Von Iphigenie zu Medea: Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer 9783484970809, 9783484321335

For the relationship between Goethe’s Iphigenie auf Tauris [Iphigenie on Tauris] and Grillparzer’s trilogy Das goldene V

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Von Iphigenie zu Medea: Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer
 9783484970809, 9783484321335

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
1. Thesen zur Beziehung zwischen Goethes ›Schauspiel‹ Iphigenie auf Tauris und Grillparzers Tragödien-Trilogie Das goldene Vließ
2. Aspekte der Semantik des Barbarischen
3. Dramaturgie des Barbarischen: Von der antiken zur modernen Iphigenie
4. Iphigenie auf Tauris
5. Das goldene Vließ
6. Rückblick und Ausblick
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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 133

Markus Winkler

Von Iphigenie zu Medea Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

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Gedruckt mit freundlicher Untersttzung der Universit& de Gen've

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http:// dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-32133-5

ISSN 0083-4564

4 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul?ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf?ltigungen, @bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest?ndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtfertigung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

1. Thesen zur Beziehung zwischen Goethes ›Schauspiel‹ Iphigenie auf Tauris und Grillparzers Tragödien-Trilogie Das goldene Vließ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Aspekte der Semantik des Barbarischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Antike Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Neuzeitliche Ethnographie: Vom Reisebericht zur Rassenkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Von der Semantik zur Dramaturgie des Barbarischen . . . . .

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3. Dramaturgie des Barbarischen: Von der antiken zur modernen Iphigenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Menschenopfer als Skandal: Vorüberlegungen zur Analyse der dramenpoetischen Auseinandersetzung mit dem Iphigenie-Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Zur Funktion des Menschenopfers und zu seiner Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Euripides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Racine contra Rotrou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Iphigenie auf Tauris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Humanisierung der Barbaren, Griechenland-Nostalgie und der Streit über Mythos und Menschenopfer (Erster Aufzug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Krankheit und Heilung des Orest (Zweiter und Dritter Aufzug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Mythische contra nichtmythische Deutung der Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Euripides: Revision der Heilung des Orestes im Lichte der Hellenen-Barbaren-Antithese . . . . . . . .

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4.2.3. Heilung als Zwang zur Ausschließung des Barbarischen aus dem Griechischen . . . . . . . . . . . 133 4.3. Gefahr und Faszination des Barbarischen: Intrige und Parzenlied (Vierter Aufzug). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.4. Vom Humanitätsideal zum Kult der ›griechischen‹ Humanität (Fünfter Aufzug). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5. Das goldene Vließ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Wiederherstellung der ethnozentrischen Semantik des Barbarischen: Vorüberlegungen zur Aktualisierung und Ergänzung des Medea-Mythos in Grillparzers Trilogie . . . . 5.2. »Der Gastfreund«: Die Symmetrie von barbarischer Xenophobie und griechischem Kolonialismus . . . . . . . . . . . 5.3. »Die Argonauten«: Von der Ausschließung des Fremden zur Selbstentfremdung – Zerrissenheit als tragische Figurenkonzeption und die Mehrdeutigkeit der Vließ-Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. »Medea« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Von der Humanisierung zur Bestialisierung der Barbarin (Erster und Zweiter Aufzug) . . . . . . . . . 5.4.2. Triumph des ›reinen‹ Griechentums: Der Verrat der Kinder (Dritter Aufzug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Restitution des Eigenen durch Reinigung vom Fremden: Die Rache der Barbarin (Vierter Aufzug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4. Ohne ›heilige‹ Gewalt kein Ende der Gewalt? Die Rückgabe des Vließes als Selbstopfer der Barbarin (Fünfter Aufzug) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgekürzt zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Quellen und Forschungen bis 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quellen und Forschungen ab 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

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1.

Thesen zur Beziehung zwischen Goethes ›Schauspiel‹ Iphigenie auf Tauris und Grillparzers Tragödien-Trilogie Das goldene Vließ

In seinem Brief an Goethe vom 28. August 1798 rühmt Schiller die Fabulae des römischen Mythographen Hyginus als eine vom »tragischen Dichter« noch zu entdeckende Quelle der »herrlichsten Stoffe«. Aus deren Fülle rage, merkt Schiller an, »besonders die Medea vor«. Man müßte sie aber, fügt er hinzu, »in ihrer ganzen Geschichte und als Zyklus [...] brauchen«,1 also – so ist Schillers Gedanke vermutlich zu ergänzen – anders verfahren als Euripides, Seneca und die neueren Autoren von Medea-Tragödien, zu denen Pierre Corneille, Friedrich Wilhelm Gotter und Friedrich Maximilian Klinger zählten. Bekanntlich haben die Weimarer Klassiker dann jedoch weder eine Medea-Tragödie verfaßt noch einen anderen klassischen Mythos zur stofflichen Grundlage einer ihrer großen tragischen Dichtungen gemacht. Iphigenie auf Tauris, das von Goethe so genannte »Schauspiel« – nur in einem Louis Bonaparte zugedachten tabellarischen Werkverzeichnis bezeichnet er das Drama einmal als »tragédie en cinq actes, tout à fait selon les règles«2 –, wurde lange vor dem Jahrzehnt der Zusammenarbeit mit Schiller vollendet und blieb im dramatischen Werk beider Autoren ohne Nachfolge. In dieser Hinsicht besteht ein frappierender Unterschied zwischen der Weimarer Klassik und dem französischen classicisme, der eine Fülle mythologischer Tragödien vorzuweisen hat. Wie es scheint, war Iphigenie, dieses »Schmerzenskind«3 des Versuchs, den Mythos zu humanisieren, ihn von seinem schrecklichen kultischen Substrat, dem Menschenopfer, zu lösen, ein Ergebnis, an das die Weimarer Klassiker nicht rühren wollten. Und doch formuliert Schiller, wenn er Medea als Tragödienstoff empfiehlt, ein Anliegen, das aus den Fragen, die Iphigenie

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Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hrsg. v. Siegfried Seidel. 3 Bde. München 1984. Bd. 2, S. 135. Goethe: WA, I. Abt., Bd. 53, S. 208. Das Werkverzeichnis ist auf den 21. August 1823 datiert. Vgl. Goethe: MA, Bd. 15, S. 185 (Italienische Reise, aus der auf »Den 10. Januar [1787]« datierten Eintragung).

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auf Tauris offenließ, hervorging. Für diese Hypothese spricht erstens, daß es in Goethes Drama zwei explizite und bedeutungsschwere Anspielungen auf den Medea-Mythos gibt, und zweitens, daß die Verwirklichung des Anliegens, Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ (uraufgeführt 1821), sich in differenzierter Weise auf Goethes Iphigenie bezieht: teils parodistisch bis hin zur Karikatur, teils – in einem weiter unten zu bestimmenden Sinn – kontrapunktisch ergänzend. Beide Argumente seien hier nacheinander erläutert. Zunächst zu den Anspielungen auf den Medea-Mythos in Iphigenie : Wie bei Euripides kommt auch bei Goethe Iphigenies Bruder Orest mit seinem Freund Pylades ins Taurerland, weil nach Apollons Orakel die endgültige Befreiung des Muttermörders von der Verfolgung durch die Erinnyen davon abhängig ist, daß er die Statue der taurischen Artemis, deren Priesterin Iphigenie ist, raubt und nach Attika bringt. Ganz anders als bei Euripides wehrt sich nun aber der Muttermörder im Moment der Anagnorisis gegen die rettende Versöhnung mit der Schwester, und er tut dies mit den an sie gerichteten Worten: [...] Laß! Hinweg! Ich rate dir, berühre nicht die Locken! Wie von Kreusa’s Brautkleid zündet sich Ein unauslöschlich Feuer von mir fort.

(V. 1174–1177)4

Orest vergleicht hier die Qual der Verfolgung, die er, der Muttermörder, von den Erinnyen zu erleiden hat, mit der Qual, die Kreusa, die Tochter des Königs Kreon von Korinth, und der König selbst erleiden, als sie an dem ansteckenden Gift und ›unauslöschlichen‹ Feuer sterben, mit dem Medea ihre vermeintlichen Brautgaben für Kreusa verzaubert hat; so rächt sich Medea an beiden und vor allem an Jason dafür, daß dieser sie mit Kreons Unterstützung um Kreusas willen verlassen hat.5 In der Rhetorik

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Die Versfassung des Dramas (1787) wird – nur mit Angabe der Verszahlen im fortlaufenden Text – nach Goethe: FA, I. Abt., Bd. 5, S. 553–619, zitiert. Bei Euripides (Medeia, V. 783–789, 947–950, 1136–1221) überbringen die beiden Söhne des entzweiten Paars im Auftrag ihrer Mutter der Königstochter ein Kleid und einen Kranz als vermeintliche Braut- und Bittgeschenke (Kreons Tochter soll sich bei ihrem Vater dafür verwenden, daß die Kinder in Korinth bleiben dürfen, anstatt mit ihrer Mutter das Schicksal der Verbannung zu teilen); beide Geschenke hat Medeia vergiftet, so daß die Beschenkte, als sie sich damit schmückt, elend zugrunde geht (das Kleid frißt sich in ihr Fleisch, der nicht abzuschüttelnde Kranz fängt ein ›unauslöschlich‹ Feuer). Dasselbe Schicksal teilt ihr zur Hilfe herbeieilender Vater, sobald er sie berührt.

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des Dialogs soll der Vergleich pathetisch wirken: Orest will der Warnung davor, daß seine seelische Not ebenso ansteckend wie eine tödliche Krankheit ist (schon vorher bezeichnet er sich als »verpesteten[n] Vertriebne[n]« [V. 657]), mit dem mythologischen exemplum Nachdruck verleihen. Auf der Ebene des mythologischen Verstehens ist das exemplum jedoch nicht nur rhetorischer ornatus. Dort führt es vielmehr – entsprechend der Struktur des mythographischen Vergleichs6 – Ähnlichkeiten vor Augen, die zur Typenbildung tendieren: Orest, der von den chthonischen Rachegöttinnen – die schon Aischylos mit dem ›Barbarischen‹ assoziiert7 – verfolgt wird, und Jason, dem die heimtückische Rache der Zauberin aus Kolchis, dem ›Barbarenland‹, gilt, sind beide in das Barbarische verstrickt, dem sie sich als Griechen entgegenstellen. Auf solche Verstrickung zielt auch die zweite der beiden Anspielungen auf den Medea-Mythos. Sie wird dem Taurerkönig Thoas, dem Barbaren, in den Mund gelegt. Im letzten Aufzug von Goethes Drama zieht er eine Parallele zwischen dem von Orest und Pylades geplanten Raub der taurischen Diana-Statue, der sich der Beihilfe Iphigenies verdanken würde, wäre die Intrige nicht von ihr selbst wie auch von den Taurern aufgedeckt worden, und Jasons Raub des goldenen Vlieses, den die Beihilfe Medeas ermöglichte: Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge Den fernen Schätzen der Barbaren zu, Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern; Doch führte sie Gewalt und List nicht immer Mit den erlangten Gütern glücklich heim. (V. 2102–2106)

Thoas spielt hier unter anderem darauf an, daß der Raub des Vlieses Jason nicht zu einer ›glücklichen‹ Heimkehr nach Iolkos verholfen, sondern ihn im Gegenteil ins Elend gestürzt hat. So wird es auch, gibt er zu verstehen, Iphigenie für den Fall ergehen, daß sie ihre so oft beschworene Heimkehr nach Griechenland für den Raub der Diana-Statue nützen will. Thoas brandmarkt hier also die inhumane und räuberische Haltung der Griechen; er, der ›Barbar‹, konfrontiert sie mit ihrer Verstrickung in jenes 6 7

Vgl. Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, S. 96. In Eumeniden, V. 186–190, charakterisiert Apollon das Verfolgt-Werden durch die Erinnyen, indem er Formen von Bestrafung evoziert, die als typisch barbarisch galten; vgl. dazu Edith Hall: Inventing the Barbarian. Greek Self-Definition through Tragedy. Oxford 1989, S. 205. In mythologischer Hinsicht ist Orests Vergleich also durchaus begründet.

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Barbarische, das sie in der fremden, nichtgriechischen Welt erblicken, um sie verachten und ausbeuten zu können.8 Solche bedeutsame Anspielungen auf den Medea-Mythos finden sich weder in Goethes wichtigstem antiken Bezugstext, Euripides’ Iphigeneia im Lande der Taurer,9 noch, so weit sich das übersehen läßt, in den zahlreichen Iphigenie-Dramen des 18. Jahrhunderts.10 Um so signifikanter sind die beiden Anspielungen. Sie haben offenbar zwei miteinander verschränkte Funktionen. Einerseits erinnern sie an jenen ›barbarischen‹ Rest des griechischen Mythos, der sich dem Zugriff des vermeintlich kosmopolitischen, neuhumanistischen Bildungsprogramms, das Iphigenie propagiert, entzieht, und andererseits deuten sie an, daß die Gründe für dieses Sich-Entziehen nicht nur in jenem unverfügbaren und daher als ›fremd‹ und ›barbarisch‹ abqualifizierten Rest, sondern auch in dem neuhumanistischen Bildungsprogramm selbst zu suchen sind. Denn dieses postuliert zwar die Bildung der ›Barbaren‹ zur ›griechischen‹ Humanität, aber es erneuert zugleich die alte Opposition von ›Griechen‹ und ›Barbaren‹, die, wie sich im folgenden zeigen wird, ein Verfahren der herabsetzenden Ausschließung des Fremden

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Diese Verkehrung der Positionen kommt unten, Kap. 2.2, S. 48f., und in Kap. 4 eingehend zur Sprache. Zwar wird dort (V. 195–196, V. 813) vom Chor ein goldenes Vlies erwähnt, das im Konflikt zwischen Atreus und Thyestes eine Rolle spielte (dazu vgl. Walter Burkert: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin / New York 21997, S. 122f.), doch handelt es sich nicht um das Vlies des Phrixos. – Es sei angemerkt, daß hier und im folgenden der Begriff des antiken »Bezugstextes« nicht in philologisch-quellengeschichtlichem, sondern in intertextualitätstheoretischem Sinne verwendet wird; er ist strukturbezogen, entsprechend der teils begriffs-, diskurs- und gattungsgeschichtlichen, teils kulturanthropologischen Orientierung der vorliegenden Arbeit (s. dazu unten). So kann weitgehend außer Betracht bleiben, daß Goethe bei der Arbeit an Iphigenie Euripides möglicherweise nicht im Original las, sondern in französischer Übersetzung; vgl. Terence James Reed: Iphigenie auf Tauris. In: Goethe-Handbuch. Hrsg. v. Bernd Witte [u.a.] Bd. 2: Dramen. Hrsg. v. Theo Buck. Stuttgart / Weimar 1996, S. 195–228, hier S. 211. Zu Goethes Quellen s. auch ausführlich Uwe Petersen: Goethe und Euripides. Untersuchungen zur Euripides-Rezeption in der Goethezeit. Heidelberg 1974 (Studien zum Fortwirken der Antike in der Goethezeit, 8), S. 32ff., sowie Hartmut Reinhardts einleitende Bemerkungen zu Iphigenie auf Tauris in: Goethe: MA, Bd. 3.1, S. 729–751. Vgl. auch die Zusammenstellung von Goethes Äußerungen zu Euripides bei Ernst Grumach: Goethe und die Antike. 2 Bde. Berlin 1949. Bd. 1, S. 268ff. Indes führt schon die antike Überlieferung des Iphigenie- und des Medea-Mythos deren strukturelle Gemeinsamkeiten vor Augen. Vgl. dazu Wolf Hartmut Friedrich: Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie. Göttingen 1967, S. 68ff., und unten, Kap. 5.1, S. 176.

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oder als fremd Wahrgenommenen aus all dem ist, wofür das ›Griechische‹ steht. Auch in der humanistisch-neuhumanistischen Semantik des Barbarischen – so die erste Hauptthese der vorliegenden Untersuchung – ist die Funktion der Ausschließung wirksam, die jene alte Opposition hat: Das ›Barbarische‹ wird zur Konstitution von ›griechischer‹ Humanität als negative Folie benötigt, wie solche Humanität das ›Barbarische‹, sozial- und kulturgeschichtlich gesehen, als ihr auszubeutendes materielles Substrat benötigte. Die Anspielungen auf den Medea-Mythos machen in Goethes Drama also auf die Grenzen des ›griechischen‹ Humanismus aufmerksam. Tendenziell bilden sie die kontrapunktische Ergänzung der Stimme des Humanismus; sie sind der Ansatz zu einer Gegenstimme. Es sei angemerkt, daß die Metapher des Kontrapunkts in der vorliegenden Studie in Anlehnung an Edward Saids postkoloniale Literaturkritik verwendet wird. Dort meint sie vor allem eine sowohl der Diskursanalyse als auch der Vergleichenden Literaturwissenschaft verwandte Lektürepraxis, die darauf zielt, in literarischen Texten oder an ihren Rändern das wiederum kontrapunktisch-polyphone Zusammenspiel von ›diskrepanten‹ Erfahrungen und Sichtweisen vernehmbar zu machen. Said erprobt diese Lektürepraxis u.a. an kanonischen Romanen der englischen Literatur (Austen, Conrad, Kipling), die als Phänomene der ›Kultur‹ von den Herrschaftspraktiken des englischen Kolonialismus und Imperialismus untrennbar seien, ja zur Verwirklichung dieser Praktiken wesentlich beigetragen hätten.11 Es kommt ihm ausgehend von solchen Beispielen darauf an, die verdrängte Vernetzung westlicher Literatur und Kultur (wie auch der Literatur- und Kulturwissenschaften) mit jenen Herrschaftspraktiken hervorzuheben, indem er auf den wiederum verdrängten oder unterdrückten Widerstand gegen sie aufmerksam macht. Der Widerstand werde in den literarischen Texten selbst oder an ihren Rändern oder im Lichte postkolonialer Literatur als Gegenstimme vernehmbar, wenn man bereit sei, einen Wechsel der Interpretationsperspektive vorzunehmen, anstatt die im Westen immer noch dominante Perspektive der hierarchisierenden Ausschließung zu reproduzieren:

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Vgl. Edward W. Said: Culture and Imperialism. London 1993, S. XIII–XV, XXIV, 12f., 67 u. öfter. Dazu zusammenfassend Wolfgang Iser: How to Do Theory. Malden MA / Oxford 2006, S. 177: »The focus on what hegemonic discourses have suppressed is the hallmark of postcolonial discourse guided by the strategy of contrapuntal reading.«

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As we look back at the cultural archive, we begin to reread it not univocally but contrapuntally, with a simultaneous awareness both of the metropolitan history that is narrated and of those other histories against which (and together with which) the dominating discourse acts. In the counterpoint of Western classical music, various themes play off one another, with only a provisional privilege being given to any particular one; yet in the resulting polyphony there is concert and order, an organized interplay that derives from the themes, not from a rigorous melodic or formal principle outside the work. In the same way, I believe, we can read and interpret English novels, for example, whose engagement (usually suppressed for the most part) with the West Indies or India, say, is shaped and perhaps even determined by the specific history of colonization, resistance, and finally native nationalism. At this point alternative or new narratives emerge, and they become institutionalized or discursively stable entities.12

Der Beitrag der westlichen Kultur (vor allem der literarischen) zur Herrschaft des Westens über nichtwestliche Länder, zur hegemonialen Stellung des Mutterlands gegenüber den Kolonien, kann also nur dann als solcher erfaßt werden, wenn man die herrschende Perspektive durch die des Widerstands ergänzt, d.h. die kanonischen Texte kontrapunktisch liest. Der Widerstand selbst gerät freilich in Gefahr, die Dynamik der Ausschließung zu reproduzieren, indem er nationalistisch wird; die hegemoniale Kultur und der nationalistische Widerstand schotten sich im Namen essentialistischer Vorstellungen von kultureller Identität gegeneinander ab, während sie beide in Wahrheit hybrid und heterogen sind: »overlapping territories, intertwined histories«.13 Paradoxerweise führe gerade die westliche Unterscheidung zwischen »uns« und »den anderen«, die auf die antike Opposition von Griechen und Barbaren zurückgehe, vor Augen, daß kulturelle Identitäten wiederum kontrapunktische Gruppenbildungen (»contrapuntal ensembles«) seien, »for it is the case that no identity can ever exist by itself and without an array of opposites, negatives, oppositions: Greeks always require barbarians, and Europeans Africans, Orientals, etcetera. The opposite is certainly true as well.«14

12 13

14

Said: Culture and Imperialism, S. 59f. Said: Culture and Imperialism, S. 72; vgl. S. XXIX, 19f., 36f., 62f., 68 u. öfter. Vgl. auch Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M. 2006, S. 118: »Am Anfang steht nicht nur die Differenz, sondern auch eine Mischung, die jedes familiäre, nationale, rassische oder kulturelle Reinheitsideal als bloßes Phantasma entlarvt.« Said: Culture and Imperialism, S. 60; vgl. S. XXVIII und Said: Orientalism. London 2003 [1978], S. 54ff.

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Gemäß jener wertenden Unterscheidung zwischen »uns« und »den anderen« sind die Sprache der Literatur, Geschichtswissenschaft oder Ethnographie des ›age of empire‹ (dessen Ideologie nach Said schon am Ende des 18. Jahrhundert voll ausgebildet ist) von bestimmten »structures of attitude and reference« geprägt, und diese machen eine kulturelle Topographie (»cultural topography«) oder auch Geographie (»geographical reference«) aus, die Einzelwerken, die unter Umständen weit auseinander liegen, gemeinsam ist, wie Said wiederum mit Beispielen aus der englischen Literatur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert illustriert. In ihnen verbinde sich der Verweis (»reference«) auf das Machtzentrum im Mutterland, für das Attribute des Wichtigen und Erstrebenswerten kennzeichnend seien, mit Verweisen auf entfernte oder periphere Welten, die als dem Machtzentrum untergeordnete Räume angesehen würden.15 Als Faktoren dieser Topographie oder Geographie, die von der Kultur- und Literaturgeschichte wie auch von der Literaturtheorie bisher vernachlässigt worden sei, bestimmt Said erstens die maßgebende Stellung (»authority«) der europäischen Beobachtungsinstanz (z.B. des Verfassers von Reiseliteratur oder des Romanautors), zweitens die hierarchisierende Einteilung des Raums in Mutterland und abhängige Länder und drittens einen diskriminierenden Kultur-›Diskurs‹: »a cultural discourse relegating and confining the non-European to a secondary racial, cultural, ontological status«.16 Said fordert dazu auf, die wiederum kontrapunktische Struktur solcher Topographie oder Geographie geltend zu machen, anstatt sie als selbstverständlich hinzunehmen. Die skizzierte kulturelle Raumeinteilung ist Goethes Iphigenie zweifellos nicht in derselben Weise und mit derselben referentiellen Deutlichkeit eingeschrieben wie den Werken der englischen Literatur, die Said zitiert; zu den Gründen dafür zählt die klassizistische Form des Dramas, insbesondere der poetische Gebrauch der klassischen Mythologie, dem eine Tendenz zur Abstraktion von konkreten Inhalten innewohnt, wie sich im folgenden genauer zeigen wird.17 Und doch ist die kulturelle Topographie oder Geographie der Iphigenie in einem noch näher zu bestimmenden Sinn eine Variante der von Said beschriebenen, wie daraus erhellt, daß Goethe von seiner wichtigsten Vorlage, der Euripideischen Iphigeneia im Lande der Taurer, die hierarchisierend-wertende Opposition der semantischen Teilräume des

15 16 17

Vgl. Said, Culture and Imperialism, S. 58–71, Zitate S. 61; zur imperialistischen Geographie vgl. auch S. 3ff. Vgl. Said: Culture and Imperialism, S. 69f., Zitat S. 70. S. dazu unten in diesem Kapitel sowie Kap. 2.3.

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Hellenischen und des Barbarischen übernimmt18 – eine Opposition, die, historisch gesehen, das älteste Modell der von Said beschriebenen Raumeinteilung bildet. Die genaue Bestimmung der Bedeutung und Funktion, die das Modell bei Goethe annimmt, ist allerdings nur möglich, wenn man auf das Ineinander von Kontinuität und Wandel der Semantik des Barbarischen achtet – ein im vorliegenden Zusammenhang zentraler Aspekt, den Said vernachlässigt, den hingegen Reinhart Koselleck hervorkehrt: Seine Überlegungen zur »Grundfigur asymmetrischer Gegenbegriffe« im Sprachgebrauch der Politik zielen auf denselben Typ binärer Einteilung wie Saids Metapher der kulturellen Topographie, und auch sie beziehen sich unter anderem auf die Hellenen-Barbaren-Antithese. Doch geht es Koselleck von vornherein um die historische Semantik solcher antithetischen Zuordnungen, die insofern asymmetrisch seien, als in die Fremdbezeichnung eine abschätzige Bedeutung einfließe, so daß die derart Bezeichneten »sich wohl angesprochen, aber nicht anerkannt finden« könnten; Entgegensetzungen, die wie die Hellenen-Barbaren-Antithese »auf ungleiche Weise« konträr seien, könnten also nur einseitig verwendet werden. Dies aber in unterschiedlichen historischen Kontexten: Die Spannung »zwischen geschichtlicher Einmaligkeit und strukturaler Wiederholbarkeit« sei ein kennzeichnendes Merkmal der asymmetrischen Entgegensetzungen. Der Ausdruck ›Barbar‹ z.B. sei »in der wissenschaftlich-neutralen oder in der politisch-affektiven Sprache bis heute allgemein verwendbar, während der ihn ursprünglich negativ bestimmende Ausdruck des ›Hellenen‹ nur mehr historisch oder als konkreter Volksname weiterlebt«.19 Anders als Said klammert Koselleck den Bereich der Dichtung aus. Das ist insofern nicht nachvollziehbar, als die Anteile von Dichtung, Ethno-

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Zur Übertragung räumlicher Relationen auf semantische vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übs. v. Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 311ff.; David E. Wellbery: Semiotische Anmerkungen zu Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili. Hrsg. v. David E. Wellbery. München 31993. S. 69–87, hier S. 78, 82. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1989, Zitate S. 213, 211, 216, 218. Die nur einseitige Verwendbarkeit der Entgegensetzungen, die mit dem Barbarenbegriff einhergehen, hebt auch Said hervor: »[...] imaginative geography of the ›our land – barbarian land‹ variety does not require that the barbarians acknowledge the distinction. It is enough for ›us‹ to set up these boundaries in our own minds; ›they‹ become ›they‹ accordingly, and both their territory and their mentality are designated as different from ›ours‹« (Said: Orientalism, S. 54).

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graphie, Geschichtsschreibung, Rhetorik und Philosophie an der Semantik des Barbarischen von Anfang an nicht deutlich geschieden sind. Dennoch schärfen Kosellecks Überlegungen zur geschichtlichen Übertragbarkeit asymmetrischer Gegenbegriffe den Blick für das Ineinander von Altem und Neuem in der Semantik des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. So leuchtet es von vornherein ein, daß diese Semantik bei Goethe nicht dieselbe wie bei Euripides sein kann: Der antike Ethno-, genauer Hellenozentrismus, den die Opposition des Hellenischen und Barbarischen im klassischen Griechenland artikuliert,20 ist bei Goethe in einer neuhumanistischen Pädagogik aufgegangen; die alte kulturelle Topographie und Geographie bezieht sich nun, wie angedeutet, auf Iphigenies Programm, die Barbaren zur Humanität zu bilden. Doch die Dynamik der Ausschließung, die der Opposition der beiden semantischen Teilräume von Anfang an eigen ist (Koselleck spricht von einer »asymmetrische[n] Argumentationsstruktur«21), kehrt, wie ebenfalls bereits angedeutet wurde und wie in der vorliegenden Studie genau nachzuweisen ist, bei Goethe wieder, und die kontrapunktischen Medea-Anspielungen tragen zu der schon bei Euripides ausgesprochenen Einsicht bei, daß diese Ausschließung nur scheinbar auf einem gesicherten Fundament ruht; in Wahrheit bleibt das ›Griechische‹ tief ins ›Barbarische‹ verstrickt, mehr noch: die Ausschließung ist ein Faktor der Verstrickung, wie sich im folgenden zeigen wird. Schon hier drängt sich die Frage auf, auf welche außertextliche Realität sich bei Goethe die alte kulturelle Topographie oder Geographie bezieht. Wer kann in seinem ›Schauspiel‹ mit den Nomina Grieche und Barbar gemeint sein? Diese Frage ließe sich nur dann eindeutig beantworten, wenn der Iphigenie-Mythos bei Goethe allegorisch wäre. Der Barbar Thoas könnte dann z.B. der Repräsentant des unaufgeklärten, ungebildeten und gewaltsam regierenden Fürstentyrannen sein und Iphigenie die Repräsentantin einer Aufklärung, die eine riskante Wette darauf eingeht, daß die Fürsten sich eines Besseren belehren lassen, so daß ihre Gewaltherrschaft anders als wiederum mit Gewalt beendet werden kann. Einer solchen simplifizierenden Allegorese – sie ist durchaus versucht worden22 – widersetzen sich jedoch z.B. die Medea-Anspielungen, die Orest und Thoas in den Mund gelegt werden, insofern als sie, wie gesagt, die Verstrickung des ›Griechischen‹ ins ›Barbarische‹ vor Augen führen. Vor allem aber ließe

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S. dazu unten, Kap. 2.1. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 216. S. dazu unten, Kap. 4.1, S. 104ff., Anm. 12–13.

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eine derartige Allegorese außer acht, daß der Mythos als Form des Wissens eine eigengesetzliche Struktur hat, die sich auch im Medium der Dichtung behauptet. Folglich kann der Mythos zwar auf heterogene Formen, z.B. die historische, bezogen, aber nicht auf sie reduziert werden, selbst wenn sie den Mythos als Form des Wissens längst deklassiert haben.23 Dem widerspricht nicht, daß die moderne dramatische Bearbeitung eines antiken mythologischen Sujets immer eine distanzierende Reflexion über vorangehende Bearbeitungen, insbesondere über die antiken Bezugstexte, beinhaltet,24 im Gegenteil: Die Reflexion im Medium des Dramas führt auf durchaus beunruhigende Weise vor Augen, daß viel von dem, was der jeweilige Mythos und seine Bearbeitungen überliefern, nach wie vor wirksam ist, z.B. das Bild des minderwertigen Barbaren als Medium der Ausgrenzung fremder Ethnien. Auch Goethes Iphigenie zeigt, daß Barbar seit den griechischen Ursprüngen der abendländischen Kultur ein »europäisches Schlüsselwort« ist, »das andere Menschen schlagen und verletzen will«.25 Es geht in Goethes ›Schauspiel‹ also in erster Linie nicht um mögliche außertextliche Referenten der Opposition des ›Griechischen‹ und ›Barbarischen‹, sondern um die konflikthaltige, widersprüchliche Beziehung zwischen dieser Opposition und dem neuhumanistischen Bildungsprogramm, für das sie verfügbar werden soll. Und da sie seit Euripides Bestandteil des Iphigenie-Mythos und seiner tragischen Bearbeitungen ist, geht es ebenfalls um die Beziehung zwischen dem neuhumanistischen Bildungsprogramm einerseits und Mythos und Tragödie andererseits. Die Opposition des Griechischen und des Barbarischen ist auch bei Grillparzer von zentraler Bedeutung; sie ist ein Strukturmerkmal, das seine Trilogie mit Goethes Iphigenie und beide mit ihren antiken Bezugstexten verbindet. Und auch bei Grillparzer erfährt sie einen grundlegenden Bedeutungswandel: Zwar bezieht sie sich weiterhin auf das neuhumanistische

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Zur Autonomie des Mythos als Denk- und Lebensform vgl. die grundlegenden Überlegungen von Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt 81987. Zur literaturwissenschaftlichen Anwendung und Anwendbarkeit von Cassirers phänomenologischer Theorie vgl. zusammenfassend Herwig Gottwald: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg 2007, bes. S. 116ff. Vgl. Werner Frick: ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen 1998, S. 15f. u. öfter. Vgl. Arno Borst: Barbaren. Geschichte eines Schlagworts. In: Borst: Barbaren, Ketzer und Artisten. München / Zürich 1988, S. 19–31, Zitat S. 19.

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Bildungsprogramm, das Iphigenie bei Goethe propagiert, aber sie wird, so die zweite Hauptthese der vorliegenden Studie, zusätzlich und wiederum kontrapunktisch mit offen ethnozentrischen Bedeutungen versehen, die denen analog sind, die sie in der griechischen Tragödie, insbesondere bei Euripides, hatte.26 Ein Beispiel möge das vorwegnehmend illustrieren. In Korinth richtet Jason, scheinbar ganz im Sinne jenes Bildungsprogramms, an Medea den Appell: »Sei eine Griechin du in Griechenland« (M V. 190).27 Doch noch in derselben Szene unterminiert er seinen Appell und macht Medeas Hoffnung, wie er in Korinth aufgenommen zu werden, zunichte, indem er ihre und seine Vertreibung aus seinem heimatlichen Jolkos als Beweis dafür anführt, daß die Regel der Ausschließung des Barbarischen aus dem Griechischen gültig, daß also für Barbaren in der Welt der Griechen kein Platz ist: Hast du vergessen, wie’s daheim erging, In meiner Väter Land, bei meinem Ohm, Als ich zuerst von Kolchis dich gebracht? Vergessen jenen Hohn, mit dem der Grieche Herab auf die Barbarin sieht, auf – dich? (M V. 251–255)

Der Ton ist hier ein ganz anderer als bei Goethe; Jasons rhetorische Frage ist symptomatisch dafür, daß bei Grillparzer das Verhältnis zwischen Griechen und Barbaren ein unverblümt gewaltsames ist, in verbaler wie in physischer Hinsicht. Hat also die wertende Entgegensetzung von ›Grieche‹ und ›Barbar‹, jene von Said so genannte ›structure of attitude and reference‹, hier eine andere Bedeutung als bei Goethe? Gewiß kann die antithetisch strukturierte mythologische Welt von Grillparzers Trilogie ebensowenig wie die von Goethes Schauspiel auf eine allegorische Darstellung historischer Realität reduziert werden. Doch die szenische Realisierung der Antithese, ihre Dramaturgie, ist nun deutlicher auf die kriegerischen Konflikte bezogen, von denen die europäische Entdeckung, Missionierung und Inbesitznahme außereuropäischer Länder, insbesondere überseeischer, begleitet wurden. Die mythologische Welt wird bei Grillparzer offenbar zum Spiegel, der die antiken Anfänge der modernen Konflikte zeigt; nicht bildet die mythologische Welt die historischen Konflikte ab, sondern umgekehrt: Die

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S. dazu unten, Kap. 2.1. Das Goldene Vließ wird im folgenden nur mit Angabe der Verszahlen im fortlaufenden Text zitiert nach Grillparzer: FA, Bd. 2, S. 205–390. Dabei werden, den drei Teilen der Trilogie entsprechend, die Buchstaben G (Der Gastfreund), A (Die Argonauten) und M (Medea) den Verszahlen vorangestellt.

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Trilogie gibt zu verstehen, bis zu welchem Grad die historischen Konflikte die antithetisch strukturierte mythologische Welt abbilden. Die Quelle des Wissens von den ›primitiven‹ Völkern jener Länder waren die ethnographischen Beobachtungen der europäischen Reisenden, die je nach ihrem Bildungsstand die antike wertende Raumeinteilung als Deutungsmuster auf das Neuland, das sie betraten, projizierten.28 Teil dieser Projektion ist die Wiederverwendung des Barbarenbegriffs zur Bezeichnung der das Neuland bewohnenden Völker und ihrer Sitten.29 Die neuzeitliche ethnographische Wiederverwendung des Begriffs knüpft also an die ethnozentrischen Ursprünge der Semantik des Barbarischen an. Hingegen wird diese Semantik in den Iphigenie-Dramen von Racine bis Goethe und in den Medea-Dramen von Corneille bis Klinger gemäß der moralistisch-typisierenden Tendenz der tragédie classique und ihrer Sprache30 von einer humanistisch-verallgemeinernden Semantik überlagert; die dramenpoetische Semantik des Barbarischen hebt sich also von der ethnooder bereits eurozentrischen der Ethnographie ab.31 Freilich bleibt, wie oben angedeutet, bei Goethe (und, wie sich unten zeigen wird, schon bei Racine) der Ethnozentrismus das Substrat der humanistischen Semantik des Barbarischen; darauf macht Thoas gleichsam kontrapunktisch mit seinen Repliken aufmerksam, insbesondere mit seiner oben erwähnten Anspielung auf Jasons Raub des Vlieses. Dieses verdrängte und verborgene Substrat hebt Grillparzers Trilogie hervor, so daß in ihr die dramenpoetische Semantik des Barbarischen und seiner Opposition zum Griechischen wieder ein deutlich ethnozentrisches Profil zeigt. Nach dem soeben Gesagten ist anzunehmen, daß vor allem die Ethnographie der Neuzeit, insbesondere

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Vgl. Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal 2004, S. 64ff. S. dazu unten, Kap. 2.2. Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern / München 51971, S. 352ff.; zur neueren Forschung Werner Helmich: Grenzen und Leistungen der Mäßigungsästhetik in der Literatur der französischen Hochklassik und darüber hinaus. In: Klassische Menschenbilder. Hrsg. v. Josef Raab. Regensburg 2004, S. 49–96, bes. S. 70ff. Diese Tendenz zur moralistischen Typisierung macht sich auch noch in Klingers Prosa geltend; s. dazu unten, Kap. 5.1, S. 173f. Zum Eurozentrismus als einer Variante des Ethnozentrismus s. die unten, Kap. 2.2, S. 46, zitierte Bemerkung von B. Waldenfels; zur Beziehung zwischen ethnozentrischer und dramenpoetischer Semantik des Barbarischen unten, Kap. 2.3. sowie 5.1.

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die ›wilde Völkerkunde‹ der Reiseliteratur,32 den Kontext dieser Profilierung des Ethnozentrismus im Humanismus bildet. Für eine solche Kontextualisierung lassen sich auch die folgenden gattungs-, entstehungs- und rezeptionsgeschichtlichen Argumente geltend machen: 1. Grillparzers Trilogie ist selbst Reiseliteratur. Die drei Teile der Trilogie bezeichnen Phasen einer Reise vom Raum des Zivilisiert-›Humanen‹ in den des ›Barbarischen‹ und zurück (wobei die Rückkehr nicht gelingt). 2. Grillparzers dichterische Phantasie zeigt die Spuren intensiver Lektüre ethnographischer Reiseliteratur. In seiner Selbstbiographie (1853) berichtet er übrigens von solcher Lektüre: »Dagegen stand mir nun, als einem HalbErwachsenen die Bibliothek meines Vaters offen. Da war eine Sammlung von Reise-Beschreibungen, von denen mich besonders Cooks Weltumseglung so interessierte, daß ich bald in Otaheiti mehr zu Hause war als in unserer eigenen Wohnung«33 (gemeint sind vermutlich Johann Reinhold Forsters Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung [...] und Georg Forsters Reise um die Welt, die beide James Cooks zweite Weltumseglung dokumentieren). 3. Grillparzer setzt sich, wie die Vorarbeiten zur Trilogie belegen, nicht nur mit der antiken tragischen, sondern auch mit der antiken epischen Überlieferung des Argonauten-Mythos intensiv auseinander; er liest die Epen von Apollonios von Rhodos und Gaius Valerius Flaccus im Original.34 Diese aber sind mythologische Reiseliteratur. Die ethnographischen und ethnozentrischen Konnotationen, die das Barbarische bei Grillparzer erneut explizit hat, bilden jedenfalls einen der Gründe dafür, daß seine Trilogie vom Modell des versöhnlichen humanistischen ›Schauspiels‹, das Goethe mit Iphigenie auf Tauris schaffen wollte, abrückt und sich dem Modell der antiken Tragödie wieder annähert. Wie Thoas bei Goethe in dem oben zitierten Passus mit seiner Anspielung auf Jasons Raub des goldenen Vlieses Iphigenies neuhumanistisches Plädoyer kontrapunktisch um das erweitert, was es von sich ausschließt, so führt Grillparzers Trilogie wiederum kontrapunktisch das als unausweichliches Geschehen vor Augen, woran in Goethes ›Schauspiel‹ zwar erinnert wird, was sich aber, wie es scheint, durch mutiges Handeln abwenden läßt: die Verstrickung des ›Griechisch‹-Humanen der Europäer in das ›Barbarische‹,

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Zum Begriff der ›wilden Völkerkunde‹ vgl. Petermann: Geschichte, S. 73. Grillparzer: HKA, Erste Abt., Bd. 16, S. 77f. Zu den von Grillparzer möglicherweise benutzen Ausgaben vgl. die Anm. S. 286f. Vgl. die Exzerpte aus beiden Epen in Grillparzer: HKA, Erste Abt., Bd. 17, S. 288ff.

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das sie aus ihrem Kulturraum ausschließen. Grillparzers Trilogie entwickelt und potenziert gleichsam den Kontrapunkt, der sich bei Goethe abzeichnet.35 Übertragen auf die Beziehungen zwischen im engeren Sinne literarischen Texten, ist der Kontrapunkt also kennzeichnend für eine intertextuell ausgerichtete Schreibweise, die wie die Parodie den ›Gegengesang‹ zu einer Vorlage bildet, sich von der Parodie aber dadurch unterscheidet, daß sie die Vorlage nicht um komischer Effekte willen herabsetzt, sondern ihr jene ›Stimme‹ hinzufügt, die in der Vorlage zwar angelegt ist, dort aber übertönt wird.36 So erwächst im Goldenen Vließ aus den Anspielungen auf den Medea-Mythos, die sich in Goethes Iphigenie nachweisen ließen, der Kontrapunkt zum Iphigenie-Mythos. Parodie und Kontrapunkt schließen sich indes nicht aus: Bei Grillparzer wird Goethes pädagogisch-bildungsprogrammatischer Gebrauch der alten Antithese nicht nur kontrapunktisch ergänzt, sondern auch parodiert, am deutlichsten in den tragikomischen

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Die These, Goethes Humanismus sei für Grillparzer »wegweisend und richtunggebend« geblieben (Paul Hoffmann: Grillparzers Zeit. In: »Was nützt der Glaube ohne Werke«. Studien zu Franz Grillparzer anläßlich seines 200. Geburtstages. Hrsg. v. August Obermayer. Dunedin 1992, S. 9–30, hier S. 18), ist also zu nuancieren. Daß die Parodie ein Verfahren komisierend-herabsetzender »Imitation von Merkmalen eines Einzelwerkes, einer Werkgruppe oder ihres Stils« ist (Theodor Verweyen / Gunther Witting: Parodie. In: RLW, Bd. III, S. S. 23–27, hier S. 23), scheint die in der Forschung vorherrschende Meinung zu sein. Aus diesem Grunde wird in der vorliegenden Studie der Parodie-Begriff nicht auf die mit der Metapher des Kontrapunkts gemeinte intertextuelle Relation ausgedehnt. Zwar bringt Genette in seiner ausführlichen Bestimmung des Parodie-Begriffs diesen zunächst mit dem Kontrapunkt in Zusammenhang: Ihrer Etymologie nach sei die Parodie »le fait de chanter à côté, donc de chanter faux, ou dans une autre voix, en contrechant – en contrepoint –, ou encore de chanter dans un autre ton: déformer, donc, ou transposer une mélodie« (Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982, S. 17). Genette wählt dann aber zur Bezeichnung der »parodie sérieuse« (S. 35) nicht den Begriff des Kontrapunkts, sondern diejenigen der transposition (›transformation sérieuse‹) und der forgerie (›imitation sérieuse‹). Jene ist die direkte Transformation einer Vorlage durch die Versetzung der Handlung in einen neuen Kontext (Beispiel: Joyces Ulysses im Hinblick auf die Odyssee), diese die über ein Gattungsmodell vermittelte stilistisch-thematische Nachahmung einer Vorlage (Beispiel: Vergils Aeneis im Hinblick auf die Odyssee). Im Kontext der vorliegenden Untersuchung entspräche der Begriff der forgerie (eigentlich »Schmiedekunst«, »Schmiedehandwerk«) am ehesten dem des Kontrapunkts, doch dieser hat gegenüber forgerie den Vorteil, die Nähe des Gemeinten zur Parodie zum Ausdruck zu bringen.

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Szenen, in denen die Barbarin Medea sich dem Griechentum anpassen soll und dies auch will.37 Damit sind die intertextuellen Beziehungen zwischen beiden Dichtungen angesprochen. Sie stellen, wie gesagt, das zweite Argument für die eingangs formulierte hypothetische Deutung von Schillers Empfehlung des Medea-Stoffs bereit. Kontrapunkt und Parodie zählen, wie sich inzwischen gezeigt hat, zu den Typen der Beziehungen zwischen Goethes ›Schauspiel‹ und Grillparzers Trilogie. Ein weiterer hier relevanter Typ ist die ›Architextualität‹ (Genette) beider Dichtungen, d.i. ihre Bezugnahme auf das Modell der griechischen Tragödie und auf deren klassizistische Nachahmung; für die Bestimmung der Beziehungen zwischen beiden Dichtungen ist, wie angedeutet, die größere Nähe der Trilogie zum antiken Modell der Gattung von besonderer Bedeutung. Grillparzer selbst hat die Beziehungen zwischen dem Goldenen Vließ und Iphigenie mehrfach kommentierend hervorgehoben und dabei den Akzent auf alle drei Beziehungstypen gelegt. Nach Vollendung der Trilogie zählt er deren »vielleicht hie und da doch zu weit getriebene Abweichung von der Art, wie man seit Goethes Iphigenie griechische Stoffe behandeln zu müssen glaubt«, zu den Gründen für die Schwierigkeit, das Werk aufzuführen.38 Und in seiner Selbstbiographie merkt er an, es sei alles darauf angekommen, »den Unterschied zwischen Kolchis [also dem Barbarenland, M.W.] und Griechenland herauszuheben«,39 d.h. – im Lichte der vorangehenden Thesen – die Doppelfunktion von Kolchis als ›Rest‹ des griechischen Mythos, der sich dem Zugriff des humanistischen Bildungsprogramms entzieht, und als negativer Folie des griechischen Selbstverständnisses. Diese beiden Äußerungen wirken wie Kommentare zu jenen Teilen der Trilogie, die sich dem kontrapunktischen Typ zuordnen lassen. Hingegen rechtfertigt der Spott, mit dem in Grillparzers nachgelassener Literatursatire Friedrich der Große und Lessing, einem Totengespräch, der Preußenkönig die Glaubwürdigkeit und Gültigkeit von Goethes Humanisierung des Iphigenie-Mythos in Zweifel zieht, den parodistischen Umgang mit Goethes ›Schauspiel‹ und Grillparzers eigene Rückbesinnung auf das Modell der griechischen Tragödie:

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S. dazu unten, Kap. 5.4, S. 211f., 216ff. Brief an Karl Friedrich Moritz Paul Graf von Brühl, 22. August 1821. In: Dichter über ihre Dichtungen. Franz Grillparzer. Hrsg. v. Karl Pörnbacher. München 1970. S. 132–134, Zitat S. 133. Dichter über ihre Dichtungen. Franz Grillparzer, S. 138; vgl. S. 140f.

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Ist in der Iphigenie eine Spur von dem heroischen Zeitalter in dem die Handlung spielt. Oder glaubst du daß solche Gesinnungen und Charaktere möglich sind, wenn nicht lange vor Anfang der Handlung der Herr Onkel [gemeint ist Thyest, M.W.] seine eignen Kinder gegessen und der Vater seine Tochter den Göttern zum Opfer gebracht hat. Nichts davon zu sagen, daß dieser König Thoas nicht darnach aussieht, daß ein neues Menschenopfer irgend von ihm zu befürchten stünde. Göthe hat nur den Winkelmann [sic] in Handlung gesetzt und auf lebende Menschen angewendet was von toten Statuen allerdings seine Geltung haben mag.40

Diese Kritik ist um so aufschlußreicher, als sie überzogen ist. Durchaus hat ›das heroische Zeitalter‹ Spuren in Goethes Drama hinterlassen, freilich nur im Gedächtnis der Personen, nicht im Bühnengeschehen. Zu jenen Spuren zählen die genannten Medea-Anspielungen, vor allem aber Iphigenies ausführlicher genealogischer Bericht, der großen Raum in ihrem ersten Streitgespräch mit Thoas einnimmt; hier ist u.a. von der Greueltat die Rede, auf die Grillparzer anspielt: Ihr Großvater Atreus hat die Kinder seines Bruders Thyest heimlich ermorden und sie ihm dann als Speise vorsetzen lassen, um sich für die Intrige zu rächen, mit der Thyest ihn dazu verleitet hat, unwissentlich seinen eigenen Sohn hinzurichten; und diese Intrige war wiederum die Rache für ein anderes Verbrechen des Atreus usw. – Iphigenie evoziert eindrucksvoll den tendenziell endlosen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, der die Geschichte ihrer Familie, der Atriden, kennzeichnet. Sie kommt auch auf die Opferung ihrer selbst in Aulis zu sprechen. Diese zumindest findet keineswegs »lange vor Anfang der Handlung« statt. Und das von Iphigenie im Vierten Aufzug rezitierte Parzenlied ist eine Vergegenwärtigung des vorhumanistischen Götterbildes, das dem ›heroischen Zeitalter‹ eigen ist.41 Fraglich ist auch, ob Thoas’ Drohung, die ›barbarischen‹ Menschenopfer wiedereinzuführen, wirklich unglaubwürdig ist.42 Doch die mit dem Barbarischen assoziierte Gewalt bleibt, wie gesagt, aus dem Bühnengeschehen verbannt: Sie ist Gegenstand allein von Erinnerungen, Befürchtungen und Drohungen, die nicht in die Tat umgesetzt werden. Im Geschehen selbst hingegen scheint am Ende die versöhnlich-harmonisierende Tendenz des Dramas vorzuherrschen, d.i. das Ideal des ›Griechischen‹ als einer Bildung zur Humanität, an der angeblich alle, auch die Barbaren, teilhaben können und sollen.

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Grillparzer: HKA, Erste Abt., Bd. 13, S. 139. Die Satire wird in der HKA auf Ende 1841 datiert. S. dazu unten, Kap. 4.3. S. unten, Kap. 4.1 und 4.4.

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Diese Tendenz von Goethes Drama empfindet Grillparzer als beschönigenden mythologischen Anachronismus (wobei er hier die kontrapunktische Gegenstimme zur Stimme des Humanismus überhört). Daß er ihn mit dem von Winckelmann geprägten klassizistischen, ja ästhetizistischen Verständnis der griechischen Mythologie, dessen Modell die hellenistische Statue war, verknüpft, ist zutreffend und läßt an ähnlich lautende Bemerkungen Heinrich Heines denken.43 Zu erwarten ist daher, daß seine eigene mythologische Tragödientrilogie das klassizistische Mythologie-Konzept der Iphigenie exemplarisch mit dem konfrontiert, was dieses ästhetische Konzept vergessen läßt: die Verbindung des Griechentums und vieler seiner Mythen mit Formen kultischer Gewalt wie dem Menschenopfer, das schon die Euripideische Iphigeneia vergeblich als eine nur den Barbaren eigene Institution abzutun sucht.44 Dieser Verbindung war, wie die zuletzt zitierte Äußerung implizit zu verstehen gibt, das moderne ›Schauspiel‹ als Dramenform der Innerlichkeit nicht angemessen. Das ist ein weiterer Grund dafür, daß sich Grillparzer in viel größerem Maße als Goethe am antiken Modell der Gattung orientiert. Denn die griechische Tragödie, nicht nur die des Euripides, führt die feste Verbindung vieler Mythen mit der abstoßenden Gewalt, von der sie erzählen, vor Augen; sie versetzt das Publikum ins ›heroische Zeitalter‹ des Mythos zurück. Zugleich aber problematisiert sie die Verbindung von Mythos und Gewalt; sie ist mythoskritisch. Ebenso uneindeutig ist ihre Stellung zu der wertenden Entgegensetzung des Griechischen und des Barbarischen, die sie in den Mythos projiziert.45 An diesem für die griechische Tragödie grundlegenden Strukturmerkmal der Ambiguität, ja Widersprüchlichkeit orientiert sich Das goldene Vließ. Es wird daher aus verschiedenen theoretischen Perspektiven zu beleuchten sein, insbesondere im Hinblick auf die Beziehung zwischen Tragödie, Mythos und Opfer. Hier seien zunächst die Ergebnisse der vorangehenden Überlegungen festgehalten und im Hinblick auf das Folgende ergänzt. Wie sich gezeigt hat, werden die entstehungs- und rezeptionsgeschichtlichen Dokumente, die man als Belege dafür werten mag, daß Grillparzers Trilogie Fragen auf-

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Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (= Düsseldorfer Heine-Ausgabe [DHA]). Hrsg. v. Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973–1997, Bd. VIII/1, S. 155 (Die romantische Schule); dazu Markus Winkler: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus. Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines. Tübingen 1995, S. 96. S. dazu unten, Kap. 2.1, S. 36f., und 3.2.1, S. 85. S. dazu unten, Kap. 2.1, S. 37ff.

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greift, die Goethes Iphigenie offen ließ, nur dann aussagekräftig, wenn man sie auf Strukturen bezieht, die beiden Dichtungen gemeinsam sind;46 an diesen Strukturen kann sich also auch die hermeneutisch-rezeptionsästhetische Logik von Frage und Antwort orientieren. Im vorangehenden kamen vor allem semantische, aber auch dramenpoetische Strukturen zur Sprache. Jene sind in der kulturellen Topographie oder Geographie, deren wichtigste Komponente die wertende Entgegensetzung des Griechischen und des Barbarischen ist, diese sind in der Bezugnahme auf die antike Tragödie und ihre klassizistische Nachahmung zu finden. Im Hinblick auf die Topographie oder Geographie zeichnet sich ab, daß Grillparzers Trilogie sich teils kontrapunktisch, teils parodistisch auf Goethes Schauspiel bezieht; dabei orientiert sie sich an der ethnozentrischen Bedeutung, die der Topographie oder Geographie in der antiken Tragödie zukam, während sich in Goethes Iphigenie keine Spuren dieser Bedeutung zu finden scheinen. Dieselbe Divergenz macht sich in der beiden Dichtungen gemeinsamen Gattungszugehörigkeit bemerkbar. Während in Iphigenie der Versuch vorherrscht, das in den antiken Bezugstexten, insbesondere bei Euripides, zentrale Problem der Beziehung zwischen heroischem Mythos und kultischer Gewalt, insbesondere zwischen Mythos und Menschenopfer, untragisch zu lösen, führt

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Die verbreitete Charakterisierung von »Medea«, dem dritten Teil der Trilogie, als ›Anti-Iphigenie‹ basiert nicht auf der Analyse dieses strukturellen Zusammenhangs, sondern auf summarischen ideen- und sozialgeschichtlichen, psychologischen, biographischen oder stoffgeschichtlichen Beobachtungen. Vgl. z.B. Friedrich Sengle: Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 87; Mathias Luserke-Jaqui: Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2002, S. 206; Hans-Georg Werner: Verteufelt human. Etwas über den Zusammenhang zwischen Goethes »Iphigenie« und Grillparzers »Goldenem Vließ«. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 86–88 (1982–1984), S. 247–259. Werner macht die Äußerungen beider Dichter über ihre Dichtungen zur Norm seiner Überlegungen, abstrahiert nahezu gänzlich sowohl von den Antike-Bezügen als auch von der Gattungsgeschichte, verzichtet auf eine textanalytisch fundierte Kontextualisierung (die politischen Bezüge beider Dichtungen werden auf Biographisches – Goethes Situation in Weimar, Grillparzers Situation in Wien – reduziert) und kommt so zu dem aus der ›kontrapunktischen‹ Perspektive der vorliegenden Untersuchung durchaus unrichtigen Ergebnis, Grillparzer baue die Handlung der Trilogie im Gegensatz zu Goethe »auf der Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes von Griechen- und Barbarenland« auf (S. 256). Das widersprüchliche Ineinander von Hellenisierung und Ausgrenzung der Barbaren ist, wie sich im folgenden zeigen wird, schon in Goethes Drama strukturbildend. – Bei aller Kritik ist anzumerken, daß sich Werners Studie zur intertextuellen Beziehung zwischen beiden Werken deutlich von der älteren, häufig autorimmanenten Forschung zum Goldenen Vließ abhebt.

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Das goldene Vließ dank der Orientierung am antiken Modell der Tragödie die Unlösbarkeit des Problems vor Augen. Diese Unlösbarkeit wiederum – das ist die dritte Hauptthese der vorliegenden Untersuchung – verweist auf jenen Rest am griechischen Mythos und seiner Überlieferung, der nicht humanisiert werden kann und alle Versuche zunichte macht, ihn als ›barbarisch‹ vom ›Griechischen‹ zu unterscheiden. Das zeigt sich ansatzweise bei Goethe und wird bei Grillparzer im Zuge des Übergangs vom Iphigenie- zum Argonauten- und Medea-Mythos unübersehbar. Denn der Kult der reinen ›griechischen‹ Humanität bedarf des Opfers der Barbarin; auch er heiligt also eine wiederum barbarische Gewalt, die Menschen angetan wird. An den anthropologischen und strukturellen Kern dieser inszenierten Heiligung, die Beziehung zwischen Mythos und Kultus, reicht die Analyse der Griechen-Barbaren-Antithese als eines abendländischen ›Diskurses‹ aber nicht heran, zumal die Diskursanalyse als Methode die Frage nach den Erfahrungen, die der jeweilige ›Diskurs‹ verarbeitet oder verdrängt, systematisch zurückweist.47 Zur Erhellung der Beziehung von griechischem Mythos, kultischer Gewalt und Tragödie können hingegen kulturanthropologische Überlegungen wie die von Walther Burkert und René Girard beitragen, wie sich weiter unten zeigen wird.48 Im folgenden soll jedoch zunächst von der kulturellen Topographie oder Geographie die Rede sein, insbesondere von ihrem wichtigsten Strukturmerkmal, der wertenden Entgegensetzung der semantischen Teilräume des ›Griechischen‹ und des ›Barbarischen‹, dieser – es sei an Saids Definition erinnert – ›structure of attitude and reference‹, die Grillparzers Trilogie mit Goethes Iphigenie und beide Dichtungen mit ihren antiken Bezugstexten verbindet, indem sie sich dem jeweiligen kulturgeschichtlichen Kontext anpaßt.

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Vgl. Michel Foucault: L’ordre du discours. Paris 1971, S. 49ff., bes. S. 55, wo die Regel der Exteriorität als eines der methodologischen Prinzipien der Diskursanalyse formuliert wird: »[...] ne pas aller du discours vers son noyau intérieur et caché, vers le cœur d’une pensée ou d’une signification qui se manifesteraient en lui; mais, à partir du discours lui-même, de son apparition et de sa régularité, aller vers ses conditions externes de possibilité, vers ce qui donne lieu à la série aléatoire de ces événements et qui en fixe les bornes.« S. unten, Kap. 3.1.

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2.

Aspekte der Semantik des Barbarischen

2.1. Antike Tragödie Die Geschichte des Begriffs »barbarisch« ist noch zu schreiben. Sie müßte seine Verwendung in allen europäischen Sprachen berücksichtigen und von der Antike bis zur Gegenwart reichen. Daß sie noch nicht geschrieben worden ist, rührt vielleicht von der Schwierigkeit her, zu diesem Begriff Abstand zu gewinnen: Auch in der politischen Rhetorik unserer Tage ist er unvermindert aktuell; nach wie vor trägt er entscheidend zur Erzeugung von Aggressionen und zur Schaffung von Feindbildern bei, und neuerdings ist er auch wieder ein Mittel der Kriegsführung. Die »Theorie des Barbaren«, die Manfred Schneider vorgelegt hat, ersetzt die Begriffsgeschichte des Barbarischen nicht, im Gegenteil: Das Fehlen einer solchen Geschichte, das nach Schneider für seine Theorie nicht von Belang ist, verleitet ihn dazu, die positive Wertung des Barbaren bei Nietzsche und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – der Barbar als Überwinder einer dekadenten Kultur – mit der negativen Wertung – der Barbar als Feind der Kultur – auf eine Stufe zu stellen und beide zu einer Figur der »Doppelgesichtigkeit« zusammenzusetzen, die in der »Rhetorik des Kulturellen oder Zivilisatorischen« immer dann eine zentrale Rolle spiele, wenn Krisen angesagt seien. So kommt er zu dem Ergebnis, »daß jede Zivilisation die Barbarei in sich trägt: als ihr anderes, als das Bild ihres Wiederbeginns, als ihre trügerische Alternative.«1 Das Substantiv Barbar bezeichnet bei Schneider also eine im Nacheinander der Epochen identische Figur der Selbstbezweiflung der Kultur. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß es sich primär um eine antithetisch-›asymmetrische‹ (Koselleck) Figur der Affirmation kultureller Überlegenheit handelt und daß – im Unterschied etwa zu den partiell synonymen Bezeichnungen Wilder

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Manfred Schneider: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München / Wien 1997, Zitate S. 15, 12, 296.

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und wild – die positiv wertende Verwendung von Barbar und barbarisch historisch gesehen nicht entfernt dasselbe Gewicht hat wie die pejorative,2 die auch bei Goethe und bei Grillparzer dominiert.3 In einer der neuesten Arbeiten zum Begriff des Barbarischen, RogerPol Droits Généalogie des Barbares, steht zwar die pejorative Verwendung des Begriffs im Zentrum. Doch dem Autor geht es vor allem um die Frage, ob die Verwendung des Barbarenbegriff gegenwärtig noch sinnvoll sein kann. Seine Antwort lautet, daß der Begriff heute anders als bei den Griechen nicht einen Mangel an Vernunft, Selbstbeherrschung usw. bezeichnen sollte, sondern das Gegenteil: den Triumph einer völlig entgrenzten und daher inhumanen, totalitären Vernunft.4 Im Hinblick auf diese normative Begriffsbestimmung kommen bei Droit einige Etappen der Begriffsgeschichte zur Sprache. Ausgewertet werden indes vor allem philosophische, theologische und geschichtswissenschaftliche Quellen, nicht hingegen ethnographische und nur am Rande literarische. Der spezifische Beitrag, den die Literatur, insbesondere die mythologische Tragödie der

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Zum Überwiegen der barbarenfeindlichen Vorstellungen in Griechenland und Rom vgl. Julius Jüthner: Hellenen und Barbaren. Aus der Geschichte des Nationalbewußtseins. Leipzig 1923, S. 12f.; Volker Losemann: Barbaren. In: Pauly (Neu), Bd. 2, Sp. 439–443, hier Sp. 439; Ilona Opelt u. Wolfgang Speyer: Barbar I. In: RAC. Supplement-Bd. 1 (2001), Sp. 811–895, hier Sp. 837. Die vereinzelte »Idealisierung geschichtlicher Fremdvölker beginnt erst im 4. Jahrhundert« v. Chr. (Sp. 821). Im deutschsprachigen Raum sei die positiv wertende Verwendung von Barbar, Barbarei und barbarisch erst seit dem frühen 20. Jahrhundert belegt, wird im Deutschen Fremdwörterbuch festgestellt; vgl. SchulzBasler2, Bd. 3, S. 124, 131, 137. Diese Feststellung ist freilich im Hinblick auf die einschlägigen Stellen bei Nietzsche zu nuancieren; vgl. z.B. Jenseits von Gut und Böse, 257 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, Bd. 5, S. 205f.) und Genealogie der Moral, 1, 11 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, S. 275). Zu Goethes Gebrauch des Begriffs vgl. die zahlreichen Belegstellen unter den Stichwörtern Barbar, Barbarei und barbarisch im GWb, Bd. 2, Sp. 56ff. Goethe verwendet den Begriff (auch in figurensprachlichen Äußerungen) vor allem als negativ-wertenden Gegenbegriff zu ›Bildung‹, ›Kultur‹ und humaner Gesittung, und zwar sei es in Werturteilen, sei es zur Bezeichnung einer niedrigen Kultur- und Entwicklungsstufe, bisweilen auch relativierend im Hinblick auf den antiken Sprachgebrauch oder kritisch-distanzierend im Hinblick auf den gegenwärtigen. Vereinzelt ist die Verwendung parodistisch wie z.B. in der zweiten Römischen Elegie (»Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib«, FA, I. Abeilung, Bd. 1, S. 397), sehr selten ist sie wertfrei. Vgl. Roger-Pol Droit: Généalogie des barbares. Paris 2007, bes. S. 303f. Die Nähe dieser These zu derjenigen der Dialektik der Aufklärung ist evident, wird indes von Droit außer acht gelassen. Auch Droit hält eine umfassende Geschichte des Barbarenbegriffs für überflüssig (vgl. ebd., S. 17).

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Griechen, zur Genese der Semantik des Barbarischen und zur Reflexion über sie geleistet hat, bleibt somit ausgeklammert. Das gilt auch für Tzvetan Todorovs politischen Essay La peur des barbares. Hier finden sich nur knappe Verweise auf die Begriffsgeschichte, und diese haben allein die Aufgabe, die Kritik des Autores an der verbreiteten Ansicht vom »clash of civilizations« (Huntington) und sein Plädoyer für einen interkulturellen Dialog zu untermauern.5 Die folgenden Überlegungen sind nicht als Skizze der noch zu schreibenden Begriffsgeschichte des Barbarischen gedacht, zumal eine solche Skizze bereits vorliegt.6 Ihr Ziel kann vielmehr nur darin bestehen, auf die Geschichte, die der Begriff und das Bild des Barbarischen in Goethes Iphigenie auf Tauris und in Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ haben, aufmerksam zu machen. Diese Geschichte beginnt mit der Hellenen-Barbaren-Antithese, die in der griechischen Tragödie begegnet, inbesondere in denjenigen Dramen des Euripides, die Goethes und Grillparzers wichtigste antike Bezugstexte waren. In die Antithese gingen ethnographische Beobachtungen der frühen griechischen Geschichtsschreibung ein, die sich wiederum teilweise an der Tragödie orientierte,7 und sie wurde später von der Rhetorik und der klassischen griechischen Philosophie wiederaufgenommen. Bei der Verbreitung der Klischeevorstellungen vom Barbaren, die sich mit der Antithese einstellten, spielte also die Tagödie eine herausragende Rolle – vermutlich wegen der wichtigen Aufgabe, die den Städtischen Dionysien bei der Bildung des panhellenischen Nationalbewußtseins zukam.8 Die negativen Klischeevorstellungen zählen indes nicht von Anfang an zu den Bedeutungsmerkmalen des Begriffs.9 Das lautmalende griechische

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Vgl. Tzvetan Todorov: La peur des barbares. Au-delà du choc des civilisations. Paris 2008. Todorov hebt selbst hervor, daß die Geschichte des Barbarenbegriffs nicht im Zentrum seiner Überlegungen steht (vgl. S. 30). − Zu Huntington s. unten, Kap. 5.1, S. 168f. Vgl. den bereits zitierten Aufsatz von Borst: Barbaren (s. oben, Kap. 1, S. 10, Anm. 25). Vgl. dazu Josef Feix im Anhang zu seiner zweisprachigen Herodot-Ausgabe (s. Literaturverzeichnis), Bd. 2, S. 1300. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 162ff., S. 196. Zur antiken Begriffsgeschichte vgl. vor allem Opelt / Speyer: Barbar I (dort zahlreiche weitere Literaturangaben); Jüthner: Hellenen und Barbaren; Wolfgang Detel: Griechen und Barbaren. Zu den Anfängen des abendländischen Rassismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), S. 1019–1043 (dort eine scharfe Kritik an Albrecht Dihle: Die Griechen und die Fremden. München 1994); Losemann: Barbaren; Susanne Aretz: Die Opferung der Iphigeneia in

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Adjektiv (bárbaros), das auch als Substantiv verwendet wurde, bedeutet ursprünglich »unverständlich sprechend« und »fremdsprachig«; bis ins späteste Altertum blieb diese sprachbezogene Bedeutung lebendig, und sie ging in den noch heute gebräuchlichen Terminus Barbarismus ein. Ein Beleg aus der Frühzeit der Begriffsgeschichte findet sich im zweiten Gesang der Ilias, in dem die mit den Trojanern verbündeten Karer ganz ohne politische Wertung als »ein Volk barbarischer Mundart« charakterisiert werden.10 Mit der Bedeutung »fremdsprachig« verbunden ist die zweite Grundbedeutung von bárbaros : »nichtgriechisch«, »fremd«. Wann der Begriff in diesem Sinne zur ethnographischen Gesamtbezeichnung für fremde, nichtgriechische Völker wurde – ob schon im Zuge der griechischen Kolonisation (8.–6. Jahrhundert v. Chr.) oder erst im 5. Jahrhundert v. Chr., in dem dieser Gebrauch bei Herodot belegt ist11 –, scheint nach wie vor umstritten.12 Mit Sicherheit ist aber davon auszugehen, daß die polarisierende und ethnozentrisch-wertende Engegensetzung von Hellenen und Barbaren, die bald ein rhetorischer Topos wurde und mit der sich die Menschheit als ganze bezeichnen ließ,13 im 5. Jahrhundert aufkam. Denn im Zuge des großen Konflikts der Griechen mit den Persern und des Siegs der griechischen ›Demokratie‹ über die persische ›Tyrannei‹ wird bárbaros zum Attribut der Perser, der Feinde Griechenlands, und da deren Reich sich auf eine Vielzahl von Völkern erstreckte, mit denen die Griechen Kontakte hatten – Ägypter, Phönizier, Phrygier und Thraker –, dient der Begriff dann der wiederum ethnozentrisch-wertenden Bezeichnung aller Nicht-Griechen. Dank dieser Funktion, die man als dritte, pejorative

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Aulis. Die Rezeption des Mythos in antiken und modernen Dramen. Stuttgart / Leipzig 1999, S. 206f.; auch dort wie bei Detel weitere Literatur. Zur Rolle des Barbarenbegriffs in der antiken Ethnographie vgl. Petermann: Geschichte, S. 30ff. Homer: Ilias, 2, V. 867. Übersetzung von J.H. Voss. Vgl. Herodot, II, 50 und 57, wo das Wort bárbaros »fremdländisch«, »nichtgriechisch« bedeutet und auf die Ägypter bezogen wird, die Herodot sehr bewunderte (vgl. II, 77). Herodot ist sich zugleich der Relativität des Begriffs bewußt: Er unterstreicht, daß auch die Ägypter alle Völker als Barbaren bezeichnen, die nicht die gleiche Sprache sprechen wie sie selbst (vgl. II, 158.) Zur Verwendung des Barbarenbegriffs bei Herodot und in der späteren antiken Ethnographie vgl. Wilfried Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«. Alte Geschichte und Sozialanthropologie. Frankfurt/M. 1990, S. 15, 23ff. Vgl. Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 819; dagegen Hall: Inventing the Barbarian, S. 10: »There is indeed little evidence for the category ›the barbarians‹, encompassing the entire genus of non-Greeks, until Aeschylus’ Persae of 472 BC.« Vgl. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 7 u. Anm. 31.

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Grundbedeutung von bárbaros bestimmen kann, spiegelt und stärkt der Begriff bis zum Fall von Konstantinopel das Bewußtsein, das die Griechen von ihrer kulturellen Überlegenheit haben.14 Als Attribut der Perser nimmt das Wort im 5. Jahrhundert die Bedeutungen ›menschliche und göttliche Ordnung verachtend‹, ›grausam‹, ›unfrei‹, ›ausschweifend‹ und ›verweichlicht‹ an. Bei Herodot werden die Athener, die der Makedonier Alexandros zu einem Vergleich mit den Persern zu überreden sucht, von spartanischen Gesandten daran erinnert, daß bei Barbaren Treue und Wahrheit nicht zu finden seien .15 Dieses Barbarenbild war geprägt von Aischylos’ Persern (472 v. Chr.), der einzigen historischen Tragödie des klassischen Zeitalters, die ganz erhalten geblieben ist. In ihr bezeichnen sich die Perser selbst als Barbaren, und sie erklären selbst die verheerende Niederlage von Salamis damit, daß ihr Reich von einem – durchaus grausamen (vgl. V. 371) – Despoten regiert wird, nämlich Xerxes. Dieser hat sich, wie es der Geist seines Vaters Dareios ganz im Sinne griechischer Götterlehre ausspricht (V. 739–752, 800–831), in seiner Hybris zum Frevel an der von den Göttern geschaffenen Ordnung verstiegen, indem er eine Brücke über den Hellespont schlug, seine Soldaten griechische Tempel zerstören und Götterbilder rauben ließ, und vor allem, indem er, wie es schon Atossas, seiner Mutter, allegorischer Traum zeigt, nicht nur das Bar[...] , V. 187), sondern auch Hellas unter sein barenland ( Joch zu zwingen suchte. Beide Länder sind aber unvereinbare Welten, denn die Barbaren sind Sklaven, die Hellenen hingegen frei, wie der Chor der persischen Greise feststellt (vgl. V. 242). Und der Freiheit, die, wie später Herodot (VII, 102, 104) hervorhebt, vom allen gemeinsamen Gesetz regiert wird, verdanken die Hellenen den alle verbindenden patriotischen Geist, der sie über die der Zahl nach weit überlegenen Perser siegen ließ (vgl. V. 402–405, 792). Der ideologisch verengende Zug dieser wertenden Entgegensetzung von griechischer Freiheit und persischer Sklaverei ist augenfällig: Ausgeklammert bleibt, daß die Sklavenwirtschaft als ökonomische Basis jener

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Vgl. Hans Diller: Die Hellenen-Barbaren-Antithese im Zeitalter der Perserkriege. In: Grecs et Barbares. Six exposés et discussions. Genève 1962, S. 37–68, hier S. 44f.; Hall: Inventing the Barbarian, S. 11. Das Wort ethnozentrisch verwende ich in Anlehnung an das englische ethnocentric: »Regarding one’s own race or ethnic group as of supreme importance« (OED Online, s. v. »ethnocentric«). Herodot, VIII, 142.

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Freiheit ein unverzichtbarer Bestandteil des Systems der Polis war. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. bildeten die Sklaven einen großen Teil, möglicherweise sogar die Hälfte, der Gesamtbevölkerung von Athen und Attika. Das ist hier insofern von besonderer Bedeutung, als die überwiegende Zahl der Sklaven Fremde waren, d.h. ›Barbaren‹ im Sinne von Nichtgriechen; sie stammten »zumeist aus minderkultivierten Teilen Kleinasiens, aus Syrien, Thrakien und den Küstenländern des Schwarzen Meeres«, aber auch aus Afrika.16 Die Verachtung, die man für die eigenen Sklaven wie für die Sklaverei despotisch regierter Völker empfand, zählte also zu den Faktoren der Semantik des Barbarischen.17 Diese wiederum steuerte die Wahrhnehmung anderer, ›sklavischer‹ Völker und der Sklaven im Landesinneren; sie schuf derart die negative Folie, von der sich die ethnische Identität der Hellenen abheben ließ.18 Bei Herodot werden in der Antwort, mit der die Athener den spartanischen Gesandten ihre Treue zur Sache der Hellenen versichern und Alexandros’ Ansinnen zurückweisen, vier Kriterien hellenischer Identität genannnt: gleiches Blut, gleiche Sprache, gleiche Heiligtümer und Opfer, gleichgeartete Sitten.19 Schon bei Aischylos wird mit kunstvollen sprachlich-stilistischen Mitteln der Eindruck erzeugt, daß die Perser eine fremde Sprache sprechen, und ihre politische Psychologie, ihre Gesten und ihre Sitten wirken ebenfalls fremd. Hall erblickt deshalb im Anschluß an Said in der Perser-Tragödie den Beginn des westlichen ›Diskurses‹ über den Orient: »The tragedy is not ornamented by oriental colouring but suffused by it, indeed it represents the first unmistakable file in the archive of Orientalism, the discourse by which the European imagination has dominated Asia ever since by conceptualizing its inhabitants as defeated, luxurious, emotional, cruel, and always as dangerous.«20 Dem ist freilich einschränkend hinzuzufügen, daß Aischylos kein stereotypisch-herabsetzendes, sondern ein durchaus differenziertes, ja – im oben definierten Sinne – kontrapunktisches Porträt der ›barbarischen‹ Perser malt, denn er deutet auch die Zusammengehörigkeit des Hellenischen und Barbarischen an. So erscheinen

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Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 12. Vgl. Paul A. Cartledge: Sklavenhandel. In: Pauly (Neu), Bd. 11, Sp. 619–621. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 101f., 165, 196 u. öfter. Vgl. oben, Kap. 1, S. 6f., die Ausführen von Said, ferner Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 220f. Vgl. Herodot, VII, 144. Dazu ausführlich Hall: Inventing the Barbarian, S. 165, 172ff. Hall: Inventing the Barbarian, S. 99. Vgl. Said: Orientalism, S. 56f.

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in Atossas Traum Hellas und Barbarenland als kostbar gekleidete Frauen von außerordentlicher Schönheit, die bei aller Verschiedenheit ihrer ethnischen Attribute doch leibliche Schwestern sind (vgl. V. 181–187). Dementsprechend nehmen die Barbaren an keiner Stelle der Tragödie Züge von kulturlosen Wilden an.21 Das geschieht hingegen durchaus in anderen Tragödien des klassischen Zeitalters, vor allem in denen des Euripides, bei dem auch das Wort bárbaros und verwandte Wörter wesentlich häufiger als bei Aischylos und Sophokles verwendet werden (diese Feststellung bleibt selbst dann gültig, wenn man in Rechnung stellt, daß von ihm bedeutend mehr Stücke und Fragmente erhalten sind als von den beiden anderen Tragikern).22 Dabei profilieren sich die Bedeutungsmerkmale des Wilden und zutiefst Bösen oder des Rohen und Ungebildeten, die im weiteren Verlauf der Geschichte des Begriffs immer mehr an Gewicht gewinnen. Ob sich in dem Bild der kulturell überlegenen Griechen und minderwertigen Barbaren, das Euripides’ Tragödien malen, das in ihnen aber auch in Frage gestellt wird, ein Bedürfnis nach panhellenischer Kompensation der nationalen Selbstzerfleischung im Zeitalter des Peloponnesischen Kriegs artikulierte,23 ist im vorliegenden Zusammenhang weniger von Belang als ein semiotisches Merkmal, durch das sich dieses Bild grundlegend vom Bild der Barbaren, das die Perser-Tragödie vermittelt, unterscheidet. In ihr wird, wie sich oben gezeigt hat, ein Ereignis der damals noch aktuellen, jüngsten Geschichte mythisiert. Dareios deutet die Niederlage der Perser bei Salamis als von Zeus verhängte Strafe für Xerxes’ Hybris; der Barbar Xerxes nimmt so Züge eines mythischen Heros an (möglicherweise sollte sein Sturz an den des Phaeton erinnern).24 Hingegen gehören in allen anderen erhaltenen Tragödien des klassischen Zeitalters, in denen Barbaren auftreten, diese von vornherein der Welt des jeweiligen heroischen Mythos an. Voraussetzung dafür war, daß die Tragiker die wertende Opposition des Hellenischen und Barbarischen, jene wichtige Komponente der attischen Ideologie des 5. Jahrhunderts, in die Mythen projizierten; die mythischen Fremden

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Vgl. Helen H. Bacon: Barbarians in Greek Tragedy. New Haven, CT 1961, S. 12, 44f., 62f. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das positive Bild, das hier von Dareios und in Agamemnon von Kassandra gezeichnet wird. Vgl. Bacon: Barbarians, S. 10: Bei Euripides begegnet das Wort sechsmal häufiger als bei Aischylos und zehnmal häufiger als bei Sophokles. Vgl. Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 821f.; Diller: Die Hellenen-Barbaren-Antithese, S. 55. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 69 u. Anm. 52.

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werden aufgrund dieser Projektion als Barbaren wahrgenommen, und die Mythen werden zum Spiegel jener Ideologie.25 In der heroischen Epik und Lyrik des vorklassischen, archaischen Zeitalters findet sich noch keine Spur dieser Identifikation der mythischen Fremden mit Barbaren, wie Edith Hall detailliert und überzeugend nachweist. Homer z.B. kennt keine Differenzen zwischen griechischer und trojanischer Kultur; die Helden beider Völker verhalten sich gleich. In den nachhomerischen, bis auf wenige Fragmente verschollenen Epen, aus denen die Tragiker die Mythen schöpften, die sie nachahmten, war das offenbar nicht anders. Die Welt des heroischen Mythos blieb homogen; die ethnische Identität ihrer Bewohner war nicht von Belang.26 Das gilt nicht nur für den trojanischen, sondern auch für den Argonauten-Mythos. Überhaupt waren es Hall zufolge erst die Tragiker, die Einzelbeobachtungen und Sehweisen der Historie und Ethnographie ihrer Zeit (Sophokles und Euripdes sind an bestimmten Stellen offenbar direkt Herodot verpflichtet)27 in den heroischen Mythos einführten, indem sie die mythischen Trojaner orientalisierten, ihnen Züge der ›barbarischen‹ Perser verliehen und anderen Figuren des Mythos eine im geographischen Sinne ›barbarische‹ Herkunft andichteten. Derart ›erfanden‹ sie, wie Hall treffend formuliert, den mythischen Barbaren; das Bild der Figuren, die im Mythos als Fremde erscheinen, wird nun durch ihre Bezeichnung als Barbaren mit ethnozentrischen Bedeutungen versehen, und umgekehrt wird das ethnisch Fremde, im geographischen und kulturellen Sinne ›Barbarische‹, mythisiert und zu einem einzigen Genus zusammengefaßt.28 So war Medeia ursprünglich keine Barbarin; bei Hesiod gilt sie noch als Göttin, eine ›Fremde‹ ist sie schon bei Pindar, doch als Barbarin bezeichnet wird sie offenbar zuerst bei Euripides (dessen 431 v. Chr. aufgeführte Tragödie auch den Kindermord zum überlieferungsgeschichtlich wichtigsten Bestandteil des Mythos machte).29 Der ›Barbarisierung‹ Medeias

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Vgl. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 3f. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 19ff., bes. 29, 37; Detel: Griechen und Barbaren, S. 1021f. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 110f. u. öfter. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 33, 48, 102, 161 u. öfter. Vgl. Hesiod: Theogonie, V. 956ff.; dazu den Kommentar von Walter Marg in seiner Hesiod-Übersetzung (s. Literaturverzeichnis), S. 293; Pindar: Vierte Pythische Ode, V. 211ff. (V. 233 wird Medeia als Fremde bezeichnet). Zur Barbarisierung Medeias vgl. zusammenfassend Hall: Inventing the Barbarian, S. 35, 103 u. öfter; dazu, daß Medeia vermutlich erst bei Euripides zur Kindesmör-

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förderlich war möglicherweise die klangliche Ähnlichkeit ihres Namens mit dem der Meder, der seit der Eroberung des Mederreichs durch Kyros für die Griechen mit dem Namen der Perser gleichbedeutend war.30 Die entscheidende Voraussetzung für die ›Barbarisierung‹ Medeias war aber wohl die – bereits bei Pindar erfolgende – Identifikation ihrer ursprünglichen Heimat, des mythischen Ostlands Aia, mit Kolchis, einer Landschaft am Ostende des Schwarzen Meers, in der die Ionier möglicherweise im 6. Jahrhundert v. Chr. die Kolonie Phasis gründeten.31 Denn Kolchis repräsentiert bei Euripides den Raum des Barbarischen, der dem Raum des Hellenischen dem Wesen nach fremd ist. Nie, klagt die Amme im Prolog der Tragödie (V. 1–19), hätten die Argonauten um des Vlieses willen nach Kolchis segeln sollen; wäre es nicht geschehen, dann hätte Medeia nicht blindlings ihre Heimat verlassen, um Iason nach Iolkos zu folgen, aus dem beide nach Korinth fliehen mußten, wo sie sich wegen Iasons Treuebruch (er heiratet Kreons Tochter Kreusa) entzweit haben. Die hier evozierte räumliche Distanz, die Kolchis von Griechenland trennt und die, wie die Amme zu verstehen gibt, einen letztlich unüberbrückbaren Wesensunterschied markiert, wird im weiteren Verlauf der Tragödie mit der wertenden Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen verknüpft. Im ersten Epeisodion deutet Medeia dem Chor der korinthischen Frauen gegenüber ihre Situation zunächst als typische Konsequenz des miserablen Loses aller Frauen, doch dann führt sie sich vor Augen, daß ihre Situation nicht dieselbe ist wie die der Korintherinnen. Während es nämlich diesen vergönnt sei, in ihrer Heimat zu leben, sei sie »aus Barbarenland geraubt« ( , V. 256).32 Im zweiten Epeisodion versieht Iason diesen räumlichen Gegensatz mit einem verletzenden ethnozentrischen Akzent. Gegen Medeias Vorwurf der

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derin wird, vgl. Albin Lesky: Medeia. In: Pauly, 29. Halbbd., Sp. 29–64, hier Sp. 44. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 56; vgl. auch Lesky: Medeia, Sp. 47. Zur komplizierten Überlieferung des Mythos, die zu vielen Spekulationen Anlaß gegeben hat, vgl. neben dem oben (Anm. 29) zitierten Artikel von Lesky auch Fritz Graf: Medea, The Enchantress from Afar: Remarks on a Well-Known Myth. In: Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy, and Art. Hrsg. v. James J. Clauss und Sarah Iles Johnston. Princeton, NJ 1997, S. 21–43, hier S. 32. Euripides wird grundsätzlich nach der zweisprachigen Ausgabe von Dietrich Ebener zitiert (s. Literaturverzeichnis). Die Versangaben erfolgen im fortlaufenden Text.

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Undankbarkeit und des Wortbruchs wehrt er sich u.a. mit den folgenden beiden Argumenten:

Zuerst: Du wohnst, anstatt im Lande von Barbaren, in Hellas, und du weißt, wie man das Recht bewahrt und nach Gesetzen lebt, von roher Willkür fern. Dann: Alle Griechen lernten deine Klugheit kennen, und Ruhm hast du geerntet. Säßest du am Ende der Welt noch, wäre von dir nicht die Rede. [...] (V. 536–541; Übs. Ebener)

Die Verachtung, die aus Iasons Worten spricht (bei allem Respekt, den er der Klugheit Medeias zollt), haftet am Bedeutungsmerkmal des Wilden, Kulturlosen und Vorgesellschaftlichen, das der Begriff des Barbarischen hier hat. Medeia erfaßt sofort, daß Verachtung das eigentliche Motiv für Iasons Verrat ist. Deshalb konfrontiert sie ihn, als er den Verrat zu beschönigen sucht, mit dem, was die zitierten Worte über seine Einstellung zu ihr sagen:

[...] Nein, die Barbarenehe schien für dein Alter dir nicht gut [wörtlich: »ruhmreich«, M.W.] genug zu sein. (V. 591–592; Übs. Ebener)

Indem sie mit dem Adjektiv eúdoxos (»ruhmreich«) das von Iason verwendete Nomen dóxa (»Ruhm«) aufgreift, deutet sie seinen Treuebruch als den Versuch, die verhängnisvolle Verstrickung des Hellenischen ins Barbarische, die er durch sein Handeln bekräftigt oder gar bewirkt hat, rückgängig zu machen. Bemerkenswert ist nun, daß Medeias fürchterliche Rache dasselbe Ziel hat. Der Plan, ihre Kinder zu töten, den sie im dritten Epeisodion zum ersten Mal ausspricht, geht einher mit der folgenden Einsicht:

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Falsch war mein Tun, als damals ich verließ die Heimat, Beschwatzt vom Worte eines Griechen, der, mit Hilfe der Gottheit, mir jetzt büßen wird [...]. (V. 800–802; Übs. Ebener)

Ob Medeias Tötung ihrer eigenen Kinder auf ein Opferritual zurückweist oder nicht, ist nach wie vor umstritten.33 Im vorliegenden Zusammenhang ist festzuhalten, daß die Tötung der Kinder die Antithese der Räume des Griechischen und Barbarischen zu bekräftigen scheint; so gesehen, verwirklicht sich in ihr die Funktion der Ausschließung, die sowohl der ethnozentrischen Antithese als auch einer bestimmten Form des Widerstands gegen sie eigen ist.34 Aus der Perspektive der Figuren jedoch ist die Tötung der Kinder eine Manifestation von Medeias barbarischem Wesen. Schon zu Beginn warnt die Amme die Kinder vor der wilden, rohen Sinnesart , V. 103) ihrer Mutter, und im folgenden wird immer wieder auf diese Sinnesart verwiesen, die im Denken der Griechen das Gegenteil der Sophrosyne, der Besonnnenheit, bildete.35 So erklärt es sich, daß Iason am Ende angesichts der schrecklichen Tat die Wildheit als jenes Merkmal des Barabarischen hervorkehrt, das sich in den Verbrechen Medeias manifestiert hat und das auf diese Weise bezeugt, daß die Welten des Hellenischen und des Barbarischen, wie es die Amme schon zu Beginn ausspricht, unvereinbar sind:

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S. unten, Kap. 5.4.3, S. 233f. Zu den Motiven und Funktionen der Rache in den Medea-Dramen von Euripides bis Grillparzer vgl. vor allem die fundierten Ausführungen von Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 14ff. S. oben, Kap. 1, S. 6. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 125.

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[...] Jetzt bin klug ich, der ich damals unklug war, als aus der Heimat ich und dem Barbarenland dich in ein griechisch Haus geführt, zu großem Unheil, Verräterin des Vaters und des Landes, das dich nährte. Deinen Fluchgeist bürdeten die Götter mir auf. Denn deinen Bruder schlugst du tot zu Hause, bevor du noch an Bord der stolzen Argo gingst. Damit hast du begonnen. Und als du mein Weib geworden, Kinder mir geschenkt, da brachtest du sie einer Liebe, einer Ehe wegen um. Das hätte nie ein Weib in Griechenland gewagt – und denen zog ich dich zur Heirat vor, ein Bund der Ehe, mir verhaßt und tödlich, eine Löwin und keine Frau, von wilderer Gemütsart als die Skylla des Tyrrhenerlandes. [...] (V. 1329–1343; Übs. Ebener)

Die Antithese, die zu Beginn dieser Verse einmal mehr formuliert wird – Barbarenland und griechisches Haus –, kehrt am Ende, nach der Erinnerung an Medeias barbarischstes Verbrechen, den Verwandtenmord,36 den sie zweimal begangen hat, in gleichsam potenzierter Form wieder: Da keine griechische Frau getan hätte, was die Barbarin Medeia getan hat, ist diese gar keine Frau, sondern ein Tier, ja ein Monstrum. Der Vergleich Medeias mit Skylla, die nach Homer (Odyssee 12, V. 244–259) sechs Gefährten des Odysseus verschlang, fügt dem Bestialischen der Löwin noch das Menschenfresserische hinzu; Bestialität und Menschenfresserei sind hier wie auch in Euripdes’ Hekabe (V. 1070–1075) Attribute barbarischer Wildheit,37 und die Vorstellung, daß die Barbaren wie Tiere sind und wie Tiere leben, wird im Denken der Griechen, z.B. bei Aristoteles, zum Topos.38 Wie sich gezeigt hat, ist die jeweilige Bedeutung von bárbaros durch die Funktion des Gegensatzes zur jeweiligen griechischen Norm festgelegt, und dieser schematische semantische Gegensatz produziert und strukturiert eine ebenso schematische kulturelle Geographie und Topographie: Das persische Reich z.B. und das am Ostende des Schwarzen Meers gelegene

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Auch Euripides’ Hermione zählt den Verwandtenmord neben Inzest und Polygamie zu den typisch barbarischen Verbrechen (vgl. Euripides: Andromache, V. 168–180). Vgl. dazu Hall: Inventing the Barbarian, S. 126. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, VII 1, 1145a 30 und VII 5, 1149a 10. Dazu Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 818, 823, 839, 886; dort auch weitere Literatur zum Thema.

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Kolchis gelten ebenso als Barbarenland wie das kleinasiatische phrygische Troja, zu dem die in Aulis versammelte griechische Flotte nach Auskunft des Orakeldeuters Kalchas nur unter der Bedingung segeln kann, daß der Oberbefehlshaber Agamemnon seine eigene Tochter Iphigeneia der erzürnten Göttin Artemis opfert (so der Prolog der 405 v. Chr. aufgeführten Iphigeneia in Aulis). Barbarenland ist auch das an der Nordküste des Schwarzen Meers gelegene Taurerland, in das Iphigeneia im Moment ihrer Opferung von Artemis entrückt wurde und in dem sie nun selbst der Göttin alle Griechen, die sich dorthin verirren, opfern muß (so der Prolog der Iphigeneia im Lande der Taurer, 414 oder 413 v. Chr.). Die mit der kulturellen Topographie gegebene ethnozentrische ›structure of attitude and reference‹ (Said)39 läßt die Besonderheit jedes dieser Räume (denen viele andere, z.B. Ägypten und Thrakien, hinzugefügt werden könnten) hinter ihrer semantischen Funktion zurücktreten. Dasselbe gilt für die einzelnen Bedeutungsmerkmale von bárbaros, die nur im Hinblick auf ihre semantische Funktion kompatibel sind: Die Verweichlichung der kultivierten Perser und die orientalisch-prunkvolle Kleidung des Verführers Paris ,40 aber auch die Wildheit der klugen Zauberin Medeia und die Dummheit des wilden Taurerkönigs Thoas werden im Raum des Barbarischen verortet. Die einzelnen Bedeutungen von bárbaros fügen sich also nicht zu einem kohärenten Bild des Barbarischen zusammen. Diese Inkohärenz geht auf die hierarchisierende Tendenz und Asymmetrie der Gegenüberstellung von Hellenen und Barbaren zurück: Hellene ist ein Eigenname, Barbar ein Kollektivbegriff.41 Inkohärenzen und Brüche kennzeichnen auch die semantische Relation zwischen der Hellenen-Barbaren-Antithese und dem einzelnen Mythos, in den sie projiziert wird, wie das folgende Beispiel illustrieren möge. Zu den barbarischen Mißständen zählt, wie bereits erwähnt, der – mit der Tyrannei einhergehende – Sklavenzustand der Untertanen, und zu den Unsitten die sexuelle Gier der Männer auf griechische Frauen. Beide bestimmen die ethnozentrische Semantik des Barbarischen in Euripides’ Helena und vor allem in Iphigeneia in Aulis. In dieser Tragödie werden Paris’ orientalische

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S. oben, Kap. 1, S. 7. Iphigeneia in Aulis, V. 74. Aus diesem logisch-semantischen Grund wird in Platons Politikos (262c-d) die Zweiteilung der Menschheit in Hellenen und Barbaren abgelehnt. Dazu und zur ›Asymmetrie‹ der Opposition vgl. Kosellek: Vergangene Zukunft, S. 219, sowie oben, Kap. 1, S. 8f.

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Erscheinung – von ihr war bereits die Rede – und seine Verführung und Entführung der schönen Frau als Beweis dafür interpretiert, daß die Trojaner, jenes, wie Menelaos sagt, »nichtige Barbarenpack« ( [V. 371], Übs. Ebener), es allesamt auf den Raub griechischer Frauen abgesehen haben. Agamemnon führt als wichtigstes Argument für den hellenischen Feldzug ins trojanische Barbarenland ( , V. 1265) die Notwendigkeit an, »Schluß zu machen mit dem Raub von Griechenfrauen« ( [V. 1266], Übs. Ebener), als fände dieser Raub massenweise statt. Iphigeneia übernimmt in der Rhesis, mit der sie schließlich, im fünften Epeisodion, völlig unvermittelt in ihre Opferung einwilligt, um den Feldzug zu ermöglichen,42 dieses Argument des Vaters und fügt ein weiteres hinzu, das ein geflügeltes Wort wurde und einen Grundgedanken von Aischylos’ Persern variiert:

Soll der Grieche dem Barbaren doch gebieten, Mutter, nie Der Barbar dem Griechen! Er ist Sklave, aber wir sind frei! (V. 1400–1401; Übs. Ebener)

Diese vielzitierten Verse bezeugen in besonders eindrucksvoller Weise, daß die ›Erfindung‹ des mythischen Barbaren, die sich der Projektion der ethnozentrischen Hellenen-Barbaren-Antithese in den heroischen Mythos verdankte, auf das Geschehen, von dem der Mythos erzählte, nicht notwendig Rücksicht nahm. Der trojanische Krieg, dieser erste, mythische »Zusammenstoß zwischen West und Ost«, war ja ein »ausgesprochener Angriffs- und Rachekrieg« und nicht ein Krieg zur Verhinderung massenhaften Frauenraubs und zur Verteidigung der griechischen Demokratie, wie es Iphigeneias Worte suggerieren.43 Es ist, als diene der Mythos hier nur noch der Rechtfertigung eines Konzepts des Barbaren und Barbarischen, dessen Inhalt »sich hauptsächlich aus verächtlichen Eigenschaften und den verschiedensten Gebrechen zusammensetzt«.44 Solche Inkohärenzen und Brüche kann man aber andererseits als Indizien für einen kritischen Umgang mit dem Mythos und mit der Ideologie,

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Vgl. dazu unten, Kap. 3.2.1, S. 74f. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 21. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 8.

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der er dienen soll, werten. Der ethnozentrische Gebrauch des heroischen Mythos wird bei Euripides nicht nur produziert und in Parteien- und Urteilskonflikte übersetzt, sondern, wie bereits erwähnt, auch in Frage gestellt. Die Infragestellung erfolgt u.a. durch den Widerspruch zwischen den Wortbedeutungen, die von den Redenden intendiert werden, und den Bedeutungen, die der jeweilige Redekontext für das Publikum zur Geltung bringt; es stellt sich dann die sogenannte ›dramatische Ironie‹ ein.45 So setzt im oben zitierten Agon Iason das Griechische mit Recht und Ordnung und das Barbarische mit roher Willkür gleich, doch kurz zuvor, in demselben Gespräch, beruft er sich unverfroren auf das Recht dessen, , V. 449), was die Stärkeren beschlossen haben ( um Medeias Verbannung aus Korinth zu rechtfertigen. Im Lichte dieser ›Rechtfertigung‹ werden Griechisches und Barbarisches für das Publikum ununterscheidbar (mag Iason auch, wenn man seine Argumentation auf die rechtliche und soziale Situation der Fremden im klassischen Athen bezieht – Ehen mit einer Barbarin oder einer Fremden waren ungültig46 – im Recht sein). Und Iasons Behauptung in der Exodos, keine griechische Frau wäre imstande, ihre Kinder umzubringen, wirkt angesichts des Beispiels der Ino, das der Chor im vorangehenden fünften Stasimon anführt, ebenfalls höchst fragwürdig (vgl. V. 1282–1292).47 Auch der aitiologische Schluß der Tragödie spricht gegen die simplifizierende Entgegensetzung von Hellenen und Barbaren: Jene Medeia, die auf dem Drachenwagen ihres Ahnen Helios entflieht und mit den Worten, die sie dabei spricht, den Opferkult für ihre Kinder ankündigt, der in Korinth tatsächlich bestand,48 steht für die Verflechtung des Entgegengesetzen, und sie hat, da sie in die Sphäre des

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Zur Definition dieses Begriffs vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 41984, S. 88f. Vgl. Duarte Mimoso-Ruiz: Médée antique et moderne. Aspects rituels et sociopolitiques d’un mythe. Paris 1982, S. 144f. Hall (Inventing the Barbarian, S. 188) ist der Meinung, durch das mythologische Beispiel werde Iasons Behauptung ironisiert; hingegen hält Charles Segal (Euripides’ Medea : Vengeance, Reversal and Closure. In: Pallas 45 [1996]: Médée et la violence, S. 15–44, hier S. 23) den Vergleich mit Ino für unangemessen, da Medeia im Unterschied zu Ino weder vom Wahnsinn noch von den Göttern zu ihrer Tat getrieben werde (ähnlich bereits Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 13f.). Welche Funktion hätte aber dann der Vergleich, den der Text ja nahelegt? Vgl. dazu Albin Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen. Göttingen 31972, S. 301, 309; Louis Méridier: Notice. In: Euripide. Bd. 1: Le Cyclope; Alceste; Médée; Les Héraclides. Hrsg. v. Louis Méridier. Paris 1976. S. 105–119, hier S. 108f.; Sarah Iles Johnston: Corinthian Medea and the Cult of Hera

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Göttlichen hinaufreicht, heroische Züge. Heroisch ist auch ihr Ethos, da sie die Demütigung durch ihre Feinde nicht duldet (vgl. V. 797, 807–810) und dafür eine Rache nimmt, die das menschliche Maß sprengt. Iason hingegen hat alle heroische Größe eingebüßt.49 Bei Euripides wird jedoch nicht nur der Bereich der Sitten und Gebräuche, sondern auch die Abstammung – das ›Blut‹ – als Kriterium der hellenischen Ethnizität und ihrer Verschiedenheit vom Barbarischen fraglich. In Iphigeneia in Aulis äußert sich Achilleus, um seiner Empörung über Agamemnons Plan, Iphigeneia zu opfern, Ausdruck zu verleihen, voller Hohn über Agamemnons und Menelaos’ orientalische Herkunft: Er erinnert daran, daß ihr Urgroßvater Tantalos aus dem kleinasiatischen Städtchen Sipylos stammt, und bezeichnet diesen Ort verächtlich als »Grenznest der Barbaren« ( [V. 952]; Übs. Ebener), weil er sich an der Grenze zwischen Lydien und Phrygien, dem Land der ›barbarischen‹ Troer, befindet.50 Mit dem Hinweis auf diese Topographie gibt Achilleus zu verstehen, daß der Hellene Agamemnon selbst ein halber Barbar ist und wohl deshalb den hinterhältigen Plan geschmiedet hat. Die Opferung der Iphigeneia in Aulis durch ihren eigenen Vater wirft in der Tat ein grelles Licht darauf, daß die Griechen jene Formen von Gewalt, die sie den Barbaren anlasten, insbesondere das Menschenopfer, selbst praktizieren oder zumindest praktiziert haben, und sie unterminiert deshalb auch das religiöse Kriterium griechischer Ethnizität.51 Die Erinnerung an

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Akraia. In: Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy, and Art (wie Anm. 31), S. 44–70. Im nachhomerischen Sprachgebrauch sind Heroen Halbgötter; vgl. Hesiod: Erga, V. 158. Zu Medeias heroischem Ethos vgl. Segal: Euripides’ Medea, S. 17f., 28. Die Ausstattung Medeias mit einem Heroen-Ethos ist aber, wie Segal betont, wiederum zweischneidig: »Euripides’ presentation of the heroic ethos in such a figure (a woman and a mother) and with such a deed (the killing of the children) calls the heroic ethos itself into question« (S. 18). Zu Medeias »Männermoral« s. auch Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 52. Zu dieser Stelle und ihren weitreichenden Implikationen vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 176f., ferner S. 168, 192. Vgl. auch die Worte des Teukros in Sophokles’ Aias, V. 1288–1307. Aretz (Opferung, S. 208) kommt zu dem Ergebnis, daß Euripides in der Iphigeneia in Aulis »desillusioniert das Barbarische an den Griechen zur Darstellung bringt.« Hall (Inventing the Barbarian, S. 146ff.) stellt fest, daß das Menschenopfer zu den Ritualen zählte, die eindeutig als barbarisch angesehen wurden, und merkt an, auch im Hinblick auf den Iphigenie-Mythos: »Here, as so often, the ethnically other meets the mythical and chronologically prior, for human sacrifice is one of the most important pivots around which Greek mythical complexes revolve« (S. 147; vgl. S. 211). Bei den Griechen des 5. Jahrhunderts

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diese Opferung stellt sogar die Empörung, mit der sich die Protagonistin der Iphigeneia im Lande der Taurer über die taurische MenschenopferPraxis äußert, in Frage. Als Priesterin der taurischen Artemis muß Iphigeneia der Göttin alle Griechen opfern, die sich ins Taurerland verirren, wo, wie sie im Prolog mit einem Polyptoton sagt, der Barbar Thoas über Barbaren herrscht ( V. 31–32). Daß sich Artemis im Taurerland über die Menschenopfer freue ( V. 35), wie sie mit dem Ausdruck des Schreckens anmerkt (vgl. V. 37), legt sie im ersten Epeisodion als Indiz für die Widersprüche ( V. 380) einer Göttin aus, die doch andererseits Blutvergießen bestrafe. In demselben Passus sucht sie dann aber die Göttin zu entlasten, indem sie die Menschenopfer-Praxis auf Projektionen zurückführt, die, wie sie glaubt, in barbarischer, nicht aber griechischer Kultur verwurzelt sind:

Ich glaube eher, daß die Taurer, selber Mörder, den eignen Frevel auf die Gottheit übertrugen. Kein Gott kann schlecht sein, das ist meine Überzeugung. (V. 389–391; Übs. Ebener)52

Dieser kühnen, zugleich rationalistischen und ethnozentrischen Religionskritik, die für die modernen Bearbeitungen der Tragödie richtungsweisend war, wird jedoch durch das, was Iphigeneia unmittelbar zuvor, zu Beginn desselben Monologs, sagt, die Grundlage entzogen: Dort evoziert sie mit dem Ausdruck unverhohlenen Rachebedürfnisses ihre Opferung in Aulis und bedauert, daß die beiden gefangengenommenen Griechen, die sie zu opfern hat, nicht Helena und Menelaos sind, denn ihnen würde sie gerne

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habe es aber nur noch Reste von Menschenopfer-Praxis gegeben. – Die Einsicht, daß das fremde Barbarische das ehemalige Eigene ist, wird später – bei Thukydides, Platon und Aristoteles – entwicklungstheoretisch gedeutet; vgl. dazu Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 25; Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 222f. Vgl. zu dem zitierten Passus die Feststellung des Chors, V. 463–466: Die Menschenopfer, die der Göttin im barbarischen Tauris dargebracht werden, gelten in Griechenland als Greuel.

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das Aulis hier dem Aulis dort entgegensetzen, wo mich die Griechen wie ein Kalb zur Schlachtbank schleppten und wo der Opferherr mein eigner Vater war! (V. 358–360; Übs. Ebener)

Die Wendung »das Aulis hier dem Aulis dort entgegensetzen« beinhaltet, daß der Name der griechischen Hafenstadt, der nun Iphigeneias Opferung bezeichnet, auf das Taurerland, wo die Geopferte selbst Menschenopfer vollziehen muß und an Helena und Menelaos auch gerne vollziehen würde, übertragen werden kann. Mit dieser Metonymie fallen also die kulturelle Topographie und die sie begründende ethnozentrische Antithese in sich zuammen; die Antithese, die mit dem Partizip Aorist des Verbs (antitithénai ) auch als solche bezeichnet wird, hebt nun das hervor, was dem Entgegengesetzten gemeinsam ist.53 Durchaus im Sinne der ethnozentrischen Antithese überlistet Iphigeneia jedoch später, im dritten Epeisodion, den Barbaren Thoas, damit die taurische Artemis-Statue von den Griechen geraubt und nach Griechenland gebracht werden kann; sie selbst plant die Intrige und führt sie ohne Skrupel aus. Und die Legitimität ihres Tuns wird von der dea ex machina Athene abschließend bestätigt. Athenes Auftritt und die Weisungen, die sie erteilt, bekräftigen also die hierarchisierende Opposition zwischen zivilisierten Griechen und barbarischen Taurern. Thoas steht am Ende als der zu Recht betrogene, ja lächerliche Barbar da. Wie ist es zu verstehen, daß bei Euripides die ethnozentrische Semantik des Barbarischen zugleich bekräftigt und in Frage gestellt wird – letzteres mit dramatischer Ironie, offenen Widersprüchen sowie Inkohärenzen auf den Ebenen der Figurenkonzeption und der Relation zwischen mythischem Geschehen und ideologischer Aussage? Zur Erklärung hat man bisweilen auf die fragmentarisch überlieferten Ansichten radikaler Sophisten der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. verwiesen, insbesondere auf den Gedanken des Rhetors Antiphon, daß wir »von Natur aus« alle in jeder Hinsicht gleichermaßen geschaffen sind, sowohl Barbaren als auch Hellenen zu sein.54 Bei Antiphon geht es aber nur um die natürliche

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Ein anderes Beispiel für dieses Verfahren, das man dekonstruktivistisch avant la lettre nennen könnte, findet sich im dritten Epeisodion, in dem Thoas, nachdem Iphigenie ihm – mit der Absicht, ihn zu täuschen – vom Muttermord berichtet hat, den die zu opfernden Griechen angeblich beide begangen haben, seinem Entsetzen mit dem Ausruf Luft macht, dazu wäre nicht einmal ein Barbar fähig (V. 1174). S. dazu auch unten, Kap. 4.2.2, S. 131. Vgl. die kritische Edition der Antiphon-Fragmente in: Corpus dei papiri filoso-

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Gleichheit der Menschen, nicht um die mögliche Gleichwertigkeit ihrer Sitten und Gebräuche.55 Daß diese nicht gleichwertig sind, wird dann in der klassischen griechischen Philosophie hervorgehoben. Aristoteles spricht, wie bereits erwähnt, vom tierhaften Leben der Barbaren, und er verweist auf Iphigeneias Diktum von der notwendigen Herrschaft der freien Hellenen über die sklavischen Barbaren, um seine Rechtfertigung der Sklaverei bestimmt seizu erläutern, zu der die Barbaren »von Natur aus« en.56 Die zunächst räumlich gekennzeichnete Opposition dient nun der Begründung des Herrschaftsgefüges im Inneren.57 Bei Platon finden sich zwar logische Vorbehalte gegen die Hellenen-Barbaren-Antithese, doch viel gewichtiger sind kulturpolitische Äußerungen wie die im Staat, daß GrieFeinde sind und daß deshalb chen und Barbaren »von Natur aus« der Krieg gegen die Barbaren geführt werden darf und es auch soll.58 Eine philosophische Parallele zu der Widersprüchlichkeit, mit der bei Euripides die Hellenen-Barbaren-Antithese wie auch andere damals aktuelle Themen (z.B. die Stellung der Frau oder die Existenz der Götter) behandelt werden, ist eher im Relativismus der Sophistik zu suchen. Und vielleicht erfolgt die Infragestellung der hellenischen Superiorität bei ihm bisweilen nur um des rhetorischen Effektes willen.59 Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung, in der die antike Semantik des Barbarischen im Hinblick auf ihren Stellenwert in jenen antiken Tragödien von Interesse ist, die zu den Bezugstexten von Goethes Iphigenie und Grillparzers Trilogie zählten, kommt in jener Widersprüchlichkeit indes etwas anderes, nämlich die Ambiguität zum Ausdruck, die ein die Gattung der

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fici greci e latini (CPF). Parte I: Autori Noti. Bd. 1*. Firenze 1989, S. 183ff.; dazu Jonathan Barnes: New Light on Antiphon. In: Polis 7 (1987), S. 2–5. Vgl. dazu Hall: Inventing the Barbarian, S. 218ff. Vgl. Aristoteles: Politik, 1252b 1, 7ff., 1253b, 15ff.; dazu Hall: Inventing the Barbarian S. 164–165, 196; Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 26f., und vor allem Detel: Griechen und Barbaren, S. 1039ff. Zur Deutung und zur Weiterwirkung der Aristotelischen Theorie vom natürlichen Sklaven und der Sklavennatur der Barbaren vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 37. Aristoteles’ Begründung dieser Theorie ist unklar und inkonsistent; offenbar meint er, daß es bei den Barbaren keine politischen Strukturen gebe, die eine wahre Gemeinschaft ermöglichen würden. Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 220. Vgl. Platon: Politeia, 470c–471b. Dazu Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt/M. 1997, S. 155. Zu Platons logischen Vorbehalten gegen die Hellen-Barbaren-Antithese s. die oben, Anm. 41, nachgewiesene Stelle. Vgl. Hall: Inventing the Barbarian, S. 222.

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griechischen Tragödie kennzeichnendes Strukturmerkmal ist: Diese bejaht die religiösen und heroischen Werte des Mythos und distanziert sich zugleich von ihnen (so Jean-Pierre Vernant); sie fußt auf den alten Mythen und ist zugleich mythoskritisch (René Girard spricht von einer partiellen Dechiffrierung des Mythos im Medium der Tragödie).60 Die Projektion der Hellenen-Barbaren-Antithese in die heterogene heroische Welt des Mythos zählt zu den Faktoren dieser Ambiguität. Sie kann, wie im vorangehenden deutlich wurde, dreierlei bewirken: erstens die Infragestellung des Mythos durch die Antithese, zweitens die Infragestellung der Antithese durch den Mythos und drittens die Mythisierung der Antithese. So ist die kühne, zugleich rationalistische und ethnozentrische Religionskritik der ›taurischen‹ Iphigeneia ein eindrucksvolles Beispiel für die Infragestellung des Mythos durch die Antithese. Die Hervorkehrung des Barbarischen an den Hellenen ist hingegen eine Infragestellung der Antithese durch den Mythos. Und der Entschluß der ›aulischen‹ Iphigeneia, sich opfern zu lassen, trägt zur Mythisierung der Antithese bei. Die erste und die zweite Wirkungsform beinhalten im Unterschied zur dritten, daß die Ambiguität nicht verdeckt, sondern als Widerspruch im Denken und Verhalten der Figuren kenntlich gemacht wird. Die vorangehenden Ausführungen sollten deutlich werden lassen, daß die Hellenen-Barbaren-Antithese in der griechischen Tragödie eine ethnozentrische, genauer ›hellenozentrische‹ ist und sich demnach nicht mit der kosmopolitischen Opposition von Humanität als allgemein-menschlicher Bildung und Barbarei als Mangel an Bildung deckt. Diese zweite Opposition geht auf einen Bedeutungswandel von bárbaros zurück, der sich in dem Maße anbahnt, in dem man weniger das Nationale als Bildung und Moral schätzte. Schon im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. zeichnet sich die neue Bedeutung ab: Für Isokrates verdient nur der attisch Gebildete und attisches Griechisch korrekt Sprechende den Namen des Hellenen; die anderen, auch die Angehörigen des eigenen Volks, sind Barbaren im Sinne von Ungebildeten .61 Nicht attizistisch, sondern kosmopolitsch verstanden wird dieses Kriterium der Bildung im Zeitalter des Hellenismus: Im 3. Jahrhundert v. Chr. kritisiert z.B. der alexandrinische

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Zu Vernant und Girard s. unten, Kap. 3.1. und 3.2.1. Vgl. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 34ff.; Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 824. Dementsprechend entwickelt sich die Bedeutung des Terminus Barbarismus ; vgl. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 40, 43.

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Gelehrte Eratosthenes die Einteilung der Menschheit in Hellenen und Barbaren und hebt hervor, »es sei besser diese Einteilung aufgrund von Güte und Schlechtigkeit der Menschen zu machen: seien doch einerseits viele Griechen schlecht, andererseits viele Barbaren zivilisiert«.62 Das Ergebnis solcher Kritik ist aber, wie schon Jüthner betont, nicht die Aufhebung des Gegensatzes von Hellenen und Barbaren, sondern seine Verschiebung, »indem eine Auswahl unter den Barbaren, eben die, welche die griechische Bildung und Gesittung angenommen hatten, der Gemeinschaft des Hellenentums einverleibt wurden.«63 Die Anwendung des Bildungskriteriums anstelle des ethnischen Kriteriums setzte also weder die Hellenen-Barbaren-Antithese noch die ihr eigene Funktion der Ausschließung außer Kraft. Das ist im Hinblick auf die oben formulierte These, auch in Goethes Iphigenie mache sich diese Funktion geltend,64 von Interesse, denn die humanistisch-neuhumanistische Adaptation der Hellenen-Barbaren-Antithese knüpft offensichtlich an die kosmopolitische Kritik an, der die Antithese zunächst im Hellenismus und dann im frühen Christentum unterzogen wird. Zu betonen ist ferner, daß die sprachliche, die ethnographische, die ethnozentrische und die kosmopolitische Bedeutung von bárbaros zwar nacheinander entstehen, sich aber nicht ablösen, sondern überlagern. So konnte, wie Opelt und Speyer resümierend feststellen, das Wort in der hellenistischen Zeit folgendes bedeuten: »derjenige, der eine andere Sprache spricht; Nichtgrieche, Fremder, Ausländer; der Landesfeind, vor allem der Perser; kulturloser Wilder, Ungebildeter, Dummer (auch von Griechen); Angehöriger eines fremden Kulturvolkes u[nd] selten hellenisierter Ausländer.«65 Der Bedeutungswandel hin zur kosmopolitischen Gleichsetzung von »barbarisch« und »ungebildet« ist also durchaus reversibel: Unter dem Einfluß des Hellenismus haben die Römer zwar einen kosmopolitischen Gegenbegriff zum Barbarischen gebildet, den des Humanen und der Humanität (humanus, humanitas), der sich in ihrem Sprachgebrauch teilweise mit dem eher politischen, auf den Menschen als gesittetes Gemeinschaftswesen bezogenen Begriff des Bürgerlich-›Zivilen‹ (civilis, civilitas) berührt.66 Doch

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Eratosthenes bei Strabon I, 4, 9, 66, zitiert nach der zweisprachigen StrabonAusgabe von Stefan Radt (s. Literaturverzeichnis). Jüthner: Hellen und Barbaren, S. 51. S. oben, Kap. 1, S. 5. Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 833f. Zu humanitas vgl. Jüthner: Hellenen und Barbaren, S. 67f.; zu civilis und civi-

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andererseits haben sie den Barbarenbegriff »mit allen verhängnisvollen Klischeevorstellungen von den Griechen übernommen«67 und aus ihm eine pragmatische ›Barbarologie‹ gemacht, die insofern Teil des römischen Anspruchs auf Universalherrschaft war, als sie all das umfaßte, was sich diesem Anspruch entgegenstellte.68 Im Frühchristentum verlieren die Klischeevorstellungen vom Barbaren zwar zunächst an Gewicht, weil sie der Lehre von der Einheit des Menschengeschlechts widersprechen,69 aber sie und ihre Feindbild-Funktion werden im Zuge der Barbareneinfälle seit dem 3. Jahrhundert erneuert. Diese Erneuerbarkeit ist auch die Voraussetzung für die Wiederverwendung des Barbarenbegriffs in der ethnographischen Literatur der Neuzeit. Das wird im folgenden zu zeigen sein. Zuvor sei noch einmal die im vorangehenden gewählte begriffsgeschichtliche Perspektive begründet. Es ging darum, auf die antike Tiefenschicht der Semantik des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer aufmerksam zu machen. Von Interesse war dabei in erster Linie die Hellenen-Barbaren-Antithese, die in der griechischen Tragödie begegnet, denn in dieser wurde der mythische Barbar ›erfunden‹. Im Hinblick auf Goethe und Grillparzer galt der Art und Weise, wie die ›Erfindung‹ des Barbaren in der Medeia und in den Iphigeneia-Tragödien des Euripides erfolgt, besondere Aufmerksamkeit. Nichttragische literarische Bearbeitungen beider Mythen konnten hingegen im allgemeinen ausgeklammert werden, denn für die Semantik des Barbarischen und ihre Rezeption sind sie nicht oder nur am Rande von Bedeutung, wie einige Beispiele veranschaulichen mögen. In Pindars vierter pythischer Ode wird Medeia, wie bereits erwähnt, noch nicht als Barbarin bezeichnet. Nicht mehr als Barbarin bezeichnet wird sie im Argonautenepos des Apollonios von Rhodos (3. Jahrhundert v. Chr.), das zu den Quellen vor allem der beiden kolchischen Teile von Grillparzers Trilogie zählt. Es ist für das hellenistische Weltbild dieses Epos

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litas Jörg Fisch: Zivilisation, Kultur. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. v. Otto Brunner [u.a.]. Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 679–774, hier S. 688f. Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 837. Vgl. den Katalog dieser Klischeevorstellungen Sp. 838ff. Vgl. dazu in beeindruckender Ausführlichkeit Yves Albert Dauge: Le Barbare. Recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation. Bruxelles 1981. Auf pragmatischer Funktionalität beruht nach Dauge die Originalität der römischen ›Barbarologie‹. Davon kann im vorliegenden Zusammenhang jedoch abgesehen werden. Vgl. Opelt / Speyer, Sp. 846f., 854f. Einschlägig vor allem die Stelle aus dem Brief des Paulus an die Kolosser, 3, 11.

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aufschlußreich, daß in ihm die Hellenen-Barbaren-Antithese, ja sogar das Wort bárbaros fehlt. Dem entspricht, daß Apollonios »die traditionelle Vorstellung von der ›Hexe‹ Medeia durch das Bild eines Mädchens ersetzt [hat], das zwischen die Fronten egoistischer männlicher Ansprüche – des Abenteurers Jason und des grausamen Vaters Aietes – gerät und für seine Liebe gesellschaftliche Ächtung, Exil, ja Lebensgefahr in Kauf nimmt.«70 Bei Apollonios ermordet nicht sie selbst ihren Bruder, und das Kapitel ihrer Rache bleibt ausgespart, da das Epos mit der glücklichen Heimkehr der Argonauten nach Pagasai endet. An diese Humanisierung Medeias knüpft Ovid in Heroides 12 an, einem elegischen Brief Medeas an Iason, in dem die Verlassene den Treulosen an die Geschichte ihrer Verbindung und an seine daraus erwachsenden Verpflichtungen ihr gegenüber erinnert, um ihn zurückzugewinnen, anstatt furchtbare Rache für seine Untreue nehmen zu müssen. In der Mitte des Briefes bezeichnet Medea sich zwar als diejenige, »quae tibi sum nunc denique barbara facta« – »die ich Dir nun schließlich zur Barbarin geworden bin«.71 Gemeint ist hier aber, wie die Zeitangabe »nunc denique« verdeutlicht, keine von vornherein bestehende ethnische Andersartigkeit, sondern die auf die Dynamik der Zweierbeziehung beschränkte Entfremdung Iasons von Medea. Hingegen scheint barbarus im Medea-Teil des siebenten Buchs der Metamorphosen auf den ersten Blick eine ethnozentrische Bedeutung zu haben. Denn dort verknüpft Ovid das elegische Bild von Medea als liebender Frau mit dem Bild der bösartigen Zauberin, das für die dramatischen Bearbeitungen des Mythos von Seneca bis Grillparzer überaus wichtig wurde. Dabei fügen sich beide Bilder nicht zu einem harmonischen Ganzen zusammen; vielmehr reflektiert die dissonante Struktur der Erzählung die Kluft, die das Bild der jungen kolchischen Liebenden von dem der gefähr-

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Reinhold Glei und Stephanie Natzel-Glei: Einleitung. In: Apollonios von Rhodos: Das Argonautenepos. Hrsg., erl. u. übs. v. R. Glei u. S. Natzel-Glei. 2 Bde. Darmstadt 1996, Bd. 1, S. S. IX. Eine vergleichbar sympathische Figur ist Medea auch im Argonauten-Epos des Valerius Flaccus, dessen Vorlage das Epos des Apollonios ist und das ebenfalls zu Grillparzers Quellen zählt. Anders als bei Apollonios wird Medea bei Valerius Flaccus wieder das Attribut des Barbarischen zuteil, doch ohne ethnozentrische Tendenz; es ist hier eine weitgehend wertneutrale Bezeichnung für das Fremdländische. Vgl. Valerius Flaccus: Argonautica, 8, V. 69; 148; 251; 459. Ovid: Heroides 12, V. 105. Der erste der beiden barbarus-Belege dieses Briefs ist im vorliegenden Zusammenhang irrelevant: In V. 70 ist die Rede von einer kolchischen Diana-Statue aus Gold, die von einem barbarischen Künstler gemacht worden sei (»Aurea barbarica stat dea facta manu«).

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lichen, ihr Unwesen in Griechenland treibenden Hexe trennt – eine Kluft, die den körperlichen und seelischen Bruch bedeutet, den Medea durch die Versetzung in die ihr fremde griechische Welt erleidet. Diese Bedeutung wird vom Kontext des Medea-Teils hervorgehoben: Ihn bilden die Mythen von Prokne, Skylla, Prokris und Orithyia,72 die ihrer Herkunft nach keine Barbarinnen sind. Gemeinsam mit Medea repräsentieren diese Figuren in den Metamorphosen den Typ der »displaced woman who suffers because of the loss or lack of a husband’s or lover’s affection and trust and who actively seeks redress.«73 Der Gegensatz zwischen Kolchis und Griechenland, den Ovids Variante des Medea-Mythos durchaus hervorhebt, dient hier also der Artikulation einer psychologischen Problematik; er entspricht nicht der ethnozentrischen Hellenen-Barbaren-Antithese und ihrer kulturellen Topographie. Dementsprechend hat das Wort barbarus auch an den drei Stellen, an denen es im Medea-Teil der Metamorphosen verwendet wird, keine ethnozentrische Bedeutung.74 In jenen von Schiller empfohlenen Fabulae des Hyginus, die den Argonautenzug, seine Vorgeschichte und die Verbindung von Iason und Medea betreffen, fehlt der Begriff des Barbarischen wiederum ganz; die Sequenz der Verbrechen, mit denen Medea sich rächt, wird nicht mit ethnographischen, ethnozentrischen oder anderen Bedeutungen versehen.75 Und in Senecas Medea-Tragödie, die ein Lehrstück ist, insofern als der widernatürliche Kindermord hier die verheerenden Konsequenzen des Zorns (ira) illustriert, wird das Wort barbarus nur an zwei Stellen und allein zur formelhaften Bezeichnung der Fremde im geographischen Sinn verwendet; auf Medea bezieht es sich dabei nicht.76 Das Fehlen des Ethnozentrismus in Iasons Argumentation für die Trennung von Medea zählt zu den Merkmalen, durch die sich Senecas Tragödie von der Medeia des Euripides unterscheidet.77 – Ein Blick auf die den Euripideischen Iphigenie-Dramen folgenden antiken Bearbeitungen des Iphigenie-Mythos – zu dem wenigen, das erhalten geblieben ist, zählen keine Dramen −, führt zu demselben Ergebnis: Auch aus diesen Bearbeitungen ist entweder die Hellenen-Barba-

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Vgl. dazu Carole E. Newlands: The Metamorphosis of Ovid’s Medea. In: Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy, and Art (wie Anm. 31), S. 178–208. Newlands: The Metamorphosis, S. 207. Vgl. Ovid: Metamorphosen, 7, V. 53, 144, 276. Vgl. Hyginus: Fabulae, Nr. XXI–XXVII, CCXXXIX. Vgl. Seneca: Medea, V. 127 und 612. S. dazu auch unten, Kap. 5.1, S. 170f.

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ren-Antithese, ja sogar der Begriff des Barbarischen verschwunden,78 oder sie sind, wie die einschlägigen Passus in Ovids Tristia und Epistulae ex Ponto, Resümees von Teilen der Iphigeneia im Lande der Taurer, in denen Begriff und Bild des Barbarischen die Funktion haben, die Situation des verbannten Dichters mit Lokalkolorit zu versehen und seiner Bitte um Fürsprache Nachdruck zu verleihen.79 In den nichttragischen literarischen Bearbeitungen beider Mythen ist also die mit der Hellenen-Barbaren-Antithese gegebene, ethnozentrische ›structure of attitude and reference‹ (Said) wenig ausgeprägt, oder sie ist sogar ganz aus ihnen verschwunden. Indirekt bewahrheitet sich demnach, daß die griechische Tragödie bei der Vermittlung der ethnozentrischen Argumentationsstruktur, die mit der Hellenen-Barbaren-Antithese gegeben war, eine wichtige wirkungsgeschichtliche Rolle beibehielt. Zwar haben Goethes Iphigenie und Grillparzers Trilogie eine Fülle antiker Bezugstexte, die einem breiten Spektrum literarischer Gattungen angehören. Doch die asymmetrische Opposition des Griechischen und des Barbarischen ist ein in beiden Dichtungen wiederkehrendes Strukturmerkmal, das sie mit der Gattung der griechischen Tragödie verbindet, vor allem mit den genannten Tragödien des Euripides. Die Bindung an diese griechischen Bezugstexte ist grundlegend für die historische Tiefensemantik des Barbarischen, durch die beide Dichtungen sich auszeichnen: Die antike ethnozentrische Semantik des Barbarischen wird in ihnen von den neuzeitlichen Verwendungen des Barbarenbegriffs, die im folgenden zur Sprache kommen sollen, überlagert, und diese werden transparent für ihr antikes Substrat.

2.2. Neuzeitliche Ethnographie: Vom Reisebericht zur Rassenkunde Arno Borst legt überzeugend dar, wie sich seit dem Ausgang der Antike immer wieder die Feindbild-Funktion des Barbarenbegriffs durchsetzte: Für die Romanen waren die Franken und Sachsen Barbaren, für die christlichen Völker des Mittelalters waren es die Heiden, und für das bürgerliche Spätmittelalter waren Barbaren auch jene, die wie der Landadel oder die Bauern »nicht unter den vernünftigen Satzungen eines bürgerlichen Gemeinwesens, einer ›civitas‹«, lebten »und keine geregelte Sprache« re-

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Vgl. Hyginus: Fabulae, Nr. XCVIII, CXX–CXXII, CCXXXVIII, CCLXI; Ovid: Metamorphosen, 12, V. 27–34; 13, V. 181–195. Vgl. Ovid: Epist. ex Ponto, 3, 2, V. 37–110; Tristia, 4, 4, V. 65–88.

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deten.80 Das ist eine Vorstellung, die auf Aristoteles’ Auffassung von der Sklavennatur der Barbaren wie auch auf die römische Vorstellung von ›Zivilisation‹ zurückgeht, während die kirchliche Doktrin vom gerechten Krieg gegen die barbarischen Heiden, die z.B. in den Kreuzzügen und später in der überseeischen Expansion zum Tragen kam, in der römischen Tradition des bellum iustum stand;81 aus heutiger Sicht erinnert sie auch an Platons Auffassung von der Notwendigkeit des Kriegs der Hellenen gegen die Barbaren. Die griechisch-römische und die christliche Erbschaft des Barbarenbegriffs bedingte also »eine duale Klassifikation der Menschheit in ›Christen‹ und ›Heiden‹ bzw. ›Zivilisierte‹ und ›Barbaren‹.« Im 15. und 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der »europäische[n] Entdeckung des nichteuropäischen Menschen«, haben sich beide Oppositionen überlagert, »so daß eine gewisse Identität zwischen ›Heide‹ und ›Barbar‹ und andererseits zwischen ›Christ‹ und ›Zivilisiertem‹ besteht.«82 Zwar hat die Opposition von Christen und Heiden seit Paulus eine zeitliche Implikation, die sie von der primär raumbezogenen Hellenen-Barbaren-Opposition unterscheidet: »Alle vorfindlichen Völker, die Hellenen, ethnai, gentes, die durch die christliche Ansprache zu ›Heiden‹, gentiles, pagani werden, gehören als solche der Vergangenheit an. Durch Christi Tod gehört die Zukunft den Christen. Sie bringt die neue Welt.«83 Doch trotz dieses expansiven Zukunftsbezugs unterliegt die Opposition von Christen und Heiden »einer zunehmenden Territorialisierung«, die sich z.B. in den Jahrhunderten der Kreuzzüge und der Reconquista bemerkbar macht: »Auch die Barbaren tauchen wieder auf, die als Nichtchristen außerhalb der christianitas hausen.«84 An diesen Sprachgebrauch knüpften die Wahrnehmung fremder außereuropäischer Kulturen in der ethnographischen Literatur der Neuzeit und die Auswertung dieser Literatur in bereits etablierten oder sich etablierenden Wissensbereichen wie Theologie, Rechtsprechung, Philosophie, Ästhetik und Ethnologie an. Weiterhin kam der antiken Kategorie des Barbarischen und den daran haftenden Stereotypen eine zentrale Bedeutung zu. Ausschlaggebend für die aktualisierende Wiederverwendung der Kategorie war in der Neuzeit indes nicht nur die Autorität der Antike,

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Borst: Barbaren, S. 25. Vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 34ff. Hans Erich Bödeker: Menschheit, Humanität, Humanismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg. v. Otto Brunner [u.a.]. Bd. 3. Stuttgart 1982, S. 1063–1128, hier S. 1074f. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 231. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 240.

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sondern auch die Kolonisation als Praxis der überseeischen Expansion Europas; der Barbarenbegriff war ein Faktor dieser Praxis, insofern als seine Anwendung auf die Ureinwohner der Länder, die kolonialisiert wurden, die Vorstellung von der zivilisatorischen und kulturellen Überlegenheit Europas und den damit verknüpften Herrschaftsanspruch beinhaltete.85 Die neuzeitliche Semantik des Barbarischen ist eurozentrisch. Als eine »raffinierte Form des Ethnozentrismus«, nämlich als »Mischung aus Ethno- und Logozentrismus, aus Entdeckungsfreude und Eroberungsgier, aus Missionsgeist und Ausbeutung«, setzt der Eurozentrismus nicht mehr einfach das Eigene dem Fremden wertend entgegen, sondern er »lebt von der Erwartung, daß das Eigene sich selbst durch das Fremde hindurch allmählich als das Ganze und Allgemeine herausstellt. [...] Es gehört zum Erbe Europas, daß dieses sich als Inkarnation und Vorhut des wahren Glaubens, der rechten Vernunft, des echten Fortschritts, der zivilisierten Menschheit, des universalen Diskurses … betrachtet.«86 Die eurozentrische Wiederverwendung des Barbarenbegriffs verlieh also der ihm eigenen Funktion der Ausschließung eine neue Qualität: Im Zeitalter der überseeischen Expansion Europas dienten die Wörter Barbar und Wilder dazu, fremden Populationen, die mit ihnen bezeichnet wurden, allen voran den Ureinwohnern Amerikas und Afrikas, die Zugehörigkeit zur – angeblich doch universalen – Menschheit abzusprechen.87 Wer die beiden für die Kultur Europas grundlegenden Bedingungen dieser Zugehörigkeit – den Glauben an Gott und den Gebrauch der Vernunft – nicht erfüllte, war Barbar oder Wilder und mußte gemäß der zeitlichen Implikation, die der Opposition von ›zivilisierten‹ Christen und ›barbarischen‹ Heiden eigen war, bekehrt und zivilisiert oder durfte versklavt werden. (Den ›guten Wil-

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Wie Petermann (Geschichte, S. 135) hervorhebt, ist es im Hinblick auf die überseeische Kolonisation, die am Anfang der heute so genannten Globalisierung stehe (vgl. S. 91), legitim, von einer Kultur Europas zu sprechen. Vgl. auch Erhard Stölting: Humanismus und Eurozentrismus. In: Streit um den Humanismus. Hrsg. v. Richard Faber. Würzburg 2003, S. 95–109, hier S. 97f. Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 136. Hervorhebung und nichteingeklammertes Auslassungszeichen von Waldenfels. Vgl. Bödeker: Menschheit, S. 1075. Wilde dient seit dem Ende des 16. Jahrhunderts neben Barbaren zur Bezeichnung fremder ›Natur‹-Völker. Zur späteren Differenzierung zwischen Wilden und Barbaren s. unten in diesem Kapitel. Vgl. dazu auch Christian Moser: Politische Körper – kannibalische Körper. Strategien der Inkorporation in Kleists Penthesilea. In: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz. Hrsg. v. Rüdiger Campe. Freiburg i. Br. 2008, S. 253–290; ferner Fisch: Zivilisation, Kultur, S. 757.

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den‹, das sei am Rande bemerkt, ereilt dabei dasselbe Schicksal wie den bösen: »Die Güte des Edlen Wilden ist«, wie Fink-Eitel im Hinblick auf Kolumbus’ Bordbuch feststellt, »Inbegriff von Unterwürfigkeit, Fügsamkeit, Zivilisierbarkeit und Beherrschbarkeit, während die teuflische Bosheit des Bösen Wilden Inbegriff dessen ist, was es da zu zivilisieren und beherrschen und notfalls zu vernichten gilt.«)88 So erklärt sich die Intensität, mit der schon im 16. Jahrhundert darüber gestritten wurde, ob der Barbarenbegriff auf die Indianer angewendet werden könne und wie sie zu behandeln seien.89 Obwohl eine päpstliche Bulle aus dem Jahre 1537 die Indianer als »veros homines fidei catholicae et sacramentorum capaces« bezeichnete, sie also in das Menschengeschlecht einschloß,90 verteidigten Theologen wie der Aristoteles-Übersetzer Sepúlveda die spanische Kolonialpolitik und die Ausbeutungsverhältnisse in den Kolonien, das sogenannte encomienda-System, mit den Argumenten, die Indianer seien Barbaren, Sklaven von Natur, und sie müßten für ihren Götzendienst und die ruchlose Menschenopfer-Praxis bestraft werden, gegebenenfalls auch mit dem Mittel des gerechten Krieges.91 Diese Argumente suchte der Dominikaner Bartolomé de las Casas, ein leidenschaftlicher

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Hinrich Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Frankfurt/M. 1994, S. 101. Vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 41; Urs Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 32004, S. 367ff. Detel (Griechen und Barbaren, S. 1042) weist darauf hin, daß der Barbarenbegriff und die aristotelische Konzeption der ›Sklaven von Natur aus‹ zuerst 1510 von dem schottischen Theologen John Major auf die Ureinwohner Amerikas angewandt wurde. Stephen Greenblatt legt überzeugend dar, daß die Vorstellung von den Indianern als Wilden und Barbaren einen ›linguistic colonialism‹ beinhaltete: Ihre Sprache wurde meist als defizient oder nichtig angesehen; dementsprechend fehlte die Vorstellung einer zu überwindenden Sprachbarriere (also der kulturellen Fremdheit). Vgl. Stephen Greenblatt: Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture. New York / London 1990, S. 16ff. Vgl. Bödeker: Menschheit, S. 1075; dort auch das Zitat aus der Bulle »sublimis deus«. Vgl. die Zusammenfassung von Sepúlvedas Position in: Bartolomé de las Casas: In Defense of the Indians. Hrsg. u. übs. v. Strafford Poole, C.M. Vorwort v. Martin E. Marty. DeKalb, Ill. 1992, S. 11ff. Das handschriftlich überlieferte lateinische Original dieser Apologia ist offenbar bis heute nicht ediert (vgl. das Vorwort von Poole, S. XXff.). Außer der englischen liegt eine spanische Übersetzung vor. – Zur Debatte zwischen Sepúlveda und Las Casas und zu ihrem weiteren Kontext vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 39ff.; Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden, S. 106ff.; Petermann: Geschichte, S. 66ff.

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Verfechter der ›Menschenrechte‹ der Indianer, in einer berühmten Debatte mit Sepúlveda (1550) zu entkräften. Von Interesse sind hier vor allem seine Einwände gegen das Argument, die Indianer seien Barbaren, denn sie basieren auf einer systematischen Analyse des Barbarenbegriffs. Las Casas unterscheidet vier Arten von Barbaren (dabei stützt er sich wie sein Gegner auf die Bibel und antike Quellen, vor allem Aristoteles): Erstens die Barbaren als grausame, inhumane, wilde und mitleidlose Menschen; in diesem Sinne barbarisch könne jeder sein, nicht nur der Angehörige eines unzivilisierten, sondern auch der eines zivilisierten, ja christlichen Volks, wie das Beispiel der spanischen Kolonisatoren bezeuge. Barbaren der zweiten Art seien Angehörige eines Volks ohne eigene Schriftsprache, ferner Menschen, die andere nicht verstehen oder von ihnen nicht verstanden werden, also die Fremdsprachigen (entsprechend der ältesten Bedeutungsschicht des Wortes); allenfalls in diesem wertneutralen Sinne könnten die Indianer als Barbaren bezeichnet werden. Angesichts ihrer bewundernswerten Kultur und ihrer Fähigkeit, sich zum Christentum bekehren zu lassen, seien Sepúlvedas sämtliche Argumente für die Gewalt gegen Indianer hinfällig. Die dritte Art bildeten die Barbaren im strengen und absoluten Sinn: Menschen, die grausam, wild, dumm und ohne Vernunft seien – eben jene, die Aristoteles Sklaven von Natur nenne, weil sie keine Regierung, keine politischen Institutionen usw. hätten und also ohne wahre Gemeinschaft und wie Tiere lebten. Ihre Zahl sei aber gering, und sie dürften nicht, wie Aristoteles meine, wie wilde Tiere behandelt und versklavt werden, denn auch sie seien Gottes Geschöpfe. Die Barbaren der vierten Art seien die Heiden; Unkenntnis des Christentums führe in der Tat zu vollständiger Barbarei. So seien die Römer, die andere Völker als barbarisch bezeichneten, selbst die schlimmsten Barbaren gewesen, bevor sie sich zum Christentum bekannt hätten.92 Diese bei den Römern zu beobachtende Verkehrung findet Las Casas bei den Spaniern wieder: Sie, die Indianer als Barbaren bezeichneten, seien selbst Barbaren und schlimmer als Barbaren.93 Aus heutiger Sicht macht also schon Las Casas’ Begriffsanalyse darauf aufmerksam, daß für die Verwendung des Barbarenbegriffs jene Verstrickung, ja Verkehrung typisch ist, die, wie bereits angedeutet, von den Tragödiendichtern im Mythos gespiegelt wird; sie läßt sich auf die folgende Formel bringen: Wer andere als Barbaren ausgrenzt, um sie zu beherrschen, wird selbst dem Bild des 92 93

Vgl. Las Casas: Defense, S. 28–53. Vgl. Las Casas: Defense, S. 53.

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Barbaren gleich, von dem er das Bild seiner selbst abzuheben sucht. In den Worten von Claude Lévi-Strauss: [...] c’est dans la mesure même où l’on prétend établir une discrimination entre les cultures et les coutumes que l’on s’identifie le plus complètement avec celles qu’on essaye de nier. En refusant l’humanité à ceux qui apparaissent comme les plus »sauvages« ou »barbares« de ses représentants, on ne fait que leur emprunter une de leurs attitudes typiques. Le barbare, c’est d’abord l’homme qui croit à la barbarie.94

Manfred Schneider meint offenbar dasselbe, wenn er zur Funktion des Barbarenbegriffs in byzantinischen Herrscherlob-Ritualen anmerkt: »Die Liturgie, die dem Kaiser die göttliche Hilfe erbittet, damit er alle Barbarenvölker unterwerfen kann, provoziert als ihr Korrelat eine barbarische Liturgie, die in den Kriegen von westlichen und östlichen Christen [...] die gewalttätigen Handlungen dirigiert.«95 Berichte wie die von den Greueltaten, deren sich die Kreuzfahrer schuldig machten, führen laut Schneider zweierlei vor Augen: Erstens ist barbarische Gewalt, anders als Autoren wie Nietzsche und Ernst Jünger meinten, kein Ausbruch unterdrückter authentischer Natur, sondern selbst ein kulturelles Phänomen, »eine ausgefeilte Zeremonie triumphierenden Überschwangs.«96 Und zweitens produziert solche Gewalt, wenn sie sich gegen sogenannte ›Barbaren‹ richtet und dadurch zu legitimieren glaubt, ihr eigenes Objekt, indem sie selbst die Angehörigen von fremden Kulturen durch die Zerstörung dieser Kulturen zu ›Barbaren‹ macht.97 Schneider spricht zusammenfassend von einer »Liturgie des Barbaren« – eine vieldeutige Metapher, der in der vorliegenden Untersuchung die Metapher der asymmetrischen Argumentationsstruktur und die der kulturellen Topographie oder Geographie vorgezogen werden, weil sie offener sind für die Herkunft des Barbarenbegriffs aus der klassischen Antike, für seine ethnozentrische Tendenz und für die damit einhergehende Tendenz der hierarchisierend-›asymmetrischen‹ Einteilung der Menschheit in entgegengesetzte Territorien und Rassen. Las Casas ließ, wie deutlich wurde, die wertende Entgegensetzung des Christlichen und Heidnisch-Barbarischen, die aus der antiken Entgegensetzung des Hellenischen und Barbarischen hervorgegangen war, beste-

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Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale II. Paris 1990, S. 383 (»Race et histoire«). Schneider: Der Barbar, S. 88. Schneider: Der Barbar, S. 100. Vgl. Schneider: Der Barbar, S. 92f.

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hen, verwarf aber die ethnozentrisch wertende Verwendung des Barbarenbegriffs. Montaigne ging in seinem Essay Des cannibales noch einen Schritt weiter. Bei ihm tendiert der relativierende Kulturvergleich dahin, den Begriff des Barbarischen skeptisch aufzulösen: »[...] chacun appelle barbarie ce qui n’est pas de son usage; comme de vrai, il semble que nous n’avons autre mire de la vérité et de la raison que l’exemple et idée des opinions et usances du pays où nous sommes.«98 Dennoch blieb in der ethnographischen Literatur der unkritische und meist ethnozentrisch wertende Gebrauch des antiquierten Begriffs vorherrschend – vermutlich auch, weil er eine Komponente der europäischen Expansion war, die wiederum die ethnographische und anthropologische Forschung ermöglichte.99 Der Geltungsbereich und die Geltungsdauer jenes Sprachgebrauchs erstreckten sich folglich von der ›wilden Völkerkunde‹ des 16. und 17. Jahrhunderts, jener Flut von ethnographischen Reiseberichten, Landesbeschreibungen und ›Historien‹ (Berichten und Erzählungen), zu deren Verfassern Missionare und Forschungsreisende ebenso zählten wie Kaufleute, Seeleute und Landsknechte,100 bis hin zu den wissenschaftlichen Auswertungen der ethnographischen Befunde. Zur Erläuterung seien hier einige Belege angeführt. Mit welcher Selbstverständlichkeit in der ethnographischen Literatur der Neuzeit die Völker Amerikas als barbarisch bezeichnet werden, bezeugt z.B. das 1724 erschienene Werk des Jesuitenmissionars Joseph-François Lafitau über die nordamerikanischen ›Wilden‹, das für die Entstehung der modernen Ethnologie und vergleichenden Anthropologie grundlegend war.101 In ihm verbindet

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Michel de Montaigne: Essais. Livre premier. Hrsg. v. Pierre Michel. Paris 2005, S. 303 (1, 31). Dazu Bödeker: Menschheit, S. 1075. Daß bei Montaigne der Skeptizismus und Relativismus dann in eine kulturkritische Umkehrung mündet, d.h. in eine Idealisierung der naturnahen (brasilianischen) Indianer, die der Kritik der eigenen Kultur als ganzer dient (dazu vgl. Fink-Eitel: Die Philosophie und die Wilden, S. 129), kann im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben, da diese Art der tendenziell revolutionären Kulturkritik (vgl. ebd.) nicht für Goethes und Grillparzers Umgang mit Begriff und Bild des Barbarischen maßgeblich war. Vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 31; Petermann: Geschichte, S. 189 u. öfter. Vgl. Petermann: Geschichte, S. 73ff., der in diesem Zusammenhang den Begriff der ›wilden Völkerkunde‹ verwendet. Vgl. auch Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 24ff. Joseph-François Lafitau: Mœurs des sauvages ameriqains, comparées aux moeurs des premiers temps. 2 Bde. Paris 1724. Zur Stellung von Lafitau in der Geschichte der Ethnologie vgl. Petermann: Geschichte, S. 180ff. (dort weitere

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sich genaue Feldforschung mit einem gelehrten Kulturvergleich, der sich auf eine umfassende Kenntnis der antiken und der jüdisch-christlichen Tradition sowie neuerer ethnographischer Literatur stützt. Lafitaus Methode basiert auf der These, daß sich die Sitten der »Peuples barbares de l’Amerique Septentrionale« und diejenigen der antiken »Peuples barbares«, zu denen er die vorgriechischen Bewohner Griechenlands zählt, ähneln und wechselseitig erhellen, weil erstere von letzteren abstammen.102 Vor allem das umfangreiche Kapitel über die Religion der ›Wilden‹ dokumentiert, wie diese Wiederverwendung des Barbarenbegriffs Lafitaus Ethnographie zugleich ermöglicht und behindert: Die Zugehörigkeit der nordamerikanischen ›peuples barbares‹ wie ihrer antiken Ahnen zur von Gott geschaffenen Menschheit erweist sich aus Lafitaus Sicht darin, daß auch die befremdlichsten, abergläubischsten Mythen und die abscheulichsten kultischen Praktiken wie das Menschenopfer noch entstellte Bilder des ursprünglichen, von Gott offenbarten, reinen Kults sind.103 In dieser Art der Wahrnehmung des Fremden macht sich nicht nur die neuplatonisch geprägte, patristische Bildtheologie geltend,104 sondern auch die mit dem Barbarenbegriff gegebene ›asymmetrische‹ Argumentationsstruktur; als Religion der ›Barbarenvölker‹ kann das Heidentum für Lafitau letztlich nur einen Mangel bedeuten, obwohl er bemüht ist, den Barbarenbegriff wertneutral, als terminus technicus, zu verwenden.105 Daß solche Wertneutralität nur Schein war, zeigen die wiederum von Jesuitenpatres verfaßten Lettres édifiantes et curieuses, écrites des missions étrangères, eine umfangreiche und bedeutende Sammlung ethnographischer Zeugnisse aus dem 18. Jahrhundert. In ihnen finden sich zahlreiche Belege für die pejorative Konnotation des Begriffs.106 Diese geht auch auf die

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Literatur). Wie Petermann hervorhebt, war der »Vergleich außereuropäischer Kulturen mit solchen der Antike [...] bekanntlich eines der beliebtesten Identifizierungs- bzw. Differenzierungsschemata der Zeit« (S. 212). Vgl. Lafitau: Mœurs, Bd. 1, S. 89ff., Zitat S. 91. Zu Lafitaus komparativer Methode und ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext vgl. besonders Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin / New York 2007, S. 116ff. Vgl. Lafitau: Mœurs, Bd. 1, S. 108–455, zu den Opferbräuchen bes. S. 177ff. Vgl. Graevenitz: Mythos, S. 15ff. u. öfter. Fisch (Zivilisation, Kultur, S. 698), macht darauf aufmerksam, daß sich der Barbarenbegriff seit dem 16. Jahrhundert als »terminus technicus« für die amerikanischen und afrikanischen Völker einbürgert. Vgl. dort die zahlreichen Belege für die Rede von den amerikanischen ›barbares‹, ›nations barbares‹, oder ›peuples barbares‹: Lettres édifiantes et curieuses, écrites des missions étrangères. Nouvelle édition. 26 Bde. Paris 1780–1783, bes.

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Mythen und kultischen Praktiken der Indianervölker über, z.B. auf die Institution des Menschenopfers. So spricht etwa der Wiener Jesuitenpater Dobrizhoffer, auch er Wegbereiter der modernen Ethnologie, in seiner Historia de Abiponibus (1784) von den »barbarae superstitiones« dieses südamerikanischen Indianerstammes.107 Im allgemeinen geht es bei den Missionaren primär um die Frage, ob die Barbaren zum Glauben an Gott bekehrt werden können oder nicht, und bei den nichtgeistlichen Reisenden (Kaufleuten oder Entdeckern) eher um die, ob sie Vernunft haben oder nicht, so z.B. in einem französischen Afrika-Reisebericht aus dem Jahre 1651, in dem die ›Kaffern‹ (das ist eine heute veraltete Bezeichnung für die Angehörigen eines Bantustammes in Südafrika) als Barbaren bezeichnet werden, weil ihre Lebensgewohnheiten angeblich davon zeugen, daß sie »presque point d’vsage de raison« haben.108 Als Medium identitätsstiftender Ausgrenzung fungiert der Barbarenbegriff auch noch im Rahmen der aufklärerischen Ansichten von der Perfektibilität des Menschengeschlechts und in der idealistischen Geschichtsphilosophie. Wenn sich dabei die Tendenz der Hellenen-Barbaren-Antithese zur verfestigenden Territorialisierung bemerkbar macht, werden die nichteuropäischen Menschen, vor allem die Eingeborenen Afrikas und Amerikas, als ›Wilde‹, ›Barbaren‹, ›Primitive‹ und ›Kinder‹ entweder der Vormundschaft Europas unterstellt – so z.B. in Cornelius de Pauws einflußreichen Recherches philosophiques sur les Américains109– oder sogar von der Teilnahme an der Geschichte der Menschheit als Entwicklung zu immer höherer Vollkommenheit ausgeschlossen – so noch in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.110 Wenn hingegen die historische Perspektive nicht oder nicht allein von der alten kulturellen Raumeinteilung bestimmt wird,

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die Table des matières in Bd. 9, S. 399, 400 (Menschenopfer-Praxis), 402, 405, 406f., 411 u. öfter, jeweils mit Verweisen auf die entsprechenden Zeugnisse in den vorangehenden Bänden. Vgl. Martin Dobrizhoffer: Historia de Abiponibus equestri, bellicosaque Paraquariæ natione [...]. 3 Bde. Wien 1784. Bd. 2, S. 91 (zur Bedeutung von Dobrizhoffer vgl. Petermann: Geschichte, S. 262). Die Rede von den afrikanischen Völkern und ihren ›barbarischen‹ kultischen Praktiken unterscheidet sich davon nicht: Vgl. z.B. Giovanni Antonio Cavazzi da Montecuccolo: Relation historique de l’Ethiopie occidentale [...] 5 Bde. Paris 1732, Bd. 1, S. 396. Relation dv Voyage qve François Cavche de Roven a fait à Madagascar, Isles adjacentes, & coste d’Afrique [...]. Paris 1651, S. 113. Vgl. Petermann: Geschichte, S. 200. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt/M. 1986. Bd. 12, S. 120ff.

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kommt die Durchlässigkeit der Grenzen von Barbarei und Zivilisation zur Geltung. Voraussetzung dafür ist die Unterscheidung zwischen Wildheit und Barbarei. Sie erfolgt z.B. bei Montesquieu111 und bei jenen Vertretern der schottischen Aufklärung (A. Smith, A. Ferguson, W. Robertson u.a.), die das zuerst von Turgot klar formulierte Vierstufenschema der Entwicklung von der Jägerei über das Hirtentum und den Ackerbau zu Handel und Gewerbe aufgreifen. In ihrer ›conjectural history‹112 repräsentieren die zeitgenössischen Indianer als Gesellschaft von Jägern die vorzivilisatorische Stufe der Wildheit, d.i. die primitivste Stufe der Subsistenz, von der sich in Europa keine Zeugnisse erhalten haben: Der Entwicklungsstand der Indianer, schreibt Robertson, liege weit hinter dem, was je in Europa beobachtet worden sei. Denn die rohesten Völker, von denen die antiken Autoren berichtet hätten, seien die ›barbarischen‹ Skythen und Germanen; diese aber hätten sich bereits auf der Stufe des Hirtentums befunden, das insofern schon einen bestimmten Grad der Zivilisation aufweise, als sich mit der Domestizierung von Herden Eigentumsvorstellungen durchzusetzen begännen.113 So gesehen, partizipiert die Stufe Barbarei (›barbarous state‹), die im übrigen durch die Subsistenzweise des Raubs gekennzeichnet ist, wie Ferguson ausführlich darlegt,114 bereits an derjenigen der Zivilisation, die sich im Denken der schottischen Schule von der klassischen Antike bis zur Gegenwart erstreckt und die Subsistenzweisen von Ackerbau und Handel und Gewerbe in sich begreift. Doch die Zivilisation partizipiert aus dieser Sicht auch an der Barbarei, die somit das aufklärerische Denken vor ein ernsthaftes Problem stellt, wie Christian Moser am Beispiel von Johann Reinhold Forsters Auseinandersetzung mit dem Kannibalismus der neuseeländischen Maori nachweist.115

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Vgl. Montesquieu: De l’Esprit des Lois. 2 Bde. Hrsg. v. Gonzague Truc. Paris 1969. Bd. 1, S. 299 (XVIII, 11). Diesen Begriff verwendet rückblickend Dugald Stewart, der letzte Repräsentant der schottischen Schule; vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 63f.; Petermann: Geschichte, S. 238f. Zur ›Konjektur‹ als Basis der Verschränkung von Geschichtsphilosophie und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 318ff. Vgl. William Robertson: The History of the Discovery and Settlement of America. With an Account of His Life and Writings [...]. New York / Cincinnati 1853, S. 137f. Robertsons bedeutendes Werk erschien zuerst 1777 in 2 Bänden, ein posthumer Band folgte 1796. Vgl. Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. The Seventh Edition. Boston 1809, S. 160ff. (Part II, Section III). Fergusons Essay erschien zuerst 1767 in Edinburgh. Vgl. Christian Moser: Politische Körper – kannibalische Körper, S. 268ff.

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Der Botaniker und Anthropologe Forster, der mit seinem Sohn Georg an James Cooks zweiter Reise teilnahm, wertet den Kannibalismus, wie es seit den Griechen und auch noch in der Aufklärung üblich war, als eine spezifisch »barbarische Gewohnheit«; bei den Neuseeländern sei sie um so abscheulicher, als nicht Hungersnot sie veranlasse, wie schon daraus erhelle, daß nur die Körper der im Krieg getöteten Feinde verzehrt würden.116 Nicht Hungersnot, sondern ungezügelte ›Leidenschaft‹ sei also die tiefere Ursache dieser extremen Form des Raubs. So gesehen, markiere der Kannibalismus aber einen Fortschritt auf dem Weg von der Wildheit zur Gesittung. Denn die Leidenschaften rissen wie ein »prometheisches Feuer« den Wilden aus seinem Zustand der Trägheit und Dummheit und bewegten ihn zu einer Tätigkeit, die Fortschritte auf dem Weg zur Gesittung bewirke; als »Stufe der Barbarei« sei der Kannibalismus also »doch gleichsam die Vorbereitung zu einem menschlichern und glücklicheren Zustande.«117 Forster muß indes einsehen, daß die Gesittung und Verfassung, die aus der Barbarei hervorgehen, immer deren Spuren aufweisen werden: Wenn der Barbar den Kannibalismus als Praxis räuberischer, hemmungsloser Aneignung ablegt, dann wird er den Leib des Feindes zwar verschonen, diesen aber zum Leibeigenen machen und ihm Sklavendienste abverlangen.118 Vom Barbarischen führt kein Weg zum Ideal der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer vom Prinzip des Tauschs gekennzeichneten Ökonomie; es läßt sich in das aufklärerisch-naturrechtliche Modell der Gesellschaftskonstitution durch den Vertrag, mit dem der ›Wilde‹ den Naturzustand gegen den Sozialverband eintauscht, letztlich nicht integrieren. Das Konstrukt des Barbaren stellt sich vielmehr prinzipiell gegen das naturrechtliche Konstrukt des Wilden, wie Michel Foucault im Hinblick auf die französische Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts – die vorrevolutionäre wie die revolutionäre – feststellt. Das Porträt des blonden barbarischen Franken, der in das römische Gallien einfällt und es erobert, sei zunächst Teil eines aristokratisch-reaktionären Gegen-›Diskurses‹ zum

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Johann Reinhold Forster’s Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie auf seiner Reise um die Welt gesammlet. Übersetzt und mit Anmerkungen vermehrt von dessen Sohn und Reisegefährten Georg Forster. Berlin 1783, S. 288f., Zitat S. 288. Vgl. auch den Artikel »anthropophagie« in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 35 Bde. Stuttgart – Bad Cannstatt 1966–1967 (repr. Nachdruck der Ausgabe 1751–1780) Bd. 1, S. 498. Vgl. Forster: Bemerkungen, S. 282ff., Zitate S. 296, 292f. Vgl. Forster: Bemerkungen, S. 282, 285, 293f.

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bürgerlich-aufklärerischen Naturrechts- und Perfektibilitäts-›Diskurs‹ (Foucault zieht eine Linie, die von Boulainvilliers und Fréret bis zu Nietzsche verläuft):119 Die Grundlage der Gesellschaft werde nun weder im Gesetz noch in der Natur gesucht, sondern in einem geschichtlichen Kräfteverhältnis (»rapport de force«). An die Stelle des ›Wilden‹, der seinen Naturzustand gegen den Gesellschaftszustand eintauscht und den Tausch als Wirtschaftsform begründet, trete der Barbar, der im Unterschied zum Wilden nicht aus einem Naturzustand hervorgehe, sondern nur im Hinblick auf eine Zivilisation existiere, die er zerstöre; wie Said, Manfred Schneider und Koselleck (und in Ansätzen bereits Las Casas und Montaigne) kehrt Foucault also die Verschränkung des Barbarischen mit seinem Gegenteil hervor, d.h. seine Stellung als Gegenbegriff: »Il n’y a pas de barbare, s’il n’y a quelque part un point de civilisation par rapport auquel le barbare est extérieur, et contre lequel il vient se battre. [...] Il n’y a pas de barbare sans une civilisation qu’il cherche à détruire et à s’approprier. [...] Il ne surgit que sur un fond de civilisation, contre lequel il vient se heurter.«120 Als Gegenfigur zur Figur des Wilden sei der Barbar nicht Träger des Tauschs, sondern der Beherrschung (»domination«) und des Raubs (»rapine«). Er eigne sich immer das Eigentum anderer an, und seine Freiheit, die er im Unterschied zum Wilden niemals preisgebe, beruhe auf der verlorenen Freiheit der anderen. Eine Regierung setze er nur ein, um seine eigene Macht zu vermehren, um noch mehr rauben zu können usw. Sein Regierungsmodell sei also notwendigerweise militärisch. Die Boulainvilliersche Art der Geschichtsschreibung, merkt Foucault an, hat diese Figur des Barbaren im 18. Jahrhundert zur Geltung gebracht; im Zuge der taktischen Verallgemeinerung des historischen Wissens gehe sie schließlich auch in den politisch-historischen ›Diskurs‹ der Revolution ein (Mably, Marat u.a.).121 Die von Foucault beobachtete Um- und Aufwertung der Figur des Barbaren der Völkerwanderungszeit, die Besinnung auf das Barbarische als sei es aristokratische, sei es revolutionäre Tiefenschicht der eigenen, europäischen Zivilisation, stellt indes die ethnozentrische Antithese des ›zivilisierten‹ und des ›barbarischen‹ Zustandes nicht in Frage. Im Zuge jener Um- und Aufwertung verkehrt sich nur die hierarchische Beziehung zwi-

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Vgl. Michel Foucault: »Il faut défendre la société«. Cours au Collège de France (1975–1976). Hrsg. v. Mauro Bertani u. Alessandro Fontana. Paris 1997, S. 131f. Foucault: »Il faut défendre la société«, S. 174. Vgl. Foucault: »Il faut défendre la société«, S. 174f.

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schen beiden Zuständen ins Gegenteil. Nun ist es der barbarische, der als der authentische, ursprünglich eigene und freie gilt, während der zivilisierthumane den Gegenpol des Fremden und Verächtlichen, ja ›Sklavischen‹ bildet. Das Barbarische bleibt also Teil der antithetischen, raumbezogenen und dabei asymmetrischen Relation, die sich als geschichtlich übertragbar erweist. Seine Aufwertung ist nicht weniger als seine Abwertung eine Hypostasierung und Essentialisierung. Denn in Wahrheit ist der Begriff des Barbarischen immer mit seinem Gegenbegriff verschränkt; beide bilden – mit Said zu reden – ein kontrapunktisches Ensemble. Foucault läßt – vermutlich, weil Nietzsche der Fluchtpunkt seiner Archäologie des Barbarischen ist – außer acht, daß diese Kontrapunktik bei Kant (den er im genannten Zusammenhang nicht zitiert) durchaus hervorgekehrt wird: In seinem Aufsatz »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) kommt Kant auf die kulturpessimistische Frage zu sprechen, »ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Cultur durch barbarische Verwüstung wieder vernichten werde«.122 »Barbarisch« bedeutet hier die Wiederkehr des »gesetzlosen Zustande[s] der Wilden«, d.i. einer »brutale[n] Freiheit«, auf der Stufe einer schon entwickelten Kultur, und zwar im Verhältnis der Staaten zueinander: Kant spricht im Hinblick auf Krieg und Aufrüstung von der »barbarische[n] Freiheit der schon gestifteten Staaten«.123 »Wild« und »barbarisch« bezeichnen im Rahmen seiner historisch-politischen Anthropologie also nicht ein Territorium, das von Zivilisation und Kultur wesensverschieden wäre, sondern zwei zeitliche Aspekte der antagonistischen Beziehung zwischen Individuen oder Staaten. Kant äußert im übrigen die Hoffnung darauf, daß der Antagonismus, so wie er die einzelnen Menschen zur Gründung eines Staates (›bürgerlichen Gemeinwesens‹) gezwungen habe, auch die sich bekriegenden Staaten zur Gründung eines Staaten- oder »Völkerbund[s]« zwingen werde. Einer der Gründe dafür, daß in Goethes Iphigenie und in Grillparzers Goldenem Vließ nicht zwischen den Begriffen des Wilden und des Barbari-

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Immanuel Kant: Werke. Akademie-Textausgabe. 9 Bde. Berlin 1968. Bd. 8, S. 25. Kant: Werke, Bd. 8, S. 24, 26. Es kann also keine Rede davon sein, daß Kants Menschenbild, wie Petermann (Geschichte, S. 319) behauptet, »von dem starren Gegensatz zwischen Zivilisierten und Wilden bestimmt wird.«

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schen differenziert wird, weder im aufklärerischen noch im gegenaufklärerischen noch im Kantischen Sinne, ist in den antiken Bezugstexten beider Werke zu suchen. Bei Euripides zählt das Wilde ja zu den Attributen des Barbarischen, das in einem fremden Territorium verortet wird. Die Raumbezogenheit steht der Tendenz zur Verzeitlichung entgegen, die mit der Unterscheidung zwischen Wilden und Barbaren gegeben war.124 Die Attribute des Barbarischen, die man im Zuge dieser Unterscheidung betont – seine Verschränkung mit Zivilisation und Kultur, seine Verbindung mit Raub, Sklaverei und Krieg –, sind aber bei Goethe und vor allem Grillparzer durchaus Merkmale der Semantik und Dramaturgie des Barbarischen, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird. Zugleich profiliert sich bei ihnen dank der vielfältigen Antike-Bezüge die ›klassische‹ ethnozentrische Tendenz des Barbarenbegriffs – eine Tendenz, die mit der Unterscheidung zwischen Wilden und Barbaren keineswegs verschwindet.125 Im Hinblick auf Goethe und Grillparzer sind hier zwei weitere Wissensbereiche anzuführen, in denen die alte antithetische Topographie und Geographie wiederum auf neuzeitliche ethnographische Befunde angewandt wird und die auch miteinander verschränkt sind: die neuhumanistische Ästhetik und die schon im 18. Jahrhundert aufkommende Rassenkunde. Die neuhumanistische ›Besetzung‹ von Griechenland und Barbarenland wird sowohl in Iphigenie auf Tauris als auch in Das Goldene Vließ szenisch realisiert: Die ›Griechinnen‹ Iphigenie und Kreusa z.B. gelten als Angehörige des Lands der Bildung zur schönen Humanität, und sie erblicken in Thoas bzw. Medea die Angehörigen eines Lands, dem es an solcher Bildung noch mangelt. Zu den Voraussetzungen dieser Pädagogik zählt das kosmopolitische Verständnis der alten Antithese, das, wie dargelegt, auf den Hellenismus zurückgeht und später christlich, humanistisch und aufklärerisch

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Anzumerken ist freilich, daß diese Unterscheidung auch in den historischen Wissenschaften um 1800 nicht allgemein akzeptiert war. In einer Akademierede aus dem Jahre 1814 wird sie zwar konstatiert: »In der neueren Zeit bedient man sich oft des Wortes Barbar, um Völker zu bezeichnen, welche zwischen den Stufen der Wildheit und einer festen bürgerlichen Verfassung in der Mitte stehen« (Friedrich Roth: Bemerkungen über den Sinn und Gebrauch des Wortes Barbar. [...] Nürnberg 1814, S. 15). Und später wird die Unterscheidung ein strukturbildender Faktor der evolutionistischen Ethnologie (vgl. Petermann: Geschichte, S. 237 und 463ff., bes. S. 476). Sie fehlt indes bei Edward Gibbon, dem es um den Verfall der römischen Zivilisation und die Wiederkehr der Barbarei geht (vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 76). S. dazu unten in diesem Kapitel die Bemerkungen zu Schelling.

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akzentuiert wurde.126 Die wichtigste deutschsprachige Enzyklopädie des Aufklärungszeitalters resümiert es wie folgt: »Man hat endlich dieses Wort [d.i. Barbar, M.W.] in einem sittlichen Verstande angenommen, so daß man sich desselben zu [sic] Beschreibung eines grausamen, wilden und ungezähmten Menschen zu bedienen pfleget.«127 Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) dokumentiert, daß der Gegenbegriff des Griechischen dementsprechend dazu dienen kann, die überall gültige, abstrakte Norm des Schönen und Gebildeten – »Harmonie«, »Einheit und Einfalt«, »Unbezeichnung«128 – zu illustrieren. Doch Winckelmanns Werk dokumentiert auch, wie sich in der kosmopolitischen Deutung der alten Antithese deren ethnozentrisches Substrat geltend macht, sobald ethnographische Befunde aus ästhetischer Perspektive beurteilt werden: Die »schräg« liegenden Augen der »Chinesen und Japanesen« und die »gepletschte Nase der Kalmücken, der Chinesen und anderer entlegenen Völker« sind, schreibt Winckelmann, jeweils »eine Abweichung« von der Norm, so wie der »aufgeworfene schwülstige Mund, welchen die Mohren mit den Affen in ihrem Lande gemein haben, [...] ein überflüssiges Gewächs und ein Schwulst [ist], welchen die Hitze ihres Klimas verursacht«.129 Vor allem klimatheoretisch wird folglich auch die Vorrangstellung Griechenlands, das synekdochisch (Mittel-)Europa bedeutet, begründet: Regelmäßiger aber bildet die Natur, je näher sie nach und nach wie zu ihrem Mittelpunkt geht, unter einem gemäßigten Himmel [...]. Folglich sind unsere und der Griechen Begriffe von der Schönheit, welche von der regelmäßigsten Bildung genommen sind, richtiger, als welche sich Völker bilden können, die [...] von dem Ebenbilde ihres Schöpfers halb verstellt sind.130

Dieser ästhetische Eurozentrismus, der deutliche Spuren der HellenenBarbaren-Antithese aufweist, auch wenn Winckelmann es hier vermeidet, den Begriff des Barbarischen zu verwenden, wird gleich darauf mit dem Hinweis auf die tatsächliche Vielfalt der Meinungen über das Schöne re-

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Vgl. zusammenfassend Borst: Barbaren, S. 27f. Zedler, Bd. 3 (1733), Sp. 392. Dieser Sprachgebrauch ist auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorherrschend; vgl. Ersch / Gruber, Bd. 7 (1821), S. 1821. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Repr. Nachdruck der Ausgabe Wien 1934. Darmstadt 1993, S. 146, 150. Winckelmann: Geschichte, S. 146f. Winckelmann: Geschichte, S. 147. Die antike deterministische Klimazonentheorie wurde im 18. Jahrhundert bekanntlich von Montesquieu erneuert, dem Winckelmann offenbar verpflichtet ist.

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lativiert und dann wiederum kosmopolitisch überhöht,131 am Ende jedoch mit dem Hinweis auf die Schönheit der weißen Farbe bekräftigt: Die Farbe trägt zur Schönheit bei, aber sie ist nicht die Schönheit selbst, sondern sie erhebt dieselbe überhaupt und ihre Formen. Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehrsten Lichtstrahlen zurückschickt, folglich sich empfindlicher macht, so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist [...].132

Zwar wird diese Feststellung mit dem Hinweis eingeschränkt, »ein Reisender« (d.h. Autor von Reiseliteratur) versichere, »daß der tägliche Umgang mit Mohren das widrige der Farbe benimmt und was schön an ihnen ist, offenbart«, so wie die dunkle Farbe des Metalls oder Basalts der Schönheit alter Büsten nicht nachteilig sei.133 Dennoch markiert Winckelmanns Äußerung über die ästhetische Höherwertigkeit der weißen Hautfarbe den Punkt, an dem die neuhumanistische Adaptation der alten Opposition des Hellenischen und Barbarischen mit der aufkommenden Ansicht von der Ungleichwertigkeit der Menschenrassen kompatibel wird.134 Wenngleich der ›Vater‹ der anthropologischen Rassenkunde, der Göttinger Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), eindeutig gegen die Ansicht von der Ungleichwertigkeit der Menschenrassen Position bezog,135 wenngleich Kant betonte, der Begriff der Menschenrasse sei allein aus systematischen Gründen, nämlich als ein teleologisches Prinzip der Naturgeschichte zu verwenden, das es erlaube, die sich ›unausbleiblich‹ forterbenden Unterschiede der Hautfarbe zu klassifizieren, von dem aber das Prinzip der Einheit der Menschengattung (des ›Stammes‹) nicht tangiert werde,136 und wenngleich Herder und Georg Forster mit Nachdruck

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»In der allgemeinen Form [der Schönheit, M.W.] aber sind beständig die mehrsten und gesittetsten Völker in Europa sowohl als in Asien und Afrika übereingekommen« (Winckelmann: Geschichte, S. 147f.). Winckelmann: Geschichte, S. 148. Ebd. Vgl. Fritz Cramer: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1977, S. 16f.; Petermann: Geschichte, S. 301ff. Zur Rolle der Rassenkunde in der europäisch-überseeischen Begegnung auch Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 339ff. – Es kann im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben, ob es berechtigt ist, mit Detel (Griechen und Barbaren, bes. S. 1026) bereits im griechischen Ethnozentrismus eine Form von Rassismus zu erblicken; daß der antike Ethnozentrismus eine der Wurzeln des europäischen Rassismus ist, scheint jedenfalls unbestreitbar. Vgl. Petermann: Geschichte, S. 329. Vgl. Kants Aufsätze »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace« (1785), in:

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Einwände gegen die Verwendung des Begriffs der Menschenrasse als einer besonderen Menschenart erhoben,137 faßte nicht nur dieser Begriff, sondern auch die Bewertung der Menschenrassen rasch Fuß. So unterscheidet der einflußreiche Göttinger Philosoph und Polyhistor Christoph Meiners (1747–1810) zwischen zwei ›Hauptstämmen‹ der Menschen, die beide mehrere ›Raçen‹ in sich begreifen: dem ›mongolischen‹, zu dem er die mehr oder weniger dunkelhäutigen, ›häßlichen‹ Völker zählt, und den ›kaukasischen‹, »welcher die weißen und schönen Völker umfaßt.«138 Die Gleichsetzung des Weißen mit dem Schönen und des Dunklen mit dem Häßlichen wird ähnlich wie bei Winckelmann klimatheoretisch begründet, dann aber auf die Bereiche von Sitte und Moral ausgedehnt: »Endlich unterscheiden sich die schwarzen und häßlichen Völker von den weißen und schönen durch eine traurige Leerheit an Tugenden, und durch mehrere fürchterliche Unarten.«139 Es folgt ein Katalog dieser »Unarten«, die den antiken Barbarenklischees durchaus ähnlich sind: selbstbezogene »Reizbarkeit« und »Gefühllosigkeit gegen die Freuden und Leiden anderer«, Grausamkeit, tierische Triebhaftigkeit usw.140 Meiners’ simplifizierende Antithesen weisen also deutliche Spuren der antiken Semantik des Barbarischen auf, trotz des enormen erfahrungswissenschaftlichen Aufwands, mit dem er sie zu begründen sucht (die Fülle der ethnographischen Quellen, die er auswertet, ist beeindruckend).

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Akademie-Textausgabe, Bd. 8, S. 89–106, bes. S. 99f., und »Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie« (1788), in: Akademie-Textausgabe, Bd. 8, S. 157–184, S. 163ff. In dem zweiten Aufsatz setzt Kant sich mit Georg Forsters Kritik an der im ersten vorgetragenen Begriffsbestimmung auseinander (vgl. dazu die folgende Anmerkung). Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. v. Heinz Stolpe. 2 Bde. Berlin / Weimar 1965. Bd. 1, S. 248ff. und – zur Auseinandersetzung mit Kant und zu Georg Forsters Parteinahme gegen Kants Rassebegriff – den Stellenkommentar dazu (S. 481ff.); Georg Forster trägt seine Kritik an Kant in dem folgenden Aufsatz vor: Noch etwas über die Menschenraßen. An Herrn D. Biester. In: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1958ff. Bd. 8, S. 130–156, bes. S. 152. Zu dieser Auseinandersetzung vgl. auch Petermann: Geschichte, S. 320ff. Christoph Meiners: Grundriß der Geschichte der Menschheit. Königstein/ Ts. 1981 (repr. Nachdruck der Ausgabe Lemgo 1793), S. 59ff., Zitat S. 74; vgl. S. 89. Wie Petermann (Geschichte, S. 330ff.) betont, bedeutet ›Geschichte der Menschheit‹ hier so viel wie Anthropologie und Ethnologie. Meiners: Grundriß, S. 116. Vgl. Meiners: Grundriß, S. 117f.

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Solche Spuren finden sich auch in seinen Ansichten von den vier wiederum »rassisch ›korrelierte[n]‹ Kulturstufen«141 der Völker: Zwar greift er die aufklärerische Unterscheidung zwischen Wilden und Barbaren auf und differenziert zwischen ›halb‹ und ›ganz‹ aufgeklärten Völkern. Doch nennt er dann Wilde und Barbaren in einem Atemzug und setzt ihnen und den halb aufgeklärten Völkern die Griechen, Römer und Europäer entgegen: »Aufgeklärte Völker waren in der alten Zeit einzig und allein die Griechen und Römer, und sind jetzo die christlichen Bewohner Europens«.142 Derart wird die Idee der Einheit des Menschengeschlechts, an der auch Meiners festhält,143 durch die zugleich neuhumanistisch-ästhetische und rassekundliche Anwendung der alten Opposition von Hellenen und Barbaren und die sie überlagernde Opposition von Christen und Heiden in Frage gestellt. Zugleich zeigt sich, wie beide auf eine dritte, wiederum ›asymmetrische‹ Opposition einwirkten: die kosmopolitische von ›Mensch und Unmensch‹, die nicht nur zutiefst uneindeutig und polemisch, sondern auch paradox ist, insofern als mit ihr »unter Berufung auf die ›Menschheit‹ oder den ›Menschen‹ andere Menschen ausgeschlossen werden sollen.«144 Daß bei Grillparzer anders als bei Goethe nicht nur die neuhumanistisch-ästhetische, sondern auch die rassekundliche Anwendung der alten Topographie oder Geographie ins Spiel kommt, wie sich weiter unten zeigen wird, entspricht dem in der sogenannten Biedermeierzeit zunehmenden Gewicht der, mit Heine zu reden, ›Rassenmäkelei‹.145 Heines Spott zielt auf die nationalistisch-›altdeutsche‹ Vereinnahmung des Rassegedankens. Doch dieser drang auch in den Neuhumanismus ein: Was sich bei Winckelmann erst abzeichnet, ist in Schellings Vorlesungen über Philosophie der Mythologie (1842) bereits Teil der akademischen Lehre. Neuhumanistisch ist in diesen Vorlesungen die unbedingte Vorrangstellung, die der griechischen Mythologie zugesprochen wird,146 und die damit einhergehende Verachtung sowohl des einheimischen Volksglaubens als auch

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Petermann: Geschichte, S. 332. Meiners: Grundriß, S. 138. Zur Differenzierung zwischen Wilden und Barbaren vgl. S. 129ff.; in einem Atemzug nennt er sie auf S. 136. Vgl. Meiners: Grundriß, S. 59. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 245. Zu den entsprechenden Abschnitten in Heines Schriften Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Über den Denunzianten und zu ihrem Kontext vgl. Winkler: Mythisches Denken, S. 204ff. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie. 2 Bde. Darmstadt 1986 (repr. Nachdruck der Ausgabe von 1856–1857). Bd. 2, S. 645.

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des Glaubens der überseeischen »Wilden«, insbesondere der Wilden »des südlichen Amerika«.147 Dem für beide charakteristischen, später so genannten Animismus spricht Schelling sogar alle religiöse Qualität ab, da er nicht Teil des mythologischen Prozesses sei, der vom »blinde[n] Theismus des Urbewußtseyns« über den Polytheismus als »natürliche« und das Christentum als »geoffenbarte« Religion zur »philosophischen« monotheistischen Religion führe.148 Wo aber wie bei den ›Wilden‹ weder natürliche noch offenbarte Religion sei, da gebe es auch keine Gemeinschaft der Menschen und folglich auch kein wirkliches Menschsein: Schelling kommentiert die ethnographischen Beobachtungen des spanischen Forschungsreisenden Félix de Azara (1742–1821), die er als Belege für seine Aussagen über die ›Wilden des südlichen Amerika‹ anführt,149 mit der Behauptung, diese seien »bloß äußerlich menschenartig[]«, denn sie lebten »o h n e j e d e A r t v o n G e m e i n s c h a f t u n t e r s i c h , völlig wie die Thiere des Feldes, indem sie so wenig eine sichtbare als eine unsichtbare Gewalt über sich erkennen«; es könne daher auch gar keine »gesellschaftliche Verbindung« unter ihnen hervorgebracht werden.150 Auch in dieser Behauptung ist die von der überseeischen Kolonisation untrennbare Tendenz wirksam, die außereuropäischen ›Wilden‹ aus dem Begriff der Menschheit auszuschließen, und in ihr kehren dementsprechend das antike Klischee vom tierhaft-asozialen Leben der Barbaren sowie die christliche Gleichsetzung von ›Heide‹ und ›Barbar‹ wieder.151 Bemerkenswert ist nun, wie die antike, die christliche und die neuhumanistische Schicht dieser ethno- und eurozentrischen Geographie von einer zugleich idealistischen und rassekundlichen überlagert wird, wenn es darum geht, die Vorrangstellung des antiken und modernen Europa zu begründen, ohne den christlich-humanistischen Gedanken der Einheit

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Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. 1, S. 40. Vgl. Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. 1, S. 191, 246, 247. Schelling zitiert ausgiebig Azaras forschungsgeschichtlich bedeutsames Werk Voyages dans l’Amérique méridionale, depuis 1781 jusqu’en 1801; contenant la description géographique, politique et civile du Paraguay et de la rivière de La Plata [...], Paris 1809; vgl. dazu Petermann: Geschichte, S. 431. Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. 1, S. 63f. Sperrung im Text. Vgl. Winkler: Mythisches Denken, S. 48f. Es fällt auf, daß Schelling hier die alten Barbarenklischees, nicht aber das Wort Barbar verwendet. Der Grund dafür ist vermutlich darin zu suchen, daß damals im deutschsprachigen Raum bereits die verallgemeinernde, vom Ethnozentrismus abstrahierende Bedeutung des Wortes vorherrscht: Vgl. Ersch / Gruber, Bd. 7 (1821), S. 347. Dazu unten, Kap. 5.1, S. 178, Anm. 39.

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des Menschengeschlechts preiszugeben. Schelling erwähnt das von der Reiseliteratur dokumentierte »schnelle Aussterben aller Wilden in der Berührung mit Europäern«, das zu der Vermutung Anlaß gebe, »die höhere und freiere Entwicklung der europäischen Nationen [werde] allen andern tödtlich«. Davon ausgehend kommt er auf die Unterschiede zwischen den »sogenannten Menschenracen« zu sprechen. Er wertet diese Unterschiede, von denen man nur im Hinblick auf den außereuropäischen Teil der Menschheit sprechen könne – »denn die europäische Menschheit sollte man eigentlich keine Race nennen« –, als Resultat der Abweichung von der Norm geistiger Höherentwicklung: [Es ist] als möglich anzusehen [...], daß dieser Proceß [d.i. der Prozeß, durch den die ›Rassenunterschiede‹ entstanden sind, M.W.] durch die ganze Menschheit gegangen ist, und der edlere [d.i. europäische, M.W.] Theil der Menschheit nicht derjenige ist, der ganz von ihm freigeblieben, sondern nur derjenige, der ihn überwunden und sich eben damit zu höherer Geistigkeit aufgeschwungen hat, die wirklich existirenden Racen dagegen nur der Theil sind, der dem Proceß erlegen ist, und in dem eine jener Richtungen einer abweichenden physischen Entwicklung sich fixirt hat und zum bleibenden Charakter geworden ist.152

An dieser idealistisch-spekulativen Relativierung des Rassebegriffs fällt vor allem zweierlei auf: erstens die ethnozentrische Funktion der Ausschließung, die, wie sich im vorangehenden gezeigt hat, den sich überlagernden ›asymmetrischen‹ Oppositionen von Hellenen und Barbaren, Christen und Heiden, Mensch und Unmensch gemeinsam ist; und zweitens der Eurozentrismus. Die Relativierung des Rassebegriffs entspricht somit der bereits angeführten Beobachtung von B. Waldenfels: Der Eurozentrismus ist eine raffinierte Form des Ethnozentrismus, da er das Eigene mit dem Ganzen und Allgemeinen, das er als Ziel des Geschichtsprozesses bestimmt, gleichsetzt.

2.3. Von der Semantik zur Dramaturgie des Barbarischen Blickt man auf den Gang der vorangehenden Überlegungen zurück, so erweist sich die ethnozentrische Semantik des Barbarischen als erstaunlich beständig. Dasselbe gilt für die Semantik des Wilden, insofern dieses zu den Attributen des Barbarischen zählt oder mit ihm gleichbedeutend

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Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. 1, S. 97f.

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ist oder aber (wie in Schellings zuletzt zitierten Äußerungen) Attribute des Barbarischen gleichsam aufbewahrt. Wichtigster Faktor jener Beständigkeit ist die anachronistische Anwendung des antiken Begriffs und der an ihm haftenden Klischees auf neue ethnographische Daten. Die Ausdifferenzierung der Wissensbereiche im Zuge der Entstehung neuer Wissensformationen – ein Prozeß, dem sich auch die Ablösung der ›wilden‹ Völkerkunde durch eine wissenschaftliche, die Ethnologie, verdankt – tut diesem Anachronismus nicht Abbruch.153 Er manifestiert sich vielmehr in den verschiedensten Wissensbereichen und -disziplinen, wofern in ihnen ethnographische Literatur ausgewertet wird: in der Ethnologie und Anthropologie, aber auch in der Geschichtsphilosophie, Ästhetik, Mythostheorie und Rassenkunde. Die ethnozentrische Verwendung des Barbarenbegriffs, die für die ethnographische Literatur charakteristisch ist, behauptet sich in der Ethnologie nachweislich bis ins späte 19. Jahrhundert.154 Um so erstaunlicher ist es, daß prominente Vertreter der Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts den Begriff des Barbarischen weitgehend unkritisch, ohne begriffsgeschichtliche Reflexion, verwenden, um das Gegenteil des Humanen und Menschlichen zu bezeichnen; das ethnozentrische Substrat, das jeder Semantik des Barbarischen eignet, auch der humanistischen, bleibt dabei außer Betracht.155 Hingegen macht das klassizistische mythologische Drama auf dieses Substrat aufmerksam; die ethnozentrische Semantik des Barbarischen ist ein Bindeglied zwischen Drama und Ethnographie. Doch haben der Begriff des Barbarischen und die an ihm haftenden Klischees im Drama eine

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Vgl. Petermann: Geschichte, S. 278ff. Noch Edward Burnett Tylor verwendet in seinem grundlegenden ethnologischen Werk Primitive Culture (1871) das evolutionistische Dreierschema ›Wildheit‹ – ›Barbarei‹ – ›Zivilisation‹; vgl. Fisch: Zivilisation, Kultur, S. 757. Selbst in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung macht sich dieses Schema geltend: Bei Homer repräsentiere der Kyklop Polyphem »den Lotophagen gegenüber ein späteres, das eigentlich barbarische Weltalter als eines von Jägern und Hirten« (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1971, S. 59). So charakterisieren Horkheimer und Adorno schon in der »Vorrede« zur Dialektik der Aufklärung diese Arbeit als das Ergebnis der Bemühung um die »Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« (Dialektik der Aufklärung, S. 1); Georg Lukács verwendet in Die Zerstörung der Vernunft das Attribut des Barbarischen mehrfach im Sinne von »unmenschlich«, um die Verbrechen des Hitlerregimes und dessen mythisierende Ideologie zu charakerisieren (vgl. Lukács: Werke. Bd. 9. Neuwied [u.a.] 1962, S. 666, 710, 720f.).

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ganz andere Funktion als die, Aussagen über fremde Ethnien zu ermöglichen, so wie auch die alten Mythen, in denen von Barbaren die Rede ist (oder zu sein scheint), hier nicht, wie z.B. bei Lafitau, als Allgemeinplätze fungieren, unter die nach den Regeln des rhetorisch-topischen Vergleichs das ethnisch Fremde subsumiert wird.156 Das Drama führt vielmehr mit den ihm eigenen Mitteln vor Augen, was die ethnographische Verwendung des Barbarenbegriffs und die damit einhergehende Projektion alter Mythen auf fremde Ethnien beinhaltet, und es zeigt zugleich, daß sich diese Inhalte auch in der humanistisch-kosmopolitischen Verwendung des Begriffs verbergen. Das wichtigste Mittel, dessen es sich dabei bedient, ist die jeweilige mythologische, szenisch zu realisierende Handlungssequenz, die, verglichen mit den Applikationen mythologischer Allgemeinplätze, referentiell unbestimmt ist (auch die Sprache der tragédie classique trägt, wie gesagt, zu dieser Unbestimmtheit bei).157 Sie hat also den Status eines selbstbezogenen Bühnenspiels, freilich eines bedeutsamen: Das Drama erinnert, indem es seine antiken Bezugstexte aufruft, an die Herkunft des modernen Barbarenbegriffs, auch des humanistisch-neuhumanistischen, aus der antiken kulturellen Topographie oder Geographie und verdeutlicht auf diese Weise, daß dem Begriff eine antikisierende Sehweise innewohnt, die mit seiner eurozentrischen Tendenz untrennbar verknüpft ist. Anders gesagt: Mythologische Dramen wie Goethes Iphigenie und Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ sind nicht Teil des ethnographischen ›Diskurses‹ vom Barbaren, sondern reflektieren diesen autonom, nach den Gesetzen ihrer Gattung; die szenisch zu realisierende Semantik des Barbarischen unterscheidet sich vom ethnographisch-ethnozentrischen Gebrauch dieser Semantik, bleibt aber auf ihn bezogen.158 Schon die ›Erfindung‹ des mythischen Barbaren im Medium der griechischen Tragödie zeichnet sich durch diese Differenz aus. Euripides’ Iphigeneia-Tragödien und seine Medeia sind nicht Illustrationen helleno-

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Zu dieser mythologischen ›Sehgewohnheit‹ und ihrer Geschichte vgl. Graevenitz: Mythos, bes. S. 96ff., 190; ferner oben, S. 51, und Anm. 104 zur mit ihr verbundenen bildtheologischen Denkgewohnheit. S. oben, Kap. 1, S. 12, und Anm. 30. Vgl. den Begriff der Differenzästhetik bei Norbert Mecklenburg: Zur poetischen Inszenierung von Interkulturalität: Hybridisierung, Dialogizität und Differenzästhetik in Goethes »Iphigenie«. In: Etudes Germano-Africaines 17 (1999), S. 65–79, bes. S. 66f., 75f. Die Problematik von Mecklenburgs Bestimmung des Begriffs besteht darin, daß sie inhalts-, nicht aber zugleich strukturbezogen ist und daher von der Gattungszugehörigkeit des jeweiligen Differenzierungsverfahrens absieht.

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zentrischer Ethnographie, sondern sie führen im Spielbereich des dramatisierten Mythos vor Augen, daß die kulturelle Identität, die der hellenozentrische Barbarenbegriff stiften soll, von der ihm eigenen Funktion der Ausschließung unterminiert wird.159 Das Jungfrauenopfer, das den Feldzug der Hellenen gegen die trojanischen Barbaren ermöglichen soll, macht die Hellenen ihrem Bild von den Barbaren ähnlich, wie die Handlung der ›aulischen‹ Iphigeneia zeigt und wie die Protagonistin der ›taurischen‹ Iphigeneia mit ihrer kühnen metonymischen Verwechslung von Aulis und Taurerland zu verstehen gibt.160 Und Iasons Wortbrüchigkeit und Verrat sind Manifestationen eben jener brutalen Willkür, die er im Raum des Barbarischen verortet, so wie die Rache der ›Barbarin‹ Medeia in den Raum des griechischen Heroentums hinüberreicht. Diese tragischen Realisationen der Verflechtung des Entgegengesetzten weisen auf die theoretische Reflexion über solche Verflechtung voraus (z.B. auf Saids Konzept der kontrapunktischen kulturellen Topographie oder Geographie). Vor allem aber zeigen sie, was keine Theorie zeigen kann: wie im konkreten Fall die Verflechtung des Hellenischen und Barbarischen von Figuren des Dramas verkannt oder verdrängt wird und welche Konsequenzen dieses Verkennen und Verdrängen hat. Sowohl Iphigeneias Argumente für die Einwilligung in ihre Opferung als auch Iasons Argumente für seinen Verrat an Medeia fußen auf der Bejahung der ethnozentrischen Auffassung, daß die Opposition des Hellenischen und Barbarischen naturgegeben und wesensnotwendig, also unüberbrückbar ist. Zugleich wird diese Auffassung in beiden Fällen durch die Handlung, die von ihr legitimiert werden soll – Opferung bzw. Verrat – und durch die fürchterlichen Konsequenzen der Handlung – die Fortsetzung der Verwandtenmorde der Atriden, Medeias Rache – radikal in Frage gestellt. Auf solchem Verkennen und Verdrängen und seinen möglichen oder realen Konsequenzen liegt, wie sich im folgenden zeigen wird, auch bei Goethe und bei Grillparzer ein besonderer Akzent; und bei ihnen wie bei Euripides kommt dieser Akzentuierung wiederum ein gattungsspe-

159

160

Vgl. Charles Segal: Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text. Ithaca / London 1986, S. 66: »As dramatic performance, tragedy represents myth in its most solid, concrete, three-dimensional form, enacted on stage before us. Yet at every moment there is a potential division between this surface tangibility and the abyss of illusion, appearances, deception. [...] Poised between full representation and self-conscious fictionality, tragedy simultaneously culminates and dissolves the semiotic system behind the mythical material it uses.« Vgl. oben, S. 36f.

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zifisches Strukturmerkmal entgegen: Die mythologischen ›Geschichten‹, d.h. Ereignisreihen, stellen sich in den antiken mythologischen Tragödien, denen sie zugrunde liegen, und in ihren klassizistischen Nachahmungen als geschlossene Handlungssequenzen dar, die jeweils »durch einen ununterbrochenen Kausalnexus zusammengehalten« werden.161 In der mythologischen Dramaturgie des Barbarischen wird dieser Kausalnexus sowohl von der jeweiligen mythologischen Geschichte als auch von der in diese projizierten Antithese des Griechischen und Barbarischen bestimmt. Den drei Wirkungsformen dieser Projektion entsprechend162 kann die jeweilige Handlungssequenz den Konflikt zwischen der Antithese und der mythologischen Überlieferung, der ›Geschichte‹, hervorkehren. Oder sie kann das einschließen, was die Antithese ausschließt, nämlich die Dynamik der Verflechtung, ja Verstrickung und Verkehrung des Griechischen ins Barbarische. Sie kann aber auch zur Mythisierung der Antithese tendieren: Die überlieferte ›Geschichte‹ dient dann nur noch dazu, die Antithese zu bezeichnen.163 Ein- und dieselbe Handlungssequenz kann demnach auf sehr widersprüchliche Weise die Semantik des Barbarischen szenisch realisieren. Das gilt auch, wie z.B. die oben angeführten Passus der ›aulischen‹ und der ›taurischen‹ Iphigeneia des Euripides verdeutlichen, für das handlungsbegleitende, d.h. informierende und kommentierende, Sprechen der Figuren, und es gilt, wie sich vor allem bei Grillparzer zeigt, für die handlungsfördernde oder handlungsbegleitende Gestik der Figuren und die Struktur des Bühnenraums. Die Handlungssequenzen und die handlungsbegleitenden Kommentare, aber auch die Inszenierungsanweisungen im Nebentext sind

161

162 163

Vgl. Pfister: Das Drama, S. 265ff. (mit Hinweis auf Aristoteles: Poetik, Kap. 7, 1450b) und 307ff., Zitat S. 309. Hier und im folgenden ist mit »Kausalität« also nicht die ›Kausalität nach der Natur‹ oder die ›Kausalität aus Freiheit‹ (vgl. Kant: Akademie-Textausgabe. Bd. 3, S. 362ff. [Kritik der reinen Vernunft, B 560–580]) gemeint, sondern das auf die aristotelische Norm des tragischen ›Mythos‹ zurückgehende dramaturgische Prinzip der Konstruktion eines ununterbrochenen Folgezusammenhangs von Ursache und Wirkung. Zur Erläuterung dieses Unterschieds sei daran erinnert, daß der Begriff des Mythos bei Aristoteles nicht – wie heute üblich – die mythologische ›Geschichte‹ als chronologische Ereignisreihe bezeichnet, sondern die eigengesetzliche Handlungssequenz – die 1449b) oder »Zusammenfügung der Ereignisse« »Nachahmung« ( d.h. die heute so genannte ›Fabel‹. – Zu den Grundmythen von Iphigenie und Medea als ›Geschichten‹ s. unten, Kap. 3.2.1 bzw. 5.1. S. dazu oben, S. 39. Vgl. Roland Barthes: Mythologies. Paris 1970 [1957], S. 183ff.

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demnach die Elemente der Dramaturgie des Barbarischen, von der im folgenden die Rede sein soll.164

164

Mit dem Begriff der Dramaturgie ist hier also jener »Teil der Bühnenrealisierung, der vom literarischen Textsubstrat explizit gefordert wird bzw. eindeutig in ihm impliziert ist«, gemeint, nicht der »Teil, der ›Zutat‹ der Inszenierung ist« (Pfister: Das Drama, S. 25). Mein Gebrauch des Begriffs der Dramaturgie knüpft außerdem an Helmut J. Schneiders erhellende Ausführungen zur impliziten Dramaturgie in Dantons Tod an. Vgl. Helmut J. Schneider: Tragödie und Guillotine. »Dantons Tod«: Büchners Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper. In: Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Hrsg. v. Volker C. Dörr und Helmut J. Schneider. Bielefeld 2006, S. 127–156, hier bes. S. 127.

68

3.

Dramaturgie des Barbarischen: Von der antiken zur modernen Iphigenie

3.1. Das Menschenopfer als Skandal: Vorüberlegungen zur Analyse der dramenpoetischen Auseinandersetzung mit dem Iphigenie-Mythos Der strukturelle Unterschied zwischen einem antiken Mythos und seiner Bearbeitung im Drama der geschlossenen Form, zwischen einer Geschichte, die zunächst episch überliefert war, und der geschlossenen Handlungssequenz, zu der die Geschichte in der Tragödie wird, kam am Ende des vorangehenden Kapitels zur Sprache. Dieser Unterschied, der dem von der Romantheorie hervorgehobenen Unterschied zwischen story und plot entspricht,1 zählt zu den Bedingungen der Möglichkeit dramenpoetischer ›Arbeit‹ (Blumenberg) am jeweiligen Mythos. Im Zentrum der dramenpoetischen Arbeit am Iphigenie-Mythos stehen die grausamen Kulthandlungen, auf die dieser Mythos sich bezieht: die Opferung der Iphigeneia in Aulis und die drohende Opferung von Orestes und Pylades im Taurerland.2 Sie werden im Medium der Tragödie zum Problem: Wie läßt sich die Gewalt, die solche Kulthandlungen heiligen, motivieren? Kann sie verhindert oder muß sie hingenommen werden? Und wo ist sie jetzt beheimatet – nur noch im Raum der ›Barbaren‹ oder auch noch im Raum der ›Hellenen‹? Die Debatte darüber wird in den antiken Tragödien von den darin auftretenden Figuren des Mythos, aber auch vom Chor geführt; sie stellt die Berechtigung der Menschenopfer-Praxis radikal in Frage, und doch kommt sie zu keinem eindeutigen Ergebnis: Die Opferung der Iphigeneia findet statt – dieser Teil des Mythos kann offen1 2

Vgl. Pfister: Das Drama, S. 267. Opfer also ist das thematische Zentrum des Iphigenie-Mythos«, stellt Stefan Matuschek im Nachwort zur von ihm herausgegebenen Textsammlung Mythos Iphigenie. Texte von Aischylos bis Volker Braun (Leipzig 2006) fest (s. dort S. 156–184, Zitat S. 157). Die Textsammlung dokumentiert, daß bis heute die poetische Auseinandersetzung mit dem Iphigenie-Mythos vor allem im Drama erfolgt.

»Das

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bar nicht aus ihm entfernt, sondern allenfalls mit mildernden Umständen (Iphigeneias Entrückung durch die Göttin) versehen werden –, und die Verhinderung der Opferung von Orestes und Pylades markiert nicht die endgültig gesicherte Abschaffung der Menschenopfer.3 Der sich in dieser Ambivalenz manifestierende Widerstand des Mythos gegen die ›Arbeit‹ an ihm ist offenbar der Grund dafür, daß die Debatte über die Gewalt, die sich im Menschenopfer manifestiert, in und mit den modernen Transformationen der antiken Bezugstexte wiederaufgegriffen wird: in ihnen, insofern als die dramatis personae der modernen Tragödien die Debatte fortsetzen; mit ihnen, insofern als die Abweichungen von den antiken Bezugstexten selbst als Beiträge zu der Debatte zu verstehen sind. Daß die Tragödie als Gattung zum Medium dieser Debatte über den Mythos wird, setzt, wie gesagt, den strukturellen Unterschied zwischen mythologischer ›Geschichte‹ und dramatischer Handlungssequenz voraus. Die Debatte ist Teil der Handlungssequenz, insofern sie deren Kausalität zumindest tendenziell mitbestimmt. Solche Mitbestimmung wird ihr nur zuteil, weil sie, wie angedeutet, das, was am mythologischen Geschehen fremd und anstößig wirkt, mit zeitgenössischen Werten wie der asymmetrischen Opposition des Hellenischen und Barbarischen verbindet. Dabei stellen sich nun aber semantische Spannungen ein, deren Unauflösbarkeit zu den spezifischen Strukturmerkmalen der griechischen Tragödie als Gattung gehört, wie Jean-Pierre Vernant betont hat. Er macht dafür historische Gründe geltend, vor allem einen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen: Indem die Tragödie die Mythen des Epos, die einer schon vergangenen, aber noch immer vertrauten religiösen Überlieferung angehören, auf die Bühne bringt und sie dort mit dem neuen rechtlichen und politischen Denken der Polis, der sie selbst als soziale Institution angehört, konfrontiert, vermittelt sie einen Konflikt der Denkformen und Wertordnungen, dem ihre strukturellen Oppositionen und Mehrdeutigkeiten entsprechen. Grundlegend ist die Opposition von Chor und tragischen Figuren: Jener repräsentiert die Gemeinschaft der Polis-Bürger, während diese individualisierte Helden aus einer vergangenen, aristokratischen Zeit sind. Quer dazu steht die Verteilung der Sprachformen: Die lyrische des Chors knüpft an die archaische Chorlyrik an, in der die vorbildlichen Tugenden der mythischen Helden gepriesen wurden; die Sprache der tragischen Figuren, der jambische Trimeter, ist hingegen der Alltagsprosa

3

S. dazu unten in diesem Kapitel.

70

nahe, so daß die Spannung zwischen der Welt des Mythos und derjenigen der Polis auch zum Bestandteil der tragischen Figurenkonzeption wird. Sie manifestiert sich im Denken und Handeln der Figuren als Spannung zwischen éthos und daímon: »[...] chaque action apparaît dans la ligne et la logique d’un caractère, d’un ēˆthos, dans le moment même où elle se révèle la manifestation d’une puissance de l’au-delà, d’un daímōn.«4 Kennzeichnend für das tragische Verständnis menschlichen Handelns ist also das Gegen- und Ineinander von Autonomie und Heteronomie: Le sens tragique de la responsabilité surgit lorsque l’action humaine fait une place au débat intérieur du sujet, à l’intention, à la préméditation, mais qu’elle n’a pas acquis assez de consistance et d’autonomie pour se suffire entièrement à elle-même. Le domaine propre de la tragédie se situe à cette zone frontière où les actes humains viennent s’articuler avec les puissances divines, où ils prennent leur sens véritable, ignoré de l’agent, en s’intégrant dans un ordre qui dépasse l’homme et lui échappe.5

Der Konflikt der Denkformen und Wertordnungen manifestiert sich dementsprechend auch in der Ambiguität zentraler religiös-rechtlicher Begriffe [díke]).6 wie ›Recht‹ und ›Gerechtigkeit‹ ( Die Tragödie spielt sich also immer auf zwei heterogenen, aber nicht klar voneinander geschiedenen Ebenen ab; ihre Wirklichkeit ist uneindeutig, und sie vermittelt einen Zustand der Zerrissenheit, der ihrem historischen ›Moment‹, dem krisenhaften Konflikt zweier antinomischer Denkformen und Wertordnungen, entspricht. Beide stellen sich wechselseitig in Frage: Nicht nur wird die Welt des Mythos aus der Sicht der Polis fragwürdig, sondern auch umgekehrt.7 Wie sich im vorangehenden Kapitel gezeigt hat,8 ist es im ersten Epeisodion der ›taurischen‹ Iphigeneia des Euripides die Verbindung des Barbarischen mit dem Hellenischen in der Welt des Mythos, die durch die wertende Opposition des Hellenischen und Barbarischen in Frage gestellt wird; in Teilen der ›aulischen‹ Tragödie hingegen ist es diese Opposition selbst, die angesichts jener Verbindung fragwürdig wird. In beiden Formen

4

5 6 7 8

Jean-Pierre Vernant: Tensions et ambiguïtés dans la tragédie grecque. In: JeanPierre Vernant u. Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne. 2 Bde. Paris 2001 [1972, 1986]. Bd. 1, S. 19–40, Zitat S. 30. Vernant: Tensions et ambiguïtés, S. 39. Vgl. Vernant: Tensions et ambiguïtés, S. 33. Vgl. Vernant: Tensions et ambiguïtés, S. 25. S. oben, Kap. 2.1, S. 35f.

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wirkt sich die Projektion der mit der Semantik des Barbarischen gegebenen Werte in den alten Mythos aus; sie sind zueinander komplementär. Die Projektion kann indes auch dahin tendieren, die Spannungen und Brüche zwischen den heterogenen Denkweisen und Wertordnungen zu verdecken. Diese dritte Form wurde oben als Mythisierung der mit der Semantik des Barbarischen gegebenen Werte beschrieben und wiederum in der ›aulischen‹ Iphigeneia nachgewiesen. In allen drei Fällen gewinnt die Semantik des Barbarischen eine dramaturgische Qualität: Ihre szenische Realisation ist dem Dramentext eingelegt.9 Die dramenpoetische ›Arbeit‹ am Iphigenie-Mythos läßt sich, insofern sie sich auf die als barbarisch empfundene Gewalt bezieht, von der er erzählt, der ersten Wirkungsart zuordnen. Sie ist eine Form der Infragestellung des alten Mythos durch die Normen der neuen Denkweise und zielt dementsprechend auf die Überführung des mythologischen Geschehens in eine Handlungssequenz, die den Normen der neuen Denkweise entspricht. Auf der Ebene des mythologischen Geschehens sind es ja die Menschenopfer, die, gemessen an der wertenden Opposition des Hellenischen und Barbarischen, als eine Manifestation spezifisch ›barbarischer‹ Gewalt gedeutet werden. Und doch praktizieren nicht nur Barbaren wie die Taurer, sondern auch Griechen diese Art von Gewalt; erinnert sei an die Widersprüche, die von der ›taurischen‹ Iphigeneia hervorgekehrt werden und in die sie sich selbst verwickelt. Auf die entwicklungstheoretische Lösung dieser Widersprüche, die von der griechischen Philosophie und Geschichtsschreibung später vorgeschlagen wird – das fremde Barbarische ist das ehemalige Eigene, gehört also einer überwundenen Kulturstufe an10 –, deutet die griechische Tragödie nicht voraus, im Gegenteil: Die Projektion der hellenozentrischen Opposition des 5. Jahrhunderts in den heroischen Mythos läßt eine solche Unterscheidung der Entwicklungsstufen nicht zu. In der Tragödie muß sich folglich der Versuch, die Widersprüche zu lösen, auf der Ebene der Handlungssequenz manifestieren. Zu fragen ist also im Hinblick auf Goethe, inwiefern die Handlungssequenzen der antiken Iphigenie-Tragödien und ihrer modernen Nachahmungen mythoskritischen Impulsen gehorchen – inwiefern sie Resultate des Versuchs sind, den Mythos im Sinne der hellenozentrischen bzw. humanistisch-neuhumanistischen Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen zu bearbeiten.

9 10

S. oben, Kap. 2.3. S. oben, Kap. 2.1, S. 35f., Anm. 51.

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Zu fragen ist aber zugleich nach den Gründen für die Grenzen dieser dramenpoetischen Mythos-Kritik, d.h. für den Widerstand, den der Mythos den Normen seiner Bearbeitung leistet: Warum kann insbesondere die skandalöse Opferung der Iphigeneia in Aulis nicht aus dem Mythos entfernt werden? Die Gründe sind dafür sind offenbar nicht mit den historischen identisch, die Vernant geltend macht, um den unauflösbaren Konflikt heterogener Denkformen und Wertordnungen, jenes für die griechische Tragödie charakteristische Strukturmerkmal, zu erklären. Denn der Konflikt erneuert sich in den späteren Iphigenie-Dramen, wie sich weiter unten zeigen wird: Auch in ihnen widersteht der Mythos dem Versuch, ihn durch die Eliminierung des Skandalös-›Barbarischen‹ heterogenen Normen anzugleichen, obwohl er als religiöse Überlieferung längst jede Glaubwürdigkeit verloren hat. Die sich erneuernde Präsenz und Resistenz des Iphigenie-Mythos kann also nicht nur historisch, sondern sie muß – es sei an die dritte Hauptthese der vorliegenden Untersuchung erinnert11 – zugleich phänomenologisch und kulturanthropologisch verstanden werden: als Reflex der Faszination, die dieser Mythos ausübt, insofern er die konkrete Manifestation einer Form der Heiligung von Gewalt ist. Diese Faszination überdauert den historischen Wandel, dem der einzelne Mythos als religiöse Überlieferung unterworfen ist, weil sie nicht von dieser Überlieferung ausgeht, sondern von der Handlungsfunktion, die sich in dem Mythos konkretisiert.12 Ein Mythos ist ja primär nichts anderes als ein mündlicher, erzählerisch strukturierter, für eine Gemeinschaft verbindlicher Kommentar einer Kulthandlung: »Mythen treten immer auf im Zusammenhang mit Ritualen; sie sind der kognitive Teil zur kultischen Praxis.«13 Zu den Voraussetzungen der folgenden Überlegungen zählt die Walter Burkert und René Girard verpflichtete These – sie ist, wie gesagt, die dritte Hauptthese der vorliegenden Untersuchung –, daß sich Spuren des funktionalen Zusammenhangs von Mythos und Kultus auch in den dramenpoetischen Bearbeitungen des Iphigenie-Mythos erhalten haben. Anders gesagt: Wegen dieses Zusammenhangs löst sich in den Iphigenie-Tragödien der Mythos

11 12 13

S. oben, Kap. 1, S. 19. Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 2, z.B. S. 17ff. Christoph Jamme: »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/M. 1991, S. 21. Vgl. Cassirer: Das mythische Denken, S. 52, 262f. u. öfter; Burkert: Homo necans, S. 42ff.

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letztlich nicht von den grausamen Kulthandlungen, auf die er sich bezieht; daß der Iphigenie-Mythos von Menschenopfern nicht nur erzählt, sondern sie als kultische Handlungen kommentiert oder auch begründet und rechtfertigt, ist Bestandteil des Rests, der sich im Zuge der dramenpoetischen Bearbeitung des Mythos nicht hellenisieren bzw. humanisieren läßt. Auch deshalb bleibt – es sei an die erste Hauptthese der vorliegenden Untersuchung erinnert – das ›Griechische‹ in jenes ›Barbarische‹ verstrickt, das ihm in der kulturellen Topographie oder Geographie entgegensetzt ist. Im folgenden soll dies zunächst in einigen Tragödien, die zu den wichtigsten antiken und modernen Bezugstexten von Goethes Iphigenie zählen, nachgewiesen werden.14

3.2. Zur Funktion des Menschenopfers und zu seiner Bewertung 3.2.1. Euripides Wie bereits erwähnt, ist es in Euripides’ Tragödie Iphigeneia in Aulis die Protagonistin selbst, die mit ihrem psychologisch gänzlich unvermittelten

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Es sei hier angemerkt, daß die Thesen der vorliegenden Arbeit sich nicht mit der Grundthese berühren, die Birgit Hansen in ihrer Dissertation Frauenopfer. Mörderische Darstellungskrisen in Euripides’ »Iphigenie in Aulis« und Goethes »Iphigenie auf Tauris« (Berlin 2003) vertritt: »Wann immer im literarischen Text der antiken Tragödie wie des neuzeitlichen Dramas das Opfer einer Frau verhandelt wird, wann immer eine Frau geopfert werden soll, handelt es sich um den literarischen Versuch, dem Problem des Todes, der grundlegenden Erfahrungs- und Darstellungskrise schlechthin, in der Darstellung Herr zu werden. Das spezifische Moment dieses Versuchs, das durch das Opfer einer Frau [...] markiert wird, besteht dabei darin, dass das Problem bzw. die Krise nicht gelöst, sondern vielmehr durch das Frauenopfer abgeschafft werden soll. Denn wenn die Frau immer schon mit Tod identifiziert wird, dann stellt das Opfer einer Frau den Versuch dar, den Tod selbst zu töten. Wenn es aber gelänge, mit der Figur der Frau den Tod zu töten, dann [...] wäre der unerreichbare ›Referent‹ Tod, die im Psychischen unüberbrückbare Grenze des Psychischen und die im Medium der Darstellung unüberwindbare Krise des Darstellens, das Undarstellbare, nicht allein eingeholt oder überwunden, sondern endgültig verschwunden« (S. 175). Diese These, die auf der Rückseite des Einbands mit Recht als ›gewagt‹ bezeichnet wird, ist nicht auf die beiden Dramen, denen die Untersuchung doch gilt, abgestimmt, also weder textanalytisch noch philologisch-historisch fundiert. Zu den methodologischen und philologischen Unzulänglichkeiten von Hansens Arbeit vgl. auch die Rezension von Bernhard Zimmermann, in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 342–344.

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Entschluß, in ihre Opferung einzuwilligen, auf der Ebene der Kausalität der Handlungssequenz die Lösung des Konflikts herbeiführt:

[...] Für Hellas gebe ich mein Leben hin. Opfert mich! Zerstöret Troja! [...] (V. 1397–1398; Übs. Ebener)

Zwar wird sie dann im Moment der Opferung von der Göttin Artemis gerettet, wie der – überlieferungsgeschichtlich unsichere – Schlußteil der Tragödie (V. 1532–1629) und auch andere antike Quellen berichten; diese Rettung kann jedoch nicht nachträglich die Tatsache ungeschehen machen, daß die rituelle Handlung des Jungfrauenopfers vollzogen worden ist.15 Und die einst Geopferte wird selbst zur Opfernden: Im Prologos von Iphigeneia im Lande der Taurer, dem älteren Iphigenie-Drama von Euripides, das der wichtigste, aber keineswegs einzige antike Bezugstext von Goethes Iphigenie in Tauris ist,16 teilt die Protagonistin mit, daß sie nun als Priesterin der Göttin Artemis, von der sie im Moment der Opferung ins barbarische Taurerland entrückt worden sei, selbst Menschen opfere:

Nach alter Landessitte muß ich jeden Griechen, der sich hierher verirrte, opfern [...]. (V. 38–39; Übs. Ebener)

Die Euripideischen Fassungen des Iphigenie-Mythos handeln also von Menschenopfern, die der Göttin Artemis dargebracht werden. Diese Göttin ist, wie es in der Ilias heißt, eine »Herrscherin streifenden Wildes« ,17 und sie ist selber wild und grausam; die anmutige jungfräuliche Jagdgöttin, die mit ihren Nymphen durch die Wälder zieht, ist

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17

Sie wird im Wechselgesang zwischen Iphigenie und dem Chor (vgl. V. 1475– 1530) vorweggenommen. Zum Typ des Jagd und Krieg vorbereitenden Jungfrauenopfers vgl. Burkert: Homo Necans, S. 70ff. Vgl. Petersen: Goethe und Euripides, S. 32ff., sowie Hartmut Reinhardt in Goethe: MA, Bd. 3.1, S. 732f. Zum zeitgenössischen Kontext von Goethes EuripidesRezeption vgl. auch Bernhard Zimmermann: Euripides’ und Goethes Iphigenie. In: »... auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Olaf Hildebrand u. Thomas Pittrof. Freiburg i. Br. 2004, S. 133–143. Ilias, 21, V. 470. Übersetzung von J.H. Voss.

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auch eine »Herrin der Opfer«, die nach Menschenblut verlangt. »In der rituellen Grausamkeit ragt in die Stadtkultur etwas von der uralten Härte vorzivilisatorischer Existenz. Die Griechen haben dies gerne mit den barbarischen Taurern im fernen Norden verbunden, ohne doch die Identität dieser Göttin mit der munteren Anführerin der Nymphen zu bestreiten.«18 Menschenopfer sind Tötungen, die in einer religiös-kulturellen Gemeinschaft als rechtmäßig gelten, insofern sie im Rahmen von rituellen Darbringungen erfolgen, die diese Gemeinschaft akzeptiert; dieselben Rituale werden auch bei Tieropfern angewandt.19 Ein religiöses Ritual wiederum ist »eine festgelegte, wiederholte und wiederholbare Handlung oder Handlungssequenz, in der der religiöse Kult, d.h. die Verehrung eines heiligen, von allen Ritualteilnehmern akzeptierten Objektes, vollzogen und das heilige Objekt vergegenwärtigt wird.«20 Daß die Tötung von Agamemnons Tochter als rituelle Darbringung verstanden werden und somit als rechtmäßig gelten kann, wird schon in der Parodos des Agamemnon von Aischylos (458 v. Chr.) bestritten, doch die Opferung findet hier wie in den späteren dramenpoetischen Bearbeitungen des Stoffs statt; sie erweist sich also trotz ihrer Fragwürdigkeit als unverzichtbarer Bestandteil des ›Grundmythos‹ von Iphigenie. Als ›Grundmythos‹ sei hier das bezeichnet, was an einem Mythos im Verlaufe seiner Rezeptionsgeschichte »sowohl zu seiner Identifizierung als auch zur Inanspruchnahme seiner Bildleistung nicht mehr entbehrt werden konnte«.21 Sucht man sich ausgehend von der antiken Überlieferung, aber im Hinblick auf die modernen Bearbeitungen bis Goethe den

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21

Vgl. Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1977, S. 233ff., Zitat S. 237. Vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier: Menschenopfer. I. A. In: Pauly (Neu), Bd. 7, Sp. 1253–1255. Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur. Tübingen 1996, S. 58. Zur Abgrenzung solcher religiös-kultischen Rituale von profanen Ritualen vgl. S. 58ff. sowie S. 72f. Zur Ritual-Debatte in der Literaturwissenschaft vgl. zusammenfassend Werner Hahl: Ritual. In: RLW, Bd. 3, S. 305–308. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 41986, S. 192. Blumenberg betont mit Nachdruck den Unterschied zwischen dem ›Ur-‹ oder ›Ausgangsmythos‹ und dem ›Grundmythos‹, der »nicht das Vorgegebene, sondern das am Ende sichtbar Bleibende« sei. Vgl. auch Hellmut Flashar: Familie, Mythos, Drama am Beispiel des Oedipus. In: Colloquium Helveticum 19 (1994), S. 51–74, hier S. 54; Renate Böschenstein: Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutterliebe. In: Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten. Hrsg. v. Johannes Cremerius, Gottfried Fischer, Ortrud Gutjahr, Wolfram Mauser u. Carl Pietzger. Würzburg 1995, S. 128–153, hier S. 128.

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Grundmythos von Iphigenie zu vergegenwärtigen, so ergibt sich für den ›aulischen‹ Stoffbereich die folgende Geschichte, die sich in drei Phasen gliedern läßt:22 (1) In der Hafenstadt Aulis hindert eine Windstille (oder stürmischer Wind) die griechische Flotte, deren Oberbefehlshaber Agamemnon ist, an der Ausfahrt nach Troja. (2) Nach Auskunft des Sehers Kalchas fordert die Göttin Artemis als Vorbedingung für günstigen Wind, daß ihr Iphigeneia geopfert wird. Die antiken Varianten dieser zweiten Phase sind Antworten auf die Frage nach den Motiven für den Opferbefehl: In einem Fragment der zum epischen Kyklos zählenden Kyprien und in der Elektra des Sophokles wird er auf den Zorn der Göttin wegen einer Verschuldung Agamemnons – Jagdfrevel oder Hybris – zurückgeführt, im Prolog der Euripideischen Iphigeneia im Lande der Taurer hingegen auf ein unvorsichtiges Gelübde, das Agamemnon der Göttin einst gemacht habe, während in der Parodos des Agamemnon von Aischylos und im Prolog der Euripideischen Iphigeneia in Aulis weder davon noch von einer den Opferbefehl motivierenden Verschuldung Agamemnons gegenüber der Göttin die Rede ist.23 (3) Agamemnon bestellt seine Tochter unter dem Vorwand, sie solle mit Achilleus verheiratet werden, nach Aulis und läßt sie schließlich opfern. Bei Aischylos wird die Widerstrebende und Geknebelte auf dem Artemis-Altar tatsächlich getötet, wie in der Agamemnon-Tragödie sowohl der Chor als auch Klytaimestra berichten (diese, um die Ermordung Agamemnons zu rechtfertigen); in dem Kyprien-Fragment hingegen und bei Euripides legt die Göttin zu Beginn der Opferhandlung unbemerkt eine

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Zu den Analysekategorien ›Geschichte‹ und ›Phase‹ vgl. Pfister: Das Drama, S. 265ff., 307ff. Wie Pfister hervorhebt, ist die Phasenbildung auf der Ebene der Geschichte unverzichtbar, aber problematisch (vgl. S. 312). Die folgende heuristische Unterscheidung zwischen den Phasen des Iphigenie-›Grundmythos‹ orientiert sich am Kriterium der Situationsveränderung, das Pfister vorschlägt und exemplarisch anwendet. In inhaltlicher Hinsicht stützt sie sich vor allem auf S. Kjellberg: Iphigeneia. In: Pauly, 18. Halbbd, Sp. 2588–2622; François Jouan: Notice. In: Euripide: Iphigénie à Aulis. Texte établi et traduit par François Jouan. Paris 1993, S. 8–58; Maria Holmberg Lübeck: Iphigeneia, Agamemon’s Daughter. A Study of Ancient Conceptions in Greek Myth and Literature Associated with the Atrides. Stockholm 1993; Aretz: Opferung. Bei Aischylos (Agamemnon, V. 109–159) verknüpft der Seher Kalchas ein Vogelzeichen mit dem Zorn der Artemis – eine dunkle Stelle, aus der jedoch hervorgeht, daß der Zorn nicht durch ein persönliches Vergehen von Agamemnon motiviert ist; vgl. Aretz: Opferung, S. 69.

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Hirschkuh als Ersatz auf den Altar und entrückt Iphigeneia ins ferne Taurerland. Die wichtigsten antiken Varianten dieser dritten Phase gelten indes nicht nur dem Schicksal Iphigeneias, sondern auch der Frage nach der Rechtmäßigkeit ihrer Opferung. In Aischylos’ Agamemnon lassen der Chor und Klytaimestra keinen Zweifel daran, daß Agamemnon einen ungeheuren Frevel beging, als er seine Tochter zum Opfertier machte.24 Und im Verlauf der ersten vier Epeisodia von Euripides’ Iphigeneia in Aulis wird der mythische Opferbefehl zunehmend fragwürdig: Der Befehl hat kein erkennbares Motiv; Kalchas’ Glaubwürdigkeit ist zweifelhaft, da es offenbar Ehrgeiz ( ) ist, der sein Verhalten wie auch das des Odysseus bestimmt (vgl. V. 520, 527), und da überdies, wie Achilleus hervorhebt, ein Seher generell wenig Wahres und viel Falsches redet (vgl. V. 957); Agamemnon wird schon im ersten Epeisodion von Menelaos als ein schwächlicher und schwankender Opportunist charakterisiert, dem das Amt des Feldherren nur eine von Ehrgeiz und Ruhmbegierde diktierte , V. 342) gewesen sei, weshalb er mit der Auszeichnung ( Hochzeitsintrige die Opferung Iphigeneias zunächst bereitwillig betrieben habe (vgl. V. 334–375); Klytaimestra warnt Agamemnon vor den unausweichlichen Konsequenzen, die der Kindermord für ihn selbst hätte; sie verdächtigt ihn, Iphigeneia nicht der Göttin, sondern seinen persönlichen Machtinteressen – also wiederum dem Ehrgeiz – opfern zu wollen, und sie bestreitet, daß die Wahl Iphigeneias zum Opfer berechtigt war (vgl. V. 1166–1205). Tatsächlich gibt Agamemnon weniger der Göttin als dem Druck des Heeres nach, wie er selbst einräumen muß, als er, wie bereits erwähnt,25 die Opferung mit dem Argument verteidigt, der panhellenische Feldzug habe den Zweck, dem Raub griechischer Frauen durch die Barbaren ein Ende zu machen. Denn er sucht dieses Argument mit einem Hinweis zu verstärken, der zu verstehen gibt, daß die Gefahr in Wahrheit in einer diffusen Gewaltbereitschaft des versammelten Heeres besteht, die sich, sollte der Feldzug nicht stattfinden, rebellisch gegen den Feldherrn richten, also in eine Art Bürgerkrieg münden würde: Das Griechenheer

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Vgl. insbesondere die Worte des Chors V. 222–226: »Menschen macht tollkühn ja schandgemute, / Unselge Wirrung des Geists, Unheils Urquell. Er wagt’s nun, / Opfrer zu sein eigenen Bluts / Dem Weibesraub sühnenden Krieg zu Nutz und / Weihung der Flottenausfahrt« (Aischylos: Tragödien [grch.-dt.]. Übers. v. Oskar Werner. Hrsg. v. Bernhard Zimmermann. Zürich / Düsseldorf 1996, S. 231). Zur Interpretation vgl. Aretz: Opferung, S. 62ff., hier bes. S. 77ff. S. oben, Kap. 2.1, S. 33.

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werde ihn und seine Familie in Argos erschlagen, wenn er den Götterspruch V. 1268) mißachte.26 Daß Agamemnons Angst vor seinem eigenen Heer mehr ist als eine Wahnvorstellung, zeigt sich konkret, als Achilleus gegen die Opferung Widerstand leistet und dadurch in Gefahr gerät, von seinen eigenen Soldaten, den Myrmidonen, gesteinigt zu werden (vgl. V. 1345–1368). Was aber bedeutet die Gewaltbereitschaft einer Kriegsgemeinschaft, die, wenn sie sich nicht gegen einen äußeren Feind richten kann, den Bestand der Gemeinschaft selbst bedroht? Sie kann, entsprechend dem für die Gattung konstitutiven Merkmal der Ambiguität, einerseits mythisch als Werk der Götter verstanden werden; so sagt sich Achilleus:

[...] So mächtig ist der Trieb, der Hellas zu diesem Feldzug spornt, nicht ohne Götterfügung. (V. 808–809; Übs. Ebener)27

Andererseits kann sie auch nichtmythisch als Werk der Rivalität zwischen den Anführern der Griechen verstanden werden. Darüber geben schon der Prolog und die Auseinandersetzung zwischen Agamemnon und Menelaos im ersten Epeisodion Auskunft. Als Fürstensöhne warben die Anführer der Griechen einst um Helenas Hand, und es war ja, wie Agamemnon rekapituliert, ihre mörderische Rivalität, die Helenas Vater Tyndareos auf den listigen Einfall des Beistandsschwurs brachte (vgl. V. 49–65); dieser wurde dann, nach dem Raub der Helena, zum Rechtsgrund für Menelaos’ Ausrufung des Bündnisfalls und die Einberufung des Heers nach Aulis (vgl. V. 66–88). Nun aber, in der von der Windstille heraufbeschworenen Krise, bricht die Rivalität zwischen den Bundesgenossen – zu ihnen zählen außer

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Zur Deutung von Agamemnons Argumentation vgl. Lesky: Die tragische Dichtung, S. 480; Aretz: Opferung, S. 176f., 200. Aretz sucht alle Faktoren zu bestimmen, die zur Infragestellung des Mythos in Euripides’ Tragödie beitragen. Der Dichter konfrontiere hier den »archaischen Mythos der Opferung der Iphigeneia mit der Realität einer entheroisierten Welt« (S. 215), und er habe die Tragödie so konzipiert, »daß alle Figuren zwischen mythischem und dramatischem Ich hin und her schwanken, aber sich letztlich gegen ihre mythische Rolle aussprechen, obwohl sie den Ablauf gar nicht mehr verhindern können« (S. 227). Vgl. die an Menelaos gerichteten Worte Agamemnons in V. 411: – »Ein Gott hat Hellas, so wie dich, mit Wahn geschlagen« (Übs. Ebener).

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den ehemaligen Werbern auch Agamemnon, Achilleus und Kalchas – wiederum aus, denn es zeigt sich, daß sie alle den gemeinsamen Feldzug von Anfang an für ihre eigenen ehrgeizigen Ziele instrumentalisieren wollten, wie die Wiederholung der Wörter ›Ehrgeiz‹ und ›ehrgeizig‹ unterstreicht. Nicht solidarische Abwehr der Barbaren, sondern Rivalität im Streben nach Ruhm und Prestige, das, wie Girard es nennt, mimetische Begehren (›désir mimétique‹),28 ist, so gesehen, das wahre Motiv der Bereitschaft zum gemeinsamen Feldzug und folglich auch das Motiv der Opferung, ohne die der Feldzug angeblich nicht stattfinden kann. Diese nichtmythische Sicht der Dinge gewinnt im Verlauf der ersten vier Epeisodia immer mehr an Gewicht. Es zeigt sich, daß das Konzept der panhellenischen Solidarität gegen die Barbaren eine Illusion ist, die verhindern soll, daß im Heer selbst ein Krieg ausbricht. Dieser Illusion dann aber doch den Schein der Wahrheit zu verleihen, ist die Funktion der Argumente, mit denen Iphigeneia im fünften Epeisodion in ihre Opferung einwilligt, um den Feldzug gegen die trojanischen Barbaren zu ermöglichen. Sie macht sich nun das panhellenische Argument ihres Vaters zu eigen, überführt es in die bereits zitierte, sprichwörtliche Antithese von hellenischer Freiheit und barbarischer Sklaverei29 und fügt dieser erst ein misogynes Argument (ein Mann wie Achilleus dürfe nicht um eines Mädchens willen sein Leben riskieren) und dann ein religiöses hinzu (vgl. V. 1395–1396): Wie könne sie als Sterbliche sich der Göttin widersetzen, wenn diese das Opfer ihres Lebens wünsche? Da Iphigeneia selbst den vermeintlich göttlichen Befehl, sie zu opfern, beglaubigt und rechtfertigt, wirkt das Opfer am Ende der Tragödie sogar rechtmäßiger, als es bei Aischylos der Fall ist. Aus religionswissenschaftlicher und kulturanthropologischer Sicht hat es nun die Funktion, die den in der griechischen Literatur überlieferten Menschenopfern im allgemeinen zukommt: Als ›Ablöseopfer‹ sollen sie die Gemeinschaft vor einer drohen-

28 Vgl. René Girard: La violence et le sacré. Paris 1998 [1972], S. 213ff., bes. S. 216f.: »Dans tous les désirs que nous avons observés, il n’y avait pas seulement un objet et un sujet, il y avait un troisième terme, le rival [...]. La rivalité n’est pas le fruit d’une convergence accidentelle des deux désirs sur le même objet. Le sujet désire l’objet parce que le rival lui-même le désire. Le rival est le modèle du sujet [...]; le désir est essentiellement mimétique, il se calque sur un désir modèle; il élit le même objet que ce modèle.« 29 S. oben, Kap. 2.1, S. 33.

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den Gefahr bewahren.30 In der Krisensituation der Angst um den Bestand der Gemeinschaft opfert man den Göttern stellvertretend ein Leben mit dem Ziel, das Überleben der Gemeinschaft zu sichern.31 Darin kommt zweifellos die allgemeine Gesetzlichkeit des Opferrituals zum Ausdruck, wie sie Burkert ausgehend von der Subsistenzform des Jägertums und dem aus ihm hervorwachsenden Speiseopfer beschrieben hat: Der Erschütterung im Akt des Tötens antwortet nachträgliche Verfestigung; der ›Verschuldung‹ folgt die Wiedergutmachung, dem Zerstören der Wiederaufbau. [...] Eine Ordnung wird errichtet, die eben im Kontrast zum Vorangehenden gilt. Im Erlebnis des Tötens wird die Heiligkeit des Lebens erfahren, das durch den Tod seine Nahrung findet und eben damit seinen Fortbestand. Dieses Paradox wird im Ritual fixiert, ausgespielt und verallgemeinert: was bestehen und gelten soll, muß durchs Opfer hindurchgegangen sein, das den Abgrund des Nichts aufreißt und wieder schließt.32

In Euripides’ Tragödie hat die Opferung, so gesehen, die Funktion, die Gemeinschaft der Griechen als Ordnung, ohne die der Feldzug nicht stattfinden kann, zu festigen: »Das Töten rechtfertigt und bestätigt das Leben, hebt die neue Ordnung ins Bewußtsein und setzt sie in Geltung.«33 Die Opferung der Iphigeneia hat hier aber zugleich auch eine besondere, gleichsam kathartische Funktion: Fände sie nicht statt, müßte, wie angedeutet, die Gewaltbereitschaft der Griechen sich wieder als mörderische Rivalität äußern, und sie würde sich vermutlich in einem Bürgerkrieg entladen. So ist es wohl zu verstehen, daß Agamemnon auf Menelaos’ Frage, wer ihn denn zwingen könne, seine eigene Tochter zu töten, antwortet: – »Das kann die Vollversammlung des Achaierheeres« (V. 514; Übs. Ebener). Es liegt nahe, zum Verständnis der sich hier abzeichnende Dynamik gemeinschaftlicher Bewältigung von Gewalt auf René Girards Theorie der Verbindung von Sündenbock-Mechanismus, Opferritual, Mythos und Tragödie zurückzugreifen: Das Opferritual, schreibt Girard, hat die Funktion, den wahren Ursprung der die Gemeinschaft gefährdenden, ihr innewohnenden Gewalt zu verdecken und diese Gewalt zu reinigen, indem

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Vgl. Aretz: Opferung, S. 29. Zur Analyse von Iphigenies ›Opferrhesis‹ vgl. Aretz: Opferung, S. 190ff. Vgl. Aretz: Opferung, S. 28; Walter Stockert: Euripides, Iphigenie in Aulis, Bd. 1: Einleitung und Text. Wien 1992, S. 47f. Burkert: Homo Necans, S. 49. Burkert: Homo Necans, S. 51.

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es sie auf ein Opfer ablenkt, das voraussichtlich nicht gerächt werden wird, weil es eine Außenseiterposition einnimmt (Rache würde den Kreislauf der endogenen Gewalt fortsetzen).34 Iphigeneia nimmt diese Außenseiterposition zweifellos insofern ein, als sie von außen in das Lager der Griechen geholt wird; Iphigeneia ist aber auch Teil der Gemeinschaft, wie Klytaimestra hervorhebt, indem sie Agamemnon droht, sie werde die Ermordung ihrer gemeinsamen Tochter an ihm rächen (vgl. V. 1180–1184). Folgt man Girard, dann deckt die Tragödie hier auf, daß es ursprünglich ein relativ indifferentes Mitglied der Gemeinschaft selbst ist, das als Sündenbock (›victime émissaire‹) stellvertretend für alle von allen, d.h. einstimmig geopfert wird; das auf diesen Akt spontaner und kathartischer kollektiver Gewalt sich gründende, ihn nachvollziehende Ritual hat die Aufgabe, die Willkür der Opferwahl zu verdecken, indem es dem Mitglied der Gemeinschaft einen Außenseiter (›victime rituelle‹) substituiert, und der Mythos wiederum kommentiert und rechtfertigt das Ritual, indem er die Tötung narrativ-erinnernd auf einen göttlichen Opferbefehl zurückführt.35 Mit der Akzentuierung von Iphigeneias Zwischenstellung deckt die Tragödie also auch die Kontiguität von spontaner Opferwahl und Ritual, von willkürlich-illegitimer und vermeintlich legitimer Gewalt auf; sie macht die Differenzen rückgängig, die von Ritual und Mythos eingesetzt worden sind.36 Die tragische ›Dechiffrierung‹ von Mythos und Ritual erfolgt aber nur bis zu einem gewissen Punkt: La subversion tragique a ses limites. Si elle met en cause le contenu du mythe, ce n’est jamais que de façon sourde et indirecte. Elle ne saurait aller au-delà sans se couper à elle-même la parole, sans faire éclater le cadre mythique hors duquel elle ne serait pas.37

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Vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 27ff., bes. S. 59. Vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 17, 27, 140ff., bes. S. 154. Zum Unterschied zwischen Sündenbock-Opfer und rituellem Opfer vgl. auch Girard: Mythos und Gegenmythos. Zu Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹. In: Positionen der Literaturwissenschaft (wie oben, Kap. 1, S. 8, Anm. 18), S. 130–148, hier S. 135: »Das Opfer darf nicht als willkürliches Werkzeug einer mimetischen Veränderung der kollektiven Sinneshaltung von Anfeindung zu Frieden erscheinen, sondern muß zunächst als Unruhe- und dann als Friedensstifter angesehen werden.« Vgl. ferner Walter Burkert: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion. München 1998, S. 70. Vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 63ff., 100f. Girard: La violence et le sacré, S. 114.

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So auch hier: Iphigeneia führt das tendenziell antimythische Geschehen zum Mythos zurück, indem sie völlig unvermittelt in ihre Opferung einwilligt.38 Die Anomalie von Iphigeneias Sinneswandel, die schon Aristoteles hervorhob und bemängelte, ist bis heute Gegenstand kontroverser Interpretationsversuche.39 Zweifellos markiert sie einen Bruch in der Kausalität der Handlungssequenz; dieser Bruch wird indes verständlich, wenn man ihn ausgehend von den oben skizzierten tragödientheoretischen Überlegungen deutet. Er erweist sich dann als Manifestation der gattungsspezifischen semantischen Ambiguität, die aus dem Konflikt antinomischer Denk- und Wertordnungen hervorgeht, und des in diesem Konflikt wirksamen Widerstands des Mythos gegen die ›modernisierende‹ Tendenz seiner tragischen Bearbeitung. Vernant erläutert solche Anomalien und Brüche mit dem Hinweis, der Handlungsverlauf der Tragödie gehorche nicht der aristotelisch-klassizistischen Regel, daß der Charakter der Figur kohärent und beständig sein muß. Vielmehr müsse umgekehrt der Charakter sich den Anforderungen des Handlungsverlaufs anpassen, der von der den Kern des Tragischen ausmachenden Spannung zwischen éthos und daímon bestimmt werde. So erkläre es sich, daß innerhalb ein- und derselben Figur ein Wechsel vom politisch zum mythisch motivierten Handeln stattfinden könne.40 Daß sich auch in der ›aulischen‹ Iphigeneia der Mythos solcherart gegen die Tendenz der dramenpoetischen Arbeit behauptet, ihn dem zeitgenössischen Ethos anzupassen, kann indes, wenn man die Tragödie im Hinblick auf ihre modernen Bearbeitungen liest, nicht nur historisch, sondern muß offenbar auch anthropologisch verstanden werden: als Faszination, die von dem funktionalen Zusammenhang dieses Mythos mit dem Opferritual ausgeht. Auf Euripides’ Tragödie trifft zweifellos Burkerts These zu, das Opferritual sei der Schnittpunkt von Heroenmythos und Tragödie: »Der Mythos deutet den Opferritus, der noch die Tragödie durchdringt.«41 Der Bruch

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Vgl. Aretz: Opferung, S. 229, ferner S. 190f. Vgl. Aristoteles: Poetik, 1454a. Zur Diskussion über Iphigenies Sinneswandel vgl. Holmberg Lübeck: Iphigeneia, S. 30ff.; Aretz: Opferung, S. 190ff.; zum älteren Forschungsstand auch Jouan: Notice, S. 36f.; Lesky: Die tragische Dichtung, S. 483f.; zur Kritik an Aristoteles auch Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen 22003, S. 370ff. Vgl. Vernant: Tensions et ambiguïtés, S. 29. Walter Burkert: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen. hat sich vom Bock emanzipiert. Berlin 1990, S. 28. Vgl. S. 27: »Die Und doch durchdringt das Wesen des Opfers auch noch die reife Tragödie. Bei Aischylos, Sophokles und Euripides steht im Hintergrund, wenn schon nicht im

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im Handlungsverlauf, den die Lösung des Konflikts in Iphigeneia in Aulis markiert, ist also Indiz eines kulturellen Konflikts zwischen der Eigengesetzlichkeit, die der Mythos als Handlungsfunktion hat, und den Normen, denen die Tragödie als Medium der kritischen Auseinandersetzung mit dem Mythos gehorcht. Mit seinem älteren Iphigeneia-Drama prägte Euripides die ›taurische‹ Fortsetzung des Iphigenie-Grundmythos;42 auch sie läßt sich als eine aus drei Phasen bestehende Geschichte beschreiben: (1) Iphigeneias Bruder Orestes kommt mit seinem Freund Pylades ins Taurerland, weil nach Apollons Orakel die endgültige Befreiung des Muttermörders von der Verfolgung durch die Erinnyen davon abhängig ist, daß er die Statue der angeblich Menschenopfer fordernden taurischen Artemis, deren Priesterin Iphigeneia ist, raubt und nach Attika bringt. (2) Iphigeneia bereitet auf Befehl des Taurerkönigs Thoas die Opferung der beiden Fremden vor, doch die Wiedererkennung der Geschwister, ihre Anagnorisis, verhindert die Ermordung des Bruders und seines Freundes. (3) Die drei Griechen fliehen mit der Statue. Bei Euripides scheint die Flucht dank der Überlistung des Taurerkönigs durch Iphigeneia zu gelingen, wird aber am Ende nur durch das rettende Eingreifen Athenes möglich, die dem König befiehlt, die Griechen mit der Statue ziehen zu lassen. Seit dem Siegeszug der ›doctrine classique‹ war es den modernen Bearbeitern von Euripides’ Tragödie – sieht man von den Opernlibrettisten ab – nicht möglich, diese Art der Konfliktlösung zu übernehmen, da sich der Auftritt der dea ex machina nicht mit dem rationalistischen Prinzip der Wahrscheinlichkeit in Einklang bringen ließ. Richtungsweisend für die Semantik des Barbarischen in den modernen

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Zentrum, die Situation des Opfers, die rituelle Tötung, das [...] Wenn die Tragödie auf dem Heroenmythos aufbaut, so hat doch jeder Heros seinen Kult und damit seine Opfer. Die Opfersituation könnte eben der Punkt sein, zur Deckung kamen.« Vgl. in dem Heroenmythos und dionysische auch J[an]-P[ieter] Guépin: The Tragic Paradox. Myth and Ritual in Greek Tragedy. Amsterdam 1968. Zur Frage, wie groß der Anteil von Euripides’ eigener dichterischer Phantasie an dieser Fortsetzung des ›aulischen‹ Mythos ist, vgl. Kjellberg: Iphigeneia, Sp. 2608f.; Aretz: Opferung, S. 37 (dort weitere Literatur). Jedenfalls ist es Euripides, der die von Aristoteles (Poetik 1452b) erwähnte Anagnorisis komponierte, indem er die Befreiung des Orestes von der Verfolgung durch die Erinnyen mit der Rückkehr der Iphigeneia nach Griechenland verknüpfte; dazu auch Lesky: Die tragische Dichtung, S. 406.

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Bearbeitungen war hingegen die radikale Religionskritik, die Iphigeneia im ersten Epeisodion des Dramas vorträgt: Mythen von grausamen Göttern, die Menschenopfer fordern, sind das Produkt abergläubischer Projektionen; sie sind in einer Mentalität verwurzelt, die barbarisch im Sinne von roh, grausam und unaufgeklärt ist.43 Diese Religionskritik wird bei Euripides jedoch, wie oben erwähnt, mit einem ironischen Akzent versehen, da die sie fundierende, ethnozentrische Antithese des Hellenischen und Barbarischen sich als fragwürdig erweist, sobald sich Iphigeneia an ihre Opferung in Aulis erinnert. Das widersprüchliche Ineinander von Affirmation und Negation der Antithese läßt sich, wie ebenfalls bereits erwähnt, als Indiz der für die Gattung der Tragödie konstitutiven Ambiguität verstehen. Und im Lichte der vorangehenden anthropologischen Überlegungen ist wiederum zu vermuten, daß in der Ambiguität eine tiefe Bindung an jene mythisch beglaubigte Gewalt des Menschenopfers wirksam ist, die Iphigeneia zugleich als etwas der hellenischen Kultur Wesensfremdes im Raum des Barbarischen zu verorten sucht. Allerdings bildet sich Iphigeneias Religionskritik auf der syntagmatischen Ebene der Handlungssequenz ab: Die Anagnorisis verhindert den Brudermord und damit zugleich die Vollstreckung des barbarischen Opferbefehls. Und der Religionskritik entspricht offenbar auch die Revision der Beziehung zwischen Mythos und Opferritual, die in der Exodos dadurch erfolgt, daß hier der Mythos in die Begründung eines tatsächlich bestehenden Kultus einmündet und somit aitiologisch, ja sogar patriotisch wird.44 Athene befiehlt nämlich, daß Iphigeneia fortan in Brauron, südlich von Halai, als Priesterin der Artemis dienen und nach ihrem Tod dort die Gewänder von Frauen, die im Kindbett starben, als Weihgabe erhalten soll.45 Orestes erteilt sie den Auftrag, der Artemis Tauropolos im griechischen Halai einen Tempel zu erbauen, dort das geraubte Standbild zu errichten und ein Ritual ( V. 1458) zu stiften, mit dem seine eigene Opferung nachträglich nur noch symbolisch eingelöst wird:

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S. oben, Kap. 2.1, S. 36. Vgl. Lesky: Die tragische Dichtung, S. 412; Kjellberg: Iphigeneia, Sp. 2611. Zu dieser kultischen Verehrung, die Iphigeneia in Brauron genoß, und zu der damit zusammenhängenden Frage, ob sie ursprünglich selbst eine Göttin oder aber eine Hypostase der Göttin Artemis war, vgl. bes. Holmberg Lübeck: Iphigeneia, S. 14f., 93ff.; Aretz: Opferung, S. 37ff.

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[...] Begeht man dort ihr Fest [d.i. das Fest der Artemis Tauropolos, M.W.], soll mit dem Schwerte, als Ersatz für deinen Tod, man eines Mannes Nacken ritzen bis aufs Blut, wie Recht und Würdigkeit der Göttin es verlangen. (V. 1458–1461; Übs. Ebener)

Zweifellos ist diese dramatisierte Aitiologie ein Stück ›Arbeit‹ am »bekanntesten griechischen Menschenopfer-Mythos«;46 als Nachvollzug des funktionalen Zusammenhangs von Mythos und Opferritual beinhaltet sie, daß die vom Ritual vorgeschriebene Tötung symbolisch eingelöst werden kann. Sie knüpft also in der Tat an Iphigeneias Religionskritik im ersten Epeisodion an. Doch hält sie auch die Erinnerung an die Tötung wach. Und es gilt zu bedenken, daß eine solche symbolische Substitution die Möglichkeit der regressiven, von der Substitution wieder wegführenden »Gegensteuerung hin zu schreckender Realität« offenhält und offenhalten muß, solange die »Bindekräfte des Opferrituals« erhalten bleiben, anstatt einer Verflüchtigung der Symbolisierung ins Unverbindliche Platz zu machen. 47 So darf auch jene Variante des aulischen Geschehens, derzufolge eine Hirschkuh an Stelle von Iphigeneia geopfert wurde, nicht übersehen lassen, daß im griechischen Opferritual das Tier dem Menschen in besonderer Weise zugeordnet ist: »Immer wieder wird im Mythos ausgemalt, wie ein Tieropfer ein Menschenopfer ersetzt oder aber umgekehrt ein Tieropfer ins Menschenopfer umschlägt; eines ist im anderen gespiegelt.«48 Die offenbar bis heute umstrittenen Fragen, ob der

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Burkert: Griechische Religion, S. 237. Burkert: Homo Necans, S. 56. – Gerhard Neumann (Iphigenia: Sacrifice and Ritual in Drama. In: The World of Music 40/1 [1998], S. 101–117), der sich u.a. auf Burkert beruft, läßt diese Möglichkeit der regressiven Gegensteuerung außer acht und spricht statt dessen im Hinblick auf den Schluß von Euripides’ Tragödie von einem kulturellen Paradigmenwechsel (S. 107). – Neumann hat seine Ausführungen in den folgenden Beiträgen auch auf deutsch vorgelegt: ›reine Menschlichkeit‹. Zur Humanisierung des Opfers in Goethes Iphigenie. In: Humanität in einer pluralistischen Welt? Themengeschichtliche und formanalytische Studien zur deutschsprachigen Literatur. Festschrift für Martin Bollacher. Hrsg. v. Christian Kluwe u. Jost Schneider. Würzburg 2000, S. 219–236; Erkennungsszene und Opferritual in Goethes Iphigenie und Kleists Penthesilea. In: Käthchen und seine Schwestern. Frauenfiguren im Drama um 1800 [...]. Redaktion Günther Emig und Anton Philipp Knittel. Heilbronn 2000, S. 38–80 (die Ausführungen zu Kleist kommen hier ergänzend hinzu). Burkert: Griechische Religion, S. 115; vgl. auch Burkert: Kulte des Altertums, S. 71, sowie Girard: La violence et le sacré, S. 23f.

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Iphigenie-Mythos auf eine reale Menschenopfer-Praxis schließen läßt oder sich allein auf Initiationsriten bezieht und ob es überhaupt Menschenopfer in der griechischen Religion gab, 49 sind hier also weniger von Belang als die folgende Einsicht: Die symbolischen Substitutionen, von denen der Mythos erzählt, lassen dessen Zusammenhang mit der rituell geregelten Tötung von Leben bestehen. Dieser funktionale Zusammenhang ist es wiederum, der dem von Iphigeneia programmatisch formulierten Versuch im Wege steht, das Menschenopfer als etwas, was der hellenischen Kultur und ihren Mythen wesensfremd wäre, in den Raum des Barbarischen abzudrängen. Die abschließende Kult-Aitiologie ist folglich keine eindeutige szenische Realisierung der normativen Opposition von ›hellenisch‹ und ›barbarisch‹. Wie in der ›aulischen‹ wird also auch in der ›taurischen‹ Iphigeneia des Euripides diese Opposition unterminiert. Das aber stellte die modernen Bearbeiter der beiden Tragödien vor ein schwerwiegendes Problem. Denn im Zuge des Bedeutungswandels von ›barbarisch‹ wurde, wie bereits angedeutet, aus der hellenozentischen Opposition die humanistisch-aufklärerische zwischen einer Bildung, als deren Modell das Griechentum galt, und einem Mangel an Bildung, der nicht mehr als naturgegeben hinzunehmen war. Es ging also darum, den Gegensatz der beiden semantischen Teilräume klar zu definieren und dann die Grenze immer weiter zugunsten des ,griechischen‹ zu verschieben – dies aber ohne die gewaltsamen Interventionen der deae ex machina, denen die ›aulische‹ und die ›taurische‹ Iphigeneia ihre Rettung verdanken, und auch ohne die nicht mehr nachvollziehbaren Kult-Aitiologien, die bei Euripides zudem nur die symbolische Substitution, nicht aber die Abschaffung des Menschenopfers beinhalten. Die Modernen mußten folglich versuchen, das barbarische Opferritual aus dem Bild des Griechischen verschwinden zu lassen, d.h. die Spuren des funktionalen Zusammenhangs des Mythos mit dem Opferritual, der in den euripideischen Tragödien noch greifbar ist, zu tilgen. Dabei sahen sie sich wiederum mit der Faszination durch die mythische Heiligung von ordnungsstiftender Gewalt konfrontiert.

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Einen Überblick über den neueren Forschungsstand gibt John Scheid: Menschenopfer. III. In: Pauly (Neu), Bd. 7, Sp. 1255–1258; vgl. ferner Aretz: Opferung, S. 31, sowie Pierre Bonnechere: Le sacrifice humain en Grèce ancienne. Athenai / Liège 1994.

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3.2.2. Racine contra Rotrou In der Tat ist es der Zusammenhang des Iphigenie-Mythos mit dem Menschenopfer, in dem für Racine die größte poetische Herausforderung besteht, wie er schon mit dem ersten Satz des Vorworts zu seiner Tragödie Iphigénie (1675) unterstreicht: »Il n’y a rien de plus célèbre dans les poètes que le Sacrifice d’Iphigénie.«50 Dieser erstaunliche Superlativ wird verständlich, wenn man bedenkt, daß »célèbre« hier noch die heute veraltete Bedeutung des Feierlichen und Aufsehenerregenden, ja Eklatanten hat,51 und daß mit den »poètes« die Anciens gemeint sind, d.h. die großen Dichter des klassischen Altertums. Racines einleitende Behauptung wäre also wie folgt zu paraphrasieren: In den Werken der antiken Dichter gibt es keine größeres Aufsehen erregende kultische Handlung als die Opferung der Iphigeneia. Gemeint ist hier aber nicht nur das damalige Aufsehen, sondern auch das Entsetzen, das diese Opferung beim modernen Publikum erregen muß. Racines Behauptung ist demnach weniger literarhistorische Feststellung als wertende Stellungnahme eines modernen Autors, dem die feierliche Opferung der Iphigeneia zum unerträglichen Skandalon der antiken tragischen Dichtung wird: »Quelle apparence que j’eusse souillé la Scène par le meurtre horrible d’une personne aussi vertueuse et aussi aimable qu’il fallait représenter Iphigénie?«52 Bezeichnenderweise ist in diesem Satz nicht mehr von Opfer (»sacrifice«), sondern von Mord (»meurtre«) die Rede. Die Gewalt, die Iphigeneia angetan wird, hat also nicht mehr die Qualität des Heiligen, dafür aber eindeutig die des Barbarischen, das nun das Inhumane als Verletzung universell gültiger Normen bedeutet: In Racines Tragödie bezieht sich das Nomen und Adjektiv barbare nicht mehr auf einen kulturell fremden Raum, in dem das Opferritual eigentlich beheimatet wäre; an den Stellen, an denen es verwendet wird, bezeichnet es vielmehr das Unmenschliche der Opferung und die Unmenschlichkeit und Gefühllosigkeit der Griechen, die das Opfer fordern, insbesondere Agamemnons, der dem Wohl des Staates

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Jean Racine: Iphigénie. Hrsg. v. Georges Forestier. Paris 1999. S. 33. Vgl. Antoine Furetière: Dictionnaire universel, Contenant generalement tous les mots françois, tant vieux que modernes [...]. Bd. 1. La Haye / Rotterdam 1690, s. v. CELEBRE; FEW, Bd. 2, S. 573; ferner Robert, Bd. 2, S. 424f. Vgl. auch das Glossar in Jean de Rotrou: Théâtre complet 2. Hrsg. v. Bénédicte Louvat, Dominique Moncond’huy u. Alain Riffaud. O.O. [Paris] 1999, S. 517, s. v. Célèbre. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden Rotrous Iphigénie nur mit Angabe der Verszahlen zitiert. Racine: Iphigénie, S. 36.

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das Wohl seiner Familie unterordnen will. So wendet sich Clytemnestre an ihren Gatten mit dem Ausruf »Barbare!« (V. 1253), weil er den »ordre inhumain« (V. 1255) der Opferung gebilligt habe, und sie beschimpft ihn als »Aussi barbare Epoux qu’impitoyable Père« (V. 1313) – ein Sprachgebrauch, der in dem entsprechenden Epeisodion des Euripideischen Bezugstextes undenkbar wäre. Gemäß der moralistisch-typisierenden Tendenz der tragédie classique und ihrer Sprache53 scheint sich also bei Racine die ethnische Bedeutung von barbare in jener ethischen und allgemein-menschlichen aufgelöst zu haben, die sich der hellenistischen, christlichen und humanistischen Umdeutung der alten Hellenen-Barbaren-Antithese verdankte.54 Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst sei festgehalten, daß Racine mit seiner Iphigénie den Mythos berichtigen will. Das anstößige, im allgemein-menschlichen Sinne ›barbarische‹ Jungfrauenopfer soll aus der tragischen Fabel verschwinden. Racine kritisiert seinen wichtigsten antiken Bezugstext, Euripides’ Iphigeneia in Aulis, im Namen der bienséance und gleich darauf auch im Namen der vraisemblance. Mit dieser sei nämlich die Lösung des Konflikts im Schlußteil von Euripides’ Tragödie, demzufolge Artemis als dea ex machina Iphigeneia entrückt und an ihrer Stelle eine Hirschkuh schlachten läßt, nicht vereinbar: »Et quelle apparence encore de dénouer ma Tragédie par le secours d’une Déesse et d’une machine, et par une métamorphose qui pouvait bien trouver quelque créance du temps d’Euripide, mais qui serait trop absurde et trop incroyable parmi nous?«55 Diese Kritik entspricht der schon von Aristoteles formulierten Regel, daß die Lösung der tragischen Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen soll und nicht aus einem göttlichen Eingriff – (»apó mechanés«, d.h. mit Hilfe der kranartigen Maschine, die die Erscheinung des Gottes aus der Höhe herabschweben ließ).56 Racines Kritik ist indes nicht nur auf Euripides, sondern auch auf seine unmittelbare Vorlage, Jean de Rotrous Tragikomödie Iphigénie (1641), gemünzt. Der Untertitel »Tragi-

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S. oben, Kap. 1, S. 12. S. oben, Kap. 2.2. Weitere Belege für diesen Gebrauch von barbare finden sich in Racines Tragödie in den Versen 333, 964, 997, 1150, 1294, 1382, 1439, 1696. Ähnlich ist der Gebrauch des Wortes in Rotrous Iphigénie ; dort benutzt es Achille, um gegen die Opferung zu protestieren: Vgl. Rotrou: Iphigénie, V. 1635, 1688, 1831. Racine: Iphigénie, S. 36. Mit der ›Metamorphose‹ ist, wie Forestier in seinem Kommentar (S. 36, Anm. 1) hervorhebt, die von der Göttin Artemis bewirkte Substitution Iphigenies durch eine Hirschkuh gemeint. Aristoteles: Poetik 1454b (Kap. 15); dazu die Erläuterung von Manfred Fuhrmann in der zitierten Ausgabe der Poetik, S. 122, Anm. 8.

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Comédie« findet sich auf der ersten Seite von Rotrous Drama und ist auf den glücklichen Ausgang der tragisch angelegten Handlung zu beziehen.57 Bei Rotrou erweist sich ein Gelübde von Clytemnestre – sie versprach einst, ihre Tochter der Göttin Diane zu weihen (V. 1275–1278) – als Motiv des Opferbefehls, dessen wahre Bedeutung dann aber in der göttlichen Vorsehung zu finden ist. Die Vollstreckung des Befehls durch Calchas nimmt nämlich eine Wendung, deren christliche Tendenz unverkennbar ist: Im Moment der Opferung wird Iphigénie entrückt, und es erscheint die Göttin, die, indem sie die Versetzung Iphigénies als Diana-Priesterin nach Tauris ankündigt, den Befehl, Iphigénie zu töten, zurücknimmt. Clytemnestre hält dies nach der Theophanie mit den folgenden Worten fest, die an die schon abwesende Iphigénie gerichtet sind: Je vis avec plaisir, puisque tu ne meurs pas, Et qu’elle [Diane, M.W.] a révoqué l’arrêt de ton trépas.

(V. 1905–1906)

Es findet also auch keine symbolische Substitution statt, die die Möglichkeit der ›Gegensteuerung‹ zum Menschenopfer offenließe. Iphigénies mutige Einwilligung in ihre Opferung wird vielmehr zur Figur eines durch und durch christlichen Gehorsams: Die Protagonistin entschließt sich zu der Weltverneinung, zu der sie berufen ist. Somit scheinen die Spuren des ›Barbarischen‹ ganz aus dem mythischen Geschehen zu verschwinden, allerdings um den Preis, daß die Tragödie in eine Tragikomödie übergeht und der Mythos selbst seine Autonomie als Funktion weitgehend einbüßt, indem er allegorisch wird. Iphigénies Jungfräulichkeit und ihre stoischchristlichen Tugenden werden zum Ausweis ihrer religiösen Berufung, und sie selbst wird zum Typ der Jungfrau Maria.58 Racines rhetorische Frage gibt, so gesehen, zu verstehen, daß er beides ablehnt: Rotrous allegorische Umgestaltung der Entrückung Iphigeniés zum christlich-erbaulichen Wunderspektakel und die sich dafür eignende Gattung der barocken Tragikomödie, die spektakuläre Aufführungseffekte mit Theatermaschinen erzielte. Seine eigene Iphigénie soll wieder an die Gattung der antiken Tragödie anknüpfen und der Euripideischen Vorlage weitgehend treu bleiben, wie er auch im letzten Teil seines Vorworts deutlich macht. Dort verspottet er die Euripides-Kritik der Modernes und bekennt sich vorbehaltlos zur

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Vgl. Rotrou: Théâtre complet 2, S. 407. Vgl. Alain Riffaud: Introduction. In: Rotrou: Théâtre complet 2, S. 337–403, hier S. 372ff. Zur bei Rotrou wirksamen Tradition christlicher Interpretation antiker Mythologie vgl. S. 378ff.

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klassizistischen Nachahmung der »ouvrages des Anciens«, insbesondere der Werke des Euripides.59 Den Widerspruch zwischen diesem Prinzip und dem durchaus ›modernen‹ der bienséance, in dessen Namen der Mythos berichtigt werden soll, ist eklatant; er reproduziert den schon bei Euripides begegnenden Widerspruch zwischen der Eigengesetzlichkeit des Mythos und der ›Arbeit‹ an ihm. Bei beiden Autoren ist der Widerspruch auch deshalb unauflösbar, weil er konstitutiv für die Tragödie als Gattung ist (Racine verwirft ja, wie gesagt, Rotrous untragische Lösung). Folglich ist es auch Racine nicht möglich, den Mythos von dem kultischen Geschehen, dem Opfer, auf das er sich bezieht, zu lösen und ihn dennoch als genuin tragische Fabel, aus deren Kausalzusammenhang der Opferbefehl nicht wegzudenken ist, zu bewahren. Bei Euripides wird, wie oben dargelegt, der Opferbefehl im Verlauf der ersten vier Epeisodia der Tragödie zwar immer fragwürdiger, doch mit Iphigeneias erhabener Rhesis im fünften Epeisodion wird er beglaubigt, und die Vorbereitungen für das schreckliche Ritual nehmen dann ihren Lauf. Bei Racine wird zwar nicht Iphigénie geopfert, doch auch hier ist der befremdliche Opferbefehl, den der Seher Calchas dem Orakel entnimmt, das wichtigste Element der Exposition, und auch hier findet am Ende dank einer wiederum wunderbaren Substitution ein den Konflikt lösendes Opfer statt: Ériphile, die illegitime Tochter von Helena und Theseus, die ihre Herkunft nicht kennt und nicht weiß, daß ihr wahrer Name Iphigénie ist – eine Figur, die Racine als bekennender Ancien einer antiken Quelle entnommen zu haben vorgibt, die jedoch seine Erfindung ist60 – tötet sich selbst, nachdem Calchas im Moment der Opferung ihre Identität als »une autre Iphigénie« (V. 1749) aufgedeckt, sie als das vom Orakel geforderte Opfer bezeichnet und damit auf sie die Gewalt abgelenkt hat, die das Griechenheer, in dem Anarchie (»désordre extrême«, V. 1609) und größte Zwietracht herrschen (»la Discorde maîtresse«, V. 1734), zu zerreißen droht. Ériphile erweist sich also als Iphigénies Doppelgängerin; die erhabenen Züge der Euripideischen Iphigeneia und die Funktion des Ablöseopfers gehen auf sie über.61

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Vgl. Racine: Iphigénie, S. 38ff., Zitat S. 41. Racine, ein ausgezeichneter Kenner der griechischen Literatur, beruft sich in seinem Vorwort auf eine Variante der Iphigeneia-Genealogie, die er bei Pausanias fand. Dazu vgl. André Cheyns: Racine héritier de la Grèce dans Iphigénie: les personnages d’Ériphile et d’Agamemnon. In: Les lettres romanes 50 (1996), S. 3–37, hier S. 5ff. Vgl. Lucien Goldmann: Le dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les Pen-

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Doch eindeutiger als Iphigeneia hat sie die Merkmale und die in sich widersprüchliche Funktion eines vom Ritual geforderten Opfers – jener ›victime rituelle‹, wie René Girard sie beschrieben hat: Sie stammt von der zum Herrschaftsgebiet Trojas gehörenden Insel Lesbos und wurde – auch das ist Teil der Exposition – von Achille im Zuge seiner Zerstörung der Insel versklavt und nach Mykene gebracht, von wo aus sie mit Iphigénie und Clytemnestre ins Lager der Griechen gekommen ist; sie ist also trotz ihrer griechischen Eltern eine Außenseiterin. Zugleich ist sie eine Intrigantin und als solche schuldig:62 Von einer fatalen, ihr selbst unerklärlichen, leidenschaftlichen Liebe zu Achille ergriffen, sucht sie dessen Heirat mit Iphigénie zu verhindern. Mit diesem Vorhaben verbindet sie, um Troja zu retten, den politischen Plan, einen Bürgerkrieg im griechischen Lager dadurch zu entfachen, daß sie den Opferbefehl, von dem das Lager noch nichts weiß, und Agamemnons Rückbesinnung auf seinen Plan, Iphigénie zu retten (hier weicht Racine wiederum von Euripides ab), Calchas verrät: [...] Ah, Doris, quelle joie! Que d’encens brûlerait dans les Temples de Troie! Si troublant tous les Grecs et vengeant ma prison Je pouvais contre Achille armer Agamemnon, Si leur haine, de Troie oubliant la querelle, Tournait contre eux le fer qu’ils aiguisent contre elle, Et si de tout le Camp mes avis dangereux Faisaient à ma Patrie un Sacrifice heureux. (V. 1133–1140)

Tatsächlich brechen, als Iphigénie geopfert werden soll, bürgerkriegsähnliche, an die Fronde erinnernde Auseinandersetzungen aus, weil Achille versucht, Iphigénie zu retten; ein Gemetzel (»carnage«, V. 1742) kann, wie bereits erwähnt, erst im letzten Moment durch die Ablenkung der Gewalt auf Ériphile als das angeblich wahre Opfer verhindert werden. Dadurch aber wird diese, die, wie es schon ihr Name ankündigte, Zwietracht säte, zur Heilsbringerin: Als Opfer, das Iphigénie vertritt, stiftet sie

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sées de Pascal et dans le théâtre de Racine. Paris 1976 [1959], S. 411ff.: Goldmann konstatiert die Kluft, die Iphigénies ›providentielles Universum‹ von Ériphiles ›tragischem Universum‹ trennt. Racine unterstreicht in seinem Vorwort, daß Ériphile zugleich schuldig ist und dennoch Mitleid (»compassion«) verdient (Iphigénie, S. 36) – eine Figurenkonzeption, mit der er der Aristotelischen Norm des tragischen Charakters zu genügen sucht, wie Forestier (ebd., Anm. 2) hervorhebt.

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eine neue Eintracht im Griechenheer.63 Zwar geht aus dem Botenbericht von Ulysse hervor, daß Ériphile mit ihrer erhabenen Tat keineswegs die Gemeinschaft der Griechen wiederherstellen und festigen, sondern allein ihre eigene gloire retten will; die Opferung gerät, wie es scheint, zum Selbstmord: Déjà pour la saisir Calchas lève le bras. Arrête, a-t-elle dit, et ne m’approche pas. Le sang de ces Héros, dont tu me fais descendre, Sans tes profanes mains saura bien se répandre. Furieuse elle vole, et sur l’autel prochain Prend le sacré couteau, le plonge dans son sein.

(V. 1771–1776)

Doch entsprechend der tragödienspezifischen Ambiguität setzt sich Ériphiles Infragestellung des mythischen Opferbefehls nicht durch. In den zitierten Versen entkräftet der berichtende Bote Ériphiles mythenkritische Rede von Calchas’ ›profanen Händen‹, indem er das Messer, mit dem sie sich tötet, als ›heilig‹ bezeichnet. Auch kann ihre Selbsttötung als Ausdruck jener scheinbaren Einwilligung des Opfers in seine Tötung (›Unschuldskomödie‹) gedeutet werden, die in der Folge der Handlungen, die das Opferritual bilden, die Funktion hat, die Tötungshemmung aufzuheben.64 Für die Deutung von Ériphiles Selbsttötung als Opfer spricht aber vor allem, daß sich laut dem Bericht gleich darauf der versöhnende Effekt des Menschenopfers einstellt: Le Ciel brille d’éclairs, s’entr’ouvre, et parmi nous Jette une sainte horreur, qui nous rassure tous. (V. 1783–1784)

Am Ende wird also das anstößige Jungfrauenopfer nicht ersetzt, sondern im Sinne des Opferrituals so gestaltet, daß es gerechtfertigt scheint. Der bei Euripides zu beobachtende Bruch in der Figurenkonzeption und Handlungssequenz manifestiert sich bei Racine in der Verdoppelung der Protagonistin und der Handlungssequenz: Diese besteht nun aus einer Iphigénie-Sequenz, die der Regel der bienséance gehorcht – die patriarchalische Ordnung der Familie und die absolutistische des Staates werden wiederhergestellt –, und einer Ériphile-Sequenz, die den Grundmythos variiert, anstatt seine dritte Phase zu ersetzen. Auch bei Racine ist die Wiederherstellung der Ordnung nicht ohne Opferritual möglich.

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Zu dieser Funktion des Opfers vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 120ff. Vgl. Burkert: Wilder Ursprung, S. 21f.

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Das Ineinander beider Sequenzen aber stellt die Reinigung des ›Griechisch‹-Humanen vom ›Barbarisch‹-Inhumanen in Frage. Der Preis für die Rettung Iphigénies und die Wiederherstellung der familiären und staatlichen Ordnung ist die Opferung der Rivalin, die sich auch deshalb zum Opfer eignet, weil sie Barbarin im griechischen Sinne des Wortes ist: Sklavin (»Vile esclave des Grecs«, V. 451), Fremde (»Étrangère partout«, V. 587) und Verbündete der Trojaner, ja Trojanerin (sie nennt Troja ja »ma Patrie«, V. 885, V. 1140). Und nicht nur als versklavte Fremde, auch als intrigante Verräterin nimmt sie schließlich Medea-ähnliche, tierhaftmonströse Züge an: »Ô Monstre, que Mégère en ses flancs a porté!« (V. 1679) sind die Worte, mit denen Clytemnestre bei der Nachricht vom Verrat die Verräterin charakterisiert. Derart verbindet sich in Racines Tragödie die humanistische Semantik des Barbarischen mit der ethnozentrisch ausschließenden; die Tragödie zeigt, daß diese in jener weiterwirkt. Und mit der Funktion der Ausschließung, die dem Begriff von Anfang an eigen ist, stellt sich auch die Angleichung des Griechisch-Humanen an das Barbarisch-Inhumane wieder ein, jene kontrapunktische Verstrickung des einen in das andere, die sich schon bei Euripides beobachten ließ und die von den Kritikern des Barbarenbegriffs hervorgehoben wurde: Die Griechen, die ein Menschenleben opfern, um den Eroberungsfeldzug gegen die Barbaren zu ermöglichen, werden selber zu Barbaren. Das ist der tiefere, Humanismus-kritische Sinn von Racines konsequenter Anwendung des Barbarenbegriffs auf die Griechen. Zu Barbaren werden sie auch als räuberische Eroberer, die die Einwohner der eroberten und kolonialisierten Gebiete als Barbaren behandeln: Die Degradierung von Ériphile zur barbarischen Sklavin ist Teil der Eroberung von Lesbos durch Achille (vgl. V. 154–155, 166), und diese ist das Präludium des trojanischen Feldzugs, der von vornherein dem Zweck der Vergrößerung des ›griechischen‹ Machtbereichs dient, dem »Empire d’Asie à la Grèce promis« (V. 76; vgl. V. 1291)65 – ein Zweck, der mit dem Mittel der »conquête« (V. 1361) zu verwirklichen ist. Die Verbindung des Barbarischen mit Raub und Eroberung ist, wie oben deutlich wurde, ein konstantes Merkmal der Begriffsgeschichte; vom Griechenland-Feldzug der Perser und dem Frauenraub der Trojaner führt eine Linie zu jenen Barbaren-Topoi der Geschichtsschreibung und Kulturkritik, die Foucault analy-

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»Empire d’Asie« ist hier im Sinne eines genetivus obiectivus als »Herrschaft über Asien« zu verstehen. 94

siert hat.66 Daß bei Racine auch dieses Merkmal des Begriffs zum Attribut der Griechen wird, ist nicht nur ein weiterer Aspekt jener Verstrickung des Griechisch-Humanen ins Barbarisch-Inhumane. Die räuberisch-imperialistische Attitüde der Griechen läßt außerdem an die Auswüchse der europäischen Kolonialisierung überseeischer Territorien denken, die zu Racines Zeit längst im Gange war. Schon bei Racine spiegeln die mythologische Welt und die ihr innewohnende kulturelle Topographie und Geographie die antiken Ursprünge jenes modernen europäischen Überlegenheitsanspruchs, der den Kolonialismus als gewaltsame Praxis zu legitimieren schien.67 3.2.3. Aufklärung Hans Robert Jauß hat in einer bereits klassischen rezeptionsästhetischen Modellanalyse die impliziten Beziehungen von Goethes Iphigenie auf Tauris zu Racines Tragödie ausgehend von der These untersucht, daß »Goethes ›Iphigenie‹, die man genetisch zumeist als eine Nachahmung des euripideischen Vorbilds erklärt, [...] sich auch als eine neue Lösung der formalen und inhaltlichen Probleme verstehen [läßt], die Racines ›Iphigénie‹ für eine bestimmte Position des aufgeklärten Denkens hinterließ.«68 Als wichtigsten Problemkomplex ermittelt Jauß die Überwindung der »Kluft zwischen göttlicher Willkür und menschlichem Handeln«,69 die Racines Tragödie vertieft habe, und die aufgeklärt-kritische Umsetzung des antiken Mythos in ein modernes Schauspiel. Jauß kommt zu dem Ergebnis, daß der Mythos Racine dazu diene, »den Konflikt archaischer Leidenschaften in der geschlossenen Konstellation der Familie bis ins Ausweglose zu steigern«; Goethe hingegen gebrauche den Mythos, »um vor seinem Hintergrund den Prozeß der Befreiung des Menschen aus Erbschuld oder naturhafter Unmündigkeit einzuleiten«70 – einen Prozeß, den Iphigenie in mehreren Schritten leiste. Diese Auslegung ist, wie Jauß selbst hervorhebt, der idealistischen Lesart Hegels verpflichtet, der in seiner Ästhetik Goethes Drama als Bei-

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S. oben, Kap. 2.1, S. 24, 33 und 2.2, S. 54f. S. oben, Kap. 1, S. 11f., und Kap. 2.3, S. 65. Vgl. Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode. In: Rezeptionsästhetik. Hrsg. v. Rainer Warning. München 1975, S. 353–400, hier S. 363. Jauß: Racines und Goethes Iphigenie, S. 367. Jauß: Racines und Goethes Iphigenie, S. 368.

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spiel für die vollständig gelungene »Umwandlung« einer »bloß äußerlichen Göttermaschinerie in Subjektives, in Freiheit und sittliche Schönheit« bezeichnet und zum Beleg die Unterschiede zwischen der Konfliktlösung bei Euripides und bei Goethe anführt.71 Die Götter sind aber, wie sich bereits gezeigt hat, weder bei Euripides noch bei Racine eine nur äußerliche ›Maschinerie‹ (sie sind es allenfalls bei Rotrou); folglich drängt sich auch aus rezeptionsgeschichtlicher und -ästhetischer Perspektive die Frage auf, wie vollständig und gelungen Goethes ›Umwandlung‹ tatsächlich ist. Zu den Voraussetzungen der vom Deutschen Idealismus initiierten, von Jauß wiederaufgenommenen und bis in die neueste Forschungliteratur nachwirkenden Deutung von Goethes Drama72 zählen die (unausgesprochene) Prämisse, der Iphigenie-Mythos lasse sich aufklärerisch-humanistischen Normen anpassen, und die Ausklammerung des funktionalen Zusammenhangs dieses Mythos mit dem Menschenopfer. Somit folgt jene Deutung einer alten Tradition des Denkens über Mythos und Mythologie, die, wie Gerhart von Graevenitz nachgewiesen hat, auf die neuplatonisch geprägte, patristische Bildtheologie zurückgeht und von Poesie-, Mythos- und Symbolbegriffen der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts nur variiert wird. Charakteristisch für diese Tradition ist die Überzeugung, daß Mythen »aus der Stumpfheit der Zivilisation in die gesteigerte Wahrnehmung ursprünglicher Menschennatur« emporführen.73 Erstaunlicherweise läßt Jauß in seinem rezeptionsästhetischen Vergleich von Racines Iphigénie mit Goethes Iphigenie auf Tauris ein wichtiges Zwischenglied außer acht, nämlich die Goethe vorangehenden, aufklärerischen Bearbeitungen der ›taurischen‹ Iphigeneia.74 Die stoffgeschichtliche Forschung hat indes hervorgehoben, daß die Autoren, die nach Racine

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt/M. 1986. Bd. 13, S. 297 (über die Ästhetik I). Ähnlich äußern sich bereits Schiller und A.W. Schlegel; vgl. die von Joachim Angst und Fritz Hackert zusammengestellen Zeugnisse in: Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Stuttgart 1991, bes. S. 58f., 65f. S. dazu unten, Kap. 4.1, S. 104f., Anm. 12. Graevenitz: Mythos, S. 1. Vgl. Werner Frick: Die Schlächterin und der Tyrann. Gewalt und Aufklärung in europäischen Iphigenie-Dramen der Aufklärung. In: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), S. 126–141 (dort zahlreiche weiterführende Literaturangaben); ferner die materialreiche Arbeit von Jean-Michel Gliksohn: Iphigénie de la Grèce antique à l’Europe des Lumières. Paris 1985. – Im folgenden werden nur Beispiele aus der Tragödienliteratur angeführt; die Iphigenie-Opern, insbesondere diejenigen Glucks, können ausgeklammert werden, da in ihnen die barocke Tradition der ›Maschine‹, d.h. der Konfliktlösung durch die dea ex machina, weiter-

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Iphigenie-Tragödien schrieben, den ›taurischen‹ Stoffbereich bevorzugten. Einer der Gründe dafür war vermutlich der Eindruck, daß hier anders als im ›aulischen‹ Stoffbereich kein dubioser göttlicher Opferbefehl die unerläßliche Voraussetzung des tragischen Konflikts und keine wunderbare Entrückung seine Lösung bildet. Der dramatisierte Mythos schien also aufklärerischen, aktualisierenden Eingriffen in seine Handlungssequenz weniger Widerstand entgegenzusetzen.75 Tatsächlich ist schon in Joseph de La Grange-Chancels Tragödie Oreste et Pilade, ou Iphigénie en Tauride (1697), die am Anfang der aufklärerischen Bearbeitungen der Iphigeneia im Lande der Taurer steht, der funktionale Zusammenhang des Mythos mit dem Opferritual gelockert. Thoas ist hier ein machiavellistischer Usurpator und Tyrann, der, nachdem er von Apollons Orakel gewarnt worden ist, er werde die Herrschaft verlieren, wenn ein Grieche namens Oreste die Statue von Diane raube, beschließt, alle Griechen, die es ins Taurerland verschlägt, umbringen zu lassen. Zu diesem Zweck befiehlt er einem Priester, die grausame kultische Praxis zu stiften und das abergläubische Volk gegen die Fremden aufzuhetzen, was auch gelingt: De tous les étrangers la perte fut jurée; Leurs jours furent proscrits à Diane implorée.76

Daß Thoas verbrecherisch handelt, ist ihm durchaus bewußt: Ces meurtres redoublés, ces sanglantes victimes, Sans adoucir mes maux multiplioient mes crimes.77

In ähnlicher Weise wird auch in den an La Grange-Chancel anknüpfenden Bearbeitungen die grausame taurische Menschenopfer-Praxis auf Priesterbetrug und Fürstentyrannei zurückgeführt. Diese geraten jedoch, wenn die Vernunft sie entlarvt, ihren Urhebern zum Verhängnis, wie bei Johann Elias Schlegel der oberste Priester der Taurer feststellt, indem er der Niederlage seines Königs die folgende allegorische Bedeutung entnimmt: Was ist ein Götterdienst, den die Vernunft nicht schützet? Ein Bau, der auf uns stürzt, weil nichts ihn unterstützet.78

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wirkte – eine Tradition, von der sich die Tragödie seit Racine absetzte, wie oben deutlich wurde. Vgl. Gliksohn: Iphigénie, S. 205. Joseph de La Grange-Chancel: Œuvres. Nouvelle Edition revue & corrigée par lui-même. 5 Bde. Paris 1758. Bd. 1, S. 96. La Grance-Chancel: Œuvres, Bd. 1, S. 97. Johann Elias Schlegel: Orest und Pylades, ein Trauerspiel. In: Werke. Hrsg.

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Bei Claude Guymond de la Touche, dessen Tragödie Iphigénie en Tauride (1758) die wichtigste Quelle von Nicolas-François Guillards Libretto zu Glucks gleichnamiger Oper (1779) war, hat sich die Menschenopfer-Praxis gänzlich von ihrer gemeinschaftsbildenden und -sichernden Funktion gelöst; vom Volk und seiner Teilnahme daran ist hier nicht mehr die Rede. Die Menschenopfer-Praxis ist folglich nur noch ein von seiner religiösen Bedeutung gelöstes Zeichen für selbstische Fürstenwillkür: Als Iphigénie im Namen der Götter, die, wie sie beteuert, Menschenopfer nicht wollen können, für Verschonung des gefangenen Fremden, in dem sich Oreste verbirgt, plädiert, entgegnet ihr Thoas, die »illusion d’un cœur compatissant« lasse sie ein Orakel vergessen, Qui m’ôte avec le jour le sceptre & la statue, Si par l’humanité mon ame [sic] combattue Dérobe au glaive saint un seul des Etrangers Qu’auront fait échouer le sort & les dangers [...].79

Folglich stellt Iphigénie am Ende im Namen der »raison« die Autorität des Orakels und seiner priesterlichen Interpreten in Frage, und als Thoas ihr dann befiehlt, ohne weiteren Verzug den eigenen Bruder umzubringen, bezeichnet sie ihn als »Parricide joueur d’une aveugle imposture«.80 Da indes Thoas sich hier wie auch bei La Grange-Chancel und Johann Elias Schlegel nicht überzeugen läßt, sondern der abergläubische, blutrünstige Barbar und Tyrann bleibt, töten ihn die Griechen. Es ist also wiederum die dritte, der Konfliktlösung entsprechende Phase des Grundmythos, die anders gestaltet wird als in der antiken Vorlage. Dramaturgisch gesehen, ist die Tötung des Barbaren, die den Schlüssen nahezu aller aufklärerischen Iphigenie-Dramen gemeinsam ist,81 eine Konsequenz der Unterordnung des Mythos unter die Norm der vraisemblance, die es nicht zuläßt, daß Athene am Ende als dea ex machina

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v. Johann Heinrich Schlegel. Bd. 1. Frankfurt/M. 1971 (Repr. Nachdruck des Bandes Kopenhagen und Leipzig 1771), S. 1–68, Zitat S. 61. Claude Guymond de la Touche: Iphigénie en Tauride. Tragédie. Paris 1758, S. 12. Guymond de la Touche: Iphigénie en Tauride, S. 54, 57. Vgl. Frick: Die Schlächterin und der Tyrann, S. 138. Diese Regel wird von den zwei Ausnahmen bestätigt, die Frick anführt. Es handelt sich um die IphigenieHanswurstiade des Wieners Joseph Anton Stranitzky (1724) und um die Iphigenia von John Dennis (1700): »[...] dessen Thoas-Figur ist weiblich und erleidet die Niederlage in spezifisch weiblicher Form: Sie wird geheiratet und muß Orest nach Griechenland folgen!« (ebd.).

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rettend eingreift. Kulturtheoretisch gesehen, ist sie ein Stück Dialektik der Aufklärung: Regression in eine durchaus ›barbarische‹ Gewalt, die hinter das, was bei Euripides erreicht wird, zurückfällt. Bei diesem plädiert Iphigeneia noch mit Erfolg dafür, den Taurerkönig zu verschonen, als Orestes kaltblütig vorschlägt, ihn zu töten.82 Die Dialektik der aufklärerischen Konfliktlösung manifestiert sich indes bei Guymond nicht nur in der Vollstreckung des Opferbefehls an Thoas – »Arreste, meurs, Barbare, au pied de ces Autels«, ruft Pilade, als er Thoas erschlägt83 –, sondern auch in der damit erfolgenden Beglaubigung des Orakels durch seine rationalistischen Kritiker, mag auch der Inhalt des Orakels nun ein anderer sein als bei Euripides. Die Paradoxien der mit Thoas’ Tod erkauften Lösung des Konflikts sind also jenem Bruch in der Figurenkonzeption und in der Dramenhandlung analog, der sich in Euripides’ und Racines ›aulischen‹ Iphigenie-Tragödien nachweisen und darauf zurückführen ließ, daß der Mythos dem Versuch, seine funktionale Beziehung zu dem als barbarisch verurteilten Menschenopfer aufzulösen, Widerstand leistet. Solcher Widerstand aber signalisiert, wie gesagt, daß im inneren wie im äußeren Kommunikationssystem die Einstellung zum ›barbarischen‹ Opfer als Verfahren, die Ordnung des Lebens durch die geregelte Tötung von Leben zu bestätigen, ambivalent ist: Es befremdet und stößt ab und fasziniert doch zugleich, weil ihm Bindekräfte innewohnen, über die die autonome Vernunft offenbar nicht verfügt. Diese Ambivalenz ist ein Aspekt jenes kulturellen Konflikts der Denk- und Wertformen, der für die Gattung der Tragödie seit ihren Anfängen konstitutiv ist, und auch sie lenkt den Blick auf die Verstrickung des ›Griechischen‹ in das ›Barbarische‹, von der die topographisch-geographische Opposition der beiden semantischen Teilräume unterminiert wird. In Goethes Iphigenie wirken die Ambivalenz, der kulturelle Konflikt, die Opposition und ihre Unterminierung nicht nur auf die Kausalität der Handlungssequenz ein, sondern sie werden auch und vor allem zum Gegenstand von Debatten, die im Inneren der Protagonistin und zwischen ihr und den anderen Figuren des Dramas stattfinden und einen neuartigen Versuch bilden, den Iphigenie-Mythos von dem Skandalösen, das an ihm haftet, zu befreien.

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S. dazu unten, Kap. 4.2, S. 131. Guymond de la Touche: Iphigénie en Tauride, S. 59.

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4.

Iphigenie auf Tauris

4.1. Humanisierung der Barbaren, Griechenland-Nostalgie und der Streit über Mythos und Menschenopfer (Erster Aufzug) Die vorangehenden Überlegungen lassen vermuten, daß auch Goethes Iphigenie-Drama ein Versuch ist, die strukturelle Bindung des IphigenieMythos an die Menschenopfer-Praxis, von der er erzählt, aufzulösen, und daß dieser Versuch eine Deutung der alten Antithese des Hellenischen und Barbarischen beinhaltet. Hermeneutisch gesehen, ist Goethes Drama zum Zeitpunkt seines Erscheinens eine neue Antwort auf die Frage nach dem Weg, der aus der Verstrickung des ›Griechischen‹ in das ›Barbarische‹ hinausführt. Diese Verstrickung ist, wie oben deutlich wurde, von vornherein in der ›Asymmetrie‹ (Koselleck) und ›Kontrapunktik‹ (Said) der Antithese angelegt: Der hellenische Barbarenbegriff ist herabsetzend; diejenigen, die ihn verwenden, schließen aus ihrem Bereich den Bereich des Barbarischen aus, um ihn zu beherrschen, und sie praktizieren damit eben jene Gewalt, die sie zugleich als barbarisch von sich unterscheiden. Diese Dynamik löst sich von ihrem ursprünglichen historischen Kontext und wird in andere Kontexte übertragen, wie die Begriffsgeschichte des Barbarischen und jene Etappen der Dramaturgie des Barbarischen vor Augen führen, von denen im vorangehenden Kapitel die Rede war: In den Iphigenie-Dramen von Euripides über Racine bis zur Aufklärung artikuliert die Hellenen-Barbaren-Antithese einen kulturellen und politischen Überlegenheitsanspruch, der von der Gewalt, mit der sich dieser Anspruch geltend zu machen sucht, diskreditiert wird; die klassizistischen Iphigenie-Dramen machen überdies darauf aufmerksam, daß dem Überlegenheitsanspruch eine antikisierende Sehweise innewohnt, die ihn zu legitimieren scheint. Das Mittel, mit dem bei Goethe die antikisierende Sehweise von der Funktion der gewaltsamen Ausschließung des kulturell Fremden unabhängig gemacht und zugleich der griechische Mythos von den Spuren seiner funktionalen Beziehung zu grausamen rituellen Kulthandlungen gereinigt werden soll, ist die Bildung der Barbaren zur ›griechischen‹ Humanität. 100

Die dramatische Sequenz der Handlungen ist also auf Verständigung und Dialog angelegt: auf erinnernde Erörterung und Aufhebung der alten wertenden Entgegensetzung. Die Menschenopfer-Praxis, diese skandalöse Manifestation des Barbarischen, kann nicht mehr nur als sinnloses Produkt abergläubischer Projektionen abgetan, sondern ihre lebenserhaltende Funktion muß nachvollzogen werden; und das Griechische und sein Mythos können nicht mehr ohne weiteres Chiffre oder Faktor eines eurozentrischen Überlegenheitsanspruchs sein, sondern dieser Anspruch muß mit vernünftigen Argumenten gerechtfertigt werden. Im folgenden soll Goethes Drama im Hinblick auf die Frage, inwiefern es die Verwirklichung dieses Bildungsprogramms vorführt, analysiert werden. Doch zuvor sei angemerkt, daß der neuartige pädagogische Impuls des Dramas zumindest teilweise von einem Idealbild der antiken Mythologie ausgeht, durch das sich das Mythosverständnis der deutschen Klassik grundlegend von dem der Aufklärung unterscheidet: »Da die Götter menschlicher noch waren, / waren Menschen göttlicher«, heißt es in Schillers großer Elegie »Die Götter Griechenlandes«,1 die 1788, ein Jahr nach Goethes Iphigenie, veröffentlicht wurde und eine heftige Kontroverse auslöste, weil, wie es schien, der Autor darin den anthropomorphisierenden griechisch-römischen Polytheismus gegen den christlichen Monotheismus ausspielte. In der Tat markiert das Mythosverständnis der deutschen Klassik einen Wendepunkt in der Geschichte der philosophischen Mythostheorie.2 Mit der Aufklärung teilt die Klassik die Überzeugung, daß Mythen Erzeugnisse der menschlichen Phantasie sind, aber im Unterschied zur Aufklärung erblickt sie darin kein Defizit: Gerade als Phantasieerzeugnisse sind ihr Mythen mehr als abergläubische Produkte der »incessant hopes and fears, which actuate the human mind« (David Hume), mehr als Zeugnisse der »erreurs de l’esprit humain« (Fontenelle).3 Solche Disqualifizierung der antiken Mythologie ist aus der Sicht der Klassik das Ergebnis eines Denkfehlers: Nach ihrer Überzeugung kann die aufgeklärte Moderne an die

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Schiller: NA, Bd. 1, S. 195. Zum Mythosverständnis von der Aufklärung bis zur Goethezeit vgl. die entsprechenden Kapitel bei Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 2: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991. David Hume: The Natural History of Religion and Dialogues Concerning Natural Religion. Hrsg. v. A. Wayne Colver u. John Valdimir Price. Oxford 1976, S. 31; Fontenelle: De l’Origine des fables. In: Fontenelle: Œuvres complètes. Hrsg. v. G.-B. Depping. 3 Bde. Genève 1968 (repr. Nachdruck der Ausgabe Paris 1818). Bd. 2, S. 388–398, Zitat S. 398.

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antike Mythologie nicht das logische Kriterium der Wahrheit herantragen, sondern nur das ästhetische der Schönheit. Aus ästhetischer Perspektive aber bietet die antike Mythologie der Klassik das Bild harmonischer Totalität, das bereits Winckelmanns wegweisende wirkungsästhetische Beschreibungen antiker Statuen evozieren und mit einem nostalgischen Akzent versehen, der dem Prinzip der Nachahmung entgegengesetzt ist.4 In Winckelmanns Beschreibungen wird das Erlebnis des Schönen und Erhabenen der Statuen vielmehr zum schöpferischen Bildungserlebnis; so heißt es in der Beschreibung des Apoll von Belvedere: Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt. Er hat den Python, wider welchen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolgt, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreicht und erlegt. Von der Höhe seiner Genugsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung sitzt auf seinen Lippen, und der Unmut, welchen er in sich zieht, bläht sich in den Nüstern seiner Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in einer seligen Stille auf derselben schwebt, bleibt ungestört, und sein Auge ist voll Süßigkeit, wie unter den Musen, die ihn zu umarmen suchen.5

Auf die Verachtung als ein Merkmal, das die Beziehung des Göttlichen zum Nichtgöttlichen kennzeichnet, wird zurückzukommen sein.6 Hier seien zunächst zwei andere, für die Klassik maßgebliche Merkmale der Beschreibung hervorgehoben: die Vorstellung von der Selbstgenügsamkeit der idealen Schönheit und die implizite Auffassung, daß die Mythologie solche Schönheit symbolisch vermittelt. Diese Auffassung wird von Karl Philipp Moritz erläutert und begründet: Die mythologischen Dichtungen müssen, wie er in seiner Götterlehre (1791) schreibt, »als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden«, sie seien als solche aber wie jedes wahre Kunstwerk »aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben« und »etwas in sich Fertiges und Vollendetes, das um sein selbst willen da ist und dessen Wert in ihm selber und in dem wohlgeordneten Verhältnis

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Vgl. Jochen Schmidt: Metamorphosen der Antike in Goethes Werk. Heidelberg 2002, S. 6f. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, S. 364f. S. dazu unten, S. 150f.

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seiner Teile liegt«.7 In diesem ästhetischen Mythosverständnis ist – anders als in der Ethnographie des Aufklärungszeitalters – für den funktionalen Zusammenhang von Mythos und Ritual kein Platz. Moritz findet vielmehr in der Mythologie eine Symbolik jener lebendigen, mit dem Göttlichen identifizierten, organischen Gesetzmäßigkeit, die Goethe in der Italienischen Reise wiederholt mit dem Klassischen identifiziert und deren Ausprägungen nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur und in der Gesellschaft er in Italien, auf ›klassischem Boden‹, studieren wollte.8 Als eine Symbolik schöner, harmonischer Totalität soll die antike Mythologie, gerade weil sie anthropomorphisierend ist, zugleich ein Medium der Bildung des modernen Individuums zu jener schönen Totalität werden (auch später, in der Frühromantik, bleibt sie als ›schöne‹ Mythologie das wichtigste Modell der postulierten ›neuen Mythologie‹);9 der Vermenschlichung des Göttlichen soll die Vergötterung des Menschlichen entsprechen. Das ist der utopische Impuls der Griechenland-Nostalgie, die Schillers Elegie »Die Götter Griechenlandes« ausspricht. Ästhetik, weltimmanente Religiosität und neuhumanistische Bildungsidee greifen also im Mythologie-Konzept der deutschen Klassik ineinander. Goethe lobt deshalb im Bericht der Italienischen Reise vom August 1787, dem Jahr der Veröffentlichung seiner (erst in Italien vollendeten) Iphigenie, das von Moritz verfolgte Projekt, »eine Götterlehre der Alten in rein menschlichem Sinne zu schreiben«.10 Diese Formulierung beinhaltet indes nicht die Feststellung, daß es eine solche Götterlehre gibt, sondern das Postulat, sie zu schaffen. Der Dichter aber kann sie nur schaffen, indem er versucht, überlieferte Mythen im Hinblick auf sie umzugestalten – auch im Sinne von Herders Aufforderung, »einen neuern Geist in die Fabeln

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Karl Philipp Moritz: Werke. Hrsg. v. Horst Günther. 3 Bde. Frankfurt/M. 1981. Bd. 2, S. 611f. Zur Winckelmann-Rezeption bei Moritz vgl. Raimund M. Fridrich: »Sehnsucht nach dem Verlorenen«. Winckelmanns Ästhetik und ihre frühe Rezeption. Bern [u.a.] 2003, S. 197ff. Wie Fridrich darlegt, knüpft Moritz an Winckelmanns Mythologie-Verständnis an, aber er lehnt seine Kunstbeschreibungen aus der Überzeugung ab, daß die Sprache das Schöne nicht darstellen kann. Vgl. Markus Winkler: »Weder Kunst noch Natur, sondern beides zugleich«. Zum Bild der menschlichen Gesellschaft in Goethes Italienischer Reise. In: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Hrsg. v. Helmut J. Schneider, Ralf Simon u. Thomas Wirtz. Bielefeld 2001, S. 71–89. Vgl. Winkler: Mythisches Denken, S. 27ff. Goethe: MA, Bd. 15, S. 474.

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zu hauchen, daß Götter und Helden nicht als starke, wilde Männer ihrer Zeit gemäß handeln; sondern einen Zweck durchschimmern lassen, der sich für uns passet.«11 In Iphigenie auf Tauris ist die Norm der Bildung der Barbaren zur Humanität der neue semantische Wert (der ›neuere Geist‹), an dem der alte Mythos gemessen wird mit dem Ziel, die neuhumanistische Götterlehre zu verwirklichen. Dem widersetzt sich jedoch der unverkennbare funktionale Zusammenhang des Iphigenie-Mythos mit der Menschenopfer-Praxis, von der er erzählt.12

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Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. 33 Bde. Hildesheim / New York 1978 (repr. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1877–1913). Bd. 1, S. 448 (»Vom neuern Gebrauch der Mythologie« [1767]). Bei Jauß und auch in der neueren Literatur zu Goethes Drama wird von diesem funktionalen Zusammenhang weitgehend abstrahiert, wie einige Beispiele verdeutlichen mögen. Arbeiten, die wie Wolfdietrich Raschs grundlegende Monographie Goethes ›Iphigenie auf Tauris‹ als Drama der Autonomie (München 1979) für eine konsequent humanistische Lektüre des Stücks plädieren, machen dessen neuhumanistisches Programm zur ausschließlich gültigen Norm der Interpretation: Der Grundgehalt von Goethes Drama, so Rasch, sei die Selbstheilung Orests und Iphigenies Verteidigung menschlicher Autonomie im Verhältnis zu den Göttern und zum absoluten Monarchen (vgl. S. 28f. u. öfter). Aus dieser Sicht erschöpft sich die Bedeutung von Mythos und Mythologie in Goethes Drama letztlich darin, die aufklärerische Auseinandersetzung mit der christlichen Orthodoxie, insbesondere der protestantischen, allegorisch einzukleiden (ähnlich auch Dieter Borchmeyer: Iphigenie auf Tauris. In: Interpretationen. Goethes Dramen. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1992, S. 117–157, bes. S. 144). Doch auch jene Arbeiten, die wie Adornos Essay »Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie« (in: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur IV. Frankfurt/M. 1974, S. 7–33) das Eigengewicht hervorheben, das dem Mythischen als schicksalhaftem »Schuldzusammenhang des Lebendigen« (S. 8) in Goethes Stück zukomme, und denen zufolge die Tendenz des Stücks in der »Gerechtigkeit« gegen das Mythische (S. 31) oder in der ›Ökonomie des Mythischen‹ besteht (vgl. Kathryn Brown und Anthony Stephens: »hinübergehn und unser Haus entsühnen«. Die Ökonomie des Mythischen in Goethes Iphigenie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 32 [1988], S. 94–115), lassen die wichtigsten Gründe für die Resistenz des Iphigenie-Mythos gegen seinen aufklärerisch-neuhumanistischen Gebrauch außer acht, nämlich seinen funktionalen Zusammenhang mit der Menschenopfer-Praxis und die Dynamik der Ausschließung, die der seit Euripides in den Mythos projizierten Semantik des Barbarischen eigen ist. Wenn man Begriffsgeschichte, Gattungsgeschichte, Kulturanthropologie und semiotische Textanalyse miteinander zu verbinden sucht, dann zeigt sich, daß es bei der Aneignung des Mythos in Goethes Drama um diese konkreten Probleme geht und nicht nur ganz allgemein »um die Emanzipation des Individuums von der unbefragten Autorität der Tradition und [...] um eine Neubestimmung seines zerbrochenen Verhältnisses zur Tradition« (Franz-Josef Deiters: Goethes »Iphigenie auf Tauris« als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos. In: Jahrbuch des Freien Deutschen

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Daraus entspringt in Goethes Drama wiederum ein Konflikt der Denkund Wertordnungen, der nun in bestimmten Szenen des Dramas nachgewiesen werden soll. Es geht darum, den Streit über Inhalt und Funktion des Mythischen, der in diesen Szenen ausgetragen wird, ins Auge zu fassen. Denn der Mythos und seine funktionale Bindung an rituelle Kulthandlungen sind in Goethes Drama nicht nur rhetorischer Ornatus; ihre Bedeutung erschöpft sich nicht, wie oft vermutet wurde, darin, Religionskritik allegorisch einzukleiden, so wie dies in den aufklärerischen Bearbeitungen der taurischen Iphigenie streckenweise der Fall ist.13 Goethe rückt im Ge-

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Hochstifts 1999, S. 14–51, Zitat S. 50). Auch Gerhard Neumann nimmt Goethes Programm der Humanisierung des Mythos für die Erfüllung dieses Programms, wenn er zu zeigen sucht, daß »Goethe was successful in mutually correlating the performative events of sacrifice and anagnorisis in a kind of communion as well as in fusing a model of utopic humanity born of Iphigenia’s creative language« (Neumann: Iphigenia, S. 108; vgl. S. 112f.). Diese Wiederaufnahme des traditionellen Deutungsmusters basiert auf einer problematischen Ausdehnung des Ritualbegriffs: Sowohl das Opfer und als auch die Anagnorisis seien Rituale (vgl. S. 105, 113 u. öfter). Vom Ritual unterscheidet sich die Anagnorisis allein schon dadurch, daß sie kein festes Verhaltensprogramm, sondern ein einmaliges Geschehen ist. – Anzumerken ist schließlich, daß auch in altphilologisch fundierten Deutungen von Goethes Iphigenie das im Drama formulierte Programm der Humanisierung des Mythos die Perspektive durchgängig bestimmt: So übernimmt Jochen Schmidt (Metamorphosen der Antike in Goethes Werk, S. 11ff.) Raschs Thesen, und Bernhard Zimmermann (Euripides’ und Goethes Iphigenie, S. 141) stimmt wiederum Schmidts humanistischem Verständnis von Goethes Drama zu. – Die Einwände, die Birgit Hansen (Frauenopfer, S. 130ff.) gegen diese traditionelle Sicht erhebt, sind freilich im vorliegenden Zusammenhang nicht von Belang, denn es geht bei Hansen um das Frauenopfer in der Literatur als Versuch der Bewältigung einer ›Darstellungskrise‹, die nicht in Goethes Drama nachgewiesen, sondern diesem als allegorisches Signifikat zugewiesen wird; s. oben, Kap. 3.1, Anm. 14. – Die Tragfähigkeit des einseitig humanistischen Verständnisses von Goethes Drama stellt auch Herbert Uerlings in Frage, indem er der »doppelten Asymmetrie«, die das Drama präge, nämlich »der von Frauen gegenüber Männern und der von Griechen gegenüber Skythen«, nachgeht, doch abstrahiert er dabei sowohl von jenem funktionalen Zusammenhang als auch von der Begriffsgeschichte des Barbarischen und dem Bezug auf die Tragödientradition; vgl. Herbert Uerlings: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln [u.a.] 2006, S. 56ff., Zitat S. 61. Dieselbe Abstraktion auch bei Karina Becker: Autonomie und Humanität. Grenzen der Aufklärung in Goethes Iphigenie, Kleists Penthesilea und Grillparzers Medea. Frankfurt/M. 2008. Auf eine allegorische Einkleidung reduziert, wie gesagt, Rasch (vgl. die vorangehende Anm.) die Mythologie in Goethes Drama: »[...] wichtig ist, daß Guimond wie Goethe im Medium des gleichen griechischen Stoffes die zeitgenössische Krisis des religiösen Bewußtseins literarisch gestaltet haben: Guimond oft räsonnierend-polemisch, Goethe durch die Darstellung einer neuen, nicht

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genteil von der aufklärerischen Reduktion der Institution des Menschenopfers auf Fürstenwillkür und Priesterbetrug ab. In seinem Drama wird die Funktion nachvollzogen, die der abstoßenden kultischen Praxis des Menschenopfers für das Leben der Gemeinschaft zukommt. Das zeigt sich schon zu Beginn. Denn bei Goethe ist diese Praxis nicht die irrationale Erfindung eines abergläubischen Tyrannen, sondern eine alte, fest verankerte Tradition. Iphigenie hat indes, wie ihr Thoas’ Vertrauter Arkas in Zweiten Auftritt des Ersten Aufzugs in Erinnerung ruft, diese Tradition, d.i. [...] den alten grausamen Gebrauch, Daß am Altar Dianens jeder Fremde Sein Leben blutend läßt, von Jahr zu Jahr Mit sanfter Überredung aufgehalten (V. 122–125).

Sie hat also die kultische Praxis des Menschenopfers suspendiert, und die Göttin hat das Land dafür nicht bestraft, im Gegenteil: Dem Land geht es besser als zuvor, und auch der König selbst ist nun, wie Arkas hervorhebt, nicht mehr nur ein ›weiser‹ und ›tapferer‹, sondern auch ein ›milder‹ Herrscher (V. 134–135). Goethe sucht also die Paradoxien der gewaltsamen Konfliktlösung, zu der sich seine aufklärerischen Vorgänger gezwungen sahen, von vornherein zu vermeiden, indem er nicht nur den dritten, sondern auch den ersten Teil des Grundmythos variiert. Erst bei ihm hat die Priesterin Iphigenie noch keine Menschenopfer vollzogen (ein schon von Goethes Zeitgenossen als befreiend empfundener Eingriff in die Überlieferung);14 und erst bei ihm verfolgt sie das pädagogische Projekt, die Barbaren zur Humanität zu bilden, anstatt eine gewaltsame Lösung des Konflikts mit ihnen zuzulassen. Dabei kommt ihr Thoas entgegen: Er ist »ein edler Mann« (V. 33), hebt Iphigenie in ihrem Eingangsmonolog hervor. Tatsächlich hat er sie, als sie nach Tauris kam, verschont und damit spontan selbst die Suspendierung der Menschenopfer-Praxis eingeleitet, wie ihr Arkas ebenfalls in Erinnerung ruft:

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herkömmlichen, von der kirchlichen abweichenden Religiosität, die auch seine eigene war« (Goethes ›Iphigenie‹, S. 88; vgl. S. 58). »[...] une idée heureuse, c’est d’avoir supposé qu’Iphigénie n’avoit point encore consommé de sacrifices humains«, notiert Benjamin Constant am 12. März 1804 in seinem Tagebuch, nachdem er in Weimar eine Aufführung des Dramas gesehen hat (Benjamin Constant: Œuvres complètes. Série Œuvres, Bd. 6. Hrsg. v. Paul Delbouille u. Kurt Kloocke. Tübingen 2002, S. 85).

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Als dich ein tief-geheimnisvolles Schicksal Vor so viel Jahren diesem Tempel brachte, Kam Thoas, dir als einer Gottgegeb’nen Mit Ehrfurcht und mit Neigung zu begegnen. Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich, Das jedem Fremden sonst voll Grausens war, Weil niemand unser Reich vor dir betrat, Der an Dianens heil’gen Stufen nicht Nach altem Brauch, ein blut’ges Opfer, fiel. (V. 97–105)

Bei Euripides und in den aufklärerischen Bearbeitungen seines Dramas werden zwar, wie oben dargelegt, bestehende mythische Vorstellungen von Göttern, die Menschenopfer fordern, im Namen der Vernunft kritisiert,15 doch die Vernunft bleibt das Privileg derer, die sie schon haben: Die Opposition zwischen zivilisierten, vernünftigen Griechen und grausamen, abergläubischen Barbaren wird in den jeweiligen Dramenschlüssen mit göttlicher bzw. menschlicher Gewalt festgeschrieben. Bei Goethe hingegen ist die Vermenschlichung des Götterbildes eine Aufgabe, deren Verwirklichung davon abhängt, daß alle, auch die Barbaren, dazu beitragen. Dem Barbaren Thoas soll sich nicht länger das schreckliche Gesicht der Götter zeigen, auch er soll an einem neuen Einvernehmen zwischen Menschen und Göttern teilhaben; und umgekehrt: Nur dann, wenn es gelingt, auch ihn endgültig davon zu überzeugen, daß die Götter nicht schrecklich, sondern den Menschen wohlgesinnt sind und grausame Rituale wie das Menschenopfer nicht wollen, kann das neue, vom »alten grausamen Gebrauch« losgelöste Bild der Götter richtig sein. Die Berechtigung dieses Bildes kann sich nur in der Bildung des Thoas vom Barbaren zum Griechen erweisen. Die Voraussetzung dafür bringt Thoas mit, weil er Iphigenie spontan, ohne äußeren Zwang, verschont hat; aus der Perspektive der historischen Semantik des Barbarischen hat er damit dem spezifisch ›griechischen‹ Wert der Gastfreundschaft zur Geltung verholfen (die Mißachtung des Gebots der xenía, der Gastfreundschaft, ist schon bei Herodot und Euripides ein Kennzeichen des Barbarischen im Unterschied zum Griechischen).16 Erst diese Tat hat es Iphigenie ermöglicht, im Barbarenland aufklärerischpädagogisch zu wirken. Iphigenie steht jedoch selbst der Verwirklichung ihres pädagogischen Projektes im Wege, wie schon ihr Eingangsmonolog deutlich macht.

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S. oben, Kap. 2.1, S. 36; 3.2.3, S. 95ff. Vgl. dazu Hall: Inventing the Barbarian, S. 112f., 187.

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Nicht voller Zuversicht angesichts dessen, was sie erreicht hat, sondern »mit schauderndem Gefühl« (V. 4) tritt sie in den heiligen Hain und in das Innere des Tempels der Göttin, der sie als Priesterin dient. Das ist einerseits ein Echo der Furcht vor der Menschenopfer fordernden Göttin, die Iphigeneia bei Euripides in ihrem Eingangsmonolog empfindet: (V. 37). Auch für die Goethesche Iphigenie ist der Status des humanistischen Götterbildes also noch unsicher. Furcht und Unsicherheit sind andererseits auch eine Wirkung von Iphigenies innerem Widerstand gegen die Aufhebung der asymmetrischen Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen – eine Aufhebung, auf die ihre pädagogische Arbeit doch zielt. Nachhaltiger noch und nostalgischer als bei Euripides »Das Land der Griechen mit der Seele suchend« (V. 12) – ein Vers, der auf das neuhumanistische Idealbild des Griechischen zu beziehen ist –, strebt sie weg aus dem Barbarenland, setzt also die alte kulturelle Raumeinteilung mit ihrer Funktion der Ausschließung des Barbarischen aus dem Griechischen wieder in Kraft: »Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher« (V. 6). Daß dieses Gefühl des »fremd«-Seins (V. 9) nicht eine individuelle psychische Disposition der Protagonistin ist, sondern ein Indiz für die Macht, die das asymmetrische Denk- und Wahrnehmungsmuster auf ihre Rede ausübt, wird gleich darauf durch den Subtext der Rede akzentuiert: Mit dem Vers »Der Frauen Zustand ist beklagenswert« (V. 24) setzt eine Reflexion ein, die deutlich an die Worte der Euripideischen Medeia über das miserable Los der Frauen in der von Männern beherrschten Gesellschaft erinnert,17 zumal Medeias Klage, daß sie als ›aus Barbarenland geraubte‹ Ausländerin ein noch elenderes Los habe als die einheimischen Frauen, in Iphigenies Klage gespiegelt wird: »[...] wie elend, wenn sie [die Frau, M.W.] gar / Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!« (V. 31–32). Daß die Griechin Iphigenie hier die Klage der Barbarin Medeia variiert, hebt die programmatische Präsenz und diskursive Effizienz der alten kulturellen Raumeinteilung aber nicht nur hervor, sondern relativiert sie zugleich. In Tauris nimmt Iphigenie nämlich selbst die Position der Ausländerin, d.h. Barbarin ein: Thoas hält sie »In ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest« (V. 34), obwohl er ihr andererseits mit »Ehrfurcht und mit Neigung« (V. 100) begegnet, wie Arkas in dem zitierten Passus unterstreicht (später vermutet

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S. dazu oben, Kap. 2.1, S. 28. Zu diesem Medeia-Zitat im Eingangsmonolog der Goetheschen Iphigenie vgl. Zimmermann: Euripides’ und Goethes Iphigenie, S. 138.

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Pylades, sie sei »aus hohem Hause / Hierher verkauft«, V. 922–923). Und in Aulis haben die Griechen sie behandelt, als wäre sie eine Ausländerin wie die von Jason und Kreon verstoßene Medeia: Als »Des größten Königes verstoßne Tochter« (V. 41) bezeichnet Iphigenie sich rückblickend. Die von dem Subtext bewirkte Assoziation ihrer Situation mit der Medeias ist also auch ein Indiz für die auf den ersten Blick paradoxe Verstrikkung des Griechischen in das Barbarische und umgekehrt – eine Verstrickung, die von den späteren expliziten Bezugnahmen auf den MedeaMythos, die bereits zur Sprache kamen,18 akzentuiert und schon im Verlauf des ersten Streitgesprächs zwischen Iphigenie und Thoas erörtert wird. Der Subtext ergänzt also kontrapunktisch die Worte, mit denen Iphigenie ihren Heimkehrwunsch ausspricht. Und der gebetsartige Appell an die Göttin, mit dem sie am Ende des Monologs den Wunsch bekräftigt, weist wiederum eine kontrapunktische, genauer ironische Struktur auf: Ja, Tochter Zeus, wenn du den hohen Mann, Den du, die Tochter fodernd [sic], ängstigtest; Wenn du den göttergleichen Agamemnon, Der dir sein Liebstes zum Altare brachte, Von Troja’s umgewandten Mauern rühmlich Nach seinem Vaterland zurückbegleitet, Die Gattin ihm, Elektren und den Sohn, Die schönen Schätze, wohl erhalten hast; So gib auch mich den Meinen endlich wieder, Und rette mich, die du vom Tod’ errettet, Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode.

(V. 43–53)

Die dramatische Ironie dieser Verse rührt daher, daß dem Zuschauer- oder Lesepublikum, nicht aber Iphigenie das unrühmliche Ende Agamemnons bekannt ist. Die Bedingung, die Iphigenie mit dem langen Konditionalsatz als Argument für ihren Appell an die Göttin vorbringt, ist also nicht erfüllt; das Argument für die Heimkehr ist von vornherein entkräftet. Der Appell sagt vor allem etwas über Iphigenies inneren Widerstand gegen die Fortsetzung und Krönung der eigenen Arbeit als wohltätige Kulturbringerin aus – einen Widerstand, der, wie gesagt, aus der hier gewählten Perspektive nicht psychologisch als individuelle Disposition zu interpretieren ist, sondern begriffsgeschichtlich und diskursanalytisch als Funktion der ›asymmetrischen Argumentationsstruktur‹, die mit der wertenden Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen gegeben war. Deren Permanenz und

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S. dazu oben, Kap. 1, S. 2ff.

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Effizienz unterstreicht Iphigenie mit dem Polyptoton »mich den Meinen«, das dem Polyptoton (barbároisi bárbaros) im Prolog der Euripideischen Iphigeneia seitenverkehrt entspricht,19 ferner mit dem polyptotisch realisierten Kyklos »rette [...] errettet« sowie mit der paradoxen Negation der Antithese von Tod und Leben. Dieses Paradox, d.i. die Bezeichnung des Lebens in Tauris als eines »zweiten Tode[s]«, vermittelt wie die beiden Figuren der Wiederholung den regressiven Impuls zur Wiederherstellung der antithetischen kulturellen Raumeinteilung. Von der Hierarchie, die der wertenden Antithese des Griechischen und Barbarischen innewohnt, geht also bei Goethe ein Impuls aus, der dem Impuls zur Humanisierung der Barbaren entgegengesetzt ist. Der regressive Impuls manifestiert sich auch in dem Gespräch mit Arkas, das der Vorbereitung auf die erste der beiden großen Auseinandersetzungen mit Thoas dient. Iphigenie bezeichnet Arkas gegenüber ihr Leben in Tauris als »unnütz« (V. 115) – ein sich im Mantel der Bescheidenheit verhüllendes Argument für die Heimkehr, das Arkas mühelos mit dem Hinweis auf Iphigenies segensreiches Wirken zu entkräften vermag. Dabei verfolgt er das Ziel, Iphigenie zur Annahme der bevorstehenden Werbung des Königs um ihre Hand zu bewegen (ein von La Grange-Chancel eingeführtes Motiv).20 Denn als sie ihm mit dem Hinweis, sie sei Thoas’ »Antrag« (V. 155) bislang ausgewichen, ihren Widerstand gegen die Werbung zu verstehen gibt, hält er dagegen: »Bedenke was du tust und was dir nützt« (V. 156). Auch dieser Appell ist, wie die Wortwahl verdeutlicht, gegen Iphigenies Argument gerichtet, ihr Leben in Tauris sei ›unnütz‹. Wie Iphigenies Widerstand nicht als persönliche Antipathie gegen Thoas zu verstehen ist, so geht es in Arkas’ Appell nicht um den persönlichen Nutzen, den Iphigenie aus der Ehe mit Thoas ziehen könnte, sondern um den Nutzen für ihr Anliegen, die Barbaren zur Humanität zu erziehen; eine Ablehnung von Thoas’ »Antrag« hätte nämlich, wie Arkas hier nur andeutet, zur Folge, daß der König die Wiedereinführung der Menschenopfer befehlen, daß er also Iphigenie zur Ausübung des blutigen Rituals zwingen würde. Daß diese Alternative nicht einfach, wie es den Anschein haben mag, »nackte Erpressung« ist,21 sondern eine Zuspitzung der Fragen, ob die alte

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S. oben, Kap. 2.1, S. 36. Vgl. La Grange-Chancel: Œuvres. Bd. 1, S. 94f. Reed: Iphigenie auf Tauris, S. 211. Ähnlich z.B. Borchmeyer: Iphigenie auf Tauris, S. 139; Petra Willim: So frei geboren wie ein Mann? Frauengestalten im

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kulturelle Topographie im neuhumanistischen Bildungsprogramm aufgehoben, ob eine das Gemeinwesen bedrohende endogene Gewalt anders als durch ›heilige‹ Gewalt beendet oder verhindert werden und ob das Göttliche etwas anderes sein kann als die Figuration einer triumphierenden Gewalt, die Menschenopfer erzwingt, wird gleich anschließend im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Iphigenie und Thoas deutlich. Thoas trägt eingangs seine Werbung vor und führt zur Begründung an, daß er seinen Sohn in einem Krieg gegen – inzwischen besiegte – Feinde verloren hat. Seine Kinderlosigkeit droht, wie er betont, seine Autorität als Herrscher zu untergraben: Der »fröhliche Gehorsam« (V. 239) seiner Untertanen sei jetzt »von Sorg’ und Unmut still gedämpft« (V. 241). Im vorangehenden Auftritt hat Arkas noch deutlicher ausgesprochen, daß der König wegen seiner Kinderlosigkeit nun, da der äußere Feind besiegt ist, den Ausbruch einer das Volk im Inneren bedrohenden Gewalt befürchtet: Mißgünstig sieht er jedes Edeln Sohn Als seines Reiches Folger an; er fürchtet Ein einsam hülflos Alter, ja vielleicht Verwegnen Aufstand und frühzeit’gen Tod.

(V. 160–164)

Die Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung ginge also von einer Art Fronde aus; das erinnert an den Konflikt zwischen Achille und Agamemnon in Racines Iphigénie, aber auch an die gefährliche Rivalität zwischen den Anführern des Griechenheers in Euripides’ Iphigeneia in Aulis. Um so verständlicher ist es, daß Thoas die politische Bedeutung seiner Werbung mit Nachdruck hervorhebt: »Zum Segen meines Volks und mir zum Segen« (V. 249) wolle er Iphigenie heiraten. Diese geht indes darauf nicht ein, sondern sie sucht den König von seinem Heiratsantrag abzuschrecken: Erst, indem sie ihr Inkognito22 mit dem Argument verteidigt, er werde sie, wenn er erfahre, wer sie sei, mit »Entsetzen« verstoßen, »dem Elend zu, das jeden Schweifenden, / Von seinem Haus’ Vertriebnen überall / [...] erwartet« (V. 276–278) – Worte, die wie der Eingangsmonolog an Medeias

22

Werk Goethes. Köngigstein/Ts. 1997, S. 117f.; Uerlings: »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 68. Uerlings zufolge ist es vor allem das von den Griechen abgewehrte, tendenziell gewaltsame sexuelle Begehren, das Thoas zum ›Barbaren‹ macht (vgl. S. 68ff.) – eine Auffassung, die um so weniger nachvollziehbar ist, als die sinnliche Liebe im Verhältnis zwischen Iphigenie und Thoas keine Rolle spielt (vgl. S. 68) und Thoas’ Werbung um Iphigenie ein konkretes politisches Motiv hat (s. unten). Anders als bei Euripides weiß er nicht, von wem sie abstammt.

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Klage über ihre Situation in Griechenland und überdies an Medeias Verstoßung durch König Kreon erinnern, also wiederum Iphigenies Griechenland-Nostalgie zugleich artikulieren und kontrapunktisch ergänzen; und dann, indem sie auf sein Drängen hin ihr Inkognito lüftet: »Vernimm! Ich bin aus Tantalus [sic] Geschlecht« (V. 306). Im Dialogverlauf bildet Iphigenies nun folgender Bericht von der Genealogie ihrer Familie, der Atriden, eine lange Parenthese, die hier zur Sprache kommen soll, da sie die Funktion hat, den Konflikt, um den es in der Auseinandersetzung über Thoas’ Werbung geht, zu spiegeln: Denn auch Iphigenies Herkunft wirft die Frage auf, ob das Göttliche etwas anderes sein kann als die Figuration einer Gewalt, die das Menschenopfer erzwingt. Die Genealogie der Atriden ist in Iphigenies Bericht, der Mythologie entsprechend, eine nicht abreißende Kette von Verwandtenmorden, die mit ausgeklügelter List vorbereitet werden. Die Kette reicht von Tantalus’ Sohn Peleus, der einen Meuchelmord an Önomaus begeht, um dessen Tochter zur Frau zu gewinnen, über Atreus, der aus Rache dafür, daß er einen seiner Söhne auf Grund einer Intrige seines Bruders Thyest versehentlich hat töten lassen, dem Bruder dessen eigene Söhne zur Speise vorsetzt, bis hin zur vermeintlichen Opferung Iphigenies (wie bei Euripides erfährt Iphigenie von der Fortsetzung, Clytemnestras Gatten- und Orests Muttermord, erst später, allerdings nicht durch Orest, sondern durch Pylades). Doch das schlimmste Verbrechen, das Tantalos der Mythologie zufolge beging – er hat den Göttern, um ihre Allwissenheit zu testen, seinen eigenen Sohn Pelops als Speise vorgesetzt –, fehlt in Iphigenies Bericht. Der Zweifel der Euripideischen Iphigeneia an der Wahrheit dieser kannibalischen Geschichte, die »eindeutig eine Opferhandlung« schildert und die schon Pindar als »böswillige Dichtererfindung« verwirft,23 ist offenbar für Goethe zum Anlaß geworden, den Mythos zu variieren: Tantalus, nach der für Goethe maßgeblichen Überlieferung ein Sohn des Zeus und der Nymphe Pluto, einer Titanentochter,24 ist Iphigenies Worten zufolge ein Titan ohne Familienbeziehung zu den olympischen Göttern. Derart wird er wie der Goethesche Prometheus zum Repräsentanten der Menschheit,

23 24

Burkert: Homo Necans, S. 115, 114. Vgl. Pindar: Erste Olympische Ode, V. 46– 53. Vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon. Repr. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770. Darmstadt 1986, Sp. 2281, 2031f. Als Titanenväter der Nymphe Pluto kommen nach Hederich Okeanos oder Kronos in Frage. Zu Goethes Annäherung des Tantalus an Prometheus vgl. auch Borchmeyer in Goethe: FA, Erste Abt., Bd. 5, S. 1017f.

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ja zum ›Menschen‹ (V. 316, 321) selbst, insofern er nach dem Göttlichen strebt. Aus dem Bild des humanisierten Stammvaters aber sollen die Spuren einer grausamen Opferhandlung verschwinden; der vermeintliche Täter, der »zum Knecht zu groß, und zum Gesellen / Des großen Donn’rers nur ein Mensch« (V. 320–321) war, soll selbst als Opfer göttlicher Willkür erscheinen. Iphigenie deutet nämlich Tantalus’ Sturz mit Berufung auf das, was »Dichter« davon »singen« (V. 323), also nicht ohne Vorbehalt, als Strafe für eine nicht näher bestimmte Form von Hybris – »Übermut / Und Untreu« (V. 323–324) – und diese als eine letztlich von den Göttern zu verantwortende Verkennung der Grenzen zwischen ihnen und den Menschen, zwischen dem Heiligen und dem Profanen: [...] aber Götter sollten nicht Mit Menschen, wie mit ihres Gleichen, wandeln; Das sterbliche Geschlecht ist viel zu schwach In ungewohnter Höhe nicht zu schwindeln. (V. 315–318)

Dieses Eingeständnis der ›Grenzen der Menschheit‹ ist nur scheinbar demütig; es dient in Wahrheit dem Zweck, den an Tantalus’ Sturz anknüpfenden, von Generation zu Generation sich wiederholenden Verwandtenmord als Fortsetzung der von den rachsüchtigen Göttern verhängten Strafe erscheinen zu lassen. Auf Thoas’ Frage, ob das Geschlecht der Atriden »die Schuld des Ahnherrn oder eigne« (V. 237) getragen habe, antwortet Iphigenie: Zwar die gewalt’ge Brust und der Titanen Kraftvolles Mark war seiner Söhn’ und Enkel Gewisses Erbteil; doch es schmiedete Der Gott um ihre Stirn ein ehern Band. Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld Verbarg er ihrem scheuen düstern Blick; Zur Wut ward ihnen jegliche Begier, Und grenzenlos drang ihre Wut umher. (V. 328–335)

Was nun die ›grenzenlose Wut‹ demonstriert, ist der Bericht von den Greueltaten der auf Tantalus folgenden Generationen; das kannibalische Opfermahl des Thyestes fehlt hier, wie gesagt, nicht (vgl. V. 377–388). Iphigenies Version dieses Abschnitts der Genealogie, der, religionsgeschichtlich und kulturanthropologisch gesehen, »wiederum ein Opferritual nacherzählt und grauenvoll übersteigert«,25 ist sogar ausführlich und detailliert. Was aus

25

Burkert, Homo Necans, S. 120. Folgt man Burkerts Deutung, dann hat das – zum

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dem Bild des Tantalus verdrängt wurde, kehrt hier also wieder. Derart macht sich der funktionale Zusammenhang des Mythos mit dem Opferritual gegen das Bemühen geltend, die mythologische Geschichte in eine Handlungssequenz zu überführen, die den neuhumanistischen Normen gehorcht. Die sich wiederholenden Greueltaten der Atriden erscheinen nun im Gegenteil als etwas von einer höheren Macht Erzwungenes, als Opferhandlungen. Das ist die paradoxe Konsequenz von Iphigenies Versuch, die Verbrechen der Atriden zwar auf ein – verzeihliches – Vergehen des Stammvaters zurückzuführen, die eigentliche Verantwortung für die Verbrechen aber dem die Menschen in die Irre leitenden »Gott« (V. 331) anzulasten (in der dritten, in Prosa verfaßten Bearbeitung des Dramas ist noch vom »Vater der Götter« die Rede).26 Der Preis für die Verklärung des Bildes vom Stammvater ist also die Verfinsterung des Bildes der Götter; solange der Kreislauf von menschlicher Gewalt und Gegengewalt mythisch gedeutet wird, erscheint er als von den Göttern verhängtes »unseliges Geschick der Männer« (V. 393) oder »ehrne[s] Geschick« (V. 540). Iphigenies Wortwahl läßt indes erkennen, daß die groteske Symmetrie der Greueltaten, deren sich ihre Familie schuldig gemacht hat, durchaus anders als mythisch, nämlich anthropozentrisch verstanden werden kann: ›Neid‹ (V. 341) auf den, der mächtiger ist oder es zu werden droht, treibt die Pelopssöhne Atreus und Thyest zum Mord an ihrem Stiefbruder und schließlich zu den Verbrechen an, mit denen jeder von beiden den anderen und seine Familie zu vernichten strebt, um zur Alleinherrschaft zu gelangen. Solcher Neid ist offenbar auch das Motiv für Tantalus’ »Vergehen« (V. 322) und Pelops’ Mord an Önomaus. Wie bei Euripides und Racine deckt das Drama auch bei Goethe im Mythos einen Mechanismus menschlicher Gewalt auf, den der Mythos verschleiert, indem er ihn auf göttlichen Zwang zurückführt. Es sei daran erinnert, daß sich sowohl in Iphigeneia in Aulis als auch in Iphigénie die Rivalität als Faktor einer gewaltsamen Einebnung (›indifférenciation violente‹) kulturell festgelegter Differenzen erweist – einer Einebnung, die den Zusammenhalt des Griechenheers von

26

Tantalos-Greuel parallele – Opferfest, von dem der Mythos von Atreus und Thyestes erzählt, u.a. die Funktion, die Sukzession der Generationen zu vermitteln; vgl. S. 119ff., hier S. 123. Vgl. die Synopse der vier Fassungen: Goethes Iphigenie auf Tauris in vierfacher Gestalt. Hrsg. v. Jakob Baechtold. Freiburg i. Br. / Tübingen 1883, hier S. 21.

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innen bedroht, eine bürgerkriegsähnliche Situation schafft und erst durch die Opferung Iphigeneias bzw. Ériphiles beendet wird.27 Wiederum mythisch versteht Goethes Iphigenie aber ihre Opferung in Aulis. Während die Protagonistin in Euripides’ Iphigeneia im Lande der Taurer mit Bitterkeit die Unmenschlichkeit von Agamemnons, des V. 360), Verhalten betont, sucht Iphigenie bei »Opferherr[n]« ( Goethe ihren Vater, in dem sie stets »Ein Muster des vollkommnen Manns gesehn« habe (V. 403) – eine Sehweise, die sie mit Racines Iphigénie teilt –, ebenso konsequent zu entlasten wie zu Beginn ihres Berichts den Stammvater. Entlastend wirken die Hervorkehrung des von der Göttin ausgehenden Zwangs und die Verschleierung des Anteils, den Agamemnon persönlich an der Intrige, mit der Iphigenie ins Lager der Griechen gelockt wurde,28 und an dem Vollzug des Opfers hatte: [...] Mein Vater führte Der Griechen Heer. In Aulis harrten sie Auf günst’gen Wind vergebens: denn Diane, Erzürnt auf ihren großen Führer, hielt Die Eilenden zurück und forderte Durch Kalchas Mund des Königs ältste Tochter. Sie lockten mit der Mutter mich in’s Lager; Sie rissen mich vor den Altar und weihten Der Göttin dieses Haupt. – Sie war versöhnt; Sie wollte nicht mein Blut und hüllte rettend In eine Wolke mich; in diesem Tempel Erkannt’ ich mich zuerst vom Tode wieder. (V. 418–429)

27

28

Vgl. oben, Kap. 3.2.1, S. 80ff., und 3.2.2, S. 92f; zur ›indifférenciation violente‹ Girard: La violence et le sacré, S. 77ff., 97, 99, 115 u. öfter. Bei Girard ist Sophokles’ König Ödipus das wichtigste Beispiel. In der ›aulischen‹ Iphigeneia des Euripides ist er selbst der Autor der ›Hochzeitsintrige‹, mit der Iphigeneia ins Lager gelockt wird (vgl. dort V. 98–105), in der ›taurischen‹ ist es Odysseus (vgl. dort V. 24f.). Da es in der vorliegenden Untersuchung um die Frage geht, wie in Goethes Drama die Auseinandersetzung mit dem funktionalen Zusammenhang von Mythos und Ritual und mit der kulturellen Topographie und Geographie des Griechischen und Barbarischen erfolgt, kann die sozialgeschichtliche und psychohistorische Dimension von Iphigenies Idealisierung der Vaterinstanz ausgeklammert werden; vgl. dazu z.B. Willim: So frei geboren wie ein Mann?, S. 130ff.; Uerlings: »Ich bin von niederer Rasse«, S. 70ff. Gegen eine ausschließlich psychohistorische Deutung ist allerdings geltend zu machen, daß die Idealisierung der Vaterinstanz auch dem klassizistischen Prinzip der bienséance gehorcht.

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Der Zweck von Iphigenies Darstellung ist evident: Die Vorbereitungen zu ihrer Opferung in Aulis sollen rückblickend als die unweigerliche Konsequenz einer göttlichen Forderung erscheinen. Damit aber gerät das aulische Geschehen zur Fortsetzung des ›Geschick[s]‹ (V. 393) der Atriden. Denn wegen der Einbeziehung in den genealogischen Bericht erscheint der Zorn der Göttin, der den Opferbefehl motivierte, als Ausläufer des Zorns der Götter, den ursprünglich Tantalus’ »Vergehen« (V. 322) hervorrief; das Menschenopfer sollte in Aulis also dazu dienen, die furchterregende Gottheit zu ›versöhnen‹ (V. 426). Iphigenies Rettung ändert am Opfergeschehen wiederum insofern nichts, als sie den am Geschehen Beteiligten verborgen geblieben ist. Ihre Darstellung der Opferung wie auch Pylades’ richtigstellende Betonung der Rolle, die Agamemnon dabei spielte (vgl. V. 908–913), bekräftigen sogar, daß die sich wiederholenden Verwandtenmorde der Atriden, ähnlich wie in Aischylos’ Agamemnon,29 die Funktion von Menschenopfern hatten. In diesem Sinne deutet später auch Orest resigniert seinen Muttermord und die bevorstehende Opferung seiner selbst durch die taurische Diana-Priesterin.30 Jede Generation der Atriden muß, wie es scheint, den erzürnten Göttern solche Menschenopfer darbringen, um die mit Tantalus’ Sturz entstandene Kluft zwischen ihnen und den schrecklichen Göttern zu überbrücken. Iphigenies Bericht erfüllt als genealogischer Mythos, der die vermeintlichen Opferhandlungen kommentiert, dieselbe Überbrückungsfunktion.31 Wie sich gezeigt hat, liegt die Annahme nahe, daß Teile der AtridenMythologie die Nacherzählung und grauenvolle Übersteigerung von Opferritualen sind;32 in ihnen konkretisiert sich also der funktionale Zusammenhang des Mythos als Denkform mit rituellen Kulthandlungen. Anders als in den Mythen von Tantalos oder Atreus und Thyestes liegt dieser Zusammenhang im Iphigenie-Mythos offen zutage, und er bleibt in den antiken tragischen Bearbeitungen des Iphigenie-Mythos greifbar; auf sie trifft zweifellos Burkerts These zu, daß bei den Griechen das Opferritual der Schnittpunkt von heroischem Mythos und Tragödie ist.33 Doch auch

29 30 31 32 33

Vgl. Burkert: Wilder Ursprung, S. 28f. S. dazu unten, S. 125f. Die Genealogie ist von Emil Angehrn (Die Überwindung des Chaos, S. 26) als »wesentlichste Form und zentrale Funktion des Mythos« qualifiziert worden. Vgl. die oben, Anm. 25, nachgewiesenen Bemerkungen von Burkert; ferner Burkert: Wilder Ursprung, S. 28f. S. dazu oben, Kap. 3.2.1, S. 83. Vgl. – an Burkert anknüpfend – auch Neumann: Iphigenia, S. 101f.

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in den modernen Iphigenie-Tragödien – es sei an die dritte Hauptthese der vorliegenden Untersuchung erinnert – macht sich jener Zusammenhang noch geltend, obwohl der Iphigenie-Mythos, in dem er sich konkretisiert, keine kultisch-religiöse Bedeutung mehr hat. Was auch die Modernen an ihm noch fasziniert, ist offenbar die Macht des Opfers, von der er erzählt – eine Faszination, die nicht historisch, sondern kulturanthropologisch und phänomenologisch zu verstehen ist: Faszinierend ist offenbar vor allem die Handlungsfunktion des mythischen Denkens, deren Spuren sich im Iphigenie-Mythos erhalten haben.34 Als Gattung ist die Tragödie indes, wie bereits deutlich wurde, von Anfang an auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Mythos und seiner funktionalen Beziehung zu rituellen Kulthandlungen. In der Parodos von Euripides’ Iphigeneia im Lande der Taurer evozieren der Chor und Iphigenie zwar den (daímon, V. 202–203, vgl. V. 156), der für das Unglück der Atriden verantwortlich sei,35 doch der Anlaß für diese Klage ist ein Traum Iphigeneias, den sie irrtümlich als Nachricht von Orestes’ Tod deutet; die mythische Deutung des Unglücks wird folglich selbst unglaubwürdig. Und im ersten Epeisodion äußert Iphigeneia, wie mehrfach erwähnt, die Überzeugung, daß Mythen, die grausame Opferrituale legitimieren, nur das Produkt eines Aberglaubens sind, der in der Mentalität der Barbaren, nicht der Griechen, verwurzelt ist.36 Und wenngleich in Iphigeneia in Aulis der Opferbefehl am Ende von der Protagonistin beglaubigt wird, so erweist er sich doch zuvor, wie oben dargelegt, als Vorwand für einen Tötungsakt, der die Funktion hat, die Kriegsgemeinschaft der in Aulis versammelten Griechen zu retten. Ähnlich uneindeutig ist bei Goethe nicht nur Iphigenies genealogischer Bericht, sondern auch dessen Fortsetzung durch Pylades: Er glaubt einerseits, daß Agamemnons »traurig Ende« (V. 872) dem Heimkehrenden von einem »feindlich aufgebrachte[n] Gott bereitet« (V. 874) wurde, einem daímon

34

35

36

S. dazu oben, Kap. 1, S. 19; Kap. 3.1, S. 73f. Es sei angemerkt, daß die Doppelinszenierung von Euripides’ ›aulischer‹ Iphigeneia und Goethes Iphigenie am Hamburger Thalia-Theater (2007) u.a. diese Handlungsfunktion akzentuiert; vgl. dazu die Beiträge in dem von Ortrud Gutjahr herausgegebenen Band: Iphigenie von Euripides / Goethe. Krieg und Trauma in Nicolas Stemanns Doppelinszenierung am Thalia Theater Hamburg. Würzburg 2008. S. dazu auch die Stellen in Aischylos’ Agamemnon, an denen der Chor und Klytaimestra ausführlich den bösen Geist der Atriden beschwören, den daímon und alástor (vgl. V. 769, 1342, 1468, 1476, 1483, 1501, 1569, 1660), der die Familie von Generation zu Generation zum Mord antreibe. S. oben, Kap. 2.1, S. 36; 3.2.1, S. 85.

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also, und andererseits, daß »einer alten Rache tief Gefühl«, also éthos, das Motiv für die Tat des Gattenmords war, so wie Orest »Die brennende Begier, des Königs Tod / Zu rächen« (V. 1016–1017) als Motiv für die Tat des Muttermords angibt, diese aber andererseits als Ausfluß eines von den Göttern verhängten Zwangs versteht.37 Der kulturelle, für die Tragödie als Gattung konstitutive Konflikt der heteronomen Denk- und Wertordnungen, der sich in dieser Verschränkung von mythoskonformem und nichtmythischem, von theozentrischem und anthropozentrischem Verständnis der Gewalt manifestiert – es sei an Vernants Ausführungen zu der für die Tragödie kennzeichnenden Ambiguität erinnert38 –, scheint indes bei Goethe zunächst entschärft, da Iphigenie, die fast Geopferte und nun nicht wiederum Opfernde, mit ihrem aufklärerischen Wirken in Tauris zur Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern bereits beigetragen hat; die Suspendierung der taurischen Menschenopfer-Praxis signalisiert offenbar auch das Ende der Greueltaten ihrer eigenen Familie. Doch der kulturelle Konflikt bricht im Dialog mit Thoas wieder auf, weil Iphigenies genealogischer Bericht das Ziel, den König von der Werbung um ihre Hand abzuschrecken, verfehlt (von den Gründen dafür wird noch die Rede sein) und weil sie dennoch auf ihrer Weigerung, seinen Antrag anzunehmen, besteht, indem sie sich auf ihr Priesteramt und auf ihre griechische Abstammung beruft: Hat nicht die Göttin, die mich rettete, Allein das Recht auf mein geweihtes Leben? Sie hat für mich den Schutzort ausgesucht, Und sie bewahrt mich einem Vater, den Sie durch den Schein genug gestraft, vielleicht Zur schönsten Freude seines Alters hier. Vielleicht ist mir die frohe Rückkehr nah [...].

(V. 438–443)

Iphigenies Beschwörung ihrer priesterlichen Unnahbarkeit (der in den folgenden Aufzügen das leitmotivische Attribut der ›Reinheit‹ entspricht) und ihr Argument, die Göttin wolle sie mit ihrer Familie, insbesondere mit dem Vater, wiedervereinigen – ein Argument, das hier wie schon im Eingangsmonolog mit dramatischer Ironie entkräftet wird –, zielen also auf die Wiederherstellung der wertenden und raumbezogenen Opposition zwischen Griechen und Barbaren. Ihr vorangehender Bericht von den

37 38

S. dazu unten, S. 128. S. oben, Kap. 3.1, S. 71.

118

barbarischen Greueltaten ihrer Familie hat jedoch die Berechtigung dieser Opposition radikal in Frage gestellt. Und ihre pädagogische Arbeit als Kulturbringerin zielte ja gerade darauf, die alte Opposition durch die Bildung der Barbaren zur Humanität zu überwinden. Daß der genealogische Bericht kein Argument für die Wiederherstellung jener wertenden Opposition, sondern für deren fortschreitende Überwindung durch Aufklärung und Erziehung ist, bleibt Thoas nicht verborgen: »Sage nun« – so unterbricht er an einer Stelle Iphigenies Bericht von den Greueltaten ihrer Familie – »durch welch ein Wunder / Von diesem wilden Stamme Du entsprangst« (V. 398–399). Wildheit ist, der historischen Semantik des Barbarischen entsprechend, in Thoas’ eigenem Sprachgebrauch wie in dem der Griechen (vgl. V. 784) üblicherweise ein Attribut des Barbaren, als den er später ironisch sich selbst bezeichnet,39 doch hier ist sie ein Attribut der Griechen. In Thoas’ Frage nach dem »Wunder« steckt also Bewunderung dafür, daß Iphigenie mit ihrem segensreichen Wirken den ›alten Brauch‹ barbarisch-wilder Gewalt nicht nur im fremden Taurerland, sondern auch im Lebensraum ihrer Familie außer Kraft gesetzt hat. Das erzieherische Wirken galt offenbar nicht nur der fremden, sondern auch der eigenen Sphäre; wie Thoas’ Entscheidung, Iphigenie zu verschonen, ist es spontan. Dementsprechend bedeutet in Thoas’ Frage das Verb entspringen nicht nur das Hervorgehen aus dem Stamm der Atriden, sondern auch ein befreiendes Entkommen. Doch in dem Maße, in dem Iphigenie den Bericht einsetzt, um die angestammte eigene und die fremde taurische Sphäre wieder voneinander zu trennen, hört sie, wie er ihr vorhält, »nicht die Stimme guten Rats / Und der Vernunft« (V. 464f.), bleibt sie taub für »Der Überredung goldne Zunge« (V. 474), mit anderen Worten: verrät sie ihr spontanes erzieherisches Wirken und kehrt zur ihrem »wilden Stamme« zurück. Deshalb spricht er ihr nun, als sie behauptet, das Motiv für ihre Weigerung sei nicht Eigeninteresse, sondern der Wille der Götter, das Recht auf solche priesterliche Besserwisserei ab, indem er erneut das Attribut der Wildheit ins Spiel bringt und dabei die asymmetrische Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen ironisiert: Dein heilig Amt und dein geerbtes Recht An Jovis Tisch bringt dich den Göttern näher, Als einen erdgebornen Wilden. [...] (V. 499–501)

39

Vgl. V. 1937. S. dazu unten, S. 155.

119

Das Attribut ›erdgeboren‹ läßt an die Monstren denken, die zu den Kindern der Gaia zählten; es akzentuiert also das Unmenschliche des Wilden und erinnert daran, daß die Griechen den Barbaren sogar das Menschsein absprachen.40 Thoas’ Ironie zielt auf die Entlarvung dieser Arroganz und die Überbrückung des angeblichen Abstands zwischen Griechen und Barbaren. Was den Abstand nun aber überbrückt, ist nicht die Bildung zur ›milden‹ Humanität im Namen der Vernunft, sondern im Gegenteil die unmenschliche Wildheit, die, wie sich im Lichte von Iphigenies genealogischer Erzählung zeigt, den Griechen wie den Taurern gemeinsam und das Substrat ihrer Kulturen ist. Dem König werden folglich Iphigenies Weigerung und ihre genealogische Erzählung zum Beweis der Richtigkeit des barbarischen Schreckbilds der Götter. Deshalb glaubt er nun keine andere Wahl zu haben, als die Menschenopfer wieder einzuführen. Kann die Kluft zwischen Menschen und Göttern nicht vernünftig überbrückt, kann der soziale Zusammenhalt nicht mit humanen Mitteln gesichert, kann die Gewalt, die wegen der ungesicherten Thronnachfolge in Tauris auszubrechen droht, nicht durch die Ehe der Griechin mit dem Barbaren verhindert werden, bleibt als Ausweg nur noch der alte Opferdienst: Du hattest mir die Sinnen eingewiegt, Das Murren meines Volks vernahm ich nicht; Nun rufen sie die Schuld von meines Sohnes Frühzeit’gem Tode lauter über mich. Um deinetwillen halt’ ich länger nicht Die Menge, die das Opfer dringend fordert.

(V. 516–521)

Thoas bekräftig hier, daß sein Volk in dem schweren, die soziale Ordnung bedrohenden Verlust, den der Tod des Königssohnes bedeutet, eine von den Göttern verhängte Strafe erblickt, die nun durch ein Opfer abzugelten sei. Seine Worte legen durchaus die Dechiffrierung dieser mythischen Sichtweise nahe: Wie schon in Aulis so soll nun auch in Tauris das Menschenopfer als Gewalt, deren legitimierende Instanz in Wahrheit das ›Volk‹ und nur scheinbar die Göttin ist, die soziale Ordnung dadurch stärken oder wiederherstellen, daß es die ›Menge‹, zu der das ›Volk‹ zu werden droht, von einer die Ordnung gefährdenden Gewaltbereitschaft

40

S. oben, Kap. 2.1, S. 31.

120

befreit.41 Iphigenies vernünftiges Gegenargument knüpft nur teilweise an diese Dechiffrierung an: Um meinetwillen hab’ ich’s nie begehrt. Der mißversteht die Himmlischen, der sie Blutgierig wähnt; er dichtet ihnen nur Die eignen grausamen Begierden an. Entzog die Göttin mich nicht selbst dem Priester? Ihr war mein Dienst willkommner, als mein Tod.

(V. 522–527)

Der Begriff des abergläubischen ›Andichtens‹ ist eine Übersetzung des Begriffs des ›Übertragens‹ ( , anaphérein), den die Euripideische Iphigeneia in dem bereits mehrfach angeführten religionskritischen Passus verwendet, um die Form barbarisch-abergläubischer Projektion zu kennzeichnen.42 Während aber Iphigeneia die Barbaren keineswegs eines Besseren belehren will, deutet Iphigenie bei Goethe das ›Mißverstehen‹ des Göttlichen, d.h. den Glauben an die heilende Kraft des Menschenopfers, als zu behebenden Mangel an Bildung, und sie tut dies gleichsam performativ, im Gespräch mit Thoas, um diesen zu überzeugen (ein bei Euripides, wie gesagt, undenkbares Anliegen; Iphigeneias Religionskritik ist monologisch). Und während bei Euripides die rationalistische Dechiffrierung jede positive Beziehung zum mythischen Denken auszuschließen scheint, beruft sich Iphigenie bei Goethe wiederum auf ihre Errettung durch die Göttin als den Ursprung ihres neuen, humanen Götterbildes. Ihre Argumentation führt also zurück in mythisches Ursprungsdenken, doch erscheint der Ursprung jetzt nicht mehr wie in ihrem genealogischen Bericht als dunkles, von den Göttern verhängtes und den Kreislauf der Gewalt erzwingendes ›Geschick‹, sondern als ein von den Göttern gewährtes Fundament, das die vernünftige Emanzipation aller Menschen vom ›Geschick‹ ermöglicht.43 Hier zeichnet sich jene ›neue Mythologie‹ ab, deren Programm später die Frühromantik formulierte.44 Thoas jedoch argumentiert nun im Namen des ›Geschicks‹

41 42 43 44

Vgl. die oben, Kap. 3.2.1, S. 81f., angeführten Überlegungen von Girard. S. oben, Kap. 2.1, S. 36, und 3.2.1, S. 85. Zur Ambivalenz des mythischen Ursprungsdenkens vgl. Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 77ff., 80ff., u. öfter. Im sogenannten ›Ältesten Systemprogramm‹ heißt es: »So müssen endl. aufgeklärte u. Unaufgeklärte sich d. Hand reichen, die Myth. muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig, u. d. Phil. muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnl. zu machen« (Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Hrsg. v. Manfred Frank und Gerhard Kurz. Frankfurt/M. 1975, S. 112).

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– also auch im Sinne von Teilen des genealogischen Berichts – gegen die Vernunft und ihre mythologische Begründung. Hat er zunächst noch unter Berufung auf »die Stimme guten Rats / Und der Vernunft« (V. 464–465) versucht, Iphigenie von der Berechtigung seines Antrags zu überzeugen, so verwirft er jetzt die Vernunft als den Maßstab, dem sich Mythos und Ritual angleichen sollen: Es ziemt sich nicht für uns, den heiligen Gebrauch mit leicht beweglicher Vernunft Nach unserm Sinn zu deuten und zu lenken.

(V. 528–530)45

Daß Thoas die Vernunft im Unterschied zur gottgewollten, festen Tradition nun als »leicht beweglich« ansieht, ist Ausdruck seiner Überzeugung, daß die Anwältin der Vernunft mit der Verweigerung der Vernunftehe die Vernunft selbst kompromittiert und sich dem »Triebe« hingegeben hat, der sie »zügellos / Ergreift und dahin oder dorthin reißt« (V. 466–467). Darum ermahnt er nun sich und Iphigenie, den suspendierten »heiligen Gebrauch« zu respektieren, und befiehlt ihr gleich darauf, zwei gefangene »Fremde« (V. 532) – Orest und Pylades, wie sich später herausstellt – zu Opfern zu weihen. Daß es »Fremde« sind und nicht Angehörige des eigenen Volks oder gar der eigenen Familie, ist ein wichtiges Detail: Wie Calchas bei Racine hat Thoas bei Goethe verstanden, daß das grausame Ritual seine Aufgabe, das Leben der Gemeinschaft durch die geregelte Tötung von Leben zu bestätigen, nur dann erfüllen kann, wenn die Person, die geopfert wird, der Gemeinschaft nicht so nahe steht, daß ihr Tod gerächt werden müßte.46 Die Verwandtenmorde der Atriden erfüllen diese entscheidende Bedingung nicht, sie signalisieren im Gegenteil die Verletzung der Grenze zwischen ›reinigender‹ und ›unreiner‹ Gewalt und bilden daher einen Kreis-

45

46

Selbstverständlich lassen sich diese Worte auch im Sinne von Rasch und Borchmeyer (s. oben, Anm. 12) als Karikatur der Vernunftfeindlichkeit christlicher Orthodoxie verstehen (intertextuell gesehen, erinnern sie insbesondere an die Worte des Patriarchen in Lessings Nathan der Weise, IV/2, 98ff.), aber sie lassen sich nicht auf diesen historischen Kontext reduzieren. Im Zuge einer solchen Reduktion würde die historisch-tiefensemantische Funktion, die der klassischen Mythologie in Goethes Drama eignet, verkannt: Indem der Barbar Thoas hier wie ein orthodoxer christlicher Dogmatiker spricht, wird deutlich, wie sehr im christlichen Dogmatismus der ›barbarische‹ mythische Glaube an die heilende Kraft des Menschenopfers weiterwirkt. Zur klassischen Mythologie s. auch oben, Kap. 1, S. 11f., 2.1, S. 26f. u. öfter, und 2.3. S. oben, Kap. 3.2.2, S. 91f.

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lauf von Gewalttaten, der dem Gesetz der Vergeltung gehorcht47 (Iphigenie spricht später treffend von einer »ew’gen Wechselwut« [V. 973], ein Ausdruck, der an die Evokation jenes Kreislaufs bei Euripides erinnert).48 In ihrem gebetsartigen Appell an die Göttin, der auf das Streitgespräch folgt, gewinnt Iphigenie dann aber einen Standpunkt, der es ihr erlaubt, die mythische Differenzierung zwischen unreiner und reinigender Gewalt als Illusion zu durchschauen: O enthalte vom Blut meine Hände! Nimmer bringt es Segen und Ruhe; Und die Gestalt des zufällig Ermordeten Wird auf des traurig-unwilligen Mörders Böse Stunden lauern – und schrecken.

(V. 549–554)

Indem Iphigenie das Opfer als den »zufällig Ermordeten« und den Opfernden als »Mörder« bezeichnet, trägt sie in ähnlicher Weise wie die Euripideische Klytaimestra zur tragischen ›Dechiffrierung‹ von Mythos und Ritual bei: Ihre Worte machen die Differenzen, die von Mythos und Ritual gesetzt werden, rückgängig, indem sie die Kontiguität von willkürlich-illegitimer und ritueller Gewalt aufdecken.49 Nach der Analyse des ersten der beiden großen Streitgespräche zwischen Iphigenie und Thoas bleibt festzuhalten: Die humanistisch verstandene Antithese des ›Griechisch‹-Vernünftigen und des ›Barbarisch‹-Wilden zählt zu den semantischen Isotopien der Repliken beider Dialogpartner.50 Die Funktion und der Stellenwert dieser Antithese sind jedoch keineswegs eindeutig. Iphigenies genealogische Erzählung führt auf die Einsicht, daß im Raum des Griechischen nicht nur die Vernunft, sondern auch die Barbarei beheimatet ist; die antithetisch getrennten Räume erweisen sich als ein kontrapunktisches Ensemble. Iphigenie erneuert dennoch die Antithese, indem sie unter Berufung auf ihren Heimkehrwunsch und ihr Priesteramt den Heiratsantrag des Barbaren Thoas ablehnt. Daher erneuert auch dieser die Antithese, indem er die barbarische Menschenopfer-Praxis wiedereinzuführen befiehlt. Anstatt den in der Kontrapunktik angelegten (und de facto schon bewerkstelligten) kulturellen Fortschritt durch Verständigung zu bejahen, leugnet er den Fortschritt, indem er die Differenz

47 48 49 50

Vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 63ff., bes. S. 77f. Vgl. die Worte des Chors in Iphigeneia im Lande der Taurer, V. 195–202. S. oben, Kap. 3.2.1, S. 78, 82. Zum Begriff der semantischen Isotopie und seiner Verwendung in der Dialoganalyse vgl. Pfister: Das Drama, S. 204ff.

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zwischen gegenwärtiger Vernunft und vergangener Barbarei – eine neue, temporale Antithese, zu deren Genese er mit der Verschonung Iphigenies selbst beigetragen hat – rückgängig macht. Im Sinne des Fortschrittsgedankens müßte die neue, temporale Antithese die alte, räumlich-topographische ablösen. Doch Iphigenie selbst negiert die Differenz zwischen vergangener Barbarei und gegenwärtiger Vernunft, indem sie mit ihrem Bericht von der Barbarei ihrer eigenen Familie die Absicht verfolgt, Thoas, den schon für ›griechische‹ Vernunft empfänglichen Barbaren, dazu zu bringen, seinen Heiratsantrag zurückzuziehen und sie nach Griechenland heimkehren zu lassen. Derart argumentiert sie mit dem Hinweis auf die Barbarei der Griechen für die Wiederherstellung der Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen. Auch in diesem Widerspruch manifestiert sich die Dynamik der Verstrickung und Verkehrung, die in der Funktion der Ausschließung, die dem Begriff des Barbarischen eignet, enthalten ist.51 Die Kontrapunktik des Dialogs, zu der Thoas’ Ironie, die dramatische Ironie und der Medeia-Subtext des Eingangsmonologs beitragen, dient der Hervorhebung dieses Strukturmerkmals, und sie verschärft somit die Spannung, die sich aus der Einführung des Themas der Bildung der Barbaren zur ›griechischen‹ Humanität ergibt. Die Fragen, die sich nun, am Ende des Ersten Aufzugs, stellen, lauten: Wird die Bildung zur Humanität jene fatale Dynamik der gewaltsamen Ausschließung überwinden oder im Gegenteil von ihr eingeholt werden? Wird es möglich sein, éthos und daímon in einer neuen Mythologie der Vernunft miteinander zu versöhnen, so die tragische Ambiguität ihres Neben- und Gegeneinanders aufzuheben und folglich auch den Mythos auf Dauer vom grausamen Ritual zu lösen, oder wird die neue Mythologie die tragische Ambiguität reproduzieren? Die Beantwortung dieser Fragen hängt vom Ausgang des Streits zwischen Iphigenie und Thoas, also von der Lösung des Problems von Iphigenies Heimkehrwunsch, aber auch von der Lösung des Problems der Heilung des Orest ab. Denn die Heilung des Orest und der Streit zwischen Iphigenie und Thoas sind beigeordnete und zugleich eng miteinander verknüpfte, interferierende Handlungssequenzen,52 wie schon daraus erhellt, daß die Heilung von der Wiedereinführung der taurischen Menschenopfer-Praxis verhindert zu werden droht.

51 52

S. oben, Kap. 2.2, S. 48f., 2.1, S. 29ff.; Kap. 1, S. 3ff., 9, u. öfter. Zur Interferenz als Technik der Verknüpfung beigeordneter Handlungssequenzen vgl. Pfister: Das Drama, S. 285ff.

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4.2. Krankheit und Heilung des Orest (Zweiter und Dritter Aufzug) 4.2.1. Mythische contra nichtmythische Deutung der Krankheit Am Anfang des Zweiten Aufzugs von Goethes Iphigenie sieht sich Orest genötigt, das Orakel des Apoll umzudeuten. Dieses hat ihm, dem Muttermörder, Befreiung von der Verfolgung durch die Erinnyen unter der Bedingung versprochen, daß er die Statue der taurischen Diana-Artemis raubt und nach Attika bringt. Doch in Tauris sind er und sein Begleiter Pylades gefangengenommen worden, und die Diana-Priesterin, deren Identität sie noch nicht kennen, hat den Auftrag, die beiden Fremden der Göttin zu opfern, so wie es der taurische Diana-Kult verlangt. Goethe übernimmt diese Exposition der Orest-Handlung von Euripides. Doch während Orestes bei dem griechischen Tragiker angesichts seiner bevorstehenden Opferung voller Empörung Apollon der Lüge bezichtigt – ( »Doch Phoibos log mich an, der ›Seher‹« [V. 711], Übs. Ebener) –, deutet Goethes Orest diese Opferung resigniert als den tieferen Sinn des Orakels: »Und nun erfüllet sich’s, daß alle Not / Mit meinem Leben völlig enden soll« (V. 569–570). Worin aber besteht die Not? Für Orest besteht sie in der Verfolgung durch die Erinnyen und im Bewußtsein, daß er damals von den Göttern zu eben der Greueltat des Muttermords, für die ihn die Erinnyen nun, indem sie ihn verfolgen, bestrafen, gezwungen wurde – eine Paradoxie, ja Aporie, die er im folgenden immer wieder und in immer eindrücklicheren Bildern hervorkehrt. Alle Greueltaten seiner Familie erscheinen ihm dann als eine Kette von Menschenopfern, die von den olympischen Göttern erzwungen wurden, und die bevorstehende Opferung seiner selbst sieht er als das letzte Glied in dieser Kette. So fährt er nach den zitierten Versen fort: Wie leicht wird’s mir, dem eine Götterhand Das Herz zusammendrückt, den Sinn betäubt, Dem schönen Licht der Sonne zu entsagen. Und sollen Atreus Enkel in der Schlacht Ein siegbekröntes Ende nicht gewinnen; Soll ich wie meine Ahnen, wie mein Vater Als Opfertier im Jammertode bluten: So sei es! [...] (V. 571–578)

Auch in diesen Worten macht sich der funktionale Zusammenhang des Mythos mit dem Kultus geltend, insofern sie sich nicht auf Greueltaten, 125

die von Menschen zu verantworten wären, sondern auf Opferhandlungen zu beziehen scheinen.53 Mit der mythischen Weise, das Geschehene zu verstehen, konkurriert indes wiederum eine nichtmythische, anthropozentrische. Im Zweiten Aufzug ist es Pylades, der sie gegen die mythische geltend macht: Er sucht Orest den aufklärerischen Gedanken zu vermitteln, daß die Not ein innerer Zustand ist, eine seelische und geistige Verwirrung und Verkennung, die nicht auf die Präsenz göttlich-dämonischer Mächte, die von außen auf den Kranken einwirken, zurückzuführen ist, sondern im Gegenteil auf die mythische Sehweise selbst. Diese Mythoskritik führt von selbst auf den Gedanken, mit tatkräftigem Handeln die drohende Opferung abzuwenden – ein Handeln, zu dem Pylades den Freund unermüdlich ermutigt und ermahnt. Der Konflikt der Sehweisen kommt nun dadurch zustande, daß Orest auf der mythischen beharrt und in sie auch die Ermahnung zum Handeln rückübersetzt: Bin ich bestimmt, zu leben und zu handeln, So nehm’ ein Gott von meiner schweren Stirn Den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen, Mit Mutterblut besprengten Pfade fort Mich zu den Toten reißt. Er trockne gnädig Die Quelle, die, mir aus der Mutter Wunden Entgegen sprudelnd, ewig mich befleckt. (V. 749–755)

Darauf Pylades: Erwart’ es ruhiger! Du mehrst das Übel Und nimmst das Amt der Furien auf Dich.

(V. 756–757)

Orest macht sich hier einmal mehr die mythische Vorstellung zu eigen, das innere und äußere Leben des Menschen werde von göttlich-dämonischen Mächten bestimmt. Pylades sucht mit seiner Replik den Freund davon zu überzeugen, daß diese Vorstellung eine Projektion seines eigenen Bedürfnisses, sich für die Tat zu bestrafen, nach außen in fremde Mächte ist, denen er sich nun hilflos ausgeliefert fühlt, so daß er das »Übel« – ein anderes Wort für die »Not« – noch vergrößere.54

53 54

S. oben, S. 113f. Schon bei Euripides, im Bericht des Hirten von Orestes’ Wahnsinn (vgl. Iphigeneia im Lande der Taurer, V. 281–308), erweist sich die Verfolgung durch die Erinnyen als Projektion psychischer Vorgänge nach außen; Goethe knüpft daran an und zeigt, daß die Projektion auch ein Faktor der Heilung ist. Schiller verkennt diese Nähe zu Euripides, wenn er Goethes vermeintlich allzu mythenferne Dramaturgie von Orests ›Zustand‹ kritisiert (an Goethe, 22. Januar 1802.

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Der Versuch des heutigen Interpreten, Krankheit und Heilung des Orest zu verstehen, hat wiederum von diesem Konflikt der heteronomen Sehweisen im inneren Kommunikationssystem des Dramas auszugehen, anstatt vorschnell die mythische Sehweise auf die nichtmythische zu reduzieren.55 Denn die semantischen Spannungen, in denen sich der Konflikt äußert, werden, wie im folgenden zu zeigen ist, von den Personen letztlich nicht aufgelöst, obwohl die Dialoge darauf angelegt sind. Ein wichtiger Grund für die Unauflösbarkeit ist die Gattungstradition, in der Goethes Drama steht. Unauflösbare semantische Spannungen sind, wie gesagt, konstitutiv für die Gattung der griechischen Tragödie.56 Es ist also ein gattungsspezifisches Strukturmerkmal, das sich im Streit darüber, wie Orests Krankheit und mögliche Heilung zu verstehen sei, manifestiert. Indem Pylades seinen Freund vor der Projektion der inne-

55

56

In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Bd. 2, S. 390). Dieselbe Verkennung noch bei Hans Mayer: Das unglückliche Bewußtsein. Zur deutschen Literaturgeschichte von Lessing bis Heine. Frankfurt/M. 1986, S. 246ff. Daß Schillers Kontrastierung von Goethe und Euripides auf einem »Mißverständnis« beruht, betont hingegen Ulrich Port: Goethe und die Eumeniden. Vom Umgang mit mythologischen Fremdkörpern. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 49 (2005), S. 153–198, hier S. 159f. Raschs konsequente Reduktion der Auseinandersetzung mit dem Mythos, die in Goethes Drama erfolgt, auf die aufklärerische Religionskritik (s. oben, Anm. 12, 13, 45) ist auch insofern fragwürdig, als sie der Beziehung von Goethes Drama zur Gattung der antiken Tragödie nicht gerecht wird. Das zeigt sich insbesondere in Raschs Ausführungen zur Heilung des Orest (vgl. Rasch: Iphigenie, S. 116ff.): Dort kommt Rasch nämlich zu der Auffassung, daß Orest autonom handle, indem er das Amt der Furien auf sich nehme, um Buße zu tun; in seinem Leiden verwirkliche sich »die menschliche Autonomie, ohne daß sie ihm als Forderung so bewußt ist wie Iphigenie« (S. 119). Orest weist im Gegenteil, wie bereits deutlich wurde, die Zumutung autonomen Handelns von sich, weil er sein Handeln als fremdbestimmt erfährt; mythische und anthropozentrische Sehweise wechseln in seinem Denken und Handeln wie in dem aller drei Griechen ab, entsprechend dem für die Tragödie konstitutiven Strukturmerkmal der Ambiguität. – Zur Kritik an Raschs Autonomie-These vgl. auch Dieter Liewerscheidt: Selbsthelferin ohne Autonomie – Goethes Iphigenie. In: GoetheJahrbuch 114 (1997), S. 219–230. S. oben, Kap. 3.1. Auch bei Goethe werden dementsprechend, wie hier nur angedeutet sei, zentrale Begriffe mehrdeutig: Im Sprachgebrauch der Griechen kann ›Fluch‹ die auf den Atriden lastende Verfluchung durch die Götter meinen, also gleichbedeutend sein mit ›Geschick‹ (vgl. V. 717, 1358, 1694), oder aber den von den Atriden selbst zu verantwortenden Kreislauf der Gewalt; diese zweite Bedeutung hat das Wort z.B. in der Klage, in die Iphigenie ausbricht, als Orest ihr die Nachricht von der Ermordung Agamemnons mitteilt: »So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch / Mit vollen wilden Händen ausgesät!« (V. 968–969).

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ren Faktoren des ›Übels‹ nach außen warnt, gibt er zu verstehen, daß der Weg zur Heilung der Weg von der mythischen zur anthropozentrischen Sehweise ist. Ganz in diesem Sinne berichtet er später Iphigenie, »durch Erinnerung« werde Orests »Innerstes ergriffen und zerrüttet«, und dann falle ihn »Ein fieberhafter Wahnsinn« an, »Und seine schöne freie Seele wird / Den Furien zum Raube hingegeben« (V. 851–855). Sie wird es, wie zu betonen ist, aus der mythischen Perspektive, aus der Orest die eigene Seelenqual deutet. Orest scheint es schließlich aber doch zu gelingen, von der mythischen zur nichtmythischen Deutung der fürchterlichen Tat des Muttermords, an die er »durch Erinnerung« gefesselt wird, fortzuschreiten: Im Dritten Aufzug deutet er den Muttermord Iphigenie gegenüber, wie bereits erwähnt, als Befriedigung der »brennende[n] Begier, des Königs Tod / Zu rächen« (V. 1016–1017), ohne daß er hier – wie es ja bei Aischylos und Euripides durchaus der Fall ist57 – Apollon als göttliche Instanz, die den Muttermord befahl, oder, wie im Zweiten Aufzug, die »Götter« im allgemeinen ins Spiel bringt. Orest scheint nun also zu erkennen, daß nicht die Götter ihn zum Muttermord gezwungen haben, sondern daß der Zwang im durchaus anthropozentrisch zu verstehenden Kreislauf von menschlicher Gewalt und Gegengewalt gründete – in einem Rache- und Rivalitäts-Ethos also, das für die Genealogie seiner Familie, von der Iphigenie im Ersten Aufzug berichtet, kennzeichnend ist. Doch ebensowenig wie in Iphigenies genealogischem Bericht setzt sich in Orests Fortsetzung des Berichts die nichtmythische gegen die mythische Deutung letztlich durch (im inneren Kommunikationssystem wohl auch deshalb nicht, weil sie, psychologisch gesehen, nicht heilsamer wäre als die mythische, die ja mit der Zuweisung der Schuld an die Götter auch eine Entlastungsfunktion haben kann): Auf Orests anthropozentrische Deutung des Muttermords folgt seine Hadesvision, in der sich das mythische Verständnis seiner Situation einmal mehr machtvoll manifestiert, wie weiter unten noch zu erläutern ist. Der Konflikt der Deutungen und Sehweisen wird also – das sei hier vorweggenommen – letztlich nicht dialogisch, auf dem Wege der Verständigung zwischen den Personen, gelöst. Wie aber wird die Heilung oder vielmehr Orests eigene Verkündung seiner Heilung im Anschluß an die Hadesvision möglich, wenn sie nicht in einem Erkenntnisfortschritt vom mythischen zum anthropozentrischen Denken besteht? Um diese Frage zu beantworten, muß man die Ebene 57

Vgl. Aischylos: Choephoren, V. 269–305; Euripides: Iphigeneia im Lande der Taurer, V. 963–964.

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des inneren Kommunikationssystems erneut überschreiten und wiederum auf die Griechen-Barbaren-Antithese achten, jene das ganze Drama durchziehende ›asymmetrische Argumentationsstruktur‹ (Koselleck), die den gattungsspezifischen Konflikt zwischen nichtmythischer und anthropozentrischer Sehweise insofern maßgeblich mitbestimmt, als sie ein Faktor der anthropozentrischen ist. Pylades bringt die Antithese im Dialog mit Orest als Argument für die Aussicht auf Rettung und Heilung ins Spiel, indem er sie auf das Orakel des Apoll bezieht: [...] Diane sehnet sich Von diesem rauhen Ufer der Barbaren Und ihren blut’gen Menschenopfern weg. Wir waren zu der schönen Tat bestimmt, Uns wird sie auferlegt, und seltsam sind Wir an der Pforte schon gezwungen hier.

(V. 734–739)

In diesen Versen ist das Programm ausgesprochen, die Grenzverletzung rückgängig zu machen, von der die mythische Vorgeschichte im Lichte der Hellenen-Barbaren-Antithese Zeugnis ablegt. Für das Griechische steht hier die Göttin Diana, mit der indes am Ende die »Das Land der Griechen mit der Seele suchend[e]« (V. 12) Iphigenie gemeint ist; für das Barbarische steht die Menschenopfer-Praxis, die Orest indes, wie gesagt, in den Greueltaten seiner Vorfahren und in seinem Muttermord wiederentdeckt und die Iphigenie in Aulis am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat. Die Atriden-Mythologie verletzt also die sittlichen und kulturellen Grenzen, die durch die Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen festgelegt werden. Verwandtenmord und Menschenopfer gelten bei Goethe wie schon bei Euripides als zutiefst barbarische, dem griechischen Wesen im Grunde fremde Handlungen. So gesehen, ist die vermeintliche Heilung des Orest letztlich nicht psychologisch im Sinne einer individuellen ›psychischen Kur‹, wie sie in Goethes Singspiel Lila, einer Gelegenheitsdichtung, inszeniert wird,58 zu verstehen, und auch nicht im Sinne der Vermittlung eines Erkenntnisfortschritts vom Mythos zum anthropozentrischen Logos. Zu verstehen ist sie vielmehr begriffsgeschichtlich und diskursanalytisch als

58

Vgl. besonders die dritte, im Jahre 1788, während Goethes zweitem römischem Aufenthalt, also in zeitlicher Nähe zur Versfassung von Iphigenie auf Tauris, fertiggestellte Fassung (in: FA, I. Abt., Bd. 5, S. 835–856). Goethe selbst schreibt am 1. 10. 1818 an Karl Friedrich Graf von Brühl, das »Sujet« des Singspiels sei »eigentlich eine psychische Kur, wo man den Wahnsinn eintreten läßt, um den Wahnsinn zu heilen« (FA, I. Abt., Bd. 5, S. 937).

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Tendenz zur Verwirklichung der humanistisch umgedeuteten HellenenBarbaren-Antithese auf der Ebene der dramatischen Handlungssequenz: Orest wird in dem Maße geheilt, in dem es gelingt, die mythologische Geschichte im Sinne jener Antithese umzuschreiben oder ihr eine andere Richtung einzuschreiben, d.h. das Grausam-Inhumane, Abstoßende daran, allen voran die Menschenopfer, von denen sie erzählt, aus dem Raum des Griechischen (d.h. ›Humanen‹) auszuschließen und im Raum des Barbarischen (d.h. ›Inhumanen‹) zu verorten. Der gattungsspezifische Konflikt zwischen mythischer und anthropozentrischer Deutung der ›Not‹ des Orest, zwischen, mit Vernant zu reden, daímon und éthos, ist also auf den Konflikt zwischen der mythologischen Geschichte und der GriechenBarbaren-Antithese zu beziehen. Diese wurde, wie gesagt, erst von den griechischen Tragikern in die episch überlieferten Mythen projiziert.59 Ein kurzer Rückblick auf die einschlägigen Stellen der ›taurischen‹ Iphigeneia des Euripides möge dies noch einmal verdeutlichen, bevor der Dritte Aufzug von Goethes Drama im Hinblick auf jene These analysiert wird. 4.2.2. Euripides: Revision der Heilung des Orestes im Lichte der Hellenen-Barbaren-Antithese Bekanntlich revidiert Euripides mit seiner ›taurischen‹ Iphigeneia jene Version der Heilung des Orestes, die den Schluß von Aischylos’ Orestie bildet: Dort verlieren die Erinnyen den Prozeß, den sie vor dem Areopag gegen Orestes führen; Athene spricht den Muttermörder frei. Die tierhaft-dämonischen Erinnyen sind empört, werden dann aber von Athene versöhnt und in Eumeniden (»Wohl-Gesonnene«) verwandelt. Bei Euripides hingegen hat, wie Orestes im zweiten Epeisodion Iphigeneia berichtet, ein Teil der Rachegöttinnen den Urteilsspruch nicht akzeptiert (vgl. V. 970–975), und Apollon hat die endgültige Befreiung und Heilung des Orestes an die genannte Bedingung geknüpft (V. 976–979). Derart verbindet Euripides die Heilung des Orestes mit der Rückkehr der Iphigeneia nach Griechenland; offenbar als erster zieht er »die Verbindungslinie Aulis –Schwarzes Meer – Attika«,60 und indem er sie zieht, bringt er die ethnozentrische Antithese, genauer antithetische Topographie des Hellenischen und Barbarischen ins Spiel.

59 60

S. dazu oben, Kap. 2.1, S. 26f. Aretz: Opferung, S. 37; s. dazu oben, Kap. 3.2.1, S. 84f.

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Dieser Ethnozentrismus macht sich, wie oben dargelegt, in Iphigeneias rationalistischer Rückführung der taurischen Menschenopfer-Praxis auf die wahnhaften Projektionen und Übertragungen, die für die Mentalität der Barbaren kennzeichnend seien, geltend, und zugleich wird er dadurch in Frage gestellt, daß Iphigeneia obsessiv die Opferung ihrer selbst in Aulis evoziert: Die Griechen tun offenbar eben das, was sie andererseits als barbarisch von sich weisen. Nicht nur wird der Mythos am Maßstab der Hellenen-Barbaren-Antithese gemessen, sondern auch umgekehrt. Mit dieser Wechselseitigkeit stellen sich die semantischen Spannungen ein, die, wie gesagt, für die Tragödie als Gattung konstitutiv sind.61 Orestes’ Muttermord droht demnach ebenfalls die ethnozentrische Antithese zu entkräften, galt doch der Verwandtenmord als eine typisch barbarische Sitte. Als solche qualifiziert ihn z.B. Hermione in Euripides’ Andromache.62 Und in ihrem religionskritischen Monolog verwirft Iphigeneia den Mythos von Tantalos’, ihres Ahnherrn, Schlachtung des eigenen Sohnes als Verleumdung griechischen Wesens: [...] [...]. Den Schmaus des Tantalos auch halte ich für Lüge, wo sich an seines Sohnes Fleisch die Götter labten. (V. 386–388; Übs. Ebener)

Um so schockierender dann für sie die Nachricht von Orestes’ Greueltat;63 nicht minder schockierend ist sie sogar für Thoas, den Barbaren: Apollon! Dazu wäre ein Barbar kaum fähig!

(V. 1174; Übs. Ebener)

Die Ausführung von Orestes’ Vorschlag, Thoas zu ermorden mit dem Ziel, den Weg für die Flucht der drei Griechen freizumachen, wäre, wie Iphigeneia zu verstehen gibt, ein nicht minder barbarisches Verbrechen, nämlich das der Verletzung der Gastfreundschaft, die Thoas ihr ja gewährt hat (vgl. V. 1020–1024).

61 62

63

S. oben, Kap. 2.1, S. 38f.; 3.1, S. 71f. Vgl. Euripides: Andromache, V. 173–176: Das Barbarengeschlecht ( ) praktiziere den Inzest und den Verwandtenmord; kein Gesetz verbiete ihm das. Vgl. V. 924, wo Iphigeneia den Muttermord als schreckliche Tat wertet, aber (übles, verderbliauch V. 559, wo sie ihn mit dem Oxymoron ches Recht) bezeichnet.

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Im Lichte dieser unaufgelösten Widersprüche und Debatten zeigt sich, daß Griechenland und Barbarenland keine ihrem Wesen nach verschiedenen Kulturräume sind. Vielmehr sind sie, in den Worten von Edward Saids postkolonialer Kritik, einander überlappende Kulturräume (»overlapping territories«), also hybrid, und sie haben ineinander verschlungene Geschichten (»intertwined histories«).64 Die Heilung des Orestes ist deshalb bei Euripides nur als Entflechtung dieser Territorien und Geschichten denkbar – eine Entflechtung, die von der Hellenen-Barbaren-Antithese auferlegt wird. Auf der Ebene der dargestellten Geschichte vollzieht sie sich dank des Befehls, den die dea ex machina Athene dem König Thoas erteilt: Dem Orakel des Apollon entsprechend soll er die Griechen, die es ins Taurerland verschlagen hat, mit dem Standbild der Göttin Artemis heimkehren lassen. Und es sollen alle Griechen heimkehren, auch die den Chor bildenden griechischen Frauen, die im Taurerland als Tempelsklavinnen dienten (vgl. V. 1435–1445, 1467–1471). Die Heimkehr soll zugleich einen radikalen Neuanfang markieren, einen Bruch mit der mythischen Vorgeschichte, wie Iphigeneia im Zuge der Anagnorisis in Aussicht stellt, indem sie an ihren Bruder die Worte richtet:

[...] Dich will ich erlösen Aus deiner Not und das gestürzte Vaterhaus aufrichten, ohne Groll auf ihn, der mich getötet! Rein kann ich meine Hand von deinem Blute halten und damit retten das Geschlecht. [...] (V. 991–995, Übs. Ebener)

Wie prekär jedoch und forciert diese Heilung durch Heimkehr und Heimholung bei Euripides ist, trotz des glücklichen Ausgangs der Tragödie, führt das rettende Eingreifen der dea ex machina vor Augen. Als Handlung hat es zweifellos die Funktion, die Hellenen-Barbaren-Antithese zu mythisieren. Doch der an Orestes ergehende Auftrag, im griechischen Halai ein Ritual zu stiften, mit dem seine Opferung, die im barbarischen Taurerland hätte erfolgen müssen, symbolisch eingelöst werden soll, stellt, wie gesagt,65

64 65

Vgl. Said: Culture and Imperialism, Chapter One. S. oben, Kap. 3.2.1, S. 86f.

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die strikte Trennung der Territorien und Geschichten, die von der Antithese auferlegt wird, in Frage; die Verwirklichung der Ordnung, deren Programm die Antithese formuliert, ist offenbar nicht ohne ein Opferritual denkbar, das an die barbarische Menschenopfer-Praxis erinnert und sogar in sie umschlagen kann. 4.2.3. Heilung als Zwang zur Ausschließung des Barbarischen aus dem Griechischen Wie oben deutlich wurde, ist Goethes Orest der mythischen Deutung seiner Situation viel stärker verhaftet, als es Orestes bei Euripides ist. Im Lichte von Iphigeneias wie Iphigenies Versuch, die Mythen von Menschenopfer fordernden Göttern auf die Mentalität der Barbaren bzw. den barbarischen Mangel an Bildung zurückzuführen, zeigt sich, daß Orest an dieser Mentalität bzw. diesem Mangel erkrankt ist: Er ist der Mörder, der den eigenen Frevel auf die Gottheit überträgt (ihn ihr ›andichtet‹), indem er ihn als von dieser erzwungene Tat, d.i. tendenziell als Opfer, versteht, und indem er nun auch die versprochene Heilung von den Folgen dieser Tat mit seiner bevorstehenden Opferung durch die Diana-Priesterin identifiziert. Als er im Dritten Aufzug mit dem Bekenntnis, er sei Orest, die Anagnorisis einleitet, bringt er zwar die tendenziell mythoskritische Griechen-Barbaren-Antithese ins Spiel, doch übersetzt er sie wiederum in die mythische Sichtweise zurück, indem er sie mit dem Opfergedanken verbindet: Es stürze mein entseelter Leib vom Fels, Es rauche bis zum Meer’ hinab mein Blut Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren! Geht ihr [Iphigenie und Pylades, M.W.], daheim im schönen Griechenland’ Ein neues Leben freundlich anzufangen. (V. 1089–1093)

Orest schließt sich hier selbst aus dem Raum des Griechischen aus, als sei er dazu bestimmt, dem Heil der Griechen geopfert zu werden, so wie Iphigenie in Aulis dem angeblichen Heil der Griechen tatsächlich geopfert wurde. Gegen Orests Fixierung auf den mythischen Glauben an die heilende Kraft des Menschenopfers, einen Glauben, den, wie oben erwähnt, auch Goethes Protagonistin als Manifestation einer Übertragung, eines (nun im humanistischen Sinne) barbarischen ›Mißverstehens‹ (V. 523), wertet und bekämpft, vermag sie mit ihren Versuchen, den Bruder an sie zu erinnern, um ihn auf die Offenbarung ihrer wahren Identität vorzubereiten, nicht anzukommen, im Gegenteil: Ihre ihn bedrängenden rhetorischen Fragen 133

(vgl. V. 1139, 1144, 1159–1167) machen sie in seinen Augen zur Gesellin der »Erinnyen« (V. 1149), ja zur »Rachegöttin« (V. 1169), und als sie endlich ihren Namen ausruft, wehrt er sich – wiederum in frappierendem Gegensatz zu Orestes – gegen die schwesterliche Umarmung mit jener bedeutungsschweren Warnung, die eingangs bereits zur Sprache kam: Seine Krankheit sei so ansteckend wie das Gift von Medeas Brautgeschenken für Kreusa (V. 1174–1178). Auch in diesem Vergleich äußert sich Orests Krankheit als tiefe Verstrickung ins Barbarische. 66 Und gleich darauf äußert sie sich darin, daß er Iphigenie verdächtigt, in Wahrheit eine vom bacchantischen Rausch enthemmte »Schöne Nymphe« (V. 1201) zu sein, die ihn »rettend lieben« (V. 1206) wolle. Als Iphigenie endlich mit Erfolg an ihn appelliert, sie als die, die sie ist, zu ›erkennen‹ (V. 1212), verkehrt er ihren ermutigenden Hinweis auf den rettenden Umschwung der Situation – er, Orest, finde »in der Priesterin die Schwester« (V. 1222) – in die Bestätigung der Unwandelbarkeit des Atriden-»Geschick[s]« (V. 1227) und der Unabwendbarkeit seiner Opferung: Gut, Priesterin! ich folge zum Altar: Der Brudermord ist hergebrachte Sitte Des alten Stammes [...]. (V. 1228–1230)

Unverkennbar ist die Ambiguität, die sich hier mit der Gegenüberstellung von »Altar« und »Sitte« erneut einstellt: Was als vom daímon erzwungene Opferhandlung gilt, kann auch als vom éthos der Atriden erzwungener Mord verstanden werden. Und auch im folgenden scheint Orest die bevorstehende Tötung durch die eigene Schwester ansatzweise anthropozentrisch zu verstehen, nämlich als Manifestation des atridischen Rache-Ethos: Du [Iphigenie, M.W.] siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab! Mit solchen Blicken suchte Klytemnestra Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen; Doch sein geschwung’ner Arm traf ihre Brust. Die Mutter fiel! [...] (V. 1239–1243)

Da Iphigenies Blick dem Blick zu gleichen scheint, mit dem die Mutter den Sohn vergeblich vom Muttermord abzuhalten suchte, scheint die vermeintlich unabwendbare Ermordung des Bruders durch die Schwester dem 66

S. dazu oben, Kap. 1, S. 2f. Für die Deutung von Orests Krankheit als Verstrickung ins Barbarische spricht, intertextuell gesehen, auch, daß bei Guymond de la Touche (Iphigénie en Tauride, S. 11) Thoas, der Barbar, den rasenden, von den Furien besessenen Oreste als »barbare impie« bezeichnet.

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Muttermord äquivalent zu sein; sie würde die Symmetrie der Greueltaten wiederherstellen (die Wiederholung des Verbs schwingen in V. 1252 unterstreicht diese Symmetrie). So wie Orest den Vatermord mit dem Muttermord gerächt hat, würde Iphigenie den Muttermord mit dem Brudermord rächen. Wie stellenweise in Iphigenies genealogischem Bericht zeichnet sich auch hier ab, daß nicht göttlicher Zwang, sondern die Symmetrie von Gewalt und Gegengewalt, die tendenziell alle Unterschiede zwischen den Personen einebnet, deren Verhalten bestimmt. Doch schon in der zweiten Hälfte des zuletzt zitierten Verses markiert ein Gedankenstrich die Stelle, an der sich wiederum die mythische gegen die anthropozentrische Sichtweise, der Gedanke des vom daímon erzwungenen Opfers gegen die Einsicht in das éthos der Rache geltend macht: [...] – Tritt auf, unwill’ger Geist! Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien, Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bei, Dem letzten, gräßlichsten, das ihr bereitet! Nicht Haß und Rache schärfen ihren Dolch; Die liebevolle Schwester wird zur Tat Gezwungen. Weine nicht! Du hast nicht Schuld. Seit meinen ersten Jahren hab’ ich nichts Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester. Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht, Zerreiße diesen Busen, und eröffne Den Strömen die hier sieden einen Weg. Er sinkt in Ermattung. (V. 1243–1254)

Die Evokation der Furien und des mit ihnen verbündeten Geists der Mutter signalisiert, daß Orest hier die Szene der Anagnorisis in die Szene der vermeintlich unabwendbaren Opferung durch die eigene Schwester übersetzt und diese Opferung als die herbeigesehnte Katastrophe der mythisch verstandenen Greuelgeschichte seiner Familie erlebt. Folgt man Cyrus Hamlin, dann findet die erste Phase der Heilung hier dennoch oder gerade deshalb statt, und zwar gleichsam mythosimmanent. Indem Orest die Anagnorisis wirklich als Opferung durch die eigene Schwester erlebe, meint Hamlin, werde die Opferung zum inneren Vorgang, durch den wie in einem Initiationsritual Tod und Neugeburt miteinander verschränkt seien: The scene of recognition between Orest and his sister reenacts at a symbolic level what must be regarded as the original function of human sacrifice as an integral component of the ritual of birth to which the powers of the goddess Artemis were dedicated. The death of the victim assures the life of the newborn, but in this case appropriately the victim and the newborn are one and the same.

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Orest’s cure is achieved through a process of psychological transformation that constitutes for his mind a genuine experience of death and rebirth, a descent into the underworld, a reconciliation with his dead forebears, and finally a return to his conscious self.67

Hamlins Deutung ist Thomas Manns Programm der Verbindung von Mythos und Psychologie verpflichtet und zugleich mythos- und intertextualitätstheoretisch fundiert.68 Sie sieht jedoch wie die meisten Deutungen der Szene davon ab, daß in Orests nun folgender Hadesvision, der, wie Hamlin meint, zweiten Phase der Heilung, zwar die Eltern (Agamemnon und Klytemnestra) und Großvater und Großonkel (Atreus und Thyest) als miteinander versöhnte Paare auftreten, der Stammvater Tantalus mit den Göttern aber nach wie vor nicht versöhnt ist: Weh mir! es haben die Übermächt’gen Der Heldenbrust grausame Qualen Mit ehrnen Ketten fest aufgeschmiedet.

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(V. 1307–1309)69

Cyrus Hamlin: »Myth and Psychology«: The Curing of Orest in Goethe’s Iphigenie auf Tauris. In: Goethe Yearbook 12 (2004), S. 59–80, Zitat S. 78. In eine ähnliche Richtung weist bereits die fundierte, zugleich psychoanalytisch und dramentheoretisch orientierte Deutung von Bernhard Greiner: Weibliche Identität und ihre Medien: Zwei Entwürfe Goethes (Iphigenie auf Tauris, Bekenntnisse einer Schönen Seele). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 33–56. Die Heilung des Orest wird nach Greiner durch die »theatralische Doppelung« (S. 39) Iphigenies geleistet: Iphigenie erscheine Orest als die wiedergekehrte Klytemnestra, die als opfernde Priesterin den Muttermord räche; gleichzeitig sei Iphigenie aber »als helfende, Halt gebende Schwester gegenwärtig« (ebd.). Die Lösung des Fluchs geschehe also »im Medium von Theater, indem Orest Iphigenie eine zutiefst ambivalente Identität als eine theatrale zuschreibt« (ebd.), und zugleich stelle sich die psychoanalytische Situation von Übertragung und Gegenübertragung ein. Zur Diskussion über die Heilung des Orest in der Literatur zu Goethes Drama vgl. auch Port: Goethe und die Eumeniden, S. 170, Anm. 54. Hamlin weist insbesondere nach, daß zu den antiken Subtexten von Goethes Fassung der Anagnorisis-Szene auch zahlreiche Passus von Aischylos’ Choephoren zählen (vgl. Hamlin: »Myth and Psychology«, S. 70ff.), und er führt die kultische Verbindlichkeit und Heilkraft von Orests Opfer-Erlebnis u.a. auf die kultische Verehrung von Artemis als Geburtsgöttin zurück (vgl. S. 76ff.). Hamlin (»Myth and Psychology«, S. 71f.) stellt zwar fest, daß in dieser Vision der Stammvater Tantalus noch leidet, spricht dann aber dennoch verallgemeinernd von der Lösung des Fluchs in Orests Vision, der wegen dieser Lösung eine Heilkraft innewohne; ähnlich schon Rasch: Iphigenie, S. 124f., und Jochen Schmidt: Hölderlins Übersetzung von Iphigeniens Parzenlied in Hyperions Schicksalslied. In: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Hrsg. v. Ulrich Stadler. Stuttgart / Weimar 1996, S. 347–353, hier S. 352. Diese Ausklammerung des Leidens von Tantalus aus der Deutung von

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Das humanistische (in der Sprache des Dramas ›griechische‹) Ethos der Versöhnung hat in der Hadesvision zwar das (aus der Sicht des Humanismus ›wilde‹ und ›barbarische‹) Rache-Ethos abgelöst, aber es scheitert hier am Widerstand der mythischen Geschichte; diese paßt sich ihm nicht an. Orest verfällt wieder der vorhumanistischen mythischen Deutung seiner eigenen ›Not‹, die sich an dieser Stelle in der Qual des Tantalus spiegelt. Und gleich darauf, zu Beginn des Dritten Auftritts, erreicht seine, wie Iphigenie es nennt, Raserei in der »Finsternis des Wahnsinns« (V. 1326) erst ihren Höhepunkt: Er wähnt nun nicht nur sich selbst, sondern auch Iphigenie und Pylades im Hades. Das ist eine Verkennung, die wie die Deutung der eigenen Not und der des Tantalus ganz dem ›barbarischen‹ Denkzwang zur Projektion und Übertragung gehorcht (es sei wiederum an Iphigeneias und Iphigenies Mythoskritik erinnert). Daß Orest gleich darauf, und, wie es scheint, endgültig, wieder zur Besinnung kommt, kann also nicht, wie Hamlin meint, als dritte, abschließende Phase des Heilungsprozesses verstanden werden: »[...] the act of coming to himself again in consciousness, like a rebirth or even a resurrection of the spirit, is his cure.«70 Orests hymnische Evokation seiner Heilung erfolgt vielmehr, figurenpsychologisch gesehen, gänzlich unvermittelt: Laß mich zum erstenmal mit freiem Herzen In deinen Armen reine Freude haben! Ihr Götter, die mit flammender Gewalt Ihr schwere Wolken aufzuzehren wandelt, Und gnädig-ernst den lang’ erflehten Regen Mit Donnerstimmen und mit Windes-Brausen In wilden Strömen auf die Erde schüttet; Doch bald der Menschen grausendes Erwarten In Segen auflös’t und das bange Staunen In Freudeblick und lauten Dank verwandelt, Wenn in den Tropfen frischerquickter Blätter Die neue Sonne tausendfach sich spiegelt, Und Iris freundlich bunt mit leichter Hand Den grauen Flor der letzten Wolken trennt;

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Orests Vision ist indes nicht zulässig; sie eliminiert die tragische Bedeutung, die das Scheitern des Humanismus am Mythos hat. Vgl. dazu auch Port: Goethe und die Eumeniden, S. 171ff. Port legt dar, daß die Eumeniden sich bei Goethe anders als bei Aischylos als eine Macht erweisen, die letztlich nicht versöhnt werden kann; diese Macht trage wesentlich zur Fremdheit des Mythischen bei und bedrohe die Autonomie des Subjekts. Hamlin: »Myth and Psychology«, S. 79.

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O laßt mich auch an meiner Schwester Armen, An meines Freundes Brust, was ihr mir gönnt Mit vollem Dank genießen und behalten. Es löset sich der Fluch, mir sagt’s das Herz. Die Eumeniden ziehn, ich höre sie, Zum Tartarus und schlagen hinter sich Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu. Die Erde dampft erquickenden Geruch Und ladet mich auf ihren Flächen ein, Nach Lebensfreud’ und großer Tat zu jagen. (V. 1341–1364)

Diese hymnische Evokation der Heilung markiert auf der Ebene der dramatischen Handlungssequenz und ihrer Kausalität einen abrupten Wechsel, den ihre erhabene Bildlichkeit unterstreicht. Prägend für diese Bildlichkeit ist der Vergleich der unverhofften ›Lösung‹ des »Fluch[s]«, der auf Orest lastete, mit der ›Auflösung‹ des »grausende[n] Erwarten[s]« von Gewitterregen in »Segen« und mit der ›Verwandlung‹ von »bange[m] Staunen / In Freudeblick und lauten Dank«.71 Das Erhabene, das ja durch solche Brüche und Wechsel gekennzeichnet ist,72 akzentuiert hier die figurenpsychologische Unverständlichkeit der Heilung. Es ist eine Form ästhetischer Reflexion, die das Bewußtsein der Figur transzendiert und von einer Kommentarinstanz vermittelt wird.73 Als diese Form dient es hier vor allem dazu, Orests mythisches Sprechen und Denken von den Residuen des Barbarischen zu reinigen – eine Reinigung, deren mythologischer Ausdruck das Bild der sich zurückziehenden Eumeniden ist – und auf Iphigenies neue Mythologie abzustimmen: Orests Beschwörung von »Freude«, »Freudeblick« und »Lebensfreud’« wiederholt echoartig Iphigenies Beschwörung der »Freude« (V. 1199) und »Himmelsfreude« (V. 1213) sowie ihre darauf bezogene Quellenmetaphorik (vgl. V. 1196–1198). Doch nicht nur auf der Ebene der Figurenpsychologie, sondern auch auf der des mythologischen Geschehens bleibt Orests Heilung oder vielmehr Evokation der Heilung unverständlich, erfolgt sie doch ganz unabhängig vom Raub des Götterbildes.74 Diese Unverständlichkeit heben Iphigenie und Orest später selbst

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Auffallend sind wörtliche Anklänge an den Schluß von Klopstocks »Frühlingsfeier« (vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Karl August Schleiden. München 1962, S. 92). Sie sind ein konstantes Merkmal der Geschichte dieses Begriffs seit dem späten 17. Jahrhundert; vgl. Jörg Heininger: Erhaben. In: ÄGB, Bd. 2, S. 275–310, hier bes. S. 276f. Vgl. Pfister: Das Drama, S. 248. Borchmeyer (Iphigenie auf Tauris, S. 149) spricht deshalb von »Motivierungs-

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hervor: Iphigenie im Vierten Aufzug, indem sie sich daran erinnert, wie »in meinen Armen mir ein Bruder / Vom grimm’gen Übel wundervoll und schnell / Geheilt« worden sei (vgl. 1703–1705), und Orest am Ende des Fünften Aufzugs, indem er Iphigenie mit Worten dankt, die ebenfalls an eine Wunderheilung denken lassen: »Von dir berührt / War ich geheilt« (V. 2119–2120).75

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schwäche«. Daß die Handlung im Vierten und Fünften Aufzug weitergeführt wird, obwohl das Problem der Heilung des Orest bereits gelöst ist, dient nach Greiner (Weibliche Identität, S. 41f.) allein dem Entwurf der nicht ambivalenten, ›reinen‹ Weiblichkeit, die Iphigenie nun zugeschrieben werden könne, weil sie sich gar nicht als wirklich (d.h. problemlösend) erweisen müsse. Dieser Entwurf verdecke Iphigenies zutiefst ambivalente Weiblichkeit (s. dazu oben, Anm. 67) jedoch nur für die Figuren, d.h. im inneren Kommunikationssystem, nicht aber auf der Ebene der Handlungsstruktur. Zuvor muß auch noch Iphigenies ganz dem mythischen Denken verhafteter Zweifel an der Wirklichkeit der Heilung, nämlich ihre Angst davor behoben werden, daß Orest beim Betreten des ungeweihten Bodens außerhalb des heiligen Hains doch wieder von den Furien behelligt wird (vgl. V. 1412–1414 und 1536). Auch dieser Zweifel akzentuiert die Unverständlichkeit der Heilung, und diese erinnert an die Unverständlichkeit des Sinneswandels der Protagonistin von Euripides’ Iphigeneia in Aulis ; s. oben, Kap. 3.2.1, S. 83. Das ist ein weiterer Beleg für die strukturelle Verwandtschaft von Goethes Drama mit der griechischen Tragödie, in der ja, wie Vernant hervorhebt, die Charaktere, anstatt psychologisch kohärent oder konstant zu sein, wie es Aristoteles forderte, sich den Zwängen des Handlungsverlaufs anpassen; s. oben, Kap. 3.2.1, S. 83. Psychologisch unverständlich bleibt die Heilung auch, wenn man sie im Hinblick auf die teils biblische und an Klopstock erinnernde Bildlichkeit von Orests hymnischer Evokation als Bekehrungsvorgang deutet, der pietistischen Modellen folgt (zu Goethes Beziehungen zum Pietismus vgl. Hans-Jürgen Schrader: Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe im pietistischen Geleit. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. v. Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel. Darmstadt 2001, S. 361–377; dort zahlreiche weiterführende Literaturhinweise). – Rasch leugnet die Unverständlichkeit mit seiner zentralen These, Orest sühne seine Schuld aus eigener Kraft und heile sich deshalb auch aus eigener Kraft. Doch diese These beruht, wie gesagt, auf einer simplifizierenden, die relative Autonomie des Mythischen leugnenden und die Gattungstradition, in der das Drama steht, ausklammernden Lektüre. Vgl. Rasch: Iphigenie, S. 19 u. öfter, bes. S. 123f.: »Der wirkliche Vorgang ist im Grunde einfach. Orest leidet an seiner Gewissensqual, und dieses Leiden ist in Goethes Schilderung entsetzlich und zerrüttend, aber gerade darum ist es auch heilsam, weil er mit dieser Qual und Reue sein Verbrechen büßt.« – In anderer Weise behauptet sich auch bei Gerhard Neumann diese auf Hegel zurückgehende optimistische Deutungstradition, wenn er im Hinblick auf den Schluß der Anagnorisis anmerkt: »It is quite extraordinary in Goethe’s conception that he creates a scene of the birth of a discourse founded by a community, of sibling dialogue, from the extinguishing of the sacrificial

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Der Interpret muß versuchen, gerade das Unverständliche verständlicher zu machen, d.h. seine Aufmerksamkeit auf die Bruchstelle richten, die den re-hellenisierten, re-humanisierten Orest vom ›barbarischen‹ trennt. Das Erhabene dient, wie angedeutet, nur dazu, die Bruchstelle hervorzuheben, aber es produziert sie nicht. Aus der oben definierten Perspektive signalisiert die Bruchstelle vielmehr, daß die Heilung nicht durch die Läuterung oder Bildung des Barbaren zum Griechen, sondern nur durch die zwangsweise Ausschließung des einen aus dem anderen szenisch verwirklicht werden kann, entsprechend jener alten Antithese, auf deren Überwindung doch, wie es schien, Iphigenies aufklärerisches Programm der Erziehung der Barbaren zur Humanität und ihre Appelle an Orest zielten. Schon am Ende des Dritten Aufzugs zeichnet sich also ab, daß auch in der humanistischen Umdeutung der alten kulturellen Topographie oder Geographie deren ethnozentrische Dynamik der gewaltsamen Ausschließung fortwirkt. Dieser Dynamik entsprechend unterminiert Iphigenie, wie oben dargelegt, von Anfang an ihr pädagogisches Wirken, und für sie und Pylades ist die Heilung des Orest von vornherein an die Bedingung der »Rückkehr« (V. 1339) aller drei Griechen nach Griechenland geknüpft (während der Statuenraub, dessen Funktion schon bei Euripides in den Hintergrund tritt, sich als überflüssig erweist). So schlägt bereits hier, in der Mitte des Dramas, die programmatische Bildung der Barbaren (auch des barbarisierten Orest) zum Griechentum in die programmatische Trennung der Griechen vom Barbarentum um; Orest soll sich mit Thoas, dessen mythischen Glauben an die heilende Kraft des Menschenopfers er im Zweiten und Dritten Aufzug durchaus teilt, nicht verbrüdern, so wie Iphigenie ihn nicht heiraten soll. In der programmatischen Trennung des ›humanen‹ Griechentums vom Barbarentum ist indes die erneute Verstrickung des einen ins andere durchaus angelegt. Das zeigt sich schon im Vierten Aufzug: Orest und Pylades sind bereit, die Heimkehr aus Barbarenland mit barbarischen Mitteln – Lüge und Raub – zu bewerkstelligen, und Iphigenies Parzenlied legt von der Faszination des Barbarischen Zeugnis ab. Doch bevor davon die Rede ist, sei festgehalten: Bei Euripides ist die Hellenen-Barbaren-Antithese, wie u.a. seine Revision der Heilung des Orestes verdeutlicht, ein zeitgenössisches ethnozentrisches Ordnungsprogramm, an dem der alte Mythos gemessen wird; im Medium der Tragödie wird aber auch umgekehrt das neue Ordnungsprogramm am alten

speech. [...] One could call this the fabrication of an aesthetic state of humanity and its performance though the sibling’s speech« (Neumann: Iphigenia, S. 112).

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Mythos gemessen, so daß sich die für die Gattung konstitutiven semantischen Spannungen einstellen. Die ethno-, genauer hellenozentrische Bedeutung, die dieses Programm in der griechischen Tragödie hat, wird zwar bei Goethe wie bei seinen klassizistischen Vorgängern (z.B. Racine) von einer humanistisch-kosmopolitischen überlagert: Griechisch bedeutet nun ›human‹ und ›gebildet‹, barbarisch ›inhuman‹ und ›ungebildet‹. Doch der strukturelle Konflikt zwischen dem Programm, dem das Ethos der Griechen gehorcht oder gehorchen soll, und dem Mythos als Überlieferung kehrt auch bei Goethe wieder. Im Spannungsfeld dieses Konflikts gerät die Heilung oder vielmehr Verkündung der Heilung des Orest zum abrupten, erzwungenen Wechsel:76 Der tief ins Barbarische verstrickte Grieche erklärt sich für geheilt und wird von Pylades für geheilt erklärt (vgl. V. 1536, 1607), weil auch die humanistische Variante der Antithese des Griechischen und Barbarischen deren Vermischung nicht zuläßt – eine Vermischung, von der jedoch der Mythos bei Goethe weiterhin Zeugnis ablegt. Die Überführung der Tragödie ins »Schauspiel« (so der Untertitel von Goethes Drama)77 auf dem Wege der Verständigung und Erziehung kann deshalb letztlich nicht gelingen. Am Ende stehen die Zwänge des Mythos gegen die Zwänge eines Humanismus, dessen Leitvorstellung der ›Reinheit‹ exklusiv ist, weil in ihr wider Erwarten der Ethnozentrismus der alten Hellenen-BarbarenAntithese als Zwang weiterwirkt – ein Zwang, gegen den Iphigenie sich im Vierten Aufzug auflehnt, dem sie sich jedoch schließlich beugt.

4.3. Gefahr und Faszination des Barbarischen: Intrige und Parzenlied (Vierter Aufzug) Die Intrige, die bei Goethe den (de facto bereits überflüssigen) Raub des Kultbilds der Göttin und die Flucht der Griechen ermöglichen soll, ähnelt der, die Iphigenie bei Euripides plant und ausführt (das Kultbild soll unter dem Vorwand, die Priesterin müsse es im Meer von der Verunreinigung durch die Gegenwart des Muttermörders rituell reinigen, auf das Schiff

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Auch auf diesen von der Griechen-Barbaren-Antithese vermittelten, diskursiven Zwang sind also die oben zitierten Worte des Pylades zu beziehen, Orest und er seien im Rahmen ihrer Aufgabe, Diana aus Barbarenland nach Griechenland zu bringen, »seltsam [...] / [...] an der Pforte schon gezwungen hier« (V. 738–739). Zu dieser Gattungsbezeichnung s. unten, S. 161, und Anm. 117.

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der Griechen gebracht werden).78 Doch bei Goethe wird die Intrige in der Pause zwischen dem Dritten und Vierten Aufzug von Orest und Pylades geplant, und ihre Ausführung stürzt Iphigenie in eine tiefe Gewissenskrise, die daher rührt, daß sie die Taurer belügen soll: »O weh der Lüge!« (V. 1405), klagt sie im ersten der drei Monologe, zwischen denen ihre beiden Dialoge mit Arkas bzw. Pylades stattfinden. Für die Euripideische Iphigeneia hingegen ist, wie erwähnt, die Überlistung von Thoas rechtmäßig.79 Zwar zählen Listigkeit, Meineidigkeit und Treulosigkeit zu den antiken Barbarenklischees,80 doch die Asymmetrie der Hellenen-Barbaren-Antithese und ihr Ethnozentrismus schließen die Barbaren von der Teilhabe am hellenischen Ethos aus. Ihnen gegenüber sind also Listigkeit, Meineidigkeit und Treulosigkeit erlaubt (es sei an Lévi-Strauss’ Bemerkung erinnert, daß der Barbar zuallererst derjenige ist, der an den Barbaren glaubt). Und auch bei Goethe macht sich mit der Intrige die Asymmetrie der Hellenen-Barbaren-Antithese wieder geltend. Die an Iphigenie gerichteten Worte, mit denen Orest die Anagnorisis einleitet – »[...] zwischen uns / Sei Wahrheit!« (V. 1080–1081) –, bedeuten im Lichte der Intrige, daß zwischen Griechen und Barbaren Wahrheit nicht zu sein braucht. Daß diese Regel aber für Iphigenie nicht mehr fraglos gültig ist und sie im Gegenteil in eine Gewissenskrise stürzt, muß als Indiz für die paradoxe Spannung zwischen den Bedeutungen, die sich in der Griechen-Barbaren-Antithese abgelagert haben, gewertet werden: Im humanistischen Gebrauch der Antithese verbirgt sich offenbar der ethnozentrische; in jenem kehrt folglich auch die in diesem angelegte Verstrickung und Verkehrung des Griechischen ins Barbarische wieder. Im weiteren Verlauf des Vierten Aufzugs verschärft sich die Gewissenskrise. Iphigenies drei Monologe bezeichnen in ihrem Nacheinander die drei Phasen dieser Verschärfung. Die zweite Phase wird vom Dialog mit Arkas eingeleitet. Dieser warnt Iphigenie noch einmal davor, daß die Wiedereinführung der Menschenopfer, die ihre Weigerung, Thoas’ Antrag anzunehmen, zur Folge hätte, das Scheitern ihres Humanisierungsprojekts bedeuten würde; dabei stellt er die Hellenen-Barbaren-Antithese, die der Verwirklichung des Projekts im Wege steht, indirekt in Frage:

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Vgl. V. 1430–1440 mit Iphigeneia im Lande der Taurer, V. 1031–1049, 1157–1202. Bei Euripides sollen auch die beiden Griechen im Meer gereinigt werden. S. oben, Kap. 2.1, S. 37. Vgl. Opelt / Speyer: Barbar I, Sp. 837f., ferner die oben, Kap. 2.1, S. 24, zitierte Belegstelle aus Herodot.

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Ich sage dir, es liegt in deiner Hand. Des Königs aufgebrachter Sinn allein Bereitet diesen Fremden bittern Tod. Das Heer entwöhnte längst vom harten Opfer Und von dem blut’gen Dienste sein Gemüt. Ja, mancher, den ein widriges Geschick An fremdes Ufer trug, empfand es selbst, Wie göttergleich dem armen Irrenden, Umhergetriebnen an der fremden Grenze, Ein freundlich Menschenangesicht begegnet. O wende nicht von uns was du vermagst! Du endest leicht was du begonnen hast [...].

(V. 1465–1476)

Hier wie schon in Iphigenies Eingangsmonolog relativiert der wiederholte Gebrauch des Wortes fremd, das etymologisch, wie dargelegt, mit dem Wort barbarisch teilweise gleichbedeutend ist, die Hellenen-BarbarenAntithese. Für die Taurer sind nämlich die Griechen die »Fremden«, wie Arkas auch schon in seinem ersten Dialog mit Iphigenie zu verstehen gibt, doch einige von ihnen haben selbst, wenn es sie an ein für sie »fremdes Ufer« verschlug, spontan den Wert der Gastfreundschaft empfunden. Diese bildet also, dank der Harmonie von spontanem Empfinden und Iphigenies humanistisch-erzieherischem Wirken, einen Griechen und Barbaren gemeinsamen Wert, wie ja schon Thoas mit seiner spontanen Verschonung Iphigenies im Sinne dieses Wertes und seiner mythologischen Grundlegung gehandelt hat.81 Iphigenie gefährdet mit ihrer Ablehnung von Thoas’ Antrag die sich abzeichnende Gemeinsamkeit, wie Arkas mit dem beschwörenden Appell, der seine Replik beschließt, wiederum hervorhebt. Arkas verkennt indes, daß die Rettung der Gemeinsamkeit insofern nicht in Iphigenies »Hand« liegt, als in ihrem humanistischem Wirken für die Gemeinsamkeit die Zwänge für die Beendigung der Gemeinsamkeit nach- und weiterwirken – Zwänge, die sie nicht beherrscht, von denen sie vielmehr beherrscht wird. Im nun folgenden zweiten Monolog des Vierten Aufzugs bringt Iphigenie dieses spannungsvolle Gegen- und Ineinander von Trennendem und Verbindendem bildlich zum Ausdruck, als sie sich vergegenwärtigt, daß die Bereitwilligkeit, mit der sie Orests und Pylades’ Anweisung, den König zu belügen, befolgte, ganz dem alten und längst unangemessenen Klischeebild vom Taurerland als Barbarenland gehorchte:

81

S. oben, S. 107.

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Und wie den Klippen einer wüsten Insel Der Schiffer gern den Rücken wendet: so Lag Tauris hinter mir. Nun hat die Stimme Des treuen Manns mich wieder aufgeweckt, Daß ich auch Menschen hier verlasse mich Erinnert. [...] (V. 1520–1525)

Im darauf folgenden Dialog mit ihr benutzt Pylades deshalb – wie in der Auseinandersetzung mit Orest über dessen Krankheit – das trennende Klischeebild vom Taurerland als Argument für die Intrige: [...] So schaff uns Luft, Daß wir auf’s eiligste, den heil’gen Schatz Dem rauh unwürd’gen Volk entwendend, fliehn.

(V. 1601–1603)

Als Iphigenie daraufhin diese Antithese des Griechisch-›Heiligen‹ und Barbarisch-›Unwürdigen‹ in Frage stellt, indem sie die Menschlichkeit, mit der Thoas sie behandelt hat, hervorkehrt, führt Pylades zur Rechtfertigung der Intrige eben jenen mythischen Zwang an, auf dessen Überwindung Iphigenies Humanisierungsprojekt zielte und den er selbst im Zweiten Aufzug seinem Freund Orest auszureden suchte: Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand Der Not gebietet, und ihr ernster Wink Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht Des ew’gen Schicksals unberatne Schwester. (V. 1680–1684)

Pylades verwendet hier den Begriff »Not« als topisch-mythologischen Sammelbegriff, indem er die Not mit der Moira identifiziert und diese als Schwester des Schicksals – der Tyche (Fortuna) – bezeichnet.82 Er macht

82

Dieser mythologische Sammelbegriff stützt sich entstehungsgeschichtlich möglicherweise auf verstreute Angaben bei Hederich (vgl. dessen Lexikon, Sp. 1123f., 1880f.), nicht aber auf die griechischen Tragödien, die zu den Bezugstexten von Goethes Drama zählen. In seinem Stellenkommentar weist Borchmeyer indes auf Aischylos: Der gefesselte Prometheus, V. 515–518 hin (vgl. FA, I. Abt., Bd. 5, S. 1047): An dieser Stelle sagt Prometheus, daß die Moiren und Erinnyen das Steuer der Notwendigkeit ( ) führen und daß auch Zeus dem ihm verhängten Los nicht entfliehen kann. Aber hier sind die genannten Göttinnen eben nicht nur entindividualisierte Teile des Sammelbegriffs »Notwendigkeit«, wie es der Systematik der mythologischen Topik entspräche und wie es in Pylades’ Replik auch der Fall ist. – Zur mythologischen Topik und ihrer späthumanistischen Ausprägung in der Theologia gentilis von Gerhard Voss, die noch für die Goethezeit von Bedeutung war, vgl. Graevenitz: Mythos, S. 58ff., hier

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sich also die Verfahrensweise der mythologischen Topik zu eigen, um die Griechen-Barbaren-Antithese zu mythisieren. Damit weist er sich einmal mehr als wendigen Kasuisten aus, der je nach Lage der Dinge die Argumente der Gegenpartei benutzt. Hier argumentiert er nämlich genau so, wie Thoas im ersten Streitgespräch mit Iphigenie argumentiert hat, um erst den Ursprung der Menschenopfer – »das Gesetz / Gebietet’s und die Not« (V. 258–259; vgl. V. 1796) – und dann ihre Wiedereinführung zu rechtfertigen. Und er argumentiert auch im Sinne von Orests mythischer Rede über die »Not« (V. 569, 655) der eigenen Krankheit – einer Rede, die er doch selbst als Krankheitsfaktor gewertet und als barbarisch bekämpft hat.83 Auf die pietistisch-empfindsame Sprache, mit der Iphigenie ihren »Freund« (V. 1381) Pylades charakterisiert (vgl. V. 1386–1389, 1619–1625), fällt deshalb ein ironisches Licht.84 In Wahrheit ist Pylades, der sich schon im Dialog mit Orest für »List und Klugheit« (V. 766) als Mittel zum Zweck ausspricht, der führende Kopf der Intrige, mit der die Griechen selbst die Positionen von Humanität und Barbarei verkehren. Es ist dementsprechend der Barbar Arkas, der nun die ›griechisch‹-humanistische Position vertritt, wie oben deutlich wurde. In ihrem dritten Monolog führt sich Iphigenie die katastrophalen Konsequenzen vor Augen, die in der Verkehrung angelegt sind. Nachdem sie im ersten Monolog die Legitimität der Intrige aus grundsätzlichen ethischen Gründen bezweifelt und im zweiten das die Intrige leitende Klischeebild vom Taurerland als Barbarenland entlarvt hat, erkennt sie nun, daß die Ausführung der Intrige den auf den Atriden lastenden »Fluch« (V. 1694, 1698) erneuern, also die Serie der Greueltaten fortsetzen würde. Die Ausführung der Intrige wäre, so gesehen, dem Brudermord äquivalent, dessen endgültige Verhinderung sie doch zugleich garantieren soll. Das Vorhaben, »Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen / Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen« (V. 1701–1702), droht also an dem, wie es scheint, unverzichtbaren Mittel zu seiner Verwirklichung zu scheitern. Angesichts dieser Ausweglosigkeit empfindet Iphigenie selbst eben jenen aporetischen mythischen Zwang, jene ›Not‹, von der Orest im Hinblick

83 84

bes. S. 63. S. auch oben, Kap. 2.3, S. 65, die Ausführungen zu Lafitaus Verwendung mythologischer Allgemeinplätze. S. oben, S. 126ff. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang Schraders Hinweis darauf, daß Goethe in Dichtung und Wahrheit seinen liebsten Kindheitsfreund, der später einer radikalpietistischen Gemeinschaft angehörte, als Pylades einführt; vgl. Schrader: Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken, S. 373.

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auf seine Krankheit sprach und die im Munde von Pylades nur ein rhetorischer Topos war: [...] kaum naht ein lang’ erflehtes Schiff, Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten: So legt die taube Not ein doppelt Laster Mit ehrner Hand mir auf; das heilige, Mir anvertraute, viel verehrte Bild Zu rauben und den Mann zu hintergehn, Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke.

(V. 1705–1711)

Daß sich in dieser mythischen »Not« der von Menschen zu verantwortende Zwang zur Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen verbirgt, durchschaut Iphigenie hier nicht, sondern sie macht sich Pylades’ Rede von der ›ehernen Hand‹ der Not zu eigen. Pylades hat also sein Ziel, sie mit der Evokation des alten Schreckbilds der Götter einzuschüchtern, erreicht. Freilich hat er sie damit zugleich in den ›barbarischen‹ Denkzwang zur Projektion und Übertragung menschlicher Gewalt auf die Götter zurückgestoßen – einen Zwang, von dem ja Teile ihres genealogischen Berichts Zeugnis ablegten (der ›ehernen Hand‹ entspricht dort das »ehern Band« [V. 331]). Iphigenie droht also an jenem Barbarischen zu erkranken, von dem Orest kaum geheilt ist. Der von Pylades beschönigend als ›Entwendung‹ bezeichnete Diebstahl der Statue wäre sogar ein genuin barbarischer Akt, nämlich ›Raub‹, wie Iphigenie hier mit ihrer Wortwahl deutlich macht. Sie selbst zweifelt nun – im Modus des mythischen Denkens – an der Gültigkeit ihrer neuen Mythologie: O daß in meinem Busen nicht zuletzt Ein Widerwillen keime! der Titanen, Der alten Götter tiefer Haß auf euch, Olympier, nicht auch die zarte Brust Mit Geierklauen fasse! Rettet mich, Und rettet Euer Bild in meiner Seele!

(V. 1712–1717)

In diesen Versen sind die Titanen nicht wie in Iphigenies genealogischem Bericht die ursprünglich gottähnlichen, dann aber von den Göttern verstoßenen und verblendeten ›Menschen‹ (V. 316, 321). Vielmehr sind sie im Sinne der Theogonie Hesiods die den Olympiern vorangehende und von diesen verdrängte Generation der »Götter«. Iphigenie sieht sich also nicht mehr als Angehörige des Geschlechts der ›titanischen‹ Menschen, sondern sie evoziert den »Haß« der älteren auf die jüngere Generation der Götter und das Leidensbild des gefesselten Prometheus, um die Erschütterung ihres Vertrauens auf neue, den Menschen wohlgesinnte Götter bildlich 146

auszudrücken. Angesichts der ›Not‹, die sie empfindet, erinnert sie sich an die alte Theogonie, weil die Gewalt und der Haß, die dort die Beziehung der beiden Göttergenerationen zueinander bestimmen, ihr nun zum Zeichen für das Unabänderlich-Schicksalhafte des Kreislaufs von menschlicher Gewalt und Gegengewalt werden – für jenen »Fluch« (V. 1694, 1698), von dem sie unmittelbar zuvor, in demselben Monolog, spricht. Für Iphigenie droht also das »Bild« des Göttlichen ganz im barbarischen Denkzwang zur Vergötterung menschlicher Gewalt aufzugehen und der Abstand der neuen Mythologie von der alten, ja des Göttlichen vom Barbarischen, zu verschwinden. Es ist die aufgeklärte Vernunft selbst, die diese nihilistische Perspektive heraufbeschwört; folglich ist die Vernunft, soll sie das neue Weltbild bewahren, auf den Beistand der neuen Götter angewiesen, wie Iphigenie im Sinne ihrer neuen Mythologie mit dem wiederum gebetsartigen, an die Götter gerichteten Appell ausdrückt, sie selbst (d.h. ihre Identität als vernünftige ›Griechin‹) und ihr neues Bild von ihnen zu ›retten‹. ›Rettung‹ ist in Iphigenies antithetischer Rhetorik der Gegenbegriff zu ›Tod‹ und ›Opfer‹. Von Anfang an beruft Iphigenie sich auf ihre Rettung durch die Göttin vor dem Opfertod, um sei es bei der Göttin, sei es bei Thoas ihre Redeziele zu erreichen. Hier, im das Parzenlied einleitenden dritten Monolog des Vierten Aufzugs, geht es um die Rettung vor dem Verlust der ›griechischen‹ Identität: Der Raub des alten, taurischen Standbildes der Göttin, die Menschenopfer fordert, käme der Vernichtung des neuen, vom grausamen Opferkult gelösten Wunschbildes der Götter gleich. Es würde damit auch die humane, ›griechische‹ Identität Iphigenies von der alten, ›wilden‹, ja barbarischen ihrer Familie wieder eingeholt. Das wäre eine jener Peripetien, auf die im Drama mehrfach mit den Verben sich wenden oder umwenden Bezug genommen wird85 und die in der schwankenden, ambivalenten Einstellung aller drei Griechen zu den Göttern angelegt sind. Diese Ambivalenz, die, wie dargelegt, als genuin tragisch zu werten ist, wird in den zuletzt zitierten Versen durch die Wiederholung des Wortes »Bild« (V. 1709, 1717) unterstrichen: Das heilige, furchteinflößende Stand-›Bild‹ der Göttin ist aus dem neuen, zu rettenden Wunsch-›Bild‹ der Götter letztlich nicht verschwunden; dieses erweist sich als ebenso hybrid wie das Griechentum selbst. Für das Hybride aber ist in Iphigenies antithetischer Rhetorik kein Platz. Die drohende Vernichtung des von allem Barbarischen gereinigten Wunschbildes der

85

Vgl. V. 390, 1475, 1505, 1619–1621, 2135, 2168.

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Götter wird für sie nun (wie am Ende des Ersten Aufzugs für Thoas) zum Beweis für die Richtigkeit des barbarischen Schreckbildes der Götter. Deshalb beschwört sie im folgenden dieses Schreckbild herauf, indem sie das Parzenlied rezitiert. Die Feierlichkeit, mit der sie das tut, gründet im heiligen Ursprung und Alter des Parzenliedes und in seiner durch Tradition bewährten kollektiven Verbindlichkeit, aber auch in der Faszination, die von dem Bild mythisch geheiligter Gewalt, das es vermittelt, ausgeht.86 Die drei Schicksalsgöttinnen haben, wie Iphigenie berichtet, das Lied selbst gesungen, »Als Tantalus vom gold’nen Stuhle fiel« (V. 1721), und die Amme hat es Iphigenie vorgesungen. Das Lied ist also eine Art volksliedhafter Hymne; diesen Eindruck verstärken formale und motivische Anklänge an Herders Übersetzungen von Liedern der Edda, insbesondere an das berühmteste eddische Götterlied, die Völuspâ, d.h. »Weissagung der Seherin«.87 Zu den formalen Anklängen daran zählen die zweihebigen Halbzeilen und der Stabreim, zu den motivischen die singenden Parzen. Diese lassen eher an die Seherinnen

86 87

Zu dieser Faszination s. oben, Kap. 3.1, S. 73f. Vgl. Herder: Sämtliche Werke. Bd. 25, S. 96ff. Auf diese intertextuelle Relation hat mit Nachdruck schon Carl Fries (Parzenlied und Völuspa. In: GoetheJahrbuch 33 [1912], S. 85–96) aufmerksam gemacht; vgl. auch Borchmeyers Anmerkung in seinem Stellenkommentar (FA, I. Abt., Bd. 5, S. 1048). Wenn man die Relation berücksichtigt, ist Deiters’ Auffassung, mit der Nennung der Amme als des Subjekts der Erzählung werde der Erzählvorgang reflexiv, und durch diese Reflexivität konstituiere sich »eine grundsätzliche Differenz zwischen dem Raum-Zeit-Kontinuum des Erzählers und jenem der erzählten Welt« (Deiters: Goethes »Iphigenie auf Tauris«, S. 38), nicht haltbar. Auch Zimmermanns Auffassung, das Stichwort »Amme« verweise auf Platons Mythenkritik in der Politeia, es kennzeichne also das Götterbild des Parzenlieds als unglaubwürdiges, zu verbannendes ›Ammenmärchen‹ (vgl. Zimmermann: Euripides’ und Goethes Iphigenie, S. 141f.), scheint mir aus dem genannten Grunde nicht zutreffend. Als Repräsentantin des Volkes vermittelt die Amme hier Iphigenies eigene Bindung an die vorhumanistisch-›barbarische‹ Tradition. – Daß Iphigenie im Parzenlied die vorhumanistische, ›tantalische‹ Welt in ihre Welt hineinholt und damit einem überpersönlichen Glauben, der im ganzen Drama bis zum Schluß wirksam ist, Ausdruck verleiht, betont bereits Günther Müller: Johann Wolfgang von Goethe: Das Parzenlied. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. Hrsg. v. Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1957, S. 237–250, bes. S. 245f.; vgl. auch Christoph E. Schweitzer: Goethe’s Iphigenie auf Tauris: »Gleich Opfergerüchen« (»Parzenlied«). In: Life’s Golden Tree. Essays in German Literature from the Renaissance to Rilke. Hrsg. v. Thomas Kerth u. George C. Schoolfield. Columbia, SC 1996, S. 141–152; ferner Ingrid Winter: Wiederholte Spiegelungen. Funktion und Bedeutung der Verseinlage in Goethes Iphigenie auf Tauris und Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bern / New York 1988, S. 1ff.

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der germanischen Mythologie als an die antiken Schicksalsgöttinnen denken, auf deren Beistand Pylades vorgeblich vertraut.88 Goethe verfremdet hier also das Bild der olympischen Götter, indem er es mit Zügen versieht, die der germanischen Mythologie entlehnt sind. Dieser Synkretismus dient dazu, den erschreckenden Verlust des neuhumanistischen Götterbildes auszudrücken. Den Schrecken bringt auch der Rhythmus des Liedes zum Ausdruck, insofern er der Rezitation Züge eines Beschwörungsrituals verleiht. Zu Beginn des Liedes wird im Modus des Imperativs gesagt, daß Furcht, nicht Vertrauen, das angemessene Verhältnis zu den Göttern ist: Es fürchte die Götter Das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen, Und können sie brauchen Wie’s ihnen gefällt. (V. 1726–1731)

Die Erhabenheit der Götter, die mit dem Bild der ewigen Hände evoziert wird, steht nicht für Humanität, denn eben jene Verhaltensweisen, die in Goethes Drama sich dem Barbarischen entgegenstellen, vor allem der Verzicht auf Gewalt oder List und die Bereitschaft zum Dialog als Mittel der Verständigung, sind den Göttern unbekannt: Ihre Herrschaft ist willkürlich. Die Erhöhung eines Menschen durch die Götter, wie sie Tantalus zuteil wurde, ist nicht etwa ein Zeichen von Ebenbürtigkeit: Der fürchte sie doppelt Den je sie erheben! Auf Klippen und Wolken Sind Stühle bereitet Um goldene Tische. Erhebet ein Zwist sich: So stürzen die Gäste Geschmäht und geschändet In nächtliche Tiefen, Und harren vergebens, Im Finstern gebunden, Gerechten Gerichtes. (V. 1732–1743)

88

Vgl. V. 1339–1340: »Und unsre Rückkehr hängt an zarten Fäden, / Die, scheint es, eine günst’ge Parze spinnt.«

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Die Erhebung des Menschen durch die Götter provoziert also Rivalität – sie ist mit dem Wort »Zwist« gemeint –, und diese Rivalität wird für die Götter zum Anlaß, ihre Übermacht (die ja keine Allmacht ist)89 unter Beweis zu stellen. Die überlegenen Götter erweisen sich dadurch als die Stärkeren, daß allein sie in einer Sphäre leben bleiben, die mit dem Gold als traditionellem Symbol des himmlischen Lichtes und der Unvergänglichkeit assoziiert ist;90 die Erhöhung von Menschen, die mit der Einladung zum gemeinsamen Festmahl scheinbar erfolgt, ist deshalb nur Mittel zum Zweck ihrer nachfolgenden Erniedrigung, und diese mündet in die rituelle Bestätigung des Abstands zwischen ihnen und den Göttern: Sie aber, sie bleiben In ewigen Festen An goldenen Tischen. Sie schreiten vom Berge Zu Bergen hinüber: Aus Schlünden der Tiefe Dampft ihnen der Atem Erstickter Titanen, Gleich Opfergerüchen, Ein leichtes Gewölke. (V. 1744–1753)

Die Redefigur »Sie aber« ist ein Zeichen für Hierarchie und erhabene Distanz.91 Die Erhabenheit der Götter, auch der olympischen, ist ohne Gewalt und Grausamkeit nicht denkbar. So bilden in Winckelmanns oben zitierter Beschreibung des Apoll von Belvedere die Tötung des Python und die Verachtung für den Getöteten die negative Folie des Erhabenen. Im Parzenlied hat das ›Ersticken‹ der Titanen eine ähnliche und überdies kultische Funktion. Indem gesagt wird, daß der Atem der erstickten Rivalen (gemeint ist wohl der Lebensatem, den sie aushauchen)92 den

89 90 91 92

Diesen Unterschied zwischen Mythos und Monotheismus hat besonders Blumenberg: Arbeit am Mythos, z.B. S. 129, 160ff., mit Nachdruck hervorgehoben. Besonders in der Mythologie der Germanen werden die Wohnungen der Götter mit dem Gold in Zusammenhang gebracht; vgl. HDA, Bd. 3, S. 922. Vgl. die Figuren »Ich aber« und »Wir aber«, die in der Italienischen Reise mehrfach begegnen; dazu Winkler: »Weder Kunst noch Natur«, S. 83f. Anders Schweitzer: Goethe’s Iphigenie auf Tauris, S. 144: »Clearly, the gods cannot have killed the Titans by suffocating them. In that case they could obviously no longer breathe. It must be that the gods smothered them to such a degree that the Titans’ breathing is very heavy so that the breath they exhale forms clouds. These vapors, in turn, [...] appear to the gods to be the same as the results of sacrificial offerings.« Das aber sei ein Mißverständnis (ebd.).

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Göttern »Gleich Opfergerüchen« dampfe, nehmen die Titanen Züge von periodisch geopferten Menschen an.93 Die mächtigen Götter benötigen das Menschenopfer als kultische Bestätigung ihrer Macht und ihrer Herrschaft über die Menschen. Mit der Vergleichspartikel »Gleich« wird aber wiederum angedeutet, daß sich in diesem grausamen Ritual die abergläubischmythisierende Legitimation einer Gewalt, die durchaus anthropozentrisch zu verstehen ist, verbirgt: Erst dadurch, daß die Mächtigen das Opfer erzwingen, erscheinen sie als Götter, deren Göttlichkeit sich in »ewigen Festen / An goldenen Tischen«, also in Müßiggang und Reichtum, nicht etwa in Liebe und Güte, kundtut. Deshalb die gnadenlose Wiederholung des Fluchs, der quasi göttlichen Abkehr, von Geschlecht zu Geschlecht, und die der Abkehr entsprechende Nötigung zum grausamen Opferritual, die das Schicksal des Tantalus und seiner Nachfahren exemplarisch veranschaulicht: Es wenden die Herrscher Ihr segnendes Auge Von ganzen Geschlechtern, Und meiden, im Enkel Die eh’mals geliebten, Still redenden Züge Des Ahnherrn zu sehn. (V. 1754–1760)

Derart spiegelt sich im Bild der erhabenen Götter das ›barbarische‹ Ritual: Leben wird durch die Tötung von Leben bestätigt. Die Macht über Leben und Tod ist das Merkmal des Göttlich-Erhabenen, insofern es schrecklich ist. Ein Zeichen für die Herkunft dieses Erhabenen aus dem Barbarischen ist wiederum das Gold. Denn Gold kann nicht nur göttliche Vollkommenheit, sondern auch menschliche Macht- oder Besitzgier und Betrug symbolisieren.94

93

94

Schweitzer lastet das Mißverständnis also den Göttern an; aus der von mir gewählten Perspektive ist das Mißverständnis hingegen Teil des ›barbarischen‹ Denkzwangs zur Mythisierung menschlicher Gewalt – einer Mythisierung, die von der Tragödie, wie gesagt, partiell dechiffriert wird; s. oben, Kap. 3.2.1, S. 82f. Das offenbar von Goethe geprägte, auch in seiner Bearbeitung von Teilen der Vögel des Aristophanes begegnende Kompositum Opfergerüche entspricht dem oder »Fettdampf«; vgl. Schweitzer: Goethe’s griechischen Nomen Iphigenie auf Tauris, S. 141f. Vgl. Manfred Lurker: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 31985, S. 234f.

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Das schreckliche Heilige ist demnach im Parzenlied wie in Iphigenies genealogischem Bericht, wie in Thoas’ Begründung des Opferbefehls und wie in Orests mythischer Deutung des Muttermords nichts anderes als das Ergebnis der Mythisierung triumphierender menschlicher Gewalt (es sei daran erinnert, daß Iphigenie dies dem König schon am Ende ihres ersten Streitgesprächs mit ihm vorhält).95 Für die ›barbarische‹ Bestimmung des Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern wird die triumphierende Gewalt zum Zeichen faszinierender göttlicher Selbstgenügsamkeit; die Götter sind Figurationen solcher Gewalt.96 Die letzte Strophe bildet die Brücke zwischen dem Parzenlied und der Verzweiflung, die Iphigenie bei dem Gedanken an den möglichen Triumph des im Lied evozierten, aber auch partiell dechiffrierten Bildes des Göttlichen empfindet – einer Verzweiflung, die sich, wie in Orests Hadesvision, im Bild des unerlösten Stammvaters spiegelt: So sangen die Parzen; Es horcht der Verbannte, In nächtlichen Höhlen Der Alte die Lieder, Denkt Kinder und Enkel Und schüttelt das Haupt.

(V. 1761–1766)

Das Schütteln des Haupts ist wohl als Zeichen der Fassungslosigkeit zu verstehen, die von Tantalus Besitz ergreifen muß, wenn er sich die fortdauernde Geltung der »antihumanen Götter- und Menschendeutung«, die das Lied bezeugt, vergegenwärtigt.97

4.4. Vom Humanitätsideal zum Kult der ›griechischen‹ Humanität (Fünfter Aufzug) Iphigenies Rezitation des Parzenlieds bringt zum Ausdruck, daß auch sie sich angesichts der ›Not‹, die sie im Vierten Aufzug empfindet, der Faszination durch die barbarische Heiligung von Gewalt nicht entziehen kann. Wie Orest erkrankt sie gleichsam am Barbarischen; das Bild des die »zarte Brust / Mit Geierklauen« fassenden Hasses ist, so gesehen, Orests FurienEvokationen äquivalent. Dennoch setzt sich am Ende des Dramas nicht 95 96 97

S. dazu oben, S. 121. Vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 220f. Müller: Das Parzenlied, S. 244.

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die barbarische Ordnung des Denkens und Handelns durch, sondern es wird die griechische gerettet. Doch die griechische Ordnung ist nicht mit dem universalistischen Programm der Bildung aller zur Humanität identisch, obwohl das Programm erneut verkündet wird. Diese Paradoxie, die sich schon im Dritten Aufzug abzeichnet, soll nun abschließend mit einer Analyse des Fünften genau bestimmt werden. Zu Beginn des Aufzugs zeigen sich Arkas und Thoas »Verwirrt« (V. 1767) und empört, weil sie argwöhnen müssen, daß die Griechen gegen sie intrigieren. Thoas erkennt, daß Iphigenie, insofern sie nun »List und Trug« (V. 1802) gebraucht, ihre Identität als humane Griechin kompromittiert, zugleich aber die identitätsstiftende Trennung der Griechen von den Barbaren herbeiführen will; Iphigenies Annäherung ans Barbarentum ist also nicht das Pendant jener spontanen Annäherung ans humane Griechentum, die er vollzog, indem er sie verschonte: Vergebens, hofft’ ich, sie [Iphigenie, M.W.] mir zu verbinden; Sie sinnt sich nun ein eigen Schicksal aus. (V. 1798–1799)

Im nun folgenden zweiten Streitgespräch mit ihr (V, 3) geht es ihm folglich darum, die universalistisch-›verbindenden‹ Argumente, die Iphigenie anführt, um den Aufschub der Vollstreckung des Opferbefehls zu rechtfertigen, auf das exklusiv-›eigene‹ Motiv der Trennung zurückzuführen.98 So entlarvt er schon zu Beginn Iphigenies durchaus heuchlerisches Argument, sie schiebe das Opfer auf, weil die Göttin ihm »Frist zur Überlegung« (V. 1808) gebe, mit dem kontrapunktischen Satz: »Sie scheint dir selbst gelegen, diese Frist« (V. 1809). Umgekehrt macht Iphigenie dem König deutlich, daß sie den Denkzwang durchschaut hat, der zur Verwechslung triumphierender menschlicher Gewalt mit dem Göttlichen führt. Denn in ihren Worten nimmt nun der auf die Opferweihe drängende, die Gewalttat befehlende Taurerkönig selbst Züge jener zugleich erhabenen und schrecklichen Götter des Parzenliedes an, die die Menschen zum grausamen Ritual zwingen: »Ein König, der Unmenschliches verlangt« (V. 1812), hält sie ihm vor, werde immer willige Werkzeuge für die Ausführung der blutigen Tat finden. »Er aber«, fährt sie, das »Sie aber« des Parzenliedes aufgreifend, fort, »schwebt durch seine Höhen ruhig, / Ein unerreichter Gott,

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Vgl. im ersten Streitgespräch seine Reaktion auf Iphigenies Argument, die Götter verböten es ihr, das eheliche Bündnis mit ihm einzugehen: »Es spricht kein Gott; es spricht dein eignes Herz« (V. 493). Das Herz ist in seiner Götterlehre eben nicht der Sitz des Göttlichen.

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im Sturme fort« (V. 1819–1820). Wenn Thoas daraufhin spöttisch mit der Antithese kontert: »Die heil’ge Lippe tönt ein wildes Lied«, gibt er zu verstehen, daß die vermeintliche Heiligkeit der Griechin an der Wildheit des Barbaren durchaus Anteil hat. Zugleich aber verkennt er, daß dieses zweite ›Lied‹ im Unterschied zum Parzenlied nicht mehr selbst wild ist, sondern andeutet, daß sich in der Art von sozialer Ordnung, die des vermeintlich göttlich sanktionierten Menschenopfers bedarf, eine durchaus wilde und willkürliche, anthropozentrisch zu verstehende Gewalt verbirgt. Iphigenie bekräftigt diesen Gedanken, als Thoas mit dem Satz »Ein alt Gesetz, nicht ich, gebietet dir« (V. 1831) noch einmal seinen Opferbefehl zu rechtfertigen sucht: »Wir fassen«, repliziert sie, ganz bewußt den Plural verwendend, »ein Gesetz begierig an, / Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient« (1832–1833). Doch auch im zweiten Streitgespräch gelingt es Iphigenie nicht, den König zu überzeugen; ihm hingegen gelingt es, ihr mit knappen, kontrapunktischen Repliken nachzuweisen, daß sie sich selbst widerspricht: »Sprich unbehutsam nicht dein eigen Urteil« (V. 1875), warnt er sie, nachdem sie selbst ihn vor der List als letztem Mittel, seinen Opferbefehl zu verweigern, gewarnt, dann aber die List als ein Mittel qualifiziert hat, das »eine reine Seele« (V. 1874) nicht gebrauche. Thoas konfrontiert sie also mit jener Verstrickung ins Barbarische, deren sie sich im Vierten Aufzug bereits bewußt geworden ist. Und nachdem sie ihm gestanden hat, die beiden Gefangenen seien Griechen, deckt er den Widerspruch auf, der darin besteht, daß die List, mit der sie sich ins Barbarische verstrickt hat, auf die Wiederherstellung der Antithese des Griechischen und Barbarischen zielt: Landsleute sind es? und sie haben wohl Der Rückkehr schönes Bild in dir erneut?

(V. 1890–1891)

Die »unerhörte[] Tat« (V. 1892), zu der sich Iphigenie nun durchringt, indem sie dem König die Wahrheit sagt, d.i. die List der Griechen gesteht, ist, so gesehen, der Versuch, den Selbstwiderspruch zu überwinden und die paradoxe Verstrickung ins Barbarische rückgängig zu machen.99

99

Karl Maurer (»Zwischen uns sei Wahrheit«. Die Emanzipation der dramatischen Handlung von den Regeln der klassizistischen Intrigenführung in Goethes Iphigenie auf Tauris. In: Neohelicon 29 [2002], S. 193–217, hier S. 213) weist wie andere vor ihm darauf hin, daß Goethes Drama sich hier an Sophokles’ Philoktet anlehnt, und fügt hinzu, daß sich mit dieser Anlehnung eine »Wendung in der Formgeschichte der klassizistischen Tragödie« vollzog, nämlich die »Aufhebung der Intrige durch den von innen her drängenden Impuls der handelnden Cha-

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Die Tat scheint die alte asymmetrische Antithese des Griechischen und Barbarischen aufzuheben, denn mit dem Geständnis der Intrige verfolgt Iphigenie anders als zuvor mit dem Geständnis ihrer Herkunft kein davon verschiedenes Ziel; es ist nicht bloß Mittel zum Zweck. Erst jetzt ist Thoas ein ihr ebenbürtiger Gesprächspartner (eine Ebenbürtigkeit, die, wie gesagt, bei Euripides, aber auch in den aufklärerischen Iphigenie-Dramen undenkbar ist), und im Bühnengeschehen ist erst jetzt der Punkt erreicht, an dem die Bildung des Barbaren zur Humanität sich bewähren kann. Denn Thoas ist nun allein Herr der Situation, und er muß zwischen Rache und »Gnade« (V. 1983) wählen, wie Iphigenie hervorhebt, indem sie an seine Menschlichkeit appelliert: Uns beide hab’ ich nun, die Überbliebnen Von Tantals Haus’, in deine Hand gelegt; Verdirb uns – wenn du darfst. (V. 1934–1936)

Doch Thoas weist diesen Appell zurück, indem er ihr sarkastisch das Recht abspricht, ihn zur Menschlichkeit bilden zu wollen: Du glaubst, es höre Der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus, Der Grieche, nicht vernahm? (V. 1936–1939) 100

Thoas parodiert hier die Sprache der Griechen und führt die GriechenBarbaren-Antithese ad absurdum, indem er sie auf die Geschichte von Iphigenies Familie anwendet, die ja, wie er inzwischen weiß, aus einer Serie von barbarischen Greueltaten besteht. Derart stellt er die neuzeitliche Gleichsetzung des Griechentums mit Humanität in Abrede und deckt auf, daß Iphigenie ihm mit ihrem Appell zumutet, besser zu sein als ihresgleichen. Vor allem aber formuliert er mit seiner rhetorischen Frage die Aussage, daß Iphigenie im Grunde nicht glaubt, er, der Barbar, könne zum humanen Griechentum gebildet werden. Er wendet die Antithese also auch auf den humanistischen Appell selbst an und sucht diesen dadurch als Heuchelei zu diskreditieren. Gegen diese doppelte kontrapunktische Anwendung der alten Antithese macht Iphigenie wiederum die neue, kosmopolitisch-universalistische

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raktere, gewissermaßen als Gegenstück zum von außen kommenden coup de théâtre«. Zur historischen Semantik des Nomens Skythe vgl. Petermann: Geschichte, S. 48.

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Bedeutung ihres Humanitätsbegriffs geltend: Die Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit, beteuert sie, höre »jeder, / Geboren unter jedem Himmel, dem / Des Lebens Quelle durch den Busen rein / Und ungehindert fließt« (V. 1939–1942).101 Doch im Lichte von Thoas’ kontrapunktischer Replik zeigt sich, daß die alte Antithese nur scheinbar aus diesem universalistischen Humanitätsverständnis verschwunden ist. Denn mit dem Relativsatz »dem / Des Lebens Quelle durch den Busen rein / Und ungehindert fließt« nimmt Iphigenie eine qualitative Differenzierung vor:102 Bestimmte Menschen, eben die, denen des Lebens Quelle nicht so rein und ungehindert durch den Busen fließt, d.h. die von Natur aus Unverbesserlichen, nicht Erziehbaren, fallen aus der »universalen Bezugsgruppe« der Menschheit, der sie als Menschen doch zugleich angehören, heraus.103 Auch in Iphigenies universalistischem Humanismus, in dem das Griechische den Wert der Bildung zur Humanität vertritt, ist also die Funktion der Ausschließung wirksam, von der die alte antithetische Topographie oder Geographie bestimmt war: Das durch Bildung zu überwindende ›Barbarische‹ wird zur Konstitution von ›griechischer‹ Humanität weiterhin als negative Folie benötigt, wie solche Humanität ja das ›Barbarische‹, sozial- und kulturgeschichtlich gesehen, als ihr auszubeutendes materielles Substrat benötigte.104 101

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Dieses naturrechtliche Denken hat Iphigenie von ihren aufklärerischen Vorgängerinnen geerbt. Vgl. vor allem Guymond de la Touche: Iphigénie en Tauride, S. 14: »La nature me parle, & ne peut me tromper. / C’est la première loi …. C’est la seule peut-être …. / C’est la seule, du moins, qui se fasse connoître, / Qui soit de tous les tems, qui soit de tous les lieux, / Et qui regle à la fois les hommes & les Dieux.« Zu dieser Art von wiederum asymmetrischer Qualifizierung vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 245f., und oben, Kap. 2.2, S. 61. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 245. Adorno spricht in seinem Iphigenie-Essay treffend vom »barbarische[n] Rest im Widerstand gegen die Barbarei«, doch er meint damit nicht die Dynamik der Ausschließung und Verkehrung, die in der alten asymmetrischen Opposition des Griechischen und Barbarischen selbst angelegt ist und sich im Humanitätsideal kontrapunktisch geltend macht, sondern die allgemeine Dialektik der Zivilisation, die, indem sie über die Barbarei hinausführe, diese Barbarei »bis zum gegenwärtigen Tag vermöge der Repression, die ihr Prinzip, das naturbeherrschende ausübt, auch befördert« habe (Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, S. 23). – Daß Goethe sich »zur Entstehungszeit der ›Iphigenie‹ keinen Illusionen über den dunklen Hintergrund seiner strahlenden ›Humanitätsreligion‹ hingab«, betont im Hinblick auf die entstehungsgeschichtlichen Zeugnisse Bernd Witte: Iphigenie und Emilie. Kleine Etude über die Unvernunft der Aufklärung. In: Literatur in der Gesellschaft. Festschrift für Theo Buck. Hrsg. v. Frank-Rutger Hausmann, Ludwig Jäger und Bernd Witte. Tübingen 1990,

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Diese Paradoxie des klassizistischen Humanismus, auch seiner neuhumanistischen Variante, ist unauflösbar.105 Sie wird indes bei Goethe verdeckt, da Thoas am Ende einlenkt (freilich zögerlich und wortkarg). Doch zuvor führt die Aufdeckung der Intrige, die den Taurern unabhängig von Iphigenies Geständnis gelingt – für die ›unerhörte Tat‹ wäre es also fast zu spät gewesen –, zur kriegerischen Auseinandersetzung: Orest, Pylades und Arkas treten mit gezückten Schwertern auf (vgl. die Regieanweisungen vor V. 1992 und V. 2012). Ihren Worten ist zu entnehmen, daß die Griechen der Übermacht der Taurer zu erliegen drohen. Es ist wiederum Thoas, der, indem er seinen Kriegern befiehlt, die Waffen ruhen zu lassen – »Keiner / Beschädige den Feind, so lang’ wir reden« (V. 2022–2023) –, die Möglichkeit zur dialogischen Verständigung schafft. Der Verkehrung der Positionen von ›griechischer‹ Humanität und ›taurischer‹ Barbarei entspricht es, daß Orest daraufhin, anstatt für gänzlichen Gewaltverzicht zur argumentieren, ein archaisches, dem Menschenopfer-Ritual noch ähnliches Mittel der Eindämmung von Gewalt vorschlägt: das Duell, nämlich einen Zweikampf zwischen ihm und Thoas.106 Erst nachdem Iphigenie mit Erfolg gegen den Gebrauch dieser Art des »blutigen Beweises« (V. 2064) Einspruch erhoben hat, kommt das, wie es scheint, unüberwindliche Hindernis auf dem Weg zum »Friede[n]« (V. 2098) zur Sprache: der

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S. 117–132, hier S. 12. Goethe, bemerkt Witte, beaufsichtigte zur Zeit der ersten Niederschrift des Dramas die Rekrutierung armer Bauern- und Handwerkersöhne; diese seien »die ›Menschenopfer‹, durch deren Ausschluß aus der Gemeinschaft sich das Weimarer Herzogtum seinen äußeren und inneren Frieden erkauft« habe (S. 120). Diese hilfreiche sozialgeschichtliche Kontextualisierung darf indes nicht übersehen lassen, daß es in der Debatte, die in Goethes Drama über das Menschenopfer als Institution geführt wird, um die grundsätzliche Frage geht, ob eine Gewalt, die das soziale Gefüge bedroht, nur durch eine sanktionierte, ›geheiligte‹ Gewalt beendet werden kann, ja ob eine Sozialstruktur, um Bestand zu haben, der gesetzlich geregelten Tötung von Menschen bedarf. Aus sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive läßt sich diese Debatte auch auf die Todesstrafe beziehen, deren Vollstreckung ja häufig einem Opferritual entsprach und entspricht (vgl. Burkert: Homo necans, S. 57f., dort weitere Literatur); im 18. Jahrhundert wird sie deshalb im Namen des Naturrechts bekämpft, z.B. von Cesare Beccaria. Über all dem darf jedoch nicht die antikisierende Form des Dramas außer acht gelassen werden, die, wie gesagt, der Debatte eine kulturgeschichtliche Tiefendimension verleiht und jede vorschnelle Reduktion des im Drama Verhandelten auf zeitgenössische historische Tatbestände verbietet; s. oben, Kap. 1, S. 9ff.; Kap. 2.3, S. 65. S. dazu auch die abschließenden Überlegungen unten, Kap. 6, S. 248f. Zur Funktion dieses Mittels der Eindämmung von Gewalt und seiner Beziehung zum Opferritual vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 36f.

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vom Orakel des Apoll angeblich geforderte Raub des »heil’ge[n] Bild[s] der Göttin« (V. 2100) – ein Raub, vor dem Thoas die Griechen nun mit einer weiteren kontrapunktisch-parodistischen Anwendung der HellenenBarbaren-Antithese warnt, nämlich mit jener Anspielung auf den MedeaMythos, von der bereits die Rede war.107 Das Hindernis wird indes von Orest dadurch, daß er das Orakel als eine Allegorie interpretiert, geschickt aus dem Weg geräumt: Die vom Orakel geforderte Heimführung der »Schwester, die an Tauris [sic] Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt, / Nach Griechenland« (V. 2113–2115) sei, wie er jetzt erkenne, auf Iphigenie zu beziehen; sie, nicht das Standbild, solle nach Griechenland gebracht werden, und von ihr, nicht vom Standbild, sei er »geheilt« (V. 2120) worden. Orests anthropozentrische Allegorese des Orakels, mit der, wie Moritz in seiner Götterlehre schreibt, der »neue Dichter der Iphigenie auf Tauris [...] der alten Dichtung eine feine Wendung« gibt,108 erfüllt hier partiell die Funktion, die bei Euripides der Auftritt der Athene als dea ex machina und bei Goethes aufklärerischen Vorgängern die Tötung des Barbaren innehat; an Stelle der Tötung ersetzt die ›feine Wendung‹ den Auftritt der übermächtigen, schrecklichen Göttin, und sie bestätigt, daß der Statuenraub überflüssig ist. Somit scheint, wie schon bei der Heilung des Orest, die humanistisch umgedeutete HellenenBarbaren-Antithese die neue Richtung vorzugeben, die der mythologischen Handlungssequenz eingeschrieben ist.109 Die gewaltfreie Heimführung Iphigenies und der Verzicht auf den Statuenraub, dieser kühne Eingriff in den Iphigenie-Grundmythos, bedeuten offenbar die endgültige Verwirklichung jenes Programms, das Pylades schon im Zweiten Aufzug ausspricht: Es gilt, die Grenzverletzung rückgängig zu machen, die mit der Versetzung Diana-Iphigenies ins Barbarenland ebenso wie mit Orests Verstrickung

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S. oben, Kap. 1, S. 3f. Moritz: Werke. Bd. 2, S. 822. Auch aus mythenwissenschaftlicher Sicht ist die Identifikation der Göttin mit Iphigenie eine ›feine Wendung‹, wenn man bedenkt, daß Iphigeneia ursprünglich »dem Namen und auch dem Wesen nach eine alte Geburts- und Fruchtbarkeitsgöttin [...] und zugleich eine verderbenbringende Todesgöttin« war, deren Kult »mit Menschenopfern verbunden gewesen zu sein« scheint und die im Laufe der Zeit von anderen Gottheiten, insbesondere von Artemis, »in den Schatten gestellt oder aufgesogen« wurde (Kjellberg: Iphigeneia, Sp. 2589). Dazu s. auch Hamlin: »Myth and Psychology«, S. 74ff. Anzumerken ist ferner, daß Orests anthropozentrische Allegorese Spuren jener Tradition rationalistischer Mythendeutung aufweist, die man als Euhemerismus bezeichnet. S. oben, S. 130, 141.

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in die barbarischen Verwandtenmorde der Atriden erfolgt ist. Iphigenie, das – wie Pylades schon vor der ersten Begegnung mit ihr sagt – »göttergleiche[] Weib« (V. 772), wird erst in dem Augenblick, in dem sich die Aussicht auf ihre Rückkehr in den Raum des Griechischen eröffnet, zum Bild des von allen Schlacken des Barbarischen gereinigten Göttlichen und dieses zum Urbild der Humanität.110 »[...] du bist den Deinen wieder, / Du Heilige geschenkt« (V. 2118–2119), sagt Orest, indem er das Rätsel des Orakels löst. Damit sagt er aber auch: Du bist nicht zugleich den Taurern geschenkt. Die Griechen bleiben am Ende unter sich, und die Barbaren bleiben sich selbst überlassen. Arkas’ beschwörender Appell: »O wende nicht von uns was du vermagst!« (V. 1475) verhallt ungehört, weil der Zwang zur Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen sich nicht nur gegen das Humanitätsideal, sondern auch in ihm selbst geltend macht, insofern er eine der Konstituenten dieses Ideals ist. Es sei daran erinnert, daß Pylades schon im Zweiten Aufzug glaubt, der Orest und ihm vom Orakel erteilte Auftrag, Diana aus dem Barbarenland nach Griechenland zu bringen, müsse sich zwangsweise verwirklichen: »[...] und seltsam sind / Wir an der Pforte schon gezwungen hier« (V. 738–739). Orests abschließende Kommentierung des Orakels bekräftigt, daß dieses den Zwang heiligt, die Reinigung des Griechischen vom Barbarischen zu verwirklichen. Denn er charakterisiert Iphigenie, nachdem er seine vermeintliche Wunderheilung durch sie evoziert hat,111 als Schutzgöttin der Griechen, konkret des Atridenhauses,112 nicht aber der universalen Humanität: [...] Gleich einem heil’gen Bilde, Daran der Stadt unwandelbar Geschick Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist, Nahm sie [Diana, M.W.] dich weg, dich Schützerin des Hauses; Bewahrte dich in einer heil’gen Stille Zum Segen deines Bruders und der Deinen. (V. 2127–2132)

Und gleich darauf appelliert er an Thoas, sich dem von der Göttin Diana verfolgten Ziel, die Griechenfamilie als intakte Familie wiederherzustellen, nicht zu widersetzen – einem angeblich göttlichen Ziel, aus dem er sein

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Vgl. dazu im Hinblick auf das Gedicht »Das Göttliche« die wiederum humanistische Auslegung von Arthur Henkel: Die »verteufelt humane« Iphigenie. Ein Vortrag. In: Euphorion 59 (1965), S. 1–17, hier S. 16f. S. oben, S. 139. Vgl. Borchmeyers Stellenkommentar in FA, I. Abt., Bd. 5, S. 1052.

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»nähere[s] Recht[]« (V. 2141) auf das Zusammenleben mit Iphigenie herleitet (›näher‹ verglichen mit Thoas’ Recht) und dem, wie er verkündet, die Rituale entsprechen werden, mit denen die heimgekehrte Iphigenie das wiederhergestellte Griechentum heiligen wird: Sie soll erst Haus und Halle ›weihen‹ und ›entsühnen‹ und dann ihn selbst zum König weihen (vgl. V. 2136–2139). Orests Antizipation dieser rituellen Handlungen knüpft wörtlich an entsprechende Äußerungen Iphigenies an.113 Sie ist möglicherweise ein Surrogat der Kult-Aitiologien, die in der Exodos der ›taurischen‹ Iphigeneia des Euripides erfolgen. Doch bei Goethe verweisen die antizipierten Rituale nicht auf einen schon bestehenden Kult. Sie sind, legt man den rationalen Maßstab von Iphigenies Argumentation für den Verzicht auf rituelle Gewalt an, durchaus überflüssig, denn die wichtigste Bedingung der ›Entsühnung‹ des Atriden-Hauses, nämlich die Verhinderung des Brudermordes, ist ja inzwischen erfüllt. Dementsprechend kündigt die Euripideische Iphigeneia nicht künftige Rituale der Entsühnung an, als sie nach der Anagnorisis feststellt, sie könne nun, da sie ihre Hand von Orestes’ Blut rein gehalten habe, diesen aus seiner Not retten und das »gestürzte Vaterhaus / aufrichten«.114 Dennoch haben die Entsühnungs- und Weihe-Rituale, die Orest bei Goethe in Aussicht stellt, eine wichtige Funktion: Sie tragen zur Schaffung des neuen Kultbildes bei, das er aus Iphigenie macht. Es ist das Kultbild einer neuhumanistischen Religion, die auch die Barbaren anerkennen sollen. Diese dürfen zwar das Kultbild ihrer grausamen, Menschenopfer fordernden Göttin behalten und werden ihr möglicherweise, nach der Abreise der Griechen, wieder solche Opfer darbringen.115 Aber sie sollen auch der nicht minder unnahbaren und unberührbaren Göttin des humanen Griechentums Opfer darbringen – nicht Menschen- oder Tieropfer, son-

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Im dritten Monolog des Vierten Aufzugs zweifelt sie an der Erfüllung ihrer lang gehegten Hoffnung, »Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen / Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen« (V. 1701–1702), und am Ende des zweiten Streitgesprächs mit dem König richtet sie an diesen den Appell: »Laß mich mit reinem Herzen, reiner Hand, / Hinübergehn und unser Haus entsühnen« (V. 1968–1969). Euripides: Iphigeneia im Lande der Taurer, V. 992–993. S. dazu oben, S. 132. Vgl. die skeptische Einschätzung des Dramenschlusses bei Müller: Das Parzenlied, S. 247ff.; Werner: Verteufelt human, S. 252f.; Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, S. 26f.; Brown / Stephens: »…Hinübergehn und unser Haus entsühnen«, S. 102; Mecklenburg: Zur Inszenierung von Interkulturalität, S. 75f.; Uerlings: »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 65, 72f.

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dern verinnerlichte Opfer: Thoas muß dem Gedanken der Verbindung mit Iphigenie entsagen und dadurch anerkennen, daß er als Barbar vom Griechentum letztlich ausgeschlossen bleibt. Das ist die Bedingung für den Frieden mit den Griechen.116 In diesem Sinne mahnt Orest: »Laß deine Seele sich zum Frieden wenden, / O König!« (2135–2136) Und Iphigenie verleiht dem verinnerlichten Opfer, dem wichtigsten Charakteristikum des ›Schauspiels‹, das die Tragödie ablösen soll,117 mit dem zeremoniellen Lebewohl, das sie einfordert, Züge eines Rituals.118 Wie Thoas sein »Lebt wohl« (V. 2174), spricht, bleibt freilich offen, zumal der Vers – es ist der letzte des Dramas – nach diesen beiden Worten abbricht.119 Fraglich ist, ob Thoas damit Iphigenies Vorschlag zustimmt, fortan ein »freundlich Gastrecht« zwischen Griechen und Barbaren walten zu lassen, damit beide »nicht auf ewig / Getrennt und abgeschieden« seien (V. 2153–2155).120 Denn erstens ist dieser Vorschlag eine nachträgliche

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Zur Linie, die vom Menschen- und Tieropfer zum verinnerlichten Opfer als Selbstentäußerung führt, vgl. die einschlägigen Ausführungen im vierten Teil von Freuds Totem und Tabu. − Im vorliegenden Zusammenhang kann ausgeklammert werden, daß Iphigenie als Kultbild auch ein Ideal der Weiblichkeit ist; vgl. dazu aus der Sicht der Gender Studies Ortrud Gutjahr: Iphigenie – Penthesilea – Medea. Zur Klassizität weiblicher Mythen bei Goethe, Kleist und Grillparzer. In: Frauen: MitSprechen, MitSchreiben. Beiträge zur literatur- und sprachwissenschaftlichen Frauenforschung. Hrsg. v. Marianne Henn u. Britta Hufeisen. Stuttgart 1997, S. 223–243, hier S. 228; ferner Irmgard Wagner: Die Frau als Erlöserin in Goethes klassischen Dramen. In: Goethe Yearbook 5 (1990), S. 121–143, hier S. 122ff. Vgl. Schneider: Tragödie und Guillotine, S. 128: »Das verinnerlichte Opfer als Voraussetzung einer geistigen und potentiell universalen Gemeinschaftlichkeit, wie es vom bürgerlichen Trauerspiel Lessings in Szene gesetzt wird, charakterisiert auch die neue Gattung des ›Schauspiels‹, das seinen Protagonisten den physischen Tod erspart, um sie einer umso intensiveren seelischen Todeserfahrung auszusetzen, durch die sie reif zur ›Humanität‹ werden.« Diese Bemerkung läßt sich auch insofern auf Thoas beziehen, als ihm das verinnerlichte Opfer den physischen Tod erspart, der ihm in den aufklärerischen Iphigenie-Tragödien noch zuteil wird. Wie Braungart (Ritual und Literatur, S. 65) festhält, ist das Zeremoniell eine Form des Rituals. Vgl. Borchmeyers Stellenkommentar in Goethe: FA, I. Abt., Bd. 5, S. 1052. Alois Wierlacher hingegen, der Goethes Drama auf die – von ihm ausführlich dokumentierte – zeitgenössische Diskussion über ein naturrechtlich zu begründendes Fremdenrecht bezieht, ist der Auffassung, Thoas vollziehe mit seinem »Lebt wohl!« die Annahme von Iphigenies Versprechen, »das nun die Griechen wie die Skythen auf ein menschenrechtliches Fremdenrecht verpflichtet – und zwar vertraglich«, so daß sich Iphigenies Mission erfülle und »die globale Einheit der ›wilden‹ und der ›zivilisierten‹ Welt im oikos des Rechts gestiftet« werde

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Beschönigung des die Trennung der Welten und ihre Ungleichwertigkeit bekräftigenden Opfers, das Thoas abverlangt wird, und zweitens wirkt er insofern unangemessen, ja herablassend, als Thoas mit seiner Verschonung Iphigenies die Norm des Gastrechts bereits verwirklicht hat121 und nun, indem er alle drei Griechen verschont, erneut verwirklicht. Damit und mit dem Verzicht auf Rache, ohne den auch die ›feine Wendung‹ die Griechen nicht retten könnte, wie auch mit der Erfüllung seines Versprechens, Iphigenie nach Griechenland heimkehren zu lassen, sollte sich ihr die Gelegenheit dazu bieten, beweist er, der Situationsmächtige, daß er die universale ›Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit‹ durchaus gehört hat. Es ist eine andere Stimme als die, mit der Orest den neuen Kult der ›griechischen‹ Humanität ausruft,122 und doch sind beide kontrapunktisch aufeinander bezogen.

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(Alois Wierlacher: Ent-fremdete Fremde: Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama des Völkerrechts. In: Hermeneutik der Fremde. Hrsg. v. Dietrich Krusche u. Alois Wierlacher. München 1990, S. 197–217, Zitate S. 209 u. 210). Diese optimistische Deutung ist aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht haltbar, da sie die das Naturrecht unterminierende asymmetrische Argumentationsstruktur, die mit der Griechen-Barbaren-Antithese gegeben war und die ihre diskursive Effizienz im Drama bis zuletzt bewahrt, außer acht läßt. Vgl. die Worte, mit denen er im ersten Streitgespräch an Iphigenie appelliert, ihm Aufschluß über ihre Herkunft zu geben: »[...] Allein von dir, / Die jedes frommen Rechts genießt, ein wohl / Von uns empfangner Gast, nach eignem Sinn / Und Willen ihres Tages sich erfreut, / Von dir hofft’ ich Vertrauen, das der Wirt / Für seine Treue wohl erwarten darf« (V. 259–264). Vgl. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, S. 26: Thoas dürfe »an der höchsten Humanität nicht teilhaben, verurteilt, deren Objekt zu bleiben, während er als ihr Subjekt handelte.« Zur damit einhergehenden Doppeldeutigkeit der Thoas-Figur vgl. besonders Uerlings: »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 63ff. Gegen W. Daniel Wilson (Humanität und Kreuzzugsideologie um 1780. Die »Türkenoper« im 18. Jahrhundert und das Rettungsmotiv in Wielands Oberon, Lessings Nathan und Goethes Iphigenie. New York [u.a.] 1984, S. 111 u. öfter), demzufolge das Drama ein durchgängig positives Bild von Thoas vermittelt, das auf den Entführungsstoff der Türkenopern zurückzuführen sei, wie auch gegen die konträre Auffassung, nach der Thoas dem Klischeebild des sexuell aggressiven Barbaren entspricht (vgl. Helga Geyer-Ryan: Prefigurative Racism in Goethe’s Iphigenie auf Tauris. In: Europe and Its Others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. July 1984. Hrsg. v. Francis Barker [u.a.]. 2 Bde. Colchester 1985. Bd. 2, S. 112–119), macht Uerlings geltend, daß Thoas Züge sowohl des edlen Wilden als auch des Barbaren habe; er läßt jedoch außer acht, daß sich in dieser Doppeldeutigkeit die Funktion der Ausschließung manifestiert, die der Semantik des Barbarischen, auch ihrer humanistischen Variante, eigen ist.

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Daß auch der neue Kult ein Opferkult ist, zeichnet sich, wie angemerkt sei, nicht erst bei Goethe, sondern schon bei Johann Elias Schlegel ab. Bei diesem richtet der taurische Opferpriester Hierarchus an Iphigenie, Orest und Pylades die das Trauerspiel beschließenden Worte: Hier soll kein Grieche mehr durch uns geopfert werden; Ihr selbst seyd Opfer werth, und Götter auf der Erden.123

Goethes Griechen erinnern am Ende tatsächlich von Ferne an jene erhabenen, göttlichen »Herrscher« (V. 1754), von denen das Parzenlied singt und zu denen Iphigenie auch den Taurerkönig zählen wollte. Der erhabene religiöse ›Schauder‹, den am Anfang Iphigenie beim Betreten des heiligen Hains der Göttin empfindet (vgl. V. 4), Arkas hingegen bei Iphigenies Priesterinnen-»Blick« (V. 71) und der König bei ihrem genealogischen Bericht (vgl. V. 389), zeigt sich in der Mitte des Stücks szenisch als physische Gewalt – die Vision seiner Opferung durch die Schwester läßt Orest in Ohnmacht fallen (vgl. V. 1239–1254) –, und er spricht am Ende aus den enthusiastischen Worten, mit denen Orest die Schwester einem »heil’gen Bilde« (V. 2127) vergleicht. Iphigenie bleibt die unnahbare Priesterin, die sie schon zu Beginn ist, doch nimmt sie nun überdies die Stelle der unnahbaren Göttin ein. Folglich muß ihr Bild selbst etwas von der Furcht einflößen, die das alte, die Menschen entmündigende und zu grausamen Ritualen zwingende Bild der Götter ausdrückt und hervorruft.124 Die von Orest gepriesene Heiligkeit und heilende Kraft Iphigenies teilt, so gesehen, mit dem schrecklichen Heiligen, dessen Gegenstück sie ist, das sie aber bestehen läßt, den Abstand vom Humanen. Der am Ende aufbrechende Widerspruch zwischen postulierter Universalität des Humanitätsideals und erzwungener Exklusivität des Kreises der Privilegierten, die sich zur ›griechischen‹ Humanität bilden können,125 zeigt demnach die Spur der Zwänge, denen das mythische Denken der Barbaren gehorcht.

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Johann Elias Schlegel: Werke. Bd. 1, S. 68. Zu diesem Ergebnis vgl. auch Greiners Beobachtung, daß am Ende der Entwurf der reinen Weiblichkeit, die Iphigenie zugesprochen wird, ihre ambivalente Weiblichkeit nur verdeckt, nicht aber ablöst (Greiner: Weibliche Identität, S. 41f.). Vgl. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, S. 26f. Es gibt aus dieser Perspektive in Goethes Drama keine »Affinität von Frauen und edlen Wilden«, die darin bestehe, daß beiden die Aufgabe zukomme, »die gestörte vaterrechtliche Ordnung der eigenen Kultur wiederzerzustellen« (Uerlings: »Ich bin von niedriger Rasse«, S. 61, 63).

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Auch Orests Allegorese des Orakels hat diese Zwänge nicht beseitigt. Sie ist zwar insofern – um ein bekanntes Diktum Goethes über sein Drama zu zitieren – »verteufelt human«,126 als sie Iphigenie die Stelle der Göttin einnehmen läßt.127 Doch dieses Stück radikaler Aufklärung löst vom dunklen Substrat des Mythos eine humane Bedeutungsschicht nur ab, anstatt das Substrat selbst aufzulösen. Das entspricht der Struktur der Allegorie, die durch die Parallelität von zwei analogen, miteinander nicht identischen Zeichenebenen konstituiert wird. Die Nichtidentität ist ein Indiz für die Nichterfüllung des aufgegebenen Bildungsprogramms. Anders gesagt: Vom nun zurückbleibenden Kultbild der schrecklichen Göttin, der im Rahmen von Ritualen Menschopfer dargebracht wurden und vielleicht auch wieder werden, löst sich das neuhumanistische Kultbild Iphigenies genauso ab, wie sich die heimkehrenden Griechen von den zurückbleibenden Taurern trennen. Und das neuhumanistische Kultbild, das essentiell ›Griechische‹, wird ja durchaus heimgeführt; der Verzicht auf den Statuenraub greift demnach weniger radikal in den Grundmythos ein, als es zunächst den Anschein haben mochte. Somit sind die Grenzen, auf die Goethes Versuch stößt, die mit dem Dramenstoff gegebene Opposition zwischen Griechen und Barbaren durch den Gedanken der Bildung zur autonomen, universalen Humanität zu überbrücken, zugleich die Grenzen der Möglichkeit, mit Iphigenie in Tauris zur Verwirklichung einer ›Götterlehre in rein menschlichem Sinne‹ beizutragen. Im Verhältnis zwischen Göttern und Menschen einerseits und Griechen und Barbaren andererseits stellt sich wohl eine Art Gewaltverzicht ein, nicht aber die vom humanistischen Mythologie- und Bildungskonzept der frühen Klassik postulierte schöne Totalität als harmonische, organische Übereinstimmung aller Teile. Diesem Konzept widerstehen sowohl die asymmetrische Argumentationsstruktur, die mit der GriechenBarbaren-Antithese gegeben war, als auch der funktionale Zusammenhang des Iphigenie-Mythos mit dem Opferritual, den die ›neue Mythologie‹ der

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An Schiller, 19. Januar 1802. In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Bd. 2, S. 387. Zur Interpretation vgl. u.a. die zitierten Arbeiten von Henkel, Adorno, Rasch und Deiters. Darin besteht der Unterschied zwischen Orests Umdeutung des Orakels und derjenigen, die Calchas am Ende von Racines Iphigénie vollzieht. Beide führen die Konfliktlösung herbei (vgl. Maurer: »Zwischen uns sei Wahrheit«, S. 199, Anm. 28). Doch anders als bei Racine findet bei Goethe keine Substitution statt, sondern die Doppeldeutigkeit des Orakels besteht fort: Die Schwester ist Iphigenie, aber doch auch Diana; Iphigenie bedeutet Diana und umgekehrt.

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reinen Humanität zwar verinnerlicht, aber nicht abschafft, zumal offenbleibt, ob die Barbaren ihrer eigenen Göttin nicht bald wieder Menschenopfer darbringen werden. Goethes Versuch, den Iphigenie-Mythos in ›rein menschlichem Sinne‹ umzugestalten, mündet also in die Infragestellung des Mythologie-Konzepts der frühen deutschen Klassik. Vielleicht bezeichnet Goethe auch deshalb das Drama rückblickend als »Schmerzenskind«.128 In der vorliegenden Untersuchung wurde wiederholt festgestellt, daß die poetische Semantik des Barbarischen, die im klassizistischen Drama begegnet, von der ethnographischen Semantik des Barbarischen qualitativ verschieden, aber dennoch auf sie bezogen ist.129 So hebt sich Iphigenies neuhumanistische Barbarenmission zwar deutlich von der christlichen Barbarenmission ab, die mit der überseeischen Expansion Europas einsetzte und auf die geistige Kolonialisierung der neuen Welten zielte.130 Denn Iphigenie arbeitet für keine Kolonialmacht; ihr Wirken zielt nicht auf die Ermöglichung territorialer Expansion durch Bekehrung, Unterwerfung oder gar Versklavung von kulturell fremden Populationen, sondern auf deren gewaltfreie Erziehung zur universalen Menschlichkeit. Doch es zeigt sich, daß die vom klassizistischen Drama vorgeführte, durchaus utopische Alternative zur christlichen Barbarenmission mit dieser die Herkunft aus einer kulturellen Topographie oder Geographie teilt, deren Dynamik der Ausgrenzung sich auch im Denken und Handeln Iphigenies manifestiert: zwar nicht als Bereitschaft zum Vergießen von Barbarenblut (die indes ihr Bruder Orest bis zum Schluß durchaus hat), aber als Unterminierung ihres eigenen Wirkens im Namen einer ›Reinheit‹, die ebenso wie ihre ›Heiligkeit‹ und die ›Heilung‹ des Orest nur aus der Trennung des Griechischen vom Barbarischen hervorgehen kann. Das Ziel dieses paradoxen Ineinanders von Erziehung und Ausgrenzung der Barbaren besteht, historisch gesehen, im Erweis der Selbstgenügsamkeit, Makellosigkeit und uneinholbaren Überlegenheit nicht nur des idealen Objekts neuhumanistischer Bildung, sondern auch der sich Bildenden und Gebildeten selbst. Die Beschwörung von ›Heilung‹, ›Heiligkeit‹ und ›Reinheit‹ beinhaltet also, daß auch Goethes ideale Europäer das essentiell Hybride ihres eigenen Kulturraums verkennen und sich dem Kulturraum der Nichteuropäer um so überlegener wähnen, als sie ihr vermeintlich ›rein‹ Eigenes für das

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S. oben, Kap. 1, S. 1. S. oben, Kap. 1, S. 9ff.; 2.3, S. 65; 3.2.2, S. 95. Vgl. Petermann: Geschichte, S. 90f. u. öfter.

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Ganze und Allgemeine ausgeben.131 Die dramatischen Monologe und Dialoge, in denen dieser Grundwiderspruch zwischen postulierter Universalität und faktischer Exklusivität immer wieder aufbricht, realisieren demnach szenisch ein Wesensmerkmal des Eurozentrismus als einer – mit Said zu reden – ›structure of attitude and reference‹, die sich z.B. in der christlichen Barbarenmission historisch konkret manifestiert hat. Das lebenspraktische Pendant dieser Haltung ist eine Ausgrenzung, in der, wie im Verlauf der vorangehenden Überlegungen immer wieder deutlich wurde, die erneute und sich beständig erneuernde Verstrickung in das Ausgegrenzte angelegt ist – eine wiederum unauflösbare Paradoxie, die in Goethes Drama von der fragilen und, historisch gesehen, utopischen Einvernehmlichkeit, die sich am Ende einstellt, nur notdürftig verdeckt wird. In Grillparzers Trilogie kann sich diese Einvernehmlichkeit zu keinem Zeitpunkt des Geschehens einstellen. Vielmehr werden die Paradoxie und Aporie des Kults der ›griechischen‹ Humanität und dessen ethnozentrische Tiefenschicht nun schonungslos aufgedeckt, und es artikuliert sich von Anfang an ein Widerstand, der sich nicht damit begnügt, jenen Kult kontrapunktisch zu kommentieren, sondern selbst ethnozentrisch ist.

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Vgl. dazu die oben, Kap. 1, S. 6f., angeführten Überlegungen von Said und in Kap. 2.2, S. 46, das Zitat von Waldenfels’ Bestimmung des Eurozentrismus. − Der Tendenz zur »Hybridisierung«, die Mecklenburg (Zur poetischen Inszenierung von Interkulturalität, S. 66, 73f.) in Goethes Drama ausgedrückt findet, widerspricht also die Tendenz zur ›Homogenisierung‹, und dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst.

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5.

Das goldene Vließ

5.1. Wiederherstellung der ethnozentrischen Semantik des Barbarischen: Vorüberlegungen zur Aktualisierung und Ergänzung des Medea-Mythos in Grillparzers Trilogie Das nachhaltige Interesse an dem Mythenkomplex, in dessen Mittelpunkt die Geschichte von Jason und Medea steht, ist reich dokumentiert. Man denke an die bis heute nicht abreißende Kette von Bearbeitungen in Literatur, bildender Kunst, Musik, Musiktheater oder Film und an die Fülle wissenschaftlicher Publikationen dazu und zu anderen Aspekten des Mythos.1 Auffallend ist auch die Häufigkeit, mit der in jüngster Zeit Medea-Dramen inszeniert werden, insbesondere die von Euripides, Grillparzer und Heiner Müller;2 bisweilen wird sogar Grillparzers Trilogie als ganze und nicht nur,

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Vgl. außer den bereits zitierten Monographien und Sammelbänden (Kap. 1, Anm. 10; Kap. 2, Anm. 31, 46) z.B. die folgenden Arbeiten: Léon Mallinger: Médée. Etude de littérature comparée. Genève 1971 (repr. Nachdruck der Ausgabe Louvain 1897; eine stoffgeschichtlich orientierte Arbeit); Kurt von Fritz: Antike und moderne Tragödie. Neun Abhandlungen. Berlin 1962, S. 322ff. (Fritz wertet die Tragödie des Euripides als letztlich unübertroffenes Modell); Konrad Kenkel: Medea-Dramen. Entmythisierung und Remythisierung. Bonn 1979 (zur Funktion des Mythos in Medea-Dramen von Euripides bis Jahnn); zur Psychohistorie des Medea-Mythos vgl. die Arbeiten von R. Böschenstein (s. unten, Anm. 30); speziell zur dramenpoetischen Bearbeitung des Mythos Lillian Corti: The Myth of Medea and the Murder of Children. Westport, CT 1998. »Ein Ende des Medea-Booms zeichnet sich nicht ab«, stellt Inge Stephan (Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln [u.a.] 2006, S. 5) fest. Ihre Studie legt den Akzent auf Medea-Bearbeitungen des 20. Jahrhunderts. Medea-Dramen waren in der Spielzeit 2006/2007 u.a. auf den folgenden deutschsprachigen Bühnen zu sehen: Deutsches Theater Berlin (Euripides), Theater Freiburg (Euripides und Heiner Müller), Residenztheater München (Euripides), Schauspielhaus Graz (Grillparzer), Deutsches Schauspielhaus Hamburg (Grillparzer), Thalia-Theater Hamburg (Tom Lanoye). Im Jahre 2007 wurde auch Pascal Dusapins Oper Medeamaterial (1991) mehrfach inszeniert. Das Libretto fußt auf dem zweiten Teil von Heiner Müllers 1981/1982 verfaßtem

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wie es bis in die neunziger Jahre üblich war, ihr dritter Teil, »Medea«, aufgeführt.3 Das Interesse an der Trilogie gilt vor allem ihren Themen: dem des Geschlechterkonflikts und dem des Konflikts zwischen ›griechischer‹ Kultur und ›barbarischer‹ Unkultur. Mit diesem Thema scheint Grillparzers Trilogie auf kulturelle Konflikte vorauszudeuten, die gegenwärtig mit Schlagwörtern wie Migration, Asyl und ›clash of civilizations‹ (so der Titel von Samuel Huntingtons richtungsweisendem und umstrittenem Artikel)4 aufgerufen werden. Zweifellos geraten Inszenierungen, die darauf zielen, aus Grillparzers Trilogie einen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über kulturelle Konflikte im Zeitalter der Globalisierung zu machen, in Gefahr, Anachronismen zu produzieren und den strukturell-semiotischen Unterschied zwischen dramatisiertem Mythos und politisch-ideologischer oder ideologiekritischer Aussage zu vernachlässigen. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Trilogie und die gegenwärtige Debatte, insbesondere die über den ›clash of civilizations‹, sich beide auf jene alte antithetische kulturelle Topographie oder Geographie beziehen, deren Anfänge in der griechischen Tragödie, Ethnographie, Historiographie und Philosophie zu suchen sind. Freilich ist die Art der Beziehung nicht dieselbe. Bei Huntington wirkt die alte Antithese unbefragt als diskursive Praxis weiter: Zwar teilt er in seinem Artikel die Welt in sieben bis acht Kulturen ein, doch in der Rhetorik

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Stück Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (in: Heiner Müller: Werke. Hrsg. v. Frank Hörnigk. Bd. 5: Die Stücke 3. Frankfurt/M. 2002, S. 71–83; dazu der Kommentar S. 322ff.). So am Theater Basel (Spielzeit 2005/2006) und am Theater Essen (Spielzeit 2006/2007) – dort unter dem Titel »Jason und Medea«. – Zur älteren Aufführungsgeschichte von Grillparzers Werk vgl. Hilde Haider-Pregler: Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ. Dramaturgie und Rezeption. In: Franz Grillparzer. Hrsg. v. Helmut Bachmaier. Frankfurt/M. 1991, S. 273–320. Haider-Pregler stellt rückblickend fest, die Trilogie sei, als ganze betrachtet, eines der seltener gespielten Dramen von Grillparzer; auf den dritten Teil, »Medea«, reduziert, gehöre das Werk hingegen zu seinen am meisten gespielten und populärsten (S. 273). Aus ihren Ausführungen geht indes hervor, daß diese den dritten Teil isolierende Praxis der verfälschenden Vereinnahmung durch die NS-Kulturpolitik Vorschub leistete (vgl. S. 301f.). Vgl. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72/3 (1993), S. 22–49. Zur Beziehung zwischen Grillparzers Trilogie und der von Huntington ausgelösten Debatte vgl. auch Horst Turk: Translatio imperii oder Revanche de Dieu? Das Problem kultureller Grenzziehungen in Grillparzers Goldenem Vließ. In: Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Hrsg. von Horst Turk, Brigitte Schultze und Roberto Simanowski. Göttingen 1998, S. 193–219.

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der Einteilung setzt sich unverkennbar die wertende Grenzziehung zwischen westlicher und nichtwestlicher (insbesondere muslimischer) Kultur durch.5 Und in der Rhetorik des gegenwärtigen ›Kriegs gegen den Terror‹, den man bisweilen als Bestätigung der ›clash‹-Theorie versteht, werden der für jene Topographie oder Geographie so wichtige, wertende Begriff des Barbarischen und die daran haftenden Klischeebilder, insbesondere ihre orientalistische Verwendung, wiederum affirmativ angewandt.6 Grillparzers Trilogie hingegen fordert, wie bereits gesagt, zur Reflexion über die Herkunft des Barbarenbegriffs und über die Implikationen seiner ethnozentrischen Anwendung auf.7 Allein deshalb kann sie als Vorausdeutung auf die gegenwärtigen kulturellen Grenzziehungen verstanden werden: Sie vermag zu zeigen, daß in solchen Grenzziehungen die Funktion der Ausschließung wirksam ist, die der Begriff des Barbarischen als Sammelbegriff für fremde Ethnien hat – ein Begriff, der griechischen Ursprungs ist und in der Geschichte der abendländisch-westlichen Auseinandersetzung mit fremden Ethnien immer wieder aktualisierend angewandt wurde. Die Trilogie ist demnach für die aktuelle Debatte von Interesse, weil sie die Dynamik, die diesen Anwendungen des Begriffs eigen ist, szenisch zu realisieren vermag und weil sie zugleich auf die geschichtliche Übertragbarkeit der mit dem Begriff gegebenen ›asymmetrischen Argumentationsstruktur‹ (Koselleck) aufmerksam macht. Der Verdeutlichung dieser Struktur und ihrer Übertragbarkeit dient bei Grillparzer die referentielle Unbestimmtheit der mythologischen Handlungssequenz8 und deren epische Länge: Der Tragödie von Medea in Korinth geht die zweiteilige Tragödie der Griechen in Kolchis voran. Erst bei Grillparzer emanzipiert sich das kolchische Geschehen vom Status der Vorgeschichte, den es in den vorangehenden dramatischen Bearbeitungen des Medea-Mythos hat (wofern die Vorgeschichte nicht, wie bei Gotter, weitgehend ausgeklammert wird).9 Das zweigeteilte kolchische

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Vgl. Huntington: The Clash of Civilizations?, S. 48f. Eine ausführliche Kritik an Huntingtons Thesen findet sich bei Todorov: La peur des barbares, S. 131ff. Auf die wichtige Rolle des ›Orientalismus‹ beim Zustandekommen der beiden Irak-Kriege verweist Said in seinem posthumen Artikel: L’humanisme, dernier rempart contre la barbarie. In: Le Monde diplomatique. Septembre 2003, S. 20–21. S. oben, Kap. 1, S. 11ff. S. dazu oben, Kap. 2.3. Vgl. Gerhard Neumann: Das goldene Vließ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer. In: Tragödie. Idee und Transformation. Hrsg. v. Hellmut Flashar.

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und das korinthische Geschehen sind nun die gleichgewichtigen Hälften einer – es sei an das von Schiller formulierte Anliegen erinnert – ›ganzen Geschichte‹.10 Die beiden Hälften ergänzen sich wechselseitig, so daß der skandalöse Kindermord, dieser überlieferungsgeschichtlich wichtigste Bestandteil des Medea-Mythos und seiner dramenpoetischen Bearbeitungen, nicht mehr die Hauptsache ist. Als Hauptsache erweist sich auch keine andere singuläre Handlung, die in ihrer herausragenden Bedeutung dem Kindermord analog wäre, sondern der Zyklus von Gewalt und Gegengewalt, den, wie schon der Titel der Trilogie zu verstehen gibt, das Streben nach dem Besitz des goldenen Vließes zur Folge hat – ein Streben, das die Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren tendenziell nivelliert, weil es beiden gemeinsam ist. Zugleich aber werden die Unterschiede durch die Gegenüberstellung der beiden Schauplätze Kolchis und Korinth betont:11 Die Gegenüberstellung erweckt den Eindruck der großen räumlichen und kulturellen Distanz, die das Barbarenland von Griechenland trennt, zumal die Reise von diesem in jenes wiederholt zur Sprache kommt. Und mit der Gegenüberstellung der beiden Schauplätze gewinnt – das ist eine wichtige Funktion der Verselbständigung des kolchischen Geschehens – die wertend-asymmetrische, ethnozentrische Griechen-Barbaren-Antithese ein ganz neues Profil: Der ethno-, genauer eurozentrische Kult der ›griechischen‹ Humanität stößt bei den Barbaren auf einen wiederum ethnozentrischen, genauer nativistischen Widerstand. Die Medea-Dramen, die auf Euripides folgten und dem Goldenen Vließ vorangingen, weisen keine Ansätze zu einer solchen Ergänzung des ›griechischen‹ Ethnozentrismus auf, im Gegenteil: Die Griechen-Barbaren-Antithese lebt in ihnen tendenziell nur noch als Redeschmuck weiter.

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Stuttgart / Leipzig 1997, S. 258–286, hier bes. S. 261, wo Neumann, ausgehend von Äußerungen Grillparzers über seine Trilogie, hervorkehrt, daß die Zusammenfügung der beiden Hälften »ein wesentliches Moment von Grillparzers Erneuerung der Tragödie« ist. – Zu Gotter s. unten. S. oben, Kap. 1, S. 1. Es besteht also keine innere Beziehung zwischen Grillparzers »Argonauten« und Corneilles prunkvoll-barockem Drama La Toison d’or (1661): In diesem Drama, das trotz seiner Gattungsbezeichnung tragédie keine Tragödie ist, sondern ein allegorisches höfisches Festspiel, löst sich die Dramatisierung des kolchischen Geschehens ganz von der zweiten und dritten Phase des Grundmythos; die Handlung, in der kulturelle Konflikte keine Rolle spielen, mündet dank göttlichen Beistands in eine versöhnliche Fürstenhochzeit. Wie sehr Grillparzer an dieser Gegenüberstellung gelegen war, geht aus den darauf bezogenen Äußerungen in seiner Selbstbiographie (1853) hervor; vgl. Dichter über ihre Dichtungen. Franz Grillparzer, S. 138, 140f.

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Vom Ethnozentrismus des Barbarenbegriffs, der sich in der Geschichte seiner ethnographischen Verwendung bis ins 19. Jahrhundert immer wieder erneuerte,12 findet sich in ihnen kaum eine Spur, wofern der Begriff nicht sogar ganz aus ihnen verschwunden ist. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen. Es wurde bereits erwähnt, daß die Argumente, die Iason bei Seneca für die Trennung von Medea geltend macht, den ethnozentrischen Akzent verloren haben, mit denen er sie bei Euripides versieht, und daß selbst das Wort barbarus an den beiden Stellen, an denen es verwendet wird, keine ethnozentrische Bedeutung hat.13 Das gilt auch für die Verwendung des Wortes barbare im ersten wichtigen Medea-Drama der Neuzeit, Corneilles Tragödie Médée (1635), die sich stärker an Seneca als an Euripides anlehnt (an Seneca und Ovid knüpft u.a. die Hervorhebung von Médées Zauberkünsten an). Die Bedeutung von barbare ist hier – ähnlich wie später in Racines Iphigénie – von der kosmopolitisch-humanistischen Verwendung des Begriffs geprägt, wie z.B. das Oxymoron »Barbare humanité« (V. 497)14 belegt, das die Protagonistin gebraucht, um ihre Empörung darüber auszudrücken, daß die ›humanen‹ Griechen sie verbannen, aber Ansprüche auf ihre Kinder erheben (eine auf Seneca zurückgehende Modifikation der euripideischen Handlungssequenz).15 Dementsprechend bezeichnet das Nomen »barbaries« (V. 209, 1565) die grausamen Rachehandlungen, zu denen Médée die mit ihr verschwisterten Furien auffordert, und diejenigen, die sie am Ende selbst begangen hat. Der implizite oder explizite Gegenbegriff ist immer derjenige der Menschlichkeit.16 Im zentralen Streitgespräch mit Jason erinnert Médée den Wortbrüchigen zwar wie bei Euripides an die verbrecherischen Taten, die sie aus Liebe für ihn in Kolchis und Iolkos begangen hat, und sie stellt mit Bitterkeit fest, daß er sich ihrer damals, als sie ihm nützlich gewesen sei, nicht geschämt habe: »Tu n’étais point honteux d’une femme barbare« (V. 805). Doch auch hier ist anders als bei Euripides nicht das fremde Territorium, dem sie entstammt, sondern die Unmenschlichkeit ihres Handelns gemeint.

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S. oben, Kap. 2.2. S. oben, Kap. 2.1, S. 43, und unten, S. 234f. Corneille: Théâtre complet. Hrsg. v. Maurice Rat. Bd. 1. Paris o. J., S. 462. Im folgenden nur Angabe der Verszahlen im fortlaufenden Text. S. dazu unten, S. 174, u. Anm. 32. So auch an der Stelle, an der Créon die Protagonistin als »Barbare« anredet und zugleich die Entscheidung, sie zu verbannen, ironisch als »inhumanité« bezeichnet (V. 386–387).

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Eine weitere Etappe der Loslösung des Begriffs von seiner raumbezogen-ethnozentrischen Verwendung markiert Richard Glovers Tragödie Medea (1761), die ein sympathisches Bild der Protagonistin zeichnet und darin vermutlich Apollonios und Ovid verpflichtet ist.17 Zwar gebraucht König Creon hier mehrfach die Griechen-Barbaren-Antithese, um seine Verachtung für Medea, »this barbarian outcast«, und für alle Kolcher auszudrücken.18 Diese Diskriminierung erweist sich jedoch als gänzlich unbegründet und unrechtmäßig, da Creon ein grausamer, die Götter lästernder Tyrann ist, der selbst alle Schuld an dem tragischen Geschehen trägt, letztlich auch an dem Kindermord, den Medea in geistiger Umnachtung begeht. Am Ende wird der König deshalb von Angehörigen seines eigenen Volks getötet; wie in den aufklärerischen Iphigenie-Tragödien erweist sich der Tyrannenmord als legitim. Und gegen jene Antithese, die auch ausdrücklich als ungerechtfertigt entlarvt wird,19 setzt sich die humanistischaufklärerische Gleichsetzung des Barbarischen mit dem Inhumanen durch: Medea bezeichnet, als sie ihr und der Kinder Exil vorwegnimmt, diejenigen, die sie vertreiben und verspotten, als »barb’rous herd«.20 Derselbe aufklärerisch-humanistische Sprachgebrauch ist auch für das Textbuch der deutschen Erstaufführung (Berlin 1800) von Luigi Cherubinis Medea-Oper kennzeichnend. Dort wird Jason selbst wiederholt von der Protagonistin als »Barbar« angeklagt.21 Gemeint ist die Unmenschlichkeit seines Verhaltens ihr gegenüber: Er verstößt die Gattin, die, wie sie betont, nur aus bedingungsloser Liebe zu ihm der Tugend zuwider gehandelt und Vater und Verwandte verlassen habe. In Friedrich Wilhelm Gotters empfindsamem Melo- und Monodrama Medea (1775), einem zu seiner Zeit überaus erfolgreichen Stück, das Grill-

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Vgl. Mallinger: Médée, S. 320. Richard Glover: Medea. A Tragedy, in Five Acts. Taken from the Manager’s Book, at the Theatre Royal, Drury-Lane. London o. J., S. 3. Vgl. S. 20, 30. Vgl. Glover: Medea, S. 17, wo der Erste der Kolcher bemerkt: »Oft hath her [d.i. Medeas, M.W.] known benignity preserv’d / The Grecian strangers on our barb’rous coast«. Daraufhin antwortet die mit dem Attribut der »humanity« (S. 3) ausgezeichnete korinthische Juno-Priesterin Theano: »Yet now a Grecian prince [d.i. Creon, M.W.] denies her shelter.« Glover: Medea, S. 16. Vgl. den Abdruck des Textbuchs in: Medea. Euripides – Seneca – Corneille – Cherubini [u.a.]. Hrsg. v. Joachim Schondorff. München / Wien 1963, S. 161–173, hier S. 165f., 169. Es sei daran erinnert, daß in Racines Iphigénie die Griechen, allen voran Agamemnon, von Clytemnestre als Barbaren bezeichnet werden; s. oben, Kap. 3.2.2, S. 88f.

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parzer tief beeindruckte,22 fehlt der Begriff des Barbarischen ganz. Die Konzentration auf den Konflikt zwischen Medeas verzweifelter Mutterliebe und ihrem unüberwindlichen Rachebedürfnis und auf die Wirkung, die der Kindermord bei ihr und bei Jason, der am Ende kurz zu Worte kommt, hervorruft, schließt hier jede Bezugnahme auf die territoriale und kulturelle Fremdheit ihrer Herkunft aus. Medeas Anrufung der Hekate und der Mächte der Unterwelt23 knüpft an die entsprechende Szene bei Seneca an und wird zum Zeichen für einen inneren Ausnahmezustand, der allein die gräßliche Tat ermöglicht; so hat auch Jasons Bezeichnung der Kindermörderin als »Ungeheuer[]«24 keinen Bezug zur Semantik des Barbarischen, im Unterschied zum entsprechenden Passus bei Euripides.25 In Klingers Trauerspiel Medea in Korinth (1786) finden sich zwar wiederum Spuren der Hellenen-Barbaren-Antithese: Ähnlich wie bei Euripides gibt Jason im zentralen Streitgespräch Medea zu bedenken, daß ohne ihn die Griechen Medeas »nie gedacht« hätten, so daß sie »einst an der Küste der Barbaren unbekannt gestorben« wäre.26 Mit ihrer Replik betont Medea jedoch, daß nicht die Herkunft aus einem in geographischer Hinsicht fernen und kulturell minderwertigen Land, sondern im Gegenteil das – im Geist der Geniezeit akzentuierte – übermenschliche Wesen, das sie als Tochter der Hekate und Enkelin des Helios auszeichnet, der wichtigste Grund für die Entfremdung zwischen ihr und Jason ist: Von dem Augenblicke, da ich Griechenlands Boden betrat, verfinsterte die schwarze Erfahrung an euch den reinen Geist der Enkelin der Sonne, und muß sie sich einst euch als Tochter der furchtbaren Hekate zeigen, so zwingt ihr sie dazu.27

Die Griechen-Barbaren-Antithese wird also zur Figur dieses quasi metaphysischen Gegensatzes. Medea stehe außerhalb des ›Fassungskreises‹ der Menschen, heben Kreon und Jason und sinngemäß auch Medea selbst

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Vgl. Haider-Pregler: Grillparzers Trilogie, S. 276ff. Das Stück stand, wie Haider-Pregler festhält, zwischen 1775 und 1835 immer wieder auf dem Spielplan des Wiener Burgtheaters. Vgl. Friedrich Wilhelm Gotter: Medea. ein [sic] mit Musik vermischtes Drama. Gotha 1775, S. 18. Gotter: Medea, S. 23. Vgl. die oben, Kap. 2.1, S. 30f., zitierten Verse 1329–1343 von Euripides’ Tragödie. Friedrich Maximilian Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2. Stuttgart 1878, S. 108 (vgl. Kreons Worte S. 85). Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 109.

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wiederholt hervor.28 Jason verrät Medea, weil ihm die Verbindung mit Kreusa die Aussicht auf eine Rückkehr zur (bürgerlichen) Normalität des Menschlichen eröffnet. Und in Medea keimt der Gedanke der Rache mit dem Gefühl auf, ihrer höheren Natur umsonst entsagt zu haben.29 Zwar soll auch bei Klinger ein großer mythologischer Aufwand den Kindermord verständlich machen: Im vierten Akt treibt Hekate selbst ihre Tochter zu dieser Tat an.30 Der Kindermord bedeutet aber am Ende vor allem den ›Riß‹ zwischen der menschlichen und der übermenschlichen Sphäre und die Wiederherstellung von Medeas ›fürchterlicher Größe‹.31 Dementsprechend kommt an keiner Stelle das Thema der Bildung der Barbarin zum Griechentum ins Spiel, das bei Euripides zumindest gestreift und bei Grillparzer mit kontrapunktischem Rückbezug auf Goethe in eine Sequenz von Handlungen überführt wird. Grillparzer übernimmt von Seneca und seinen Nachfolgern die Hervorkehrung des Hexenhaften und Dämonischen, Un- oder Übermenschlichen der Medea-Figur und jene bereits erwähnte Modifikation der Handlungssequenz, von der die Kausalität der Rache unmittelbar tangiert ist: Jason erhebt mit Kreons Unterstützung Ansprüche auf die Kinder, als Medea verbannt wird, während die Protagonistin bei Euripides (Medeia, V. 939–940) Iason erst bitten muß, die Kinder, die Kreon gemeinsam mit der Mutter verbannen will, bei sich und Kreusa zu dulden.32 Grillparzer übernimmt aber nicht die Reduktion der Hellenen-Barbaren-Antithese auf einen argumentativ weitgehend irrelevanten Redeschmuck, sondern er restituiert die Funktion, die sie bei Euripides hat,33 und bezieht sich damit zugleich auf

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Vgl. Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 83, 94, 115. Vgl. Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 96. Vgl. Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 12f., 124ff. Zur Deutung aus psychohistorischer Sicht vgl. Böschenstein: Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutterliebe, S. 135ff., sowie dies.: Medea – Der Roman der entflohenen Tochter. In: Fathers and Mothers in Literature. Hrsg. v. Henk Hillenaar u. Walter Schönau. Amsterdam 1994, S. 7–28, hier S. 14ff. – Schon bei Glover (Medea, S. 23) erscheint Hecate, kündigt dort aber Medea nur an, daß diese unbewußt gegen einen Teil ihrer selbst wüten und dann schwer darunter leiden werde. Vgl. Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 112, 114, 130, 136. Vgl. Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 14ff. Bei Glover (Medea, S. 25) erhebt Jason allerdings nicht wirklich Anspruch auf die Kinder, sondern er stellt nur die Frage, ob Medea ihm wohl die Kinder zur Fürsorge überlassen wolle; die Kinder selbst lehnen jedoch die Trennung von der Mutter kategorisch ab, und Jason äußert Bewunderung für diese Standhaftigkeit. Diesem für die Trilogie konstitutiven Aspekt der Beziehung zu Euripides’ Me-

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Goethes Iphigenie, in der die Antithese, wie oben deutlich wurde, als Argumentationsstruktur von grundlegender Bedeutung ist. Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung hat also die kontrapunktische Beziehung zwischen der Trilogie und Goethes ›Schauspiel‹ größeres Gewicht als diejenige zwischen der Trilogie und den neuzeitlichen Medea-Tragödien. Methodologisch wäre es deshalb auch nicht sinnvoll, so zu verfahren wie bei der Analyse von Goethes Drama: Zur Erfassung des besonderen Profils, das die Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe gewinnt, erwies es sich als zweckmäßig, zunächst den Iphigenie-Grundmythos im Hinblick auf seine überlieferungsgeschichtlich wichtigsten Ereignisse, die Opferung der Iphigenie in Aulis und die Verhinderung der Opferung des Orest im Taurerland, zu rekonstruieren und Etappen der dramenpoetischen Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen, d.h. Modifikationen des Grundmythos, nachzuzeichnen. Für Grillparzers Trilogie läßt sich die Bindung an einen funktional äquivalenten ›Vlies‹-Grundmythos und Etappen seiner Bearbeitung nicht postulieren. Zwar sind der zweite und der dritte Teil der Trilogie auf den Medea-Grundmythos bezogen, der sich in drei Hauptphasen gliedern läßt, wenn man als Gliederungskriterium den Ort wählt, an dem das Geschehen stattfindet:34 (1): Kolchis: Medeia, die Enkelin des Sonnengottes Helios und Tochter des Königs Aietes, die eine enge Beziehung auch zur Zauber- und

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deia ist die Grillparzer-Forschung offenbar noch nicht nachgegangen. Wendelin Schmidt-Dengler (Grillparzer liest Euripides. Notizen zu einem ungewöhnlichen Lektürevorgang. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 3/19 [1991–1992], S. 329–339) behandelt allein Grillparzers Ausführungen über Euripides und deren historischen Kontext. Die folgende Gliederung orientiert sich an Mimoso-Ruiz’ strukturalistischer Einteilung des Mythos in fünf ›Schlüsselsequenzen‹ (vgl. Mimoso-Ruiz: Médée, S. 11ff.), unterscheidet sich indes dadurch von ihr, daß sie nicht allen überlieferten Varianten des Mythos gleiches Gewicht einräumt, sondern entsprechend dem oben (Kap. 3.2.1, S. 76) definierten Begriff des ›Grundmythos‹ den Akzent auf die rezeptionsgeschichtlich konstanten Merkmale legt, die für das Drama im wesentlichen von Euripides geprägt wurden (vgl. Böschenstein: Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutterliebe, S. 128; Lesky: Medeia, Sp. 53ff.). Rezeptionsgeschichtlich irrelevant sind die vierte und fünfte der von Mimoso-Ruiz aufgeführten Schlüsselsequenzen (IV: Athen; V: Kolchis), die deshalb hier außer Betracht bleiben können. Anders auch als bei Mimoso-Ruiz wird in der vorliegenden Studie, in der nicht die Rekonstruktion der Mythen von Iphigenie und Medea, sondern die dramenpoetische Auseinandersetzung mit diesen Mythen im Vordergrund steht, zwischen Phase und Sequenz differenziert; s. oben, Kap. 3.1, S. 69f., und 3.2.1, S. 77.

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Mondgöttin Hekate hat (häufig wird Hekate als ihre Mutter genannt), verliebt sich in den Argonautenführer Iason; mit ihrer Zauberkunst leistet sie ihm Hilfe bei der Eroberung des goldenen Vlieses; zur Ermöglichung der gemeinsamen Flucht nach Griechenland tötet sie ihren Bruder Absyrtos. (2) Iolkos: Medeia hilft ihrem Gatten Iason, sich an dem Thronusurpator, seinem Onkel Pelias, zu rächen, indem sie diesen mit der (unfreiwilligen) Hilfe seiner Töchter ermordet; Iason und Medeia werden daraufhin aus Iolkos vertrieben und von König Kreon in Korinth aufgenommen. (3) Korinth: Iason verliebt sich in Kreons Tochter (Glauke oder Kreusa) und verstößt seine Gattin Medeia; Kreon verbannt Medeia; Medeia rächt sich, indem sie Kreon und seine Tochter mit vergifteten Geschenken und die beiden Söhne, die aus ihrer Ehe mit Iason hervorgegangen sind, eigenhändig ermordet; sie entkommt (auf einem von Helios gesandten Drachenwagen). Der zweite und der dritte Teil der Trilogie beziehen sich aber nur partiell auf diesen Grundmythos: erstens, weil, wie gesagt, das kolchische Geschehen, das in den Medea-Tragödien nur den Status der erzählten Vorgeschichte hat oder ausgeklammert wird, nun eine relativ eigenständige Tragödie, »Die Argonauten«, bildet; zweitens, weil auch aus der Vorgeschichte dieser Tragödie eine relativ eigenständige Tragödie wird, nämlich die Sequenz der Handlungen des »Gastfreunds«, die von Phryxus’ Ankunft in Kolchis bis zu seiner Ermordung reicht – eine Sequenz, die sich nur teilweise auf die mythologische Überlieferung (vor allem Hyginus und Hederich) stützt, ja sogar von dieser abweicht, weil sie ganz auf die Handlung des Vlies-Raubes und den damit einhergehenden Konflikt zwischen Griechen und Barbaren abgestimmt ist; drittens, weil das Vlies als Kultobjekt eine Bedeutung gewinnt, die es in den Medea-Tragödien auch nicht ansatzweise hat, die sich indes durchaus mit der Bedeutung vergleichen läßt, die dem Kultbild der taurischen Artemis in den Iphigenie-Dramen zukommt;35 und viertens, weil Grillparzer die korinthische Hauptphase um fünf Subphasen erweitert, deren erste unverkennbar kontrapunktisch, ja parodistisch auf das pädagogische Programm von Goethes Iphigenie bezogen ist: In Korinth versucht Medea vergeblich, sich zur Griechin zu bilden.

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Vgl. Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 69.

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Zu den Strukturmerkmalen, die Grillparzers Trilogie und Goethes Drama gemeinsam sind, zählt indes, wie bereits dargelegt,36 nicht nur die Griechen-Barbaren-Antithese, sondern auch ihre Bezugnahme auf die Gattung der griechischen Tragödie. Mit dieser Bezugnahme kommt die für die griechische Tragödie kennzeichnende Uneindeutigkeit im Umgang mit dem heroischen Mythos und mit dessen Bindung an kultische Praktiken ins Spiel. In den Iphigenie-Dichtungen von Euripides, Racine und Goethe – um nur die bedeutendsten zu nennen – geht es darum, den Glauben an Götter, die Menschenopfer fordern, als das barbarische Produkt der Mythisierung von wiederum barbarischer Gewalt zu dechiffrieren. Darin drückt sich der programmatische Impuls aus, den griechischen Mythos als Medium hellenischer bzw. abendländisch-europäischer Identitätsfindung von den Residuen des Barbarischen, insbesondere dem Menschenopfer-Ritual, zu reinigen. Bei Goethe liegt dabei ein besonderer Akzent auf der Frage, ob sich der Kreislauf von barbarischer Gewalt und Gegengewalt, den die Geschichte der Atriden bildet, der also im griechischen Kulturraum vorgefunden wird, mit menschlichen Mitteln, d.h. anders als mit der illusorischen Setzung einer ›heiligen‹ Gewalt, beenden läßt. Der Verwirklichung dieses zugleich aufklärerisch-humanistischen und helleno- bzw. eurozentrischen Programms sind jedoch, entsprechend dem von der Gattung vorgegebenen Strukturmerkmal der Uneindeutigkeit, Grenzen gesetzt. Gegen das Programm machen sich, wie inzwischen deutlich geworden ist, insbesondere zwei Widerstände geltend: die Dynamik der Verstrickung des Griechischen ins Barbarische, die mit der Verwendung des Barbarenbegriffs einhergeht, und die Bindung an einen Grundmythos, der eine funktionale Beziehung zu den Opferritualen hat, von denen er erzählt – eine Beziehung, die sich kulturanthropologisch, phänomenologisch und religionswissenschaftlich bestimmen läßt.37 Grillparzers Trilogie ist, wie gesagt, nicht an einen vergleichbaren Grundmythos gebunden. Die Art der Uneindeutigkeit im Umgang mit dem Mythos und seiner Beziehung zu kultischen Praktiken, insbesondere zum Opferritual, kann also nicht dieselbe sein wie bei Goethe. Zwar weist Medeas Tötung der Kinder, jenes seit Euripides kennzeichnende Merkmal des Mythos, Spuren eines Opferrituals auf,38 doch dieser Tat kommt, wie gesagt, im Kontext der Trilogie nicht die Bedeutung zu, die bei Goethe

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S. oben, Kap. 1, S. 15, 18f., 2.1, S. 44. S. oben, Kap. 3.1, bes. S. 73f. S. unten, S. 233f.

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die Erinnerung an die Opferung der Iphigenie in Aulis und die Verhinderung der Opferung des Orest in Tauris haben. Als kontrapunktische Ergänzung und Infragestellung des pädagogischen Programms von Goethes Drama führt die Trilogie aber vor Augen, daß der Versuch, durch Bildung zur ›griechischen‹ Humanität die Beziehung mythischer Vorstellungen zu grausamen kultischen Praktiken aufzulösen, illusorisch und daß das Ergebnis des Versuchs unglaubwürdig ist. Denn bei Grillparzer kommen, wie sich im folgenden zeigen wird, die Barbaren dem griechischen Ethos nicht entgegen, wie es Thoas bei Goethe tut, indem er Iphigenie verschont und es zuläßt, daß sie die Menschenopfer suspendiert, und es kommen auch die Griechen dem Ethos der Barbaren nicht mit Verständnis und Dialogbereitschaft entgegen: Ihr Kult der eigenen, heroischen Humanität erweist sich hier von vornherein als exklusiv und als Kehrseite einer räuberischkolonialistischen Attitüde, die in das verachtete Barbarische tief verstrickt ist. Im Zuge dieser Demontage des neuhumanistisch-beschönigenden Bildes der Griechen und der Barbaren wird die ethno-, genauer eurozentrische Tiefenschicht der humanistisch-neuhumanistischen Semantik des Barbarischen freigelegt.39 Die Ausschließung des Barbarischen aus dem Griechischen gerät nun nicht mehr, wie am Ende von Goethes Drama, zur der Form nach einvernehmlichen Trennung, sondern zur Verbannung, ja zum Menschenopfer; dieses erweist sich als eine Funktion des ›griechischen‹ Ethnozentrismus, so wie es bei den Barbaren eine Funktion des ›kolchischen‹ Ethnozentrismus ist. Bei Grillparzer wird also, wie im folgenden genau nachzuzeichnen ist, die Heiligung von Gewalt durch Mythos und Ritual wesentlich konsequenter als bei Euripides und Goethe dechiffriert. Sie erweist sich als Funktion einer kulturhistorisch und anthropologisch zu bestimmenden Disposition, die Griechen und Barbaren gemeinsam ist, als Setzung illusorischer Differenzen. Dennoch macht sich auch bei Grillparzer die für die Gattung kennzeichnende Uneindeutigkeit im Umgang mit dem My-

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Nahezu zeitgleich wird in der Enzyklopädie von Ersch und Gruber die Herkunft des humanistisch-neuhumanistischen Barbarenbegriffs aus dem ethnozentrischen betont: »So fern aber der Nationalstolz alles Heimische für das Bessere erkennt, hat man mit diesem Namen [der Barbaren, M.W.] allmählig den Begriff des Rohen und Wilden verbunden, und diesen endlich fast allein in der neueren Sprache beibehalten, in welcher man nicht blos alles Rohe und Ungesittete, sondern selbst eine unmenschliche Grausamkeit barbarisch zu nennen pflegt« (Ersch / Gruber, Bd. 7 [1821], s. v. »Barbaren«, S. 347).

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thos und seiner Beziehung zu kultischen Praktiken bemerkbar, besonders deutlich am Ende: Wie in der letzten Szene von Goethes Drama Orests anthropozentrische Allegorese des delphischen Orakels in die Vergötterung Iphigenies und einen darauf bezogenen Kult der ›griechischen‹ Humanität, der wiederum Opfer fordert, umschlägt, so bringt Medeas Ankündigung, sie werde das Vließ nach Delphi, an den heiligen Ort, von dem es zuerst geraubt wurde, zurückbringen, und sich dort den Priestern als Opfer zur Verfügung zu stellen, das Bedürfnis zum Ausdruck, die Diskreditierung der Differenzen, die der Mythos setzt (auch der neuhumanistische), mit der mythisierenden Setzung einer neuen Differenz zu beenden.40

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Es sei vorab angemerkt, daß die im folgenden eingehend zu analysierende Semantik und Dramaturgie des Barbarischen in Grillparzers Trilogie von der Forschung zu diesem Werk kaum beachtet worden ist. In ihr ist vielmehr die Tendenz verbreitet, die Trilogie ausgehend von Grillparzers Äußerungen über die Trilogie zu deuten (s. dazu auch oben, Kap. 1, S. 18, Anm. 46) oder ausgehend von anderen, späteren Werken des Autors, seinen Tagebuchaufzeichnungen usw. Zur textanalytisch fundierten Analyse intertextueller Beziehungen, die auf begriffs-, diskurs- und gattungsgeschichtliche Zusammenhänge führen, kann diese meist implizite Methodologie nicht beitragen; dementsprechend vage fallen die Äußerungen zur Semantik des Barbarischen und zu seiner Dramaturgie aus. Konrad Schaum z.B. bemerkt in seiner zuerst 1964 veröffentlichten Studie »Gesetz und Verwandlung in Grillparzers Goldenem Vließ«: »Das Barbarische, das die Seele unmittelbar bedroht, liegt im ›Verrat‹ an der Substanz der eigenen Existenz, der zur Verwandlung und Entfremdung des gesamten Lebensorganismus führt« (Schaum: Grillparzer-Studien, Bern [u.a.] 2001, S. 137f.); differenzierter, aber ebenso unhistorisch, moralisierend und rein inhaltsbezogen ist Schaums knapper Hinweis auf das Barbarische der Verstoßung Medeas durch die Griechen (vgl. S. 187; diese Stelle findet sich in einer Studie aus dem Jahre 1979). Zur Barbarei der Griechen äußern sich in ähnlicher Weise auch Tillmann Bub: Barbarei und Zivilisation in Grillparzers Trilogie ›Das goldene Vließ‹. In: Sprachkunst 35 (2004), S. 1–22, hier S. 20, und Jeanine Charue-Ferrucci: La notion de Barbarie dans la trilogie de Grillparzer La Toison d’Or (Das Goldene [sic] Vließ). In: L’Allemagne, des Lumières à la Modernité. Mélanges offerts à Jean-Luis Bandet. Hrsg. v. Pierre Labaye. Rennes 1997, S. 133–143, hier S. 137. – Zur Kritik an der »Auslegung des Werks im Sinne konservativer Kulturkritik«, für die Schaums Arbeiten typisch sind, und zur in der älteren Vließ-Forschung verbreiteten Orientierung an der Autorintention vgl. auch die fundierte Analyse von Matthias Brauckmann und Andrea Everwien: Sehnsucht nach Integrität oder Wie die Seele wächst im Verzicht: Das goldene Vließ. In: Gerettete Ordnung. Grillparzers Dramen. Hrsg. v. Bernhard Budde u. Ulrich Schmidt. Frankfurt/M. [u.a.] 1987, S. 58–105 und 320–329, hier S. 72.

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5.2. »Der Gastfreund«: Die Symmetrie von barbarischer Xenophobie und griechischem Kolonialismus Schon der erste Teil der Trilogie knüpft an die Auseinandersetzungen an, die in Goethes Iphigenie über das Opfer als rituelle Tötung und über die Beziehung zwischen Griechen und Barbaren geführt werden. Doch die Art der Anknüpfung ist kontrapunktisch: Während bei Goethe viel über Opfer gesprochen, aber kein Opfer vollzogen wird (abgesehen von Thoas’ verinnerlichtem Opfer), zeigt die Eingangsszene des ersten Teils der Trilogie ein Tieropfer, das Medea im Kreise ihres Gefolges von Jungfrauen darbringt, und die Schlußszene eine Tötung, die von Medeas Vater, dem Kolcherkönig Aietes, zunächst als Menschopfer gedacht war. Und während bei Goethe das Gesetz, »Daß am Altar Dianens jeder Fremde / Sein Leben blutend läßt« (V. 123–124), im Namen des Gastrechts suspendiert ist und am Ende ein »freundlich Gastrecht« (V. 2153) als universal gültige Norm – also Natur- oder Menschenrecht –, die fortan immer die Beziehungen zwischen Griechen und Barbaren regeln soll, beschworen wird, dient bei Grillparzer der Verweis auf diese Norm beiden Parteien nur als Mittel zum Zweck der Täuschung. Denn beide streben danach, sich das Gut der jeweils anderen nicht durch vertraglich geregelten Tausch, sondern gewaltsam anzueignen: der Grieche durch die Kolonisation des barbarischen Territoriums, der Barbar durch den Raub der Schätze, die der Grieche mitgebracht hat. Geregelt wird die Gewalt von der illusionären Ausschließung des jeweils Fremden aus dem Wesentlich-Eigenen – eine Illusion, die auch das antagonistische Verhältnis der Geschlechter (hier vor allem das von Vater und Tochter) zueinander bestimmt. Diese Aspekte der kontrapunktischen Beziehung zwischen Goethes ›Schauspiel‹ und dem Beginn von Grillparzers Trilogie seien nun nacheinander erläutert. Bezieht man die Eingangsszene des »Gastfreunds« auf die Auswertung der ethnographischen Semantik des Barbarischen in den aufklärerischen wie auch gegenaufklärerischen Anthropologie- und Geschichtsmodellen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, so bietet sie auf den ersten Blick das Bild eines primitiven Zustandes, der indes kein Naturzustand im aufklärerisch-naturrechtlichen Sinne ist.41 »Das Opfer blutet!« (G V. 1) rufen Medeas Jungfrauen ganz zu Beginn der Trilogie, nachdem ihre Herrin, wie die Bühnenanweisung mitteilt, »eben den Pfeil abgeschossen« hat,

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S. oben, Kap. 2.2, S. 54f.

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der das Opfertier, ein Reh, durchbohrt hat. Dieses liegt auf den Stufen eines Altars, der »von unbehauenen Steinen zusammengefügt« ist, sich in einer »[w]ilde[n] Gegend« am Meeresufer von Kolchis befindet und »auf dem die kolossale Bildsäule eines nackten, bärtigen Mannes steht, der in seiner Rechten eine Keule, um die Schultern ein Widderfell trägt«.42 Es handelt sich, wie später gesagt wird, um ein Kultbild Perontos, eines Gottes der Kolcher, der zweifellos nicht an die schönen Götter Griechenlands, aber doch an den Halbgott Herakles denken lassen soll. Bemerkenswert ist nun, daß das Gebet, das von Medeas Amme Gora stellvertretend für alle gesprochen wird, nachdem Medea ihre eigene Treffsicherheit beim Töten des Opfers als gutes Vorzeichen gedeutet hat, nicht an Peronto gerichtet ist, sondern an die Göttin Darimba, die Attribute von Dionysos, Demeter und Artemis hat, aber auch eine Kriegsgöttin ist: Darimba, mächtige Göttin, Menschenerhalterin, Menschentöterin, Die den Wein du gibst und des Halmes Frucht, Gibst des Weidwerks herzerfreuende Spende Und des Todfeinds Blut: Darimba, reine, magdliche Tochter des Himmels, Höre mich! (G V. 4–11)

Das Blut des Opfers soll die jungfräuliche Göttin, wie aus der Fortsetzung des Gebets hervorgeht, dazu bewegen, die Ernte und die Jagd zu segnen und den Sieg in der Schlacht zu gewähren. Läßt die Jagd an die primitivste Stufe der Subsistenz denken, so verweisen Wein- und Getreideernte auf jene Entwicklungsstufe, die bisweilen mit dem Begriff des Barbarischen bezeichnet wurde.43 Die Verbindung des Barbarischen mit Krieg, Raub und Menschenopfer kommt im Schlußteil des Gebets ins Spiel: Das Opfer am Altar zuckt und endet, So mögen deine Feinde enden, Darimba! Deine Feinde und die unsern! (G V. 24–26)

Die Eröffnungsszene stellt also Sequenzen eines Opferrituals dar. Dargebracht wird ein Tieropfer (ohne Opfermahlzeit),44 und dieses hat mehrere Funktionen: Es dient der Vorbereitung auf die Jagd, der Sicherung der

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Grillparzer: FA, Bd. 2, S. 209. S. oben, Kap. 2.2, S. 53. Das übersieht Neumann: Das goldene Vließ, S. 262f.

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Nahrung und auch der Sicherung der bestehenden sozialen Ordnung, insofern als das Tieropfer zugleich die Tötung der Feinde von Kolchis, also ein Menschenopfer, bedeuten soll.45 Feinde sind alle Fremden: Anders als in Goethes Tauris ist in Grillparzers Kolchis das Gesetz, daß die Fremden als Feinde anzusehen und als solche zu behandeln sind, nicht suspendiert. Bei der Nachricht, daß ein »Schiff mit Fremden« (G V. 78) – es handelt sich um den Griechen Phryxus und sein Gefolge – angekommen ist, ärgert sich Medea über die Störung der »Jagdlust« (G V. 82) und richtet an ihre Frauen die Aufforderung: »Und nahet ein Kühner, zahl’ er’s mit Blut!« (G V. 85) Und anders als Iphigenie scheut sie, die beim Tieropfer das Amt der Priesterin verrichtet, vor Blutvergießen nicht zurück: Medea empfiehlt ihrem Vater, der den Fremden von vornherein feindliche Absichten unterstellt und sie mit ihrer Hilfe berauben will, sie entweder ziehen zu lassen oder zu töten; ihr eigener Sinn ist allein auf die Jagdlust gerichtet. Aus der Spannung zwischen Medeas Bedürfnis nach der ungebundenen Daseinsweise als Jägerin im Kreise ihrer Jungfrauen und Aietes’ Streben nach Vermehrung seines Besitzes durch Raub erwächst dann ein Streit, der durch die Nachricht vom Näherrücken der Griechen, deren Anführer Phryxus dem Kolcherkönig die Bitte um eine Unterredung überbringen läßt, unterbrochen wird. Ein analoger Streit hat sich schon zuvor zwischen Medea und einer der Frauen aus ihrem Gefolge eingestellt, weil diese sich an einen Hirten gebunden und damit die freie Existenzform der Jagd in der Gemeinschaft der Jungfrauen verraten hat (vgl. G V. 31–76). Das Porträt der später von Phryxus so genannten »Barbaren« (G V. 409) ist also von Spannungen gekennzeichnet. Medeas amazonenhaft-ungebundene Existenzweise kollidiert mit der Herrschaft des Vaters, stellt sie aber nicht in Frage: Sie gehorcht erst dem väterlichen Jagdverbot – »Heut keine Jagd!« (G V. 140–141) – und dann den Befehlen, mit denen er sie zum Instrument seiner Überlistung der Griechen macht. Das Amazonenwesen, ein mythisches Bild des Weiblich-Barbarischen, das von der Antike in die neuzeitliche Ethnographie (sogar in die aufklärerische Perfektibilitätstheorie) und in die Tragödie (Kleist) gelangte,46 ist also bei Grillparzer im Grunde

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Diese Jagd und Krieg verbindende Semantik des Opfers ist mehr als dichterische Fiktion: »Für die alte Welt sind Jagd, Opfer und Krieg gegenseitig ›symbolisch‹ austauschbar« (Burkert: Homo necans, S. 59). Vgl. Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 23, 33, 67; zu Kleists Penthesilea vgl. den bereits zitierten Artikel von Moser. Im Rahmen der vorliegenden Studie, die sich auf Aspekte der Beziehung zwischen Goethes Iphigenie und Grillparzers Vließ konzentriert, muß die Frage nach der Beziehung zwischen

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nur Relikt oder Wunschbild einer alternativen, rein weiblichen, aus der männlichen ausgegrenzten, vermeintlich ursprünglicheren Existenzform; Darimba kann nur vor dem Altar von Peronto angebetet werden, und die Jagd als Zeichen ungebundener weiblicher Wildheit ist nicht eine primitive Subsistenzform, sondern ein Spiel, genauer ein Wettkampf: »Hinaus! hinaus! / Und die am schnellsten rennt und die am leichtsten springt / Sei Königin des Tags« (G V. 40–42), sind die Worte, mit denen Medea ihren Frauen das Signal des Jagdbeginns gibt.47 Als illusorisch erweist sich aber nicht nur die Ausgrenzung eines Frauenstaats aus der Sphäre des Patriarchats, sondern auch die xenophobe Ausschließung der Fremden aus dem Raum des kolchischen Gemeinwesens – eine identitätsstiftende Xenophobie, die Medea und Aietes gemeinsam ist. Es ist der Raub als genuin barbarische Subsistenzform, der diese Ausschließung unterminiert: Als Räuber existiert der Barbar, wie gesagt, nur im Hinblick auf eine Zivilisation, die er zerstört und deren Güter er sich gewaltsam aneignet.48 So auch hier: Auf »Das Gold der Fremden all und ihre Schätze« (G V. 131) hat es Aietes abgesehen, und Medea hat keine grundsätzlichen Einwände gegen den Plan (wenngleich ihr die Hinterlist des Vaters fremd ist). Der Raub gilt in Kolchis als legitime und gängige Subsistenzform, wie auch daraus hervorgeht, daß Aietes den anrückenden Griechen räuberische Absichten unterstellt, ihre angekündigte Verhandlungsbereitschaft als auszunutzende ›Torheit‹ und ›Schwäche‹ (G V. 169,

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dem Vließ und Penthesilea ausgeklammert werden. – Die Amazonen repräsentieren nicht ohne weiteres, wie Helmut Bachmaier (Nachwort. In: Grillparzer: Das goldene Vließ. Hrsg. v. Helmut Bachmaier. Stuttgart 1995, S. 201–209, hier S. 202) meint, das Matriarchat, da ihr Staat ja ein reiner Frauenstaat ist. Richtig hingegen ist die Beobachtung, »Reminiszenzen an das Matriarchat« seien »in der Zaubergewalt Medeas zu greifen: Nach dem Verlust der Herrschaft ans Patriarchat lebt die Macht der Frauen weiter in der Verfügung über den Zauber« (S. 202). Es kann also nicht davon die Rede sein, daß die Kolcher bis zur Ankunft der Griechen als quasi geschichtsloses, mit sich einiges ›Naturvolk‹ von Jägern leben, wie Rolf Geißler (Grillparzers »Goldenes Vließ« und Goethes »Faust« als Kritik neuzeitlicher Geschichte. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 3/18 [1991/1992], S. 257–270, hier S. 260) im Hinblick auf die Eingangsszene des »Gastfreunds« meint; dieselbe These bereits in Geißler: Ein Dichter der letzten Dinge. Grillparzer heute. Subjektivismuskritik im dramatischen Werk – mit einem Anhang über die Struktur seines politischen Denkens. Wien 1987, S. 45ff. S. oben, Kap. 2.2, S. 53ff., die Ausführungen zu Reinhold Forster und Foucault.

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188) ansieht und einen Teil der Beute dem Gott Peronto opfern will (vgl. G V. 197–200). So wie der Raub die Barbaren an die ›fremde‹ griechische Zivilisation kettet, die sie doch zugleich von sich fernhalten wollen, so vermittelt auch die Sprache, die sie sprechen, nicht das Bild eines homogenen Kulturraums. Schon in Aischylos’ Persern dienen sprachlich-stilistische Mittel dazu, den Eindruck zu erwecken, daß die Barbaren nicht dieselbe Sprache sprechen wie die Griechen (darin macht sich auch die älteste, sprachbezogene Bedeutung von bárbaros geltend).49 Bei Grillparzer wirkt die Sprache der Kolcher verglichen mit derjenigen der Griechen fremd, unruhig und unbeherrscht, weil ihre Sätze häufig elliptisch sind oder nur aus kurzen Ausrufen bestehen und weil Metrum und Rhythmus der Verse keiner bestimmten Regel folgen: Von den rhetorisch geschmückten Blankversen der Griechen heben sich die ›wilden‹ der Kolcher ab, die bisweilen kurz, bisweilen lang und häufig frei sind. Doch bisweilen sind sie auch wie diejenigen der Griechen regelmäßig alternierend.50 Diese Uneinheitlichkeit kann als Zeichen dafür gewertet werden, daß die vermeintlich wesensverschiedenen Kulturräume der Griechen und Barbaren sich längst ›überlappt‹ haben und in Wahrheit hybrid sind.51 Das Bild der Griechen ist nicht weniger widersprüchlich als das der Kolcher: Mit »kriegerische[r] Musik« (Bühnenanweisung vor G V. 154 und 201) ziehen sie auf, doch zugleich tragen sie wie schutzflehende Flüchtlinge Bittzweige in der Hand (eine Reminiszenz an Aischylos’ Schutzflehende). So gerät die Bitte zur Drohung. Schon in dieser Paradoxie zeichnet sich die Doppelbindung ab, mit der Phryxus seinen barbarischen Gegner zu fesseln sucht, in der er sich dann aber selbst verfängt.52 Die Szene beginnt indes mit einer Anagnorisis, die beiden die Augen für das Hybride ihres jeweiligen Kulturraums öffnen und dadurch eine Wendung zum Guten

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S. oben, Kap. 2.1, S. 22f. In der Eingangsszene sind es z.B. die Verse, mit denen Medea erst ihre Verstimmung über die Störung der »Jagdlust« durch die Fremden zum Ausdruck bringt und dann erneut das Signal zum Beginn des spielerischen Jagdvergnügens gibt (vgl. G V. 81–93). Zur ›Überlappung‹ vermeintlich wesensverschiedener Territorien s. die oben, Kap. 1, S. 6, zitierten Bemerkungen von Said. Zur Theorie der Doppelbindung vgl. die einschlägigen Bemerkungen von Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern / Stuttgart / Wien 41974, S. 194ff. S. dazu auch unten, Anm. 70.

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herbeiführen könnte:53 Phryxus erkennt in dem Kultbild von Peronto das Bild des fremden Gottes wieder, der, wie er im folgenden Aietes berichtet, ihm, dem Flüchtigen, im Tempel des Apoll zu Delphi im Traum erschienen ist und ihm mit den rätselhaften Worten »Nimm Sieg und Rache hin« (G V. 299)54 sein Vließ dargereicht hat. Beim Erwachen hat Phryxus in einer »Blende« (G V. 303) – gemeint ist etwas den freien Blick der Augen Hemmendes, hier eine zurückweichende Vertiefung oder Nische55 – das mit dem Namen Kolchis versehene Standbild des Gottes, der Herakles ähnelt, aber nicht mit Herakles identisch ist (vgl. G V. 309), gesehen und, das Traumgeschehen als »des Gottes Rat« (G V. 312) deutend, von dem Standbild das goldene Vließ abgelöst; dann ist er mit »des Gottes Goldpanier« (G V. 317) und, wie er glaubt, dank dessen magischer Kraft nach Kolchis gesegelt, »an diese Rettungsküste / Die vor mir noch kein griech’scher Fuß betrat« (G V. 327–328). Daß er, der Exilant, nun aus Kolchis eine griechische Kolonie machen will, hat er schon zuvor gestisch betont: »Er geht zum Altar und stößt vor demselben sein Panier in den Boden« (vor G V. 236). Das ist ein »symbolische[r] Akt der Landnahme«,56 zugleich aber auch, wie Phryxus selbst sagt, ein »Weihgeschenk« (G V. 236) für den fremden Gott, an den er ein Dankgebet richtet – zum Mißfallen von Aietes, der den »Gott [s]einer Väter« (G V. 216) für sich behalten will: Denk’ der Opfer, die ich dir gebracht, Hör’ ihn nicht Peronto, Höre den Fremden nicht! (G V. 217–219)

Aietes weicht deshalb (vor G V. 235) der Umarmung aus, die Phryxus im Namen ihrer Glaubensbruderschaft vollführt – »Denn B r ü d e r sind ja Eines Vaters Söhne« (G V. 234) –, doch auch Phryxus selbst verleugnet diese Bruderschaft, die das Vließ zum gemeinsamen Gut machen würde; im Bewußtsein der kulturellen Überlegenheit der eigenen Nation und der biologischen Höherwertigkeit des eigenen Stamms, ja der eigenen Rasse, stellt er sich Aietes mit den folgenden Worten vor: Geboren bin ich in dem schönen Hellas, Von Griechen, ich ein Grieche, reinen Bluts. Es lebet niemand, der sich höhrer Abkunft,

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Vgl. dazu Neumann: Das goldene Vließ, S. 265. Im Original gesperrt. Vgl. Adelung, Bd. 1, S. 1064f.; DWb, Bd. 2, Sp. 104. Bub: Barbarei und Zivilisation, S. 13.

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Sich edlern Stammes rühmen kann als ich, Denn Hellas’ Götter nenn’ ich meine Väter Und meines Hauses Ahn regiert die Welt.

(V. 263–268)

Nun ist die Hellenen und Barbaren verbindende Glaubensbruderschaft schon wieder vergessen; Phryxus konstruiert hier die eigene Identität nach der Regel der Ausschließung des Hellenischen aus dem Barbarischen. Dabei wird die antikisierende Sprache – man fühlt sich an Kriterien hellenischer Identität erinnert, die bei Herodot formuliert werden57 – transparent für ihre modernen Anwendungen in Ästhetik und Rassenkunde; wie oben dargelegt, gab es durchaus Berührungspunkte der neuhumanistischen Ästhetik mit der Ansicht von der Ungleichwertigkeit der Menschenrassen, einer Ansicht, die in der Biedermeierzeit an Gewicht gewann.58 Zum Begriffsfeld der Rasse oder Menschenrasse gehören hier die Lexeme rein (im Sinne von »ohne fremdartige Beimischung«) und Stamm.59 Kennzeichnend für Phryxus’ Gestik und Rhetorik ist also das paradoxe In- und Gegeneinander von Formen der Aufforderung, die unvereinbar sind. Der Vorschlag der Verbrüderung ist gekoppelt mit Einschüchterung, die Bitte um Aufnahme als Gast mit militärischer Drohung. Dementsprechend beschließt Phryxus seine Erzählung von Anlaß und Verlauf der Reise nach Kolchis mit den folgenden, an Aietes gerichteten Worten: Und jetzo geht an dich mein bittend Flehn Nimm auf mich und die Meinen in dein Land, Wo nicht so fass’ ich selber Sitz und Stätte Vertrauend auf der Götter Beistand, die Mir S i e g u n d R a c h e durch dies Pfand verliehn!

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(G V. 329–333)

S. oben, Kap. 2.1, S. 25. S. oben, Kap. 2.2, S. 58f., 61. Etwas unnuanciert und durchaus anachronistisch, nämlich allein im Hinblick auf Gobineau und Hans Henny Jahnn, stellt Dagmar C. G. Lorenz (Grillparzer. Dichter des sozialen Konflikts. Wien / Köln / Graz 1986, S. 68ff., bes. S. 80f.) in ihrer feministisch geprägten Analyse der Trilogie fest, Grillparzer setze sich mit dem Rassismus kritisch auseinander; denn »in Grillparzers Kolchis ist unschwer der schwarze Kontinent Afrika zu erkennen« (S. 68). Das ist eine vereinfachende Deutung der referentiell unbestimmten mythologischen Sprache und Szenerie. Vor allem aber wird so der Zusammenhang zwischen (Neu-)Humanismus und Rassenkunde, den die Trilogie aufdeckt, verfehlt. S. oben, Kap. 2.2, S. 60f., die Ausführungen zu Meiners. Bei Kant hingegen bezieht sich, wie ebenfalls oben (S. 59) dargelegt, der Begriff des Stamms auf die Einheit des Menschengeschlechts, die von den Unterschieden der ›Racen‹ nicht tangiert werde.

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Aietes vermag es indes erneut, die in diesen Worten angelegte Doppelbindung zu verhindern,60 da die Beziehung zwischen dem Griechen und ihm, dem Barbaren, nicht in der von Phryxus unterstellten Weise asymmetrisch ist. Wie er zuvor der Verbrüderungsgeste auswich, schweigt er nun, und als Phryxus ihn fragt, ob er die Gastfreundschaft gewähre, antwortet er mit einer Aufforderung, die ihrerseits in sich widersprüchlich ist: »Tritt ein, wenn dir’s gutdünkt« (G V. 336). Es ist nun Phryxus, der in die Beziehungsfalle gerät: Er nimmt sich – verlockt von Medeas exotischer Schönheit – das Gastrecht, das ihm Aietes nicht ausdrücklich geboten, aber auch nicht klar verweigert hat.61 Mit dem Hinweis darauf, daß er es nicht ausdrücklich geboten hat, rechtfertigt Aietes sich, als Medea und später Phryxus im Namen des Gastrechts gegen die hinterhältige Ermordung der Griechen Einspruch erheben (vgl. G V. 379–385, 452–457). Zugleich rechtfertigt Aietes den Mord als vom Gott gebotene Bestrafung für den Tempelraub, den Phryxus in Delphi begangen habe, indem er das Vließ von der Statue des Gottes löste: Das Vließ dort am glänzenden Speer, Des Gottes Kleid, der Kolcher Heiligtum Soll’s ein Fremder, ein Frevler entweihn? Mein ist’s, mein! Mir sendet’s der Gott Und S i e g u n d R a c h e geknüpft an dies Pfand Den Unsern werd’ es zu Teil! (G V. 393–398)

Aietes spricht hier den Griechen Phryxus eben jenes Frevels schuldig, der in Aischylos’ Persern dem Barbaren Xerxes und seinen Soldaten vorgeworfen und als Manifestation der Hybris gewertet wird.62 Daß die barbarische Semantik des Griechischen das Spiegelbild der griechischen Semantik des Barbarischen ist – in beiden gilt die ethnozentrische Regel der Ausschließung des Fremden –, wird hier überdies mit Aietes’ wiederum exklusiver, die faktische Glaubensbruderschaft negierender Inanspruchnahme des Vließes hervorgehoben: Er imitiert Phryxus’ Form der Inanspruchnahme, indem er, mit denselben Worten wie der Grieche, den rätselhaften Spruch 60 61

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Es handelt sich nicht nur, wie Bub (Barbarei und Zivilisation, S. 14) meint, um Gewaltandrohung mit Tendenz zur Erpressung. Vgl. auch die Fortsetzung des Dialogs: »PHRYXUS Noch eins! An reichem Schmuck und köstlichen Gefäßen Bring’ ich so manches, was ich sichern möchte. Du nimmst es doch in deines Hauses Hut? AIETES Tu, wie du willst! [...]« (V. 345–348; vgl. V. 344). S. oben, Kap. 2.1, S. 24.

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des Gottes ganz auf sich bezieht. Und wie Phryxus sich auf den Spruch und das ihn vermeintlich beglaubigende »Pfand« (G V. 333) berief, um seine Gewaltandrohung zu heiligen, so legt Aietes den Spruch und das »Pfand« (G V. 397) als heilige Aufforderung zur Tötung des Tempelräubers aus: »Ich will dir ihn schlachten Peronto!« (G V. 377) Derart bezeichnet er den Raubmord, vor dem Medea ihn warnt, als Opfer. Die Verbindung zum Tieropfer der Eingangsszene ist evident: Beide haben die archaische Funktion, durch die rituelle Tötung von Leben die Ordnung des Lebens zu bestätigen.63 Der Übergang vom Tieropfer zum Menschenopfer zeigt, daß, wie dargelegt, die Ersetzung des einen durch das andere reversibel ist.64 Und darin, daß es der Fremde ist, der geopfert werden soll, manifestiert sich die barbarische Xenophobie, die bei Herodot und Euripides für die Taurer kennzeichnend ist und der bei Goethe zumindest vorübergehend Thoas’ spontane Gewährung der Gastfreundschaft und Iphigenies pädagogisches Programm entgegenwirken. Der Raub fesselt jedoch, wie gesagt, den Barbaren an den Griechen. Das gibt diesem im Moment der Niederlage Gelegenheit, sich zu rächen, indem er erneut eine Beziehungsfalle aufstellt. Sie besteht wiederum darin, daß zwei miteinander nicht zu vereinbarende Formen der Aufforderung miteinander verbunden werden, nämlich die Verlockung zum Raub des Vließes und die Bitte, es als Zeichen einer vertraglich geregelten Gastfreundschaft in Verwahrung zu nehmen (daß es die Gastfreundschaft und ihre Rituale gibt, hat Aietes ja durchaus anerkannt): PHRYXUS Sieh dieses Banner hier, mein letztes Gut Die Schätze alle hast du mir geraubt, Dies eine fehlt noch. AIETES darnach greifend: Fehlt? Wie lange noch? PHRYXUS Zurück! Betracht’s, es ist mein letztes Gut Und von ihm scheidend scheid’ ich von dem Leben. Begehrst du’s? AIETES Ja! PHRYXUS Begehrst du’s? AIETES die Hand ausstreckend: Gib mir es! PHRYXUS Nimm’s hin des Gastes Gut du edler Wirt Sieh ich vertrau’ dir’s an, bewahre mir’s Mit erhöhter Stimme: Und gibst du’s nicht zurücke, Unbeschädigt

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S. oben, Kap. 3.2.1, S. 81. S. oben, Kap. 3.2.1, S. 86f.

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Nicht mir dem Unbeschädigten zurück So treffe dich der Götter Donnerfluch Der über dem rollt, der die Treue bricht. Nun ist mir leicht! Nun Rache, Rache, Rache! Er hat mein Gut. Verwahre mir’s getreu! AIETES Nimm es zurück! PHRYXUS Nein! Nicht um deine Krone! Du hast mein Gut, dir hab ich’s anvertraut Bewahre treu das anvertraute Gut! (G V. 460–476)

So wie Phryxus in seiner blinden Arroganz den eigenen kolonialen Herrschaftsanspruch mit Gastrecht verwechselt, so verkennt Aietes in seiner Raubgier, daß er, indem er nach dem dargereichten Vließ als dem noch fehlenden Stück des geraubten Gutes greift, sich in Wahrheit auf einen durchs Gastrecht geregelten Vertrag einläßt. Mit dem Befehl »Gib mir es!« eignet er sich das Vließ als Pfand für Phryxus’ Leben an,65 wie Phryxus dann mit der ihm und Aietes heiligen Regel bekräftigt, daß der Wirt mit der Annahme des Gutes, das der Gast mitgebracht hat, sich zum Schutz der Unversehrtheit des Gutes und des Gasts verpflichtet. Doch Phryxus hat Aietes in die Falle des Vertrags, der ihn am Ende doch zum Gastfreund macht, nur gelockt, um sich hinterhältig für den Hinterhalt zu rächen, in den ihn zuvor Aietes gelockt hat, und nicht etwa, um sich zu retten. Er hindert den betrogenen Betrüger deshalb an der Erfüllung der Bedingung, unter der sich der erschlichene Vertrag rückgängig machen oder beenden ließe, indem er die Rücknahme des Vließes verweigert und den Versuchen, die Aietes macht, es ihm aufzudrängen, geschickt ausweicht – eine Szene, die nur komisch wäre, ginge es nicht um Leben und Tod: Aietes läßt sich schließlich dazu hinreißen, ihn, den »Gastfreund« (V. 485, 498), zu töten, d.h. das göttlich sanktionierte Recht zu verletzen, wie sowohl der Sterbende als auch Medea feststellen; die Tat, die als Opfer gedacht war, gerät zum Mord. Das Thema der antiken Gastfreundschaft, deren vertraglichen Charakter die Forschung hervorgehoben hat,66 wird also transparent für die in der Kulturanthropologie und Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts begegnende Opposition zwischen dem Raub, der als Konstituente des Barbarischen, und dem Vertrag oder vertraglich geregelten Tausch, der

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Vgl. Turk: Translatio imperii, S. 210. Vgl. zusammenfassend Beate Wagner-Hasel: Gastfreundschaft. III. In: Pauly (Neu), Bd. 4, Sp. 794–797; Detel: Griechen und Barbaren, S. 1025.

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als Konstituente der Zivilisation galt. Wie oben dargelegt, führt die aufklärerische Theorie der Stufenfolge der menschlichen Entwicklung auf die tendenziell verunsichernde Einsicht, daß die Grenzen zwischen Barbarei und Zivilisation durchlässig sind.67 Bei Goethe entspricht dieser Einsicht die kontrapunktische Aufdeckung der Verstrickung der ›griechischen‹ Humanität ins Barbarische – einer Verstrickung, aus der sich die ›griechisch‹human Gesinnten aber, wie es scheint, durch wahrhaftiges Sprechen und die Orientierung am universal gültigen Naturrecht zu lösen vermögen. Auf diese Lösung wiederum kontrapunktisch bezogen ist das kulturpessimistische Bild, das »Der Gastfreund« vermittelt (ein, wie sich inzwischen gezeigt hat, ironischer Titel): Die verbale und gestische Sprache sowohl des Griechen Phryxus als auch des Barbaren Aietes zielt nicht auf Verständigung, sondern auf Täuschung (nur Medeas Worte und Gesten sind eindeutig, aber sie haben keine situationsverändernde Kraft). Der Barbar läßt die Illusion des Gastrechts bestehen, um den Griechen berauben und für den Tempelraub bestrafen zu können; der Grieche läßt die Illusion des Raubs bestehen, um sich mit dem Instrument des erschlichenen Gastrechts am Barbaren rächen zu können. Diese destruktive Reziprozität und Symmetrie ist auf die Konsequenz zurückzuführen, mit der beide Seiten die ethnozentrische Regel der Ausschließung des Fremden aus dem Eigenen verwirklichen – eine Verwirklichung, die nun, anders als bei Goethe, nicht bei der Reinigung des Griechischen vom Barbarischen oder bei der Verweigerung der Ehe mit dem Barbaren stehenbleibt, sondern auf die Vereinnahmung des kulturell Fremden zielt, d.h. die Beherrschung und Ausbeutung durch Kolonisation bzw. Raub.68 Die Kehrseite dieser Konsequenz ist eine Verblendung, die sich immer wieder in der selbstbezogen-verengenden Deutung von Zeichen manifestiert. Das Symbol der Verblendung ist die schimmernde »Blende« (G V. 303), in der Phryxus den schillernden kolchischen Gott entdeckt, der ihm zuvor im Traum in »helle[m] Glanz« (G V. 294) erschienen ist. Geblendet von dieser doppelten Theophanie, läßt er sich zu einer Fehl-

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S. oben, Kap. 2.2, S. 53f. Die genaue Lektüre des Textes läßt also die Meinung nicht zu, daß Aietes ein »im Grunde gutmütiger Popanz« ist und daß deshalb »der Unterschied zwischen Barbarei und Kultur in Das goldene Vließ nicht mehr so ausschließlich das Zentralthema bildet wie etwa in Iphigenie auf Tauris« (Jean-Louis Bandet: Corneille – Grillparzer – Anouilh. Zur Behandlung des Medea-Stoffes in Österreich und in Frankreich. In: Grillparzer und die europäische Tradition. Londoner Symposium 1986. Hrsg. v. Robert Pichl [u.a.]. Wien 1987, S. 31–43, Zitat S. 38).

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deutung des dunklen Traumorakel-Spruchs »Nimm Sieg und Rache hin« verleiten (die Verbindung zur antiken Überlieferung der fehler- oder zweifelhaften Orakel-Deutung ist evident).69 Er glaubt, daß ihn der Besitz des Vließes zum Subjekt von Sieg und Rache machen wird, während doch, wie das weitere Geschehen vor Augen führt, er nur um den Preis Subjekt des Sieges sein kann, daß er Objekt der Rache wird. Das ›Hinnehmen‹, zu dem aufgefordert wird, bedeutet demnach ein aktives Ergreifen, das zugleich ein duldendes Annehmen ist. Als Aufforderung ist der Orakelspruch also selbst in sich widersprüchlich, und er gerät zur Doppelbindung: Der Geund Verblendete meint, die vermeintlich göttliche Aufforderung befolgen zu müssen, doch indem er sie befolgt, mißachtet er sie.70 Die Kausalität der Handlungssequenz legt diese Paradoxie auseinander: Weil der Zug des Kolonisators nach Kolchis siegreich, ja triumphal ist (vgl. G V. 316–328),71 ereilt ihn dort die Rache, die später mythisierend als ›Vergeltung‹ bezeichnet wird;72 verblendet von dem Triumph übersieht er alle Zeichen der kolchischen Xenophobie, ja er nimmt sogar Land und Leute als paradiesische Idylle wahr, »Wo Sicherheit und einfach stille Ruh’ / Mit Kindesblicken mir entgegenlächeln« (G V. 205–206). Der tragischen Ironie dieser Worte entsprechend läßt er sich von den Zeichen des Widerwillens, die Medea ihm gibt, nicht abhalten, in ihr eine »gute Vorbedeutung« für eine gemeinsame »Zukunft« (G V. 254–255) zu erblicken. Auf der intertextuellen Ebene dienen die schmeichlerischen Worte, mit denen der Grieche Phryxus um die Barbarin Medea wirbt, also nicht dazu, die Ablehnung der Werbung des Barbaren Thoas um die Griechin Iphigenie wiedergutzumachen.

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Vgl. dazu auch den brillanten Essay von Rebecca Lämmle und Katharina Wesselmann: Das Debakel zu Delphi. In: NZZ Folio 12/2007, S. 41–43. Zu den Bestandteilen einer Doppelbindung gehört es, daß in einem Kontext, der durch Abhängigkeit gekennzeichnet ist, eine Mitteilung gegeben wird, »die a) etwas aussagt, b) etwas über ihre eigene Aussage aussagt und c) so zusammengesetzt ist, daß diese beiden Aussagen einander negieren bzw. unvereinbar sind. Wenn also die Mitteilung eine Handlungsaufforderung ist, so wird sie durch Befolgung mißachtet und durch Mißachtung befolgt [...]. Die Bedeutung der Mitteilung ist also unentscheidbar« (Watzlawick, Beavin, Jackson: Menschliche Kommunikation, S. 196). – Zur Deutung des Orakelspruchs vgl. auch Rudolf Stiefel: Grillparzers »Goldenes Vließ«. Ein dichterisches Bekenntnis. Bern 1959, S. 154ff. Nach Herodot (IV, 155–165) sollen delphische Orakelsprüche zur Kolonisation (hier zur Gründung von Kyrene in Libyen) aufgefordert haben. S. dazu unten, S. 210, 213, 228, 232, 237f.

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Phryxus’ Werbung ist vielmehr eine Manifestation seines kolonialistischen Herrschafts- und Besitzanspruchs.73 Aietes’ Deutung des Orakelspruchs ist, wie gesagt, das Spiegelbild von Phryxus’ verengender Fehldeutung. Doch auch Medea läßt sich zur ethnozentrischen Fehldeutung von Zeichen verführen: Ihre Divination durch das Tieropfer74 – »Das deutet Gutes« (G V. 2) – soll, wie sich oben gezeigt hat, der Ausschließung der ›Fremden‹ und der Vorbereitung auf die Jagd dienen; diese bildet den Rahmen für die nostalgische Inszenierung des Amazonenwesens, das die Ausschließung des Männlichen bedeuten soll. Doch weder findet die Jagd statt, noch ist die Beraubung und Ermordung der Griechen das ›Gute‹, das die Divination versprach. Diese erweist sich folglich als so fehlgeleitet, daß Medea später, im ersten Akt der »Argonauten«, ihre »arme Kunst« (A V. 155) verwirft und eine anthropozentrische Orakeldeutung fordert.75 Daß die Zeichen als Medien des Verstehens und der Verständigung versagen, ist also nicht darauf zurückzuführen, daß sie selbst »Träger der Zersetzung« sind und die neue Tragik einer »unüberbrückbare[n] Differenz zwischen Eigenem und Fremdem stiften, von der Hoffnungslosigkeit jeden Übersetzungsversuchs Zeugnis ablegen.«76 Denn die Zeichen sind nicht selbst Träger der Zersetzung und Stifter der Differenz, sondern sie werden zersetzt und zur Stiftung von Differenzen mißbraucht, genauer gesagt: verengend gedeutet oder im Sinne solcher Verengung fingiert. Träger der verengenden Deutung vorhandener Zeichen und der Fiktion nichtvorhandener, narzißtischer Wunsch-Zeichen (wie der kolchischen Idylle) ist die asymmetrische, ethnozentrisch wertende Antithese des Eigenen und des Fremden, die das Sprechen, Denken und Handeln sowohl der Griechen als auch der Kolcher bestimmt und sie blind dafür macht, daß sich ihre Kulturen längst überlappt haben und hybrid sind. Der Zwang, der von der Antithese ausgeht und dem sich die Personen nicht zu entziehen vermögen,

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Zur Kritik am Besitzdenken in Grillparzers Werken vgl. Ulrich Fülleborn: Dichtung für »andere Zeiten«? Grillparzers Kritik des possessiven Denkens. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 3 / 18 (1991–1992), S. 243–256. Aus der Sicht der vorliegenden Untersuchung ist das Besitzdenken der in der Trilogie auftretenden Figuren eine Funktion der Antithese des Eigenen und des Fremden. Zum antiken Hintergrund vgl. Jan N. Bremmer: Divination VI. In: Pauly (Neu), Bd. 3, Sp. 709–714. S. dazu unten, S. 195. Neumann: Das goldene Vließ, S. 278.

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weil sie ihn mythisch und kultisch heiligen, macht aus der Begegnung der einander fremden Kulturen eine Geschichte der wechselseitigen Verfehlung. Deutlich profiliert sich hier die Funktion der Abweichungen von der antiken mythologischen Überlieferung. Diese berichtet von einem märchenhaften Geschehen: Ein goldener Widder soll die von der bösen Stiefmutter verfolgten Geschwister Phrixos und Helle durch die Luft nach Kolchis tragen. Helle stürzt unterwegs in den fortan nach ihr benannten Hellespont; Phrixos gelangt nach Kolchis, wo er den Widder Zeus opfert und das Vlies des Widders Aietes schenkt, der ihn freundlich aufnimmt (nach der Version des Hyginus jedoch läßt ihn Aietes später aus Angst davor, er könne seinen Thron ursurpieren, hinrichten).77 Aus dem Mythenmärchen wird bei Grillparzer eine ganz auf den Konflikt zwischen Griechen und Barbaren konzentrierte Geschichte von Exil, beabsichtigter Kolonisation und nativistischem Widerstand. Diese Geschichte bildet die Exposition des zweiten Teils der Trilogie, d.i. des Rachefeldzugs der Argonauten, der, vergleicht man ihn mit Phryxus’ Versuch der Kolonisation, der Dramaturgie des Barbarischen einen weiteren Aspekt hinzufügt. Denn er führt vor Augen, wie die asymmetrische Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden, mit der Griechen und Kolcher sich ihrer jeweiligen Identität zu versichern suchen, beide im Inneren zerreißt – eine Zerrissenheit, die dann in »Medea«, dem dritten Teil der Trilogie, eine Dynamik der Selbstzerstörung und gegenseitigen Zerstörung freisetzt. Die Infragestellung der wertend-asymmetrischen Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden durch die Aufdeckung der destruktiven Dynamik dieser Entgegensetzung erweist sich demnach als ein semantisches Grundmerkmal von Grillparzers dramenpoetischer Bearbeitung der weitverzweigten mythologischen Geschichte, die der Trilogie zugrunde liegt.78 Im Hinblick auf die Semantik des Barbarischen unterscheidet sich die Trilogie von den dramenpoetischen Bearbeitungen des Iphigenie-Mythos folglich nicht nur dadurch, daß der ›griechischen‹ Antithese des Hellenischen und Barbarischen nun die ›kolchische‹ des Eigenen und des Fremden symmetrisch entspricht, sondern auch durch die kulturkritisch-genealogische Funktion dieser Symmetrie: Der Reinigung des griechischen Mythos vom Barbarisch-Fremden, das ihm

77 78

Vgl. Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Sp. 2000. Vgl. oben, Kap. 3.1, bes. S. 71f., die methodologischen Vorüberlegungen zur Analyse der dramenpoetischen Bearbeitungen des Iphigenie-Mythos.

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anhaftet, antwortet kontrapunktisch die Aufdeckung des Unreinen, das der reinigenden Ausschließung des Fremden aus dem Eigenen selbst anhaftet.

5.3. »Die Argonauten«: Von der Ausschließung des Fremden zur Selbstentfremdung – Zerrissenheit als tragische Figurenkonzeption und die Mehrdeutigkeit der Vließ-Symbolik Die vier Aufzüge, aus denen der zweite Teil der Trilogie, »Die Argonauten«, besteht, sind wie die beiden anderen Teile nicht in numerierte Auftritte unterteilt, doch jeder von ihnen weist eine raumbezogene Zweiteilung auf, die von den Bühnenanweisungen deutlich hervorgehoben wird. Der Schauplatz aller vier Aufzüge ist Kolchis, aber in jedem Aufzug findet ein abrupter Wechsel von einem Außenraum zu einen Innenraum oder umgekehrt statt: Von einer wilden Gegend zum Inneren von Medeas Turm (I), vom Inneren des Turms zu einem freien Platz (II), vom Inneren des auf dem Platz befindlichen königlichen Zelts zu einer waldigen Gegend (III), vom Inneren der Höhle, in der das goldene Vließ verwahrt wird, zum freien Platz vor der Höhle (IV). Die Zweiteilung, die durch den schnittartigen Wechsel vermittelt wird, hat mehrere kontextabhängige Funktionen. Zu Beginn ist sie ein szenisches Symptom dafür, daß die mythisch und kultisch sanktionierte Ausschließung des Fremden, mit der die Kolcher die Ordnung ihres Lebensraums sichern, sich innerhalb dieses Raums wiederholt; es drängt sich also der Eindruck auf, daß die Ordnung des kolchischen Lebensraums brüchig ist und zu zerfallen droht. Darauf deutete bereits die Eingangsszene des »Gastfreunds« voraus: Mit der nostalgischen Inszenierung eines von wilden Jägerinnen gebildeten Frauenstaats grenzen sich Medea und ihr Gefolge aus dem väterlich-männlichen Raum aus. Der Eingangsszene der »Argonauten« ist zu entnehmen, daß Medea inzwischen, im Vorwissen um die katastrophalen Folgen der Ermordung und Beraubung des, wie sie sagt, »Götterbeschützten«, des »Gastfreund[s]« (A V. 98), der spielerischen Ausgrenzung die Selbstisolation in einem Turm vorgezogen hat. Aietes, von Medeas Bruder Absyrtus begleitet, muß die »Widerspenst’ge« (A V. 57) drängen, ihren Turm zu verlassen, um ihr die Nachricht von der Ankunft der Argonauten mitteilen zu können:

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[...] Fremde sind angekommen, Hellenen, Sie begehren zu rächen Phryxus’ Blut, Verlangen die Schätze des Erschlagnen Und des Gottes Banner, das goldene Vließ.

(A V. 171–174)

Medeas Deutung dieses Geschehens ist in sich widersprüchlich, d.h. durch den ungelösten Konflikt zwischen einer mythischen und einer nichtmythischen Weise, es zu verstehen, gekennzeichnet: Sie sieht es einerseits als Werk der den Erinnyen ähnelnden, spinnenähnlichen, »Unnennbaren / Geister der Rache« (A V. 122–123), die sie schon am Ende des »Gastfreunds« erblickt (ein an Orests Visionen der Rachegöttinnen erinnernder Passus), und andererseits als Manifestation der »Bande / Mit denen die Untat sich selber umstrickt« (A V. 131–132). Der Konflikt zwischen mythischem und anthropozentrischem Verständnis kennzeichnet auch ihre Einstellung zu ihrer eigenen Kunst der Divination, auf die der Vater noch immer vertraut: Einerseits verwirft sie, wie bereits angedeutet,79 diese Kunst der Deutung von Sternen-, Natur- oder kultisch vermittelten »Zeichen« (A V. 137, 140, 150) als »arme Kunst« und fordert Aietes dazu auf, sie durch eine Deutung der »Zeichen die die Tat dir selber aufgedrückt« (A V. 154), also durch eine anthropozentrische Semiotik, zu ersetzen; andererseits läßt sie sich dennoch von Aietes dazu bewegen, die magische Kunst mit dem Ziel auszuüben, das Land vom griechischen »Feind« (A V. 214) zu ›befreien‹ (A V. 222). Gewiß will sie damit Aietes und Absyrtus, die, wie sie sich sagt, »Verblendeten« (A V. 229), beschwichtigen, nachdem Aietes ihren Vorschlag verworfen hat, das Vließ, in dem er noch immer »das heilige Pfand des Gottes« (A V. 201; vgl. G V. 397) erblickt, den Griechen zurückzugeben. Zugleich aber will sie auch ihre eigene Absonderung von allen ihr Fremden und Entfremdeten sichern, denn Aietes hat ihr als Gegenleistung für die Ausübung ihrer Magie versprechen müssen, diese Absonderung in Zukunft zu respektieren. Folglich ist die magische Kunst, »die Götter zu fragen« (A V. 211), die sie dann im Inneren ihres Turms an einem Opferaltar auszuüben versucht, von feierlichem Ernst geprägt; doch verleiht der Pomp ihrer Beschwörungsworte (vgl. A V. 391–409) und auch ihrer Kleidung, die im Nebentext genau beschrieben wird,80 dem Zauberwesen die Züge eines sich von der Person lösenden Rollenspiels, das – zumindest aus heutiger Sicht – durchaus unernst wirken kann.

79 80

S. oben, S. 192. Vgl. FA, Bd. 2, S. 234 (vor A V. 30).

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Auch in solchem Unernst manifestiert sich die semantische Spannung zwischen dem mythischen und dem anthropozentrischen Verständnis menschlichen Handelns. Diese Konstituente der tragischen Figurenkonzeption ist hier wie im Zweiten und Dritten Aufzug von Goethes Iphigenie ein Merkmal der Beziehung des Dramas zur Gattung der griechischen Tragödie.81 Spürbar ist sie auch in dem nun folgenden Dialog zwischen Jason und seinem Gefährten Milo. Diesem, der den Sinn der Argonautenexpedition in Frage stellt – »Was suchst du hier?« (A V. 274) –, ruft Jason zunächst die mythologische Motivierung in Erinnerung: Von seinem Onkel Pelias, dem »Falsche[n]« [A V. 295], der im heimatlichen Jolkos den Thron ursurpiert hat, wurde er mit dem Auftrag nach Kolchis geschickt, »Das goldne Götterkleinod abzuholen, / [...] das dem Göttersohne Phryxus einst / Ihn selber tötend, raubten die Barbaren« (A V. 297, 299–300). Doch dann führt er ein weiteres Motiv an: Ich wäre selbst gegangen, freien Willens, Dem ekelhaften Treiben zu entfliehn. Rumvoller Tod für ruhmentblößtes Leben Mag’s tadeln wer da will, mich lockt der Tausch!

(A V. 301–304)

Hier wird dem mythischen Zwang der freie Wille gegenübergestellt, dem Heros als Halbgott der sich selbst bestimmende Heros aus ennui, jener für die Epoche nach 1815 charakteristischen Stimmung weltschmerzlicher Desillusion und Zerrissenheit, deren prominentester Repräsentant Lord Byron war.82 Anders aber als bei Byron, in dessen Leben und Werk der willentliche Heldentod die Perspektive der Wiedergewinnung verlorener Ganzheit eröffnet, haftet dem Heroismus aus Zerrissenheit in der

81

82

Zur tragischen Figurenkonzeption s. oben, Kap. 3.1; zur tragischen Konzeption der Orest-Figur bei Goethe Kap. 4.2. – Zum unentschiedenen Hin und Her zwischen mythischem und nichtmythischem Verständnis des Handelns der Figuren in der Trilogie vgl. auch Eva Wagner: An Analysis of Franz Grillparzer’s Dramas. Fate, Guilt, and Tragedy. Lewiston, NY [u.a.] 1992, S. 92f. u. öfter. Vgl. Markus Winkler: Weltschmerz, europäisch. Zur Ästhetik der Zerrissenheit bei Heine und Byron. In: Heinrich Heine und die Romantik / Heinrich Heine and Romanticism. Erträge eines Symposiums an der Pennsylvania State University (21.–23. September 1995). Hrsg. v. Markus Winkler. Tübingen 1997, S. 173–190. Den spezifisch österreichischen Kontext der Zerrissenheit bei Grillparzer erörtert Günter Schnitzler: Grillparzer und die Spätaufklärung. In: Franz Grillparzer. Historie und Gegenwärtigkeit. Hrsg. v. Gerhard Neumann u. Günter Schnitzler. Freiburg i. Br. 1994, S. 179–201. – Zur problematischen Selbstbestimmtheit von Jasons Entschluß zum Argonautenzug vgl. auch Brauckmann / Everwien: Sehnsucht nach Integrität, S. 73ff.

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»Argonauten«-Tragödie von vornherein der Makel des Sinnlosen an, da es hier im Grunde nicht um eine gemeinschaftliche Sache geht, sondern nur um Jasons Ruhm, wie einer der – anonymen – Argonauten zu Beginn des Zweiten Aufzugs festhält: Nicht eignes Streben hat uns hergeführt Was kümmert Kolchis uns mit seinen Wundern? [...] Ein Held ist wer das Leben Großem opfert Wer’s für ein Nichts vergeudet ist ein Tor! (A V. 733–734, 754–755)

Für die Konzeption der Medea- wie der Jason-Figur sind also spezifisch tragische semantische Spannungen kennzeichnend. Sie lösen sich bis zum Ende der Trilogie nicht auf, weil die Figuren selbst sie nicht aufzulösen vermögen, obwohl sie ihnen bewußt werden: Wer bist du, doppeldeutiges Geschöpf? Scheinst du so schön und bist so arg, zugleich So liebenswürdig und so hassenswert [...]. (A V. 438–440)

Mit diesen Worten redet Jason Medea bei ihrer ersten Begegnung in Medeas Turm an, und gleich darauf bezeichnet er ihre Doppeldeutigkeit zum ersten Mal mit der Antithese von »Milde« (A V. 445) und »Wildheit« (A V. 455), die im folgenden leitmotivisch wiederkehrt.83 Die Doppeldeutigkeit, die Jason hier an Medea, später aber auch in sich selbst entdeckt, so wie Medea sie im dritten Teil der Trilogie an Jason und ebenfalls in sich selbst entdeckt, geht also wie in Goethes Iphigenie auf die Antithese des Griechischen und Barbarischen zurück. Die von dieser Antithese mitbestimmte Kausalität der Handlungssequenz ist jedoch bei Grillparzer eine ganz andere als bei Goethe: In Goethes Drama wird dank Iphigenies pädagogischem Wirken und im Zuge der ›Heilung‹ des Orest die barbarisch-mythische Seh- und Lebensweise scheinbar durch die Bildung zur ›griechisch‹-anthropozentrischen überwunden, in Wahrheit aber aus dem Raum des Griechischen ausgeschlossen. Das zeigen die figurenpsychologische Unverständlichkeit jener Heilung und die nur der Form nach einvernehmliche Trennung der Griechin vom Barbaren. Demgegenüber verhindern in Grillparzers Drama die Liebe, die Partnerschaft und die Ehe

83

Vgl. A V. 908–909: »Doch du, wer bist du? die so sonderbar / Mit Grausamkeit vereinet Mitleids Milde?« Ferner A V. 913: »So mild dein Tun und rauh dein Wort, Medea?«

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des Griechen und der Barbarin von vornherein solche Scheinlösungen. Sie lassen den Griechen und die Barbarin vielmehr, wie hier vorwegnehmend festgestellt sei, an dem Unvermögen leiden, die Zwänge zu brechen, die von der Antithese des Griechischen und Barbarischen und ihrem kolchischen Äquivalent ausgehen. Die Aufforderung, diese Zwänge zu brechen, ist indes in dem komischen Effekt, den die Symmetrie der beiden Antithesen bisweilen hat (zumindest für das Zuschauer- und Lesepublikum), durchaus angelegt. Komisch wirkt die Symmetrie, wenn sie als ein Automatismus, wie ihn Bergson als »Du mécanique plaqué sur du vivant « beschrieben und u.a. in den Figuren der Wiederholung und der Inversion nachgewiesen hat, wahrgenommen wird.84 Ein Beispiel dafür ist im Ersten Aufzug die den Redenden verborgene spiegelbildliche Gleichheit von Milos Worten über das »gottverlaßne[] Land« (A V. 313) der Barbaren, wo »kaum die Sonne durch der dichten Nebel / Und rauhen Wipfel schaurigen Versteck« sehe (A V. 320–321), und Absyrtus’ Worten über der »Fremden« (A V. 22) »dunkles Land, [...] Wo kein Mond strahlt, keine S o n n e leuchtet« (A V. 25, 27). Die Symmetrie der asymmetrisch wertenden Antithesen führt hier den Automatismus, der beiden innewohnt, d.h. die Klischeehaftigkeit des jeweiligen Bildes vom Fremden, vor Augen. Auch im Zweiten Aufzug hat dieser Automatismus zumindest stellenweise komische Züge. So wirkt der Aufwand, den Medea betreibt, um zu verdrängen, daß sie sich in einen der ›Fremden‹ verliebt hat (eine Verliebtheit, die ja ihren selbstbezogenen Kult der Ausschließung alles Fremden, auch des Männlichen, bedroht), insofern komisch, als er unkontrollierte Stimmungsschwankungen und Mißverständnisse auslöst: Medea hält Jason, der sie am Ende des Ersten Aufzugs im Turm überrascht, mit seinem Schwert verletzt und geküßt hat, für den kolchischen Todesgott Heimdar (vgl. A V. 557–605).85 Um so schockierender ist dann für sie die Erkenntnis, daß der vermeintliche Gott in Wahrheit einer der, wie ihr nach Gora auch Aietes versichert, »Fremden« war, »der Hellenen, / Die gekommen an Kolchis’ Küste, / Argonauten, auf Argo dem Schiff, / Zu verwüsten unsere Täler / Und zu rauben unser Gut« (A V. 618–622). Das Gefühl der ethnischen und sexuellen Verunreinigung läßt sie sogleich auf die Forderung

84 85

Vgl. Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique. Paris 3991981, bes. S. 55ff., 68ff. u. öfter, Zitat S. 29. Zum Anklang von »Heimdar« an »Heimdallr«, den Namen eines nordischen Gottes, vgl. Bachmaier in FA, Bd. 2, S. 827.

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des Vaters eingehen, ihm zu beweisen, daß ihr »fremd war des Frechen Erkühnen« (A V. 661): Der innerliche Zwang zur Reinigung des Eigenen vom Fremden macht sich nun Luft in dem Begehren, »Zu vernichten, zu töten, zu sterben!« (A V. 671) Damit aber begibt sich Medea in den Raum typisch männlicher Interaktion, in dem das dubiose heroische Ethos ihres Vaters, ihres Bruders und der Griechen herrscht – in einen Raum also, den sie von Anfang an aus ihrem Raum unversehrter, jungfräulichreiner und ursprünglicher Weiblichkeit auszuschließen trachtet. Dieselbe Verkehrung des spontanen Liebesgefühls, das Brücken bauen könnte, in den xenophoben Haß, der die eigene Unversehrtheit wiederherstellen soll, findet beim Übergang vom Zweiten zum Dritten Aufzug statt: Dort rettet sie – wie am Ende des Ersten Aufzugs im Turm – Jason aus Liebe das Leben, drängt dann aber den Vater dazu, die »Fremden« (A V. 959, 960) sei es zu verjagen, sei es zu töten: »Hinaus mit ihnen, hinaus aus deinem Land« (A V. 961). Als illusorisch erweist sich gleich darauf ihre Hoffnung, sich ins »Innre des Landes«, »Wo kein Aug hindringt, kein Ohr, keine Stimme, / Wo nur die Einsamkeit und ich« (A V. 986, 988–989), zurückziehen zu können. In diesem Ineinander von Ausschließung des Fremden und Selbstentfremdung ist jene paradoxe Dynamik der Verkehrung und Verstrickung des Eigenen ins Fremde wirksam, die oben in der Semantik des Barbarischen nachgewiesen wurde und auf die in Goethes Drama, wie ebenfalls oben dargelegt, Thoas’ kontrapunktische Repliken (u.a. seine MedeaAnspielung), Orests Erkrankung und Iphigenies Gewissenskrise aufmerksam machen. Sie ist, wie die Analyse des »Gastfreunds« gezeigt hat, auch in Aietes’ räuberischer Haltung wirksam, da diese ihn an den verhaßten Griechen Phryxus fesselt, der ihn deshalb in die Falle der falschen Gastfreundschaft locken kann. Die Dynamik der Verstrickung und Verkehrung ist also ein Moment der tragischen Zerrissenheit und ein weiterer Aspekt der Symmetrie der kolchischen Rede von den räuberischen Fremden und der griechischen Rede von den wilden Barbaren. Für beide gilt die von Lévi-Strauss formulierte Regel, daß man in eben dem Maße, in dem man andere Ethnien diskriminiert, dem Bild gleich wird, das man sich von ihnen macht.86 Das führen im Zweiten Aufzug auch die Griechen mit greller Deutlichkeit vor, z.B. mit der primitiven Kraftmeierei ihres Verhaltens und ihrer

86

S. oben, Kap. 2.2, S. 49.

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Sprache: »Nichtswürdiger Barbar« (A V. 682) sagt einer der Argonauten zu einem kolchischen Hauptmann; »Schwachsinniger Barbar« (A V. 859), »Rache dir Barbar!« (A V. 907) ist Jasons Art, Aietes anzureden, als er zum ersten Mal mit diesem zusammentrifft. Vor allem aber untergräbt Jason den eigenen Anspruch auf kulturelle Überlegenheit, indem er die Forderung nach Rückgabe des goldenen Vließes wie folgt begründet: Das Köstlichste von Phryxus’ Gütern aber Es war ein köstliches, geheimnisvolles Vließ, Des er entkleidete in Delphis hoher Stadt Das Bildnis eines unbekannten Gottes Das dort seit grauen Jahren aufgestellt, Man sagt, von den Urvätern unsers Landes, Die fernher kommend, und von Oben stammend, Das Land betraten und der Menschheit Samen Weitbreitend in die leere Wildnis streuten, Und Hellas’ Väter wurden, unsre Ahnen. Von ihnen sagt man stamme jenes Zeichen, Ein teures Pfand für Hellas’ Heil und Glück. Vor allem nun dies Vließ fordr’ ich von dir, Daß es ein Kleinod bleibe der Hellenen Und nicht in trotziger Barbaren Hand Zum Siegeszeichen diene wider sie. (A V. 828–843)

Gegen die Forderung sprechen sowohl der Inhalt als auch die sprachliche Form der Argumente, die Jason vorbringt. Ihr Inhalt wird bestimmt von dem aitiologischen Mythos, der aus dem Vließ das Gründungssymbol (das »Zeichen«) der griechischen Kulturnation und den Garanten (das »Pfand«) ihres Fortbestandes macht. Status und Funktion der Göttersage (»Man sagt«, »sagt man«) sind indes unsicher: Der ermordete Phryxus kannte die Sage noch nicht; hat sie also vor allem die Funktion, zu verschleiern, daß er, der Grieche, es war, der als erster das Vließ geraubt hat? Doch selbst unter der Voraussetzung, daß die Göttersage im inneren Kommunikationssystem tatsächlich eine Figur des kulturellen Gedächtnisses der griechischen Nation ist,87 bleibt gültig, was Phryxus im »Gastfreund« berichtet hat: Der Name »Kolchis« ist in den Sockel der delphischen Statue des unbekannten Gottes eingegraben. Dieser Gott ist also kein Nationalgott – weder der Griechen noch der Kolcher –, sondern ein von beiden verehrter Gott.

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Zum Mythos als Figur des kulturellen Gedächtnisses vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 21999, S. 52.

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Beide verkennen das aber, weil sie, wie oben dargelegt, die Symbolik seines Attributs, des goldenen Vließes, verengend deuten. Gegen diese Verengung spricht auch die Tatsache, daß die Statue des Gottes mit dem Vließ sowohl in Delphi als auch in Kolchis steht (erinnert sei an die Anagnorisis-Szene im »Gastfreund«), daß es also gar nicht nur ein Vließ gibt (eine weitere markante Abweichung von der antiken Überlieferung des Mythos). Das delphische Standbild des Gottes mit dem Vließ ist in Wahrheit ein Zeichen für den Synkretismus der griechischen und der kolchischen Religion, für das ihnen Gemeinsame.88 Auf Gemeinsames verweist der aitiologische Mythos von dem Standbild auch insofern, als er von der Urzeit berichtet, in der Hellas nicht ein Hort der Humanität (»Menschheit«), sondern eine »Wildnis« war, wie es Kolchis aus hellenischer Sicht jetzt immer noch ist. Doch nicht nur aus diesen sachlichen Gründen ist die Hellenen-Barbaren-Antithese, mit der Jason seine Forderung abschließend bekräftigt, kein glaubwürdiges Argument, sondern auch aus sprachlichen. Es fällt auf, daß Jasons Verwendung des Nomens Pfand zur Bezeichnung des hellenischen Anspruchs auf ausschließlichen Besitz des Vließes Aietes’ Verwendung dieses Nomens seitenverkehrt entspricht: Aietes untermauert im Ersten Aufzug den kolchischen Besitzanspruch, indem er vom »heilige[n] Pfand des Gottes« (A V. 201) spricht. Und schon im »Gastfreund« sind sich Phryxus’ und Aietes’ Reden vom Vließ als ›Pfand‹ spiegelbildlich gleich. Das Nomen bildet gleichsam die Symmetrieachse der rivalisierenden Ausschließlichkeitsansprüche; seine wiederholte Verwendung durch beide Parteien gibt diese Ansprüche – im äußeren Kommunikationssystem – der Lächerlichkeit preis. Ebenso fragwürdig wirkt Jasons Rede, wenn man die Beziehung von Symbol und Mythos, die sie postuliert, im Sinne der spätromantischen Mythenwissenschaft versteht. Als Symbol wäre das Vließ dann – in den Worten Friedrich Creuzers – »ein Strahl, der in gerader Richtung aus dem dunkelen Grunde des Seyns und Denkens in unser Auge fällt, und durch unser ganzes Wesen fährt«, und der Mythos vom Vließ wäre das »ausge-

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Die Trilogie berührt hier ein großes Thema der mythologischen Poesie (Hölderlin, Nerval u.a.) ihrer Epoche wie auch der spätromantischen Mythenwissenschaft (Creuzer u.a.). Daß sich Perontos Statue in Apolls Tempel befindet, bedeutet also nicht nur, daß jeder der beiden Götter als die verborgene Seite des anderen erscheint, wie Katja Wimmer annimmt (Médée à Delphes. La fin de la trilogie La Toison d’or de Franz Grillparzer. In: Cahiers d’études germaniques 39 [2000], S. 119–126, hier S. 125).

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sprochene Symbol[]«.89 Da überdies das ›Sein‹, das von Symbol und Mythos bezeichnet werden soll, ein nationales ist, fänden beide Platz in einer nationalen Mythologie, wie sie die Brüder Grimm mit ihren Sammlungen vorbereiteten und wie sie Jacob Grimm schließlich mit seiner Deutschen Mythologie vorlegte; immer ging es um die nationale ›Vorzeit‹.90 Jasons Auslegung der ontologischen Qualität des Vließes wird, so gesehen, zum Effekt eines komplexen spätromantischen ›Diskurses‹. Daher wirkt seine Rede verglichen mit Iphigenies ›neuer‹ Mythologie fremdbestimmt. Der wichtigste Strukturfaktor der Fremdbestimmung ist indes hier wie in allen Äußerungen der Argonauten, die sich auf Kolchis beziehen, die klischeehafte Griechen-Barbaren-Antithese. Auffallend ist die Häufigkeit, mit der im zweiten Teil der Trilogie das Wort Barbar verwendet wird.91 Diese Häufigkeit ist um so signifikanter, als in der epischen Überlieferung der entsprechenden Phase des Grundmythos, d.h. in den Werken des Apollonios von Rhodos und Valerius Flaccus, die Grillparzer, wie erwähnt, als Quellen benutzt hat, die ethnozentrische Semantik des Barbarischen keine Rolle spielt.92 Im Zuge der Dramatisierung dieser ersten, kolchischen Phase des Medea-Grundmythos ergeben sich die für die Tragödie konstitutiven semantischen Spannungen und Doppeldeutigkeiten nun aber nicht wie in den Iphigenie-Dramen von Euripides bis Goethe aus dem Konflikt zwischen der Wertordnung, die der alte Mythos vermittelt, und der neuen Wertordnung, die der jeweiligen Semantik des Barbarischen entspricht.93 Sie ergeben sich vielmehr aus der Semantik des Barbarischen selbst, insofern als der bei Goethe noch verdeckte Konflikt zwischen ihrer humanistisch-neuhumanistischen und ihrer ethnographisch-eurozentrischen Verwendung bei Grillparzer offen zutrage tritt. Anders gesagt: In der ersten Hälfte der Trilogie – und, wie sich zeigen wird, auch in der zweiten – wird nicht wie in Goethes Iphigenie ein alter, vielbearbeiteter Mythos, der von barbarischen Menschenopfern erzählt, mit dem Ziel bearbeitet,

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91 92 93

Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. 4 Bde. Leipzig / Darmstadt 31836–1843. Bd. 4, S. 541 u. 559. Hervorh. im Text. Vgl. Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. 3 Bde. Berlin 41875–1878. Bd. 1, S. XLI (Vorrede zur zweiten Auflage). Dazu vgl. Winkler: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus, S. 32ff., bes. S. 42f. In den »Argonauten« ist das Wort neunzehn Mal belegt, im »Gastfreund« einmal, in »Medea« fünfmal. S. oben, Kap. 1, S. 13; Kap. 2.1, S. 41f. S. oben, Kap. 3.1, S. 71f.

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ihn dem neuen Mythos vom ›Griechischen‹ als dem universal Humanen anzugleichen; bearbeitet wird vielmehr dieser neue Mythos selbst: Er wird an seinem antiken ethnozentrischen Substrat, dem herabsetzenden Gegenbegriff des Barbarischen, und an dessen Erneuerung im Zeitalter der Kolonisation gemessen. Der humanistisch-neuhumanistische Impuls äußert sich nun in der Suche nach dem Weg, der aus der Antithese des ›Griechischen‹ und des ›Barbarischen‹ selbst und nicht mehr nur aus der Verkehrung und Verstrickung des einen in das andere hinausführt. Anders als bei Goethe scheint leidenschaftliche Liebe diesen Weg zu ebnen. Während Iphigenie Thoas nicht liebt und Thoas vor allem aus Gründen der Staatsraison um sie wirbt, fühlen Jason und Medea sich leidenschaftlich zueinander hingezogen. Diese Leidenschaft wird jedoch vom verinnerlichten Zwang zur Ausschließung des Fremden aus dem Eigenen überlagert, wie bereits Medeas verzweifelte Versuche zeigen, ihre Liebe zu verdrängen. Den Höhe- und Wendepunkt der Handlungssequenz, die aus dieser Überlagerung hervorgeht, bildet die Szene des Dritten Aufzugs, in der Jason um Medea wirbt. Sie beginnt mit der Entwaffnung Medeas (Entwaffnung im konkreten wie im übertragenen Sinn). Nachdem Medea zu Beginn der Szene auch gestisch ihre Unfähigkeit, Jason zu töten, bezeugt hat, hält dieser die Erstarrte wie ein Stück Beutegut triumphal »in die Höhe« (vor A 1156), doch zugleich fordert er als Bedingung dafür, sie los- und niederzulassen, ein positives »Zeichen« (A V. 1163) ihrer Liebe zu ihm – ein Zeichen, das sie ihm dann zu geben scheint, indem sie seinen Namen ausspricht, denn dieser »Klang« (A V. 1165) wird ihm zum »Einklang« (A V. 1170). Auch seine nun folgende lange Rede, die sie nur mit wenigen Worten und Gesten eines – vergeblichen – Widerstands unterbricht, wird strukturiert von der Überlagerung eines Besitzanspruchs, dessen Ausschließlichkeit und räuberische Aggressivität von der Rivalität mit Aietes’ Besitzanspruch herrührt,94 und einer Sprache der Liebe, die ihm und ihr die Perspektive der Überwindung des kulturellen und kriegerischen Konflikts zwischen Griechen und Kolchern eröffnet. Dabei imaginiert Jason diese Überwindung als eine ›Grenzüberschreitung‹ (A V. 1180), die seine Fixierung »[a]uf Kampf und Streit« (A V. 1188) – gemeint ist

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»Zwar geb’ ich leicht dem Vater dich nicht wieder, / Ein teures Unterpfand ist mir sein Kind« (A V. 1174–1175) – ein Unterpfand nämlich für die Legitimität des eigenen Überlegenheitsanspruchs (zu beachten ist die erneute Verwendung des ›Pfand‹-Begriffs).

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»unsrer Völker Streit« (A V. 1157) – außer Kraft setzt, indem sie das Fremde vertraut und das Vertraute fremd werden läßt: Wie eine Heimat fast dünkt mir dies fremde Land [...] Und wieder, ist das Fremde mir bekannt, So wird dafür mir, was bekannt, ein Fremdes. Ich selber bin mir G e g e n s t a n d geworden, Ein andrer denkt in mir, ein andrer handelt. (A V. 1190, 1194–1197)

Gemeint ist hier nicht die »Dissoziation von Jasons Selbst«,95 sondern die Dissoziation jenes ›Diskurses‹ vom ›griechischen‹ Selbst, der dieses auf den Gegensatz zum barbarischen Selbst festlegt. Erst später, zu Beginn des dritten Teils der Trilogie, auf dem ›klassischen Boden‹ von Korinth, empfindet Jason diese Dissoziation als Bedrohung und sucht sie mit allen Mitteln rückgängig zu machen. Hier hingegen vermittelt sie die Erkenntnis, daß das eigene Selbst in Wahrheit hybrid ist: Ein einz’ges ist mir licht und das bist du, Ja du Medea, scheint’s auch noch so fremd. Ich ein Hellene, du Barbarenbluts, Ich frei und offen, du voll Zaubertrug, Ich Kolchis’ Feind, du seines Königs Kind Und doch Medea, ach und dennoch, dennoch! Es ist ein schöner Glaub’ in meinem Land, Die Götter hätten doppelt einst geschaffen Ein jeglich Wesen und sodann geteilt; Da suche jede Hälfte nun die andre Durch Meer und Land und wenn sie sich gefunden, Vereinen sie die Seelen, mischen sie Und sind nun eins! [...] (A V. 1202–1214)

Jason kehrt hier die Hellenen-Barbaren-Antithese einmal mehr hervor, doch nun in der Absicht, sie zu entkräften, indem er, den Mythos des Aristophanes aus Platons Symposion (189c ff.) zitierend, Medea und sich

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Neumann: Das goldene Vließ, S. 280. Gegen die Festlegung von Jasons langer Rede auf einen rein negativen Sinn und für ihre Deutung als Zeugnis einer Liebesbegegnung plädiert ausgehend von einer genauen Analyse der Stellen, an denen die Begriffe »Geschehen« und »Tun« verwendet werden, bereits Ulrich Fülleborn: Das dramatische Geschehen im Werk Franz Grillparzers. Ein Beitrag zur Epochenbestimmung der deutschen Dichtung im 19. Jahrhundert. München 1966, S. 51ff., 67ff. – Phänomenologisch gesehen, bejaht Jasons Rede die Verschränkung von ›interner‹ und ›externer‹ Fremdheit; vgl. Waldenfels: Grundmotive, S. 120.

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selbst als die beiden einander suchenden »Hälfte[n]« ein und desselben »Wesen[s]« darstellt. Die Liebe fordert also zu einer Anagnorisis auf – »Und sehe dich und bin mit dir bekannt« (A V. 1189) –, und diese hat dieselbe Funktion wie die Anagnorisis, die Phryxus beim Anblick der kolchischen Statue des Gottes mit dem Widderfell zuteil wird. Hier wie dort scheint ein Mythos, der das Hybride jeder kulturellen Identität und die Relativität aller Grenzziehungen (nun auch der zwischen den Geschlechtern) vermittelt, den ethnozentrischen Mythos kultureller Reinheit ablösen zu können.96 Doch Medea beharrt auf ihrem Widerstand, der sich nun verbal in Interjektionen (»Fort! [...] Von hier!« [A V. 1222], »Laß!« [A V. 1226]) und gestisch in Fluchtbewegungen kundtut. Damit setzt sie jene Grenzziehungen wieder in Kraft, und Jason macht daraufhin mit physischer Gewalt seinen Überlegenheitsanspruch geltend: »Erkenne deinen Meister, deinen Herrn!« (A V. 1229) fährt er Medea an, nachdem er mit der Widerstrebenden gerungen und sie – wiederum im konkreten und im übertragenen Sinn – in die Knie gezwungen hat. Folglich wird ihm auch Kolchis (»dieses Land«, A V. 1234) wieder ausschließlich fremd, und Griechenland verklärt sich ihm zum klimatisch begünstigten Hort reiner Humanität, den er in Winckelmannscher Manier evoziert,97 bis er, den Selbstbetrug erkennend, sich selbst ins Wort fällt und Medea erneut und wiederum vergeblich zu einem Liebesgeständnis zu überreden sucht; am Ende scheint er zu resignieren: Geh! Du bist frei, ich halte dich nicht mehr! Kehr’ wieder zu den Deinigen zurück, Zu ihren Menschenopfern, Todesmahlen, In deine Wildnis, Wilde kehr’ zurück. Geh! Du bist frei; ich halte dich nicht mehr!

96

97

(A V. 1274–1278)

Dieser textanalytische Befund ist Bachmaiers verallgemeinernder Feststellung entgegenzuhalten, daß die Grenzüberschreitung bei Grillparzer »zwangsläufig alles in Chaos auflöst« (Helmut Bachmaier: Grillparzers Dramen. In: Grillparzer: FA, Bd. 2, S. 601–658, hier S. 623). Im Goldenen Vließ ist es im Gegenteil die Fixierung auf kulturelle Identität konstruierende Grenzziehungen, die zur Auflösung im Chaos (genauer zur gewaltsamen Verkehrung des Eigenen ins Fremde) führt. »Wärst du in Griechenland, da wo das Leben Im hellen Sonnenglanze heiter spielt, Wo jedes Auge lächelt wie der Himmel, Wo jedes Wort ein Freundesgruß, der Blick Ein wahrer Bote wahren Fühlens ist, Kein Haß als gegen Trug und Arglist, kein –« (A V. 1237–1242).

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Auch diese Aufforderung ist in sich widersprüchlich. Medeas Welt wird mit den alten abschreckenden Klischees der ethnozentrischen Semantik des Barbarischen bezeichnet, so daß sie als Welt der Menschenopfer-Praxis, des Kannibalismus (der »Todesmahle[]«) und der vorzivilisatorischen Wildheit erscheint: Jasons Gefährte Milo bezeichnet die Kolcher sogar als »die wilden Tiere« (A V. 1650).98 Die Aufforderung, dorthin zurückzugehen, ist also mit der, bei ihm, Jason, zu bleiben, in paradoxer Weise verschränkt. Wirksam wird diese Doppelbindung aber nicht. Zwar läßt sich Medea wenig später, als Aietes sie als seinen Besitz von Jason zurückfordert, von diesem »auf die andere Seite« führen (vor A V. 1330) – eine Geste, die ankündigt, daß sie ihre Utopie reiner, vom Patriarchat abgeschiedener Weiblichkeit preisgeben wird. Die Peripetie des ›Seitenwechsels‹ erfolgt jedoch erst, nachdem sie dem Vater vor Jason ihre Liebe bekannt (vgl. A V. 1336) und ihm einen Schlichtungsvorschlag unterbreitet hat, der ganz im Sinne dieser Liebe auf die Überwindung des Zwangs zur antithetischen Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden zielt: Löse den Zauber, beschwicht’ge den Sturm! Heiß ihn dableiben, den Führer der Fremden, Nimm ihn auf, nimm ihn an! An deiner Seite herrsch’ er in Kolchis, Dir befreundet, dein Sohn! [...] (A V. 1350–1354)

Aietes’ Antwort: »Mein Sohn? Mein Feind« (A V. 1354) gehorcht jedoch ganz jenem Zwang. Dieser hat dann zur Folge, daß er die ungehorsame Tochter verstößt, indem er sie verflucht (nach einem von Jason und Absyrtus vereitelten Versuch, sie zu ermorden): Ausgestoßen sollst du sein, wie das Tier der Wildnis, Sollst in der Fremde sterben, verlassen, allein. (A. V. 1365–1366)

Aietes’ Fluch, der ein verzweifelter Versuch ist, die Integrität des Kolchischen wiederherzustellen, macht aus Medea den Sündenbock, der geopfert werden muß, wie sie später, im dritten Teil der Trilogie, auch erkennt, nachdem sie von Jason verstoßen worden ist;99 dieser Symmetrie entsprechend spiegelt der väterliche Fluch die gestisch hervorgehobenen Worte, mit denen Jason schon zuvor – »Hierher, Medea, fort von diesen Wilden /

98 99

Zu diesen Topoi s. oben, Kap. 2.1. S. dazu unten, S. 232.

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Von nun an bist du mein und keines andern!« (A V. 1330–1331) – und nun erneut seinen Triumph verkündet: Aietes’ Kind ist Jasons Weib geworden, An dieser Brust hängt deine Pflicht, dein Recht. Und wie ich diesen Schleier von dir reiße, Durchwoben mit der Unterird’schen Zeichen, So reiß ich dich von all den Banden los, Die dich geknüpft an dieses Landes Frevel. Hier Griechen eine Griechin! Grüßet sie! Er reißt ihr den Schleier ab. (A V. 1400–1406)100

Medea kann sich also nicht aus Liebe selbst zur Griechin bilden, sondern sie wird in den Raum des Griechentums von Aietes gestoßen und von Jason gerissen (und später, in Korinth, wiederum aus diesem Raum verstoßen, obwohl sie dort keine Bildungsanstrengung scheut). Beiden Bewegungen gemeinsam ist der Impuls zur Reinigung des Eigenen vom Fremden. So behauptet sich am Ende des Dritten Aufzugs der beiderseitige Zwang zur Ausschließung und Herabsetzung des Fremden, die Symmetrie der Asymmetrien, gegen die Sprache der Liebe, die das Fremde mit dem Eigenen verbindet. Dementsprechend manifestiert sich nun auch erneut die Dynamik der Verstrickung und Verkehrung des Eigenen ins Fremde. Gleich im Anschluß an die zuletzt zitierten Worte beharrt Jason auf seiner Forderung, Medea möge ihn zum Vließ führen. Damit stößt er Medea in den Raum der ›Unterirdischen‹, dem er sie doch entreißen wollte, zurück, und er selbst begibt sich in diesen Raum, obwohl Medea ihn davor warnt, daß er dort sein ›griechisches‹ Selbst verlieren werde: MEDEA Jason! JASON wendet sich um: Was ist? MEDEA Du gehst in deinen Tod! JASON Kam ich hierher und fürchtete den Tod?

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Schon am Ende des Zweiten Aufzugs, nachdem ihm Medea mit ihrer Warnung das Leben gerettet hat, führt Jason diese Geste aus: »Er reißt ihr den Schleier ab« (eingefügt in A V. 910). Die sexuelle Bedeutung der Geste darf die kulturelle, die von den zuletzt zitierten Worten hervorgehoben wird, nicht übersehen lassen: Indem Jason ihr den Schleier abreißt, zerstört er die mythische Grenze, die sie zwischen sich und dem, was ihrer Sphäre vermeintlich ursprünglicher, reiner Weiblichkeit fremd ist, errichtet hat, und er bekräftigt die Grenze zwischen dem Griechischen und dem Barbarischen.

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MEDEA auf ihn zueilend und seine Hand fassend: Ich sage dir, du stirbst. Halblaut: In der Höhle liegt’s verwahrt, Verteidigt von allen Greueln Der List und der Gewalt. (A V. 1436–1441)

Zugleich skizziert sie einen Gegenmythos zu Jasons aitiologischem Nationalmythos vom Vließ als »Zeichen« und »Pfand für Hellas’ Heil und Glück«: Ein erzürnter Gott hat es gesendet, Unheil bringt es, h a t es gebracht!

(A V. 1416–1417)

Der Gegensatz zwischen beiden Mythen kann als Auseinanderlegung der semantischen Paradoxie und pragmatischen Doppelbindung verstanden werden, die sich, wie oben erläutert, in dem Orakelspruch »Nimm Sieg und Rache hin« verbirgt. Medea bringt diese Paradoxie und Doppelbindung am Ende des Aufzugs in einer die beiden Mythen dechiffrierenden Form wie folgt zum Ausdruck: So komm, laß uns holen was du suchst; Reichtum, Ehre, Fluch, Tod! (A V. 1468–1480)101

Zur Ambiguität der Vließ-Symbolik trägt also auch der Gegensatz zwischen mythischer und nichtmythischer, anthropozentrischer Sehweise bei. Der Gegensatz scheint sich aber in der ersten Hälfte des Vierten Aufzugs zu verflüchtigen, da Jasons Raub des Vließes, das in einem unterirdischen Versteck von einer »ungeheure[n] Schlange« (vor A V. 1537) – dem Drachen der mythologischen Überlieferung – bewacht wird, auf den ersten Blick nur die opernartige Dramatisierung des episch überlieferten Geschehens ist.102 Doch auch diesem Geschehen verleiht das tragische Merkmal

101

102

Da Jason diese Dechiffrierung nicht versteht, sondern ähnlich wie Phryxus an seiner Version des Vließ-Mythos festhält, werden Medea an dieser Stelle beide Griechen zu ein- und derselben Person: »Ah! – Phryxus! – Jason!–« (A V. 1473). Neumann scheint mir den Sinn dieser Identifikation nicht adäquat wiederzugeben, wenn er anmerkt, »daß Medea in der Szene des Vließ-Raubs gar Jason mit Phryxus, den Tempelräuber mit dem Gastfreund verwechselt!« (Neumann: Das goldene Vließ, S. 266). Denn erstens handelt es sich hier nicht um die Szene des Vließ-Raubs, und zweitens ist Jason kein Tempelräuber. Vgl. Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Sp. 389f. Die Dramatisierung epischen Materials in den ersten beiden Teilen der Trilogie beurteilt kri-

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der Zerrissenheit eine neue Bedeutung. Denn indem Jason das Vließ raubt, verkehrt sich tatsächlich sein griechisches Selbst in ein barbarisches. Der Raub ist ein barbarischer Akt sowohl auf der Ebene der Handlungskausalität (er verdankt sich der Beihilfe der Barbarin Medea) als auch auf derjenigen der historischen Semantik des Barbarischen: Es sei noch einmal daran erinnert, daß in der Ethnographie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts der Raub als typisch barbarische Weise der rückhaltlosen Aneignung von Gütern definiert und dem Tausch gegenübergestellt wird. Jasons Selbstverlust findet nicht nur in der Verstörung Ausdruck, mit der er, »das Vließ als Banner auf einer Lanze tragend« (eingefügt in A V. 1580) stufenweise ans Tageslicht zurückkehrt, sondern auch in den spöttischen Worten, mit denen Medea auf die Todesangst reagiert, die beim Anblick der Schlange von ihm Besitz ergreift: Nur gegen mich hast du Mut? Bebst vor der Schlange? Schlange! Die mich umwunden, die mich umstrickt, Die mich verderbt, die mich getötet! (A V. 1540–1543)

Als »Schlange« (A V. 1359) hat zuvor Aietes seine Tochter beschimpft, um sie als abtrünnige, hinterlistige Verräterin zu brandmarken und dann als Sündenbock zu opfern. Medea überträgt nun beim Anblick der WächterSchlange das Bild der Schlange auf Jason: Denn er ist es, der sie verführt und insofern »getötet« hat, als er sie ihrem kolchischen Selbst ›entrissen‹ hat; auch das war, so gesehen, ein räuberischer Akt. Die Schlange symbolisiert also die Dynamik der Verkehrung des Eigenen ins Fremde. Nicht Liebe, sondern diese Dynamik ist es, die Jason und Medea fortan aneinander fesselt und zugleich zerreißt, wie Jason mit einer Bemerkung hervorhebt, die zu verstehen gibt, daß beider Einstellung zueinander zutiefst ambivalent bleiben muß: Komm her mein Weib, mir angetraut Bei Schlangenzischen unterm Todestor.

103

(A V. 1671–1672)103

tisch W. E. Yates: Grillparzer. A Critical Introduction. Cambridge 1972, S. 88f. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß die Tragödie als Gattung diesem Verfahren ihre Entstehung verdankt; vgl. oben, Kap. 3.1, S. 70f., die Bemerkungen von Vernant. Es fällt nicht schwer, in der Szene des Vließraubs einen »symbolischen Geschlechtsakt« zu erblicken (Bachmaier: Nachwort, S. 202), aber die Pointe der Szene besteht nicht darin, sondern in dem Ineinander von erotischer Symbolik und Symbolik der Zerrissenheit.

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Die der Dynamik der Verkehrung entsprechende Zerrissenheit manifestiert sich erneut in der die Tragödie beschließenden Katastrophe. Beim Wiedersehen mit Absyrtus, der die Verstoßene und Geopferte an der Flucht mit den Griechen hindern und sie mit dem Vater versöhnen will, äußert Medea unwillkürlich den Wunsch nach Rückkehr: »O könnt’ ich gehn mit dir!« (A V. 1703) Jason wiederum, der eben noch von der Erfahrung des Selbstverlusts verstört war, sucht nun prahlerisch die Überlegenheit seines Griechentums hervorzukehren, indem er erst Absyrtus, der auf die Rückgabe des Vließes dringt, in demütigender Weise als Geisel nimmt und dann, ganz am Ende, nachdem Absyrtus sich für den Sieg der Kolcher, wie er meint, geopfert hat,104 dem verzweifelten Vater seinen eigenen Vließraub mythisierend als Vergeltung darstellt: »Als Werkzeug einer höheren Gewalt / Steh’ ich vor dir« (A V. 1765–1766). Die tragische Zerrissenheit der beiden Hauptfiguren äußert sich also im abrupten Wechsel vom verunsichernden Gefühl des Identitätsverlusts zur nostalgischen oder triumphalen Identitätsaffirmation. Dieser Wechsel ist ein weiterer Aspekt der Zwänge und Aporien, die in der asymmetrischen Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden angelegt sind. Wie sich im Verlauf der vorangehenden Überlegungen gezeigt hat, ist selbst Jasons und Medeas Liebe ein Faktor der Zerrissenheit beider Figuren. Denn diese Liebe überlagert zwar jene Zwänge, vermag sie aber nicht zu brechen. Und zerrissen werden beide Figuren auch vom Konflikt zwischen mythischer Illusion und anthropozentrischer Desillusion. Szenisch realisiert wird die Zerrissenheit wie schon im »Gastfreund« durch eine von den Bühnenanweisungen genau geregelte Körpersprache, die zu den charakteristischen Merkmalen von Grillparzers Dramaturgie des Barbarischen zählt, sowie durch die oben erwähnte schnittartige Zweiteilung des Bühnenraums und durch das Auseinandertreten von Person und Rolle: Wie schon Medeas Auftritt als Opferherrin in der Eingangsszene des »Gastfreunds« Züge eines Rollenspiels hat, so wirkt auch Medeas Gebaren als Zauberin im Ersten Aufzug der »Argonauten« unecht, zumal sie selbst die Geltung ihrer ›ar-

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Mit den Worten »Lieber frei sterben, als leben gefangen / Fall’ ich auch, wenn nur sie [die Griechen, M.W.] fallen mit!« (A V. 1750–1751) stürzt er sich ins Meer – ein Freitod, der als Selbstopfer für Kolchis gedacht ist und von Ferne an Iphigeneias Selbstopfer erinnert. Diese Version des Todes von Absyrtus hat überdies die wichtige Funktion, Medea zu entlasten, ist sie es doch, die im Grundmythos (s. oben, S. 176) den Bruder tötet (vgl. bes. Euripides: Medeia, V. 165, 1334; Seneca: Medea, V. 131–133 u. öfter; Corneille: Médée, V. 236 u. öfter; Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 109, 121, 125f.).

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men Kunst‹ bezweifelt. Doch auch Absyrtus’ und Jasons großsprecherisches Heroentum mutet an wie ein auferlegtes Rollenspiel. Die Figuren verfügen nicht über sich, und die Elemente ihres Spiels fügen sich nicht zusammen; die Aufhebung der für die Tragödie als Gattung kennzeichnenden Zerrissenheit in Totalität, wie sie Hegels Tragödientheorie noch ganz im Sinne der Anthropologie und Dramaturgie von Aufklärung und Klassik postuliert,105 bleibt aus. Durch die szenische Akzentuierung der Zerrissenheit hebt sich also Grillparzers Dramaturgie des Barbarischen von derjenigen Goethes ab, aber sie bleibt kontrapunktisch auf diese bezogen: Sie deckt auf, was bei Goethe durch die klassizistische Dramenform und Sprache und durch die forcierte Einvernehmlichkeit des Dramenschlusses verdeckt wird. Die Zerrissenheit der Figuren, die in Grillparzers Trilogie auftreten, vor allem Jasons und Medeas Zerrissenheit, ist also mehr als ein »psychischer Reflex auf die gesellschaftlichen Widersprüche in der Restaurationszeit«.106 Als tragische Figurenkonzeption ist sie das Produkt eines ästhetisch-dramaturgischen Verfahrens, das darauf zielt, sie zum Zeichen jener Verkehrungsdynamik zu machen, die der Semantik des Barbarischen innewohnt.

5.4. »Medea« 5.4.1. Von der Humanisierung zur Bestialisierung der Barbarin (Erster und Zweiter Aufzug) Die ersten beiden Aufzüge des dritten Teils der Trilogie zeigen, wie sich das Programm, das Jason im zweiten Teil mit den oben zitieren Worten »Hier Griechen eine Griechin!« (A V. 1406) formuliert, ins Gegenteil verkehrt, obwohl Medea sich verzweifelt bemüht, eine Griechin zu werden.107 Im folgenden soll den Gründen für das Scheitern ihrer Bildung zur ›griechischen‹ Humanität nachgegangen werden, denn die Dramaturgie dieses Scheiterns parodiert das neuhumanistische Bildungsprogramm von Goe-

105 106 107

S. dazu unten, S. 243f. Bachmaier: Grillparzers Dramen, S. 614. Vgl. die folgende Arbeitsnotiz des Autors: »Vergiß nie, daß der Grundgedanke des letzten Stückes der ist, daß Medea, nachdem sie Kolchis verlassen, tadellos sein will, aber es nicht sein kann« (Dichter über ihre Dichtungen: Franz Grillparzer, S. 122).

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thes Iphigenie. Sie stellt folglich auch in Frage, daß sich antike Mythen wie der Iphigenie-Mythos, der eine funktionale Beziehung zu ›barbarischen‹ Kulthandlungen hat, durch die Bildung der ›Barbaren‹ zur ›griechischen‹ Humanität von dieser Beziehung ablösen lassen. In der beeindruckenden ersten Szene des Ersten Aufzugs, deren Schauplatz der Meeresstrand vor Korinth ist, legt Medea im Morgengrauen das goldene Vließ und die Attribute ihrer Zugehörigkeit zum Kulturraum des Barbarischen – Schleier, Zaubermittel, »Stab der Göttin« (M V. 2) – in eine Kiste, die sie dann mit Hilfe eines kolchischen Sklaven vergräbt. Es handelt sich um einen »Verdrängungsakt«,108 wie nicht nur die Geste des Vergrabens zeigt, die Züge eines Rituals hat, sondern auch die Anrede des Vließes als »Zeuge von der Meinen Untergang« (M V. 17) und »Denkmal von Medeens Schmach und Schuld« (M V. 19). Medea empfindet rückblikkend ihren ›Seitenwechsel‹, der in der Beihilfe zu Jasons Vließraub gipfelte, als Verrat, entscheidet sich nun jedoch für bedingungslose Assimilation, anstatt wie Goethes Iphigenie zu versuchen, die Vergangenheit erzählend zu bewältigen. Ihrer Amme Gora, die ihr mit bitterer Ironie das Illusorische des Verdrängungsaktes vorhält – »Weil du’s nicht denkest mehr, ist’s nie gewesen!« (M V. 53) –, entgegnet sie: Klar sei der Mensch und einig mit der Welt! In andre Länder, unter andre Völker Hat uns ein Gott geführt in seinem Zorn, Was recht uns war daheim, nennt man hier unrecht, Und was erlaubt, verfolgt man hier mit Haß; So laß uns denn auch ändern Sitt’ und Rede Und dürfen wir nicht sein mehr was wir wollen, So laß uns, was wir können mind’stens sein. (M V. 120–127)

Spiegelbildlich kehrt hier der Zwang zur Ausschließung des Fremden aus dem Eigenen wieder. Medeas Motiv für das Vorhaben bedingungsloser Assimilation ist nicht die freie und spontane Anerkennung der ›griechisch‹humanistischen Werte – eine Anerkennung, die das Verhalten von Goethes Thoas von Anfang an insofern kennzeichnet, als er Iphigenie verschont –, sondern die Bemühung um ein »einfach Herz« und ein »einfach Los« (M V. 86–87).

108

Böschenstein: Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutterliebe, S. 140.

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Indem Gora ihr widerspricht, erweist sie sich als Repräsentantin nativistischer Opposition gegen die Anpassung an die Fremdkultur. Zugleich aber schätzt sie die Situation, in der sich die beiden exilierten Kolcherinnen in Griechenland befinden, durchaus nüchtern ein, indem sie nicht nur sich selbst, sondern auch Medea als »Sklavin« (M V. 32) bezeichnet. Damit bringt sie jenes begriffs- wie sozialgeschichtlich wichtige Merkmal der Semantik des Barbarischen ins Spiel, das, wie oben dargelegt, von der antiken Tragödie über Aristoteles in die neuzeitliche diskursive Praxis der Kolonisation gelangte.109 Es wird hier wiederum dramaturgisch durch die Anwesenheit des kolchischen Sklaven, mit dem Medea die Kiste vergräbt, und wenig später durch das Auftreten eines korinthischen Sklaven hervorgehoben. Gora verwendet den Begriff »Sklavin« jedoch vor allem als griechische Fremdbezeichnung; sie gibt mit dem Begriffszitat zu verstehen, daß sie und Medea auf griechischem Territorium keinerlei Widerstand gegen die Herabsetzung leisten können, die ihnen mit solchen Fremdbezeichnungen zugefügt wird. Die mit der Semantik des Barbarischen gegebene Asymmetrie zwingt nun sie und Medea in eine sklavenähnliche Abhängigkeit, die ihnen ›Einigkeit‹, ›Klarheit‹ und ›Einfachheit‹ verwehrt. Als Kolcherin, die von Medea aus der »Heimat« (M V. 59) in die »Sklaverei« (M V. 60) gelockt wurde, ist Gora schon jetzt, wie sie klagt, »Ein Ziel des Spotts, ein Wegwurf der Verachtung« (M V. 65),110 und sie prophezeit Medea, daß es ihr genauso ergehen werde: Ihm [Jason] graut vor dir, er scheut dich, flieht dich, haßt dich, Wie du die Deinen, so verrät er dich! (M V. 107–108)

Daß Jason die Verräterin verraten wird, deutet sie einerseits mythisierend als von den Göttern bewirkte »Vergeltung« (M V. 92), andererseits anthropozentrisch als Manifestation jener diskriminierenden Ausgrenzung des kulturell Fremden, unter der auch Jason zu leiden habe, solange er »der Kolcherfürstin Gatte[]« (M V. 76) sei und als solcher mit dem Tod von Pelias in Zusammenhang gebracht werde. Tatsächlich äußert Jason in dem nun folgenden Auftritt, in dem er sich darauf vorbereitet, als Schutzflehender König Kreon um Asyl zu bitten, die Befürchtung: »Verpesteter Gemeinschaft weicht man aus« (M V. 166), und seine Worte zielen sämtlich darauf ab, sich selbst von dieser ›Verpe-

109 110

S. oben, Kap. 2.1 und 2.2. Sie begehrt dann aber dagegen auf, daß Jason sie wie seine Sklavin behandelt: »Hast mich gekauft? daß du mir sprichst als Herr?« (A V. 199).

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stung‹ dadurch zu heilen, daß er – wie Goethes Orest, der sich ebenfalls als »verpestete[n] Vertriebne[n]« bezeichnet111 – den Regeln der antithetischen kulturellen Topographie gehorcht und von Medea denselben Gehorsam fordert: In Kolchis sind wir nicht, in Griechenland, Nicht unter Ungeheuern, unter Menschen! [...] Wie ich ein Kolcher war auf Kolchis’ Grund, Sei eine Griechin du in Griechenland. (M V. 182–183, 190–191)

Beim Anblick der beiden Kinder, die ja die Mischung des von der kulturellen Topographie Geschiedenen verkörpern, verwünscht er deshalb seine Vaterschaft: »Das also wär’ das Ende? / Von trotz’gen Wilden Vater und Gemahl!« (M V. 214–215) Und indem er gleich darauf Medea mit der Verachtung konfrontiert, die ihr als Barbarin in Griechenland zuteil wird (vgl. M. V. 251–255), unterminiert er, wie bereits erwähnt,112 den an sie gerichteten Appell, in Griechenland eine Griechin zu sein (der Appell erweist sich also wiederum als Doppelbindung). Folglich läßt er hier offen, ob er den König von Korinth, wo er, wie er Medea erklärt, schon als »halb gereifter Jüngling« (M V. 237) Zuflucht fand, weil er dort das Gastrecht genoß, nur für sich oder auch für Medea und die Kinder um Asyl bitten wird. Die Hinweise auf Jasons Jugend in Korinth bilden ein Stück narrativ vermittelter Vorgeschichte, das wiederum in signifikanter Weise von der Mythologie abweicht (diese berichtet, daß Iason von dem Kentauren Cheiron im Peliongebirge erzogen wurde). Die Abweichung hat die Funktion, ein Moment der Erinnerung ins Spiel zu bringen, das Jasons Denken und Handeln fortan bestimmt und seine Liebe zu Kreons Tochter Kreusa mit einem zugleich nostalgischen und national-patriotischen Akzent versieht, den diese Liebe in den Medea-Tragödien von Euripides bis Klinger nicht hat (dort wendet er sich der Königstochter vor allem aus opportunistischen Gründen zu). Jason bezeichnet die Stadt Korinth nun als »Die Wiege meiner goldnen Jugendzeit« (M V. 206) und klagt, sie sei sich selbst gleich geblieben, er hingegen sei in sich »verwandelt« (M V. 208). Korinth wird ihm also zur heiligen Stätte des reinen, unwandelbaren Griechentums, und die Königstochter Kreusa wird ihm zu dessen Verkörperung: Sie sei »Dieselbe noch, in heitrer Milde strahlend« (M V. 283). Jason versieht hier wie in

111 112

Iphigenie auf Tauris, V. 657; vgl. oben, Kap. 4.2.3, S. 134. S. oben, Kap. 1, S. 11.

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seiner Rede vom Vließ als dem Gründungssymbol der griechischen Kulturnation die antithetische kulturelle Topographie des Griechischen und Barbarischen mit einer zugleich zeitlichen und ontologischen Bedeutung. So wird die Topographie wiederum zur Figur einer Mythologie der nationalen Vorzeit. Diese ist es, die seine Gefühle für Kreusa und seine Erinnerungen an die ›Jugendzeit‹ in Korinth kodiert. Die biographische Erinnerung geht also auf in einer kulturellen;113 sie wird von dieser rekonstruiert, und dabei wird ausgeklammert, was zur Topographie der Stadt nicht paßt: das »ekle Treiben«, der ennui, auf den Jason, wie oben dargelegt, in den »Argonauten« anspielt und den er dort als das unheroische Motiv des heroischen Argonautenzugs bestimmt. Die Erinnerung kehrt im Gegenteil den festlichem Empfang hervor, den Korinth den Argonauten und ihrem heroischen »edlen Führer« (M V. 810) bereitete, bevor sie zu ihrem Zug nach Kolchis aufbrachen. Und die Erinnerung spiegelt die verlorene Zugehörigkeit Jasons zum Raum des reinen Griechentums in der Jugendliebe zwischen ihm und Kreusa; Jason evoziert »Die schönen Orte unsrer Jugendlust, / An die Erinnrung knüpft mit leisen Fäden« (M V. 847–848). Die Jugendliebe könnte nun in ein von der »ganze[n] Stadt« gefeiertes Hochzeits-»Fest« (M V. 729–730), das Jason mit allen Farben der bürgerlichen Idylle ausmalt,114 münden, gäbe es nicht Medea: Mach’, daß sie heimkehrt in ihr fluchbeladnes Land Und die Erinnrung mitnimmt, daß sie dagewesen, Dann will ich wieder Mensch mit Menschen sein.

(M V. 825–827)

Diese an Kreusa gerichteten Worte versieht Jason noch mit dem Akzent der Unmöglichkeit, den darin ausgedrückten Wunsch zu verwirklichen. Kreusa wendet ein, sie kenne ein »andres Mittel« (M V. 828) zur Wiederherstellung seines Ansehens bei den Griechen: »Ein einfach Herz und einen stillen Sinn« (M V. 829). Dieses scheinbar naive Eintreten für die Naivität ist in Wahrheit eine Bekräftigung von Jasons Wunsch. Denn die Semantik der ›Einfachheit‹ ist eine Semantik der Ausschließung des Fremden, wie auch Medea durchaus verstanden hat: Ihr die Tragödie eröffnender ›Verdrängungsakt‹ ist als Akt bedingungsloser kultureller Assimilation der

113 114

Zu diesen beiden Modi des Erinnerns vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 51ff. Zu Jasons Rede vom Vließ als Gründungssymbol s. oben, S. 200ff. Vgl. M V. 722–738. Schon bei Klinger (Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 81ff.) erblickt Jason in der Verbindung mit Kreusa die Möglichkeit zur Rückkehr in eine quasi bürgerliche Normalität.

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verzweifelte Versuch, die auch von ihr beschworene griechische ›Einfachheit‹ in sich herzustellen. Dem Mißlingen dieses Versuchs, mit dem sie sich selbst Gewalt antut, antwortet die Gewalt, die ihr schon am Ende des Zweiten Aufzugs angetan wird. Doch bevor davon die Rede ist, sei hervorgehoben, daß das Fest als Figur der kulturellen Erinnerung,115 die Idylle als literarisches Glücksbild und die ästhetisch-moralische Norm der ›Einfachheit‹ in Jasons und Kreusas Dialog zur Sprache kommen, weil ihnen die Regel der Identitätsbildung durch Ausgrenzung gemeinsam ist. Der Argonautenzug hat diese Regel, wie Jason selbst König Kreon berichtet, außer Kraft gesetzt: »Der Maßstab aller Dinge war verloren« (M V. 446). Doch das politische und kulturelle Leben von Korinth, dem Ort des reinen Griechentums, gehorcht noch immer jener Regel: Im Ersten Aufzug bildet ein »Fest Poseidons«, das Kreon und Kreusa, »Am offnen Strand des Meeres Opfer bringend« (M V. 148–149), feiern wollen, den Anlaß für die Begegnung mit Jason, Medea und den Kindern, in deren Verlauf Jason seine Bitte um Asyl vorbringt. Derart stellt sich wie zu Beginn des »Gastfreunds« eine semantische Beziehung zwischen kultureller Identität und Opfer ein, die im folgenden dadurch szenisch hervorgehoben wird, daß die Personen, die Kreon und Kreusa begleiten, »Opfergerät tragen« (vor M V. 273). Und diese semantische Beziehung verleiht Kreons an Jason gerichteten Worten »Zuerst zum Opfer und sodann ins Haus« (M V. 359) und Kreusas an Medea gerichteten Worten »Du gehst nicht mit zum Opfer, nicht ins Haus?« (M V. 365) eine tragischironische Zusatzbedeutung: Der Gang zum Opfer am Meeresstrand und zurück ins Haus bedeutet auch, daß ein Opfer die Voraussetzung für die Aufnahme oder Wiederaufnahme ins Haus des reinen Griechentums ist. So bahnt sich die Opferung Medeas an. Den Griechen ist die Kolcherin mit dem »Barbarenname[n]« (V. 331), wie Kreusa berichtet, vom Hörensagen als »Ein gräßlich Weib, giftmischend, vatermörd’risch« (M V. 330) bekannt. Zwar gelingt es Medea zunächst, das Vorurteil außer Kraft zu setzen, indem sie Kreusa, die ihr als schöne Seele erscheint, bittet, sie ästhetisch zu erziehen: Du bist, ich seh’s, von sittig mildem Wesen, So sicher deiner selbst und eins mit dir; Mir hat ein Gott das schöne Gut versagt. Doch lernen will ich, lernen, froh und gern.

115

Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 53.

216

(M V. 408–411)

Und auch Jason kann den König zur Einwilligung in den »Versuch« bewegen, »Ob sie’s vermag zu weilen unter Menschen« (M V. 560–561). Das Gelingen des Versuchs käme, wie gesagt, der Beseitigung von Medeas kultureller Fremdheit gleich. Dem steht jedoch nicht nur Medeas tragische ›Zerrissenheit‹ im Wege: »Senk’ einen Strahl von deiner Himmelsklarheit / In diese wunde, schmerzzerrißne Brust« (M V. 680–681), bitte sie Kreusa zu Beginn des Zweiten Aufzugs.116 Ein wichtiges Hindernis bleibt auch die von der Semantik des Barbarischen vorgegebene Funktion der Bildung, Begründung und Erhaltung von kultureller Identität durch Ausgrenzung des Fremden. Diese Funktion manifestiert sich in asymmetrischen Entgegensetzungen wie ›hell‹ und ›dunkel‹, ›mild‹ (›schön‹) und ›wild‹, ›Menschen‹ und ›Ungeheuer‹ (›Fremde‹). Im Zuge der argumentativen Verwendung solcher Entgegensetzungen wird wiederum die antikisierende poetische Sprache transparent für ihre modernen Anwendungen in Ästhetik und Rassenkunde:117 Die Kolcher seien »finstrer als die Nacht« (M V. 452), berichtet Jason dem König, als er diesem von der Ankunft der Argonauten in Kolchis erzählt. Zwar wird der ästhetisch-moralische Eindruck, den die ›finstere‹ Farbe der Kolcher vermittelt, durch die Erinnerung an die vergleichsweise ›lichte‹ Erscheinung Medeas relativiert: »Ist sie hier dunkel, dort erschien sie licht / Im Abstich ihrer nächtlichen Umgebung« (M V. 456–457).118 Dennoch setzt sich nun in Korinth die griechische Sprachregelung durch, nach der die ›dunklen‹ Kolcher – dunkelhäutig sind sie bereits bei Herodot119 – nicht nur in ästhetischer, sondern auch in moralischer Hinsicht den Griechen unterlegen sind. Im Dritten Aufzug bezeichnet Kreon, der Situationsmächtige, Gora und Medea im Hinblick auf ihre »Wildheit« (M V. 1306) als »Das Bild des dunkeln Landes, das sie zeugte« (M V. 1308), und er nimmt sich vor, Jason von allen Vorwürfen, die wegen Pelias’ Tod gegen ihn erhoben werden, durch den Nachweis zu reinigen, »Daß sie [Medea] die Dunkle, sie die Frevlerin« (M V. 1355) ist.

116

117 118

119

Vgl. die nostalgischen Worte, mit denen sie ihre und Jasons Begegnung in Kolchis evoziert: »Doch du drangst durch mit deinem milden Licht / Und hell erglänzte meiner Sinne Dunkel« (M V. 1481–1482). S. oben, S. 185f., die Ausführungen zu Phryxus’ Selbstporträt. Tatsächlich spricht Jason, nachdem er Medea bei der ersten Begegnung mit ihr verletzt hat, von ihrem blutenden »weiße[n] Arm« (A V. 432). Medea selbst relativiert im Dialog mit Kreusa die Antithese von Hell und Dunkel: »O Kolchis! o du meiner Väter Land! / Sie nennen dunkel dich, mir scheinst du hell!« (M V. 384–385). Dazu vgl. auch Stephan: Medea, S. 53ff. Vgl. Herodot, II, 104; dazu Nippel: Griechen, Barbaren und »Wilde«, S. 17.

217

So zeichnet sich die Ansicht ab, daß die dunkle Hautfarbe der barbarischen Kolcher das biologische Äquivalent moralisch-kultureller Unterentwicklung ist (es sei an die oben zitierten Äußerungen von Schelling erinnert).120 Andeutungsweise sind schon bei Grillparzer (nicht erst bei Hans Henny Jahnn, der Medea ausdrücklich zur ›Negerin‹ macht)121 die Barbaren aus der Sicht der Griechen durch ihre ›Rasse‹ determiniert, auf ihren »wilde[n] Sinn« (M V. 1386) festgelegt. Im Sinne dieser Semantik muß Jasons Vermischung mit dem Barbarenwesen rückgängig, seine griechische Reinrassigkeit wiederhergestellt werden: Er, den man bei seiner Heimkehr nach Jolkos mied, weil er dort als »halb Barbar, zur Seite der Barbarin« (M V. 491) einzog, soll in Korinth wieder ein ganzer Grieche werden. Die Restitution dieser Ganzheit ist wie bei Goethe nur als Ausschließung des Barbarischen – das also als negative Folie benötigt wird – denkbar, doch anders als Orests Heilung ist Jasons Reintegration kein innerer Vorgang, sondern ein politischer; dementsprechend begnügen sich Grillparzers Griechen auch nicht mit einem verinnerlichten Opfer wie dem, das Thoas am Ende von Goethes neuhumanistischem ›Schauspiel‹ abverlangt wird, sondern sie verstoßen die Barbarin: In der Medea-Tragödie wird aus der Ausschließung des Barbarischen wieder ein raumzeitliches Bühnengeschehen, das von den Schauspielern auch körpersprachlich zu realisieren ist. Der Weg dorthin führt über die Parodie des Schauspiels der Innerlichkeit. Zu Beginn des Zweiten Aufzugs lernt Medea, »eine Leier in ihrem Arm«, »griechisch gekleidet« und »auf einem niederen Schemel« vor Kreusa sitzend (vor M V. 583), von dieser ein Jugendlied Jasons, mit dem sie den entfremdeten Gatten erfreuen soll: O ihr Götter, Ihr hohen Götter! Salbt mein Haupt Wölbt meine Brust, Daß den Männern

120 121

Vgl. Kap. 2.2, S. 62f. In der Fassung des Erstdrucks seiner Medea (1926) wird sie im Personenverzeichnis als »Barbarin« bezeichnet, in der Fassung des Neudrucks von 1959 als »Negerin«. Vgl. Hans Henny Jahnn: Dramen I. 1917–1929. Hrsg. v. Ulrich Bitz. Hamburg 1988, S. 1165. – Bei Jahnn ist Kreons Beschimpfung Medeas eindeutig rassistisch; vgl. S. 809ff., bes. S. 811, wo Kreon begründet, warum er seine Tochter nicht Medeas und Jasons älterem Sohn zur Frau geben würde: »Niemals hätt ich / gebilligt, daß mein heißgeliebtes Kind / ’nem halben Neger beigegeben würde. / Ausländer lieb ich nicht. [...]«

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Ich obsiege Und den zierlichen Mädchen auch. (M V. 603–610)

Das Lied des jungen Jason kann als Karikatur des klassizistischen Bilds heroischer Männlichkeit, dem bei Goethe der geheilte Orest zu genügen sucht, verstanden werden, denn es legt den narzißtischen Impuls dieses Bildes bloß. Darauf zielt auch Medeas Kommentar; sie bezeichnet sich nun als beliebiges »Opfer« (M V. 626), das Jason sich selbst und seinem »Ruhm« (M V. 634) dargebracht habe: Nur Er ist da, Er in der weiten Welt Und alles Andre nichts als Stoff zu Taten.

(M V. 630–631)

Und obwohl sie gleich darauf erneut ihren Willen beteuert, sich restlos der griechischen patriarchalischen Ordnung anzupassen (vgl. M V. 688–698), will Jason das Lied nur von Kreusa hören; Medea, unter deren Händen die Leier zerbricht, drängt er in den Raum des Barbarischen zurück, indem er an seinen Raub des Vließes mit Worten erinnert, die suggerieren, daß nicht er es geraubt hat, sondern sie (vgl. M V. 902–903, 911–917). Auch diese verfälschende Darstellung des kolchischen Geschehens ist eine Manifestation der Ausklammerung, die oben als Funktion der kulturellen, von der Griechen-Barbaren-Antithese gesteuerten Erinnerung bestimmt wurde. Da Jason die Aufhebung der Antithese nun nicht mehr, wie im Dritten Aufzug der »Argonauten«, als Ziel versteht, sondern nur noch als Bedrohung, vereitelt er selbst den pseudo-humanistischen Versuch, Medea zur Griechin zu bilden. Auch aus diesem Grunde ist Medeas Griechentum nur tragikomische Verkleidung und Kreusas klischeehafte Humanität und Pädagogik eine Karikatur der Humanität und Pädagogik von Goethes Iphigenie.122 Auf der Ebene der intertextuellen Beziehungen zwischen der Trilogie und Goethes ›Schauspiel‹ stellt das Scheitern von

122

Diese kontrapunktische Beziehung zwischen Kreusas und Iphigenies Humanität läßt Heinz Politzer außer acht, wenn er beobachtet, in Korinth sei die von ihrer Heimat träumende Medea »zu einer Art von Anti-Iphigenie geworden« (Heinz Politzer: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Wien / München / Zürich 1972, S. 141). Von Iphigenies reflektierter, ja erkämpfter Reinheit hebt sich auch Kreusas »Naivetät der Reinheit« (Dichter über ihre Dichtungen: Franz Grillparzer, S. 123) ab. In dieser Grillparzerschen Charakteristik der Figur steckt, wie die Forschung zu übersehen scheint (vgl. z.B. Bachmaier: Nachwort, S. 204), durchaus Kritik; ›Naivität‹ ist hier kein im Schillerschen Sinne positiv konnotierter Begriff.

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Medeas Versuch totaler Assimilation also, wie gesagt, die Mittel und das Ergebnis von Goethes exemplarischem neuhumanistischem Versuch in Frage, dramaturgisch, durch die szenische Realisierung der Bildung der Barbaren zur Humanität, den Iphigenie-Mythos von seinem barbarischen kultischen Substrat zu lösen. Mit dem Auftritt des Herolds der Amphiktyonen, der die Verbannung Jasons und Medeas aus Griechenland verkündet, schlägt die Parodie des Schauspiels der Innerlichkeit in die politische Tragödie um. Dramaturgisch wird dieser Moment dadurch hervorgehoben, daß sich die »Pforten« der Halle, in der Medeas tragikomische ästhetische Erziehung stattgefunden hat, »öffnen« (vor M 936). Das delphische Bundesschiedsgericht hat die Verbannung beschlossen, um Jason und Medea für ihre Schuld am Tod von Pelias (dessen genaue Umstände nicht aufgeklärt sind und es auch nicht werden)123 zu bestrafen. Der Auftritt des Herolds ist die zweite Subphase, die bei Grillparzer der dritten, korinthischen Hauptphase des Medea-Grundmythos hinzugefügt wird. Das Zusammenspiel dieser zweiten Subphase mit der ersten, die, wie oben dargelegt, in Medeas vergeblichem Versuch besteht, sich zur Griechin zu bilden, hat die Funktion, der Verbannung Medeas durch Kreon eine gänzlich neue Bedeutung zu verleihen. Dem König nämlich bietet der Auftritt des Herolds die willkommene Gelegenheit, Jason öffentlich mit Kreusa zu verloben, ihn dadurch von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen freizusprechen und die ganze Schuld auf Medea abzulenken: Doch diese, die die Wildnis ausgespieen, Zu deinem [d.i. Jasons, M.W.], aller Frommen Untergang, Sie, die die Greu’l verübt, der man dich zeiht, Sie bann’ ich aus den Landes Gränzen fort Und Tod ihr, trifft der Morgen sie noch hier. Zieh hin aus meiner Väter frommen Stadt Und reinige die Luft, die du verpestest! (M V. 1030–1036)

In der politischen Krise, die der Auftritt des Herolds heraufbeschwört – das von ihm repräsentierte Bundesgericht droht Kreon mit »Krieg« (M V. 1005), d.h. einer Art Bürgerkrieg, für den Fall, daß er Jason weiterhin bei sich duldet –, ist Medea nur noch Außenseiterin. Kreon verbannt sie, um die kriegerische Gewalt, die den Bestand des Amphiktyonen-Bundes

123

Auch dies ist eine Abweichung vom Grundmythos, die wiederum dazu dient, Medea zu entlasten; s. oben, S. 176, und S. 210, Anm. 104.

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bedroht, von diesem Bund abzulenken.124 Für Kreon geht die Gefahr also zunächst nicht, wie es in den Medea-Tragödien von Euripides bis Klinger der Fall ist, von Medeas Drohung aus, sich an ihm, Kreusa und Jason (bei Euripides’ Nachfolgern auch an der ganzen Stadt)125 zu rächen, sondern von einem für Korinth bedrohlichen Gerichtsbeschluß, und er sucht diesen Beschluß durch die Korrektur der Grenzverletzung, die Medeas Ehe mit Jason und ihre Präsenz in Griechenland bedeuten, rückgängig zu machen. Die Verbannung der Barbarin wird so zum Mittel, die ethnische Grenze wiederherzustellen, die von der Semantik des Barbarischen vorgeschrieben wird und die sich auch in dem Gerichtsbeschluß manifestiert: Jason soll laut diesem Beschluß, wie der Herold verkündet, verbannt werden, weil er als »Genoß einer Verruchten, selbst verrucht« (M V. 990) ist. Mit der Annullierung der Ehe und der Vertreibung der ›Verruchten‹ entfällt dieser Grund; mit beiden Mitteln läßt sich also der Bestand des AmphiktyonenBundes retten und die Identität des reinen Griechentums bekräftigen – ganz im Sinne des Programms, das Jason zuvor schon im Binnenraum des Schauspiels der Innerlichkeit umsetzt, indem er Medeas Bildungsversuch vereitelt. Züge eines – per definitionem öffentlichen – Opferrituals nimmt die Vertreibung nun dank der Anwesenheit des Abgesandten der heiligen Kultstätte Delphi an, aber auch dank der exorzistischen Sprache der Griechen; so macht sich Jason das Anliegen der Wiederherstellung des reinen Griechentums wie folgt zu eigen: Heb dich hinweg, zur Wildnis, deiner Wiege, Zum blut’gen Volk, dem du gehörst und gleichst. Doch vorher gib mir wieder was du nahmst Gib Jason mir zurücke, Frevlerin! (M V. 1051–1054)

Er verleugnet also seine Verstrickung in diese ›Wildnis‹ – eine Verstrickung, die ihm Medea mit der Erinnerung an das kolchische und jolkische Geschehen vorhält –, doch seine in einer Morddrohung (vgl. M V. 1112–1113) gipfelnden Haßtiraden machen ihn selbst zum Spiegelbild seiner eigenen Worte von der bestialischen ›wilden‹ Frau: »Hältst mir mein Ich vor in des deinen Spiegel« (M V. 1097). Hier wird die der Semantik des Barbarischen innewohnende Dynamik der Verkehrung des Griechischen ins Barbari-

124 125

Zu dieser Funktion des rituellen Opfers s. oben, Kap. 3.2.1, S. 81f., die Ausführungen zu Girard. Vgl. Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 16.

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sche erneut wirksam, und erneut wird sie im Bild der »Schlange« (V. 1115) erfaßt, als die Medea nun Kreusa wahrnimmt. Auch diese Manifestation der Verkehrung unterminiert die Entflechtung, die das Ziel der Vertreibung der geschiedenen Barbarin ist; die Repräsentanten der ›griechischen‹ Humanität werden selbst zu Barbaren, indem sie die Barbarin vertreiben, zumal sie ihr nun auch noch die Kinder rauben: KÖNIG MEDEA KÖNIG MEDEA JASON.

Die Kinder bleiben hier. Nicht bei der Mutter? Nicht bei der Frevlerin! zu Jason: So sagst auch du? Auch ich. [...] (M V. 1132–1134)

Anders als in den vorangehenden Medea-Tragödien spricht Medea erst jetzt, nach den zitierten Worten, ihre Rachedrohung aus. Diese motiviert später, im Dritten Aufzug, die Verschärfung des Verbannungsbefehls (Medea soll Korinth noch an demselben Tag verlassen [vgl. M V. 1382]), nicht aber den Befehl selbst. Die Verbannung Medeas hat also bei Grillparzer eine andere Funktion als bei seinen Vorgängern: Sie nimmt Züge eines Menschenopfers an, das der ›griechischen‹ Humanität dargebracht wird (ein Gedanke, den Christa Wolf in ihrem Medea-Roman aufgreift). Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung schafft dieser Funktionswandel wiederum einen Kontrapunkt zur fragilen Einvernehmlichkeit, die sich am Ende von Goethes Iphigenie einstellt: Mit der szenischen Verwirklichung von Medeas Vertreibung wird die Verinnerlichung des Opfers, das Goethes Thoas der ›griechischen‹ Humanität zu bringen hat, rückgängig gemacht, und es wird zugleich die Möglichkeit in Frage gestellt, durch die szenische Realisierung des Programms, die Barbaren zur Humanität zu bilden, jene alten Mythen, die eine funktional-strukturelle Beziehung zu grausamen rituellen Kulthandlungen haben, von dieser Beziehung zu lösen. 5.4.2. Triumph des ›reinen‹ Griechentums: Der Verrat der Kinder (Dritter Aufzug) Der Dritte Aufzug markiert den Höhepunkt der Handlungssequenz, die auf die Verwirklichung des ethnozentrischen Projekts der ›Reinigung‹ vom Barbarischen zielt – eines Projekts, an dem Medea mit ihrem Assimilationsversuch zunächst durchaus teilnimmt. Medea sucht sich in den ersten beiden Aufzügen ihre eigene kulturelle Fremdheit auszutreiben, wird dann aber von den Griechen wieder zur Repräsentantin des kulturell Fremden, 222

das es auszutreiben gilt, gemacht. Nun, im Dritten Aufzug, scheint mit dem endgültigen ›Seitenwechsel‹ der Kinder, die der ›wilden‹ Mutter die ›milde‹ Königstochter vorziehen, das ›reine‹ Griechentum zu triumphieren, doch zugleich erstarkt die xenophobe, nativistische Reaktion; derart stellt sich die Symmetrie der griechischen und der kolchischen Ausgrenzung des Fremden aus dem Eigenen erneut ein. Medea hat am Ende des Zweiten Aufzugs mit dem Zerreißen ihres griechischen Gewandes (vgl. M V. 1125–1128) die nativistische Reaktion eingeleitet, zu der nun Gora antreibt. Diese hält der Verstoßenen ihre Ohnmacht vor – »Denn nicht Medea bist du mehr« (M V. 1164) –, provoziert ihre Liebe zum »Vaterland« (M V. 1196) und sucht dem Rachegedanken eine patriotische Bedeutung zu verleihen: Räche den Vater, den Bruder, Unser Vaterland, unsre Götter, Unsre Schmach, mich, dich! (M V. 1222–1224)

Die Wiederherstellung des kolchischen Gemeinschaftsgefühls und die Reinigung des Kolchischen vom fremden Griechischen scheinen sich im folgenden darin kundzutun, daß die Verssprache beider Frauen den spezifisch ›kolchischen‹, unregelmäßigen Rhythmus hat, während Medea vorher wie die Griechen in Blankversen spricht. Die Reinheit des Kolchischen wird indes von Goras eigener Rhetorik getrübt: Als Argument für die Möglichkeit, den Gedanken der Rache an Jason in die Tat umzusetzen, führt Gora das unrühmliche Ende der anderen Argonauten an – auch das Meleagers, den Althea, die eigene Mutter getötet habe, um ihren von ihm getöteten Bruder zu rächen (vgl. M V. 1242–1279). Derart stellt die Mythologie der Griechen, der »Fremden« (M V. 1206), wie Gora sie hier wiederum nennt, die Exempla bereit, mit denen die Rache als Weg zur Wiederherstellung des Eigenen begründet werden soll. Für das ›Eigene‹ haben die Kolcher keine eigene Sprache.126 Auch darin manifestiert sich das verkannte Hybride der ›eigenen‹ Kultur.

126

In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Goras abschätzige Rede von der »fremde[n] Erde«, auf die sie nun ihr Haupt legen müsse (M V. 1298), eine Übersetzung der bei Euripides so häufig begegnenden griechischen Rede von der gaía bárbaros ist; s. oben, Kap. 2.1. – Es sei angemerkt, daß sich bereits im dritten Chorlied von Senecas Medea (V. 607–669) ein Katalog von Argonauten findet, die für die frevelhafte Fahrt mit dem Tode bestraft worden seien (Seneca folgt hier Apollonios von Rhodos und Ovid). Auf die Figur der Amme Gora gehen also Funktionen über, die der Chor in den antiken Bezugstexten hat.

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Die folgende Szene bietet das griechische Spiegelbild dieser Verkennung. Der König, der gekommen ist, um Medea aufzufordern, seinem Befehl, das Land zu verlassen, sofort Folge zu leisten, sucht Jasons Zweifel an der Möglichkeit, das eigene Ansehen bei den Griechen wiederherzustellen, mit dem Hinweis auf die Symbolkraft des Vließes zu zerstreuen: Dann stehst du auf in deiner vollen Kraft, Schwingst hoch das goldne Banner in die Luft, Das du geholt vom Äußersten der Länder, Und stromweis wird die Jugend Griechenlands Um dich sich scharen gegen Jedermann, Um den Gereinigten, den Neuerhobnen, Den starken Hort, des Vließes mächt’gen Held.

(M V. 1357–1363)

Medea, fügt er hinzu, müsse das Vließ herausgeben, denn für Jason sei es »der künft’gen Größe Unterpfand« (M V. 1367). Wie oben dargelegt, bildet die sowohl von den Griechen Phryxus und Jason als auch von dem Kolcher Aietes verwendete Bezeichnung des Vließes als Pfand gleichsam die Symmetrieachse ihrer rivalisierenden Ansprüche auf den ausschließlichen Besitz des Vließes und auf die ebenso ausschließliche Deutung seines mythischen Sinns, den der Orakelspruch »Nimm Sieg und Rache hin« in verschlüsselter Form enthält.127 Dabei reduzieren sie diese uneindeutige, in sich widersprüchliche Aufforderung auf das eindeutige Versprechen, der Besitzer des Vließes werde als Subjekt des Sieges auch Subjekt der Rache, also doppelt Sieger sein.128 So auch hier: Kreon begehrt das Vließ, das in Wahrheit ein Griechen und Kolchern gemeinsames ›Pfand‹ ist,129 als Mittel zur ›reinigenden‹ Erhöhung von Jason und zur Festlegung der Grenze zwischen der »Jugend Griechenlands« und allen anderen (»Jedermann«). Der nun folgende Streit zwischen Medea und Jason, in dessen Verlauf sie das, was sie für ihn aus Liebe getan hat, als Argument gegen seine Untreue und er die Opportunität der Verbindung mit Kreusa als Gegenargument vorbringt, variiert die entsprechende Sequenz bei Euripides und seinen Nachfolgern;130 zugleich aber variiert er den Streit, den Medea

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130

S. oben, S. 201. S. oben, S. 187f., 191. S. oben, S. 200f. – Grillparzer weicht hier also von seinem in einer Arbeitsnotiz formulierten Vorhaben ab, den König das Vließ »nicht begehren« und es bis zu seiner Auffindung unerwähnt zu lassen (Dichter über ihre Dichtungen: Franz Grillparzer, S. 128). Vgl. besonders Euripides: Medeia, V. 446–626; Seneca: Medea, V. 431–559; Cor-

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und Jason zuvor schon öffentlich ausgetragen haben. Dadurch wird die Funktion verstärkt, die der Streit seit Euripides hat: das bereits Beschlossene zu bekräftigen. Kreons ethnozentrische Inanspruchnahme des Vließes und Jasons Fixierung auf die Wiederherstellung seiner ethnischen Integrität verleihen dem Streit zwei weitere, verglichen mit den vorangehenden Medea-Tragödien neue Funktionen. Die erste besteht in der Restitution und Steigerung des verletzenden ethnozentrischen Akzents, mit dem Iason bei Euripides seine Verteidigungsrede versieht (bei Euripides’ Nachfolgern ging dieser Ethnozentrismus, wie gesagt, verloren),131 und die zweite in der Vorbereitung des Verrats der Kinder. Zunächst erinnert Medea wie schon im Zweiten Aufzug an das kolchische und and das jolkische Geschehen, um Jasons Anspruch darauf, wieder ein »Milder« (M V. 1416, 1418, 1419, 1421) zu sein, jede Legitimität abzusprechen – »Du wärst also rein?« (M V. 1432) –, und um ihm vorzuhalten, daß ihr in diesem selbstbezogenen Reinigungsprozeß die Funktion des Sündenbocks zukommt: »Nun ist gefunden, der die Schuld dir trägt« (M V. 1440). Jason hat dem nichts entgegenzusetzen als Selbstmitleid – »Den Ort such ich, mein Haupt zur Ruh’ zu legen« (M V. 1552) – und die bekannten opportunistischen Argumente: »Sorge« für »Haus und Herd« (M V. 1485), wie es Medea spöttisch nennt, d.h. Streben nach »Bestand« (M V. 1530) und »Besitztum« (M V. 1532), ferner die Versorgung der Kinder. Dieser Opportunismus ist wiederum nicht psychologisch als individuelle Disposition zu verstehen, sondern kulturtheoretisch als Funktion des Zwangs zur asymmetrischen Entgegensetzung des Griechischen und Barbarischen.132 In diesem Sinne antwortet Jason auf Medeas Frage, ob er ihr nach dem Vater nun auch noch den Gemahl raube: »Gezwungen nur« (M V. 1561). Auch sein Anspruch auf die Kinder erweist sich jetzt als eine Funktion dieses Zwangs: Und Jasons Name soll nicht Wilde schmücken. Hier in der Sitte Kreis erzieh’ ich sie. (M V. 1582–1583)

Medeas Widerstand scheint er nun zu entkräften, indem er ihr vorschlägt, einen der beiden Knaben mit ihr ziehen und den Knaben dabei die Wahl

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neille: Médée, V. 771–940 (III, 3); Glover: Medea, S. 14f., 26; Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 107ff. S. oben Kap. 2.1, S. 28f., 41ff. und im vorliegenden Kapitel S. 170ff. S. oben, Kap. 4.1 und 4.2, die Ausführungen zu Iphigenies GriechenlandNostalgie und Orests Heilung.

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zu lassen: »Und welcher will, den nimmst du mit dir fort« (M V. 1602). Wie Gerhard Neumann feststellt, ist diese Konfliktlösungsstrategie nur scheinbar der aufklärerischen Norm der Erziehung zu freier Entscheidung verpflichtet. In Wahrheit schafft sie eine Doppelbindung: Die Doppelbindung, die den beiden Knaben durch die infame Strategie Jasons aufgebürdet wird, besteht in der Weisung an diese, ›sprechende Zeichen‹ zu werden, gleichsam aus eigenem Antrieb sich zu Trägern und Inszenatoren der Schicksalssemantik des tragischen Geschehens zwischen ihren Eltern zu machen. [...] Indem Jason den Knaben freistellt, daß eines der Kinder Medea bei der Trennung begleiten möge, das andere aber bei ihm zu bleiben habe, und diese Aufforderung mit dem Liebesargument koppelt, konfrontiert er die Knaben mit einer widersprüchlichen Handlungsaufforderung.133

Das Ziel der Strategie besteht indes nicht nur darin, die Kinder zu »lebenden Argumenten [...] im Beziehungskampf der Geschlechter« zu machen,134 sondern auch und vor allem darin, sie dazu zu bringen, gestisch für die wertende Entgegensetzung des Griechischen und des Barbarischen zu argumentieren: Sie sollen ihre barbarische Mutter verraten, obwohl sie als deren Söhne und als Brüder − der eine heißt wie Jasons Vater Äson, der andere wie Medeas Bruder Absyrtus − ›lebende Argumente‹ gegen jene Entgegensetzung sind. Die letzte Szene des Dritten Aufzugs ist die dramaturgische Realisierung des Verrats. Sie bildet die dritte Subphase, die bei Grillparzer der dritten Hauptphase des Medea-Grundmythos hinzugefügt wird,135 und markiert wiederum die Erweiterung des privaten Raums zum öffentlichen Raum, denn außer Jason, Medea und den Kindern nehmen auch Kreon und Kreusa an dem Geschehen teil. Auf Medeas Aufforderung: »Wer nun von Beiden mich am meisten liebt, / Der komm’ zu mir, denn beide dürft ihr nicht« (M V. 1660–1661), reagieren die Kinder zunächst mit Schweigen und unbeweglichem Verharren und dann gestisch mit einer Fluchtbewegung, die der Nebentext vorschreibt: »Sie [Medea] geht einige Schritte auf sie zu; die Kinder fliehen zu Kreusen« (vor M V. 1674). Das wird von Jason mythisierend als Gottesurteil ausgelegt, d.i. als Heiligung der

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Neumann: Das goldene Vließ, S. 273f. Neumann: Das goldene Vließ, S. 274. Wie R. Böschenstein (Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutterliebe, S. 141) feststellt, zeichnet sich der Verrat der Kinder schon bei Klinger ab, wird aber erst bei Grillparzer als Bühnengeschehen verwirklicht; vgl. auch Friedrich: Vorbild und Neugestaltung, S. 26.

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wertenden Entgegensetzung des ›wilden‹ Barbarentums und des ›milden‹ Griechentums (M V. 1699–1700): »Der Kinder Ausspruch war der Götter Spruch!« (M V. 1701) Jason zerstört das kulturell Hybride, das die Kinder verkörpern, indem er sie dazu bringt, sich von der Mutter abzuspalten. Der Verrat der Kinder scheint also den endgültigen Triumph des ›reinen‹ Griechentums über das Barbarische zu markieren: »Ich bin besiegt, vernichtet, zertreten« (M V. 1710), klagt Medea angesichts des ›Seitenwechsels‹ der Kinder. 5.4.3. Restitution des Eigenen durch Reinigung vom Fremden: Die Rache der Barbarin (Vierter Aufzug) Beim Übergang vom Dritten zum Vierten Aufzug findet wie in den »Argonauten« ein Schnitt durch den Bühnenraum statt. Doch während der Schnitt dort im abrupten Wechsel von einem Außenraum zu einem Innenraum oder umgekehrt besteht und innerhalb jedes Aufzugs erfolgt, wird hier durch die Grenze zwischen dem Dritten und Vierten Aufzug ein raum-zeitliches Kontinuum durchschnitten: Medea, die am Ende des Dritten Aufzugs im Vorhof vor Kreons Burg zusammenbricht, liegt zu Beginn des Vierten Aufzugs noch immer dort »hingestreckt«, und zwar »auf die Stufen, die zu ihrer Wohnung führen« (vor M V. 1715), als wäre sie bereits aus dieser vertrieben. Das klassizistische Kriterium der Aktgliederung – Durchbrechung des zeitlichen Kontinuums und Konfigurationswechsel136 – ist hier also nicht erfüllt. Es findet im Gegenteil ein ungewöhnlicher ›Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper‹ (H. J. Schneider) statt.137 Der Schnitt vermittelt den quälenden Eindruck, daß der Protagonistin jede Möglichkeit, ihre Situation handelnd zu verändern, genommen, daß also der Triumph des ›reinen‹ Griechentums endgültig ist. In diesem Sinne, doch zugleich als von den Göttern gewollte Strafe, deutet Gora den Seitenwechsel der Kinder. Indem sie ihre anfängliche, oben zitierte Warnung vor Jasons Untreue variiert, stellt sie fest: »Wie du die Deinen, verlassen sie dich!« (M V. 1749; vgl. V. 108). Da ihr die Kinder als Werkzeuge in der »Hand der Götter« (M V. 1758) gelten, kann sie in ihnen auch jetzt noch, da der Seitenwechsel aus ihnen ›reine‹ Griechen gemacht hat, die von ihr gepflegten »reinen Kolcher« (M V. 1763) erblicken.

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Vgl. Pfister: Das Drama, S. 317f. Ein analoger Schnitt kennzeichnet, wie sich unten zeigen wird, den Schluß des Vierten Aufzugs.

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Ihre Worte wiederholen somit spiegelbildlich die Worte, mit denen Jason den Seitenwechsel deutet. Medea hingegen, die es zunächst ablehnt, den Verrat der Kinder als göttliche Vergeltung hinzunehmen – »Wo kein Maß ist, ist keine Vergeltung« (M V. 1748) –, gibt dem Gedanken der gottgewollten »Rache« (M V. 1752, 1808, 1847, 1868, 1890) eine neue Wendung, indem sie sich auf eines der von Gora angeführten mythologischen Exempla zurückbesinnt: das »Griechenweib« (M V. 1837) Althea, die ihren Sohn Meleager tötete, um ihren Bruder zu rächen. Derart gewinnt der Gedanke, die eigenen Kinder zu töten, um sich für die Schmach zu rächen, die ihr auch die Kinder selbst angetan haben, feste Konturen, und er scheint fortan legitim. Er ist dem Griechen und Kolchern gemeinsamen Wert der ›Reinigung‹ des jeweils Eigenen vom Fremden verpflichtet, wie nicht nur daraus erhellt, daß die Kinder für Medea nur noch »Jasons Kinder« (M V. 1776) sind, in denen er »sein eignes Selbst / Zurückgespiegelt« (M V. 1811–1812) sehe, sondern auch daraus, daß die Verwirklichung des Rachegedankens, die noch unmöglich scheint, voraussetzen würde, daß sie die eigene Identität bejaht: »Ja, wär’ ich noch Medea, doch ich bin’s nicht mehr!« (M V. 1861) Medea erkennt an dieser Stelle, daß sie mit dem Verdrängungsakt des Dramenbeginns die »Macht« (M V. 1869), die ihr von ihrer Mutter, »Der ernsten Kolcherfürstin Hekate« (M V. 1870), verliehen wurde, d.h. ihre magischen Kräfte als Attribut ihres kulturellen Selbst, verloren hat. Daß sie sich nun auf die von Anfang an abwesende Mutter, nicht auf den Vater beruft, erinnert zugleich an ihre nostalgische Inszenierung des Amazonenwesens, das ja ein mythisches Bild des Weiblich-Barbarischen war.138 Medea deutet hier also an, daß der Entmachtung durch das korinthische die durch das kolchische Patriarchat voranging, verkennt indes, daß sie mit der Berufung auf das Exemplum des ›Griechenweibs‹ Althea das Racheziel der Reinigung vom Fremden selbst untergräbt: Auch sie hat für den Gedanken der rächenden Wiederherstellung des Eigenen keine eigene Sprache. Medea schreckt aber nicht aus diesem Grunde, sondern aus einem anderen davor zurück, mit dem Ausgraben des Kultgeräts die Voraussetzung für die Verwirklichung des Rachegedankens zu erfüllen. Sie vergegenwärtigt sich nämlich, daß sie nicht nur das »Blutgerät« (M V. 1892), das ihr später als Instrument der Rache an Kreusa dient, sondern auch das Vließ

138

S. oben, S. 182. Zur psychohistorischen Bedeutung der Berufung auf die Mutter bei Klinger und Grillparzer vgl. Böschenstein: Medea – Der Roman der entflohenen Tochter, S. 24.

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als Zeichen ihres Verrats am Vater als dem Repräsentanten des patriarchalischen Kolchertums zutage fördern würde: Denn säh’ ich in des goldnen Zeichens Glut Des Vaters Züge mir entgegen starren, Von Sinnen käm’ ich, Glaube mir! (M V. 1894–1896)

Medea fürchtet sich also davor, daß sie beim Anblick des Vließes nicht mehr nur Subjekt, sondern zugleich auch Objekt der Rache wäre, entsprechend der in sich widersprüchlichen Handlungsaufforderung, die der Orakelspruch »Nimm Sieg und Rache hin« enthält; die Ermächtigung durch die Mutter könnte zur Entmachtung durch den Vater geraten. In der Tat wird ihr, wie weiter unten zu zeigen ist, diese Paradoxie bewußt, als sie ihre Rache vollzieht. Daß es dazu gleich darauf wider Erwarten kommen kann, ist das Werk sowohl König Kreons als auch seiner Tochter. Kreusa schickt die Kinder der verbannten Mutter zu einem Abschiedsgespräch (vermutlich, um ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen), und Kreon, der ebenso gewaltsam, räuberisch und ruhmsüchtig ist wie Phryxus, Aietes und Jason, macht selbst Medeas ›Verdrängungsakt‹ rückgängig, indem er, um in den Besitz des Vließes zu gelangen, die vergrabene Kiste, die am Strand beim Errichten eines Altars zufällig entdeckt worden ist, Medea bringt, die sie auf sein Geheiß, aber erst nach seinem Abgang von der Bühne, öffnet. Diese Sequenz (vgl. M V. 1904–2021) ist die vierte Subphase, die Grillparzer der korinthischen Hauptphase des Grundmythos hinzufügt. Sie bildet die Peripetie, die im Sinne der aristotelischen Poetik mit der Anagnorisis, genauer Auto-Anagnorisis Medeas zusammenfällt:139 Mit den Worten »Medea bin ich wieder, Dank euch Götter!« (M V. 1953), die sie beim Anblick der Kiste spricht (ein Seneca-Zitat, auf das weiter unten zurückzukommen ist), bejaht sie ihre verdrängte ›barbarische‹ Identität und kündigt an, daß sich diese Identität nun in der Rache als machtvolle Essenz erweisen soll. Der Machterweis aber kann nur in der Verkehrung der noch bestehenden Machtverhältnisse bestehen. Das zeigen der Zauberspruch, mit dem sie die Kiste öffnet – »Untres herauf / Obres hinab / Öffne dich bergendes, / Hüllendes Grab!« (M V. 1981–1984) –, und die Worte, die sie anschließend, beim Ergreifen von Stab und Schleier, spricht:

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Vgl. Aristoteles: Poetik, 1452a (Kap. 11).

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Ich fasse dich, Vermächtnis meiner Mutter, Und Kraft durchströmt mein Herz und meinen Arm! [...] Nun kommt, nun kommt, ihr Feindesscharen alle Vereint gen mich! Vereint in eurem Falle! (M V. 1987–1988, 1991–1992)

Zwar ist mit dieser Peripetie der Punkt erreicht, von dem an die Handlungssequenz sich dem euripideischen Modell insofern wieder annähert, als nun sowohl der Mord an Kreusa als auch der Kindermord erfolgen können.140 Bei Grillparzer sind jedoch anders als bei seinen Vorgängern die Kinder nicht die Instrumente der Rache (statt ihrer überbringt Gora das vergiftete Geschenk141), sondern in demselben Maße wie Kreusa ihr Objekt. Medea will sich mit diesem Verbrechen sowohl an Jason rächen als auch an den Kindern selbst, die ihr Kreusa vorgezogen haben; die Rache soll sie dafür bestrafen, daß sie sich, obwohl sie ein Teil der Mutter sind, gegen diese aufgelehnt haben, wie die Verratene sich zu Beginn des Abschiedsgesprächs sagt, zu dem Kreusa ihr die Kinder geschickt hat: Wenn ich bedenk’, daß es mein eigen Blut, Das Kind, das ich im eignen Schoß getragen, Das ich genährt an dieser meiner Brust, Daß es mein Selbst, das sich gen mich empört, So zieht der Grimm mir schneidend durch das Innre, Und Blutgedanken bäumen sich empor. – (M V. 2034–2039)

Aber dieses psychisch-moralische Motiv der Bestrafung für Verrat ist letztlich eine Funktion der programmatischen Reinigung des eignen Selbst vom Fremden, wie die Frage zeigt, die Medea gleich anschließend den Kindern stellt: Was hat denn eure Mutter euch getan, Daß ihr sie flieht, euch Fremden wendet zu?

(M V. 2040–2041)

Die Ermordung der Kinder ist also der Versuch, die eigene ethnischkulturelle Integrität durch die Vernichtung dessen, was biologisch, aber

140

141

Anders als bei Euripides, Seneca und Corneille stirbt Kreon nicht, wird aber, wie andeutungsweise bei Klinger und ähnlich wie der gleichnamige König von Theben in Sophokles’ Antigone, mit »Trauer ewiglich« (M V. 2281) bestraft, wie er selbst am Ende feststellt. Ähnlich bereits bei Corneille: Médée, V. 1045–1056. Trotz dieser Abweichung von Euripides und Seneca bleiben die Kinder aber bei Corneille die völlig passiven Instrumente der Rache, wie auch daraus erhellt, daß Jason nach dem Meuchelmord an Créuse zunächst selbst erwägt, die Kinder zu töten. S. dazu auch unten, Anm. 152.

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nicht mehr kulturell Teil des Eigenen ist, wiederherzustellen. Als die Kinder gleich darauf ihre Entscheidung mit den Worten »Wir bleiben da« (M V. 2043) auch verbal bekräftigen und Medea erkennen muß, daß nicht nur der ältere, Jason ähnelnde Sohn, den sie wegen dieser Ähnlichkeit einst mißhandelt hat, sondern auch der jüngere, ihrem Bruder ähnelnde, von ihr abgefallen ist, sagt sie sich: »Allein es ist so besser, besser – ganz!« (M V. 2045) Die Tötung der Kinder erfüllt demnach den Zweck, das Hybride, das sie verkörpern, zu vernichten, den Triumph des Griechentums – »Meine Kinder am Halse der Fremden / Mir entfremdet« (M V. 2138– 2139) – rückgängig zu machen und die vermeintlich ursprüngliche, ethnisch-kulturelle ›Ganzheit‹ des Eigenen zu restituieren: »Kein Rücktritt mehr! / Ganz sei es vollbracht! Fort!« (M V. 2151–2152) Das sind die Worte, mit denen Medea am Ende ihres Entscheidungsmonologs zur Tat schreitet, während ein Feuerschein im Hintergrund anzeigt, daß Kreusa verbrennt.142 Wie die vorangehende zweifache Berufung auf die Mutter verdeutlicht, ist die machtvolle Ganzheit, die der Kindermord restituieren soll, nicht nur das verlorene Kolchertum, sondern darüber hinaus jene vorpatriarchalische, amazonenhaft-reine Weiblichkeit, die Medea schon von Aietes verweigert wurde. Der Kindermord bezieht seine komplexe Bedeutung also auch aus Medeas ambivalenter Beziehung zu ihrem toten Vater, vor dessen Rache sie sich fürchtet. In ihrem Entscheidungsmonolog versucht sie zunächst, sich mit ihm zu versöhnen, indem sie ein paradiesisches Bild ihrer Jugend in Kolchis heraufbeschwört. Wie das idyllische Bild, das Jason von seiner Jugend in Korinth malt, suggeriert es Ganzheit und ungetrübte Harmonie, weil die antithetische kulturelle Topographie des Eigenen und des Fremden die Auswahl und Anordnung der Bildelemente regelt (sie selbst erscheint sich rückblickend als »rein«, »mild« [M V. 2079] und wohltätig). Auch hier wird die biographische Erinnerung von einer kulturellen rekonstruiert, die ausklammert, was sich ins beschönigende Bild des »Land[s] der Väter« (M V. 2077) nicht fügt. Medea sieht, wie sie und der Bruder Absyrtus vom Vater gesegnet werden, und sie fühlt sich mit beiden wieder

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Daß sie den Kindermord in diesem Moment auch noch mit der Gefahr rechtfertigt, die ihr und den Kindern von den Korinthern drohe (vgl. M V. 2147–2148: »Sie kommen, sie töten mich! / Schonen auch der Kleinen nicht«) ist eine Euripides-Reminiszenz (vgl. Medeia, V. 1236–1239), wirkt hier jedoch eher aufgesetzt: Es sind ja nicht die Kinder, die das vergiftete Geschenk überbracht haben; die Korinther haben also keinen Grund, sie für den Meuchelmord mitverantwortlich zu machen.

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versöhnt (vgl. M V. 2092–2093); bezeichnenderweise bleibt die Mutter aus dieser patriarchalischen Idylle ausgeschlossen. Wie aber Orests Versöhnungsvision an dem Widerstand scheitert, den ihr die Erinnerung an das Schicksal des Tantalus leistet,143 so bricht auch Medeas Versöhnungsvision in dem Moment ab, in dem sie sich an den väterlichen Fluch als Strafe für ihren Verrat erinnert: ’S ist Lüge! sie wird dich verraten Greis! H a t dich verraten, dich und sich. Du aber fluchtest ihr. (M V. 2099–2101)

Sie erinnert sich folglich auch daran, daß der Vater seinen ›Feind‹ Jason als seinen »Rächer« (M V. 2107), der sie verlassen und verstoßen werde, eingesetzt hat; das Unrecht, das Jason ihr antat, indem er sie zum Sündenbock machte und opferte, um wieder ganz Grieche sein zu können, erscheint ihr nun unvermutet als Erfüllung des väterlichen Fluchs, also als Recht: Und sieh! Dein Wort ist erfüllt: Ausgestoßen steh’ ich da, Gemieden wie das Tier der Wildnis, Verlassen von ihm, um den ich dich verließ, Ohne Ruhstatt, leider n i c h t tot, Mordgedanken im düstern Sinn. Freust du dich der Rache? Nahst du mir? – Kinder! Kinder! (M V. 2110–2117)

Diese Verse ergänzen und relativieren die Anagnorisis, die Medea beim Ergreifen von Schleier und Stab zuteil geworden ist. Jetzt, in eben dem Moment, in dem sie sich mit Hilfe des ›Vermächtnisses‹ ihrer zauberkundigen Mutter Hekate an den Griechen rächt (der Meuchelmord an Kreusa findet, wie gesagt, gleichzeitig als räumlich verdecktes Geschehen statt), erkennt sie, daß sie Objekt der väterlichen Rache ist. So gesehen, ist der gleich darauf erfolgende Kindermord ein Akt der Buße für den Verrat am Vater. Sie vollstreckt an den Kindern, was der Vater an ihr vollstreckt hat: die Bestrafung für den ›Seitenwechsel‹; Medea übt Vergeltung, wie der Vater Vergeltung geübt hat, und sie tut dies, um sich mit ihm zu versöhnen.144 Doch indem sie sich dem väterlichen Willen beugt, lehnt sie sich

143 144

S. oben, Kap. 4.2.3, S. 136f. Vgl. Böschenstein: Medea – Der Roman der entflohenen Tochter, S. 19: »Nach dem Verrat der Kinder ist Medea so gebrochen, daß der topische Monolog vor der Tötung nicht mehr aus einem stürmischen Kampf der streitenden inneren

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zugleich gegen ihn auf: Mit dem Kindermord revoltiert sie auch gegen die väterliche Unterdrückung ihres Strebens nach ›reiner‹ Weiblichkeit, wie die vorangehende zweifache Berufung auf die Mutter deutlich macht. Die Ermordung der beiden Söhne ist, so gesehen, ein Akt der Barbarei, der auf die Restitution der – im »Gastfreund« nur spielerisch inszenierten – vorpatriarchalischen ›reinen‹ Weiblichkeit zielt. Beide Bedeutungen des Kindermords sind notwendig aufeinander bezogen; die Ambivalenz, die darin zum Ausdruck kommt, verweist auf das Hybride innerhalb der eigenen Kultur, in der väterliche und mütterliche Machtansprüche nebeneinander fortbestehen. Auf das Hybride als verkannte und verdrängte Verschränkung des Eigenen mit dem Fremden machen diese Verse aber auch durch die Art und Weise ihrer Beziehung zur Semantik des Barbarischen aufmerksam. Denn in ihnen stellt sich erneut die Verbindung des Barbarischen mit dem Tierhaften und Wilden ein, die für die antike Semantik des Begriffs und für seine Wiederverwendung in der Reiseliteratur und Anthropologie der Neuzeit kennzeichnend ist. Zugleich lenken sie mit dem Partizip »Ausgestoßen« den Blick auf den primitiven kollektiven Gewaltmechanismus, der in solcher Semantik wirksam ist: Erst die Gewalt, die Medea sowohl von ihrem eigenen Vater als auch von Jason und Kreon zugefügt wurde, machte sie zur – mit René Girard zu reden – ›victime émissaire‹, zu jenem »Tier der Wildnis«, dessen Opferung in Kolchis die Reinigung des Kolchischen vom Griechischen und in Korinth die des Griechischen vom Barbarischen herbeiführen sollte. Medea sieht also auch ein, daß diese Art von Menschenopfer eine Praxis ist, die den barbarischen Kolchern und den zivilisierten Europäern gemeinsam ist. Dennoch setzt sie selbst diese Praxis fort, indem sie die Kinder tötet. Es wurde bereits deutlich, daß auch dieses Verbrechen die Funktion der Reinigung des Eigenen vom Fremden hat. Wie in den ersten beiden Aufzügen und wie schon zu Beginn des »Gastfreunds« und im Dritten Aufzug der »Argonauten« stellt sich also die semantische Beziehung zwischen kultureller Identität und Opfer ein. Zu Opfern werden die Kinder allerdings nicht in derselben Weise wie bei Grillparzers Vorgängern: Bei Euripides bezeichnet Medeia ihre Ermordung der Kinder ausdrücklich als Opfer ( , vgl. V. 1054), und sie stiftet in der aitiologischen Exodos für die Kinder einen

Stimmen besteht, sondern nur noch aus einer melancholischen Evokation der verklärten Heimat, die in die Einsicht in das Talionsgesetz mündet: die Verratene muß den eigenen Verrat durch den Mord an den Kindern büßen.«

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Opferkult. Die Tat weist also Spuren eines Opferrituals auf, wenngleich unklar bleibt, in welchem Maße sie selbst eine sakrale Handlung bildet oder nicht.145 Bei Seneca und Klinger wird der Kindermord dann sogar eindeutig als Blutopfer inszeniert.146 Bei Grillparzer hingegen tötet Medea die Kinder nicht im Rahmen einer rituellen Darbringung, sondern sie rächt sich an ihnen und macht sie zu Sündenböcken. Die Kinder sind also, um Girards Unterscheidung aufzugreifen, ›victimes émissaires‹, nicht ›victimes rituelles‹.147 Was bei Euripides, Seneca und Klinger Züge heiliger Gewalt aufweist, wird bei Grillparzer als spontaner Gewaltakt entlarvt. Dieser ist aber, insofern er auf die Wiederherstellung der Unversehrtheit des Kolchertums zielt, das symmetrische Pendant zu den Gewaltakten, deren Opfer die Täterin zuvor war. Zwar wird der Kindermord im Unterschied zu ihnen nicht szenisch als ein kollektiver Akt verwirklicht, aber er gewinnt für Medea eine kollektive Verbindlichkeit dadurch, daß sie mit ihm ihre Reintegration ins Kolchertum sowohl ihres Vater als auch ihrer Mutter zu bewirken glaubt. Es sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß der oben zitierte Vers »Medea bin ich wieder, Dank euch Götter« (M V. 1953) ein Echo des Verses ist, mit dem Medea sich bei Seneca in ihrem Entscheidungsmonolog auf den Kindermord einstimmt: »Medea nunc sum; crevit ingenium malis«

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Walter Burkert deutet Medeias Verwendung der Sprache des Opferrituals im Sinne seiner These, der Mythos deute den Opferritus, der noch die Tragödie durchdringe (s. oben, Kap. 3.2.1, S. 83f., und Anm. 41), und kommt zu der Schlußfolgerung: »Jedenfalls weist die Metapher vom [...] zurück auf ein Opferritual, in dem das Mysterium des Todes gestaltet ist« (Burkert: Wilder Ursprung, S. 28; ähnlich Girard: La violence et le sacré, S. 21). Bedenken gegen diese Deutung erhebt u.a. Segal: Euripides’ Medea, S. 15, 42. Daß die Tat Züge eines Opferrituals hat, aber zugleich auch anthropozentrisch verstanden werden kann, entspricht indes dem für die Gattung der Tragödie konstitutiven Strukturmerkmal der Ambiguität, das Vernant hervorkehrt (s. oben, bes. Kap. 3.1). Vgl. Seneca: Medea, bes. V. 770, 797, 970–971, 1019–1020; Klinger: Ausgewählte Werke. Bd. 2, S. 125ff. S. oben, Kap. 3.2.1, S. 82. Allerdings ruft Medea, als Gora ihr mit Entsetzen die Nachricht von Kreusas Tod überbringt, die Tote mit den folgenden Worten an: »Bis du dahin, weiße Braut? / Verlockst du mir noch meine Kinder? / Lockst du sie? lockst du sie? / Willst du sie haben auch dort? / Nicht dir, den Göttern send’ ich sie!« (M V. 2155–2159) Diese Bezugnahme auf die Götter wirkt aber wegen des selbst nach Kreusas Tod noch wirksamen Impulses, dieser die untreuen Kinder vorzuenthalten, unglaubwürdig, und ist nicht als Indiz dafür zu werten, daß die nun folgende Ermordung der Kinder in der Säulenhalle eine rituelle Darbringung ist.

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(»Medea bin ich nun. Am Bösen wuchs mein Geist«).148 Bei Seneca fehlt indes, entsprechend dem oben Gesagten, die ethnozentrische Bedeutung, die Medeas Bejahung der eigenen Identität bei Grillparzer hat.149 Bejaht wird vielmehr die eigene Fähigkeit, das Übermenschlich-Ungeheuerliche zu tun, wie die zweite Hälfte des zitierten Verses und das folgende grausame Racheritual zeigen: Die vom Affekt der »ira« getriebene Protagonistin opfert das erste Kind den Manen des von ihr getöteten Bruders; das zweite tötet sie vor Iason, um die Befriedigung ihres Rachebedürfnisses aufs äußerste auszukosten und um zu demonstrieren, daß ihre Rache tatsächlich, wie von Anfang an geplant, alle bisher von ihr begangenen Verbrechen an Abscheulichkeit übertrifft.150 Bei Grillparzer hat der Kindermord, den der Grundmythos vorschreibt, nichts von diesem monomanischen und zugleich abstrakten Absolutheitsanspruch, denn seine Bedeutung wird, wie gesagt, von der ethnozentrischen Antithese des Eigenen und des Fremden bestimmt. Ihm fehlt ebenfalls das Merkmal des Heroischen, mit dem Euripides Medeias Rache versieht,151 da die Rache nun auch den wehrlosen Kindern gilt. Dementsprechend hat Medea keinen Grund, den Schmerz, den sie Jason mit dem Kindermord zufügt, triumphal auszukosten, wie die Protagonistin das, auf dem Drachenwagen entkommend, am Ende der Tragödien von Euripides, Seneca, Corneille und Klinger tut.152 Mit einer

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Vgl. Seneca: Medea, V. 910. Häuptli kommentiert seine Übersetzung »Am Bösen« wie folgt: »doppeldeutig, aber keine Alternative, ›durch das, was ich erlitten / angetan habe‹; durch beides wird Medea zu sich selbst gebracht, nicht weil sie von Grund auf böse ist (wie verschiedene Interpreten meinten), sondern weil sie ihre grenzenlose Macht bis zur vernichtenden Selbstbehauptung einsetzt« (L. Annaeus Seneca: Medea. Lateinisch / Deutsch. Übs. u. hrsg. v. Bruno W. Häuptli. Stuttgart 1993, S. 126). Bei Euripides ist sie durchaus angelegt: Nicht nur Iasons Verwendung des Barbarenbegriffs ist ethnozentrisch, sondern ansatzweise auch Medeias Rede von Iason als dem Griechen, dem sie nicht hätte folgen sollen; s. oben, Kap. 2.1, S. 29f. Auch die Gebrochenheit von Medeas Ethnozentrismus, die aus dem ungelösten Konflikt zwischen ihrer Bindung an den Vater und der an die Mutter herrührt, ist in Medeias und des Chors Thematisierung und Problematisierung der Rolle der Frau teilweise angelegt. Vgl. dazu ausführlich Segal: Euripides’ Medea, S. 25ff. Vgl. Seneca: Medea, V. 40–55, 895–909 u. öfter. Zur Deutung vgl. Eckard Lefèvre: Römische Tragödie: Senecas Medea. In: Tragödie. Idee und Transformation (wie S. 169, Anm. 9), S. 65–83, bes. S. 72f., 80ff. Zu Medeias Heroentum s. oben, Kap. 2.1, S. 34f. Von diesem topischen Ende der Medea-Tragödien weichen die beiden Schlußszenen bei Corneille insofern ab, als Jason unmittelbar zuvor selbst beabsichtigt, die Kinder umzubringen, um sich an Médée für die Ermordung von Créuse zu

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Geste, die zur Einkehr und Besinnung ermahnt, unterbindet sie im Gegenteil die erwartete verbale Manifestation sowohl des eigenen Triumphs als auch des Schmerzes und Hasses, den Jason empfindet: Medea tritt aus dem Säulengange, in der Linken einen Dolch, mit der rechten, hocherhobenen Hand Stillschweigen gebietend. Der Vorhang fällt.

(nach M V. 2168)

Grillparzers Dramaturgie des Barbarischen schreibt hier einen Schnitt vor, der wie der Schnitt am Ende des Dritten Aufzugs wiederum gegen das klassizistische Kriterium der Aktgliederung verstößt, da zu Beginn des Fünften Aufzugs das zeitliche Kontinuum nicht wirklich durchbrochen ist und ein Konfigurationswechsel nur insofern stattfindet, als Medea verschwunden ist. Davon abgesehen sind der Schauplatz und die Szenerie der Zerstörung zu Beginn des Fünften Aufzugs dieselben wie am Ende des Vierten. Aber dieser neuerliche ›Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper‹ (H.J. Schneider) vermittelt im Gegensatz zu demjenigen, der am Ende des Dritten Aufzugs erfolgt, den Eindruck, daß es Medea gelungen ist, ihre Situation handelnd zu verändern. Sie hat den Triumph des ›reinen‹ Griechentums rückgängig gemacht, jedoch nicht im Sinne jener triumphalen Vergeltung, mit deren szenischer Realisierung die Medea-Tragödien von Euripides bis Klinger schließen.153 Der Schnitt, den Medeas Geste bewirkt, macht also auch darauf aufmerksam, daß der Schluß von Grillparzers Tragödie mit der Tradition und Topik jener Tragödienschlüsse bricht. 5.4.4. Ohne ›heilige‹ Gewalt kein Ende der Gewalt? Die Rückgabe des Vließes als Selbstopfer der Barbarin (Fünfter Aufzug) In der Tat fügt der kurze Fünfte Aufzug der dritten, korinthischen Hauptphase des Medea-Grundmythos eine weitere Subphase (es ist die fünfte) hinzu, nämlich Jasons Verbannung aus Korinth, und außerdem ersetzt er den topischen Tragödienschluß, Medeas triumphales Entkommen auf dem Drachenwagen, durch ein letztes Wiedersehen der beiden Hauptfiguren, in

153

rächen (vgl. Corneille: Médée, V. 1533–1536); Médée triumphiert also auch, weil sie ihm zuvorgekommen ist, und er tötet am Ende sich selbst. Eine Ausnahme bildet die Schlußszene bei Glover: Zwar verläßt Medea Korinth wiederum auf einem Wagen (»chariot«), aber sie tut dies nicht im Triumph, sondern als leidende Frau, die Jason »some forgiving tears« (Glover: Medea, S. 40) nachweint.

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dessen Verlauf Medea ankündigt, daß sie nach Delphi gehen werde, um Buße zu tun. Mit der Topik des Schlusses der Medea-Tragödien von Euripides bis Klinger bricht der Fünfte Aufzug aber auch insofern, als in ihm wiederum ein schnittartig-abrupter Wechsel des Schauplatzes stattfindet, der gegen die klassizistische Norm der Einheit des Raums verstößt: Die erste Szene, die in Jasons Verbannung mündet, findet wie die letzte des Vierten Aufzugs im Vorhof von Kreons Burg statt, die epilogartige zweite Szene, die des Wiedersehens, hingegen in einer »Wilde[n], einsame[n] Gegend von Wald und Felsen umschlossen« (vor M V. 2282). Dieser Schauplatzwechsel dient dazu, die Entdifferenzierung der Teilräume des Griechischen und Barbarischen hervorzuheben, denn der hier evozierte Raum, der sich außerhalb der zerstörten städtischen Zivilisation befindet, gleicht dem Raum, den die erste Bühnenanweisung der Trilogie bezeichnet: »Kolchis. Wilde Gegend mit Felsen und Bäumen« (vor G 1).154 Der Schauplatzwechsel dient außerdem dazu, in der Tragödie die Form der klassizistischen Tragödie zu verabschieden und eine Verbindung zur damals so genannten ›romantischen‹ Tragödientradition herzustellen: Der Anblick des entmachteten und verbannten Argonautenführers, der durch die ›wilde Gegend‹ irrt, erinnert an die Heidelandschaftsszenen des Dritten und Vierten Aktes von Shakespeares King Lear, und die Worte »Trage! [...] Dulde! [...] Büße!« (M V. 2373–2374), die Medea ganz am Ende Jason zuruft, bilden einen »Schluß wie aus einem Lope de Vegaschen oder Calderónschen ›auto sacramental‹«.155 Bevor die Funktion erörtert werden kann, die dieser überraschende Wechsel der Tragödienform hat, ist die erste Szene des Fünften Aufzugs genauer ins Auge zu fassen. Gora deckt hier die destruktive Dynamik des Zwangs zur Reinigung des Eigenen vom Fremden auf, freilich in mythisierender Form, indem sie die Verkehrung des Triumphs der Griechen in schweres Leid wiederum als »Vergeltung« (M V. 2262; vgl. M 92, 1741, 1748) deutet: als göttliche Strafe für Jasons Verrat, Kreusas Mitschuld am Verrat und Kreons Heuchelei. So gesehen, verwirklicht der Sturz der Griechen ins Bodenlose die paradoxe Logik des dunklen Orakelspruchs »Nimm Sieg und Rache hin«, wie schon Phryxus’ Schicksal, aber auch dasjenige Medeas sie verwirklicht hat. Im Moment ihres Siegs über die Barbarin sind die Griechen zu Objekten der Rache der Barbarin geworden; in dem

154 155

Auf diese Gleichheit macht Charue-Ferrucci: La notion de barbarie, S. 134, aufmerksam. Neumann: Das goldene Vließ, S. 260; vgl. S. 276.

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Moment, in dem sich Phryxus am Ziel seiner kolonialistischen Unternehmung wähnte, ereilte ihn Aietes’ Rache; und in dem Moment, in dem sich die Barbarin für die erlittene Schmach rächte, wurde sie selbst zum Objekt der Rache ihres Vaters. Zu erinnern ist allerdings daran, daß der mythische Zwang zur Vergeltung und Verkehrung, den der Orakelspruch zu vermitteln scheint, von der Tragödie dechiffriert wird: Dieser Zwang erweist sich von Anfang an als Effekt der verengenden Fehldeutung des Orakelspruchs (oder anderer vermeintlich mythischer Zeichen), und die verengende Fehldeutung gründet im Griechen und Barbaren gemeinsamen Zwang zur ethnozentrisch wertenden Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden – in einem Zwang also, der nicht mythisch, sondern kulturhistorisch zu verstehen ist, als ›Diskurs‹ oder ›Denkgewohnheit‹.156 Am Ende der ersten Szene des Fünften Aufzugs macht er sich einmal mehr geltend. Kreon verbannt nun Jason, so wie er zuvor Medea verbannt hat: Du aber geh, wohin dein Fuß dich trägt. Befleckter Nähe, merk’ ich, ist gefährlich.

(M V. 2267–2268)

Diese Identifizierung Jasons mit den ›Befleckten‹ und die damit einhergehende Verwandlung des heimgeholten griechischen Heros in einen wiederum zu vertreibenden Sündenbock ist eine Erneuerung des Versuchs, das ›Griechische‹ vom ›Barbarischen‹ zu reinigen. Doch der Versuch ist offenkundig absurd. Denn der Untergang des korinthischen Herrscherhauses, dieses Horts des reinen Griechentums, kann nicht rückgängig gemacht werden, wie Kreon mit seinen letzten Worten eingesteht: »Dann Trauer ewiglich« (M V. 2281). Durchaus bedeutsam ist die Verbannung Jasons hingegen im äußeren Kommunikationssystem des Dramas. Daß der Heros Jason am Ende das Schicksal der Barbarin Medea teilt, daß er selbst nun in die ›Wildnis‹ verstoßen ist, in die er zuvor mit der exorzistischen Formel »Heb dich hinweg, zur Wildnis« (M V. 1051) Medea verstoßen hat,157 bedeutet die Hinfälligkeit der Antithese des Griechischen und Barbarischen und kündigt den

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S. dazu oben, S. 192f., 226f. und öfter. Aus der in der vorliegenden Studie gewählten Perspektive ist also die Ansicht zurückzuweisen, »daß Medeas Geschichte in Korinth allein durch Jasons und Kreons individuell begründetes vereinzelndes Verhalten bestimmt wird« und daß nirgends die »Zwänge« deutlich werden, denen die vermeintlich »partikularisierende Praxis der Einzelnen« gehorcht (Brauckmann / Everwien: Sehnsucht nach Integrität, S. 79, 81). S. oben die Ausführungen zum Zweiten Aufzug.

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Kollaps des Heroisch-Erhabenen an, der gleich darauf in der epilogartigen zweiten Szene erfolgt. Hier wird der in der ›wilden Gegend‹ herumirrende griechische Heros, der alles Heroische verloren hat, erneut verstoßen, nun aber von einem einfachen Landmann, dessen Auftritt schon als solcher die klassizistische Ständeklausel verletzt: LANDMANN Wer pocht? – Wer bist du, Armer, todesmatt? JASON Nur Wasser! Einen Trunk! – Ich bin der Jason! Des Wunder-Vließes Held! Ein Fürst! Ein König! Der Argonauten Führer Jason, ich! LANDMANN Bist du der Jason? so heb dich von hinnen. Beflecke nicht mein Haus, da du’s betrittst. Hast meines Königs Tochter du getötet Nicht fordre Schutz vor seines Volkes Tür. Er geht hinein, die Türe schließend. (M V. 2292–2299)

Die Worte des Landmanns verwirklichen einmal mehr die Antithese des Griechischen und Barbarischen und setzen sie zugleich außer Kraft: Jason wird nun, als sei er selbst Medea, für Kreusas Tod verantwortlich gemacht und wie ein Barbar aus der Gemeinschaft der Griechen ausgeschlossen. Mit der szenischen Realisierung dieser äußersten Konsequenz der Verkehrungsdynamik, die von der Semantik des Babarischen ausgeht, verschwindet zugleich im Binnenraum des Griechentums die Differenz zwischen Herrscher und Volk. Denn es ist nun nach König Kreon der Mann aus dem ›Volk‹, der Jason verstößt und dabei die Sprache der Herrscher spricht: Er verwendet sowohl die exorzistische Formel, mit der Jason Medea verstoßen und den Fluch ihres Vaters Aietes, der selbst eine Verstoßung war, erfüllt hat, als auch das Bild der Befleckung, mit dem Kreon seinen Schwiegersohn Jason verstoßen hat. Und seine Worte haben auch die situationsverändernde Kraft, die zuvor diejenigen Jasons und Kreons hatten. Zugleich zeigt der Auftritt des Landmanns, daß kein Raum von der Verkehrungsdynamik verschont bleibt. Zwar ruft der ländliche Raum die Idyllenklischees des Unschuldigen, Naiven und Reinen auf, aber er ist zugleich der locus terribilis der Verstoßung und des Exils. Auch der Landmann kann sich dem entdifferenzierenden Kreislauf der Vergeltung durch Rache nicht entziehen. Die subversive Aufdeckung der Nichtigkeit jener Unterschiede, die Mythos und Ritual setzen, insbesondere des Unterschieds zwischen gottgewollter und böser Gewalt, ist, wie gesagt, eine spezifische Leistung der Tragödie als Gattung, doch dieser ›tragischen Subversion‹ (Girard) sind, entsprechend dem für die Gattung konstitutiven Merkmal der Ambiguität, 239

Grenzen gesetzt.158 So auch ganz am Ende der Trilogie, als Jason nach seiner Verstoßung durch den Landmann die von ihm Verstoßene ein letztes Mal wiedersieht. Medea, die ihre Verstoßung durch Jason als Erfüllung des väterlichen Fluchs, der die spiegelbildliche Antwort auf Phryxus’ Fluch war, gedeutet hat, begreift nun ihr und Jasons Schicksal als Teil eines sinnlosen Zyklus von Gewalt und Gegengewalt (»Greuel der Verwüstung«, M V. 2322), den sie, wie sie glaubt, durch das freiwillige Opfer ihrer selbst beenden kann. Als Jason sich einmal mehr an ihr rächen will (er greift zum Schwert, wie es einst Aietes tat, als er seine Tochter verstieß), ruft sie ihm zu: Laß ab! Du triffst mich nicht! Ich bin ein Opfer Für eines Andern Hand als für die Deine! (M V. 2307–2308)

Dann tut sie ihm ihre Absicht kund, nach Delphi zu gehen, um dort »dem dunkeln Gott« (M V. 2356) an dessen Altar das von Phryxus geraubte goldene Vließ zurückzugeben und sich den Priestern zu stellen mit der Frage, Ob sie mein Haupt zum Opfer nehmen an, Ob sie mich senden in die ferne Wüste In längerm Leben findend längre Qual. (M V. 2361–2363)

Diese in Aussicht gestellten rituellen Handlungen sollen einen Frieden stiften, der nicht mehr das Ergebnis des Triumphs der Griechen über die Barbaren oder umgekehrt wäre. Vielmehr beinhaltet Medeas Absicht, dem ›dunklen‹, von Kolchern wie Griechen verehrten Gott im Tempel des ›hellen‹ Gottes Apoll das Vließ zurückzugeben, die Anerkennung des Hybriden der beiden Kulturen, insbesondere ihres bis dahin verkannten religiösen Synkretismus, den, wie oben hervorgehoben, das delphische Standbild des Gottes repräsentiert.159 Doch mit Medeas geplantem Gang nach Delphi schließt sich wiederum ein Kreis, denn er führt an den Ort zurück, von dem das Verhängnis – auch ihre Verbannung aus Korinth – ausging,160 so wie der Ort, den die Bühnenanweisung dieser letzten Szene der Trilogie beschreibt, an den Ort der ersten Szene erinnert. Eine analoge Bewegung im Kreis geht auch von Medeas Absicht aus, sich in Delphi den Priestern als Opfer anzubieten. Offenbar hätte dieses

158 159 160

S. oben Kap. 3.2.1, S. 82. S. oben, S. 184f., 200f. Vgl. dazu Wimmer: Médée à Delphes, S. 123.

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Opfer als freiwillige Opferung der eigenen Person das Ziel, die Welt von dem Kreislauf der Gewalt zu erlösen, den die ethnozentrische Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden in Gang gebracht hat: Wie die Worte, mit denen Iphigeneia in Aulis in ihre Opferung einwilligt, wie die Worte, mit denen Athene am Ende der Iphigeneia im Lande der Taurer der Gewalt Einhalt gebietet und einen Opferkult begründet, und wie die Worte, mit denen bei Racine der Tod Ériphiles als Opferung gedeutet wird,161 gehorchen Medeas letzte Worte dem mythischen Glauben, daß nur eine ›heilige‹ Gewalt die zerstörerische Gewalt beenden kann.162 Doch damit erneuern sie angesichts der Einebnung aller Unterschiede, die Mythos und Ritual gesetzt haben, die Unterscheidung zwischen heiliger und unheiliger, zerstörerischer Gewalt, und sie beinhalten die Erwartung, daß diese erneute Unterscheidung wiederum mythische Geltung haben wird. Indem die Rächerin aus Einsicht zur sich selbst opfernden Büßerin wird, macht die Offenlegung des Unheiligen der vermeintlich heiligen Gewalt, die sich Griechen und Kolcher im Streit um den ausschließlichen Besitz des Vließes gegenseitig zugefügt haben, einer erneuten Heiligung von Gewalt Platz. Dieses widersprüchliche Ineinander von Offenlegung und Verbergung des Unheiligen im Heiligen findet auch in den Worten Ausdruck, mit denen Medea die zugleich mythisierende und hellenozentrisch verengende Deutung der Symbolik des Vließes verwirft: Erkennst das Zeichen du, um das du rangst? Das dir ein Ruhm war und ein Glück dir schien? Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten! Was ist der Erde Ruhm? – Ein Traum! (M V. 2364–2367)

Die alte, im Barock erneuerte vanitas-Bildlichkeit dieser Worte stellt die Zeichen sowohl für die Entlarvung der ethnozentrisch verfälschten, verengenden Vorstellungen, die sich Griechen und Kolcher von der Heiligkeit des Vließes gemacht haben, als auch für die Affirmation eines, wie es scheint, ganz anderen, gleichsam überirdischen, aber doch im griechischen Delphi lokalisierten Heiligen bereit, das die wahre Bedeutung des Vließes verbürgen soll. Dieser will Medea wieder zur Geltung verhelfen, indem sie das Vließ dem »dunkeln Gott« zurückgibt.163 161 162 163

S. oben, Kap. 3.2.2, S. 93. Vgl. Girard: La violence et le sacré, S. 44ff., bes. S. 61. Rückblickend zeigt sich also, daß Grillparzers eigene Äußerungen zur Symbolik des Vließes, mit denen große Teile der Forschung diese Symbolik zu deuten suchen, selbst zu deuten sind (und dies nicht weniger als der Dramentext). So

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Medea kann den Ethnozentrismus und dessen mythisierende Rechtfertigungen also nur um den Preis einer vagen Remythisierung des Vließes und der Gewalt des Opfers überwinden. Zwar soll die Verwandlung der barbarischen Kindermörderin in eine Büßerin und des griechischen Heros in eine Elendsgestalt die Aussicht auf eine neue Ordnung eröffnen, und der Wechsel von der Form der klassizistischen zur Form der ›romantischen‹ Tragödie hat, wie inzwischen deutlich geworden ist, die Funktion, diese Aussicht zu vermitteln. Doch die neue Ordnung bedarf, wie sich nun zeigt, der alten Mittel der Ordnungsstiftung, und sie soll von Delphi ausgehen, dem Ort, von dem auch die Zerstörung der bisherigen Ordnung ausging.164 Somit erweist sich das Heilige, auf dem die neue Ordnung beruhen soll, von vornherein als fragwürdig, und es stellt sich erneut das für die Tragödie als Gattung konstitutive Merkmal der Ambiguität, Krisenhaftigkeit und Instabilität ein.165 Die von Medea eröffnete Perspektive der Erlösung durchs Opfer kann also nicht absolut gesetzt werden, wenngleich Grillparzers eigene tragö-

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läßt sich Grillparzers Feststellung, das Vließ sei ein »sinnliches Zeichen« des Satzes »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, Böses muß gebären« (Dichter über ihre Dichtungen. Franz Grillparzer, S. 123; der Satz geht bekanntlich auf Schillers Wallenstein: Die Piccolomini, V. 2452–2453 zurück) aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit auf den Kreislauf der Gewalt beziehen, den die griechisch-kolchische Symmetrie der asymmetrischen Entgegensetzungen des Eigenen und des Fremden herbeiführt. Dementsprechend wäre auch Grillparzers Wunsch, das Vließ möge »als ein sinnliches Zeichen des Wünschenswerten, des mit Begierde Gesuchten, mit Unrecht Erworbenen gelten« (Dichter über ihre Dichtungen. Franz Grillparzer, S. 136; vgl. S. 137), weniger in moralischem als in hermeneutischem und diskursgeschichtlichem Sinne zu verstehen: ›Unrecht‹, d.h. unangemessen, ist die verengende, in nationale Mythen mündende Deutung des mit dem Vließ verknüpften Orakelspruchs. Delphi ist eben nicht, wie Bachmaier meint, die »Ursprungsstätte der Humanitätsidee«, und deshalb kann Medeas Entschluß, nach Delphi zu gehen und sich dort den Priestern zu stellen, nicht bedeuten, daß sie »alles Wirken und Handeln der apollinischen Gottheit, d.h. der Verpflichtung zur Humanität« unterstellt (Helmut Bachmaier: Grillparzers Geschichtsauffassung. In: »Stichwort Grillparzer«. Hrsg. v. Hilde Haider-Pregler u. Evelyn Deutsch-Schreiner. Wien / Köln / Weimar 1994, S. 87–96, hier S. 91). Daß es im Hinblick auf dieses Bedeutungsmerkmal durchaus berechtigt ist, ein- und denselben Gattungsbegriff sowohl für die Tragödien der Griechen als auch für die Tragödien Shakespeares und die daran jeweils anknüpfenden Tragödientraditionen zu verwenden, wird in Teilen der Forschung hervorgehoben; vgl. zusammenfassend Hans-Dieter Gelfert: Die Tragödie. Theorie und Geschichte. Göttingen 1995, S. 24ff. u. öfter; Timothy J. Reiss: Tragedy. In: The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hrsg. v. Alex Preminger [u.a.]. Princeton, NJ 1993, S. 1296–1302, bes. S. 1299.

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dientheoretische Aufzeichnungen und die damals zirkulierenden Tragödientheorien dies nahelegen würden: Grillparzers Aufzeichnungen zufolge besteht das Tragische darin, »daß der Mensch das Nichtige des Irdischen erkennt«, und in der Vernichtung der »Störung [...] des ewigen Rechts«. Medeas Entschluß zum Selbstopfer gälte, so gesehen, der »Verherrlichung des Rechts, die [...] glänzend sich herabsenken [wird] auf die stillzitternden Kreise des aufgeregten Gemüts.«166 Schopenhauerisch gesehen, ginge die von Medea versprochene Erlösung aus der ›Verneinung des Willens zum Leben‹ hervor, dessen egoistische Verirrung und Verblendung der Raub des Vlieses symbolisieren würde; der scheinbar schicksalhafte Konflikt zwischen Griechen und Barbaren und das von ihm bewirkte schwere Leid wären als ›Erscheinungen‹ des »Widerstreit[s] des Willens mit sich selbst« zu deuten, und in Medeas letzten Worten würde sich eine die Erscheinungen und ihre Form, das »principium individuationis«, durchschauende Erkenntnis bezeugen, die als »Erkenntniß des Wesens der Welt, als Quietiv des Willens wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst« – eine Resignation, durch die sich nach Schopenhauer die »Edelsten« der tragischen Heldinnen und Helden auszeichnen.167 Und im Lichte von Hegels dialektischer Tragödientheorie wäre das Ende der Trilogie ein Beispiel für die tragische »Versöhnung« durch Aufhebung der »einseitige[n] Besonderheit« der handelnden Individuen zu verstehen – eine Aufhebung, die szenisch mit dem »Untergange« der einseitigen Individualität erfolge, aus dem »das ewig

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Grillparzer: HKA, I. Abt., Bd. 14, S. 31f. (aus einer mehrseitigen, offenbar 1820 entstandenen Aufzeichnung). Im Sinne dieses Tragödienkonzepts, das der Hegelschen Tragödientheorie verwandter ist, als es Grillparzers bekanntlich große Aversion gegen die Hegelschen Systematisierungen erwarten läßt, schreibt Schaum über den Schluß der Trilogie: »Das Letzte dieses Geschehens liegt [...] in der ›Verleiblichung‹ eines universalen ›Rechts‹, das über alles menschliche Geschehen hinaus unabwendbar zur Wirkung gelangt. Daher offenbart sich selbst in der unbedingten, vom einzelnen Willen nicht mehr lenkbaren ›Vergeltung‹ die Gültigkeit und Wahrheit dieses höheren Sinnzusammenhangs« (Schaum: Gillparzer-Studien, S. 169). Im Lichte der obigen Textanalyse erweist sich diese Deutung als nicht tragfähig. Zur Kritik am Eindeutigkeit postulierenden Verständnis des Schlusses der Trilogie vgl. auch Wagner: An Analysis of Franz Grillparzer’s Dramas, S. 101ff.; zur Nichtübereinstimmung des Schlusses mit Grillparzers tragödientheoretischen Aufzeichnungen vgl. Yates: Grillparzer, S. 95f. Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 5 Bde. Stuttgart / Frankfurt/M. 21968. Bd. 1, S. 353f. (Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. Drittes Buch, § 51).

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Substantielle in versöhnender Weise siegend hervorgeh[e]«.168 Im Lichte der neueren Tragödientheorien, die in der vorliegenden Studie herangezogen wurden, und im Lichte der Ergebnisse, zu denen die Analyse des Textes der Trilogie geführt hat, erweisen sich diese beiden Varianten der philosophischen Tragödientheorie und auch Grillparzers tragödientheoretische Aufzeichnungen als Versuche, die für die Gattung konstitutive Ambiguität durch die einseitige Hervorhebung und metaphysische Überhöhung der jeweiligen pathetischen Tragödienschlüsse zu verdrängen. Wie indes deutlich geworden ist, führt der Schluß von Grillparzers Trilogie nur auf der Ebene der Handlungssequenz und ihrer Kausalität die Aussicht auf eine Lösung des Konflikts oder den Schein einer Lösung herbei. Und selbst der dem Anschein nach so versöhnliche Schluß von Goethes neuhumanistischem ›Schauspiel‹ verdeckt nur die Paradoxien der ›griechischen‹ Humanität und ihre Unauflösbarkeit. In Grillparzers Trilogie dienen die Strukturmerkmale der Gattung Tragödie dazu, diese Paradoxien offenzulegen und in szenische Realität zu überführen, wie die vorangehende Analyse zeigen sollte.169

168 169

Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 15, S. 524, 527 (Vorlesungen über die Ästhetik III). Folglich stellt, so gesehen, die relative Offenheit der Schlüsse von Goethes ›Schauspiel‹ und Grillparzers Trilogie die Geschlossenheit der zitierten philosophischen Tragödienmodelle (auch des Grillparzerschen) in Frage. Zur Infragestellung insbesondere der schopenhauerischen Perspektive bei Grillparzer vgl. auch Corti: The Myth of Medea, S. 175: »Presenting a protagonist condemned to live in a world devoid of apparent divinity or meaning who nevertheless regards herself as a victim of destiny, Grillparzer questions the Schopenhauerian structure of his drama as surely as the Euripidean model deconstructs the tenets of Platonic idealism. [...] Medea’s articulation of cosmic despair is so inconsistent with the petty machinations that have ground her down, and her troubles are so much a function of communal folly that, in the end, she seems never more clearly the product of poisonous pedagogy than when she intones the wisdom of the ages.« Diese Deutung ist freilich insofern zu nuancieren, als in Schopenhauers Tragödientheorie das »Schicksal« nichts anderes ist als die Personifikation von »Zufall und Irrtum«, die als Manifestationen des »Widerstreit[s] des Willens mit sich selbst« zu den Faktoren des tragischen »Leiden[s]« zählen (Schopenhauer: Sämtliche Werke. Bd. 1, S. 353). Cortis im übrigen zutreffende Bemerkung ist auf das für die Gattung konstitutive Strukturmerkmal der Ambiguität zu beziehen.

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6.

Rückblick und Ausblick

Blickt man von den Resultaten, zu denen die Analyse des Goetheschen ›Schauspiels‹ und der Grillparzerschen Trilogie geführt hat, auf die eingangs formulierten drei Thesen zur kontrapunktischen Beziehung zwischen beiden Dichtungen zurück, so zeigt sich, daß beide voneinander deutlich verschiedene, aber einander ergänzende Ergebnisse einer Art von Mythenbearbeitung sind, die man als mythologische Dramaturgie des Barbarischen bezeichnen kann. Diese beginnt mit der ›Erfindung des Barbaren‹ (Hall) in der griechischen Tragödie: Die wertende Opposition des Hellenischen und Barbarischen wird in den heroischen Mythos projiziert, so daß die mythischen Fremden fortan als Barbaren erscheinen. Die epochalen Leistungen der Dramaturgie des Barbarischen sind diese ›Erfindung‹ und die neuzeitlichen Auseinandersetzungen mit ihr in der Tragödie der französischen Klassik (Corneille, Racine), im Drama – dem ›Schauspiel‹ oder der Tragödie – der Goethezeit (Klinger, Goethe, Kleist, der frühe Grillparzer) und im Drama der klassischen Moderne (Jahnn, Hauptmann, Anouilh u.a.).1 Die vorliegende Studie gilt also einem Teil des Beitrags, den die Goethezeit zur Geschichte der ›klassisch‹-mythologischen Dramaturgie des Barbarischen geleistet hat. Der Aufbau der Studie wird von der Einsicht bestimmt, daß die Geschichte der Dramaturgie des Barbarischen ihr eigenes Profil gewinnt, wenn man sie auf die historische Semantik des Barbarischen – seine Begriffsgeschichte – bezieht. Denn diese wird in jener nicht abgebildet, sondern reflektiert, kommentiert und szenisch realisiert, entsprechend den Möglichkeiten und Gesetzen der Dramengattungen – vor allem der Tragödie –, in denen sich die Dramaturgie des Barbarischen verwirklicht. 1

Von der schon bei Grillparzer deutlichen Vermischung der ›klassischen‹ neuzeitlichen Dramaturgie des Barbarischen mit der ›romantischen‹, von Shakespeare ausgehenden (Maßstäbe setzten neben King Lear vor allem Othello und The Tempest), mußte in der vorliegenden Untersuchung, in der es um die Beziehung zwischen Goethes ›Schauspiel‹ und Grillparzers Trilogie ging, weitgehend abgesehen werden; s. auch oben, Kap. 5.4.4, S. 237ff., die Bemerkungen zur letzten Szene der Trilogie.

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Die Beziehung zwischen Semantik und Dramaturgie des Barbarischen ist also wechselseitig. Im klassischen Griechenland wird die Semantik des Barbarischen sogar maßgeblich von der Tragödie bestimmt. Von Anfang an ist sie dadurch gekennzeichnet, daß sich die Anteile, die dichterische Fiktion, ethnographische Beobachtung, Rhetorik und theoretische Reflexion an ihr haben, nicht deutlich voneinander unterscheiden lassen. Und ihr ästhetisches Weiterleben in den neuzeitlichen Transformationen und Adaptationen der griechischen Tragödie bleibt mit ihrer Verwendung in außerästhetischen Kontexten vernetzt. Eine von der Antike bis zur Gegenwart reichende Begriffsgeschichte des Barbarischen gibt es noch nicht. Die vorliegende Studie konnte sich jedoch auf substantielle Forschungen zur antiken Begriffsgeschichte stützen und – im Hinblick auf Goethes und Grillparzers Dramaturgie des Barbarischen – einige Grundzüge des weiteren Verlaufs der Begriffsgeschichte bis ins 19. Jahrhundert nachzeichnen. Dabei trat nicht nur die erstaunliche semantische Kontinuität des Begriffs zutage – bis heute hat er die im 5. Jahrhundert v. Chr. aufkommenden Bedeutungen ›menschliche und göttliche Ordnung verachtend‹, ›wild‹, ›grausam‹ und ›unfrei‹ bewahrt –, sondern auch seine im Wandel der Zeiten identische Funktion der Ausschließung: Wer fremde Ethnien mit diesem herabsetzenden Begriff kennzeichnet, schließt sie aus dem eigenen Lebensbereich aus, um ihre Beherrschung, zwangsweise Bekehrung, Ausbeutung oder gar Vernichtung zu rechtfertigen. Die ausschließende Instanz gleicht sich also tendenziell ihrem eigenen Bild von denen an, die sie von sich ausschließt – eine Dynamik der Verkehrung und Verstrickung, die in der Funktion der Ausschließung angelegt ist und die sich schon bei Euripides szenisch verwirklicht. Die Funktion der Ausschließung, die der Begriff des Barbarischen als Kennzeichnung fremder Ethnien hat, äußert sich auch darin, daß er nur einseitig verwendbar ist, d.h. den von ihm gekennzeichneten Fremden nicht zur bejahenden Selbstbezeichnung dienen kann; die mit seiner Verwendung gegebene Argumentationsstruktur ist also sowohl antithetisch als auch ›asymmetrisch‹ (Koselleck). Diese Struktur erhält sich in den einander ablösenden oder überlagernden Begriffspaaren ›Hellene–Barbar‹, ›Christ– Heide/Barbar‹ und ›Mensch–Unmensch/Barbar‹. So bleibt der Begriff des Barbarischen gebunden an jene antithetische Einteilung der Menschheit in ›wir‹ und ›die anderen‹, die, wie die postkoloniale Literaturkritik betont, für das kulturelle Selbstverständnis und die Politik Europas und des Westens von weitreichender Bedeutung war und es bis heute ist. Aus der Sicht dieser Kritik ist die mit dem Begriff des Barbarischen gegebene Ar246

gumentationsstruktur eine ›structure of attitude and reference‹ (Said), der eine Tendenz zur wertenden Raumeinteilung innewohnt und die sich daher auch als ›kulturelle Topographie‹ oder ›Geographie‹ beschreiben läßt. In solcher Weise berührt sich die Begriffsgeschichte des Barbarischen mit der Geschichte des westlichen ›Diskurses‹ über nichtwestliche, insbesondere außereuropäische Ethnien und ihre Kulturen. Besonders folgenreich war die neuzeitliche ethnographische Anwendung des Barbarenbegriffs, die mit der überseeischen Expansion Europas einherging, und die Auswertung der davon bestimmten Kenntnisse in Wissensbereichen wie Ethnologie, Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Ästhetik, Mythostheorie und Rassenkunde; der Begriff dient in diesen Kontexten dazu, den fremden Ethnien, auf die er angewandt wird, die Zugehörigkeit zur Menschheit abzusprechen. Die neuzeitliche ethnographische Semantik des Barbarischen wirft also die Frage auf, wo und wie die Grenzen der Zugehörigkeit zur Menschheit als ›universaler Bezugsgruppe‹ (Koselleck) zu ziehen sind – eine Frage, die von der mythologischen Dramaturgie des Barbarischen aufgegriffen wird. Zu den Voraussetzungen dieser Dramaturgie zählt somit die ethnographische Wiederverwendung des Barbarenbegriffs nicht weniger als die klassizistische imitatio der griechischen Tragödie (die ja bereits, wofern in ihr von Barbaren die Rede ist oder Barbaren auftreten, mit der Ethnographie und Historiographie ihrer Zeit vernetzt ist). Indes weist Goethes Dramaturgie des Barbarischen auf den ersten Blick keine Beziehung zur ethnographischen Semantik des Barbarischen auf. Diese scheint sich hier ganz in der neuhumanistischen Vorstellung vom Barbarischen als Mangel an Bildung zur Humanität und vom Griechischen als Vollendung solcher Bildung aufgelöst zu haben. Die Funktion der Ausschließung ist jedoch beiden Semantiken, der ethnographischen und der neuhumanistischen, gemeinsam: Glaubt man Iphigenie, dann trennen Welten das ›Land der Griechen‹ vom ›fremden‹ Land der barbarischen Taurer. Dieser antithetischen kulturellen Geographie entsprechend muß die Griechin Iphigenie den Heiratsantrag, den ihr Thoas, der Barbar, macht, ablehnen. Die Länder sind einander jedoch weniger fremd, als ihre wertende Entgegensetzung glauben macht. Die ausführlich rekapitulierte Chronik des Atridengeschlechts führt vor Augen, daß die Griechen und die Mythen von ihnen tief in die Barbarei verstrickt sind, die sie in der Fremde verorten. Aus solcher Verstrickung sollen die Griechen sich nun aber befreien; nur wenn dies gelingt, kann das mythische Bild von ihnen zum Bild des Universal-Menschlichen werden. Daß es gelingt, ist das Ziel von Goethes Dramaturgie des Barbarischen. 247

Iphigenie auf Tauris ist, so gesehen, der Versuch, einen herausragenden griechischen Mythos ganz dem neuhumanistischen Idealbild des Griechentums anzugleichen – ein Versuch, der in der Geschichte der Dramaturgie des Barbarischen einmalig ist. Im Zuge dieser Angleichung soll es möglich werden, die tragische Bearbeitung des Mythos ins versöhnliche ›Schauspiel‹ zu überführen. Der Iphigenie-Mythos erzählt jedoch von Menschenopfern, von einer grausamen kultischen Praxis also, die schon die Euripideische Iphigeneia vergeblich als typisch barbarisch und ungriechisch abzutun versucht. In den Widersprüchen, in die sie sich dabei verwickelt, verbirgt sich ein kultureller Konflikt zwischen dem Mythos als einer Denk- und Lebensform, die von kultischer Praxis nicht zu trennen ist, und Werten, die nichtmythisch – anthropozentrisch, politisch, ethnozentrisch, später auch humanistisch – begründet sind. Bei Goethe orientiert sich der Versuch, diesen Konflikt zu bewältigen, an der Einsicht, daß die angestrebte Lösung des griechischen Mythos von der barbarischen Gewalt, zu der er doch gehört, nicht wiederum barbarisch-gewaltsam sein darf, wie sie es bei Racine – es sei an die Versklavung und Opferung der ›Ausländerin‹ Ériphile erinnert – und in den aufklärerischen Iphigenie-Tragödien – Thoas muß sterben – durchaus noch ist. Die Lösung darf nicht mehr von jener paradoxen Dynamik der Verkehrung des ›Griechisch‹-Humanen in das ›Barbarisch‹-Inhumane, das ihm fortan eindeutig entgegensetzt sein soll, eingeholt werden. Die Griechen dürfen deshalb die Barbaren nicht einmal betrügen; die Intrige, die bei Euripides noch gänzlich unproblematisch ist, wird eingestanden und annulliert. Nur so kann aus dem alten, schrecklichen Mythos der neue von der zugleich heroischen und schönen, ja ›heiligen‹ Jungfrau Iphigenie hervorgehen. Goethes Iphigenie beinhaltet folglich eine utopische Gegensemantik zur ethnographischen Semantik des Barbarischen. Die Funktion der Ausschließung, die dieser eigen ist, soll auf der Bühne außer Kraft gesetzt werden. Das Mittel dazu ist das Gespräch, das auf die Verwirklichung der universalen Humanität zielt. Es soll die Heilung des vertriebenen Muttermörders Orest von den Folgen seines barbarischen Tuns wie auch die Bildung der taurischen Barbaren zur griechischen Humanität bewirken. Daß die Verwirklichung der universalen Humanität am Ende ausbleibt, weil sich auch in der humanistischen Reduktion des Barbarischen auf das Inhumane die Funktion der Ausschließung verbirgt und sogar als Zwang geltend macht und weil Spuren der grausamen kultischen Praxis auch im neuen, humanisierten Mythos zu finden sind, wird von dem scheinbar versöhnlich-›konzilianten‹ Dramenschluß 248

verdeckt.2 Es wird aber von der Kontrapunktik der Dialoge und Monologe offengelegt und mit dem abrupten Wechsel, als der sich Orests ›Heilung‹ erweist, wie auch mit der Trennung der Griechen von den Barbaren szenisch realisiert. Somit droht bis zum Schluß die Dynamik der paradoxen Verkehrung und Verstrickung des ›Griechisch‹-Humanen ins ›Barbarisch‹-Inhumane eine gewaltsame Veränderung der Situation herbeizuführen; es droht also auch jederzeit das neuhumanistische ›Schauspiel‹ in die alte Tragödie umzuschlagen, denn sie ist es, die dank ihrer konstanten Strukturmerkmale der Mehrdeutigkeit und des paradoxen Handlungsverlaufs die Form für die szenische Realisierung der Verkehrungs- und Verstrickungsdynamik bereitstellt. Daß diese Realisierung ausbleibt, verdankt sich der Verinnerlichung, die ein Strukturmerkmal des ›Schauspiels‹ ist, wie bereits Schiller erkannte.3 Zwar benötigt auch der neue Mythos der reinen, heiligen Humanität, deren Bild das Griechentum sein soll, das Opfer, das ihn beglaubigt, so wie er dieses Opfer begründet. Doch das Opfer erfolgt nun in verinnerlichter Form: als freiwilliger Verzicht der Barbaren auf die Lebensgemeinschaft mit den Griechen. Im ›Schauspiel‹ verbirgt sich also die Tragödie. Dafür schärft Grillparzers Tragödientrilogie den Blick. Auf die kontrapunktische Beziehung zwischen beiden Dichtungen wird man aufmerksam, wenn man die Kontrapunktik der Dialoge und Monologe beachtet, die in Goethes ›Schauspiel‹ das Barbarische umkreisen. So bilden Orests Anspielung auf Medeas Rache und Thoas’ Anspielung auf Jasons Raub des Goldenen Vlieses eine Gegenstimme zur Stimme des Humanismus, indem sie an herausragende Ereignisse jener mythologischen Geschichte erinnern, die Grillparzer dramatisiert. Im Zuge dieser Dramatisierung wird die beschönigende Verdeckung der Verkehrungs- und Verstrickungsdynamik, die von der Semantik des Barbarischen ausgeht, rückgängig gemacht: Was im ›Schauspiel‹ nur als vergangenes Geschehen evoziert und als Gefahr antizipiert wird, konkretisiert sich nun raumzeitlich in einem überaus gewaltsamen Büh-

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3

Vgl. Goethe an Zelter, 31. Oktober 1831: »Was die Tragödie betrifft, ist es ein kitzlicher Punct. Ich bin nicht zum tragischen Dichter geboren, da meine Natur conciliant ist; daher kann der reintragische Fall mich nicht interessiren, welcher eigentlich von Haus aus unversöhnlich sein muß« (Goethe: WA, IV. Abt., Bd. 49, S. 128). Dazu Peter-André Alt: Agon und Autonomie. Zu den Tragödientheorien Goethes und Schillers. In: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 117–136. Zu den einschlägigen Äußerungen Schillers vgl. Benedikt Jeßing: Schillers Rezeption von Goethes »Iphigenie«. In: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 146–161.

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nengeschehen, dessen drei Teile die tragischen Höhe- und Wendepunkte einer sich über Jahre erstreckenden Geschichte sind. Betrug, Raub, Verrat, Meuchelmord – diese und andere Formen der Barbarei, an der die Griechen nicht weniger teilhaben als die Barbaren, werden nun nicht mehr nur verbal beschworen, sondern verbal und physisch, entsprechend den detaillierten Bühnenanweisungen, realisiert.4 Die szenische Realisierung fördert das ethnozentrische Substrat des neuhumanistisch verklärten Griechentums zutage, und so gibt sie mittelbar zu verstehen, daß die humanistische Reduktion des Barbarischen auf das Inhumane und ›Wilde‹ mit der zeitgenössischen ethnographischen Semantik des Barbarischen vernetzt ist. Zwar ist auch in Grillparzers Dramaturgie des Barbarischen die poetische Semantik des Barbarischen verglichen mit der ethnographischen abstrakt: Während in der Ethnographie (z.B. bei Lafitau) die Übertragung des Bildes der mythischen Barbaren auf Ethnien der überseeischen Kolonien durchaus üblich war, respektiert die kulturelle Topographie der Trilogie die Grenzen der mythischen Welt; als barbarisch werden, wie es in der antiken mythologischen Dramaturgie und ihren klassizistischen Transformationen üblich war, allein mythische Figuren bezeichnet, die einem nichtgriechischen Volk angehören. Aber dank dieser relativen Abstraktheit kann die Trilogie an die antike Tiefenschicht des ethnographischen Barbarenbegriffs erinnern und zu bedenken geben, daß dem Eurozentrismus, der den Hellenozentrismus längst ersetzt hat, eine antikisierende Sehweise innewohnt, die ihn und seine kolonialistischen Auswüchse zu legitimieren scheint. In der Trilogie wird also das mythisierende Idealbild von Griechenland als dem Ursprungsland der Humanität – ein Idealbild, zu der Goethes Iphigenie wesentlich beitrug – mit den Ausgrenzungen und Ausschließungen konfrontiert, die es perpetuiert, weil es aus der Hellenen-BarbarenAntithese hervorgegangen ist. Die Trilogie vermittelt diese Paradoxie des klassizistischen Humanismus und seiner neuhumanistischen Variante als Tragödie: Die Begegnung der einander fremden Welten, deren Territorien

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Zum zeitgeschichtlichen, spezifisch österreichischen Kontext von Grillparzers auf sinnliche Vergegenwärtigung zielender Dramaturgie vgl. z.B. Wolfgang F. Bender: »Das Drama lügt eine Gegenwart«. Versinnlichung in Franz Grillparzers Trilogie »Das goldene Vließ«. In: »Stichwort Grillparzer«. Hrsg. v. Hilde Haider-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner. Wien / Köln / Weimar 1994, S. 97–106, bes. S. 104ff. Über dem österreichischen Kontext dürfen freilich die für Grillparzer nicht minder wichtigen Modelle der spanischen und der Shakespeareschen Tragödie außer acht gelassen werden.

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in Wahrheit ›hybrid‹ (Said) sind und sich längst überlappt haben, gerät zum tragischen – zugleich notwendigen und unlösbaren – Konflikt, weil die Antithese des Griechischen und Barbarischen, der nun die kolchische Antithese des Eigenen und ›Griechisch‹-Fremden symmetrisch entspricht, das Streben nach brüderlicher oder liebender Verbindung im Zeichen der Bildung zum humanen Ganzen in Haß verkehrt; die Figuren werden von diesem Konflikt zerrissen, und sie werden sich selbst und den anderen ›doppeldeutig‹. Tragische Ambiguität kennzeichnet auch ihre Sprache und ihre Handlungen: Die Bitte um Schutz gerät zum kolonialistischen Übergriff, die liebende Werbung zum Raub, die Humanisierung zur Bestialisierung usw. Auf der Ebene der dramatischen Handlungssequenz ruft der Konflikt dementsprechend eine Serie von Peripetien hervor, und er unterminiert die oppositionellen Wertordnungen und Denkweisen, aus denen er hervorgeht, so daß die Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren, Zivilisation und Gewalt, dem Eigenen und dem Fremden immer unkenntlicher werden.5 Medea entgeht dies nicht, wohl aber den Herrschern – den Griechen Phryxus, Jason und Kreon wie dem Barbaren Aietes –, die im Gegensatz zu Medea auch die Komplexität der Symbolik des Vließes verkennen. Dieses verweist wie das Standbild des Gottes, der es trägt, auf das Gemeinsame und Synkretistische der griechischen und der kolchischen Religion. Doch unter dem Zwang zur wertenden Antithese des Eigenen und des Fremden erheben die Herrscher beider Völker Anspruch auf seinen ausschließlichen Besitz. Den dunklen Orakelspruch, der davor warnt, indem er ›Sieg‹ und ›Rache‹ miteinander verbindet, deuten sie verengend, so daß er der Gewalt, mit der sie ihren jeweiligen Besitzanspruch durchsetzen wollen, den Schein des Gottgewollten verleiht.

5

Hingegen bejaht Kaiser Rudolf in Grillparzers historischer Tragödie Ein Bruderzwist in Habsburg, deren Handschrift 1848 abgeschlossen wurde, die mit dem Barbarenbegriff gegebene asymmetrisch-oppositionelle Wertordnung durchaus, wenngleich er als barbarisch das Niedrige und Erniedrigende im eigenen Volk und nicht das ethnisch Fremde bezeichnet: »Ich sage dir: nicht Szythen und Chazaren, Die einst den Glanz getilgt der alten Welt, Bedrohen unsre Zeit, nicht fremde Völker: Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar, Der, wenn erst ohne Zügel, alles Große, Die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche Herabstürzt von der Höhe, die sie schützt, Zur Oberfläche eigener Gemeinheit, Bis alles gleich, ei ja, weil alles niedrig.« (Grillparzer: FA, Bd. 3, S. 424 [V. 1266– 1274])

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In dem Zwang zur asymmetrischen Entgegensetzung, die das verbale und nichtverbale Verhalten der Griechen wie der Barbaren bestimmt, so daß der Eindruck einer Symmetrie der Asymmetrien entsteht, verbirgt sich eine Komik, die den Zwang brechen könnte, würde sie von den Figuren erfaßt.6 Dies geschieht indes an keiner Stelle, im Gegenteil: Der Zwang bewirkt einen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, ›Sieg‹ und ›Rache‹. Er äußert sich auch innerhalb jeder der beiden Welten, wie schon die Schnitte durch den Bühnenraum, die den Regeln der klassizistischen Dramaturgie zuwiderlaufen, vor Augen führen, und er provoziert Menschenopfer, die sämtlich auf die Wiederherstellung der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden zielen. Bei Goethe sollen, wie erwähnt, der Zwang zum Menschenopfer und seine mythische Rechtfertigung mit dem Mittel der Bildung der Barbaren zur zugleich ›griechischen‹ und universalen Humanität überwunden werden. Die strukturell-funktionale Beziehung zwischen Mythos und kultischer Praxis scheint in den Dienst dieses Ziels zu treten. Daß in Wahrheit auch das verinnerlichte Opfer, das der Barbar der neuen Göttin Iphigenie zu bringen hat, dem Zwang zur Ausschließung des Barbarischen aus dem Griechischen gehorcht und somit die Universalität der ›griechischen‹ Humanität Lügen straft, wird verdeckt. In der Trilogie wird dies kontrapunktisch aufgedeckt; der Humanismus wird gleichsam entblößt. Denn hier gleichen sich die Mythen der Griechen denen der Kolcher an, indem sie wieder so ethnozentrisch werden, wie sie es in der griechischen Tragödie sind (dieser ist ja die Vorstellung von der Menschheit als universaler Bezugsgruppe fremd). Sie dienen vor allem der Identitätsbildung durch Ausschließung und Beherrschung, Beraubung, ja Vernichtung der Ausgeschlossenen; die strukturell-funktionale Beziehung zwischen Mythos und kultischer Praxis tritt offen und unbeschönigt in den Dienst der wertenden Entgegensetzung des ›Griechisch‹-Eigenen und des ›Barbarisch‹-Fremden. Wie zerbrechlich, ja heuchlerisch das Programm der Bildung der Barbaren zur ›griechischen‹ Humanität ist, zeigt das Scheitern von Medeas Bemühung um Assimilation.

6

Vgl. die komisch-entlarvende Behandlung der Barbarenklischees in Grillparzers Lustspiel Weh dem, der lügt! (in: Grillparzer: FA, Bd. 2, S. 195–273). Hier geht es um den Gegensatz zwischen dem wilden, heidnischen Wesen der Germanen und dem christlichen und (auch in kulinarischer Hinsicht) gesitteten der ›Franken‹, doch am Ende heiraten der ›fränkische‹ Küchenjunge und die germanische Grafentochter; vgl. bes. V. 281ff. (S. 206), 465ff. (S. 214), 666ff. (S. 222), 767f. (S. 226), 1218 (S. 246), 1320 (S. 250), 1602 (S. 264).

252

Die auf die Mythen bezogenen rituellen Opfer haben folglich bei den Griechen wie bei den Barbaren ebenfalls die Aufgabe der Identitätsbildung durch Ausschließung (es sei an Medeas Tieropfer zu Beginn des ersten Teils der Trilogie und an Kreons und Kreusas Gang zum Opfer zu Beginn des dritten Teils erinnert). Und dieselbe Aufgabe hat auch das Menschenopfer, das in den Iphigenie-Dramen von Euripides bis Goethe der Inbegriff des Barbarischen ist. Anders als in diesen findet es in der Trilogie nicht im Rahmen von schon etablierten Ritualen statt, sondern in Situationen, die, folgt man Girard, geeignet sind, Mythen und Rituale zu schaffen. Es sind Krisen, in denen der Bestand der jeweils ›eigenen‹ kulturell-sozialen Ordnung oder der Zugehörigkeit zu ihr auf dem Spiel steht, weil die Differenzen, auf denen die Ordnung basiert, zu verschwinden drohen; die Person, die geopfert wird, dient also als Sündenbock: Aietes verflucht und verstößt seine eigene Tochter Medea, weil ihre Verbindung mit dem Griechen Jason die (längst brüchige) Integrität und Identität des kolchischen Gemeinwesens bedroht; Kreon und Jason verfluchen und verstoßen Medea, weil ein Bürgerkrieg droht und weil Jasons ›reines‹ Griechentum durch die Ehe mit Kreusa wiederhergestellt werden soll; Medea tötet ihre und Jasons Kinder nicht nur, um sich an ihnen dafür zu rächen, daß sie ihre eigene Mutter verraten haben, sondern auch, um das Hybride, das sie verkörpern, zu vernichten und so ihr eigenes Kolchertum vom ›Fremden‹ zu reinigen; und am Ende verstoßen Kreon und der Landmann den Griechen Jason als einen ›Befleckten‹. In allen Fällen führt die Krise auf den illusionären Ausweg der ›heiligen‹ Gewalt. Bei Goethe hat Iphigenie diesen primitiven Sündenbock-Mechanismus, der auch in dem taurischen Brauch, der Göttin Diana Menschen zu opfern, wirksam ist – geopfert werden ja die ›Fremden‹ –, zumindest vorläufig außer Kraft gesetzt. Bei Grillparzer stellt er sich unter dem Zwang zur asymmetrischen, wertenden Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden immer wieder ein. Iphigenies taurische Aufklärung, ihre Reinigung des Mythos vom Barbarischen, wirkt, so gesehen, fragwürdig, zumal jener Zwang ja auch aus ihrem eigenen Handeln und dem ihres Bruders Orest und seines Freundes Pylades nicht verschwunden ist. Nur ist das Opfer, das er herbeiführt, dort ein verinnerlichtes. In der Trilogie wird diese beschönigende Verinnerlichung rückgängig gemacht. So gesehen, ist die Trilogie der griechischen Tragödie näher als das neuhumanistische ›Schauspiel‹. Zu dieser Nähe trägt auch Medeas Entschluß zum Selbstopfer bei, der an die problematischen Ausgänge der ›aulischen‹ und der ›taurischen‹ Iphigeneia erinnert: Wie Iphigeneias Einwilligung in ihre Opferung und wie Athenes 253

Kult-Aitiologie hat Medeas Entschluß die Funktion, die subversive Bloßstellung des Unheiligen der angeblich heiligen Gewalt zu beenden. So wird in Grillparzers Tragödie die beschönigende Verinnerlichung der funktionalen Beziehung zwischen Mythos und kultischer Praxis rückgängig gemacht. Das ist ein weiterer Aspekt der Entblößung des Humanismus und nicht etwa Teil einer ›Wiedergeburt der Tragödie‹, die sich der Abwendung von den »Schwächlichkeitsdoctrinen« des »Optimismus« und der unerschrockenen Hinwendung zum »Gesammtbilde der Welt« »mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge« verdanken würde.7 Denn Grillparzers Tragödientrilogie ist keine »Kunst des metaphysischen Trostes«, die einen Ausweg böte aus der dekadenten »sokratische[n] Cultur« und aus deren humanistischer Leugnung der Notwendigkeit eines »barbarischen Sclavenstand[es]«, ohne den diese Kultur doch auf Dauer gar nicht existieren könnte.8 Die Trilogie bietet keinen Ausweg, sondern sie weist szenisch auf die Ausweglosigkeit des paradoxen Ineinanders von Humanismus und Barbarei und der davon bedingten Konflikte hin: Der abendländischen Kultur der universalen ›Humanität‹ gelten jene als auszuschließende Barbaren, deren sie zugleich als Sklaven bedarf. Und nach wie vor gelten sie als Sklaven ›von Natur aus‹ (Aristoteles): Grillparzers Trilogie macht darauf aufmerksam, daß in der modernen Vorstellung von der Ungleichwertigkeit der Menschenrassen die antike Hellenen-BarbarenAntithese und ihre neuzeitlichen Aktualisierungen weiterwirken. Den historischen Kontext dieser Entblößung des Humanismus im Medium der Tragödie bildet die Konfrontation der Kultur Europas mit den Kulturen der ›Eingeborenen‹ – eine Konfrontation, die sich im Zuge der Ausbildung des internationalen Kolonialsystems verschärfte.9 Dabei

7

8 9

Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 15 Bde. München 1980. Bd. 1, S. 119, 118, 119. (Die Geburt der Tragödie, 18). Auch das ist eine Variante der Tragödienmetaphysik, die der für die Gattung konstitutiven Ambiguität nicht gerecht wird; s. dazu oben, Kap. 5.4.4, S. 243f. Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 119, 117 (Die Geburt der Tragödie, 18). Vgl. dazu die bereits zitierte Monographie von Urs Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹; ferner Brian M. Fagan: Clash of Cultures. Walnut Creek, CA 21998. Das Goldene Vließ darf, wie hier nochmals hervorzuheben ist, nicht ohne weiteres auf bestimmte historische Ausprägungen des Kolonialismus oder eine spektakuläre, quasi imperialistische Expedition wie Bonapartes Ägypten-Feldzug (zu diesem vgl. Said: Culture and Imperialism, S. 36ff.; Said: Orientalism, S. 79ff.) bezogen werden. Denn die klassische Mythologie ist ein gesamteuropäisches Zeichenreservoir, dessen Verwendung in der Trilogie eine umfassende

254

führte die schon im 18. Jahrhundert aufkommende Rassenideologie jene Paradoxie des abendländischen Humanismus, ja seine Blöße vor Augen. Grillparzers Trilogie deutet, so gesehen, auf die Selbstentblößung des Humanismus voraus, die Jean-Paul Sartre fast eineinhalb Jahrhunderte später, gegen Ende des Algerienkriegs, in seinem Vorwort zu Frantz Fanons kolonialismuskritischem Werk Les damnés de la terre (1961) beobachtet. Aus Sartres Sicht führt die Gewalt, mit der die Kolonialmächte die revolutionäre Entkolonialisierung zu verhindern oder zu verzögern suchen, dazu, daß der Barbar, den wir immer noch in dem ›Eingeborenen‹ (»indigène«) der Kolonien erblicken, in den Kolonialherren selbst und in uns, den Angehörigen des Mutterlandes, lebendig und sichtbar wird.10 Mit dieser Rückkehr der Barbarei zu denen, von denen sie ausgegangen sei (Sartre verwendet u.a. das Bild des Boomerangs), entblöße sich der abendländische Humanismus selbst: Il faut affronter d’abord ce spectacle inattendu: le strip-tease de notre humanisme. Le voici tout nu, pas beau: ce n’était qu’une idéologie menteuse, l’exquise justification du pillage; ses tendresses et sa préciosité cautionnaient nos agressions.11

Dementsprechend, stellt Sartre fest, verträgt sich unser Humanismus durchaus mit rassistischer Ideologie: Quel bavardage: liberté, égalité, fraternité, amour, honneur, patrie, que saisje ? Cela ne nous empêchait pas de tenir en même temps des discours racistes, sale nègre, sale juif, sale raton. De bons esprits, libéraux et tendres – des néocolonialistes, en somme – se prétendaient choqués par cette inconséquence; erreur ou mauvaise foi: rien n’est plus conséquent, chez nous, qu’un humanisme raciste puisque l’Européen n’a pu se faire homme qu’en fabriquant des esclaves et des monstres.12

Die Paradoxie des ›rassistischen Humanismus‹ wird von Sartre also aus jener identitätsbildenden, asymmetrischen Struktur der Ausschließung hergeleitet, die auf die Griechen-Barbaren-Antithese, von der hier implizit

10

11 12

kulturhistorische und -kritische Perspektive eröffnet, wie oben dargelegt (vgl. bes. Kap. 1 und 2.3). Vgl. Jean-Paul Sartre: Préface. In: Frantz Fanon: Les damnés de la terre. Paris 2002 [1961], S. 17–36, hier S. 33f. Sartre deutet mehrfach an, daß die Begriffe »barbare« und »barbarie« eurozentrische Begriffe sind (vgl. S. 28f.). Sartre: Préface, S. 31. Vgl. das Bild des Boomerangs und andere Bilder des Kreislaufs S. 28, 34f. Sartre: Préface, S. 32. Vgl. S. 28: »Nos belles âmes sont racistes.«

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die Rede ist, zurückgeht. Sartre deutet auch an, daß diese Art der Ausschließung seit der ›Erfindung des Barbaren‹ die Tendenz zur mythisierenden Rückführung des kulturhistorisch Bedingten auf eine unbedingte Naturnotwendigkeit hat: Die europäische ›Humanität‹ schließt aus dem Bild, das sie von sich selbst vermittelt, die Sklaverei, ohne die es sie nicht gäbe, aus, indem sie die Sklaven, zu denen sie Menschen auf Grund ihrer Herkunft gemacht hat, als ›Monstren‹ (»monstres«) – ein anderes Wort für ›Barbaren‹ – darstellt, also als Sklaven ›von Natur aus‹ (Aristoteles).13 Zweifellos können Sartres Beobachtungen den Blick dafür schärfen, daß in Grillparzers Trilogie die Verstrickung und Verkehrung des ›Griechisch‹Humanen ins ›Barbarisch‹-Wilde szenisch realisiert wird. Doch die erhabene Zuversicht, mit der Sartre in der gewaltsam-revolutionären Entkolonialisierung einen Schritt zur universalen Menschwerdung erblickt, läßt sich aus Grillparzers Trilogie nicht schöpfen. Und diese vermittelt auch keine andere Lehre, denn sie ist kein Lehrstück, sondern eine Tragödie; als solche verbietet sie einseitige Schuldzuweisungen. Aus heutiger, postkolonialer Sicht kündigt sie nicht den Befreiungskampf jener unterdrückten und ausgebeuteten Völker an, deren Länder einst von Europa kolonialisiert wurden, sondern sie vermittelt die kulturpessimistische Einsicht, daß jene Funktion der Ausschließung, die das Reden und Handeln der ›Griechen‹ bestimmt, längst auf das der ›Barbaren‹ übergegriffen hat. Bei beiden soll sie die Authentizität, Überlegenheit und Reinheit der jeweils eigenen Lebenswelt, ja die Reinrassigkeit der eigenen Bevölkerung und die Unversehrtheit des eigenen Territoriums sicherstellen oder wiederherstellen – Ziele, die nur um den Preis der Beherrschung, ja Vernichtung dessen, was an der Welt der anderen fremd ist, verfolgt werden können. Die Unterdrückung verunsichernder interkultureller Fremderfahrung bewirkt indes das Gegenteil von dem, was sie bewirken soll: In beeindruckender Weise zeigt Das goldene Vließ, wie die immer schon hybriden Lebenswelten der Griechen und Kolcher, die zu Beginn noch voneinander verschieden sind,14 am Ende ununterscheidbar werden. Die Trilogie beschwört so das erschreckende Bild einer post-aufgeklärten, post-kosmopolitischen Welt herauf, in der kulturelle Differenzen gewaltsam nivelliert worden sind, weil die Angehörigen der verschiedenen Kulturen die Möglichkeit eines

13 14

Zu Aristoteles’ Theorie der Barbaren als Sklaven ›von Natur aus‹ s. oben, Kap. 2.1, S. 38. Vgl. die oben, Kap. 1, S. 6, Anm. 13, zitierte Feststellung von Waldenfels.

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vielstimmigen interkulturellen Austauschs verspielt haben.15 Einen Ausweg weist Das goldene Vließ, wie gesagt, nicht, wohl aber fordert Medeas Entschluß zum Gang nach Delphi dazu auf, ihn zu suchen.

15

Vgl. Waldenfels: Grundmotive, S. 131.

257

258

Literaturverzeichnis

(Nur die in der vorliegenden Studie zitierte Literatur wird im folgenden verzeichnet.)

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271

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Nachwort

Die vorliegende Studie ist aus einer Reihe von Vorträgen und komparatistischen Lehrveranstaltungen zu den Mythen von Iphigenie und Medea und ihren Bearbeitungen in antiken und modernen Dramen hervorgegangen. Bei der Analyse der Dramentexte drängten sich immer wieder die Fragen auf, welche Bedeutungen der Begriff des Barbarischen hat und was seine Anwendung auf fremde Völker und ihre Kulturen beinhaltete und noch heute beinhaltet – Fragen, die im Kontext der gegenwärtigen geopolitischen Konflikte zweifellos von großer Aktualität sind. Sie eröffnen zugleich eine Fülle weltliterarischer, kulturtheoretischer und historischer Perspektiven, wenn man sie ausgehend von Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris und Grillparzers Tragödientrilogie Das goldene Vließ stellt, wie im vorangehenden dargelegt werden sollte. Dank für die Gelegenheit zum Gespräch über Grundgedanken meiner Studie schulde ich meinen Genfer Studentinnen und Studenten und meinen Kolleginnen und Kollegen, vor allem Rémy Charbon, Florence Pennone, Hans-Jürgen Schrader und Thomas Stähli, ferner Helmut J. Schneider und den Mitgliedern seines Forschungskolloquiums am Germanistischen Seminar der Universität Bonn sowie den Studentinnen und Studenten der Universität Limoges, die dort im Herbst 2006 meine Vorlesung über »Figures du barbare dans la tragédie classique« besuchten. Für Anregungen, Hinweise und Kritik danke ich auch Philippe Forget, Werner Frick, Volkmar Hansen, Olaf Hildebrand, Alexander Honold, Christian Moser, Ralf Simon, Bertrand Westphal und Michael Wirth. Effiziente Hilfe bei der raschen Beschaffung von Primär- und Sekundärliteratur leistete Pascal Steenken, Bibliothekar am Département de langue et littérature allemandes der Universität Genf. In der vorliegenden Studie wurden Teile meines Artikels »Von Iphigenie zu Medea: Zur Semantik des Barbarischen bei Racine, Goethe und Grillparzer« (s. Literaturverzeichnis) verarbeitet, dabei aber ausgehend von weiterführenden Überlegungen durchgehend revidiert. Genf, im Herbst 2008

Markus Winkler 273

Namenregister

In diesem Register werden die Autorinnen und Autoren der zitierten Quellen (mit Ausnahme von Goethe und Grillparzer) und Forschungen berücksichtigt. Die Namen von Herausgeberinnen und Herausgebern sind, wofern sie allein der bibliographischen Information dienen, nicht aufgeführt.

Adelung, J. Ch. 185 Adorno, Th.W. 104, 156, 160, 162, 162–164 Aischylos 3, 23–26, 33, 76–78, 80, 83, 116–117, 128, 130, 136–137, 144, 184, 187 Alt, P.-A. 249 Angehrn, E. 116, 121 Angst, J. u. F. Hackert 96 Anouilh, J. 245 Antiphon 37–38 Apollonios von Rhodos 13, 41–42, 172, 202, 223 Aretz, S. 22, 35, 77–79, 81, 83–85, 87, 130 Aristoteles 31, 36, 38, 45, 48, 67, 83–84, 89, 92, 139, 213, 229, 254, 256 Aristophanes 151 Assmann, J. 200, 215–216 Auerbach, E. 12 Austen, J. 5 Azara, F. de 62 Bachmaier, H. 183, 198, 205, 209, 211, 219, 242 Bacon, H.H. 26 Bandet, J.-L. 190 Barnes, J. 38 Barthes, R. 67 Beccaria, C. 157 Becker, K. 105 Bender, W.F. 250

Bergson, H. 198 Bitterli, U. 47, 50, 59, 254 Blumenbach, J.F. 59 Blumenberg, H. 69, 76, 150 Bödeker, H.E. 45–47, 50 Böschenstein, R. 76, 167, 174–175, 212, 226, 228, 232 Bonnechere, P. 87 Borchmeyer, D. 104, 110, 112, 122, 138, 144, 148, 159, 161 Borst, A. 10, 22, 44–45, 58 Boulainvilliers, H. de 55 Brauckmann, M. u. A. Everwien 179, 196, 238 Braungart, W. 76, 161 Bremmer, J.N. 192 Brown, K. u. A. Stephens 104, 160 Bub, T. 179, 185, 187 Büchner, G. 68 Burkert, W. 4, 19, 73, 75–76, 81–84, 86, 93, 112–114, 116, 157, 182, 234 Byron, G.G.N., gen. Lord Byron 196 Calderón de la Barca, P. 237 Cancik-Lindemaier, H. 76 Cartledge, P.A. 25 Cassirer, E. 10, 73 Cauche, F. 52 Cavazzi da Montecuccolo, G. A. Charue-Ferrucci, J. 179, 237 Cherubini, L. 172 Cheyns, A. 91 Conrad, J. 5

52

275

Constant, B. 106 Cook, J. 13, 54 Corneille, P. 1, 12, 170–171, 210, 224–225, 230, 235–236, 245 Corti, L. 167, 244 Cramer, F. 59 Creuzer, F. 201–202 Dauge, Y.A. 41 Deiters, F.-J. 104, 148, 164 Dennis, J. 98 De Pauw, C. 52 Detel, W. 22, 27, 38, 47, 59, 189 Dihle, A. 22 Diller, H. 24, 26 Dobrizhoffer, M. 52 Droit, R.-P. 21 Dusapin, P. 167 Ebener, D. 28 Eratosthenes 40 Ersch, J.S. u. J.G. Gruber 58, 62, 178 Euripides 1–2, 4, 7, 9–11, 17–18, 22, 26–39, 43–44, 57, 65–67, 71, 74–87, 89–93, 95–96, 99–100, 104, 107–108, 110–112, 114–115, 117, 121, 123, 125–133, 139–142, 155, 158, 160, 167, 170–171, 173–175, 177–178, 188, 202, 210, 214, 221, 223–225, 230–231, 233–237, 241, 244, 246, 248, 253 Fagan, B.M. 254 Fanon, F. 255 Feix, J. 22 Ferguson, A. 53 Fink-Eitel, H. 47, 50 Fisch, J. 41, 46, 51, 64 Flashar, H. 76 Fontenelle, B. le Bouyer de 101 Forestier, G. 89, 92 Forster, G. 13, 54, 59–60 Forster, J.R. 13, 53–54, 183 Foucault, M. 19, 54–56, 95, 183 Fréret, N. 55 Freud, S. 161 Frick, W. 10, 96, 98 Fridrich, R.M. 103 Friedrich, W.H. 4, 30, 34–35, 174, 176, 221, 226 Fries, C. 148

276

Fritz, K. v. 167 Fülleborn, U. 192, 204 Fuhrmann, M. 89 Furetière, A. 88 Geißler, R. 183 Gelfert, H.-D. 242 Genette, G. 14–15 Geyer-Ryan, H. 162 Gibbon, E. 57 Girard, R. 19, 39, 73, 80–82, 86, 92–93, 115, 123, 152, 157, 221, 233–234, 239, 241, 253 Gisi, L.M. 51, 53 Glei, R. u. St. Natzel-Glei 42 Gliksohn, J.-M. 96–97 Glover, R. 172, 174, 225, 236 Gluck, Ch.W. 96, 98 Gobineau, J.-A. de 186 Goldmann, L. 91–92 Gotter, F.W. 1, 169–170, 172–173 Gottwald, H. 10 Graevenitz, G. v. 3, 51, 65, 96, 144 Graf, F. 28 Greenblatt, St. 47 Greiner, B. 136, 139, 163 Grimm, Brüder (J. u. W.) 202 Grimm, J. 202 Grumach, E. 4 Guépin, J.-P. 84 Guillard, N.-F. 98 Gutjahr, O. 117, 161 Guymond de la Touche, C. 98–99, 105, 134, 156 Häuptli, B.W. 235 Hahl, W. 76 Haider-Pregler, H. 168, 173 Hall, E. 3, 22–28, 30–31, 34–35, 38, 107, 245 Hamlin, C. 135–137, 158 Hansen, B. 74, 105 Hederich, B. 112, 176, 193, 208 Hegel, G.W.F. 52, 95–96, 139, 211, 243–244 Heine, H. 17, 61 Heininger, J. 138 Helmich, W. 12 Henkel, A. 159, 164 Herder, J.G. 59–60, 103–104, 148

Herodot 23–25, 27, 107, 142, 186, 188, 191, 217 Hesiod 27, 35 Hölderlin, F. 201 Hoffmann, P. 14 Holmberg Lübeck, M. 77, 83, 85 Homer 14, 23, 27, 31, 64 Horkheimer, M. u. Th.W. Adorno 21, 64 Hume, D. 101 Huntington, S.P. 22, 168–169 Hyginus 1, 43–44, 176 Iser, W. 5 Isokrates 39 Jahnn, H.H. 167, 186, 218, 245 Jamme, Ch. 73, 101 Jauß, H.R. 95–96, 104 Jeßing, B. 249 Johnston, S.I. 34–35 Jouan, F. 77, 83 Joyce, J. 14 Jünger, E. 49 Jüthner, J. 21–23, 25, 27, 33, 38–40 Kant, I. 56–57, 59, 67, 186 Kenkel, K. 167 Kipling, R. 5 Kjellberg, S. 77, 84–85, 158 Kleist, H. v. 86, 182–183, 245 Klinger, F.M. 1, 12, 173–174, 210, 214–215, 221, 225–226, 228, 234–237, 245 Klopstock, F.G. 138–139 Kolumbus, Ch. 47 Koselleck, R. 8–9, 20, 25, 32, 36, 38, 45, 55, 61, 100, 129, 156, 169, 246–247 Lämmle, R. u. K. Wesselmann 191 Lafitau, J.-F. 50–51, 65, 145, 250 La Grange-Chancel, J. de 97–98, 110 Lanoye, T. 167 Las Casas, B. de 47–49, 55 Latacz, J. 83 Lefèvre, E. 235 Lesky, A. 28, 34, 79, 83–85, 175 Lessing, G.E. 122 Lévi-Strauss, C. 49, 142, 199 Liewerscheidt, D. 127

Lorenz, D.C.G. 186 Losemann, V. 21–22 Lotman, J.M. 8 Lukács, G. 64 Lurker, M. 151 Luserke-Jaqui, M. 18 Mably, G.B. de 55 Major, John (Theologe) 47 Mallinger, L. 167, 172 Mann, Th. 136 Marat, J.-P. 55 Marg, W. 27 Matuschek, St. 69 Maurer, K. 154–155, 164 Mayer, H. 127 Mecklenburg, N. 65, 160, 166 Meiners, Ch. 60–61, 186 Méridier, L. 34 Mimoso-Ruiz, D. 34, 175 Montaigne, M. de 50, 55 Montesquieu 53, 58 Moritz, K.Ph. 102–103, 158 Moser, Ch. 46, 53, 182 Müller, G. 148, 152, 160 Müller, H. 167–168 Nerval, G. de 201 Neumann, G. 86, 105, 116, 139, 169–170, 181, 185, 192, 204, 208, 226, 237 Newlands, C.E. 43 Nietzsche, F. 20–21, 49, 55–56, 254 Nippel, W. 23, 36, 38, 45, 47, 50–51, 53, 57, 182, 217 Opelt, I. u. W. Speyer 21–23, 26, 31, 39–41, 142 Ovid 42–44, 171–172, 223 Paulus 41, 45 Pausanias 91 Petermann, W. 12–13, 23, 46–47, 50, 52–53, 56–57, 59–62, 64, 155, 165 Petersen, U. 4, 75 Pfister, M. 34, 67–69, 77, 123–124, 138, 227 Pindar 27–28, 41, 112 Platon 32, 36, 38, 45, 148, 204, 244 Politzer, H. 219 Port, U. 127, 136–137

277

Racine, J. 12, 88–97, 99–100, 111, 114–115, 122, 141, 171–172, 177, 241, 245, 248 Rasch, W. 104–106, 122, 127, 136, 139, 164 Reed, T.J. 4, 110 Reinhardt, H. 4, 75 Reiss, T.J. 242 Riffaud, A. 90 Robertson, W. 53 Roth, F. 57 Rotrou, J. de 88–90, 96 Said, E.W. 5–8, 11, 19, 25, 32, 44, 55–56, 66, 100, 132, 166, 169, 184, 247, 251, 254 Sartre, J.-P. 255–256 Schaum, K. 179 Scheid, J. 87 Schelling, F.W.J. 57, 61–64, 218 Schiller, F. 1, 15, 96, 101, 103, 126–127, 164, 170, 242, 249 Schlegel, A.W. 96 Schlegel, J.E. 97–98, 163 Schmidt, J. 102, 105, 136 Schmidt-Dengler, W. 175 Schneider, H.J. 68, 161, 227, 236 Schneider, M. 20, 49, 55 Schnitzler, G. 196 Schopenhauer, A. 243–244 Schrader, H.-J. 139, 145 Schweitzer, Ch.E. 148, 150–151 Segal, Ch. 34–35, 66, 234–235 Seneca, L. Annaeus 1, 43, 171, 173–174, 210, 223–224, 229–230, 234–235 Sengle, F. 18 Sepúlveda, J.G. de 47–48 Shakespeare, W. 237, 242, 245, 250 Smith, A. 53 Sophokles 26–27, 35, 77, 83, 154, 230 Stephan, I. 167, 217 Stewart, D. 53 Stiefel, R. 191 Stockert, W. 81 Stölting, E. 46

278

Strabon 40 Stranitzky, J.A.

98

Thukydides 36 Todorov, T. 22, 169 Turgot, A.R.J. 53 Turk, H. 168, 189 Tylor, E.B. 64 Uerlings, H. 162–163

105, 111, 115, 160,

Valerius Flaccus, G. 13, 42, 202 Vega, Lope de 237 Vergil 14 Vernant, J.-P. 39, 70–71, 73, 83, 118, 130, 139, 209, 234 Verweyen, Th. u. G. Witting 14 Voss, G. (G.I. Vossius) 144 Voss, J.H. 23, 75 Wagner, E. 196 Wagner, I. 161 Wagner-Hasel, B. 189 Waldenfels, B. 6, 12, 38, 46, 63, 166, 204, 256–257 Watzlawick, P., J. Beavin u. D.D. Jackson 184, 191 Wellbery, D.E. 8 Werner, H.-G. 18, 160 Wierlacher, A. 161–162 Willim, P. 110–111, 115 Wilson, D.W. 162 Wimmer, K. 201, 240 Winckelmann, J.J. 16–17, 58–61, 102–103, 150, 205 Winkler, M. 17, 61–62, 103, 150, 196, 202 Winter, I. 148 Witte, B. 156–157 Yates, W.E.

209

Zedler, J.H. 58 Zimmermann, B. 148

74–75, 105, 108,