenschaft ist eine in der Wirklichkeit vorausgesetzte Ordnung. In einer chaotischen Welt wäre keine Erkenntnis möglich. Auch diese Erkennbarkeit der Welt ist eine Voraussetzung, von der wir in jeder Forschung ausgehen. Dazu gehört, dass sich die Welt regelmäßig verhält, so dass die Gesetze von heute auch morgen gelten und wiederholte Messungen unter gleichen Bedingungen zum selben Ergebnis führen. Wir setzen dabei die mathematische Beschreibbarkeit der Welt voraus – und fragen nur noch danach, welche Mathematik den Prozessen und Strukturen der Welt am besten entspricht. Diese in aller Forschung vorausgesetzte Ordnung wird als Ganze nie Gegenstand empirischer Forschung. Es gibt kein Experiment, in dem wir ein Stück Realität ohne Mathematik mit einer mathematisch strukturierten Realität vergleichen könnten. Eine vierte Voraussetzung wissenschaftlichen Erkennens ist eine Resonanz zwischen Subjekt und Objekt, die eine Entsprechung zwischen unserer —————

17 So die These von J. Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft, München 2001. Zustimmend U. Lüke, Religion durch Evolution und/oder Evolution durch Religion?, in: U. Lüke u.a. (Hg.), Darwin und Gott, Darmstadt 2004, 89–104, dort S. 95–98.

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Erkenntnis und der Wirklichkeit nahe legt, die wir nie werden nachweisen können: Wir vertrauen beim Erkennen darauf, dass zwischen Subjekt und Objekt eine so große Verbundenheit besteht, dass wir mit kognitiven Konstruktionen, die wir aus unserem Inneren heraus entwickeln, die Wirklichkeit so erfassen, als wären wir von außen durch sie informiert. Obwohl wir nicht einmal die Realität der Außenwelt beweisen können, setzt sie sich in Gestalt eines kritischen Realismus immer wieder gegen alle Skepsis durch: Was wir erkennen, kann kein subjektiver Traum sein, wenn es sich extrasubjektiv (gegen Erwartungen und Wünsche) von außen her aufdrängt und von anderen Menschen (trotz ihrer Verschiedenheit) intersubjektiv bestätigt wird. Diese Verbundenheit zwischen Subjekt und Objekt ist verschieden tief begründet: Da unsere Umwelt und unser Organismus derselben Realität angehören, wird es zwischen ihnen Übereinstimmungen geben, die nicht erst im Laufe der Evolution entstanden sind, sondern in ihrem Verlauf nur bewusst geworden sind. Sie gelten für alle möglichen Welten. Kategorien wie Vielheit und Einheit, Kausalität und Substanz gehören dazu. Was im Menschen als subjektiver Geist erwacht ist, ist Teil objektiver Strukturen, welche die Wirklichkeit bestimmen. Davon zu unterscheiden sind Übereinstimmungen, die durch evolutionäre Anpassung unseres Organismus an die Welt entstanden und inzwischen genetisch fundiert sind, aber nur in dieser faktisch existierenden Welt gelten. Hier gelten sie universal, aber sie gelten nicht für alle möglichen Welten. Zu solchen Anpassungsstrukturen gehören unsere Wahrnehmungsstrukturen oder unsere (allgemeine) Sprachfähigkeit. Wir können uns durchaus vorstellen, dass es Lebewesen gibt, die etwa ultraviolettes Licht, magnetische Felder oder radioaktive Strahlen sehen können. Unsere Wahrnehmungsstrukturen ermöglichen das nicht. Schließlich gibt es kulturell erworbene Anpassungsstrukturen, die wir als Bewohner einer Kultur als etwas ganz und gar Selbstverständliches erleben, deren Kontingenz uns aber sehr wohl bewusst ist. Dazu gehört die konkrete Muttersprache, in der sich eine allgemeine Sprachfähigkeit konkretisiert hat, oder die Religion, in der sich eine allgemeine Religiosität verdichtet hat. Wir wissen, dass wir ebenso gut eine andere Sprache oder eine andere Religion als „Muttersprache“ haben könnten, ohne dass unser genetischer Kode ein anderer sein müsste. Diese Voraussetzungen des Forschens und Erkennens: Kontingenzbewusstsein, Erkennbarkeit der Welt, Freiheits- und Resonanzbewusstsein, bleiben in der konkreten Forschung im Hintergrund, können aber immer wieder im Erleben der Forscher und in ihrer Reflexion „eingeschaltet“ werden. Sie zeigen sich im Prozess des Forschens, auch wenn sie nicht dessen Gegenstand sind, sondern dessen Voraussetzung. Nur manchmal leuchten sie im Bewusstsein auf.

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Der relative Frieden zwischen Religion und Naturwissenschaft ist darin begründet, dass sie verschiedene Fragen stellen: Die Naturwissenschaft fragt nach dem Faktischen, die Religion nach Sinn und Wert. Die Naturwissenschaften geben ihre Antworten in einer mathematischen Sprache, die Religion in bildlicher Sprache. Aber es gibt Berührungspunkte: Religion bezieht sich auf das Ganze der Wirklichkeit und nimmt es als Schöpfung wahr. Sie schließt in diese Schöpfung die von der Naturwissenschaft erkannte Natur ein. Die Naturwissenschaft wiederum hat Voraussetzungen – wie die Kontingenz und Erkennbarkeit der Welt, die Freiheit des Menschen und seine Resonanzverbundenheit mit dem Sein –, die auch Gegenstand religiösen Staunens und religiöser Verpflichtung sind. Trotz verschiedener Fragestellungen und unterschiedlicher Sprachsysteme können daher Naturwissenschaft und Religion in einen Dialog treten. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf eine naturwissenschaftliche Theorie, die mehr ist als eine Teiltheorie unter anderen: die Evolutionstheorie. Sie ist ihrem Ursprung nach eine biologische Theorie, wurde jedoch ausgeweitet: In die Vergangenheit zurück wurde die materielle Evolution in sie einbezogen, in der die Voraussetzungen der biotischen Evolution (z.B. die Kohlenstoffverbindungen) entstanden. Eine andere Ausweitung fand in Richtung „nach vorne“ statt. Die Geschichte des Menschen wurde als neue Phase der Evolution nach einer biotischen Phase gedeutet. Das Spiel von Mutation und Selektion wurde in der kulturellen Phase als Fortschritt durch trial and error wiederentdeckt. Die Blindheit der Prozesse wird hier zunehmend von menschlichen Intentionen durchzogen, ohne dass menschliche Intentionen diese Prozesse vollständig steuern. Eine umfassende Evolutionstheorie, welche alle drei Phasen, also die materielle, biotische und kulturelle, umfasst, lockt viele mit der Verheißung, dass wir in ihren Rahmen all unser Wissen einzeichnen könnten. Jedoch sei gerade deshalb betont: Nur im Rahmen der Biologie ist die Evolutionstheorie eine streng wissenschaftliche Theorie. Wird sie auf das Ganze der Wirklichkeit ausgeweitet, rückt sie schnell in die Rolle eines „Mythos“ oder einer „großen Erzählung“ (J.F. Lyotard). Sie transzendiert die Grenzen der strengen Wissenschaft, wenn sie dem Menschen seinen Platz im All anweist und seinem Leben einen Sinn geben will. Dann tritt sie in Konkurrenz zu religiösen und philosophischen Weltentwürfen, auch wenn sie als wissenschaftliche Theorie keine Sinn gebende Kraft hat. Auch in ihrer Ausweitung auf die kosmische und kulturelle Evolution will sie ja nur „erzählen“, was faktisch geschehen ist oder geschehen könnte. Sie sagt auch in ihrer expandierten Form nicht, warum das alles sinnvoll ist. Im Gegenteil, es scheint oft so, als destruiere sie in dieser Form erst recht menschliche Sinngebungen. Aber selbst, wenn wir uns auf die Evolutionstheorie im strikt biologischen Sinn beschränken, muss sie die traditionelle Theologie erschüttern:

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1) Die Evolutionstheorie entthront den Menschen. Er verliert seine Mittelpunktstelle als Krönung der Schöpfung. Er stammt nicht direkt von Gott, sondern von höheren Primaten ab. Möglicherweise ist er nur ein Übergang. An die Stelle der Gottebenbildlichkeit tritt die „Affenebenbildlichkeit“ des Menschen. 2) Sie entzaubert die Schöpfung: Hinter der Anpassung der Arten an die Umwelt steht kein zweckmäßiges Handeln, sondern Zufall und Notwendigkeit. Ihr Zusammenspiel erklärt die Zunahme von Organisation und Komplexität des Lebens. Die Evolutionslehre deutet die Welt ohne Teleologie (d.h. ohne Ausrichtung auf einen Zweck oder einen Sinn), erklärt aber zugleich den Schein solch einer Teleologie. 3) Sie untergräbt die Ethik. In der Natur setzt sich das Lebenstüchtigere ohne Rücksicht auf schwächere Lebensvarianten durch. Mitmenschlichkeit scheint eine Illusion im struggle for life zu sein. Der „Sozialdarwinismus“, der Darwins Intentionen widersprach, diente zur Rechtfertigung von Rassenpolitik und lebt in manchen radikalen Ideologien des freien Marktes weiter. 4) Die Evolutionstheorie erklärt die Welt ohne Gott. Zwar versucht man immer wieder, unerklärte Räume für das Eingreifen Gottes zu reservieren, z.B. die Entstehung des ersten Lebens oder des Menschen. Aber diese Räume verschwinden. Wir können immer besser erklären, was unerklärbar schien. Biologie und Naturwissenschaft zwingen uns, neu über Gottes Handeln und seine Präsenz in der Welt nachzudenken. Wegen dieser Erschütterung traditioneller theologischer Überzeugungen ist es kein Wunder, dass der Kampf gegen die Evolutionstheorie zu einem zentralen Anliegen des Fundamentalismus (besonders in den Südstaaten der USA) wurde. Der so genannte „Kreationismus“ insistiert auf einem wörtlichen Verständnis des Schöpfungsberichts: Alle Arten seien ursprünglich geschaffen, die Welt sei relativ jung und die Erde durch eine weltweite Sintflut geformt. Der Kreationismus versucht, diese biblischen Vorgaben als eine wissenschaftliche Rahmentheorie zu vertreten und durch Gesetz in der Schule verpflichtend zu machen. 1925 wurde in diesem Zusammenhang der Biologielehrer J.T. Scopes, der die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich vertreten hatte, im „ersten Affenprozess“ in Tennessee verurteilt. Insgesamt setzte sich aber der Laizismus durch, der die Schule vom Einfluss religiöser Lehren frei halten will. Als 1981 dennoch in Arkansas der Kreationismus erneut durch Gesetz in den Schulen eingeführt wurde, wurde dieses Gesetz im so genannten „zweiten Affenprozess“ 1982 aufgehoben. Ein vergleichbarer Gesetzesentwurf in Louisiana scheiterte 1987 vor dem Obersten Gerichtshof der USA. Dabei traten vor Gericht viele Theologen für die Evolutionslehre ein. Die katholische Kirche hatte schon 1950 in der

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Enzyklika Humani Generis die Evolutionstheorie bejaht, damals noch mit Vorbehalten, die später wegfielen. In den großen protestantischen Kirchen war es mehrheitlich selbstverständlich, naturwissenschaftliche Ergebnisse zu akzeptieren. Wir gehen nun im Folgenden die oben genannten vier Punkte durch, die in diesem Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie eine Rolle spielen. Der Mensch – nicht mehr Mittelpunkt und Krönung der Schöpfung? Am 30. Juni 1860 fragte der Bischof S. Wilberforce18 in einer Diskussion in der British Association for the Advancement of Science in Oxford Th. Huxley, einen eifrigen Verfechter der Evolutionslehre, ob er lieber großväterlicher- oder großmütterlicherseits vom Affen abstammen wolle, woraufhin dieser antwortete, er wolle lieber von Affen abstammen als von einem so beschränkten Bischof. Die (in ihrer Historizität in Einzelheiten umstrittene) Anekdote zeigt: Für viele reduzierte sich die Evolutionslehre darauf, dass der Mensch vom Affen abstammt. Zum evolutionären Menschenbild gehört aber neben (1) dieser Abstammungstheorie (2) die Relativierung der Sonderstellung des Menschen überhaupt und (3) die Auffassung seiner Existenz als ein Übergang. Was sagt die Theologie zu diesen drei Aspekten des evolutionären Menschenbilds? Wie zeichnet sie diese Erkenntnisse in ihren Schöpfungsglauben ein? Im Blick auf die Abstammungstheorie erklärten Theologen (z.B. J.H. Newman) schon früh, zustimmen zu können. Die Verwandtschaft aller Geschöpfe kann sogar ein Grund tiefen religiösen Erlebens sein. In allen Lebewesen lebt und leidet etwas von uns. Wir haben dieselben Gene wie sie. In der „Ehrfurcht vor dem Leben“ (A. Schweitzer) wird diese Verwandtschaft allen Lebens zu einer Resonanzerfahrung, die den Menschen verändert: Ich bin Leben inmitten von Leben, das auch leben will. Und: Ich bin verpflichtet, Leben zu fördern – trotz der tiefen Entzweiung des Lebens mit sich selbst.19 Hier fällt es uns nicht schwer, ein Verbundenheitsbewusstsein mit allen Dingen „einzuschalten“ und auf konkrete Realitäten zu be————— 18 S. Wilberforce (1804–1873) war der dritte Sohn des Bischofs W. Wilberforce (1759–1833), der sich unermüdlich für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt hat. Wenn wir bei dem Sohn eine ähnliche Haltung voraussetzen können, würde das zeigen, wie progressive und reaktionäre Elemente sich in denselben Menschen verbinden. Die Achtung vor der Würde des Menschen lässt die Mitglieder derselben Familie gegen die Sklaverei rebellieren, die anderen gegen die Abstammung des Menschen vom Affen. 19 A. Schweitzer hat diese Ehrfurcht vor dem Leben als Grundlage einer Deutung des Lebens wie einer Ethik immer wieder reflektiert, besonders beeindruckend in einigen Predigten. Vgl. A. Schweitzer, Straßburger Predigten über die Ehrfurcht vor dem Leben, in: Ges. Werke I, München o.J., 117–134.

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ziehen. Den biblischen Schöpfungsbericht kann man als bildlichen Ausdruck dieser Verbundenheit lesen. Er sagt, dass alles Sein denselben Ursprung hat. Er enthält auch eine Ahnung davon, dass Welt und Leben schrittweise entstanden sind. Prinzipiell ist im Rahmen des Schöpfungsberichts eine Evolution des Lebens denkbar, wenn man ihn nicht wortwörtlich nimmt: Warum sollte Gott nicht die Möglichkeiten des Lebens wenigen Formen oder nur einer einzigen mitgegeben haben, damit sich alle daraus entwickeln? Nicht dass der Mensch vom Affen abstammt, ist eigentlich das Problem, sondern dass er Produkt von Zufall und Notwendigkeit ist. Doch hat der Mensch auch nach naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Grund, über seine Existenz zu staunen. Das so genannte „anthropische Prinzip“ sagt (in seiner weichen Fassung), dass der Kosmos in unwahrscheinlicher Weise gerade so und nicht anders beschaffen ist, so dass er Leben und Menschen hervorbringen konnte. Wären einige Grunddaten geringfügig anders, wäre Leben unmöglich. Seine härtere (ganz unwahrscheinliche) Fassung sagt sogar, dass der Kosmos Leben und Menschen hervorbringen musste. Das anthropische Prinzip ist aber (in seiner weichen Form) kein Beweis dafür, dass der Mensch im Kosmos gewollt ist. Aber es kann die Welt transparent für etwas anderes machen, wenn wir dabei das Erleben von Kontingenz einschalten. Wir können ein in diesem Kontingenzbewusstsein enthaltenes Verbundenheitsgefühl aktivieren: Die Welt ist uns nicht völlig fremd, wenn sie in ihren Grundstrukturen so beschaffen ist, dass wir möglich sind. Freilich zielt das anthropische Prinzip (in welcher Fassung auch immer) auf alles Leben, nicht speziell auf den Menschen. Daher müssen wir fragen: Hat der Mensch überhaupt eine Sonderstellung im Reich des Lebendigen? Diese Sonderstellung des Menschen wurde durch Biologie und Evolutionslehre relativiert. Experimente zeigen, dass auch Tiere Selbstbewusstsein haben! Auch sie können Traditionen bilden, Werkzeuge gebrauchen und sind zu sozialem Verhalten fähig. Vorformen von Sprache finden wir u.a. auch bei den Walen! Alle vermeintlichen Merkmale des Menschen wurden bei den Primaten entdeckt, selbst Diplomatie, Versöhnlichkeit und Selbstbewusstsein. Es scheint nur graduelle Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu geben. Wie wir schon sahen, kann diese Einbettung des Menschen in die Natur auch Quelle religiöser Verwandtschaftserlebnisse mit allen Kreaturen sein. Aber sie lässt darüber hinaus noch klarer das hervortreten, was nur beim Menschen vorkommt. Das Besondere des Menschen liegt nicht nur darin, dass er unwahrscheinlich viele Fähigkeiten kombinieren kann, sondern neben diesem kombinatorischen Gebrauch im rekursiven Gebrauch seiner kulturellen Mittel: Er macht Werkzeuge, um Werkzeuge herzustellen, erfindet Traditionen, um Traditionen zu sichern, handelt altruistisch, um (durch Gesetze und Institu-

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tionen) den Altruismus möglich zu machen; er entwickelt eine Sprache, um über Sprache zu sprechen, ein Bewusstsein seines Selbstbewusstseins, macht Erfahrungen mit seiner Erfahrung und entwickelt Normen dafür, wie er mit Normen umgehen soll. Zu diesen auf sich selbst bezogenen Akten gehört auch die Religion. Der Mensch verpflichtet sich durch religiöse Akte auf eine Normativität, die rekursiv auf Normen bezogen sind: Das „Heilige“ ist die Verpflichtung, das, was immer als Norm erkannt wurde, zu beachten und zu respektieren.20 Das „Heilige“ ermöglicht, mit dem Bruch aller Normen umzugehen. Der Mensch bezieht sich in der Religion auf eine Erfahrung, die auf alle Erfahrungen bezogen sind (wie die Erfahrung von Kontingenz). Er ordnet sich in eine Umwelt ein, die Umwelt aller möglichen Umwelten ist. Noch hinter der größten und komplexesten Umwelt, die er erkennt, ahnt der Mensch ein Totaliter Aliter.21 Der Mensch ist auf dieses Totaliter Aliter der Transzendenz bezogen. Sein Selbstbezug und Weltbezug unterscheidet ihn nur durch Komplexität von den Tieren, sein Transzendenzbezug aber ist prinzipiell etwas Neues. Im Schöpfungsglauben ist ja nicht nur ein tiefes Verbundenheitsbewusstsein enthalten, sondern auch eine Trennung von allen Dingen: Der Mensch ist sich der Kontingenz seiner Handlungen bewusst und weiß, sie könnten auch anders sein. Darin ist er Ebenbild des (kontingenten) Seins überhaupt. Der biblische Mythos hat etwas Richtiges gesehen, wenn er in der Ebenbildlichkeit des Menschen seine Sonderstellung sieht. Nach der Bibel bedeutet diese Ebenbildlichkeit, dass er Verantwortung für die Schöpfung hat – heute auch dadurch, dass der Faden der Evolution in seiner Hand liegt. Er ist für die Weiterentwicklung der Tiere, Pflanzen und sogar seiner selbst mit verantwortlich, auch wenn das eine oft unheimliche Perspektive ist. Der alttestamentliche Schöpfungsbericht sieht im Menschen freilich das letzte Schöpfungswerk. Die Welt scheint mit ihm abgeschlossen zu sein. In der Evolution aber kann der Mensch nicht das letzte Stadium sein. Sie ist unabgeschlossen. Dass der Mensch nur ein Übergang zu etwas Neuem ist, ist freilich kein Widerspruch zum biblischen Glauben insgesamt. Im Gegenteil, gerade die Bibel sagt in ihren jüngeren Schichten, vor allem aber im Neuen Testament: Der Mensch lebt an der Schnittstelle zweier Welten. Er hat die Schwelle zu einer neuen Welt schon überschritten, ist aber als biologisches Lebewesen der alten Welt verhaftet. Teilhard de Chardin (1881– —————

20 Vgl. die Definition des Heiligen in: W. Windelband, Das Heilige, in: C. Colpe, Die Diskussion um das ‚Heilige‘, WdF 305, Darmstadt 1977, 29–56. 21 U. Lüke, Religion durch Evolution und/oder Evolution durch Religion?, 91, schlägt ein Doppelkriterium zur Bestimmung des Menschen im Unterschied zu seinen Artverwandten vor: „Das Ichbewusstsein ist als notwendige Bedingung und die Religiosität ergänzend dazu als hinreichende Bedingung anzusehen.“

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1955)22 konnte daher, durch Bibel und Evolutionslehre inspiriert, eine Vision von einer kosmischen Gesamtentwicklung entwerfen, in der die Christen Vorhut einer neuen Welt sind. Der evolutionäre Prozess führe von der Kosmogenese über die Bio- zur Noogenese, d.h. zur Verwandlung aller Dinge in den Geist Gottes. Seine weltbejahende Interpretation des christlichen Glaubens übte auf viele eine starke Faszination aus. Die Grenze der evolutionären Weltdeutung Teilhard de Chardins bestand jedoch darin, dass er die Gesamtentwicklung des Kosmos teleologisch deutete. Sie strebt ein Ziel an. Die Evolutionslehre lässt dagegen keine Finalursachen zu. Damit kommen wir zum zweiten Punkt. Die entzauberte Welt – ohne teleologischen Sinn? Der größte Stachel der Evolutionslehre ist, dass das Leben zum Produkt des Zufalls wird. Sollte ausgerechnet der Zufall die zweckmäßige Konstruktion der Organismen erklären können? Aber Zufallsereignisse bilden nur den einen Faktor in der Evolution. Dass es zu immer komplexeren Anpassungen des Organismus an die Umwelt kommt, geht auf den zweiten Faktor, die Selektion, zurück. „Die Lösung von Darwins Paradox ist, dass die Auslese selbst den Zufall in Plan verwandelt“ (E. Mayr).23 Will man die Welt nicht nur als sinnloses Spiel betrachten, muss man auf diesen zweiten Faktor der Evolution blicken. Alle Lebensformen basieren auf Anpassungsleistungen an eine äußere Realität. Das ist äußere Selektion. Ihre Baupläne lassen jedoch nicht jede Weiterentwicklung zur Optimierung ihrer Anpassung an die Umwelt zu. Selbst wenn es für Nashörner günstig wäre, Flügel zu entwickeln, werden sie aufgrund ihrer inneren Konstruktion keine Flügel entwickeln können. Neben der äußeren wirkt hier eine Art „innerer“ Selektion (wenn es erlaubt ist, diesen Begriff ungeschützt zu verwenden). Beim Menschen hat die Evolution sogar ein Lebewesen mit Großhirn und Vernunft hervorgebracht. Das Großhirn produziert wahrscheinlich einige Strukturen, die spontan den Strukturen jeder möglichen Wirklichkeit entsprechen. Sofern es aber durch äußere Selektion entwickelt wurde, muss es objektiven Strukturen unserer Realität entsprechen. Wenn es zur Rationalität fähig ist, so deshalb, weil die objektive Wirklichkeit, an die es angepasst wurde, voll Rationalität ist. In der Tat, je länger wir mit unserem Großhirn die Wirklichkeit erforschen, umso mehr werden wir von deren Rationalität überwältigt, angesichts derer unsere subjektive Vernunft nur ein schwacher Ab————— 22 23

T. de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1959. E. Mayr, Evolution und die Vielfalt des Lebens, Heidelberg 1979, 33.

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glanz ist (A. Einstein).24 Nun spielt bei der Entwicklung des Großhirns (und d.h. des Menschen) auch „innere Selektion“ eine Rolle. Was wir erkennen, ist an die Konstruktionsprinzipien unseres Gehirns angepasst. Wir erkennen die Welt nicht an sich, sondern so, wie sie den Möglichkeiten unseres Gehirns entspricht und wie wir sie mit unserem Großhirn verarbeiten können. Wir können auch nicht alle beliebigen Wirklichkeiten konstruieren. Hier stoßen wir auf einen erstaunlichen Sachverhalt: Wenn wir mit unserer Vernunft apriorisch mathematische Formeln entwickeln, ohne die objektive Wirklichkeit im Blick zu haben, stellen wir oft fest: Diese Formeln sind geeignet, a posteriori die Natur zu beschreiben. Wir produzieren aus uns heraus eine mathematische Sprache – und entdecken, dass auch die Natur in dieser Sprache verfasst ist! Es ist, als hätte man die Regeln eines Spiels mehr oder weniger willkürlich festgesetzt und stellt dann fest, dass auch die Natur nach denselben Regeln spielt. Diese Übereinstimmung lässt sich nicht durch biologisch bedingte Anpassung erklären. Die höhere Mathematik hat nicht zum Überleben des Organismus beigetragen (J. Polkinghorne).25 Wir erleben sie ja auch nicht nur als Anpassung an die faktische Umwelt, sondern sind überzeugt, dass unsere Mathematik und Logik in allen möglichen Welten gilt. Wir sind damit durch Evolution in einen Raum eingetreten, der die biotische Evolution transzendiert. Neben der unwahrscheinlichen anthropischen Passung des Universums auf den Menschen hin erfahren wir hier eine „epistemische“ Passung des Menschen auf das Universum hin: Wir können die Welt erkennen. Auch wenn wir die Wirklichkeit im Erkennen nicht abbilden, sondern konstruieren, haben unsere Konstruktionen doch Erkenntniswert. Wir entdecken in der Wirklichkeit eine Ordnung, die uns verwandt ist. In einzelnen Erfahrungen kann diese Ordnung uns so nahe wie das Du eines anderen Menschen kommen (W. Hei—————

24 A. Einstein, Mein Weltbild, hg. von C. Seelig, Zürich 1963, 21f: „Sie werden schwerlich einen tiefer schürfenden wissenschaftlichen Geist finden, dem nicht eine eigentümliche Religiosität eigen ist. Diese Religiosität unterscheidet sich aber von derjenigen des nativen Menschen. Letzterem ist Gott ein Wesen, von dessen Sorgfalt man hofft, dessen Strafen man fürchtet – ein sublimiertes Gefühlt von der Art der Beziehung des Kindes zum Vater – ein Wesen, zu dem man gewissermaßen in einer persönlichen Beziehung steht, so respektvoll diese auch sein mag. Der Forscher aber ist von der Kausalität alles Geschehens durchdrungen. Die Zukunft ist ihm nicht minder notwendig und bestimmt wie die Vergangenheit. Das Moralische ist ihm keine göttliche, sondern eine rein menschliche Angelegenheit. Seine Religiosität liegt im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist. Dies Gefühl ist das Leitmotiv seines Lebens und Strebens, insoweit dieses sich über die Knechtschaft selbstischen Wünschens erheben kann. Unzweifelhaft ist dies Gefühl nahe verwandt demjenigen, das die religiöse schöpferischen Naturen aller Zeit erfüllt hat.“ 25 J. Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaften. Eine Einführung, Gütersloh 2001 = Science and Religion, London 1998.

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senberg).26 Diente das vermeintlich sinnlose Spiel des Zufalls in der Evolution also nur dazu, diesen überwältigenden Sinn im Gesamtsystem der Wirklichkeit zu entdecken? Diente die ganze Evolution der Lebewesen dazu, dass einmal Menschen entstanden, die über diese Evolution nachdenken und sie erkennen können und in ihr eine letztgültige Wirklichkeit am Werk sehen? Doch rechtfertigt das den grausamen struggle for life? Bleibt er nicht moralisch abstoßend – gerade für ein Lebewesen, das sich aufgrund seines Großhirns in andere einfühlen und die Perspektive anderer übernehmen kann? Der Kampf um Lebenschancen und die Entdeckung der Moral Für Menschen mit humaner Sensibilität ist der Verteilungskampf zwischen den Lebewesen eine schwere Anfechtung: Dass die großen die kleinen Fische fressen, dass die kleinen darum konkurrieren, wer am besten dem Gefressenwerden entrinnt, und die großen darum, wer die kleinen am effektivsten frisst – das widerspricht dem, was wir unter Menschen moralisch wollen. Der Sozialdarwinismus wollte aus der Feststellung, dass im biologischen Kampf ums Dasein der am meisten Geeignete siegt, eine Norm machen: Auch unter Menschen solle es so zugehen. Das ist als unzulässiger Rückschluss von Fakten auf Normen leicht durchschaubar! Es ist ein naturalistic fallacy. Doch scheinen viele Beobachtungen zu bestätigen, dass in der Welt in der Tat das Recht des Stärkeren gilt. Ist das christliche und humanistische Ethos der Nächstenliebe in ihr deshalb eine Selbsttäuschung? Ist sie ein Versuch der Unterlegenen, die Stärkeren an die Kette innerer Gewissensbisse zu legen? Ist sie ein Sklavenaufstand in der Moral? Verfälscht das Mitleid die Gesetze der Natur? Schon F. Nietzsche hat scharfsinnig gesehen, dass das Christentum ein Gegenprinzip gegen die Selektion ist.27 Er hat Recht: Biblisches Ethos und biblischer Gottesglaube sind antiselektionistisch oder antiselektiv. Freilich muss man auch die Gegenrechnung machen: Die Schöpfung ist von vornherein auf Kooperation angelegt. Es entsteht in ihr nichts Komple—————

26 Vgl. W. Heisenberg. Der Teil und das Ganze, dtv 903, München 1973, 253: Er wird gefragt: „Glaubst du eigentlich an einen persönlichen Gott?“ Und er antwortet: „ ‚Darf ich die Frage auch anders formulieren?‘ ... ‚Dann würde sie lauten; Kannst du oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ha nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, mit ihr so unmittelbar in Verbindung treten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist? ... Wenn du so fragst, würde ich mit ja antworten‘.“ 27 F. Nietzsche, Der Antichrist § 7, in: F. Nietzsche, Werke, hg. v. G. Cocci und M. Montinari, Berlin 1969: „Das Mitleiden kreuzt im grossen ganzen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergang reif ist.“

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xes und Differenziertes ohne die Zusammenarbeit vieler Moleküle, Gene und Organismen. Bei den Primaten und anderen sozialen Lebewesen finden wir eine Protomoral, die der Mensch in seinem prosozialen Verhalten fortführt.28 Mag sich diese Protomoral nur als Altruismus aufgrund von Verwandtschaftsselektion und reziprokem Altruismus erhalten können, so kann der Mensch eben diesen Altruismus auf Fremde ausdehnen, die mit ihm nicht verwandt sind und von denen er keine Gegenleistung erwarten kann. Die Reputation aufgrund altruistischen Verhaltens ist gewiss eine ideelle „Belohnung“, aber keine Garantie dafür, dass er selbst in Not altruistisch behandelt wird. Aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten und seiner Einstellungen kann er zweifellos jeden Menschen als „Verwandten“ erleben. Ist also in der Schöpfung neben der Härte des Daseinskampfes vielleicht doch eine „Güte“ eingebaut? Kann das biblische Ethos wie jedes menschliche Ethos auch an diese Güte anknüpfen? Muss der Mensch sich nicht entscheiden, welchen Tendenzen er folgen will, die in der Schöpfung angelegt sind? Man könnte unsere Situation in der Natur so deuten: Sie legt uns zwei Möglichkeiten vor: den Weg von Konkurrenz und Kampf auf der einen, den Weg von Zusammenarbeit und Liebe auf der anderen Seite. Menschen entwickeln viele Mischformen der Moral, in denen beides enthalten ist. Diese Mischformen balancieren Selbstbehauptung, Nächstenorientierung, Gruppensolidarität aus. So sind wir im Laufe der Geschichte zu einem immer größeren Individualismus gelangt, in dem sich der Einzelne von seiner Gruppe abgrenzen und selbständig handeln kann, und gleichzeitig zu einer immer intensiveren Kooperation mit erstaunlicher Effizient. Aber auch die Möglichkeiten gegenseitiger Abwertung und Vernichtung wurden immer destruktiver. Der Gott der Bibel repräsentiert in bildlicher Form die Grundbedingungen, die das Leben ermöglichen und an denen Menschen scheitern, wenn sie ihnen nicht entsprechen. Er vereint Güte und Strenge. Er ist der jenseitige und ewige Gott, der Leben gibt, angesichts dessen Menschen ihre Vergänglichkeit umso härter spüren (Ps 90). Er ist der gerechte Gott, der dem Menschen durch Gebote den Weg zum Leben zeigt, aber ein hartes Gericht ausübt, wenn er ihn verfehlt – im Alten Testament als immanentes Gericht durch geschichtliche Katastrophen, im Neuen Testament als transzendentes —————

28 Vgl. T. Kazen, Emotions in Biblical Law: A Cognitive Science Approach to Some Moral and Ritual Issues in Pentateuchal Legal Collections, Sheffield 2011; ders. Moralische Emotionen in der Jesusüberlieferung. Ein psycho-biologischer Beitrag zum Verhältnis von Selbsterhaltung und Nächstenorientierung, erscheint in EvTh 2011. Kazen verweist z.B. auf das Experiment von Cords und Thurnbeer, das zeigt, wie die Versöhnungsbereitschaft bei Primaten durch Lernen gefördert wird: Langschwanzige Makaken mussten lernen zu kooperieren, um an Futter zu gelangen; bei ihnen verdoppelte sich das Versöhnungsverhalten nach Konflikten. Als Kooperationspartner waren die Artgenossen wertvoller geworden.

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Gericht, in dem jeder Mensch über sein Leben Rechenschaft ablegen muss. Man kann diese biblischen Gerichtsvorstellungen als Symbolisierungen des ungeheuren Selektionsdrucks deuten, der das menschliche Leben herausfordert und bedroht. Der Selektionsdruck wird in diesen Symbolen „moralisiert“: Verfehlungen bilden den Grund für das Scheitern und Gelingen der Menschen. Aber das biblische Gottesverständnis symbolisiert auch das Scheitern des Menschen an einer Endlichkeit, die man dem Menschen nicht als Schuld zuschreiben kann. Die Bibel entwickelt die Auffassung vom „leidenden Gerechten“, der schuldlos leidet. Gerade das Gottesverständnis verändert sich nun in der Bibel, und zwar sowohl innerhalb des Alten Testaments als auch im Neuen Testament: Der Gott des Gerichts wird zum Gott der Gnade – wobei das immer wieder wie ein Aufstrahlen seiner ursprünglichen Güte gedeutet wird. Er erwählt das Volk Israel, das verfolgt und bedroht ist – nicht weil es stark und überlegen ist, sondern aufgrund seiner grundlosen Liebe. Er sucht das Verlorene, das keine Lebenschancen hat. Er gibt dem Sünder eine Chance zur Umkehr, weil er nicht den Tod des Gottlosen will sondern sein Leben. Er spricht im Gericht den Sünder aufgrund von Gnade frei. Der harte (moralische und physische) Selektionsdruck verwandelt sich in Barmherzigkeit und Liebe. Wenn das Erleben der Gesamtrealität sich in den Gottesbildern vom „verborgenen Gott“, dem deus absconditus niederschlägt, so ist die einhellige Botschaft der Bibel: Diese Wirklichkeit wird zwar als hart und grausam erfahren, aber verwandelt sich überraschenderweise in Gnade und Barmherzigkeit, wenn man sich ihrem Grund und Schöpfer von ganzem Herzen und von ganzer Seele anvertraut. Dabei bricht etwas von der ursprünglichen Güte der Schöpfung durch. In einem der großartigsten Texte der Bibel wird dieser Wandel als eine Umkehr in Gott selbst dargestellt. Gott ruft seinem Volk, das nicht umkehren will, zu: „Wie kann ich dich preisgeben, Ephraim, und dich ausliefern, Israel? ... Mein Herz ist umgekehrt, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn noch Ephraim wieder verderben. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren.“ (Hos 11,8–9)

Dieser Gott müsste eigentlich vernichten, aber er verändert sich durch Umkehr in seinem Inneren und will retten. Ist das ein Wandel in Gott? Oder ein Wandel in seiner Wahrnehmung? Oder ist es beides: eine Veränderung der Wahrnehmung Gottes durch eine vertiefte Beziehungsaufnahme zu ihm?

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Das biblische Ethos entspricht diesem Gott der Gnade und Barmherzigkeit. Sein Ebenbild soll so handeln wie dieser Gott. Wenn Gott etwas ganz Neues mit dieser Schöpfung begonnen hat, so ist auch der Mensch dazu bestimmt, ganz Neues anzufangen. Und das gilt auch für die Moral: Der Mensch wird verpflichtet, die Schwachen zu schonen, das Verlorene zu suchen, Gott in den Geringsten auf Erden zu erkennen: in den Hungernden, Durstigen, Nackten, Unbehausten, Kranken und Gefangenen. Manchmal wird dabei auch tief verwurzelten Einstellungen und Tendenzen des Menschen widersprochen. In der biologischen Evolution ist Aggression gegen genetisch Nicht-Verwandten mit Solidarität gegenüber genetisch Verwandten oft verbunden. Diese Kombination von Verhaltensmustern ist eine der Mischformen von Moral, die sich bewährt und hohen Überlebenswert haben. Die Bibel aber entwickelt ein extremes Ethos, in dem auf der einen Seite die Liebe zu den Feinden (Lk 6,27) und auf der anderen Seite der Hass der nächsten Verwandten gefordert wird (Lk 14,26). Sie erzählt von einem Volk, das von Vernichtung bedroht war und trotzdem überlebte. Sie zeugt von Jesus von Nazaret, der gekreuzigt wurde und dennoch Grundlage neuen Lebens wurde. Ist das ein Sklavenaufstand in der Moral? Oder kommt darin das heimliche Programm aller menschlichen Kultur zum Ausdruck. So wie es einmal dem Leben gelang, das Entropiegesetz partiell zu unterlaufen, indem es gegen dieses Gesetz eine sich steigernde Komplexität von Lebensformen hervorbrachte, so ist es auch der kulturellen Evolution in vielen Anläufen gelungen, das Selektionsprinzip zu unterlaufen: Es wird in der Kultur durch die weiche Selektion von Gedanken und Verhaltensweisen ersetzt. Ihre Grundmaxime ist: Es ist besser, Hypothesen sterben zu lassen als Menschen (K. Popper). Es ist besser, umzukehren als zu sterben. Es ist besser, einen symbolischen Tod zu sterben als den realen Tod (Röm, 6,1–11)! Die Wirklichkeit, an die sich alle Lebewesen durch harte Selektion anpassen müssen, erweist sich auf einer fortgeschrittenen Stufe der Evolution als Wirklichkeit, die nicht den Tod des Sünders will: Gott will, dass der Sünder umkehre und lebe (Ez 33,11). Anpassung an diese letztgültige Wirklichkeit heißt nicht, Überlegenheit gegenüber anderen entwickeln, um im Lebenskampf zu überleben, sondern Liebe gegenüber den Schwachen zu üben, die keine Überlebenschancen haben. Wir sind zwar als biotische Lebewesen vor den Gesetzen der biotischen Evolution unterworfen, aber wir haben als Menschen einen Schritt über diese Evolutionsphase hinaus getan und vollziehen jeder in sich selbst den Übergang zu einer neuen Phase – als Umkehr, Wiedergeburt, Erneuerung und Erleuchtung jedes einzelnen Menschen. Eben das ist nach der Bibel eine Erneuerung der ursprünglichen Schöpfung: in ihr kommt zur Vollendung, was von Anfang an angelegt war: Das Licht der Schöpfung leuchtet auf – mitten in der Zeit (2Kor 4,6). Die Ebenbildlichkeit

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des Menschen wird realisiert – am Ende der Zeit (1Kor 15,49). Der Mensch kann mitten im Leben etwas Neues anfangen wie sein Schöpfer. Wenn Gott die letzte Wirklichkeit ist oder bildlich gesprochen hinter ihr als Schöpfer steht, handelt er aber dann nicht widersprüchlich: zuerst durch Selektion in der biotischen Evolution, dann durch Überwindung von Selektion in der kulturellen Evolution? Deshalb sei noch einmal daran erinnert: Schon in der biotischen Evolution steht neben der natürlichen Selektion durch Feinde, Krankheit und Tötung eine sexuelle Selektion: Blumen bekämpfen einander nicht, aber sie konkurrieren um Lebenschancen, indem einige mehr Insekten anziehen als andere. Der Mensch aber kann solch eine Bindungsfähigkeit ausbauen: Durch Evolution der Liebe (G. Hüther)29 kann er sogar Bindung zu dem entwickeln, was nicht attraktiv ist, weil gerade das bedürftige Leben seine Hilfe braucht. Er knüpft damit an eine Protomoral an, die schon in der Natur vorgebildet ist, aber die er durch Identifikation mit anderem Leben weiter entwickeln kann. Niemals wird dabei die Anpassungsforderung an eine letzte Wirklichkeit suspendiert, auch nicht der Selektionsdruck, wohl aber wird die harte Selektion durch Tod durch eine weiche Selektion ersetzt (oder befristet „ausgesetzt“) – durch eine Selektion der Gedanken, der Einstellungen und Handlungsmuster. Aggressive Konkurrenz wird durch solidarische Hilfe ausgeglichen. Diese Hilfe ist nicht ohne Vorbilder und Vorläufer in der Natur; denn die Natur kennt Kooperation von den Molekülen bis hin zu den höheren Lebewesen. Ich bin überzeugt, der Mensch ist von Natur aus dazu bestimmt, als Freigelassener der Natur diese Tendenzen der Natur weiterzuführen und über sie hinauszugehen. Doch konkurriert dieser freigelassene Mensch nicht mit Gott, wenn er selbst die Evolution weiter treibt? Wie sollen wir uns Gottes Handeln vorstellen? Die Welt der Evolutionstheorie – eine Welt ohne Gott als Schöpfer? Wenn man naturwissenschaftliche Welterklärungen mit theologischen Weltdeutungen ins Gespräch bringen will, besteht die erste Möglichkeit darin, die naturwissenschaftlichen Ergebnisse religiös zu deuten (was den Vorwurf provoziert, dass man sie nur wiederholt und ihnen eine religiöse Färbung gibt). Aber noch einmal sei betont: Die Naturwissenschaft beschränkt sich asketisch aufs Erkennen und klammert die emotionale und motivationale Bedeutung des Erkannten aus. Dessen religiöse Deutung hat daher ein Proprium: Sie arbeitet die menschliche Bedeutung des Erkannten ————— 29

G. Hüther, Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen, Göttingen 1999.

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heraus! Ein kosmo-religiöses Staunen über die Ordnung in der Natur lässt über das wissenschaftlich Zugängliche hinaus eine tiefere Dimension ahnen: Es schafft Verständnis für die traditionelle Sprache der Religion, für Lob und Dank des Schöpfers. Vor allem aber verleiht es der Welt eine Transparenz für Transzendenz! Daher geht es hier vor allem um die zweite Möglichkeit, traditionelle theologische Aussagen über Transzendenz so zu formulieren, dass sie mit den Naturwissenschaften nicht in Spannung stehen – ohne dabei die Lücken des Nichtwissens auszunutzen, die sich unserem jeweiligen Erkenntnisstand bieten. Wir müssen nach etwas suchen, das unbezweifelbar existiert und in jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis vorausgesetzt wird und sich ihr doch prinzipiell entzieht. Solche Transzendenz gibt es mitten im Leben. Wir erleben eine Schöpfung aus dem Nichts in jedem Augenblick, wenn die Zukunft, die noch nicht ist, in die Gegenwart tritt, um sofort im Nichts der Vergangenheit zu versinken. „Sein“ ist ein Übergang von Noch-nicht-Sein zum Nicht-mehr-Sein. Alles, was wir wissenschaftlich erkennen, ist im strengen Sinne nicht mehr. Denn jede Signalwirkung, die von einem Ereignis ausgeht und unser Beobachten und Erkennen erreicht, geschieht in endlicher Geschwindigkeit, ihre Grenze ist die Lichtgeschwindigkeit. Wir sehen daher nicht nur am Himmel das Licht verloschener Sterne. Sondern grundsätzlich gilt: Jede Beobachtung, jedes Sinnesdatum erreicht nie die strenge Gegenwart, sondern ist deren zeitverschobene Auswirkung in der Vergangenheit. Wir erfahren wissenschaftlich immer nur Spuren der Vergangenheit und mögen sie der Gegenwart noch so nah sein. Wenn Gott alles Sein jeden Augenblick (bildlich gesprochen) neu erschafft, so ist dieses Geschehen grundsätzlich nicht für naturwissenschaftliches Beobachten und Erkennen zugänglich, weil sich die strenge Gegenwart der Naturwissenschaft entzieht (U. Lüke)30. Solch eine Schöpfung aus dem Nichts ist nicht mit dem viel diskutierten „big bang“ am Anfang des (jetzigen?) Universums identisch, sie ist das Einwirken Gottes auf alles Seiende in jedem Augenblick, quer zu jeder Zeit. Der Glaube hat hier seinen Ursprungsort. In seinem Lichte kann man dann sekundär die ganze Welt buchstabieren und in dem, was andere als Faktum feststellen, Gott ahnen, ihn loben und in Antwort auf seinen Ruf leben. Das gilt auch für das Wunder der Evolution: Dass wir Kinder eines Universums sind, das in unwahrscheinlicher Weise auf uns hin geschaffen ist, und wir in unwahrscheinlicher Weise auf es hin, sollte uns mit Dankbarkeit erfüllen. Die Härten in dieser Wirklichkeit aber sollten wir als Aufforderung verstehen, sie durch Ethik zu überwinden oder zu mildern – im Vertrauen darauf, dass man das Ganze bejahen könnte, ————— 30

U. Lüke, „Als Anfang schuf Gott ...“ Bio-Theologie: Zeit – Evolution – Hominisation, Paderborn 1997.

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wenn man den menschlichen Protest gegen diese Härte unauslöschlich ins Ganze einschreibt. Ich meine, man kann das, was wir über die Evolution wissen, in den Rahmen eines Schöpfungsglaubens einzeichnen. Dieser Schöpfungsglauben ist keine naturwissenschaftliche Metatheorie, die alle anderen Theorien umfasst und die man mit einem naturwissenschaftlichen Forschungsprogramm wie Aminosäuren oder Nuklearteilchen erforschen könnte. Was Schöpfung ist, wird vielmehr in einer wertenden Einstellung zu derselben Wirklichkeit entdeckt, die in der Naturwissenschaft wertfrei erforscht wird. Sie ist kein Gegenstand naturwissenschaftlichen Erkennens, sondern die Kontingenz aller Dinge, die in naturwissenschaftlichem Erkennen vorausgesetzt wird und im religiösen Erleben entdeckt und bejaht wird. Der Glaube an die Weisheit und Kontingenz der Natur hat in einer kosmo-religiösen Frömmigkeit bis heute überlebt. Diese Frömmigkeit wird von Theologen oft unterschätzt und häufig sogar unfair abgewertet. Man kann gegen sie einwenden, dass in ihr naturwissenschaftliche Erkenntnisse oft nur wiederholt und emotional überhöht werden. Aber das beleuchtet eine Leistung des Mythos, die in der Naturwissenschaft verloren geht: Wir können uns mit all unserem Wissen keinen sinnvollen Platz im Universum zuweisen, keinen Ort, der uns emotional befriedigt. Naturwissenschaft beschränkt sich asketisch auf das, was der Fall ist. Sie blendet aus, was wert- oder sinnvoll sein könnte. Wir können daher heute die Natur zwar weit besser erkennen als die Verfasser des biblischen Schöpfungsberichts. Aber wir können naturwissenschaftlich nicht jenen Satz formulieren, der den biblischen Schöpfungsbericht als Refrain durchzieht: „Und Gott sah, dass es gut war!“ Nicht einmal seine säkularisierte Abwandlung: „Wir sahen, dass es gut war!“ wäre ein naturwissenschaftlicher Satz. Er wäre ein Bekenntnis. Nachdem wir die Evolutionslehre in einen (kritisch interpretierten) Schöpfungsglauben eingezeichnet haben, versuchen wir nun den anderen Weg und zeichnen den biblischen Glauben in die Evolutionslehre ein. Dabei wird der biblische Glaube selbst noch einmal der Religionskritik ausgesetzt.

4) Die Evolution als Deutungsrahmen der Religion Lässt sich die Religion im Rahmen der Evolutionstheorie deuten? Dazu liegen verschiedene Entwürfe vor: 31 In der Soziobiologie wird der Glaube ————— 31

S.M. Daecke/J. Schnakenberg (Hg.), Gottesglaube – ein Selektionsvorteil? Gütersloh 2000; U. Lüke u.a. (Hg.), Darwin und Gott, Darmstadt 2004.

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an Gott entweder als eine Vorstellung gedeutet, die ihren Anhängern einen Selektionsvorteil brachte, so dass er sich mit ihnen ausgebreitet hat. Dabei kann man den Glauben als wohltätige Illusion betrachten, die unter aufgeklärten Menschen überwunden ist. Man kann ihr aber auch einen adaptiven Charakter zusprechen.32 Alles Leben muss sich an seine Umwelt „anpassen“. Als weltoffenes Lebewesen hat der Mensch die Tendenz, sich nicht nur an seine begrenzte Umwelt anzupassen, sondern an die Wirklichkeit, die er hinter allen begrenzten Umwelten ahnt und die er manchmal in außernormalen Erfahrungen erlebt. Wenn sich alle Dinge von den chemischen Verbindungen bis zu unserem Großhirn an die Grundbedingungen unserer Realität anpassen müssen, dann ist Gott die letzte Wirklichkeit, an die sich alles anpassen muss.33 Er ist das „Umgreifende“ hinter allem, das alles umgreift (K. Jaspers).34 Trotz aller Skepsis gegen umfassende Theorien, kann man sagen: Alles Sein steht unter der Herausforderung, den Grundbedingungen der Realität und ihres Gesamtsystems zu entsprechen. Sonst würde es nicht existieren. In der Religion wird in einigen entwickelten Lebewesen diese Aufgabe und Herausforderung bewusst. Auch wenn der Gesamtprozess der Dinge kein Ziel hat, so ist damit doch eine Aufgabe gegeben, die der Mensch als sein Ziel definieren kann: die Entsprechung zur letztgültigen Wirklichkeit. Wo immer sie erreicht zu sein scheint, ist das innere „Ziel“ der Welt erreicht. Es ist das Programm des Lebens, das mit der Tatsache des Lebens gegeben ist. Man kann aber der Religion auch unabhängig von solch einem adaptiven Wert in der Gesamtrealität eine soziale Funktion in der Gesellschaft zuschreiben: Sie verschafft Gruppen einen Überlebensvorteil durch elementare Leistungen, auf die jede Gemeinschaft angewiesen ist. Sie begründet Autorität, sichert Wahrheit durch Eid, bewältigt unheilvolles Schicksal und verpflichtet zur Gegenseitigkeit von Gabe und Gegengabe (W. Burkert).35 Ferner kann man die religiösen Vorstellungen, mit denen die Religion diese Funktion ausübt, evolutionspsychologisch erklären: In der Religion werden Menschen mit ihrer ganz normalen, allgemeinen kognitiven Ausstattung —————

32 Eine neutrale soziobiologische Deutung der Religion, die ihr durchaus einen Wahrheitswert zusprechen kann, ist: E. Voland/C. Söling, Die biologische Basis der Religiosität in Instinkten – Beiträge zu einer evolutionären Religionstheorie, in: U. Lüke u.a. (Hg.), Darwin und Gott, 47–65. 33 Vgl. G. Theißen, Evolutionäre Religionstheorie und biblische Hermeneutik, WzM 37 (1985), 107–118. 34 K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1961. 35 W. Burkert, Kulte des Altertums: Biologische Grundlagen der Religion, München 1998. Vgl. dazu G. Theissen, Theory of Primitive Christian Religion and New Testament Theology. An evolutionary essay, in: The Nature of New Testament Theology, ed. Ch. Rowland/Ch. Tuckett, Oxford 2006, 207–230 = Theorie der urchristlichen Religion und Theologie des Neuen Testaments. Ein evolutionärer Versuch, in: Andreas Wagner (Hg.), Primäre und sekundäre Religion, BZAW 364, Berlin/New York 2006, 227–248.

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produktiv. Sie verbreiten religiöse Ideen und Praktiken, die durch ihren kontraintuitiven Charakter auffallen, dadurch Aufmerksamkeit auf sich ziehen und besonders dann im Gedächtnis gespeichert werden, wenn sie mit intuitiven Ideen verbunden sind (P. Boyer).36 Das ist nur ein Sonderfall der allgemeinen Regel: Was vom Normalen abweicht, fällt auf; was wir mit unserem Gesamtwissen verbinden können, integrieren wir in unser Wissen. Manche wollen mit solchen evolutionären Theorien die Religion als Illusion entlarven. Aber aus der Genesis einer Vorstellung kann man nicht auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit schließen. Das wäre ein entstehungsgeschichtlicher Fehlschluss (genetic fallacy) – ausgenommen die Fälle, wo eine bestimmte Annahme über ihre Entstehung von vornherein zu einer umstrittenen Vorstellung gehört. Eine Analogie mag das illustrieren: Die Religion könnte in ihrem „Nutzwert“ der erotischen Verliebtheit vergleichbar sein. Die Erkenntnis, dass Eros zur Erhaltung unserer Art beiträgt, ist auch ohne soziobiologische Theorien einleuchtend. Über Wahrheit und Unwahrheit dessen, was die Augen der Verliebten wahrnehmen, sagt sie nichts. Vielleicht nehmen sie Aspekte der Welt wahr, über die andere zu Unrecht hinwegsehen. Religion ist ein solcher „Eros zum Sein“, in der uns etwas in der Tiefe der Wirklichkeit aufgeht, was wir sonst nicht wahrnehmen. In der Religion sehen die „Augen des Herzens“ (Eph 1,18) mit Kategorien, die in unserem Gehirn tief verwurzelt und evolutionär fundiert sind. Entscheidend ist: Sie sehen etwas; und sie sehen es aufgrund einer inneren Verwandlung des Menschen, vergleichbar der Verwandlung, die wir am intensivsten in der Liebe erfahren. Ein deutscher Wissenschaftler antwortete einmal auf die Frage, was ihm Gott bedeute, zunächst im Sinne einer wohlwollenden funktionalistischen Religionstheorie: Gott sei für ihn „eine Hypothese, die auch dann mehr positive als negative Auswirkungen auf die Lebenden hat, wenn sie falsch ist.“ Doch dann fügte er hinzu: „Die Liebe ist eine Ahnung von dem, was sein könnte, wenn die Hypothese richtig ist“ (H.M. Kepplinger).37 Auch wenn Theorien zur Entstehung von Religion über deren Wahrheit oder Unwahrheit letztlich nicht entscheiden, sind sie für eine Klarheit über den Stellenwert der Religion unverzichtbar; denn zweifellos enthält die Religion dezidierte Annahmen über ihre eigene Entstehung, wenn sie ihre Vorstellungen auf Offenbarung zurückführt. Es spricht aber gleichzeitig viel für die evolutionstheoretische Deutung der Religion, wonach sie deshalb so verbreitet ist, weil sie für das Überleben von Menschen und Gruppen funktional war. Anders gesagt: Menschen und Gruppen mit Religion —————

36 P. Boyer, The Naturalness of Religious Ideas. A Cognitive Theory of Religion, Berkeley/London 1994; ders., Religion Explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought, London 2001 = Und Mensch schuf Gott, Stuttgart 2004. 37 H.M. Kepplinger, Der Fragebogen, Forschung & Lehre 3/2003, 172.

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hatten mehr Chancen, sich zu verbreiten, als andere, die keine Religion entwickelt hatten.38 Die kognitive Religionswissenschaft modifiziert diese Grundannahme durch folgenden Gedanken: Homo sapiens hat vor allem mit kognitiven Strukturen sein Überleben gesichert, die unter anderem auch in der Religion aktiv sind. Die kognitive Religionswissenschaft sucht dabei nicht nur nach direkten Überlebensvorteilen von Organismen durch Religion, sondern auch nach Überlebensvorteilen religiöser Vorstellungen und Riten in Konkurrenz mit anderen Vorstellungen und Riten. Einige müssen aufgrund intrinsischer Merkmalen attraktiver gewesen sein und haben sich mehr eingeprägt als andere. Auch hier ist der evolutionspsychologische Hintergrund unverkennbar. Noch einmal sei daran erinnert: In der Evolutionstheorie unterscheiden wir zwei Formen von Selektion – die „natürliche“ Selektion durch Anpassung an die Umwelt im struggle for life, bei der viele Faktoren wie Klima, Aggression und Krankheiten eine eliminierende Rolle spielen. In der „sexuellen“ Selektion spielt dagegen nicht nur der Adaptionswert an Umweltfaktoren, sondern der Attraktionswert für andere Lebewesen der eigenen Art die zentrale Rolle. Als evolutionspsychologisches Modell, das die Verbreitung religiöser Vorstellungen erklären soll, dient oft die sexuelle Selektion durch Attraktivität. Bestimmte Vorstellungen müssen attraktive Merkmale gehabt haben, damit sie so stark Anklang gefunden haben. Sie müssen dabei nicht unmittelbar zum Überleben beitragen. Im Gegenteil: Der Schwanz eines Pfaus kann sexuell attraktiv sein, auch wenn er bei Verteidigung und Flucht dysfunktional ist. Ebenso gibt es in der Religion Elemente wie Askese und Martyrium, die jede Überlebensorientierung leugnen, die aber das Christentum einmal attraktiv gemacht haben.39 —————

38 Wir können das theoretische Problem der „Gruppenselektion“ hier offen lassen, das oft als ein überholtes Konzept gilt. In der Kultur gibt es zweifellos einen geschichtlichen Überlebensvorteil von Gruppen mit hoher Kooperationsfähigkeit. Es vermehren sich dabei nicht nur ihre Gene, sondern sie sind durch Kooperationsfähigkeit so attraktiv für genetisch Fremde, dass sie diese zu Verwandten im genetischen Sinne machen: Sie fördern die Heiraten unter denen, die am Anfang nur kulturell „verwandt“ sind. 39 In der kognitiven Religionswissenschaft wird freilich eher mit einem dritten (epidemiologischen) Modell die Verbreitung von Ideen erklärt: Gedanken und Überzeugungen kann man als „Parasiten“ betrachten, die sich in einem Gastorganismus verbreiten und auf andere überspringen. Viele Parasiten helfen dem Gastorganismus, nur wenige schädigen ihn. Religiöse Vorstellungen werden dabei oft als schädigende „Parasiten“ betrachtet. So D.C. Dennett, Den Bann brechen, Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt a.M./Leipzig 2008. Mathematische Regeln, moralische Normen, ästhetische Empfindungen – all das wären aber ebenfalls Parasiten. Ist das, was unser Gehirn „infiziert“, nicht anders zu beurteilen als Viren, die sich in unserem Körper ausbreiten? Der menschlich sympathische D.C. Dennett antwortete mir einmal auf meine Frage, worin sich denn religiöse von mathematischen „Viren“ unterscheiden: Bei den mathematischen können wir zwischen richtig und falsch klar unterscheiden. Aber bei ethischen und ästhetischen Vorstellungen geht das nicht. Sind sie deshalb schädlich?

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Der adaptive Wert der Religion bleibt eine offene Frage.40 (1) Entweder hat Religion von vornherein einen adaptiven Wert und konnte sich deshalb universal durchsetzen oder sie ist (2) eine Exaptation, d.h. ein ehemals angepasstes Organ erhielt nachträglich eine neue Funktion, so wie die Kehle zum Stimmorgan wurde. Auch dann wäre die Religion adaptiv. Die Religion könnte aber auch (3) ein reines Epiphänomen sein, d.h. das funktionslose Nebenprodukt eines Anpassungsprozesses oder ein Relikt, das lange mit der Bewältigung des Lebens verbunden war, aber im Grunde niemals nützlich war. Schließlich könnte Religion (4) ein „Spandrel“ sein, also ein ursprünglich völlig funktionsloses Element, das erst sekundär eine Funktion erhalten hat. Manches spricht dafür, dass die Religion einen adaptiven Wert hat, weil sie sich in einer langen Evolution entwickelt hat. Religiöse Symbole und Riten müssten dann Vorinformationen über die Wirklichkeit enthalten – so wie unser Auge Vorinformationen über das Sonnenlicht enthält, bevor wir seinen adaptiven Wert erklären konnten. Die Anpassung des Auges gilt ja nur für einen mittleren Bereich, denn es nimmt weder ultrarotes noch ultraviolettes Licht wahr. Wahrscheinlich aber ist jede Religion (wie das ganze Leben) ein corpus permixtum von Adaption, Exaptation, Epiphänomenen und Spandrels. Es ist unsere Aufgabe als Religionswissenschaftler und Theologen, diese Mischung zu analysieren, aber auch weiter zu entwickeln.

Die Entstehung der Religion: Der adaptive Wert religiöser Erfahrung Zunächst ein Beispiel für den Adaptionswert der Religion im Blick auf das Überleben in einer harten Umwelt. Alle Religionen neigen dazu, die Wirklichkeit anthropomorph wahrzunehmen. Wir entdecken in Wolken Gesichter, in Berg, Stein und Baum eine Gottheit. Die physiognomische Wahrnehmung der Welt hat Überlebenswert41. Es wäre tödlich, einen Tiger für einen Stein, unschädlich dagegen, einen Stein für einen Tiger zu halten. Anthropomorphe Wahrnehmung dient so dem Überleben. Wir können mit ihrer Hilfe schneller auf gefährliche Situationen reagieren. Hier gilt die Devise „better safe than sorry.“ Wer dazu neigte, einen Tiger für einen Stein zu halten, schied als möglicher Vorfahre bald aus. Er wurde zum Opfer einer harten Selektion. Hier ist eine Misstrauensstrategie angemessen. —————

40 Vgl. C. Söling, Der Gottesinstinkt. Bausteine für eine evolutionäre Religionstheorie, Diss. Gießen 2002, 7–10 (http://geb.uni-hiessen). R. Vaas/M. Blume, Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt. Die Evolution der Religiosität, Stuttgart 2009. 41 Vgl. St.E. Guthrie, Faces in the Clouds. A New Theory of Religion, New York/Oxford 1993, 2 1995. Ders., Animal Animism: Evolutionary Roots of Religious Cognition, in: I. Pyssiäinen/V. Anttonen, Current Approaches in the Cognitive Science of Religion, London/New York 2002, 38– 67.

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Für eine vertraute Umgebung aber haben wir eine andere Strategie – und auch sie hat einen hohen Überlebenswert: Wir sind auch für liebevolle Physiognomien sensibel. Das Gesicht von Mutter und Vater sind für das hilflose Kleinkind Auslöser tiefer Geborgenheitsgefühle. Sein Lächeln belohnt die Fürsorge der Eltern, ohne die Kinder keine Chance hätte, das Erwachsenenalter zu erreichen. Auch dieses Lächeln hat Adaptionswert. Es bindet die Eltern an das hilflose Kind. In einer vertrauten Umgebung gilt daher die Devise: Keep smiling! Freundlichkeit ruft Zuwendung hervor. Ohne solch eine „Vertrauensstrategie“ würden wir überall nur feindselige Intentionen wahrnehmen und nie aus einem inneren Alarmzustand herauskommen. Daher ist das Vertrauen, dass die guten „Geister“ mächtiger sind als die bösen, lebensnotwendig. Sowohl aversive wie attraktive physiognomische Wahrnehmungen sind daher evolutionär adaptiv. Dass man in einigen Religionstheorien nur die Furcht erregenden Auslöser im Blick hat – primus in orbe deos fecit timor (Statius, Thebais 3, 562) –, ist einseitig. Aber diese Einseitigkeit ist noch nicht überwunden, wenn man Vertrauen hervorrufende Auslöser einfach daneben stellt. Der Mensch kann vielmehr beide Formen des Erlebens in einen Ausgleich bringen. Wir müssen dazu unsere evolutionstheoretische Deutung vertiefen:42 Bei allen Lebewesen wird Verhalten durch eine begrenzte Zahl lebensspezifischer Auslöser aktiviert. Diese Signale haben die Eigenschaft, prägnant und unwahrscheinlich zu sein. Zu ihnen gehören Anzeichen, die zur Flucht bewegen, also die anthropomorphe Wahrnehmung von Feinden, ebenso aber Signale, die Vertrauen und Geborgenheit schaffen. Der Mensch ist im Unterschied zu anderen Lebewesen für alles sensibel, was in seiner Umwelt auffällt und sich von ihr abhebt‚ auch für das, was ihm weder schadet noch nützt noch überhaupt einen lebensspezifischen Zweck hat. Er staunt über Steine, Berge, Bäume, Mond und Sterne. All das hat er als Erscheinung numinoser Wesen verehrt.43 Bei anderen Lebewesen lösen dagegen nur bestimmte Signale aggressives oder evasives Verhalten aus. Sie —————

42 Die folgenden Überlegungen gehen zurück auf: G. Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand? München 1978, 23–29. Die Ambivalenz des Heiligen habe ich für den biblischen Bereich genauer dargestellt in: G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 164–188. Mit diesen Überlegungen knüpfe ich an die Religionsphänomenologie an, die heute nur von einer Minderheit in der Religionswissenschaft vertreten wird. Ich rekonstruiere das religiöse Grunderleben des Heiligen als mysterium tremendum et fascinosum mit Hilfe von evolutionspsychologischen Überlegungen, versuche also einen naturalistischen Ansatz mit dem religionsphänomenologischen zu verbinden: Die natürliche Evolution führt den Menschen zu einem religiösen Erleben sui generis. 43 Die klassische „Religionsphänomenologie“ hat die Fülle der Erscheinungen des Heiligen m.E. zutreffend beschrieben und geordnet. Ich halte ihre Erkenntnisse nach wie vor für wertvoll. G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 21956; M. Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954.

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fliehen oder greifen an, reagieren mit Furcht oder Appetit, Abscheu oder Lust. Beim Menschen tritt dagegen ein Hiatus zwischen auslösenden Umweltsignalen und Verhalten ein. Er ist wie gebannt, reagiert gleichzeitig mit aversiven und attraktiven Gefühlen, ohne sie in Handlung umsetzen zu müssen. Genauso hat R. Otto das religiöse Erleben geschildert: als Ambivalenz eines mysterium tremendum et fascinosum,44 das den Menschen anzieht und ihn gleichzeitig zurückstößt. Es lässt ihn seinen Unwert erleben und gibt ihm einen unendlichen Wert. Wo sich Abstoßung und Anziehung das Gleichgewicht halten, kann der Mensch zweckfrei reagieren. Diese zweckfreien (rituellen und symbolischen) Antworten ohne direkten Überlebenswert sind für tiefere Deutungen offen und können daher der Kommunikation dienen. Diese Überlegungen entwickeln Gedanken von A. Gehlen (1904–1976) weiter,45 der die Instinkttheorie von K. Lorenz und N. Tinbergen voraussetzte. Diese ist heute in Vielem überholt,46 nicht aber die Theorie Gehlens über Weltoffenheit des Menschen. Gehlen suchte die Ursprünge religiösen Erlebens in einer unbestimmten Antwort auf Auslöserqualitäten der Umwelt: „Es sind genau die urtümlichen, bis in zoologisch niedere und sehr fernstehende Formen nachweisbaren Auslöserqualitäten des Unwahrscheinlichen, die sich beim Menschen über die ganze Breite des Wahrnehmungsfeldes hin öffnen und nun allen damit ausgestatteten Dingen den Wert der Eindringlichkeit verleihen, nun aber mit Verlust jeder spezifisch biologischen Bedeutung“.47 Diese Auslöserqualitäten bewirken im Menschen das Gefühl einer „unbestimmten Verpflichtung“.48 „Wenn also ein eindrucksvolles Naturereignis ... ursprünglich als ‚Macht‘ erscheint, und zwar als rätselhafte Macht, so bedeutet das nicht nur den Eindruck des Überwältigenden oder Gefahrdrohenden. Viel tiefer greift darin der Eindruck eines Verpflichtenden, das doch nicht definiert ist, und das sich als die Kehrseite eines affektstarken, zwangshaften Handlungsbedürfnisses ausweist, für das es keine selbstverständliche Bahnen gibt. R. Ottos These (Das Gefühl des Überweltlichen, 1932), man könne die ‚numinose‘ Macht nicht aus der magischen ableiten, sondern umgekehrt eigne der Magier sich jene an, ist daher vollständig richtig ...“.49

—————

44 R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 45 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a.M./Bonn 1956, 21964. 46 Viele Beobachtungen von K. Lorenz ließen sich nicht bestätigen. Der Ethologie ist der allzu sichere Glaube an die feste Zuordnung von „Schlüsselreizen“ und „Angeborenen Auslösemechanismen“ (AAM) abhanden gekommen. 47 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 136. 48 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 137. 49 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 138.

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Auch bei dieser Deutung der Religion lebt in ihr ein archaisches Erbe weiter, das wir nicht ganz durchschauen: zwei Impulse, die instinktiv in uns verwurzelt sind. Aber wenn sie sich die Balance halten, müssen wir sie nicht in Verhalten umsetzen. Wir schaffen nach dieser „Theorie“ durch Religion und religiöse Rituale eine der Voraussetzungen für menschliche Freiheit. Der Adaptionswert der Religion läge auch in einer freieren Beziehung zur Umwelt. Die Verbreitung der Religion: Die Attraktivität kontraintuitiver Grenzüberschreitungen Soweit haben wir der Religion mit Hilfe des ersten Modells, der „natürlichen“ Selektion, einen adaptiven Wert zugeschrieben. Meist erklärt man mit dem zweiten Modell, der „sexuellen“ Selektion, deren Überlebenschance. Bei einer direkten Erklärung durch sexuelle Selektion muss man Geschlechtspartnern mit religiösen Vorstellungen einen größeren Attraktionswert zusprechen, weil sie mehr Zuversicht und Optimismus verbreiten.50 Aber man kann Selektion aufgrund von Attraktivität auch als indirektes Modell für die Verbreitung von Ideen und Gedanken nehmen. Sie vermehren und breiten sich durch alle möglichen Kontakte aus, unabhängig von sexuellen Beziehungen. Manche Gedanken sind attraktiver als andere. Dabei findet eine Selektion statt, die weniger Gedanken auswählt, die der äußeren Wirklichkeit entsprechen als den kognitiven Möglichkeiten in uns, die sich einprägen und unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das tun sie, wenn sie die Regeln unserer Alltagsontologie durchbrechen. Schon kleine Kinder trennen Belebtes und Unbelebtes und klassifizieren beides nach Gegenständen und Artefakten auf der einen, Pflanzen, Tieren und Personen auf der anderen Seite. Wir aktivieren apriorische Erwartungen, wenn wir z.B. etwas als Person klassifizieren. Wie erwarten, dass eine Person nicht durch feste Körper gehen kann. Religiöse Vorstellungen durchbrechen solche Erwartungen: Der auferstandene Christus geht durch geschlossene Türen, Wasser wird zu Wein usw. Dieser „kontraintuitive“ Charakter religiöser Vorstellungen erklärt die Aufmerksamkeit, die sie finden, ihre Verbindung mit Vorstellungen intuitiven Charakters darüber hinaus, warum sie langfristig ins kulturelle Gedächtnis aufgenommen werden. Ihre Verbreitungschancen ergeben sich daraus, dass sie zu den Deutungsstrukturen unseres mentalen „Apparats“ passen. Hier geht es um eine weiche Selektion ————— 50

Vgl. H.A. Euler, Aus der Sicht der Evolutions-Psychologie: Sexuelle Selektion und Religion, in: U. Lüke u.a. (Hg.), Darwin und Gott, 66–88.

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von Vorstellungen, nicht um das Aussterben von Organismen, sondern von Vorstellungen und Verhaltensweisen. Dieser Grundgedanke der kognitiven Religionswissenschaft muss m.E. in zweifacher Hinsicht erweitert werden: Kontraintuitive Vorstellungen setzen sich m.E. nicht nur durch, weil sie Aufmerksamkeit wecken, sondern weil sie eine begründende Funktion haben. Sie sagen etwas über die Grundstruktur des Lebens und der Welt. Nur Gottheiten, die über den Regeln unserer Alltagsontologie stehen, haben die Macht, diese Regel zu bestimmen und sie mit Legitimität auszustatten. Wenn Gott Mensch wird und ein Mensch Gott – dann gehören Erhöhung und Erniedrigung zur Grundstruktur allen Seins und sind keine Irregularität. Nicht allein der „Aufmerksamkeitswert“ einer Idee ist entscheidend, sondern ihr „Begründungswert“. Die zweite Korrektur betrifft eine Ausweitung der Seinsbereiche. Die Religion transzendiert nicht nur die Grenzen zwischen Belebtem und Unbelebtem (von Sachen und Artefakten sowie Pflanzen, Tieren und Personen), sondern konfrontiert alle Seinsbereiche mit dem Nichts, auch wenn das Nichts eine Größe ist, die in der Religionsgeschichte meist als formloses Etwas vorgestellt wurde. Mythen erzählen, wie die Götter am Anfang aus diesem Nichts die Welt geschaffen haben. Die alles fundierende Grenzüberschreitung ist die zwischen Nichts und Sein. Dabei wird die Vorstellung vom Nichtseienden immer subtiler, bis der Gnostiker Basilides, ein urchristlicher Lehrer, Anfang des 2. Jh. n.Chr. zum Gedanken einer creatio ex nihilo vordringt.51 Religiöses Erleben ist bis heute überall dort möglich, wo wir darüber staunen, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Den in vielen Religionen verbreiteten Schöpfungsgedanken erfassen wir daher besser, wenn wir die Seinsbereiche unserer „natürlichen“ Ontologie um die gedachte Kategorie des Nichtigen erweitern. In den meisten Religionen steht der Schöpfergott, der aus Nichtigem und Chaotischem die Welt geschaffen hat, im Hintergrund. Andere Götter beherrschen das Leben, das Wetter, die Fruchtbarkeit, die Liebe, den Handel und den Krieg. Sie repräsentieren begrenzte Bereiche, die durch anthropomorphe Projektionen eine numinose Macht erhielten. Der Durchbruch des Monotheismus besteht darin, dass der Schöpfergott aus dem Hintergrund in den Vordergrund tritt und alle Funktionen an sich zieht. Durch ihn wird das ganze Sein mit dem Nichts konfrontiert. In allem Sein wird erfahren, dass es auch nicht sein könnte. Es reicht daher nicht aus, den Monotheismus aus einem sozialmythischen Parallelismus zu erklären, als hätte mit den großen Monarchien auf Erden eine Tendenz eingesetzt, parallel dazu im Himmel alles einer einzi————— 51

G. May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, AKG 48, Berlin 1978.

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gen Gottheit zu unterwerfen. Ein sozialmythischer Parallelismus zu den großen Reichen auf Erden wäre ein Pantheon von Göttern gewesen, an dessen Spitze ein Gott stand. Außerdem entstand der Monotheismus nicht (nur) in großen Imperien wie Persien, sondern im 6. Jh. v.Chr. in den kleinen Stadtstaaten Griechenlands (bei Xenophanes) und in versprengten Exilantengruppen Israels in Babylon (bei Deuterojesaja). Bei Deuterojesaja ist unverkennbar, wie der Schöpfergott in den Vordergrund tritt und alle anderen Götter verdrängt oder aufsaugt. Die Entdeckung des einen und einzigen Gottes war eine kognitive Revolution. Er basiert nicht nur in einem Verstoß gegen die Kategorien eines der Seinsbereiche, sondern in einem Verstoß gegen eine Voraussetzung, die wir bei allem wie selbstverständlich machen, nämlich dass es existiert. Er basiert auf einer „Einschaltung“ des Nichts in alles Sein: Dieser eine und einzige Gott hat alles aus Nichts geschaffen und ist mit nichts in der Welt identisch. Wenn man auf diesen einen und einzigen Gott Gefühle von Attraktion und Furcht übertrug, die sich durch das religiöse Erleben der Wirklichkeit herausgebildet hatten, dann entlastete man die Welt davon. Sie verlor ihre numinose Mächtigkeit. ER blieb als Ursprung von Verpflichtung und Verheißung übrig. Wenn die Ursprünge der Religion in einer Aktivierung allgemeiner kognitiver Prozesse liegen, so wird man das auch für die Entstehung monotheistischer Religionen annehmen: Die Einheitsdeutung der Welt ist kognitiv befriedigender als alle anderen. Daher finden wir überall Tendenzen zu einem Monotheismus. Überall ahnt man, dass hinter der Vielzahl der Götter nur eine Gottheit steht. Der Durchbruch des Monotheismus in Israel ist kein völlig isoliertes Phänomen. Tendenzen zu einem Monotheismus gab es in Griechenland, Persien und in Israel, dazu aber auch Vereinheitlichungstendenzen in der Götterwelt Ägyptens und Babylons. Die biblische Religion: Der Durchbruch des antiselektiven Indikativs und Imperativs In Israel erhielt der Glaube an den einen und einzigen Gott eine besondere Bedeutung, weil er durchbrach, als Israel im 6. Jh. v.Chr. drohte, aus der Weltgeschichte zu verschwinden. Die Oberschicht war deportiert, der Tempel zerstört, das Land in desolatem Zustand. Zuversicht schöpfte das Volk daraus, dass es der Verheißung dieses einen Gottes gegen den Augenschein vertraute. Eigentlich war das Volk dazu bestimmt, einer harten Selektion zum Opfer zu fallen, die nur die Sieger überleben lässt. Aber in der Niederlage entdeckte Israel in dem einen und einzigen Gott eine antiselektive Kraft: Gott schlug sich auf die Seite der Besiegten und Exilierten, der dem Untergang geweihten Menschen. Dabei wurde hier nur das Prinzip jeder

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menschlichen Kultur wirksam. Jede Kultur hat die Aufgabe, Selektionsdruck zu vermindern. Jede Kultur will menschliches Leben ermöglichen, wo es unter natürlichen Bedingungen unmöglich wäre: Der Schwache erhält eine Chance zum Leben, die er sonst nicht hätte. Wenn die Stützung des Schwächeren schon bei höheren Tierarten beginnt, so bestätigt das nur: Solch eine Kultur hat Vorläufer. Könnte sie sich nicht auf bio-psychische Tendenzen zur Kooperation und Empathie stützen, hätte sie nicht die Macht, sich durchzusetzen. Vorkulturelle Vorläufer hat freilich auch die Unkultur. Auch die Barbarei kann sich auf sehr natürliche Tendenzen stützen. Aber können wir in der Kultur wirklich das Selektionsprinzip außer Kraft setzen? Ist das nicht ein illusionärer Wunsch? Noch einmal sei daran erinnert: Es gibt eine formale Analogie in der Evolution. Auch das biotische Leben musste sich gegen die Entropietendenz der Natur behaupten. Die Aufhebung der Entropietendenz war nur in offenen Systemen möglich, weil diese durch Stoffwechsel mit der Umwelt schon vorhandene Ordnung abbauen. So konnte in einer kleinen Nische des Universums eine Entwicklung zu komplexeren Systemen einsetzen. Ebenso kann auch die Kultur als ein für die Umwelt offenes System die Härte des Selektionsprinzips begrenzt unterlaufen und Leben durch Kooperation dort ermöglichen, wo es unter natürlichen Bedingungen nicht möglich wäre. Mit dem Übergang zur Kultur treten wir in einen immer intensiver werdenden kognitiven Informationsaustausch mit der Umwelt. Wir nutzen die Ordnung in der Umwelt nicht nur dadurch aus, dass wir sie physiologisch verarbeiten, sondern dadurch, dass wir sie erkennen, erleben und verändern. Dadurch erhalten wir eine Chance, Selektionsdruck zu verringern: Wer Gefahren durch sein Wissen antizipiert, hat mehr Chancen zu überleben als andere. Wer Häuser und Schiffe durch Technik schafft, hat mehr Chancen als andere, sich in klimatisch widrigen Umwelten auszubreiten. Wer ethische Regeln des Helfens und der Unterstützung durchsetzt, hat mehr Aussichten, sich zu behaupten als andere. Zu diesem kognitiven Austausch mit der Wirklichkeit gehört auch ein „spiritueller Stoffwechsel“: Durch die Religion, d.h. durch ein System von Erfahrungen, Überzeugungen, Riten, Verhaltensweisen und Gemeinschaftsstrukturen, nehmen wir Kontakt mit der Wirklichkeit als Ganzer auf. In der Religion definieren wir unsere Lebenswelt als ein offenes System, das in Austausch mit dem steht, was gegenüber unserer begrenzten Lebenswelt und allen möglichen Lebenswelten transzendent ist und diese Lebenswelten geschaffen hat. Anders ausgedrückt: Zur kulturellen Evolution gehört auch eine religiöse Evolution.52 ————— 52

Vgl. W. Gantke, Das Evolutionsparadigma und östliche Religionen, in: U. Lüke u.a. (Hg.), Darwin und Gott, Darmstadt 2004, 147–170.

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Der spirituelle Austausch mit der Gesamtwirklichkeit hat sich in einer langen Geschichte entwickelt. Mit der Entstehung des Monotheismus traten Menschen in einen bewussten „Austausch“ mit der Gesamtwirklichkeit als Ganzer ein – und nicht nur mit einem ihrer vielen partikularen Aspekte, wie sie in den polytheistischen Religionen gestaltet, aber schon in ihnen auf eine Einheit hin umgestaltet wurden. Sie nahmen Kontakt mit dem Grund aller Dinge auf. In der Form des jüdischen Monotheismus konnte man sich mit diesem Grund aller Dinge als einer antiselektiven Macht verbünden: Israel war überzeugt, dass der eine und einzige Gott barmherzig ist, dass er das verlorene Israel erwählt hat, um ihm eine wichtige Rolle in der Welt als sein Zeuge zu geben. Dadurch konnte das Volk die Katastrophe überleben, obwohl es dazu bestimmt schien, aus der Geschichte zu verschwinden. Der Durchbruch zum Monotheismus ist ein Durchbruch zum Bewusstsein, dass die Wirklichkeit als Ganze und in ihrer Tiefe einen „antiselektiven“ Indikativ enthält. Sie unterscheidet letztlich nicht nach gelungenen und misslungenen Varianten des Lebens. Im Grund und im Ganzen der Wirklichkeit werden alle Varianten des Lebens „akzeptiert“. Aber gerade der Gott des Alten Testament ist ein Gott des Gerichts und der harten Selektion, an dem Menschen scheitern. Er symbolisiert die Welt, wie wir sie in ihrer Härte notwendig erleben. Doch verwandelt er sich immer wieder in einen Gott der Gnade, der das „erwählt“ (d.h. durch Selektion aussondert und fördert), was in der Welt keine Chance hat. Er erwählt das verlorene Israel. Das erste Dokument für die Existenz Israels ist die ca. 1219 v.Chr. aufgestellte Stele des Pharao Merneptah, der sich nach einem Feldzug rühmt, dass eine Volksgruppe mit Namen „Israel“ keinen Samen (d.h. keine Nachkommen) hat.53 Israel tritt in die Weltgeschichte mit einer Vernichtungsmeldung ein. Aber dieses Volk entdeckt in seiner Geschichte die Kraft eines antiselektiven Indikativs und Imperativs: Gott gibt denen eine Chance, die in der ägyptischen Sklaverei und im babylonischen Exil unter die Räder der Geschichte gekommen sind und die schon als vernichtet abgeschrieben wurden, bevor sie die Bühne der Weltgeschichte betraten. Der antiselektiven Wirklichkeit Gottes entspricht in der Religion Israels ein antiselektiver Imperativ an den Menschen, als Forderung für sein Verhalten gegenüber sich selbst und gegenüber anderen: im Blick auf sich selbst als Ruf zur Umkehr und im Blick auf andere als Liebesgebot. Israel hat durch Kontaktaufnahme mit dem Grund der Wirklichkeit Niederlagen in Aufforderungen zur Umkehr verwandelt. Es erkannte: Es ist besser, sein Leben zu verändern, als weiter ins Verderben zu laufen. Damit hat Israel ein Programm entwickelt, um die harte Selektion durch den Tod durch die weiche Selektion zwischen Handlungsalternativen zu ersetzen. ————— 53

Text bei K. Galling, Textbuch zur Geschichte Israels, Tübingen 1968, Nr. 15, S. 39f.

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Israel hörte diese Zusage und Verheißung aus seiner Kontaktaufnahme mit dem Grund aller Wirklichkeit heraus: „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ (Ez 18,23 vgl. 33,11). Mit dieser Überzeugung von der Umkehrfähigkeit des Menschen, die den Tod erspart, wird dem Menschen Freiheit zugesprochen. Der Mensch wird als jemand angesprochen, der nicht durch seine Vergangenheit determiniert ist, sondern sich ändern und sein Leben neu beginnen kann. Er kann den auf ihm lastenden Selektionsdruck vermindern: Er entgeht dem Tod, indem er destruktive Verhaltensweisen, Einstellungen und Wertungen in sich „tötet“. Im Neuen Testament wird diese Möglichkeit in Bildern von Tod und Leben radikalisiert: Der Mensch wird in der Taufe mit Christus gekreuzigt und begraben, um in ein neues Leben einzutreten (Röm 6,1ff). Es ist besser, den „alten Adam“ in sich zu töten, als den ganzen Menschen ins Verderben laufen zu lassen. Der Ruf zur Umkehr und das Geschenk der Wiedergeburt sind Ausdruck eines „antiselektiven Indikativs und Imperativs“. Aber auch im Blick auf andere Menschen wird der antiselektive Imperativ formuliert – hier als Liebesgebot. Es bezieht sich im Kontext von Lev 19,18 auf sozial Schwächere, auf den Gegner vor Gericht und auf die Fremden im Lande. Er beruft sich als Begründung auf das Dasein Gottes: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie Dich selbst; ich bin der HERR.“ Gegenüber den Fremden wird dieses Nächstenliebegebot durch die Erinnerung an das eigene Fremdsein begründet: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott!“ (Lev 19,33f). Im Neuen Testament wird dieses Liebesgebot radikalisiert: Es wird auf jeden Feind ausgeweitet (Mt 5,43–48). Fremde wie der Samariter werden zu Subjekten vorbildlicher Nächstenliebe (Lk 10,25–37). Ebenso erscheint die „Sünderin“, die Jesus mehr liebte als der Gastgeber Simon, nicht nur als Adressat seiner Liebe, sondern als Liebende (Lk 7,36– 50). Auch im Neuen Testament wird das Nächstenliebegebot durch einen Indikativ begründet: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1Joh 4,16). Die große Sünderin zeigt Liebe, weil sie Liebe empfangen hat (Lk 7,47). Nach dem Durchbruch des Monotheismus konzentrierte sich religiöse Erfahrung im Neuen Testament noch einmal auf einen Punkt: auf einen einzigen Menschen, der den Willen des einen und einzigen Gott zur Geltung bringen wollte. Das Neue Testament spricht von Jesus als Ebenbild Gottes, in dem die Ebenbildlichkeit aller Menschen verwirklicht wird. In ihm wird der antiselektive Indikativ und Imperativ sichtbar. Damit wurde

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bei ihm mitten in der Geschichte eine Entsprechung mit der letztgültigen Realität sichtbar, die das innere Ziel des Prozesses der Realität ist. Worin liegt das Besondere der Verkündigung Jesu? Bei ihm wird der Schwache nicht nur geschützt, sondern ihm wird ein Vorrang zugesprochen: In der Gottesherrschaft sollen die Armen, Kranken, Hungernden und Kinder zur Geltung kommen. Die Wundergeschichten von Jesus sind bizarr. Aber sie bringen einen Protest gegen die natürliche Verteilung von Lebenschancen: Sie geben dem Leben am Rande des Lebens eine neue Chance. Die Ethik Jesu ist radikal. Sie vollzieht einen Bruch mit den Verhaltenstendenzen der bisherigen biologischen Evolution: Meist finden wir Familiensolidarität (d.h. Hilfe zwischen genetisch Verwandten) zusammen mit Aggression gegen die Fremden, die nicht genetisch verwandt sind. Jesus verlangt dagegen von seinen Nachfolgern gleichzeitig den Bruch mit der Familie (Lk 14,26) und die Liebe zu den Feinden (Lk 6,27–36). Auch die Umkehrforderung begegnet bei Jesus in einer besonderen Weise: Er macht sie nicht zur Bedingung der Gemeinschaft, sondern vertraut darauf, dass Menschen durch Kontakt mit ihm von selbst zu anderen Menschen werden. Nicht die Angst vor dem Gericht soll Umkehr motivieren, sondern die Freude im Himmel, wo die Freude über die Umkehr eines einzigen größer ist als die über 99 Gerechte, die keiner Umkehr bedürfen (Lk 15,7). Umkehrgebot und Liebesgebot realisieren zwei grundlegende Werte des Menschseins als zwei Seiten des „antiselektiven Imperativs“: Freiheit und Nächstenliebe. Diese beiden Werte werden in den christlichen Sakramenten rituell dargestellt: Die Taufe symbolisiert die Bestimmung des Menschen zur Freiheit, das Abendmahl seine Bestimmung zur Mitmenschlichkeit. Die Taufe sagt: Der Mensch ist geboren, um wiedergeboren zu werden und mitten im Leben etwas Neues zu beginnen. Das Abendmahl sagt: Menschen, die bereit sind auf Kosten fremden Lebens zu leben, teilen alle Lebensmittel. Beide Sakramente symbolisieren dabei auch das Scheitern an dieser Bestimmung und versichern, dass Menschen trotz Scheiterns an ihr festhalten dürfen. Beide sprechen Sündenvergebung zu.54 Um den Menschen trotz dieses Scheitern auf seine Bestimmung hin zu orientieren, berufen sich die Sakramente auf die Christologie: Die Taufe war ursprünglich (bei Johannes dem Täufer) eine Taufe zur Vergebung der Sünden, sie wurde zu einer Taufe auf den Tod Jesu. Das Abendmahl geht auf die Mahlgemeinschaften des historischen Jesus zurück, erhielt aber erst durch das letzte Mahl Jesu eine Beziehung auf seinen Tod.

————— 54

Vgl. G. Theißen, Rituale des Glaubens. Religiöse Rituale im Lichte akademischer Riten, in: A. Michaels (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Studium Generale 2005/6, Heidelberg 2007, 11–44.

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Dieser Tod wurde in der urchristlichen Soteriologie (der Lehre von der Erlösung) verschieden gedeutet. Paulus kennt zwei Grunddeutungen:55 Er ist einerseits „Sühne“ für die Sünden, andererseits ein „Ärgernis“, weil Christus durch ihn erniedrigt und entehrt wurde. Als Sühne überwindet er das gestörte Verhältnis zu Gott, als Ärgernis provoziert er eine Störung in diesem Verhältnis. In der Deutung des Todes Jesu als Sühne wird eine evolutionäre Wende symbolisiert: Alles Leben lebt auf Kosten anderen Lebens und ist bereit, vom Leid anderer zu leben. Die Opferkulte der Religionen stellen das symbolisch dar. Die Tiere werden geopfert, damit das Leben der Opfernden gefördert wird. Mit Jesus hören die Opfer auf. Er lebt nicht auf Kosten anderen Lebens, sondern gibt sein Leben für andere dahin. Gerade deswegen gelangt er zu neuem Leben und durchkreuzt das Gesetz der alten Welt, in der durch den Tod anderer das eigene Leben gesteigert wird. Die Opfertiere blieben tot. Christus aber wirkte als Auferstandener weiter; erst dadurch erhält sein Tod rückwirkend erlösende Kraft. Nur dadurch verlässt er den Unheilszusammenhang, in dem Leben auf Kosten anderen Lebens lebt. Die Sühnedeutung des Todes offenbart diesen Unheilszusammenhang, in dem alles bisherige Leben verstrickt ist – und will ihn durch die Auferstehung überwinden. Die Sühne (d.h. die Bereitschaft, andere für die eigenen Sünden leiden zu lassen) ist daher Teil des Unheils, das überwunden werden soll, nicht dessen Überwindung (obwohl das in der traditionellen Theologie oft so gesehen wird). Die Deutung des Todes Jesu als Ärgernis widerspricht in anderer Weise den Gesetzen der Welt: Das Starke, Dominante und Angesehene wird in der Welt (und d.h. in der bisherigen Evolution) selektionsprämiert. Gerade das Starke aber wird nach Paulus von Gott nicht erwählt: „Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt; das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme“ (1Kor 1,27–29). Der als Ärgernis gedeutete Tod ist kein heilvolles „Sterben für andere“, sondern Ärgernis und Schmach. Gott überwindet die Erniedrigung Jesu. Seine Erwählung ist Gegenselektion: Er erhöht das Erniedrigte und macht das Nichtige und Gescheiterte zum Ursprung neuen Lebens. Im Lichte der Erlösung wird die Verlorenheit des Lebens sichtbar. Die biblische Religion hat eine beeindruckende Hamartiologie oder Lehre von der „Sünde“ entwickelt: ein starkes Bewusstsein der Trennung von Gott. ————— 55

G. Theißen, Das Kreuz als Sühne und Ärgernis. Zwei Deutungen des Todes Jesu bei Paulus, in: D. Sänger (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 427–455.

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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Weil der Begriff „Sünde“ zu moralisierend ist, kann man auch von einem Bewusstsein der Absurdität des Lebens sprechen. Diese Absurdität umfasst drei Schichten: Angst in den Ausweglosigkeiten des Lebens, Schuld in seinen Verfehlungen und Sinnlosigkeit im Erleben seiner Wertlosigkeit. Angst nimmt dem Menschen die innere Freiheit, wenn er an Grenzen des Lebens stößt. Er ist als Lebewesen dem Selektionsprinzip ausgesetzt. Ein Todesurteil begleitet ihn. Schuld vergiftet zusätzlich sein Leben – weil er die Härte des Selektionsprinzips nicht nur erleidet, sondern aktiv betreibt: Er setzt all seine Kompetenzen dazu ein, um im Daseinskampf auf Kosten anderer zu leben. Er ist niemals nur Opfer, sondern immer auch Täter. Selbst wenn er in einer Nische eine harmlose Rolle spielt, sprechen die Strukturen gegen ihn: Das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer ist Ausdruck struktureller Schuld. Das Erleben der Sinnlosigkeit lähmt und suggeriert, man müsse die Wirklichkeit so hinnehmen, wie sie ist; man könne nichts in ihr ändern. Mit der Bejahung der Sinnlosigkeit vollziehen wir eine innere Kündigung gegenüber der Vision eines guten Lebens für alle. In dieser Situation erneuert die Botschaft von Kreuz und Auferstehung den Bund mit dem Leben – als Einspruch gegen die Angst der Opfer, als Einspruch gegen die Schuld der Täter und als Protest gegen die Lähmung aller Menschen durch Sinnlosigkeit. Selektion geschieht letztlich durch den Tod, der neuen Varianten des Lebens Raum gibt. Wo der Tod überwunden ist, ist das Selektionsprinzip überwunden. Wo ein Gekreuzigter zum Ursprung des Lebens wird, wird die Entwicklung dort weiter geführt, wo sie im Rahmen biotischer Wirklichkeit zu Ende ist. Das gilt unabhängig davon, ob man die Auferstehung symbolisch oder realistisch deutet. Der Mensch überschreitet die Schwelle von einer alten zu einer neuen Welt, wenn er dem antiselektiven Imperativ folgt. Diese Schwelle zwischen biotischer und kultureller Evolution durchzieht die ganze Geschichte und wird in ihr immer wieder überschritten. In Palästina wurde damals in der Apokalyptik bewusst, dass die Geschichte ein Übergang ist: In Dan 7 werden die tierischen Reiche der Vergangenheit und Gegenwart in einer großartigen Vision beschworen. Sie sollen abgelöst werden vom Reich dessen, der wie ein „Mensch“ auf Wolken erscheint und die Weltregierung übernehmen wird. Unabhängig davon, ob Jesus sich selbst mit diesem Menschensohn identifiziert hat oder nicht, die ersten Christen haben in ihm diesen Menschensohn gesehen und durch ihn den Übergang von einer durch bestialische Tiere geprägten Weltzeit zu einer „menschlicheren“ Welt erhofft. Dieser Übergang vollzieht sich hier und jetzt – auch in jedem Menschen, dessen Verhalten dem Selektionsprinzip der bisherigen Evolutionsphase entronnen ist. Das Gericht aber, das mit seiner Scheidung von Guten und Bösen so grausam wirkt, stellt den Selektionsdruck dar, der über allem

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Leben liegt: Alles unterliegt einem harten „Anpassungsdruck“ an die Gesamtrealität und kann ihr nicht entsprechen. Die Verkündigung von Sündenvergebung und Gnade bedeutet: Aufhebung dieses Selektionsdrucks. Die radikalste Form dieser Gnadenverkündigung ist die Rechtfertigungslehre des Paulus. Seine Verkündigung weitet die Gnade Gottes auf die aus, die bisher kein Verhältnis zu dem einen und einzigen Gott hatten: auf alle Heiden. Sie weitet sie auch auf die aus, die Gottes Feinde waren – an allererster Stelle auf Paulus selbst, der einst die Christen verfolgt hatte, dann nach seinem Modell auf alle Juden, die wie Paulus den Glauben ablehnen (Röm 9–11). Wenn alles Leben danach strebt, sich an eine letzte Wirklichkeit anzupassen und in Übereinstimmung mit ihr zu leben, dann verkündigt die neutestamentliche Rechtfertigungslehre: Gott schenkt diese Übereinstimmung mit sich selbst sola gratia und sola fide. Der Mensch wird durch diese Rechtfertigung verwandelt. Die urchristliche Anthropologie sieht ihn als ein Lebewesen an, das noch nicht fertig ist. Paulus beschwört die Verwandlung des Menschen. Als alter Mensch war er „Fleisch“ (UCTZ) und dem struggle for life ausgesetzt, als neuer Mensch lebt er im „Geist“ und ist einer Welt von Konkurrenz und Destruktivität entronnen. Damit wird die Vitalität des Lebens nicht verdammt. Paulus nennt die biologische Seite des Menschen nicht nur „Fleisch“, sondern auch „Leib“ (UYOC). Während die Energie des Fleisches unterdrückt werden muss – seine Begierden sollen gekreuzigt und getötet werden (Gal 5,24) –, wird die Energie des Leibs verwandelt und sublimiert: Seinen Leib gibt der erneuerte Mensch zur Erfüllung von Gottes Willen hin (Röm 12,1–3), er wird zu einem Glied im „Leib Christi“ (1Kor 12,12ff) und bleibt in alle Ewigkeit ein „pneumatischer Leib“ – eine nicht an den materiellen Leib gebundene Personidentität (1Kor 15,35–56). Bei den harten Aussagen über die Kreuzigung der fleischlichen Energien aber muss man immer bedenken: Wo Paulus von Kreuzigen spricht, denkt er selbstverständlich eine Auferstehung mit. Die gekreuzigten (destruktiven) Begierden des Fleisches erleben ihre Auferstehung im Geist und dem konstruktiven Einsatz des Leibes als ein Tempel, der von Gottes Geist erfüllt ist. Eschatologie ist die Erwartung, dass Gott am Ende alles in allem sein wird (1Kor 15,28). Alles wird ein gutes Ende haben. Charakteristisch für den urchristlichen Glauben ist die Überzeugung, dass dieses Ende schon jetzt erfahren werden kann: In der Rechtfertigung des Menschen ergeht das letzte Urteil Gottes über den Menschen schon hier und jetzt. In alle Ewigkeit wird er nichts Größeres hören, als was ihm das Wort Gottes hier und heute zuspricht: Dass er unbedingt akzeptiert ist. In der Verwandlung seines Lebens erfährt er schon jetzt etwas von der Güte, die am Ende alles durchdringen wird. Im Vertrauen auf die aus dem Nichts schaffende Macht Gottes wird er schon jetzt von jener Macht durchdrungen, die am Ende alles in

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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allem sein wird und in der auch er geborgen sein wird. Aber wie ist dieses Vertrauen durchzuhalten angesichts der Härte und Grausamkeit der Welt? Das ist möglich, weil in die letztgültige Wirklichkeit die Überwindung dieser Härte und Grausamkeit unauslöschlich eingeschrieben ist: Christus der Gekreuzigte und Lebendige, zieht ins Zentrum dieser letzten Wirklichkeit ein, und das heißt: in die Mitte der religiösen Bilder, mit der Menschen sich auf sie beziehen. Glaube ist Mut, der gekreuzigt und begraben wird, aber immer wieder wie eine creatio ex nihilo aufersteht. Haben wir aber in dieser Skizze des urchristlichen Glaubens den antiselektiven Imperativ nicht allzu sehr an eine anthropomorph erzählte Geschichte von Gott und Mensch gebunden – an einen Gott, der erwählt und vergibt, der sich mit den Menschen verbündet, der zu ihm spricht und ihn liebt? Die lebendige religiöse Sprache wird immer solche Bilder von Gott benutzen. Aber auch in dem abstrakten Glauben an einen transzendenten Gott, der von allem in der Welt unendlich unterschieden ist, ist potentiell ein Antiselektionismus enthalten. Gott steht als Grund des Seins in Äquidistanz zu allem weltlichen Sein. Er hebt die Unterschiede zwischen denen, die etwas sind, und denen, die nichts sind, auf. Vor ihm hat das Geringste denselben Wert wie das Höchste. Evidenzquelle für diese Überzeugung ist die religiöse Grunderfahrung unbedingter Geborgenheit durch Verbundenheit mit allen Dingen. Dieses Geborgenheitsgefühl schaltet sich immer wieder in das Leben ein und schenkt die Gewissheit, dass die letzte Wirklichkeit nicht selektionistisch verfährt. Hier wird kein Unterschied gemacht zwischen allem Sein. Hier erfahren Menschen unmittelbar einen antiselektiven Indikativ. Die Gewissheit der Berufung zu Umkehr und Freiheit wurzelt dagegen in einer anderen religiösen Grunderfahrung: in der Erfahrung der Kontingenz des eigenen Handelns, die Menschen aus dem Zusammenhang aller Dinge herausreißt, weil sie für ihr Handeln verantwortlich sind. Hier erfahren Menschen im Ruf zur Verantwortung einen antiselektiven Imperativ: den Auftrag, Selektionsdruck zu verringern. Wenn die Verminderung von Selektionsdruck das heimliche Programm aller Kultur ist, an dem Menschen und Gesellschaften arbeiten und an dem sie scheitern, dann steht Jesus nicht am Rande unserer Welt, sondern in ihrer verborgenen Mitte. Dieses Programm unserer Kultur zeigt sich in vielen Religionen, in den biblisch verwandten Religionen des Judentums und Islams ohnehin. Aber auch der Buddhismus vertritt einen „antiselektiven Imperativ“. Er will den Lebensdurst überwinden, durch den Lebewesen in Konkurrenz und Konflikt zueinander geraten. Das Christentum bejaht ihn dagegen und will ihn in Liebe verwandeln. Vielen Religionen und Überzeugungen schwebt das Ziel vor, dass Leben nicht auf Kosten anderen Lebens leben soll. Was ist dann aber das Proprium der biblischen Religion?

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Biblischer Glaube und Evolution

Die erste Frage ist: Wenn die ganze Kultur in humanen Gesellschaften das Selektionsprinzip zu suspendieren sucht – durch Technik, Ethik und Religion –, welche spezielle Funktion hat die Religion in ihr? Gibt es nicht in der Religionswissenschaft mit Recht eine Tendenz, Religion nicht als autonomen Lebensbereich, sondern als Teil der allgemeinen Kultur zu betrachten und ihre Trennung von der Kultur als europäischen Sonderweg zu bewerten? In der Tat ist der antiselektive Imperativ der Kultur überall wirksam. Religionen machen ihn bewusst, geben ihm eine Sprache, begründen ihn in einer letztgültigen Realität und verpflichten auf ihn durch ihre Riten. Was aber ist das Proprium der biblischen Religionen, also von Judentum, Christentum und Islam? Sie stellen den antiselektiven Imperativ, der jeder humanen Kultur zugrunde liegt, ins Zentrum. Er ist im Dasein Gottes, des gnädigen, barmherzigen und gütigen Gottes, angelegt. Der antiselektive Imperativ wird in den biblischen Religionen in einem antiselektiven Indikativ begründet – und damit in der Gesamtrealität begründet. Das gilt an erster Stelle für das Judentum, dessen Schüler das Christentum und der Islam sind. Dieser Verpflichtung werden Menschen notorisch nicht gerecht. Sie verfehlen sich gegen den antiselektiven Imperativ. Die biblischen Religionen lehren die Menschen, mit dieser Verfehlung zu leben – ja sogar mit dem Verrat an ihm. Dieses Bewusstsein führt im Christentum oft zu einem so intensiven Sünden- und Leidbewusstsein, dass es im Judentum und Islam (und erst recht in der säkularen Kultur) als übertrieben und destruktiv empfunden wird. Gibt es etwas Besonderes im christlichen Glauben? Die Religionen machen den antiselektiven Imperativ in verschiedener Weise bewusst – mystische Religionen durch Weigerung, sich vom Lebensdurst in Konkurrenz und Selektion treiben zu lassen, prophetische Religionen durch Verwandlung des Lebensdurstes in Liebe zu den Schwachen. Im Christentum wird in Liebe verwandelt, die das Verlorene sucht. Das Doppelgebot der Liebe wird zum höchsten Gebot (Mt 22,34–40), die Liebe zum größten Charisma, das Glaube und Hoffnung übertrifft (1Kor 13,13). Der ganze Wille Gottes ist in der einen Forderung erfüllt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ (Gal 5,14). Dieser antiselektive Imperativ ist in einem Indikativ begründet: Gott hat in sich das Leben auf Kosten anderen Lebens überwunden: Gott ist Liebe (1Joh 4,16). Ihm zu entsprechen, ist das Ziel des Lebens, ihm nicht zu entsprechen, Verfehlung des Lebens. Dass Welt und Mensch ihm nicht entsprechen, ist ihre große Krise im Verhältnis zu Gott. Diese Krise wird in der christlichen Religion durch den Blick auf Christus bewältigt. Der Mut zum Leben wird mit ihm gekreuzigt und begraben, um immer wieder aufzuerstehen durch

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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eine aus dem Nichts schaffende Macht Gottes. Das Proprium des Christentums ist die durch Christus vermittelte Verbundenheit mit Gott trotz Leid, Schuld und Sinnlosigkeit. Mit Christus wird ein Wahrheitsanspruch verbunden, dass er authentische religiöse Erfahrung vermittelt, d.h. trotz aller Hindernisse einen Zugang zu Gott ermöglicht. Das gilt für den historischen Jesus wie für den kerygmatischen Sohn Gottes, den das Urchristentum verkündigte. Der historische Jesus sprach und handelte in Bildern. Seine Gleichnisse und Symbolhandlungen sind charakteristische Formen seiner Verkündigung. Sie übertragen Bilder vom menschlichen Leben auf Gott und überschreiten damit Grenzen zwischen Seinsbereichen. Sie sind kontraintuitiv und enthalten ein Strukturmerkmal aller genuinen religiösen Erfahrung. In den Bereich dessen, was jenseits aller Seinsbereiche liegt, tragen sie Merkmale von Personen ein. Gleichzeitig enthalten sie paradoxe Züge, ohne dass Kategorien eines Seinsbereichs verletzt werden: Ein König erlässt eine unvorstellbar hohe Summe. Alle Arbeiter erhalten trotz verschiedener Leistung denselben Lohn. Die Bettler und Außenseiter werden zum Festmahl geladen. Einfache Menschen aus dem Volk, Fischer und Bauern sollen das zukünftige Israel regieren usw. Solche paradoxe Züge ohne Verletzungen von Kategorien sind Bildsignale dafür, dass etwas ganz Anderes gemeint ist. Erst wenn wir an dieses Andere denken, an Gott, werden kontraintuitiv Seinsgrenzen überschritten. Sieht man nun in solchen Grenzverletzungen das Wesen der Religion, so ist die Bildersprache Jesu in Gleichnissen und Symbolhandlungen keine beliebige Sprachform. Sie entspricht vielmehr dem Wesen der Religion. Die Welt wird transparent für etwas ganz Anderes. Das ist eine Form religiösen Erlebens, die uns auch heute zugänglich ist. Wo die Wirklichkeit transparent wird für Gott, wird sie transparent für das Wunder, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Das ist das Zeichen Gottes in allen Dingen. Die Verwandlung Jesu ins Kerygma macht nicht diese Welt für Gott transparent, sondern bezeugt einen Einbruch Gottes in diese Welt: In der Auferstehung von den Toten tritt die Macht, die aus dem Nichts schaffen kann, direkt ins Leben der Menschen. Sie wird aktiv an dem, der gekreuzigt und begraben wurde. Hier wird die entscheidende Grenze zwischen Nichts und Sein überschritten. Überall sonst begegnet uns das Wunder des Seins verborgen in anderen Dingen: als das Wunder der Ordnung in der Natur oder als das Wunder anderer Menschen, hier aber begegnet es ohne „Vermischung“ mit etwas in der Welt als die Macht, die aus dem Nichts schafft. Der historische Jesus machte mit seinen Gleichnissen und Symbolhandlungen die Welt für Gott transparent und vermittelte so eine indirekte Begegnung mit Gott. Der kerygmatische Christus aber konfrontiert direkt mit Gott, der aus dem Nichts schafft. Durch ihn kommt es zu einer direkten

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Biblischer Glaube und Evolution

Begegnung mit dem Sein selbst, d.h. mit Gott. Aus dem historischen Jesus, der durch Bilder und Gleichnissen einen Zugang zu Gott schuf, wurde im Kerygma Jesus Christus, der als Gekreuzigter und Lebendiger ein Gleichnis Gottes ist.

* Der hier skizzierte Versuch, die Evolution in den biblischen Schöpfungsglauben einzuzeichnen und gleichzeitig den biblischen Glauben in die Evolutionstheorie, ist ein unvollendetes Projekt. Ihr liegt die Intuition zugrunde, dass der ganze Weltprozess eine Hypothese ist, die versucht, Gott zu entsprechen. Wir sind Geschöpfe einer langen Evolution und haben das Privileg, an diesem Versuch bewusst teilzunehmen. Dabei fand eine Evolution der Evolution statt: Das Leben suspendiert im Rahmen offener Systeme das Entropieprinzip, die Kultur suspendiert im Rahmen humaner Gesellschaften das Selektionsprinzip. Auch die Evolution unterliegt einer Evolution: Das Entropieprinzip wurde in einem begrenzten Rahmen durch das Leben unterlaufen, das Selektionsprinzip durch die Kultur partiell suspendiert. Auch diese Brüche und Neuanfänge sind Teil eines umfassenden Evolutionsprozess, in den auch die Religionen hineingehören.56 Ihre Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Die Evolution ist nie zu Ende. Alle Religionen stehen unter einem großen Verwandlungsdruck. In einer evolutionären Deutung der Religion kann keine der vielen Religionen Absolutheit für sich beanspruchen und anderen den Zugang zur letzten Wirklichkeit absprechen. Der Anspruch jeder Religion kann nur der sein, eine gültige religiöse Wahrheit, nicht aber eine absolut gültige Wahrheit zu vermitteln, die keine andere Wahrheit zulässt. Diese Einsicht fällt den Religionen schwer. Hier müssen sie ich weiter entwickeln. Sie müssen dabei nur das in ihnen verborgene antiselektive Programm auf sich selbst anwenden. Durch Absolutheitsansprüche wurden religiöse Ideen und Praktiken zu Kampfmitteln zwischen Völkern und Kulturen. Sie verschärfen den struggle for life, anstatt ihn zu reduzieren. Sie gießen das Öl des Fanatismus ins Feuer der Religion. Der aggressive Absolutheitsanspruch aller Religionen muss daher nicht nur ein wenig relativiert, er muss demonstrativ überwunden werden. Er muss gerade zu dem Zweck aufgegeben werden, damit ————— 56 In der Einführung zu U. Lüke/J. Schnakenberg/G. Souvignier (Hg.), Darwin und Gott, 1, wird eine nicht näher dargestellte Position, welche die „Religion in der Rolle des Antiselektionismus“ sieht, gleich neben eine Position gestellt, welche die „Schöpfungslehre als Sachalternative zur Evolutionstheorie“ sieht. Meine Ausführungen zeigen, dass man der Kultur (und in ihr der Religion) einen „antiselektiven Imperativ“ zuschreiben und gleichzeitig die Evolutionstheorie ohne Vorbehalt bejahen kann.

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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jede Religion ihre Geltungsansprüche offen vertreten kann, ohne andere abzuwerten und zu bedrohen. Die jüdische und christliche Religion ist Teil einer umfassenden Religionsgeschichte. Im jüdisch-christlichen Gottesbild vollzieht sich ein Umschlag von Selektionsdruck zur Gnade Gottes als antiselektiver Indikativ. Die jüdisch-christliche Ethik formuliert die Gebote des antiselektiven Imperativs: den Ruf zur Umkehr und das Gebot der Nächstenliebe, um sich selbst und andere Menschen dem Selektionsdruck zu entziehen. Die christlichen Sakramente symbolisieren in Taufe und Abendmahl die Bestimmung des Menschen zu Freiheit und Altruismus und sprechen dem Menschen Vergebung der Sünden zu, wenn er an seiner antiselektiven Bestimmung scheitert. Dieses Scheitern wird durch die Christologie bewältigt: durch Überwindung von Schuld und Leid in Tod und Auferstehung Christi. Die beiden zentralen christologischen Bilder weisen auf ein Leben jenseits des Selektionsprinzips. Selektion arbeitet mit dem Tod, findet aber eine Grenze dort, wo es Leben in Fülle gibt. Die Soteriologie, die Deutung des Todes Jesu als Heilstod für andere Menschen, ist ein Protest gegen das Selektionsprinzip, demzufolge Menschen andere Menschen für sich sterben lassen. Die Eschatologie schafft ein Bewusstsein des Übergangs zwischen der biotischen und kulturellen Phase. Die Anthropologie des Urchristentums sieht den Menschen im Übergang zwischen der Sphäre des „Fleisches“ und des „Geistes“. Im Blick auf den natürlichen Menschen ist diese Anthropologie pessimistisch. Die biblische Hamartiologie entwirft ein dunkles Bild von ihm, weil er als Opfer und Täter in ein Leben auf Kosten anderen Lebens verstrickt ist. Aber der biblische Glaube ist sehr optimistisch, dass derselbe Mensch, der sich in einen destruktiven Lebenskampf verstrickt hat, neu anfangen und Gutes tun kann. Wenn der ganze Weltprozess eine Hypothese ist, um Gott zu entsprechen und wir an diesem Prozess bewusst teilnehmen dürfen, dann ist die Rechtfertigung des Menschen das heimliche Ziel dieses Prozesses. Gott schenkt die Entsprechung zu ihm aus reiner Gnade ohne Vorbedingung und Forderung. Das ist ein Funke Ewigkeit mitten in der Zeit. Der Versuch, die biblische Religion in diesen evolutionären Gesamtprozess einzuzeichnen, bleibt ein unvollendetes Projekt. Vielleicht soll es unvollendet bleiben. Denn in einer von uns nie überschaubaren Wirklichkeit ist wichtiger als eine theoretische Gesamtsicht der Wirklichkeit ein innerer Kompass, der uns eine Richtung weist. Diesen ethischen Kompass meine ich, im antiselektiven Imperativ und seiner Begründung in einem antiselektiven Indikativ gefunden zu haben. Er wurde in der Bibel entdeckt und bewusst gemacht. Meine Interpretation des christlichen Glaubens steht in der Nachfolge des Entmythologisierungsprogramms Rudolf Bultmanns, das er 1941 zum

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Biblischer Glaube und Evolution

ersten Mal zusammenfasste und öffentlich vertrat.57 Dessen philosophischer Rahmen war die Existenzphilosophie. Seine Stärke und Schwäche lag in der Konzentration auf den individuellen, einzelnen Menschen. Der überlieferte christliche Glaube sollte als Selbstverständnis des je einzelnen Menschen verstanden werden: als ein neuer Weg, das Leben zu deuten, zu verstehen und sich auf das Leben zu verstehen. Wer sich mit Christus kreuzigen lässt, d.h. alle vorhandenen Sicherheiten preisgibt, wird mit Christus zu einem neuen Leben schon hier und jetzt gelangen, d.h. er wird durch Gottes Macht verwandelt und erhält sola gratia und sola fide das wahre Leben geschenkt. Mein Verständnis des Kerygmas ist von diesem Programm einer existenzialen Interpretation bestimmt, aber führt darüber hinaus, weil dieses Kerygma in die Geschichte der Evolution eingezeichnet wird und in die Geschichte von Kultur und Gesellschaft eingebettet wird, auch wenn uns diese universale Geschichte nur in Umrissen bekannt ist. In einem Punkt aber berührt sich mein Entwurf gerade dort mit dem großen Vorbild, wo es von diesem Vorbild abweicht. Als R. Bultmann 1941 sein Entmythologisierungsprogramm vertrat, war der Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt seiner Macht. R. Bultmann widersprach mit seinem Entmythologisierungsprogramm einem Erneuerungsprogramm der nationalsozialistischen „Deutschen Christen“.58 Der Nationalsozialismus war ein sozialdarwinistisches Programm: Durch den Holocaust wollte er das Gesetz der Selektion selbst in die Hand nehmen und die Juden und ihre gesamte Kultur vernichten, die ein verblendeter „Erlösungsantisemitismus“ als Ursache allen Übels betrachtete. R. Bultmann veröffentlichte seinen Entmythologisierungsaufsatz zusammen mit einem einleitenden Aufsatz über „Die Frage der natürlichen Offenbarung“59, in dem er die Deutschen Christen bekämpft. Er bestreitet in ihm, dass Gottes Handeln in der Geschichte des Volkes sichtbar ist. Er verbindet sich mit keinem Volk, keiner Rasse, keinem militärischen Sieg. In der Geschichte erfährt sich der Mensch vielmehr vor allem als Sünder. Das dann folgende Entmythologisierungsprogramm ist auf die einzige Stelle konzentriert, in der für R. Bultmann Gottes Handeln in der Geschichte paradox sichtbar wird: auf das Christusgeschehen. Dieses Entmythologisierungsprogramm sagt indirekt, ohne es 1941 direkt sagen zu können: Nicht durch Überwindung des Judentums muss sich das Christentum erneuern, sondern durch Überwindung des Mythos, indem man —————

57 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: R. Bultmann, Offenbarung und Heilsgeschehen, BEvTh 7, München 1941, 27–69. 58 Vgl. G. Theissen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, Heidelberg 2009, 195–221. 59 R. Bultmann, Die Frage der natürlichen Offenbarung, in: R. Bultmann, Offenbarung und Heilsgeschehen, BEvTh 7, München 1941, 3–26.

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Der antiselektive Indikativ und Imperativ

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ihn existenzial interpretiert. Die Nationalsozialisten vertraten einen selektiven Indikativ und Imperativ. Sie führten der Welt vor Augen, was exzessive Sünde ist. Die biblische Botschaft (sowohl des Alten wie des Neuen Testaments) ist antiselektiv. Der bei R. Bultmann in seinem Entmythologisierungsprogramm enthaltene Widerspruch gegen inhumane Selektionsprogramme wird in dem hier vorgelegten Entwurf aufgegriffen und weiter geführt.60

—————

60 Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen dem hier vorgelegten Entmythologisierungsprogramm und seinem großen Vorbild. Sie betreffen einerseits die allgemeinen theoretischen Voraussetzungen, andererseits die Deutung biblischer Traditionen. Mein Entwurf stützt sich auf die humanwissenschaftliche Erforschung der Religion. Er nimmt dabei Erkenntnisse der religionsphänomenologischen, der kulturwissenschaftlichen wie der kognitiven Religionswissenschaft auf und deutet sie in einem evolutionstheoretischen Rahmen. Religion wird als Erleben einer heiligen Wirklichkeit verstanden und dieses Erleben wird nicht-reduktionistisch gedeutet. Die Pluralität der Religionen ist im Blick, die bei R. Bultmann kaum eine Rolle spielt. Aus der biblischen Tradition werden viele Traditionen sehr viel positiver bewertet: das Alte Testament, Schöpfung und Eschatologie, Sakramente und Soteriologie, die Wunder Jesu und die Deutung seines Todes als Sühnetod. Man kann ein Programm nach 70 Jahren nicht einfach wiederholen, auch wenn es das große Vorbild bleibt.

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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Band 95: Martina Janßen / Stanley F. Jones / Jürgen Wehnert (Hg.)

Band 89: Eric K.C. Wong

Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerd Lüdemann. Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse 2011. 218 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53977-4

2011. ca. 220 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53037-5

Evangelien im Frühes Christentum und Dialog mit Paulus Religionsgeschichtliche Schule Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern

Band 92: Joseph Verheyden / Tobias Nicklas / Andreas Merkt (Hg.)

Ancient Christian Interpretations of „Violent Texts“ in The Apocalypse In Cooperation with Mark Grundeken 2011. 313 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53976-7

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Von Paulus zur Apokalypse – und weiter Exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studien zum Neuen Testament 2011. 644 Seiten mit 15 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53398-7

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Quellen zur Geschichte des Partherreiches Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 3: Keilschriftliche Texte, Aramäische Texte, Armenische Texte, Arabische Texte, Chinesische Texte 2010. VIII, 512 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53388-8

Beiträge zur religiösen Sprache im Neuen Testament und in seiner Umwelt 2011. 306 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55020-5

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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Band 84: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)

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Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 2: Griechische und lateinische Texte, Parthische Texte, Numismatische Evidenz 2010. X, 639 Seiten mit 62 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53387-1

Band 83: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)

Quellen zur Geschichte des Partherreiches Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 1: Prolegomena, Abkürzungen, Bibliografie, Einleitung, Indices, Karten, Tafeln 2010. CXLIII, 256 Seiten mit 77 Abb. und 5 Karten, gebunden ISBN 978-3-525-53386-4

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Christliche Hauskirche und Neues Testament Die Ikonologie des Baptisteriums von Dura Europos und das Diatessaron Tatians 2010. 340 Seiten mit 38 Abb. und 5 Tab., geb. ISBN 978-3-525-53394-9

Band 76: Timo Glaser

Paulus als Briefroman erzählt Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen 2009. 376 Seiten mit 6 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-53389-5

Band 75: Peter Lampe / Helmut Schwier (Hg.)

Neutestamentliche Grenzgänge Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens 2010. 248 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53393-2

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550236 — ISBN E-Book: 9783647550237