Von Gott poetisch-musikalisch reden: Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten 9783666571244, 9783525571248, 9783647571249

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Von Gott poetisch-musikalisch reden: Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten
 9783666571244, 9783525571248, 9783647571249

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525571248 — ISBN E-Book: 9783647571249

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften Pa st oral theo l ogie und Wege zu m Menschen und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

Band 57

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525571248 — ISBN E-Book: 9783647571249

Jochen Arnold

Von Gott poetischmusikalisch reden Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525571248 — ISBN E-Book: 9783647571249

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-57124-8 © 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: P Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525571248 — ISBN E-Book: 9783647571249

Inhalt 0. Hinführung: Lebens- und Geschichtsdeutung im Spiegel der Kantaten Bachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 0.1 „Wo warst du Gott?“ – das Ringen mit Gottes Verborgenheit in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.2 „Es wird regiert!“ – Gottes gütiges Weltregiment in Bachs Kantaten 0.3 „Weltgeschichte als Weltgericht“? – Gottes richtendes Handeln in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.4 Die Vielfalt der Erfahrung und das rettende Evangelium in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die methodische, theologische, kirchenmusikalische und hermeneutische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.0 Vorbemerkungen zur Zielsetzung und zur Methode . . . . . . . . . 1.0.1 Vier Ziele der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.0.2 Vier heuristische Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.0.3 Ebenen der Interpretation – Überlegungen zur Methode im Einzelnen . . . . . . . . . . . . 1.0.4 Verlauf der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bachs geistliche Kantaten im musikgeschichtlichen Kontext . . . . . 1.1.0 Zur Entstehung der Kantate im deutschsprachigen Raum . . . 1.1.1 Mühlhausen – Weimar – Leipzig: Drei Stadien im Kantatenschaffen Bachs . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Frühe Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Mittlere Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Leipziger Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Kantate und ihre Gattungselemente . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Rezitativ und Accompagnato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Aria und Arioso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Der Choral und seine vielfältigen Funktionen . . . . . . . . . 1.2.4 Chöre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die theologischen Quellen Bachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Austeilung und Aneignung des Evangeliums – Bachs Kantaten als Predigten sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Explicatio und applicatio als Parameter der orthodoxen Predigtlehre Carpzovs . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Überlegungen zum Schema von explicatio und applicatio in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Die Kantate als Vergegenwärtigung Christi . . . . . . . . . . .

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Inhalt

1.5 Musik am liturgischen Ort des Credo – Bachs Kantaten als Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Doxologische Musik als Antwort auf das Evangelium – Bachs Kantaten als Lobopfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.1 Doxologische Kantaten J. S. Bachs im Kirchenjahr – eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Doxologische Elemente als übergreifendes Phänomen im Vokalwerk Bachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3 Soli Deo Gloria – das Lob Gottes als Proprium und Ziel evangelischer Kirchenmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Musica pathetica et poetica – Bachs Kantaten als affizierende Kunstwerke . . . . . . . . . . . . . . 1.7.1 Musica pathetica – zur Bedeutung der Affekte in der philosophisch-theologischen und musikalischen Tradition 1.7.2 Musica poetica – zur Bedeutung der musikalischen Rhetorik im Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Gottesdienstlicher Dialog – Bachs Kantaten am Scharnier von Wort und Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.1 Die Kantate als Antwort auf das Evangelium . . . . . . . . . . 1.8.2 Die Kantate als Anrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3 Die Kantate als dialogisches Kommunikationsgeschehen und Gottesdienst in nuce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 „Vier Widerfahrnisse“ – Bachs Kantaten im Spiegel von Psalmen und Vaterunser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Zwischen Trauer und Freude, Klage und Lob – Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten 2. „Aber deine Tröstungen erquicken meine Seele“ – Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören . . . . . . . . . . . . . . 2.0 Zur dogmatischen Rede vom Deus absconditus und der Möglichkeit einer Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vom „Wermutssaft“ zum „Freudenwein“: Kantaten zum 2. Sonntag n. Epiphanias . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.0 Zeitgenössische Bibelauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Mein Gott, wie lang, ach lange (BWV 155) . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Meine Seufzer, meine Tränen (BWV 13) . . . . . . . . . . . . . 2.2 „Jesu, lass dich finden“ – Ausgewählte Kantaten zum 1. und 4. Sonntag n. Epiphanias . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Mein liebster Jesus ist verloren (BWV 154) . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Jesus schläft, was soll ich hoffen? (BWV 81) . . . . . . . . . . . 2.3 „Über ein Kleines“ – die Kantaten zum Sonntag Jubilate . . . . . . . 2.3.0 Zeitgenössische Bibelauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen (BWV 12) . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Ihr werdet weinen und heulen (BWV 103) . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.4 „Ich hab ihr Fleh’n erhört“ – Kantaten zum 2. und 3. Sonntag n. Trinitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Ach Gott vom Himmel sieh darein (BWV 2) . . . . . . . . . . . 2.4.2 Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Warum betrübst du dich, mein Herz (BWV 138) – Kantate zum 15. Sonntag n. Trinitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Zwischen Furcht und Hoffnung, Verzweiflung und Vergebung – Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten 3. „Erschrecke doch, du allzu sichre Seele!“ Der offenbare Gott richtet und straft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3.0 Überlegungen zur biblischen und dogmatischen Rede von Sünde, Gericht und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0.1 Der Furcht erregende Richter – literarische und exegetische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0.2 Zur poetischen und theologischen Rede vom Gesetz in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0.3 Affektraum Furcht: Angst und Verzweiflung des überführten Sünders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0.4 Der Gedanke einer „zeitlichen Strafe“ und die Hoffnung auf Gottes aktuelle Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Nimm von uns, Herr, du treuer Gott (BWV 101) . . . . . . . . . . . . 3.3 Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben (BWV 102) . . . . . . .

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4. „Tritt freudig vor Gericht“– Der offenbare Gott spricht frei und rettet . . . 229 4.0 Zur anthropologischen und theologischen Rede von Buße und Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.0.1 Zur Verkündigung von Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.0.2 Frohbotschaft statt Drohbotschaft – die „evangelische“ Gegenrede zum Gericht in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . 4.1 Tue Rechnung! Donnerwort (BWV 168) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Gelassenes Gottvertrauen (Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten) 5. „Der alles hat, regiert und trägt“ – Der offenbare Gott waltet, bewahrt und begleitet . . . . . . . . . . . . . 253 5.0 Ich habe meine Zuversicht (BWV 188) – Hinführung zum Topos der providentia Dei . . . . . . . . . . . . . . 254

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Inhalt

5.1 „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ – Gottes Fürsorge und Bewahrung (conservatio) . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Du Hirte Israel, höre (BWV 104) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Es wartet alles auf dich (BWV 187) . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 „Wo Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ – Gottes gütiges Weltregiment (gubernatio) . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Nur jedem das Seine (BWV 163) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 „Heil und Segen“ für die Obrigkeit!? – Musik zum politischen Kasus des Ratswechsels . . . . . . . . . 5.2.3 Preise, Jerusalem, den Herrn (BWV 119) . . . . . . . . . . . . . 5.3 „Wohl dir, dein Glück ist nicht zu zählen“ – Gottes Segen für die Ehe (concursus divinus) . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Herr Gott, Beherrscher aller Dinge (BWV 120a) . . . . . . . . . 5.3.2 Gott ist unsere Zuversicht (BWV 197) . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Freudige Gewissheit (Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten) 6. Soli Deo Gloria – Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 6.0 Annäherungen an eine trinitarische „Theologie des Lobpreises“ in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.0.1 Liturgische Konnotationen: Der „Sitz im Leben“ der doxologischen Kantaten . . . . . . . . 6.0.2 Doxologische Kantatendichtungen im Verhältnis zu Bibeltext und Choral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.0.3 Poetologische und dogmatische Beobachtungen zu einer trinitarischen Theologie des Lobpreises . . . . . . . . . 6.0.4 Wunder und Staunen – die anthropologische Seite des Lobs . . 6.0.5 Die schöpfungstheologische Motivation: Musik als Verherrlichung des Schöpfers zur Freude des Menschen . . . 6.0.6 Die christologisch-pneumatologische Motivation: Musik im Dienste der Kommunikation des Evangeliums . . . 6.0.7 Folgerungen für die weitere Untersuchung . . . . . . . . . . . 6.1 Christologische Mitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Unser Mund sei voll Lachens (BWV 110) . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Erfreut euch ihr Herzen (BWV 66) . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) . . . . . . . . . . 6.2 Pneumatologische Tiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Erhöhtes Fleisch und Blut (BWV 173) . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Schöpfungstheologische Weite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Lobe den Herrn meine Seele (BWV 69a und 69) . . . . . . . . . 6.3.2 Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut (BWV 117) . . . . . . . . . 6.3.3 Wer Dank opfert, der preiset mich (BWV 17) . . . . . . . . . .

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Inhalt

6.4 Trinitätstheologische Pointen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) . . . . . . . . 6.4.2 Gelobet sei der Herr (BWV 129) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Das Lob des Namens Gottes in der Verschränkung der Zeiten . . . . 6.5.1 Fest der Namensgebung Jesu und jahreszyklische Kasualie am Neujahrstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 190) . . . . . . . . . .



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7. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 7.1 Exegetisch-hermeneutische Entdeckungen zum Psalter in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Psalmworte als hermeneutischer Schlüssel und poetische Matrix der Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Psalm und Choral (Choralkantaten) . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Psalmen als „affektive Wegmarken“ . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Dogmatische Entdeckungen: theologischer Reichtum in weisheitlicher Weite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Der sich verbergende und wieder zuwendende Gott . . . . . . 7.2.2 Der richtende und tröstende Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Der fürsorgende und bewahrende Gott . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Gott und den Menschen dienen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Der gnädige dreieinige Gott und der Lobpreis des Glaubens . . 7.3 Liturgische Entdeckungen: den Spuren der Dichter und Bach folgen 7.3.1 Verschiedene Sprechakte wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Behutsam Neuinszenierungen wagen . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Kantaten als Explikationen des Credo erschließen . . . . . . . 7.3.4 Mit Bachs Kantaten Themengottesdienste gestalten . . . . . . 7.3.5 Mit Bachs Kantaten Kasualgottesdienste gestalten . . . . . . . 7.4 Spirituelle Entdeckungen: tröstende und beglückende Kraft schöpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.0 Oratio – Meditatio – Tentatio: lutherische Spiritualität und Bachs Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Geistlich und authentisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Angefochten und getröstet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Schuldig und frei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Glücklich und fromm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.5 Kreuzesnachfolge und österlicher Lobpreis . . . . . . . . . . . 7.5 Abschließende Thesen zur Theologie und Spiritualität in Bachs Kantaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Anstelle eines Schlussworts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

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Welch Übermaß an Güte schenkst du mir! Doch was gibt mein Gemüte dir dafür? Ich weiß sonst nichts zu bringen, als dir Dank und Lob zu singen.

Vorwort

Angesichts eines abgeschlossenen Habilitationsverfahrens (2008) und einer nochmals ganzjährigen Arbeit an der Drucklegung des Buches, ist das Gefühl der Dankbarkeit groß Zuallererst richtet sich diese Dankbarkeit an die „höchste Stelle“. Deshalb habe ich auch die schlichte, Arie aus der Kantate Wer Dank opfert, preiset mich (BWV 17) an den Anfang gestellt. Dann möchte ich mich aber auch bei all den Menschen bedanken, die mich auf dem Weg begleitet haben: Mein Doktorvater Prof. Dr. Oswald Bayer gab den Impuls Prof. Dr. Martin Petzoldt und Prof. Dr. Wolfgang Ratzmann aus Leipzig haben mich mit dem einen oder anderen wichtigen inhaltlichen Hinweis begleitet. Auch der ganzen Leipziger Fakultät spreche ich meinen freundlichen Dank aus, dass sie meine Arbeit wohlwollend angenommen hat. Meine Kollegin Dr. Stefanie Wöhrle aus Hildesheim hat das ganze Œuvre inhaltlich Korrektur gelesen; einzelne Passagen haben Dr. Nicola Wendebourg, Dr. Ulrich Meyer und Dr. Hans Christian Brandy aus Hannover mit wichtigen Rückmeldungen versehen. Last but not least möchte ich auch meine Mutter nennen, die etliche Dinge im Kleinen entdeckt hat. Ihnen allen gilt mein „gratias“! Weiterhin sind all diejenigen zu erwähnen, die die Drucklegung des Bandes großzügig unterstützt haben: „meine“ Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, die EKD, der (AFET), die Evangelische Landeskirche Württemberg, die Liturgische Konferenz und die Evangelische Landeskirche Sachsens. Bedanken möchte ich mich auch für die freundliche Aufnahme des Buches in die renommierte Reihe der APLH durch den Verlag V&R samt den Herausgebern Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier. Jörg Persch, Tina Grummel, Frauke Neupert-Schuhmacher und Philipp Mickat vom Verlag danke ich herzlich für die unkomplizierte Zusammenarbeit, sie hat vieles erleichtert! „Wie hast du das nur geschafft angesichts der Fülle von Verpflichtungen im alltäglichen Betrieb des Michaelisklosters zwischen Hunderten von Vorträgen, Sitzungen und anderen Publikationen?“ Ich kann diese Frage, die mir oft gestellt worden ist, im Nachhinein eigentlich nicht vernünftig beantworten. Aber es gibt einen Menschen, der manches erklärt. Es ist meine Frau Anika, die mich Tag für Tag stärkt und ermutigt. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Hildesheim, am 19. Sonntag nach Trinitatis

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0. Hinführung: Lebens- und Geschichtsdeutung im Spiegel der Kantaten Bachs Spirituelle Erfahrungen scheinen heute fast überall stattfinden zu können: beim überwältigenden Sonnenaufgang auf einem Viertausender oder einer eindrück­ lichen Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg,1 bei einem fulminanten Pop­konzert oder bei der Geburt eines Kindes. Religiöse Erfahrung ist also keinesfalls auf den Raum der Kirche beschränkt; sie scheint vielmehr so vielfältig wie die spät­ moderne Welt, in der wir leben. Um spirituelle Welt- und Selbsterfahrungen religiös zu deuten, d. h. eine bestimmte Lebenserfahrung als Gotteserfahrung zu begreifen, braucht es jedoch hermeneutische Vorbilder oder präziser: Sprach- und Lebensformen des Glaubens als spirituelle Muster für religiöse Erfahrungen. Wo finden wir solche „Sprach- und Lebensformen des Glaubens“? Klassischerweise in der Bibel oder im Katechismus, vielleicht auch im Gesangbuch, darüber hinaus in der Literatur und in bildender Kunst, aber auch in der Musik, z. B. in der vokalen Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs. Bis heute können seine Kompositionen Menschen ansprechen und berühren.2 Deshalb sollen seine geistlichen Kantaten hier als Zeugnisse einer Welt- und Lebensdeutung in den Blick kommen, in ihrer poetischen und musikalischen Struktur wahrgenommen und sowohl mit den Gotteserfahrungen der Bibel als auch mit theologischen Fragen der Gegenwart ins Gespräch gebracht werden. Dass es dabei nicht nur um private oder persönliche Erfahrungen geht, sondern auch ein Stück erlebte und erlittene Welt- und Menschheitsgeschichte in den Blick kommen kann, wollen wir in der folgenden Hinführung andeuten, indem wir Ereignisse aus der jüngeren Geschichte aufgreifen und mit Bachs Texten ins Gespräch bringen. Wir setzen also bewusst noch nicht mit einer konkreten Analyse der Musik Bachs ein, sondern legen – gleichsam heuristisch – neben die ambivalenten Erfahrungen von Natur und Geschichte ausgewählte Kantatentexte, wie sie Bach selbst schon bei seinen zeitgenössischen Dichtern vorgefunden hat.



1 Vgl. dazu Kerkelings Bestseller: Ich bin dann mal weg. 2 Vgl. dazu t’Haart, 109–125, bzw. Reddemann, 14: „An Bach denke ich und höre Musik von ihm, wenn ich Trost suche, denn seine Musik tröstet und inspiriert mich seit Kindertagen […]. Darüber hinaus nehme ich an, dass sie auch deshalb so viele Menschen zutiefst berührt, weil er sie mit seiner Sprache des Herzens erreicht.“



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Hinführung

0.1 „Wo warst du Gott?“ – das Ringen mit Gottes Verborgenheit in Bachs Kantaten Beinahe noch bedrängender als der Umgang mit den Ereignissen vom 11. September 2001,3 ist die Herausforderung, mit den schrecklichen Ereignissen des Tsunami vom Dezember 2004 theologisch umzugehen. Wie konnte Gott es zulassen, dass Hunderttausende unschuldiger Menschen durch ein Seebeben in den Tod gerissen wurden? Warum traf es dabei an vielen Stellen die Ärmsten der Armen, Menschen, die in ihrem Leben augenscheinlich weder strukturell noch individuell große Schuld auf sich geladen hatten?4 P. Rosien hat diese Frage an Gott so formuliert: „Ist das dein Werk, Gott? Hast du das gewollt? Diese abertausende Leichen an den paradiesischen Stränden rund um den Indischen Ozean? Wenn du es nicht gewollt hast, du hattest versprochen keine zweite Sintflut zu schicken, wie konntest du es denn einfach geschehen lassen? […] Was soll das Gerede von deiner Liebe zu uns, wenn so viele Menschen in wenigen Augenblicken so grässliche Tode sterben müssen? Ist das gerecht? Ist das gut? Bist du gut und bösartig zugleich?“5

Juden und Christen mögen sich an das unverschuldete Leiden des Hiob erinnert fühlen, der nach der (Rahmen)erzählung des gleichnamigen alttestamentlichen Buches in kürzester Zeit nicht nur Haus und Hof, sondern auch noch seine Kinder verlor und am Ende selbst schwer krank wurde. In Hiob 13,24 fragt er: Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für einen Feind? Einige Generationen vor Bach war es der Dreißigjährige Krieg, der beinahe jeden Menschen in Mitteleuropa mit Krieg, Pest und Hungersnot in Berührung brachte, so dass keine persönliche Biographie an dieser Frage vorbei kam. Und Bach selbst verlor bekanntlich nicht nur seine erste Frau im Wochenbett, sondern auch etliche seiner Kinder. Kurz nach seinem Tod hat dann das Erdbeben von Lissabon 1755 viele Menschen, darunter auch namhafte Philosophen,6 in tiefe Glaubenszweifel gestürzt. Diese Naturkatastrophe wurde geradezu zur schlagenden Falsifikation einer philosophischen Theodizee.7 Wie gehen wir heute mit solchen globalen Katastrophen, aber auch mit persönlichen Erfahrungen von Leid,

3 Vgl. Käßmann, Glauben. 4 Zur Deutung von Unheil, vgl. Amelung, 495. Der Verf. benennt drei substantiell zu unterscheidende Kategorien: a) Unverschuldetes Unheil (z. B. Naturkatastrophen, Krankheit); b) Selbstverschuldetes Unheil, c) Von Anderen verschuldetes Unheil. Hier wäre zwischen dem Unglück im Straßenverkehr und bewusstem Mord allerdings deutlich zu unterscheiden. 5 Rosien, 9, vgl. Löffler, 8 bzw. Link, Krise, 414: „Das Entsetzen über die mehr als zweihunderttausend Toten, die ausgelöschten Dörfer und Siedlungen, die traumatisierten, entwurzelten Überlebenden und die Not der elternlos zurückgebliebenen Kinder hat jenseits geophysikalischer Erklärungen jeden Versuch einer fassbaren Deutung des Unfassbaren im Keim erstickt. […] Wer würde es wagen, die tödliche Gewalt jenes Tsunamis der allmächtigen und gegenwärtigen Kraft Gottes zuzuschreiben, und wenn er das täte, was hätte er für ein Bild von diesem Gott?“ 6 Vgl. Löffler, 15–25. Zu nennen sind insbesondere Kant und Voltaire. Eine musikalische Replik bildet Telemanns Donner-Ode nach Psalmparaphrasen von Johann Andreas Cramer von 1756/1760. 7 Vgl. Voltaire, 31 mit einer sarkastischen Entgegnung an Leibniz: „Wenn das die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?“

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Lebens- und Geschichtsdeutung im Spiegel der Kantaten Bachs

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Verlust und Tod um? Welche Hilfen bieten uns nun Bachs Kantaten? Wir möchten schlaglichtartig einige Aspekte andeuten: Etliche Kantaten Bachs benennen Erfahrungen eines sich abwendenden Gottes, der „wegschaut“, obwohl er eigentlich etwas Anderes versprochen hat, nämlich nahe zu sein und sich unser zu erbarmen. Aus der Kantate Meine Seufzer, meine Tränen (BWV 13) sind folgende Zeilen einer Choralstrophe von Johann Heermann (1636) entnommen: Der Gott, der mir hat versprochen seinen Beistand jederzeit, der lässt sich vergebens suchen itzt in meiner Traurigkeit. […]8

In distanzierter, fast unpersönlicher Form wird hier von „dem Gott“ gesprochen. Er hat sich gleichsam aus dem Leben des Beters „verabschiedet“. Indirekt hört man den Vorwurf, dass er den Beistand, den er versprochen hat, nicht einhält. In der Kantate Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21,4) kommt es gar zu einer un­ mittelbaren Anklage Gottes. Er wird mit seinem Versprechen konfrontiert und als grausam und abwesend erlebt: Rezit ativ (T eno r) Wie hast du dich, mein Gott, in meiner Not, in meiner Furcht und Zagen denn ganz von mir gewandt? Ach, kennst du nicht dein Kind? Ach! Hörst du nicht das Klagen von denen, die dir sind in Bund und Treu verwandt? Du warest meine Lust und bist mir grausam worden. Ich suche dich an allen Orten, ich ruf, ich schrei dir nach allein, mein Weh und Ach, scheint jetzt als sei es dir ganz unbewusst.

Dieses drastische Beispiel zeigt die Situation eines Menschen, der verzweifelt nach Gott sucht, ihm „nachschreit“ und zugleich im Dialog mit ihm bleibt. Damit wird in der Gestalt poetischer Klage (vgl. Psalm 13; 22; 69 u. a.) die geistliche Not und Hilflosigkeit benannt, die angesichts eines Ereignisses wie dem Tsunami, dem 11. September9 oder einem persönlichen Schicksalsschlag Menschen über

8 Choräle werden meist im Fettdruck wiedergegeben, Bibelzitate kursiv, madrigalische Verse in normaler Texttype. Kantaten- und Choraltitel werden kursiv gedruckt. Was die Auswahl der poetischen Texte angeht, konzentrieren wir uns in diesem Hinführungskapitel vor allem auf Salomon Francks Evangelisches Andachts-Opffer. 9 Im Gegensatz zur Flutwelle des Tsunami waren z. B. am 11. September 2001 in weit größerem Maße Menschen eigenverantwortlich und damit auch schuldhaft involviert. Dies gilt es in diesem Zusammenhang festzuhalten, auch wenn natürlich beides, das natürliche Übel und das menschliche Böse, von Gott zugelassen wurden.

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fallen. Sie bietet den Raum, um sich Not und Verzweiflung einzugestehen, in Worte zu fassen. Das Leid explizit vor Gott zu bringen, ist meist erst der zweite Schritt.10 Über die bloßen Worte bietet Bach für eine solche Trauerarbeit Klänge und Rhythmen an: Er wählt häufig ein getragenes Tempo in einer dunklen Molltonart, seufzende Achtel, expressive Pausen und Chromatismen (vgl. Weinen, Klagen, BWV 12,2) usw. Die Metaphern und Bilder der Dichtung verstärken den sinnlichen Eindruck. Angesichts der Bilder von der Flutkatastrophe in Ostasien, aber auch mancher persönlicher Erfahrung von Leid und Tod muss diese Metaphorik kaum übersetzt werden. Menschen, die etwas Derartiges erlebt haben, sprechen selbst immer wieder von der „Hölle“.11 Nur wenige Beispiele aus der Popmusik12 haben hier ähnlich viel zu bieten wie Bachs Kantatentexte, zumal letztere in der Regel nicht bei der Verzweiflung stehen bleiben: Oft mündet die Not in ein vertrauensvolles Gebet, das schon Spuren der Hoffnung in sich trägt, ja neue Glaubenszuversicht anklingen lässt. Dies gilt z. B. für S. Francks Arie aus der Kantate Mein Gott, wie lang, ach lange (BWV 155,4): Ar ie (S opran) Wirf mein Herze, wirf dich noch in des Höchsten Liebesarme, dass er deiner sich erbarme. Lege deiner Sorgen Joch, und was dich bisher beladen, auf die Achseln seiner Gnaden.

Wieder sind es die Bilder, die hier ansprechen. Sich in die bergenden Arme des liebevollen Gottes zu werfen, das ist ein schönes, ein tröstliches Angebot. In den meisten Fällen hebt Bach die sprachliche Struktur solcher Interventionen Gottes musikalisch besonders hervor wie etwa in der Choralkantate Ach Gott, vom Himmel, sieh darein (BWV 2) im zentralen 4. Satz:

10 Die Klage galt über Jahrhunderte in vielen christlich geprägten liturgischen Traditionen nicht viel und wurde erst mit der neueren Psalmenforschung wieder als wertvolles Element des Gebetes entdeckt. In unseren Gottesdiensten ist sie immer noch weitgehend ausgeblendet. Dies gilt auch im Blick auf die Trauerfeier für die Verstorbenen des 11. September am 23.9.2001 in New York. ­Cornehl, 150, schreibt dazu: „Es fehlten Klage, ‚Kyrie‘, ‚Confiteor‘. Klage war nicht völlig abwesend, vor allem in den jüdischen und christlichen Gebeten gab es immer wieder den Ausdruck des Schmerzes. Allerdings keine Klagepsalmen, keine Klagelieder.“ Davon gibt es allerdings auch im EG so gut wie keine geeigneten Beispiele (vgl. immerhin EG 381). 11 Dies gilt auch im Blick auf das Erdbeben von Lissabon von 1755. Die zahlreichen Kerzen, die zum Feiertag Allerheiligen entzündet worden waren, brannten rasch lichterloh, „bisweilen wird in zeitgenössischen Augenzeugenberichten deshalb die Metapher vom Höllenfeuer“ verwendet (vgl. Löffler, 10). 12 Vgl. dazu – gleichsam als „Pop-Midrasch“ – den Song Land unter von Herbert Grönemeyer: „Der Wind steht schief – die Luft aus Eis – die Möwen kreischen stur – Elemente duellieren sich – Du hältst mich auf Kurs – hab keine Angst vorm Untergeh’n – Gischt schlägt ins Gesicht – ich kämpf mich durch zum Horizont – denn dort treff ’ ich Dich […]. Geleite mich heim – raue Endlosigkeit – bist zu lange fort – mach die Feuer an – damit ich Dich finden kann – steig zu mir an Bord – übernimm die Wacht – bring mich durch die Nacht – rette mich durch den Sturm – fass mich ganz fest an – dass ich mich halten kann – bring mich zu Ende – lass mich nicht mehr los.“

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Lebens- und Geschichtsdeutung im Spiegel der Kantaten Bachs

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Rezit ativ (B a ss) Die Armen sind verstört, Ihr seufzend Ach! Ihr ängstlich Klagen […] dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein. Darum spricht Gott: „Ich muss ihr Helfer sein. Ich hab ihr Fleh’n erhört. Der Hilfe Morgenrot, der reinen Wahrheit heller Sonnenschein soll sie mit neuer Kraft, die Trost und Leben schafft, erquicken und erfreun. Ich will mich ihrer Not erbarmen, mein heilsam Wort soll sein die Kraft der Armen.“

An der Stelle, wo die Gottesrede beginnt, inszeniert Bach auch musikalisch einen Umschwung, indem er (innerhalb des Satzes) das ausinstrumentierte Secco in ein Arioso übergehen lässt und damit der Zusage Gottes besonderes Gewicht verleiht. Was der Dichter durch das Bild des Sonnenaufgangs als tröstliches Naturgeschehen andeutet, ereignet sich also auch in Bachs Musik. Gottes Wort wendet das Leid: Das Dunkel der Trauer und die Angst vor Bedrohung wird vom Licht des Evangeliums erhellt und transformiert, ja überwunden. Damit ist nicht zuletzt eine zentrale seelsorgliche Dimension der Kantaten benannt. Diese geistliche Antithese bringt die 200 000 Toten des Seebebens nicht zurück ins Leben. Sie ist nur eine leise Gegenstimme, ein Kontrapunkt des in Christus offenbaren Gottes13 gegenüber der Unerbittlichkeit des Deus nudus.

0.2 „Es wird regiert!“ – Gottes gütiges Weltregiment in Bachs Kantaten Dazu eine zweite Erfahrung: „Wer löcherte die Mauer?“ fragten wir uns anno 1989 und stellten angesichts der eben geschehenen Wiedervereinigung Deutschlands Vermutungen darüber an, wie man Bismarcks Diktum vom „Mantel Gottes, der durch die Geschichte weht“ denn heute noch verstehen könne, ohne einer Geschichtstheologie zu huldigen, wie sie etwa im Ansbacher Ratschlag (1934) mit der Rede vom geschichtlichen Nomos versucht wurde.14 In jenen Tagen vor

13 Vgl. dazu Lexutt, 7: „Der Glaube erkennt die Begrenztheit der Vernunft und vertraut der in Jesus Christus fleischgewordenen Verheißung. […] Das erledigt die Theodizee nicht; das entlastet nicht davon, eine seelsorgerliche, eine die verzweifelten Gewissen tröstende Antwort zu suchen. Aber das gibt der Theodizee ihren einzig angemessenen Ort und die einzig angemessene Antwort: das Gebet!“ 14 Vgl. zur Genese und Kritik: Fischer, 89: „Vielmehr ist diese These Ausdruck einer neulutherischen Ordnungstheologie, die sich aber nicht mit einer Lehre von den natürlichen Ordnungen begnügt, sondern auch die im ‚Hier und Heute‘ gegebenen positiven Ordnungen und den historischen Augenblick theologisch legitimieren will [Hvh. des Verf.].“ Hvhn. werden im Folgenden nur ge­ sondert gekennzeichnet, sofern sie von mir [JA] stammen.

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dem 9. November 1989, als in Leipzig Montagsgebete und –demonstrationen engagierter Christen und Bürgerrechtler stattfanden, meinte man etwas von dieser Gegenwart Gottes in der Geschichte spüren zu können. Und als dann bei der Wiedervereinigungsfeier 1990 am Brandenburger Tor Beethovens 9.  Sinfonie mit Schillers Ode an die Freude erklang, da war man sich einig: „Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen!“ Die Zuhörer stimmten angesichts dieses „historischen Gottesbeweises“ bewusst oder unbewusst ein in das Bekenntnis eines gütigen Weltenlenkers, der „im Regimente sitzt und alles wohl führt“15. Sollten Christoph Blumhardt und Karl Barth also doch recht behalten, wenn sie sagten: „Es wird regiert!“16? Und das, obwohl etwas mehr als 51 Jahre zuvor am gleichen Tage die Synagogen brannten, was dann die geplante Massenvernichtung von Millionen Jüdinnen und Juden nach sich zog? Angesichts dieser Tatsache ist uns heute die Gewissheit eines göttlichen Weltregiments vielfach abhanden gekommen. Für die Universitäts- und Handelsstadt Leipzig bestand darüber kein Zweifel. In einem Stich von 1713,17 bekennt sie sich zu der Überzeugung, dass sich in ihren Mauern „Frieden und Gerechtigkeit küssen“ (Ps 85,11), ja dass Gott selbst in ihren Mauern und Palästen gegenwärtig sei. J. S. Bach und seine Dichter haben dieses Motto (BWV 190,6 vgl. 119,2) wenige Jahre später poetisch und musikalisch in Szene gesetzt. Ein Beispiel aus der Ratswechselkantate Gott man lobt dich in der Stille (BWV 120,4) lautet so: Ar ie (S opran) Heil und Segen soll und muss zu aller Zeit sich auf unsre Obrigkeit in erwünschter Fülle legen, dass sich Recht und Treue müssen miteinander freundlich küssen.

Was damals – nicht zuletzt stabilisiert durch die Ordnung der Stände – selbstverständlich war, ist heute höchst umstritten. Vielen erscheint es als eine wichtige Errungenschaft der Neuzeit, dass (im Gegensatz zu manchen islamischen Staaten, aber auch zum „christlichen Amerika“) bei uns Thron und Altar getrennt sind. Warum also hier wieder nach dem gütigen Gott fragen? Ist es sinnvoll, im ambivalenten Bereich der Geschichte, den Glauben an Gottes Fürsorge und Regentschaft festzuhalten? Ist es nicht besser, im Blick auf die „vorletzten Dinge“18, zu denen nun einmal das Zusammenleben der Menschen gehört, auf gute Gesetze und politische Entscheidungen statt auf „höhere Gewalt“ zu vertrauen? Bachs Kantate Nur jedem das Seine (BWV 163), ebenfalls auf einen Text von Salomon Franck, gibt darauf eine „jesuanische“ Antwort:



15 Paul Gerhardt, Befiehl du deine Wege, Str. 2 (vgl. EG 361 bzw. Ps 37,5). 16 Vgl. Goes, 57 mit Hinweis auf Karl Barths letztes Telefonat mit Eduard Thurneysen. 17 Vgl. Wolff/Koopman III, 12. 18 Vgl. dazu Bonhoeffer, 137–162.

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Lebens- und Geschichtsdeutung im Spiegel der Kantaten Bachs

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Ar ie (Teno r) Nur jedem das Seine!   muss Obrigkeit haben,   Zoll, Steuern und Gaben,   man weigre sich nicht   der schuldigen Pflicht,   doch bleibet das Herze dem Höchsten alleine.

Daraus wird deutlich: Gottes gubernatio geschieht stets weltlich vermittelt, nicht losgelöst von menschlicher Verantwortung, ja von Instrumenten staatlicher Lenkung. Doch – dies ist hier die theologische Pointe – hat Gott sich damit eben nicht aus dem Regiment „verabschiedet“, nein er will sogar mehr als das, was Regierungen fordern können: Er will unser Herz.19 Und wo unser Herz wach ist, da kann es auch passieren, dass sich menschliche Gesetze und Handlungen einer Regierung nicht mehr mit dem Gewissen vereinbaren lassen, so dass es mit Act 5,29 mutig zu bekennen gilt: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Bachs Kantaten bieten in dieser Hinsicht einen interessanten Beitrag zum ethischen Diskurs. Sie achten die staatliche Gewalt hoch und reden mit Respekt von der Obrigkeit, die ihrerseits Familie und Kirche Schutz gewährt, proklamieren zugleich aber auch Gott als den Größeren, der selbst im Geschick der Mächtigen seine Hand im Spiel hat und alles zum Besten wenden kann. Im Sinne einer dezidiert theologischen Verantwortungsethik,20 fragen sie nach Gottes Gegenwart und seinem Willen für diese Welt.21 Sie beleuchten damit auch ein so ambivalentes Datum wie das des 9. November vom Licht Gottes her. In diesem Sinne könnten sie dazu anregen, wider allen Augenschein das Vertrauen auf Gottes bewahrendes Handeln festzuhalten, zugleich aber auch an das zu erinnern, was dem Frieden und der Gerechtigkeit dient.

0.3 „Weltgeschichte als Weltgericht“? – Gottes richtendes Handeln in Bachs Kantaten Ungefähr zeitgleich mit der Öffnung des „eisernen Vorhangs“ kamen vor ca. 20 Jahren die ersten Fälle von AIDS ans Licht. Schnell wurde klar, dass sich diese Krankheit besonders in Afrika wie eine Seuche ausbreitet. Damals wählte man in der säkularen Öffentlichkeit ein religiöses Interpretament, das erschrecken ließ: „Geißel Gottes“ wurde die Krankheit genannt und damit behauptet, dass Gott es sei, der menschliche Sünde durch Krankheit und Tod bestraft. Bis heute begegnet man immer wieder Menschen, die persönliche Krankheit oder Verluste ähnlich deuten.

19 Vgl. dazu auch BWV 77,1 f: „Du sollt Gott, deinen Herren lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen deinen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst.“ So muss es sein! / Gott will das Herz vor sich alleine haben. / Man muss den Herrn von ganzer Seelen / zu seiner Lust erwählen […]. 20 Vgl. Honecker, 327–337. 21 Vgl. Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist (BWV 45,1), vgl. Mi 6,8.

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So kommt zu der physischen Krise oft noch eine psychische oder religiöse Krise hinzu. Der biblischen und kirchlichen Tradition ist diese Vorstellung eines Strafgerichtes Gottes nicht fremd. Im Alten Testament findet man insbesondere in Weisheit und Prophetie die Vorstellung, dass Gott die Gerechten belohnt und die Gottlosen straft. Gutes Handeln zieht Segen und böses Handeln Fluch nach sich – so lautet das Denkmuster der alten Weisheit (vgl. Ps 1,6; Prv 1,32 f; 2,7 f). „Gott“ ist dabei das der Weltordnung eingestiftete immer wieder neu wirksame Geschichte werdende Gericht.22 Auch im deuteronomistischen Geschichtswerk finden wir diese Denkfigur: Wo ein König Gott gehorsam ist, kann er Segen erwarten, wo nicht, wird er und sein Volk gestraft durch feindliches Heer, Dürre (vgl. 1 Kön 17–19) usw.23 Damit wird verifiziert: „Gott richtet die Völker mit Gerechtigkeit“ (Ps 96,13). Der Unterschied zum Tun-Ergehens-Zusammenhang der alten Weisheit ist ledig

22 Der Satz: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ stammt aus einem „phantastischen“ Gedicht von Schiller. Dort heißt es: „[…] Hier – spricht man – wartet Schrecken auf den Bösen, und Freude auf den Redlichen. Des Herzens Krümmen werdest du entblößen, der Vorsicht Rätsel werdest du mir lösen und Rechnung halten mit dem Leidenden. […] All meine Freuden hab ich dir geschlachtet, jetzt werf ich mich vor deinen Richterthron. Der Menge Spott hab ich beherzt verachtet, nur deine Güter hab ich groß geachtet, Vergelterin, ich fordre meinen Lohn. ‚Mit gleicher Liebe lieb ich meine Kinder!‘ Rief unsichtbar der Genius. ‚Zwei Blumen‘ rief er, ‚hört es Menschenkinder – Zwei Blumen blühen für den weisen Finder, sie heißen Hoffnung und Genuß. Wer dieser Blumen eine brach, begehre Die andre Schwester nicht. Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre Ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.[Hvh. JA]“

Schiller macht hier den inneren Zwiespalt einer Seele transparent, die sich vor dem richtenden Gott einer furchtbaren Illusion beraubt sieht. Wer auf die Blume „Hoffnung“, d. h. die Erfüllung der Pflicht und damit auch auf die Vergeltung derselben im Jenseits, gesetzt und stattdessen auf Genuss verzichtet hat, dessen Lohn ist abgetragen. Die Gott „geschlachteten“ Freuden lassen sich vor seinem Richterthron nicht zurückholen. Hegel hat diesen Gedanken Schillers in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte aufgenommen und davon gesprochen, dass die Weltgeschichte nicht der „Boden des Glücks“, sondern eine „Schlachtbank“ sei, auf der „die Ansprüche des Individuums, selbst des tugendhaften, dem großen göttlichen Endzweck der Geschichte geopfert werden“ (vgl. Sparn, 45). 23 Vgl. Roth, Deuteronomismus, 548: „Für die am unwiderstehlichen Wirken des Wortes Jahwes Interessierten (DtrP) schaffen menschlicher Gehorsam und Ungehorsam Heils- und Unheilsperioden […]. Das von Jdc 2,6–19 bekannte Schema ‚Heilstat-Abfall-Umkehr-Rettung‘ zeigt dabei, wie sich die Abfolge von Gehorsam und Ungehorsam gestaltet, kann aber schwerlich zu einem ‚zy­ klischen Geschichtsbild‘ verallgemeinert werden“.

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lich der, dass menschliche Schuld (culpa) nicht nur durch die göttliche Weltordnung auf den Täter zurückfällt, sondern explizit als Strafe Gottes (poena) angekündigt und vollzogen wird. In der jüdischen und christlichen Theologie hat sich dann mit Beginn der Apokalyptik ein anderes Modell durchgesetzt, wonach Gott am Jüngsten Tag endgültig Gerechtigkeit schafft, den einen zum „ewigen Leben, den anderen zur ewigen Schmach und Schande“ (vgl. Dan 12,2).24 Sogar Immanuel Kant hat mit seinem Postulat der praktischen Vernunft25 am Gedanken eines Ausgleichs, bei dem das, was im Diesseits getan oder versäumt wurde, im Jenseits vergolten wird, festgehalten. Bach und seine Dichter kennen beide Vorstellungen, die eines göttlichen Strafgerichts in der Geschichte und die eines göttlichen Endgerichts jenseits aller Zeit. Im Choral von Martin Rutilius aus der Kantate Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen (BWV 48) werden beide Vorstellungen in subtiler Weise miteinander konfrontiert: Soll’s ja so sein, dass Straf und Pein auf Sünde folgen müssen, so fahr hier fort und schone dort und lass mich hie wohl büßen.

Mit dieser Sichtweise wird ein Strafhandeln Gottes in der Geschichte als das geringere Übel angesichts der Möglichkeit ewiger Gottesferne betrachtet. In der Kantate Tue Rechnung, Donnerwort (BWV 168) von Salomon Franck wird diese Angst in frappierender psychologischer Schärfe deutlich. Der Dichter stellt uns einen Menschen vor Augen, der im Angesicht des Donnerwortes Gottes eine Art Lebensbeichte ausspricht: Rezitativ (Tenor) Ich habe Tag und Nacht die Güter, die mir Gott verliehen, kaltsinnig durchgebracht! Wie kann ich dir, gerechter Gott, entfliehen? Ich rufe flehentlich: Ihr Berge fallt, ihr Hügel decket mich vor Gottes Zorngerichte und vor dem Blitz von seinem Angesichte.26

24 Vgl. Lexutt, 7: „Die Theodizee, die Frage nach Gottes Gerechtigkeit in der Welt, ist nicht die letzte Frage – hinter ihr lauert die noch viel schärfere nach Gottes Gerechtigkeit im Gericht“. 25 Vgl. Kant, Kr. d. pr. V., 1. Teil, II. Buch, 2. Hauptstück, vgl. besonders 141 f: „Der unendliche, dem die Zeitbedingung nichts ist, sieht in dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze, und die Heiligkeit, die sein Gebot unnachlaßlich fordert, um seiner Gerechtigkeit in dem Anteil, den er jedem am höchsten Gute bestimmt, gemäß zu sein, ist in einer einzigen intellektuellen Anschauung des Daseins vernünftiger Wesen ganz anzutreffen. […] Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, sofern eine oberste Ursache in der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat.“ 26 Vgl. Haselböck, 57, Art. Blitz, (vgl. auch unter den Stichworten „Gericht“, „Zorn“): „Die Metapher vom Zornesblitz ist auch sinnverwandt mit dem Bild vom Pfeil Gottes. Dieses Bild liegt dem

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Ein solches Sündenbekenntnis (bezogen auf Lk 16,1–9) mag uns heute möglicherweise fremd anmuten. Und doch ist es von einer bewegenden Unmittelbarkeit dem heiligen Gott gegenüber. Es manifestiert einen letzten Ernst im Umgang mit Schuld als lebensfeindlicher und damit auch Gott feindlicher Macht. Bachs Kantaten (vgl. BWV 55,1 f; 105,2) bringen damit ein Proprium der jüdisch-christlichen Tradition (vgl. Ps 51 bzw. Mt 6,11) zur Sprache, das gerade im Angesicht konkreter menschlicher Verbrechen, zu denen im 20.  und 21.  Jahrhundert neben der Shoa auch zahlreiche Genozide und der 11. September 2001 gehören, weder dogmatisch noch liturgisch aufgegeben werden sollte.27 Sie regen dazu an, mutig und offen menschliches Versagen vor Gott und der Welt zu bekennen und das Thema Schuld und Vergebung dezidiert theo-logisch zu bedenken. Freilich ist damit – zumal für eine dezidiert reformatorische Theologie – das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vielmehr ist dann zu fragen: Wie ist die Rede von menschlicher Schuld und göttlichem Gericht mit der gnädigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus vereinbar? Ohne die Analysen weiter unten vorwegzunehmen, sei hier nur so viel gesagt: Wo Bachs Kantaten Not angesichts eigener oder kollektiver Schuld benennen, ist an vielen Stellen auch Gottes Vergebung nicht fern. Immer wieder kommt zum Klingen, wie Gott selbst auf den Plan tritt und Versöhnung schafft. „Durch das Gericht hindurch“ erweist er sich dann als der Gnädige, so dass nicht die menschliche Verzweiflung am Ende das letzte Wort behält. Ein schönes Beispiel mit einer expliziten Vergebungszusage, die auf Christus, den „Bürgen“ verweist, finden wir dazu in BWV 168,4: Rezitativ (Bass) Jedoch erschrocknes Herz, leb und verzage nicht! Tritt freudig vor Gericht! Und überführt dich dein Gewissen, du werdest hier verstummen müssen, so schau den Bürgen an, der alle Schulden abgetan.

Damit ist ein Raum eröffnet, der aufatmen lässt. Das Urteil des Gesetzes wird aufgehoben, und das Evangelium kommt zum Leuchten. Dies soll im Folgenden angedeutet werden.

Menschen des Barock besonders nahe, denn die Furcht vor dem Zorn Gottes, vor dem Gericht des Höchsten, beherrscht in einer von Kriegen und Seuchen bedrängten Zeit sein Denken und Fühlen in besonderen Maß.“ 27 Vgl. Cornehl, 155, zur Trauerfeier für den 11.9.2001: „Es war ein Requiem ohne Schuldbekenntnis, ohne dass so etwas mit Mitverantwortung für den Zustand der Welt zur Sprache kam. Es fehlte der Mut zur kritischen Selbstbefragung, es fehlte auch der solidarische Blick über den eigenen Horizont hinaus.“

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0.4 Die Vielfalt der Erfahrung und das rettende Evangelium in Bachs Kantaten Mit dieser ersten Annäherung wurde der Versuch gemacht, aktuelle Erfahrungen von Natur und Geschichte mithilfe einiger Texte aus Bachs Kantaten theologisch zu deuten und damit einer Suchbewegung zu folgen, die auch in zahlreichen biblischen Texten zu finden ist. Erfahrungen „mit Gott und der Welt“ werden dort bildreich erzählt, prophetisch verkündigt oder im Gebet vor Gott gebracht. Die bi­ blischen Autoren bieten uns dazu ein differenziertes Bild: Gott offenbart sich in der Welt als gütiger Schöpfer, geschichtsmächtiger Begleiter und Geber der Tora (vgl. Ex 12–21; Ps 104–107), straft Israel und die Völker aber auch durch sein Gericht (vgl. Dtn 27,14–26 Am 1–3; Mt 24 f). Am ärgsten in Bedrängnis geraten Menschen dann, wenn Gott sich in rätselhafter Weise verbirgt, also gleichsam „wegschaut“, als ob es ihn nicht gäbe, und sie damit auf eine schwere Probe stellt (vgl. Hiob; Ps 22 bzw. Mt 27,45 ff). Diese drei „Widerfahrnisse“ Gottes bleiben oft vieldeutig, ja letztlich ambivalent: Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit usw. erschließen sich uns nicht unmittelbar als Handeln Gottes, wenn sie nicht vom Evangelium her beleuchtet werden, das uns Gott (in Christus) als barmherzigen Erlöser und Retter (vgl. Ps 103 bzw. Mk 10,45) vor Augen stellt, der Leben und Heil für die Menschen will (vgl. 1 Tim 2,4). Diese Beobachtung gilt auch für die Kantaten Bachs. Menschen klagen und bitten, bekennen Sünde und befinden sich in einer intensiven Suchbewegung nach Gott. Sobald Gott sich zeigt, wird die Zweideutigkeit der conditio humana durchbrochen. Wenn die Stimme Jesu erklingt, weichen Anfechtung und Trauer, Zweifel und Angst. Der Raum für Lob und Dank wird dadurch eröffnet. Anthropologisch ist in dieser Hinsicht der Affektbegriff zentral.28 Denn Affekte begleiten die musikalisch-religiöse Erfahrung in fundamentaler Weise. Martin Luther schreibt dazu: „Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders, als der in Furcht steckt. Es gehet nicht von Herzen (spricht man), wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll; das ist, seines Herzens Grund stehet nicht offen und ist nicht heraus. Was ist aber das meiste im Psalter anders als solch ernstlich Reden in allerlei solchen Sturmwinden?“29

28 Der Begriff des affectus hat eine lange Geschichte. Erste christliche Belege finden wir bei Athanasius (Epistula ad Marcellinum), aber auch bei Augustin, in dessen Tradition der Augustinermönch L ­ uther steht, vgl. unten 1.7.1. 29 M. Luther, WA DB 10/1, 100.102 (2. Psaltervorrede 1528). Bemerkenswert ist, dass Luther hier das Verb singen nur im Blick auf den freudigen Affekt verwendet. Im Scholion zu Ps 67 seiner Dictata super Psalterium vergleicht Luther die vier Affekte mit einem Wagen und seinen vier Rädern: „Dessen vier Räder sind die vier Affekte: Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz.“ (WA 3, 404) [Übers. JA]

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Hinführung

Der Reformator, den das Psalmensingen im Kloster wesentlich geprägt hat, legt besonderen Wert auf eine Ausdifferenzierung menschlicher Gefühle analog zu den vier Himmelsrichtungen: Zwei Affekte stehen dabei gleichsam auf der Lichtseite (Freude und Hoffnung) und zwei auf der Schattenseite (Trauer und Furcht). Furcht und Hoffnung sind auf Zukunft ausgerichtet, Trauer und Freude bewegen sich in der Gegenwart. Affekte sind für ihn nicht einfach wechselhafte Stimmungen, sondern Regungen, die vielfach von außen – nicht zuletzt durch das biblische Wort und die Musik30 – geweckt werden. Ja mehr noch: Der Heilige Geist selbst bereitet uns mit den (gesungenen und musizierten) Psalmen „sowohl die Worte als auch die Affekte vor, mit denen wir den himmlischen Vater anreden und bitten sollen im Blick auf das, was er in den übrigen Büchern [sc. der Schrift] zu tun und nachzuahmen gelehrt hat, damit keiner etwas vermissen kann, was ihm zu seinem Heil nötig ist.“31 Versuchen wir dieser Spur weiter zu folgen und die Affinität der vier Affekte zu den Kantaten Bachs sowie den Psalter als hermeneutischen Schlüssel zu ihrer Theologie und Spiritualität im Blick zu behalten.

30 Vgl. WA 50,370, wo Luther die Musik als „domina et gubernatrix affectuum humanorum“ bezeichnet. 31 WA 5,23, 30–33. Vgl. dazu das Evangelische Pastorale. Hier sind in Teil II, 17–133, nicht vier, sondern sechs Gefühlsräume oder Grundaffekte menschlichen Lebens aufgeführt, die teilweise erstaunlich gut mit dem hier diskutierten Ansatz korrespondieren: Wut und Trauer (vgl. verborgener Gott); Angst, Scham und Schuld (vgl. richtender Gott); Freude (vgl. gütiger bzw. gnädiger Gott).

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1. Die methodische, theologische, kirchenmusikalische und hermeneutische Aufgabe

Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

1.0 Vorbemerkungen zur Zielsetzung und zur Methode 1.0.1 Vier Ziele der Untersuchung Mit der Untersuchung ausgewählter Kantaten J. S. Bachs verfolgen wir ein vier­ faches Interesse, das systematisch-theologische und praktisch-theologische Fragestellungen verbindet und hier zunächst skizzenartig dargelegt werden soll: a) Dogmatisches Ziel: eine theo-logische Sichtung Erstes und primäres Ziel der Studie ist eine Analyse der geistlichen Kantaten Bachs aus systematisch-theologischer Perspektive. Es fällt auf, dass  – trotz der wichtigen Bemühungen um eine „theologische Bachforschung“  – eine zusammenhängende Darstellung einer „Theologie der Kantaten Bachs“ bis heute nicht erschienen ist. Trotz vieler profunder Studien zur Theologie und Frömmigkeit des Barock gibt es nur wenige Versuche, elementare Gotteserfahrungen, wie sie im Vokalwerk Bachs entfaltet werden, mit der Theologie der Gegenwart ins Gespräch zu bringen. Wie kann Bachs Œuvre als ein theologisch-ästhetisches „Gesamtkunstwerk“ wahrgenommen werden, dessen Stimme auch im aktuellen theologischen Diskurs relevant ist? Dazu scheint es uns unumgänglich, eine theologisch-hermeneutische Hypothese im Blick auf den Umgang mit den Texten Bachs zu formulieren. Zwei methodische Optionen, die ihrerseits musiktheologische Weichenstellungen implizieren, bieten sich an: Vom historischen Aufführungsort der Kantaten Bachs (nach der gottesdienst­ lichen Lesung des Evangeliums) her ist es durchaus plausibel, dieselben als „Evangelienmusik“1 und damit als gesungenes Wort Christi (Kol 3,16)2 zu begreifen. Bedenkt man, dass Bach im Credo seiner h-Moll-Messe dezidiert das Crucifixus in den Mittelpunkt stellt und alle weiteren trinitätstheologischen Aussagen darum gruppiert, so ist dies gut nachvollziehbar.3 Allerdings beinhaltet diese „christologische Entscheidung“ angesichts des vorhandenen Materials auch eine

1 Vgl. Meyer, Kantatentexte. 2 „Wort Christi“ kann hier in einem doppelten Sinn, d. h. als genitivus subiectivus und genitivus obiectivus, verstanden werden: als ein Wort, das Christus selbst redet und ein Wort, das von Christus redet. 3 Vgl. Petzoldt, Bach und die Theologie, 89. Dieser hermeneutische Ansatz kann mit großer Wahrscheinlichkeit für Bach und seine Dichter vorausgesetzt werden, muss uns heute aber nicht mehr exklusiv leiten.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

gewisse Engführung: Eingedenk der Tatsache nämlich, dass in etlichen Kantatentexten kein expliziter Christusbezug erkennbar ist (vgl. etwa BWV 14; 77; 138; 148, aber auch 137) bzw. viele Evangelienperikopen eher Gesetz als Evangelium verkündigen (vgl. Lk 16,19–31 zum 1. Sonntag nach Trin. bzw. die darauf bezogene Kantate BWV 20), drängt sich zumindest eine Korrektur der geläufigen hermeneutischen Perspektive auf. Bachs Kantaten besingen nicht nur die Offenbarung des Heils in Christus, sondern konfrontieren auch mit Natur und Geschichte, ja wagen sogar innerhalb einer musikalischen Klage (vgl. BWV 155; 2) von der Verborgenheit Gottes zu reden. Sie stellen uns damit vor die Aufgabe, in der komplexen Gemengelage von Glück und Unglück, Unheil und Heil nach Gott zu fragen. Das christologische Paradigma der Evangelienmusik ist daher durch ein dezidiert theo-logisches Paradigma zu ersetzen, das zwei fundamentaltheologische Unterscheidungen lutherischer Theologie aufnimmt: die Unterscheidung von Gottes Verborgenheit und Offenbarung zum einen und die von Gesetz und Evangelium zum andern. Innerhalb der aktuellen dogmatischen Debatte knüpfen wir damit an O. Bayers Rede von den „vier Widerfahrnissen Gottes“4 bzw. an M. Roths Apologetik5 an. Beide Dogmatiker unterscheiden zunächst Gottes verborgenes von seinem offenbarenden Handeln, um dann innerhalb der Offenbarung Gottes sein fürsorgliches Weltregiment (Gesetz I), sein Gericht (Gesetz II) sowie seine gnädige Rettung (Evangelium) zu beschreiben. Die vorliegende Arbeit versucht, diese fundamentalen Unterscheidungen, deren innere Mitte freilich das Evangelium ist und bleibt, mithilfe der Kantaten Bachs zeitgenössisch fruchtbar zu machen. b) Liturgietheologisches und kirchenmusikalisches Ziel: die Unterscheidung der Sprechakte in den Kantatensätzen Praktisch-theologisches Ziel der Untersuchung ist zunächst die Erhellung der Frage, welches liturgisch-theologische Profil eine Kantate besitzt. Es wird zu diskutieren sein, ob und inwiefern die Kantaten oder ihre einzelnen Sätze z. B. eher als Anrede oder eher als Antwort der Gemeinde konzipiert sind. Ausgangspunkt für diese Fragestellungen ist die poetologische und theologische Analyse einzelner Kantatensätze. Dann kann in einem zweiten musikologischen Schritt untersucht werden, wie Bach mit einem feinen Gespür für „liturgisch-poetische Formen“ Verkündigung (z. B. Schriftmeditation; Trostpredigt; paränetische Predigt, Segen), Gebet (Klage, Bitte, Dank, Anbetung) oder Bekenntnis (Sündenbekenntnis, Glaubensbekenntnis, Lobbekenntnis) musikalisch in Szene setzt. Es soll dabei geprüft werden, inwiefern Bachs Musik Verkündigungscharakter auf der einen oder Bekenntnis- und Gebetsqualität auf der anderen Seite besitzt.

4 Vgl. Bayer, 408–418. Bayer geht es um die Erfahrung der Verborgenheit Gottes, um die Be­ gegnung mit dem richtenden und dem rettenden Gott (Gesetz und Evangelium) sowie als viertes Widerfahrnis um Gottes Weltgegenwart als fürsorglicher Weltenlenker (Providenzlehre). 5 Vgl. dazu Roth, der u. a. an E. Brunner anknüpft und sich scharf von Schleiermacher (und K. Barth) distanziert.

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Vorbemerkungen

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c) Liturgiepraktisches Ziel: Dramaturgie des Kantatengottesdienstes Ausgehend vom poetischen und performativen Profil einzelner Kantatensätze soll – im Horizont heutiger kirchenmusikalischer und liturgischer Praxis – nach einer angemessen „Inszenierung“ im Gottesdienst gefragt werden. Dabei gilt es, zunächst einmal den inneren dramaturgischen Bogen der Kantate selbst auszuloten: „Wie bewegt sich die Kantate fort? Kreisend oder linear? Gibt es einen oder mehrere Höhe­ punkte? Zu welchem Ende kommt sie? Was lässt sich entdecken, wenn Hörerinnen und Hörer der Bewegung der Kantate vom Anfang bis zum Ende folgen? Wie verändert sich die Wahrnehmung von Gott und Welt, von Glaube und Leben?“6

Wenn diese Frage präsent und durch die poetisch-theologische bzw. musika­ lische Analyse einigermaßen erhellt worden ist, lassen sich weitere Folgerungen im Blick auf die liturgische Gestaltung ziehen. Dabei ist das Zusammenspiel von Anrede und Antwort innerhalb der Kantate mit dem Ganzen des evangelischen Gottesdienstes zu verbinden. Insbesondere gilt dies für die dialogische Kommunikation des Evan­geliums im Verkündigungsteil des Gottesdienstes. Dabei soll nicht nach einem allgemeinen Schema verfahren werden, sondern für jede Kantate eine individuelle dramaturgische Lösung bedacht werden, die auch den ursprünglichen Ort der Kantate im Kirchenjahr im Blick hat, ohne ihn zu verab­ solutieren. Weiter wäre zu fragen: Welche homiletischen Formen bieten sich an? Wie kann sich zeitgenössische Predigt auf eine Kantatenaufführung beziehen?7 Dabei gilt es zunächst einmal, die Kantate als eine erste Auslegung des biblischen Textes zu betrachten, denn: „Bach­ kantaten sind intertextuelle Kunstwerke. Bereits in Bachs Textvorlagen fällt auf, wie stark sie biblische Texte miteinander ins Spiel bringen. Bachs Musik fügt diesem reichen TextText-Wechselspiel weitere Kon-Texte hinzu“.8 Hier wäre etwa im Anschluss an Ideen Martin Nicols zu überlegen, ob die Verkündigung in einem Kantatengottesdienst eher als „Vorlesung“, „Wortmusik“, „Auslegung“ oder „Collage“ zu halten ist.9 Mehr noch als ein typisiertes Standardschema eignen sich fließende Übergänge auch in der Sprache. Es lohnt sich „Text-Text-Wechselspiele zu ent­ decken und für die Verkündigung im Klangraum der Kantate fruchtbar zu machen.“10

d) Hermeneutisch-spirituelles Ziel: Erhebung des ästhetischen Deutungspotentials Im Dienste einer theologischen Hermeneutik, die mit dem Menschen der Gegenwart ins Gespräch zu kommen sucht und Fragen aktueller Gottes- und Welt­ erfahrung nicht ausweicht, soll auch überlegt werden, inwiefern Bachs Kantaten ein ästhetisches Deutungspotential für politische, philosophische und ethische

6 Vgl. Deeg, 17. 7 Vgl. Glockzin-Bever bzw. den Ansatz des dort beschriebenen „Marburger Experiments“. 8 Deeg, 18. 9 Vgl. Nicol, 141–157. 10 Deeg, 18. 

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Diskurse bieten können.11 Wie kann die Musik Bachs religiöse Erfahrung neu erschließen und – rationale Muster gleichsam transzendierend – Sinn stiften, ja womöglich sogar Glücks- und Trosterfahrungen spenden?12 Es geht uns mit allen vier Zielen um eine dezidiert theologische Annäherung an die Gattung Kantate, wobei sowohl der Erfahrungshorizont der Gegenwart als auch praktische Konsequenzen nicht ausgeblendet werden sollen. Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass Bachs Kantaten eine bleibende geistliche und musikalische Aktualität besitzen, die Menschen des 21. Jh. sowohl auf der kogni­ tiven als auch auf der affektiven Ebene anspricht.

1.0.2 Vier heuristische Thesen Zur Präzisierung des Gesagten sollen im Folgenden vier Thesen formuliert werden, aus denen dann weitere Arbeitsschritte abgeleitet werden: Thes e 1: Ein analytischer Zugang zu Bachs Kantatenwerk unter rein christolo­ gischen bzw. trinitätstheologischen Vorzeichen reicht nicht aus, da hier auch vielfach die Erfahrung des Gerichts und der Verborgenheit Gottes entfaltet wird. Bachs Kantaten sind vielmehr auf dem Hintergrund einer biblisch orientierten und zeitgenössischen Gotteslehre zu bedenken, die auch mit der Wirklichkeit des richtenden und des verborgenen Gottes rechnet und ringt.13 Die poetisch-musikalische Rede von Gottes richtender, freisprechender, bewahrender und rettender Gegenwart in den Kantaten14 ist auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium15 (Gericht und Gnade) einerseits bzw. durch die Unterscheidung vom bewahrenden Gebot (primus usus legis) und richtenden Gesetz (secundus usus legis) andererseits zu interpretieren. Thes e 2: Bachs Kantaten sind musikalisch-poetische Kunstwerke, deren „Sitz im Leben“ der evangelische Gottesdienst war. Ihre einzelnen Sätze reden nicht in erster Linie über Gott, sondern inszenieren einen lebendigen Dialog zwischen Gott und

11 Vgl. Käßmann, Glauben. 12 Petzoldt I, 18 schreibt dazu: „Musik als kunstvolles Zusammenführen von Tönen ist dem­ gegenüber zuerst als ein Phänomen zu sehen, welches sich dem definitorischen Bemühen nicht nur entzieht, sondern auch im entgegengesetzten Sinne wirkt: Musik hat […] öffnenden und erweiternden Charakter, sie ermuntert zu Assoziationen, die ihrerseits zwar zur Sprache drängen, nicht aber an definitorische Grenzen gebunden sind.“ 13 Vgl. dazu unten Kapitel 2, besonders 2.0. Die Rede vom „verborgenen Gott“ lehnt sich an ­Luthers De servo arbitrio, WA 18, 597 ff an und unterscheidet sich ausdrücklich von „monistischen“ Konzeptionen, in denen die Rede von der Verborgenheit Gottes gleichsam als Schattenseite des Evangeliums verharmlost wird, vgl. Roth, 215–223 (mit Kritik an Schleiermacher und Barth, vgl. auch seine kaum nachvollziehbare Bemerkung, dass „der Deus revelatus als solcher auch der Deus absconditus“ sei (KD II/1, 609 f). Gleichwohl ist auch E. Jüngels Einwand zu bedenken, dass die Rede von Gottes Einheit nicht preisgegeben darf, vgl. Jüngel, Offenbarung, mit der begrifflichen Präzi­ sierung, statt von der Verborgenheit Gottes vom verborgenen Werk Gottes zu sprechen. 14 Vgl. unten Kapitel 3–6. 15 Vgl. Roth, 97–236.

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Vorbemerkungen

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Mensch. Sie enthalten in aller Regel gottesdienstliche Formen der Verkündigung, des Gebetes und des Bekenntnisses. Sie sind gesungene Primärtheologie, „von Gott her und zu ihm hin“16. Daraus folgt: Jede Kantate, ja jeder Kantatensatz, hat für sich betrachtet ein bestimmtes spirituelles bzw. liturgisches Profil, das sorgfältig zu bestimmen ist: So ist z. B. zu untersuchen, ob es sich bei einem Kantatensatz um eine Anrede an die Gemeinde, etwa in Form einer Gerichts- oder Trostpredigt oder um eine menschliche Antwort als Klage, Bitte, Lob oder Dank handelt. Es soll differenziert betrachtet werden, wo eine Zusage (katabatischer Sprechakt), vorliegt bzw. wo wir es mit einem Gebet oder Bekenntnis, also eher mit einer applicatio des Evange­liums (anabatischer Sprechakt), zu tun haben.17 Durch die Musik bekommen diese theologischen Formen eine besondere ästhetische Qualität. Die Performativität des Textes wird dadurch gesteigert, denn „wer singt, betet nicht nur doppelt“, sondern kann auch lebendig verkündigen.18 Thes e 3: Angesichts der Wahrnehmung differenzierter poetischer und ästhe­tischer Formen innerhalb der einzelnen Kantaten muss der liturgische Ort einer Kantatenaufführung heute je nach Gottesdienstort und Gottesdienstgemeinde immer wieder neu bestimmt werden. Ausgehend vom Proprium des Sonntags bzw. der ihn bestimmenden Perikope und von aktuellen spirituellen bzw. politischen Themen zum einen und dem spezifischen Profil der jeweiligen Komposition zum anderen soll nach einer ange­ messenen Inszenierung gesucht werden, damit ein lebendiges Wechselspiel von Anrede und Antwort gelingt.19 Die Aussagen der Kantate sind also zum Proprium des Sonntags und zur aktuellen „Großwetterlage“ (Ernst Lange) in Bezug zu setzen und für die Dramaturgie eines Kantatengottesdienstes abzuwägen.20



16 Vgl. Prenter, 151: „The liturgy of the church is theological. It speaks to God and man about God and man.“ 17 Die liturgische Unterscheidung von Verkündigung, Gebet und Lobgesang geht zurück auf ­Luthers Torgauer Kirchweihpredigt mit der sog. Torgauer Formel, vgl. WA 49, 588. Die Rede von katabatischen und anabatischen liturgischen Formen lässt sich bei Luther erstmals in WA 6,526 (De captivitate 1520) nachweisen. Dort heißt es: „Non ergo sunt confundenda illa duo. Missa et oratio, sacramentum et opus, testamentum et sacrificium, quia alterum venit a deo ad nos per ministerium sacerdotis et exigit fidem, alterum procedit a fide nostra ad deum per sacerdotem et exigit exauditionem. Illud descendit, hoc ascendit. [Hvh. JA]“ Während die Liturgiekonstitution des II. Vatikanums Luthers Torgauer Formel fast wörtlich aufnimmt (SC 33), vermeidet Schleiermacher, Praktische Theologie, 75, die Beschreibung der Liturgie anhand einer dialogischer Kategorien und benützt stattdessen das Paradigma der Darstellung. 18 Vgl. Luther, WA TR 2,11, Nr 1258: „Sic Deus praedicavit evangelium etiam per musicam.“ 19 Vgl. Klek, Kompletter Bach, 248: „Die spannendste Problemstellung auf dem Gebiet der Bach-Rezeption dürfte also sein, wie sich Bachs in solch konkret-realer Kultpraxis entstandene, inzwischen weltweit medial verbreitete Kantaten-Kunst in heutigen liturgischen Vollzügen wieder lokalisieren läßt.“ 20 Angesichts der Vielschichtigkeit des Begriffes Bekenntnis bzw. confessio in der dogmatischen und liturgischen Tradition sind über die confessio fidei (Glaubensbekenntnis) hinaus auch anders akzentuierte „Bekenntnisse“ wie die confessio pecccati (Sündenbekenntnis) oder die confessio laudis (Lobbekenntnis) zu bedenken.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Insgesamt wird man der Kantate selbst sicher ein stärkeres Gottesdienst prägendes Gewicht geben als dies früher der Fall war. Thes e 4: Im Leipziger Gottesdienst folgten Bachs Kantaten der Rezitation des Evangeliums und wurden an der Stelle des Glaubensbekenntnisses der Gemeinde gesungen.21 Es lässt sich daher behaupten, dass sie in einem dezidierten Sinne „Bekenntnis­ musik“, gesungener Ausdruck religiöser Gewissheit, waren. Dieser Aspekt ist heute weiterführend aufzunehmen: Welcher Aspekt des Glaubensbekenntnisses kommt in einem Kantatensatz zur Geltung? Geht es um ein Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer? Oder spitzt die Kantate das Christuszeugnis in einer sehr spezifischen Weise zu? Gibt es womöglich auch Bekenntnisaussagen, die jenseits der geläufigen dogmatischen Topoi liegen und ein ganz neues Licht auf das Verhältnis von Gott und Mensch lenken? Zur konkreten Erschließung dieser Thesen sollen die folgenden Interpretationsebenen unterschieden werden, die verschiedene methodische Mittel erfordern:

1.0.3 Ebenen der Interpretation – Überlegungen zur Methode im Einzelnen a) Philologische Ebene (Semantik, Stil, Struktur) Die an vielen Beispielen durchgeführte sprachliche Untersuchung der Kantatentexte umfasst geläufige philologische Mittel, z. B. die Analyse des Versmaßes und der Silbenzahl, sie benennt rhetorische Figuren und ggf. auch das Reimschema.22 Historisch sind für Bachs Kantatentexte die in der Barockzeit geläufigen poeto­ logischen Regeln vorauszusetzen, die seit der Reform von Martin Opitz (1624) in der (Lied)dichtung weite Akzeptanz gefunden hatten.23 Besonderes Interesse gilt hier der Vertonung und Verknüpfung von rezitativischen und ariosen Texten. Erstere sind meist in jambischem Versmaß mit variabler Verslänge gedichtet, während die Arien metrisch strenger gebaut sind und nur selten in Versmaß oder Verslänge variieren. Darin sind sie den strophenartigen Chorälen verwandt.24 An manchen Stellen gibt es pointierte Umstellungen oder Doppeltextierungen, und immer wieder werden sprachliche Wechsel durch musikalische Wechsel (Tempo, Tonart, Affekt) unterstrichen. Zuweilen hat Bach auch in die Vorlagen

21 Vgl. unten 1.5. 22 Im Blick auf weiterführende poetologische bzw. germanistische Fragestellungen (z. B. die Eigen­arten einzelner Kantatendichter) sei hier auf die grundlegenden Arbeiten von Streck und Tagliavini verwiesen. Den Ansprüchen einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung werden wir kaum genügen können. 23 Opitz forderte in seiner Schrift „Von der deutschen Poeterey“ drei Regeln zu beachten: „die richtigen Wortakzente im Versrhythmus, keine mundartlichen Wörter und keine unreinen Reime“ (Rößler, 352). Sodann ist zu den Madrigalen C. Zieglers Programmschrift zu bedenken (1653), während zu den Rezitativen u. a. die Aussagen von Stölzel (1740) in Betracht kommen. 24 Allerdings finden sich auch in Chorälen schon des ausgehenden 16. und 17. Jh. variable Verslängen. Besonders beliebt war das Gestaltgedicht wie etwa P. Nicolais „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Vgl. Arnold, 506–509 bzw. unten 6.1.3.

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Vorbemerkungen

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seiner Dichter eingegriffen.25 Darüber hinaus wird nach übergreifenden Stichwortbezügen26 gesucht. So lassen sich semantische Felder sichten, die besonders durch das jeweilige Sonntagsevangelium (evtl. auch die Epistel) motiviert sein können und einen „biblizierenden Kommentar“ darstellen. So ist z. B. im Bereich eines Sonntages oder Festkreises nach zentralen Begriffen und Inhalten zu fragen, die ständig wiederkehren und damit auch den Charakter der Musik begründen?27 Weiterhin sind für die Analyse auch chiastische oder symmetrische Struktur­ elemente wahrzunehmen, wie sie im Blick auf die Motetten (besonders Jesu meine Freude, BWV 227)28 und die Johannespassion immer wieder nachgewiesen wurden. b) Liturgietheologische Ebene (Sprechrichtung und Syntax) Von besonderem Interesse für eine liturgietheologische Interpretation der Kantatentexte29 sind die Prädikate bzw. Verben und ihre liturgische Sprechrichtung: Handelt es sich um performative Indikative wie im Versprechen „Fürchte dich nicht“ (vgl. BWV 153,3 bzw. BWV 228) oder um einen Segenszuspruch „Sein Geist sei euch stets zugewandt“ (BWV 120a, 7)? Oder haben wir ein Gebet wie „Ach, heile mich du Arzt der Seelen“ (BWV 135,2), ein gemeinsames Bekenntnis (Gott ist unsere Zuversicht BWV 197,1) oder einen hymnischen Lobpreis (Herr, Gott, dich loben wir, BWV 16,1) vor uns? Wo gibt es konkrete Spuren von liturgischen Elementen wie z. B. einer Litanei (vgl. BWV 18,3, 72,2)? Von besonderem Interesse ist hier also das Zusammenspiel katabatischer und anabatischer Formen wie „Predigt“, Segen oder Absolution zum einen und Klage, Bitte, Fürbitte, Bekenntnis, Dank und Lob zum andern.30 c) Anthropologisch-spirituelle Ebene: vier Affekte und vier Widerfahrnisse Gottes Innerhalb der sprachlichen Analyse ist im Anschluss an These 1 nach der spezifischen religiösen Erfahrung eines Kantatentextes zu fragen. Geht es um die dankbare Freude an Gott, wie wir sie in vielen Lobliedern und hymnischen Psalmen finden? Oder ist darin das leidvolle Ringen mit Gottes rätselhafte Verborgenheit zu hören, wie sie z. B. in den Klagepsalmen ausgedrückt ist? Geht es gar um



25 Neuere Arbeiten von Krausse und Petzoldt (vgl. Petzoldt I, 12, Anm. 11 f) weisen nach, dass Bach selbst oder ein von ihm Beauftragter Textvorlagen zeitgenössischer Dichter ganz offensichtlich theologisch überarbeitet hat. 26 Vgl. Petzoldt, Theologische Aspekte, 135 f. 27 Vgl. dazu unten 2.1 und 2.3 bzw. 3.2 f. 28 Die Motette folgt einem kunstvollen symmetrischen Aufbau, der ständig zwischen Choral und Bibeltext abwechselt. So ergibt sich eine ausgeklügelte Ringkomposition: ABCDEFC’D’E’B’A’ mit einer deutlich hörbaren doppelten Rahmung (ABB’A’) und der zentralen Fuge (Ihr aber seid nicht fleischlich) in der Mitte (F). Fast ohne Analogie ist das „Nachtstück“ „Gute Nacht, o Wesen“ mit cantus firmus im Alt und fehlender Bassstimme. Hier wird das Wesen der gefallenen Welt und ihrer Schätze geistlich und musikalisch verabschiedet. 29 Vgl. 1.0.2 (These 2). 30 Vgl. Melanchthons Apologie der CA 24, BSLK 354–356, mit der Unterscheidung von sacramentum und sacrificium laudis bzw. Luthers berühmte Torgauer Formel, WA 49,588.

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die dunkle Erfahrung von Schuld und die daraus entstehende Furcht und Verzweiflung, wie wir sie in zeitgenössischer Literatur, aber auch in den Bußpsalmen finden (vgl. Ps 6; Ps 38; Ps 51; Ps 130)? Oder ist hoffnungsvolles Vertrauen und heitere Gelassenheit angesichts der Fürsorge Gottes zu hören (vgl. Ps 23; Ps 139)? d) Systematisch-theologische Ebene Darüber hinaus ist auch die materiale theologische Fragestellung im engeren Sinne nicht zu vernachlässigen: Welche dogmatischen und ethischen Themen kommen vor? Entsprechen sie den klassischen Topoi? Oder sind die theologischen Themen und Aussagen anders zugeordnet und gewichtet? Welches trinitätstheologische Verhältnis besteht zwischen Natur und Gnade,31 Schöpfung und Neuschöpfung, Christologie und Soteriologie bzw. Christologie und Pneumatologie? Welche Verknüpfung schaffen die Kantaten zwischen Dogma und Ethos, und welche ethischen Themen werden konkretisiert? e) Theologiegeschichtliche Ebene Bachs Kantaten lassen sich nicht isoliert von theologiegeschichtlichen Entwicklungen betrachten. Dazu gehören insbesondere homiletische, liturgische und hymnologische Kontexte, aber auch geistesgeschichtliche Gegebenheiten allgemeiner Art.  Der theologiegeschichtliche Hintergrund der ausgehenden lutherischen Orthodoxie und des beginnenden Pietismus ist ebenso zu bedenken wie der musikgeschichtliche Entwicklungsstand der Barockzeit. Im Blick auf die theologischen Quellen ist noch vor der Lutherbibel in der Ausgabe Abraham Calovs, die Bach nachweislich (erst) ab 1734 besaß, der biblische Kommentar von Johann Olearius zu nennen, der zugleich ein exegetisch-hermeneutisches Kompendium des Umgangs mit der heiligen Schrift bietet. Olearius’ weit verbreitete und in Bachs theologischer Bibliothek vorhandene Erklärung der Bibel ist eine Art exegetisch-theologiegeschichtlicher und dogmatisch-katechetischer Hermeneutik, die sowohl die Metaphorik und Poetologie der Zeit erhellt, als auch eine Konkordanzmethode zur Schriftauslegung und -aneignung konsequent durchführt. Die methodische Akribie und Transparenz dieses Buches gibt uns wertvolle Einblicke in die Glaubens- und Denkwelt der Kantatendichter und J. S. Bachs selbst. Allerdings dürfte auch die Erbauungsliteratur von Heinrich Müller, August Pfeiffer und Johann Arndt für Bach eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.32

f) Musikgeschichtliche Ebene Für die musikologische Interpretation der Kantaten ist ihre Einordnung in Kompositionen des beginnenden 18.  Jh. sowie in den Kontext der zeitgenössischen

31 Vgl. BWV 76,2 (Die Himmel erzählen die Ehre Gottes): Der unbekannte Dichter verknüpft pointiert Schöpfungslehre und Abendmahlstheologie: „So lässt sich Gott nicht unbezeuget  /  Natur und Gnad redt alle Menschen an: / Dies alles hat ja Gott getan, / dass sich die Himmel regen / und Geist und Körper sich bewegen. / Gott selbst hat sich zu euch geneiget / und ruft durch Boten ohne Zahl: / Auf, kommt zu meinem Liebesmahl!“ 32 Vgl. dazu ausführlicher unten 1.3.

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Vorbemerkungen

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Musiktheorie unumgänglich. So sind die historischen Beschreibungen der einzelnen Gattungen (Arie, Rezitativ, Choral sowie Chöre) bzw. einzelner musikalischer Formen (z. B. Concerto, Fuge, Ouvertüre, Chaconne, Dialogus etc.) wahrzunehmen und die wichtigsten musikalischen Mittel (z. B. Imitationen, Satztechniken) zu benennen und nach heutigem Kenntnisstand kurz darzustellen. Dazu gehört auch eine Anknüpfung an die musikalische Figurenlehre33 des Barock, die bei Bach – noch mehr als bei Schütz – im Dienste der Erzeugung musikalischer Affekte steht. Musikalisch-rhetorische Figuren, die sich grob in Satzfiguren, Melodiefiguren und Pausenfiguren aufteilen lassen, gewinnen, sofern sie über die Funktion bloßen Schmucks hinausgehen, ihre Bedeutung im Zusammenhang der „elaborirung eines textes“34, den sie auslegen und abbilden und damit die Hörer bewegen und berühren. Zugleich nehmen wir Abstand von spekulativen Experimenten und kabbalistischen Mutmaßungen über Notenanzahlen35, es sei denn Zahlen seien schon durch den Titel des Werkes angezeigt.36 g) Musikalische Analyse unter Berücksichtigung des Wort-Ton-Verhältnisses Im Blick auf die musikalische Analyse ist je nach Komposition eine Fülle von Aspekten und Parametern zu bedenken, die hier nicht alle aufgelistet werden können. Einige wenige, die mit dem Text in einem spezifischen Zusammenhang stehen, sollen hier benannt werden: – Gibt es signifikante Besetzungstypen im Blick auf einen bestimmten Affekt oder einen theologischen Topos? Lassen sich z. B. Trompeten und Pauken eindeutig dem freudigen Affekt zuordnen und besitzen damit eine natürliche Affinität zu Fest- und Lobkantaten? Sind Liebesoboen stets ein Ausdruck inniger Intimität (zu Jesus)? Welche Bedeutung hat eine konzertierende Orgel oder eine Be­ setzung mit 3 Posaunen (Archaismus)? – Wie bringt Bach durch die Wahl einer bestimmten musikalischen Form eine poetische Form oder einen speziellen Inhalt zum Leuchten (z. B. Französische Ouvertüre in BWV 61,1 als Einzug des Königs oder aber in BWV 20,1 als Einzug des wiederkommenden Richters)? – Was bewirken Tonart, Tempo und Taktart für den musikalischen Affekt bzw. die Gesamtaussage des Satzes (vgl. z. B. BWV 12,2: f-moll, Lento, 3/2-Takt)? – Welche Satztypen (z. B. polyphoner oder homophoner Satz, Fuge37, Concerto, Arioso etc.) unterstreichen oder beleuchten welchen Text? – Welche Beziehungen von Wort und Ton lassen sich im Einzelnen erheben? – Wurde das Werk in irgendeiner Weise parodiert und was ist daraus zu fol­ gern?38 – Werden bestimmte Texte an den Chor oder eher an Solostimmen gewiesen?

33 Vgl. unten 1.7.2 bzw. grundsätzlich Krones und Eggebrecht, Musica poetica. 34 Walther, Praecepta, 158. 35 Vgl. Petzoldt II, Vorwort. 36 Vgl. etwa Bachs Orgelchoral Dies sind die heilgen zehn Gebot (BWV 635) im Orgelbüchlein. 37 Vgl. dazu unsere Analyse von Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 69,1) unten 6.3.1. 38 Vgl. dazu unsere Analysen zu BWV 66 (vgl. 6.1.2); BWV 173 (vgl. 6.2.1) und BWV 120a (vgl. 5.3.2).

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– Sind bestimmte Textsorten oder Aussagen bestimmten Singstimmen vorbe­ halten?39 – Gibt es textlose Assoziationsmöglichkeiten, z. B. durch Instrumentalzitate von Kirchenliedern? h) Hermeneutische Aufgabe Zusammenfassend ist im Blick auf eine dem jeweiligen Stück aber auch der ganzen Gattung angemessene Interpretation weiter zu fragen: Was ist das musikalische Proprium des Stückes? Warum hat Bach einen bestimmten Text gerade auf diese spezifische Art und Weise vertont? Inwiefern dienen die verwendeten musikalischen und sprachlichen Mittel einer geistlichen Erschließung im Gottesdienst bzw. im Konzert? Meinrad Walter beschreibt die hermeneutische Aufgabe folgendermaßen: Es gilt, „eine merkwürdige ‚Übergangsstelle‘ zu umschreiben, die niemand akzeptieren muß, die aber immerhin ‚plausibel‘ gemacht werden soll. Es ist dies der Übergang vom historisch-ästhetischen zum geistlichen Verstehen, sowie – in einer anderen Blickrichtung  – der vom symbolisch-erkennenden Verstehen zu einem symbolisch-aneignenden.“40 i) Konkrete Arbeitsschritte Die eben genannten Aspekte lassen sich schwerlich im Zusammenhang jeder Kantatenanalyse der Reihe nach „abarbeiten“. Dennoch wiederholen sich in der Regel drei bis vier Schritte nach einem bewährten Muster: Am Beginn steht meist ein Blick auf die poetische Form der Kantate und ihre theologischen Spezifika, ehe dann wesentliche Aspekte der musikalischen Faktur im Zusammenspiel von Wort und Ton eruiert werden. Am Ende finden sich Konkretionen im Blick auf die liturgische Inszenierung, zuweilen auch ein hermeneutischer Ausblick.

1.0.4 Verlauf der Untersuchung Nach einer Erhebung der historischen, poetologisch-musikologischen, liturgischen, homiletischen und dogmatischen Voraussetzungen (Kapitel 1) soll im ersten materialen Hauptteil der Themenkomplex verborgenes versus offenbares Handeln Gottes (Kapitel 2) bzw. Offenbarung Gottes in Gesetz und Evangelium (Kapitel 3–5) an ausgewählten Kantaten untersucht werden. Darauf folgt in einem zweiten materialen Hauptteil die Darstellung der Bedeutung der Kantate als spezifische Evangelienmusik (Kapitel 6). Als „Lobopfer

39 Vgl. Steiger, 119–125. Die Bassstimme fungiert oft als vox Christi und tritt zuweilen mit der glaubenden Seele in einen Dialog (vgl. BWV 21,7 f; 49,5). Die Altstimme kann als „Stimme der glaubenden christlichen Gemeinde“ (vgl. Petzoldt I, 44), aber auch als Stimme der Furcht (vgl. BWV 66,4 f; BWV 60,1–4) fungieren, während der Tenor in der Regel eher kerygmatische bzw. zuversichtliche Töne anschlägt. 40 Walter, Musik, 61.

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und Bekenntnis christlichen Glaubens“41 werden doxologische Kantaten insbesondere auf ihre trinitätstheologische Qualität hin analysiert. Ausgehend von der christologisch-soteriologischen Mitte innerhalb des Bachschen Vokalwerkes ergibt sich ein theologisch sachgemäßer Ausgangspunkt im zweiten Artikel, der dann pneumatologisch und schöpfungstheologisch erweitert und trinitarisch abgerundet wird, so dass sich insgesamt eine doxologische Trinitätstheologie in Tönen abzeichnet. Ausgehend von der Einsicht, dass Bachs Kantaten facettenreich die Schrift auslegen und vergewissernd bekennen, zeitgenössisch antworten und spirituell berühren, sollen die verschiedenen Analysen und Beobachtungen am Ende unter exegetisch-hermeneutischen, dogmatischen, liturgischen und spirituellen Perspektiven gebündelt werden (Kapitel 7).

1.1 Bachs geistliche Kantaten im musikgeschichtlichen Kontext 1.1.0 Zur Entstehung der Kantate im deutschsprachigen Raum Die über zweihundert geistlichen und weltlichen Kantaten J. S. Bachs bilden neben seinem Orgelwerk gewiss das Zentrum seines Schaffens.42 Der Begriff der Kantate ist ohne das Œuvre Bachs im Grunde kaum zu denken. Er stammt eigentlich aus dem Italienischen („Cantata“ oder „Cantada“43) und bezeichnet dort im Gegensatz zur Sinfonia zunächst einfach Vokalmusik. Dabei handelt es sich zunächst um eine weltliche Gattung, die im Gegensatz zur Oper eher kammer­ musikalisch geprägt war. Ihren „Sitz im Leben“ hatte sie am Hof der Fürstenhäuser und Mäzenaten (Rom, Venedig, Neapel etc.). Anfangs handelte es sich meist um „einsätzig-strophische“ Formen, wobei der Begriff Cantata oftmals mit dem der Aria synonym gebraucht werden konnte; „erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts entstand eine Aria, die – mit anderen Sätzen kombiniert – in einer Cantata aufgehen konnte.“44 So verstand man unter einer Cantata allmählich eine Kompo­ sition, die aus deklamierenden Rezitativen in madrigalischen, d. h. unregelmäßig langen, meist jambischen Versen und strophenartigen Arien bestand. Die poetisch strenger gebaute Aria – meist bestehend aus „Vier-, Fünf- oder Sechssilblern mit regelmäßigen Be­ tonungsstrukturen – hat eine hohe Affinität zu ausgeprägten melodischen Strukturen, das „losere“, oft prosanahe Rezitativ ermöglicht ein flüssiges Erzählen des Stoffes. Komponiert wurde im modernen, sog. monodischen Stil über einem Basso continuo. Charakteristisch wird dabei immer mehr der Wechsel von rezitativisch-deklamierenden und arienhaft-kantablen Teilen45, evtl. auch mit ariosen Mischformen, Variationen- oder Rondoform, aller

41 Vgl. dazu unten Abschnitt 1.3. 42 Vgl. zum Folgenden: Dürr, 17–71, sowie Steiger, Kantate, 592–598. 43 So erstmals um 1620 bei Alessandro Grandi, vgl. Steiger, Kantate, 592. Tagliavini, 7, verweist als Vorgänger der sog. „Cantata da camera“ Grandis auf die 1602 in Venedig erschienenen Dialoghi von Domenico Maria Megli und die Madrigali Concertati von G. Vincenti (Venedig 1615). 44 Küster, 100. 45 Vgl. zur Definition der Cantata, Mattheson, VC II, Cap. 13, § 25 f, wonach eine Cantata „zweierley seyn kann: 1. Wenn sie mit einer Arie anfängt und schließt. 2. Wenn sie beides, oder auch das Anfangen nur mit einem Recitativ verrichtet.“

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dings ausschließlich in solistischer Besetzung. Der Inhalt war meist Schäfer- und Liebeslyrik. Von dem Römer Giacomo Carissimi46 wird der Begriff Mitte des 17.Jh. auch für eine analoge geistliche Dichtung verwendet. In Deutschland mehren sich zwar mit Heinrich Schütz (1585–1672) zunehmend auch italienische Einflüsse, ja sogar der Begriff Cantate taucht bereits 1638 bei Schützens Schüler Kaspar Kittel auf.47 Zugleich dominiert aber im protestantischen Bereich weiterhin die strenge Bezogenheit der gottesdienstlichen Musik auf die in Schriftlesung und Predigt ergehende Wortverkündigung.48 So bleiben hier Bibelwort (meist Evangelium oder Psalm) und Choral zunächst die bestimmenden poetischen Gattungen für geistliche Kompositionen (Motette, Concerto oder Dialogus). Dabei legen sich die Prosa der Bibel und die geistliche Poesie des Chorals gegenseitig aus, die Musik konnte dabei „nicht nur eine exegetische Funktion übernehmen, sondern auch musikalisch interessante Konstruktionen entstehen lassen. Damit waren die Texte der protestantischen Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts im Grunde ebenso ‚perfekt wie die italienische Oper; ihre Vielfalt erwuchs aus den gleichen textlichen Gegensätzen [sc. Prosa und Poesie], nur wurden andere Konsequenzen daraus gezogen.“49 Der Begriff Cantata bleibt bis um 1700 weitgehend der weltlichen italienischen Gattung vorbehalten. Wird er  – etwa im norddeutschen oder mitteldeutschen Raum  – für eine geistliche Komposition verwendet, so ist mit odenartigen Texteinschüben (Aria) zu rechnen.50 Selbst J. S. Bach verwendet den Ausdruck „Cantata“ zeitlebens fast nur für weltliche Kantaten, während er geistliche Kantaten mit Concerto oder Dialogus überschreibt.51 Bis zum Jahr 1700 vermischen sich dann diverse alte und neue musikalische Gattungen. Die jeweilige Form kann an lokalen (z. B. franz., ital. Stil), musikalischen (Concerto, Dialogo, Historia, Motette, Aria, Choral) oder literarischen Merkmalen (Bibelspruch, Choral, Oden, Madrigal52) festgemacht werden. Schwieriger ist eine hermeneutisch-inhalt­liche Unterscheidung von „Erbauungs-, Predigt- und kontemplative[r] Perikopenkantate“53. Musikalisch wegbereitend für die Kantate waren besonders die Dialoge Hammerschmidts54



46 Vgl. MGG, Art. Kantate, 1709 f. 47 Vgl. Kittels Sammlung mit dem Titel „Arien und Cantaten …“ (vgl. Steiger, Kantate, 592). 48 Vgl. MGG, Art. Kantate, 1735: „Der Bibeltext als die eine Textbasis stellte in lutherischer Tradition den Anspruch auf verständliche Textauslegung, und wurde dem durch figürliche Wortexplikation oder durch erbauliche Textkombination Rechnung getragen, so konnte sich ein gespanntes Verhältnis zur geschlossenen Ausformung der Sätze im Sinne der Kantate ergeben.“ 49 Küster, 104. 50 Küster, 103, weist darauf hin, dass Aria und Choral einander angesichts ihrer strophischen Form oft gar nicht so unähnlich waren: „Vertonungen geistlicher Lieder des 17. Jahrhunderts tragen nicht selten den Titel ‚Aria‘. […] Somit ist ‚Aria‘ zunächst viel eher synonym zu ‚Kirchenlied‘ oder ‚Choral‘ zu sehen als zur späteren Opernarie.“ 51 Vgl. Küster, 106. BWV 51 (Jauchzet Gott) ist im Autograph allerdings mit Cantata überschrieben. 52 Vgl. dazu Steiger, Kantate,. 593. Als Beispiel sei hier Buxtehudes berühmte und viel musizierte Kantate „Alles was ihr tut“ mit allen drei Textgattungen, Bibelwort (Kol 3,17); Choral („Gott will ich lassen raten“) und freier Odendichtung in der Aria („Dir, dir Höchster, dir alleine“). 53 Steiger, Kantate, 593. 54 Vgl. Hammerschmidt, Musicalische Andachten. Etliche von Bachs Kantaten (z. B. BWV 49; 60 u. a.) tragen den expliziten Titel „Dialogus“. Oft geht es dabei um eine allegorische Begegnung, z. B. des Bräutigams Jesus mit der gläubigen Seele (vgl. BWV 21,7 f), von Furcht und Hoffnung (vgl. BWV 66,4 f).

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und Rosenmüllers, die Weihnachtshistorie von Schütz (1662)55, geistliche Vertonungen der Brüder Krieger, die Singenden Sonn- und Festtagsandachten von Constantin Christian Dedekind (1683) sowie gottesdienstliche Musik von Wolfgang Carl Briegel in Darmstadt und Johann Rudolf Ahle in Mühlhausen.56

Ab ca. 1700 kommt es dann zu einer diese Einflüsse bündelnden neuen litera­ rischen Gattung, wenn ganze Jahrgänge von „Kantaten“ – erst jetzt ist der Begriff wirklich allgemein geläufig – zum Zweck der Erbauung bzw. der Vertonung entstehen57. Prominentester Schöpfer der Gattung ist Erdmann Neumeister.58 1700 veröffentlichte er in Weißenfels seinen ersten kompletten Jahrgang unter dem Titel „Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music“. Er gilt als „Vater“ und exponiertester Vertreter der Gattung und macht aus der Anleihe bei der „säkularen“ Oper keinen Hehl: „Soll ichs kürzlich aussprechen, so siehet eine Cantata nicht anders aus als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt“59. Erstmals vertont wird der erste Jahrgang Neumeisters von Johann Philipp Krieger, dem Hofkapellmeister zu Weißenfels.60 Die poetische Eigenart des neuartigen literarischen Genres besteht also im Wechsel von „madrigalischen“ Rezitativen61 und strengeren Arien: Neumeister verzichtet zunächst auf die traditionellen Elemente Choral und Bibelwort, ja denkt wahrscheinlich auch primär an Aufführungen außerhalb des Gottesdienstes, worauf der Ausdruck „statt einer Kirchenmusic“ hinweist.62 Nach den Anfangsversuchen von 1700/04 und 1708 (2. Jahrgang) greift er aber ab seinem dritten Kantatenjahrgang 1711 wieder auf die traditionellen Elemente des 17. Jh. zurück, wie er sie in der frühesten Veröffentlichung dieser Art (1704/05

55 Schütz spricht in seinem Vorwort explizit vom „Stylo Recitativo“ und einer „über die Worte geführten Modulation und Mensur“ und meint, dass dergleichen „bishero in Teutschland seines Wissens in Druck noch nie herfürgekommen“ sei. 56 Vgl. auch Schweitzer, 64. Als besondere Schwierigkeit stellt sich heute die Tatsache dar, dass viele der damals aufgeführten Stücke nie gedruckt wurden bzw. Handschriften durch Kriegswirren etc. verloren gingen. 57 Vgl. Steiger, Kantate, 593: „Kantatentextdrucke waren nicht nur für die Komposition und zum Mitlesen im Gottesdienst gedacht, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit als Erbauungsschrift.“ 58 1671 in Üchtritz bei Weißenfels geboren, studierte er in Leipzig Theologie und wurde nach dem Dienst in Bibra, Eckartsberga und Weißenfels 1715 Hauptpastor an St. Jacobi in Hamburg, wo er bis zu seinem Tode 1756 blieb. 59 Neumeister, Vorrede, LXXVI, vgl. Spitta I, 467; bzw. Tagliavini, 47. 60 Vgl. Wolff, 175. 61 Vgl. dazu C. Ziegler, zit. nach Tagliavini, 17: „Ich muß aber zum Beschluß erinnern, daß kein einziges genus carminis in der Deutschen Sprache sich besser zu der Musik schicke, als ein Ma­ drigal. Denn darinnen läßt sich ein Concert am allerbesten auszuführen [sic], und weil die Worte so sein in ihrer natürlichen Construction, gesetzt werden können, so kömbt auch die Harmony und so viel desto besser und anmuthiger […] Sonsten aber wird ein Madrigal (was die bloßen Verse belanget) dem Stylo recitativo fast gleich gemacht, und halt Ich besagten Stylum recitativum, wie ihn die Italiener in der Poesie zu ihren Singe-Comedien gebrauchten vor einen stets werenden Madrigal […], doch solcher Gestalt, daß je zuweilen darzwischen eine Arietta auch wohl eine Aria von etlichen Stantzen lauffe, welches denn sowohl der Poet als der Componist sondern in acht nehmen, und eines mit dem andern zu versüßen, zu rechter zeit abwechseln muß.“ 62 Vgl. Küster, 108, der auf einen analogen Vorgang um 1600 in Italien hinweist, als die neue Form geistlicher Madrigale (madrigali spirituali) entstand.

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in Meiningen) vorfand.63 Sie wies folgende Struktur auf: alttestamentlicher Bibeltext, Rezitativ, Arie – neutestamentlicher Text, Arie, Rezitativ, Choral/Chor. Zur gleichen Zeit erschien in Darmstadt Georg Christian Lehms’ „Gottgefälliges Kirchen-Opffer“ (1711). „Der Jahrgang ist zweigeteilt: Einem Zyklus für den Vormittagsgottesdienst, der nur Bibelwort, Arien und gelegentlich Choräle enthält, folgt ein weiterer für den Nachmittag, der durch Vorherrschen madrigalischer Dichtung, darunter auch Rezitativen, gekennzeichnet ist, also in der Neumeister-Nachfolge steht und wohl größtenteils für solistische Besetzung gedacht ist.“64

Aufs Ganze gesehen setzt sich gegen den solistischen Typ, der stark dem italie­ nischen Ursprung verpflichtet ist, eine Mischform durch, die in der Regel als Rahmen einen Eingangschor und einen Schlusschoral um je zwei Rezitative und Arien gruppiert.65 Neu gegenüber der vorbachschen Generation, die sich hauptsächlich noch auf Vertonungen von Choral- und Bibeltexten beschränkte (Motette oder Concerto), bleibt aber die Aufnahme madrigalischer Lyrik mit einheitlichem, meist jambischem Versmaß und variablen Zeilenlängen (oft 7- und 11-Zeiler) nicht nur in Rezitativen und Arien, sondern auch in den Chören (z. B. BWV 12, BWV 31).66 So tritt die geistliche Kantate, beflügelt durch den zeitgenössischen Geschmack in der Aristokratie, einen Siegeszug durch das lutherische Deutschland an: Aufgeführt wird sie in den reichen Handelsstädten Nürnberg, Leipzig, Frankfurt a. M., Danzig, Lübeck und Hamburg, an den Höfen von Weißenfels oder Darmstadt, im thüringisch-sächsischen Raum aber auch in den Dörfern.

1.1.1 Mühlhausen – Weimar – Leipzig: Drei Stadien im Kantatenschaffen Bachs67 Da die historische Entstehung der Kantate im Œuvre J. S. Bachs hier nicht im Mittelpunkt steht, muss eine knappe Zusammenfassung seiner Entwicklung genügen. Dabei kann die grundlegende Datierungsrevision als opinio communis voraus­

63 Vgl. Wolff, 176 bzw. Küster, 108. Sie sollen von Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen stammen. 64 Dürr, 32 f. 65 Dazu äußert sich Mattheson, VC II, Cap. 13, § 30, sehr abfällig: Die „Cantate“ sei in dieser Form, bestehend aus Chören, Rezitativen, Arien und Chorälen, ein „aus vielerley Schreib-Arten zusammengestoppeltes Wesen. Das Cantatenmäßige, so darin vorkömmt, gehört zum Madrigal-Styl; die vielstimmigen Chöre und Fugen zum Motetten-Styl; die Begleitungen und Zwischen-Spiele zum Instrumenten-Styl; und endlich die Choräle zum melismatischen.“ 66 Zur weiteren Ausdifferenzierung vgl. Walther, Art. Cantata, der drei Untergattungen der Cantata unterscheidet: –  „Cantate amorose (ital.) deren Texte von Liebe handeln.“ –  „Cantate morali (ital.) deren Texte aus der Sitten-Lehre hergenommen sind.“ –  „Cantate spirituali (ital.) geistliche Cantaten.“ 67 Zur gesamten Entwicklung vgl. besonders Wolff. Für die Arnstädter Wirkungszeit Bachs kommt, wie A. Glöckner nachgewiesen hat, allenfalls BWV 150 in Betracht, BWV 15 (Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen) hat sich als ein Werk Johann Ludwig Bachs erwiesen. Vgl. dazu Dürr, 27, Anm. 3.

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gesetzt werden, die sich in den 1950er-Jahren im Blick auf die geistlichen Kantaten durchsetzte.68 Damit wird die Epoche Philipp Spittas und Albert Schweitzers beendet, die Bachs Œuvre vorwiegend unter dem Begriff des „Genieprinzips“ beschrieben hatte und auch mit vielen Datierungen von falschen Voraussetzungen ausging. So konnten z. B. viele Choralkantaten durch von Dadelsen und Dürr als frühe Werke der Leipziger Zeit (1724/25) nachgewiesen werden. Holzschnittartig lassen sich drei kompositorische Abschnitte erkennen, die auch mit den Stadien seines beruflichen Werdegangs korrelieren: Organist an St. Blasius in Mühl­hausen (1707/08), Hoforganist und Konzertmeister in Weimar (1708–17) und Director musices in Leipzig (ab 1723).

1.1.2 Frühe Kantaten Bachs frühe Kantaten (1707–1712) sind keinesfalls das, was man gemeinhin Jugendwerke nennt. Gott ist mein König (BWV 71)69 oder Aus der Tiefen (BWV 131) bzw. die Osterkantate Christ lag in Todesbanden (BWV 4) sind Meisterwerke eines Stils, der in seiner Konzentration auf Choral und Bibelwort zwar noch dem 17. Jahrhundert verpflichtet ist, musikalisch aber höchst innovativ erscheint. Diese Kompositionen sind etwas kleingliedriger als die späten Kantaten, streben aber nach einer Einheitlichkeit in der Gesamtanlage, d. h. sie weisen meist keine abgeschlossenen Einzelsätze auf. Die einzelnen Sätze bzw. „Abschnitte“ enthalten zahlreiche metrische und stimmungsmäßige70 Wechsel, die z. T. durch ein Alternieren in der Besetzung der Instrumental- und Vokalgruppen unterstrichen werden. Wolff nennt für BWV 71 sechs bzw. mit Orgel sieben Chöre71: Instrumentalchor I Instrumentalchor II Instrumentalchor III Instrumentalchor IV Vokalchor I (Soli) Vokalchor II (Ripieno) Orgel

Trompete I–III, Pauken Violinen I/II, Viola, Violone Oboe I/II; Fagott Blockflöten I/II; Violoncello S A T B solo SATB Basso per Organo



68 Der epochale Umbruch verbindet sich besonders mit den Namen von Alfred Dürr und Georg von Dadelsen, die 1957/58 unabhängig voneinander zwei einschlägige Monographien zu Bachs geistlichen Kantaten herausbrachten (vgl. Dürr, Chronologie bzw. v. Dadelsen, vgl. auch Küster, 96 f). 69 BWV 71, komponiert zum 4.  Februar 1708, überschreibt Bach mit dem Titel „Glück­ wünschende Kirchen Motetto“ (Bach-Dokumente II, No. 30), womit einmal mehr die terminolo­ gische Offenheit der Zeit deutlich wird. Vgl. Küster 139 (siehe auch Dürr, 796; Wolff, 124). 70 Bach überschreibt die Sätze seines frühen Meisterwerks mit variierenden Tempo- und Affektbezeichnungen wie z. B. animoso und un poco allegro (I) oder affetuoso e larghetto (V). Vgl. dazu unten 1.7.1. 71 Vgl. Wolff, 123, der darin eine Anlehnung an das Vorbild Buxtehude (Abend-Musicen) sieht. Im Blick auf BWV 4 ist allerdings eine Anlehnung an die gleichnamige Kantate Pachelbels unverkennbar. Es wird also immer wieder im Einzelnen zu prüfen sein, welches Vorbild Bach jeweils hatte.

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Außerdem zeigt Bach in den einzelnen Sätzen dieser Kantate bereits seine kompositorische Meisterschaft in unterschiedlichen Formen: Arie mit Choral in Satz 2; Fuge im Solo-Quartett von Satz 3 und Chaconne in Satz 4 etc.72

1.1.3 Mittlere Kantaten Die „mittleren“ geistlichen Kantaten (1713–1716)73 zeigen den 1714 zum Konzertmeister beförderten Bach auf der Höhe der Zeit: Er schreibt nun zunehmend auch Rezitative auf freie madrigalische Dichtungen, besonders dominant in den Solokantaten BWV 54, 199 und 152 im Sinne der beiden ersten Kantatenjahrgänge Neumeisters (1700/04). Der Librettist bekommt so eine neue, einschneidende Bedeutung, da die Kantate nun nicht mehr „Kompilationen aus Bibeltexten und protestantischem Liedgut“74 sind. Bachs wichtigster Dichter ist Salomon Franck, dessen „Evangelisches Andachtsopffer“ (vgl. BWV 31; 132; 152; 155; 161–163) zur entscheidenden Quelle seiner Kantatenvertonungen in dieser Zeit wird. Er hatte zunächst noch auf madrigalische Rezitative verzichtet und nur poetische Arientexte Chorälen und Bibelworten gegenübergestellt, somit also zwischenzeitlich einen „Übergangstypus“75 geschaffen (vgl. BWV 18276, seine Antrittskomposition als Konzertmeister in Weimar), der dann allerdings rasch abgelöst wird und dem weiterentwickelten Neumeister-Typus (3./4. Jahrgang, 1711 ff)  mit Bibelwort, freier Dichtung und Choral entspricht. Später schreibt Franck für die einleitenden Chöre auch freie Dichtungen, die Bach jeweils durch eine andere Form (Passacaglia, Concerto u. a.) zum Klingen bringt.77 Worin bestand Bachs Affinität zu Salomon Franck? Wolff meint dazu: „Francks erlesene poetische Sprache, seine pointierten und ausdrucksstarken Formu­lierungen und die klare theologische Botschaft seiner geistlichen Texte lieferten Bach die ideale Grund-



72 Spätestens während seiner ersten Jahre in Weimar wird Bach dann mit Elementen in Berührung gekommen sein, die sich aus der Oper herleiteten: Rezitativ und Dacapo-Arie, aber auch mit Formkonzeptionen aktueller Vokalmusik (vgl. Küster, 144). 73 Die Kantate Der Herr denkt an uns (BWV 196) gehört poetisch klar zur ersten Gruppe, da sie lediglich Bibelworte aus Ps 115 enthält und auf (madrigalische) Rezitative verzichtet. Musikalisch weist das Werk allerdings voraus, da es bereits eine Da-capo-Arie enthält, obgleich „der Text diese Gestaltung eher versperrt als nahelegt“ (Küster, 148). Außerdem enthält das Werk Elemente des italienischen Concertos, die so in den vorangegangenen drei Kantaten nicht zu finden waren. Falls Lobe den Herrn meine Seele (BWV 143) von Bach stammt, ist auch dieses Werk zu diesem Zwischenstadium zu rechnen, wenngleich hier bereits zwei Arien mit freien Dichtungen enthalten sind (vgl. ähnlich BWV 182; 12). 74 Küster, 145. 75 Vgl. Dürr, 33 u. ö. Zu diesem Typus rechnet Dürr die Kantaten BWV 12; 172; 70a; 186a und 147a. 76 Da das Marienfest Mariae Verkündigung in jenem Jahr auf den Palmsonntag fiel, nützten Bach und sein Dichter (vgl. Wolff, 170) die Chance, hier eine programmatische Musik für die Weimarer Himmelsburg (Schlosskapelle) zu schreiben und das Marienfest christologisch zu akzentuieren (vgl. Wolff, 170–176). Wolff, 173 geht davon aus, dass Bach die Aufführung als Konzertmeister geleitet hat und sich somit „gleichzeitig als Komponist, Konzertmeister und Soloviolonist prä­ sentierte“. 77 Vgl. Dürr, 36.

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lage für seine eigenen musikalischen Gedanken und, ganz allgemein, für die Weiterentwicklung seiner Kompositionskunst.“78

Zu diesem Typus der Bachschen Kantaten, in denen alle poetischen und musika­ lischen Formen der späteren Leipziger Kantaten grundsätzlich angelegt sind, gehört auch  – als mutmaßlich frühestes Beispiel  – die Kantate Ich hatte viel Be­kümmernis (BWV 21), wahrscheinlich entstanden anlässlich eines Trauergottesdienstes für Aemilia Maria Harreß (8.10.1713).79 Außerdem enthält er zwei Kantaten aus der Feder Neumeisters, die Adventskantate Nun komm der Heiden Heiland“(BWV 61) mit einer fulminanten französischen Ouvertüre zu Beginn und Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt (BWV 18) für Sexagesimae (ansonsten: BWV 80a; 31; 185; 163; 132; 155; 161). Für den sächsischen Hof in Weißenfels und seinen Herzog Christian komponierte Bach, ebenfalls auf einen Text Salomon Francks, mit großer Wahrscheinlichkeit schon 1713 seine erste weltliche Vokalkomposition, die Jagdkantate BWV 208, ein Werk, das er 1716 auf den Weimarer Herzog Ernst August umschrieb. Das weltliche Genre der Glückwunschkantaten, eine Art „barocker Kasualdichtung“, das Bach besonders in Köthen (1717–23), aber auch in Leipzig noch weiter pflegte, lässt sich mit Küster in drei Untergattungen aufteilen, die z. T. eine große Nähe zur Oper zeigen: direkte, betrachtende und drama­ tische Gratulation:80 Die Jagdkantate, wahrscheinlich in Kostümen, vielleicht sogar halbszenisch aufgeführt, gehört zur letzten Gruppe81 und enthält wie die frühen Solokantaten 199; 152 und 54 ebenfalls Rezitative im neuen Stil. Das eigentliche Thema der dramatischen, also aus heutiger Sicht „opernhaftesten“ weltlichen Kantaten, war indes nie primär das Drama des mythologischen Stoffes, sondern der festliche Anlass: „Mit der Aufführung des Werkes wurden Glückwünsche dargebracht, gleichviel ob der Gratulant anwesend war oder nicht, und der gewählte Stoff hatte den Zweck, Glückwünsche aufzunehmen. Bei dieser Gratulation wurden Standesgrenzen überwunden; nur mit Hilfe der Musik ist es möglich, dass Angehörige eines niedrigen Standes einem Herrscher oder dessen Familienmitgliedern Glückwünsche überbringen und die zu feiernde Person in einem vertraulichen Du anreden.“82 Zahlreiche der ca. 30 erhaltenen weltlichen Kantaten wurden später auch zu geistlichen umgearbeitet (sog. Parodieverfahren). Dies gilt insbesondere für alle Köthener Vokalwerke, die uns in Gestalt der Osterkantaten BWV 66 und 134, der Pfingst- bzw. Kirchweihkantaten BWV 173, 184 und 194 vorliegen. Allerdings kennen wir nur für BWV 6683, 134 und 173 die weltlichen Vorlagen. Sie repräsentieren in der Terminologie Küsters jeweils den dramatischen, den betrachtenden und den unmittelbar anredenden Typus. Das poetische Verfahren der Parodie, das in der Musikgeschichte bereits zahlreiche Vorbilder hat – man denke an sog. Kontrafakturen von Madrigalen oder Volksliedern wie

78 Wolff, 180 f. 79 Vgl. Petzoldt, Erquickung, bzw. zustimmend Küster, 161, vgl. unten 2.4.2. 80 Vgl. Küster, 396 f; 400 f. Die Werke, die zur letzten Gruppe gehören überschreibt Bach mit Gattungsbezeichnungen wie „Drama [sic] per musica“ oder „Drama“. 81 Vgl. Küster, 405–407. 82 Küster, 400. 83 Für die Serenata BWV 66a Der Himmel dacht auf Anhalts Ruhm und Glück sind die musika­ lischen Quellen verloren. Der Text stammt von C. F. Hunold (alias Menantes), einer der schillerndsten Figuren der Bachzeit.

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An hellen Tagen (vgl. EG 397), Flora, meine Freude (vgl. EG 396) oder Innsbruck, ich muss dich lassen (vgl. EG 521) – kommt in Bachs Werk nochmals zu einer besonderen Blüte, die zahlreiche Diskussionen ausgelöst hat.84 Dieses Phänomen begegnet bei Bach übrigens fast nur in diesem Gefälle,85 dass also aus einer weltlichen Vorlage eine geistliche wird.86 Es zeigt nicht zuletzt die große Flexibilität musikalischer Affekte:87 Menschliche Freude kann durch „leibliches“ Wohl und Glück motiviert sein. Existenziell wird sie, wenn im Glauben an Christus das Heil besungen und ergriffen wird.

Wie hat Bach den „modernen“ Kompositionsstil erlernt? Wolff resümiert dazu: „Gattungen, Formen, Techniken, Besetzungen und Satzarten auf übergeordneter Ebene sowie im einzelnen rhythmisch-metrische Strukturen, Tonartenwahl, thematische Arbeit und harmonische Planung. Eines von Bachs Hauptanliegen war es, seine gewandte und zunehmend intrikate musikalische Sprache mit der wohlstrukturierten Prosa und Lyrik der ihm zur Verfügung stehenden Kantaten­ libretti in Einklang zu bringen.“88 Es ist denkbar, dass er in den Notenbeständen der Weimarer Hofkapelle einiges an instruktivem Material entdeckt hat. Noch wahrscheinlicher scheint es aber, dass sich Bach durch die Lektüre und Abschrift von Kantaten seiner Zeitgenossen wie etwa J. P. Krieger (Weißenfels), Telemann (Eisenach), Graupner (Darmstadt), Peranda und Heinichen (Dresden), aber auch italienischer Komponisten89 in den Jahren 1711–13 des neuen Stils kundig gemacht und ihn sich rasch bis zur Perfektion angeeignet hat.90



84 Vgl. dazu das Standardwerk von Häfner bzw. Walter, Weihnachtsoratorium, 28, der eine Hierarchie von drei Werkgattungen im Blick auf ihre „Nachhaltigkeit“ unterscheidet: weltliche Kantate, geistliche Kantate und Oratorium bzw. Messe. Zur Parodie vgl. weiter unten 6.1.2. (BWV 66) und 6.2.1 (BWV 173). 85 Eine Ausnahme bilden die fünf Fassungen von BWV 36. 86 Vgl. Küster, 395 f mit der Ansicht, dass Bach die weltlichen Kantaten nicht für minderwertig gehalten und beide Werkgattungen, die geistliche und die weltliche gemäß dem biblischen Standpunkt „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21) nebeneinander gestellt habe. Zur poetologischen und theologischen Deutung des Parodievorgangs vgl. auch Arnold, Doxologie, 180 f. 87 Vgl. unten 1.7.1. 88 Wolff, 182. 89 Besondere Aufmerksamkeit verdient Bachs „produktiver Umgang“ mit Konzerten Vivaldis (vgl. Wolff, 185–192). Im Blick auf die geistlichen Kantaten ist dies allerdings nicht von allzu großer Bedeutung, er lässt lediglich den allgemeinen Schluss zu, dass Bach Vokalwerk von Vivaldis Methode „modularer Konstruktion“ (Wolff, 191) nicht unberührt blieb (vgl. BVW 161). 90 Vgl. dazu auch Küster, 143, der für 1711/12 u. a. die Anschaffung der Markus-Passion Reinhard Keisers nennt und auch einen Einfluss italienischer Literatur über Johann Wilhelm Drese, den Sohn des Kapellmeisters geltend macht, der 1702/03 in Venedig weilte und in Weimar auch die Funktion des Notenkopisten hatte. Küster, 144, fährt fort: „Spätestens hier also muss Bach mit musikalischen Ideen und Konstruktionen in Berührung gekommen sein, die sich aus der Oper herleiteten: mit Rezitativ und Da-capo-Arie, ebenso mit den neuen Begriffen der abgeschlossenen Form der Vokalmusik, nach denen ‚das eine Werk‘ auch dann nicht auseinanderfällt, wenn es aus isolierbaren Sätzen besteht“.

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Bachs geistliche Kantaten im musikgeschichtlichen Kontext

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1.1.4 Leipziger Kantaten Die von 1723 an komponierten Leipziger Kantaten bilden dann den „vollendeten“ Typus einer Gattung, die weder vorher noch nachher auch nur annähernd an Originalität und Genialität erreicht wurde. Die ersten drei Jahre Bachs als Cantor und Director musices in Leipzig dürften die produktivsten seines Lebens gewesen sein. In lückenloser Reihenfolge führt er neue oder überarbeitete eigene Kompositionen an ungefähr 60 Sonn- und Feiertagen im Jahr auf. Seine Dichter sind, sofern uns ihr Name bekannt ist, weiterhin Erdmann Neumeister und Salomon Franck, aber auch Mariane von Ziegler, Christian Friedrich Henrici alias Picander u. a. Bach lässt jeweils für mehrere Kantaten Programmhefte mit den Kantatentexten drucken, die von vielen Menschen jeden Sonntag gelesen wurden und vielleicht das Budget für die Aufführungen und sein nicht allzu üppiges Gehalt aufbessern halfen.91 Der erste Jahrgang, der mit den fulminanten zweiteiligen92 Schwesterwerken Die Elenden sollen essen (BWV 75)93 und Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) eröffnet wird, zeigt drei bevorzugte Satzfolgen, die nur geringfügig variieren: a) Chor – Rezitativ – Arie – Rezitativ – Arie – Choral b) Chor – Rezitativ – Choral – Arie – Rezitativ – Arie – Choral (mit Varianten) c) Chor – Arie – Choral – Rezitativ – Arie – Choral.94 Auffällig ist dabei, dass meist ein biblisches Wort (Dictum) an der Spitze steht95, das zuweilen dem Sonntagsevangelium entlehnt ist,96 und meist auch die folgenden Sätze wesentlich prägt. Die Formensprache Bachs hat sich gegenüber seinen



91 Vgl. Wolff, 283. Wolff verweist hier u. a. auf eine Äußerung Telemanns, der in Hamburg Kantatenbroschüren mit Gewinn verkaufen konnte. Erst um 1970 konnte in der Petersburger kaiserlichen Bibliothek durch einen Fund der Umfang und die Qualität dieser Textbüchlein verifiziert werden. (Vgl. Schulze, 125 bzw. Hobohm, 5–32) 92 BWV 75 und 76 weisen neben den aus Weimar mitgebrachten bzw. überarbeiteten Kantaten BWV 21 und BWV 147 zwei Teile auf. Die pars secunda wurde mit großer Wahrscheinlichkeit stets sub communione musiziert (vgl. Leaver, Liturgical place bzw. Petzoldt, Liturgie und Musik, 85–88). 93 Vgl. dazu Bach-Dokumente II, 139, wonach diese Kantate „mit gutem applausu“ aufgeführt worden sei. 94 Vgl. dazu Wolff, Kirchenkantaten, 25 bzw. Dürr, 46. Typisch sind jedenfalls sechs bis sieben Sätze mit einer Rahmung durch Chor und Choral. 95 Es ist nicht richtig, wenn in der Literatur behauptet wird, dass es sich stets um Bibelworte handle (vgl. Wolff und Dürr, vorige Anm.). So sind etwa BWV 24, 147, 167, 181, 83, 66 u. a. ma­ drigalische Dichtungen, während BWV 95, 73 und 60 choralbezogene Kantaten sind, obwohl sie nicht zum 2. Jahrgang gehören. Küster, 224 f, stellt die interessante Frage, ob womöglich innere Bezüge zueinander da sind. 96 Es ist nicht richtig, wenn Dürr, 46 sagt, dass Bach das einleitende Bibelwort „stets der Evangelienlesung des Tages“ entnommen habe (vgl. BWV 76 mit Zitat aus Ps 19, BWV 190 mit Zitat aus Ps  150 oder BWV 65 mit Zitat aus Jes 60,6 bzw. BWV 67 mit (Epistel)-Zitat aus 2 Tim 2,8.).

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Weimarer Werken noch weiter ausdifferenziert, auch die Besetzung und der Apparat variieren stärker.97 Besonders faszinierend ist das ehrgeizige Projekt Bachs, vom 1.  Sonntag n. Trinitatis 172498 an einen kompletten Jahrgang mit Choralkantaten zu komponieren. Er nimmt damit den kirchenmusikalisch schon etwas aus der Mode gekommenen Choral noch einmal in all seinen kompositorischen Möglichkeiten (Cantus-firmus-Behandlung, Fugentechnik usw.) auf, um ihn zu einer bis dahin ungeahnten Blüte orchestral-vokalen Komponierens und Musizierens zu bringen. Bach schafft so etwas „musikhistorisch Singuläres“, was ihm „eine einzigartige Arbeitsleistung ab[verlangte], denn nun hatte er tatsächlich für jede Woche mindestens eine Kantate zu komponieren.“99 Welche kompositorische Grundidee steckte dahinter? Küster schreibt dazu: „Der Modellvorstellung zufolge liegt dem 1. Satz die 1. Liedstrophe zugrunde (in groß angelegtem Satz mit selbständig geführten Instrumenten vorgetragen), im letzten Satz die letzte Strophe, die in unterschiedlicher Ausprägung als ‚schlicht-vierstimmiger Choralsatz‘ behandelt wird. In die Binnensätze ragen die Binnenstrophen des Liedes hinein, bald durch bloße Übernahme eines Textgedankens, bald durch ein wörtliches Zitat einer Choralzeile (das dann auch ein musikalisches Zitat des entsprechenden Choralausschnitts nahe legt); doch es handelt sich ohne Zweifel um ‚madrigalisch‘-freie Texte.“100

So sind die Choralkantaten poetologisch ein faszinierender Kosmos, ja mehr noch: Summe und Kompendium von Bachs musikalischer Theologie des gesungenen Wortes. Allein in den ersten vier Kantaten des Jahrgangs erprobt Bach jeden Sonntag ein andersartiges Satzprinzip101 (BWV 20; 2; 7 und 135) und wechselt die Stimme des cantus firmus in jedem Kopfsatz (Sopran, Alt, Tenor Bass) mit unterschiedlichem Satztyp (Franz. Ouvertüre, motettischer cf-Satz, Konzert, Choralfantasie).102 An Mariae Verkündigung (BWV 1) bricht die grandiose Serie ab, vielleicht weil Bachs Dichter, wahrscheinlich der Thomas-Konrektor Stübel, der im Januar 1725 verstorben war, nicht mehr liefern konnte.103 Bach ergänzt die fehlenden Sonntage zwar sukzessive (z. B. BWV 129), vollendet den Zyklus aber nicht ganz,104 sondern schreibt auch neue Kantaten auf Texte Mariane von Zieglers. Insgesamt ist dieser Jahrgang ein epochaler Einschnitt im Übergang von Tradition und Moderne, insofern Bach z. B. in großer Freiheit traditionelle Choralstrophen in moderne Rezitative und Arien einarbeitet bzw. durch instrumentale Zitate miteinander verzahnt.

97 Zur Entwicklung der Bachschen Formensprache im ersten Jahrgang vgl. Küster, 196–242. 98 Eröffnet wird der Jahrgang durch O Ewigkeit, du Donnerwort, BWV 20 (vgl. unten 3.2). 99 Küster, 242. 100 Küster, 243. 101 Vgl. Wolff, Kirchenkantaten, 25–28, bzw. Küster, 243 mit Hinweis auf die norddeutsche und besonders auf die mitteldeutsche Kantoreipraxis, zu der auch Johann Pachelbel in Nürnberg zu rechnen ist. 102 Vgl. Dürr, 52 bzw. Küster, 249 f. Küster, 250, weist darauf hin, dass auch die Arie zunehmend unter einem formalen Konzept stabilisiert wird, das am ehesten dem barocken Konzert nahe steht. 103 Vgl. Wolff, 301. 104 Vgl. Wolff, 303, Tabelle 8.9.

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Die Kantate und ihre Gattungselemente

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Der dritte Jahrgang, an dem Bach von 1725–1727 arbeitete, besitzt wie auch der fragmentarische vierte, der sog. Picander-Jahrgang,105 nicht mehr diese formale Geschlossenheit.106 Wolff stellt ein zunehmendes Interesse Bachs für Dialogkompositionen und Solowerke fest,107 Dürr hebt insbesondere die konzertanten Sätze mit obligater Orgel hervor.108 Im Blick auf die kantorale Praxis scheute sich Bach jedenfalls nicht mehr, auch Werke seiner Zeitgenossen aufzuführen. Dies gilt nachweislich für seinen Meininger Vetter Johann Ludwig Bach (1677– 1731),109 dessen schlichte Formensprache ihn offenbar fasziniert und angeregt hat.110 Wichtig für unsere Untersuchung ist, dass Bach über die am Kirchenjahr orientierten „Kompositionen hinaus auch Kantaten für besondere Anlässe wie die Ratswahl (vgl. BWV 119; 193; 120; 29; 69), das Jubiläum der Augsburger Konfession (BWV 190 und 120 in variierter Textierung), Trauungen (BWV 34a; 195; 120a; 197), Trauerfeiern (BWV 157) und Orgelweihe (vgl. BWV 194) geschaffen hat, die sich aber weder poetisch noch musikalisch wesentlich von den „Sonntagskantaten“ unterscheiden.

1.2 Die Kantate und ihre Gattungselemente Nähert man sich dem komplexen, in seiner historischen Genese oben kurz beleuchteten musikalischen und poetischen Phänomen der Kantate, wie sie zur Zeit Bachs „gedichtet und komponiert“ wurde, so lassen sich gewisse Eigenarten der diversen Untergattungen Rezitativ, Arie, Choral und Chor erkennen, die in einem vielfältigen Zusammenspiel den Bibeltext des Sonntagsevangeliums auslegen und aneignen. Sie sollen zunächst in ihrer poetischen und musikalischen Eigenart mit Bezugnahme auf zeitgenössische musikologische Quellen kurz dargestellt werden.



105 C. F. Henrici alias Picander, Cantaten auf die Sonn- und Fest-Tage durch das gantze Jahr, Leipzig 1728, mit dem vielfach zitierten Vorwort (vgl. Bach-Dokumente II, No. 243), in dem der Dichter der Hoffnung Ausdruck gibt, dass „vielleicht der Mangel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meisters, Bachs, dürfte ersetztet, und diese Lieder in den Haupt-Kirchen des andächtigen Leipzigs angestimmet werden.“ Allerdings stammen nachweislich nur zehn Kantaten Bachs von Picander, was sich evtl. auch durch umfangreiche Verluste er­ klären lässt. 106 Vgl. Dürr, 58: „Irgendeine Neigung zu zyklischen Zusammenschluss nach einem überge­ ordneten Prinzip ist nicht ersichtlich.“ 107 Wolff, Choralkantaten, 30. 108 Vgl. Dürr, 59–61 mit tabellarischer Übersicht (1725–1731), vgl. auch Küster, 317–324. 109 Vgl. dazu Küster, 313 bzw. a. a. O., 108. Der Textdichter dieser insgesamt 18 Kantaten war wohl Herzog Ernst Ludwig von Meiningen (1704), der damit einen der musikgeschichtlich bedeutsamsten Kantatenjahrgänge schuf. Bach greift mit BWV 43 (Himmelfahrt); 39 und 88 selbst auf diese Texte zurück. Das Meininger Prinzip einer Zweiteilung mit alttestamentlichem und neutestamentlichem Bibelwort wird in BWV 17 (vgl. unten 6.3.3) nochmals aufgenommen und zu einem grandiosen Höhepunkt geführt. 110 Vgl. Küster, 314 mit der Vermutung, dass Bach auch Werke anderer Musiker seiner Zeit aufgeführt haben dürfte.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

1.2.1 Rezitativ und Accompagnato Beginnen wir mit dem Element, das die Gattung Kantate im Gegensatz zur Kirchenmusik des 17.  Jahrhunderts ganz wesentlich ausmacht, dem Rezitativ. Wie oben gesehen111 finden sich erst in Bachs Weimarer Kantaten Rezitative. Wie verstanden Bachs Zeitgenossen diese Form? Das Rezitativ, schreibt Johann G. Walther, ist „eine Singe-Art, welche eben so viel von der Declamation als von dem Gesange hat, gleich ob declamirte man singend, oder sänge declamirend“112. Mit anderen Worten: Das Rezitativ ist primär syllabisch gearbeitet, der Sänger bzw. die Sängerin deklamiert den Text zeilen- bzw. versweise, im Idealfall so, dass der Interpreten den Vers auf einen Atem singen können.113 In seiner textgezeugten Un­ mittelbarkeit besitzt es eine kaum verkennbare Nähe zur gesprochenen Verkündigung. Dazu gehört auch, dass die melodische Gestalt deutlich zurücktritt, das Rezitativ hat „eigentlich keine gewöhnliche oder förmliche Melodie“114. Dürr bezeichnet es als „frei vorgetragenen Sprechgesang“, der in der Oper „die Handlung voranzutreiben“115 hatte.

Eine ähnliche Funktion erfüllt das Rezitativ in der Kantate. Am deutlichsten ist dies im Weihnachts- und Himmelfahrtsoratorium und in den Passionen zu sehen, in denen der biblische Text wörtlich rezitiert wird. Als vorläufige Hypothese schreiben wir dem Rezitativ daher eine Affinität zur Verkündigung zu,116 wie am Beispiel aus BWV 147 (Satz 4) zu sehen ist: Rezit ativ (B a ss) […] O hochbeglückte Christen, auf machet euch bereit, itzt ist die angenehme Zeit, itzt ist der Tag des Heils: Der Heiland heißt euch Leib und Geist mit Glaubensgaben rüsten, auf, ruft zu ihm in brünstigem Verlangen, um ihn im Glauben zu empfangen.117

Zuweilen kann dies auch in Form einer „wörtlichen Rede“ Christi geschehen und wird meist vom Bass vorgetragen, der oft für die vox Christi steht. Ein bekanntes Beispiel (Apk 3,21) aus der Adventskantate Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61,4) mag dies belegen:

111 Vgl. oben 1.1.3. 112 Walther, Art. Recitativo. 113 Dies ist jedenfalls die Ansicht von G. H. Stölzel, der in den 1740er Jahren eine Abhandlung über das Rezitativ schrieb, vgl. Küster, 121. 114 Vgl. Mattheson, VC II, Cap. 13, § 21. 115 Vgl. Dürr, 34. 116 Vgl. dazu etwa BWV 40,2; 17,2; 31,3; 37,4; 76,2; 76;4 u. a. Allerdings lassen sich auch Beispiele finden, in denen Rezitative eher von der Sprache des Gebets geprägt sind (vgl. BWV 81,6; 13,2;13,4; 76,6; 76,11). 117 Dem Rezitativ folgt als Antwort des Glaubens eine Arie des Soprans: Bereite dir, Jesu, noch itzo die Bahn, / mein Heiland erwähle / die gläubende Seele, / und siehe mit Augen der Gnaden mich an!

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Die Kantate und ihre Gattungselemente

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Rezit ativ (B a ss) Siehe, siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir!

Versuchen wir nun, die einzelnen Besetzungs- und Satztypen innerhalb der Gattung Rezitativ zu charakterisieren: Das schlichte Secco-Rezitativ ist die „Grundstufe“, dabei wird die Singstimme nur vom Basso continuo begleitet, der die Linienführung der Singstimme durch einzelne (Secco)-Akkorde meist auf sinntragenden Wörtern stützt. „Die erste Steigerungsstufe der Rezitativik ist, dass die Akkorde weiteren Instrumenten übertragen werden, nicht mehr nur der Continuogruppe; die Akkorde ergeben sich nicht mehr aus den Basstönen und der Bezifferung, sondern sie sind in Noten ausgeschrieben und ihre Töne bestimmten Instrumenten zugewiesen (z. B. den Streichern).“118 Man spricht heute auch von einem „ausinstrumentierten Secco“, auch wenn diese Säte oder Satzabschnitte meist mit Recitativo oder aber Accompagnato überschrieben sind. Der rezitativische Typus kann dann auch in ein motivisches oder thematisches Accompagnato übergehen bzw. von Beginn an als solches gestaltet sein.119 Es ist durch ein klares Metrum und rhythmisch-melodische Motive geprägt und profiliert so bestimmte Text­partien, die Instrumente erfüllen also mehr als ein akkordische Begleitung. Mit Dürr, Küster u. a. ist also zwischen einem „ausinstrumentierten Secco“ und einem „motivischen Accompagnato“ zu unterscheiden, das seinerseits eine gewisse Nähe zum Arioso (s. u.) hat.

An dieser Stelle sollen einige Beispiele illustrieren, wie Bach als musikalischer Exeget mit den unterschiedlichen musikalischen Gattungen Textauslegung betreibt: Im ersten Rezitativ von Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) folgt nach einem ausinstrumentierten Secco ein Arioso, das seinerseits wieder in ein ausinstrumentiertes Secco mündet. An den musikalischen Scharnierstellen finden jeweils auch poetisch-sprachliche Wechsel statt. Im ersten Fall interpretiert Bach damit einen Doppelpunkt, an der zweiten Stelle unterstreicht er den Wechsel von der 3. Person zur 2. Person, d. h. die musikalische Predigt wird zur un­ mittelbaren Anrede: Recit ativ o So lässt sich Gott nicht unbezeuget Natur und Gnade red’t alle Menschen an: Andante ed Ar ioso Dies alles hat ja Gott getan, dass sich die Himmel regen und Geist und Körper sich bewegen.120

118 Küster, 120. 119 Vgl. Mattheson, VC II, Cap. 13, § 21: „Recitavo [sic], welcher zweierley ist: ohne und mit In­ strumenten: im letzten Fall heißt er, Vorzugs-Weise, ein Accompagnement, eine Begleitung.“ 120 Musikalisch bildet sich auf den beiden Verben „regen“ und „bewegen“ durch eine rhythmisch ausgefeilte Koloratur in der Singstimme die Regung und Bewegung des Kosmos ab, die Kontinuität derselben versinnbildlichen Instrumentalbass und Bratsche mit komplementären Achtelbewegungen. Vgl. auch unten 6.4.1.

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Recit ativ o Gott selbst hat sich zu euch geneiget und ruft durch Boten ohne Zahl: Auf! kommt zu meinem Liebesmahl!

Der „homiletischen Hinführung“ bis zum Doppelpunkt (ausinstrumentiertes Secco) folgt im Arioso also die „indirekte Verkündigung“ des Kosmos, der sich eine explizite Anrede an die Gemeinde anschließt. Sie entspricht satztechnisch wieder dem Anfang, so dass eine Art inclusio hergestellt wird. Bach hat den Appellcharakter der Einladung durch ein dreifaches „Auf!“ (mit der Figur der Excla­ matio) deutlich unterstrichen und somit nicht nur den Doppelpunkt am Ende des ersten Abschnitts, sondern auch das Ausrufungszeichen am Ende musikalisch bedacht. Als zweites Beispiel sei hier Satz 4 (Duett) aus O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60) genannt, wo Bach ebenfalls ariose Teile in ein Secco-Rezitativ einschiebt.121 Der Dichter hatte auch hier prinzipiell ein dialogisches Rezitativ vorgesehen. Durch die beiden musikalischen Formen wird der Dialog zwischen der Furcht und der „Stimme vom Himmel“ (vox Dei) nicht nur musikalisch struk­ turiert, sondern auch theologisch „inszeniert“ und „intensiviert“: Fur cht (Al t) [S ec c o] Der Tod bleibt doch der menschlichen Natur verhasst, und reißet fast die Hoffnung ganz zu Boden. Eine S timme v om Himmel (Ba ss) [Ar ioso] Selig sind die Toten. Fur cht [S ec c o] Ach, aber ach, wieviel Gefahr stellt sich der Seele dar, den Sterbeweg zu gehen! Vielleicht wird ihr der Höllenrachen den Tod erschrecklich machen, wenn er sie zu verschlingen sucht; vielleicht ist sie bereits verflucht zum ewigen Verderben. Stimme v om Himmel [Ar ioso] Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben. […]

Als letztes Beispiel soll die Choralkantate Ach, Gott vom Himmel, sieh darein (BWV 2) dienen, die unten ebenfalls noch näher analysiert werden wird.122 Dabei geht es um die zentrale Wende von der Klage zum Lob durch die Zusage Gottes, die Bach durch den Wechsel vom ausinstrumentierten Secco zum Arioso unterstreicht. Er unterbricht hier sogar einen Vers und „zerstört“ so gleichsam die poetische Form, um den Sprechakt der Zusage hervorzuheben:

121 Vgl. dazu unten 4.2. 122 Vgl. dazu die ausführliche Analyse unten 2.4.1.

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Die Kantate und ihre Gattungselemente Rezit ativ ( Bass) [ausinstr umentier tes Sec co] Die Armen sind verstört, ihr seufzend Ach! ihr ängstlich Klagen bei soviel Kreuz und Not, wodurch die Feinde fromme Seelen plagen, dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein. Darum spricht Gott:

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[Ar ioso] „Ich muss ihr Helfer sein! Ich hab ihr Fleh’n erhört. Der Hilfe Morgenrot, der reinen Wahrheit heller Sonnenschein Soll sie mit neuer Kraft, die Trost und Leben schafft, erquicken und erfreun. Ich will mich ihrer Not erbarmen, mein heilsam Wort soll sein die Kraft der Armen.“

1.2.2 Aria und Arioso123 Ähnlich komplex wie im Blick auf das Rezitativ stellt sich die musikgeschichtliche Entwicklung der Arie dar. Ursprünglich handelt es sich um eine strophische bzw. liedhafte Form, die poetisch durchaus Ähnlichkeiten mit einer protestantischen Kirchenlieddichtung (Choral) hatte.124 In der Oper hatte die Arie die Aufgabe, „in lyrischem Verweilen einen durch die Handlung ausgelösten ‚­Affekt‘  – Zorn, Haß, Trauer, Liebe, beschauliche Stille usw.  – in Musik zu setzen und so den Hörer zu innerer Anteilnahme zu bewegen“125. Erst Anfang des 18.  Jahrhunderts wird die typische Da-capo-Arie prägend, die theologisch und musikalisch zu vielen interessanten Lösungen anregte. Sie knüpft an das alte Prinzip Refrain-Strophe-Refrain an und führt es weiter. Für die maßgeblichen Entwicklungsstationen in der Ariendichtung der Bachzeit folgen wir der Darstellung Küsters: „Der Ausgangspunkt lässt sich mit Christian Friedrich Hunolds Die allerneueste Art, zur reinen und galanten Poesie zu gelangen (1706/07) umschreiben. Hunold beschreibt die Da-capo-Arie so, dass sie als Anfangsteil einen oder maximal zwei Verse umfassen solle; […] Die Folge daraus ist, dass eine größere Textmenge erst im Mittelteil zu erwarten ist. Musikalisch bedeutet dies, dass der Rahmenteil vergleichsweise knapp gehalten wird [sc. ein bis zwei Verse], der Mittelteil [B] aber möglicherweise selbst zwei­teilig ange

123 Zur Unterscheidung von Arie und Arioso, vgl. Mattheson VC II, Cap. 13 § 11, wonach ein ­ rioso, wie im hier erwähnten Beispiel, sich von der Arie folgendermaßen unterscheidet: „Das A ­Arioso hat nur mit der Aria ein gleiches mouvement, oder einerley Bewegungs-Art; sonst aber weder dieselben Schrancken oder Theile, noch dieselbe Absicht: denn es kann eine blosse Erzehlung, oder sonst ein nachdencklicher lehrreicher Spruch, ohne sonderbare ausdrückliche GemüthsBewegung, darin enthalten und verfasset werden.“ Vom Arioso kann noch die Cavata unterschieden werden (vgl. Walther, Art. Cavata; bzw. Mattheson, VC II, Cap. 13, § 17). Ihr Kennzeichen ist – so Mattheson – eher die „scharfsinnige Betrachtung“ als ein „starcker Affekt“. 124 Vgl. Küster, 102 f mit der Beobachtung, dass alte Kirchenlieddichtungen des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum durchaus den modernen „italienischen“ Anforderungen an eine (einstrophige) Arie entsprechen konnten, wie sie Caspar Ziegler für das „deutsche Madrigal“ verlangte. 125 Dürr, 34.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

legt wird, um den umfangreichen Text überhaupt in sich aufnehmen zu können […]. In der zweiten Etappe [ab ca. 1720] wird die Verbindung zum alten kontrastierendem Rahmenprinzip abgelegt und die Verwandtschaft beider Teile stärker betont. In beiden liegt nun eine Binnenzäsur, wie es sie zuvor nur im Mittelteil gab. […] Die Vokalteile werden mit Instrumental-Abschnitten voneinander abgesetzt (Vor-, Zwischen- und Nachspiel); diese werden als Ritornelle allesamt aus dem gleichen motivischen Material gespeist. […] Der erste Typus ist dadurch charakterisiert, dass der Anfangstext nicht nur den Binnentext motiviert, sondern dieser wiederum auch zwingend auf den Anfangstext verweist.“126

Im Idealfall gelingt dann wie in der Bassarie von Am Abend dessselbigen Sabbats (BWV 42,6) auch eine „logische“ inclusio: Jesus ist ein Schild der Seinen, wenn sie die Verfolgung trifft. Ihnen muss die Sonne scheinen mit der güldnen Überschrift: Jesus ist ein Schild der Seinen, wenn sie die Verfolgung trifft.127

Diese Form wird in der Forschung als „freies Da capo“ bezeichnet, da Bach auf eine wörtliche Wiederholung des „Refrains“ oder Mottos (A-Teil) verzichtet. „Im anderen Typus ergeben sich zwar abgeschlossene Aussagen sowohl im Anfangs- als auch im Binnentext; doch der Anfangstext erhält in seiner Wieder­holung am Schluss des Satzes eine syntaktisch andere Funktion. […] Damit entsteht der Eindruck, der Text werde aus zwei Teilsätzen gebildet, deren erster musikalisch in Anfangs- und Binnenteil überführt wird und deren zweiter auf die zufällig isolierbare Musik des Anfangsteils gesungen werden könne“128. Dazu ein Beispiel aus Ich bin ein guter Hirt (BWV 85) auf den Text eines unbekannten Dichters: Jesus ist ein guter Hirt; denn er hat bereits sein Leben für die Schafe hingegeben die ihm niemand rauben wird. Jesus ist ein guter Hirt.129

Ab den 1720-Jahren läuft die Ariendichtung dann nach einem Schema, das A- und B-Teil textlich einfach aneinanderfügt. Hier geht es nur noch um eine ausgewogene musikalische Gestaltung, die die Poesie in einer ausbalancierten musikalischen „Kreisbewegung“ nachzeichnet. Weiterhin gibt es allerdings auch die durchkomponierte Form, wie die Kantate Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende

126 Küster, 114–116. 127 Vgl. ähnlich auch BWV 16,5 auf einen Text aus dem „Gottgefälligen Kirchen-Opffer“ von Lehms (1711). 128 Küster, 116. 129 Der ebenmäßige Trochäus mit vier Hebungen zieht sich durch, zum B-Teil wechselt lediglich die Zahl der Silben von 8 auf 9, durch den Reim wird eine Verbindung vom vierten Vers zum Rahmen (A-Teil) hergestellt. Bach lässt die Singstimme den Text in drei Abschnitten vortragen, die nach einem variativen Prinzip gestaltet sind (A, A’; A’’).

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Die Kantate und ihre Gattungselemente

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(BWV 28) auf einen Text Neumeisters zeigt. Sie beginnt mit einer Arie (Sopran) ohne Da capo: Gottlob! nun geht das Jahr zu Ende. Das neue rücket schon heran. Gedenke, meine Seele dran, wieviel dir deines Gottes Hände im alten Jahre Guts getan. Stimmt ihm ein frohes Danklied an, so wird er ferner dein gedenken und mehr zum neuen Jahre schenken.

Der gedankliche Prozess in der eröffnenden Arie beginnt mit dem Rückblick auf das alte Jahr und wendet sich am Ende zum neuen Jahr, das mit einem Danklied für das alte begonnen werden soll. Der Prozess ist also ähnlich wie das Jahr selbst unumkehrbar und zielt auf den folgenden Choral, der das angekündigte Danklied selbst präsentiert. Choral Nun lob, mein Seel, den Herren, was in mir ist den Namen sein […]

Auch in der Neujahrskantate Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 190,5) verzichtet Bach im Duett von Tenor und Bass auf ein Da capo, da der A-Teil über­ proportional lang würde und die schöne Entsprechung von Anfang und Ende, mithin die innere Logik des Textes, verloren ginge. Jesus soll mein alles sein, Jesus soll mein Anfang bleiben, Jesus ist mein Freudenschein, Jesu will ich mich verschreiben. Jesus hilft mir durch sein Blut, Jesus macht mein Ende gut.

Mattheson fasst den Entwicklungsstand folgendermaßen zusammen: Eine Arie ist „ein woleingerichteter Gesang, der seine gewisse Ton-Art und Zeitmaasse hat, sich gemeinglich in zween Theile scheidet, und in einem kurtzen Begriff eine grosse Gemüthsbewegung ausdruckt. Bisweilen wird mit Wiederholung des ersten Theils,130 bisweilen auch ohne dieselbe geschlossen.“131 An musikalischen Gestaltungselementen und -prinzipien für die Arienkom­position sind zum einen das Prinzip des „Quasi-Basso-Ostinato“ sowie eine ausgeprägte (oft thematisch nicht an den Sologesang gebundene) Ritornellbildung zu nennen, die zur Form des Konzertes unmittelbar dazugehört. Ersteres meint ein „wiederkehrendes Bassmodell, das aller

130 Die von Bach zwar hin und wieder variierte aber doch meist reprisenartig verwendete Dacapo-Form (ABA) ist dabei ästhetisch immer mitwirksam. Im Blick auf die Textbehandlung ist wichtig, dass man beim Hören dann auch im Blick aus gegensätzliche Affekte immer wieder auf den Anfang (A-Teil) zurückgeworfen wird, vgl. wieder BWV 76, Satz 10 (Tenor-Arie): A: Hasse nur, hasse mich recht, feindlichs Geschlecht! B: Christum gläubig zu umfassen will ich alle Freude lassen. 131 Mattheson, VC II, Cap. 13, § 11.

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dings nicht völlig konstant [bleibt], sondern geringfügig variabel [ist]“132 und auch zu Modulationszwecken geeignet ist, dabei müssen keine thematischen Anklänge zur Singstimme vorliegen.133 Die Adaption des barocken Konzertsatzes auf die musikalische Form der Arie beruht im wesentlichen in der Aufnahme des Ritornellprinzips auf der Basis wechselnder Tonarten: „Ritornelle bieten auf wechselnden Tonstufen konstantes Material; Episoden überbrücken die Modulationswege zwischen den Ritornell-Eintritten mit vari­abler Motivik, und zwar in reduzierter Besetzung, sodass ‚virtuose‘ Elemente eingeschlossen werden können.“134

Welche poetischen und theologischen Besonderheiten besitzt die Arie gegenüber dem Rezitativ? Die strophisch-liedhafte, in der Sprachbehandlung eher melismatische bzw. konzertante Arie kommt meist „subjektiver“ daher als das Rezitativ. Oft stehen hier sehr persönlich gehaltene Aussagen, die den Charakter eines Bekenntnisses, einer Glaubenshoffnung oder eines Gebetes annehmen können, im Mittelpunkt. Hermeneutisch werden die Hörer dem biblischen oder geistlichen Wort ebenso „gleichzeitig“ wie beim Rezitativ, jedoch auf einer anderen Ebene. Hier dominiert eine mehr gefühlsorientierte Sprache des Glaubens, sie ist eher Ausdruck der fides apprehensiva oder fides qua creditur als der fides quae creditur. Meist ist der Affekt einer Arienvertonung einheitlich, er wechselt seltener als in Vertonungen des 17. Jahrhunderts.135 Immer wieder unterstreichen auch im Bereich der Arien und Ariosi die mu­ sikalischen Gattungswechsel einen literarisch-poetischen Wechsel bzw. eine Veränderung der Sprechrichtung: In Jesus schläft, was will ich hoffen (BWV 81) werden zwei Arien von einem Arioso unterbrochen,136 in dem der Bass (als vox Christi) mit den Worten: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ das Evangelium des Sonntags wörtlich aufnimmt und damit die Wende von der Klage zum Vertrauen einleitet. Satz 3 lässt sich als eine beinahe naturalistische Sturmschilderung beschreiben; Satz 5 („Schweig, aufgetürmtes Meer!“) ereignet sich dann die Sturmstillung musikalisch. So markiert das eingeschobene Arioso das Bibelzitat und als solches die Mitte des biblischen Textes (Mt 8,26), die die Wende der Not der Jünger einleitet. Ähnliches geschieht in Schau, lieber Gott, wie meine Feind (BWV 153):

132 Küster, 117. 133 Ein besonderer Fall liegt in Bassarien vor, in denen sich Continuo und Singstimme z. T. kanonisch imitieren, vgl. BWV 7,2 und BWV 129,2. Bach hat dieses Prinzip in seiner späteren Weimarer Zeit entwickelt und in Leipzig dann zunehmend verfeinert und variiert. 134 Küster, 117. Küster verweist im Folgenden darauf, dass Bach in seinen mittleren Kantaten (vgl. oben 1.1.3) auch beide Prinzipien kombinieren konnte, so etwa in der Osterkantate BWV 31,4 (Bass). 135 Vgl. MGG, Art. Kantate, 1736: „Eine Voraussetzung der Kantate ist geradezu die Unterordnung des Einzelworts unter die Affekteinheit, wie sie in der Aria zur Geltung kommt: In der Konzentration auf einen Affekttyp, bei relativer Neutralität zum Einzelwort, kommen Textablauf und Struktureinheit zur Deckung.“ 136 Vgl. Emans, 268 bzw. zusammenfassend 272–275. Emans weist nach, dass Bach den Begriff Arioso meist für vertonte Bibelworte verwendet bzw. dass es ihm „primär um die Hervorhebung einzelner Textpassagen“ geht.

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Die Kantate und ihre Gattungselemente Rezit ativ (Al t) Mein liebster Gott, ach lass dich doch erbarmen, ach hilf doch, hilf mir Armen! Ich wohne hier bei lauter Löwen und bei Drachen, und diese wollen mir durch Wut und Grimmigkeit in kurzer Zeit den Garaus völlig machen. Ar ioso (B a ss) 137 Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. (Jes 41,10)

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Rezit ativ (T eno r) Du sprichst zwar, lieber Gott, zu meiner Seelen Ruh mir einen Trost in meinem Leiden zu. Ach, aber meine Plage vergrößert sich von Tag zu Tage, denn meiner Feinde sind so viel, mein Leben ist ihr Ziel ihr Bogen wird auf mich gespannt, sie richten ihre Pfeile zum Verderben, ich soll von ihren Händen sterben; Gott! meine Not ist die bekannt, die ganze Welt wird mir zur Marterhöhle; hilf, Helfer, hilf! errette meine Seele!

137

Auch hier unterstreicht ein musikalischer Gattungswechsel den Wechsel der Sprechrichtung: Das Arioso hat die Form der Zusage, die beiden Rezitative sind Gebete. Im Unterschied zu den eben genannten Beispielen handelt es sich hier allerdings um abgeschlossene Sätze, bei denen darüber hinaus auch die Textgattung (freie Dichtung bzw. Bibelwort) alterniert.

1.2.3 Der Choral und seine vielfältigen Funktionen Spätestens mit Beginn der Leipziger Zeit beschließt Bach seine Kantaten (oder Kantatenteile) in aller Regel mit einem vierstimmigen Choral im Kantionalsatz. Während Rezitativ, Arie und Chor auch in den „weltlichen“ Kantaten vorkommen können, erkennt man dadurch sofort den liturgischen oder kirchlichen Charakter des Werkes. Im Blick auf die kompositorische Faktur kennt Bach allerdings auch hier viele Lösungen, so etwa (kolorierte) solistische Behandlungen, z. B. in Form des Concerto (vgl. BWV 51,4) oder instrumentale Durchführungen wie in BWV 31,8 oder 25,1. Ein frühes Meisterwerk ist diesbezüglich Christ lag in Todesbanden (BWV 4), das an die Tradition der Choralkantate per omnes versus138 anknüpft. Selten finden wir choralgebundene Chorsätze mit cantus firmus im Alt (BWV 10,1), Tenor (BWV 7,1) oder Bass (BWV 3,1).

137 Hier handelt es sich um ein Beispiel für eine Quasi-Basso-Ostinato Form, vgl. Küster, 222, bzw. Dürr, 109. Vgl. zum Text auch BWV 228. 138 Vgl. dazu Pachelbels Choralkantate gleichen Titels, die den Choral ebenfalls per omnes versus durchführt. Wie Pachelbel eröffnet Bach den Kopfsatz mit einem vierstimmigen Chorsatz (cf. im Sopran), dem ein Duettsatz über dem Basso continuo folgt. Von daher ist Wolffs Hinweis auf das „Vorbild Buxtehude“ (Wolff, 110) im Blick auf diese Kantate nicht die erste Referenz.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Welche Bedeutung hatte der Choral für Bachs Zeitgenossen? Mattheson attes­tiert ihm folgende Eigenschaft: „Die Schönheit aber, so sich dem ungeachtet bey etlichen unserer Choral-Melodien auf eine Hertzrührende Weise hervorthut, übersteiget auch die grösseste Kunst, und wäre allein zureichend, unsre so offt entdeckte vorteilhaffte Meinung von der edlen Einfalt zu bestärcken.“139 Die spezifisch hermeneutische Funktion des Chorals ist von daher das Moment der vergegenwärtigenden Aneignung, entweder im Sinne einer „kollektiven“ Akklamation des Verkündigten in Form von Bekenntnis, Bitte oder Lob (eher in Wir-Form)140, im Sinne einer persönlichen Zustimmung141 (Ich-Form) oder aber als Zusammenfassung alles bis dahin Gesagten142. Wolff weist darauf hin, dass unter den Hörern der Kantate „Gottesdienstbesucher, die die Kantate nicht mitlesen konnten und für die gehobene Kunst der Sprache wie der Musik in den übrigen Sätzen wenig Verständnis aufbrachten“ im Choral die Chance bestand, „sich an vertrauten Texten und Melodien zu orientieren“143.

Betrachten wir nun einige Beispiele im Blick auf ihre spirituelle und liturgische Funktion. Zunächst kommen die häufigeren anabatischen, dann eine katabatische Form zur Darstellung. a) Der Choral als Bitte Die häufigste spirituelle Form des Chorals ist das Gebet (als Bitte). Diese wird in manchen Fällen auch schon durch den vorangehenden Satz eingeleitet. In der Himmelfahrtskantate Gott fähret auf mit Jauchzen (BWV 43,10 f) schließt das über­ leitende Rezitativ des Soprans mit folgenden Worten: „Ich stehe hier am Weg und ruf ihm dankbar nach“. Darauf folgen zwei Choralstrophen, die dieses Gebet vollziehen und zugleich einen eschatologischen Ausblick geben: Du Lebensfürst, Herr Jesu Christ, der du bist aufgenommen gen Himmel, da dein Vater ist und die Gemein der Frommen […]. Zieh uns dir nach, so laufen wir, gib uns des Glaubens Flügel! Hilf, dass wir fliehen weit von hier auf Israelis Hügel! Mein Gott! Wenn fahr ich doch dahin, woselbst ich ewig fröhlich bin? […]



139 Mattheson, VC II; cap. 13, § 5. 140 Vgl. die Neujahrskantaten BWV 190,7; 16,6; 41,6; 171,6. 141 Vgl. exemplarisch folgende Choräle aus dem Weihnachtsoratorium (BWV 248): Wie soll ich dich empfangen? und Ach, mein herzliebes Jesulein (Teil 1); Ich will dich mit Fleiß bewahren (Teil 3); Jesus richte meine Beginnen (Teil 4) und Ich steh an deiner Krippen hier (Teil 5). 142 Vgl. BWV 165,6 oder BWV 103,6. Vgl. dazu auch Steiger, Dialogue, 37, wonach der Choral die Funktion des verbum externum übernehmen und mit dem sich in den affektbetonten ‚modernen‘ Formen [sc. Arie und Rezitativ] aussprechenden Subjekt in Dialog treten kann [„in dialogue with a subject articulated in ‚modern‘, affectladen, forms“]. 143 Vgl. Wolff, Choräle, 214.

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b) Der Choral als Sündenbekenntnis Etwas weniger verbreitet, aber umso pointierter, finden sich an wichtigen Stellen in Bachs Oratorien144 und Kantaten explizite Sündenbekenntnisse, die an die liturgische Form des Confiteor bzw. der „Offenen Schuld“ erinnern.145 Das erste Beispiel stammt aus Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ (BWV 177) zum 4. Sonntag n. Trinitatis. Es wird vom Sopran vorgetragen und lässt sich gleichsam als Paraphrase der fünften Vaterunserbitte bzw. der Bergpredigt (Evangelium des Sonntags aus Mt 6) verstehen: Ar ie (S opran) Verleih, dass ich aus Herzensgrund mein Feinden mög vergeben, verzeih mir auch zu dieser Stund, gib mir ein neues Leben …

Das zweite Beispiel eröffnet die Choralkantate BWV 135 zum 3. Sonntag n. Trinitatis. Es handelt sich dabei um eine freie Nachdichtung des 6. Psalms, des sogenannten 1. Bußpsalms, von Cyriakus Schneegaß mit cantus firmus im Bass: Cho r Ach Herr, mich armen Sünder straf nicht in deinem Zorn, dein’ ernsten Grimm doch linder, sonst ist mit mir verlorn. Ach, Herr, wollst mir vergeben mein Sünd und gnädig sein, dass ich mag ewig leben entfliehn der Höllenpein.

Selten steht ein solches Sündenbekenntnis am Ende einer Kantate, da es gleichsam eine theologische bzw. geistliche „Bearbeitung“ erfordert, also eher eröffnet als abschließt. c) Der Choral als Lobpreis Dies gilt nicht für den „Schlusschoral par excellence“. An vielen Stellen hat der Choral die Funktion des antwortenden Lobs, wobei zuweilen das in den vorangegangenen Sätzen geschilderte biblische Geschehen in dankbarer Vergegenwärtigung angeeignet wird. So schließt etwa der vorletzte Satz von Christum wir sollen loben schon (BWV 121,5) mit einer Selbstaufforderung der vom Weihnachts­ ereignis ergriffenen Seele: So lass ich mit der Engel Chören ein jauchzend Lob- und Danklied hören:

144 Vgl. den Choral in der Matthäus-Passion (BWV 244,10): „Ich bin’s ich sollte büßen / mit Händen und mit Füßen …“. 145 Vgl. dazu ausführlich unten Kapitel 3.  zur sog. „Offenen Schuld“, die liturgiegeschichtlich aus dem oberdeutschen Prädikantengottesdienst stammt, vgl. EGB 140 bzw. Hennig, 69–73 und 120.

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Dieses Loblied erklingt dann auch tatsächlich mit einer abschließenden GloriaPatri-Strophe: Lob, Ehr und Dank sei dir gesagt, Christ, geborn von der reinen Magd, samt Vater und dem Heilgen Geist von nun an bis in Ewigkeit.

d) Der Choral als Akklamation Eine ausgesprochene Akklamation bringt der Schlusschoral von Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61,6). Er stellt in mehrfacher Hinsicht ein Kuriosum dar, insofern hier nicht die ganze Choralstrophe, sondern nur der Abgesang derselben erklingt und darüber hinaus konzertierende Streicher und Singstimmen (mit Imitationen) die Erwartung eines Kantionalsatzes übertreffen. Amen! Amen! Komm, du schöne Freudenkrone, bleib nicht lange! Deiner wart ich mit Verlangen.

e) Der Choral als Vertrauensbekenntnis Auch der vielleicht beliebteste Choralsatz Bachs aus Herz und Mund und Tat und Leben (BWV 147,7) soll hier erwähnt sein. Er zeichnet sich durch eine eingängige Überstimme aus und formuliert ein Glaubensbekenntnis, das an eine Selig­ preisung erinnert. Zugleich klingt hier auch die Sterbestunde, mithin der eschatologische Horizont christlicher Hoffnung, an.146 Wohl mir, dass ich Jesum habe, o wie feste halt ich ihn, dass er mir das Herze labe, wenn ich krank und elend bin. Jesum hab ich, der mich liebet und sich mir zu eigen gibet; ach drum lass ich Jesum nicht, wenn mir gleich mein Herze bricht.

f) Zuspruch Zuweilen kann der Choral auch verkündigende und vergewissernde Momente zur Sprache bringen: Ein schönes Beispiel dafür ist der Schlusschoral von Mein Gott, wie lang, ach lange (BWV 155,5): Ob sich’s anließ, als wollt er nicht, lass dich nicht erschrecken, denn wo er ist am besten mit, da will er’s nicht entdecken.

146 Vgl. BWV 3,6; 31,9 u.v. a.

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Die Kantate und ihre Gattungselemente

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Sein Wort lass dir gewisser sein, und ob dein Herz147 spräch lauter Nein, so lass doch dir nicht grauen.

1.2.4 Chöre148 Ihr charakteristisches Gepräge bekommt eine Kantate jedoch in der Regel weder durch Choräle, Arien oder Rezitative, sondern – sofern sie nicht nur aus solchen besteht – durch die meist einleitenden (Tutti)-Chöre.149 Zuweilen hat Bach dazu auch Kürzungen oder Änderungen in der Textvorlage vorgenommen,150 um eine möglichst prägnante poetische Form in Händen zu halten. Im Blick auf Bachs Chöre lassen sich grob drei musikalische und drei poetische Grundtypen unterscheiden: a) Musikalische Unterscheidungsmerkmale Grundsätzlich definiert man zur Bachzeit einen „Choro“ (Coro) als „denjenigen Theil eines musicalischen Stücks, worinn alle Stimmen zusammen, und miteinander zugleich gehen“151. Was die musikalischen Formen innerhalb der Chöre angeht, folgen wir zunächst Mattheson, der drei Typen von Chören heraus arbeitet: „im gleichen Contrapunct, mit Abwechselungen, mit Fugen oder concertirend“152. Im Blick auf den musikalischen Satz handelt es sich dabei im Grunde um eine graduelle Abstufung von Homophonie und Polyphonie. Diese ist im Einzelnen so zu beschreiben: a) „Einmahl, wenn sie [die Chöre] in geraden Schritten einher gehen, und keine Stimme was macht, das den andern nicht gewisser maassen gleichkömmt; absonderlich nach Worten. b) Zweitens, wenn ein Wechsel-Gesang vorfällt, da eine Stimme allein die übrigen zur Nachfolge anführet; oder da die eine fragt, und die andern darauf antworten; auch wohl umgekehrt […]; oder aber, wenn verschiedene wolbesetzte Chöre oder Singbühnen zugleich anstimmen, und an drey oder vier Orten einer geraumen Kirche mit einander abwechseln, welches die grösseste Lust von der Welt ist.“ c) „Drittens, wenn ein vollstimmiger Satz oder ein solches Tutti Fugen-Weise ausgeführet wird; es sey nun in der Kirche oder sonst wo.“153

147 Im Original der Str. 10 von Es ist das Heil uns kommen her heißt es „Fleisch“ statt „Herz“. 148 Vgl. dazu den grundsätzlichen Aufsatz von Melamed, 177 ff: Melamed benennt die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte des Begriffs Chor, als Vokalensemble und als musikalischen Gattungsbegriff. 149 Zuweilen findet sich ein Chor auch am Anfang und Ende einer Kantate (vgl. 248 III Herrscher des Himmels bzw. BWV 172 Erschallet, ihr Lieder) oder auch in der Mitte (vgl. BWV 108/4; 24/3; 28/2). 150 Vgl. Schulze, Texte und Textdichter, 117 mit Anmerkungen im Blick auf die Texte Mariane von Zieglers. 151 Walther, Art. Choro. 152 Mattheson, VC II, Cap. 13, § 37. 153 Mattheson, VC II, Cap. 13, § 38.

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Selbst wenn diese Unterscheidung etwas künstlich ist, finden sich in Bachs Eingangschören immer wieder ein Wechsel von homophonen (vgl. z. B. 117,1; 137,1), polyphon-imitatorischen (vgl. 61,1; 69,1; 1,1 jeweils Beginn) oder als Fuge ge­ arbeiteten Teilen (vgl. 69,1; 61,1, jeweils Mittelteil). Als Alternative zu Matthesons Modell wäre es auch denkbar, Chorsätze nach dem Kriterium der Modernität bzw. des Stils (z. B. Stylus Ecclesiasticus; Stylus Canonicus, Stylus Motecticus154) zu unterscheiden. Von hier aus ließen sich z. B. konzertanter oder mo­ tettischer Typ155, Choralgebundenheit und Fugentechnik als Unterscheidungsmerkmale nennen, denn selten ist ein Chorsatz ausschließlich homophon oder polyphon komponiert.

b) Poetische Unterscheidungsmerkmale Poetologisch lassen sich, der literarischen Gattung entsprechend, folgende Typen unterscheiden: – die sog. Spruchkantate oder Kantate mit Dictum156, in der ein Evangelien- oder Epistelwort (vgl. BWV 40,1; 67,1) bzw. ein Psalmvers (vgl. BWV 190,1; 110,1; 17,1) zitiert wird;157 – die eigentlich aus der Mode gekommene,158 von Bach aber zu einer neuen Blüte und formalen Größe geführte Choralkantate (vgl. z. B. BWV 1; 2; 10; 20; u. a.), entstanden vor allem zwischen 1724 und 1725 in Leipzig, (zweiter Kantatenjahrgang)159 sowie

154 Vgl. Walther, Art. Stilo Motectico[sic.]: Er „ist ein bunter Styl, der alle Veränderungen und allen Zierrath der Kunst aufnimmt, einfolglich geschickt ist, verschiedene Affecten, vor allen aber Verwunderung, Bestürzung, Schmertzen, u.s.w. auszudrucken. Er begreifft die Fugen, allabreven, doppelte Contrapuncte, und Canones oder Fugen in Consequenza, und demnach den Stylum Canonicum in sich.“ An dieser Definition wird deutlich, dass zur Bachzeit der Stilbegriff sehr offen ist und nicht zu einer präzisen Unterscheidung taugt. 155 Vgl. Melamed, 184: „Der motettische Typ erscheint in Bachs Choralchören sowohl in Verbindung mit dem Konzertanten Stil (mit eigenständigem Material in den Instrumenten, siehe z. B. BWV 10/1) als auch in seiner ‚reinen‘ Form als Motettensatz, in dem die Instrumente die Vokal­ stimmen einfach verdoppeln (zum Beispiel BWV 2/1 und BWV 38/1).“ 156 Vgl. Steiger, Dialogue, 38, Anm. 6: „The 200 church cantatas handed down to us contain 123 on biblical quotations. Somewhat more than half of these (66) are set for chorus; 46 (a good twothirds) are opening movements of extensive dimensions. Fifty-seven dicta are composed for a solo voice in the form of recitative, arioso or aria. The dicta are equally divided between the Old and the New Testament (62:61). The book of Psalms is the most strongly represented among the Old Testament texts with 48 (that is about three-quarters of the movements). [=Die 200 geistlichen Kantaten Bachs, die auf uns gekommen sind, enthalten insgesamt 123 Bibelwortsätze, von denen 66, das sind etwas mehr als die Hälfte, für Chor gesetzt sind, 46 davon […] als groß dimensionierter Eingangschor. 57 Dicta sind für Solostimmen komponiert und als Rezitativ, Arioso oder Arie gestaltet. Die Dicta sind zu gleichen Teilen dem Alten und dem Neuen Testament entnommen (62:61); unter den alttestamentlichen sind Psalmtexte mit 48 Nennungen (das ist ein Dreiviertel aller Sätze) am stärksten vertreten.“ 157 Vgl. dazu Wetzel, Psalmen. Wetzel kann Zitate aus Psalmen für 17 Leipziger Kirchenkantaten nachweisen, hinzu kommen noch 12 Psalmdicta für andere Anlässe (z. B. Ratswechsel). 158 Vgl. MGG, Art.  Kantate, 1739: „Mit Aufkommen der madrigalischen Kantate nach 1700 verschwand aber zugleich auch weitgehend die Gattung Choralkantate.“ 159 Vgl. dazu oben 1.1.4.

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Die theologischen Quellen Bachs

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– die Odenkantate,160 basierend auf einer madrigalischen Dichtung, die in der Regel Anspielungen auf das Sonntagsevangelium (z. B. Erfreut euch ihr Herzen, BWV 66) oder auf das Proprium des Sonntags (z. B. Gottlob! nun geht das Jahr zu Ende, BWV 28) enthält. Mit der Gattung des Eingangschors ist allerdings noch nichts über die Textsorten der folgenden Sätze gesagt. Hier überwiegen Mischformen, so finden wir etwa in den Choralkantaten viele Paraphrasierungen des Kirchenliedes in neu gedichteten Reimen (vgl. BWV 1; 2 u. a.). Zusammengefasst: Während die Bibelwortvertonung zuweilen eine der Le­ sungen expressis verbis aufnimmt,161 stellen choralbezogener und madrigalischer Eingangschor eine Interpretation oder geistliche Vertiefung des Gotteswortes als Auslegung oder Aneignung dar.162

1.3 Die theologischen Quellen Bachs Während über Bachs musikologische Literatur wenig aus Quellen sicher bekannt ist, lässt sich über seine theologischen Quellen mehr sagen. Dank der einschlägigen Arbeit Robin Leavers163 u. a. gibt es heute Erkenntnisse darüber, welche bibeltheologischen, historischen, dogmatischen und homiletisch-liturgischen Werke Bach besaß. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, in welchem Umfang er diese Schriften selbst studiert hat bzw. welche Autorität sie für ihn hatten. Mit Sicherheit kannte er Leonhard Hutters Compendium locorum theologi­co­ rum,164 das auch in seiner Leipziger Bibliothek stand. Bach besaß weiterhin (ab 1734) die sog. Calov-Bibel in der Übersetzung von Martin Luther samt Auslegungen, in der sich auch Anstreichungen und Kommentare von seiner Hand finden, die in den letzten Jahrzehnten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.165 Der Untertitel auf dem Haupttitelblatt ist:

160 Zum Begriff, vgl. Probieren und Studieren, 205 bzw. Steiger, Kantate, 593. 161 An den Festtagen ist dies erstaunlicherweise eher selten. Hier finden sich oft hymnische Psalmtexte im Eingangschor (vgl. BWV 110,1: Weihnachten; BWV 190,1: Neujahr; BWV 43,1: Himmelfahrt). 162 Diese Unterscheidung von auslegender und aneignender Aufnahme des Bibeltextes soll unten (1.4.2) auch auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Homiletik beleuchtet und für die aktuelle Diskussion aufgenommen werden. 163 Vgl. Leaver, bes. 10–21. Grundlage ist das 12. Kapitel von Bachs Nachlassverzeichnis (Specificatio), das freilich aufgrund einiger Fehler auch schon zu vielen Verwirrungen Anlass gegeben hat. 164 Vgl. Wolff, 44.62 bzw. Kirste, 78: „Nachweisbaren Einfluß auf Bach außerhalb der Erbauungsliteratur dürfte in diesem umfassenden Sinne nur Leonhard Hutter gehabt haben, weil seine theo­ logische Wissenschaft die gesamte Orthodoxie bestimmte und nicht nur für Theologen wegweisend war.“ Vgl. ausführlich, Kirste, 79–82. Petzoldt, Bach und die Theologie, 84, deutet weitere wichtige Traditionslinien an, indem er von den Wirkungsstätten Bachs ausgehend, Einflüsse der einschlägigen theologischen und philosophischen Fakultäten (Wittenberg, Jena, Helmstedt und Leipzig) auf Bachs Lehrer ableitet. 165 Vgl. dazu Petzoldt, Bach und die Theologie, 90: „Bachs Eintragungen in die in seinem Besitz befindliche Calov-Bibel sind während der letzten beiden Lebensjahrzehnte entstanden. Gewiss nicht in theologisierender Absicht geschrieben, geben sie doch im stillen Dialog mit biblischen

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

„Die Heilige / Bibel / nach S. Herrn D. MARTINI LUTHERI Deutscher Dolmetschung/  und Erklärung  /  vermöge des Heil. Geistes/  im Grund=Text  /  Richtiger Anleitung der Cohaerentz  /  Und der gantzen Handlung eines jeglichen Texts  /  Auch Vergleichung der gleichlautenden Sprüche  /  enthaltenen Sinn und Meinung  /  Nechst ordentlicher Ein­ theilung eines jeden Buches und Capitels / und Erwegung der nachdrücklichen Wort/ und Redes=Art in der Heil. Sprache / sonderlich aber Der Evangelischen allein seligmachenden Wahrheit / gründ- und deutlich erörtert / und mit Anführung Herrn LUTHERI deutschen/ und verdeutschten Schriften / also abgefasset / daß der eigentliche Buchstäb­liche Verstand  /  und gutes Theils auch der heilsame Gebrauch der Heil. Schrifft fürgestellet ist […]“166.

Bach hatte als musikalischer Bibelausleger großes Interesse an der Schriftauslegung seiner Zeit. Dafür spricht, dass elf von den 52 Titeln (in 81 Bänden) seiner Bibliothek exegetischer Natur sind, allen voran: die Biblische Erklärung, nechst dem allgemeinen Haupt-Schlüssel der gantzen heiligen Schrift in fünf Bänden von Johann Olearius (1678). Hinzu kommen zahlreiche Schriften Luthers, insbesondere seine Tischreden, ein deutscher Psalmenkommentar167 und die Hauspostille von 1522. 13 Titel enthalten ausgewählte Auslegungen zu den Sonntagsevangelien und- episteln, was zeigt, dass Bach, der seine Kantaten ja primär für den Wortteil des Gottesdienstes komponierte, auch an Predigthilfen seiner Zeitgenossen bzw. des 17.  Jh. interessiert war.168 Zu nennen sind hier etwa H. Müllers Evangelische (oder Apostolische) Schluß=Kette,169 A. Pfeiffers Apostolische Christen-Schule und M. Geiers Zeit und Ewigkeit. Darüber hinaus enthielt Bachs Bibliothek viele erbauliche „Bestseller“ wie z. B. Arndts Bücher vom wahren Christentum170, H. Müllers Liebes-Flamme, aber auch polemische Schriften wie J. Müllers Lutheri Defensus, Speners „Gerechter Eifer Wider das Antichristliche Pabstthum“ u. a. Dogmatisch relevant sind neben L. Hutters Compendium Chemnitz’ Examen Concilii Tridentini und einige Auslegungen zur Confessio Augustana, die Bach möglicherund bibelauslegenden Formulierungen Luthers ein bruchstückhaftes Bild der theologischen Existenz Bachs wieder, das zur Kenntnis genommen werden soll […] Dazu gehört besonders seine Ein­ tragung zur Tempelweihe Salomos nach 2 Chr 5,13: „NB. Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden=Gegenwart.“ 166 Titelblatt Calov, vgl. Leaver, 46 und 49. 167 Es handelt sich dabei um den dritten Teil  einer 1553 in Wittenberg erschienenen Ausgabe exe­getischer Schriften Luthers, in dem „zusammen // gebracht sind christliche vnd tröstliche Er­ klerung und Auslegung der für // nemsten Psalmen/ die durch jn selbs / durch Gottes gnad/ deudsch geschrieben/ vnd etli -// che durch anderen aus dem Latein in deudsche sprach gebracht sind“ (vgl. Leaver, 64 f). 168 Vgl. Leaver, 20. 169 Dies lässt sich aus der Formulierung in der Specificatio nicht eindeutig schließen, vgl. Leaver, 69–73. 170 Vgl. dazu Kirste, 82 ff, der Arndt als wesentlichen Vermittler von Orthodoxie und Pietismus ansieht. Arndts besondere Leistung besteht für ihn darin, dass er den Zusammenhang von Wort und Geist neu geltend gemacht und dabei nicht wie mancher orthodoxe Lutheraner das innere Geistwirken preisgibt: „Wenn nun der Heilige Geist dies innerliche Buch nicht bereitet, da bleibt freilich Gottes Wort wohl draußen; wo es aber durch den Geist Gottes ins Herz geschrieben wird, da wird es auch bewahret, daß es Frucht bringe in Geduld“ (Buch VI, 7, 755). Für Bachs Passionen und Kantaten bedeutet die Anknüpfung an Arndt vielfach die Brücke zu einer gelebten Spiritualität und zu einer differenzierten Pneumatologie.

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Die theologischen Quellen Bachs

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weise das 200-jährige Jubiläum der CA in Leipzig vorbereiten halfen.171 Für die Ver­ knüpfung von Lehre und praxis pietatis wesentlich ist Johann Gerhards Schola pietatis von 1623172. Homiletisch sind besonders ein Band mit Predigten H.  Müllers (Evangelisches PRAESERVATIV)173 und des Mystikers Johann Tauler hervorzuheben, den bereits Luther hochgeschätzt hatte. Weiterhin finden sich zwei Predigtbände Neumeisters in Bachs Bibliothek, einer mit zwölf Predigten zur Taufe und einer mit 52 Predigten zum Abendmahl (einschließlich einiger Liedauslegungen).174

Für die musiktheologische Interpretation der Kantaten unterstreicht Leaver die besondere Bedeutung folgender Werke: „In mindestens drei Büchern, Luthers Tischreden […], Kap. 69, Arndts Wahres Christentum […], Buch 2, Kap. 41175 und Adamis Güldener Augapfel […] finden sich Erörterungen über die theologischen und kirchlichen Aspekte der Musik.“176 Was bedeutet dies nun für die Interpretation der Kantaten? Man wird sich davor hüten müssen, allzu schnell direkte Folgerungen zu ziehen, als ob alles, was in Bachs Bibliothek stand, auch direkt in seine kompositorische Arbeit eingeflossen wäre. An erster Stelle ist gewiss Olearius’ Kommentar zur Bibel zu nennen. Er bietet neben einer Fülle von Auslegungsmaterial auch die Methode, mit der die Prediger und Hörerinnen der Bachzeit gelebt und gearbeitet haben. Sie setzt asso­ziatives Hören voraus und ermöglicht damit eine Fülle von Schrift­ bezügen, was uns heute einigermaßen fremd anmutet.177 Olearius beschreibt seine Methode178 ausführlich in der Einleitung zu Band I. Sein „drittes Capitel“ ist mit dem Titel „Von der Erklärung der Heil. Schrifft / und welcher maßen dieselbe verständlich und erbaulich zu lesen sey“179 überschrieben. Versucht man Olearius’ Methode heute nachzuvollziehen, so wird man sie als eine Stichwort- und Konkordanzmethode bezeichnen können, die sich keinesfalls nur den sonntäglichen Perikopen verpflichtet weiß, sondern nach Luthers hermeneutischem Prinzip

171 Vgl. Stenger, I–III, bzw. Leaver, 118. 172 Vgl. Kirste, 82. 173 Axmacher, Aus Liebe, kann nachweisen, dass H. Müllers Passionspredigten einen unmittel­ baren Einfluss auf die Dichtung der Matthäuspassion hatten. 174 Die Titel lauten: „Das Wasserbad im Worte oder: Die Lehre von der Heil. Tauffe …“ (Hamburg, 1731) und „Tisch des Herrn, In LII. Predigten über 1. Cor XI, 23–32 …“ (Hamburg, 1722), vgl. Leaver, 171–175. 175 Arndt verfolgt hier so etwas wie eine therapeutische Wirkung des Singens und Lobens, ausgehend von Ps. 77,4.7: Wenn ich betrübt bin, so denke ich an Gott. Wenn mein Herz in Aengsten ist, so rede ich. Ich denke des Nachts an mein Saitenspiel und rede mit meinem Herzen. Dies wird (Arndt, 370) so interpretiert: „Weil nun Gottes Lob nichts anderes ist, denn ein freudenreiches Gebet, darin die Heiligen Gottes die größesten, denkwürdigsten Wohlthaten und Wunder Gottes zum Gedächtnis verfasset haben, so kanns nicht fehlen, es muß das Lob Gottes sonderbaren Nutzen und heilsame Kraft haben.“ 176 Leaver, 20. 177 Vgl. Axmacher, 15. 178 Vgl. zur theologischen Auffassung und Methode des Johann Olearius auch Franklin, 242. Franklin verweist hier auf ein 1668 erschienenes „Geistliches Hand-Buch“ von Olearius, das nach seinem Untertitel zugleich „Haupt-Summa // aller zur gantzen THEOLOGIA // und waren ­RELIGION gehörigen// Lehre“ sein will. 179 Olearius I, 26–37.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

sacra scriptura sui ipsius interpres die ganze Schrift in die Auslegung einbezieht.180 Olearius schreitet dabei über begriffliche Klärungen und Einordnungen in den Kontext bis zum zentralen Erklären eines Verses voran, ehe sich dann eher applizierende Teile anschließen, die auf die praxis pietatis im Alltag zielen. Sowohl altkirchliche Tradition als auch Schriften Luthers bilden die Eckpfeiler, auf die er rekurriert, ohne damit den Ansprüchen einer historisch-kritischen Exegese gerecht werden zu können. Calovs Luther-Bibel kam zwar erst 1734 in den Besitz Bachs, ist aber dennoch ein wichtiges Dokument, da sich etliche seiner handschriftlichen Eintragungen auch auf den Gottesdienst und die Musik im Gottesdienst beziehen.181 Sein Kommentar zu 2 Chr 5,13 „NB. Bey einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden=Gegenwart“182 wird vielfach zitiert und für ein gleichsam „sakramentales“ Musikverständnis geltend gemacht. Damit sind wir bei der verkündigenden Qualität der Kantaten und dem homiletischen Forschungsstand zur Epoche angelangt.

1.4 Austeilung und Aneignung des Evangeliums – Bachs Kantaten als Predigten sui generis Angesichts der Bedeutung von Heinrich Müllers Predigten183 und der Schriften August Pfeiffers, die auf dem Clavier-Büchlein von Anna Magdalena notiert sind, wird man nicht umhin können, nach einer Wechselwirkung von Bachs Kan­ taten mit Predigten seine Zeit zu forschen. Diese Forschungen sind – zumindest im Blick auf Sonntagspredigten in den Gottesdiensten, in denen Bachs Kantaten aufgeführt wurden – allerdings bis jetzt ziemlich ernüchternd. Fruchtbarer sind eher die Wechselwirkungen mit der zeitgenössischen Homiletik im Allgemeinen. Friedrich Blume hat in seiner Geschichte der evangelischen Kirchenmusik im Blick auf die Kantaten folgenden Zusammenhang formuliert:

180 Vgl. dazu WA 7,97 mit der klassischen Formulierung: „ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres“. 181 Vgl. Petzoldt, Bach und die Theologie, 90 bzw. Meyer, Bachs theologische Äußerungen. 182 Vgl. Petzoldt, a.a.O, der auf das Schmucktitelblatt im Eisenacher Gesangbuch von 1673 hinweist, wo „im vorderen Mittelgrund [Salomo] vor dem Brandopferaltar [kniet], der auf der linken Seite groß dargestellt ist. Rechts etwas im Hintergrund wird dem Betrachter die Gruppe der Leviten erkennbar, die musizieren und singen.“ Petzoldt folgert daraus: „Wer seine Sünde bekennt, lobt und dankt damit Gott, und wer Gott lobt und dankt, der bekennt eigentlich seine Sünde. Dieses sublimere Opferverständnis steht auch für Bach im Blick, wenn er von der ‚andächtigen Musique‘ die Gegenwart Gottes erwartet. Die zeitgenössische Dogmatik konnte wohl die Gegenwart Gottes dort aussagen, wo sich Gott verheißen hat, nämlich in Wort und Sakrament. Wenn Bach die ‚andächtige Musique‘ auch für Gottes Gegenwart reklamiert, so geht das über das zeitgenössische dogmatische Verständnis hinaus. Dennoch befindet er sich in einem sachlichen Zusammenhang, was mit dem Hinweis auf Luthers Gottesdienstverständnis [vgl. WA 49,588] gezeigt werden sollte.“ 183 Vgl. Axmacher, 17–19 mit dem Nachweis einer literarischen Abhängigkeit von Salomon Francks Tue Rechnung, Donnerwort (BWV 168) von einer Predigt in Heinrich Müllers HertzensSpiegel.

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„Das in der Liturgie verkündigte und in der Predigt rednerisch ausgelegte Gotteswort gelangt in der Kantate […] ein zweites Mal, nun im musikalischen Gewande, zur Verkündigung und Auslegung.“184 Dafür spricht zum einen das homiletische Selbstverständnis der Textdichter. So schreibt Neumeister in seiner Vorrede des ersten Kantatenjahrgangs von 1704 (2. Auflage): „Wenn die ordentliche Amts-Arbeit des Sonntags verrichtet, versuchte ich das Vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner Privat-Andacht in eine gebundene Rede zu setzen und mit solcher angenehmen Sinnenbemühung den durch Predigen ermüdeten Leib wieder zu erquicken. Woraus dann bald Oden, poe­ tische Oratorien und mit ihnen auch gegenwärtige Cantaten gerathen sind.“185

1.4.1 Explicatio und applicatio als Parameter der orthodoxen Predigtlehre Carpzovs Das in den einzelnen Untergattungen der Kantate bereits ausgemachte vielfältige Wechselspiel von Auslegung und Aneignung, explicatio und applicatio, ist seit Melanchthon186 in der lutherisch-orthodoxen Homiletik ein geläufiger Topos. Dies sei hier beispielhaft an Johann Benedikt Carpzovs Hodegeticum (1652), einem kleinen homiletischen Lehrbuch für Geistliche, dargestellt. Wir beziehen uns dabei auf eine Studie von Albrecht Beutel:187 Eine sachgemäße tractatio (gleichsam die „Predigt-Durchführung“ nach ex­ordium, pro­ positio und partitio) kommt demnach nicht ohne explicatio und applicatio aus. „Für die explicatio rät Carpzov zu einem dreigliedrigen Vorgehen. Der Sachgehalt des Textes soll erstens analysiert, zweitens grammatisch erläutert und drittens integrativ interpretiert werden. […] Für die integrative Deutung des Textes reicht es nicht aus, ihn nur zu para­ phrasieren oder in logischer oder rhetorischer Hinsicht zu analysieren. Vielmehr soll sie den Geist, der den Text inspiriert hat, auch auf die Erfahrungen und Anfechtungen des gegenwärtigen Lebens beziehen. […] Durchgehend soll der Prediger den Text als Ursprung der Lehre im Auge behalten, damit ihn auch der Hörer in seinen Geist und sein Herz aufnehmen kann. Bei der applicatio ist darauf zu achten, daß die Schlußfolgerungen, die der Prediger anstellt, nicht in den Text eingetragen werden, sondern aus diesem hervorgehen. Dabei ist immer eine verantwortliche Auswahl notwendig, die sich an der jeweiligen Situa

184 Blume, 181. 185 Neumeister, 1704, Vorrede. 186 Vgl. Schnelle, Homiletische Theorie. Da die Begrifflichkeiten innerhalb Melanchthons dogmatischer, exegetischer und homiletischer Schriften variieren, lassen sich nur Grundtendenzen erkennen. In „De modo et arte concionandi“ (1537/39) leitet Melanchthon aus 1 Tim 4,13 zwei genera des Predigens (genera concionum bzw. doctrinae) ab, die doctrina und die adhortatio. In seinen späten Kommentaren zu 1 Kor und 1 Tim (1550/51) ist Melanchthon aufgrund von 1 Tim 4,13 und 1 Kor 14,3 die Trias lectio – doctrina – consolatio wichtig (vgl. Schnelle, 170 f). Schnelle, 171 hebt dann auf das seelsorgliche Anliegen des Reformators ab: „Jede Predigt verlangt als Grundlage einen biblischen Text, seine Lehraussage muß den Hörern vorgelegt und sodann appliziert werden. Das eigentliche Ziel jeder Predigt ist die Verwirklichung der göttlichen Heilsabsicht, die consolatio.“ Vgl. Melanchthon, CR 15, 1368: „Tertium membrum consolatio est: quia non satis est recitare capita doctrinae, nisi ostendatur applicatio“ und a. a. O., 1159: „Postquam igitur concionator proposuit lectionem et doctrinam, ostendat quomodo applicanda sit ad consolationem“. 187 Vgl. Beutel, 26–46.

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tion und an der Fassungskraft der Hörer orientiert. Die applicatio hat ihre Aufgabe erst erfüllt, wenn sie über die logischen und dogmatischen Erläuterungen hinausgehend die konkrete religiöse Praxis erreicht. […] Jedoch darf er dabei [sc. bei der Ermahnung] nicht in der allgemeinen Beschreibung der Sünden verharren, sondern muß auch in die Konkretionen des menschlichen Lebens hinabsteigen […]. Wenn man in diese applicatio durchgehend die Worte des biblischen Textes einbindet, werden die Hörer verstehen, daß nicht ein Mensch, sondern Gott selbst zu ihnen spricht.“188 J. B. Carpzovs Sohn gleichen Namens war von 1679 bis 1699 Pastor an der Leipziger Thomas­kirche und zugleich Professor an der theologischen Fakultät. Von ihm ist bekannt, dass er nachweislich 1689 Liedpredigten gehalten hat und dabei „ein gut, schön, alt, evangelisches und lutherisches Lied“ erklärte, und „das erklärte Lied in öffentlicher Gemeinde gleich nach geendigter Predigt“189 anstimmen ließ. Im Blick auf Bachs Choralkantaten ist Carpzovs Ausspruch bedeutsam, dass Bachs Vorvorgänger Schelle die Liedpredigt den „andächtigen Zuhörern desto lieblicher und begieriger zu hören machen wird, indem er jedwedes Lied in eine andere music zu bringen, und solche vor der Predigt, ehe der Christliche glaube gesungen wird […] hören zu lassen, ganz willig sich erbothen“190 habe. Carpzovs Liedpredigten wurden 1706 in Leipzig publiziert und zugleich das Schema von explicatio/applicatio vorgeführt191.

Einteilung, Erklärung und Abhandlung gehören demnach auf die explizierende, Widerlegung, Ermahnung und Trost auf die applizierende Seite.192 Zwanzig der insgesamt 74 von Carpzov ausgelegten Lieder finden sich übrigens in Bachs Choral­ kantatenjahrgang von 1724/25.193 Wenn sich auch nur wenig wörtliche Übereinstimmungen der Predigten mit den Kantatentexten ergeben,194 spricht für eine Rezeption dieser gedruckten Zeugnisse durch Bach immerhin auch die Tatsache, dass Carpzovs Neffe Johann Gottlob195 von 1714–1730 als Archidiakon (2. Pfarrstelle) an St. Thomas wirkte.



188 Beutel, 41 f. 189 Dürr, 50. 190 Vgl. Dürr, a. a. O. Dieser Hinweis besagt, dass schon eine Generation vor Bach in Leipzig an derselben Stelle die Kantate musiziert wurde wie nach 1723: zwischen der Credo-Intonation des Liturgen und vor dem Credo-Lied der Gemeinde. Vgl. dazu auch unten 1.5. 191 JO.BENEDICTI CARPZOVII […] Lehr= und Lieder= / Predigten / an der zahl LXXIV. / gehalten / an Sonn= Fest= und Buß=Tagen / ANNO MDC LXXXIX / darinnen / iederzeit / im Eingange ein gut Lutherisch Lied  /  richtig eingetheilet und erkläret  /  und hernach  /  ein gewisser Glaubens=Articul  /  nach Gelegenheit des Textes gründlich und auffs einfältigste  /  abgehandelt wird; / Dem letztlich / der Gebrauch zur Widerlegung / Ermahnung und Trost / beygefüget ist […]. Zit. nach Steiger-Hoffleit, 322, Anm. 10. 192 Vgl. ähnlich der Untertitel in August Pfeiffers Apostolischer Christen-Schule, die auch in Bachs theologischer Bibliothek stand: „[…] Die ordentlichen / Sonntags- und vornehmste Fest- / Episteln / Durchs gantze Jahr / Richtig disponiret und abgetheilet / auch dem Wort- / Verstande nach durchgehends gründlich erkläret.  /  Dabey auff  /  Das wahre Christenthum  /  Also appliciret ist … [Hvh. JA]“. 193 Vgl. Steiger-Hoffleit, 323. 194 Vgl. Steiger-Hoffleit, 324, die eine Analyse zu BWV 62 anschließt, vgl. a. a. O., 326 f. 195 Carpzovs Nichte Benedicta war Taufpatin von Bachs Tochter Christiana Benedicta, die am 1.1.1730 in Leipzig getauft wurde.

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1.4.2 Überlegungen zum Schema von explicatio und applicatio in Bachs Kantaten Ist das Prinzip von explicatio und applicatio auch in Bachs Kantaten selbst zu finden, insofern sie – zumindest teilweise – verkündigenden Charakter haben? Betrachten wir zur Klärung dieser Frage exemplarisch einige Beispiele aus verschiedenen Stadien des Kantatenschaffens Bachs, die zudem von unterschied­ lichen Dichtern stammen. Der erste Blick gilt der Weimarer Kantate BWV 132 von Salomon Franck zum vierten Advent: Ähnlich wie in BWV 147a, Satz 2 und 3, folgt auf eine Ermahnung bzw. Predigt des Gesetzes eine Reaktion des glaubenden Menschen, der sich das Gehörte zu Herzen nimmt und im Gebet vor Gott bringt bzw. um Vergebung bittet. 2. Rezit ativ (T eno r) Willst du dich Gottes Kind und Christi Bruder nennen, so müssen Herz und Mund den Heiland frei bekennen. Ja, Mensch, dein ganzes Leben muss von dem Glauben Zeugnis geben! […] 3. Ar ie (Ba ss) Wer bist du? Frage dein Gewissen, da wirst du sonder Heuchelei, ob du, o Mensch, falsch oder treu, dein rechtes Urteil hören müssen. Wer bist du? Frage das Gesetze das wird dir sagen, wer du bist: ein Kind des Zorns in Satans Netze, ein falsch- und heuchlerischer Christ.

4. Rezit ativ (Al t) Ich will, mein Gott, dir frei heraus bekennen, ich habe dich bisher nicht recht bekannt. Ob Mund und Lippen gleich dich Herrn und Vater nennen, hat sich mein Herz doch von dir abgewandt. Ich habe dich verleugnet mit dem Leben! Wie kannst du mir ein gutes Zeugnis geben? Als, Jesus, mich dein Geist und Wasserbad gereiniget von meiner Missetat, hab ich dir zwar stets feste Treu versprochen; Ach, aber ach! Der Taufbund ist gebrochen. Die Untreu reuet mich! Ach Gott, erbarme dich, ach hilf, dass ich mit unverwandter Treue den Gnadenbund im Glauben stets erneue!

Das Beispiel lässt die performative Kraft des verkündigenden Wortes und seine Wirkung am inneren Menschen eindringlich deutlich werden. Doch ist das hier stattfindende Sprachereignis durch das homiletische Schema von Erklärung und Aneignung wirklich sachgemäß beschrieben? Ebenso plausibel ist es, dass das liturgische Wechselspiel von Anrede und Antwort hinter der Disposition der beiden Beispiele steht. Etwas anders verhält es sich mit dem poetologisch, theologisch und musikalisch höchst gewichtigen Beispiel, das zu Bachs ersten Werken aus der Leipziger Zeit (1723) gehört196, der Kantate Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76). Die Abfolge des ersten Kantatenteils (musiziert vor der Predigt) lässt sich grob mit der Struktur Verkündigung  – Bekenntnis  – Gebet beschreiben: Dem hymnischen Auftakt durch das Psalmwort (Satz 1) folgt eine freie Dichtung (Satz 2–3) in erklärender (Satz 2) und „missionarischer“ Predigt (Satz 3). Eine herbe

196 Vgl. dazu auch die eingehende Analyse unten 6.4.1.

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Ermahnung (Satz 4) schließt sich an. Diesen kerygmatischen Sätzen folgt mit Satz 5 ein individuelles Bekenntnis vor Gott und Welt. Die Sätze 6 und 7 lassen sich als persönliches bzw. gemeinsames Gebet der Gemeinde (in 1.  Ps. Pl. bzw. Gottesanrede im Du) begreifen, das die Einladung von Satz 2 und 3 aufnimmt. 1. Cho r Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre.

5. Ar ie (Ba ss) Fahr hin, abgöttische Zunft! Sollt sich die Welt gleich verkehren, will ich doch Christum verehren, er ist das Licht der Vernunft.

2. Rezit ativ (T eno r) So lässt sich Gott nicht unbezeuget! Natur und Gnade redt alle Menschen an: Dies alles hat ja Gott getan, dass sich die Himmel regen und Geist und Körper sich bewegen. Gott selbst hat sich zu euch geneiget und ruft durch Boten ohne Zahl: Auf! kommt zu meinem Liebesmahl!

6. Rezit ativ (Al t) Du hast uns Herr, von allen Straßen zu dir geruft, als wir im [sic] Finsternis der Heiden saßen, und, wie das Licht die Luft belebet und erquickt, uns auch erleuchtet und belebet, ja mit dir selbst gespeiset und getränket und deinen Geist geschenket, der stets in unserm Geiste schwebet. Drum sei dir dies Gebet demütigst zugeschickt:

3. Ar ie (S opran) Hört, ihr Völker, Gottes Stimme, eilt zu seinem Gnadenthron!   Aller Dinge Grund und Ende   ist sein eingeborner Sohn,   dass sich alles zu ihm wende. 4. Rezit ativ (B a ss) Wer aber hört, da sich der größte Haufen zu andern Göttern kehrt? Der ältste Götze eigner Lust beherrscht der Menschen Brust. Die Weisen brüten Torheit aus, und Belial sitzt wohl in Gottes Haus, weil auch die Christen selbst von Christo laufen.

7. Cho ral Es woll’ uns Gott genädig sein und seinen Segen geben; sein Antlitz uns mit hellem Schein erleucht zum ewgen Leben, dass wir erkennen seine Werk und was ihm, lieb auf Erden, und Jesus Christus Heil und Stärk bekannt den Heiden werden und sie zu Gott bekehren.

Satz 5–7 können somit als Antwort auf die Evangeliumspredigt (Satz 2 und 3) verstanden werden. In ihrer Gebets- und Bekenntnissprache sind sie eindeutig aus der Perspektive der hörenden Gemeinde formuliert. Am ehesten passt das Schema explicatio-applicatio zu Satz 2 und 3. Dann wäre Satz 2 als explicatio von Satz 1 (Ps 19,2.4) zu begreifen, den Satz 3 als unmittelbare Einladung im Sinne einer applicatio entfaltet, wobei Satz 3 mit der Schöpfungsmittlerschaft Christi auch nochmals eine ganz eigene theologische Pointe setzt. Ähnliche Beobachtungen lassen sich zu Teil II der Kantate machen. Hier changieren die Sprechakte noch häufiger. Auf den Segenswunsch für die Kirche folgt

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analog zu Satz 5 wieder eine Art „Rachearie“ (Satz 10), die sich bekennend (und abgrenzend) an Gott und Welt zugleich richtet. Satz 11 kontrastiert dies mit einer „seligen“ Innenschau. Das Rezitativ entfaltet die Wirkung des Sakraments im glaubenden Menschen, der dadurch zur Liebe neu befähigt wird. Die Pointe folgt dann aber in der Arie No. 12, die ebenfalls vom Alt vorgetragen wird. Wer durch das „süße Manna“ gestärkt ist, kann auch die Geschwister zur Tat der Liebe ein­ laden. Damit schließt sich der Kreis zur gesamten Kirche (vgl. Satz 9), ja mit Satz 13 sogar zum kosmischen Lobpreis (vgl. Satz 1). Man gewinnt den Eindruck, dass am Ende der Kantate die in Satz 6 „nur“ betende Altstimme durch die Ermutigung so bewegt ist, dass sie am Ende selbst zu einer Predigerin der Liebe wird.197 Der Schlusschoral bringt genau dieses performative Ereignis auf den Punkt: Das Wort Gottes ist wohlgeraten, d. h. es ist in der Kantate selbst (exemplarisch) an sein Ziel gelangt: Glauben zu wecken, zur Liebe zu ermutigen und zum Zeugnis zu befähigen. 9. Rezit ativ (B a ss) Gott segne noch die treue Schar, damit sie seine Ehre durch Glauben, Liebe, Heiligkeit erweise und vermehre. Sie ist der Himmel auf der Erden und muss durch steten Streit mit Hass und mit Gefahr in dieser Welt gereinigt werden. 10. Ar ie (Teno r) Hasse nur, hasse mich recht, feindlichs Geschlecht!    Christum gläubig zu umfassen,    will ich alle Freude lassen. 11. Rezit ativ (Al t) Ich fühle schon im Geist, wie Christus mir der Liebe Süßigkeit erweist und mich mit Manna speist, damit sich unter uns allhier die brüderliche Treue stets stärke und verneue.

12. Ar ie (Al t) Liebt, ihr Christen, in der Tat!    Jesus stirbet für die Brüder    und sie sterben für sich wieder,    weil er sich verbunden hat. 13. Rezit ativ (T eno r) So soll die Christenheit die Liebe Gottes preisen und sie an sich erweisen: Bis in die Ewigkeit die Himmel frommer Seelen Gott und sein Lob erzählen: 14. Cho ral Es danke Gott und lobe dich das Volk in guten Taten; das Land bringt Frucht und bessert sich, dein Wort ist wohlgeraten. Uns segne Vater und der Sohn, uns segne Gott, der Heil’ge Geist, dem alle Welt die Ehre tu, für ihm sich fürchte allermeist und sprech von Herzen: Amen!

Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass Bachs unbekannter Dichter das Schema von explicatio und applicatio in einem sehr subtilen Sinne angewandt und zu einer hohen handwerklichen Perfektion geführt hat. Dies gilt sowohl für die beiden Kantatenteile in sich als auch für Teil I (Offenbarung Gottes an die Menschen)

197 Petzoldt I, 61, weist darauf hin, dass der Dichter hier in besonderer Weise auf die Epistel 1 Joh 3,13–18 anspielt und betont ebenfalls die spezifische Rolle der Altstimme als „Stimme des glaubenden Menschen“.

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und Teil II (Antwort der Christen in Liebe und Lob) im Ganzen, die sich in einer spiegelbildlichen Zuordnung begreifen lassen.198 Das letzte Beispiel entnehmen wir der erst 1738 oder noch später entstandenen Kantate Freue dich, erlöste Schar (BWV 30)199 zu Johannis, einer geistlichen Parodie der Picanderschen Glückwunschkantate Angenehmes Wiederau (BWV 30a). Dürr schreibt dazu: „Mit einer Gnadenverkündigung an die Sünder (Satz 5) und der 3.  Strophe des Liedes Tröstet, tröstet, meine Lieben von Johann Olearius (1671), die nochmals auf die Epistelworte anspielt, endet der I. Kantatenteil. Was nun folgt ist, wie häufig in den Texten der Zeit, die Anwendung des Berichteten auf den Einzelchristen der versammelten Gemeinde: Gottes Gnade erweckt als Antwort den Entschluß, von allem, was Gott zuwider ist, abzulassen [Hvh. JA].“200 5. Ar ie (Al t) Kommt, ihr angefochtnen Sünder, eilt und lauft, ihr Adamskinder, euer Heiland ruft und schreit!    Kommet, ihr verirrten Schafe,    stehet auf vom Sündenschlafe,    denn itzt ist die Gnadenzeit! 6. Cho ral Eine Stimme lässt sich hören in der Wüsten weit und breit, alle Menschen zu bekehren: Macht dem Herrn den Weg bereit, machet Gott ein ebne Bahn, alle Welt soll heben an, alle Täler zu erhöhen, dass die Berge niedrig stehen.

Secund a pars 7. Rezit ativ (B a ss) So bist du denn, mein Heil, bedacht, den Bund, den du gemacht mit unsern Vätern, treu zu halten und in Genaden über uns zu walten. Drum will ich mich mit allem Fleiß dahin bestreben Dir, treuer Gott, auf dein Geheiß in Heiligkeit und Gottesfurcht zu leben. 8. Ar ie (Ba ss) Ich will nun hassen und alles lassen, was dir, mein Gott, zuwider ist.     Ich will dich nicht betrüben,     hingegen herzlich lieben,     weil du so genädig bist.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass nicht nur die Lehr- und Liedpredigten zur Bachzeit dem Schema von explicatio und applicatio folgen, sondern auch in den Kantaten Bachs selbst Ansätze einer Adaption des Schemas von explicatio und applicatio evangelii201 zu finden sind. Freilich dürfte schon jetzt deutlich geworden sein, dass das liturgische Wechselspiel von Verkündigung und Gebet bzw. das dialogische Ereignis von Anrede und Antwort das stärkere und bis heute

198 Petzoldt I, 55 spricht treffend von der „Außenseite“ und der „Innenseite“ des trinitarischen Gottesglaubens der christlichen Kirche. 199 Vgl. zur möglichen Autorschaft Picanders: Küster, 377 bzw. Dürr, 764. 200 Dürr, 764 f. Interessant ist, dass hier nicht der Bass (oder der Tenor) die verkündigende Stimme bekommt, sondern der Alt und umgekehrt der Bass das persönliche Bekenntnis for­ muliert. 201 Vgl. Wolff, 278: „Von daher entsprechen alle Texte der Leipziger Kantaten Bachs einem gleichbleibenden Modell, das sich streng an der homiletischen Doppelfunktion der lutherischen Predigt mit explicatio und applicatio orientiert: Bibelexegese und theologische Unterweisung gefolgt von praktischer und moralischer Nutzanwendung.“ Dieser Ansicht wird man sich freilich so holzschnittartig nicht anschließen können.

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Bachs Kantaten als Predigten sui generis

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nachhaltiger wirkende poetisch-theologische Kompositionsmuster der Kantatentexte Bachs gewesen zu sein scheint. Als Stärke und Proprium der Kantate gegenüber den oft hölzernen Postillen und Predigten der Barockzeit können wir eine theologische und geistliche Weiterentwicklung des Schemas von explicatio und applicatio beobachten.202 Dies lässt sich besonders für die Choralkantaten sagen, die man – zumindest in einzelnen Sätzen – als eine musikalische Weiterführung der Gattung Liedpredigt203 deuten kann und einer komplexen intertextuellen Auslegungsstruktur folgen. Mit diesem modifizierten Verständnis des Schemas von explicatio und applicatio bewegen wir uns hermeneutisch durchaus auf der Linie dessen, was Dietrich Rössler in seinem Lehrbuch für Praktische Theologie als Leitsatz für die christliche Predigt formuliert: „Die Predigt ist die christliche Rede, die im Rahmen eines Gottesdienstes die biblische Überlieferung für den Hörer der Gegenwart auslegt, um ihm die Gewißheit im Christentum zu stärken und die Orientierung im Leben zu fördern.204 Für den weiteren Gang der Untersuchung ist dieser Gedanke im Auge zu behalten und zu fragen, inwiefern diese (doppelte) Funktion der Predigt als lebendige Schriftauslegung, Glaubensvergewisserung und Orientierung von den geistlichen Kantaten Bachs erfüllt wird,205 d. h. ob und inwiefern es zutrifft, dass „Bachs Kantaten predigen“206, ja schon die Kantatentexte selbst sich „als summa einer Predigt“207 verstehen lassen.208

1.4.3 Die Kantate als Vergegenwärtigung Christi Betrachten wir abschließend mit Halt im Gedächtnis Jesum Christ (BWV 67), einer Spruchkantate zum Sonntag Quasimodogeniti, nochmals ein Beispiel, in dem das kerygmatische bzw. anamnetische Moment deutlich im Vordergrund steht und explizit Verkündigung geschieht. Renate Steiger nennt solche Kantaten „Predigten sui generis“: Schon das einleitende Schriftzitat aus 2 Tim 2,8 ist parakletische An

202 Vgl. Müller, Homiletik, 555. 203 Vgl. dazu Rößler, Liedpredigt, und Hoffleit, Liedpredigt. 204 Rössler, 390, vgl. auch 392: „Grundsätzlich ist diese Aufgabe durch den Begriff der applicatio bezeichnet […] Es liegt in der Logik der Predigt, daß sie sich dem Leben und dem Glauben ihrer einzelnen Zuhörer zuwendet.“ 205 Vgl. Müller, Homiletik, 558, der sich gegen eine schematische Handhabung des Schemas explicatio/applicatio ausspricht, dann aber festhält: „Vielmehr kommt es darauf an, den Lehrgehalt eines bestimmten Textes oder einer bestimmten Bekenntnisaussage so mit einer allgemein bedeutsamen oder nachvollziehbaren Lebenssituation zu ‚versprechen‘ (E. Lange), daß das Evangelium seine im Namen Jesu zum Handeln und Erleiden, zum Lob und zur Bitte entbindende Macht an Herz und Gewissen entfalten kann.“ 206 Vgl. Weber, 406 bzw. Böhme, 100: „Da gibt es unzählige offene und versteckte Anspielungen auf das biblische Wort, legen Text und Musik das Sonntagsevangelium oder die Epistel zum Sonntag nicht weniger aus, als es die Predigt tut. In der Tat: hier wird gepredigt.“ 207 L. und R. Steiger, 25. 208 Der weitere Gang der Untersuchung wird allerdings zeigen, dass eine einseitige Zuschreibung der Kantate zur Predigt (bzw. zu kerygmatischen Formen) zu kurz greift.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

rede im Sinne einer anamnesis des Auferstandenen, die Bach eindrücklich musikalisiert.209 Der Text lautet: Halt im Gedächtnis Jesum Christ, der auferstanden ist von den Toten. Übertroffen wird der Eingangschor in seiner verkündigenden Stringenz allerdings noch von Satz 6, in dem Chor (Sopran, Alt und Tenor) und Bass-Solo (vox Christi) in einen Dialog treten. Bach inszeniert in einer faszinierenden Verschränkung von Damals und Heute die Epiphanie des Auferstanden unter den Jüngern bzw. in seiner Gemeinde der Gegenwart. Er arbeitet dabei mit einem fünffachen musikalischen Kontrast: a) Solostimme – tiefe Lage – Bläser – ruhige Bewegung – ungerader Takt b) Choristen – hohe Lage – Streicher – lebhafte Bewegung – gerader Takt Ba ss: Friede sei mit euch! Cho r: Wohl uns! Jesus hilft uns kämpfen und die Wut der Feinde dämpfen, Hölle, Satan, weich! Ba ss: Friede sei mit euch! Cho r: J esus holet uns zum Frieden und erquicket in uns müden Geist und Leib zugleich! Ba ss: Friede sei mit euch! Cho r: O! H err hilf und lass gelingen, durch den Tod hindurchzudringen in dein Ehrenreich. Ba ss: Friede sei mit euch!

Lange Ruhepunkte auf dem Substantiv „Frieden“ (Solo-Bass) stehen der Tumultmotivik in Streichern und Chor gegenüber. Am Ende bringt Bach (im Gegensatz zu Joh 20,19) – anstelle einer ebenfalls denkbaren den Satz rahmenden Wieder­holung des Ritornells  – mit einem vierten Friedensgruß des Auferstandenen die Aufregung dann gänzlich zur Ruhe: „Der Feind ist besiegt, der Friede hergestellt.“210 R. Steiger beschreibt die performative Qualität dieses Satzes in seiner hermeneutischen Verschränkung von biblischem Text und heutiger Situation zusammenfassend so: „Ihnen erscheint der auferstandene Herr – heute, in dieser Kantate – in seinem Wort und spricht ihnen – d. h. uns, den Hörern – Frieden zu. Die musikalische Abbildung des Geschehens ist kein Bericht, sondern Predigt, d. h. sie vergegenwärtigt und teilt aus, wovon sie spricht.“211 Als vorläufiges Ergebnis dieses Kapitels und weitere Arbeitshypothese können wir festhalten: In Bachs Kantaten finden wir viele Beispiele, die als musika­ lische Predigten verstanden werden können, weil sie das biblische Wort nicht nur

209 Vgl. Steiger, 3–10. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Abschnitt 1.2.2: „Die musika­ lische Abbildung einer logisch-grammatikalischen Struktur“ mit Hinweis auf Carpzov sowie Steigers Nachweis, dass der „erste Satz eine Abbildung des Textes auf die Musik oder eine Übersetzung des Textes in Musik, hermeneutisch gesehen ein musikalisches Im-Gedächtnis- bzw. Gegenwärtighalten“ (Steiger, 9) ist. 210 Dürr, 336. 211 Steiger, 19.

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Bachs Kantaten als Bekenntnis

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wörtlich zitieren, sondern auch musikalisch in Szene setzen (vgl. BWV 61,4; 67,1) und auslegen. Zuweilen treten innerhalb einer Kantate verschiedene Schrift­zitate in einen intertextuellen Zusammenhang (vgl. BWV 17; 43 u. a.), der nach Luthers Grundsatz sacra scriptura ipsius interpres bzw. nach dem hermeneutischen Schema von Verheißung und Erfüllung konzipiert ist. Choralstrophen und ma­ drigalische Verse bieten darüber hinaus oft eine persönliche Aneignung und Vergewisserung an.

1.5 Musik am liturgischen Ort des Credo – Bachs Kantaten als Bekenntnis Bachs geistliche Kantaten haben einen konkreten liturgischen „Sitz im Leben“. Am besten informiert sind wir diesbezüglich über den Gottesdienst in Leipzig: Aufführungsort der Kantaten Bachs in Leipzig war der (ca. dreistündige) Hauptgottesdienst am Sonntagmorgen mit Beginn um 7.00. Die Kantate wurde von einem Elitechor der Thomaner mit ca. 12–16 Sängern und etlichen Instrumentalisten aus den Reihen der Stadtpfeifer und Kunstgeiger (sowie zusätzlich engagierten Studenten) im sonntäglichen Wechsel einmal in St. Nicolai und einmal in St.  Thomas musiziert.212 Im Blick auf den Leipziger Gottesdienst213 sind drei liturgische Zeiträume zu unterscheiden: Festzeiten, festlose Zeiten und Fastenzeiten. Im letzten Fall des sog. tempus clausum, also vom Nachmittag des ersten Advents bis Heiligabend und von Invocavit bis Karsamstag, wurde keine Kantate musiziert.214 In den festlosen Zeiten wurde die Kantate nach dem vom Liturgen im Lektionston gesungenen Evangelium215 und vor Luthers Credolied Wir glauben all aufgeführt. Nur in den Fastenzeiten erklang das Symbolum Nicaenum cho

212 Die anderen beiden Kirchen, für die Bach jeden Sonntag verantwortlich war, St. Petri und die Neue Kirche (ehemalige Barfüßerkirche), wurden von etwas weniger begabten Schülern versorgt (vgl. dazu Wolff, 283 f.). 213 Die damals gültige Agende war eine Kirchenordnung, die im Wesentlichen auf der sog. „Herzog-Heinrich-Agende“ von 1538 beruhte. Auf dem Titelblatt waren damals Wappen von Luther, Melanchthon, Justus Jonas, Bugenhagen und Caspar Cruciger. Mit einigen Erweiterungen und Verbesserungen wurde dieses Kirchenbuch 1712 wieder unter folgendem Titel aufgelegt und hatte bis ca. 1820 Bestand: AGENDA, / das ist / Kirchen=Ordnung, / Wie sich die Seel=sorger in ihren Aemtern und Diensten / verhalten sollten. / Für die Diener der Kirchen / In / Herzog Heinrich zu Sachsen, U. G. H. / Fürstenthum gestellet usw. Petzoldt, Liturgie, 71 kommentiert dazu: „Die Agende zeigt, daß der Gottesdienst der Bachzeit im Einklang mit der Tradition des Ordinarium missae steht. Da finden sich die üblichen Teile, wie die Abfolge von Kyrie, Gloria, Credo ebenso wie natürlich auch solche, die insbesondere reforma­ torische Grundüberzeugungen wiedergeben. Zu denen gehören vor allem die Aufwertung der Propria und die Etablierung des Gemeindegesangs.“ 214 Einzige Ausnahme ist das Fest Mariae Verkündigung, am 25. März, das, wenn es auf „den grünen Donnerstag oder Char-Freytag oder gar das Osterfest trifft […] auff dem Palm-Sonntag celebriret“ (Leipziger Kirchen-Staat, Leipzig 1710, 22) wurde. Bachs Passionen wurden in der neu eingerichteten Karfreitags-Vesper musiziert, vgl. Petzoldt, Liturgie, 83 f. 215 Das Evangelium erklang dann noch einmal gesprochen direkt vor der Predigt, vgl. Petzoldt, Liturgie, 83.85.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

raliter in voller Länge. Seltener ist die Zweiteilung (vgl. z. B. BWV 75 und 76), dann wurde der zweite Teil  der Kantate nach dem Kanzeldienst,216 d. h. höchstwahrscheinlich sub communione217 musiziert. Dafür sprechen jedenfalls Bachs handschriftliche Eintragungen in den Partituren der Adventskantaten BWV 61 und 62218 und in einer Continuo-Stimme zu BWV 194.219 Wir können also von einem wechselnd akzentuierten Beziehungsgefüge ausgehen, in dem die Kantaten das rezitierte Evangelium, das Credo oder das Abendmahl wechselseitig beleuchten konnten.220 Im Hinblick auf das Credo sind folgende Ausführungen von Petzoldt zentral, die den Zusammenhang von Kantate und Glaubensbekenntnis thematisieren: Die Kantate steht liturgisch – wie eben gesehen – an der Stelle des (nur noch in der Fastenzeit) „choraliter oder auch figuraliter gesungenen ‚Patrem omnipotentem‘ [..]. Die Gemeinde sang anschließend in jedem Fall das Glaubenslied Luthers. Die Kantate wurde also normalerweise eingerahmt durch die Credo-Intonation des Liturgen und das Glaubenslied der Gemeinde [Hvh. JA].“221 Daraus folgt: Der liturgische Ort, an dem in Leipzig die Kantate musiziert wurde, ist das Glaubensbekenntnis. Aufgeführt wird es von drei liturgischen Akteuren, dem Liturgen (Intonation), dem Chor (Kantate) und der Gemeinde (Glaubenslied Luthers). Damit steigerte sich die Zahl der Mitwirkenden suk­ zessive, das Moment der gegenseitigen Vergewisserung des Glaubens wurde gleichsam „dialogisch inszeniert“. Was bedeutet dies für die Funktion der Kantate im Ganzen des Gottesdienstes? „Wenn Gottesdienst Lob- und Dankopfer […] ist, dann ist es die Kantate im Detail auch. Sie ist in erster Linie Lobopfer, da sie an die Stelle eines Teils des Ordinarium missae [sc. Nicaenums] tritt […].Die priesterliche Funktion der Gemeinde wird in den Vordergrund gerückt, indem das Lobopfer des Glaubens durch die Kantate dargebracht wird. Dabei fungiert ‚der Chor im Namen der Kirchen‘. Dieser Tatbestand erklärt auch, warum Bach (außer dem Credo der h-Moll-Messe) keine Credo-Vertonungen hinterlassen hat […] Das Symbolum Nicaenum wird durch das Lobopfer der Kantate ersetzt.“222

Damit rücken die theologisch-liturgischen Elementarformen Bekenntnis und Lobpreis als anabatische Formen der Antwort auf das Evangelium, das dem Credo

216 Dafür spricht, dass Bach in etlichen dieser insgesamt 17 zweiteiligen Kantaten den zweiten Teil mit: „Post concionem“ überschreibt. 217 Vgl. Leaver, Liturgical Place, 195, bzw. Meyer, Kantatentexte, 378.385–387. 218 Bach schreibt, vgl. Wolff, 278 f: „(12) Nach der Predigt, wie gewöhnlich einige Verse aus einem Liede gesungen. / (13) Verba Institutionis. / (14) Praelud. auf die Music. Und nach selibiger wechselweise praelud. v[nd] Choräle gesungen, biß die Communion zu Ende & sic porrò“. Ähnliches gilt auch für den Fall, dass in einem Gottesdienst zwei verschiedene Kantaten musiziert worden sind, vgl. Meyer, Kantatentexte, 385. 219 Dort ist vermerkt: „Parte 2nda sub Communione“, vgl. Meyer, Kantatentexte, 386 f, mit ausführlicher Diskussion der Probestücke BWV 22 bzw. 23 und dem Fazit: „.Es spricht nichts dagegen, sehr vieles aber dafür, dass der liturgische Ort für die Aufführung zweiter Kantatenteile oder für die Wiederaufführung einzelner Kantatenstücke der Ort sub communione war.“ (a. a. O., 387) 220 Vgl. Meyer, 387. 221 Petzoldt, Messe, zit. nach Meyer, Bachs Kantatentexte, 382 f. 222 Petzoldt, Messe, zit. nach Meyer, 383.

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Bachs Kantaten als Bekenntnis

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ja in Form der gesungenen Evangelienlesung vorangeht, in größte sachliche Nähe zueinander; confessio fidei und sacrificium laudis223 fallen gleichsam zusammen. Wichtig ist dabei, dass hier gleichsam eine Gewichtsverschiebung vom Ordinarium zum Proprium stattfindet, da das (choraliter gesungene) Nicaenum ja außer in den Fastenzeiten faktisch nicht vorkam, sondern durch die auf den jeweiligen Sonntag gemünzte Kantate ersetzt wurde. An dieser Stelle sollen die liturgietheologischen Erwägungen mit einem dogmatischen Entwurf ins Gespräch gebracht werden, der auch in der Ökumene breit rezipiert worden ist, die Dogmatik Edmund Schlinks.224 Er benennt fünf Grundformen theologischer Aussage als Antwort auf das Evangelium, die alle im Gottes­dienst ihren ursprünglichen Sitz im Leben haben, nämlich: Gebet, Doxo­ logie, Zeugnis, Lehre und Bekenntnis. Im Blick auf die Doxologie (als Sonderform des Gebetes) und Bekenntnis schreibt Schlink: „In der Doxologie geht es letztlich um Gott selbst, – um Gott aufgrund seiner Taten an uns Menschen, an der Welt, aber um Gott, der nicht in seinen Taten aufgeht, sondern in der Freiheit des allmächtigen und liebenden Herrn seine Taten tut, der Erste und der Letzte, der Anfang und Ende ist. Das Ich des Beters tritt zurück […] Das Ich wird in der Doxologie zum Opfer gebracht. Doxologie ist immer zugleich Lobopfer.“225 „In dem Bekenntnis sind alle Antworten des Glaubens in besonderer Weise konzentriert. […] Im Bekenntnis fallen Gebet und Zeugnis, Doxologie und Lehre in eigentümlicher Weise zusammen. […] Ohne nur Doxologie zu sein, hat es teil an der Struktur der Doxologie, die Gott und seinen Christus in ihrer der Geschichte überlegenen Herrlichkeit preist.“226

Betrachtet man die liturgiegeschichtliche Deutung Petzoldts und den systematischen Ansatz Schlinks zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Das alle Formen der Antwort auf das Evangelium in sich vereinigende Glaubensbekenntnis kann in der Kantatenmusik eine doxologische Akzentuierung bekommen, ohne dass damit der Bekenntnischarakter – der Chor fungiert immerhin „im Namen der Kirchen“ – verloren ginge. Darüber hinaus bleiben aber auch noch andere Arten des Bekenntnisses bzw. Gebetes denkbar, z. B. das Sündenbekenntnis,227 ein

223 Dieser Aspekt fand sich bis ca. 1955 ausgedrückt in der Aufforderung der sächsischen Agende zum Sprechen des Glaubensbekenntnisses mit der Formel „Laßt uns vor Gott treten mit dem Lobopfer und Bekenntnis des christlichen Glaubens!“ Vgl. Petzold, Liturgie, 88, mit dem Kommentar: „Das Musizieren und Hören einer künstlerisch hochwertigen und durchgearbeiteten Figuralmusik als Umsetzung des Lobopfergedankens Luthers, ein bezwingender Gedanke!“ 224 Vgl. Schlink, 3 ff. 225 Schlink, 34 f. In dieser gleichsam ek-statischen, d. h. außer sich selbst gründenden Qualität hat die Doxologie etwas „Objektives“, also eine gewisse Affinität zur theologischen Lehre bzw. zur Dogmatik. Zugleich ist der Mensch hier auch in tiefster Weise vom Geist ergriffen und subjektiv angerührt. Wo Gott im Lobpreis die Ehre gegeben wird, wo von seiner Doxa die Rede ist, hat der Mensch Anteil an der Herrlichkeit Gottes und bleibt dennoch von diesem – das wäre der Unterschied zur quietistischen Mystik – als seinem Schöpfer und Herrn unterschieden. 226 Schlink, 38 f. 227 Vgl. BWV 132,4: „Ich will, mein Gott, dir frei heraus bekennen, / ich habe dich bisher nicht recht bekannt. / Ob Mund und Lippen gleich dich Herrn und Vater nennen, / hat sich mein Herz doch von dir abgewandt. / Ich habe dich verleugnet mit dem Leben! / Wie kannst du mir ein gutes Zeugnis geben? / Als, Jesus, mich dein Geist und Wasserbad / gereiniget von meiner Missetat, / hab

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Bekenntnis der Liebe und Hingabe,228 aber auch die Vertrauensäußerung am Ende einer Klage229. Es wird demnach zu untersuchen sein, welche spezifischen Fokussierungen von Credo230 und Lobopfer die einzelnen Kantaten aufweisen.

1.6 Doxologische Musik als Antwort auf das Evangelium – Bachs Kantaten als Lobopfer Allerdings wird der Begriff des Lobopfers, den Petzoldt in seiner grundsätz­lichen These auf alle Kantaten bezieht, nun näher zu differenzieren und zu präzisieren sein. Denn es fällt doch auf, dass eben nicht jede der beinahe 200 geistlichen Kantaten Bachs doxologisch formuliert ist, also expressis verbis Lobpreis enthält, es sei denn man ginge davon aus, dass auch eine Klage (wie BWV 2 oder 3) in einem tieferen Sinn Gott zum Lobopfer dargebracht wird.231 Vielmehr ist nur eine bestimmte Anzahl von geistlichen Kantaten, besonders diejenigen der hohen Feste, auch sprachlich als Lobopfer zu bezeichnen. Um das, was mit einem expliziten Lobopfer gemeint ist, näher zu bestimmen, werden im Folgenden alle Kantaten, die das Moment von Lob, Dank und Freude232 – und zwar nicht nur im Eingangschor!  – in den Vordergrund stellen, mit dem jeweiligen Sonntag bzw. Kasus und den relevanten Perikopen aufgeführt:

ich dir zwar stets feste Treu versprochen; / Ach, aber ach! Der Taufbund ist gebrochen. / Die Untreu reuet mich! / Ach Gott, erbarme dich, / ach hilf, dass ich mit unverwandter Treue / den Gnadenbund im Glauben stets erneue! 228 Vgl. BWV 197a, 5: „Das Kind ist mein. / und ich bin sein, / du bist mein alles unter allen, / und außer dir / soll mir / kein Gut, kein Kleinod wohlgefallen …“. 229 Vgl. BWV 3,4: „Es mag mir Leib und Geist verschmachten, / bist du, o Jesu, mein / und ich bin dein, / will ichs nicht achten. / Dein treuer Mund / und dein unendlich Lieben, / das unverändert stets geblieben, / erhält mir noch dein’ ersten Bund, / der meine Brust mit Freudigkeit erfüllet /  und auch des Todes Furcht, des Grabes Schrecken stillet. / Fällt Not und Mangel gleich von allen Seiten ein, / mein Jesus wird mein Schatz und Reichtum sein.“ 230 Vgl. dazu Meyer, Kantatentexte, 382–385. Einige der ausgewählten Beispiele Meyers seien hier in ihrer unterschiedlichen Topik genannt. Sie alle enthalten das Stichwort des Glaubens: –  BWV 68, 4: „Mein gläubiges Herze, / frohlocke, sing, scherze!“ –  BWV 147,7: „Dass ich dich meinen Heiland nenne / im Glauben und Gelassenheit“ –  BWV 109,1: „Ich glaube, lieber Herr, hilft meinem Unglauben!“ –  BWV 95,6: „Denn ich weiß dies / und glaub es ganz gewiss, / dass ich aus meinem Grabe / ganz einen sichern Zugang zu dem Vater habe.“ 231 In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob die Aussagen des Chorals „Ach, großer König“ in Bachs Johannes-Passion als eine Art „Doxologie via negationis“ betrachtet werden könnten, da er sich musikalisch wie eine Insel aus dem Protokoll des Verhörs und der sich steigernden Anklage der Turba-Chöre heraushebt. 232 Vgl. Reddemann, 91. Die Verf. zählt fünf Kantaten, in denen das Wort „danken“ und 16, in denen das Wortfeld „loben“ in der Überschrift steht. Freilich sind damit noch nicht alle hier in Frage kommenden Titel erfasst.

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Bachs Kantaten als Lobopfer

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1.6.1 Doxologische Kantaten J. S. Bachs im Kirchenjahr – eine Übersicht BWV Titel 36

Sonntag / Kasus Epistel / Evangelium

Schwingt freudig euch empor

1. Advent Röm 13,11–14; Mt 21,1–9

62 Nun komm der Heiden Heiland 63 Christen, ätzet diesen Tag 1. Weihnachtstag Tit 2,11–14; Lk 2,1–14 110 Unser Mund, der sei voll Lachens (Ps 126) 248,I Jauchzet, frohlocket! 91 Gelobet seist du, Jesu Christ 191 Gloria in excelsis Deo (Lk 2) 121 Christum wir sollen loben schon 2. Weihnachtstag, Tit 3,4–7; Lk 2,15–20 248,II Und es waren Hirten 248,III Herrscher des Himmels 3. Weihnachtstag Heb 1,1–14; Joh 1,1–14 151 Süßer Trost, mein Jesus kömmt 28 Gottlob! nun geht das Jahr Sonntag n. Weihnachten Gal 4,1–7; Lk 2,33 ff 122 Das neugeborne Kindelein  190 Singet dem Herrn ein neues Lied (Ps 149 f) Neujahr Gal 3,23–29; Lk 2,21 41 Jesu, nun sei gepreiset 16 Herr Gott, dich loben wir 171 Gott, wie dein Name (Ps 48) 248,IV Fallt mit Danken, fallt mit Loben 65 Es werden aus Saba alle kommen Epiphanias Jes 60,1–6; Mt 2,1–12 4 Christ lag in Todesbanden 1. Ostertag 1 Kor 15,6–8; Mk 16,1–8 31 Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret 249 Osteroratorium (Ecksätze) 66 Erfreut euch, ihr Herzen 2. Ostertag Act 10,24–43; Lk 24,13–35 134 Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß 3. Ostertag Act 13,26–33; Lk 24,36–47 43 Gott fähret auf mit Jauchzen (Ps 47) Himmelfahrt Act 1,1–11; Mk 16,14–20 11 Lobet Gott in seinen Reichen 172 Erschallet ihr Lieder 1. Pfingsttag Act 2,1–13; Joh 14,23–31 173 Erhöhtes Fleisch und Blut 2. Pfingsttag Act 10,42 ff; Joh 3,16–21 129 Gelobet sei der Herr Trinitatis Rö 11,33–36; Joh 3,1–15 76 Die Himmel erzählen (Ps 19) 2. So. n. Trin. 1 Joh 3,13–18; Lk 14,16–24

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben Lobe den Herrn, meine Seele (Ps 103)

12. So. n. Trin. 2 Kor 3,4–11; Mk 7,31–37

Lobe den Herren, den mächtigen König Geist und Seele wird verwirret Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut233 12. So. n. Trin. oder anderer Anlass Wer Dank opfert, der preiset mich (Ps 50) 14. So. n. Trin. Gal 5,16–24; Lk 17,11–19 51 Jauchzet Gott in allen Landen 15. So. n. Trin. Gal 5,25–6,10; Mt 6,24 148 Bringet dem Herrn Ehre (Ps 29) 17. So. n. Trin. Eph 4,1–6; Lk 14,1–11 83 Erfreute Zeit im neuen Bunde Mariae Reinigung Mal 3,1–4; Lk 2,22–32 125 Mit Fried und Freud ich fahr dahin 1 Wie schön leuchtet der Morgenstern Mariae Jes 7,10–16; Verkündigung Lk 1,26–38 10 Meine Seele erhebt den Herren (Lk 1) Mariae Jes 11,1–5; Heimsuchung Lk 1,39–56 147 Herz und Mund und Tat und Leben 167 Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe Johannis Jes 40,15; Lk 1,57–80 30 Freue dich, erlöste Schar 130 Herr Gott, dich loben alle wir Michaelis Apk 12,7–12; Mt 18,1–11 149 Man singet mit Freuden (Ps 118) 79 Gott, der Herr ist Sonn und Schild (Ps 84) Reformation 2 Thess 2,3–8; Apk 14,6–8 119 Preise, Jerusalem, den Herrn (Ps 147) Ratswechsel 120 Gott, man lobet dich in der Stille (Ps 65) 29 Wir danken dir, Gott, wir danken dir 69 Lobe den Herrn, meine Seele (Ps 103) 192 Nun danket alle Gott Ratswechsel? 194 Höchsterwünschtes Freudenfest Kirch- und Apk 21,2–8; Orgelweihe Lk 19,1–10234

137 35 117 17

Aus der Aufstellung ergibt sich, dass nahezu alle Festtage,235 besonders aber der Weihnachtsfestkreis236 hier zu bedenken sind, sodann die im lutherischen Kalen

233 Vgl. Petzoldt I, 329–338. 234 Der erste Teil  dieser für die Orgelweihe in Störmthal komponierte Kantate wurde später noch mehrmals an Trinitatis aufgeführt, vgl. Petzoldt, Gottes Wohnung beim Menschen, 139 f, und Spitta II, 197, der ihr allerdings ein mangelndes Maß an „Kirchlichkeit“ ankreidet. 235 Vgl. dazu Petzoldt, Liturgie, 79 f. 236 Der Osterfestkreis ist vergleichsweise schwach vertreten, die Sonntage Jubilate und Cantate haben kaum festliches Gepräge. A Sonntag Jubilate steht zunächst sogar die Klage im Vordergrund (vgl. unten 2.3.).

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Bachs Kantaten als Lobopfer

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der verbliebenen Marienfeste sowie Johannis, Michaelis und das Reformationsfest. Weitere Anlässe bilden politische Ereignisse wie der Ratswechsel, aber auch die Weihe einer neuen Kirche oder Orgel237 oder die Trauung. Darüber hinaus gibt es „doxologische Kantaten“ vereinzelt auch in der festlosen Zeit, besonders am 12. und 14. Sonntag nach Trinitatis.238 Im Blick auf diese Kantaten lassen sich einige musikalische und theologische Phänomene beobachten, die im Folgenden wenigstens kurz angedeutet werden sollen:

1.6.2 Doxologische Elemente als übergreifendes Phänomen im Vokalwerk Bachs Doxologische Texte finden sich demnach in allen Schaffensperioden Bachs und übergreifen diverse poetisch-musikalische Untergattungen wie die Choralkantate (vgl. BWV 62; 91; 41; 1; 4; 117; 125; 130; 192 u. a.); die Odenkantate (BWV 36; 63; 151; 171; 66; 172; 173; 147; 30 u. a.) oder die Spruchkantate (vgl. BWV 110; 65; 43; 76; 148; 149; 69(a) u. a.)239 unter einem zentralen Gesichtspunkt, nämlich dem des Lobpreises Gottes, der stets mit dem Affekt der Freude240 verknüpft ist. Charakte­ ristisch sind dafür die doxologischen Substantive Lob, Ehre, Preis, Dank und die entsprechenden Verben loben, danken, preisen, rühmen etc. Darüber hinaus ge­ hören semantisch alle Begriffe dazu, die einen freudigen Affekt ausdrücken, z. B. mit den Vokabeln Freude, Jauchzen, Lachen, Jubel, Frohlocken.

1.6.3 Soli Deo Gloria – das Lob Gottes als Proprium und Ziel evangelischer Kirchenmusik Zugleich stoßen wir bei diesen doxologischen Kantaten  – ähnlich wie bei den oben beschriebenen verkündigenden Kantaten241 – auf einen Nerv evangelischer Kirchenmusik, den Martin Luther folgendermaßen formuliert: „Dem Menschen

237 Vgl. dazu Petzoldt, Gottes Wohnung, 135–151. Die zweiteilige Kantate ist von der „Ein­ wohnungs“-Thematik (inhabitatio) etwa der Tempelweihe Salomos (vgl. 2 Chr 5–7) bestimmt und erinnert in vielem an die Pfingstkantate Erschallet ihr Lieder (BWV 172). Es fällt auf, dass Teil  I „durchweg von der Sprache des Gebets bestimmt“ ist, während Teil II „das affirmative, argumen­ tierende und beschreibende Reden“ pflegt (a. a. O., 139). 238 Vgl. dazu auch Kap. 6.0 dieser Arbeit. Über diese Kantaten hinaus enthalten die folgenden eine doxologische Schlussstrophe oder eine Wendung, die Lob und Dank zum Inhalt hat: 14,5; 34,5; 37,3; 64,2; 67,4; 68,2; 84,1.3; 106,4; 133,1; 135,6; 140, 7; 145,5; 176,6; 184,2; 187,6.7 248,V,1. Eingangs­ chor und Schlusschoral der Johannes-Passion sind ebenfalls doxologisch geprägt. BWV 21 und 25 gehen den Weg der Klagepsalmen, in denen sich die Klage über den Zuspruch zum Lob wendet (vgl. unten 2.4). 239 Innerhalb der Schriftzitate in den einleitenden Sätzen sind die (hymnischen) Psalmzitate deutlich in der Überzahl (vgl. Steiger, Dialogue, 38, Anm. 6 bzw. unten 6.0.2 und 7.1.1). 240 Vgl. unten 1.7.1. 241 Vgl. oben 1.4.3.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

aber ist allein vor den anderen Kreaturen die Stimme der Rede gegeben, dass er sollt künden und wissen, Gott mit Gesängen und Worten zugleich zu loben, nämlich mit dem hellen, klingenden Predigen und Rühmen von Gottes Güte und Gnade, darinnen schöne Wort und lieblicher Klang zugleich gehöret [Hvh. JA].“242 Auch Bachs Zeitgenosse, der Musiktheoretiker, Komponist und Operndirektor Johann Mattheson, schreibt unmissverständlich: „Gott direkt zu loben, sollte wohl hauptsächlich der Zweck der Kirchenmusik, indirekt aber aller Musik sein.“243 Ähnlich wie Luther geht es Mattheson dabei um eine schöpfungs­ theologische Begründung des Lobs: „Uiberhaupt ist wol zu glauben, und sehr wahrscheinlich, daß die ersten Menschen Zeit genug werden gehabt haben, ihrem mit göttlichem Lichte erfüllten Verstand, Willen und Trieb, samt den köstlichen und künstlichen Gliedmaassen ihres Leibes, zum höchsten Lobe des Schöpffers als dem einzigen Zweck der Schöpffung, und zu dessen Verherrlichung, wozu absonderlich die Kehle gemacht ist, mit allen Kräfften anzuwenden, und es ihren Vorgängern oder Anführern, den heiligen Engeln, die niemals aufhören GOtt mit Klingen und Singen zu ehren und zu preisen, nach und gleichzumachen; es habe nun so lange gewähret, als es wolle.“244

Diese Intention lässt sich bekanntlich auch für Bach selbst belegen, insofern er sein Komponieren und Musizieren ganz grundsätzlich in einem doxologischen Gefälle gesehen und viele Werke mit S(oli)D(eo) Gl(oria)  unterschrieben hat.245 Dies geht auch bereits aus seiner ersten schriftlich festgehaltenen Äußerung aus dem Jahre 1707 in Mühlhausen hervor, in der er explizit wünscht, möglichst bald „eine regulirte Kirchenmusik zu Gottes Ehren“246 halten zu können. Auch das Orgelbüchlein ist überschrieben mit dem Titel „dem Höchsten Gott allein zu Ehren / dem Nechsten, draus sich zu belehren“.247 Dieses Motto findet sich auch an zentralen Stellen verschiedener theologischer Werke in Bachs Bibliothek. Zwei Beispiele seien hier angeführt. Beim ersten handelt es sich um ein Emblem zu Eph 5,19 und Kol 3,16, den klassischen Referenzstellen für die geistliche Musik im Neuen Testament, in Heinrich Müllers Göttlicher Liebes-Flamme. Abgebildet ist ein von musizierenden Engeln umgebenes großes Herz, in dessen Mitte eine Orgel steht. Die Subscriptio lautet: „Von Hertzen lob ich dich, weil du mit deiner Güte, o Wundergrosser Gott, erfreuest mein Gemüthe,

242 WA 50, 371 f (Vorrede zu Rhaws Symphoniae iucundae). Hier verschränken sich im Begriff „Predigen und Rühmen“ die kerygmatische (katabatische) und doxologische (anabatische) Dimension der Kirchenmusik. 243 Mattheson, CM, Bd. 2, 297 f. 244 Mattheson, VC, Vorrede III, 12 (Reprint, 14). 245 Mit dem doxologischen SDG(l) unter dem Werk korrespondiert die epikletische Überschrift J. J. [Jesu juva]. 246 Vgl. Bach-Dokumente I, 1. Gerade weil es Bach um eine Musik zu Gottes Ehren ging, begab er sich immer wieder in Konflikt mit den Stadtfürsten, um eine bessere Ausstattung der Kirchenmusik durchzusetzen. 247 Bach-Dokumente I, 148.

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Bachs Kantaten als affizierende Kunstwerke

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Der Himmel lobet dich, den Himmel hier auf Erden hab ich wann ich dich lob; so muß man Englisch werden.“248

Auch Johann Arndt bildet in Cap. 41 des zweiten Buches vom wahren Christen­ thum eine Orgel mit der doxologischen Subscriptio „Dem Meister zu Ehren“ ab und führt dann ein Psalm 100,1 aufnehmendes Lob des Schöpfers an, dessen ersten Teil hier wiedergegeben ist: „Wenn Gottes Finger unser Herz bereitet und seine Lieb und Gnad’ der Seelen Inn’res wohl geordnet hat, dann wird des Werkmanns Ruhm bekannt und ausgebreitet; dann werden alle Kräft’ und Sinnen rege, und stimmen lieblich überein; der Geist, der vor so plump und träge, will nicht mehr stumm und angefesselt sein, er lässet dem, der ihn gemacht zu Ehren ein neues Danklied hören, und preiset seinen Gott durch der verstimmten Neigung Tod. Der Nachklang tönt in unserm ganzen Leben, und steigt in jedem Nun, im Leiden und im Tun, die Wolken an, den Schöpfer zu erheben.“249

1.7 Musica pathetica et poetica – Bachs Kantaten als affizierende Kunstwerke Doch kommen wir nun zur spezifischen Verknüpfung des Lobens mit bestimmten musikalischen Ausdrucksmitteln. In diesem Zusammenhang sei zuerst an die beinahe unzertrennliche Verbindung von Lob und Freude erinnert. Martin Luther schreibt dazu: „Singet dem Herrn ein neues Lied! Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“250 Fröhlich und mit Lust soll es zugehen, wenn in der Christenheit gesungen wird. Die Motivation ist damit klar christologisch, ja österlich, bestimmt, die Außenwirkung des „neuen Liedes“ soll einladend, ja missionarisch sein. 248 Müller, Liebes=Flamme, neben S. 1018, vgl. Steiger, 55 (Abbildung), vgl. a. a. O., XVIII (Vorwort) mit Hinweis auf Gerhard, Schola pietatis III 23, 716: „Wenn wir Gott loben und preisen / so kommen wir in die Gemeinschafft mit den heiligen Engeln“. Auch dieses Werk befand sich in Bachs Bibliothek. Erinnert sei hier auch nochmals an den Untertitel von Olearius’ Bibel-Kommentar (vgl. oben 1.3), wonach die Auslegung der Schrift darauf zielt, sie „zu Gottes Ehre/ durch täglich Ubung der waren Gottseligkeit ersprießlich anzuwenden“. 249 Vgl. Arndt II, Cap. 41, 368b, Text leicht modernisiert. 250 Vorrede zum Babstschen Gesangbuch (1545), WA 35, 477.

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Damit ist die Bedeutung der Doxologie251, wie sie etwa im Gloria in excelsis oder im Sanctus der Messe, aber auch in vielen Psalmen und dem dazugehörigen Gloria Patri sowie in vielen traditionellen und neuen Liedern und Gebeten ihren Ausdruck findet, wenigstens grob umrissen. Versuchen wir nun zu verifizieren, wie Bach die Freude und das Lob durch die Ausprägung unterschiedlicher Affekte und durch den „Einsatz“ bestimmter musikalisch-rhetorischer Figuren profiliert. Wir nehmen daher Bachs Musik als affektbetonte und rhetorische Musik, als musica pathetica und musica poetica in den Blick.

1.7.1 Musica pathetica – zur Bedeutung der Affekte in der philosophisch-theologischen und musikalischen Tradition In ihrer Darstellung der Geschichte der Kantate und insbesondere der Kantaten J. S. Bachs kommt R. Steiger zu einer grundlegenden These, die im Folgenden kurz entfaltet und der weiteren Untersuchung zugrunde gelegt werden soll: „Der neue Stil der Affekte und der affectus fidei Luthers gehen [sc. in Bachs Kantaten] eine glückhafte Verbindung ein. Die affektbetonte Vergegenwärtigung bleibt also nicht rein subjektiv. Sie hält sich an die Inhalte, die ihr von Predigt und Dogmatik vorgegeben sind“.252 Dazu ein kurzer historischer Exkurs: Für Platon sind nur diejenigen Affekte (πάϑη) besonderer Erwähnung wert, die für die Erziehung hilfreich sind, d. h. die die staatsbürgerlichen Tugenden fördern. Dies gilt auch für die durch die Musik erweckten Affekte.253 Für Aristoteles besteht dagegen Tugend „nicht im Freisein von Affekten, sondern in ihrer Beherrschung: Ihre Übertreibung ist fehlerhaft, ihr Ausbleiben zu tadeln, das rechte Maß aber wird gelobt und gedeiht zum Rechten.“254 Ideal der Stoa ist die Apathie (ἀπατεῖα), die Fähigkeit, sich nicht von den Leidenschaften beherrschen zu lassen. Zentrale theologische Bedeutung gewinnt der Affektbegriff bei Augustin und im Augustinismus. Dabei werden Freude und Schmerz als Hauptaffekte herausgestellt: „Hatte der junge Augustin noch mit der Stoa die Affekte als der Vernunft widerstrebende sinnliche Erregungen des Menschen negativ bewertet und ihnen gegenüber das stoische Apathie-Ideal […] geteilt, so erkennt er in der Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition die größere Seinsrelevanz des Affektes. In der Spannung von dolor (tristitia)/gaudium überschreitet der Affekt den Bereich des appetitus sensitivus (vgl. lib. arb. III, 70). Der Affekt der Freude

251 Vgl. dazu Arnold, 56–58; 287–317; 395–405 und 461 ff. Wir verwenden hier einen Begriff des Doxologischen, der sich nicht zu eng nur an bestimmte gattungsgeschichtliche Formen (z. B. „kleine“ oder „große“ Doxologie, vgl. dazu Praetorius, Bd. I, 41 III: Hymnus Angelicus, cum δοξολογία), sondern alle Formen des Hymnus und des Lobpreises einbezieht. Er wird aber auch nicht so weit gefasst, dass er in synonymer Weise mit jeder Art liturgischen Sprechens oder Betens identifiziert wird (vgl. Ritschl, 336–340). 252 Steiger, Kantate, 594. 253 Vgl. MGG, Affektenlehre, 114: „Der Philosoph Plato andererseits wollte nur eine von sittlicherzieherischen Gesichtspunkten getragene Musik anerkennen; daher ließ er von den griech. Ton­ arten nur das Dorische, seines ernsten Wesens wegen, und das Phrygische, da es zu kriegerischen Taten anfeuerte, für den musikalischen Jugendunterricht zu“. 254 Eggebrecht, 349.

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entspringt der liebenden Einheit mit Gott als dem unum, verum et bonum, der Affekt des Schmerzes signalisiert das Herausgefallensein aus dieser Einheit unter der Herrschaft der cupiditas und concupiscentia. Im Affekt wird die Seinslage des Menschen vor Gott erfahren. Im Schmerz wird der Mensch sich seiner infirmitas bewußt und öffnet sich demütig der misericordia dei. Ihr entspringt die Gnade, die den Menschen affektiv in die liebende Einheit mit Gott zurückversetzt. Angesichts dieses vertieften Affekt-Verständnisses brandmarkt Augustin in seinem Spätwerk das stoische Apatheia-Ideal gar mit dem Ausdruck superbia“.255 In den scholastischen Schulen des Mittelalters werden die Affekte entweder eher im Bereich des Willens (voluntas, so im Augustinismus und in der franziska­nischen Tradition) oder im Bereich des Verstandes (intellectus, so im Aristo­telismus bzw. Thomismus) verortet. Hugo von St. Viktor und Bonaventura unterscheiden grundsätzlich ein begehrendes und zorneiferndes Strebevermögen (concupiscibilis und irascibilis). Grundaffekt ist die Liebe, die sich – je nach Objekt – in Freude und Schmerz (gaudium/ dolor) bzw. Furcht und Hoffnung (timor/spes) äußern kann.256 Thomas schränkt die Bedeutung der Affekte ein, indem er sie zu den außervernünf­ tigen, sinnlich-körperlichen Leidenschaften rechnet. Die Seele als anima rationalis ist prinzipiell nicht leidensfähig. „Insofern jedoch die Seele die Form des Leibes ist, affizieren die Affekte indirekt (per accidens) das geistige Streben der Seele, den freien Willen.“257 Der Augustinermönch Martin Luther steht deutlich in der augustinisch-franziskanischen Tradition. Luther nimmt hier die vier Grundaffekte der älteren Franziskanerschule auf, die Freude und Schmerz „auf ein gegenwärtiges Objekt“, Hoffnung und Furcht dagegen „auf ein noch ausstehendes“258 Gut bezogen haben. Dass Luther in dieser Tradition steht, zeigte er schon im Scholion zu Ps 67 seiner Dictata super Psalterium (1513), wo er die vier Affekte mit einem menschlichen Lebenswagen und seinen vier Rädern vergleicht: „Seine vier Räder sind die vier Affekte: Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz. An jeder von seinen beiden Seiten befinden sich zwei: zwei aus der Liebe zum Guten und zwei aus dem Hass des Bösen“259. In seinen Auslegungen des Psalters kommt der Affektbegriff nicht immer explizit, aber doch als ständiges Leitmotiv vor, oft in Verbindung mit dem intellectus, dem zweiten ausgezeichneten Vermögen der Seele: „Die Erkenntnis ist die notwendige Voraussetzung für jede Form des Affektes, umgekehrt macht erst der Affekt das Erkannte lebendig. Der Affekt ist der anthropologische Ort der geistlichen Erfahrung und des geistlichen Lebens“260 Dabei findet eine wesentliche, Luthers reformatorischer Wende entsprechende Verschiebung statt, insofern er „immer mehr weg[kommt] von einem methodisch ge­übten und geregelten Gleichzeitigmachen der eigenen Affekte mit denen der Hl. Schrift hin zu einem immer stärkeren Betroffensein durch die Affekte der hl. Schrift selbst.“261 Dies wird u. a. in der Vorrede seiner Operationes in Psalmos (1519) deutlich, in der er essentielle Aussagen der Epistula ad Marcellinum in interpretationem psalmorum des

255 Zur Mühlen, 600. 256 Vgl. a. a. O., 602. 257 A. a. O., 603, vgl. Thomas von Aquin, S.th. 1 II q.22 a1. 258 Zur Mühlen, 602. 259 Vgl. WA 3, 404, 25–27: „Cuius quattuor rote sunt quattuor affectus spes, timor, gaudium, dolor. In utroque latere duae, scilicet duo ex amore boni et duo ex odio mali“. Liebe zum Guten und Hass des Bösen sind hier als übergeordnete Affekte gedacht, die die anderen vier gleichsam aus sich heraussetzen. (Vgl. die unten, Anm. 294, zitierte 2. Psaltervorrede, wo Unfall und Übel für das Böse, Güter und Glück für das Gute stehen.) 260 Zur Mühlen, 606. 261 A. a. O.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Athanasius aufnimmt: Der Heilige Geist „bereitet uns mit diesem Buch sowohl die Worte als auch die Affekte vor, mit denen wir den himmlischen Vater anreden und bitten sollen im Blick auf das, was er in den übrigen Büchern [sc. der Schrift] zu tun und nachzuahmen gelehrt hat, damit keiner etwas vermissen kann, was ihm zu seinem Heil nötig ist“262. Ohne den Affektbegriff explizit zu gebrauchen, findet sich – sachlich zu den Dictata und den Operationes passend – ein wichtiger Beleg in der zweiten Psaltervorrede von 1528: „Denn ein menschlich Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, welches die Sturmwinde von den vier Orten der Welt treiben. Hier stößt Furcht und Sorge vor zukünftigem Unfall; dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit von zukünftigem Glück; dort bläset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders, als der in Furcht steckt. Es gehet nicht von Herzen (spricht man), wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll; das ist, seines Herzens Grund stehet nicht offen und ist nicht heraus. Was ist aber das meiste im Psalter anders als solch ernstlich Reden in allerlei solchen Sturmwinden? Wo findet man feinere Worte von Freuden, als die Lobpsalmen oder Dankpsalmen haben? Da siehest Du allen Heiligen ins Herz wie in schöne lustige Gärten, ja wie in den Himmel, wie feine, herzliche, lustige Blumen darinnen aufgehen von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken gegen Gott und seine Wohltat. Und wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte von Traurigkeit als die Klagepsalmen haben? Da siehst du abermal allen Heiligen ins Herz wie in den Tod, ja wie in die Hölle [alle Hvhn. JA]“263.

Festgehalten werden kann aus diesem Exkurs, dass innerhalb der augustinischfranziskanischen Tradition bis hin zu Luther eine Ausdifferenzierung in vier (Freude, Schmerz, Furcht, Hoffnung) bzw. sechs (mit der „Liebe zum Guten“ und dem „Hass des Bösen“) Grundaffekte stattgefunden hat. Eine besondere Affinität besteht zum biblischen Buch der Psalmen auch in seiner spezifischen Gattung als Gebetbuch. Luthers Verständnis der Affekte findet sich in der (pneumatolo­ gischen) Predigtlehre Melanchthons: Der Heilige Geist kann durch die Verkün­ digung von Gesetz und Evangelium, Reue und Furcht auf der einen, aber auch Trost und Zuversicht auf der anderen Seite bewirken.264 An diese Tradition knüpft das 17.  Jahrhundert an, auch wenn sich der erste namhafte Theo­retiker der Affekte des Barock, der Jesuit Athanasius Kircher, erwartungsgemäß nicht auf Luther bezieht. 1650 veröffentlichte er den siebten Band seiner Musurgia universalis, in dem er eine spekulativ-physiologische Begründung der Affekte aufgrund der Dominanz einzelner Körpersäfte, nämlich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, darlegt. Er bezieht sich dabei auf die antike, auf Hippokrates von Kos265 zurückgehende Unterscheidung von den vier Temperamenten. Der Sanguiniker (vgl. sanguis, Blut) ist besonders empfänglich für

262 WA 5,23, 30–33, vgl. Bayer, 28: „Der monastischen Theologie geht es, im Umgang vor allem mit dem Psalter, vornehmlich um die Kultur der Affekte im Zusammenhang der Lebensführung und Gewissenserforschung.“ 263 WA DB 10/1, 100.102, vgl. oben 0.4 bzw. unten 7.1. 264 Vgl. CR XV, 1368: „…nec sit concio sine affectibus, sed commemoratio de ira Dei, exuscitet timorem, nec tamen relinquatur mentes in pavore et dubitatione, […] sed accedat consolatio ex voce Evangelii, commonefiant auditores, ut sibi fide applicent promissiones aeternas et praesentium bonorum, et exerceant fidem, spem, invocationem, gratiarum actionem et ceteras virtutes.“ Die Verkündigung des Evangeliums wirkt demnach Glauben, Hoffnung, Gebet und Dank. 265 Vgl. Serauky, 113.

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freudige Affekte. Der Melancholiker eher für das Dunkle, Schwarze, also für die Traurigkeit usw. Von dieser Hypothese ausgehend, kommt Kircher dann zu einer musikalischen „Anwendung“ seiner philosophisch-theologischen Affektenlehre, die er im achten Band auch an zahlreichen rhetorischen Figuren durchführt. Eggebrecht fasst die musikalischen Ausführungen Kirchers so zusammen: „Der Affekt des Schmerzes zum Beispiel wird ausgedrückt durch kleine, vornehmlich abwärts gerichtete Intervalle, besonders durch Halbtöne und chromatische Gänge, durch Häufung von Dissonanzen (Relationes non harmonicae, Querstände) und deren freie Behandlung, durch Sextakkordlage der Dreiklänge, durch Synkopen, langsame Bewegung und Verunklarung der Abschnittsschlüsse. Die Freude andererseits wird erregt durch große Intervalle, bevorzugt auch durch die ionische Tonart [also unser heutiges Dur …], durch sparsamen Gebrauch von Dissonanzen und Synkopen, geschwinde Bewegung, gelegentlich auch durch tänzerische Dreizeitigkeit des Takts. So ersteht dasjenige, was Kircher ‚Musica pathetica‘ nennt, die so beschaffen ist, ‚daß sie den Hörer zu jedem gegebenen Affekt der Seele unausweichlich bewegt.‘“266 Kircher unterscheidet insgesamt acht Affekte, nämlich Liebe (amor), Leid (dolor); Freude (gaudium), Wut bzw. heftige Erregung (ira); Mitleid (misericordia), Furcht (timor), Mut (audacia) und Verzweiflung (desperatio). Nicht unwesentlich ist ferner „seine Bemerkung, es gäbe in der Musik eigentlich nur allgemeine Affekte, freudige und traurige, nicht aber solche, die einem intellektuellen Zusammenhange entnommen sind, d. h. ein Objekt benötigen (wie z. B. Liebe und Haß)“267.

Die Tatsache, dass Bachs Vetter J. G. Walther sich auf Kircher bezieht und dass es eine deutsche Übersetzung des Traktats von Andreas Hirsch aus Schwäbisch Hall (1662) gab, lässt vermuten, dass Kircher auch Bach bekannt war268 bzw. allgemein Kenntnis von seiner Affektenlehre hatte. Ähnlich wie Kircher verknüpft Andreas Werckmeister in seiner vor allem physikotheologisch motivierten Affektenlehre269 den affectus mit bestimmten musikalischen Parametern. „.Grundsätzlich lassen sich folgende Regeln erkennen: der Affekt der Freude wird durch Durtonarten dargestellt, durch schnelles Tempo, durch welche die Lebensgeister (spiritus animales) in Bewegung geraten, sowie durch eine höhere Klanglage,270 der Affekt der Traurigkeit hingegen durch Molltonarten, häufige Verwendung von Dissonanzen, von Quer

266 Eggebrecht, 353. 267 Serauky, 114. 268 Vgl. mit explizitem Hinweis auf Kircher und Hirsch: Walther, Art. Affetto mit der Reihenfolge: „Liebe, Leid, Freude, Zorn, Mitleiden, Furcht, Frechheit und Verwunderung.“ Beim letzten Glied liegt möglicherweise ein Irrtum Walthers vor, da desperatio m. E. kaum mit Verwunderung wiedergegeben werden kann. Eng in der Tradition Kirchers steht besonders auch T. B. Janowka, vgl. Bartel, 40 f. 269 Vgl. Riemann, Art. Affektenlehre, 11: „A. Werckmeister (+1706) verbindet die A[ffektenlehre] mit theologischen Wertbegriffen und mit seiner mathematisch fundierten und naturphilosophisch durchsetzten Vollkommenheitslehre.“ Fujiwara, 153–161, weist auf den Einfluss des Astronomen Johannes Kepler hin, der in seinen Harmonices mundi (1619) eine „Temperatur des Kosmos“ im Sinne einer „Sphärenharmonie“ behauptete. 270 Im Blick auf die oben (1.6.1) zusammengestellten „doxologischen Kantaten“ lässt sich dies unmittelbar verifizieren. Häufig finden wir Dur-Tonarten (besonders C-Dur und D-Dur), fest­liche Besetzung (oft 1–3 Trompeten, 1–2 Hörner oder zumindest 2 Oboen) und oft auch den raschen Dreiertakt, oft verbunden mit dem daktylischen Versmaß (vgl. BWV 248,1; 137; 66) die dem freudigen Affekt Ausdruck geben.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

ständen (relationes non harmonicae) und engen Intervallen (Ganz- und Halbtöne), durch welche die Lebensgeister sich zusammenziehen, sowie durch langsameres Tempo und dunklere (mittlere und tiefere) Lagen.“271 Ziel ist für Werckmeister, dass durch die Proportionen der Musik Gott erkannt und gepriesen werde, ja „ihm dadurch ebenmäßig sein Eben-Bild vorgestellet, an welchem er sich belustigen kann.“ Dieser Freude Gottes an seinem Ebenbild entspricht in der Umkehrung die Freude des Menschen an der durch die Musik zum Ausdruck kommenden Weltordnung und Weisheit Gottes: „Weil nun die Music ein ordentliches und deutliches Wesen und solcher Gestalt nichts anders als ein Formular und Ordnung der Weisheit Gottes ist, so muß ja ein Mensch, wenn er nicht einer grimmigen Bestie gleich ist, billig zur Freude bewogen werden, wann ihm die Ordnung und Weisheit seines gültigen Schöpfers durch solche Numeros sonoros ins Gehör und folgends ins Herz und Gemüthe geführet wird.“272

Damit ist der Mensch als ein Affektwesen bestimmt, das, sofern es sich der Weisheit Gottes, wie sie durch die Musik wirkt, anvertraut, in Gott aufgehoben ist und so zu immer neuer Freude geführt wird. Die Freude des Schöpfers und die dankbare Freude der Menschen treten durch das Medium der Musik in ein „fröhliches Wechselspiel“, eine doxologische Kommunikation. Die Freude lässt sich von dieser Stelle aus unschwer als den „schöpfungsgemäßesten“ Affekt beschreiben. Menschen, die sich freuen, sehen nicht nur glücklicher aus, sie bewältigen auch das Leben besser.273 Es ist bekannt, dass die Schriften Werckmeisters in der Weimarer Bibliothek J. G. Walthers, des Vetters, Freundes und Kollegen Bachs vor­ handen waren,274 so dass auch Bach recht genaue Kenntnis der Affektenlehre Andreas Werckmeisters gehabt haben wird. Darauf, dass der Affekt der Freude eine zentrale Rolle auch noch zur Bachzeit spielte, deutet auch Matthesons Behandlung des Themas hin, wenn er neben der Liebe275 besonders die Antithetik von Traurigkeit und Freude heraus arbeitet: „Die Traurigkeit besitzt kein geringes im Lande der Affecten. In geistlichen Sachen, wo diese Leidenschafft am heilsamsten und beweglichsten ist, gehöret ihr alles zu, was Reu und Leid, Busse, Zerknirschung, Klage und Erkenntiß unseres Elendes in sich hält. Bey solchen Umständen ist denn Trauren besser als Lachen.“276

271 Riemann, Art. Affektenlehre, 11, vgl. ähnlich Eggebrecht, 354–358. 272 Werckmeister, Musicalische Paradoxal-Discourse, 24, zit. nach Eggebrecht, 358. 273 Vgl. Reddemann, 90 f, die sich mit ihrem therapeutischen Ansatz dezidiert auf die Musik J. S. Bachs bezieht: „Die sicherste Art, sich immer wieder freuen zu können, ist, sich die Momente, in denen man sich freut, bewusst zu machen. […] Es gibt eine Möglichkeit, Freude zu verstärken, und zwar indem wir denen dafür danken, die uns Freude bereiten, und sie ‚loben‘.“ Die Verfasserin nimmt dann Bezug auf aktuelle psychologische Forschungen zum Thema Glück, vgl. a. a. O., 91. 274 Vgl. Eggebrecht, 358. 275 „Alle und iede Gemüths-Bewegungen her zu zehlen dürffte freilich zu langweilig fallen; nur die vornehmsten derselben müssen wir unberühret nicht lassen. Da ist nun die Liebe wol billig unter allen oben an zu setzen; wie sie denn auch in musicalischen Sachen einen weit grössern Raum einnimt, als die andern Leidenschafften.“ (Mattheson VC I; Cap. 3; § 60). 276 Mattheson, VC I, Cap. 3, § 66. Vgl. Luthers Äußerung in der 2. Psalmenvorrede (1528), WA DB 10/1, 102: „Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders von Unfall, als der in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singet ganz anders, als der in Furcht steckt. Es gehet nicht von Herzen (spricht man), wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll; das ist, seines Herzens Grund stehet nicht offen und ist nicht heraus.“

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„Die Freude hergegen ist viel natürlicher, als die Traurigkeit: und eben deswegen, weil sie eine solche Freundin des Lebens und der Gesundheit ist, beqvemet sich das Gemüth vielleichter [sic] zu ihrer Vorstellung und Annahm. […] Den grössesten Nutzen einer recht freudigen Music sollen wir billig […] im Lobe GOttes und im stets-frohlockenden Dancken für seine umbegreifliche und unzehliche Wohlthaten suchen. Wir haben dazu täglich ja stündlich hohe Ursachen und reiche Materie oder Gelegenheit, diese Ausbreitung unsrer Nerven-Geister und Anspannung der Zäser zu bewerckstelligen; mögen dannenhero das freudige Singen und Klingen in der Kirche oder in den Häusern zu Gottes ehren und Preise […] allen anderen vorziehen, und, nach den apostolischen Worten [sc. 1 Tim V; Phil IV], allezeit frölich seyn, uns allewege in dem Herrn freuen, und abermahl freuen. Gott will gar keine traurige Opffer haben, und weiß seinem Volcke die Fröligkeit [vgl. Ps 100] nicht genug anzurühmen.“277

Damit ist der Affekt der Freude nicht nur als etwas Gesundes, also dem natürlichen Menschen Wohltuendes, sondern auch in seiner Begründung und Motivation vom Evangelium her und auf den schenkenden Gott hin eindeutig doxo­ logisch bestimmt. Im Blick auf Bachs Kantaten können wir nach eingehender Beschäftigung folgende musikalische Aspekte ausmachen: Der Affekt der Trauer bzw. des Schmerzes wird musikalisch oft durch ein langsames Tempo, kleine Intervalle, starke Dissonanzen und dunkle Molltonarten ausgedrückt und bewirkt. Theologisch gehört er auf die Seite der Klage bzw. zur Erfahrung der Verborgenheit Gottes. Furcht und Reue sind musikalisch oft ähnlich dargestellt und lassen sich theologisch auf der Seite des anklagenden und richtenden Gesetzes verorten.278 Der Affekt der Freude ist dagegen den Heilstaten Gottes zuzuordnen, die ihrerseits Inhalt des Evangeliums sind. Musikalische Parameter sind ein geschwindes Zeitmaß,279 zuweilen auch der tänzerische Dreiertakt, helle Tonarten (z. B. C- oder D-Dur), hohe Lage und eine festliche Besetzung (z. B. mit Trompeten). Dogmatisch ist im Blick auf den Affekt der Freude zu fragen, ob im Sinne der Rede von „vier Widerfahrnissen Gottes“280 sich die Freude an Gottes Schöpfungs- und Welthandeln, d. h. seine gütigen und langmütigen Wohltaten in Natur und Geschichte (primus usus legis, viertes Widerfahrnis) festmacht, oder ob sie auf Gottes Heilstat in Christus zielt. Möglicherweise kann und muss hier auch

277 Mattheson, VC I, Cap. 3, § 70 f. 278 Weiter unten (Kap 2 und 3) ist zu prüfen, inwiefern sich die Furcht auf der einen bzw. Schmerz und Trauer auf der anderen Seite signifikant als musikalische Affekte unterscheiden lassen, auch wenn sie anthropologisch als Reaktionen auf selbst verschuldetes bzw. unverschuldetes Leid (vgl. Amelung, 495) bzw. theologisch als Reaktion auf das Widerfahrnis des richtenden (Furcht) bzw. des verborgenen Gottes (Trauer) deutlich zu differenzieren sind. 279 Hier ist zu bedenken, dass die Satzüberschrift Allegro eigentlich in erster Linie einen fröh­ lichen Affekt und erst in zweiter Linie ein schnelles Tempo bezeichnet. 280 Vgl. Bayer, 408–418 bzw. Bayer, Vielheit, 476 f. Bayer deutet hier gleichsam vier Affektent­ sprechungen in Gott an: „Er widerfährt in seinem Zorn, in dem er der Sünde überführt, anders als in seiner vergebenden Liebe, anders auch in seiner Langmut, in der er im weltlichen Gebrauch des Gesetzes, die alte Welt auf seine Zukunft hin erhält, erst recht aber anders in seiner schrecklichen Verborgenheit, in der er – für uns unentwirrbar – Leben und Tod, alles in allem wirkt.“ (A. a. O., 477, vgl. zur Verborgenheit: Luther, WA 18, 685).

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neu über den Zusammenhang bzw. möglichen Gegensatz von Glück und Heil ge­ sprochen werden.

1.7.2 Musica poetica – zur Bedeutung der musikalischen Rhetorik im Barock In der Tradition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten hat die Rhetorik zusammen mit der Grammatik und der Dialektik ihren Ort im Trivium der sieben artes liberales. Für die reformatorische Theologie gewann die Rhetorik, besonders in der auf die antiken Rhetoriker Quintilian und Cicero zurückgehenden Gestalt, zentrale Bedeutung. Dazu trug insbesondere die homiletische Theorie Philipp Melanchthons bei.281 Ein wesentlicher Aspekt dieser Theorie ist das vielfach rezipierte fünf- bzw. sechsteilige Schema von inventio, dispositio, elaboratio (oder elocutio evtl. mit decoratio), memoria und pronuntiatio (executio).282 Die Musik gehörte dagegen traditionellerweise ins Quadrivium, zusammen mit den „Naturwissenschaften“ Geometrie, Arithmetik und Astronomie. So erscheint, zumindest auf den ersten Blick, keine besondere Affinität zwischen den Künsten Rhetorik und Musik zu bestehen. Freilich hat Martin Luther durch seine pointierte Verknüpfung von Sprache und Musik, etwa in der Spielmannsformel „Singen und Sagen“, oder in der Bezeichnung des Evangeliums als „gute neue Zeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist“283 die Weichen pointiert anders gestellt und der Musik eine besondere Affinität zur Rede zugestanden.284 Ähnlich spricht der Theologe Matthias Hafenreffer von der Musik als einer „vivi­ficata eloquentia“285. J. Mattheson stimmt dieser Parallelisierung von Rhetorik und Musik noch über hundert Jahre später zu286 und hebt auf drei zentrale Aspekte der musikalischen „Er­

281 Melanchthon nimmt darin die drei auf Aristoteles zurückgehenden klassischen genera dicendi (genus deliberativum, iudiciale; demonstrativum) der antiken Rhetorik auf und verarbeitet sie neu. Am Ende stehen für ihn im Wesentlichen folgende genera fest: genus didascalium; deliberativum; epitrepticum und paraeneticum. (Vgl. Müller, Homiletik, 534 bzw. Schnelle, Homiletische Theorie). Beinahe noch wichtiger für die Homiletik der Reformationszeit war der heute weitgehende vergessene Andreas Hyperius, weil er sich u. a. bemühte, die genera dicendi unmittelbar aus der Schrift zu gewinnen: So unterscheidet er Lehrpredigt (doctrina), Streitpredigt (redargutio), Moralpredigt (institutio); Strafpredigt (correctio) und Trostpredigt (consolatio), vgl. Müller, Homiletik, 534. Auch Martin Luther hat die Rhetorik zusammen mit der Dialektik hochgeschätzt, ohne jedoch wie ­Melanchthon eine theoretische Auseinandersetzung durchgeführt zu haben. 282 Vgl. Krones, 823–826. 283 Luther, Vorrede zum Neuen Testament (1522), zit. in modernisierter Fassung nach Bornkamm, 168. 284 Vgl. Söhngen, 80–99 bzw. Meyer, 21 f sowie die grundsätzliche Arbeit von Unger. Dass dies prinzipiell nichts Neues ist, betont Krones, 833 f mit Hinweis auf den antiken Rhetoriker Quintilian, der die „Ähnlichkeit [der Musik] mit der Sprache, was Form, Klang, Vortrag (Gestik) und Rhythmik betrifft“ betont; und zu dem Ergebnis kommt, „daß die Rede wie der Gesang Wortfügung und Ton (‚compositio et sonus‘) gemäß dem Inhalt und Affekt der Aussage zu wählen habe“ (a. a. O., 833). 285 Hafenreffer, 236. 286 Vgl. Mattheson, VC II, Cap. 14, § 4: „Unsre musicalische Disposition ist von der rhetorischen Einrichtung einer blossen Rede nur allein in dem Vorwurff, Gegenstande oder Objecto unterschieden: dannenhero hat sie eben diejenigen sechs Stücke zu beobachten, die einem Redner vorgeschrieben werden, nemlich den Eingang, Bericht, Antrag, die Bekräfftigung, Wiederlegung [sic] und

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findungs-Kunst“ ab: „Wenn nun hier eine fernere lehrreiche Betrachtung von der Erfindungs-Kunst angestellet werden soll, so wird zuvörderst nöthig seyn darzuthun, daß dieselbe Kunst drey unzertrennliche Gefährten haben müsse, ohne welche auch die allerschönsten Einfälle von schlechter Würde sind. Diese drei heissen: Dispositio, Elaboratio & Decoratio, d. i. die geschickte Einrichtung, fleißige Ausarbeitung und gescheute Schmückung des melodischen Wercks“287. Im Blick auf die Kantaten ist für uns eine weitere Äußerung des jüngeren Mattheson bedeutsam, in der er auf drei Generalregeln der Komposition verweist, von denen die zwei ersten hier von Interesse sind: „(1) So ist die erste und vornehmste: Daß man Cantable setze, h.e. daß sich alles / was man machet / es sey Vocal- oder Instrumental-Music wohl singen lasse. (2) Daß sich in der Vocal-Music Text und Noten vor allen Dingen wol zusammen reimen/ und die in den Worten steckende Emphasis, nebst den Distinctionen / als Comma, Colon &c. wol in acht genommen werden. Als worinn mit Recht die musicalische Rhetoric stecket.“288

Musikalische und poetische Rhetorik sollen sich also entsprechen, ja einander gegenseitig leuchten lassen. Bachs Vorgänger Kuhnau empfiehlt in humanistischer Manier gar, sich Anregungen für eine Vokalkomposition aus dem Urtext zu holen und „andere Versiones in andern uns bekandten Sprachen zur Hand“ zu nehmen, da „die Grund-Sprache zur Invention nicht wenig beytragen“289 könne. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts, erstmals in der 1606 in Rostock erschienenen Musica poetica290 von Joachim Burmeister, wird dann zunehmend der Versuch unternommen, über eine allgemeine Parallelisierung von Rede und Musik hinaus, einzelne Figuren aus der barocken rhetorica sacra291 auch in die Musik zu übertragen. Burmeister geht dabei nicht – wie wir heute sagen würden – deduktiv, sondern induktiv vor, indem er anhand einer Motette Orlando di Lassos nachzuweisen sucht, wie Komponisten seiner Zeit Gesetze der Rhetorik kom­ positorisch umgesetzt haben. Die bereits auf das Mittelalter zurückgehende Idee den Schluß. Exordium, Narratio, Propositio, Confirmatio, Confutatio & Peroratio.“ Zur Inventionslehre Matthesons, vgl. auch Jacob, 26–30. 287 Mattheson, VC II, Cap. 4, § 13. 288 Mattheson, Orchestre, 105 f, vgl. Jacob, 28.  289 Vgl. Kuhnau, Vorwort. 290 Vgl. Krones, 836: „Der in einigen Titeln enthaltene Terminus musica poetica ist Ausdruck der erkannten Verwandtschaft von Musik und Sprache; er bedeutet soviel wie Kompositionslehre und dokumentiert die Ansicht von der Lehr- und Erlernbarkeit der Poetik wie der Musik.“ 291 Zur geistes- und theologiegeschichtlichen Bedeutung der Übernahme der antiken Rhetorik während der Barockzeit im Blick auf Doxologie und Hymnus, vgl. besonders J. A. Steiger, 76: „Der Hymnus, der Lobpreis Gottes, ist für Meyfart nicht nur künftige Aufgabe des Auferstandenen im neuen Jerusalem, sondern auch jetzt bereits irdische Abbildung und Vorwegnahme des Lebens und Lobens im neuen Äon. Im Lobgesang gewinnt bereits die über alle Zeit erhabene Ewigkeit in der Zeit Gestalt. […] Meyfart lobsingt selbst, indem er eine Anapher benutzt […] und diese Konstruktion chiastisch invertiert zum Abschluß bringt […]: ‚So will ich dich loben mit den Himmeln / ich will dich loben mit allen Engeln / ich will dich loben mit Sonne und Mond / ich will dich loben mit den leuchtenden Sternen. […] Ich will dich loben mit den Alten / mit den Jünglingen und Jungfrauen will ich dich loben.‘ Meyfart weiß, was ‚efficacia‘ der Rede, was performative Rede ist, da er, indem er der Ewigkeit vorgreift, sich vollziehen läßt, wovon er spricht. Denn die anaphorischen, fast völlig parallel konstruierten Sätze dehnen die Zeit und versinnbildlichen damit die Ewigkeit in Textstruktur und -klang.“

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ist dabei, dass jeder Musik eine musikalische Grammatik zugrunde liegt, in der „die Vorschriften zur Verbindung einzelner Töne und Accorde enthalten“292 sind. Die Grammatik ist gleichsam die syntaktische Grundlage für die durch den Einsatz bestimmter Figuren gewonnene besondere Semantik einer musikalischen Kom­ position. Figuren sind jedoch nicht der Normalfall, sondern eine Ausnahme, die „von der einfachen Art der Komposition abweicht [qui a simplici compositionis ratione discedit]“293. Ein besonderer Glücksfall für die Bachinterpretation ist, dass Bachs Vetter und Freund Johann Gottfried Walther, der als Organist in Weimar wirkte, 1732 sein Musicalisches Lexicon in Leipzig drucken ließ, in dem zahlreiche dieser Figuren294 beschrieben und definiert sind. Dass Bach dieses Werk kannte, ist anzunehmen,295 auch wenn er sich selbst nicht – wie etwa G. P. Telemann – explizit zum Gebrauch rhetorischer Figuren geäußert hat. Telemanns erklärtes Ziel ist es (im Blick auf die Rezitative), „die Aussprache vernehmlich zu machen, die Unterscheidungs-Puncte mögligst in acht zu nehmen, und die Rhetorischen Figuren so anzubringen, dasz die in der Poesie befindlichen Regungen erwecket werden mögen“296. In Bachs Kantaten finden sich sowohl Melodiefiguren297 wie etwa die Anabasis (=Ascensus)298 oder Catabasis (=Descensus)299, also Aufstieg und Abstieg (vgl. z. B. bei den Worten „et resurrexit“ oder „et ascendit in coelum“ bzw. „descen­ dit de coelo“ oder „et incarnatus est“ usw.), die Hyper- oder Hypobole (symbo­ lische Über- oder Unterschreitung der Grenzen einer Melodie, d. h. in der Regel

292 Forkel, 1788, 21. Forkels Musikgeschichte enthält zum letzten Mal eine geschlossene Darstellung einer musikalischen Rhetorik. „Die Grammatik, als musikalische Elementarlehre, war also der musikalischen Rhetorik vorgelagert“ (Krones, 817). 293 Burmeister, MP, 55. 294 Vgl. dazu Eggebrecht, 366–388 bzw. auch Walther, Art. Figur. 295 Vgl. Deppert, 31–36. 296 G. P. Telemann, Vorwort zum Kantatenjahrgang 1731/32. Damit ist angedeutet, dass durch die rhetorischen Figuren Affekte geweckt werden sollen, die durch die Gemütsregungen der literarischen Vorlage motiviert sind, vgl. Mattheson, VC II, Cap. 5, § 74, wonach man sich „bey einer ieden Melodie eine Gemüths-Bewegung […] zum Haupt-Zweck setzen“ müsse. 297 Die Unterscheidung von figurae harmoniae und figurae melodiae bzw. figurae tam harmoniae quam melodiae findet sich in den beiden jüngeren Arbeiten J. Burmeisters (1601 und 1606), vgl. Bartel, 24 und 290. Zu den figurae harmoniae zählt Burmeister auch Wiederholungs- und Pausenfiguren (vgl. aposiopesis). Andere Verfasser übernehmen diese Unterscheidung nicht und sprechen stattdessen von figurae principales und minus principales (Kircher, Janowka). Vogt unterscheidet figurae simplices (Triller, Verzierungen) und figurae ideales (anabasis, catabasis, anadiplosis u. v. a). 298 Vgl. Janowka, 56 (wörtlich Kircher VIII, 145 aufnehmend): „Anabasis sive Ascensio est Perio­ dus harmonica, quam exaltationem, ascensionem vel res altas & eminentes exprimimus ut in textu contingere posset hocce: Ascendens Christus in altum.“ Walther, Art. Ascensus schreibt: „Anabasis (lat.) von αναβαίνω [gr], ascendo, ich steige in die Höhe; ist ein solcher Satz, wodurch etwas in die Höhe steigendes exprimiret wird. Z. E. über die Worte: Er ist auferstanden, Gott fähret auf, u.d.g.“ Bartel, 85, meint dazu, die Anabasis fungiere „textverdeutlichend (‚Abbild‘)“ sei „aber auch durch ihre musikalische Wirklichkeit ein unmittelbarer Ausdruck des darzustellenden Affekts (‚Urbild‘).“ 299 Vgl. dazu Spieß, 155: „Cantabasis (sic) Descensus, Abfahrt. Heißt in der Music, wann die Noten oder Sing-Stimmen, laut des Texts, mit den Worten absteigen, v.g. Descendit ad infernos.“ Vgl. ähnlich Walther, Art. Catabasis, Kircher, VIII, 145 hebt stärker auf den Affektbezug ab: „Catabasis oder der Abstieg ist eine musikalische Periode, durch die wir die [der anabasis] entgegengesetzten Affekte ausdrücken wie die Affekte der Unterwürfigkeit, der Niedrigkeit und der Trauer.“

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des Notensystems)300, den Passus duriusculus (=harter Gang)301, den Saltus duriusculus (=harter Sprung)302, die Parrhesia (=Redefreiheit)303, die Gradatio oder Climax (= „Steigerung“ durch eine „treppenartige“ Sequenz)304, die Exclamatio (großer Sprung auf einen Ausruf)305 u. a. Davon können wir harmonische Figuren oder Satzfiguren wie etwa Anaphora,306 Epizeuxis,307 Noema,308 Mimesis,

300 Vgl. Burmeister, MP, 64. Vgl. Bartel, 196: „Die musikalische hyperbole bezeichnet eine Überschreitung der Grenzen des ambitus, die rhetorische dagegen eine Überschreitung der Grenzen der Wahrheit.“ 301 Die Figur eines chromatischen Quartgangs erscheint mit dieser Bezeichnung nur bei Chr. Bernhard, als Phänomen allerdings sehr häufig bei vielen Komponisten. Bernhard, TCA, Cap. 29, beschreibt sie knapp: „Passus duriusculus, einer Stimmen gegen sich selbst, ist wenn eine Stimme ein Semitonium minus steiget oder fället.“ Neben dem chromatisch fallenden oder steigenden Quartgang kann mit Passus Duriusculus auch eine nicht regelgemäß gesetzte, also verminderte oder vergrößerte Intervalle enthaltende Linie gemeint sein. Nach Eggebrecht zielt der Passus D. auch auf das docere, während die Pathopoeia lediglich das movere meint. (Vgl. Eggebrecht, Musica poetica, 66 ff.) 302 Ähnlich wie den Passus duriusculus finden wir diese Figur eines unerlaubten „harten Sprungs“ nur bei Bernhard, TCA, Cap. 30. Ein schönes Beispiel ist z. B. die fallende verminderte Sext in der Fuge „Der saure Weg“ in Bachs Motette Komm Jesu komm (BWV 229). 303 Burmeister rechnet diese Figur (=Redefreiheit) unter die Melodiefiguren. Bartel, 233 schreibt dazu: „Mit parrhesia wird der chromatische Querstand bezeichnet. Hierunter ist jedoch nicht die Einführung dem modus fremder chromatischer Töne zu verstehen. Dies wird von Burmeister nämlich als pathopoeia bezeichnet. Das Mi contra Fa, der ‚diabolus in musica‘, kann nur unter Ver­ wendung von zum modus gehörigen Noten verursacht werden.“ Damit sind zwei (bei Burmeister) zentrale musikalische Figuren einigermaßen deutlich unterschieden. 304 Vgl. Vogt, 151: „Climax. Ein stufenweiser Aufstieg. Diese Figur wird häufig gebraucht.“ Komplexer kommentiert Walther, Art. Climax: „Climax oder Gradatio, κλίµαξ ist 1) eine Wort-Figur wenn z.E. gesetzt wird. Jauchzet und singet, singet und rühmet, rühmet und lobet. 2) eine Noten-Figur, wenn nemlich zwo Stimmen per Arsin &Thesin d. i. auf- und unterwerts gradatim Tertzenweise mit einander fortgehen. 3) wenn eine Clausul mit und ohne Cadentz etlichemahl immediate nach einander immer um einen Ton höher angebracht wird …“ Eine schöne Definition, die auf die Affektwirkung dieser Figur („göttliche Liebe“, Sehnsucht nach dem Himmelreich) zielt, findet sich bei Kircher, VIII, 145 bzw. bei Janowka, 55: „Climax sive Gradatio est Periodus Harmonica gradatim ascendens, adhiberique solet in affectibus amoris divini &desideriis Patriae Coelestis …“ Wie bei den barocken Autoren werden die beiden Begriffe Climax und Gradatio auch im Folgenden synonym verwendet. 305 Vgl. Walther, Lexicon, Art. Exclamatio, der einen rhetorischen Ausruf am ehesten durch eine aufwärts springende kleine Sext ausgedrückt sehen will. Bereits bei Praetorius findet sich (vgl. Bartel, 170) eine explizite Verknüpfung mit dem Affekt: „Exclamatio ist das rechte Mittel die affectus zu motiviren, so mit erhebung der Stimm geschehen muß: Und kann in allem Minimis und Semiminimis mit dem Punct descendendo angebracht und gebraucht werden.“ (zit. nach Bartel ohne Angabe der Stelle) 306 Anaphora kann „die mehrfache Wiederholung einer Bassstimme“ (vgl. Thuringus, 126) bzw. ähnlich schon Burmeister, H. M. (vgl. Bartel, 90) meinen, eine einfache Wiederholung (Vogt, 150) oder eine variierte melodische Weiterführung (vgl. Mattheson, VC II, Cap. 14, § 46) bedeuten. 307 Vgl. Walther, Art. Epizeuxis: Walther fasst den Begriff nur rhetorisch auf und erklärt damit „eine rhetorische Figur, nach welcher ein oder mehr Worte sofort hintereinander emphatisch wiederholt werden. Z. E. Jauchzet, jauchzet, jauchzet dem Herrn alle Welt …“ Mattheson, VC II, Cap. 14, § 45, dagegen schreibt: „Denn was ist z.E. gewöhnlicher, als die musikalische Epizeuxis oder Subjunctio, da einerley Klang mit Hefftigkeit in eben demselbem Theil der Melodie wiederholt wird?“ 308 Vgl. Thuringus, 126 (an Burmeister, MP, 59) anknüpfend: „Quid est Noema? Est collectio nudarum concordantiarum una vice suavissime in Motetis prolata.“ [Was ist ein Noema? Es ist eine Häufung reiner concordantiae (Konsonanzen) in einer Stelle und wird in Motetten am lieblichsten angebracht.“] Vgl. dazu Bartel 221: „Das musikalische noema bezeichnet einen homophonen

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Anadiplosis,309 Catachresis,310 Pathopoeia311 und Pausenfiguren wie Apo­siopesis,312 Pausa,313 Abruptio314 und Suspiratio315 unterscheiden. Was ist der tiefere Sinn solcher rhetorischen Figuren? Hier lassen sich im Wesentlichen drei Funktionen erheben, die der Textauslegung,316 die der Affekterzeugung317 Abschnitt in einer polyphonen Komposition, eine Bedeutung, welche sich in allen Definitionen der Figur nachweisen läßt.“ 309 Zahlreiche dieser Figuren wären im Grunde als Wiederholungsfiguren noch einmal separat aufzuführen. Oft sind sie innerhalb eines „Figurenystems“ aufeinander bezogen. Bartel systema­ tisiert diese im Blick auf die Terminologie Burmeisters: „Burmeister bezeichnet mit anadiplosis die Wiederholung einer mimesis, eines doppelten noema. […] Da die mimesis eine Wiederholung des noema ist, wäre die anadiplosis, als Wiederholung der mimesis, eine doppelte Wiederholung des noema. Eine Wiederdopplung im Sinne einer doppelten Wiederholung würde Burmeisters Verständnis dieser Figur genau entsprechen“ (Bartel, 87). 310 Vgl. Walther, Lexicon, Art. Catachresis bzw. Thuringus, 126: „Was ist Catachresis? Catachresis oder Fauxbourdon entsteht, wenn mehrere Sexten und Terzen gleichzeitig aufsteigen.“ 311 Diese Figur ist von besonderem Interesse für den Zusammenhang von Affekt und Figur, da sie, wie der Name sagt, als „Affektmacherin“ gilt. Vgl. dazu Burmeister, MP, 61 [Übers. JA]: Pathopoeia ist eine Figur, die geeignet ist, Affekte zu schaffen, was geschieht, wenn Halbtöne in die Komposition eingefügt werden, die weder zum Modus noch zum Genus der Komposition gehören“. Bartel, 236 kommentiert: „Die rhetorische pathopoeia bezeichnet allgemein die Affektdarstellung oder –erregung in einer Rede, was ja auch mit der wörtlichen Bedeutung des Begriffs übereinstimmt. Burmeister versteht unter pathopoeia eine Einfügung modus- und genusfremder Halbtöne in eine Komposition, die den text verdeutlicht. Im Gegensatz zur parrhesia wird in der Definition dieser Figur die Verwendung modusfremder Töne ausdrücklich erwähnt. Diese Betonung der Chromatik lässt auf die spezielle Anwendung der Figur in Affekten des Leids u.d.g. [bei Bur­meister] schließen. Damit ist pathos eher als ‚Leid‘ und nicht als ‚Affekt‘ zu verstehen. Die Definition von Thuringus steht der rhetorischen Bedeutung näher. Während der Gebrauch von chromatischen Tönen unerwähnt bleibt, wird die Benutzung der Figur zur Erregung freudiger wie auch trauriger Affekte in den Vordergrund gestellt.“ 312 Vgl. die klassische Definition einer „Generalpause“ bei Burmeister, MP, 62: „Aposiopesis est quae silentium totale omnibus vocibus signo certo posito confert.“ Aposiopesis ist demnach eine Figur, „die ein absolutes Schweigen aller Stimmen verursacht“ (vgl. ähnlich Thuringus, 126; Walther, Art. Aposiopesis). 313 Vgl. Bartel, 238: „Zusätzlich zur aposiopesis […] führt Thuringus auch die pausa als musikalische Figur an.“ 314 Vgl. Walther, Art. Abruptio: „Abruptio (lat.); eine Abreißung; ist eine musicalische Figur, da gemeiniglich am Ende eines Periodi die Harmonie plötzlich (wenn es nemlich der Text, oder in Instrumental-Sachen andere Umstände also erfordern) abgebrochen oder abgeschnappt wird.“ Vgl. Spieß, 155: „Abreissung, Abbrechung, ist, wann eine oder mehrere Stimmen zu Ende eines Periodi nach Erforderung des Texts die Harmoniam plötzlich, und zwar ohne Erwartung einer Cadenz abbrechen.“ 315 Vgl. dazu die schöne Definition bei Kircher, Bd. VIII, 144 f, der die Suspiratio mit dem Affekt des Stöhnens und Seufzens beschreibt: „Ad hanc revocari potest στενασµός sive suspiratio, dum per pausas fusas, aut semifusas, quae ideo suspiria vocantur, gementis & suspirantis animae affectus exprimimus.“ 316 An dieser Stelle ist besonders auf den Begriff der Hypotyposis hinzuweisen, mit der Burmeister (vgl. HM und MP, 62) in einem übergeordneten Sinne die Verdeutlichung eines Textes beschreibt. Vgl. ähnlich Bartel, 198: „Im weitesten Sinne kann die Absicht einer musica poetica überhaupt als hypotyposis beschrieben werden, da ja die Kompositionslehre des Barock eben das movere wie auch das delectare zum Ziel hat.“ 317 Vgl. dazu exemplarisch die Erklärung zur Pathopoeia von Thuringus, 126: „Quid es Patho­ poeia? Est, quae dictiones affectuum, doloris, gaudii, timoris, risus, luctus, misericordiae […] ita ornat, ut tam Cantores quam auditores moveat.“

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und die des Schmuckes: „Daß viele Figuren sowohl den Aspekt des Satz-Schmucks als auch einer inhaltlichen Verdeutlichung besaßen und daher gleichermaßen das ‚delectare‘ wie das ‚movere‘ zur Aufgabe hatten, geht […] bereits aus Burmeisters Äußerungen unmißverständlich hervor.“318 „Bei näherer Beschäftigung mit den mehr als 100 überlieferten Figuren zeigt sich aber, daß diese in ihrer Gesamtheit tatsächlich alle bedeutungsgenerierenden Bausteine in sich trugen und sowohl emotional als auch rational zu erfassende sowie bildlich ‚nachahmende‘ Konnotationen bzw. zum Teil  sogar Denotationen darstellen. De facto umfaßten sie nahezu sämtliche Möglichkeiten der Explicatio textus, wenn man von speziellen zahlen- oder notationssemantischen Kunstgriffen einerseits, von Zitat- und Verweistechniken andererseits einmal absieht.“319

Die unterschiedlichen Theoretiker zwischen Frühbarock und Rokoko, von Burmeister bis Forkel, kommen also, zumal dann, wenn sie voneinander unabhängig schrieben, zu durchaus unterschiedlichen Übertragungen rhetorischer Figuren in die Musik, so dass sich allmählich ein zwar umfängliches, aber keineswegs homogenes Repertoire von Figuren entwickelte, das für die Komponisten viel­ fältige Möglichkeiten der Textdeutung, der Affekterzeugung und des Schmuckes bietet. Im Blick auf die „doxologischen“ Kantaten lassen sich alle drei Funktionen nachweisen. So sind etwa die semantisch zentralen Verben danken, loben, preisen oft mit einer Koloratur (=Coloratura, Schmuckwerk)320 oder anderen Verzierungen (z. B. Kyklosis oder Circulatio bzw. Variatio321) versehen (vgl. BWV 69,1), also besonders geschmückt. Häufig steigt beim Verbum „loben“ aber eine melodische Linie als sog. Anabasis oder Tirata bzw. als aufsteigende Sequenz (Climax) nach oben, bildet also das zu Gott aufsteigende Lob im Sinne einer Hypo­typosis322 unmittelbar melodisch (bzw. harmonisch) ab (vgl. BWV 17,1; 91,1; 121,1; 66,3; 119,1; 129,1 u.a). In aller Regel haben wir in diesen Sätzen, natürlich auch bestimmt durch Besetzung, Taktart, Tempo usw. einen freudigen Affekt im Vordergrund. Dass Bach die Kunst der musikalischen Poetik wie kaum ein anderer

318 Krones, 827. Vgl. Eggebrecht, 372: „Sie [sc. die Figur] schmückt und würzt die Musik, sie ergötzt den Hörer und reizt ihn zum Hinhören. Aber Figura heißt im älteren Sprachgebrauch auch Abbild. […] Der Musicus poeticus verwendet und erfindet die Figuren insonderheit ‚propter verba‘ (‚pro ratione textus‘, in Elaborierung des Textes), das heißt, um den Textgehalt sinn- und affektgemäß abzubilden. Die Doppelfunktion der Figur als Schmuck der Komposition und Abbild des Textes begründet auch ihre Verwendung in der Instrumentalmusik. […] In der Vokalmusik ist es immer wieder der Text, der die Figuren als Abbild des Sinngehalts fordert und rechtfertigt, so daß zahlreiche Figuren zunächst in ihrem Bereich entwickelt wurden, bevor sie dann auch in der reinen Instrumentalmusik Anwendung fanden.“ 319 Krones, 820. 320 Vgl. Walther, Art. Coloratura, 163 [176]: „Coloratura, pl Colorature (ital) ist das gemeine und sehr bekannte Wort, so man allen geschwinden Figuren, als: den Circoli mezzi, Tremoli, Trilli […] beyzulegen pflegt, weil sie fein bunt und farbicht aussehen.“ 321 Vgl. Walther, Art. Variatio: „Variatio (lat.) heisset: wenn eine schlechte [=schlichte] Sing- oder Spiel-Melodie durch Anbringung kleinerer Noten verändert und ausgeschmücket wird, doch so, daß man dennoch die Grund-Melodie mercket und verstehet.“ 322 Vgl. oben Anm. 316. Burmeister, MP, 62, spricht nicht von Anabasis und Catabasis, sondern subsummiert diese unter dem Begriff Hypotyposis (vgl. Bartel, 198).

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vor ihm und gewiss wie keiner nach ihm beherrschte, mag eine bekannte Äußerung Johann Abraham Birnbaums belegen: Die „Theile und Vortheile, welche die Ausarbeitung eines musicalischen Stücks mit der Rednerkunst gemein hat, kennet er so vollkommen, daß man ihn nicht nur mit einem ersättigenden Vergnügen höret, wenn er seine gründlichen Unterredungen auf die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung beyder lenket; sondern man bewundert auch die geschickte An­wendung derselben in seinen Arbeiten“323. Fazit: Auch wenn nicht klar durch Quellen belegt ist, in welchem Ausmaß Bach durch die Theoretiker seiner Zeit beeinflusst wurde, ist deutlich geworden, dass er für die Disposition seiner textgebundenen Werke324 auf ein Repertoire geläufiger rhetorischer Figuren zurückgreifen konnte, die in den übergeordneten Dienst der Erzeugung eines bestimmten Affekts gestellt werden konnten. Musikalisch-rhetorische Figuren sind weder ein in sich schlüssiges semantisches Alphabet noch ein esoterisches System, das in sich konsistent und bedeutsam wäre, vielmehr gewinnen sie ihre Bedeutung als Hilfen zur „elaborirung eines textes“325. Sie sind Bausteine in einem Ensemble „sprechender Musik“, deren ganzheitliches Prinzip es ist, Inhaltliches darzulegen und abzubilden, aber auch Affekte auszudrücken und zu wecken. Es geht darum, Menschen auf diese Weise ganzheitlich musikalisch zu affizieren, d. h. nicht nur intellektuell zu belehren, sondern auch emotional zu bewegen und zu erfreuen.

1.8 Gottesdienstlicher Dialog – Bachs Kantaten am Scharnier von Wort und Antwort 1.8.1 Die Kantate als Antwort auf das Evangelium Versuchen wir nun, die bisher gesammelten poetischen, theologischen und musikologischen Beobachtungen zu Bachs Kantaten zu bündeln und mit der Liturgiewissenschaft ins Gespräch zu bringen: Im Gottesdienst  – soviel kann heute als liturgische opinio communis gelten  – findet gleichsam ein geistlicher Dialog statt, insofern Gott uns durch Verkündigung und Sakrament anredet und „wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“, wie Luther es klassisch in seiner Torgauer Kirchweihpredigt (1544) formuliert hat.326 Es ist also eine

323 Birnbaums Äußerung wird von J. A. Scheibe zitiert, vgl. Krones, 840. 324 Dazu gehören auch diejenigen Orgelwerke Bachs, die einen Choral als Vorlage haben, also nicht Instrumentalwerke im engeren Sinne sind wie z. B. ein Präludium, eine Sinfonia oder Suite. Vgl. dazu Jacob, 40, der am Beispiel des Passus duriusculus deutlich macht, dass im Blick auf das Choralvorspiel Durch Adams Fall ist ganz verderbt (Orgelbüchlein) der „harte Gang“ sehr wohl die Erbsünde abbilden könne, während dies für die f-moll-Sinfonia (kein Textbezug) keineswegs zwingend ist. Dort kann höchstens ein bestimmter (trauriger) Affektgehalt auf diese Weise unterstrichen werden. 325 Walther, Praecepta, 158. 326 Vgl. WA 49,588, wonach in der neuen Schlosskirche nichts Anderes geschehen soll, „denn dass unser lieber Herr mit uns selbst rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“.

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katabatische von einer anabatischen Bewegung zu unterscheiden.327 Dies kann auch als ökume­nischer Konsens gelten.328 Im Blick auf die liturgische Funktion der Bachschen Kantaten stellten wir Folgendes fest: Die Kantate wurde nach der Schriftlesung des Evangeliums und der Credo-Intonation des Liturgen an der Stelle des (nur in der Fastenzeit chora­ liter gesungenen) Symbolum Nicaenum musiziert. Von daher legt sich zunächst folgende katabatisch-anabatische Verhältnisbestimmung nahe: Evangelienlesung und Kantatenmusik entsprechen dem Verhältnis von Anrede und Antwort. Der Verkündigung des göttlichen Wortes der Schrift (sacramentum) folgt das Bekenntnis bzw. der Lobgesang der Gemeinde oder des Chors/der Instrumentalisten anstelle der Gemeinde (confessio bzw. sacrificium laudis).329 U. Meyer fasst dies so zusammen: „Evangelium und Kantatentext verhalten sich wie Wort und Antwort. […] Die Kantate hat mit Text und Musik […] im Gottesdienst die erste Chance, Antwort zu geben auf das Wort des Evangeliums“330. So betrachtet eignen sich der Chor und die Solisten das Evangelium im Glauben an (applicatio evangelii). Diese Beschreibung ist dann besonders zutreffend, wenn die Lesung des Evangelientextes im tieferen theologischen Sinne Evangelium, also expliziter Zuspruch des Heils ist.331 So antwortet etwa der einleitende Chor in BWV 69a auf die Erzählung von der Heilung des Taubstummen mit dem hymnischen Psalmwort (Ps 103,2): Lobe den Herren, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! Dasselbe gilt auch für BWV 137 Lobe den Herren, den mächtigen König (ebenfalls 12. Sonntag n. Trin.) und BWV 17 Wer Dank opfert, preiset mich als Repliken auf die Heilung der zehn Aussätzigen. Die doxologischen Kantaten sind somit Antwort auf das Evangelium par excellence.332



327 Vgl. WA 6,526 im Blick auf Messe und Gebet: „Non ergo sunt confudenda illa duo. Missa et oratio, sacramentum et opus, testamentum et sacrificium, quia alterum venit a deo ad nos per ministerium sacerdotis et exigit fidem, alterum procedit a fide nostra ad deum per sacerdotem et exigit exauditionem. Illud descendit, hoc ascendit [Hvh. JA]“ (526). 328 Vgl. Vaticanum II, Dogmat. Konstitution SC 33: „In Liturgia enim Deus ad populum suum loquitur. Christus adhuc Evangelium annuntiat. Populus vero Deo respondet tum cantibus tum oratione“, DH 4033. Zum orthodoxen Gottesdienstverständnis, das diese Unterscheidung auch kennt, vgl. Arnold, 65 f. 329 Zur Terminologie vgl. Melanchthons Apologie, Art. 24, BSLK 354–356. 330 Meyer, 381. 331 An dieser Stelle ist zu bedenken, dass nicht jedes Evangelienwort aus den Sonntagsperikopen wirklich Evangelium im Sinne einer (auch erzählten) promissio ist. Vielmehr sind viele Gleichnisse und Reden Jesu (vgl. Mt 18,21–35; Mt 22,1–14; Mk 12,1–12 u. a.) auch explizit Gesetz (vgl. dazu die Unterscheidung von opus proprium und opus alienum Christi als Evangelium und Gesetz nach FC V, BSLK 955). 332 Dies entspricht der eucharistischen Antwort der Gemeinde nach dem Empfang des Herrenmahls, etwa als gratiarum actio z. B. mit Psalm 103 (Lobe den Herrn meine Seele) oder Psalm 136 (Danket dem Herrn).

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1.8.2 Die Kantate als Anrede Freilich lassen sich Bachs Kantaten auch noch in einem anderen Sinne als „Evangelienmusik“ begreifen,333 insofern sie nämlich selbst predigen und verkündigen, also auch Anrede sind.334 Ein Kantatensatz kann das proklamierte und zugesprochene Wort der Evangelienlesung im Zitat aufnehmen oder durch ein anderes Bibelwort, Choral bzw. Dichtung auslegen, dann ist er explicatio evangelii, also eher Anrede als Antwort, „Predigt vor der Predigt“. Dazu ein Beispiel aus der Osterzeit: Die Kantate Am Abend aber desselbigen Sabbats (BWV 42) zu Quasimodogeniti eröffnet mit einem Schriftzitat aus Joh 20 (Rezitativ des Tenors) und wird dann durch folgenden Arientext entfaltet, der Mt 18,20 als Zusage paraphrasiert: Ar ie (Al t) Wo zwei und drei versammlet sind in Jesu teurem Namen, da stellt sich Jesus mitten ein und spricht darzu das Amen.

Mit der Musikalisierung des Textes durch Bach ereignet sich die im Schriftzitat (Satz 2) angekündigte Gegenwart Christi im Hier und Jetzt: Eine „überirdische Ruhe“ breitet sich aus. „Über gehaltenen Streicherakkorden und pochenden Achteln des Fagotts konzertieren die beiden Oboen ‚adagio‘ in weiten Melodiebögen, unterbrochen von Triolenrankenwerk.“335 Darauf folgt  – ebenfalls als ermutigende Zusage  – ein Choralduett mit dem sog. „Gustav-Adolph-Lied“336, Sopran und Tenor singen sich in einem Choral­ duett gegenseitig Mut zu: Verzage nicht, o Häuflein klein, obschon die Feindes willens sein, dich gänzlich zu verstören, und suchen deinen Untergang, davon dir wird recht angst und bang: es wird nicht lange währen.

Damit ist die liturgische Funktion der Kantate als Ganze in ihrem gottesdienstlichen Kontext benannt und ihre Bedeutung – gleichsam changierend – als Anrede (Verkündigung) und Antwort (Bekenntnis oder Lobpreis) beschrieben.

333 Das Verhältnis von Verkündigung und Lobgesang spielt auch für den Komponisten und Theo­retiker Michael Praetorius eine zentrale Rolle in seinem Musikverständnis, wenn er immer wieder Concio und cantio zueinander ins Verhältnis setzt: Höchste gottesdienstliche Ziele sind im Blick auf den Menschen die „Veritatis inquisitio“ und die „Virtutis electio“, im Blick auf Gott dagegen die Noticia (Dei) und die (Dei) celebratio: „At cum summa Veritas sit Noticia Dei, & summa Virtutis sit Deum vero cultu celebrare: Sequitur, quod finis Hominis sit Agnitio Dei & ejusdem celebratio, quarum illa potissimum per sacras Conciones; haec per Cantiones in Ecclesia accipitur & redditur [Hvh. fett, JA].“ (Vorrede, Syntagma musicum, 1619). 334 Vgl. dazu ausführlich oben 1.4. 335 Dürr, 338, vgl. Petzoldt II, 780 f. 336 Vgl. Petzoldt II, 781.

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1.8.3 Die Kantate als dialogisches Kommunikationsgeschehen und Gottesdienst in nuce Doch ist dies nicht alles: Betrachten wir die poetischen Formen innerhalb einer Kantate, so finden wir hier oft Formen der Anrede und der Antwort in einer kunstvollen Beziehung,337 dann erweist sie sich selbst als ein lebendiger Dialog, ja als ein Gottesdienst in nuce, in dem auf Schritt und Tritt gottesdienstliche Formen begegnen.338 Dazu einige Beispiele: a) Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61) Ac c ompa gn at o (Ba ss) Siehe, siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir! Ar ie (S opran) Öffne dich, mein ganzes Herze, Jesus kömmt und ziehet ein. Bin ich gleich nur Staub und Erde, will er mich doch nicht verschmähn, seine Lust an mir zu sehn, dass ich seine Wohnung werde. O wie selig wird’ ich sein.

Das kerygmatische Rezitativ ist Anrede als Ermunterung oder Zuspruch, die darauf folgende Arie dann die Antwort des Glaubens. Weitere interessante Beispiele finden wir in zwei Kantaten zum 7. Sonntag n. Trin. (Evangelium: Speisung der 4000). In der erstgenannten vollzieht sich ein innerer Dialog in der mensch­ lichen Seele: b) Ärgre dich, o Seele nicht (BWV 186) Cho r Ärgere dich, o Seele, nicht, dass das allerhöchste Licht, Gottes Glanz und Ebenbild sich in Knechtsgestalt verhüllt, ärgre dich, o Seele nicht! Rezit ativ , Ba ss … Wird dir im Gegenteil die Last zuviel zu tragen, wenn Armut dich beschwert,

337 Vgl. dazu oben auch 1.4. 338 Vgl. dazu BWV 190 mit Lob, Dank und Bitte (Satz 1–4), Vertrauensbekenntnis (Satz 5) und Segen (Satz 6).



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wenn Hunger dich verzehrt, und willst sogleich verzagen, so denkst du nicht an Jesum, an dein Heil. Hast du wie jenes Volk nicht bald zu essen, so seufzest du: Ach Herr, wie lange willst du mein vergessen?

Darauf folgt die Antwort des Glaubenden, von Bach überraschenderweise mit derselben Singstimme besetzt, wobei der Zweifel als Gefährte des Glaubens nicht unterdrückt, sondern an die Schrift gewiesen wird: Ar ie (Ba ss) Bist du, der mir helfen soll, eilst du nicht, mir beizustehen? Mein Gemüt ist zweifelsvoll, du verwirfst vielleicht mein Flehen;     doch o Seele, zweifle nicht,     lass Vernunft dich nicht bestricken,     deinen Helfer, Jakobs Licht,     kannst du in der Schrift erblicken.

c) Es wartet alles auf dich (BWV 187) Ebenfalls für diesen Sonntag schreibt Bach eine Kantate, die die hymnischen Psalmen 104 und 65 aufnimmt und dialogisch inszeniert: Nach dem Chor folgt eine musikalische Kurzpredigt:339 Rezit ativ (B a ss) Was Kreaturen hält das große Rund der Welt! Schau doch die Berge an, da sie bei tausend gehen; Was zeuget nicht die Flut? Es wimmeln Ström und Seen. Der Vögel großes Heer zieht durch die Luft zu Feld. Wer nähret solche Zahl, und wer vermag ihr Notdurft abzugeben? Kann irgendein Monarch nach solcher Ehre streben? Zahlt aller Erden Gold ihr wohl ein einig Mahl?

Die Antwort bringt die folgende Arie in psalmenähnlicher Sprache. Dabei wechselt auch die Singstimme. Die Anrede wird charakteristischerweise durch den Bass als vox Christi bzw. vox Dei das biblische Wort unmittelbar wiedergebend, die glaubende Antwort durch den Alt vorgetragen. Ar ie (Al t) Du, Herr, du krönst allein das Jahr mit deinem Gut. Es träufet Fett und Segen auf deines Fußes Wegen, und deine Gnade ist’s, die allen Gutes tut.340



339 Vgl. dazu ausführlich unten 5.1.3. 340 Vgl. Ps 65,12.

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In ganz ähnlicher Weise gestaltet, wird dies im zweiten Teil der Kantate durch­ geführt: Ba sso so l o Darum sollt ihr nicht sorgen noch sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr dies alles bedürfet! 341 Ar ie (S opran) Gott versorget alles Leben, was hienieden Odem hegt. Sollt er mir allein nicht geben, was er allen zugesagt? Weicht, ihr Sorgen! Seine Treue ist auch meiner eingedenk und wird ob mir täglich neue durch manch Vaterliebs-Geschenk.

Besonders aufschlussreich sind diesbezüglich diejenigen Kantaten,  – Bach bezeichnet sie z. T. sogar explizit als Dialogus (z. B. BWV 49; 32 u. a.) – in denen Anrede und Antwort nicht nur sukzessive, sondern oft sogar gleichzeitig behandelt werden. Dabei können sich dann z. B. die allegorischen Figuren Furcht und Hoffnung; aber auch Jesus und die Seele begegnen: d) Erfreut euch ihr Herzen (BWV 66,4 und 5) Rezit ativ und D uet t (Al t , Teno r) Furcht (Alt): Kein Auge sieht den Heiland auferweckt. Es hält ihn noch der Tod in Banden Lässt wohl das Grab die Toten aus? Ach Gott! der du den Tod besieget, dir weicht des Grabes Stein, das Siegel bricht, ich glaube, aber hilf mir Schwachen, du kannst mich stärker machen. Besiege meinen Zweifelmut, der Gott, der Wunder tut, hat meinen Geist durch Trostes Kraft gestärket, dass er den auferstandnen Jesum merket.



Hoffnung (Tenor): Mein Auge sieht den Heiland auferweckt. Es hält ihn nicht der Tod in Banden. Wie? Darf noch Furcht in einer Brust entstehn? Wenn Gott in einem Grabe lieget, so halten Grab und Tod ihn nicht.

341 Mt 6,31 f.

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e) Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) Rezit ativ (S opran, B a ss) Seele (Sopran)342 Ach Jesu, meine Ruh, Mein Licht, wo bleibest du? Seele: Bei mir? Hier ist ja lauter Nacht. Seele: Brich doch mit deinem Glanz und Licht des Trostes ein! Duet t Seele: Komm, mein Jesu, und erquicke und erfreu mit deinem Blicke

Jesus (Bass) O Seele, sieh! Ich bin bei dir. Jesus: Ich bin dein treuer Freund, der auch im Dunkeln wacht, wo lauter Schalken seind.

Jesus: Die Stunde kömmet schon, da deines Kampfes Kron dir wird ein süßes Labsal sein. Jesus: Ja, ich komme und erquicke! Dich mit meinem Gnadenblicke …

Renate Steiger nimmt diese Fragestellung in ihrem Aufsatz „Dialogue in J. S. Bach’s Cantatas“ auf und wählt als Beispiel den Eingangschor von BWV 25 zum 14.  Sonntag n. Trin., dessen Evangelium aus Lk 17 die Erzählung von den zehn Aussätzigen ist: Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe. Der alttestamentliche Referenztext ist Ex 15,26b: Ich bin der HERR, dein Arzt, den Johann Arndt in einer Predigt so auslegte: „Wie er nun diesen Aussätzigen hilfft, also hilfft Er uns auch an Leib und Seele, erneuert durchs Wort und Sacrament, und am Jüngsten Tage auch unsern Leib.“343 Steiger zeigt hier, wie Bach Bibelwort und Choral, die beide auch zwei Aspekte der Beichte sein können, nämlich Sündenbekenntnis („Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“) und Vergebungsbitte bzw. Kyrieruf (präsent durch die obligate instrumentale Choralmelodie auf das Lied „Ach, Herr, mich armen Sünder, straf nicht nach deinem Zorn“) in der Musik gleichzeitig werden lässt.344 Die Fugenform, die den Satz musikalisch prägt, steht bei Bach oft für das Gesetz.345 Damit ist der theologische Topos, auf dessen Hintergrund Sündenbekenntnis und Vergebungsbitte (vgl. die Bußpsalmen, Ps 6; 38; 51 etc.) ausgesprochen werden, die



342 Die Duettbesetzung Sopran/Bass setzt das liebende Beieinander von Freund und Freundin nach dem Vorbild des Hohenliedes auf (vgl. auch Ich geh und suche mit Verlangen BWV 49). Ansonsten bevorzugt Bach eher die Altstimme als Prototyp des glaubenden Menschen. 343 Arndt, Postilla, 219 f. 344 Vgl. Steiger, Dialogue, 36–47. 345 Vgl. Steiger, Dialogue, 49. Zur Illustration bieten sich etwa in der Johannes-Passion der Turbae-Chor Wir haben ein Gesetz. bzw. die Choralkantate Ach Herr, mich armen Sünder (BWV 135,1) an.

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Bachs Kantaten im Spiegel von Psalmen und Vaterunser

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Verkündigung des Gesetzes (s. u. Kapitel 3),346 musikalisch abgebildet und durchgängig präsent.

Fassen wir zusammen: Auch innerhalb einer Kantate können liturgisch beide Sprechrichtungen vorkommen: Wie Lesung und Predigt können einzelne Sätze das Evangelium der Gemeinde auslegen und zusprechen (vgl. 147,4; 61,4; 187,2.4) bzw. fragend aufnehmen (186,1 f). Darauf folgen dann oft Antworten des Vertrauens oder des Lobs (vgl. 147,5; 61,5; 187,3.5), zuweilen auch des Zweifels (186,3). Kunstvoll gestaltet der Komponist die im Duett mögliche Gleichzeitigkeit verschiedener Affekte und Sprachformen (Furcht und Zweifel einerseits, Hoffnung und Zuspruch Jesu andererseits) in der Form des musikalischen Dialogs. Die von Steiger herausgearbeitete musikalisch-sprachliche Gleichzeitigkeit von Gesetzespredigt und Sündenbekenntnis in BWV 25,1 zeigt, wie Bach elementare Formen von Verkündigung und Antwort musikalisch profilieren und in einem einzigen Satz kontrastieren kann.

1.9 „Vier Widerfahrnisse“ – Bachs Kantaten im Spiegel von Psalmen und Vaterunser Die Beschäftigung mit der Kantatendichtung hat uns zahlreiche Sprachformen im Wechselspiel von Wort und Antwort vor Augen gestellt. Die verkündigenden Formen, sei es in Gesetz oder Evangelium, stammen traditionsgeschichtlich von den Propheten des Alten Testamentes und aus der Jesustradition. Die Formen des Gebetes haben dagegen ihre ältesten Wurzeln in den Gattungen des biblischen Psalters. Dort finden wir neben dem Lobpreis in der Form des Hymnus (vgl. Ps 8; 19; 33; 104), der auch die Buchüberschrift tehillim (Lobgesänge) bestimmt, vor allem das Klagelied (vgl. Ps 13; 22; 74; 80), aus dem das Bußlied (vgl. Ps 6; 32; 51; 130) herauswächst,347 und das Danklied (vgl. Ps 30; 116), aus dem das Vertrauenslied entsteht348 (vgl. Ps 16; 23; 73) als theologisch und spirituell prägende Formen. Zum Abschluss dieses einleitenden Hauptteils soll folgende These im Blick auf die Kantaten Bachs und ihrer poetisch-spirituelle Genese aus dem biblischen Psalter formuliert werden:

346 Vgl. dazu Luthers Dictata super Psalterium (zu Ps 38), WA 3,211: „Et sic proprie locum habet, quod ‚a facie irae dei non est sanitas in eo‘. Facies enim irae dei est timor de futura Ira Dei et de peccatis.“ (Und so gilt im eigentlichen Sinn, dass im Angesicht des Zornes Gottes nichts Gesundes an ihm ist‘. Das ‚Angesicht‘ des Zorns Gottes nämlich ist der Schrecken vor dem künftigen Zorn Gottes und den Sünden.) 347 Im Gegensatz zum Klagelied ist im Bußpsalm die sog. „Unschuldsbeteuerung“ durch ein Sünden­bekenntnis ersetzt. Eindrückliche Beispiele für Bußlieder finden sich über die Psalmen hinaus in später Prosa wie Neh 9 und Dan 9 sowie in 3.  Esr 8,73–89; Oratio Manasse; Ps Sal 9; Bar 1,15–3,8. Vgl. Westermann, 159: „Hier ist das ganze Gebet ein immer neu gewendetes Sündenbekenntnis, das dann schließlich auf die Bitte [um Vergebung] zuführt. Die Klage klingt noch an, aber sie ist ersetzt durch das Sündenbekenntnis.“ 348 Vgl. Reventlow, 220: „Der Ausdruck durchtragender Geborgenheit des Beters bei Jahwe umfaßt jetzt […] das Ganze.“

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Die prägende Kraft der Sprach- und Lebensformen des Psalters ist in Bachs geistlichen Kantaten in vielen Facetten erkennbar. Sie spiegelt sich sowohl in den Dichtungen und Kompositionen als ganzen als auch in einzelnen Sätzen. Die Psalmen bilden gleichsam die poetische, anthropologische und theologische Matrix für die religiöse Deutung einer komplexen Welt, um die glaubende und zweifelnde, furchtsame und hoffende, trauernde und fröhliche Menschen damals und heute vor Gott und mit Gott ringen. Hermeneutisch findet in Bachs Kantaten(texten) also eine aufregende Verschränkung von mehreren Ebenen statt: Die Sprachmuster stammen vielfach aus den Psalmen, zugleich wird inhaltlich Gottes Offenbarung in Christus und das trinitarische Bekenntnis der Kirche stets vorausgesetzt. Anspielungen auf die neutestamentlichen Lesungen belegen dies. In der Bild- und Ausdruckswelt sind die Dichter Bachs besonders durch die lutherisch-orthodoxe Theologie des 17. Jahrhunderts geprägt, die in vielen Fällen reformatorische Tradition aufnimmt, wovon insbesondere die Choräle ein beredtes Zeugnis ablegen. Wenn wir diesem Zusammenspiel von „Kon-Texten“ beim Hören und Musizieren heute begegnen, ereignet sich eine äußerst reizvolle Verschränkung theo­ logischer Aussagen, die sich gegenseitig deuten und durch die Musik zu einem ästhe­tischen und affektgeladenen Ganzen werden. Doch betrachten wir die Formen nochmals im Einzelnen: Das trauernde Klagelied wird mit dem Verzweiflungsschrei „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) oder dem Ruf „Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?“ (Ps 13,2; vgl. BWV 2; 3; 13; 21,3–5, aber auch 186,2) eröffnet und wendet sich damit an einen Gott, der sich in rätselhafter Weise verbirgt. Die christliche Gemeinde ist sich bewusst, dass nach dem Passionsbericht der Evangelisten Markus und Matthäus auch Christus in ähnlicher Weise geklagt hat.349 Im Verlauf des Betens kommt es dann zu einer Wende bei Gott und im Menschen. Der von Angst vor dem Gericht geprägte Bußpsalm (vgl. Ps 51 bzw. dazu 2 Sa 12) macht aus menschlicher Verfehlung keinen Hehl und kann das Schuld­ bekenntnis (vgl. Ich armer Mensch, ich Sündenknecht, BWV 55) z. B. mit einer Vergebungsbitte wie Gott sei mir Sünder gnädig (vgl. BWV 20; 55; 25,1) oder Schaffe in mir, Gott ein reines Herze! (vgl. Ps 51,11 bzw. EG 230) verknüpfen. An den fürsorglichen Erhalter (vgl. Mt 6,11 bzw. 6,25 f) wendet sich der Vertrauenspsalm, sei es mit dem Bekenntnis Der Herr ist mein Hirte (Ps 23, vgl. BWV 104; 112), der Geborgenheitsaussage aus Ps 139,5: Von allen Seiten umgibst du mich u. a. Dieses Vertrauen auf den Schöpfer und Erhalter (vgl. BWV 187) wird bei Bach bisweilen auch mit dem Lob des Erlösers verknüpft (BWV 69), der in vielen doxologischen Kantaten fröhlich als der rettende Gott besungen wird.350



349 Vgl. Mk 15,34 bzw. Mt 27,46 sowie das äußerst reizvolle Lied Friedemann Gottschicks unter EG 381: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 350 Vgl. dazu die unter 1.6. aufgeführten Stücke, besonders insofern es sich um Psalmzitate handelt (z. B. BWV 110,1; BWV 190,1; BWV 43,1; BWV 76,1; BWV 69a,1; BWV 17,1; BWV 148,1).

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Bachs Kantaten im Spiegel von Psalmen und Vaterunser

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Anknüpfend an Oswald Bayers Rede von den „vier Widerfahrnissen Gottes“351 können die Sprach- und Gebetsformen des Psalters auch dogmatisch für die Kantaten Bachs fruchtbar gemacht werden, insofern sie eine fundamentaltheologische Unterscheidung zur Anwendung bringen, die im Folgenden entfaltet werden soll: Das Klagelied bzw. die Dialektik von Klage und Lob ist dem Spannungs­verhältnis von Verborgenheit Gottes und Offenbarung Gottes zuzuordnen. Die Dualität von Gesetz und Evangelium als zwei Offenbarungsweisen Gottes lässt sich unschwer auf die anderen genannten Psalmen und Gebetsformen beziehen: Gottes Welthandeln als Richter (theologicus usus legis) findet seinen geistlichen Reflex im Sündenbekenntnis der Bußpsalmen, sein Wirken als Erhalter und Weltenlenker (primus usus legis) spiegelt sich zum einen in den hymnischen Geschichtspsalmen (vgl. Ps 105), zum anderen aber auch in den Vertrauensliedern. Gottes befreiendes Heilshandeln, das auch die Zuwendung zur Schöpfung im Akt der Anrede beinhaltet, finden wir im Danklied bzw. in hymnischen Psalmen, die von Vergebung und Rettung reden (vgl. Ps 103; Ps 65 bzw. BWV 17; 69). Spuren der vier Widerfahrnisse lassen sich auch im Vaterunser (vgl. Mt 6,9–13) entdecken: Die ängstliche Frage nach dem sich rätselhaft verbergenden Gott (Deus absconditus) findet ihren Niederschlag in der doppelten Bitte: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Die Begegnung mit dem Deus reve­ latus als Richter ist in der Bitte Vergib uns unsere Schuld enthalten. Im Blick auf Gottes Providenz, also sein bewahrendes und gütiges Handeln in Natur und Geschichte, ist an die dritte und vierte Vaterunserbitte zu denken: Dein Wille geschehe, unser täglich Brot gib uns heute. Die Sehnsucht nach Gottes gnädigem und rettendem Erbarmen, mithin das Widerfahrnis des Evangeliums, findet sich in der Invocatio (Vater unser im Himmel, vgl. auch Röm 8,15 f) sowie in den ersten beiden Vaterunserbitten. Diese bibeltheologischen und dogmatischen Zuordnungen werden in der folgenden Synopse im Sinne einer Arbeitshypothese für die weitere Arbeit dargestellt.



351 Vgl. Bayer, 408–418.

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Methodische, theologische, kirchenmusikalische, hermeneutische Aufgaben

Tabelle zu den Vier Widerfahrnissen in Psalmen und Vaterunser Welt- und Selbst­ erfahrung

Unverschul­detes Eigenes und Leid fremdes Ver­ sagen/Schuld

Psalmen

Klagelied

Bußlied/Sünden- Vertrauenslied bekenntnis

Danklied/ Hymnus

Vaterunser

Führe uns nicht in Versuchung

Vergib uns unsere Schuld

Unser tägliches Brot gib uns heute/ Dein Wille geschehe

Abba, Dein Name werde geheiligt, Dein Reich komme! Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit!

Gottes­ erfahrung

Gott verbirgt sich.

Gott richtet/ Gott ist heilig.

Gott sorgt für uns. Gott rettet und Gott beauftragt. vergibt.

Affekt­ bewegung

Behütetsein Versorgt werden

Rettung aus der Not Vergebung

Deus absconditus Deus revelatus Deus revelatus Gesetz II Gesetz I (usus theologicus) (usus politicus)

Deus revelatus Evangelium

Trauer/Angst

Freude, Staunen, Dankbarkeit (Heils)gewissheit

Scham/Reue/ Angst

Geborgenheit; Vertrauen, Gelassenheit Verantwortung

Wir stehen am Ende eines umfangreichen Kapitels, in dem historische und methodische, d. h. insbesondere dogmatische, hermeneutische und musikologische, Voraussetzungen geklärt und wesentliche für die Untersuchung relevanten Fragen exponiert wurden. Darüber hinaus konnten aber auch schon erste Ergebnisse, z. B. im Blick auf die dialogische Struktur und den Affektgehalt der geistlichen Kantaten, benannt werden.

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I. Zwischen Trauer und Freude, Klage und Lob – Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten 2. „Aber deine Tröstungen erquicken meine Seele“ – Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören 2.0 Zur dogmatischen Rede vom Deus absconditus und der Möglichkeit einer Theodizee1 Angesichts der eingangs geschilderten2 Tragödie des Tsunami am Indischen Ozean Ende 2004 und vieler anderer unfassbarer Ereignisse in Natur und Geschichte stehen Christen einer eminenten geistlichen und gedanklichen Herausforderung gegenüber. Wie können sie angesichts solchen Leides ihren Glauben an den allmächtigen und gütigen Gott festhalten?3 Und wie können sie gar Anderen Hilfestellungen auf die Frage geben, wie Gottes Allmacht, Gerechtigkeit und Güte miteinander vereinbar sind? Dogmatisch gewendet: Wie können die Einheit Gottes und die Leuchtkraft seiner Offenbarung in Christus bewahrt werden, ohne die dunklen Seiten in Gott zu verschweigen?4 Wie kann sowohl die Rede von mehreren

1 Den Begriff gebraucht erstmals Leibniz in seiner klassischen Darstellung des Problems von 1710, den „Essais de Theodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal.“ Dabei wird die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt und der (postulierten) Freiheit menschlichen Willens gestellt. Leibniz’ Versuch läuft auf eine theistische Rechtfertigung Gottes hinaus, die unsere Welt als „beste aller möglichen Welten“ postuliert. (Vgl. Löffler, 17). 2 Vgl. oben 0.1. Über 200 000 Menschen fanden bei diesem Seebeben am 26.12.2004 den Tod. Ein beinahe kosmisch zu nennendes Horrorszenario, das den (zumal eindeutig von Menschen bewirkten und verschuldeten) Terroranschlag vom 11.  September 2001 in New York noch bei weitem übertraf. In der Debatte um die Theodizee wurden und werden immer wieder zwei Ereignisse paradigmatisch diskutiert: die Shoa als historisches Verbrechen und das Seebeben von Lissabon als Naturkatastrophe (1755). 3 Vgl. dazu die klassische Formulierung bei Epikur, 136: „Entweder will Gott die Übel be­ seitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht kann und nicht will, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“ In Aufnahme dieses sog. Trilemmas von Epikur (vgl. Sparn, 38) wäre dann zu fragen, was das kleinere Übel für die Gotteslehre ist: eine Einschränkung der göttlichen Liebe oder eine Einschränkung der göttlichen Macht. 4 Vgl. dazu die kritische Anfrage bei Joest, 151: „Der Gott, der in seiner Majestät verborgen den Tod des Sünders weder beklagt noch überwindet, sondern Leben, Tod und alles in allen wirkt, mag ein Gott der Philosophen (gewesen) sein. Der Gott, der in Jesus Christus zum Menschen ge­kommen ist, ist es nicht.“

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Göttern, etwa einem liebenden, richtenden und verborgenen, verhindert als auch ein manichäistischer Dualismus5 vermieden werden, ohne damit die Existenz des Übels an sich herunterzuspielen? Die Theologie, namentlich die evangelische im Gefolge Martin Luthers, hat versucht, derartige Leiderfahrungen, die ja in der Menschheitsgeschichte nicht neu sind, durch die Rede vom „verborgenen Gott“ bzw. vom „verborgenen Werk“6 Gottes zu deuten und damit dem Humanismus und einer Philosophie, die grundsätzlich von der Autonomie des Menschen ausgeht, zu widersprechen. In seiner Streitschrift gegen den Humanisten Erasmus von Rotterdam, De servo arbitrio, entfaltet Luther mit großem Pathos und existenzieller Tiefe das Diktum, wonach „Gott alles in allem wirkt“,7 stößt damit zugleich aber auch an die Grenze dessen, was von Gott sagbar ist.8 Luthers Bearbeitung des Themas wurde nicht nur theologiegeschichtlich vielfach rezipiert, seine Aussagen über den Deus absconditus sind in mancher Hinsicht bis heute wegweisend:9 Auch wenn der Reformator an manchen Stellen seiner Schriften der un­ heiligen Dreieinigkeit von „Sünde, Tod und Teufel“ eine gewisse Macht (über den Menschen) einräumt, insistiert er im Blick auf das Heil des Menschen energisch auf der exklusiven Souveränität Gottes. Die ewige Seligkeit zu gewinnen und auszuteilen, steht allein Gott zu. Aus dieser im Umgang mit der Theologie des Paulus (vgl. Röm 1,16 f, Röm 9,16 u.v. a.) und anderer biblischer Zeugen gewonnenen Einsicht folgert er dann freilich die Allwirksamkeit oder Allkausalität Gottes im Blick auf den „Weltlauf “10, sein Wirken als „inquietus actor in omnibus

5 Vgl. Hermanni, 153: „Dieser externe Dualismus kann grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen gedacht werden: Entweder ist Gottes Macht durch eine zweite, mit ihm gleichursprüngliche Macht schon immer eingeschränkt wie bei Platon oder im Manichäismus, oder Gott hat seine Macht zugunsten eines anderen, etwa zugunsten menschlicher Freiheit, eingeschränkt.“ Letzteres scheint vom Standpunkt einer an Phil 2,6 f orientierten Kondeszendenz-Christologie bzw. –Theologie durchaus diskutabel. 6 Vgl. Jüngel, 202–251, bzw. Luther, WA 18, 685. Jüngel weist darin den Begriff des verborgenen Gottes zurück und möchte stattdessen vom „verborgenen Werk“ Gottes reden. Außerdem unternimmt er den Versuch, Luthers Aussagen zum verborgenen Gott ganz von der Offenbarung Gottes, vom Deus praedicatus, her zu verstehen. Er befolgt damit Luthers Rat, vom verborgenen zum offenbaren Gott zu „fliehen“ (vgl. Brandy, 304 f), begibt sich damit aber zugleich in die Gefahr, Gott „in Einklang“ zu bringen (vgl. Reinhuber, 208). 7 Die zentrale Formulierung lautet: „Deus absconditus in maiestate, neque deplorat neque tollit mortem, sed operatur vitam, mortem et omnia in omnibus.“ (WA 18, 685). Vgl. auch das abschließende Bekenntnis, WA 18, 783–785 (vgl. neu übersetzt bei Lexutt, 4 f)  und dazu Reinhuber, 102.116–125 bzw. 186 ff. Luther denkt – so Reinhuber – von Eph 1,11b (1,19) aus, wo es heißt, dass „Gott alle Dinge wirkt nach dem Rat seines Willens“. Damit unterscheidet sich Luther von seinen Aussagen in der Heidelberger Disputation, wo das Kreuzesgeschehen mit dem Begriff des deus absconditus in passionibus verbunden wird, vgl. WA 1, 362. 8 Vgl. Ebeling I, 293. Er sieht sich durch Luther ermutigt, auch „die schrecklichsten, schauderhaftesten Aspekte der Geschichte auf Gott selbst zurückzuführen“. 9 Luthers in vieler Hinsicht radikale Argumentation weist über die anthropozentrischen Modelle der Aufarbeitung des Problems hinaus. Vgl. dazu Brandy, 294 f, der Lessings (bis heute von vielen akzeptierte)  „pädagogisierende“ Bearbeitung  – den Versuch, dem Leiden einen erziehe­ rischen Sinn abzugewinnen – ebenso ablehnt wie die ethische Option Mills. 10 Vgl. Reinhuber, 152–186.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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creaturis suis“11. Diese Konsequenz ist – wie viele Autoren bemerkt haben – nicht unbedingt notwendig,12 ja vielleicht sogar energisch zu hinterfragen.13 Wenn ­Luther am Ende seiner Schrift gegen Erasmus in einem abschließenden Bekenntnis auf die Lehre von den drei Lichtern zu sprechen kommt, deutet sich eine heilsgeschichtliche bzw. eschatologische Antwort an, die im Christusereignis ihren Fokus und ihre Mitte hat. Die bedrängende Frage „Warum lässt Gott das zu?“, die von der natürlichen Vernunft, dem lumen naturae, her keinesfalls beantwortet werden kann14, wird vom lumen gratiae (Offenbarung Gottes in Christus) neu beleuchtet,15 ja durch die Zusage des Evangeliums immer wieder neu überwunden: „Die Gottesnähe und die Gewißheit einer unaustilgbaren Verbindung mit Gott ist so intensiv, daß alle Verzweiflungen und Anfechtungen, alle Sorgen und alles Fragen nach Folgen – wenigstens für einen Augenblick, für die Zeit der Gewißheit – ‚vergessen‘ sind.“16 Luther hält also – im Angesicht des Kreuzes – am Bekenntnis zur Allmacht und Allwirksamkeit Gottes fest, mit dem Preis, dass die Güte und Liebe Gottes dadurch einen Schatten bekommt, der aber in der Zusage der Liebe Gottes hier und dann durchbrochen wird.17 Ein zweites theologisches Problem ist bei Luther mit dem Widerfahrnis des „verborgenen Gottes“ verbunden: die Erfahrung, dass die Einen zum Glauben an Gott kommen und die Anderen nicht. Von seinem augustinischen Ansatz her, den

11 Vgl. WA 18,711. 12 Vgl. Joest, 143: „Ist es unumgänglich, den Gott des Evangeliums, damit seine Gnade wirklich Gnade bleibt, paradox mit dem Gott der Allkausalität, der in erhabener Gleichgültigkeit vitam, mortem et omnia in omnibus operatur (und der dann eigentlich auch Sündenfall und Sünde gewirkt haben müsste) zusammenzubinden?“ 13 Vgl. Link, Krise, 422: „Der Versuch, Gottes Handeln in einem kausalen Modell verständlich zu machen, muss heute als gescheitert angesehen werden.“ Vgl. a. a. O., 424: „Ein nüchterner Blick auf den Weltlauf zeigt uns, dass wir redlicherweise, erst recht mit guten theologischen Gründen, eben nicht davon ausgehen können, Gott lenke oder verursache die Geschichte, er benutze seine Macht auch nur, um sie von außen, durch dramatische Eingriffe, zu korrigieren. […] Die Geschichte vollzieht sich weitgehend gegen seinen Willen und gegen sein Gebot. Sie wird nicht wie ein aus­gerollter Teppich vor uns ausgebreitet“. 14 Vgl. Reinhuber, 185: „Luther mißtraut einer bloß vernünftigen Theodizee und kritisiert sie aufs schärfste. Die Vernunft kann Unglück, Leiden und Böses letztlich nicht ordnen; sie soll aber auch nicht menschliches Wohlergehen – in einer ‚Theodizee des Glückes‘ – rechtfertigen.“ Zur Kritik an der neuzeitlichen Theodizee, vgl. Sparn, 47: „Sie unterläuft „die epistemologische Differenz zwischen Glauben und Wissen, die eschatologische Differenz zwischen Glaube und Erfahrung und so die religiöse Differenz zwischen Mensch und Gott.“ Auch Liedke, 110 lehnt eine Theodizee ab, weil er die auch im Hiobbuch stets virulente „Gerichtsmetapher“ für problematisch hält. Stattdessen bietet er mit Hilfe des „Prozesses der Krisenverarbeitung“ ein therapeutisches Modell zur Bewältigung von unverschuldetem Leid an. 15 Für Luther findet sich eine Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes bzw. dem Wohlergehen der Bösen und Leiden der Frommen im lumen gratiae, wo „im Innewerden der Botschaft der Gnade sich der Horizont ändert. Denn da werden sich die Begnadigten ihrer Schuld erst wirklich bewußt, erkennen sich als Sünder und blicken auf die anderen, die ebenfalls Sünder sind wie sie.“ (Reinhuber, 206, im Blick auf WA 18,785: „Si igitur lux Euangelii, quae solo verbo et fide valet, tantum efficit, ut ista quaestio omnibus saeculis tractata et nunquam soluta, tam facile dirimatur et componatur …?“). 16 Reinhuber, 205 mit Bezug auf WA 18,785 (Ps 73,12). 17 Vgl. Rosenau, 226.

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er gegen den (Semi)pelagianer Erasmus zuvor breit entfaltet hat, kann er auf diese Frage nur prädestinatianisch18 antworten. Der Preis ist freilich hoch: Wer von Erwählung spricht, muss sich auch über diejenigen äußern, die (noch) nicht erwählt sind (vgl. Röm 9,14 ff, bes. V18: „So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.“) Luther weiß: „Wenn Gott alles wirkt, dann wirkt er auch in jedem, der gegenwärtig glaubt, nicht glaubt oder den Glauben an Gott mißachtet.“19 M.a.W.: Er leidet daran, dass Gott die einen Sünder errettet, die anderen dagegen verwirft, ja er kommt sogar zu der überspitzten Aussage, „daß Gott Unschuldige

18 Das Problem der Prädestination führt, wie die Theologiegeschichte zeigt, in zahllose Aporien. Die beiden zentralen Optionen, mit denen Luther freilich nicht übereinstimmt (vgl. Lexutt, 7), lauten: a) Prädestinatianischer Dualismus Gott wirkt beides, Erwählung zum ewigen Heil und Verwerfung zur ewigen Verdammnis. So schreibt Calvin in Inst III,21: „Pradestinationem vocamus aeternum Dei decretum […] Non enim pari conditione creantur omnes: sed aliis vita aeterna, aliis damnatio aeterna praeordinatur.“ Die Tätigkeit des Erwählens wird Gottes misericordia, die des Verwerfens Gottes iustitia zugeordnet. Problematisch ist diese Vorstellung nicht nur nur für das Gottesbild, sondern auch für die Beurteilung des Todes Jesu, der dann zwar genugsam für alle Menschen, wirksam aber nur für die Erwählten gestorben ist. Im Klartext heißt dies, dass Gott nicht alle Menschen retten will. Diese Position vertitt auch nicht die Konkordienformel, vgl. dazu die gegen Calvin gerichtete Verwefung in FC XI, Epitome, „Quod Deus nolit, ut omnes salventur“ (BSLK 821). b) Synergismus bzw. Entscheidungsdualismus Ein Mittun des Menschen zu seinem Heil ist vonnöten (vgl. FC XI, BSLK 821: „Quod non sola Dei misericordia et sanctissimum Christi meritum, sed etiam in nobis ipsis aliqua causa electionis divinae“). Diese Vorstellung ist in humanistischen, katholischen, evangelikal-freikirch­ lichen und anderen Denkgebäuden weit verbreitet und genießt auch in der neuzeitlichen Philosophie viel Sympathie, weil damit die (vermeintliche) Autonomie des Menschen gesichert zu sein scheint. Theologisch ernst zu nehmende Vermittlungsversuche finden wir z. B. bei Thomas von Aquin, S th. I, q 23 a 5 ad 3 und Karl Barth (KD II/2, § 32 f). Anstelle der rationalistischen Bearbeitung des Aquinaten denkt Barth streng christologisch: In Christus hat Gott die Menschheit erwählt und die Verwerfung auf sich selbst genommen. Das Problem an diesem kühnen Gedanken ist, dass Barth damit die Gerichtsaussagen der Schrift nicht in ihrem letzten Ernst gelten lässt und der aktuellen Zueignung des Heils im Glauben keine zentrale Bedeutung zumisst. Schleiermacher vertritt im Grunde ein evolutionistisches Modell, das von einer menschheits­ geschichtlichen Entwicklung ausgeht, die aus der Menschwerdung Christi die Wiedergeburt des ganzen Menschengeschlechts, d. h. die Allversöhnung, folgert. In diesem Zusammenhang erscheint auch das psycholgisierende Argument,, wonach die Seligkeit der Erlösten durch „das Mitgefühl mit den Verdammten“ empfindlich „getrübt“ wäre (vgl. Schleiermacher, GL § 118; 163). Was Schleiermacher und Barth auf „übergeschichtlicher“ Ebene diskutieren und universa­listisch beantworten, wird von Paulus in Röm 9–11 und Luther in De servo arbitrio vorsichtiger und noch spannungsreicher bearbeitet. Luther geht von der Lehre der drei Lichter und der Unterscheidung des offenbaren und des verborgenen Werkes Gottes aus und spricht die Hoffnung aus, dass sich das Problem der Prädestination im lumen gloriae in ähnlicher Weise lösen wird, wie sich das Ringen um die Theodizee im lumen gratiae lösen lässt. Paulus stimmt, nachdem er die Hoffnung ausge­ sprochen hat, dass ganz Israel errettet werden wird (Röm 11,26), einen Lobpreis der Weisheit Gottes an, schließt seine Ausführungen zum Thema also doxologisch (11,33–36) ab. Damit sind die beiden einzigen m. E. nachvollziehbaren Lösungen des Problems benannt: die eschatologische Luthers und die doxologische des Paulus. 19 Reinhuber, 210.

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verdamme“20. Der Zorn Gottes wird also durch die Gnade hic et nunc (noch) nicht gänzlich aufgehoben. Vielmehr bleibt das Problem der Verwerfung (reprobatio) Gottes in schroffer Weise bestehen. Es ist für ihn theo-logisch schlechterdings nicht lösbar.21

Am Ende kommt es dann mit der Lehre von den drei Lichtern zum Versuch einer „Lösung“, indem Luther in Analogie22 zu seiner Bearbeitung des Theodizeepro­ blems mit Paulus eine eschatologische Perspektive eröffnet: „Mit der Hoffnung auf das Licht der Herrlichkeit und mit den Aussagen auf dessen Schau verbindet sich für Luther die Hoffnung, daß der alles in allem wirkende verborgene Gott ganz in den in Christus offenbaren Gott aufgehen wird, so daß schließlich Gott alles in allem sein wird (1. Kor 15,28).“23 Auch im 20. Jahrhundert wurde vielfach versucht, den Begriff der Verborgenheit Gottes bzw. das Problem der Theodizee klarer zu fassen. Insgesamt geht die Tendenz – angesichts des Massenmordes von Auschwitz – dabei eher in die Richtung, die Rede von der Allmacht Gottes zurückzunehmen und stattdessen in radikaler Weise an der Liebe und Güte Gottes festzuhalten. Vielfach rezipiert wurden dabei der theologische Ansatz von Dorothee Sölle bzw. der philosophische Entwurf von Hans Jonas.24 Sölle macht radikal ernst mit der Liebe Gottes und lässt Gott analog zu seiner Entäußerung in Krippe und Kreuz auch geschichtlich ohnmächtig sein. Sie äußert dazu: „So kann man sagen, daß Gott in seiner Gestalt der Schekhinah in Auschwitz am Galgen hängt und darauf wartet, ‚daß von der Welt aus die anfangende Bewegung auf die Erlösung geschehe‘.“25 Karl Barth hat an einer zentralen Stelle seiner Erwählungslehre die Akzente anders, d. h. im Sinne einer glaubenden Vermittlung, gesetzt: „Das Bekenntnis zu Gottes Verborgenheit ist das Bekenntnis zu Gottes Offenbarung als dem Anfang unseres Wissens um ihn. […] Die Emphase des Bekenntnisses zu Gottes Ver­ borgenheit ist nicht zuerst die der Demut, sondern zuerst und entscheidend die

20 Reinhuber, 221. 21 Vgl. Roth, 223: „Mit der Rede von der ‚Verborgenheit‘ soll daher die Grenze der theologischen Erkenntnis markiert werden. […] Gottes verborgenes Wirken bezeichnet dasjenige Wirken Gottes, das in keinerlei Beziehung zu Gottes erlösendem Handeln steht.“ 22 Es handelt sich allerdings nicht um eine Analogie (analogia fidei) im strengen Sinne, da Aussagen über das lumen gloriae für Luther unter einem eschatologischen Vorbehalt stehen, also im Escha­ton ein totaliter aliter erwarten. Reinhuber, 231, kommt im Blick auf den Konnex von lumen gratiae und lumen naturae auf Luthers Bild vom Backofen zu sprechen: „Dieses Bild steht […] zwischen dem lumen gratiae und dem lumen gloriae.“ 23 Reinhuber, 227. Vgl. Lexutt, 7.  Unter diesen Umständen scheint eine ewige Verdammnis kaum denkbar. 24 Im Gegensatz zu Moltmanns Lehre von der Selbstentäußerung und Selbstbeschränkung Gottes, die bei ihm als schöpfungstheologische Analogie zur Inkarnation zu verstehen ist, macht Jonas radikal ernst mit der Selbsteinschränkung ins Immanente, vgl. Hermanni, 169: „Da sich der jonassche Gott gänzlich ins Endliche entäußert, hat er das Schicksal der Welt und damit sein eigenes nicht in der Hand. Er besitzt keine Macht, um den Gang der Dinge durch Vorsehung zu lenken, notfalls zu korrigieren, und ist daher auch nicht der Herr der Geschichte, der in Auschwitz rettend hätte eingreifen können.“ 25 Sölle, 179. Zur Kritik an Sölle und Jonas, vgl. Bayer, Theologie Luthers, 187. Bayer hat Recht, wenn er sagt, dass bei Jonas und Sölle, die Gottebenbildlichkeit des Menschen verabsoultiert und (nicht nur das Wohl), sondern auch das Heil der Welt in menschliche Hände gelegt wird.

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der Dankbarkeit.“26 Er fasst damit Verborgenheit und Offenbarung Gottes gleichsam wie zwei Seiten einer Medaille auf, die in der Liebe Gottes schon vor Anbeginn der Welt aufgehoben sind und vom Menschen dankbar angenommen werden müssen. Er bewegt sich damit in der Nähe eines doxologischen Ansatzes, wie wir ihn auch am Ende von Röm 11 finden. In ähnlicher Weise versucht auch Eberhard Jüngel die beiden paradoxen Aspekte in Gott christologisch zu begreifen: „Daß Gott sich in Christus offenbart, besagt: der verborgene Gott […] ist zur Welt gekommen.“27 Diese beiden Aussagen zweier großer Theologen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass das Problem der Verborgenheit Gottes nicht ohne Gottes Offenbarung in Christus und nicht ohne die menschliche „Resonanz“ der Anbetung Gottes be­ arbeitet werden kann. Sie zeigen allerdings auch die Gefahr, das Widersprüchliche und Beängstigende an Gott angesichts des Leides in der Welt zu schnell rational aufzulösen.28 Diese Gefahr gilt es stets im Auge zu behalten, wenn wir im Folgenden, ohne auf das Theologumenon von der Allmacht Gottes29 zu verzichten – die Folge wäre ein konsequenter Ethizismus (wie bei Sölle), wonach „unsere Hände Gottes Hände sind“ – einen Blick auf die synoptischen Passionsberichte werfen. Dabei geht es darum, einen Weg zu beschreiten, der mit Gott selbst ins Gespräch eintritt und darin dem vergleichbar ist, den Jesus in seiner Todesstunde am Kreuz gesucht hat. Darin spiegelt sich die Überzeugung, dass die Krise des Leidens nur mit dem leidenden Christus bearbeitet werden kann:30 Die Matthäuspassion beschreibt das Leiden Jesu als Störung in der Beziehung zwischen ihm und Gott, aber auch in der Beziehung zur Welt, was sich erzählerisch in der Verzweiflung Jesu, im Spott der Beobachter (vgl. Mt 27,39–44) sowie in der kosmischen Finsternis zwischen der sechsten und neunten Stunde abbildet (vgl. Mt 27,45). Dabei wird deutlich, dass die existenziellen Anfechtungen, die das Leid der Welt und die Frage der Theodizee aufwerfen,31 zunächst einmal mit all ihren Abgründen ausgehalten werden müssen. Dass Jesus selbst so litt und den Schrei

26 KD II/1, 215. Wer angesichts einer Katastrophe wie der des Tsunami von „Dankbarkeit“ Gott gegenüber redet, kann eigentlich nur als Zyniker oder als Enthusiast gelten. Eine solche Erfahrung setzt zuallererst Weinen und Geschrei oder blankes Entsetzen und Sprachlosigkeit aus sich heraus. 27 Jüngel, Offenbarung, 164, vgl. auch 169 mit der logisch und theologisch kaum nachvollziehbaren Bemerkung, es gäbe eine „Freude, die zur Rede von dem im Lichte seines Seins verborgenen Gott gehört“. Jüngels Formulierung, der „verborgene Gott sei zur Welt gekommen“, könnte im Übrigen die Vermutung nahelegen, als sei Gott ante Christum natum nur als der schlechthin Verborgene erfahrbar gewesen. Wenn wir allerdings auf das Gesamtzeugnis des Alten Testamentes schauen, so können wir in vielen Schichten zwar Spuren der Verborgenheit, viel deutlicher aber auch Spuren der Offenbarung Gottes entdecken: Selbst die im Hiobbuch spürbare „Krise der Weisheit“ endet nicht im völligen Desaster, von anderen Schichten (vgl. nur die 16 Kapitel des Propheten Deuterojesaja) des Alten Testamentes ganz zu schweigen. Gott war also ante Christum natum keinesfalls der schlechthin Verborgene. 28 Zur Kritik an einer rein kognitiven Bewältigung, vgl. Bayer, Autorität, 206 bzw. Liedke, 117 f. 29 Damit ist allerdings noch nicht die Allwirksamkeit Gottes behauptet, wie Luther es in De servo arbitrio tut. 30 Vgl. Brandy, 294 bzw. Liedke, 111 f mit interessanten Beobachtungen zum Prozess der Krisenverarbeitung. 31 Vgl. Rosenau, 223 f und 227.

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der Gottverlassenheit klagend aus sich herauspresste (vgl. Ps 22,2; Mk 15,34 par Mt 27,46; Hebr 5,7), kann in mehrfacher Hinsicht weiterführen: Jesus hat damit unserer Erfahrung Ausdruck und konkrete Worte verliehen; wonach Gott als der allmächtige und gütige, gerechte und gegenwärtige32 in rätselhafter Weise sein Angesicht abwendet (vgl. Ps 10,1; 13,2 f bzw. Hiob 13,24). Er erleidet also die „Versuchung“, von der die letzte Vaterunserbitte (Mt 6,11) spricht, unsere Versuchung. Aufgrunddessen wird Christus im Hebräerbrief als wahrer Hoherpriester qualifiziert, der des Mitleidens mit der Menschheit fähig ist (vgl. Hebr 2,17; 4,15). Doch damit nicht genug: Am Kreuz werden wir Zeugen eines Kampfes, der in Gott selbst stattfindet33 und daher kosmische Dimensionen (vgl. Mt 27,45.51 f) annimmt. Daraus wird erkennbar, dass Gottes Verborgenheit nicht einfach nur ein anthropologisches Defizit ist und aus der natürlichen Unfähigkeit des Menschen resultiert, den wahren Gott zu erkennen oder zu lieben.34 Sie ist vielmehr Ausdruck einer Krise an Gott, mit Gott und – wie im Blick auf die Passion Christi zu sehen ist – sogar in Gott.35 In dieser Krise geschieht dann aber auch die alles entscheidende Wende: Gott selbst lässt sich in unser Leid verwickeln und hält es an unserer Stelle aus. Damit ist der soteriologische Gedanke der existenziellen Stellvertretung im Blick. Aber auch dies kann noch nicht alles sein: Erst im Licht von Ostern bekommt das Kreuz seinen ganzen, nämlich heilvollen und rettenden Sinn: Ohne Ostern „wäre das Kreuz bloß eine Tragödie in der Weltgeschichte, wie es viele gibt. Ostern heißt: Gott hat den Tod überwunden, hat allem Leiden ein Ende gemacht.“36 Das heißt: Gott lässt sich nicht nur in menschliches Leid hineinziehen, er über­windet und besiegt es auch. Der liebende und allmächtige Gott durchbricht die Ohnmacht der Selbstentäußerung Christi (Phil 2,6–8) und erweist sich als Herr über Leben und Tod (vgl. Apk 1,5–8.18; Röm 8,38 f). Dies ist der spezifische Unterschied

32 Vgl. Roth, 213: „Der Begriff der ‚Verborgenheit‘ Gottes kann daher keinesfalls in Abgrenzung zu einer ‚Anwesenheit‘ Gottes gebraucht werden. Die Verborgenheit Gottes kann daher nur eine bestimmte Weise seiner Anwesenheit und seines Wirkens bezeichnen.“ 33 Vgl. Reinhuber, 134 f: „Im Kampf Christi in der Anfechtung verdichtet sich das Widerein­ ander der Willen zum Leben und zum Tod, zum Heil und zur Verdammnis in äußerster Weise. In seiner Auslegung zu Ps 22,2 (mit Mt 26,39) beschreibt Luther dieses Seufzen, Klagen, Erschrecken und Fliehen Christi […], zu dem er in seiner Anfechtung gedrängt ist. Es kommt zu einem Riß in der Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater, zu einem Gegensatz beider Willen.“ (Vgl. auch Luthers Lied Christ lag in Todesbanden, Str. 4, EG 101). 34 Für Barth korreliert die Rede von der Verborgenheit Gottes mit dem natürlichen Unver­mögen des Menschen, Gott zu erkennen, mit der Tatsache, „daß wir ihn also von uns aus nicht anzuschauen und zu begreifen vermögen“ (vgl. KD II/1, 215). Vgl. Elert, 133. 35 Vgl. ähnlich Moltmann, 214, der aus dem leidenden Christus eine theologische Rede vom leidenden und sich selbst entäußernden Gott folgert, die das Allmachts- und Apathieaxiom energisch verabschiedet. Er postuliert daraus aber auch eine Gottesgegenwart in jedem Leiden, vgl. a. a. O., 233: „Es gibt kein Leiden, das in dieser Geschichte Gottes nicht Gottes Leiden, es gibt keinen Tod, der nicht in der Geschichte auf Golgatha Gottes Tod geworden wäre.“ 36 Brandy, 306. Vgl. schärfer Rahner, 246: „Um – einmal primitiv gesagt – aus meinem Dreck und Schlamassel meiner Verzweiflung herauszukommen, nützt es mir doch nichts, wenn es Gott – um es einmal grob zu sagen – genauso dreckig geht.“

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

zwischen der alttestamentlichen „Verheißung“, wie wir sie in den Psalmen und bei Deuterojesaja (vgl. Ps 22,30 bzw. Jes 53,12) finden und der neutestament­lichen „Erfüllung“: Zur Klage gehört seit Ostern die in Gott selbst durchlittene und erhörte, ja – wenn man so will – selbst „entschärfte“ Klage, wie sie die Evangelisten er­zählen.37 Was ist daraus zu folgern? Die Erfahrung unverschuldeten Leidens in der Welt ist vom Christusereignis her als zeitweilige, d. h. nicht als schlechthinnige Verborgenheit Gottes zu deuten. Im Licht des österlichen Kreuzes (lumen gratiae) und erst recht im eschatologischen Licht der ewigen Herrlichkeit (lumen gloriae) verliert sie ihre letzten Schrecken. Doch eine weitere Einsicht ist damit verbunden: Menschliches Leiden ist nicht automatisch mit Gottes Straf- oder Gerichtshandeln in einen kausalen Zu­ sammenhang zu bringen.38 Unverschuldetes Leid und durch eigene bzw. fremde Schuld verursachtes Leid39 sollten  – sofern dies irgendwie möglich ist  – immer auseinander gehalten werden. Die Rede vom Deus absconditus würde sonst nämlich mit dem vermischt, was die Predigt des Gesetzes40 bzw. die Rede vom richtenden Gott beinhaltet.41 Im „Gesetz zeigt sich [Hvh. JA] Gott als der Heilige, der seiner nicht spotten läßt“42, während er sich in seiner rätselhaften Verborgenheit

37 Vgl. Kaiser, 115–142. Seine Pointe besteht in der Feststellung, dass der Umgang der Bibel mit der Theodizee-Frage nicht die rationale Bewältigung aus der Perspektive eines „olympian view“ ist, sondern sich in die Niedrigkeit von Erzählungen begibt, die in der Erzählung von der Passion kulminiert: „Dies ist der König der Juden, der Messias aus dem auserwählten, Menschheit repräsen­ tierenden Volk, damit aller König, von allen Menschen und um aller Menschen willen ans Kreuz gebracht, der Hingerichtete als Sieger, der König als Verbrecher, der Erniedrigte als der Erhöhte am Galgen als Thron. Dieses Bild ist die Zusammenfassung der Geschichte, die das Christentum ausmacht, ist die Theodizee.“ (A. a. O., 142) 38 Vgl. oben 0.1–0.3 bzw. Brandy, 293: „Eine Reihe klassischer Argumentationstypen benennen Gründe für das Leiden. Etwa: Das Leiden ist Strafe, es ist Folge unserer Sünde oder unseres Fehlverhaltens. Diese Sicht begegnet über weite Strecken im Alten Testament in der Überzeugung eines konstitutiven Zusammenhanges vom Tun und Ergehen des Menschen im Rahmen einer von Gott gesetzten bundestheologischen oder weisheitlichen Ordnung“. Wichtig ist, dass zumindest der johanneische Jesus (Joh 9) einen Zusammenhang von Leid und Schuld energisch zurückweist. 39 Vgl. Amelung, 495. Dies unterscheidet die Katastrophe des Tsunami substantiell vom Ver­ brechen der Shoah und des 11. September. Ein auf menschliches oder technisches Versagen zurückgehendes Unglück läge gleichsam zwischen beiden. 40 Vgl. H. M. Barth, 139 f, These 2.2.: „Als Gesetz erweist sich die Predigt von Jesus Christus, in der ich mir sagen lasse, daß ich in meinem Sein, Tun und Lassen auf den Tod zueile, der damit in seiner Radikalität erst wahrnehmbar wird, und daß ich einer Rettung bedarf, die ich aus eigenen Kräften nicht beschaffen (noch auch nur aneignen) kann.“ Vgl. These 4.2.: „Die Predigt des Gesetzes und die Predigt des Evangeliums verhalten sich zueinander vielmehr wie töten und lebendig machen, sterben und auferweckt werden, wie Sünde tun bzw. Sünder sein und gerechtfertigt werden.“ (a. a. O., 140). 41 Ebendiese Vermischung geschieht, wenn Barth, KD II/1, 215, schreibt: „Wir verstehen also den Satz von der Verborgenheit Gottes als das Bekenntnis zu der Wahrheit und Wirksamkeit des gerade in Gottes Offenbarung in Jesus Christus über den Menschen […] ergehenden Gerichtsurteils, durch das ihm eigene Möglichkeit zur Realisierung der Erkenntnis des ihm begegnenden Gottes abgesprochen […] und also auch nur das Anschauen und Begreifen des Glaubens übrig gelassen wird.“ 42 Vgl. Roth, 214.

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gerade nicht mehr zeigt, zwar anwesend ist, aber weder richtet43 noch rettet, zwar sieht und hört, aber (scheinbar) nichts dagegen unternimmt, dass die Kreatur seufzt (Röm 8,19–23). Wenn wir uns nun – nach diesem längeren Anmarschweg – wieder Bachs Kantaten zuwenden, begeben wir uns hinein in das Seufzen von Menschen und ihr Ringen mit Gott,44 aber auch in die Zusagen des Evangeliums, die das Leid schon hier und jetzt heilvoll unterbrechen. Wir werden zu Augen- und Ohrenzeugen einer Gottesgewissheit, wie sie in der Musik Bachs immer wieder Ereignis wird. Bach und seinen Dichtern geht es also nicht in erster Linie um eine gedankliche Durchdringung des Theodizeeproblems, sondern um einen am Psalter orientierten existenziellen Weg von der Anfechtung zur Glaubensgewissheit, von der Klage zum Lob, mithin um das Erzählen und Nacherleben von Gotteserfahrungen, die in der Tiefe beginnen, in vielfältigen musikalischen Formen ihren Ausdruck finden und am Ende zu einer unterschiedlich prononcierten geistlichen „Lösung“ gelangen. Von den Kantaten, die in ihrer theologischen Topik und ihren musikalischen ­Affekten mit den Klageliedern des Psalters verwandt sind, gehören etliche in die Epiphaniaszeit des Kirchenjahrs (drei davon fallen auf den 2. Sonntag n. Epiph.), was kein Zufall ist. Es geht darum, dass Gott in Christus erscheint und damit aus seiner Verborgenheit heraustritt. Die anderen Beispiele fallen in den Zwischenraum von Ostern und Pfingsten, wobei hier der 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate)  eine zentrale Rolle spielt. Besonderes sprachliches und theologisches Augenmerk soll der Wende von der Klage zur Erhörung bzw. zum Lob gelten.45 Wie kommt es dazu? Wie wandelt sich spirituell und musikalisch der Affekt des Schmerzes bzw. der Trauer in den der Freude? Welche musikalischen Figuren gewinnen im Verlauf der Kantate spezifische Bedeutung?



43 Vgl. Liedke, 117 in Aufnahme von Bayer: Die „Verborgenheit Gottes [ist] keinesfalls mit seinem Gesetz zu identifizieren. Sie ist deshalb kein Gericht, kein Ausdruck seines Zorns. Gerade darum bestimmen allein Klage, Protest und Rechtsstreit die angemessene Haltung des Betenden – keinesfalls aber eine rationale Deutung.“ 44 Vgl. Hauschildt, 96: „Gott kann und soll sich das Böse zu Herzen nehmen und er kann und wird über das Böse siegen. Darum wünsche ich mir mutige Gebete: Solche, die sich nicht nur bei Gott beklagen über das Böse in der Welt, sondern die Gott bei seinem Teil der Verantwortung für das Böse behaften, ihm klagen und ihn anklagen.“ 45 Vgl. dazu auch die seit langem in der exegetischen Forschung diskutierte Frage, wie es in den Klagepsalmen zu einer Wende kommt. Vgl. dazu den klassischen Beitrag von Begrich bzw. Janowski, Angesicht, 43–46.

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2.1 Vom „Wermutssaft“ zum „Freudenwein“: Kantaten zum 2. Sonntag n. Epiphanias 2.1.0 Zeitgenössische Bibelauslegung Evangelium für den 2.  Sonntag n. Epiph. ist Joh 2,1–11, das Wunder von der Hochzeit zu Kana, das erste Zeichen (σηµεῐον) Jesu im Johannesevangelium. Martin Petzoldt weist darauf hin, dass an diesem Sonntag der Ehe ein besonderer thematischer Schwerpunkt innerhalb der Verkündigung eingeräumt wurde, was46 mit Johann Gerhards Postille deckt: „Also wird gleichfalls dadurch angezeigt, dass es auch in der geistlichen Ehe und Ver­ mählung einer gläubigen Seele mit Christo also zugehe, nämlich dass nicht allzeit der Wein des himmlischen Trosts und göttlicher Freude geschmeckt werde, sondern dass manchmal Wasser der Trübsal und Anfechtung dieselbe Freude zerstöre. […] Wenn nun also der Herr Christus, der himmlische Bräutigam, sein Angesicht verbirget (Ps 13)47, so folgt darauf Unruhe und Angst des Herzens, davon spricht David (Ps 30) [Hvh. JA]“48.

Die Begegnung mit Christus bei der Hochzeit wird hier bereits in einem „geistlichen“ (bzw. allegorischen) Sinn verstanden. Ferner findet sich  – was für unsere Arbeit zentral ist  – eine differenzierte Antithetik in der Konfrontation von „Wein des himmlischen Trosts und göttlicher Freude“ und „Wasser der Trübsal und Anfechtung“: Während Trost und Freude jeweils mit einer göttlichen Eigenschaft bezeichnet sind, fehlt im zweiten Begriffspaar eine attributive Bestimmung. Stilistisch handelt es sich um einen antithetischen Chiasmus (ABB’A’); der Trost ist auf die Anfechtung, die Freude auf die Trübsal gemünzt. Damit sind zwei menschliche Grundaffekte (Trübsal und Freude)  auf zwei göttliche „Wirkweisen“ oder Widerfahrnisse (Anfechtung bzw. Verborgenheit Gottes und Trost bzw. Offenbarung) bezogen. Von besonderem Interesse ist für uns besonders die Aussage, wonach Unruhe und Angst des menschlichen Herzens aus der Erfahrung gefolgert werden, dass der himmlische Bräutigam „sein Angesicht verbirgt“. Wir haben hier den aufregenden Tatbestand vor uns, dass Gerhard hier offensichtlich eine Art „Christus absconditus“ entdeckt. Johann Olearius bestätigt diese Interpretation:



46 Vgl. Petzoldt II, 439 bzw. Zobl-Ruh/Beierlein, 211: „An zwei Sonntagen des Kirchenjahres, deren Evangelienlesungen thematische Zusammenhänge bereithielten, wurde die kursächsische Eheordnung vorgelesen, die differenzierte Anweisungen darüber abgab, wer welche Person ehe­ lichen durfte, ohne es zu inzestuösen Verbindungen kommen zu lassen: am 2. Sonntag nach Epi­ phanias mit dem Evangelium von der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11) und am 2. Sonntag nach Trinitatis mit dem Gleichnis vom grossen Hochzeitsmahl (Lk 14,15–24).“ 47 Vgl. dazu Olearius III, 83 mit folgender Gliederung zu Ps 13: „I. Die summarische Vor­ stellung: Das Bild weist Angst, Trost, Hilfe und Rat / II. Die richtige Abteilung. Das Bild eines andächtigen Herzens weist einen wunderbaren Wechsel desselben, denn da ist: I. Das Klagen. Wie lange. V1–3. / II. Das Beten um das göttliche Schauen, Erhören, Erleuchten und Erretten. V4.5/ III. Das Hoffen, Freuen, Singen und Dancken V6“. 48 Gerhard, Postilla, 257.

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„Dieses klägliche Schreck-Wort [sc. sie haben keinen Wein] kann allein vertreiben des Herrn Gegenwart, welcher allein sagen kann: Alles was dir mangelt, findest du bei mir (Ri 19). Jesum haben, heißt alles haben (Ps 73), das Leben und volle Genüge haben (Joh 10,10; Röm 8,32) “49.

Olearius versteht die Aufdeckung des Mangels an Wein als Unterbrechung der von Freude bestimmten Gegenwart Christi. Auslöser dafür ist ein „Schreck-Wort“, das die Heiterkeit der Hochzeit und die Gegenwart des wahren Bräutigams dramatisch überschattet. Seine wirkmächtige Entkräftung geschieht durch das Vollmachtswort Jesu selbst. Mit der persönlichen Einladung: „Alles, was dir mangelt, findest du bei mir!“ legt Olearius Christus eine Zusage in den Mund, die den ­Affekt des Schreckens in Hoffnung wandeln kann. Wir stellen fest, dass mit dem Evangelium aus Joh 2 zum 2. Sonntag n. Epiph. ganz besonders die Dialektik der Affekte von Trauer und Freude bzw. Schrecken und Hoffnung verbunden ist. Diese werden meist auf dem Hintergrund der Klage­ psalmen (z. B. Ps 13; 22 etc.) gedeutet und durch die Begriffe der Verborgenheit und Offenbarung Gottes bzw. Christi interpretiert und so „gelöst“, dass Christus selbst seiner zeitweiligen Verborgenheit ein Ende bereitet.

2.1.1 Mein Gott, wie lang, ach lange (BWV 155)50 a) Poetische und theologische Beobachtungen Die bereits in Weimar für den 19.1.1716 komponierte Kantate auf einen Text aus Salomon Francks „Evangelischem Andachts-Opffer“ ist mit „Auf den anderen Sonntag nach der Offenbarung Christi“ [nicht „Erscheinung“] überschrieben, was sich bereits als christologisches Programm verstehen lässt. Die Dichtung beginnt mit einem Rezitativ, das nicht etwa mit der Begeisterung über das am Ende der Perikope berichtete Wunder einsetzt, sondern an den Anfang der Geschichte zurückgeht und zunächst die Klage51 in den Mittelpunkt stellt: „Die Situation des Wartens auf Jesus, der sich verborgen hält und noch keine Anstalten macht, Wasser in Wein zu verwandeln“52, wird in madrigalischen Versen exponiert. Sprachlich geschieht dies durch Ich-Fragen, die für die biblischen Klagepsalmen des Einzelnen typisch sind.53 Die an Ps 10,1; 13,2 f; Ps 22,2 und

49 Olearius V, 609. 50 Vgl. L./R. Steiger, „Mein Gott, wie lang, ach lange?“. 51 Vgl. Müller, Schluß-Kette (1734), 124: „Also bleibts, daß der Ehestand eine Wehestand seye. Und das zeiget uns unser heutiger Evangelischer Text, da sich das Wehe findet in der Ehe zu Cana in Galiläa, aber von Christus versüßet wird. Diß versüssete Wehe in der Ehe zu Cana wollen wir im Namen Gottes betrachten: Schenck uns, Jesu, Freuden-Wein / Nach dem Thränen=Wasser ein! Amen.“ 52 Vgl. Schulze, 101. 53 Vgl. L/R. Steiger, 29: „Eine Mangelerfahrung und eine Sehnsucht wird wach, daß der Glaube zu klagen anfängt, gleichsam doppelt und potenziert klagen muß und klagen lernen muß, einmal über sein natürliches und zum anderen über sein kreatürlich eschatologisches Leid.“ Dass es hier um eschatologisches Leid geht, d. h. um die Möglichkeit, das ewige Heil zu verlieren, wird hier m. E. nicht erkennbar.

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Ps 6,4 erinnernde Gottklage54 zitiert wörtlich Jes 38,17 (Gebet des Hiskia), überträgt aber die Situation des Bräutigams aus Joh 2 schon paradigmatisch auf das Christenleben: 1. Rezit ativ (S opran) Mein Gott, wie lang, ach lange? Des Jammers ist zuviel! Ich sehe gar kein Ziel der Schmerzen und der Sorgen. Dein süßer Gnadenblick hat unter Nacht und Wolken sich verborgen, die Liebeshand zieht sich, ach! ganz zurück! Um Trost ist mir sehr bange!

Kunstvoll ist das einleitende „Wie lange?“ über acht Zeilen hinweg mit dem dazugehörigen Affektadjektiv „bange“ durch den umfassenden Reim verknüpft. Typisch für Franck sind Substantivverbindungen wie „Gnaden-Blick“ oder „LiebesHand“ (vgl. auch „Andachts-Opfer“), die hier in pointierter Weise eine Aussage über die menschlichen Sinne mit einer göttlichen Eigenschaft verbinden. Darauf folgt eine vierzeilige Ich-Klage, die ganz bei der isolierten und hoffnungslosen Lage des Angefochtenen verharrt: Ich finde, was mich Armen täglich kränket, das Tränenmaß wird stets voll eingeschenket, der Freudenwein gebricht;55 mir sinkt fast alle Zuversicht.

Schulzes Auslegung, es handle sich bereits im ersten Satz um einen spezifischen Ausdruck des „Mitleidens von Christi Passion“56 können wir indes nicht teilen, da sich keinerlei kreuzestheologische Hinweise in diesem Text finden. Der zweite Satz stellt der subjektiven Klage eine geistliche Paränese gegenüber, die als ermutigende Anrede (2. Pers. Sg.) daherkommt und gleichsam Predigtsprache enthält:57 2. Ar ie (Al t) Du musst glauben, du musst hoffen, du musst Gott gelassen sein.      Jesus weiß die rechten Stunden,      dich mit Hilfe zu erfreun.      Wenn die trübe Zeit verschwunden,      steht sein ganzes Herz dir offen.



54 Vgl. L./R. Steiger, 33. Allerdings fehlt im Gegensatz zu den Klagespsalmen eine ausformulierte Feindklage, vgl. Janowski, 60. 55 Vgl. Müller, Hertzens-Spiegel, 92: „Und zwar sol dir der Herr einen Freuden-Wein bereiten / so muß der Krug biß oben an mit Wasser gefüllet seyn. Das ist des Herrn Stunde / wann das Wasser der Trübsal biß an die Seele gehet / daß man gar versincken will“. 56 Schulze, 101. 57 Petzoldt II, 439 interpretiert dies als „Zuspruch und Trost der mitglaubenden Gemeinde“.

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Wichtig für unsere Untersuchung ist die ganz allgemein gehaltene Verknüpfung von menschlicher Freude mit göttlicher (Herzens)-Offenbarung, womit menschlicher Affekt und göttliches Offenbarungshandeln in Korrelation treten: Wenn Jesu Hilfe eintritt, endet die „trübe“ Zeit der Verborgenheit Gottes, menschliche Trauer wendet sich in Freude, ja mehr noch: Jesus offenbart uns damit sein Herz. Die Wende von der „trüben“ zur freudigen Zeit wird als eine Manifestation des liebenden Gottes gedeutet. Die beiden folgenden Sätze (Rezitativ und Arie) nehmen die Ermutigung der Kurzpredigt von Satz 2 in Form eines inneren Zwiegesprächs der Seele auf und atmen mystische Tiefe, was sich nicht zuletzt in den Vokabeln „Freund“ und „Seele“ sowie im innig ausgemalten Affekt der „Liebe“ ausdrückt.58 Der Dichter expliziert die in Satz 2 angedeutete Glaubensgelassenheit, indem er die zeitweilige Verborgenheit Gottes als Prüfung des Glaubens in der Nachfolge Christi (Jak 1,12), ja sogar als bloßen Schein deutet: 3. Rezit ativ (B a ss) So sei, o Seele, sei zufrieden! Wenn es vor deinen Augen scheint, als ob dein liebster Freund sich ganz von dir geschieden Wenn er dich kurz verlässt, Herz! Glaube fest! Es wird ein Kleines sein, da er für bittre Zähren für Trost und Freudenwein und Honigseim für Wermut will gewähren.

Zu Satz 1 gibt es hier und in der folgenden Arie zahlreiche Stichwortbezüge: Wieder kommt der charakteristische Ausdruck Freudenwein vor, aus Gnadenblick wird Gnadenlicht (Satz 3), aus der Liebeshand werden Liebesarme (Satz 4), der zentrale Begriff Trost taucht nun sogar mehrmals auf. Auf die Rede vom Blick ins Herz Jesu folgt die Rede vom Herz des angefochtenen und doch glaubenden und liebenden – darin besteht das Proprium  – Christenmenschen. Während Satz 3 zunächst mit einer Anrede an die Seele formuliert ist, richtet sich der innere Dialog im weiteren Verlauf also an das menschliche Personzentrum, das Herz (vgl. Satz 1). Diese Figur hat eine hohe Affinität zur intimen Sprache biblischer Mystik, wie wir sie aus anderen Dichtungen Francks bzw. den Weimarer Kantaten Bachs kennen:59 4. Ar ie (S opran) Wirf, mein Herze, wirf dich noch in des Höchsten Liebesarme, dass er deiner sich erbarme.     Lege deiner Sorgen Joch     und was dich bisher beladen     auf die Achseln seiner Gnaden.

58 Vgl. dazu BWV 49 und BWV 21,7 f (s. u. 2.4.2). 59 Vgl. BWV 21,7 f und BWV 172 (Franck).

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Während sich der A-Teil ganz der unio mystica hingibt, wird im B-Teil der Arie eine Art fröhlichen Wechsels angedeutet und als sanftes Joch der Nachfolge (vgl. Mt 11,28 f) expliziert. Der abschließende Choral aus dem katechetischen Reformationslied Es ist das Heil uns kommen her von Paul Speratus bekräftigt die promissio aus Satz 2 und nimmt den anthropologischen Zentralbegriff des Herzens (Satz 3 und 4) nochmals auf. Der Chor fasst damit die Gesamtaussage der vorangegangenen Sätze kerygmatisch zusammen: 5. Cho ral Ob sich’s anließ, als wollt er nicht, lass dich es nicht erschrecken, denn wo er ist am besten mit, da will er’s nicht entdecken. Sein Wort lass dir gewisser sein, und ob dein Herz spräch lauter nein, so lass doch dir nicht grauen.

Die Dichtung zeichnet einen existenziellen Weg nach, dessen Eckpunkte von hoffnungsloser Bitterkeit bis hin zu neuem vertrauensvollem Hoffen reichen. Petzoldt kommentiert treffend: „Satz 5 läßt sinnreich an die ablehnende und verbergende Haltung Jesu in der Evange­ lienlesung – Antwort an seine Mutter – anknüpfen. Insgesamt vollzieht der Choral im ka­ techetischen Sinne, was in eindeutiger Weise in den Texten der Leipziger Kantaten regelmäßig vollzogen wird, nämlich die Identifizierung des abgeschrittenen Gedankengangs, hier von der klagend dargebrachten Frage nach Gott, wegen der Verborgenheit seines Gnadenblickes, bis zur Glaubenserkenntnis der Seele, nun anhand eines der Gemeinde be­ kannten Textes aufgenommen und reflektiert. Auffällig sind in dem Kantatentext die vielen anthropomorphen Merkmale göttlichen Handelns, der Gnadenblick, das Gnadenlicht und die Achsel seiner Gnaden, die Liebeshand und die Liebesarme, Jesu Herz, aber auch das Herz des glaubenden Menschen.“60

b) Musikalische Analyse Bach ordnet seine Komposition zum 2. Sonntag n. Epiphanias 1716 mit der Überschrift Concerto ganz bewusst in den aktuellen italienischen Stil der Vokalmusik ein. Er schreibt also nicht im alten stylus ecclesiasticus bzw. motettischen Stil. Das einleitende Accompagnato-Rezitativ ist ganz vom Affekt des Schmerzes bestimmt. Dieser äußert sich in einem beinahe endlos wirkenden durchpulsten Orgelpunkt im Continuobass, der über mehr als 11 Takte „den Eindruck sehnsüchtigen Wartens“61, ja geradezu das „Auf-der-Stelle-Treten“ eines Menschen in der Gottverlassenheit abbildet. Die Achtelrepetitionen auf  d umfassen ganze

60 Petzoldt II, 443. 61 Dürr, 228, vgl. L/R. Steiger, 37: „Hatte der Dichter bereits lange auf das Reimwort warten lassen, so führt Bach die Spannung sogar noch weiter. Die Unterteilung oder Auflösung in […] Achtel macht vergehende Zeit sinnfällig. Die Bewegung in der Beharrung erhöht die Spannung, den Druck des Affekts, der sich in Dissonanzen an diesem Beharrenden reibt.“



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90 Anschläge! Der Streichersatz unterstreicht den klagenden Affekt mit pochenden Viertelschlägen auf den Zählzeiten 1 und 4 und ebenso ausdrucksstarken Pausen auf Zählzeit 2 und 3, die ganz vom Charakter tiefen Seufzens geprägt sind und an die suspirationes aus der ebenfalls in Weimar (Jubilate 1714) entstandenen Kantate Weinen, Klagen (BWV 12,2) erinnern. Aber auch melodisch bietet Bach einiges auf: Durch Querstände62 (relationes non harmonicae)  und äußerst scharfe Dissonanzbildungen (vgl. T. 2 „Wie lange?“ mit großer Septime oder T. 4 „Schmerzen“ mit kleiner None) zwischen Singstimme und dem Bass schildert der Komponist die gespannte Situation des angefochtenen Menschen. Beim Wort „verborgen“ fällt die melodische Linie mit einer Katabasis in der Singstimme (T. 7) charakteristischerweise auf den Tiefton d’, womit der Sinn des Textes durch die Melodieführung unmittelbar abgebildet ist. Der Ausruf „ach“ wird musikalisch durch eine Exclamatio (verminderter Septimsprung), wie schon in T. 1 „Mein Gott“ (kleine Sext) und eine anschließende Achtelpause (Abruptio) unterstrichen. Den Begriff „Tränenmaß“ (T. 12) beleuchtet eine kurze chromatisch-melismatische Linie, ehe dann in T. 13 die erste eigentliche Kadenz stattfindet. Das Maß ist also nun auch musikalisch voll, der pochende Orgelpunkt auf d kommt zu seinem Ende. Darauf folgt etwas völlig Unerwartetes: Das Stichwort „Freudenwein“ löst, obwohl dieser eigentlich noch in weiter Ferne scheint, ein fulminantes Ereignis, nämlich eine Aufwärtsbewegung mit virtuosen ZweiunddreißigstelKoloraturen63 in der Singstimme aus, die sich als vierfache melodische Climax über den Ambitus einer Undezime erstreckt und die „geistliche“ Wende gleichsam schon vorwegnimmt.64 Dieser 14. Takt65 ist der musikalische Kern für weitere Ereignisse dieser Art in den folgenden Sätzen.66 Die Hoffnung auf eine Wende, die Bach durch den rhythmisch, harmonisch und melodisch eingeführten Affekt der Freude „inszeniert“, wird jedoch in T. 16 durch ein schroff punktiertes, in querständige Harmonien gefügtes, dreifach fallendes Quartmotiv (mit abermaligen

62 Vgl z. B. b’ und h’ in T. 8 bzw. noch deutlicher c’’ und cis’’ in T. 12. 63 Vgl. L/R. Steiger, 38: „In einer Koloratur von dreifacher Bewegung […] schnellt die Singstimme über eine Undezime in die Höhe, vom d’ zum g’’, wobei sie wie die Lerche, wenn sie em­ porsteigt, im Terzabstand jeweils in einer circolo-Figur schwirrend verharrt.“ 64 Vgl. L/R. Steiger, 39: „Wir haben es hier nicht mit einem Unvermögen Bachs zu tun, Wort und Ton miteinander in Deckung zu bringen […]. Bach ist sehr wohl auf der Höhe mit seinem Text, wenn er beim Aussprechen der Worte ‚ich sehe‘ oder ‚um Trost‘ das klare sich aufschwingende Intervall der Quint braucht, wenn er bei der Rede vom ‚Freudenwein‘ in die Bewegtheit der Freude fällt, kurz, wenn er in der Musik aufleuchten läßt, was Klar-Sehen, Getröstet-Werden, Sich-Freuen von sich her heißt. Diesem Prinzip von musikalischer Gestaltung liegt ein Verständnis von Sprache zugrunde, das meint: Ich kann nur von dem sprechen, nur das erkennen, mich nur nach dem sehnen, wovon ich eine vorgängige Erfahrung habe, eine praegustatio, einen ‚Vorschmack‘, wie die Alten sagen.“ Diese Beobachtung ist im Blick auf die exegetische Diskussion um den sog. „Stimmungsumschwung“ in den Klageliedern des Psalters von höchster Bedeutung. Klagen hieße demnach etwas in Erinnerung zu rufen, was schon einmal heilvoll gegenwärtig war. (Vgl. Janowski, Angesicht, 48–50) 65 Man bedenke, dass die Zahl 14 die Quersumme der Buchstaben BACH nach dem gem­ matrischen Zahlenalphabet ist: 2+1+3+8. Dies sei hier bemerkt, weil der Takt so gänzlich anders ist als die vor ihm und nach ihm. 66 Vgl. Satz 3, T. 9, Solobass; T. 11, Continuo bzw. Fagott in Satz 2.

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Seufzern) auf das Verbum „sinken“ (Katabasis) gleich wieder zurückgenommen. Die Stimmung „sinkt“ buchstäblich auf den Nullpunkt, wenn die Singstimme innerhalb eines Taktes vom f ’’ auf das tiefe dis’ abfällt. Die synkopierende Figur in den beiden Violinen (T. 16) unterstreicht dies noch. Somit stehen sich der Affekt der Freude (bzw. der Hoffnung) und des Schmerzes (bzw. der Verzweiflung) innerhalb weniger Takte diametral gegenüber. Bach illustriert also die Situation des klagenden Menschen melodisch, rhythmisch, harmonisch und durch Pausenfiguren in den Streichern und bietet damit nahezu das ganze kompositorische Repertoire auf, das ihm zur Verfügung steht. Die darauf folgende höchst originelle Arie mit virtuosem obligatem Fagott gestaltet Bach trotz ihrer verkündigenden Sprachgestalt als Duett. Alt und Tenor singen der Gemeinde also gleichsam „stereophon“ neue Glaubenszuversicht zu,67 die zuweilen in instrumentalen Zweiunddreißigstel-Ketten und Sechzehntel-­ Melismen der Singstimmen überschäumende Begeisterung gewinnt. Im A-Teil bekommt innerhalb der Verbtriade „glauben, hoffen, Gott gelassen sein“ das (längste und spezifischste) letzte Glied durch eine Koloratur in T. 15–17 besonderes Gewicht. Sie korrespondiert mit den virtuosen Koloraturen auf „erfreuen“ im B-Teil, mit dem Unterschied, dass die Freude (T. 28–30) keine Haltepunkte mehr kennt, sondern einfach jubelnd dahin schießt, während die Gelassenheit mit Überbindungen, Vorhalte und Punktierungen charakterisiert wird. Bach drückt dadurch das Spezifische der spirituellen Haltung musikalisch aus, die S. Franck in Joh 2 entdeckt: eine Gelassenheit, die als eigentümliche Mischung von Glauben und Warten, Hoffen und Beharrlichkeit sich gewiss ist, dass Jesus jederzeit eingreifen kann. Dazu passt m. E. auch das ungewöhnlich kapriziöse konzertierende Fagott (vgl. den Titel Concerto), das eine heitere Gelassenheit des Glaubens durch rhythmische Energie und Spielfreude ebenso charakterisiert wie durch einen Ambitus, der große Höhen (d’) mit Leichtigkeit zu erklimmen und extreme Tiefen (Kontra-g) mit Sicherheit zu bestehen vermag.68 Es ist gewiss kein Zufall, dass auch das dritte Schlüsselwort des Duetts mit einer langen Koloratur geschmückt ist: das offene Herz Jesu, der intimste Hinweis auf den offenbaren Gott (vgl. T. 36–40). Diese Stelle übertrifft die beiden vorangegangenen Koloraturen nicht nur an Länge, sondern zeichnet sich auch dadurch aus, dass hier beide Stimmen sich nicht mehr imitatorisch, sondern am Ende nur noch parallel zueinander bewegen, also innig verbunden sind. Die Besetzung des folgenden Rezitativs (Satz 3) mit einer Bassstimme und der darauf folgenden Arie mit dem Solo-Sopran deutet darauf hin, dass Bach den von Franck anvisierten inneren Dialog in den Sätzen 3 und 4 dramaturgisch eher auf zwei Personen bzw. auf Gott und Mensch verteilt wissen will, indem er das Rezitativ als abermalige Anrede (der Bass steht als vox Dei bzw. vox Christi) profiliert,

67 Petzoldt II, 441 spricht leicht ironisch von einer „wohlmeinenden Zurede“, womit das un­ geschickte „Du musst glauben“ gemeint sein dürfte. 68 Vgl. Schulze, 102 f: „Mit mutwilligen Intervallsprüngen, lockeren Trillerfiguren und raumgreifenden Skalen liefert das obligate Fagott hierbei einen Gegenentwurf zur Unbeweglichkeit und Erstarrung des Eingangssatzes.“

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während in Satz 4 das glaubende Ich darauf antwortet. Hier greift der Komponist wieder zu außerordentlichen musikalischen Mitteln: Beim theologisch zentralen Stichwort „verlässt“, verlässt den Solisten die Continuobegleitung (T. 6)69 Die Verwandlung von bitteren Zähren in Freudenwein und Wermut in Honigseim blitzt in einer kühnen Tirata des Continuobasses (T. 11, vgl. T. 14 in Satz 1) nur kurz auf, stürzt dann aber wieder in eine äußerst gespannte Exclamatio („Ach!“) hinein, der sich zahlreiche Chromatismen anschließen (vgl. T. 16 den Querstand in Singstimme und Continuo). So wird die Versuchung in großer Verlangsamung aus­gemalt, um anschließend das göttliche Gnadenlicht in seinem „lieblichen Erscheinen“ umso strahlender zum Leuchten zu bringen: Die Harmonik hellt sich auf (von B-Dur nach C-Dur), die Melodik bekommt rhythmische Energie, Zweiunddreißigstel-Verzierungen (Figura corta70 bzw. Koloratur in der Singstimme) machen die Lieblichkeit der Gnade Gottes sinnenfällig. Die anschließende Sopranarie (ohne da capo) ist trotz des ernsten Textes zu einem freundlich gestimmten F-Dur aufgehellt. Das zuversichtliche Aufwärtsschreiten des Continuo und ein schwungvoller Streichersatz mit auffallend vielen Sextsprüngen und scharfen (französischen) Punktierungen signalisieren schon im Vorspiel einen Glaubensmut, der bereit ist, sich ganz gelassen, ja fast über­ mütig „in die Arme Gottes zu werfen“. Besonders in der kleinen Quart-Tirata im Continuo (vgl. T. 7; 16; 24; 30 etc.) kann man dieses Werfen71 hören. Die Figur wird mit Beginn des Nachspiels in der 1. Violine (T. 48) auf den Raum der Oktave erweitert und schießt übermütig nach oben. Besondere Erwähnung innerhalb des klar in Ritornelle und Vokalteile gegliederten Konzertsatzes verdient die Behandlung der Wendung „in des Höchsten Liebesarme“ (T. 16 f). Hier inszeniert Bach eine „musikalische Umarmung“, indem er einerseits die Begleitung der hohen Streicher verlangsamt, aber auch die Singstimme durch eine sich viermal wiederholende triolische Bewegung auf den beiden Tönen d’’ und es’’ verweilend kreisen lässt. Der Kantionalsatz aus dem Choral Nun ist das Heil uns kommen her von Paul Speratus am Ende bietet musikalisch keine großen Überraschungen, bündelt aber das Bisherige als unmittelbare promissio. Bach verändert die Melodie am Ende des Stollens zu einer Punktierung (vgl. auch den Alt) und fokussiert damit den Affekt der Furcht („erschrecken“), was durch eine Syncopatio im Tenor noch verstärkt wird. Dadurch kommt am Ende die Hoffnung umso kräftiger zum Leuchten. Die spezifische Botschaft des Chorals lautet, sich auch dann auf Gottes Zusage zu verlassen, wenn das eigene Herz angefochten und im Zweifel ist.



69 Vgl. ähnlich Petzoldt II, 442. Der „feste Glaube“ wird also auch musikalisch heftig auf die Probe gestellt. 70 Vgl. Walther, Art. Figura corta. Sie „bestehet aus drey geschwinden Noten, deren eine allein so lang ist, als die übrigen beyde.“ 71 Vgl. Petzoldt II, 443 mit Hinweis auf Olearius V, 1671 zu 1 Petr 5,7: „Ihr müsset eure Sorge nicht lange in der Hand behalten / hin und her beugen oder abwegen / sondern also fort und ungestüm von euch werffen.“

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

c) Überlegungen zur Inszenierung in einem Kantatengottesdienst Für die liturgische Inszenierung ist das zu bedenken, was über die verschiedenen Sprechakte gesagt wurde: Satz 1 ist als poetische und musikalische Klage deutlich vom Rest der Kantate abzusetzen, ja ggf. sogar der Evangelienlesung voranzustellen. Satz 5 ist eine echte Zusammenfassung der Kantate und könnte als unmittelbare Zusage auch die Predigt abschließen. So könnte man den Verkündigungsteil des Gottesdienstes folgendermaßen gestalten: Evangelium Joh 2,1–4 – Satz 1 – Joh 2,5–11 – Satz 2 – Predigt I – Satz 3–4 – Predigt II – Satz 5 – Credo72

2.1.2 Meine Seufzer, meine Tränen (BWV 13) Die auf den Georg Christian Lehms’ Gottgefälliges Kirchen-Opffer (1711)73 zurückgehende Kantate Meine Seufzer, meine Tränen (BWV 13) des 3.  Leipziger Jahrgangs (1726) gehört wie BWV 155 zum madrigalischen Texttyp und hat mit dieser musikalisch und sprachlich manche Ähnlichkeit, weist aber theologisch und dramaturgisch auch Unterschiede auf, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen. Der Text lautet folgendermaßen:74 75 1. Ar ie (Teno r) Meine Seufzer, meine Tränen können nicht zu zählen sein. Wenn sich täglich Wehmut findet und der Jammer nicht verschwindet, Ach! So muss uns diese Pein schon den Weg zum Tode bahnen74. 2. Rezit ativ (Al t) Mein liebster Gott lässt mich annoch vergebens rufen und mir in meinem Weinen noch keinen Trost erscheinen.

Die Stunde75 lässet sich zwar wohl von ferne sehen, allein ich muss doch noch vergebens flehen. 3. Cho ral (Al t) Der Gott, der mir hat versprochen seinen Beistand jederzeit, der lässt sich vergebens suchen itzt in meiner Traurigkeit. Ach! Will er denn für und für grausam zürnen über mir, kann und will er sich der Armen itzt nicht wie vorhin erbarmen?



72 Evtl. ist auch folgende Lösung in Erwägung zu ziehen: Evangelium Joh 2,1–11 – Kantate Satz 1 – Predigt I – Satz 2–4 (– Predigt II) – Satz 5 – Credo. 73 J. S. Bachs Zeitgenosse Christoph Graupner griff auf diesen 1970 von Elisabeth Noack entdeckten Text ebenfalls zurückgriff. Besonders anregend ist ein Vergleich der beiden Vertonungen von Mein Herze schwimmt in Blut (BWV 199), einem der ersten Werke Bachs im modernen Stil. 74 Die Vermeidung des Reims dürfte hier ein bewusstes Stilmittel sein, das auf die Welt des Todes verweist. 75 Vgl. dazu Olearius V, 610 zu Joh 2,4 mit der Unterscheidung von 1. „Geburts-Stunde“, 2. „Lebens-Stunde“, 3.  „Creutz-Stunde“, 4.  „Bet-Stunde“, 5.  „Prüfungs-Stunde“, 6.  „Erhörungs-Stunde“ und 7.  „Todes-Stunde“: Er fährt fort: „also haben auch alle Gliedmassen ihre Angst-Stunde NB. Joh 16.  ihre Bet-Stunde Ap. Gesch. 3 ihre Freuden-, Trost- und Errettungs-Stunde […] Beten/ Hören und Erhören gehören zusammen. Beten hilft in allem Leide/Beten bringt Trost Hülff und Freude.“

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören 4. Rezit ativ (S opran) Mein Kummer nimmet zu und raubt mir alle Ruh, mein Jammerkrug ist ganz mit Tränen angefüllet und diese Not wird nicht gestillet, so mich ganz unempfindlich macht. Der Sorgen Kummernacht drückt mein betrübtes Herz darnieder, drum sing ich lauter Jammerlieder. Doch, Seele, nein, sei nur getrost in deiner Pein: Gott kann den Wermutsaft gar leicht in Freudenwein verkehren und dir alsdenn viel tausend Lust gewähren.

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5. Ar ie (Ba ss) Ächzen und erbärmlich Weinen hilft der Sorgen Krankheit nicht; aber wer gen Himmel siehet, und sich da um Trost bemühet, dem kann leicht ein Freudenlicht in der Trauerbrust erscheinen. 6. Cho ral So sei nun Seele deine, und traue dem alleine, der dich erschaffen hat. Es gehe, wie es gehe, dein Vater in der Höhe, der weiß zu allen Sachen Rat.

a) Theologische Beobachtungen zu BWV 13 Vor einem sprachlichen Vergleich mit BWV 155 können einige wenige Sätze zur Besonderheit des Lehms’schen Librettos genügen. Auffällig ist, dass mit Satz 3 ein Choral in der Mitte der Kantate steht. Es handelt sich um Johann Heermanns Zion klagt mit Angst und Schmerzen, der zur Bachzeit Martin Opitz (1597–1639) zugeschrieben wurde. Im Dresdner Gesangbuch von 1725/36 trägt das Lied die Überschrift „Über die Verlassung Gottes, aus Jes 49,14–16“76. Damit ist nicht nur eine klare thematische Vorgabe gemacht, sondern auch eine biblische Spur zum Propheten Deuterojesaja gelegt, der die menschliche Erfahrung der Verborgenheit Gottes durch ein göttliches Verheißungswort „entkräftet“. Besonders schön im Blick auf den klagenden Affekt sind die Sätze 1–3. In Satz 3 wird deutlich, dass der angefochtene Beter (wie Hiob) Gottes Fernesein als „Zorn“ deutet („Ach! Will er denn für und für / grausam zürnen über mir“). b) Poetische und musikalisch-dramaturgische Analyse im Gegenüber zu BWV 155 Beiden Werken fehlt ein chorischer Eingangssatz, sie werden stattdessen durch einen Solosatz in d-moll eröffnet. Beide Kompositionen sind von der Affekt­ dialektik des Schmerzes und der Freude sowie der Hoffnung auf göttlichen Trost bestimmt. Kontrastpaare wie „Freudenwein“ (vgl. BWV 155,1 bzw. 13,2) oder Wermut(saft) (vgl. 155,3 bzw. 13,2) deuten gar darauf hin, das Franck den Lehmschen Text – womöglich durch Bach!77 – gekannt hat. Beide Kantatentexte geben Einblick in das Innere des glaubenden Menschen und zeigen die Seele in einer inneren Zerrissenheit angesichts der Verborgenheit Gottes bzw. Christi.

76 Vgl. Petzoldt II, 456. 77 Schulze, 108, vermutet, dass Bach den Lehmschen Text schon kurz nach 1711 zur Kenntnis genommen hat, woraus zwei Weimarer Kantaten entstanden. Er folgert daraus: „Gleichwohl muß Bach […] den gesamten Textjahrgang bald nach dessen Drucklegung in die Hände bekommen und ihn auch aufbewahrt haben […]. 1723 brachte er den Band jedenfalls mit nach Leipzig und schrieb hier in den Jahren 1725 und 1726 weitere acht Kantaten auf Dichtungen aus dem ‚Gottgefälligen Kirchen-Opffer‘ von Georg Christian Lehms.“ (A. a. O.)



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Freilich überwiegen beim genaueren Hinsehen die Unterschiede: BWV 13 lässt sich recht deutlich in zwei ungefähr gleich große Teile gliedern, deren erster (Sätze 1–4a)  als Klage und deren zweiter als Hoffnung auf Erhörung (Sätz 4b-6) betrachtet werden kann.78 Treffend bemerkt Dürr: „Der erste Teil  schildert die Hoffnungslosigkeit des scheinbar79 von Gott Verlassenen, der zweite die Zuversicht dessen, der auf Gottes Hilfe hofft.“80 Demgegenüber dominiert in BWV 155 nach der einleitenden Klage schon ab Satz 2 die Zuversicht. Während sich in BWV 155 die Wende durch den Zuspruch einer vox externa vollzieht, kommt es in BWV 13 im Verlauf des vierten Satzes zu einer „inneren“ Wende, wenn die Ichklage nach dem Zwischenruf „Doch, Seele, nein!“ die Möglichkeit einer Erhörung in Erwägung zieht. Die Spannung der beiden inneren Stimmen bleibt auch in der folgenden Arie noch erhalten, obwohl hier die Kehrseite der Zuversicht, das Verweilen im „Ächzen und Weinen“, als negative Schattenseite deutlich benannt wird (Teil A). Während Franck den Satz Jesu: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ aus Joh 2,4 mit einem deutlichen Indikativ und klarer christologischer Explikation entfaltet („Jesus weiß die rechten Stunden etc.“), gibt es bei Lehms in Satz 4 mit „Jammerkrug“ und „Freudenwein“ zwar eine Anspielung auf Joh 2,81 aber keine ausdrückliche Erwähnung Jesu. Der Dichter bleibt theologisch vielmehr im Bereich des ersten Glaubensartikels. Der Schlusschoral fasst diese Theologie nochmals mit der Rede vom Schöpfer und Vater zusammen (ohne diesen direkt anzu­ sprechen). Ein Eingreifen Gottes wird in BWV 13 aufgrund des inneren Zwiegesprächs der Seele im Potentialis und nicht im Realis formuliert. Dramaturgisch können wir im Gegensatz zu BWV 155 also eine prägnante Differenz ausmachen: Während die eben analysierte Kantate gleich im zweiten Satz eine Wende herbeiführt, die in den „Liebesarmen Jesu“ (Satz 4) kulminiert, gibt BWV 13 der Klage größeren Raum und bietet mit ihrer Theologie z. B. auch Menschen jüdischen Glaubens eine sprachliche Basis.82

78 Petzoldts Analyse, die wie an vielen anderen Stellen eine symmetrische Anlage konstatiert, stellt Satz 2 (Ohne Trost sein) und 4 (Getrost sein) bzw. Satz 1 (Weg zum Tode) und 5 (Blick zum Himmel) einander gegenüber und schreibt Satz 3 („Will Gott sich trotz des Betens nicht erbarmen?“) eine Zentralstellung zu (vgl. Petzoldt II, 456 f). 79 Ob das Adverb „scheinbar“ hier angemessen ist, scheint mir zumindest diskussionswürdig (vgl. Jes 54,7a). 80 Dürr, 233. Vgl. auch a. a. O., 234 f. 81 Vgl. Schulze, 108: „Deutlichere Anknüpfungspunkte sind in der Epistel des Sonntags zu finden, dem zweiten Teil christlicher Lebensregeln aus dem 12. Kapitel des Paulus-Briefes an die Römer. Hier heißt es im 12. Vers: ‚Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet‘ und in Vers 16: ‚Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden‘.“ 82 Am Ende soll eine kurze Einschätzung im Blick auf die Rezeptionsmöglichkeiten von BWV 13 stehen: Für heutige Hörerinnen und Hörer scheint uns der zweite Teil der Dichtung eher ein „hermeneutisches“ Hindernis zu sein, da mit „Jammerkrug“ und „Jammerlieder“ eine Terminologie gewählt ist, die die Assoziation von Selbstmitleid nicht ausschließt. Außerdem enthält Satz 5 trotz seines kunstvollen umfassenden Reims ABCC’B’A’ eine unglückliche synergistisch anmutende Formulierung „und sich da um Trost bemühet“, wodurch der Eindruck erweckt werden könnte, als stünde es in menschlicher Hand, sich „Trost von oben“ durch eigene Bemühungen zu besorgen.

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b) Musikalische Beobachtungen Doch kommen wir nun zur Musik Bachs, die er selbst als Concerto da chiesa betitelt. Der Lehmsche Text bietet Bach vielfältige Anknüpfungspunkte für eine affekt- und figurenreiche Behandlung, die der Thomaskantor mit feinem Gespür ausleuchtet. Der traurige Affekt des Eingangssatzes, der mit seinem langsamen 12/8-Metrum und seinem klagenden Text an BWV 21,3 erinnert, wird durch chromatische Melodik, die besondere Klangfarbe einer dezent lamentierenden Oboe da caccia (als 3.  Bläserstimme)  samt zweier darüber liegender Blockflöten (vgl. BWV 106,1) sowie durch vielfältige harmonische Querstände (vgl. z. B. T. 20 f u. ö.) ausgeleuchtet. Melodisch besonders auffällig ist die verminderte Terz auf „Tränen“ und „Seufzer“ (T. 16 f: es’- cis’ – d’ vgl. T. 21 bzw. T. 37: „ach so muss“ bzw. T. 49: „Tode“).83 Lange Haltetöne in den Blasinstrumenten und in der Singstimme, insbesondere auf dem Wort „Pein“ (vgl. T. 38; 45), illustrieren die Dauer der Not auch im gleich gewichtigen B-Teil. Ihm steht eine lange SechzehntelKoloratur auf „verschwinden“ (T. 43) gegenüber, wobei nicht eindeutig ist, ob Bach damit das baldige Aufhören oder das „Nicht-Verschwinden“ der Trauer unterstreichen will. Äußerst wirkungsvoll im Sinne einer „affizierenden Klage“ ist auch das folgende Rezitativ des Alts, das am Ende, bei dem Verbum „flehen“ in ein (unbegleitetes) viertaktiges Arioso mündet. Bach bildet das „Weinen“ (T. 3) zunächst subtil durch ein kleines Seufzermotiv ab. Ab T. 5 f deutet sich dann ein Silberstreif des Trostes (vgl. Hebr 11,13) am Horizont an, der aber rasch wieder verschwindet. Das Arioso wartet dann mit zahlreichen äußerst emphatischen „harten“ Sprüngen (Saltus duriusculi) auf, die den ganzen Schmerz der Gottverlassenheit zeigen. Es dominieren dabei v. a. Tritoni und Sexten sowie chromatische Fortschreitungen in der Singstimme und im Continuo, die inhaltlich mit der Stelle „Meine Seufzer, meine Tränen“ in der vorangegangenen Arie korrespondieren. Atmosphärisch erinnern das Arioso an das Weinen des Petrus nach der Verleugnung am Ende des ersten Teils der Johannespassion (BWV 245). Der folgende Choral des Solo-Alt (mit Streichersatz) auf die Melodie „Wie nach einer Wasserquelle“ (vgl. Ps 42) bzw. „Freu dich sehr, o meine Seele“ ist ein musiktheologisches und hermeneutisches Kuriosum: Er lässt die geistliche Wende (von der Klage zur Erhörung) musikalisch bereits anklingen, obwohl der Text denkbar weit von jeglicher Zuversicht entfernt ist. „Die belebten Streicherfiguren in freudigem F-Dur drücken die Hoffnung auf den versprochenen Beistand Gottes aus, wenngleich der Text davon spricht, daß noch keine Hilfe erkennbar sei.“84 Man



83 Diese Beispiele für Text-Ton-Ausleuchtungen können wir im Sinne der Figurenlehre Jo­ achim Burmeisters im ursprünglichen Sinne des Begriffes als Pathopoieia (vgl. Burmeister, M. P., 61 bzw. oben 1.7.2), d. h. als Leidens- oder „Affekt-Herstellung“ (aufgrund einer Parrhesia, d. h. einer „unreinen Fortschreitung“) verstehen. Am Ende des B-Teils erreicht die Singstimme beim Wort „Tode“ nicht nur ihren tiefsten Punkt, auch die Continuostimme kommt auf dem großen E mit einer langen punktierten Halben zur „Ruhe“. 84 Dürr, 234. Lediglich der Trugschluss im Continuo am Ende des Vokalparts gibt der leidenschaftlichen Frage und dem radikalen Zweifel des Textes etwas Raum.

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könnte diesen Satz gleichsam als ein Text-Ton-Paradoxon85 oder aber als musikalische Vorwegnahme einer erhörten Klage86 verstehen. Freilich ist auch noch eine andere Deutung denkbar: Der Sänger (bzw. Betende) wird unter dem Singen des Choralmelodie der Gnade Gottes vergewissert; indem er auf das „Lied der Väter“ (Choralstrophe) zurückgreift und so das gött­ liche Erbarmen wenigstens in den Tiefenschichten der Seele wahrnimmt.87 Die eigentliche Wende kommt erst im anschließenden Secco-Rezitativ des Soprans (Satz 4): Zunächst wird die Orientierungslosigkeit des (scheinbar) von Gott verlassenen Menschen durch zahlreiche verminderte Septakkorde abgebildet, die harmonisch immer weiter „absinken“ (T. 3–10: von g-moll über c-moll und f-moll nach b-moll). Erst ab T. 10 („Doch, Seele, nein“) stabilisiert sich allmählich die Tonart B-Dur. Pein und „Wermutsaft“ (T. 11 f) werden durch den „Freudenwein“ gleichsam vertrieben, was eine schöne Katabasis am Ende (auf den Text „viel tausend Lust gewähren“) als Zeichen für das Herabneigen Gottes melodisch verdeutlicht.88 Die folgende Bassarie (Triosatz mit dreifach besetzter Oberstimme: 2 Fl + Solo-Vl.) nimmt diese Zuversicht freilich musikalisch nicht unmittelbar auf, sondern betont nochmals den Gegensatz von Trauer und Trost. Die Tonart g-moll, die seufzenden Zweierbindungen in der Oberstimme mit vielen harten Sprüngen (T. 1–3) und der Passus durisuculus im Bass (T. 3 f) sowie etliche Querstände zwischen Continuo- und Solostimme (vgl. T 9 f bzw. 57 f mit übermäßigen Sekunden und verminderten Septimen), rufen nochmals den klagenden Affekt des Eingangssatzes in Erinnerung, wozu ja auch der Text „Ächzen und erbärmlich Weinen“ (vgl. T. 9–11 mit Seufzermotivik) vorzüglich passt. Demgegenüber wirken die bereits ab T. 3 vorkommenden Zweiunddreißigstel-Figuren der Oberstimme (v. a. mit Tirata und Figura corta in T. 5 bzw. 6–8) eher beschwingt, die zweite Hälfte des thematischen Materials steht also bereits für die Freude.89 Im

85 Vgl. dazu Petzoldt II, 458: Hier „werden beide Schienen zusammengesehen, die des scheinbar Vergeblichen am Gebet […] und die der Erinnerung an Gottes Versprechen […]. Die Strophe aus einem Lied zu Jes 49,14–16 […] bezieht sich auf die ‚arme‘ Stadt Zion, im Rahmen der Lehms’schen Dichtung auf die ‚arme‘ glaubende Seele.“ 86 Vgl. Bayer, Leibliches Wort, 336–341. 87 Vgl. ähnlich Petzoldt II, 458: „Die immer gleich bleibenden Streicherfiguren sowie der – entweder im Continuo oder in der Viola – unablässig zu hörende Grundton der Tonart verweisen sehr viel wahrscheinlicher auf das Motiv der Inständigkeit des Betens, und zwar trotz erfahrener Ver­ geblichkeit. […] Die gewählte Strophe stammt zudem aus einem Lied, das diese Thematik eigens bedenkt. Auch die Erfahrung des Schweigens Gottes, der Vergeblichkeit des Betens zu ihm, der Eindruck seines Zürnens sollen nicht zur Beendigung des Betens führen; träte das ein, so wäre es ein Sieg des Teufels.“ 88 Petzoldt II, 459 verweist im Blick auf das neu entstehende Vertrauen auf Olearius V, 611. Dort heißt es zu Joh 2,8: „Es spricht der allmächtige Herr, der alle Gewalt hat (Mt 28), der alles ändern kann […]. Mein Jesus ist allein der Mann, / der alles thun und ändern kann.“ 89 Vgl. Schulze, 110: „Doch das instrumentale Thema der Arie […] ist zweigeteilt, vereinigt in sich gegensätzliche Charaktere.“ Dies entspricht exakt der theologischen Aussage des gesamten Textes der Arie. Vgl. Schulze, a. a. O.: „Bach komponiert den Themenanfang, als handele es sich um eine direkte Aussage, und nicht deren Vereinigung, setzt dann aber in rascher, geradezu überstürzender

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B-Teil (dem freilich wieder ein Teil  A’ folgt!) setzt sich diese Stimmung dann beim Stichwort „Freudenlicht“ endgültig durch. Hier steigt eine Koloratur mit zahlreichen Verzierungen (Figura corta)  nach oben (Anabasis) und setzt damit der durch fallende Melodik angezeigten Todesnot in Arie No. 1 (T. 49) ein sinnenfälliges Ende90. Im abschließenden Kantionalsatz, bei dem man gleichsam das Abendlied „Breit aus die Flügel beide“ mithören wird, kehrt Bach unmissverständlich die theologischen Zentralworte „trauen“91, „erschaffen“ und „Vater“ durch melismatische Bewegung in den Unterstimmen hervor. Bach fokussiert so das (zurück gewonnene) Gottvertrauen in den Schöpfer als Erfahrungssumme der ganzen Kantate. Er sieht offenbar gerade darin auch ihren katechetischen Grundtenor, den Petzoldt so formuliert: „Beten gründet auf der Erfahrung eines in Barm­ herzigkeit gegenwärtigen Gottes, nicht auf der Erwartung der Erfüllung aller Wünsche durch das Gebet.“92 c) Folgerungen für die liturgische Gestaltung Für die liturgische Inszenierung bietet sich eine Zwei- oder Dreiteilung der Kantate an, die je nach Einschätzung der verschiedenen musikalischen und theo­ logischen Gewichte im Zusammenspiel mit Evangelienlesung, Credo und Predigt unterschiedlich aufgeteilt werden kann. Folgende Optionen sind denkbar: a) Evangelium Joh 2,1–11– Kantate Satz 1–3 – Predigt I („Deus absconditus“) – Satz 4 f – Predigt II („Deus revelatus“) – [Credo] – Satz 6 (als antwortendes Bekenntnis) – Credo b) Evangelium I: Joh 2,1–4 – Kantate Satz 1–3, inkl. Satz 4a bis T. 9 („Jammer­ lieder“)  – Predigt I  – Evangelium II: Joh 2,5–11  – Satz 4b-5  – Predigt II  – Satz 6 – Credo c) Psalmlesung (z. B. Ps 69*)  – Kantate Satz 1 f  – Evangelium I: Joh 2,1–4  – Kantate Satz 3 – Predigt I – Evangelium II Joh 2,5–11 – Kantate Satz 4–6 – Predigt II – Credo Die letzte Variante stellt die (musikalische) Klage dem Predigttext voran; dadurch bekommt der ganze Verkündigungsteil ein deprekativ-flehendes Toppgewicht. Denkbar ist aber auch, die Kantate gänzlich vom Evangelium aus Joh 2 abzulösen und aus Anlass einer Notsituation oder einer Katastrophe in zwei Teilen freudiger Bewegung mit Läufen und Sprüngen fort und greift so auf die erst im Mittelteil der Arie erscheinenden Textbausteine ‚Himmel‘, ‚Trost‘ und ‚Freudenlicht‘ vor.“ 90 Vgl. Dürr, 235: „So wie in der ersten Arie der Weg zum Tode durch einen Abwärtsgang dargestellt wurde, erklingt nun auf die Worte ‚gen Himmel‘ in der Singstimme ein Oktavsprung nach oben und in den Obligatinstrumenten eine in raschen Noten aufstrebende Tonleiter.“ Vgl. ähnlich Petzoldt II, 459: „… ging es in Satz 1 um den Weg zum Tode, geht es in Satz 5 um den Blick in den Himmel.“ 91 Vgl. dazu Petzoldt II, 460 mit Hinweis auf Olearius III, 75 (zu Ps 11,1): Das „Trauen chasah heißt nicht allein hoffen (Ps 37,40) und harren (Ps 27,14), sondern seine Zuflucht in der Zeit der Not zu einem solchen Schutz in kindlicher Zuversicht und Freudigkeit des Glaubens nehmen …“. 92 Petzoldt II, 460.

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(Satz 1–3 und Satz 4–6) vor und nach der Predigt zu musizieren, die einen Klageoder Vertrauenspsalm zum Gegenstand haben könnte (z. B. Psalm 69 oder 102 bzw. Psalm 27 oder 73).

2.2 „Jesu, lass dich finden“ – Ausgewählte Kantaten zum 1. und 4. Sonntag n. Epiphanias Zum Weihnachtsfestkreis gehören neben dem 2.  Sonntag n. Epiph. noch weitere Kantaten, die das Motiv des sich verbergenden Christus und sein tröstliches Erscheinen enthalten. Anthropologisch können wir in ihnen den Gegensatz von Trauer und Freude bzw. von Furcht und Hoffnung beobachten. Simpfendörfer bemerkt dazu grundsätzlich: „Wo Jesus nicht ist, da herrscht Hoffnungslosigkeit und Furcht. ‚Was soll ich hoffen?‘ lautet die Frage angesichts des schlafenden, d. h. abwesend erscheinenden Jesus (BWV 81,1). Ohne ihn herrscht Angst und Schrecken (BWV 154,1), ohne ihn heißt es ‚mit bangem Herzen‘ (BWV 146,5), die böse Zeit (BWV 58,1) durchzustehen, in der seine Herrschaft sich noch nicht voll­ ständig durchsetzte.“93

2.2.1 Mein liebster Jesus ist verloren (BWV 154) Betrachten wir dazu die Kantate Mein liebster Jesu ist verloren (BWV 154) zum ersten Sonntag n. Epiphanias. Evangelium für diesen Sonntag war zu Bachs Zeit die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel nach Lk 2,41–52.94 a) Theologische Entdeckungen mit Olearius zu Hohelied 3,2 Der unbekannte Textdichter – die Erstaufführung der Kantate geht auf das Jahr 1724 zurück95 – vergleicht die Situation der Eltern Jesu in Lk 2,41 ff mit der unsrigen, insofern auch wir immer wieder mit dem Verlieren, Suchen und Finden Christi umgehen müssen. Er illustriert, allegorisiert und dramatisiert den Verlust auf dem Hintergrund des Hohenliedes (Cant 3,2 f, vgl auch 5,6) als Verlust des Geliebten (vgl. BWV 49; 21,7 u. a.)96, den Olearius in seiner Auslegung zu Cant 3,2c (Ich suchte, aber ich fand ihn nicht) folgendermaßen kommentiert: „Das Verlieren Christi aus dem Herzen, welches zwar nicht nach seiner allmächtigen Gegenwart geschehen kann, da Er Himmel und Erden erfüllet (Jer 22) NB. Ps 139. Sondern nach seiner gnadenreichen Gegenwart. Es geschieht aber dennoch solches Verlieren:

93 Vgl. Simpfendörfer, 269. 94 Heute gehört dieses Evangelium zum 2. Sonntag nach dem Christfest (vgl. EGB 268 f), während am 1. Sonntag nach Epiphanias die Taufe Jesu nach Mt 3,13–17 die Thematik des Sonntags bestimmt. Vgl. dazu die Überlegungen bei Meyer, Kirchenjahr, 31, der BWV 7 am 1. Sonntag n. Epiphanias platziert. 95 Vgl. Schulze, 90 bzw. Petzoldt II, 412 mit der Vermutung, dass einzelne Teile der Kantate schon vor 1717 in Weimar entstanden sein dürften. 96 Vgl. Schulze, 90.

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I. Wahrhaftig 1. Durch Abfall (Hebr 6,10), wenn man nicht bleibet an der Rede des Herrn (Joh 8), so wohnt Er nicht im Herzen durch den Glauben […]. II. Vermeintlich bei der schmerzlich entzogenen Hilfe und vermeintlichen Abwesenheit und zwar: 1. Im Kreuz und Verfolgung (Ps 10). Wenn Er fern tritt und sich verbirgt [Hvh. JA] zur Zeit der Not. Wie die Jünger den Herrn suchten (Joh 13) und Maria (Lk 2). Wenn die Stunde und Nacht der Finsternis kommt (Lk 22). 2. In schwerer Anfechtung (Ps 13; 30; 31; 81). Davon Gen 22,1 und das ganze Buch Hiob zu lesen […]. 3. In dem letzten Todeskampf und Vollendung unseres Lebenslaufs (2 Tim 4 […] Act 7)“97.

Diese Passage kann geradezu als eine Schlüsselstelle für das hier behandelte Thema eines „Christusverlustes“ betrachtet werden. Olearius arbeitet, angelehnt an Luthers Ubiquitätslehre, zunächst heraus, dass Christus nicht nach seiner allgemeinen und allmächtigen Weltgegenwart verloren gehen kann, sondern nur hinsichtlich seiner besonderen persönlichen Gnadengegenwart. Dass dies geschieht, d. h. Menschen die Gewissheit Gottes in Christus verlieren, kann Folge der Sünde (vgl. „I. Wahrhafftig“) oder aber der Anfechtung (vgl. „II. Vermeintlich“) sein. Der Querverweis auf Maria in Lk 2 sowie die theologische Qualifizierung des Verlustes als Erfahrung der Verborgenheit Christi bzw. als Anfechtung (vgl. Abraham, Gen 22 und Hiob) legen nahe, den Verlust Christi nicht als Folge von Sünde, sondern als geistliche Not oder Krise zu deuten. In Satz 1–3 der Kantate wird der Verlust Jesu jedenfalls nicht explizit auf menschliche Sünde zurückgeführt bzw. im Horizont des Endgerichts betrachtet (vgl. dagegen BWV 20 u.v. a.).98 Für den Rest der Kantate ist die Fortsetzung der oben zitierten Passage von Olearius zu Cant 2 (Suchen und Finden) von Bedeutung: „Das ängstliche Suchen (vgl. Cant 3,1). Wie ein Bettler das Brot sucht (Ps 37,25): mit Klagen, Weinen (Ps 6) Seufzen, Beten und herzlichem Verlangen (Ps 42), mit Lesen, Forschen und Betrachtungen der göttlichen Verheißung. […]. Das fröh­liche Finden 1. Durch Umkehren  /  Büßen und Bekehren (Jer 3) und Forschen in seiner Stadt, in dem Tempel (Lk 2; Cant 5). / 2. Durch Beten (Ps 27). / 3. Durch das Erblicken im Wort und Sakrament (Cant 2), wie Antonius sagte: Ubi eras? Wo warest du, mein Herr Jesu? Und kriegte die Antwort: Ich war bei dir in der Not (Ps 91) […], ich sah deinen Kampf und gab dir den Sieg, so können wir auch im Tode getrost sein. Spr. 14,37, auch im finstern Tal (Ps 23; Lk 2)“99.

97 Olearius III, 1111 f, vgl. Petzoldt II, 415. 98 Daher scheint eine Einordnung in die Reihe der die Verborgenheit Gottes bzw. Christi thematisierenden Kantaten eher sinnvoll als in die Reihe derer, die wir zum Bereich des usus elenchticus legis (vgl. unten Kap. 3) rechnen. Allerdings klingt in Satz 4 das Thema Sünde dann doch kurz an: „[…] lass doch meine Sünden, keine dicke Wolken sein!“ Petzoldt II, 413, bietet auf dem Hintergrund von Olearius V, 1370 eine entsprechende Interpretation an, wenn er auf Gal 5,4 hinweist, „wo Paulus den Galatern bescheinigt, sie hätten durch ihren Gesetzesglauben Christus verloren“. Damit wird die Verlusterfahrung Jesu als Folge einer spezifischen menschlichen Schuld gedeutet: dem Festhalten am Gesetz. Dies ist vom Kantatentext her freilich nicht zwingend geboten ist, ja eigentlich nur schwer zu greifen. 99 Olearius III, 1112 vgl. Petzoldt II, 415. Der letzte Hinweis dürfte auf den Lobgesang des ­Simeon (vgl. Lk 2,29–32) gemünzt sein.

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Aus dieser Auslegung ist zu schließen, dass dem ängstlichen Suchen ein Klagegebet entspricht, das sich zugleich an die göttliche Verheißung klammert, während das fröhliche Finden durch Umkehr (1), Gebet (2) und tröstlichen Zuspruch (3) charakterisiert ist. Der klare Verweis auf Christus in diesem letzten Abschnitt ist ein Indiz dafür, dass Bachs Dichter das fröhliche Finden aufgrund einer promissio Christi gestalten will (vgl. BWV 154,5). Wir folgern daraus, dass Kantate 154 theologisch in einer Linie mit den eben untersuchten Kantaten BWV 13 und 155 zu sehen ist. b) Poetische und musikalische Beobachtungen Wie BWV 13 beginnt die Kantate mit einer Klage des Tenors, der „in dieser Kantate den suchenden und auf sich allein gestellten Menschen [vertritt].“100 Damit sind wir bei der musikalischen Analyse im engeren Sinne angelangt. 1. Ar ie (Teno r) Mein liebster Jesus ist verloren: O Wort, das mir Verzweiflung bringt,     o Schwert, das durch die Seele dringt,     o Donnerwort in meinen Ohren.101

Das Hauptthema des Evangeliums und der Kantate wird gleich zu Beginn als Motto vorgestellt. Darauf folgt in den restlichen drei Versen eine Art weiter­ führender applicatio: Das dreifache klangmalerische O zu Beginn der Verse (im umfassenden Reim) zeigt die Stilfigur der Anapher und signalisiert eine Zusammengehörigkeit dieser drei Verse im Sinne einer dreifachen Klimax: Die Substantive werden jeweils länger: Wort – Schwert – Donnerwort; Wort und Schwert verbinden sich zuletzt zum Kompositum „Donnerwort“. Doch betrachten wir die musikalischen Details dieses Satzes, der in einem ruhig schreitenden ¾-Takt (ohne Tempobezeichnung) in h-moll gehalten ist: Das achttaktige Orchestervorspiel enthält im Bass (T. 3 f), der im Folgenden zunächst identisch (T. 9–16) und dann leicht verändert (T. 17–24) bzw. moduliert (T. 25 ff)  wiederholt wird, zahlreiche harte Gänge und Sprünge (Passus duriusculus und Saltus duriusculi), wodurch er als typischer Lamentobass (vgl. BWV 12,2 bzw. Crucifixus der h-Moll-Messe) zu bezeichnen ist. Vl. 2, Vla und Continuo spielen, von der Kadenz einmal abgesehen, Viertelnoten auf Zählzeit drei und eins, während die zweite Zählzeit charakteristischerweise leer bleibt. Hier liegt die typische Pausenfigur einer Suspiratio (vgl. BWV 12,2) vor. Auch das Thema in Vl. 1 und Tenor besitzt mit seinen Achtelpunktierungen und Überbindungen einen charakteristischen Rhythmus, melodisch stehen neben seuf­zender

100 Petzoldt II, 414. 101 Poetisch scheint diese Arie stark von der ersten Strophe des Chorals O Ewigkeit, du Donnerwort (vgl. BWV 60 und 20) beeinflusst: „O Ewigkeit, du Donnerwort / o Schwert, das durch die Seele bohrt, / o Anfang sonder Ende. / O Ewigkeit Zeit ohne Zeit/ ich weiß vor lauter Traurigkeit / nicht, wo ich mich hinwende.“ Die Repetitionen ab T. 37 ff („in meinen Ohren“) erinnern jedenfalls stark an BWV 60,1.

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Chromatik zahlreiche Tritonus-Sprünge (vgl. T. 2 f; T. 3 f bzw. T. 10–12 in Vl. 1 bzw. im Tenor auf „Verzweiflung“, T. 12; T. 21) im Vordergrund. Somit wird der Grundaffekt einer „verzweifelten Klage“102 melodisch, rhythmisch und durch Pausen drastisch ausgemalt. Schulze möchte darin gar den „Charakter eines lang­ samen Trauerzuges“103 erkennen. Der B-Teil mit seiner kühnen Harmonik präsentiert die Kunde vom Verlust Jesu als eine Bedrohung, die die Seele im Innersten erschüttert: Die Melodie stürzt zunächst (T. 32) in kleinen Terzen (verminderter Septakkord)  nach unten, ehe dann ab T. 35 ein fanfarenartiges Motiv eine Kette von über sieben Takte währenden Streichertremoli (T. 37 ff vgl. BWV 60) eröffnet, die mit einer Folge unauf­gelöster Dissonanzen (Septakkorde und verminderte Septakkorde) gekoppelt sind. Die Dramatik der Botschaft wird durch eine lange Liegenote auf „Oh-ren“ und einen nach oben steigenden tremolierenden Passus duriusculus im Continuo (T. 38–42) abgebildet. Die abschließende Kadenz (T. 43) zeichnet ein herab­fahrendes Schwert im Sinne einer Hypotyposis104 nach. Der Satz schließt mit den klagenden Motiven des A-Teils (durchkomponiertes Da capo), wobei z. B. im Continuo die musikalischen Mittel (Tritonussprünge) noch vermehrt sind (vgl. T. 44–48). Es wird deutlich: Hier geht es nicht um das alltägliche Verlieren eines Kindes im Getümmel des Jerusalemer Wallfahrtsfestes, sondern in einem tiefen geistlichen Sinn darum, dass uns Christus selbst abhanden gekommen ist. Im folgenden Rezitativ ist die gläubige Seele im „Prozess der Klage“ bereits etwas weiter: 2. Rezit ativ (T eno r) Wo treff ’ ich meinen Jesum an, wer zeiget mir die Bahn, wo meiner Seelen brünstiges Verlangen, mein Heiland hingegangen?105 Kein Unglück kann mich so empfindlich rühren, als wenn ich Jesum soll verlieren.

Anstelle des apodiktischen „Mein liebster Jesus ist verloren“ werden hier suchende „W-Fragen“ formuliert, so dass am Ende das Unglück des Verlustes Jesu eher als Möglichkeit denn als Faktum erscheint („wenn ich Jesum soll verlieren“). Der Grundaffekt wendet sich in diesem Secco-Rezitativ von der Klage zur Liebe,

102 Dürr, 218. 103 Schulze, 92. 104 Unter Hypotyposis versteht man eine Figur, die die Bedeutung eines Textes unmittelbar verdeutlicht, so „dass die leblosen Worte des vorhandenen Textes mit Leben versehen“ (Burmeister, M. P., 62) werden. Vgl. oben 1.7.2 bzw. Bartel, 197 f. 105 Einmal mehr lohnt hier der Blick auf den Kommentar des Olearius, III, 1147 (vgl. Petzoldt II, 414), der zu Cant 5,17 eine christologische Deutung unter dem Vorzeichen der Verborgenheit anbietet: „Hingegangen. Wohin hat ER sein Antlitz gewendet Panah. (Gen 24,49 davon Joh 13,1) […], denn dies Geheimnis kann uns Fleisch und Blut nicht offenbaren (Mt 16,17; Kol 1,1 f); das verstehet weder den Hingang zum Vater (Joh 14,16), die Himmelfahrt noch das Verbergen im Kreuz (Ps 13,1).

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mithin zum „brünstigen Verlangen“ (T. 3). Dieses wird musikalisch durch das seltene Intervall einer aufsteigenden kleinen None abgebildet. 3. Cho ral Jesu, mein Hort und Erretter, Jesu meine Zuversicht, Jesu, starker Schlangentreter, Jesu, meines Lebens Licht! Wie verlanget meinem Herzen, Jesulein, nach dir mit Schmerzen! Komm, ach komm, ich warte dein, Komm, o liebstes Jesulein!

Der folgende Binnenchoral (vgl. BWV 13) in lichtem A-Dur, die 2. Strophe des Liedes Jesu, meiner Seelen Wonne von Martin Jahn (1661) auf die schlichte Melodie des Abendliedes Werde munter, mein Gemüte, deutet dann bereits eine innere Veränderung an. Er enthält eine geistliche Anamnese an vergangene Gnaden- und Liebeserweise Jesu und ist als inniges Gebet formuliert. Im Gegensatz zum Vorangegangenen wird hier Jesus erstmals direkt angeredet. Die vierfache Anapher im Stollen („Jesu“)106 drückt ein Vertrauensbekenntnis (mit Anklang an das Protevangelium Gen 3,15: „Schlangentreter“) aus. Der zweite Teil des Ab­ gesangs („komm …“) nimmt das Stilmittel der Anapher nochmals auf und bildet damit eine poetische Klammer, die auch musikalisch evident ist, denn melodisch gehören Stollen (A) und zweiter Teil des Abgesangs (A’) zusammen. Den Beginn des Abgesangs (Wie verlanget meinem Herzen – Jesulein, nach dir, mit Schmerzen) prägt eine Gradatio in der Oberterz, wodurch eine Emphase voller Sehnsucht ausgedrückt ist. Die abschließende Bitte um das Kommen Jesu hat gleichsam adventliche (vgl. BWV 61,6) bzw. eschatologische Anklänge. Die folgende Arie im 12/8-Takt verzichtet ganz auf ein Da capo und entfaltet nun die Thematik des Suchens, bei dem die Abwesenheit Jesu zunehmend als ein „Verstecken“ gedeutet wird. 4. Ar ia (Al t) Jesu, lass dich finden, lass doch meine Sünden keine dicke [!] Wolken sein, wo du dich zum Schrecken willst für mich verstecken, stelle dich bald wieder ein.

Wie der vorangegangene Choral ist die Arie in trochäischem Versmaß als eine unmittelbare Anrede an den Verschwundenen gerichtet.107 Die Besetzung ist äußerst ungewöhnlich: Der Altstimme, die von zwei Liebesoboen begleitet wird, ist durch

106 Vgl. Weihnachtsoratorium, 4. Teil (BWV 248/IV, Schlusschoral) bzw. BWV 190,6. 107 Wenn Kinder bei einem ausgiebigen Versteckspiel nicht fündig werden, beginnen sie zu­ weilen auch zu rufen und bitten die versteckte Person, sich zu zeigen oder wenigstens akustisch vernehmen zu lassen.



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ein sog. „Bassettchen“ (Vl 1/2 + Vla) unterlegt, wodurch vier Stimmen in dichter Nähe beieinander liegen, die sich immer wieder kreuzen. Die meist parallel oder komplementär geführten Oboi d’amore stehen für die Innigkeit der Beziehung zu Jesus, der Alt repräsentiert die angefochtene Seele. Es liegt nahe, den Verzicht auf das Fundament des Continuobasses so zu deuten, dass Bach damit die Haltlosigkeit des Angefochtenen oder die Beteuerung seiner Unschuld zeigen will.108 Der Bassetto ist durch zahlreiche emphatische Wiederholungen und einen charakteris­ tischen Rhythmus (mit einer nachdrücklichen Syncopatio in der Mitte)  geprägt. T. 1–3 bringen das halbtaktige (ostinatoartige)  Motiv als vierfache Epizeuxis, was der suchenden Bitte („Jesu, lass dich finden!“) offenbar besonderen Nachdruck verleihen soll. Bachs Textbehandlung zeigt, dass ihm die Bitte „Jesu, lass dich finden“ von allen Textelementen das wichtigste ist. Sie kommt siebenmal vor, während der Vers „Lass doch meine Sünden“ nur viermal zitiert wird und auch musikalisch keine besondere Hervorhebung bekommt. Das Substantiv „Wolken“ wird mehrmals im Sinne einer tonmalerischen Abbildung melis­ matisch „koloriert“.

An der nur zweimal erklingenden zentralen Textstelle Wo du dich zum Schrecken, willst für mich verstecken (T. 21 f bzw. T. 30 f), finden sich nicht nur starke Dissonanzen, sondern charakteristischerweise auch wieder die emphatische vier­ fache Wiederholung der Ausgangsfigur in der Bassettstimme (vgl. T. 1 f, T. 7 f und T. 11 f): Über zwei Takte kommt die Musik hier harmonisch (Septnonakkord in Cis-Dur bzw. in A-Dur) beinahe zum Stillstand, wodurch das Erschrecken im Sinne eines harmonischen Innehaltens verklanglicht wird. Eine weitere Intensivierung der dringlichen Bitte geschieht in T. 36, wenn plötzlich beide Oboen für eineinhalb Takte aussetzen und das Adverb „bald“ emphatisch verdoppelt wird.109 5. Ar ioso (B a ss) Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?

Mit diesem Einwurf, der ein Zitat aus dem Evangelium ist und charakteristischerweise in der Bassstimme als vox Christi ertönt,110 wird die Wende der Klage in Freude bzw. des Suchens in fröhliches Finden eingeleitet, obwohl dieses Wort Jesu (im Gegensatz zu BWV 155,2) in Lk 2,49 nicht als Zuspruch, sondern eher

108 Allerdings hat Bach  – wohl aus aufführungspraktischen Gründen  – schon 1724 noch eine Cembalostimme (in der Oktav) darunter gesetzt, so dass der eigentliche Klangeffekt nicht mehr so stark wirkt. Ob es sich damit ursprünglich um eine symbolische „Unschuldsbeteuerung“ (vgl. Dürr, 219), handelt ist schwer zu beurteilen. Petzoldt II, 415, lehnt diese theologische Deutung ab und favorisiert stattdessen eine an Luther angelehnte hamartiologische Sicht: „Ebenso ist das Fehlen der Continuogrundlage ein Zeichen besonderer Glaubenshaltung, nämlich hier der Bewusstheit eigener Sünden und ihrer Vergebungsbedürftigkeit. Hier von ‚Unschuld des redenden bzw. singenden Subjekts zu sprechen […] hieße den Inhalt mißzuverstehen, der gerade um die eigenen Sünden und ihre gottverdunkelnde Wirkung ausdrücklich weiß.“ 109 Vgl. Simpfendörfer, 98. 110 Vgl. ähnlich die Dialoge BWV 60,4 oder BWV 21,7 f u. a. Auf die Tatsache, dass hier in der Erzählung ein zwölfjähriges Kind spricht, nimmt Bach durch die Besetzung der Solostimme keine Rücksicht.

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als „nachdrückliche“111 Ermahnung, d. h. als Gesetz, daherkommt. Bach drückt diese Strenge musikalisch durch vier kanonische Imitationen der Singstimme im Continuo aus (vgl. T. 1–3; T. 4–6; T. 10–13; T. 16–18).112 Am Ende findet sich auf „Vater“ eine lange Koloratur, die als Katabasis über eine None nach oben steigt. Damit ist die Verbindung Jesu mit dem Vater gleichsam durch eine „musikalische Himmelsleiter“ (vgl. Gen 28) symbolisiert. Es folgt ein langes Rezitativ des Tenors (vgl. Satz 1 und 2), das bekennende und verkündigende Töne im Stile eines Dankliedes (vgl. Ps 30) enthält und als innerer Dialog der Seele konzipiert ist. Man kann es gleichsam als ein flammendes Plädoyer für den Gottesdienstbesuch113 und die Teilnahme am Abendmahl hören, in dem Jesus auch heute erfahren werden kann. 6. Rezit ativ (T eno r) Dies ist die Stimme meines Freundes, Gott Lob und Dank! Mein Jesus, mein getreuer Hort, lässt durch sein Wort sich wieder tröstlich hören; Ich war vor Schmerzen krank, der Jammer wollte mir das Mark in Beinen fast verzehren; nun aber wird mein Glaube wieder stark, nun bin ich höchst erfreut; denn ich erblicke meiner Seelen Wonne, den Heiland, meine Sonne, der nach betrübter Trauernacht durch seinen Glanz mein Herze fröhlich macht. Auf Seele, mache dich bereit! Du musst zu ihm in seines Vaters Haus, hin in den Tempel ziehn; da lässt er sich in seinem Wort erblicken, da will er dich im Sakrament erquicken; doch willst du würdiglich sein Fleisch und Blut genießen, so musst du Jesum auch in Buß und Glauben küssen.114

Auch hier klingt zunächst wieder das Hohenlied Salomos an, das christologisch gedeutet wird. Olearius kommentiert Cant 2,5 bzw. 2,8a vor allem johanneisch und bietet damit den Interpretationshintergrund für unseren Kantatentext:

111 Vgl. Olearius V, 403 bzw. Petzoldt II, 416. 112 Vgl. ähnlich BWV 129,2 oder Orgelbüchlein, Dies sind die heilgen zehn Gebot (BWV 635) u. a. Dürr, 219 und Petzoldt II, 416 möchten die Imitationen eher als „Symbol der Nachfolge“ deuten, was zweifellos auch denkbar ist, wenn dabei Jesus als der seinem Vater gehorsam Nachfolgende betrachtet wird. Doch liegt diese Botschaft innerhalb der Gesamtdramaturgie der Kantate wirklich nahe? Wahrscheinlicher ist doch, dass diese Frage, auf die Beziehung zwischen Suchenden und Christus abzielt. 113 Vgl. dazu grundsätzlich BWV 148. 114 Vgl. zum Stichwort „Buße und Glaube“ die oben (a) zitierte Passage aus dem Kommentar von Olearius.

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„Er, der himmlische Salomo [sc. Jesus] verheißt nicht allein die Erquickung den Mühseligen (Mt 11), sondern Er gibt sie auch reichlich und überflüssig [sc. überfließend] durchs Wort und Sakrament. Das Wort muss die Seele laben, wenn wir keinen Trost mehr haben. […] Das Gnadenwort, das Lebenswort, macht frölich, selig hier und dort. Das höchste Labsal, Freud und Herzens-Trost der Kirchen ist das Wort des Lebens (Joh 6) des himmlischen Salomons, welches Gnade und Ehre und im Tode das Leben bringt (Joh 8).115 Das ist die Stimme […] (Gen 3,8), die mir gar wohl bekannt (Joh 10,14.27) und Ps 119,3.“116

Drei Zeitstufen werden hier unterschieden: Die Gegenwart (Z. 1–5 und 9–14) ist ganz von der Freude über die Stimme des wieder gefundenen Jesus geprägt, der als „Seelen Wonne“, „Heiland“ und „Sonne“ gepriesen wird.117 Die verzweifelte Suche wird im Rückblick mit dem Affekt der Trauer beschrieben und mit einer Krankheit verglichen (Z. 6–8.13), während der Blick in die Zukunft („Auf Seele …“) eine Einladung zum Gottesdienst und Sakramentsempfang ist, bei der die Kirche mit dem Jerusalemer Tempel („seines Vaters Haus“) identifiziert wird. Musikalisch ruft dieses Secco-Rezitativ die zurückliegende Trauer und Suche durch musikalische Mittel der vorangegangenen Sätze eindringlich ins Gedächtnis, z. B. harte Sprünge (vgl. Continuo T. 5: „ich war vor Schmerzen“) und verminderte Septakkorde (T. 5 f vgl. Satz 1 und 4). Kraftvoll und strahlend kommt der fallende Dreiklang von der Spitzennote a’ über dem Sekundakkord (A-Dur) in T. 9 daher („Glaube wieder stark“), ähnlich zwingend ist die Exclamatio in T. 14 („durch seinen Glanz“), nach der ebenfalls die Spitzennote a’ (Herze) erreicht wird. Hier beschließt dann eine Kadenz Teil  I (Gegenwart und Vergangenheit) und leitet zum paränetischen Teil  II (Zukunft) über, der sich auch sprachlich durch die kerygmatische Du-Form (Anrede an die Seele) vom Vorigen absetzt. Der sakramentaltheologische Impetus erinnert an Luthers Vermahnung zum Sakrament.118 Dazu passt das folgende Duett zwischen Alt und Tenor mit drei Streichern (sowie zwei nachträglich hinzugefügten Liebesoboen) und Continuo. 7. Duet t (Al t/T eno r) Wohl mir, Jesus ist gefunden, nun bin ich nicht mehr betrübt.



115 Im Kantatentext finden wir mit dem Stichwort „erquicken“ und der Formel „Wort und Sakrament“, aber auch mit der Wendung „fröhlich machen“ sowie den anthropologischen Dualität von Seele und Herz einen ganzen Strauß dieser Formulierungen aufgenommen. 116 Olearius III, 1100.1102, vgl. Petzoldt II, 416. Gemeint ist wohl Gen 3,9. 117 Petzoldt II, 416 entdeckt hier einen Hinweis auf die Simeonserzählung (Lk 2,26–32), auf einen Text also, der in unmittelbarer Nähe zum Sonntagsevangelium vom zwölfjährigen Jesus im Tempel steht. 118 Vgl. WA 30 II, 595–626 bzw. die Darstellung bei Arnold, 272–287. Petzoldt II, 417 weist auf Olearius’ Kommentar zu 1 Kor 11 hin und folgert: „Dieser Abschluß und sein erkennbares Gewicht in der biblischen Auslegung machen deutlich, dass das Finden Jesu gemäß der theologisch-seel­ sorgerlichen Sicht Luthers immer eine sakramentale, d. h. eine real-gegenwärtige Seite hat.“

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Der, den meine Seele liebt, zeigt sich mir zur frohen Stunden.     Ich will dich, mein Jesu, nun nimmermehr lassen,119     ich will dich im Glauben beständig umfassen. Sprachlich kontrastiert der Dichter nochmals die gegenwärtige Freude (frohe Stunden) und die zurückliegende Zeit der Betrübnis auf dem Hintergrund des Hohenliedes (Cant 3,4a). Weil sich der Liebste finden ließ, d. h. gnädig offenbart und seine Verborgenheit beendet hat, eröffnet sich dem Glaubenden ungeteilte Gemeinschaft der Liebe im Hier und Jetzt. Wieder bringt Olearius zum Hohenlied Sal. einen entscheidenden Hinweis für eine Brücke zu Lk 2: „Da fand ich; das ist ein erwünschtes gnadenreiches herzerquickendes Finden des verlorenen Guts (Prv 8,35; Jes 54,11; Dtn 6,5 davon V.2 [Cant 3,2]; Ps 116,3.4.8; Ps 138,7 und Lk 2,46.“

Bachs Vertonung bietet viele typische Merkmale einer doxologischen Musik: die festliche Tonart D-Dur, Figura-corta-Elemente in beinahe allen Stimmen, die unmittelbare Wiederholung von einzelnen Motiven (Epizeuxis, vgl. besonders T. 1 f in allen Stimmen) sowie ein rasches Zeitmaß. Beide Solostimmen konzertieren weitgehend homophon (französischer Duett-Typus)120 und bringen damit die ungeteilte Freude über die wieder geschenkte Ggegenwart des Geliebten zum Ausdruck. Dies entspricht der Vorlage, die keine Aufteilung der Soli auf verschiedene Affekte wie Furcht und Hoffnung (vgl. BWV 60) oder auf verschiedene Personen wie Seele und Jesus (vgl. BWV 21 oder 49) vorsieht, was sich von Satz 4–6 her ja durchaus angeboten hätte. Die letzten beiden Verse setzt Bach durch einen Taktund Tempowechsel (3/8) deutlich vom Vorigen ab und folgt damit dem Wechsel des Versmaßes vom Trochäus (Z. 1–4) zum Daktylus (Z. 5 f), durch den der Dichter in Analogie zu Satz 6 den Perspektivwechsel von Gegenwart („nun“) und Zukunft („nun nimmermehr“) unterstreicht. Die Textbehandlung ist fast immer syllabisch, auffällig ist allerdings, dass Bach das Adjektiv „froh“ durch eine aufsteigende Koloratur hervorhebt, die er auch in vielen doxologischen Kantaten bei Verben der Freude und des Lobs verwendet.121 Der abschließende Choral mit veränderter erster Zeile122 (Mottovers der ersten Strophe)  bekräftigt die innige Gemeinschaft mit dem wieder gefundenen Heiland durch ein Vertrauensbekenntnis, das eine eschatologische Perspektive („Lebensbächlein“) entfaltet und denen Teilhabe an der Seligkeit verheißt, die miteinstimmen. Ungewöhnlich ist die fast ganz durchgehende Achtelbewegung im Bass, die den Schwung des vorigen Duetts in den Schlusschoral hinein nimmt und motivisch an die zweite Stimme des Ritornells der vorangegangenen Arie erinnert.

119 Petzoldt II, 418, verweist mit abermaliger Aufnahme des Kommentars von Olearius (III, 1112) zu Recht auf die Jabbokerzählung mit in Gen 32 mit dem Spitzensatz in V26: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Dieser Satz bildet dann auch die Brücke zum Schlusschoral. 120 Vgl. Dürr, 220 bzw. Petzoldt II, 417. 121 Vgl. oben 1.6 bzw. unten 6.0.2. 122 Das Original lautet: „Jesum laß ich nicht von mir“.

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8. Cho ral Meinen Jesum lass ich nicht geh ihm ewig an der Seiten, Christus lässt mich für und für zu dem Lebensbächlein leiten. Selig, der mit mir so spricht: Meinen Jesu lass ich nicht.

Die Metapher des Lebensbächleins, das den Glaubenden von Christus her zufließt, wird musikalisch nicht nur durch die durchgehende Achtelbewegung abgebildet, sondern in T. 8 auch durch einen sehnsüchtigen melismatischen Vorhalt ausgedrückt. c) Folgerungen für die liturgische Gestaltung Zusammenfassend können wir festhalten, dass Bach und sein Dichter – ähnlich wie in den bisher untersuchten Kompositionen – auch hier die Dialektik der Verborgenheit und Gegenwart Gottes bzw. der Trauer und Freude auf Seiten des Glaubenden kontrastieren, sie nun aber stärker als in den Kantaten zum 2.  Sonntag n. Epiph. auf die Person Jesu123 hin fokussieren. Das Verschwinden des Zwölf­ jährigen, der „mystisch“ als Freund begriffen wird, ist in der Zeit des Verlustes und des Suchens eine echte geistliche Not, vergleichbar mit der Entbehrung eines geliebten Menschen.124 Die Wende bringt nicht ein bloßes „Erinnern“ der Suchenden, sondern das unmittelbar akustische „Sich-Hören-Lassen“ des Gesuchten bzw. sein neuerliches Erscheinen (vgl. Lk 2,49), das in Satz 6 folgendermaßen auf­ genommen wird: Dies ist die Stimme meines Freundes, Gott Lob und Dank! Mein Jesus, mein getreuer Hort, lässt durch sein Wort sich wieder tröstlich hören!

Von dieser Stelle aus sollte man  – in Gottesdienst und Predigt  – den seelsorg­ lichen Grundtenor der „Erscheinung Jesu“ stark machen. Für die liturgische Inszenierung der Kantate empfiehlt sich eine Darbietung in mehreren Teilen, so dass das in Satz 5 zitierte Wort Jesu aus dem Evangelium und das anschließende Rezitativ ebenso zu ihrem Recht kommen wie die klagenden Sätze 1–3. Ob man die Kantate heute lieber am Sonntag n. Weihnachten aufführen oder aber eine allgemeine Situation zum Anlass nehmen möchte, kann hier offen bleiben. Interessant scheint es in jedem Fall, die unüberhörbaren Anspielungen auf das Hohelied Salomos auch im Gottesdienst präsent zu machen. Damit käme dieses

123 Vgl. zum Topos des verborgenen Christus auch BWV 104,3: Verbirgt mein Hirte sich zu lange, / macht mir die Wüste bange, / mein schwacher Schritt eilt dennoch fort. / Mein Mund schreit nach dir / und du, mein Hirte wirkst in mir, / ein gläubig Abba durch dein Wort. 124 Vgl. auch die Dialogkantaten Liebster Jesu, mein Verlangen (BWV 32), Ich geh und suche mit Verlangen (BWV 49) bzw. Selig ist der Mann (BWV57).

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

weisheitlich-erotische Buch, das in der Theologie- und Liedgeschichte eine wichtige Rolle gespielt hat, aber in keiner gottesdienstlichen Perikope vorkommt,125 auch einmal liturgisch zu Ehren. Satz 6 könnte unmittelbar zum Abendmahl überleiten, Satz 7 evtl. sub commu­nione musiziert werden und Satz 8 am Ende des Gottesdienstes vor dem Segen erklingen. Daraus ergäbe sich dann folgende Struktur: Alttestamentliche Lesung aus Hld 5,2–6 oder 3,1–3 – Kantate Satz 1–3 – Evangelium nach Lk 2,41–52  – Kantate Satz 4–5  – Predigt und Credo  – Satz 5–6  – Abendmahlsliturgie samt Austeilung  – Satz 7 (sub communione)  – Fürbitten  – Satz 8 – Segen.

2.2.2 Jesus schläft, was soll ich hoffen? (BWV 81) Für den selten vorkommenden vierten Sonntag n. Epiphanias,126 dessen Evangelium die Stillung des Sturmes (zu Bachs Zeit: Mt 8,23–27, heute: Mk 4,35–41) ist, komponierte Bach für den 30. Januar 1724127 eine Kantate auf folgenden Text eines unbekannten Dichters: 1. Ar ia (Al t) Jesus schläft, was soll ich hoffen? Seh ich nicht mit erblasstem Angesicht schon des Todes Abgrund offen? 2. Rezit ativ (T eno r) Herr! Warum trittest du so ferne? Warum verbirgst du dich zur Zeit der Not, da alles mir ein kläglich Ende droht? Ach, wird dein Auge nicht zu meiner Not beweget, so sonsten nie zu schlummern pfleget? Du wiesest ja mit einem Sterne vordem den neubekehrten Weisen, den rechten Weg zu reisen. Ach leite mich durch deiner Augen Licht, weil dieser Weg nichts als Gefahr verspricht. 3. Ar ia (Teno r) Die schäumenden Wellen von Belials Bächen verdoppeln die Wut.

Ein Christ soll zwar wie Wellen stehn, wenn Trübsalswinde um ihn gehn, doch suchet die stürmende Flut, die Kräfte des Glaubens zu schwächen. 4. Ar ioso (B a ss) Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? 5. Ar ia (B a ss) Schweig aufgetürmtes Meer! Verstumme, Sturm und Wind! Dir sei dein Ziel gesetzet, damit mein auserwähltes Kind kein Unfall je verletzet. 6. Rezit ativ (Al t) Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort, Mein Helfer ist erwacht, so muss der Wellen Sturm, des Unglücks Nacht und aller Kummer fort.



125 Nach der alten Leseordnung der VELKD (1985) sollte Cant 8,6b-7 am 20. Sonntag n. Trin. gelesen werden. 126 Der 4. Sonntag n. Epiph. kommt nur vor, wenn Ostern später liegt als der 13. (Schaltjahr) bzw. 14. April. 127 Vgl. Schulze, 125.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören 7. Cho ral Unter Deinen Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei. Lass den Satan wittern,

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lass den Feind erbittern, mit steht Jesus bei. Ob es hie gleich kracht und blitzt. ob gleich Sünd und Hölle schrecken. Jesus will mich decken.

a) Aufbau und Dramaturgie Versuchen wir den Aufbau und die Dramaturgie dieser Kantate, die sich unmittelbar auf das Sonntagsevangelium aus Mt 8 von der Stillung des Seesturmes bezieht, zu skizzieren und ihre Besonderheit im Kontrast zu BWV 154 herauszu­ arbeiten.128 Konrad Küster schreibt dazu: „Als ein weiteres geistliches Drama legte Bachs Librettist den Text dieser Kantate an […]. Die Rollenverteilung ist ähnlich wie in Kantate 154: Bach eröffnet sie mit einer Altarie, als deren Grundduktus er mit typischer Seufzermotivik eine ausweglose Situation schildert; als eine Steigerung des Textausdrucks erscheint das Rezitativ ‚Herr, warum trittest du so ferne?‘, vor allem aber die Arie ‚Die schäumenden Wellen von Belials Bächen‘ (beide für Tenor). Diesmal beschränkt Bach die Rolle der Stimme Jesu nicht nur auf ein BibelwortArioso (‚Ihr Kleingläubigen …‘), sondern schließt die Arie ‚Schweig, aufgetürmtes Meer‘ an […]. Die abschließende Betrachtung fällt sehr viel kürzer aus: mit einem knappen Alt­ rezitativ „Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort’ und der Choralstrophe ‚Unter deinen Schirmen‘.“ (Jesu meine Freude).“

Alfred Dürr äußert sich, die theologische Gesamtthese dieser Arbeit und ihre hemeneutischen Implikationen vorwegnehmend, wie folgt: „Der unbekannte Textdichter schließt sich eng an das Evangelium an und gewinnt seinen Stoff (ähnlich wie die Dichter der Kantaten zum 1.  Sonntag nach Epiphanias) aus dem Kontrast: verborgener (schlafender) Jesus  – offenbarer (handelnd eingreifender) Jesus. Auch diesmal wird der biblische Bericht sofort auf die gegenwärtige Lage des Christen umgedeutet. [Hvh. JA…] Bachs Komposition ist von bemerkenswerter Dramatik; sie steht den Dialogkompositionen zwischen der Seele und Jesus nahe.“129

128 Vgl. dazu Calov-Bibel III, 95 mit folgendem Eintrag zu Mt 8,25: „Wer sollte in solcher Not und tödlicher Gefahr nicht erblassen? Aber der Glaube / wie schwach er auch ist / hält er doch / wie eine Maur / und legt sich wie der kleine David wider Goliath / das ist die Sünde / Tod und alle Gefahr / sonderlich streitet er ritterlich / wenns ein starker / und vollkommener Glaube ist.“ Zu 26c lesen wir: „Hier wird uns Christi Person beschrieben. Erstlich sagt der Text  /  Christus habe im Schiff geschlafen/  mit solchem Schlaf hat der Herr sich als einen rechten natürlichen Menschen erwiesen. Dass er aber das Meer und Wind bedräuet / und das Meer und Wind ihm gehorsam ist / das beweiset seine Allmächtige Gottheit / dass er ein Herr sei / über Wind und Meer / denn er mit einem Wort hat können das Meer stillen / und schaffen / dass sich der Wind leget / solches ist nicht eines Menschen Werk/ es gehöret eine göttliche Kraft dazu / der Ungestümheit des Meers mit einem Wort zu wehren.“ Zu V27 schreibt der Verfasser: „Aber jetzt lernen sie erkennen / dass er der höchste und beste Nothelfer sei / da sonst kein Mensch helfen kann. […] Dass aber die Leute sich verwundern und preisen den Herrn / dass ihm Wind und Meer untertan ist / das be­deutet / dass durch die Verfolgung das Evangelium nur weiterkommt / stärker wird / und der Glaube zunimmt / welches auch eine widersinnige Art […] Christi Reich nimmt durch Trübsal zu und nimmt ab durch Friede und Gemach / wie St. Paulus sagt 2 Kor 12: Meine Kraft wird durch Schwachheit stärker.“ 129 Dürr, 251 f.

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Im Blick auf die Gesamtanlage der Kantate sind sich die Ausleger einig, dass die ariose Vertonung des Bibelworts (Satz 4) gleichsam die Symmetrieachse der beiden Teile bildet. Fraglich ist jedoch, wie die einzelnen Teile und Sätze einander gegenüber gestellt werden. Dürr meint: „Das Leben ohne Jesus (Satz 1 bis 3) steht dem Leben mit Jesus (Satz 5 bis 7) gegenüber.“130 Dem widerspricht Petzoldt energisch: „Nicht ‚das Leben ohne Jesus … steht dem Leben mit Jesus … gegenüber‘, sondern der Glaube steht mit dem Kleinglauben, der sich in der Gefahr des Verfallens in Unglauben befindet, im Streit um die Wirklichkeit der Welt“131. Uns scheint es von Bedeutung, dass (mit Dürr) verborgener und offenbarer Jesus in beiden Teilen einander gegenüber stehen, wobei im Unterschied zu BWV 154 der schlafende Jesus nicht abwesend oder „verloren“ ist, sondern sich trotz seiner Anwesenheit in beängstigender Weise „untätig“ zeigt.132 b) Beobachtungen zu den einzelnen Sätzen In der einleitenden Altarie fällt poetisch das zum Seufzen neigende133 trochäische Versmaß und der Kurzvers in der zweiten Zeile („seh ich nicht“) auf, der nur zwei statt vier Hebungen aufweist. Damit ist rhetorisch eine Pause mitkomponiert, die man als ein erschrockenes Innehalten oder Stocken deuten kann. Die Achtelfiguren in den Streichern, Blockflöten sowie im Continuo lassen sich im weitesten Sinne als Seufzermotive134 auffassen. Charakteristisch ist z. B. T. 1 oder T. 10 f mit der rhythmischen Struktur einer Achtelpause (Suspiratio) und drei folgenden Achteln unter einem Legatobogen (meist in Sekundschritten). Die Suspiratio finden wir auch zu Beginn des ersten Einsatzes der Singstimme, zudem mit einer ausdrucksstarken Syncopatio auf „Jesus“. Hinzu kommen pochende, teilweise chromatisch fortschreitende Orgelpunkte im Continuo (T. 10; 38) und immer wieder eindrückliche Generalpausen (Abruptiones), so etwa in T. 15 am Ende der Frage „Was soll ich hoffen?“, womit der A-Teil plötzlich endigt. Damit ist der Seelenzustand eines geängsteten und angefochtenen Menschen, „gleichsam Äußerung eines der Jünger“135, beschrieben, dessen Fragen immer wieder förmlich ins Leere laufen. Küster bemerkt scharfsinnig, dass Vers 1 (Jesus schläft, was soll ich hoffen?) nie  – auch nicht am Ende!  – mit einer Kadenz abgeschlossen wird,136 die

130 Dürr, 253. 131 Petzoldt II, 507 mit Hinweis auf Ebeling, Glaube und Unglaube I, 393–406. Für diese Kantate wählt Petzoldt a. a. O. besonders treffende Überschriften über die einzelnen Sätze: Satz 1: Jesus schläft entspricht Satz 7: Jesus steht mir bei; Satz 2 Jesus schweigt trotz der Not entspricht Satz 6: Jesus hilft durch sein Wort; Satz 3: Stürme schwächen den Glauben entspricht Satz 5: Stürme schweigen auf sein Wort. 132 Vgl. Petzoldt II, 507: „Die persönliche Anwesenheit Jesu ersetzt nicht den Glauben an seine Herrschaft inmitten der Welt.“ 133 Vgl. etwa „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12,2) oder „Seufzer, Tränen, Kummer, Not“ (BWV 21,3), bzw. „Meine Seufzer, meine Tränen“ (BWV 13,1) und „Ächzen und erbärmlich Weinen“ (BWV 13,4). 134 Vgl. Küster 227. 135 Vgl. Petzoldt II, 508. 136 Küster, 227.

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brennende Frage nach Rettung also daher auch harmonisch offen bleibt. Bach stellt uns einen Menschen in See- und Seelennot vor Augen, der ganz von Furcht bestimmt ist: Besonders eindrücklich ist das Abbrechen des Streichersatzes bei: „Seh ich nicht“ (T. 15). Gegenstand der Furcht ist der Tod als ein Abgrund, der sich mächtig auftut, was mehrfach durch Tieftöne auf Abgrund in der Singstimme (T. 18 und 22) und fallende Linien in den Oberstimmen sowie im Continuo (T. 20 f und T. 25 f) illustriert wird.137 Die übermäßige Sekunde zwischen Vl. 1 und Vl. 2 beim Wort Tod, etliche Querstände (z. B. T. 30) und zahlreiche Dissonanzen (z. B. T. 27 f) verstärken die Bedrohlichkeit. Der schlafende Jesus138 wird durch lange Orgelpunkte (T. 10–12; 38–40)139 eingeführt. Im folgenden Rezitativ verändert sich dann die Haltung des Betenden, seine Beteiligung intensiviert sich: Jesus wird direkt als Du angesprochen und klagend (vgl. Ps 10,1; 13,2; 22,2), ja herausfordernd angerufen: „Ach, wird dein Auge nicht durch meine Not beweget?“140 Harmonisch finden wir auf den betonten Silben der zentralen Klagevokabeln fast immer den spannungsreichen verminderten Sept­ akkord (ferne – Not – kläglich – Ende – Gefahr). Poetisch aufregend ist die Assoziation, die der umfassende Reim von Z1 ferne zu Z6 Sterne nahe legt: Der schlafende Jesus ist seinen Jüngern so fern wie ein Stern im Weltall. Die Ferne Jesu ist melodisch durch den ungewöhnlichen Sprung einer kleinen None (T. 1 f)  ausgedrückt. Die Sternmetaphorik (vgl. Num 24,17)141 wird dann ganz im Sinne des Epiphaniasevangeliums aus Mt 2 „geistlich eingeholt“, das gleichsam die Brücke einer Anamnesis zurück in die biblische Tradition bildet: So wie Gott die Weisen aus dem Morgenland geführt hat, so möge Christus nun auch uns in unserer „Not“ (V2; 4) und „Gefahr“ (V10) leiten. Das Verb „leiten“ wird nicht nur durch das einzige Melisma des Satzes geschmückt, die fallende Sechzehntel-Skala (Katabasis) illustriert auch Gottes gnädiges Herabbeugen oder Herabkommen (in Christus). Die Katabasis aus der vorangegangenen Arie – sie bildete das Fallen in den tödlichen Abgrund ab – wird nun also zum positiven Ausdrucksmittel einer bedrängten Bitte. Vielleicht mag man sie ja als eine vorweg genommene Erhörung verstehen, die an Ps 32,8 erinnert: Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst, ich will dich mit meinen Augen leiten.142 Aber auch Ps 43,3 könnte mitschwingen: Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten zu deiner Wohnung.

137 Petzoldt II, 508, entdeckt hier einen Hinweis auf Jes 5,14; denkbar wäre auch eine Anspielung auf Ps 88,4–7. 138 Das Schlafen wird in der zeitgenössischen Auslegung als Hinweis auf das wahre Menschsein Jesu verstanden, vgl. Olearius V, 74 zu V27. 139 Vgl. dazu im Weihnachtsoratorium, BWV 248, II die Altarie „Schlafe, mein Liebster“ bzw. „Sanfte soll mein Todeskummer“ im Osteroratorium, BWV 249. 140 Der ersten Ach-Frage (Klage) steht in Teil II des Rezitativs eine konkrete Bitte („Ach, leite mich“) gegenüber. Dies entspricht der Form der Klagepsalmen (vgl. Ps 13,2 bzw. Ps 13,4). 141 Vgl. dazu Olearius I,545, zitiert bei Petzoldt II, 509 mit Hinweis auf Joh 1 (Prolog), Lk 2,32 (Simeon) u. a. 142 Diese Anspielung scheint mir näher zu liegen als Ex 33,13 (vgl. Dürr, 252).

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Der musikalische Höhepunkt des ersten Teils ist mit Satz 3, einer als variiertes Da capo durchkomponierten Tenorarie, erreicht. Mit ihrer hochvirtuosen 1. Violine ist sie ein frühes Beispiel für eine tonmalerische Gestaltung eines Sturmes,143 die nicht nur akustisch als „Ohrenmusik“, sondern auch schon beim Lesen des Notentextes als „Augenmusik“144 wirkt. Bach erreicht dies durch linear sequenzierende Zweiunddreißigstel-Koloraturen, aber auch durch hämmernde Sechzehntel-Dreiklangsbrechungen (besonders in der Singstimme)  und durch pochende Orgelpunkte (Streicher). Der ganze Satz ist vom Continuopart aus „konstruiert“. In der Mitte schlägt das Versmaß von Daktylen in Jamben um,145 was Bach kongenial durch mehrere Tempowechsel in T. 47; 51 und 55 f unterstreicht, bei denen jeweils ein kurzes Accompagnato-Rezitativ einsetzt. Dies verifiziert unsere Be­obachtung, dass Bach sprachliche und theologische Umschwünge im Libretto musikalisch verstärkt.146 Die geniale Ausformung dieser Stelle besteht in der musikalischen „Inszenierung“ einer spirituellen Erfahrung: Wenn man im Adagio gerade für einen Takt durchgeatmet hat, also zum „Stehen“ gekommen ist147, bricht auf dem ausgehaltenen Ton in der Singstimme der Sturm in den Instrumenten (Allegro) schon wieder los (vgl. T. 48–50 und 52–54),148 ja mehr noch: „Nach der Rückkehr zum A-Teil erscheint die Textintensität sogar verstärkt, weil Bach die Vokalstimme noch atemloser zum Einsatz bringt als am Anfang.“149 Bach übergeht dabei die konventionelle Dacapo-Form, indem er schon im textlich noch zu Teil  B gehörenden Vers 5 die Musik des A-Teils wieder „losstürmen“ lässt. Aus­löser dafür ist die Rede von der „stürmenden Flut“, die poetisch durch das dakty­lische Versmaß mit Teil A korrespondiert. Bach zeigt darin seinen freien, ja schlicht meisterlichen Umgang mit einer musikalischen Form, die hier im Dienste der poetischen Vorlage bzw. der musikalischen Gesamtaussage der Kantate steht und eben nicht formalistisch behandelt wird. Das folgende Arioso ist „ein sprechender Satz von großer Eindringlichkeit“150, in dem die vox Christi zum ersten Mal hörbar wird. Hier ist der dramaturgische

143 Vgl. später L.v. Beethovens Pastorale, op. 68, 4. Satz, oder seine Klaviersonate „Der Sturm“, op. 31,2. 144 Vgl. dazu Meyer, 72 u. ö. 145 Vgl. Küster, 227. 146 Vgl. dazu oben 1.8. 147 Dürr, 253, weist zu Recht darauf hin, dass der Ausdruck, ein „Christ“ möge „wie Wellen stehen“ einigermaßen befremdlich ist, sie steht aber quellenkritisch außer Frage. Schulze, 126, ermutigt an dieser Stelle dazu, dennoch eine „Konjektur“ vorzunehmen und „Wellen“ z. B. durch „Berge“ o.ä. zu ersetzen. 148 Petzoldt II, 510 hebt im Blick auf die Herkunft der Wellen stark auf den widergöttlichen (vgl. „Belial“) Ursprung ab: „Wut, Schrecken, Bosheit und Vernichtungswille natürlicher Kräfte werden als Ausdruck teuflischer Attacken gegen Glauben und Glaubensgewißheit des Menschen benutzt und eingeordnet.“ 149 Petzoldt II, 511. Vgl. dazu exemplarisch die Behandlung des Verbs „verdoppeln“: Die in T. 29 f als doppelte Gradatio angelegte Koloratur finden wir in T. 94–96 zu Beginn um einen (von hoben herabstürzenden) Takt erweitert. Von Teil A1 zu Teil A2 ist also eine Steigerung zu beobachten. 150 Dürr, 253. In Besetzung (Bass-Solo mit Continuo) und Form (Fugato), ja selbst in der Tonart (fis-moll bzw. h-moll) erinnert er stark an den oben betrachteten Satz BWV 154,5. In beiden Fäl-

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und theologische Zenit der Kantate erreicht. Bach nimmt mit der Seufzerfigur auf dem zentralen Adjektiv „furchtsam“ den Affekt des Kopfsatzes andeutungsweise wieder auf. Die Eindringlichkeit besteht aber besonders in der unnach­ giebigen Frage „Warum?“, die der erwachte Jesus den Jüngern entgegenhält. Damit steht das „Warum“ Jesu dem „Warum trittest du so ferne?“ der Angefochtenen aus Satz 2 gegenüber. Dass hier jeder einzelne der Jünger persönlich angeredet ist, können wir an der Zwölfzahl der Warum-Fragen erkennen.151 Welche theologische Bedeutung hat diese Frage Jesu? Ist sie eine aufrüttelnde Kritik an den Kleingläubigen oder eine Einladung zum Vertrauen? Die musikalische Form des Fugato152 lässt (vgl. BWV 154,5) beide Möglichkeiten zu, die Anfrage des Gesetzes oder die Einladung des Evangeliums zur Nachfolge. Angesichts der folgenden drei Sätze scheint die erste Deutung sehr unwahrscheinlich. Es müsste sich dann ein Sündenbekenntnis oder Bekenntnis des Unglaubens anschließen. Von daher ist Petzoldts Interpretation sicherlich zutreffend, wenn er schreibt: „Das Jesuswort bleibt also nicht bei der Kritik der Jünger stehen, sondern erinnert sie an die aufrichtende und bewegende Macht des Gottglaubens gegen die einengende und abschnürende Kraft des Kleinglaubens.“153 Die folgende Bassarie (Satz 5) korreliert (symmetrisch) mit der Arie des Tenors (Satz 3) als Sturmarie, sie ist eine Herrschaftsausrufung des Schöpfungsmittlers Christus über das Chaoswasser des aufgescheuchten Meers und (damit) zugleich ein Trost für die angefochtenen Seelen. Die Imperative „schweig“154 und „verstumme“ sind unmittelbar aus dem Evangelium, allerdings aus der Variante des Markus (Mk 4,39) entnommen. Musikalisch ist fast alles aus einer eintaktigen, über eine Oktave aufsteigenden Sechzehntel-Figur entwickelt, die zunächst unisono erklingt (T. 1) und dann zunehmend aufgefächert wird. Sie bildet das Auf­türmen von Wellen ab, wie mit dem Einsatz der Singstimme deutlich wird, wo dieses Material mit den Vokabeln „aufgetürmt[es Meer]“ bzw. „Sturm“ textiert ist. Hier lässt sich unschwer wahrnehmen: Diese aufstrebende Figur ist zugleich Augen- wie Ohrenmusik, sie illustriert heranrollende Wellenberge sowohl akustisch wie optisch im Notenbild. In T. 23 f und 41 f bricht der Orchestersatz im Anschluss an das vollmächtige „verstumme“ ganz ab, um die unmittelbare Wirkung abzubilden, beim ersten Mal nur einen halben Takt, dann einen ganzen Takt. Der B-Teil der Arie bringt einen neuen Tonfall, die Anrede an den Sturm len handelt es sich zudem um die vox Christi, die unmittelbar aus dem Evangelium zitiert ist und als Frage formuliert wird. 151 Vgl. Petzoldt II, 511. Petzoldt diskutiert dann auch die Bedeutung der Frage Jesu bzw. die Unterschiede der Matthäus- und Markusfassung: Bei Mt folgt die Stillung des Sturms auf die Frage (vgl. Kantate), bei Markus verhält es sich umgekehrt. 152 Vgl. Dürr, 253 spricht davon, dass hier durch „gleichartiges Themenmaterial […] fast eine zweistimmige Fuge – oder auch eine Invention“ entsteht. Die Rede von einem Fugato schiene mir treffender. 153 Petzoldt II, 512. 154 Vgl. Simpfendörfer, 53, der auf Bachs permanente emphatische Verdopplung des Imperativs „schweig“ hinweist. Die dadurch geschaffene sprachliche Epizeuxis wird nicht unmittelbar musikalisch umgesetzt, jedoch wird die ganze Zeile in der Singstimme wenige Takte später wiederholt (vgl. T. 10 und 13 bzw. T. 28 und 31).

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wird zwar weitergeführt, freilich unter gleichsam seelsorglichen Vorzeichen, musikalisch verkörpert durch die fallenden Legato-Sechzehntel in den Liebesoboen, die von Anfang an schon präsent waren (vgl. T. 53 ff bzw. T. 2). Jesus gebietet dem Sturm nicht aus reiner Machtdemonstration, sondern damit seinem „auserwählten Kind“155 kein Schaden entsteht, „kein Unfall“ es verletzet. Das opus proprium des offenbaren Christus156 ist barmherziges Retten, nicht zorniges Richten oder gar eitle Selbstdarstellung. Auf diese unmittelbare Gottes- und Christuserfahrung respondiert dann das folgende kurze Rezitativ, das wie Satz 1 vom Alt vorgetragen wird, nun aber gleichsam als Antithese zum Kopfsatz im subjektiv aneignenden Ich des Glaubens redet. Sprachlich werden die Zentralbegriffe der Arien (Sturm, vgl. Satz 5 und Wellen, Satz 3) zu einer Genitivverbindung zusammen gezogen. Sachlich korrespondiert dieses Rezitativ stark mit Satz 2. An die Stelle des seufzenden „Ach“ ist ein freudiges „Wohl mir“ getreten, die Angst ist durch das Vollmachtswort vertrieben worden, die Nacht des Unglücks und des Kummers gewichen. An die Stelle des Affektes der Furcht ist Hoffnung getreten, um deren Verlust Satz 1 geklagt hatte. Der Schlusschoral, die zweite Strophe aus Johann Francks Jesu meine Freude (gleiche Tonart wie BWV 227, aber nicht der identische Satz) nimmt diese Gewissheit auf und bringt mit seinem Abgesang („ob es hie gleich kracht und blitzt“) das Gewitter auf dem See bzw. die Bedrohung durch die bösen Mächte („ob gleich Sünd und Hölle schrecken“) noch einmal in Erinnerung. Petzoldt weist allerdings auch auf eine nicht unbedeutende Nuance hin: Während die Erzählung von der Sturmstillung ein klares Vorher und Nachher von Gefahr und Rettung benennt, akzentuiert der Choral die Gleichzeitigkeit von feindlicher Bedrohung und Beistand Christi.157 Fassen wir zusammen: Im Gegensatz zu BWV 154 behandelt BWV 81 kein wirkliches Verlieren der Person Jesu, sondern seinen rätselhaften Schlaf angesichts des Sturmes, ein Sujet, das sich ohne Probleme theologisch deuten lässt: Die Verborgenheit Christi ist als eine spezifische Art körperlicher Anwesenheit, verbunden mit seinem Nicht-Eingreifen trotz bedrängender menschlicher Not, beschrieben, die sich mit unserer geistlichen Erfahrung vielfach deckt. Stärker als

155 Bei diesem Stichwort wird das gleiche Material, wie beim aufgetürmten Meer verwendet. (Vgl. auch Petzoldt II, 512). Dieser Sachverhalt ist schwer zu deuten. Sollte dies ein Hinweis darauf sein, dass Erwählung ebenso der Vollmacht und Souveränität Gottes entspringt wie das Walten in der Natur? Immerhin ist dies die Pointe zahlreicher Hymnen im Psalter, wo Geschichtswalten und Schöpfungshandeln Gottes zuweilen in einem Parallelismus zusammen formuliert sind, vgl. Ps 65,8: Der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker. 156 FC V, Epitome, BSLK 790–792. 157 Vgl. Petzoldt II, 513–515 mit ausführlicher Aufnahme des Olearius-Kommentars zu Mt 28,20. Er gelangt dann zu folgendem Fazit (a. a. O., 515): „Die Assoziation des Jesusnamens […] mit dem aus dem Alten Testament gewonnen Titel des Helfers […] führt noch am Schluß zu einem starken christologischen Akzent, der das Menschsein Jesu mit seiner Göttlichkeit verbindet. Er, der müde ist und schläft, der mit unserer Schwachheit mitleiden kann, ist dennoch der starke ‚Gott mit uns‘, der seine Allmacht und seine Beistandszusage wahrmacht.“

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bisher kommt der Affekt der Furcht im Gegensatz zur Hoffnung in den Blick. Die Wende bringt ein Jesuszitat aus dem Evangelium, das rein semantisch zwar keinen unmittelbaren Trost enthält, aber im Zusammenspiel mit der darauf folgenden Arie als ein machtvolles und dadurch auch Vertrauen weckendes Eingreifen Jesu im Glauben (Satz 6/7) angenommen wird. c) Folgerungen für eine gottesdienstliche Aufführung BWV 81 kann ohne Probleme am (selten vorkommenden) 4. Sonntag n. Epiph. aufgeführt werden. Aufgrund der konzeptionellen Unterschiede zwischen Markus und Matthäus (Reihenfolge von Sturmstillung und Frage nach dem Glauben) empfiehlt es sich, im Zusammenhang einer Aufführung von BWV 81 tatsächlich auch den Matthäustext zu nehmen, an den die Dramaturgie der Kantate angelehnt ist. Der in der neuen Perikopenordnung des Ev. Gottesdienstbuches vorgesehene Text aus Mk 4 wäre sonst zumindest einer Erklärung bedürftig. Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass eine Zäsur vor dem Bibelzitat aus Mt 8,27 (Satz 4) mit der zwar anfragenden, dann aber tröstend verstandenen vox Christi nahe liegt. Mit Psalm 69 (z. B. V2–4 und V15–18) könnte vor der Kantate oder in deren Mitte ein Klagepsalm herangezogen werden, der die Metaphorik bedrohender Wasser vorbereitet bzw. der Gemeinde unmittelbar zugänglich macht (und in den Mund legt). Denkbar ist dazu auch die Aufnahme eines neuen Psalmliedes von Eugen Eckert, das auf die Melodie Wer nur den lieben Gott lässt walten (Bachsatz) gesungen werden kann. Str. 1–2 und 4 lauten so: Hilf mir, mein Gott! Denn Leib und Seele vergehen schier vor Todesangst. Mir reicht das Wasser bis zur Kehle – du, der du Sturm und Meer bezwangst, hilf jetzt auch mir, die Not ist groß: Komm, halt mich fest, und lass nicht los.

Sieh, wie die Wellen tosend wühlen, der Boden wankt, es schwankt der Grund. Sieh, wie mich Gischt und Flut umspülen, und hör den Schrei aus meinem Mund: Zum Halse mir die Wasser stehn, lass mich, mein Gott, nicht untergehn.

Du hast die Macht, mich zu erhalten, und hast dies wie oft schon getan. Dein Wort allein zähmt die Gewalten Gott, schweige nicht. Gott, sieh mich an: mein Hals ist heiser, müde, wund, sprichst du ein Wort, werd ich gesund.158

Daraus ergeben sich folgende Optionen für die Gestaltung des Verkündigungsteils: a) Evangelium I (Mt 8,23–25) – Kantate Satz 1–3 – Predigt I – Lied oder Chorstück „Hilf mir mein Gott“ zu Ps 69 (Text von Eckert auf Bachsatz Wer nur den lieben Gott lässt walten, 4/4-Takt) – Evangelium II (Mt 8,26 f) – Kantate Satz 4–5 – Predigt II – Satz 6 und 7 – Credo b) Evangelium Mt 8,23–25 – Kantate Satz 1–3 – Predigt mit Satz 4159 – Kantate Satz 5–7 – Credo

158 Vgl. die im Michaeliskloster Hildesheim verlegte CD „HALLO LUTHER“. 159 Dabei wird auf eine gelesene Vollendung der Perikope verzichtet.

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

2.3 „Über ein Kleines“ – die Kantaten zum Sonntag Jubilate Kaum ein Sonntag im Kirchenjahr wird stärker durch die Dialektik der Affekte Trauer und Freude und die Thematik des sich verbergenden und wieder erscheinenden Gottes bestimmt als der Sonntag Jubilate. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, hört sich das Motto Jauchzet oder Jubelt doch nach ungebrochener (österlicher) Freude an. Bedenkt man freilich, dass die nachösterlichen Sonntage lange das „heilsgeschichtliche Interim“ zwischen Ostern und Pfingsten abbildeten, ist dies nicht verwunderlich: Der auferstandene Herr ist nicht mehr leiblich unter den Seinen, und der Heiligen Geist noch nicht gegenwärtig. In den drei Kantaten zum Sonntag Jubilate wird daher zunächst die christliche Grunderfahrung der Trauer und Sorge beleuchtet, die sich dann auf Freude und Hoffnung hin lichtet. Trauer und Leid spiegeln sich sogar schon in ihren Titeln wider: Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen (BWV 12); Ihr werdet weinen und heulen (BWV 103) und Wir müssen durch viel Trübsal (BWV 146). Theologisch wird auch hier die Erfahrung der zeitweiligen Verborgenheit und neuerlichen Offenbarung Gottes bzw. Christi thematisiert, wie sie exemplarisch in der Alt-Arie BWV 103,3 formuliert ist: Seele: Verbirgst du dich, so muss ich sterben. Erbarme dich, ach! Höre doch!

Im abschließenden Schlusschoral (Satz 6) wird diese Erfahrung in Aufnahme von Jes 54,7 aus der Sicht Gottes dann rückblickend gedeutet: Ich hab dich einen Augenblick, o liebes Kind, verlassen. Sieh, aber sieh mit großem Glück und Trost ohn alle Maßen will ich dir schon die Freudenkron aufsetzen und verehren; dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren.

Biblischer Anknüpfungspunkt war zur Zeit Bachs das Evangelium aus Joh 16, 16–23, das den Kopfsatz von BWV 103 explizit (Joh 16,20), die anderen Kantaten implizit prägt. Die bei Johannes vorösterlich komponierten Abschiedsreden Jesu werden am Sonntag Jubilate in den Kontext des Osterfestkreises gestellt und gleichsam nachösterlich  – oder besser: „vorpfingstlich“ und deshalb mit klagendem Affekt – neu kontextualisiert. Die frühe Weimarer Kantate BWV 12 und die in Leipzig entstandene BWV 146160 sind expressis verbis durch die Epistel aus Act 14 bestimmt, was vielfach auch eine eschatologische Ausrichtung zur Folge hat: Hier erfahren wir Leid und Trübsal, dort Freude und Herrlichkeit, hier Kreuz, dort Krone, hier Regen, dort Segen.

160 Küster, 339 f favorisiert offenbar das Jahr 1728 für die Uraufführung, Dürr, 357 geht davon aus, dass das Werk wohl nicht später entstanden bzw. uraufgeführt worden sein dürfte.

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Werfen wir zunächst einen Blick auf die bibeltheologische Auslegungstradition der Bachzeit und profilieren wir auf diese Weise auch das Proprium des Sonntags Jubilate:

2.3.0 Zeitgenössische Bibelauslegung Heinrich Müller exponiert das Thema des Sonntags in seiner Schluß-Kette als „versüsseten Creutz-Kelch der Jünger Christi“ und stellt seinen Betrachtungen folgendes Eingangsgebet voran, das auf Johann Francks Jesu meine Freude (EG 396) anspielt: „JESU bleib in allem Leide / meines Herzens süße Freude! AMEN.“161

Er entwirft dann folgende kreuzestheologische Exposition: „Das Kreuz der Christen ist ein bitter Wasser, der Trost Gottes ein Süßholz darinnen. Simson fand Honig im Löwen. [Ri 14,3] Was ist schrecklicher als ein Löwe? Was ­süsser als Honig? Das Kreuz ist schrecklich dem Fleisch, der Geist aber versüßt [es] mit himmlischem Trost. […] Wir wollen den versüßeten Kreuz=Kelch der Jünger Christi beschauen.“

Dann wird das Thema mit Anspielung auf Jes 54,7 und viele Klagepsalmen (Psalm 13; 69 u. a.) entfaltet: „Er verbirgt [Hvh. JA] sich, aber nur eine kleine Zeit. Ein kleines ists, dass ihr mich nicht sehen werdet. Jenes betrübt, dieses erfreuet. Gleich als wenn eine Mutter ihrem kranken Kindlein, da es großen Jammer umtreibt, also zuspricht: Gib dich zufrieden, liebstes Kind, es wird nun nicht lang mehr währen, bald, bald wird’s besser werden. Also menget Christus Zucker und Honig in unsere Traurigkeit“ […] es soll nicht eine ewige Verlassung, sondern eine kurze Verbergung sein, und bald besser werden […]. Wie die Weltfreude ihren Wermut, so führt die göttliche Traurigkeit ihren Honig bei sich. […] Am höchsten betrübt uns das, dass unser Leiden solang währt, und Christus sein Angesicht so lang verbirgt [Hvh. JA], da klagen wir mit David: Ach Herr, wie lange?162 Wie lange willst du mein so gar vergessen? (Ps 13,2.3 folgt Ps 77,8–10); und mit Christo: Ich hab mich müd geschrieen, mein Hals ist heiser, das Gesicht vergeht mir, dass ich so lang muss harren auf meinen Gott (Ps 69,4). […] Ein Augenblick währt sein Zorn. Er verlässt nur einen kleinen Augenblick, die Trübsal der Gerechten ist zeitlich, und muss sehr geschwind vorüber gehen.“163

Olearius beschreibt in seiner Auslegung zu Joh 16,20 die Dialektik der Affekte Trauer, Schmerz und Furcht auf der einen und Freude auf der anderen Seite vor allem in ihrer geistigen und geistlichen Dimension. Trost und Erquickung, Rettung und Seligkeit werden als göttliche Gegenbewegung ins Spiel gebracht.



161 Müller, Schluß-Kette, 373 f. Text modernisiert (JA). 162 Dieser Aspekt einer christologischen absconsio ist exakt auf der Linie unseres methodischen Ansatzes. Zum Zusammenspiel von David und Christus im Klagelied vgl. auch EG 381. 163 Müller, a. a. O., 375–377.

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„I Tristitia est spirituum ad sua principia a re nobis non conveniente, sive ob malum praesens, retractio. [Übers. JA: Traurigkeit ist ein Rückzug der Gedanken zu ihren Ursprüngen von einer uns nicht angenehmen Sache oder wegen eines gegenwärtigen Übels.] II. Dolor laetitiae hostis ex sensu mali praesentis animum turbat. [=Der Schmerz, ein Feind der Freude, verstört die Seele durch das Empfinden des gegenwärtigen Übels.] Traurig was Trauern sei ohne Trost (1 Thess 4,13.18; Sir 30,22) und von der betrübten Seele (Mt 26,37) und von der Angst (Ps 4). Wir finden hier den tröstlichen Gegensatz: 1. Das Gegenwärtige, was wir haben, heißt Traurigkeit. 2. Das Zukünftige, darauf wir hoffen, heißt Sehen und Freuen (Gen 46,30; Ps 122,1; Apk 12,2). Denn Traurigkeit, da zugleich Furcht, Trauern und Schmerzen wie bei einer Gebärerin beisammen ist (Joh 16,21), ist eine Herzenswunde, wenn das Herz gleichsam verwundet ist, zerteilt und geschieden wird von dem zuvor gehabten Gut und dessen Freude (Ps 73) quia Amor est affectus unitivus […].“164 „Darum muss man die ganze Kette ansehen und zugleich merken: I. Des Kreuzes Beschwerung, da gar nichts zu sehen [ist] als (1) das Vergessen (Ps 13,2; 77,9 f), (2) das Heulen und Weinen (Ps 126), über dem Verlust der vorigen Freude und Herzens-Vergnügung. II. Die beschwerliche Vermehrung solches Elends aus der Weltfreude, da ist keine Hilfe (Ps 3), welche uns die leidigen Tröster wie Hiob (Hi 16,2) gänzlich absagen und unmöglich machen. Und da ist’s alsdann hohe Zeit, dass wir unsere Augen wenden auf Gott und III. Die fröhliche Verkehrung in Freude erblicken Kraft seiner Verheißung geistlich, durch Trost und Erquickung, zeitlich, durch Errettung (Ps 91) und ewig durch selige Ver­ gnügung (1 Kor 15; Apk 22; Gen 46,30), vom Trost (1 Thess 4,18; Jes 40,1). Doch eure Traurigkeit soll in Freude (Ps 122,1; Mt 26,49) verkehrt werden.“165

Aus der Perspektive heutiger Exegese fällt auf, dass die vorwiegend alttestament­ lichen Texte in ihrem Affektreichtum und in ihrer theologischen Substanz sehr gut erfasst sind. Die Notsituation des Hiob scheint das Paradigma zu sein, dem dann Trost und Erquickung, zeitliche Rettung und ewige (vgl. 1 Kor 15) Seligkeit gegenüber treten und eine Wende bewirken. Eher befremden mag uns, dass – bei Müller stärker als bei Olearius – das Kreuz Christi gleichsam als allgemeingültige Deutungskategorie über jeder Leiderfahrung zu stehen scheint.



164 Olearius V, 757. Diese Differenzierung der Affekte auf Gegenwart und Zukunft hin lässt vermuten, dass Olearius Luthers zweite Psalmenvorrede von 1528 kannte, sich aber zugleich auch von ihr distanziert. Bei Luther sind Traurigkeit und Freude (Affekte der Gegenwart) Angst und Hoffnung (Affekte der Zukunft) gegenüber gestellt, während Olearius auf dem Hintergrund von Ps 126 die Trauer in der Gegenwart und die Freude in der Zukunft einordnet. 165 Olearius V, 757 f. Gemeint ist allerdings wohl Ps 126,1, nicht Ps 122,1. Im Anschluss führt Olearius die Affektbeschreibung mit dem Bild einer gebärenden Frau weiter (vgl. Joh 16,21), die Traurigkeit und Schmerzen, ja sogar Angst hat, bis Hilfe kommt. Dann aber, „wenn’s der Allerhöchste frisch und gesund zur Welt bringt, ohne allen Mangel und Gebrechen (Ps 139) denkt sie (2 Tim 2,8) nicht mehr der Angst (Act 14,22; Joh 16,33) um der Freude willen“ (a. a. O., 758).

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2.3.1 Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen (BWV 12) Die Kantate Weinen, Klagen (BWV 12) entstand bereits 1714 auf einen Text, der zwar an Salomon Franck erinnert,166 ihm aber nicht sicher zugeschrieben werden kann. Sie wurde am 22. April in der Weimarer Schlosskapelle erstmals aufgeführt. Rezeptionsgeschichtlich hat sie durch die Wiederverwendung der Chaconne (Satz 2) im Crucifixus der H-moll-Messe und durch das gleichnamige Orgelwerk von Franz Liszt große Wirkung erzielt. Wir haben hier wie in den meisten bisher betrachteten Beispielen eine sog. Odenkantate vor uns, also eine freie madrigalische Dichtung. Allerdings kommt im zweiten Vokalsatz (Rezitativ 3) ein Bibelwort (Act 14,22) vor, dem sich dann, was zumindest für die späteren Leipziger Kantaten eher ungewöhnlich ist, drei Arien hintereinander anschließen. 1. Sinfo nia 2. Cho r Weinen, Klagen Sorgen, Zagen, Angst und Not sind der Christen Tränenbrot, die das Zeichen Jesu tragen. 3. Rezit ativ Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen. 4. Ar ie (Al t) Kreuz und Kronen sind verbunden Kampf und Kleinod sind vereint.     Christen haben alle Stunden     ihre Qual und ihren Feind,     doch ihr Trost sind Christi Wunden. 5. Ar ie (Ba ss) Ich folge Christo nach, von ihm will ich nicht lassen im Wohl und Ungemach,

im Leben und Erblassen. Ich küsse Jesu Schmach, ich will sein Kreuz umfassen. Ich folge Christo nach, von ihm will ich nicht lassen. 6. Ar ie (Teno r) Sei getreu, alle Pein wird doch nur ein Kleines sein. Nach dem Regen blüht der Segen, alles Wetter geht vorbei. Sei getreu, sei getreu. 7. Cho ral Was Gott tut, das ist wohlgetan, dabei will ich verbleiben, es mag mich auf die raue Bahn Not, Tod und Elend treiben, so wird Gott mich ganz väterlich in seinen Armen halten: Drum lass ich ihn nur walten.

a) Poetisch-theologische Beobachtungen Als poetische Besonderheit fällt im einleitenden Chor der zweihebige Trochäus (Kurzzeilen) ins Auge, der schon in seiner rhythmischen Gestalt (schwer – leicht) ein Seufzen nahe legt und gleichsam „musikalisiert“. Die asyndetische Aufzählung geht, wie Philip Ambrose167 nachweisen konnte, auf einen antiken Klageruf zurück. Den vier synonymen Verben „Weinen, Klagen, Seufzen, Zagen“ (doppeltes

166 Vgl. Schulze, 213. 167 Vgl. Ambrose, Weinen.

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Hendiadyoin) folgt als drittes Paar „Angst und Not“, wodurch über die Verben des Trauerns hinaus (vgl. Not) auch noch die Angst als Affekt hinzutritt.168 Am Ende werden die Verse dann länger (vier Hebungen), sie bringen – im Gegensatz zu den Trauerschilderungen der Kantaten nach Epiphanias – auch gleich zu Beginn (!) eine geistliche Deutung: Die vergossenen Tränen tragen das Kreuz Christi als Zeichen in sich, sind „der Christen Tränenbrot“169. Diese Deutung finden wir auch in der sprachlich geschliffenen Altarie (Satz 4): Die schönen antithetischen Begriffspaare (ABA’B’) bringen das christliche Leben in seiner dialektischen Spannung von Kreuz und Krone bzw. Kampf und Kleinod durch eine vierfache Alliteration in engsten Zusammenhang. Ähnlich wie im Chorsatz (Satz 2) formuliert der B-Teil der Arie die geistliche Deutung dieser Erfahrung: Dem Kampf entsprechen die Feinde, dem Kreuz die Qual; Kronen und Kleinod sind Schätze, die aus Christi Wunden für die Ewigkeit gewonnen werden.170 Im darauf folgenden Satz 5 wird diese Thematik weitergeführt in einem Christusbekenntnis, das ganz unter dem Vorzeichen der Nachfolge steht: Prägnant ist die dreifache Anapher „Ich küsse  /  Ich will  /  Ich folge“, eher ungewöhnlich die Besetzung durch den Solobass. Man erwartet für eine derartig subjektive Arie eher den Alt als Stimme des Glaubens oder den Sopran als Stimme der Seele. Die anschließende Arie des Tenors verkündigt der Gemeinde paränetisch den geistlichen Sinn der Leiderfahrung. Der Schlusschoral deutet dann den ganzen Prozess von Klage und Trauer bzw. Kreuzesnachfolge nicht mehr als geistlichen Kampf, sondern als persönliche Glaubensstärkung, ja als Gewinn. Man weiß sich von Gott getragen und geborgen (Was Gott tut, das ist wohlgetan) und blickt am Ende auch gelassen in die Zukunft. Einem solchen (väterlichen!) Gott kann man sich auch fernerhin getrost anvertrauen. Diese Aussage ist durchaus „kompatibel“ mit dem Bibelwort, das in der Mitte der Kantate steht und aus der Epistel für den Sonntag Jubilate entnommen ist (Act 14,22). Olearius kommentiert dazu: „Wir müssen, denn Gott hat’s also verordnet, dass wir Christo sollen ähnlich werden […] Wir müssen (2 Tim 3,13). […] Ich muss das leiden (Ps 77). Es steht in meiner Bestallung. Es heißt aber auch: GOTT Lob (Jer 31), dass ich mich sein erbarmen muss. Und dem Gerechten muss das Licht aufgehen (Ps 97,11)“171.

168 Petzoldt II, 823, weist darauf hin, dass auch Olearius in seiner Erklärung zu Ps 80,6 (Olearius III, 458) einen Zweizeiler gereimt hat, der vom Dichter aufgegriffen zu sein scheint: „Tränen / Heulen / Angst und Not / ist ihr täglich Trank und Brot.“ 169 Vgl. dazu Ps 80,6: Du speisest sie mit Tränenbrot und tränkest sie mit großem Maß von Tränen. 170 Vgl. dazu Luthers Großen Katechismus zum 3. Art., BSLK 659 f: „Aber der heilige Geist treibt sein Werk ohn Unterlaß bis auf den jüngsten Tag, dazu er verordnet eine Gemeine auf Erden, dadurch er alles redet und tuet. […] Darum glauben wir an den, der uns täglich herzuholet durch das Wort und den Glauben gibt und Vergebung der Sünde, auf daß er uns, wenn das alles ausgerichtet ist, wir dabei bleiben, der Welt und allem Unglück absterben, endlich gar und ewig heilig mache, welches wir jetzt im Glauben erwarten.“ 171 Olearius V, 920, vgl. Petzoldt II, 823 f.

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b) Musikalische Analyse Musikalisch führt uns Bach in der einleitenden Sinfonia das Material einer instrumentalen Klage vor: Die Tonart f-moll bzw.  f dorisch (vgl. BWV 21,5) ist ebenso programmatisch wie das langsame Tempo (Adagio assai) und die abgezogenen Sechzehntel in den beiden Violinen, die eine expressive Klage darstellen. Ausdrucksstarke Achtelpausen in den Violinen bzw. Viertelpausen in den Bässen (Suspirationes) unterstreichen den seufzenden Charakter dieses Konzertsatzes. Die ruhige Achtelbewegung in den Violen bildet den langsamen Grundpuls der Bewegung. Darüber erhebt sich eine virtuose Oboenstimme,172 die dem Lamentocharakter auch wieder eine gewisse spielerische Gelassenheit verleiht. Die Gesamtanlage von zweimal acht Takten (in der Mitte steht eine Kadenz nach C-Dur) gibt dem Satz eine klare Struktur: Die aufsteigende Basslinie (Anabasis) ab T.  9 lässt sich in gewisser Weise als eine Vorwegnahme melodischer Ereignisse in Satz 3 (Vl. 1, T. 1–6 und Solo T. 5 f)  bzw. in Satz 5 (T. 35 Solo­bass und Continuo) verstehen: Hier „scheint die klagende Stimme bereits zu einem Ende kommen zu wollen (T. 8–9)“173, mündet dann aber in eine neuerliche Klage, die in T. 24 ihren harmonischen Höhepunkt in einem verminderten Septakkord erfährt, bevor sie in einer großen Kadenz zum ruhigen Ende gelangt. Der eigentliche „Kopfsatz“ ist Satz 2, der BWV 12 zu einer überdurchschnitt­ lichen Bekanntheit gebracht hat. Die strenge musikalische Form der Chaconne, deren „nach unten ziehendes“ Bassmotiv insgesamt zwölfmal wiederholt wird, der langsam schreitende Dreihalbetakt, die dunkle Tonart f-moll (dorisch); alle diese Aspekte geben dem Satz ein unverwechselbares Gepräge. Die Chaconne bildet innerhalb der großen Dacapo-Form (ABA) den ersten Formteil dieses Satzes. Drei musikalische Schichten können wir in der Chaconne unterscheiden: α) die durchgehende chromatische Basslinie mit der rhetorischen Figur des Passus duriusculus,174 der oft für die Macht der Sünde oder der Trauer steht, β) die übrigen Instrumentalstimmen (zwei Violinen und zwei Violen sowie obligates Fagott, das nur die erste und dritte Zählzeit der Bassstimme spielt) mit der rhetorischen Figur der Suspiratio (stets wiederkehrende Pause auf Zählzeit 2) γ) der vierstimmige Chorsatz mit seinen harmonischen Dissonanzen und Vorhaltsbildungen

172 Vgl. Küster, 156: „Für sich genommen wirkt er [sc. der Kopfsatz] wie ein reich ausgestalteter langsamer Konzertsatz für Oboe. […] hier nun erscheinen die Linienführung und das Klang­konzept klar auf die Oboe ausgerichtet.“ Die Figuration erinnert an andere langsame Sätze Bachs, namentlich auch für Orgel, vgl. z. B. O Mensch bewein dein Sünde groß, Orgelbüchlein, BWV 622. 173 Petzoldt II, 822. 174 Vgl. Bernhard, TCA, Cap. 29: „Passus duriusculus, einer Stimmen gegen sich selbst, ist wenn eine Stimme ein Semitonium minus steiget, oder fället.“ Bartel, 234, kommentiert: „Diese nur bei Bernhard anzutreffende Figur bezeichnet einen bestimmten Dissonanzgebrauch, nämlich eine Reihe aufeinander folgender Halbtöne (chromatischer Quartgang) oder nicht regelmäßig gesetzte, also verminderte oder vergrößerte Intervalle“.

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Die Einwürfe der Instrumentalstimmen (Schicht b)  bilden, dem musikalischen Gestus der Chaconne folgend, kleine Zweiereinheiten auf die Zählzeiten 3 und 1 und markieren im Grunde einen musikalischen Jambus (leicht  – schwer) gegenüber dem poetischen Trochäus (schwer- leicht, vgl. „Wei-nen“). Die stets wiederkehrende Pause auf Zählzeit 2 verleiht dem Satz seinen seufzend-klagenden Gestus schluchzenden Einatmens (Suspiratio). Indem Bach nun die Singstimmen jeweils auf dieser zweiten Zählzeit, also in der Pause der Streicher, beginnen lässt, gibt er ihnen nicht nur Raum gehört zu werden, sondern erreicht zugleich eine noch emphatischere Umsetzung der Klage. Besonderen Nachdruck bekommen die Klagemotive in den Singstimmen durch angebundene Viertelnoten, die jeweils im letzten Moment einen harmonischen Vorhalt erzeugen (z. B. Sept-, Quart- oder Nonenvorhalt in T. 2; 3 und 5). Die polyphone Satzstruktur mit dem Text der ersten beiden Verse wird beim siebenten Einsatz des Bassthemas (T. 25), also genau in der Mitte der Chaconne, aufgegeben. Ein homophoner Chorabschnitt über zwei Viertakter schließt sich an, der den dritten und vierten Vers („Angst und Not sind der Christen Tränenbrot“) zum Gegenstand hat. Ab T. 32 (neunte Bassdurchführung) verläuft der Chorsatz wieder polyphon bis zum Ende des A-Teils (T. 48). „Angst und Not“ werden hier besonders harmonisch bis an die Grenze kompositorischer Möglichkeiten getrieben. Bach verdeutlicht so, dass Trauer, gepaart mit Angst, das Schlimmste ist, was einem Menschen passieren kann.175 Meinrad Walter bemerkt dazu treffend: „Insbesondere mit dem neunten Bassdurchlauf nähert Bach sich mit einer für seine Zeit wohl singulären Rigorosität den Grenzen der Tonalität […]; der musikalische Satz selbst erscheint vom ‚Skopus‘ dieser Worte so ‚affiziert‘, dass er an dieser Stelle harmonisch gesprengt zu werden droht.“176

Ein wesentlich bewegterer Abschnitt (Un poco Allegro), ebenfalls im 3/2-Takt, schließt sich an, die strenge Chaconne-Form ist nun aufgegeben. Wir haben einen motettischen Satz vor uns, der sich auch durch seine melismatische Figuration vom A-Teil absetzt, welcher ganz syllabisch gehalten war. Zahlreiche Überbindungen lassen zweitaktige hemiolische Betonungen entstehen. Auffällig ist, dass Bach fast nur das Verb „tragen“ durch Koloraturen schmückt. Ähnlich wie im Formteil A stehen also die Verben im Mittelpunkt: Wer klagen kann, bekommt auch Kraft zum Tragen. Über die langen Melismen hinweg baut er kleine sequenzierende Ruhepunkte ein (z. B. Sopran T. 52–55 d’’ – c’’ – as’; Bass: T. 54–57 g – f – d), die „stabilisierend und orientierend“ wirken, aber auch neue rhythmische Energie vermitteln.

175 Vgl. Küster: 157: „Die Singstimmen setzen auf ‚Angst‘ nacheinander ein, und Bach bildet – nicht gerade zufällig an dieser Stelle des Satzes, an der der zugrunde liegende Grundaffekt des Traurigen noch gesteigert wird (‚Angst‘) – einen besonders dissonanzreichen Satz, der daraufhin drei Bass-Durchgänge in einem einzigen Abschnitt zusammenfasst.“ (Auch dies ist eine Steigerung zum Vorigen, da Bach in den vorangegangenen Takten immer zwei Viertakter zusammenfasst.) 176 Walter, 123. Zu denken ist insbesondere an T. 34, wo ein Sextakkord in Ces-Dur erreicht wird.

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Kommen wir zu einer ersten theologischen Deutung: Durch den Wechsel des Zeitmaßes und den Einsatz verschiedener kompositorischer Formen setzt Bach die beiden Themen „Trauer und Leid“ auf der einen bzw. „Kreuzesnachfolge“ auf der anderen Seite musikalisch voneinander ab. Die durch das schnellere Tempo und die oben genannten Koloraturen gewonnene Leichtigkeit wird im B-Teil symbolisiert: Dort, wo Angst und Leid in der Nachfolge Christi, d. h. immer auch unter einem österlich erhellten Zeichen des Kreuzes erfahren werden, ist bereits der erste Schritt zu einer gelassenen Bewältigung getan.177 Das anschließende Accompagnato-Rezitativ mit lediglich sieben Takten ist ein „wunderbares ‚Kleinod‘ Bachscher vokal-instrumentaler Kirchenmusik!“178 Es fällt auf, dass der erste Teil des Bibelwortes viermal wiederholt wird („Wir müssen durch viel Trübsal“), während der zweite Teil des Wortes nur einmal vorkommt. Walter interpretiert dies folgendermaßen: „Bach akzentuiert multiplizierend die Worte ‚viel Trübsal‘ im Sinne ihrer Allgegenwart ebenso wie die hierzu komplementäre Singularität des ‚Reiches Gottes‘: Dieses Wort wird gerade dadurch betont, dass es nicht wiederholt wird. Entscheidend ist, dass diese (musi­ kalisch-) rhetorische Gestaltung nicht nur Wichtiges intensivierend wiederholt, sondern damit zugleich den Gesamtduktus der Worte ‚verschärft.‘ Nicht nur deren Sensus wird in Musik ‚übersetzt‘, vielmehr bildet der gesamte musikalische Satz quasi-gestisch das ab, wovon er handelt: den Weg des Glaubens (Fides qua creditur), auf dem der Glaubende sich durch viel Trübsal ins Ziel des einen Reiches Gottes führen läßt.“179

Betrachten wir genauer, wie Bach das Schlüsselwort „Trübsal“ melodisch und harmonisch behandelt: Es erscheint viermal, und zwar jeweils auf den Taktbeginn (in T. 2, 3, 4 und 5). Dreimal wird in sequenzartiger Steigerung ein nach unten fallender verminderter Dreiklang eingeführt (denn: Trübsal „zieht nach unten“), die ersten beiden Male auf einem Sekundakkord, das dritte Mal klingt in der Begleitung ein verminderter Septakkord (stärkere Dissonanz), beim vierten Mal schließlich umspielt die Singstimme den Ton es’ zitternd und trillernd in tiefer Lage. Die Takte 5 und 6 stellen dann auch den musikalisch-theologischen Skopos des Satzes vor: eine aufsteigende Tonleiter (Anabasis), die den Text „in das Reich Gottes eingehen“ symbolisiert. Diese Figur, einer offenkundig nach oben, d. h. „himmelwärts“180 in das Reich Gottes weisenden Skala, überspannt in der ersten Violine den ganzen Satz: „Das kompositorische Surplus dieses Sätzchens besteht […] in der ungehindert aufstrebenden und von einer Diskantklausel ‚bekrönten‘ C-Dur-Tonleiter der ersten Violine. Dies wäre weniger außergewöhnlich, stünde der Satz nicht in c-Moll! Eine solche Integration der Tongeschlechter ist höchst bemerkenswert“181, wir können darin die eschatologische Spannung und Gleich

177 Zuweilen schreibt Bach wie auch an anderen Stellen seiner Autographe Christen als „Xsten“, womit das Zeichen des Kreuzes auch optisch in die Partitur gekommen ist. Vgl. Walter, 122 f mit Abbildung 28.  178 Walter, 125. 179 Walter, 127. 180 Vgl. Küster, 157. 181 Walter, 128.

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zeitigkeit von Schon-jetzt und Noch-nicht des Reiches Gottes ablesen, wie wir sie auch in den Gleichnissen Jesu finden. Das Noch-nicht wird durch die Tona­ lität c-moll (vgl. Alt-Stimme), das Schon-jetzt, die Gegenwart des Reiches Gottes (vgl. Mk 1,15; Lk 17,15), durch die Tonalität C-Dur (vgl. Violine 1), repräsentiert, wobei zugleich eine Dynamik, ein transitus deutlich wird, den schon Olearius im Blick auf Act 14,22 mit der Formel „per crucem ad lucem, per aspera ad astra“182 bezeichnet hat. Die folgende Arie, ein Triosatz in Dacapo-Form mit konzertanter Oboe, Altsolo und Basso continuo, ist „von ungeheurem Ernst“183. Die Oboe ist bis auf den Schluss des B-Teils immer präsent, das Ritornell des A-Teils, mit dem der Satz auch eröffnet wird, kehrt in seiner geschlossenen sechstaktigen Form (2+4 Takte) insgesamt viermal vollständig wieder. Die musikalische Pointe ist freilich, dass das zweistimmige Ritornell auch nach dem Einsatz der Solostimme in T. 7 schon nach zwei Takten wieder einsetzt und nun gleichsam als Begleitstimme fungiert (T. 9–15).184 Damit wird die gleiche Musik unter verschiedenen „Vor­ zeichen“ (zweimal zweistimmig, einmal dreistimmig) im A-Teil der Arie dreimal, also insgesamt (ABA’) sechsmal gehört. Durch diese strenge Form entsteht eine Verwandtschaft zur Chaconne des Chorsatzes. Aufregend ist Bachs Behandlung der antithetischen Begriffspaare im Stabreim: „Kreuz und Krone“ bzw. „Kampf und Kleinod“. Betont er eher ihre Zusammengehörigkeit oder ihre Gegensätzlichkeit? Diese Frage wird von Walter folgendermaßen beantwortet: „Der Textgegensatz ist hier also musikalisch gerade nicht antithetisch gestaltet […]. Die in den Worten benannte Vereinigung von ‚Kreuz und Kronen‘ wird ihm zur ‚Fons inventionis‘ (Erfindungsquelle), das heißt zur Inspiration für eine Musik, die man ein ‚Komponieren des Einen‘ nennen könnte, ein musikalisches Sinnbild der Integration“185. Schauen wir genauer hin: Die (stärker antithetische) Verbindung „Kreuz und Kronen“ wiederholt Bach nur dreimal, „Kampf und Kleinod“ dagegen sechsmal, beim vorletzten Mal wird der Begriff „Kampf “ in einer melismatischen, gleichsam trillernden, bebenden Bewegung (Solo-Alt: d’-es’, T. 15 f) abgebildet. Man meint mit dem Solisten/der Solistin förmlich kämpfend auf der Stelle zu treten. Die Unterschiede in der Figuration der vier mit K beginnenden Nomina sind folgende: „Kleinod“ wird ent­ weder in der Singstimme (vgl. T. 11; 16) oder in den unmittelbar vorangehenden Begleitstimmen (T. 13; 17) meist durch einen Triller geschmückt, das Wort Kampf vorwiegend durch die energische Figura corta (Sechzehntel und zwei 32tel) bestimmt (vgl. T. 11; 13). Interessant ist, dass der Text des A-Teils auch in der solistischen Passage des Soloalts im B-Teil wiederkehrt, für Küster ein Beweis dafür, dass der junge Bach hier noch am Ex­ perimentieren ist, und die Da-capo-Form noch nicht fest ausgeprägt ist.186

182 Olearius V, 920. 183 Dürr, 351. 184 Vgl. dazu auch die wichtige Beobachtung bei Petzoldt II, 824: „Womöglich ist das kreisende musikalische Motiv, mit dem das Ritornell einsetzt und das durch die Singstimme vielfach variiert wird, an dem Begriff der Krone gewonnen, von der Olearius in seiner Kommentierung von Offb 2,10c sagt (V,1910): „Crone … der runde Circul [Kreis] zielet auf die unendliche Vollkommenheit.“ 185 Walter, 130. 186 Vgl. Küster, 157.

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Theologisch wird auf diese Weise der enge Zusammenhang von Kreuzestrost und Kreuzesnachfolge, Rechtfertigung und Heiligung verdeutlicht. Bach verknüpft dadurch aber auch die christologisch-soteriologischen Eckpunkte der Arie mit den Begriffen „Kreuz“ und „Wunden“187 in besonders intensiver Weise. Der ganze Satz zielt weniger auf eine Gegensätzlichkeit von Mensch und Christus, sondern auf eine subtile Verbindung des Glaubenden mit Christus, der den erlösten, also freien Menschen in seine Nachfolge ruft,188 so dass es zu einer kreuzestheologischen communicatio idiomatum kommt. Dafür spricht nicht zuletzt das kunstvolle Miteinander von instrumentaler und vokaler Solostimme, das in T. 17 in einem kleinen Kanon (Oboe, dann Alt) kulminiert. Walter hat Recht, wenn er resümiert: „Vereinigt ist der Gegensatz jedoch nicht mittels Zwang, sondern im freien, im gelöst-erlösten Spiel der Musik.“189 Theologisch noch eindrucksvoller ist die folgende Bassarie, die das Thema Nachfolge in Gestalt eines sehr persönlichen Gebetes behandelt. Sie gestaltet den theologischen Topos der imitatio Christi durch die kompositorische Technik der Imitation. Das musikalische Material der Themen besteht fast ausschließlich aus aufsteigenden Skalen: Der kanonisch geführte Themenkopf wandert gleich zu Beginn (in einer Art Engführung) durch die beiden obligaten Violinen und den Continuobass. Diese Anabasis-Figur wird dann vom Solobass aufgegriffen (T. 5), beschließt den Satz aber auch wieder „beziehungsvoll mit einem kurz angedeuteten Dacapo in Form einer aufwärts gerichteten None (As bis b) in der Singstimme.“190 Aufgrund der in Satz 3 explizierten musikalischen Semantik (aufsteigende Tonleiter in Vl. 1) ist die eschatologische Pointe ziemlich klar: Die Nachfolge Christi mündet folgerichtig in die Teilhabe am Reich Gottes,191 die jetzt schon beginnt, was wir auch musikalisch sehen können: Hier „vereinen sich Baß und Generalbaß zu einer weiträumigen Unisono-Bewegung (T.  35 f.), in der die Nachfolge musikalisch-symbolisch in ihr Ziel gelangt: in die Unio mystica.“192 Dieser Arie schließt sich eine ungewöhnliche (auf früheste Vorbilder zurückgehende) Tenorarie mit Trompete193 und quasi ostinatem Continuo an. Die Trompete spielt die kolorierte Melodie des Chorals Jesu meine Freude (Johann Franck), der so stark formprägend wirkt, dass Bach die Arie nicht als Dacapo, sondern als Barform (AA’B) anlegt. Dennoch gelingt es ihm, die verschiedenen Elemente gleichwertig zu behandeln: Er lässt „keine der Satzkomponenten so weit in den Vordergrund treten, dass sie die Phrasenkonstruktion beherrscht“194. Trotz der

187 Vgl. ähnlich Petzoldt II, 824 f. 188 Vgl. dazu besonders Jüngel, Freiheit, 104: „Aber derselbe Jesus Christus will, wenn er ohne unser Zutun als sacramentum gewirkt hat, nun eben auch als exemplum zur Geltung kommen, indem er den befreiten Menschen in seine Nachfolge ruft.“ 189 Walter, 131, vgl. a. a. O. auch den Kupferstich von Laurentius von Schnüffis (Kempten 1707). 190 Dürr, 351. 191 Vgl. Dürr, 351. 192 Walter, 135, Anm. 32. 193 Vgl. unten 2.3.2 zu BWV 103,5. 194 Küster, 157.

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Prägnanz des sich wiederholenden „Walking-Bass“-Modells und der Vertrautheit der bekannten Choralmelodie bekommt die Singstimme nicht etwa nur Begleitfunktion, sondern schmückt in virtuoser Brillanz einzelne (meist gegensätzliche) Begriffe des Textes aus: Getreu – Pein195 alle(s) – Kleines196 Regen – Segen Wetter – vorbei

Welche Strophe des Kirchenliedes ist hier wohl gemeint? Dürr und Walter schlagen die letzte vor: „Weicht! Ihr Trauergeister  /  denn mein Freudenmeister,  /  Jesus, tritt herein.“197 Dafür spricht, dass sich in diesem Satz gleichsam das Hereintreten des Freudenmeisters ereignet.198 Was trägt der Satz theologisch aus? Weder der Choral an sich noch die virtuosen Koloraturen, noch der Quasi-ostinatoBass in g-moll sind typisch doxologische Musik. Und dennoch atmet dieses Stück himmlische Freude, evangelischen Trost, spielerische Begeisterung: Der Affekt der Freude kann sich einstellen, weil sich, durch die instrumentale „vox externa“ der Choralmelodie in der Trompete animiert, eine Gelassenheit ergibt, die Pein, Regen und Wetter trotzen kann. Die Trauer klingt noch an (T. 14–19), hat aber nichts existenziell Bedrohliches mehr. Der fünfstimmige Schlusschoral ist ein schlichter Kantionalsatz mit Oberstimme in der Oboe, den man als Explikation von Jes 40,11b verstehen kann. Spätestens jetzt wird deutlich, dass sein cantus firmus für die beiden ersten Arien (teilweise) melodisch prägend war: In T. 34 der Altarie erschien das Choralthema im Continuo, das Thema der Bass-Arie ist sogar noch eindeutiger von dieser Melodie abgeleitet. „Im Kontext der die gesamte Kantate als textlich-musikalische Sprache des Glaubens prägenden ‚Dialektik‘ von chromatischer Abwärts- und diatonischer Aufwärtsbewegung (menschlich: von der Traurigkeit zur Freude; christlich: von der Passion zur Auferstehung) repräsentiert der Choral [im Gegensatz zur Chaconne, Anm. JA] die Aufwärtsbewegung – und schließt sie zugleich musikalisch-ästhetisch ab.“199 Damit ist der Affektbereich der Freude und  – damit unlöslich verbunden  – auch die Vorstellung des aufsteigenden Dankopfers erreicht, die der Sonntag Jubilate anzeigt. Bach setzt diesen Choralsatz sehr bewusst an den Schluss, ohne – wie



195 In T. 14–17 finden wir beim Wort „Pein“ die Affektfigur der Pathopoieia (vgl. 1.7.2), die dadurch erzeugt wird, dass in der Tenorstimme quasi der Passus duriusculus der Chaconne aufgenommen wird (f – e – es – d – cis). So klingt das Leiden nochmals an, erweist sich aber durch die neue musikalische Situation als überwunden. 196 Ausgerechnet auf diesem Wort haben wir die längste Koloratur in T. 30–35. 197 EG 396, 6, vgl. Walter, 137, vgl. Dürr, 351 und jetzt auch Petzoldt II, 825 f (mit schöner Synopse). 198 Ebenso gut passte allerdings auch die Wettermetaphorik aus Str. 2: „Unter deinen Schirmen / bin ich vor den Stürmen / aller Feinde frei […]. Wenn es itzt gleich kracht und blitzt […].“ (Vgl. EG 396,2). 199 Walter, 139.

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in den beiden Weimarer Schwesterkantaten BWV 172 und 182 – nochmals den Chorsatz vom Anfang zu wiederholen. Dies wäre dramaturgisch auch völlig undenkbar, erweist sich die ganze Kantate doch als eine Durchführung des Grundsatzes „per crucem ad lucem, per aspera ad astra“200. c) Zur Problematik einer Aufführung am Sonntag Jubilate Wie bei der noch zu diskutierende Kantate BWV 103 stehen wir vor dem Problem, dass in der neuen Perikopenordnung mit Joh 15,1–8 (Ich-bin-Wort vom Weinstock)201 ein anderes Evangelium an die Stelle von Joh 16,20–23 getreten ist und dass dadurch insgesamt die Klagethematik wenig plausibel wird. Ulrich Meyer schlägt deshalb vor, an Jubilate die festlich jubelnden Kantaten Jauchzet Gott in allen Landen (BWV 51) oder Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut (BWV 117)202 aufzuführen.203 Ich halte dies prinzipiell für eine überzeugende Idee, die Preisgabe der Jubilate-Kantaten Bachs aber auch für einen großen Verlust, zumal in Perikopenreihe III das altkirchliche Evangelium aus Joh 16,16 ff immer noch vorkommt. Will man die Kantaten BWV 12; 103 und 146 im Gottesdienst an Jubilate weiter­hin nutzen, liegt es daher nahe, das „neue“ Evangelium Joh 15 (Reihe I) durch das alte Joh 16 (Reihe III) zu ersetzen oder aber zu einem anderen Zeitpunkt im Kirchenjahr aufzuführen, zumal sie  – ähnlich wie BWV 21 oder BWV 2 – alle von einer hohen geistlichen Allgemeingültigkeit sind. Weinen, Klagen ist eine Kantate von äußerst starker Wirkung. Dies gilt be­ sonders für den Chorsatz und das anschließende Rezitativ (Satz 3). Hier findet der „Umschwung“ von der Klage zum Vertrauen statt. Daher bietet sich an dieser Stelle auch eine Zäsur durch die Predigt an, die gleichsam die Erhörungszusage für die in Satz 2 formulierte Klage und eine Auslegung zu Act 14,22 bilden kann. Dadurch ist zwar der zweite Teil (Satz 4–7) etwas länger, aber inhaltlich klar ab­gesetzt. Die allgemeine Thematik des Textes bindet uns, wie gesagt, aber nicht zwingend an den Sonntag Jubilate,204 sie wäre z. B. auch am Ende des Kirchenjahrs oder bei einer Trauerfeier denkbar und sinnvoll. An die Stelle von Joh 16,16 ff könnte auch das alttestamentliche Bibelwort aus Jer 31,16–20 treten, das die Erfahrung der Trauer dezidiert theo-logisch deutet und bearbeitet. Daraus ergeben sich folgende liturgischen Optionen: Lös ung I (a ufgrund der alten Perikopenordnung z. Zt. Bachs): Epistel Act 14,21–23 – Kantate Satz 1–3 – Predigt I mit Evangelium Joh 16,20–22205 – Kantate Satz 4–7 – Predigt II (ggf. nochmals Satz 7 mit Gemeinde) – Credo

200 Olearius V, 920. 201 Vgl. EGB 330 f. Die ersten beiden Eingangsgebete sind im Tonfall eher zurückhaltend. 202 Vgl. unten 6.3.2 203 Vgl. Meyer, Kirchenjahr, 32. 204 Vgl. unten 2.4.2 zu BWV 21, die mit der Bestimmung „per ogni tempo“ (vgl. Dürr, 459) versehen ist. 205 Dieser Text wird im neuen EGB in Reihe III eingeordnet, wohingegen das „eigentliche“ Evangelium nunmehr das Ich-bin-Wort vom Weinstock nach Joh 15,1–8 ist.

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Lös ung II (f ür einen Themengottesdienst mit alttestamentlichem Schwerpunkt): Psalmgebet Ps 102 oder Ps 69 (in Auszügen) – Lied – AT-Lesung Jer 31,15 f – Kantate Satz 1–3 – Lesung Jer 31,20 – Predigt – [Evangelium Joh 16,20–22] Kantate Satz 4–7 – Credo Vorstellbar ist aber auch folgender Ablauf, der das Zusammenspiel von Bibelwort und Kantate, wie es bereits in der Dichtung angelegt ist, besonders herausstreicht: Lös ung III (für einen Themengottesdienst mit neutestamentlichem Schwerpunkt): Epistel nach 1 Kor 9,24 f oder Offb 2,10b-11206– Kantate Satz 1 und 2 – Predigt I (Schwerpunkt Trauer und Klage) – Evangelium Joh 16,20–22 – Kantate Satz 3–5 – Predigt II (Schwerpunkt Trost und Freude)– Kantate Satz 6 f – Credo

2.3.2 Ihr werdet weinen und heulen (BWV 103) Versuchen wir auch in einer weiteren gehaltvollen Kantate für diesen Sonntag – diesmal aus dem zweiten Leipziger Jahrgang  – die sprachlichen und musika­ lischen Aspekte zu beleuchten. Wir haben es dabei mit einer Spruchkantate zu tun, die zum 22. April 1725 in Leipzig entstanden ist. Das Libretto stammt von Mariane v. Ziegler, das erst 1728 unter dem Titel „Versuch in Gebundener Schreib= Art“ veröffentlicht wurde.207 Bach hat den Text geringfügig verändert, was beweist, dass er sehr bewusst mit der Poesie seiner Dichter umging und auch „verbessernd“ eingegriffen hat.208 209 210 211 1. Cho r und B a ss Chor: Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen. Bass: Ihr aber werdet traurig sein. Chor: Doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehret werden. 2. Rezit ativ (T eno r) Wer sollte nicht in Klagen untergehn, wenn uns der Liebste wird entrissen? Der Seelen Heil, die Zuflucht kranker Herzen acht nicht auf unsre Schmerzen.

3. Ar ie (Al t) Kein Arzt ist außer dir zu finden, ich suche durch ganz Gilead;209 wer heilt die Wunden meiner Sünden, weil man hier keinen Balsam hat? Verbirgst du dich, so muss ich sterben.210 Erbarme dich, ach! höre doch! Du suchest ja nicht mein Verderben, wohlan, so hofft mein Herze noch.211



206 Vgl. Petzoldt II, 821. 207 Vgl. Schulze, 216 f: „Ihre weniger als zwei Jahrzehnte dauernde Karriere als Schriftstellerin vollzog sich im Umkreis von Johann Christoph Gottsched in Leipzig und trug ihr, ungeachtet ge­ legentlicher Kritik, hohe Ehren ein.“ 208 Vgl. dazu die Synopse bei Petzoldt II, 826–829. 209 Vgl. Jer 8,22. 210 Vgl. Ps 104,26. 211 Das Original lautete: „Drum hofft mein armes Herze noch.“

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören 4. Rezit ativ (Al t) Du wirst mich nach der Angst auch wiederum erquicken; so will ich mich zu deiner Ankunft schicken, ich traue dem Verheißungswort, dass meine Traurigkeit212 in Freude soll verkehret werden. 5. Ar ie (Teno r) Erholet euch, betrübte Sinnen, ihr tut euch selber allzu weh. Lasst von dem traurigen Beginnen, eh ich in Tränen untergeh, mein Jesus lässt sich wieder sehen,

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o Freude, der nichts gleichen kann! Wie wohl ist mir dadurch geschehen! Nimm, nimm mein Herz zum Opfer an. 6. Cho ral Ich hab dich einen Augenblick, o liebes Kind, verlassen; sieh aber, sieh, mit großem Glück und Trost ohn alle Maßen will ich dir schon die Freudenkron aufsetzen und verehren; dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren.

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a) Poetisch-dramaturgische Beobachtungen Die ganze Dichtung, deren biblischer Ausgangspunkt und Mitte Joh 16,20.23 ist, zeugt von der Antithetik des verborgenen und sich wieder offenbarenden Christus. Im Blick auf das Kirchenjahr macht dies am Sonntag Jubilate (bzw. für die nachösterliche Zeit überhaupt) insofern Sinn, als der auferstandene Jesus sich durch sein punktuelles Erscheinen immer wieder den Jüngern zeigt, dann aber auch wieder entzieht (vgl. Lk 24; Joh 20).213 Die theologischen Motive und Begriffe sind: Verborgenheit, Verheißungswort, Ankunft, Erbarmen. Außerdem sind einmal mehr die Sprechakte zu beachten: Satz 1 und 6 sind als Christus- bzw. Gottesreden mit klaren biblischen Bezügen formuliert, Satz 2 redet über die Erfahrung der Verborgenheit Gottes, die Sätze 3–5 wenden sich als Gebet im Du-Stil an Gott. Anthropologisch-spirituell bedeutsam sind wieder die Affektgegensätze von Trauer und Freude: Klage, betrübte Sinnen, Schmerzen, Traurigkeit auf der einen bzw. (ab Satz 4) Freude und Glück, Trost und ewiges Wohl auf der anderen Seite. Im ersten Teil  der Kantate finden wir Metaphern und Bilder aus der Welt der Medizin, um den Zustand des sündigen und angefochtenen Menschen zu beschreiben: Schmerzen, Arzt, Balsam, Wunden und Erquickung. Satz 2 beginnt mit einer WirKlage („in Klagen untergehn“) und nimmt damit den vorangegangenen Chorsatz aus den johanneischen Abschiedsreden (2. Pers. Pl.), ein Zitat aus dem Sonntags­ evangelium (Joh 16,20), auf. Die Klage ist hier zunächst noch ganz selbstbezo 212 An dieser Stelle hat Bach zwei (eher redundante) Zeilen der Vorlage weggelassen: „Und diß vielleicht in kurtzer Zeit,  /  nach bäng- und ängstlichen Geberden.“ (Vgl. Petzoldt II, 826.) Mir scheint dies hier allerdings weniger theologisch denn sprachlich motiviert. 213 Petzoldt II, 828 weist darauf hin, dass die zeitgenössischen Bibelausleger Joh 16,17 bzw. V 20 „auf die dreitägige Grabesruhe nach der Kreuzigung und dem Wiedersehen nach seiner Auferstehung“ deuten oder darin aber die eschatologische Dialektik von Glauben und Schauen bzw. „Schon jetzt“ und „noch nicht“ entdecken. Vgl. zum ersten Aspekt besonders Olearius V, 756: „… so geht die Sonne der Gerechtigkeit blutrot unter am Karfreitag und kommt des Morgens mit Freude (Ps 30) hell glänzend hervor am Ostertag. So vertreibt die Osterfreude euer Leid (Joh 16,20); auf den betrübten Karfreitag folgt der fröhliche Ostertag. “

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gen, sie redet Gott nicht direkt an.214 Dies geschieht erst in der folgenden Arie,215 nunmehr in der 1. Pers. Sg. („Ich suche durch ganz Gilead“) unter Aufnahme von Jer 8,22. Die glaubende und zugleich angefochtene Seele tritt hier in einen intensiven Dialog mit Gott, dem heilenden Arzt216 (vgl. Ex 15,26), und äußert „dialektisch“ ihre Angst angesichts begangener Schuld und ihre Hoffnung auf Ver­ gebung. Theologischer Mittelpunkt ist die Aussage aus Ps 104,29: Verbirgst du dich, so muss ich sterben. Die Dichterin verschärft hier die Erfahrung des verborgenen Gottes in letzter Radikalität: Wo Gott (in Christus) nicht mehr gegenwärtig ist, hat der Mensch keine Bleibe. Seine einzige Chance ist, alles daranzusetzen, dass Gott nicht wirklich sein Verderben will. Interessant im Blick auf den ersten Kantatenteil ist, dass v. Ziegler nirgends explizit von Christus redet. Denn die Tatsache, dass es sich zu Beginn um ein Bibelzitat aus dem Johannesevangelium handelt, erschließt noch nicht einen christologischen Sinn dieses Textes. Vielmehr können die Sätze 1–3 gleichsam Christo remoto gehört und somit auch auf allgemeinmenschliche Leiderfahrungen hin bezogen werden, ohne dass das Geschehen am Karfreitag oder aber die christliche Kreuzesnachfolge gleich ins Spiel kommen muss. Dramaturgisch mindestens ebenso aufregend ist der zweite Teil  der Kantate: Während Satz 4 noch im „vorösterlichen“ bzw. futurisch eschatologischen Sinne von einer möglichen Gottesbegegnung spricht: „Ich traue dem Verheißungswort, dass meine Traurigkeit in Freude soll verkehret werden“, erzählt Satz 5 mit dem „Erholet euch“ von einer gegenwärtigen geistlichen Erfahrung: „Jesus lässt sich wieder sehen“. Wie das geschehen ist, bleibt offen. Jedenfalls spiegelt die Tenorarie die Verifikation des Verheißungswortes durch eine tröstliche (österliche) Christusbegegnung, die in den Lobpreis und das Lobopfer des Herzens mündet. Höhepunkt und Zusammenfassung der Kantate ist das explizite Verheißungswort Gottes in der als unmittelbare Anrede formulierten Liedstrophe „Ich hab dich einen Augenblick verlassen  …“ aus Paul Gerhardts Choral „Barmherzger Vater, höchster Gott“ mit einer Anspielung auf die prominente Stelle aus Jes 54,7. Die Spannung von präsentischer („… schon die Freudenkron“) und futurischer Eschatologie („ewig Wohl“) bleibt in diesem Satz aufrecht erhalten. b) Musikalische Beobachtungen Ungewöhnlich am Eingangschor ist Bachs enge Verknüpfung von Solobass (vox Christi) und Chorsatz. Nicht nur die Solostimme, sondern auch der Chor „ver

214 Vgl. dazu die interessante Bemerkung bei Petzoldt II, 831: Hier „wendet sich ein Glaubender an die Glaubensgemeinschaft. Unabhängig vom Rahmen der Kantate (Sätze 1 und 6) beklagt er den Verlust Jesu.“ 215 Vgl. Petzoldt II, 832: „Denn nun äußert sich die Stimme des Glaubens, Satz 3, die nicht über Jesus redet, wie die Tenorstimme, sondern Jesus betend anspricht“. Im Blick auf die christologische Deutung dieses Satz vgl. den folgenden Abschnitt. 216 Vgl. dazu Olearius’ Kommentar zu Jer 8,22 (Olearius IV, 386, zit. bei Petzoldt II, 832) mit Hinweis auf weitere biblische Parallelen in Ps 103 und Mt 9 (gemeint ist V12: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“), vgl. auch Lk 19,10.

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kündigt“ die Jesusworte in einer dadurch transparent werdenden Dreiteiligkeit (Ch-B-Ch).217 Die instrumentale Besetzung von 2 Oboen und Blockflöte wurde in einer späteren Aufführung 1731 durch Traversflöte bzw. Solovioline ersetzt. Zum Chorsatz können wir an die Analysen von Dürr und Küster anknüpfen: „Formal ist der Eingangsatz recht kunstvoll angelegt. Auf die einleitende konzertante In­ strumentalsinfonie setzen die Singstimmen zu einer Fugenexposition mit einem völlig neuen Thema ein, das durch chromatische und übermäßige Intervallschritte die Worte ‚Ihr werdet weinen und heulen‘ interpretiert; danach erklingt als Choreinbau (36 f.) in den ersten Teil der Instrumentalsinfonie der Text ‚Aber die Welt wird sich freuen. Diese Abfolge wiederholt sich aber in größerem Ausmaße.“218

Das musikalische Material des Ritornells erweist sich also, wenn der Text zum Thema „Freude“ hinzutritt, gleichsam im Nachhinein als stimmig: Die Figuracorta (ein Achtel mit zwei Sechzehntel) drückt in langen Koloraturen rhythmisch elektrisierende Freudensprünge aus. Ihnen stehen in deklamierenden Vierteln homo­phone „Aber“-Einwürfe gegenüber (vgl. T. 43–54).219 Die innere Kohärenz von konzertanter Orchesterführung und motettischen Bibelchor-Elementen wird in der nun folgenden „Quasi-Doppelfuge“ (T. 55–75) noch weiter gestärkt. „Nachdem die vier Singstimmen in diesen zweiten fugischen Abschnitt eingetreten sind, stimmt die Blockflöte in höchster Lage als 5. Stimme das Thema an; dessen letzten Ton lässt Bach den Spieler lang aushalten – und erreicht damit, dass genau die Konstellation zustandekommt, mit der das Ritornell begonnen hat. Nun kann das gesamte einstige Ri­tornell neuerlich ablaufen, diesmal unter intensiver Beteiligung der Singstimmen“220, wobei sich der Einsatz der Blockflöte wieder als Scharnier zwischen den beiden Formteilen Ritornell und Chorfuge erweist.

Das musikalische Material der ersten Chorfuge ist sehr eng auf einzelne zentrale Verben des Klagens („weinen“ bzw. „heulen“) bezogen: Eine Achtelbewegung mit je vier melismatischen Achteln, von denen immer zwei als Seufzermotiv zusammen gehören (dazwischen eine übermäßige Sekund, vgl. T. 28 Tenor; T. 32 Alt), bzw. eine chromatische Achtelbewegung abwärts (vgl. T. 31, Tenor; T.  35 Alt mit Passus duriusculus) lassen sich als unmittelbare Illustrationen des Weinens (Hypo­ typosis) verstehen. Ein „naturalistischer“ Triller imitiert das Heulen (T. 30, Tenor; 34 Alt), die chroma­tische Achtelbewegung (vgl. T. 34 Tenor; T. 38 Alt u. ö.) geschieht in Analogie zum Verb „weinen“ (s. o.).

Dieses musikalische Material bestimmt teilweise auch das Adagio-Rezitativ in der Mitte des Chorsatzes. Verminderte Sept- und übermäßige Sekund- bzw. Tritonussprünge machen die expressive Melodik der Singstimme aus, die am Ende dieses Abschnitts (T. 107 f) beim Wort „traurig“ eine melismatische Verbrei­terung

217 Vgl. ähnlich Teil I von BWV 76,1 mit dem Solo-Bass als „Erzähler“. 218 Dürr, 353. 219 Vgl. Melamed, 187: „Anschließend kombiniert Bach diese beiden Ebenen in einer charakteristischen Tour de force, indem er die kontrastierenden musikalischen und textlichen Ideen in den Singstimmen und Instrumenten zugleich erklingen lässt und sie auf diese Weise integriert. 220 Küster, 297.

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erfährt, die rhythmisch durch Synkopen noch verstärkt ist. Insgesamt haben wir eine komplexe Form vor uns, die folgendermaßen zu beschreiben ist: A Ritornell (27 Takte) B Chorfuge: „Ihr werdet weinen und heulen“ (16 Takte) A’ (Ritornell mit Chor): „aber die Welt wird sich freuen“ (12 Takte) AB (Ritornell mit Chor und Chorfuge): „Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen.“ (46 Takte) C Rezitativ, Solo Bass, Adagio: „Ihr aber werdet traurig sein.“ (8 Takte) AB’ (Ritornell mit Chor und Chorfuge): „Doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.“ (47 Takte)

Dürr resümiert: „Diese Form stellt einen fesselnden Versuch dar, das alte Prinzip der Motette  – Reihung textbezogener Einzelabschnitte  – mit der Großform des modernen konzertanten Satzes zu vereinen.“221 Entscheidend ist freilich die Einsicht in das, was Bach hier musiktheologisch gelingt: „Gemäß der Vorgabe im Text setzt sich das musikalische Material des Concerto durch – Trauer verwandelt sich tatsächlich in Freude, nur besteht die Trauer, die in der Chromatik ihren Ausdruck findet, knapp unter der Oberfläche fort.“222 Das folgende Secco-Rezitativ endet in einer ariosen Verbreiterung auf den zentralen Begriff „Schmerzen“ und breitet diesen in unreinen Fortschreitungen (verminderte Terz) aus. Die folgende Arie, die der Erfahrung der Verborgenheit Gottes in der düsteren Tonart fis-moll223 Ausdruck gibt, deutet mit den virtuosen Passagen der kleinen Blockflöte das Suchen nach dem rechten Arzt „in ganz Gilead“ an. Der langsame 6/8-Takt besticht durch seine expressiven Pausen (vgl. T. 1–3: Continuo), die den Suchenden förmlich immer wieder ins Leere laufen lassen. Bach erreicht dies nicht zuletzt auch dadurch, dass vom Einsatz der Singstimme in T. 12 bis T. 29 keine rechte Kadenz sich einstellen will. Der Hörer „tappt“ also mit den Ausführenden gleichsam im Dunkeln auf der Suche nach dem sich verbergenden Gott. Höhepunkt ist im B-Teil der Arie die melodische Behandlung des Verbums „sterben“(T. 38–41) mit einer dreifachen Sequenz und zahlreichen Tritoni und Septsprüngen in der melismatischen Singstimme.224 Besonders der nach unten fallende Tritonus wirkt schattenhaft bedrohlich. In unmittelbarer Nähe erklingt dann die Bitte um das Erbarmen Gottes auf einer langen Liegenote (T. 44 f). Konsequenterweise bleibt Bach jedoch am Ende bei der Hoffnung auf die Wende und kehrt nicht mit einem Da capo zur düsteren Stimmung des Eingangs zurück. In Rezitativ 4 finden wir dazu eine reizvolle Entsprechung. Das Wort „Traurigkeit“ unterlegt Bach mit einem spannungsvollen verminderten Septakkord und dem bis dahin tiefsten Ton in der Singstimme, doch dann bricht die Stimmung um: Eine ausgedehnte Koloratur in strahlendem D-Dur auf dem Affektwort

221 Dürr, 354. 222 Melamed, 187. 223 Vgl. die Tenorarie „Ach, mein Sinn“ aus der Johannespassion (BWV 245,13). 224 Vgl. Petzoldt II, 832, der „von arhythmischen Melismen“ spricht, die die Verborgenheit Gottes nachzeichnen.

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„Freude“ markiert im ariosen Schluss den endgültigen Umschwung in der Kantate und vollzieht damit die bereits in Satz 1 angekündigte Wende. Die darauf folgende Tenor-Arie (Satz 5) mit konzertierender Trompete ist im Gegensatz zur Satz 3 voll überschäumender Freude.225 Die Figura corta, schon im Kopfsatz rhythmischer Inbegriff der Freude, dominiert hier, gepaart mit kompakter, gleichsam „weckrufartiger“226 Dreiklangsmotivik. Aus dem vorangegangenen Rezitativ wird die Koloratur auf dem Begriff Freude aufgenommen (T. 39 f; 42 f) und in einer der längsten und virtuosesten Koloraturen im Bachschen Vokalwerk noch übertroffen. Sie reicht über  – sage und schreibe  – sieben Takte (T. 46–52)! Küster ist unbedingt zuzustimmen, wenn er diese Arie als einen „Tenor-Höhepunkt“ der Kantaten aus dem Jahr 1725 bezeichnet. Nur vorübergehend werden schmerzliche Töne noch einmal „eingeblendet“, so in T. 24 (Singstimme auf „traurigen“ mit nachdrücklichen Synkopen) und T. 30 beim Wort „Tränen“. Bach erreicht dies hier durch abgezogene Achtel (Bass) und übermäßige Sekundschritte (Singstimme). Der abschließende Choralsatz aus dem Lied Barmherzger Vater, ewger Herr von Paul Gerhardt nimmt Jes 54,7 f auf und bildet die Zusammen­fassung und Interpretation des ganzen theodramatischen Geschehens, ohne den christologischen Bezug zu Satz 5 explizit aufzunehmen.227 Dem Glaubenden hat sich Gott neu gezeigt, es hat sich erwiesen, dass sein Wegsehen nur von kurzer Dauer war, so dass die Freude am Ende über die Trauer die Oberhand behält. Programmatisch bündelt der Choral diese Gesamtaussage durch die Vokabeln „Glück“ und „Trost“, „Freude“ (vgl. Satz 4 f)  und „Freudenkron“228 im Kontrast zu „kurzem Leid“. c) Praktische Überlegungen zur gottesdienstlichen Aufführung Für die gottesdienstliche Aufführung an Jubilate oder an einem anderen Sonntag bietet sich eine Zweiteilung in der Mitte an: Satz 1–3 und 4–6 (oder auch 1–4 und 5–6) passen gut zusammen, wobei Satz 3 mit einer konkreten Bitte („erbarme dich“) und der Vertrauensaussage („du suchest ja nicht meint Verderben“) die resignative Bitterkeit von Satz 2 schon deutlich aufhellt. Unser Vorschlag geht dahin, das Trostwort, das in Satz 4 sprachlich noch erfleht, musikalisch aber schon vorweggenommen wird, durch die Predigt einzuholen. In diesem Fall könnte in Analogie zur Kantate selbst das „alttestamentliche Evangelium“ aus Jesaja 54 nach dem neutestamentlichen gelesen werden. Unser liturgischer Inszenierungsvorschlag lautet daher: Evangelium Joh 16,20–23 – Kantate, Satz 1–3 – Predigt – AT-Lesung Jes 54, 7–10 – Kantate, Satz 4–6– (ggf. Predigt II – ggf. nochmals Satz 6) – Credo

225 Vgl. Simpfendörfer, 285: „In der Arie BWV 103/5 wird die Freude über das Wiedersehen mit Jesus geradezu überschwenglich dargestellt.“ 226 Petzoldt II, 833. 227 Vgl. allerdings Petzoldt II, 833, der die vox Christi aus Satz 1 (Joh 16,20) mit dem Zitat aus Jes 54,7 verbindet und von einem Gotteswort spricht, „das nun hier als Christuswort für die Kirche gehört wird.“ 228 Vgl. dazu BWV 12,4 bzw. oben 2.3.1.

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2.4 „Ich hab ihr Fleh’n erhört“ – Kantaten zum 2. und 3. Sonntag n. Trinitatis 2.4.1 Ach Gott vom Himmel sieh darein (BWV 2) Psalm 12, Luther 1534 1 Ein Psalm Davids, vorzusingen auf acht Sayten. 2 Hilff, HERR Die Heiligen haben abgenommen Und der gleubigen ist wenig unter den menschen kindern. 3 Einer redet mit dem andern unnuetze Ding und heuchlen Und lehren aus uneinigem Hertzen 4 Der HERR wolte ausrotten alle heucheley und die zunge, die da stoltz redet.

Luther 1524 (Psalmlied)

Choralkantate BWV 2

1. ACH Gott! Vom Himmel sieh darein, und laß dich deß erbarmen, wie wenig sind der Heilgen dein, verlassen sind die Armen, dein Wort man lässt nicht haben wahr Der Glaub ist auch verloschen gar Bey allen Menschen=Kindern.

1. Cho r Ach Gott, vom Himmel sieh darein, und lass dichs doch erbarmen, wie wenig sind der Heilgen dein, verlassen sind wir Armen, dein Wort man nicht lässt haben wahr. Der Glaub ist auch verloschen gar bei allen Menschenkindern.

2. Sie lehren eitel falsche List, was Eigen=Witz erfindet, ihr Hertz nicht eines Sinnes ist in Gottes Wort gegründet. Der wehlet diß, der andre das, Sie trennen uns ohn alle Maaß Und gleissen schön von aussen.

2. Rezit ativ (T eno r ) Sie lehren eitel falsche List. Was wider Gott und seine Wahrheit ist. Und was der eigen Witz erdenket. O Jammer, der die Kirche schmerzlich kränket! Das muss anstatt der Bibel stehn. Der eine wählet dies, der andre das, die törichte Vernunft ist ihr Kompaß; sie gleichen denen Totengräbern, die, ob sie zwar von außen schön, nur Stank und Moder in sich fassen und lauter Unflat sehen lassen.

5 Die da sagen unser Zunge soll uberhand haben Uns gebuert zu reden Wer ist unser Herr?

3. Gott woll ausrotten alle Lahr So falschen Schein uns lehren Darzu ihr Zung stoltz offenbar Spricht: Trotz, wer will’s uns wehren? Wir habens Recht und Macht allein, was wir setzen, das gilt gemein, wer ists, der sollt uns meistern?

3. Ar ie (Al t) Tilg, o Gott die Lehren, die dein Wort verkehren! Wehre doch der Ketzerei Und allen Rottengeistern; denn sie sprechen ohne Scheu, trotz dem, der uns will meistern!

6 „Weil denn die elenden ver­stoeret werden und die armen seufftzen, will ich auff “, spricht der HERR „Ich wil eine Hülfe schaffen, das man getrost leren soll.“

4. Darum spricht Gott: „Ich muß auf seyn, Die Armen sind verstöret; Ihr Seufzen dringt zu mir herein,

4. Rezit ativ (B a ss) Die Armen sind verstört, ihr seufzend Ach! Ihr ängstlich Klagen bei so viel Kreuz und Not, wodurch die Feinde fromme Seelen plagen, dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein. Darum spricht Gott: „Ich muss ihr Helfer sein.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

Ich hab ihr Klag erhöret. Mein heilsam Wort soll auf den Plan, getrost und frisch sie greifen an und sein die Kraft der Armen.“ 7 Die Rede des HERRN ist lauter, wie Silber im erdenen Tiegel, durchlaeutert und bewaehret siebenmal.

5. Das Silber durchs Feur siebenmahl bewährt wird lauter funden: von Gotts Wort man erwarten soll. Desgleichen alle Stunden. Es will durchs Creutz bewähret seyn, Da wird erkannt sein Krafft und Schein. Und leuchtt stark in die Lande.

8 Du, HERR, wolest sie bewahren vor diesem Geschlechte und uns behueten ewiglich.

6. Das wollst du, Gott, bewahren rein für diesem arg’n Geschlechte. und laß uns dir befohlen seyn, dass sichs in uns nicht flechte. Der gottlos Hauff ’ sich umher findt’. Wo solche lose Leute sind in deinem Volk erhaben.

9 Denn es wird allenthalben vol Gottlosen, wo solche lose Leute unter den Menschen herrschen.

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Ich hab ihr Fleh’n erhört. Der Hilfe Morgenrot, der reinen Wahrheit heller Sonnenschein soll sie mit neuer Kraft, Die Trost und Leben schafft, erquicken und erfreun. Ich will mich ihrer Not erbarmen, mein heilsam Wort soll sein die Kraft der Armen.“

5. Ar ie (Teno r) Durchs Feuer wird das Silber rein. Durchs Kreuz das Wort bewährt erfunden. Drum soll ein Christ zu allen Stunden Im Kreuz und Not geduldig sein. 6. Cho ral (vgl. Str. 6 Choral, mittlere Spalte)

a) Poetische und theologische Beobachtungen Es liegt nahe, auch die Choralkantate Ach Gott vom Himmel sieh darein (BWV 2) für den 2. Sonntag n. Trin.229, die auf eines der frühen Psalmlieder Luthers zu Ps 12 zurückgeht,230 in die Rubrik der Klagekantaten einzuordnen.231 Textlich haben wir,

229 „Die Kantate entstand zum 2. Sonntag n. Trinitatis, 18.6.1724, und wurde erstmals im Frühgottesdienst in der Thomaskirche aufgeführt. Die Predigt über das Sonntagsevangelium Lk 14,16–24 (Epistel 1 Joh 3,13–18) hielt Thomaspastor D. Christian Weise d. Ä. Sie ist nicht erhalten.“ (Petzoldt I, 64). Es handelt sich um die zweite Kantate des Choralkantatenjahrgangs von 1724/25, der mit BWV 20 eröffnet wurde. War in jener der cantus firmus des Eingangschores im Sopran, so liegt er hier – was äußerst selten vorkommt – im Alt, während sich in den beiden folgenden Kantaten der cantus firmus dann im Tenor (BWV 7 zum Johannistag) und Bass (BWV 135 zum 3. Sonntag n. Trin.) findet. 230 Vgl. Rößler 45, demzufolge dieses Lied in „Auseinandersetzung mit den religiösen Richtungen seiner Zeit entsteht und zuerst auf die Melodie der mittelalterlichen Osterprozession (NUN) FREUT EUCH ALLE CHRISTENHEIT“ gesungen wurde. 231 Petzoldt I, 84, kann für Hannover 1698 und Mühlhausen 1712 eine De-tempore-Benutzung des Lutherliedes für den 2.  Sonntag n. Trinitatis nachweisen. Die breite Verwendung durch das ganze Kirchenjahr, lässt allerdings eher vermuten, dass das Lied eine hohe Allgemeingültigkeit aufweist, die es eher zu einem Kirchenlied „per ogni tempo“ (vgl. BWV 21 bzw. 51) werden lässt. Die Kantate selbst hat wohl „schon im 18.  Jahrhundert verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit

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was für das Verständnis dieser Choralkantate zentral ist, drei Schichten zu bedenken. Ausgangspunkt ist der biblische Psalmtext, der das – wahrscheinlich nach­ exilische – Klagelied eines Einzelnen232 wiedergibt. Die Klage wird in Psalm 12 – was selten vorkommt – in vierstelliger Relation „Ich – Gott – Arme – Bedrücker“ entfaltet.233 Es fällt auf, dass gegenüber der Vorlage des Psalms im Choral schon eine Akzentverschiebung stattgefunden hat, die das Thema „falsche Rede“ stärker in Richtung „Bedrohung durch falsche Lehre“ beleuchtet.234 Der ursprüngliche Gegenstand ist die überhebliche Rede loser Menschen, die durch Worte andere verführen und bedrücken. Dazu sei ausdrücklich auf Moses Mendelssohns Übersetzung des Psalms verwiesen: 1. Dem Sangmeister auf Haschminith, ein Psalm Davids. 2. Herr, steh uns bey! Die Frommen sind dahin; Die Zahl der Redlichen nimmt ab. 3. Ein jeder redet falsch mit seinem Nächsten; mit glatten Lippen, Doppelsinn im Herzen. 4. Vertilge, Herr! Die glatten Lippen alle! Die Mäuler, die so stolze Worte führen. 5. Die, welche sprechen: unsre Zunge ist frei; der Mund ist unser; wer meistert uns? 6. „Da ihr die Armen drücket; da die Geplagten seufzen; so will ich auf “, spricht Gott, „will Heil versichern dem, den sie wie Staub weghauchen!“ 7. Jehovens Worte sind geläutert, wie Silber in der Erde, seiner Werkstatt, von Schlacken siebenfach gereinigt. 8. Du wirst sie, Herr! erfüllen, wirst stets vor dieser Brut uns schützen! 9. Es wimmelt um und um von Frevelhaften, die Schmach der Menschheit kreucht, wie Würmer, aus!235 erregt […]: Abschriften der gesamten Kantate sind in Sachsen und Thüringen nachzuweisen, Kopien des motettischen Eingangschors in Berlin und sogar in Wien.“ (Schulze, 305) 232 Auch wenn die Gattung nicht leicht zu bestimmen ist, besteht in dieser Hinsicht unter den Exegeten Einigkeit: vgl. Kraus I, 94. Theologisch wesentlich ist, dass der wahrscheinlich nachexilische Psalm (vgl. Deissler, 60) einen Gotteszuspruch in der Mitte hat, der die Wende von der Klage zum Vertrauensbekenntnis bringt. Kraus, a. a. O., kommentiert in Anlehnung an die berühmte These von Begrich: V6 „ist ein (durch den Priester oder Kultpropheten) vorgetragener Gottesspruch“, der bezeichnenderweise nicht vom Gericht über die Frevler, sondern vom Erbarmen Gottes gegenüber den Armen spricht. 233 Im Gegensatz zu Ps 13, der das Beziehungsgefüge dreistellig anlegt (Gott – Beter – Feinde) ist Ps 12 komplexer. Der Betende solidarisiert sich im Gebet fürbittend mit den Unterdrückten und fordert Gott zur Parteinahme gegen die Gottlosen auf. Seiner Bitte um Vertilgung der Frevler entspricht Gottes Antwort nicht, seine Rettung ist exklusiv auf die Erhörung der „Armen“ bezogen. Vgl. zum vierstelligen Beziehungsgefüge: Janowski, 60 bzw. Arnold, Kirchenlied, 191 ff, vgl. bes. 195. 234 Vgl. dazu die äußerst genaue und übersichtliche Synopse bei Petzoldt I, 60–65. 235 Vgl. Arnold, Kirchenlied, 191 f.

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Die poetische Vorlage Bachs rahmt das Werk durch die erste und letzte Choralstrophe des Lutherliedes und nimmt einzelne Verse aus Str. 2 und 4 im 2.  und 4. Satz wörtlich auf, geht aber ansonsten mit der Vorlage recht frei um.236 Hinweise oder Andeutungen auf das Evangelium des Sonntags (Lk 14) gibt es so gut wie keine.237 Satz 2 akzentuiert das Thema falsche Lehre durch die Begriffe „Bibel“ und „Kirche“ und teilt gegen die „törichte Vernunft“ der Aufklärung kräftig („Stank, Moder“ etc.) aus. Der Dichter nimmt dabei auf das Wehe Jesu aus seiner Gerichtsrede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer nach Mt 23,27 Bezug: „Ihr Heuchler, die ihr seid gleichwie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und Unrat!“ In Satz 3 wird die wörtliche Rede der „Feinde“ in komprimierter Form aus dem Choral aufgenommen, als hochmütige „Ketzerei“ disqualifiziert und in unmittelbarer Anrede als Bitte vor Gott gebracht: Aus „Trotz! Wer will uns wehren!“ und „Wer ist’s, der will uns meistern!“ (Z. 3+7) wird „Trotz dem, der uns will meistern!“. Besonderes Augenmerk verdient das folgende Rezitativ (Satz 4) mit der Stimme des Solobass als vox Dei, einer Gottesrede, die in Ps 12 wohl ursprünglich im Munde eines Priesters oder Propheten zu denken ist.238 Innerhalb der Sätze 2–5 sind hier am meisten Formulierungen aus dem Choral aufgenommen (vgl. Synopse). Das Rezitiativ nimmt zunächst die Schilderung der Not aus Satz 1 auf und konzentriert sich, angelehnt an Sir 35,21239 begrifflich auf die Verben „verstört werden“ bzw. „seufzen“ und die Substantive, „Arme“ bzw. „Elende“, deren Situation Ausgangspunkt der Klage war. Luther bringt mit der Wendung „Ich hab ihr Klag erhöret“ im Choral auch die entscheidende hermeneutische Kategorie für das Geschehen ins Spiel: Es geht um das Versprechen, dass Gott die Klage erhört hat und das Leid sich dadurch wendet.240 Der Dichter verstärkt diese Zusage, indem er sie noch ausführlicher als der Reformator und der Psalmist entfaltet und poetisch ausschmückt. Zwei Verse aus Str. 4 des Chorals rahmen das Rezitativ: Das Stichwort „Arme“ bildet eine inclusio und nimmt zusammen mit dem Verb „erbarmen“ zentrale Begriffe des Eingangschors auf. Außer starken Bildern wie „Morgenrot“ und „Sonnenschein“ (Metaphorik eines Sonnenaufgangs) verwendet der Dichter auch theologisch aufgeladene Substantive wie „Trost und Leben“ oder die Verben „erquicken und erfreuen“ (Assonanz), welche die Zusage der Er

236 Vgl. Schulze, 303 und Dürr, 454. Vgl. ähnlich BWV 121,1 und BWV 21,9. 237 Interessant ist, dass das Evangelium mit dem Gleichnis vom großen Abendmahl offenbar sehr unterschiedlich aufgenommen werden kann: Mit der doxologischen Kantate Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) und mit eben unserer Choralkantate BWV 2, die – wie Petzoldt I, 65 anmerkt – der „Normalform“ einer Leipziger Kantate Bachs im Allgemeinen und einer Choralkantate im Besonderen entspricht. 238 Vgl. Kraus I, 94. 239 Vgl. Petzoldt I, 68. In Sir 35,21 heißt es: „Das Flehen des Armen dringt durch die Wolken bis es am Ziel ist. Es weicht nicht, bis Gott eingreift und Recht schafft als gerechter Richter.“ (Einheitsübersetzung) 240 Dies entspricht m. E. exakt der berühmten These von Begrich, wonach die Wende von der Klage zum Lob in den Klagepsalmen durch ein priesterliches „Heilsorakel“ motiviert ist.

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hörung veranschaulichen. Stilmittel ist in beiden Fällen das Hendiadyoin, also ein komprimierter Parallelismus. Der dritte Teil des Psalms nach der anfänglichen Klage und dem darauf folgenden Orakel in V7–9 ist ein Vertrauensbekenntnis, das mit dem Bild des geläuterten Silbers die Bedrängnis durch die Feinde (im Nachhinein) als hilfreiche Glaubenserfahrung deutet. Als Vertrauensbekenntnis ist auch der fünfte Satz der Kantate angelegt, der wie die 5. Strophe in Luthers Lied dezidiert christliche Sprache enthält. Im Choral wird durch den Hinweis auf das Kreuz die Dimension der Nachfolge (imitatio Christi) eingeführt, womit der Psalm eindeutig christologisch besetzt wird. Luthers letzte Strophe schließt wie die Kantate prospektiv mit der Bitte um Verschonung vor einer weiteren Bedrohung durch „lose Leute“. b) Musikalische Analyse Kommen wir zunächst zum Eingangschor der Kantate, einer musikalischen „Klage über die Abkehr der Menschen von Gott und ihre Verführung zu gottlosem Leben durch ketzerische Lehren“241. Der altertümliche Charakter des Stückes wird durch die strenge dorische Choralmelodie unterstrichen, die folgende Text-TonBezüge aufweist: – „Ach Gott vom“: aufsteigende und fallende kleine Sekund als Ausdruck der Klage, „Seufzermotiv“ – „Himmel“: Spitzennote auf Himmel im Sinne einer Hypotyposis; – „sieh darein“: fallende Phrase im Sinne einer Katabasis, die Gottes Herabneigen abbildet; – „erbarmen“: fallende Phrase, ebenfalls im Sinne einer Katabasis, die Gottes Gnade abbildet; Archaisch wirkt auch der motettische Satz242 und die colla-parte-Verdopplung des Chors durch vier Posaunen im Stil Johann Pachelbels.243 Dadurch entsteht ein dunkler Gesamtklang, der für heutige Hörer die Assoziation „Friedhof “ wecken mag. Interessant ist für uns Bachs musikalischer Umgang mit dem Material des Chorals sowie die Struktur des Satzes: Die Gesamtanlage ist dreiteilig, sie folgt dem Aufbau des Chorals mit Stollen (T. 1–51) – Stollen (T. 51–102) – Abgesang (T. 102–167). Ungewöhnlich ist der Beginn: Ohne instrumentales Vorspiel ziehen sich drei Vorimitationen durch den Chorsatz (Tenor, Bass, Sopran), ehe der Alt mit dem cantus firmus (T. 15) einsetzt. Die Originalmelodie ist an einer entscheidenden Stelle überraschenderweise chromatisch abgewandelt, die besondere Aufmerksamkeit verdient: Es geht um das Reimpaar „erbarmen“ – „Armen“ (vgl. T. 43–47 bzw. 93–96 im cantus firmus).244

241 Dürr, 454. 242 Vgl. Petzoldt I, 66 bzw. ähnlich BWV 121,1 und BWV 101 (s. unten, 3.3). 243 Schulze, 304 merkt völlig zutreffend an, dass „im Unterschied zur Mehrzahl der Choral­ kantaten“ dem „Instrumentarium hier keine konstitutive Funktion zugewiesen“ wird, wir haben es mit einem „rein vokal konzipierten Satz“ zu tun. 244 Vgl. Petzoldt I, 66, der von „lamentoartigen chromatischen Abgängen“ spricht.

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Bach richtet also, dies ist ein erster wichtiger Hinweis, im Verlauf des Satzes seine Aufmerksamkeit auf die fallende kleine Sekund (Seufzer), die aus dem Kopf­motiv des Chorals „Ach Gott vom“ (T. 1 f) entwickelt ist. Sie wirkt motivbildend und erhält im Verlauf des Satzes eine doppelte Funktion im Sinne menschlicher Klage und göttlichen Trostes: a) Klage T. 15 f: „Ach Gott“ (Seufzer) in Alt, Sopran und Bass „Wir Armen“: T. 69 f, Bass vgl. T. 93 und die Vorimitationen: Z. 78–80 (T); 81–83 (B) 82–84 (S) b) Trost T. 43: „Erbarmen“ und die Vorimitationen: T. 13 f; T. 28–30; T. 31–33; T. 32–34

Dass diese Aspekte hier „bevorzugt behandelt“ werden, ist nicht nur theologisch sachgemäß, sondern auch musikalisch relevant, wenn man beachtet, dass Bach nur an diesen Stellen ausgedehnte Melismen in allen Stimmen245 durchführt: „Wir Armen“ korrespondiert also exakt mit „Erbarmen“, wodurch ein erstaunlicher theologisch-anthropologischer Zusammenhang erkennbar wird: Im einen Fall wirkt der Passus duriusculus als Ausdruck der Verlorenheit und Machtlosigkeit des Menschen, im anderen Fall manifestiert er Gottes herabneigendes Erbarmen (Katabasis).246 Rechtfertigungstheologisch gesprochen: Der Situation des armen verlorenen Menschen (homo perditus et reus) korrespondiert das gnädige Handeln des rettenden Gottes (Deus iustificans et salvator).247 Weitere Text-Ton-Bezüge finden sich im Eingangschor ab der Textstelle „Verlassen sind wir Armen“ (T. 95–97). Mit einer übermäßigen Sekund beim Verbum „verloschen“ reißt in T. 145 f der Satz im Tenor ab, ein unmittelbares „Verlöschen“ wird damit abgebildet (Abruptio). Im folgenden Rezitativ, das textlich in der Tradition der Feindklage (vgl. Ps 13,3b bzw. Ps 22,13 f) und der prophetischen Schelte der Falschheit (vgl. Jer 5,31) steht, wendet sich Bach mit großer Hingabe den Bildern zu, die einerseits die Klage lebendig machen und andererseits die falsche Lehre der Feinde schildern. Er kehrt dies durch affekthaltige Figuren wie Parrhesia und Pathopoieia248 bzw. Saltus durisuculi, (vgl. T. 4: „o Jammer“, T. 12: „Unflat“ mit doppeltem Tritonus) deutlich hervor. Der Beginn ist äußerst originell: Bach zitiert zuächst in breitem Adagio die Choralmelodie in der Singstimme des Tenors („Sie lehren eitel falsche List“) und imitiert diese zwei Achtel später in einer Art Oktav-Engführung im instrumentalen Bass, lässt allerdings den Schlusston der Bassmelodie in einem kühnen Quintsprung nach unten fallen. Er bringt also die phrygische Kadenz nicht

245 Am Ende finden sich noch einige kleinere Melismen auf „(Menschen)-kindern“ in allen Stimmen, im Tenor gibt es weitere auf den Text „Heilgen“ (67 f), „verloschen“ (136): „allen“ (163 f). 246 Die Chromatik symbolisiert das Erbarmen Gottes, das in Krippe und Kreuz Christi Gestalt angenommen hat. 247 Vgl. das subiectum theologiae nach WA 40 II, 328: „homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator“. 248 Vgl. oben 1.7.2 Beide Begriffe stammen von Burmeister. Zur Unterscheidung beider, vgl. ­Bartel, 231–236.

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„ordentlich“249 zu Ende. Damit illustriert er drastisch die tückische List der „Gottlosen“ bzw. der „Feinde“, die eine Wahrheit nachahmen, sie aber falsch zu Ende bringen und dadurch zu hinterhältigen „Nachäffern“ der Wahrheit werden. Auch im Folgenden gewinnt die kleine Sekund bzw. die Chromatik (vgl. Eingangschor) zentrale explikative Bedeutung. Dies gilt besonders für den Continuo-Bass, aber auch für die Singstimme: T. 4, Continuo: kl. Sekund aufsteigend parallel zu betonten Noten der Singstimme: f – ges auf „Jammer“; T. 5–6, Continuo: kl. Sekund fallend auf den Text: „kränket“; T. 8, Tenor: auf den Text die „törichte“ (verknüpft mit einem überraschenden Sekund­ akkord im Bass) T. 9 f, Tenor: auf den Text „Totengräber“ (verknüpft mit einem überraschenden neapolitanischen Sextakkord)250 T. 12, fallend auf „lauter Unflat“ (mit ausgeflohener Kadenz vom Sekundakkord in einen entfernten verminderten Septimakkord)

Gerade in den letzten beiden Takten zeigt Bach nochmals die zum Himmel „stinkende“ Frechheit der falschen Lehrer, die nach außen schön (weiches F-Dur in T. 11) „glänzen“ (vgl. Mt 23,37), aber innen „faul“ sind. Man wird wenige Beispiele finden, in denen harmonische Satzregeln in ähnlicher Weise wie in T. 12 bewusst übertreten werden. Auch in der folgenden Da-capo-Arie mit „quasi ostinatem Bass“251 ist die kleine Sekund wieder von Bedeutung.252 Schon im charakteristischen Kopfmotiv: „Tilg, o Gott“ (T.  1 ff, instrumental T. 8 ff, vokal) ist sie präsent und zieht sich wie eine „fixe Idee“ durch den Satz, indem sie das flehende Bitten beinahe in jedem Takt (allein in T. 1–5 in Solovioline und Continuo schon zehnmal) beinahe penetrant in Er­innerung ruft.253 Der Umgang mit dem „Leitintervall“ der kleinen Sekund wirkt sich auch in Form von chromatischen Alterationen aus, wie wir sie an folgenden Stellen finden: In T. 20 wird das Verb „verkehren“ durch ein harmoniefremdes, tiefalteriertes as ausgeleuchtet, in T. 29 und 31 der zentrale Begriff der „Ketzerei“ durch einen Sekundvorhalt illustriert. In der folgenden Koloratur zeichnet Bach durch einen rhythmischen Konflikt von Sechzehntel-Duolen



249 Der Sextakkord in c-moll im 2. Takt lässt eigentlich als Abschluss der Kadenz ein D-Dur erwarten. Stattdessen findet mit einem „harten Sprung“ (Saltus duriusculus) eine Modulation über die „Mediante“ B-Dur nach Es-Dur statt. Bach deutet damit den Text: „Sie lehren eitel falsche List.“ Vgl. dazu Bernhard, TCA, Cap. 30 bzw. bei Bartel, 251 das schöne Beispiel „Und dein Hertz falsch gewesen ist“. 250 An dieser Stelle erreicht die Singstimme auch ihre tiefste Stelle, in der Figurenlehre wird diese Unterschreitung des Notensystems als Hypopole bezeichnet, vgl. Burmeister, M. P., 64: „Hypobole est Melodiae infra eius infimum Ambitus terminum subiectio.“ [=„Hypobole ist eine Unterschreitung der Melodie unter die unterste Grenze ihres Umfangs.“]. 251 Vgl. Küster, 252. 252 Die Gliederung der Arie gestaltet sich wie folgt: Instr. Vorspiel: T. 1–12; A: T. 13–21; Instr. Zwischenspiel: T. 21–28; B: T. 28–43 (16 Takte); Zwsp.: T. 43–48 C: T. 48–61 (große Kadenz mit Schluss in d-Moll, also 3. Stufe); A’: T. 62–72; Nachspiel: T. 72–79. 253 Vgl. Schulze, 305.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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und -Triolen254 das Aufeinandertreffen von rechter und falscher Lehre nach, die Gott letztlich abwenden möge. Die hier ausgedrückte Totalität („allen“) bekräftigt er durch eine drei­ fache Gradatio (Sequenz in T. 32–35). Am Höhepunkt des Satzes (T. 52 ff) arbeitet Bach die wörtliche Rede der Feinde heraus, die mit ihrem frechen Ausruf „Trotz dem, der uns will meistern!“ ihre Gotteslästerlichkeit frei an den Tag kommen lassen. Der Komponist spaltet dabei den Beginn ihres Ausspruchs „Trotz dem“ vom Rest des Satzes ab und markiert dies zunächst durch kleine Sextsprünge. Beim dritten Mal (Quartsprung) versieht er die Viertelnoten in der Singstimme (T. 53) sogar mit Keilen in der Artikulation worauf ein isoliertes „Trotz“ (T. 54) folgt. Dann klingt – was ein weiterer Kunstgriff ist – unter dem nunmehr vollständigen Text („Trotz dem, wer will uns meistern“) für kurze Zeit in rhythmischer Angleichung an den 3/4-Takt das Ende des Chorals an (T. 56–59, vgl. Str. 3: „wer ist’s, der sollt uns meistern?“)

Die bisher entfaltete Feindklage mündet dann in den zentralen Satz 4, in dem sich die Wende von der Klage zur Erhörung durchsetzt. In der Gesamtanlage des Rezitativs wird dies musikalisch dadurch unterstrichen, dass das affektgeladene deklamatorische Accompagnato255 nach 7 Takten  – dort nämlich, wo die Gottesrede einsetzt – in ein Arioso übergeht. Bach hat also die poetisch und theologisch zentrale Stelle erkannt und ihr nachgespürt. Gleich zu Beginn (T. 2 f) stehen Chromatismen im Sinne eines affektgeladenen Seufzens in der Singstimme („seuf-zend Ach“; „ängstlich Klagen“; „Kreuz und Not“) bzw. in Vl. 1 (ges-f bzw. c’’-des) im Vordergrund. Zusätzlich unterstrichen wird dies durch eine Abruptio und einen anschließenden Saltus duriusculus (Tritonus: a-es’ bei „ängstlich“). Die Klage ist in diesem Fall also durch den Grundaffekt der Angst konnotiert. Ähnliches ist auch im Continuo zu sehen: Hier beginnt die Bewegung mit einem Saltus duriusculus (es-A), schreitet chromatisch nach oben und fällt dann wieder mit einem Saltus duriusculus (B-E) nach unten. Dies wird in T. 5 noch durch einen über­mäßigen Quintsprung vom H zum Es noch übertroffen. Im Sinne einer Hypo­typosis wird an dieser Stelle (T. 5) dann das „Eindringen der Klage“ in Gottes Gnadenohr durch einen Oktavsprung nach oben (Singstimme) beschrieben. Harmonisch reiht Bach zahlreiche verminderte Septakkorde hintereinander, die selten regulär aufgelöst werden. Besonders die Rückung von T. 4 auf 5 mit der Parrhesia im Bass macht die außerordentliche Situation der Bedrohung deutlich.256 Im anschließenden Arioso, das (im Gegensatz zum Secco) in melodischer Gefälligkeit die Zusage Gottes entfaltet, finden wir im Wechsel von Singstimme und den Violinen sowohl aufsteigende als auch fallende Skalen. Sie bilden im Sinne einer Hypotyposis das aufsteigende Klagegebet („Ich hab’ ihr Flehn erhört“,

254 Die Triolen waren etwas zuvor eindeutig als „Auftrieb“ der „Rottengeister“ eingeführt worden. (Vgl. T. 39) 255 Interessant ist besonders T. 2, wo die Dissonanz des verminderten Septakkordes beim Wort „verstört“ durch eine Saltus duriusculus (vgl. Bartel, 250 f) in der Singstimme „angesprungen“ wird. Hier geschieht also etwas „Verbotenes, Gestörtes“. Das „seufzend Ach“ wird dann durch die Figur der Tmesis (vgl. Walther, Art. Tmesis und Vogt, 152 bzw. Bartel, 274 f) unterstrichen, Pausen unterbrechen die Silben des Wortes „seufzend“. 256 Zu erwarten wäre im Bass ein F als Grundton von f-moll.

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T. 8 f in Solobass und Vl. 1) und die herabkommende Hilfe (Vl. 1 in T. 9 vom Spitzenton d’’’ zum es’’ bzw. T. 11–14 vom d’’’ zum f ’’ bzw. in der Singstimme: T. 15: es’-g-fis) ab.257 Dies gilt auch für die Schlusspassage „mein heilsam Wort“ (T. 16 ff): Hier fällt die Singstimme in einer majestätischen Dreiklangsbrechung vom d’ zum d und steigt als sich zuwendende und erquickende Kraft wieder nach oben („soll sein die Kraft“). Am Ende hat sich der Instrumentalsatz geändert: Streicherakkorde unterstreichen emphatisch die göttliche Zusage. Die einzige melismatische Ausschmückung trägt das zentrale Stichwort „Armen“, womit das rahmende Leitwort von Satz 4 besonders hervorgehoben wird. Ein musiktheologisches Kunstwerk von großer Qualität und Dichte, das Herzstück der Kantate! Die folgende vier- bis fünfstimmige Arie entfaltet musikalisch das Thema „Kreuzesnachfolge“. Eine eingängige zweitaktige Melodie bestimmt sowohl das einleitende Ritornell als auch den Solopart des Tenors. Sein zweiter Teil  wird auch als Zwischenspiel (T. 11–15) verwendet. Wichtig für die Gesamtaussage sind die gleichsam kreuzförmig gegenläufigen Bewegungen in Streicher und Continuo bzw. Singstimme258 und die Tatsache, dass Vl. 1 beim Stichwort „Kreuz“ immer wieder den Tonraum eines Tritonus durchschreitet (T. 17 vgl. T. 21; 23; 32; aber auch T. 61 im B-Teil). Besonders hervorgehoben wird das „Kreuz“ in T. 32 durch eine Abruptio der Melodie mit dem irregulären Intervall einer verminderten Terz (Parrhesia) sowie in T. 34 durch einen (melismatischen) Passus duriusculus. Weiterhin fällt auf, dass die zentralen Substantive „Feuer“, „Silber“ und „Kreuz“ dadurch hervorgehoben werden, dass der Instrumentalsatz hier immer wieder ganz oder zumindest teilweise abbricht und der Singstimme „Vorfahrt“ gibt. Die Tatsache, dass der melodische Verlauf in der Singstimme fast immer aufsteigt (Anabasis), könnte im Sinne einer Hypo­typosis derartig verstanden werden, dass die „spirituelle Reinigung“ ein „aufsteigender Prozess“ ist. Auch im B-Teil, der gleichsam eine Weiterführung der ethischen Kreuzesthematik bringt, können wir nochmals Bachs Umgang mit dem Leitintervall der kleinen Sekund beobachten, wie wir es besonders im vorangegangenen Rezitativ entdecken konnten: In T. 50 f finden sich aufsteigende und T. 52 fallende Achtel-Seufzer bei „Kreuz“ und „Not“, in T. 57 setzen beim Stichwort „Kreuz“ nach zwei Takten Pause im piano die Instrumente wieder auf einem verminderten Septakkord ein, der in der Singstimme durch eine Vorhalt unterstrichen wird.

Insgesamt dient dieser Satz dazu, die Bedrohung, wie sie in der Klage vor Gott gebracht und durch die Erhörungszusage „geistlich aufgehoben“ wurde, nun in eine kreuzestheologische Nachfolgeethik zu integrieren.



257 Petzoldt I, 68 interpretiert den Satz „Ich muss ihr Helfer sein“ mit der lutherischen Tradition christologisch und schreibt dazu: „Aus dem Blick von Ps 12,6b wird der Hinweis auf den ‚Helfer‘, einem wichtigen christologischen Namen, entwickelt […], der im hebräischen Namen ‚Jesus‘ steckt. Die Selbstaufforderung Gottes ‚Ich muß ihr Helfer sein‘ ist die Selbstaufforderung Gottes zur Sendung Jesu Christi, des Gottessohnes.“ 258 Dürr, 455 vermutet, dass die „ständig auftretenden gegenläufigen Melodielinien […] auf die Umkehr des durch das Kreuz geläuterten Christen deuten.“

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Auf diesem Hintergrund können wir auch den Schlusschoral verstehen, der die letzte Strophe des Lutherliedes unverändert aufnimmt259 und im Sprechakt der Bitte nochmals das Grundanliegen der Kantate zusammenfasst, dass Gott der Verführung durch falsche Lehre und der Bedrückung durch falsche Lehrer wehren möge. Auch hier setzt Bach nochmals (gegen die Erwartung konventioneller Stimmführung) das Intervall der kleinen Sekund „in Szene“ und kehrt durch diese Chromatik die Bedrohung der Zerstörung des Glaubens hervor: „für diesem arg’n Geschlechte“ (T. 2–4) sowie „gottlos“ (Bass, T. 9 mit Tritonus zuvor) und „lose Leute“ (Sopran/Alt, T. 11 f, mit dem harmonisch ungewöhnlichen über­ mäßigen Dreiklang (d-fis-b). c) Überlegungen im Blick auf die gottesdienstliche Inszenierung Aus dem Gesagten dürfte klar hervorgangen sein, dass BWV 2 in Satz 4 mit der Gottesrede und ihrer explizite Zusage einen klaren Höhepunkt und eine Mitte hat. Es liegt daher nahe, vor diesem Satz abzutrennen und den Verkündigungsteil folgendermaßen aufzuteilen: a) Evangelium Lk 14,16–24 – Credo – Gemeindelied EG 273,1–3 – Kantate, Satz 1–3 – Predigt I – Kantate, Satz 4 – Gemeindelied EG 273,4 f – Predigt II – Kantate 5–6 – EG 273, 6 (alternativ: Predigt und Satz 4–6) Da das Evangelium allerdings wenig Bezüge zur Kantate bietet und das hermeneutische Zusammenspiel zwischen Psalm, Choral und Kantate grundsätzlich theologisch und liturgisch reizvoll ist, wäre es sicher besser, Psalm 12 als biblische Lesung zu wählen und das Evangelium vorab anstelle der Epistel zu lesen. Luthers Psalmlied260 könnte dann die Brücke zwischen Lesung und Kantate bzw. Predigt und Kantate bilden.261 b) Lesung bzw. Gebet mit Psalm 12,1–5 – Gemeindelied EG 273,1–3 – Kantate Satz 1–3 – Predigt I – Lesung: Psalm 12,6–9 – EG 273, 4 f – Kantate 4–6 –[Predigt II] – Credo – EG 273,6



259 Im EG ist er ersatzlos gestrichen und stattdessen durch eine Gloria-Patri-Strophe (Straßburg) ersetzt worden. 260 Vgl. dazu Arnold, Kirchenlied, 173–201, bes. 191–196. 261 Ggf. könnte sogar Jorissens Liedpsalm zu Ps 12 herangezogen werden, der einen interessanten Kontrast zu Luthers Nachdichtung bietet, vgl. Arnold, Kirchenlied, 191–196.

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2.4.2 Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) Ein besonders schönes Beispiel für eine „Klage- und Trostkomposition“ ist die bekannte Kantate Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21). Sie wurde am 17. Juni 1714, dem 3. Sonntag n. Trin.,262 vielleicht als Abschiedsmusik für den Prinzen von Weimar, zum ersten Mal aufgeführt.263 Mit dem Titel Per ogni tempo hat Bach möglicherweise im Nachhinein ganz pragmatisch dieser Kantate eine Allgemeingültigkeit zugestanden und damit aus der Not fehlender Bezüge zum Proprium des 3.  Sonntags n. Trin. eine Tugend gemacht.264 Die Thematik ist nämlich – ähnlich wie in Jauchzet Gott in allen Landen (BWV 51)265 – so elementar, dass sie nicht auf eine bestimmte Zeit im Kirchenjahr beschränkt werden kann. Not und Trauer gehören ebenso in jedes Christenleben wie die Erfahrung der Zuwendung Gottes und die neue Hoffnung. Sie geschieht im Umgang mit dem Psalter als Quelle des Gebetes (vgl. BWV 21, Satz 2–6.9) und in der persönlichen Begegnung mit Christus (vgl. Satz 7 f). Dennoch ist die Aufgabe einer Interpretation der Dichtung in dieser aus zahlreichen unterschied­lichen Bibeltexten vor allem des Alten Testamentes (z. B. Psalmtexte und Poesie des Hohenliedes) „gespeisten“ Kantate, deren Text in vielfacher Hinsicht an ­Salomon Franck erinnert,266 nicht einfach. Hier finden sich nämlich recht heterogene267 verschiedene Sprechakte und poetische Gattungen versammelt: affektreiche madrigalische Gebete zwischen Angst und Klage, Sprechakte der Zusage und des Vertrauens, Aussagen inniger Jesusliebe und – wie ein erratischer Block am Ende – ein hymnischer Lobpreis aus der Johannesapokalypse.



262 Über die komplizierte Überlieferungsgeschichte des Werkes von der ersten belegten Auf­ führung im Juni 1714 über die Bewerbung um die Organistenstelle an St. Jacobi in Hamburg 1720 bis hin zur (umgearbeiteten bzw. umbesetzten) Leipziger Erstaufführung am 13. Juni 1723 soll hier ebensowenig spekuliert werden wie über die Genese der Vorfassung BWV 21a, die – wie Petzoldt aufgrund einer Bestattungspredigt über Ps 94,19 nachweisen kann – „womöglich zum Gedächtnisgottesdienst für Aemilia Maria Harres (1665–1713) entstanden“ ist und am 8.10.1713 erstmals aufgeführt wurde. Sie hätte dann die Sätze 2–6 und 9 umfasst, vgl. Petzoldt, Erquickung, 45. 263 Diese Tatsache ist autograph verbürgt. Jauernig hat die Vermutung geäußert, dass der Anlass für diese Kantate ein geplanter Kuraufenthalt des Prinzen Johann Ernst war, der sich in jener Woche zu einer Behandlung in den Taunus aufmachte. (Vgl. ähnlich Schulze, 307.) 264 Bezüge zur Epistel 1 Petr 5,6–11 sind nur mit einigem Wohlwollen erkennbar, vgl. Jauernig, 49: „In der Epistel ermutigt der Apostel die Gemeinde, das Leiden dieser Welt eine kleine Zeit zu tragen, sich unter die gewaltige Hand Gottes in Demut zu beugen, unter die Hand des Herrn, der ein Gott der Gnade ist. […] Das Apostelwort klingt aus in einem Jubelbekenntnis: Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Diese Anknüpfung erscheint mir aber nicht wirklich überzeugend, was im Grund auch für das Wochenlied gilt, vgl. Petzoldt I, 76, der Georg Neumarks „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ in zeitgenössischen De tempore-Registern nur am 1., 5. und 7. Sonntag n. Trin. nachweisen kann. Wenn man überhaupt einen Propriumsbezug herstellen will, dann wäre m. E. am ehesten der Sonntag Jubilate (Joh 16,16–23) denkbar. (vgl. Petzoldt, Erquickung, 35.) 265 Auch hier gibt es einen ähnlichen Hinweis des „Liturgikers“ Bach. Er schreibt neben den 15. Sonntag n. Trin.: „et in ogni Tempo“. 266 Vgl. Dürr, 460; Petzoldt I, 76 und Werthemann, 142. 267 Vgl. Schulze, 308, der meint, Bach habe „geradezu vorsätzlich Heterogenes vereinigen“ wollen.

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Diese Disparatheit gilt auch für die Musik: Besonders die Sätze 6 und 9 sind erkennbar in einem archaischen motettischen Stil komponiert, der eher in die Mühlhausener Zeit passt, während z. B. Satz 7 und 8, aber auch schon Satz 3–5 und 10 ausgesprochen „modern“ sind. Dies deutet darauf hin, dass Satz 2, 6 und 9 möglicherweise schon vor der ersten Auf­führung in anderen Zusammenhängen musiziert worden sein könnten, während die anderen Sätze ihrerseits in engerer Beziehung stehen könnten. Christoph Wolff268 hat von diesen Beobachtungen und der Tatsache ausgehend, dass Bach entgegen der Leipziger Fassung von 1723 ursprünglich nur zwei Soli vorgesehen hatte (Tenor und Bass 1714 und Sopran und Bass 1720) eine interessante These vorgelegt: Er geht davon aus, dass die Solosätze der Kantate einen stimmigen Dreischritt durchlaufen und die Kantate selbst als „Dialogkantate“ konzipiert war: Der rote Faden ginge dann von der „betrübten Seele“ (Prolog: Satz 3–5) in ein „leidenschaftliches Zwiegespräch“ der Seele mit Jesus über (Satz 7–8) und mündete in die Gewissheit der „geströsteten Seele“ (Epilog: Satz 10). Allerdings bleiben dabei auch noch Fragen offen: Warum hat Bach dann in den ersten Wochen seiner Tätigkeit in Leipzig wieder eine Erweiterung der Soli vorgenommen und drei statt zwei Solisten akzeptiert?

Um diese Fragen wissend, kommen wir nun zu einer komprimierten musikalischtheologischen Analyse der Kantate: Der Eingangschor (nach Ps 94,19) markiert nach der ruhig schreitenden Sinfonia mit quasi konzertierender Oboe und Vl. 1, gleichsam die zusammenfassende Überschrift für das, was im Folgenden an Gottes- und Welterfahrung entfaltet wird. 2. Cho r Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen;269 aber deine Tröstungen erquicken meine Seele.270

Das dreifache „Ich, ich, ich“ in den Anfangsakkorden271 korrespondiert mit den Tonwiederholungen des Themas der sich daran anschließenden Permutationsfuge und führt uns einen buchstäblich auf der Stelle tretenden, angefochtenen und klagenden Menschen musikalisch vor Augen.272 Dies darf jedoch nicht indivi­ dualistisch missverstanden werden. Denn die polyphone Struktur macht „nicht

268 Vgl. Wolff, Dialog-Charakter, 139–145. 269 Vgl. Reddemann, 109: Selten lässt Bach „eine Textzeile im Kantatenwerk so häufig wieder­ holen: Insgesamt taucht der Themenkopf 27-mal auf. Da das Wort ‚Bekümmernis‘ im Textfluss wiederholt wird, erklingt es im gesamten Stück sogar 57-mal. Der junge Bach kennt Bekümmernis gut, und er gibt ihr Raum und Zeit. Die Wirkung der häufigen Textwiederholungen [….] stecken in ihrer Traurigkeit an.“ 270 Olearius III, 538 kommentiert Ps 94,19 u. a. folgendermaßen: „… es wachsen allerley verderbliche Gedancken […] herfür / wie die alten Bäume an der Wurtzel ausschlagen. Die ängstlichen Sorgen verbrennen gleichsam das Hertz. […] deine Tröstungen / das kräfftige Labsal der Betrübten NB. Nicht eine oder zwey / sondern deine vielfältige unzehlige / reichliche Tröstungen Iob 15/11.“ 271 Zur Kritik an den Wiederholungen, vgl. Matthesons Critica musica II, 368 bzw. Spitta I, 529 f. bzw. ausführlich Petzoldt, Erquickung 31 f. 272 Eine Verbindung zum „Gleichnis vom verlorenen Sohn“, dem heutigen Evangelium zum 3. Sonntag n. Trin. vgl. EGB 354), scheint mir von hier aus durchaus denkbar. Vgl. dazu Werthemann, 140: „Trotzdem ist es nun aber interessant, dass im Lied von Rist ausgerechnet das dritte Gleichnis aus Luk. 15, dasjenige vom verlorenen Sohn, erwähnt wird: ‚Ist dein Heiland von dir gangen: / Er wird widerkommen schon. / Und mit Frewden dich umbfangen / Recht wie den verlornen Sohn.‘ (Strophe 11)“.

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nur die Größe des Leids“ deutlich, „sondern setzt den einzelnen Trauernden in Bezug zur Gruppe aller Trauernden: Man ist in der Trauer nicht allein.“273 An der Stelle „Aber“ – für einen Takt geht das Metrum hier in ein breites Adagio über – wird dann die „Wende“ musikalisch inszeniert: Erstens ändert sich das Tempo (Vivace), zweitens die Harmonik (statt c-moll nun das parallel Es-Dur)274 und drittens finden sich statt vorwiegend syllabischer Diktion nun vermehrt auch melismatische Strukturen in Sing- und Instrumentalstimmen (meist colla parte). Namentlich auf dem Wort Seele gibt es z. T. lange Koloraturen. Am Ende einer über drei Takte auf- und abwogenden strahlenden Koloratur (T. 44–47) schließt sich eine Kadenz mit dem Spitzenton b’’ im Chorsopran an (vgl. ähnlich T. 50–54)275, womit der fulminante Höhepunkt des Satzes erreicht ist. Dieser klingt in einem verhaltenen Andante aus, in dem die Grundtonart c-moll (c dorisch) und die syllabische Diktion wiederkehren, ohne dass allerdings der Text des Anfangs aufgenommen würde. Es werden also beide Teile zu einer Art „Synthese“ zusammen geführt. Nach der inneren Erregung ist eine Beruhigung eingetreten, ohne dass die Spannung gänzlich aufgehoben wäre. Die Sätze 3–5 sind äußerst expressive Beispiele für eine madrigalische Klage. Besonders in Satz 4, der rezitativischen „Klage eines Gottverlassenen“276 wird die Erfahrung der lebensbedrohlichen Abwendung Gottes ausgesprochen. In der folgenden Arie erfährt sie eine bildhafte Vertiefung: Das Lebensschiff droht auf Grund zu laufen und vom Schlund der Hölle verschlungen zu werden. Doch betrachten wir die Stücke im Einzelnen: 3. Ar ie (S opran) Seufzer, Tränen, Kummer, Not, ängstlichs Sehnen, Furcht und Tod nagen mein beklemmtes Herz, ich empfinde Jammer, Schmerz.277

Diese Arie, die ganz ohne Elemente der Bitte und einer Anrufung Gottes (vgl. ähnlich Satz 5) auskommt, zeigt uns einen Menschen, dem Gott völlig abhanden gekommen ist. Er scheint in seinem Schmerz so auf sich geworfen, dass er keinen Ausweg mehr weiß. Im Gegensatz zum folgenden Rezitativ haben wir eine ex­ plizite Ichklage (vgl. Ps 13,3a) vor uns. Der an Substantiven etwas überladene Text erscheint auf den ersten Blick wie ein geläufiges „Produkt“ der Kantatenpoesie des 18. Jh., was ähnliche Dichtungen wie etwa BWV 13,1 von Lehms278 zu belegen scheinen, die Bach übrigens auch mit ähnlichen Mitteln vertont.

273 Reddemann, 109. 274 Leipziger Fassung, vgl. d-moll und F-Dur in der früheren Fassung von 1714. 275 Vgl. Spitta I, 526, der von einem „glänzenden Auf- und Abwogen sämtlicher Sing- und Instrumentalstimmen in Sechzehnteln bei vorherrschendem Durcharakter“ spricht. 276 Spitta, ebd. 277 Musikalisch wird dies durch die dunkle Tonart c-moll, Seufzermotivik (vgl. T. 10), Passi und Saltus duriusculi (vgl. T 1 bzw. 8; 13) und Parrhesia bzw. Pathopeia (vgl. Burmeister, M. P., 61) ausgedrückt. 278 Vgl. oben 2.1.2. Die Ähnlichkeit zwischen BWV 21,3 und 13,1 besteht in Taktart (12/8-Takt) Besetzung (Oboe) und Seufzermotivik („Seufzer, Tränen“ usw.).

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Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Dichter Johann Rists „Herzliches Klag- und TrostLied einer angefochtenen, hochbetrübten Seelen, so mit Angst und Verzweiflung ringt“, das Werthemann schon 1965 ins Gespräch um BWV 21 gebracht hat,279 kannte und seine spirituelle Aussage pointiert veränderte. Die erste Strophe Rists bietet zunächst nur gewisse Anklänge (Jammer) und verharrt wie Str. 2–9 im Affektbereich der Trauer: Jammer hat mich gantz umgeben, Elend hat mich angethan. Trawren heist mein kurtzes Leben, Trübsal führt mich auf den Plan. Gott, der hat mich gar verlassen, keinen Trost weis ich zu fassen hie auff dieser Unglücksbahn.280

Musikalische Keimzelle der langsamen Arie Bachs (Molt’ adagio) ist der fallende übermäßige Dreiklang (vgl. T. 1) und zahlreiche Seufzermotive (kleine SekundFortschreitungen mit abgezogenen Lamentoachteln), die die Not des Betenden, ja ganz unmittelbar sein Weinen vor Augen und Ohren führen. Emotionaler Höhepunkt ist der Septsprung zur Fermate (T. 22) beim Wort „Schmerz“ in der Sopranstimme. Danach werden die Einwürfe des Soprans immer mehr vereinzelt und in Dreitongruppen „isoliert“. Diesem ganz im Inneren verharrenden, Gott noch in keiner Weise anredenden Lamento folgt das „Klagelied“ des Tenors (Satz 4 und 5), das den eigenen Schmerz vor Gott ausbreitet: 4. Rezit ativ (T eno r) Wie hast du dich, mein Gott, in meiner Not, in meiner Furcht und Zagen denn ganz von mir gewandt? Ach kennst du nicht dein Kind? Ach! Hörst du nicht das Klagen. von denen, die dir sind in Bund und Treu verwandt? Du warest meine Lust und bist mir grausam worden. Ich suche dich an allen Orten, ich ruf, ich schrei dir nach allein, mein Weh und Ach281, scheint jetzt als sei es dir ganz unbewusst.

Musikalisch ist dieses Rezitativ voll dessen, was Burmeister „Leidenmacher“ (Patho­poeia)  bezeichnet hat: Es finden sich Querstände (z. B. T. 3: as gegen fis bzw. as gegen a bei „Furcht und Zagen“); spannungsgeladene verminderte Sept­ akkorde, die oft nicht aufgelöst werden, sondern von einer Dissonanz in die

279 Auf ihren Beitrag beziehen wir uns in der folgenden Darstellung. 280 Vgl. Werthemann, 135. 281 Gleichsam tastend und buchstabierend ist hier das Suchen abgebildet. Dies wird durch den „zerschnittenen Satz“ (Tmesis) sinnenfällig.

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nächste wechseln (vgl. T. 5 f), Saltus duriusculi und Exclamationes (beim Ausruf „Ach“, T. 5 f). An der Stelle „Du warest meine Lust“282 scheint sich dann das Blatt zu wenden. Nach einer Rückung von G-Dur nach Es-Dur, das eine Art „Reminiszenz“ an heilvolle Zeiten evoziert und für 1½ Takte die Atmosphäre verändert, trübt sich der Satz wieder nach f-moll ein. In T. 11 steigert sich die Verzweiflung zum Aufschrei: „und bist mir grausam worden“ (vgl. Hiob 30,21), der in sich isolierende „Weh“ und „Ach!“-Rufe (Exclamationes) mündet. In dieser „spirituellen Tonart“ ist auch die folgende Arie gehalten: 5. Ar ie (Teno r) Bäche von gesalznen Zähren, Fluten rauschen stets einher.     Sturm und Wellen mich versehren     und dies trübsal volle Meer     will mir Geist und Leben schwächen,283     Mast und Anker wollen brechen.     Hier versink ich in den Grund,     dort seh ich der Hölle Schlund.

Wiederum bilden Seufzermotive im langsamen ersten Teil der Arie (vgl. Satz 3) das Weinen und Klagen des Gottverlassenen ab. Dieses Geworfensein auf sich selbst entspricht der Ich-Klage der biblischen Klagelieder des Einzelnen (vgl. Ps 13, 3a). Allerdings fehlen hier konkrete Feinde (vgl. Ps 13,3b; Ps 22,13–19), sie existieren gleichsam spiritualisiert in Gestalt von „Sturm und Wellen“, die im Mittelteil vorkommen. An dieser Stelle wird Bachs Komposition auch zur Augenmusik: In der Partitur bewegen sich die Streicherstimmen in halbtaktigen Wellen von Sechzehnteln (vgl. T. 25 f: mit auftaktig-komplementären Viertongruppen in den Violinen und durchgehender Sequenz in Viola und Continuo), das Tempo wird hier vom anfänglichen Largo zum Allegro (un poco) beschleunigt. Die Singstimme „beschreibt“ den Sturm284 in einem Auf und Ab, und zwar zunächst in einer 1½taktigen Koloratur (T. 27 f)  mit einer dreifachen Gradatio, die am Ende wieder zur gleichen Tonhöhe (es’) zurückkehrt. Auch hier zeigt sich wieder das Auf-sichselbst-Geworfensein des klagenden Menschen: Die Wasser- und Sturmmetaphorik verdichtet sich dann im abschließenden Adagio: Geist und Leben werden geschwächt, ja der Klagende sinkt gar in den „Grund“, womit der Höllenschlund285

282 Eingeleitet wird dieser Wechsel durch eine fast kuriose „Anspielung Bachs“ in T. 8, wenn zeitgleich zum Sologesang „mit Bund und Treu verwandt“ in Vl. 1 ein Choralzitat (Auf meinen lieben Gott), gleichsam als geistliche Anamnesis, angeführt wird (vgl. Petzoldt I, 78). 283 Vgl. ähnlich BWV 178,3, allerdings mit deutlicherer Feindklage: „Gleichwie die wilden Meereswellen / mit Ungestüm ein Schiff zerschellen, / so raset auch der Feinde Wut / und raubt das beste Seelengut. / Sie wollen Satans Reich erweitern, / und Christi Schifflein soll zerscheitern.“ 284 Vgl. BWV 81,3 s. o. 2.2.2. 285 Für Satz 4 und 5 ist – besonders angesichts der Schiffs- und Wellenmetaphorik der Arie – die sprachliche Verwandtschaft mit Rists Lied noch deutlicher zu greifen als im Blick auf Satz 3. Die Strophen 3 und 4 lauten:

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gemeint ist. Bach bildet dies mit einer schönen Katabasis ab, bei „Grund“ ist mit c° für den Sänger die tiefste Note erreicht. Außerdem bricht hier auch die Begleitung zum ersten Mal (Streicher) vollständig ab! Gewichtig scheint mir – was angesichts der sprachlichen Nähe zu Rist kaum zu überschätzen ist – die Beobachtung, dass Bachs Dichter hier völlig auf eine Rede von der Sünde als Deutung für das erlebte Leid verzichtet, sondern unverschuldete Not zur Sprache bringt. Dies ist nicht nur für unsere Untersuchung,286 sondern auch dogmatisch und seelsorglich ein wichtiger Gewinn und als Einsicht unbedingt festzuhalten. Die Arie mündet in eine aufmunternde Erinnerung an Gottes Güte (Ps 42,12): „Was betrübst du dich, meine Seele … Harre auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist.“ Diese Psalmstelle beschreibt einen inneren Dialog, eine Selbstaufforderung der hoffenden Seele gegenüber den verzagten Anteilen des inneren Menschen. Damit wird die Wende von der Klage zur Erhörung schon in Aussicht stellt, aber noch nicht vollzogen, wie der zweite Teil der Kantate beweist. Dieser Eindruck wird dadurch unterstrichen, dass die Musik an der Stelle „und bist so unruhig“ (T. 11–25) beschleunigt (spirituoso) und sich der homophone Satztyp des Chors imitatorisch verändert, während die Instrumente mit kurzen komplementärrythmischen Einwürfen (auch Sechzehntel) obligat über den Singstimmen liegen. Das obligate Fagott übernimmt mit einem eigenen sequenzierenden „Walking-Bass“ (gegenüber dem Basso Continuo) die Funktion des harmonisch-melodischen Motors (Quintfall in Achteln ausgefüllt). So entsteht der Charakter der Getriebenheit und Unruhe, der sich auch in der abschließenden Permutationsfuge in c-moll287 („dass er meines Angesichtes Hilfe“) durchhält. Eine „Beruhigung“ der Seele kommt nicht wirklich zustande, obwohl der ermutigende Ruf „Harre auf Gott“ in der Mitte des Satzes (T. 28–35) in breitem Adagio (Orgelpunkte) daher kommt und vor der Fuge in einem choralartigen homophonen Satz zusammengeführt wird. Darauf folgt der nach der Predigt (zumindest in Leipzig) sub communione musizierte zweite Teil der Kantate. An seinem Beginn stehen zwei Duett-Sätze, die „3. Ach mein Schifflein will versinken / recht auf diesem Sünden-Meer. / Gottes Grimm lässt mich ertrincken, / denn sein’ Hand ist viel zu schwer. / Ja, mein Schifflein läst sich jagen / durch Verzweifflungs-Angst und Plagen gantz entanckert hin und her. 4. Gott hat mein jetzt gar vergessen,  /  weil ich nicht an ihn gedacht.  /  Meine Sünd’ hat er gemessen  /  und mir feindlich abgesagt,  /  daß ich ringen muß die Hände.  /  Sein Erbarmen hat ein Ende / schier bin ich zur Hellen bracht.“ Während die poetischen Anklänge unübersehbar sind (vgl. auch Str. 16: „Brausen jetzt die Wasserwogen, morgen stillet sich das Meer“), gibt es theologisch erhebliche Unterschiede: Rist deutet die klägliche Situation von der Sünde des Menschen her, während der Dichter Bachs konsequent darauf verzichtet, vgl. dazu Str. 2: „Grausamlich bin ich vertrieben / von des Herren Angesicht, / als ich, ihn allein zu lieben, / nicht gedacht an meine Pflicht; / drumb so muß ich kläglich stehen. / Doch es ist mir recht geschehen: / Mein Gott rieff, ich hört’ ihn nicht.“ (Zit. nach Werthemann, 135) 286 Vgl. dazu die Kap. 2 und 3 zugrunde liegende Entscheidung, Deus absconditus und Deus iudicans zum einen bzw. Klage und Buße zum anderen gesondert zu behandeln. 287 Die vierfache Tonwiederholung beim Themenfkopf erinnert an Satz 2 („hatte viel Beküm­ mernis“).

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

poetisch die Gattung des im 17. Jahrhunderts weit verbreiteten Dialogs288 aufnehmen und zu den aufregendsten und innigsten Sätzen in Bachs Kantaten gehören. Sopran und Bass, die allegorischen Vertreter der Seele und Christi, unterhalten sich wie zwei Liebende.289 Dabei wird die Seele, für die es immer noch „Nacht“ ist (vgl. Cant 1,5; 5,17 u. ö.), was Bach durch den Tiefton c’ im Sopran (T. 6) zeigt, des Beistandes und der Hilfe Jesu vergewissert: 7. Rezit ativ (S opran und B a ss) Seele: Ach Jesu, meine Ruh, Mein Licht, wo bleibest du? Seele: Bei mir? Hier ist ja lauter Nacht.

Jesus: O Seele, sieh! Ich bin bei dir. Jesus: Ich bin dein treuer Freund, der auch im Dunkeln wacht, wo lauter Schalken seind.

Seele: Brich doch mit deinem Glanz und Licht des Trostes ein! Jesus: Die Stunde kömmet schon, da deines Kampfes Kron dir wird ein süßes Labsal sein.

Am Ende verdichtet Bach  – zur Illustration der „süßen Labsal“  – den Satz zu einem melodischen Arioso, das mit seinen kolorierten Figuren eine Krone abbilden dürfte (Vl. 1 und 2, T. 14–16). Die „Süßigkeit der Labsal“ ist dabei besonders liebevoll melismatisch entfaltet (Solobass, T. 15 f). Bach inszeniert im darauf folgenden Duett in großartiger Weise die sinnliche Begegnung des Glaubens, eine communicatio idiomatum der glaubenden Seele mit Christus. 8. Duet t (S opran, B a ss) Seele Komm, mein Jesu, und erquicke und erfreu mit deinem Blicke diese Seele / die soll sterben / und nicht leben und in ihrer Unglückshöhle / ganz verderben? Ich muss stets in Kummer schweben ja, ach ja, ich bin verloren, nein, ach nein, du hassest mich.

Jesus Ja, ich komme und erquicke! Dich mit meinem Gnadenblicke; … Deine Seele / die soll leben / und nicht sterben hier aus dieser Wundenhöhle / Sollt du erben! Heil durch diesen Saft der Reben. Nein, ach nein, du bist erkoren. Ja, ach ja, ich liebe dich.

288 Vorbilder für Bach könnten die Dialoge Rosenmüllers und v. a. J. P. Kriegers gewesen sein. Vgl. grundsätzlich Märker, Dialogkomposition. Zu den Dialogen mit den allegorischen Personen Seele-Jesus, vgl. Liebster Jesu, mein Verlangen (BWV 32) und Ich geh’ und suche mit Verlangen (BWV 49) bzw. BWV 145,1; 152,6 und 57,4. Weitere Beispiele von Dialogen finden sich in: Erschallet, ihr Lieder (BWV 172,5 mit dem Duett Seele und Heiliger Geist); Erfreut euch ihr Herzen (BWV 66,4 f mit Furcht und Hoffnung, vgl. unten 6.1.2) und O Ewigkeit du Donnerwort (BWV 60,1–4 vgl. unten 4.2). Darüber hinaus sind BWV 194,9 (Duett SB); 138,3 f; 134,3 (AT); 173,4 (Duett SB) und 249,4–10 (Osteroratorium mit Personen am Grab) zu nennen. 289 Spitta, dem dieser Dialog peinlich zu sein scheint, meint, dieser Effekt habe nicht in der Intention des Textdichters gelegen, da er „am Anfange erst der Seele und dann dem Basse eine zusammenhängende Partie zugetheilt hatte.“ (Spitta I, 532)

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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So erweist sich der, der selbst gelitten hat, als einer, der die leidende Seele stärken und trösten kann, indem er ihre Not aufnimmt und ihr Leid in Trost verwandelt. In der Mitte (T. 38 ff) geht die Musik von ihrem ruhigen Schreiten (halbtaktig ruhig-fließende Achtelbewegung im Bass) in einen beschwingten 3/8-Takt mit folgendem Text über: Seele Ach Jesu, durchsüße mir Seele und Herze! Komm, mein Jesu, und erquicke, mich mit deinem Gnadenblicke.

Jesus Entweichet ihr Sorgen, verschwinde du Schmerze! Ja, ich komme und erquicke, dich mit meinem Gnadenblicke. 

Dieses liebevolle Trostwort Jesu an die sehnsüchtige Seele ist der Schlüssel zu allem Weiteren, ja markiert die geistliche und musikalische Mitte der Kantate. Durch den Tempowechsel werden die Sorgen förmlich aus der Seele „verscheucht“. Mit der Formulierung „Entweichet ihr Sorgen“ und dem 3/8-Takt schaffen Bach und sein Dichter eine Verknüpfung des Jesuswortes zur späteren Arie (Satz 10), in der es heißt: „Entweiche nun, Kummer, verschwinde du Schmerze!“ Das intime Duett, das an die Mystik des Chorals Schmücke dich, o liebe Seele (J. Franck/ J. Crüger) erinnern mag, passt, nicht nur mit der Anspielung auf den „Saft der Reben“, vorzüglich zur liturgischen Situation der Abendmahlsaustei­lung,290 wo die persönliche Begegnung des Glaubenden mit Christus ihren gottesdienstlichen Ort hat. Dennoch ist mit dieser Platzierung die spirituelle Qualität dieses Stückes an und für sich nicht bestritten. Es kann auch im Konzertsaal oder an einem anderen gottesdienstlichen Ort seine Wirkung entfalten. Gerade im Vergleich mit dem 18-strophigen Lied von Rist, bei dem der Umschwung von Klage in Hoffnung nicht recht überzeugen kann,291 zeigt sich die theologische und performative Qualität der Poesie und der Musik Bachs, die in der dialogischen Be­gegnung Gewissheit schafft. Die Aussage des Jesuswortes wird dann in der fröhlich beschwingten Tenorarie wieder aufgenommen: 10. Ar ie (Teno r) Erfreue dich, Seele, erfreue dich, Herze, entweiche nun Kummer, verschwinde du Schmerze. Verwandle dich Weinen in lauteren Wein.292 Es wird nun mein Ächzen ein Jauchzen nur sein.

290 Vgl. Petzoldt I, 80, u. ö. ausgehend von den Gegebenheiten des Leipziger Gottesdienstes 1723. 291 Vgl. dazu die Strophen 10 und 11 des Rist-Liedes: „Liebste Seel hör auff zu schreyen, / Deines Klagens ist zu viel. / Nach dem Trawern kommt das Frewen,  /  Hertzens-Angst hat auch ihr Ziel.  /  Wechseln ist bey allen Sachen;  /  nach dem Heulen kann man lachen,  /  Gott, der treibt mit dir sein Spiel.“ Diese geistliche Deutung von Leid scheint nicht nur unbefriedigend, sondern auch theologisch anstößig, da sie Gott als einen schildert, der mit Menschen in unberechenbarer Weise „sein Spiel treibt“. Auf dem Hintergrund der Erlebnisse des Dreißigjährigen Krieges mag dies allerdings auch eine verständliche Äußerung sein. Auch Str. 11 mag uns heute nicht befriedigen: „Ist dein Heiland von dir gangen: / Er wird widerkommen schon / Und mit Frewden dich umbfangen / Recht wie den verlornen Sohn. Hat dein Liebster dich verlassen, / Ey er kann dich doch nicht hassen, / seine Güt’ ist doch dein Lohn.“ 292 Dies dürfte sicherlich eine Anspielung auf Joh 2 sein (vgl. oben 2.1.1 f zu BWV 155,1 und BWV 13,2), obwohl das Sonntagsevangelium Lk 15,1–10 (Doppelgleichnis vom verlorenen Schaf und Groschen) ist.

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

Es brennet und flammet die reineste Liebe, des Trostes in Seele und Brust, weil Jesus mich tröstet mit himmlischer Lust.

Durch die textliche Nähe und das beschwingte Zeitmaß des 3/8-Takes wird der Freudengesang über die erhörte Klage in seiner Verbindung zum Zuspruch des Duetts evident. Den Affektwechsel unterstreichen besonders die antithetischen Begriffspaare „Weinen“ und „Wein“, „Ächzen und Jauchzen“293 im Gegensatz zu Kummer und Schmerz. Wie Werthemann und Petzoldt294 gezeigt haben, dürfte hier eine Aufnahme von J. Arndt bzw. besonders P. Gerhardt vorliegen, der sein Lied Ach treuer Gott, barmherziges Herz mit einer eschatologischen Strophe abschließt: Daselbst wirst du in ewger Lust aufs süß’ste mit mir handeln: Mein Creutz, das dir und mir bewusst, in Freud und Ehre wandeln: da wird mein Weinen lauter Wein, mein Ächzen lauter Jauchzen sein. Das gläub ich: hilf mir, Amen.

Allerdings ist die eschatologische Ausrichtung der Gerhardtschen Strophe nicht mit der auf die Gegenwart bezogenen Tröstung in BWV 21 identisch. Das heißt, dass wir auch hier – wie bei der Aufnahme von Rist – eine prononcierte theologische Neuakzentuierung vorliegen haben. Zwischen den beiden Solosätzen steht ein motettischer Chorsatz über Ps 116,7, der im zweiten Teil mit dem Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ von G. Neumark kombiniert wird. Die Komposition vereint alte und neue Charaktere: „Der gesamte Text ist auf einem Tonleiterthema aufgebaut, dazu wird die erste der beiden Liedstrophen vom Tenor, danach die zweite vom Sopran vorgetragen.“295 Die aufsteigende Skala auf den Text „sei nun wieder zufrieden“ (vgl. Sopran, T. 8–12) bildet ab, wie sich die getröstete Seele aus dem „Jammertal“ nach oben erhebt, die Worte „denn der Herr tut dir Guts“ werden stets durch eine fallende Achtelbewegung eingeleitet, die für das Herabneigen Gottes (Katabasis) stehen mögen. Die bereits diskutierte Arie „Erfreue dich, Seele“ können wir als eine Art „Aufgesang“ zum strahlenden Hymnus des Schlusschors („Das Lamm, das erwürget ist“) nach Apk 5,12 f verstehen. Die Hoffnung des Einzelnen mündet in den Lobpreis der irdischen und himmlischen Gemeinde. Dabei ist besonders der Be­ ziehungsaspekt wichtig: Es geht hier um das Lob des Lammes, das sich für die Menschen dahingegeben und im Dialog seine Liebe versprochen hat.

293 Vgl. zur Metaphorik des verwandelten (Tränen)wassers auch die Kantaten zum 2. Sonntag n. Ep. (s. o. 2.1). 294 Vgl. Werthemann, 141 bzw. Petzoldt I, 82 bzw. Petzoldt, Erquickung, 37. Der Bezug zu Arndt vermag mich an dieser Stelle weniger zu überzeugen. 295 Dürr, 462.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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11. Cho r Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Lob und Ehre und Preis und Gewalt sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Erstmals treten hier die drei Trompeten dazu, die im Blick auf die doxologischen Festkantaten296 von zentraler Bedeutung sind. Nach einer langsamen Einleitung (T. 1–11), die in hymnischer Form das Lamm als Adressaten in den Blick nimmt, beginnt mit dem Allegro die eigentliche Rühmung Christi als Gott in Gestalt einer virtuosen Permutationsfuge. Fanfarenartig steigt das Thema „Lob und Ehre und Preis und Gewalt“ als Sinnbild für das gottesdienstliche Lobopfer nach oben. Damit setzt Bach die beiden Sprechakte „Würdig ist“ und „Lob und Preis sei“ musikalisch stringent voneinander ab. Die virtuose Koloratur auf das akklamierende Amen unterstreicht durch eine sechsfache Wiederholung (vgl. T. 17 f bzw. 21 f u. ö.) das Wort „Ewigkeit“. Strahlender Höhepunkt ist der Themeneinsatz der Trompete (T. 40–43), an dessen Ende sich der Chor erstmals im homophonen Satz (Noema) zusammenfindet. Ein Kleinod zur Textbehandlung Bachs soll diese Analyse schließen: „Im viertletzten Takt fügt Bach an einen vorläufigen Schluß auf ‚amen alleluja‘ […] noch einmal ‚Lob‘ an, bevor nach einer Pause der Satz zu Ende geführt wird. Es sieht so aus, als ob in diesem einen Begriff die ganze Doxologie noch einmal kurz zusammengefasst werden soll.“297 Selbst wenn dieser Chorsatz erst sekundär in die Kantate gekommen sein mag, tut dies der inneren Stringenz des gesamten Werkes keinen Abbruch. Im Gegenteil: Das Gefälle, das im zweiten Teil der Kantate von der Tröstung in der Christusbegegnung über neue Hoffnung und Freude zum Lob führt, ist vielmehr in sich höchst schlüssig und theologisch plausibel.

Versuchen wir die Dramaturgie der Kantate, die gleichsam eine ganze Liturgie ausbreitet, zusammenzufassen: Der rote Faden lässt sich von der Struktur vieler Klagelieder des Psalters (vgl. Ps 13; 22 u. a.) begreifen, die gleichsam retrospektiv einen Gebetsprozess schildern, der mit einer konkreten Notsituation beginnt und am Ende ins Lob mündet.298 Nach der zweiteiligen „Überschrift“ von Satz 2 (Bekümmernis und Tröstungen) wird man mit Satz 3 zunächst in eine existenzielle Ichklage hineingeführt, die in einer verzweifelten Gottklage (Satz 4) theologisch kulminiert und in Satz 5 durch das Bild des Schiffes ihren dramatischen Höhepunkt hat. In Satz 6 deutet sich dann mit dem Zitat von Ps 42,12 (Was betrübst du dich …) erstmals eine Erhörung an, die nach der Predigt in Teil II der Kantate dialogisch durchgeführt wird: Jesus sagt in einem „mystischen“ Duett (Satz 8) der angefochtenen Seele seine Liebe und seinen Trost aufs Neue zu. Dieser Satz ist die geistliche Mitte und der Höhepunkt der Kantate. Der darauf folgende Chor

296 Vgl. z. B. die Weihnachts-Kantaten BWV 63; 110; 248 I/ III/ VI bzw. BWV 31 zu Ostern oder BWV 69a u. a. 297 Simpfendörfer, 106. 298 Vgl. Janowski, Das verborgene Angesicht Gottes, 46: „Der Hinweis auf die Spannung ‚zwischen dem erfahrenen (Verlassenheit) und dem geglaubten (Nähe) Gott‘ nimmt […] an, dass hinter der Wende von der Klage zum Lob eine [sic] Prozeß, genauer: ein Gebetsprozeß steht, der von Anfang an, d. h. mit Beginn des Betens, in Gang kommt und den ganzen Text durchzieht.“

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

deutet diesen Dialog im Sinne eines Bekenntnisses mit Ps 116,7: „denn der Herr tut dir Guts.“ Durch den bekannten Choral Georg Neumarks bekommt das persönliche Bekenntnis des Psalms, die applicatio der Zusage, eine „ekklesiale Ein­ färbung“. Am Ende steht ein Aufgesang der getrösteten Seele (Satz 10), der in den tatsächlichen Lobpreis des Lammes (Apk 5,12 f) mündet. Angesichts dieser liturgischen Stringenz einer Bewegung von der Klage zum Lob ist es m. E. nicht schlüssig, eine Originalbesetzung der Soli nur mit Sopran und Bass herzustellen, wie dies im Anschluss an Wolff299 z. B. in der Einspielung von Ton Koopman getan wird. Allerdings macht die Arbeit Wolffs plausibel, dass Bach die (bereits komponierten) Chöre – vielleicht aufgrund der Bestattungspredigt von 1713 – sekundär an das Grundgerüst der solistischen Dialogkomposition angefügt hat und nicht etwa umgekehrt.300 Von der musikalischen Faktur ist die Kantate ein Spiegel des Paradigmen­ wechsels, der in der Weimarer Zeit im Schaffen Bachs stattgefunden hat. Sie enthält „moderne“, d. h. erst ca. nach 1710 entwickelte Elemente, nämlich die solistischen Rezitative und Arien sowie die Sinfonia, aber auch „traditionelle“ Formen, nämlich die kunstvollen motettischen Chorsätze. Alle Textgattungen kommen vor: Bibelwort, madrigalische Dichtung und Choral, z. T. auch miteinander. So werden etwa im reizvollen Satz 9 Bibelwort und Choral (cantus firmus zunächst im Tenor, dann im Sopran) als Anrede und Antwort gleichzeitig gehört. 9. Cho r und C ho ral Sei nun wieder zufrieden, meine Seele, denn der Herr tut dir Guts!

Was helfen uns die schweren Sorgen …

Insgesamt ist die Kantate gewiss ein poetisch-theologisches, spirituelles, dramaturgisches und musikalisches Meisterwerk bezeichnen. Schließen wir mit einem knappen liturgischen Ausblick im Blick auf eine Kantatenaufführung im Gottesdienst heute: Wer BWV 21 am 3.  Sonntag n. Trin. aufführen möchte, kann dies natürlich im Zusammenspiel mit der Epistel (1 Petr 5,6–11) und evtl. auch mit dem „alten“ Evangelium (Lk 15,1–10) tun. Klassischerweise würde dann der Dialog der Seele mit Jesus (Satz 7 f) sub communione musiziert. Satz 6 sollte vom „Klageblock“ der Sätze 2–5 abgekoppelt werden und könnte gleichsam die Predigt aufnehmen und meditieren („Was betrübst du dich, meine Seele?“). Auf den mystischen Dialog folgen Satz 9 und 10 entweder sofort oder werden zusammen mit dem festlichen Schlusschor am Ende der Mahlfeier (bzw. des Gottesdienstes) musiziert: a) Kantate Satz 1 – Evangelium Lk 15,1–10 – Satz 2–5 – Predigt – Satz 6 – Credo – Satz 7–10 (sub communione)301  – Satz 11 (als Danksagung nach der Mahlfeier) – Entlassung und Segen

299 Vgl. Wolff, Dialog-Charakter, s. o. Anm. 319. 300 Dramaturgisch „funktionieren“ jedenfalls die Chorsätze alleine nicht, während dies von den Solosätzen sehr wohl zu sagen wäre. 301 Satz 10, der mit dem Satz „Verwandle dich, Weinen, in lauteren Wein“ an die Kantaten zum 2. Sonntag n. Epiph. (vgl. 2.1) erinnert, erweist sich in diesem Kontext dann als abendmahlstheo­ logische „Erfüllung“.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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Man kann BWV 21 ebenso gut aber auch an einem anderen Zeitpunkt im Kirchen­ jahr platzieren. Denkbar ist eine Aufführung in der „dunklen Zeit“ des Novembers, vielleicht in der Nähe des Totensonntags, insbesondere käme ein Gedenkgottesdienst für Verstorbene in Betracht.302 Es bietet sich folgende Struktur des Verkündigungsteils an: b) Lesung eines Klagepsalms (z. B. Ps 69 in Auszügen) – Kantate Satz 1–5 – Predigt I mit Satz 6 –[Credo] – Kantate Satz 7 und 8 – Lesung aus Cant 2 oder Jes 54,7–10 – Predigt II mit Satz 9 und 10 – [Credo] – Satz 11303

2.5 Warum betrübst du dich, mein Herz (BWV 138) – Kantate zum 15. Sonntag n. Trinitatis Ein an kompositorischer Originalität und inhaltlicher Aktualität kaum zu überbietendes Werk ist die Kantate Warum betrübst du dich, mein Herz?304 (BWV 138) zum 15. Sonntag n. Trin. In dialogischer Lebendigkeit behandelt sie die Bedrängnisse materieller Not und deren Aufhebung. Dies geschieht dadurch, dass Bach der leidenschaftlichen Ich-Klage der freien Dichtung den Zuspruch der väter­ lichen Güte Gottes im vierstimmigen Choral konfrontiert. Theologisch steht die Dichtung somit zwischen der Erfahrung des Deus absonditus und der Erfahrung des fürsorgenden Gottes,305 verknüpft gleichsam Brotbitte und Versuchungsbitte des Vaterunsers.306 Sie gehört nicht zum Choralkantatenjahrgang 1724/25, sondern wurde ein Jahr früher (1.9.1723) erstmals aufgeführt. Im Gegensatz zu vielen der späteren Choralkantaten ist nicht der ganze Text auf den Choral bezogen; es werden lediglich drei Strophen  – diese allerdings wörtlich  – aufgenommen. Die an biblischen Anspielungen reiche und dramaturgisch kunstvolle Dichtung ist deutlich auf das Evangelium aus der Bergpredigt (Mt 6,24–34) und auf Psalm 42,4–7 bezogen und besteht aus zwei Teilen. Teil I (Satz 1–3) beschreibt einen angefochtenen Menschen, der sich arm, verachtet und verlassen fühlt. Durch die Choraleinwürfe, die zunächst als rhetorische Frage, dann als unmittelbarer Zuspruch formuliert sind, wendet sich in Teil II das Blatt. Anstelle des „Ach, ich bin arm“ (Satz 1) bzw. „Ach, wie?“ (Satz 3) leiten die Worte „Ach süßer Trost!“ das Rezitativ No. 4 ein. Das zentrale Vertrauensbekenntnis findet sich in Satz 5 „Auf Gott steht meine Zuversicht, mein Glaube lässt ihn walten“.307 Interessant ist, dass die

302 Vgl. dazu auch die Folgerungen aus der Analyse von BWV 60 unten 4.2. 303 Evtl. könnte man den Schlusssatz auch am Ende des Gottesdienstes als Nachspiel musizieren. Hier fungiert er gleichsam als hymnisches Credo. 304 Das Kirchenlied wird „zuweilen Hans Sachs zugeschrieben“ und hat sich wegen seiner Nähe zum Evangelium als Lied dieses Sonntags wie auch des 7.  Sonntags n. Trin. eingebürgert (vgl. Dürr, 593). 305 Vgl. unten Kap. 5. 306 Dazu passt die Tatsache, dass Olearius V, 54 ff das Evangelium aus Mt 6,24 ff ganz unter das Vorzeichen der vierten Vaterunserbitte stellt. Vgl. dazu Petzoldt I, 424. 307 Küster, 212, weist darauf hin, dass die Bassarie in ihrer Faktur an die Tenorarie aus BWV 119 erinnert: „Der Anfangstext […] wird in der Satzmitte nochmals – wie zur Erinnerung – zitiert.“

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

Kantate keine christologischen Aussagen macht, sondern am Ende mit dem Vertrauen auf Gott, den Vater schließt, der „sein Kind nicht verlässt“ (Satz 7). Die Kantate hat folgenden Wortlaut: 1. Cho ral und R ezit ativ (Cho r und Al t) Was betrübst du dich, mein Herz? Bekümmerst dich und trägest Schmerz nur um das zeitliche Gut?   Ach, ich bin arm,   mich drücken schwere Sorgen   vom Abend bis zum Morgen   währt meine liebe Not!   Dass Gott erbarm!   Wer wird mich erlösen   vom Leibe dieser bösen   und argen Welt?   Wie elend ists um mich bestellt?   Ach! Wär ich doch schon tot! Vertrau du deinem Herren Gott, der alle Ding erschaffen hat. 2. Rezit ativ (B a ss) Ich bin veracht’, der Herr hat mich zum Leiden am Tage seines Zorns gemacht; der Vorrat hauszuhalten, ist ziemlich klein. Man schenkt mir vor den Wein der Freuden den bittern Kelch der Tränen ein. Wie kann ich nun mein Amt mit Ruh verwalten, wenn Seufzer meine Speise und Tränen das Getränke sein? 3. Cho ral und R ezit ativ (Sopran bzw . Al t) Er kann und will dich lassen nicht; Er weiß gar wohl, was dir gebricht; Himmel und Erd ist sein. Ach wie? Gott sorget freilich vor das Vieh, er gibt den Vögeln seine Speise, er sättiget die jungen Raben, nur ich, ich weiß nicht auf was Weise ich armes Kind mein bisschen Brot soll haben; wo ist jemand, der sich zu meiner Rettung findt?

Dein Vater und dein Herre Gott, der dir beisteht in aller Not. Ich bin verlassen, es scheint, als wollte mich auch Gott bei meiner Armut hassen, da er’s doch immer gut mit mir gemeint. Ach Sorgen, werdet ihr denn alle Morgen und alle Tage wieder neu? So klag ich immerfort; Ach! Armut! Hartes Wort, wer steht mir denn in meinem Kummer bei? Dein Vater und dein Herre Gott, der steht dir bei in aller Not. 4. Rezit ativ (T eno r) Ach süßer Trost! Wenn Gott mich nicht verlassen und nicht versäumen will, so kann ich in der Still und in Geduld mich fassen. Die Welt mag immerhin mich hassen, so werf ich meine Sorgen mit Freuden auf den Herrn. Und hilft er heute nicht, so hilft er mir doch morgen. Nun leg ich herzlich gern die Sorgen unters Kissen und mag nichts mehr als dies zu meinem Troste wissen: 5. Ar ia (B a ss) Auf Gott steht meine Zuversicht. Mein Glaube lässt ihn walten.   Nun kann mich keine Sorge nagen,   nun kann mich auch kein Armut plagen.   Auch mitten in dem größten Leide   bleibt er mein Vater, meine Freude,   er will mich wunderbar erhalten. 6. Rezit ativ (Al t) Ei nun! So will ich sanfte ruhn. Euch Sorgen! Sei der Scheidebrief gegeben. Nun kann ich wie im Himmel leben.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören 7. Cho ral Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht,

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du väterliches Herz! Ich bin ein armer Erdenkloß, auf Erden weiß ich keinen Trost.

a) Poetisch-theologische Beobachtungen Betrachten wir zunächst die semantisch tragenden Begriffe, so springt als zentrales Stichwort aus der Bergpredigt (vgl. Mt 6,25.28.34) das Wortfeld Sorge/ sorgen (vgl. Satz 1; 3–6) ins Auge. Im Gegensatz zur menschlichen Sorge wird der Begriff auf der Seite Gottes als providentia durch die Verben „beistehen“ (Satz 3), „helfen“ (Satz 4), „erhalten (vgl. Satz 5) positiv konnotiert. Olearius differenziert in seinem Kommentar drei Grundbedeutungen von „sorgen“, die zweite wird in sich nochmals dreifach unterschieden: „I. Sorge nicht unchristlich, heidnisch, vergeblich […] nach Art der Bauchsorge. Denn das heißt Merimna, die herzfressende, alle guten Gedanken zerteilende und verderbliche, ängstliche Sorge; Solicitudo (Tob 10,1), welche endlich den Tod verursacht. II. Sorge ordentlich (Mt 6,33), gläubig, mit kindlichem Vertrauen […] 1. Die menschliche Sorge, dass man nicht lebe als ein Behemoth [Nil- oder Flusspferd …], wie ein Vieh, das keinen Verstand hat […] 2. Die Christensorge für deine Sünde (Ps 38), Buße (Mt 6; Lk 7,15), Gerechtigkeit und Eingehen in Gottes Reich; damit du kannst 1. recht glauben; 2. christlich leben; 3. selig sterben, fröhlich aufstehen und zum ewigen Leben eingehen (Mt 25). 3. Die Amtssorge, welche betrifft Gottes Ordnung (Röm 13) und Lager (Joh 6) im Lehr-, Wehr und Nährstande […] Dabei man sich des himmlischen Segens und Beistandes auf den ordentlichen Berufswegen getrösten (Ps 91), dasselbe aber zusammen mit dem Ausgang und Gedeihen Gott befehlen muß (Ps 37; Ps 55). III. Sorge kindlich, befiehl dem Herrn deinen Wege (Ps 37) und wirf dein Anliegen zusammen mit all deiner ängstlichen Sorge auf den himmlischen Versorger (1 Petr 5,7; Ps 55,23). SUMMA: „Die christliche, zulässige, von Gott gebotene Amtssorge, Seelensorge, Leibessorge (für Gesundheitsmittel) hebt vom Himmel an und sieht auf Gottes Herz, Hand und Mund (Mt 6,26.30.32), und kommt alsdann erst auf die Erde, Nahrung, Kleidung (Mt 6,28.30). Aber die unchristliche, heidnische Bauchsorge […] vergißt des Himmels samt der väterlichen Regierung, Vorsorge und Verheißung (Mt 6,32).“308

Theologisch ist der erste Teil der Kantate stark von den Metaphern und der Affekt­ bewegung der Klagepsalmen bestimmt, die in der dreistelligen Korrelation von Ichklage, Feindklage und Gottklage oszilliert. Allerdings ist die Wahrnehmung der Welt zunächst stark zurückgenommen und stattdessen stärker die individuelle Gottesbeziehung im Blick. Die Sprechakte wechseln in Teil  I folgender‑ maßen: – Rhetorische Frage (Choral) – Ichklage (freie Dichtung, Satz 1) – Zusage (Choral, Satz 1) – Ichklage, Gottklage, Feindklage (freie Dichtung, Satz 2)

308 Olearius V, 55 f, zit. nach Petzoldt I, 425.

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

– Zusage (Choral, Satz 3, Beginn) – Ichklage, Gottklage (Satz 3, Mitte) – Doppelte Zusage (Satz 3, Mitte und Schluss) Die beiden zentralen Sätze 3 und 4 konfrontieren die Verben „verlassen“ und „nicht verlassen“ und nehmen biblische Motive und Bilder auf (z. B. die Raben aus Ps 147,9). Mit Satz 4 (vgl. Hebr 13,5: „Wenn Gott mich nicht verlassen und nicht versäumen will“) wendet sich die Kantate von der Erfahrung des Deus absconditus zum Deus revelatus. Die jeweils entsprechenden Reimwörter sind durch das Verbum „hassen“ geprägt, das eine Mal wird Gott als potentielles Subjekt des Hasses (Satz 3, Altsolo) angesprochen, das andere Mal ist es die „Welt“ (Satz 4), deren Hass weiterhin aktuell ist. Nach dieser kathartischen „Anklage“ und dem neuerlichen Zuspruch am Ende wendet sich die Kantate zu einem Vertrauensbekenntnis (Sätze 4–6), das im Schlusschoral zur persönlichen Anrede Gottes in Du-Form gesteigert ist. Poetisch fällt auf, dass in Satz 5 das Wort „Zuversicht“ als verwaister Reim an der Spitze des Satzes ein gewisses Toppgewicht markiert, der erste Vers bekommt dadurch den Charakter einer Überschrift. Prägend sind die antithetischen Gefühlsräume von Trauer und Kummer bzw. Klage und Leid (Satz 2 und 3) auf der einen und Freude, Zuversicht und Trost (vgl. Satz 4; 5 und 7) auf der anderen Seite, wie wir es ähnlich auch in BWV 21 beobachten konnten. Im Blick auf die positive Gotteserfahrung im zweiten Teil ist das Bild Gottes als Vater leitend, das schon am Ende des ersten Teils (Choral) in den Blick kommt: „Dein Vater und dein Herre Gott / der steht dir bei in aller Not.“ Diese Aussage wird in Satz 5 und 7 aufgenommen: „Auch mitten in dem größten Leide  /  bleibt er mein Vater, meine Freude.“309 Gesteigert wird das im Schlusschoral zu: „Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht …“ Olearius kommentiert dazu, gleichsam als Auslegung der invocatio des Vaterunsers: „Der Vatername ist voll Güte, himmlischer Allmacht und Vorsorge; auf den allertröstlichsten Namen Gottes gründet sich all unser Gebet und Amen (Mt 6,13). Der Auszug aller Namen und Eigenschaften […]; das Vaterwort (Mt 6,9) ist der Hauptschlüssel alles herz­ erquickenden Trostes (Ps 103,13), gleichwie uns die ganze Anthropopathia auf die gött­liche Liebe führt.“310 Olearius unterscheidet im Anschluss daran vier Aspekte des Vaterseins Gottes: „allgemeiner“, „allmächtiger“, „liebreicher“ und „allwissender“ Vater, wobei die ersten beiden und die letzte in den ersten Glaubensartikel gehören und die dritte reizvoll mit dem zweiten changiert. Als Interpretamente dienen insbesondere wieder Psalmverse: zur Allmacht Ps 77, zu Liebe/Erbarmen Ps 103, zur Allwissenheit Ps 139.

Das Besondere dieser Kantate im Gegensatz etwa zu BWV 21 ist die Gleichzeitigkeit von Sorge und Zusage, wie wir sonst nur aus den beiden Dialogkantaten BWV 60 und 66 kennen. Sorge des Menschen und Fürsorge Gottes ereignen sich

309 Vgl. dazu pointiert christologisch: EG 396,1.6. 310 Olearius V, 58, zit. nach Petzoldt I, 427.

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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nicht in einem Prae und Post, sondern überlappen sich, wodurch die Anfechtung des Menschen eine ständige theo-logische Antwort erhält. b) Musikalische Beobachtungen Doch kommen wir nun zur Musik der Kantate, die äußerst ungewohnt und komplex ist, weil Bach darin Choral, Rezitativ und Arioso nicht trennt, sondern in beinahe rhapsodischer Weise miteinander verschränkt. Von besonderem Interesse sind die Sätze 1 und 3. Im Eingangschor, den Bach mit der Überschrift Concerto versieht und neben Streichern und Continuo mit zwei Oboi d’amore besetzt, werden die tröstlichen Worte des Chorals mit einer madrigalischen Ich-Klage konfrontiert, die sich auch vom musikalischen Material klar vom Choral absetzt.311 Als Accompagnato-Rezitativ des Alts mit Streicherbegleitung samt auskomponierten Zwischeneinwürfen in den Oboen steht es ungefähr in der Mitte des Satzes: Hier (T. 36 ff) bewegt sich der seltsam stockende312 Continuobass über sechs Takte immer wieder chromatisch (Passus duriusculus) in halben Noten nach unten (cis bis D), was sich auf den Text „vom Leibe dieser bösen argen Welt / wie elend ist’s um mich bestellt. Ach wär ich doch schon tot“ bezieht, der den Mensch in seiner Sterblichkeit und Todesverfallenheit beschreibt. Dem geht ein längerer Abschnitt voran, der aus Vorspiel (T. 1–8), Zwischenspielen sowie vierstimmigen Choralzeilen besteht. In den Vor- und Zwischenspielen werden die Choralverse in doppelter, d. h. ins­ trumentaler und vokaler Weise vorweggenommen: Die Choralmelodie des Soprans (T. 9 f) erklingt schon in der ersten Oboe, der dazu gehörige chromatische Kontrapunkt des Basses (Passus duriusculus mit Seufzermotivik, T. 9; 19 u. ö.)313 ist in der zweiten Oboe mehrfach vorhanden. Der Solotenor bringt dagegen den Text des Chorals in einem „ariosen Vorspann“ schon in T. 6 vorab zu Gehör, so dass der Choral bei seinem eigentlichen Einsatz als eine Art „ekklesiale Verdichtung“ oder Bekräftigung wirkt. (Allerdings hat das Thema des Tenors musikalisch nichts mit dem Choral zu tun, sondern ist als lyrisches Motiv durchaus eigenständig, vgl. Vl. 1, T. 1). Der Satz schließt mit den Versen 4 und 5 der ersten Choralstrophe, also nicht etwa mit einem instrumentalen Nachspiel und unterscheidet sich von den vorangegangenen Choraleinwürfen besonders dadurch, dass nun der Chorbass nicht mehr durch die Lamento-Thematik (Passus duriusculus, vgl. T. 9; 19; 28 f) des Beginns, sondern durch eine äußerst melodiöse melismatische Linie charakterisiert ist. Damit wird auf subtile Weise unterstrichen, dass sich an dieser Stelle im Choral eine Entwicklung stattgefunden hat: An die Stelle der Fragen „Warum betrübst du dich, mein Herz?“ ist die Einladung zum Vertrauen auf

311 Dürr, 595, hat sehr schön die drei verschiedenen Themen in Satz 1 heraus gearbeitet. Die Themen b und c (Oboe I und II, T. 4 bzw. Chorsopran und Chorbass, T. 9 und 19) vehalten sich zueinander wie Thema und Kontrapunkt und stehen für die Gleichzeitigkeit von Klage und Zuspruch. 312 Vgl. Schulze, 413: „Ausgehaltene Akkorde der Streichinstrumente lassen hier die musikalische Bewegung merklich innehalten, doch sorgen intermittierende bewegte Passagen der Holz­ bläser mehrmals für neue Impulse.“ 313 Treffend wählt Bach für den Chorbass in T. 9 und 19 die Verben: (sich) „betrüben“ und „bekümmern“.

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Gottes verborgenes Wirken in Bachs Kantaten

den Schöpfer getreten: „Vertrau du deinem Herren Gott, der alle Ding erschaffen hat!“314 Im folgenden Secco des Basses, das die Klage des Altsolos aufnimmt, sind schöne Entdeckungen zu machen: Das Gefühl des Verachtetseins wird durch einen fallenden Septakkord (große Septime) zu Beginn abgebildet, der ein Her­ abgesetzt- oder Weggestoßenwerden symbolisiert. Das Einschenken des Weins der Freude illustriert Bach durch eine fallende melismatische Sechzehntel-Koloratur (Katabasis) auf dem Verbum „schenkst“. Der „bittre Kelch der Tränen“ wird durch einen verminderten Quartsprung im Continuo und das erniedrigte b auf „bitter“ unterstrichen. Im dritten Satz setzt sofort der homophone vierstimmige Choral mit cantus firmus im Sopran ein, der in kurzen Versphrasen durch halbtaktige Instrumentaleinwürfe (Oboen und Streicher) unterbrochen wird. Im fernen Fis-Dur angelangt, beginnt dann (ab T. 8) eine nur von den Streichern begleitete rezitativische Klage des Soprans315, die an die musikalischen Mittel des ersten Satzes anknüpft. Deutlich unterschieden davon sind der zweite und dritte Choralabschnitt („Dein Vater und dein Herre Gott“): Bach führt mit imitatorischen Mitteln zum cantus firmus hin und schmückt das Wörtchen „alle“ durch reiche Koloraturen; eine Beobachtung, die wir auch in anderen Kantaten machen können.316 Zwischen den beiden polyphonen Choralpassagen übernimmt der Solo-Alt die Klage mit musikalischen Mitteln des ersten Satzes (Exclamationes; Saltus duriusculi etc.), allerdings unter Verzicht auf eine Accompagnato-Begleitung der Streicher, womit die Ärmlichkeit des auf Gottes Hilfe angewiesenen Menschen drastisch dargestellt ist. Satz 4, ein Secco des Tenors, nimmt die Zusage des Chors unmittelbar auf. Bach „koloriert“ das Affektwort Freude in T. 7 mit einem aufsteigenden SechzehntelMelisma (Anabasis), womit er bereits das dankbare Lobopfer andeutet. Die folgende Bassarie in tänzerischem 3/4-Takt ist der schlichte und innige Mittelpunkt des zweiten Teils der Kantate und steht in deutlichem Kontrast zu allem, was vorher musiziert wurde. Wie ist dieser Gegensatz zu deuten?317 Lange Koloraturen schmücken gleich zu Beginn das zentrale Verbum „walten“, womit Bach unsere Aufmerksamkeit präzise auf das Schöpfungswalten Gottes lenkt, das theologisch in Mt 6,24 angesprochen ist. Gegensätzlich dazu sind die negativen Affektverben „nagen“ und „plagen“ ebenso melismatisch hervorgehoben. Sie unterscheiden sich durch harmonische Eintrübungen und schroffe Sprünge vom „Walten“ Gottes. Ganz im Gegensatz dazu steht die vierte Koloratur auf dem Affektwort „Freude“. Sie ist aus kleinen Figura-corta-Motiven zusammengesetzt und korrespondiert durch eine dreifach aufsteigende Sequenz (Climax) unmissverständlich mit der Freude im vorangegangenen Satz 4 (T. 7). Theologisch, poetisch (als umfassender Reim) und musikalisch korrespondieren in Satz 5 dagegen die Ver

314 Vgl. Luthers Erklärung zum ersten Gebot im Kleinen Katechismus: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und ihm vertrauen.“ (BSLK 510) 315 Damit sind außer der Tenorstimme alle Soli in die Klage einbezogen. 316 Vgl. Simpfendörfer, 294. 317 Vgl. Schulze, 413, überlegt dazu: „Ob Bach hiermit einen gleichsam naiven, unreflektierten Zugriff auf die Textaussage tonsymbolisch umzusetzen gedachte, oder ob der Satz ganz einfach auf ein instrumentales Urbild, etwa ein Menuett aus einer Suite, zurückgeht, läßt sich nicht sagen.“

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Gott wendet sich ab und lässt sich wieder hören

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ben walten und erhalten: Das schöpfungstheologische Zentralwort „erhalten“ (providentia Dei) wird durch eine dreiktaktige Liegenote eingeführt, welche die Beständigkeit des göttlichen Bewahrens abbildet. Dieses musikalische Mittel nimmt Bach am Ende des Stückes (im variierten Da capo A’) nochmals beim Wort „walten“ auf und steigert es noch: Statt den drei Takten bei „erhalten“ lässt er den Solisten beim korrespondierenden Verb „walten“ sogar vier Takte aushalten und ihn darüber hinaus auch noch eine hochvirtuose fünfeinhalb taktige Koloratur ausführen, die dem Stück einen glanzvollen Abschluss verleiht.

Auf das kurze Secco folgt ein Schlusschoral (12/8-Takt), dessen leicht aufgelockerter Chorsatz durch einen kunstvollen obligaten Orchestersatz mit virtuosen Violinen begleitet wird. Er vermittelt eine gewisse „Unruhe“318 worin eine tiefsinnige Absicht Bachs liegen könnte: Im Sinne einer Zusammenfassung der ganzen Kantate wäre es ein Rückverweis auf das unruhige menschliche Sorgen sein, wie es in Satz 1–3 reichlich zur Sprache kam, nun aber aufgehoben ist. c) Überlegungen zur liturgischen Inszenierung BWV 138 ist bereits in sich ein eminent „liturgisches“ Stück Musik, da es nahezu alle Sprechakte des Gottesdienstes in einem breiten Spektrum der Affekte und in großer dialogischer Dichte zur Darstellung bringt. Besonders die Sätze 1 und 3 bringen durch die antithetische Konfrontation von madrigalischer Klage (der Solisten) und der (aus Ps 42 bzw. dem Choral gespeisten) Zusage des Chors dramaturgisch eine Lebendigkeit zustande, wie wir sie sonst nur aus Bachs Dialogkantaten kennen. Doch auch der Bezug zum Proprium des Sonntags liegt auf der Hand. Das Evangelium aus der Bergpredigt sowie Epistel und Leitvers aus 1 Petr 5 („Alle eure Sorge werft auf Gott, denn er sorgt für euch!“) bieten auch heutigen Hörerinnen eine gut nachvollziehbare Textbrücke,319 wodurch sich eine Aufführung am 15. Sonntag n. Trin. nahelegt. Dann könnte der Verkündigungsteil des Gottesdienstes folgendermaßen aussehen: Epistel 1 Petr 5,5–11 – Choral Warum betrübst du dich (als Gemeindelied) oder Wochenlied Auf meinen lieben Gott (EG 345) – Evangelium Mt 6,24–35 – Kantate Satz 1–3 – Predigt – Satz 4–7 – [Predigt II] – Credo Es ist aber auch denkbar, dass diese Kantate zu einem anderen Zeitpunkt, z. B. im Zusammenhang eines Bittgottesdienstes320 oder eines Solidaritätsgottesdienstes am Diakoniesonntag (z. B. für Menschen in Katastrophengebieten oder Hartz IVEmpfänger321) aufgeführt wird.



318 Vgl. Schulze, a. a. O. 319 Vgl. EGB 378 f. 320 Vgl. EGB 462 f für die Ernte. 321 Vgl. Baltruweit/v.Lingen, 106–122 (in der Passionszeit).

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II. Zwischen Furcht und Hoffnung, Verzweiflung und Vergebung – Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten 3. „Erschrecke doch, du allzu sichre Seele!“ Der offenbare Gott richtet und straft Was bisher untersucht wurde, haben wir – in aller Vorsicht vor Schematisierungen – dogmatisch dem verborgenen Wirken Gottes zugeordnet und liturgisch im Spannungsgefälle von Klage und erhörter Klage subsummiert. Das anthro­pologische Gefühlsspektrum bewegte sich dabei dynamisch zwischen Trauer und Freude. Im Gegensatz dazu geht es theologisch nun um die Begegnung mit dem heiligen und „verzehrenden“ Gott,1 dogmatisch um das „Widerfahrnis des richtenden Gottes“2, in der Terminologie einer lutherischen Dogmatik um das Gesetz nach seinem theologischen Brauch.3 Nach der Erfahrung des Deus absconditus, die jenseits der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu verorten ist, steht nun das Widerfahrnis des gerechten und richtenden Gottes und damit ein Aspekt des Deus revelatus zur Debatte.4

3.0 Überlegungen zur biblischen und dogmatischen Rede von Sünde, Gericht und Strafe 3.0.1 Der Furcht erregende Richter – literarische und exegetische Hinführung Anthropologisch wenden wir uns damit einem Gefühlsraum zu, der sich im Spannungsfeld von Furcht und Hoffnung (bzw. Trost) beschreiben lässt. Bis in die zeitgenössische Kunst und Literatur hinein wird menschliche Angst in vielfachen

1 Vgl. Schlink, 771–774, allerdings nicht mit hinreichender Klarheit im Blick auf eine Unterscheidung des verborgenen vom richtenden Handeln Gottes. 2 Vgl. Bayer, Vielheit, 483. 3 Lindbeck, 40–65, hat darauf hingewiesen, dass schon innerhalb Luthers Gesetzesverständnis große Unterschiede zu finden sind. Hier geht es nicht um das „halachische“ Gesetzesverständnis des Reformators, wie er es in seinen katechetischen Schriften ausgeprägt hat, sondern um sein kontroverstheologisches Verständnis, wie es etwa in der Galaterbriefvorlesung von 1531 oder in den Antinomerdisputationen anzutreffen ist. 4 Vgl. dazu FC V, BSLK 955, 27 f, mit der Unterscheidung von opus proprium und opus alienum Christi.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

Schattierungen aufgefächert. Besonders eindrücklich geschieht dies dort, wo Angst als Todesangst behandelt wird.5 Joseph v. Eichendorff spitzt diese Angst zu einer „Gottesangst“ zu und dichtet: „Gott, inbrünstig möcht’ ich beten. Doch der Erde Bilder treten immer zwischen dich und mich, und die Seele muss mit Grauen wie in einen Abgrund schauen, strenger Gott, ich fürchte dich!“6

Ist diese Vorstellung auch mit dem biblischen Zeugnis und christlicher Theologie vereinbar? Dazu bedarf es zunächst eines Blickes ins Alte Testament: Die Tora, allen voran der Dekalog und das Heiligkeitsgesetz (Ex 20; Dtn 5; Lev 19), bekunden die Offenbarung des heiligen Willens Gottes; aber auch in prophetischen7 und poetischen bzw. weisheitlichen Texten begegnen wir dieser Vorstellung. Das Bild ist dabei durchaus ambivalent: Das Gesetz deckt menschliche Sünde auf (vgl. Jes 1; Ez 18; Ps 19,15 u. a.), bietet zugleich aber auch Hilfestellung zu einem gelingenden Leben (vgl. Ps 1; Ps 119; Sir 50). Der synoptische Jesus nimmt die Tora auf und verschärft sie (Mt 5,38 ff), womit zugleich deutlich wird, dass das Gesetz als Heilsweg ausgeschlossen ist, verweist aber im Doppelgebot der Liebe (Mk 12,30 f) auch auf seine fortwährende Bedeutung. Im Zusammenhang des von Gott offenbarten heiligen Willens ist in vielen biblischen Schriften auch vom Gericht Gottes die Rede: Im Alten Testament ist dies zunächst als zurechtbringendes Eingreifen Gottes in der Geschichte gedacht, wie es etwa die Sintfluterzählung (Gen 6–9), der Bericht vom Untergang Sodoms und Gomorras (Gen 19) oder die Perikope von Achans Diebstahl (Jos 7) illustrieren. Der deuteronomistische Erzähler deutet in seinem Geschichtswerk die ganze Geschichte Israels und Judas als eine göttliche Antwort auf menschliches (Fehl)verhalten im Gefälle von Gericht und Gnade.8 Erst in späten alttestamentlichen (vgl. Dan 12) und frühjüdischen Schichten und im Neuen Testament prägt sich dann die apokalyptische Erwartung aus, dass Gott am Jüngsten Tage endgültig richtend in die Menschheits- und Weltgeschichte eingreift und Recht schafft (vgl. Mt 24 f;

5 Vgl. etwa Edvard Munchs „Der Schrei“ oder Paul Klees „Angstausbruch“ bzw. Kafkas Parabeln. 6 Vgl. Evang. Pastorale, 116. Der 1. Strophe folgt die Hinwendung zum gnädigen Gott: „Ach, so brich auch meine Ketten! / Alle Menschen zu erretten, / gingst du ja in bittern Tod. Irrend an der Hölle Toren, / ach, wie bald bin ich verloren, / hilfst du nicht in meiner Not.“ 7 Dies gilt insbesondere für die Gerichtsprophetie des Jesaja, Jeremia und Amos. Wichtig ist, dass an vielen Stellen bei den Propheten ein expliziter Hinweis auf den Dekalog fehlt, aber die Tora als absolute Größe durchaus im Blick ist (vgl. Am 5,6 f.11–15.21–24). Vielmehr sind ihre Aussagen oft als ein Hinweis auf das innergeschichtliche Prinzip des Tun-Ergehens-Zusammenhangs zu verstehen (vgl. Koch, Gericht, 462). 8 Vgl. Koch, 47, wonach das „Deuteronomistische Geschichtswerk […] die Geschichte Israels ab der Landnahme bis zum Exil so beschreibt, daß die deuteronomische Tora, vor allem mit ihrer Verdammung jeden Götzendienstes und ihrer Forderung der Kultzentralisation, zum entscheidenden Kriterium aller positiven oder negativen Entwicklungstendenzen wird.“

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Der offenbare Gott richtet und straft

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Joh 5,24–29; 2 Kor 5,10; Apk 19).9 Wir können dabei eine endzeitliche, universale und kosmische Dimension unterscheiden.10 Die Pointe der paulinischen Theologie besteht darin, dass Christus als Ziel des Gesetzes verstanden wird (Röm 10,4) und der Apostel mit ihm sowohl den Heilsweg des Gesetzes (Röm 3,21 f) als auch seine verdammende Macht als abgetan betrachtet (Röm 8,1–4).

3.0.2 Zur poetischen und theologischen Rede vom Gesetz in Bachs Kantaten Im Folgenden soll nun versucht werden, die verkündigende Rede vom richtenden Gott, d. h. die Predigt des Gesetzes nach seinem „heiligen Brauch“11 sowie die ihm folgende Buße des Menschen (vgl. Ps 51), die in zahlreichen Kantaten Bachs eine zentrale Rolle spielt, zu beschreiben und im Blick auf eine zeitgenössische Verkündigung und Spiritualität auszuloten. Eine Einschätzung der dogmatischen und seelsorglichen Bedeutung des Themas für die Gegenwart12 dürfte kontrovers sein. Immerhin wissen wir aus Seelsorge und Therapie, dass der Umgang mit Schuld und Ängste vor einem innergeschichtlichen oder endgeschichtlichen Gericht Gottes noch immer eine nicht zu marginalisierende Rolle spielen. In den Vertonungen Bachs ist dieser Aspekt sowohl im Sprechakt der „Gesetzespredigt“ als auch in der Antwort darauf13, z. B. in einem Sündenbekenntnis bzw. einer Vergebungsbitte, vielfach präsent. Als biblischer Hintergrund kommen dabei die einschlägigen Evangelienperikopen für den jeweiligen Sonntag, aber auch prophetische und poetische Texte, etwa aus den Psalmen und Threni, in Betracht. Im Blick auf narrative Texte sei hier paradigmatisch auf 2 Sam 12 (Nathans Gerichtsansage gegen David), Elias Strafpredigt gegen Ahab (1 Kön 21) und Jonas Rede gegen Ninive (Jon 3) verwiesen. Folgende Kantaten14 fokussieren dieses Thema: O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20, 1. Sonntag n. Trin.), Es ist dir gesagt Mensch (BWV 45; 8. S. n. Trin.), Herr gehe nicht ins Gericht (BWV 105); Tue Rechnung! Donnerwort (BWV 168,

9 Vgl. Koch, Gericht, 465: „Die Vorstellung vom Endgericht des ‚Richters der Welt‘ über ‚alles Fleisch‘ stammt aus der prophetisch-eschatologischen und apokalyptischen Literatur […]. Sie umfasst Erwartungen von einer grundstürzenden richterlichen Aktion Gottes, in der er sich gegen alle ihm widerstrebenden und feindlichen Mächte endültig durchsetzt und die Weltgeschichte zum Ende führt“. 10 Vgl. Koch, Gericht, 465. 11 Vgl. H. M. Barth, 139 f: „Als Gesetz erweist sich die Predigt von Jesus Christus, in der ich mir sagen lasse, daß ich in meinem Sein, Tun und Lassen auf den Tod zueile, der damit in seiner Radikalität erst wahrnehmbar wird, und daß ich einer Rettung bedarf, die ich aus eigenen Kräften nicht beschaffen (noch auch nur aneignen) kann.“ 12 Vgl. dazu die kritische Anmerkung von Amelung, 492: „So hoch der Stellenwert dieses Aspektes im Kontext des Neuen Testaments und der Kirchengeschichte ist, so eine geringe Rolle spielt er in der heutigen theologischen Reflexion und wohl auch im Glaubensleben der Christen.“ Diese Einschätzung teilen wir nicht. Selbst wenn die Verkündigung des Gesetzes in der christlichen Predigt stark zurückgegangen ist, spielt die Angst vor einer „Strafe des Schicksals“ immer noch eine große Rolle in der Volksfrömmigkeit. 13 Vgl. dazu auch die Arie „Buß und Reu“ aus der Matthäuspassion (BWV 244) bzw. BWV 199,3 f. 14 Vgl. auch oben 1.9.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

beide 9. S. n. Trin.); Schauet doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei (BWV 46); Nimm von uns Herr, du treuer Gott (BWV 101); Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben (BWV 102; alle 10. S. n. Trin.); Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen? (BWV 48), Wo soll ich fliehen hin? (BWV 5, beide 19. S. n. Trin); Was soll ich aus dir machen, Ephraim (BWV 89); Ich armer Mensch, ich Sündenknecht (BWV 55); Mache dich, mein Geist, bereit (BWV 115, alle 22. S. n. Trin.); O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60, 24. S. n. Trin.), Es reifet euch ein schrecklich Ende (BWV 90), Du Friedefürst, Herr Jesu Christ (BWV 116, alle 25. S. n. Trin.)15

Versuchen wir zunächst theologische, anthropologische und musikalisch-litur­ gische Grundzüge dieser Kantaten zu benennen, ehe dann exemplarisch einzelne Kantaten ausführlicher untersucht werden. Dabei können Aspekte des luthe­ rischen Gesetzesverständnisses in Bachs Kantatenwerk skizziert und ihre Musikalisierung veranschaulicht werden. a) „Heilig, gerecht und gut“ – das Gesetz als göttliche Richtschnur In seiner Vertonung des Doppelgebots im Kopfsatz von Du sollt Gott, deinen Herrn, lieben (BWV 77)16 zieht Bach zahlreiche „Register“ zur Darstellung der Heiligkeit und Klarheit des göttlichen Gesetzes. Dürr schreibt dazu: „Er legt dem Satz die Choralmelodie ‚Dies sind die heilgen zehn Gebot‘ zugrunde, um zu zeigen: Das ganze Gesetz ist im Liebesgebot enthalten. Die Melodie erklingt im Kanon (als dem Symbol des Gesetzes), und zwar in höchster Lage in der Trompete und in tiefster Lage im Continuo; dadurch wird der allumfassende Charakter (‚das ganze Gesetz und die Propheten‘) des Liebesgebots verdeutlicht.“17 Dass der Trompete zehn Einsätze zufallen, ist sicher ebenso wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass Bach mit der Technik des Augmentationskanons (Vergrößerungskanon) offenbar die besondere Dignität des „vornehmsten“ Gebotes hervorhebt.18

Die Ambivalenz des Gesetzes als eines Sünde aufdeckenden, aber auch orientierenden Wortes (usus theologicus und usus spiritualis19 bzw. paedagogicus) kommt im ersten Teil von BWV 45 (8. Sonntag n. Trin.) schön zum Ausdruck. Programmatisch an der Spitze steht Micha 6,8:

15 Auffällig ist, dass Kantaten dieser Art allesamt nach Trinitatis zu finden sind und sich an einigen Sonntagen gemäß dem Sonntagsevangelium häufen (etwa: zum 9., 10., 19. und 25. Sonntag n. Trin: Lk 16,1–9: Gleichnis vom ungerechten Haushalter; Luk 19,41–48: Ankündigung der Zerstörung Jerusalems und Tempelreinigung; Mt 18,23–35: Gleichnis vom Schalksknecht; Mt 24,15–28: Apokalyptische Rede Jesu). 16 Kantate BWV 77, Du sollst den Herren lieben, nimmt das Doppelgebot explizit auf. Diese Kantate kann paradigmatisch für ein „positives“ Gesetzes- bzw. Gebotsverständnis im Gefolge Luthers stehen. Vgl. dazu Lindbecks grundsätzliche These, wonach ein kontroverstheologischer und ein katechetischer Luther zu unterscheiden sind. Letzterer wäre hier aufzunehmen, ohne dass damit schon von einem tertius usus legis im Sinne Calvins gesprochen werden müsste. Auf den Eingangschor mit dem Zitat des Doppelgebotes folgt eine madrigalische Dichtung mit je einem Doppelglied Rezitativ&Arie zum Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe. 17 Dürr, 570. 18 Vgl. Dürr, a. a. O. 19 Vgl. dazu Arnold, 408 f bzw. a. a. O., 269 mit Bezug auf Luthers Katechismuspredigten: „Beim Beten öffnet sich das menschliche Herz dem Wirken des Heiligen Geistes. In diesem Vorgang wird der Wille Gottes des Schöpfers, die guten Werke, dem Glaubenden präsentiert und ermöglicht. Insofern liegt hier ein geistlicher Brauch des Gesetzes, gleichsam ein ‚usus spiritualis legis‘ vor.“

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Der offenbare Gott richtet und straft

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1. Cho r Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Darauf folgen in positiver und negativer Entfaltung Rezitativ und Arie des Tenors: 2. Rezit ativ (T eno r) Der Höchste lässt mich seinen Willen wissen und was ihm wohlgefällt; er hat sein Wort zur Richtschnur dargestellt, wornach mein Fuß soll sein geflissen allzeit einherzugehn mit Furcht, mit Demut und mit Liebe als Proben des Gehorsams, den ich übe, und als ein treuer Knecht dereinsten zu bestehn.

Während das Rezitativ optimistisch von „Proben des Gehorsams“ redet und mit der Metapher der „Richtschnur“ und Orientierung für den Fuß (vgl. Ps 119,105) positive Bilder der Identifikation anbietet, schlägt die Einschätzung des Gesetzes in der folgenden Arie dann in eine bedrohliche Anfrage, ja Selbstanklage, um. 3. Ar ie (Teno r) Weiß ich Gottes Rechte; was ist’s das mir helfen kann, wenn er mir als seinem Knechte fordert scharfe Rechnung an? Seele! Denke dich zu retten, auf Gehorsam folget Lohn; Qual und Hohn droht deinem Übertreten.

Hier übt das Gesetz gewiss seine kritische Funktion aus: Es klagt an und mahnt angesichts möglicher Sanktionen zur Umkehr. Die Kantate schließt dann, beide Aspekte ausgleichend (ohne einen Hinweis auf das rettende Evangelium), mit der Bitte an Gott, das Rechte tun zu können: 7. Cho ral Gib, dass ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, worzu mich dein Befehl in meinem Stande führet! Gib, dass ich’s tue bald, zu der Zeit da ich soll; und wenn ichs tu, so gib; dass es gerate wohl.

b) „Es kömmt ein Tag!“ – der eschatologisch-forensische Aspekt des Gesetzes Das Gesetz nach seinem usus theologicus in Bachs Kantaten hat (wie in Luthers Theologie) meist einen eschatologisch-forensischen Hintergrund. Oft ist der end-

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

zeitlich-apokalyptische Topos vom Jüngsten Tage20 mit dem Gedanken von einem universalen Weltgericht verknüpft, das einen doppelten Ausgang hat.21 So heißt es in der Kantate Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz (BWV 136): 3. Ar ie (Al t) Es kömmt ein Tag, so das Verborgne richtet, vor dem die Heuchelei erzittern mag.     Denn seines Eifers Grimm vernichtet,     was Heuchelei und List erdichtet.22

Diese Thematik wird auch in verkündigenden Sprechakten, z. B. als „Weckruf “ proklamiert, der konkret von einer personalen Begegnung mit dem „Richter aller Welt“(BWV 20) redet: 8. Ar ie (Ba ss) 23 Wacht auf, wacht auf, verlorne Schafe,24 ermuntert euch vom Sündenschlafe und bessert euer Leben bald! Wacht auf, eh die Posaune schallt, die euch mit Schrecken aus der Gruft zum Richter aller Welt vor das Gerichte ruft25.

Ähnliches hören wir in BWV 90, einer der härtesten Gerichtskantaten J. S. Bachs: 1. Ar ie (Teno r) Es reißet euch ein schrecklich Ende, ihr sündlichen Verächter, hin.

20 Die traditionsgeschichtlichen Wurzeln einer Rede vom „Tag des Herrn“ sind freilich viel älter als die Apokalyptik. M. W. finden wir erste Zeugnisse in Am 5,18–20. Bei Maleachi gibt es sowohl heilvolle als auch unheilvolle Vorstellungen, die mit dem Jahwe-Tag verbunden sind (vgl. Mal 3,17.23). 21 Der doppelte Ausgang kann sowohl anthropologisch (liberum arbitrium) als auch theo-logisch (Erwählung, Prädestination) begründet werden, vgl. das Bass-Rezitativ in der Kantate Wachet, betet, BWV 70,2, das klar prädestinatianisch formuliert: „Erschrecket, ihr verstockten Sünder! / Ein Tag bricht an, vor dem sich niemand bergen kann: Er eilt mit dir zum strengen Rechte, / o sündliches Geschlechte, / zum ewgen Herzeleide. / Doch euch, erwählte Gotteskinder, / ist er ein Anfang wahrer Freude. / Der Heiland holet euch, wenn alles fällt und bricht, / vor sein erhöhtes An­ gesicht, / drum zaget nicht!“ 22 BWV 136,3. Interessanterweise wird hier die Entlarvung des Verborgenen und Vernichtung des Bösen nicht mit einer Verdammung von Menschen in einem Atemzug genannt, man könnte dies auch als eine Ächtung und Vernichtung (annihilatio) lebenszerstörender Kräfte deuten. Vgl. auch BWV 94,8 (Choral): „Was frag ich nach der Welt! / Im Hui muss sie verschwinden, / ihr Ansehn kann durchaus / den blassen Tod nicht binden.“ 23 Die Besetzung mit Trompete und Solobass (vgl. BWV 70,9) verweist auf den Christus iudicans. Die Trompete steht für die Posaune des Jüngsten Tages (vgl. 1 Kor 15,52–55 bzw. 1 Thess 4,16). 24 Vgl. BWV 115,2 (Daktylus!): „Ach schläfrige Seele, wie? ruhest du noch?  /  Ermuntre dich doch! / Es möchte die Strafe dich plötzlich erwecken, / und wo du nicht wachest / im Schlafe des ewigen Todes bedecken.“ 25 Vgl. 2 Kor 5,10. Subjektiver und von dieser Verkündigung bewegt, klingt die Arie BWV 168,3.

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    Der Sünden Maß ist voll gemessen,     doch euer ganz verstockter Sinn.     hat seines Richters ganz vergessen. 3. Ar ie (Ba ss) So löschet im Eifer der rächende Richter den Leuchter des Wortes zur Strafe doch aus.     Ihr müsset, o Sünder, durch euer Verschulden     den Frevel an heiliger Stätte erdulden.     Ihr machet aus Tempeln ein mörderisch Haus.

Ähnliche, aber stärker ermahnende als anklagende oder schuldig sprechende Aussagen finden sich in Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei (BWV 46) zum 10. Sonntag n. Trin. (Israelsonntag) mit dem Evangelium nach Lk 19,41–48. Das von Gott über Jerusalem verhängte und vollzogene Gericht – die Synoptiker verarbeiten hier die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. – wird aktualisiert und zur tödlichen Drohung für die Kirche (!) gesteigert, was nicht zuletzt am umschlagenden Versmaß vom Jambus zum Daktylus in den letzten drei Versen von Satz 4 zu erkennen ist: 4. Rezit ativ (Al t) Doch bildet euch, o Sünder, ja nicht ein, es sei Jerusalem allein vor andern Sünden voll gewesen! Man kann bereits von euch das Urteil lesen: weil ihr euch nicht bessert und täglich die Sünden vergrößert, so müsset ihr alle so schrecklich umkommen.

In BWV 102 zum gleichen Sonntag, einer Spruchkantate mit Zitat aus Jer 5,3 an der Spitze, lautet der in Gebetsform gehaltene Eingangschor:26 1. cho r Herr, deine Augen sehen nach Glauben! Du schlägest sie, aber sie fühlens nicht; du plagest sie, aber sie bessern sich nicht. Sie haben ein härter Angesicht denn ein Fels und wollen sich nicht bekehren.27

Im Gegensatz zu den eben genannten Beispielen thematisieren die Kantaten des 10.  Sonntags n. Trin. also ein innergeschichtliches Gericht, das auf eine radikale Umkehr im Hier und Jetzt zielt. Dies gilt auch für Was soll ich aus dir machen, Ephraim? (BWV 89), wo auf dem Hintergrund des Gleichnisses vom Schalksknecht Mt 18 (21. Sonntag n. Trin.) gar von der Rache Gottes gesprochen und somit ein alttestamentliches Motiv aufgenommen wird.28 Innerbiblischer Verweis ist das Strafgericht an Sodom und Gomorra, das sich gleichsam als Vaterunser­

26 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung und Diskussion unten 3.3. 27 Dieser Ausspruch kann antijudaistisch missverstanden werden, ist aber keinesfalls eindeutig auf Jerusalem bezogen, vgl. Mildenberger, 178 f. 28 Vgl. etwa die Aussage: „Die Rache ist mein“, spricht der Herr (Dtn 32,35) bzw. die Rede vom „Tag der Rache“ vgl. Jes 34,8; Jer 46,10 bzw. Jes 63,10 vgl. auch Lk 21,22.

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paränese zur Sündenvergebung (Mt 6,12b) liest. Satz 2 und 3 von BWV 89 haben folgenden Wortlaut: 2. Rezit ativ (Al t) Ja, freilich sollte Gott ein Wort zum Urteil sprechen und seines Namens Spott an seinen Feinden rächen. Unzählbar ist die Rechnung deiner Sünden, und hätte Gott auch gleich Geduld verwirft doch dein feindseliges Gemüte die angebotne Güte und drückt den Nächsten um die Schuld, so muss die Rache sich entzünden.

3. Ar ie (Al t) Ein unbarmherziges Gerichte, wird über dich gewiss ergehn. Die Rache fängt bei denen an, die nicht Barmherzigkeit getan. Und machet sie wie Sodom ganz zunichte.29

29

c) „Heut bekehre dich“ – der Ruf zur Umkehr angesichts drohender Verlorenheit Oft wird wie in den Propheten des Alten Testamentes die Drohbotschaft mit einer Mahnung zur Umkehr verknüpft (vgl. Jes 1,16–20; Jer 2; Ez 18,23–27), die zuweilen mit dem Hinweis auf die menschliche Sterblichkeit (Memento mori vgl. Ps 90,12) verbunden ist. Eine Choralkantate Bachs (nach einem Choral von Michael Franck) widmet sich ganz der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit mensch­ lichen Lebens. Es handelt sich um (BWV 26) Ach wie flüchtig, ach wie nichtig zum 24.  Sonntag n. Trin. Dort heißt es in der auf den Choralchor folgenden Arie: 2. Ar ie (Teno r) So schnell ein rauschend Wasser schießt, so eilen unsre Lebenstage.     Die Zeit vergeht, die Stunden eilen,     wie sich die Tropfen plötzlich teilen,     wenn alles in den Abgrund schießt.

Der darin anklingende Ernst ist im Bußruf aus der Kantate Herr deine Augen sehen nach dem Glauben (BWV 102) noch verschärft. Dort heißt es im eindringlichen Finale: 6. Rezit ativ (Al t) Wo bleibt sodann die Buß? Es ist ein Augenblick, der Zeit und Ewigkeit, der Leib und Seele scheidet. Verblendter Sinn! Ach kehre doch zurück, dass dich dieselbe Stund nicht finde unbereitet!

7. Cho ral Heut lebst du, heut bekehre dich, eh morgen kömmt, kanns ändern sich. Was heut ist frisch, gesund und rot. Ist morgen krank, ja wohl gar tot. So du nun stirbest ohne Buß, dein Leib und Seel dort brennen muss.

Hier wird nicht nur ein forensischer Horizont gezeichnet, sondern die Androhung der Hölle auch plakativ zur Sprache gebracht und mit dem Ruf zur Umkehr 29 Vgl. BWV 46,3: „… Weil dich betroffen hat / ein unersetzlicher Verlust / der allerhöchsten Huld, / so du entbehren musst / durch deine Schuld. / Du wurdest wie Gomorra zugerichtet, / wiewohl nicht gar vernichtet.“

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und damit auch zur Rettung der eigenen Seele verknüpft.30 In BWV 20,9 klingt das so: 9. Rezit ativ (B a ss) […] Bedenke doch in dieser Zeit annoch, da dir der Baum des Lebens grünet, was dir zu deinem Frieden dienet. Vielleicht ist dies der letzte Tag, kein Mensch weiß, wann er sterben mag. Wie leicht, wie bald ist mancher tot und kalt! Man kann noch diese Nacht den Sarg vor deine Türe bringen. Drum sei vor allen Dingen auf deiner Seelen Heil bedacht.

In weiten Schichten des Bachschen Kantatenwerkes finden wir also immer wieder Zeugnisse einer eindringlichen Gesetzespredigt. Die Dichter scheuen sich nicht, die Gemeinde ganz unmittelbar (auch im direkten Du) anzureden und das Innerste des menschlichen Gewissens auszusprechen, d. h. sein Schuldempfinden, durch den heiligen Ernst des Gerichtes Gottes zu erschüttern.

3.0.3 Affektraum Furcht: Angst und Verzweiflung des überführten Sünders Gerichtsdrohung und Umkehrruf 31 angesichts des möglichen nahen Todes münden oft in die Schilderung schrecklicher Todesangst und großer Gewissensnot, womit wir gleichsam die anthropologisch-psychologische Seite betrachten. In Du Friedefürst, Herr Jesu Christ BWV 116,2 hört sich das so an: 2. Ar ie (Al t) Ach, unaussprechlich ist die Not und des erzürnten Richters Dräuen!     Kaum, dass wir noch in dieser Angst,     wie du, o Jesu, selbst verlangst,     zu Gott in deinem Namen schreien.

Oft ist die Äußerung der Angst mit einem Sündenbekenntnis verknüpft. In Satz 2 aus der Kantate Tue Rechnung, Donnerwort (BWV 168)32 finden wir folgende Formulierung:

30 Vgl. auch BWV 45,3 (Arie, Tenor): „Seele! Denke dich zu retten,  /  auf Gehorsam folget Lohn; / Qual und Hohn / drohet deinem Übertreten.“ 31 Vgl. auch BWV 102,5 (Arie, Tenor) mit staccatoartigen Kurzversen: „Erschrecke doch, / du allzu sichre Seele! / Denk, was dich würdig zähle / der Sünden Joch. / Die Gotteslangmut geht auf deinem Fuß von Blei, / damit der Zorn hernach dir desto schwerer sei.“ 32 Zur Entstehung, vgl. Marshall, NBA, krit. Bericht, 127 bzw. Dürr, 529–532.

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2. Rezit ativ (T eno r) […] Ich habe Tag und Nacht die Güter, die mir Gott verliehen, kaltsinnig durchgebracht! Wie kann ich dir, gerechter Gott, entfliehen? Ich rufe flehentlich: Ihr Berge fallt, ihr Hügel decket mich vor Gottes Zorngerichte und vor dem Blitz von seinem Angesichte.

S. Francks Text (1715) spart nicht mit drastischen Bildern, und auch Bach geizt nicht mit dem Einsatz entsprechender musikalischer Mittel.33 Verhaltener, aber beinahe noch eindringlicher als in BWV 168 bearbeitet Bach die Thematik in Kantate 105, die ebenfalls zum 9. Sonntag n. Trin. gehört. Satz 2 nimmt den Text des Eingangschors (Herr, gehe nicht ins Gericht) als eine Art Sündenbekenntnis auf und formuliert: 2. Rezit ativ Mein Gott, verwirf mich nicht, indem ich mich in Demut vor dir beuge, von deinem Angesicht. Ich weiß, wie groß dein Zorn und mein Verbrechen ist.

Höhepunkt der Angstdarstellung ist dann allerdings die folgende Arie: Bach lässt hier den Continuo-Bass einfach weg, um zu zeigen, wie der Boden dem angefochtenen Sünder förmlich unter den Füßen weggezogen wird: 3. Ar ie (S opran) Wie zittern und wanken der Sünder Gedanken, indem sie sich untereinander verklagen und wiederum sich zu entschuldigen wagen.34 So wird ein geängstigt Gewissen durch eigene Folter zerrissen.

Das Zittern wird durch ein Sechzehntel-Tremolo der Violinen dargestellt, die Solostimme beginnt die ersten beiden Zeilen mit kurzatmigen Viertonmotiven (Abruptio), die Koloraturen auf den sinntragenden Verben „klagen“ und „wagen“ stellen die Zerrissenheit des angefochtenen Menschen vor Augen, was auch harmonisch bestätigt wird: „Gehäufte, ständig wechselnde Septakkorde malen ein Bild quälender Ausweglosigkeit“35.



33 Ist diese Angst vor dem zornigen Gott, die auch den jungen Luther umgetrieben hat, noch die Frage der Menschen heute? Aus der Seelsorge wissen wir, dass besonders in stark pietistisch oder freikirchlich geprägten Kreisen sog. ekklesiogene Neurosen aufgrund massiver Gerichtsangst eine zentrale Rolle spielen. Vgl. dazu exemplarisch: Tilmann Moser, Gottesvergiftung. 34 Vgl. Röm 2,15. 35 Dürr, 521.

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3.0.4 Der Gedanke einer „zeitlichen Strafe“ und die Hoffnung auf Gottes aktuelle Hilfe Angesichts der Einsicht in die eigene Schuld liegt es nahe, die Strafe Gottes auch schon hier und jetzt zu erwarten. Denn es ist, wie der Choral von Martin Rutilius (BWV 48) klar macht, das geringere Übel, eine zeitliche Strafe zu erhalten, als sich das ewige Todesurteil Gottes zuzuziehen. Es geht also gleichsam um eine „Strafmilderung“, die durch eine Bitte erfleht wird: 3. Cho ral Solls ja so sein, dass Straf und Pein auf Sünde folgen müssen, so fahr hier fort und schone dort und laß mich hie wohl büßen.

Ähnliches findet man in Du Friedefürst, Herr Jesu Christ (BWV 116). Dort wird Kriegsnot offenbar als zeitliche Strafe erfahren,36 die Gott nunmehr abwenden möge: 5. Rezit ativ (Al t) Ach, lass uns durch die scharfen Ruten nicht allzu heftig bluten! O Gott, der du ein Gott der Ordnung bist, du weißt, was bei der Feinde Grimm vor Grausamkeit und Unrecht ist wohlan, so strecke deine Hand auf ein erschreckt geplagtes Land, die kann der Feinde Macht bezwingen und uns beständig Friede bringen.

In manchen Kantaten werden Schreien und Verzweiflung des Sünders schon als erster Schritt zur göttlichen Erhörung hin verstanden, vor allem dann, wenn Christus als Mittler und Helfer in den Blick kommt. Im zentralen Satz 5 von Mache dich, mein Geist, bereit (BWV 115) heißt es: Rezit ativ (T eno r) Er sehnet sich nach unserm Schreien, er neigt sein gnädig Ohr hierauf; wenn Feinde sich auf unsern Schaden freuen, so siegen wir in seiner Kraft: Indem sein Sohn, in dem wir beten, uns Mut und Kräfte schafft und will als Helfer zu uns treten.



36 Vgl. Dürr, 710: „Der Text des gewählten Liedes beklagt das verdiente Unglück, das die Menschheit befallen habe, bittet um Vergebung und um Errettung aus allen Gefahren, unter denen die Kriegsnot als die größte bezeichnet wird.“

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3.1 O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20)37 Zur Illustration und Vertiefung des in der Einleitung Gesagten soll an dieser Stelle die Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20) als Ganze analysiert werden, mit der Bach den Choralkantatenjahrgang 1724/25 fulminant eröffnet. Wir haben hier nicht nur textlich,38 sondern auch musikalisch einen Meilenstein im Bachschen Œuvre vor Augen. Der Thomaskantor hat dieses groß angelegte Werk mit der Invokationsformel Jesu Iuva übeschrieben. Evangelium für den 1. Sonntag n. Trin. ist bis heute das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31).39 Der ernste eschatologisch-forensische Horizont des Evangeliums wird durch den Choral von Johann Rist, der als Wochenlied für den 1. Sonntag geläufig war,40 unterstrichen. Die Kantate besteht aus zwei Teilen (1–7 und 8–11), wobei die unveränderten Choralstrophen (Strophen 1,8 und 12 bei Rist) in Eingangschor (1) und Choralsätzen (7;11) den Rahmen und die Mitte des Stückes bilden. In den Rezitativen und Arien finden sich immer wieder einzelne Choralzeilen „eingesprengt“, die dann paraphrasiert bzw. interpretierend weitergeführt werden. Es wird zwar immer wieder dasselbe Thema „Gericht“ behandelt, die Umsetzung allerdings geschieht so, dass „die Stücke [im Charakter sehr scharf] contrastiren“41. 1. Cho r O Ewigkeit, du Donnerwort, o Schwert, das durch die Seele bohrt, o Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, ich weiß von großer Traurigkeit nicht, wo ich mich hinwende. Mein ganz erschrocken Herz erbebt, dass mir die Zung am Gaumen klebt.42

37 Im EG kommt dieser massive Gerichtstext nicht mehr vor, in EKG 324 waren immerhin noch fünf Strophen des Liedes wiedergegeben. Vgl. Dürr, 440: „Das Ristsche Lied wird in den Leipziger Gesangbüchern der Bachzeit meist mit 16 Strophen abgedruckt; als Vorlage unserer Kantate diente jedoch die auf 12 Strophen verkürzte Fassung, wie sie z. B. Gottfried Vopelius in seinem Gesangbuch von 1682 bietet. Wörtlich beibehalten sind die Strophen 1, 8 und 12; die übrigen Strophen wurden der Reihe nach zu jeweils einem Kantatensatz umgeformt, lediglich in Satz 4 sind Strophe 4 und 5 enthalten, und die Schlußzeilen aus Strophe 9 – ‚Vielleicht ist heut der letzte Tag, wer weiß noch, wie man sterben mag‘ – wurden (leicht verändert) in Satz 9 (der auf Strophe 10 fußt) übernommen.“ 38 Choralkantaten mit madrigalischen Partien gab es auch schon in der Weimarer Zeit. Die berühmteste ist die Adventskantate Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61). In Mühlhausen, Entstehungsort des frühen Meisterwerkes Christ lag in Todes Banden (BWV 4), komponierte Bach vorwiegend Vorlagen mit Texten, die alle Strophen der Choräle im Original belassen (per omnes versus). 39 Vergleicht man damit dagegen die Kantate Die Elenden sollen essen (BWV 75 zum 1. Sonntag n. Trin) aus dem ersten Leipziger Jahrgang, so steht ganz die Verheißung im Vordergrund, die dem armen Lazarus und seinesgleichen zugesprochen wird. 40 Vgl. L./R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 169 mit Kritik an Gojowy, 51. 41 Spitta II, 253. 42 J. A. Steiger, Ewigkeit, 128, weist auf ein Gedicht von Martin Opitz hin, das Rist möglicherweise zur Dichtung des Chorals angeregt hat. Dort fällt ebenfalls das Stichwort „Donnerwort“:

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Der Eingangschor in F-Dur in der Form einer französischen Ouvertüre43 mit einer Zugtrompete wirkt ausgesprochen festlich und lässt an den Einmarsch eines Herrschers denken.44 Die Barform des Chorals (aab)  wird in Bachs dreiteiliger Komposition (4/4Takt, ohne Tempobezeichnung  – 3/4-Takt, Vivace  – 4/4-Takt) durchbrochen, wohl45 wegen des Textes „O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“ zu Beginn der Wieder­ holung des Stollens. Musikalisch entsteht so die reprisenartige Form ABA’, in gewissem Gegensatz zur poetischen Form des Chorals (aa’b).46 Die Geigenstimmen lassen sich in Teil A durchaus auf den Choral beziehen.47 Bachs Textbehandlung in diesem Satz ist schlicht genial: So wird anfangs das Wort Ewigkeit nicht nur vom cantus firmus im Sopran, sondern auch von den Unterstimmen und in den Streichern mit sinnenfälligen langen Noten abgebildet (T. 14 f), während sofort im nächsten Takt die Szenerie umschlägt und das rhythmische Hauptmotiv des instrumentalen Anfangs (T. 1 ff) plötzlich im Chor übernommen und so das Donnern plastisch wird. Die emphatische Wiederholung: „Donner-, Donnerwort“ in den Mittelstimmen unterstreicht dies. Die Wendung „O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“ (T. 44 ff) wird durch das schnellere Tempo (Vivace), den Taktwechsel zu einem schnellen Dreier (das „himmlische“ Metrum ist der Dreier-Takt48), hemiolische und synkopische Rhythmusverschiebungen in den Unterstimmen unterstrichen. Sie lassen das Metrum etwas verschwimmen und veranschaulichen so die Wendung „Zeit ohne Zeit“. Das Wort „Traurigkeit“ (T. 67–73) wird in T. 68 f durch einen Passus duriusculus im Continuo-Bass illustriert, der bereits in T 44 ff zu Beginn des Vivace als kontrapunktische Nebenstimme eingeführt worden ist. Hier häufen sich auch Saltus duriusculi (T. 69, Bass) mit der entsprechenden Harmonik (T. 68: verminderter Septakkord als melodische Fortschreitung). Die Chromatik dringt jedenfalls zunehmend in alle drei Unterstimmen ein. Der schnelle Mittelteil schließt mit der Ungewissheit, nicht zu wissen, wohin man sich wenden soll; ein spannungsreicher verminderter Septakkord am Ende bildet dies ab. Grandios ist die Vertonung der Wendung „mein erschrocknes Herze bebet“ im abschließenden Teil A’ (Tempo I). Die Unterstimmen im Chor bzw. die colla parte „Ach! Was ist dies? Mein Herz ist wund / Das Schrecken schleust mir Zung und Mund / […] Ein Wort von Eisen und von Stein / Und was noch sonst mag härter sein / Ist in mein krankes Herze kommen / Hat Mark und Bein eingenommen. Dies Donnerwort heißt Ewigkeit / […] O ferres End’ unendlich weit!“ 43 Vgl. BWV 61,1 und BWV 97,1. 44 Es ist gut möglich, dass Bach dadurch den pompösen Einzug des himmlischen Richters zum Weltgericht dargestellen wollte, ja dass er in bewusster Analogie zur Kantate Nun, komm, der Heiden Heiland BWV 61 (ebenfalls franz. Ouverüre)  das Kommen Christi zum zweiten Advent (Wiederkunft) dachte. Dafür spricht auch die inhaltliche Nähe zur Kantate Wachet betet (BWV 70a bzw. BWV 70) zum 2. Advent bzw. 26. Sonntag n. Trin. 45 Vgl. Dürr, 440 f. 46 Vgl. Küster, 251: „[…] Ebenso besteht zwischen Stollen und Abgesang nicht die Ähnlichkeit, die in der Französischen Ouvertüre die beiden Eintritte des Rahmenteils aufeinander bezieht.“ 47 Vgl. Dürr, 441. 48 In der mittelalterlichen Musik der ars nova (um 1350 ff) wird das Zeitmaß des Dreiers auch als tempus perfectum bezeichnet und steht der Zweizeitigkeit (tempus imperfectum) gegenüber. Vgl. dazu Eggebrecht, 224 f.

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spielenden Instrumente nehmen den punktierten Rhythmus vom Anfang wieder auf, dabei wird der musikalische Satz immer wieder „zerschnitten“ (Tmesis) und so eine tonmalerische Darstellung des inneren Seelenzustandes eines angefochtenen Menschen erreicht. Das Beben des Herzens macht Bach durch „zuckende“ Rhythmen zum affektgeladenen Ereignis. Auch die von allen Singstimmen in dreifacher Länge gehaltene Schlussnote auf dem Wort „klebt“ ist ein kunstvolles Mittel.49 Das folgende Rezitativ50 stellt die Schrecken des ewigen Todes im Gegensatz zu zeitlichem Unglück vor Augen. Der Textdichter unterstreicht durch die (überschießende) Länge der Verse 3 und 4 die inhaltliche Aussage über die ewige Pein und steigert das „Spiel“ zum „Marterspiel“. 2. Rezit ativ (T eno r) Kein Unglück ist in aller Welt zu finden, das ewig dauernd sei: Es muss doch endlich mit der Zeit einmal verschwinden. Ach, aber ach! Die Pein der Ewigkeit hat nur kein Ziel; sie treibet fort und fort ihr Marterspiel, ja, wie selbst Jesus spricht, aus ihr ist kein Erlösung nicht.

Wieder finden wir bei dem Wort „ewig“ einen lang gehaltenen Ton in der Singstimme,51 zahlreiche verminderte Septimenakkorde, verminderte Quint- und Septsprünge in Singstimme und Continuo zeigen die Härte und Schärfe des Gerichtes bzw. des schuldig sprechenden Gerichtswortes Jesu („ja wie selbst Jesus spricht“). In der Mitte (T. 6) des Stückes wird die Exclamatio „Ach, aber ach“ durch das scharfe Gegenüber der entfernten Tonarten Es-Dur und A-Dur und den harten melodischen Wechsel von es nach cis (verminderte Terz) drastisch vor Augen gemalt. Ähnliche Mittel, z. B. lang gehaltene Töne bei „Ewigkeit“ und „lange“ sowie nachdrückliche Exclamationes (Tritonussprünge) auf dem Ausruf „ach“, verwendet Bach auch in der folgenden Arie52, einer ergreifenden Schilderung mensch­ licher Höllenangst: 3. Ar ie (Teno r) Ewigkeit, du machst mir bange, ewig, ewig ist zu lange!

49 Vgl. Dürr, 441. 50 Vgl. dazu die Vorlage bei Rist, Text modernisiert: „Kein Unglück ist in aller Welt / das endlich mit der Zeit nicht fällt / und ganz wird aufgehoben. / Die Ewigkeit hat nur kein Ziel / Sie treibet fort und fort ihr Spiel / lässt nimmer ab zu toben. / Ja wie mein Heiland selber spricht / aus ihr ist kein Erlösung nicht.“ 51 Vgl. Satz 1, T. 14. 52 Die fett gedruckten Zeilen sind Originaltext des Chorals, das eingefügte „Ach“ stammt von Bach. Vgl. dazu die Ristsche Str. 3: „O Ewigkeit, du machst mir bang, / o ewig, ewig ist zu lang! / Hier gilt fürwahr kein Scherzen.  /  Drum, wenn ich diese lange Nacht  /  zusamt der großen Pein betracht, / erschreck ich recht von Herzen. / Nichts ist zu finden weit und breit / so schrecklich als die Ewigkeit.“

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Ach, hier gilt fürwahr kein Scherz. Flammen, die auf ewig brennen; Ist kein Feuer gleich zu nennen. Es erschrickt und bebt mein Herz, wenn ich diese Pein bedenke und den Sinn zur Höllen lenke.

Bachs Textdichter hat damit die Vorlage von Rist an bildhafter Drastik noch übertroffen und am Ende die Begriffe „lange Nacht“ und „Ewigkeit“ durch „Flammen“ bzw. „Hölle“ unter Rückgriff auf die Bildwelt des Bibelttextes (vgl. Lk 16,23 f) ersetzt. Nicht Gottes Ewigkeit an sich, sondern die ewige Gottesferne ist es, die dem Menschen Angst einflößt: An der Stelle „Flammen, die auf ewig brennen“, beginnen Sechzehntel-Koloraturen, die das Brennen des Feuers schon im Notentext als „Augenmusik“ unmittelbar abbilden (Wellenbewegung). Bei den Worten „Es erschrickt“ bricht plötzlich die Begleitung der Singstimme ab, ein schroff punktiertes Dreiton-Motiv lässt das Erschrecken direkt Ereignis werden (Abruptio).53 „Beben“ und „Pein“ des Herzens werden dann durch Syncopationes und Seufzermotive (Zweierbindungen, z. T. chromatisch) sowie Saltus duriusculi (T. 81 f) veranschaulicht. Die Arie endet mit dem tiefen c° im Tenor, womit der zur „Hölle gelenkte Sinn“ sinnenfällig hinabsteigt (Katabasis). Alle drei Vokalperioden (Vers 1–3; Vers 4 f und Vers 6–8) entfalten, was für eine Arie ungewöhnlich ist, dem Text folgend, jeweils eine eigenständige Thematik; lediglich die Ritornelle stellen einen inneren motivischen Zusammenhang her.54 Im folgenden Bass-Rezitativ wechselt wieder die Sprechrichtung: Während die Arie das bisher Gehörte subjektiv nachvollzogen, gleichsam „appliziert“ hat, wird nun eindringlich wieder das persönliche Du (in der Gemeinde) angeredet. Das Rezitativ verkündigt das Gesetz in unmittelbarer Schärfe:55 4. Rezit ativ (B a ss) Gesetzt, es daur’te der Verdammten Qual so viele Jahr, als an der Zahl auf Erden Gras, am Himmel Sterne wären; gesetzt, es sei die Pein so weit hinausgestellt, als Menschen in der Welt von Anbeginn gewesen, so wäre doch zuletzt

53 Bach nimmt damit das Motiv des Erschreckens aus dem Kopfsatz (T. 90–99: „Mein ganz erschrocknes Herze bebt“) wieder auf. (Vgl. ähnlich L./ R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 175). 54 Vgl. Küster, 251. 55 Str. 4 und 5 des Chorals lauten: „Wenn der Verdammten große Qual / so manches Jahr als an der Zahl / hie Menschen sich ernähren / als manchen Stern der Himmel hegt / als manches Laub die Erde trägt / noch endlich wären, / so wäre doch der Pein zuletzt. / Ihr recht bestimmtes Ziel gesetzt. Nun aber, wenn du die Gefahr / viel hunderttausend Jahr / hast kläglich ausgestanden. / Und von den Teufeln solcher Frist ganz grausamlich gemartert bist / ist doch kein Schluss vorhanden. / Die Zeit so niemand zählen kann / die fänget stets von neuem an.“

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derselben Maß und Ziel gesetzt: sie müsste doch einmal aufhören. Nun aber, wenn du die Gefahr, Verdammter, tausend Millionen Jahr mit allen Teufeln ausgestanden, so ist doch nie der Schluss vorhanden; die Zeit, so niemand zählen kann, fängt jeden Augenblick zu deiner Seelen ewgem Ungelück sich stets von neuem an.

Drastischer lässt sich die Möglichkeit ewiger Verlorenheit kaum vor Augen stellen. Der Dichter hat durch die Zählung „tausend Millionen Jahr“ (statt hunderttausend tausend Jahr) die Vorlage Rists noch übertroffen. Dieses Drohwort, das an Schärfe der alttestamentlichen Prophetie und der Jesusverkündigung (vgl. Mk 13 u. a.) in nichts nachsteht, erinnert stark an die Theologie der Johannesapokalypse. Der Dichter entfaltet den Unterschied von zeitlicher Strafe und ewiger Verdammnis mit kosmologischen Bildern und scheut sich nicht einmal, von einer unheilvollen Gemeinschaft der Sünder mit den Teufeln zu sprechen. Besonders die (im Gegensatz zum Original eingefügte) Anrede „Verdammter“ auf dem Spitzenton es’ wirkt als starkes rhetorisches Mittel: Der Sünder wird damit der ewigen Verdammnis schuldig gesprochen. Insgesamt fällt allerdings auf, dass Bach hier keine plakativen musikalischen Mittel einsetzt, um den sowieso schon schaurigen Text noch in seiner Bildhaftigkeit zu steigern. Die folgenden beiden Arien gleicher Versstruktur – gleichsam ein archaisch anmutendes „zweistrophiges Gedicht mitten in dieser Kantate“56 – führen diese Thematik in Form der Gerichtspredigt weiter. Ach Gott, wie bist du so gerecht! Wie strafst du einen bösen Knecht So hart im Pfuhl der Schmerzen? Auf kurze Sünden dieser Welt Hast du so lange Pein bestellt. Ach nimm dies wohl zu Herzen Betracht es oft, o Menschen-Kind: Kurz ist die Zeit, der Tod geschwind. Ach fliehe doch des Teufels Strick, die Wollust kann ein Augenblick und länger nicht ergötzen dafür willst du dein’ arme Seel hernachmahls in des Teufels Höll, o Mensch, zu Pfande setzen. Ja schöner Tausch, ja wohl gewagt, das bei den Teufeln wird beklagt?

5. Ar ie (Ba ss) Gott ist gerecht in seinen Werken: Auf kurze Sünden dieser Welt hat er so lange Pein bestellt; ach wollte doch die Welt dies merken! Kurz ist die Zeit, der Tod geschwind, bedenke dies, o Menschenkind! 6. Ar ie (Alt ) O Mensch, errette deine Seele, entfliehe Satans Sklaverei und mache dich von Sünden frei, damit in jener Schwefelhöhle der Tod, so die Verdammten plagt, nicht deine Seele ewig nagt. O Mensch, errette deine Seele!

56 Küster, 251.

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Es fällt auf, dass der Sprechakt der Anrede in den beiden Kantatensätzen konsequent durchgehalten, und durch die Vokative „o Menschenkind“ bzw. „o Mensch“ verstärkt ist, während er in der Dichtung Rists vom Gebet zur Anrede („Ach fliehe doch!“) wechselt. In Satz 6 bedient sich der Dichter stilistisch des Mittels der Alitteration. Zischende s-Laute („Seele“, „Satan“, „Sklaverei“, „Sünden“) unterstreichen akustisch die Drastik des Höllengemäldes. Die Bass-Arie „Gott ist gerecht“ (Da capo) bekennt sich zu Gottes Gerechtigkeit und Souveränität auch angesichts der „Unverhältnismäßigkeit“ von zeitlicher Sünde des Menschen und ewiger Strafe. Die emphatischen Dreiklangssprünge – Bach schreibt hier in den Instrumenten sogar ein energisches Staccato – auf dem zehnmal57 wiederholten Satz „Gott ist gerecht“ verdeutlichen zum einen, dass diese Aussage unantastbar feststeht. Auf den gleichen Text findet sich allerdings auch ein lyrisch-„einschmeichelndes“58 Sechzehntel-Motiv, womit gleichsam der gnädige im gerechten Gott aufleuchtet. Damit bekommt die schroffe Gerichtstheologie der Kantate plötzlich eine andere Wendung. Der Satz schließt mit dem Memento mori-Motiv des Chorals: Kurz ist die Zeit, der Tod geschwind, bedenke dies, o Menschenkind.

Musikalisch unterstreicht Bach dieses Motiv, indem er es insgesamt sechsmal anklingen lässt, also weit ausbreitet, und damit Raum zum Nachdenken gibt, während der Vers „Kurz ist die Zeit, der Tod geschwind“ nur zweimal vorbeihuscht. So wird das von Anfang an eingeführte Sechzehntelmotiv, das zunächst die Aussage „Gott ist gerecht“ musikalisiert, semantisch neu gefüllt. Das anthropologische Pendant zu Satz 5 ist die darauf folgende Altarie „O Mensch, errette deine Seele“. Hier sind im Metrum des 3/4-Taktes immer wieder Hemiolen enthalten – ja der Takt ist im Grunde ein „latenter“59 3/2-Takt – so dass (wie im Mittelteil des Eingangschors) der Schwung des 3/4-Taktes fast immer gebremst, ja festgehalten wirkt und der Charakter „des Vagen, Verschleierten“60 entsteht. Das Kleben an der Sünde ist hier musikalisch umgesetzt. Kunstvoll ist auch die Katabasisfigur (Sechzehntel-Lauf) auf dem Verb „entfliehen“: Sie fällt insofern heraus, als im ganzen Stück sonst keine Sechzehntel vorkommen. Plakativ gestaltet Bach die melismatische Entfaltung der Plage (T. 24–28), hier verlässt die Singstimme einmalig die syllabische Diktion. Die besondere Eindringlichkeit dieses Satzes, der in mancher Hinsicht an Händelsche Sarabanden erinnert, liegt in dem letztendlich doch werbenden, also nicht vernichtenden Ruf „O Mensch, errette deine Seele“, der als rhythmische Grundfigur (Hemiole) die ganze Arie durchzieht.61 Nach der den ersten Teil  beschließenden (theologisch missverständlichen, ja problematischen) Choralstrophe62 folgt ein kürzerer zweiter Kantatenteil, der

57 Damit dürfte Bach auf den Dekalog angespielen. 58 Vgl. Schulze, 294, vgl. auch schon das Instrumentalvorspiel. 59 Vgl. Dürr, 442. 60 Vgl. L./R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 210. 61 Vgl. a. a. O., 211. 62 Vgl. dazu das Original bei Rist, Str. 11.

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bereits Gegenstand der theologischen Reflexion war. Die furiose Bass-Arie „Wacht auf, wacht auf “ ist mit ihren aufschießenden Zweiunddreißigstel-Skalen in den Streichern (Figur der Tirata), ihren Dreiklangsbrechungen in der Singstimme63 und den punktierten Fanfarentönen in der Zugtrompete ein eindrückliches „Wecklied“. Es richtet sich an „verschlafene“ Sünder und malt das Jüngste Gericht drastisch aus. 8. Ar ie (Ba ss) 64 Wacht auf, wacht auf, verlorne Schafe,65 ermuntert euch vom Sündenschlafe und bessert euer Leben bald! Wacht auf, eh die Posaune schallt, die euch mit Schrecken aus der Gruft zum Richter aller Welt vor das Gerichte ruft.66

Im Gegensatz zu Rists Choraldichtung wird hier ausdrücklich auf die Aufer­ stehung am Jüngsten Tag und das wirkmächtige Auferweckungswort Gottes, der Menschen „aus der Gruft“ ruft (vgl. Joh 11,43), verwiesen. Im Mittelpunkt steht dabei die Metapher der Posaune (vgl. 1 Kor 15,55), die Bach nicht nur instrumental (tromba da tirarsi), sondern auch durch die trompetenartigen Koloraturen des Basses, z. B. in T. 22 f in den Mittelpunkt seiner Komposition rückt. Damit wird der forensische Hintergrund der Kantate auch musikalisch sinnenfällig. Der Schlussteil (T. 27 ff) bringt starke Exclamationes beim Wort „Schrecken“ (kleine Septimen), ein angesprungenes B bildet die „Gruft“ des Grabes ab (große Septime abwärts in der Singstimme). Beim semantisch zentralen Wort „Gericht“ (T. 30–33) verfinstert sich der Satz nach f-moll bzw. c-moll und wendet sich über einen unheilvoll wirkenden Passus duriusculus zu einer schroffen neapolita­ nischen Kadenz in der Ausgangstonart C-Dur, die erst beim abschließenden Ritornell wieder erreicht wird. Das folgende Rezitativ (Satz 9) bildet durch die persönliche Anrede in der 2.  Pers. Sg. (im Gegensatz zur 2.  Pers. Pl. der vorangegangenen Arie)  und die drastische Schilderung des konkreten Todes mit dem Bild des Sarges vor der Tür

63 Vgl. L/R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 213: „Dabei ist die Dreiklangsmotivik nicht nur instrumentengerecht für die Trompete erfunden, sondern hat eine eigene symbolische Bedeutung. Nach Johann Heinrich Buttstedt repräsentiert der Dur-Dreiklang Gott Vater bzw. die göttliche Natur Jesu Christi. Darüber hinaus deutet die ausgemessene Oktave, griechisch diapason, das den ganzen Tonraum umfassende Intervall, auf die göttliche Macht, seine potentia.“ 64 Die Besetzung mit Trompete und Solobass (vgl. BWV 70,9) verweist auf den Christus iudicans. Die Trompete steht für die Posaune des Jüngsten Tages (vgl. 1 Kor 15,52–55 bzw. 1 Thess 4,16). 65 Vgl. Rist, Str. 13: „Wach auf! O Mensch vom Sündenschlaf  /  ermuntre dich verlornes Schaf / und bessre bald dein Leben / wach auf, es ist doch hohe Zeit / es kommt heran die Ewigkeit / dir deinen Lohn zu geben. / Vielleicht ist heut der letzte Tag. / Wer weiß noch, wie man sterben mag. Vgl. BWV 115,2 in „aufmunterndem“ Daktylus: „Ach schläfrige Seele, wie? ruhest du noch? / Ermuntre dich doch! / Es möchte die Strafe dich plötzlich erwecken, / und wo du nicht wachest / im Schlafe des ewigen Todes bedecken.“ 66 Vgl. 2 Kor 5,10. Subjektiver und von dieser Verkündigung bewegt, klingt die Arie BWV 168,3.

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eine nochmalige Steigerung zur Bildwelt des Jüngsten Tages: Nunmehr steht das eigene Sterben im Vordergrund. Damit übertrifft es auch die Vorlage Johann Rists an Drastik.67 9. Rezit ativ (B a ss) Verlass, o Mensch, die Wollust dieser Welt, Pracht, Hoffart, Reichtum, Ehr und Geld; bedenke doch in dieser Zeit annoch, da dir der Baum des Lebens grünet, was dir zu deinem Frieden dienet. Vielleicht ist dies der letzte Tag, kein Mensch weiß, wann er sterben mag. Wie leicht, wie bald ist mancher tot und kalt! Man kann noch diese Nacht den Sarg vor deine Türe bringen. Drum sei vor allen Dingen auf deiner Seelen Heil bedacht.

Beim wörtlichen Choralzitat „Pracht, Hoffart, Reichtum, Ehr und Geld“ bekommt das Secco-Rezitativ für zwei Takte (T. 3 f) den Charakter eines Accompagnato. Die gespreizten Dreiklangsbrechungen karikieren mit ihren scharfen Punktierungen den „königlichen Ouvertürenrhythmus“68, harmonisch kühne Sprünge verspotten das Ansehen und die Attraktivität weltlicher Güter. An der Stelle „da dir der Baum des Lebens grünet“ lichtet sich die „Szene“ in ein freundliches D-Dur. Wie in der Arie zuvor werden aber rasch wieder dunklere Töne angeschlagen: Bei der Textstelle der „Nacht“ des Todes erreicht die Singstimme ein tiefes c; bei „tot und kalt“ mündet die Harmonik wieder in ein dunkles c-moll (vgl. Satz 8). Das folgende Duett bezieht sich auf Str. 11 des Chorals von Rist mit folgendem Wortlaut: O du verfluchtes Menschen=Kind, von Sinnen toll, von Herzen blind laß ab die Welt zu lieben/. Ach / ach soll denn der Höllen Pein da mehr denn tausend Henker sein ohn Ende dich betrüben. Wo ist ein so beredter Mann, der dieses Werk aussprechen kann?

10. Duet t (Al t , Teno r) O Menschenkind, hör auf geschwind, die Sünd und Welt zu lieben, dass nicht die Pein wo Heulen und Zähnklappen sein, dich ewig mag betrüben. Ach spiegle dich am reichen Mann, der in der Qual auch nicht einmal ein Tröpflein Wasser haben kann.



67 Sie lautet leicht modernisiert: „Ach lass die Wollust dieser Welt / Pracht, Hoffart, Reichtum, Ehr und Geld / dir länger nicht gebieten. / Schau an die große Sicherheit / die falsche Welt und böse Zeit / zusamt des Teufels Wüten. / Vor allen Dingen habe Acht / die vorerwähnte lange Nacht.“ 68 L./R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 214.

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Der Kantatentext ist mit den letzten vier Versen nicht nur näher am Evangelium aus Lk 16 sondern bietet zu Beginn auch eine „Entlastung“ der überfrachteten Anrede „verfluchtes Menschenkind“. Mit dem Ausdruck „Heulen und Zähneklappen“ nimmt der Dichter synoptische Sprache auf (vgl. Mt 22,13 u. ö.). Die Arie beginnt recht konventionell nach dem „Quasi-ostinato-Prinzip“69. „Der Satz ist rondoartig aufgebaut in der Form A–B–A–C–A–D–A, und zwar tragen die Instrumentalteile (Vorspiel, Zwischenspiel, Nachspiel) stets das ostinate Thema des Continuo (A) vor, das auch in den Vokalabschnitten B, C und D gegenwärtig bleibt.“70 Bei der Wendung „wo Heulen und Zähnklappen sein“ (T. 37 f) mehren sich dann chromatisch absteigende und querständige Figuren und Sprünge (Passus duriusculi), die die ewige „Betrübnis“ im Sinne der Affektfigur der Pathopoeia (Schmerz, Trauer) verdeutlichen. Ein musikalischer Kunstgriff geschieht bei „Ach spiegle dich am reichen Mann“ (T. 50–53). Hier haben Alt- und Tenorstimme beide je ein Thema und ein Kontrasubjekt: Thema A und B werden nach zwei Takten vertauscht, somit entsteht eine Art diagonaler Spiegelung (ABBA). Dem schließt sich ein Kanon im Sekundabstand an, der bei dem Wort „Qual“ in T. 56 f die Dissonanz der kleinen Sekund beinahe einen ganzen Takt hören lässt, obwohl eine „korrekte“ Stimmführung bereits in T. 57 eine Konsonanz (Terz) erwarten ließe. Weitere (allerdings konventionell aufgelöste) Dissonanzen wie die übermäßige Quint und die übermäßige Sekund schließen sich an (ebenfalls zum Wort „Qual). Ein zweiter Kanon folgt auf den Text „auch nicht einmal ein Tröpflein Wasser“, dessen Thema in eine Sechzehntel-Koloratur mündet, die das Rauschen des Wassers in kleinen Zirkulationsbewegungen nachzeichnet. Die Wiederaufnahme des Textes „Ach spiegle dich“ (T. 68 f) bringt eine Engführung, der die nochmalige Illustration der „Qual“ mit langen Noten sich anschließt. Mit dieser musikalischen Faktur (Kanon, Engführung etc.) scheint Bach die (eschatologische) Unerbittlichkeit des strafenden Gesetzes Gottes abzubilden. Die Kantate endet mit einem schlichten vierstimmigen Choralsatz, der die letzte Strophe des Ristschen Liedes mit dem Ausblick auf das „ewige Freudenzelt“ enden lässt, auch wenn dieser von tröstlicher Gewissheit noch weit entfernt ist:71 11. Cho ral O Ewigkeit, du Donnerwort, o Schwert, das durch die Seele bohrt, o Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, ich weiß von großer Traurigkeit, nicht wo ich mich hinwende.

69 Küster, 252. 70 L./R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 216. 71 Gegen L./R. Steiger, Zeit ohne Zeit, 219: „So predigt Johann Sebastian Bach in seiner Kantate BWV 20 mit Johann Rist und Heinrich Müller [sc. Evangelische Schluß=Kette, S. 690], dass die ernstliche Betrachtung der unendlichen Ewigkeit uns unter Schrecken zum Heil laden will.“ Diese paradoxe Redeweise erscheint mir weder für Bachs Kantate noch für eine gegenwärtige Predigt des Gesetzes angemessen, da sie den Gerichtsaussagen letztlich die Spitze nimmt.

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Nimm du mich, wenn es dir gefällt, Herr Jesu, in dein Freudenzelt.

Insgesamt stellt die Kantate ein stringentes Beispiel für eine schroffe musikalische Gesetzespredigt dar. Zwar wird am Ende durch die Anrufung Jesu (vgl. die Überschrift Jesu iuva) die Möglichkeit der Seligkeit mit dem Bild des „Freudenzeltes“ noch in Aussicht gestellt, eine explizite Verheißung oder Zusage derselben bleibt aber aus. Der Dichter der Kantate fokussiert somit einseitig die Betrachtung des Schicksals des reichen Mannes und seiner Höllenqualen, er vermeidet regelrecht die promissio des Evangeliums, wie sie etwa in der eschatologischen Advents­ kantate Wachet, betet! (BWV 70) erklingt72. BWV 20 sollte daher kaum ohne Erläuterungen und homiletische Bearbeitung im Gottesdienst aufgeführt werden. Vielleicht gibt es ja einmal eine Situation, in der die Kantate als „gesungene Bußpredigt“73 den ganzen Verkündigungsteil ausfüllen und abschließen kann. Besser wird es freilich sein, wenn sich die Predigt mit dem Thema der Gerechtigkeit Gottes und seinem Gericht auseinandersetzt und dabei auch das Evangelium aufscheinen lässt. Als Ort im Kirchenjahr bietet sich neben dem 1.  Sonntag n. Trin. auch der Buß- und Bettag bzw. der 2. Advent an. Folgende Struktur des Verkündigungsteils scheint uns denkbar: Evangelium Lk 16  – Credo  – Gemeindelied O Ewigkeit, du Donnerwort mit fünf Strophen, evtl. auch gelesen, vgl. EKG 32474 – Predigt I mit Hinführung zur Kantate – Kantate Satz 1–7 – Predigt II – Kantate Satz 8–11 (evtl. mit gemeinsamem Schlusschoral Satz 11). Daran kann sich eine Beichte mit „Offener Schuld“ und Vergebungszuspruch anschließen, der dann zur Mahlfeier überleitet. Angesichts der massiven Ge­ richtsaussagen sollte Teil  II der Kantate nicht sub communione musiziert werden. Am Bußtag wäre im Anschluss an das Gottesdienstbuch folgender Ablauf denkbar:75 Lesung aus Lk 13 oder Röm 2  – Kantate, Satz 1–7  – Predigt  – Kantate, Satz 8–11  – Gemeinsames Schuldbekenntnis  – Absolution  – Doxologische Strophe (z. B. EG 289,1) – Credo



72 Hier finden wir im Rezitativ des Basses (Satz 9) eine christologisch-soteriologische Entfaltung von großer tröstlicher Klarheit: „Ach, soll nicht dieser große Tag, / der Welt Verfall / und der Posaunen Schall, / der unerhörte letzte Schlag, / des Richters ausgesprochne Worte, / des Höllenrachens offne Pforte / in meinem Sinn / viel Zweifel, Furcht und Schrecken, / der ich ein Kind der Sünden bin, / erwecken? / Jedoch, es gehet meiner Seelen / ein Freudenschein, ein Licht des Trostes auf. / Der Heiland kann sein Herze nicht verhehlen, / so vor Erbarmen bricht, /sein Gnadenarm verlässt mich nicht. Wohlan, so ende ich mit Freuden meinen Lauf.“ 73 Vgl. J. A. Steiger, Ewigkeit, 131. 74 Vgl. EKG 324. J. A. Steiger, Ewigkeit, 132, polemisiert gegen die Gesangbuchrevisoren des EG, die das Lied aus dem Stammteil des EG eliminierten „weil sie dem vulgär-protestantischen Missverständnis aufgesessen“ seien, dass „das letzte Gericht auf den Problem-Müllhaufen vergangener Zeit“ gehöre. 75 Vgl. dazu EGB, 191.

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3.2 Nimm von uns, Herr, du treuer Gott (BWV 101) Kaum ein Sonntag des Kirchenjahrs hat in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum liturgiewissenschaftlich und homiletisch so viel Interesse erfahren wie der 10. Sonntag n. Trinitatis, der sog. „Israelsonntag“ (Gedenktag der Zerstörung Jerusalems), an dem das Verhältnis der Kirche zu Israel bzw. die Begegnung von Christentum und Judentum Thema ist.76 Im Gegensatz zu der eben dargestellten Kantate BWV 20 wird in der Choralkantate BWV 101 nicht das eschatolo­ gische Gericht thematisiert oder verkündigt, sondern das Gericht Gottes in der Geschichte77 „ins Gebet“ genommen. Poetischer Ausgangspunkt ist ein Choral M. Mollers, der in beinahe allen Sätzen (außer Satz 2) wörtlich zitiert wird. Als konkrete Gerichtserfahrung kommen Seuchen und Feuersnot, aber auch Krieg und Teuerung zur Sprache, die gleich in der ersten Strophe anklingen. Daher fleht der Dichter im Folgenden, dass das „Schwert der Feinde ruhen“ bzw. „Friede und Ruhe“ wieder einkehren mögen. Die Kantate entstand innerhalb des Choralkantatenjahrgangs 1724/25 für den 13.  August 1724. Sie wird in synoptischer Darstellung mit dem während einer Pestepidemie 1584 gedichteten Choral von Martin Moller abgedruckt, der seinerseits auf den lateinischen Hymnus Aufer immensam, Deus, aufer iram zurückgeht. Er dürfte seinerseits von Johann Spangenberg oder Georg Klee aufgenommen und von Philipp Melanchthon korrigiert worden sein.78 1. Nimm von uns Herr, du treuer GOTT, die schwere Straf und große Noth, die wir mit Sünden ohne Zahl verdienet haben allzumal. Behüt für Krieg und theurer Zeit, für Seuchen, Feur und großem Leid. 2. Wir bitten Gnad und nicht das Recht. Erbarm dich deiner bösen Knecht, denn so du Herr, den rechten Lohn, uns geben wollst nach unserm Thun,

1. Chor Nimm von uns Herr, du treuer Gott, die schwere Straf und große Not usw.

2. Ar ie (Teno r) Handle nicht nach deinen Rechten mit uns bösen Sündenknechten, lass das Schwert der Feinde ruhn! Höchster, höre unser Flehen,



76 Vgl. die grundsätzlichen Arbeiten von Volkmann und Mildenberger. 77 Vgl. Mildenberger, 181: „Es ist biblische Tradition, innerweltliche Ereignisse als Gericht Gottes zu deuten, in diesem Zusammenhang sei hier nur auf die deuteronomistische Theologie und ihre Verarbeitung von der ersten Zerstörung Jerusalems und des Exils verwiesen. Entsprechend gibt es viele jüdische Traditionen, die auch die zweite Zerstörung Jerusalems und des Tempels als Strafe Gottes für die Sünden des Volkes Israels deuten.“ Vgl. dazu auch die auf kirchliche „Heimsuchungen“ bezogene Choralkantate Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort. (BWV 126). Die erste Arie des Tenors (Satz 2) lautet: Sende deine Macht von oben, / Herr der Herren, starker Gott! / Deine Kirche zu erfreuen / und der Feinde bittern Spott / augenblicklich zu zerstreuen. 78 Vgl. Petzoldt I, 228 f: „In Gesangbüchern der Bachzeit wird als Verfasser des deutschen Liedes Bartholomäus Ringwald (1530–1599) angegeben (Dresdener Gb. 1725/36, S. 381. Nr. 499, überschrieben ‚Wider die allgemeine Noth‘). […] Die de-tempore-Register schlagen es vor allem für den 10.  Sonntag n. Trinitatis vor (Hannover 1698, Mühlhausen 1712, Dresden 1725), für den 3.  und 27. Sonntag n. Trinitatis (Mühlhausen 1712) und für den 22. Sonntag n. Trinitatis und für die Ratswahl (Dresden 1725).“

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Der offenbare Gott richtet und straft so müst die gantze Welt vergehn, und könt kein Mensch vor dir bestehn. 3. Ach Herr Gott! durch die Treue dein mit Trost und Rettung uns erschein, beweis an uns dein große Gnad, und straff uns nicht auff frischer That, wohn uns mit deiner Güte bey, dein Zorn und Grimm fern von uns sey.

4. Warum wilt do so zornig seyn über uns arme Würmelein? Weist du doch wohl du treuer GOTT, daß wir nichts sind, als Erd und Koth, es ist ja für deinm Angesicht unsre Schwachheit verborgen nicht. 5. Die Sünd hat uns verderbet sehr, der Teufel plagt uns noch vielmehr, die Welt, auch unser Fleisch und Blut uns allezeit verführen thut,

solch Elend kennst, du Herr allein, ach laß uns dir befohlen seyn. 6. Gedenck an deins Sohns bittern Tod. Sieh an sein heilig fünff Wunden roth, die sind ja für die ganze Welt die Zahlung und das Löse=Geld, des trösten wir uns allezeit und hoffen auf Barmherzigkeit.

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dass wir nicht durch sündlich Tun wie Jerusalem vergehen. 3. Cho ral und R ezit ativ (S opran) Ach Herr Gott! durch die Treue dein wird unser Land voll Fried und Ruhe sein. Wenn uns ein Unglückswetter droht, so rufen wir, barmherzger Gott zur dir in solcher Not: Mit Trost und Rettung uns erschein! Du kannst dem feindlichen Zerstören durch deine Macht und Hilfe wehren. Beweis an uns dein große Gnad, und straf uns nicht auf frischer Tat, wenn unsre Füße wanken wollten und wir aus Schwachheit straucheln sollten. Wohn’ uns mit deiner Güte bei, und gib, dass wir/ nur nach dem Guten streben, damit allhier/ und auch in jenem Leben dein Zorn und Grimm fern von uns sei. 4. Ar ie (Ba ss) mit ins tr . Cho ral Warum willst do so zornig sein? Es schlagen deines Eifers Flammen schon über unserm Haupt zusammen. Ach stelle doch die Strafen ein und trag aus väterlicher Huld mit unserm schwachen Fleisch Geduld! 5. Cho ral und R ezit ativ (T eno r) Die Sünd hat uns verderbet sehr, so müssen auch die Frömmsten sagen und mit betränten Augen klagen: der Teufel plagt uns noch vielmehr, Ja, dieser böse Geist, der schon von Anbeginn ein Mörder heißt, sucht uns um unser Heil zu bringen und als ein Löwe zu verschlingen. die Welt, auch unser Fleisch und Blut uns allezeit verführen tut. Wir treffen hier auf dieser schmalen Bahn sehr viele Hindernis im Guten an. Solch Elend kennst, du Herr allein, ach lass uns dir befohlen sein. 6. Duet t (S opran  / Al t) Gedenk an Jesu bittern Tod. Nimm Vater, deines Sohnes Schmerzen und seiner Wunden Pein zu Herzen! Die sind ja für die ganze Welt die Zahlung und das Lösegeld, erzeig auch mir zu aller Zeit, barmherzger Gott, Barmherzigkeit. Ich seufze stets in meiner Not: Gedenk an Jesu bittern Tod!

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7. Leit uns mit deiner rechten Hand und segne unser Stadt und Land, gib uns allzeit deins heiligs Wort, behüt fürs Teufels List und Mord, bescher ein seligs Stündelein, auf daß wir ewig bey dir seyn.

7. Cho ral Leit uns mit deiner rechten Hand, und segne unser Stadt und Land; gib uns allzeit dein heiligs Wort, behüt fürs Teufels List und Mord; verleih ein selges Stündelein, auf dass wir bei dir selig sein.

a) Poetische und hymnologische Überlegungen Insgesamt lässt sich beobachten, dass sich der Kantatendichter eng am Original orientiert und nur im 2. und 6. Satz (Arien) Veränderungen am Text vorgenommen worden sind. Überhaupt beginnt nur der zweite Satz ohne ein wört­liches Choralzitat. Von der musikalischen Anlage erinnert vor allem der Kopfsatz an die oben analysierte Kantate BWV 2.79 Ungewöhnlich ist, dass sich in den Sätzen 3 und 5 gleich zwei Beispiele von tropierenden Rezitativeinschüben finden. Poetisch könnte man dieses Prinzip als (Choral)-Interpretation durch (madrigalische) Interpolation bezeichnen. Im 6. Satz hat der unbekannte Dichter die erste Choralzeile im Sinne einer inclusio auch nochmals an den Schluss gestellt und damit das Motiv der Anamnese (Gedenk an Jesu bittern Tod)80 besonders hervorgehoben. Doch betrachten wir zunächst Mollers Choral für sich: Die dorische Melodie auf Luthers Vater unser im Himmelreich passt zu der herben Strenge des Textes und zu der Tatsache, dass das ganze Lied ein klagendes und bittendes Gebet ist. Wort-Ton-Korrespondenzen lassen sich nicht wirklich ausmachen. Str. 1 und 7 entsprechen und ergänzen sich folgendermaßen: Während in Str. 1 (gleichsam negativ) um die Abwendung der als göttliche Strafe begriffenen Not in der Gegenwart gefleht wird, bittet die Gemeinde am Ende (positiv) um Leitung, Segen und Beistand für die Zukunft. Begriffliche Klammer ist das Verbum „behüten“. In der ersten Strophe benennt Moller Krieg, Seuchen, Feuersnot, Teuerung und allgemein „schweres Leid“ als konkrete Notsituationen, die als Strafen des gerechten Gottes in der aktuellen Geschichte aufgefasst werden. In Str. 7 werden diese „irdischen Katastrophen“ durch die Rede von „List und Mord“ des Teufels drastisch überhöht und geistlich das „selige Stündelein“ als Gottesgabe gegenüber gestellt. Damit stehen sich insgesamt Sünde und Schwachheit des Menschen, die Verführung der Welt und des Teufels (Str. 1; 2; 4; 5) samt dem Strafhandeln Gottes auf der einen und die Güte und Gnade Gottes (Str. 2; 3 und 6) auf der anderen Seite als widerstreitende Größen gegenüber. Der Dichter konfrontiert antithetisch sündiges Tun des Menschen (Str. 2) und Gottes gerechtes Strafhandeln einerseits mit der Hoffnung auf Erbarmen bzw. Güte und Barmherzigkeit Gottes andererseits. Mit dem Stilmittel des Hendiadyoin hält er in Str. 3 „Zorn und Grimm“ Gottes dessen „Trost und Rettung“ bzw. „Treue“ und „Güte“ gegenüber. Man bekommt so förmlich den Eindruck, dass Moller die „große Gnade“ (Str. 3) des „großen Got

79 Vgl. 2.4.1 bzw. Küster, 261 bzw. Petzoldt I, 230. 80 Petzoldt I, 235, vermutet darin (vgl. Olearius V, 1594) einen Hinweis auf 2 Tim 2,8 (vgl. BWV 67).



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tes“ (Str. 4) auf den Plan rufen will, um die übermächtige Bedrohung der Strafe des zornigen Gottes abzuwenden. Allein Str. 6 bringt mit der Rede vom Lösegeld (Mk 10,45 par Mt 20,28 bzw. 1 Tim 2,6) und dem stellvertretenden Tod des Gottessohnes (Röm 5,10) eine zentrale neutestamentliche Erlösungsvorstellung ins Gespräch, womit offenbar die „Wende“ erreicht ist. Man tut sich heutzutage sicher nicht leicht mit dem ambivalenten Bild eines strengen und doch gütigen Gottes, eines zornigen Richters und doch barmherzigen Vaters.81 Allerdings hat dieses kontrastreiche „Gottesbild“ das biblische Gesamtzeugnis ebenso auf seiner Seite wie die ambivalente Welt- und Selbsterfahrung der conditio humana. Problematischer ist eher das Menschenbild, das in Str. 4 mit den drastischen Bildern „Würmelein“ bzw. „Erd und Kot“ gezeichnet wird – diese beiden Metaphern hat der Kantatendichter dann in Satz 4 eliminiert! – weil hier gar nichts mehr von der Würde und Hoheit des Menschen aus der Schöpfungsgeschichte übrig geblieben ist (vgl. Ps 8,5 bzw. Gen 1,27). Allerdings wird in Übereinstimmung mit reformatorischer Theologie deutlich, dass die Sünde den Menschen im Innersten verdorben hat und er vor Gott nichts zu seinem Heil bringen kann (Str.  2, vgl. Röm 3,23). Soteriologisch gewendet heißt das, dass uns nur aus der stellvertretenden Leidenshingabe Christi (Str. 6) die Hoffnung auf ewiges Heil (Str.  7) erwächst. Bachs Dichter bleibt, was die Sprachform der Kantate angeht, grundsätzlich in der anabatischen Sprechrichtung des Gebetes, das bis auf Satz 6 in Wir-Form gestaltet ist.82 Er akzentuiert und illustriert  – in stets erkennbarer Nähe zur Vorlage – in seinen Einschüben (Z. 3–6) bzw. Umdichtungen (Str. 2 und 6) die Not als Kriegsnot,83 die Deutung des eigenen Handelns als Sünde (Satz 2: sündlich Tun; Sündenknechte), die eschatologische Dimension (Str. 3: „allhier und auch in jenem Leben“) sowie den ethischen Anspruch (Str. 3: „nach dem Guten streben“, Satz 3). Die hamartiologische Spitze der zweiten Strophe, wonach der Mensch vor Gott nichts bringen kann, wurde etwas abgeschwächt (Satz 2) und leicht moralisierend zugespitzt mit der Wendung „dass wir nicht durch sündlich Tun wie Jerusalem vergehn“. Die Mahnung mit Seitenblick auf das zerstörte Jerusalem kann als Ausgestaltung im Sinne des Sonntagsevangeliums (Lk 19,41–48) verstanden werden, sie findet sich schon in der 200 Jahre älteren Evangelienhamonie Bugenhagens.84 Antijüdische Polemik können wir darin nicht erkennen, vielmehr stellt

81 Vgl. Koch, Gericht, 462: „Auch muß unter dem Aspekt der Gerichtsthematik als mutmaßlich entscheidender Faktor die prophetische Vorstellung vom Zorn Gottes einbezogen werden. ‚Die Verkündigung vom Zorn Gottes im AT ist nicht identisch mit der Darstellung des göttlichen richterlichen Aktes, sie meint nicht nur eine Aktrion, sondern einen Lebensvorgang in Gott selbst, einen ‚Affekt‘ Gottes.“ 82 Vgl. dagegen BWV 102 (s. u. 3.3.) zum gleichen Sonntag, die eine ausgesprochene Bußpredigt ist (vgl. ähnlich oben BWV 20 bzw. Mildenberger, 178). 83 Vgl. Satz 2 mit der Wendung „Schwert der Feinde“ bzw. Satz 3 mit „feindliches Zerstören“. 84 Vgl. Petzoldt I, 230: „Johannes Bugenhagen (1485–1558) lässt seine Evangelienharmonie enden mit der ‚Historia der Zerstörung Jerusalems‘ und mahnt im Appendix die Christen, das gleiche Schicksal für sich heraufzubeschwören.“ Vgl. dazu den Text in: Vollständiges Kirchen=Buch, Leipzig 1718, 391 f, (zit. nach Petzoldt I, 217): „Also hat Gott die Verachtung und Verfolgung des Evangelii gestraft, und aller Welt ein schrecklich Exempel fürgestellet, sie zu vermahnen,

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sich die Gemeinde mit Klage und großem innerem Ernst auf die gleiche Stufe mit Israel. Das Motiv menschlicher Schwachheit (Jes 59,2) wurde verstärkt. Wir finden es (vgl. Str. 4) nun insgesamt dreimal (Satz 3–5: „Schwachheit“, „schwaches Fleisch“, „uns Schwachen“) im Text. Ganz offensichtlich hat der barocke Dichter Freude daran, hinsichtlich der Kernaussagen immer etwas stärker „aufzutragen“ als im Original: Der Teufel (vgl. Str. 5 und 7) wird von 1 Petr 5,8 her als „brüllender Löwe“ ausgemalt und als „böser Geist“ und „Mörder“ geächtet (Satz 5). Gottes eifernder Zorn schlägt mit züngelnden Flammen85 über dem menschlichen Haupt zusammen (Satz 4), wobei ambivalente Assoziationen von immanenter Feuersnot und ewigem Höllenfeuer möglich sind. Menschen, die das Inferno einer brennenden Stadt – etwa in den Bombennächten des zweiten Weltkrieges – erlebt haben, ist diese Metaphorik sicher o. W. zugänglich. Allerdings wird auch die Barm­herzigkeit Gottes, die im Choral nur in Str. 3 und 6 ihren Ort hatte, ebenfalls verstärkt und in Satz 4 („väterliche Huld“) zusätzlich eingeführt. So stehen fast manichäistisch die bösen Mächte (Satz 5) den göttlichen Mächten (Satz 6) gegenüber: In Satz 5 werden Sünde und Teufel auf der einen, Welt und eigenes Fleisch auf der anderen Seite als Ursache des Übels benannt bzw. bekannt. Damit ist eine sachliche Nähe von Str. 2 bzw. Satz 2 hergestellt.86 Als Heilmittel kommen in Satz 6 die Schmerzen und der Tod Christi samt seinen Wunden (vgl. Jes 53 bzw. Joh 19) im persönlichen Gebet (1. Pers. Sg.) zur Sprache. Hier ist das Gebet in der ganzen Kantate am eindrücklichsten verdichtet, etwa durch die figura etymologica „barmherzger Gott, Barmherzigkeit.“ Ein göttlicher Zuspruch wird – analog zum Choral – allerdings nicht (wie etwa in BWV 2,4 oder in BWV 55) formuliert, so dass der dunklen Noterfahrung im Grunde nur die Möglichkeit aber nicht die Gewissheit einer Erhörung (des gnädigen Gottes) gegenüber gestellt wird. Ob wir mit der Formulierung „Gedenk an Jesu bittern Tod“ eine bewusste Anspielung auf 2 Tim 2,8 und damit auch einen Wechsel im Adressaten (statt Gott zunächst die Gemeinde) annehmen sollen, scheint mir sprachlich nicht eindeutig belegbar.87 Vielmehr deutet die enge Verknüpfung des „Ich seufze stets“ mit anschließendem Doppelpunkt am Ende der siebten Zeile eher auf das Gegenteil hin, denn das Seufzen (vgl. Rö 8,19) ist doch wohl eher an Gott als an die Gemeinde gerichtet.

Insgesamt können wir uns Mildenbergers Urteil anschließen, wonach die Kantate zeige, „dass der Bußcharakter des Sonntages auch ohne ausdrücklichen Bezug auf Gottes Zorn und Strafe zu fürchten, und sich zu Gott und zum Erkänntniß Christi zu bekehren. Denn hat Gott dieses Volcks nicht verschonet, dem er so viele herrliche Verheißung ge­geben hat, darinnen soviel hoher heiliger Patriarchen und Propheten gewesen, ja welches Christo mit dem Geblüt verwandt ist: Wie viel schrecklicher wird er andere Völcker strafen, welchen aus besonderer Gnade das Evangelium mitgetheilet ist, und sie dennoch undanckbar sind, rechten Gottesdienst und Erkänntnis verachten, und mit größere Halsstarrigkeit und Grausamkeit verfolget, denn zuvor in der Welt nie geschehen? Drum ist kein Zweifel, die Strafe wird nicht ferne seyn, du wird ihnen gehen, wie es mit Jerusalem gegangen. Dieses sollen wir ernstlich betrachten und zu Hertzen nehmen, dass wir uns bessern, und zu rechter Erkänntniß Christi bekehren. Amen.“ 85 Vgl. dazu die Sequenz zum Gedenktag der Schmerzen Mariens Stabat mater: „Inflammatus et accensus etc.“. 86 Im Gegensatz zu BWV 55 klingt allerdings der Hinweis auf die Welt und das eigene schwache Fleisch eher entschuldigend als nach echter Reue. 87 Vgl. dazu ausführlich Petzoldt I, 234 f.

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das Sonntagsevangelium, das hier nur in Andeutungen aufscheint“88, Grundtenor dieser Kantate ist. b) Musikalische Beobachtungen In seiner musikalischen Form ist der Eingangschor streng gearbeitet. Gleich zu Beginn (T. 1–4) wird, alternierend in den verschiedenen Instrumentengruppen, das eigenständige musikalische Material der Orchesterstimmen vorgestellt: Ein kontrapunktisches Thema mit zahlreichen Viertelrepetitionen im dreistimmigen Streichersatz steht zunächst dem sich nach langen Haltenoten flehend erhebenden Holzbläsersatz gegenüber, was dann ab T. 5 immer wieder umgekehrt wird. Der Chorsatz wird von drei Posaunen und Zink mit oktavierender Querflöte (Sopran) colla parte begleitet, so dass insgesamt vier Klangfarben, Streicher, Holzbläser, Blech und Chor, gegeben sind. Wie in vielen anderen Choralkantaten macht Bach vor dem Einsatz des cantus firmus im Sopran die Choralmelodie schon in den drei Unterstimmen durch Vorimitationen hörbar. Mit dem chorischen Einsatz (T. 32) nimmt auch in den Instrumenten eine neue Thematik einen atmosphärisch wichtigen Raum ein. Bach spaltet aus einer im Vorspiel (T. 25 f) bereits angelegten Melodik in den Oberstimmen (Ob 1; Vl. 1) ein seufzend-klagendes Dreiton­ motiv ab, das durch die Intervalle der verminderten Quart und Septime geprägt ist. Die Musik bekommt dadurch eine dem ernsten Text der lectio evangelii bzw. des Kantatentextes angemessene „Schwere“89. Mit dem Ende der zweiten Choralzeile (T. 101 ff) kommt das pochend repetierende Motiv des Anfangs wieder ins Spiel, womit Bach offensichtlich die „Zahl der Sünden“ veranschaulichen will. Das flehende Seufzen der Dreitonmotivik (vgl. T. 101 f, Continuo) bleibt aber ebenfalls präsent. Das Dreitonmotiv verwandelt sich dann im weiteren Verlauf des Chorals (T. 122 ff) in ein Viertonmotiv, das seine Charakteristik durch die gegensätzliche Artikulation (staccato, legato) der vier Viertelnoten bekommt, womit eine größere Unerbittlichkeit („verdienet haben“) Oberhand gewinnt, die bis ins letzte Zwischenspiel (T. 195–212) prägend ist. Hier erhebt sich dann aus dem fragmentarischen Dreiton- und Viertonmaterial, das weiterhin kontrapunktisch präsent ist, in der ersten Oboe eine flehend aufsteigende Melodie (T. 214–219 von d’ bis a’’), die sich „entgegen dem Themenverlauf der melodiegeleiteten Vorimitationen“90 in eindringlichen Synkopen immer weiter nach oben schwingt, womit die Gesamtaussage des Satzes eine ganz eigene Ausdeutung des Komponisten als flehendes, leidgeprägtes Gebet erfährt. Satz 2 (Arie) ist ein konzertanter Triosatz mit virtuoser Solovioline. Besondere Ausleuchtung erfahren die Worte „böse Sündenknechte“ mit verminderten Septimsprüngen, das Verb „ruhen“ mit langen Liegenoten (T. 35–38 bzw. 41–43) sowie im B-Teil die Assonanz „Höchster, höre“ mit einer nach oben steigenden Circulatio (vgl. T. 47; 49; 62), die das zu Gott aufsteigende Gebet symbolisiert. Andere Ausdrucksmittel, das Gebet musikalisch zu illustrieren, finden wir beim Wort

88 Mildenberger, 178. 89 Vgl. Petzoldt I, 231. 90 Petzoldt I, a. a. O.

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„Flehen“, das durch absteigende Seufzerketten (T. 51 f) bzw. eindringliche Achtelsynkopen abgebildet (T. 65 f) ist.91 Der dritte Satz mit einem Choraltropus lebt vom ständigen Wechsel zwischen kolorierter Choralmelodie und Rezitativ, was sich auch im Metrum zeigt: Bach „setzt die im 4/4-Takt stehende Melodie um in einen 3/4-Takt und nützt diese Dehnung zu melismatischen Ausgestaltungen, wie auch zur Wiederholung ihm wichtiger Textteile“92 („straf uns nicht“, vgl. T. 27). Textbezogene Einzelausdeutungen werden auch durch schroffe Sprünge (Saltus duriusculi) wie Tritoni und verminderte Septakkorde) bei den Begriffen „Unglückswetter“ (T. 11), „Not“ (T. 13), „Zerstören“, „wanken“, „Schwachheit“ (T. 29 f: gleich viermal in Solostimme und Continuo) und „Grimm“ realisiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Tritonussprung sowohl die anthropologische Krisensituation als auch das „zornige“ Handeln Gottes beschreiben kann. „Der Satz ist in zwei Abschnitte geteilt (T. 1–19, 19–46), deren konditionale Redeweise – ‚wenn … so‘ […] – die Umformung aus einem Gebet zu einer Erkenntnis zustande bringt; der erste […] bezieht sich auf die allgemeine und feindliche Bedrohung eines Landes, das durch Gottes Treue ‚in Fried und Ruhe sein‘ könnte – man höre hier den gleichsam eine andere Welt eröffnenden mediantischen Übergang (T. 8–9) von der Liedzeile zur Rezitativzeile –, bei Bedrohung aber der ‚Macht und Hilfe‘ Gottes bedarf.“93 Aus der Hoffnung auf Gottes sich wandelnde Haltung im Hier und Jetzt94 folgt dann im zweiten Teil ein Sinneswandel des Menschen, dessen Streben nach dem Guten (mit Gottes Hilfe) Gottes Zorn hier und dort abwenden soll, womit eine doppelte Verschränkung expliziert ist. Die folgende fünfstimmig besetzte Satz 4 (mit 2 Oboen, Taille, Bass, Con­tinuo) nimmt wiederum den Choral und seine Melodie auf. Höchst unkonven­tionell entwickelt er seine Dramatik aus einem ständigen Tempowechsel zwischen Andante und Vivace bzw. Adagio. Im Andante kommt die Melodie des Chorals (Solobass) in unkolorierter Form vor, im kontrastierenden Vivace ist sie dagegen zugunsten eines affektgeladenen Sologesangs und virtuosen Instrumentalsatzes völlig zurück genommen. Hier ist Bachs Komposition Augen- und Ohrenmusik, wenn er über den Häuptern der Heimgesuchten durch „züngelnde“ Koloraturen heiße „Flammen“ entfacht (vgl. T. 21 f, 26; 28 f) und in Sequenzen wie einen Flächenbrand ausbreitet (T. 24 f in Ob. 1 auf drei Stufen, T. 27–29 ähnlich im Continuo). Das bedrohliche „Zusammenschlagen“ der Flammen macht der Komponist durch pochende Staccato-Achtel in den Oboen drastisch lebendig (vgl. T. 21 f bzw. T. 27–30). Die besondere Emphase dieses Motivs wird durch eine unmittelbare Wiederholung (Epizeuxis, vgl. z. B. T. 27 f: Ob. 1) auf vier Tonstufen (Climax) verwirklicht. Der B-Teil (T. 38 ff) bringt im Kontrast dazu den cantus firmus nicht

91 Schulze, 369 sieht in der „Bittgebärde des Textes und dem trotzigen Selbstbewußtsein der markanten Instrumentalstimme“ einen Widerspruch. 92 Simpfendörfer, 91. 93 Petzoldt I, 232. 94 Vgl. Simpfendörfer, 91: „In der letzten Choralzeile ‚dein Zorn und Grimm fern von uns sei‘ ist es die Wendung ‚fern von uns‘, die diesmal im Kontext wiederholt ist. Beide Repetitionen haben dasselbe zum Inhalt: Gott möge auf die Strafe verzichten.“

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mehr in der Solostimme, sondern im (tröstlich klingenden) Bläsersatz, wodurch eine eigentümliche Gleichzeitigkeit des im A-Teil vorgestellten Materials (Choral und instrumentale Motivik) entsteht. Petzoldt deutet dies im Sinne einer Konfrontation von Gericht95 und Gnade: „So entsteht auch musikalisch die Spannung von Zorn und Gnade, des Zorns durch die unablässig das Sich-Überschlagen und Zusammenschlagen der Flammen wiedergebende dauernd wiederholte Oboenmotiv und der Gnade durch die instrumental-objektivierende Musikalisierung der Liedstrophe. Die Bitte um Geduld bleibt am Schluß jenseits der objektiven Zusage als letzte Möglichkeit stehen: Zusammen mit einer Kadenz der Ob. 1 (T. 58–59), dann durch einen Halteton der Bassstimme [„Geduld“, Anm. JA], währenddessen die Flammen mit einem im Vivace kanonisch ansetzenden Zwischenstück (T. 59–62) sich in Erinnerung bringen, schließlich mit einer erneuten ariosen Strecke auf die beiden letzten Textzeilen […], die allein vom Continuo begleitet sind (T. 62–66). Die in diesen beiden Zeilen aufleuchtende Assoziation der Bitte um Geduld durch den Schalksknecht (Mt 18,26) stellt einen sinnvollen und interpretierenden Zusammenhang her, sowohl zu Arie Satz 2, wo es bereits um die Bitte der ‚Sündenknechte‘ geht […], als auch zur Arie Satz 6, wo es um die Erlösung der Welt aus der Sündenknechtschaft geht.“96

Bach stellt in diesen letzten vier Takten „zu guter Letzt“ die „väterliche Huld“ (vgl. die Katabasis in T. 62, angelegt schon in T. 48), auch wenn sie nur erfleht und nicht zugesprochen wird, ganz in den Vordergrund. Gewiss hat der Komponist sehr bewusst auf ein Da capo verzichtet, das nochmals die Gerichtsflammen präsentiert hätte. (Die Arie endet vielmehr mit einem instrumentalen Ritornell, das mit dem Vorspiel identisch ist.) Der rezitativische Choraltropus (Satz 5), der nun folgt, ist ein „kollektives Sündenbekenntnis“, das mit der Bitte um Gottes Schutz und Hilfe schließt. Zur Begleitung des Tenors dient ein vorwärts drängendes, recht prägnantes und häufig sequenziertes Bassmotiv, das aus dem Kopf der ersten Choralzeile entwickelt ist (vgl. T. 1). Insgesamt ist das Stück in zwei ungefähr gleich große Abschnitte zu gliedern: Der erste beschreibt das bedrohliche Werk des Teufels (T. 1–14), der zweite die Verführungen der Welt (T. 15–31).97 Die rezitativischen Einschübe sparen nicht mit drastischen musikalischen Bildern. So fehlt beim „bösen Geist“ (T. 10) ein harter Septimsprung in der Singstimme ebenso wenig wie ein verminderter Septakkord beim Ausdruck „Mörder“ (T. 11 ganzer Takt). Die harmo­ nische Vielseitigkeit des ostinaten Bassmotivs setzt Bach bei „verführen“ (T. 18 f)

95 Es fällt auf, dass im B-Teil der Begriff des „Strafens“ ähnlich penetrant im Vordergrund steht (11×), wie im A-Teil das Attribut „zornig“ (9×). Allerdings geht es dabei ja nicht um eine kategorische Verurteilung, sondern um ein Infragestellen des Strafhandelns Gottes durch das flehende „Warum willst du so zornig sein?“ bzw. „Ach, stelle doch das Strafen ein!“ 96 Petzoldt I, 233. 97 Vgl. die treffende Darstellung bei Petzoldt I, 234: „Ein erster Abschnitt […] bekennt die Verderbnis durch die Sünde und die Klage der ‚Frömmsten‘ […], den Teufel auch bei ihnen am Werk zu sehen; auf engstem Raum sind hier mehrere Vorstellungen vom Teufel zusammengebracht, die seine symbiotische Wirksamkeit mit der Sünde vorführen: Plagen, Bosheit als geistige Wirklichkeit, Mord, Verhinderung des göttlichen Heils, parasitäres Verschlungenwerden. Der zweite Abschnitt […] nennt die Welt, die im Schlepptau des Teufels durch Verführung beteiligt ist an dessen Werk.“

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besonders in Szene: Hier wird durch ständige „Zwischendominanten“ über zwei Takte die Kadenz immer weiter hinaus gezögert und die harmonische Situation immer wieder „verdunkelt“. Es folgt dann ein Trugschluss, der – passend zum Text „verführen“ – gleichsam „in die Irre“ führt. Ähnlich verlaufen T. 23–25 („Solch Elend kennst du, Herr, allein“), die wieder mit einem Trugschluss (Sekundakkord F-Dur) enden, der im Anschluss (T. 25 mit Saltus duriusculus: es-Fis) einen „heftigen Absturz ins Elend“ musikalisiert und damit die große Not der Gläubigen illustriert. Die eindringliche figura etymologica „hilf, Helfer, hilf “ ist an eben dieser Stelle mit einer ausdrucksstarken Exclamatio (große Sext) verbunden. Insgesamt sehen wir in den Sätzen 3–5 einen engen musikalischen und theo­ logischen Zusammenhang, der von der Erkenntnis Gottes zu einem dezidierten Sünden- und Vertrauensbekenntnis reicht. Zugleich vollzieht sich die geistliche Einsicht, dass Gott helfen kann und will.98 Der gemeinhin als „musikalischer Höhepunkt“99 der Kantate empfundene Satz 6, ein fünfstimmiges Duett von Sopran und Alt, das – wie oben gesehen – auch theologischer Zielpunkt der Entwicklung ist, verlangt zwei virtuose Spieler (Traversflöte und Oboe da caccia). Der Choral zieht sich im Wechsel von meist paarig sich imitierenden instrumentalen und vokalen Einsätzen durch das ganze Stück. Mit Dürr und Petzoldt können wir es in drei Teile (ABA’) gliedern, wobei die Form kein Da capo im herkömmlichen Sinne, sondern eher eine „Entwicklung“ darstellt, was sich harmonisch und melodisch an der Behandlung der ersten Choralzeile zeigen lässt. Interessant ist, dass nur drei Liedtextzeilen (1; 3; 4) vertont werden, der Choral also in diesem Satz gewissermaßen „Fragment“ bleibt. Besonderes Gewicht erhält die erste Zeile, die im ersten Vokalabschnitt (T. 13–18) und im letzten (T. 49–55) ganz im Vordergrund steht und gegenüber dem Choral ja leicht abgewandelt wurde. Sie kommt anfänglich viermal (2× instrumental, 2 × vokal), in der Mitte einmal (T. 35–38) und am Ende wieder viermal vor (T. 49–60), ist demnach als Motto, Mitte und Klammer des Stückes überproportional präsent100. Die beiden anderen Zeilen erklingen entweder paarig vokal (Zeile 3) oder instrumental (Zeile 4), wobei Bach gerade hier, wenn der Begriff des Lösegeldes ins Spiel kommt, auf eine ausdrückliche Choralgestalt verzichtet.

Zahlreiche Textausleuchtungen innerhalb des Duettes sind bereits in den ersten drei Tönen der Flötenstimme (T. 1) angelegt. Diese finden im Verlauf des Stückes reichlich Verwendung. Sie stellen das nachdrückliche Flehen (vgl. T. 36–38: „erzeig auch mir“) bzw. das zitternde Seufzen des vom Gericht Gottes heimgesuchten Menschen dar (vgl. T. 45–48: „ich seufze stets in meiner Not“). Eindrücklich ist außerdem der seltene Fall eines „positiv konnotierten“ Passus duriusculus an der theologisch zentralen Stelle „barmherzger Gott, Barmherzigkeit“ (T. 40–42).101 Er findet sich in beiden Singstimmen und illustriert Gottes gnädiges Herabneigen,

98 Vgl. Simpfendörfer, 263 f. 99 Vgl. Dürr, 541 bzw. Petzoldt I, 234. 100 Petzoldt I, 234, folgert aus dieser doppelt paarigen Imitation, dass Bach hier einen Wechsel des Adressaten (Gedenk: Mensch; nimm, Vater: Gott) musikalisch unterstreichen wollte, was mir – trotz des Hinweises auf Olearius’ Auslegung zu 2 Tim 2,8 – nicht ganz einleuchten mag. 101 Vgl. dagegen BWV 55,1, T. 57 f: „mit Furcht und Zittern zum Gerichte“.

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das musikalisch die Erhörung des Gebetes schon Wirklichkeit werden lässt, obwohl sie noch gar nicht explizit ausgesprochen ist. Damit ist der hermeneutische „Überschuss“ der Musik gegenüber dem Wort einmal mehr erwiesen. Gleichsam „rudimentär“ kommt diese Chromatik im gleichen Sinne auch im letzten Takt der Vokalstimmen (T. 54) nochmals vor. Im Alt wird auf diese Weise das einzige Mal innerhalb des ganzen Stückes eine echte Veränderung des Themas im Sinne einer kolorierten Ausschmückung erzeugt. Durch die Chromatisierung (=„Verfarb­ lichung“) des Adjektivs „bitter“ (fis-f) bekommt das Choralthema an dieser Stelle (gleichsam als „Zwitter“ zwischen Dur und Moll) eine „bittersüße“ Färbung und manifestiert dadurch theologisch die eigenartige Ambivalenz des Kreuzestodes im Schnittpunkt von göttlichem Gerichts- und Erlösungshandeln. Der vierstimmige Kantionalsatz zum Abschluss, lässt die Kantate hoffnungsvoll, aber nicht mit gewisser Zuversicht schließen und führt „aus der Entrücktheit des schwebenden 12/8-Taktes zurück in die Wirklichkeit“102. An der Textstelle „des Teufels List und Mord“ verzichtet Bach auf eine drastische Illustration, vielleicht wird man aber die Basslinie mit vier Ganztonschritten als ein Zitat des Chorals „Es ist genung“ (J. R. Ahle, vgl. BWV 60,5) verstehen dürfen. Die lange Haltenote im Tenor (T. 11 f.) auf „ewig“ ist ein geläufiges musikalisches Mittel. Es bleibt am Ende so etwas wie „verhaltene Zuversicht“, ohne dass sich eine echte Gelassenheit einstellen könnte, da der explizite Zuspruch des Evangeliums ausbleibt. c) Liturgische und dramaturgische Erwägungen Unsere Analyse hat gezeigt, dass Kantate 101 nach Satz 2 eine organische Zäsur enthält und Satz 3–5 einen engen poetischen und musikalischen Zusammenhang darstellen, während Satz 6 musikalisch und theologisch eher eigenständig ist. Dies sollte man auch für die liturgische Gestaltung bzw. die musikalische Aufführung berücksichtigen. Dann ergibt sich folgende Möglichkeit einer liturgischen „Inszenierung“, die ein Sündenbekenntnis der Gemeinde mit Gnadenzuspruch, also eine Art „Offene Schuld“ nach der Predigt vorsieht: Evangelium Lk 19,41–48 – [Credo] – Kantate Satz 1 und 2 – Predigt I – Satz 3–5  – Predigt II  – Sünden­bekenntnis der Gemeinde  – Satz 6 (als Vergebungsbitte) – Gnadenzuspruch – Satz 7 (evtl. mit Gemeinde) [Credo].

3.3 Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben (BWV 102) Bachs Kantate 102 wurde zum 25. August 1726 komponiert und geht textlich wohl auf einen schon 1704 gedruckten Kantatenjahrgang zurück, den Bach von seinem Meininger Vetter Johann Ludwig Bach übernommen hat. Die beiden Strophen des Schlusschorals stammen aus Johann Heermanns Lied So wahr ich lebe, spricht dein Gott (1630) auf die Melodie von Vater unser im Himmelreich (Luther),

102 Schulze, 370.

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eine Dichtung, die sich an Ez 33,11 anlehnt und im Dresdner Gesangbuch mit der Überschrift „Treue Vermahnung aus dem heil. Augustino, daß man die Buße nicht aufschieben soll“103 versehen ist. Damit ist auch schon der spezifische Inhalt dieses hochkarätigen Vokalwerkes benannt. Buße soll angesichts des nahen Todes auf keinen Fall aufgeschoben werden, ein klassisches Thema des Gesetzes nach seinem usus theologicus. Par te p r ima 1. Cho r Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben! Du schlägest sie, aber sie fühlen’s nicht; Du plagest sie, aber sie bessern sich nicht. Sie haben ein härter Angesicht denn ein Fels und wollen sich nicht bekehren. 2. Rezit ativ (B a ss) Wo ist das Ebenbild, das Gott uns eingepräget, wenn der verkehrte Will sich ihm zuwider leget? Wo ist die Kraft von seinem Wort, wenn alle Besserung weicht aus dem Herzen fort? Der Höchste suchet uns durch Sanftmut zwar zu zähmen, ob der verirrte Geist sich wollte nicht bequemen; doch fährt er fort in dem verstockten Sinn, so gibt er ihn ins Herzens Dünkel hin. 3. Ar ia (Al t) Weh der Seele, die den Schaden nicht mehr kennt.     Und, die Straf auf sich zu laden,     störrig rennt!     Ja von ihres Gottes Gnaden     selbst sich trennt! 4. Ar ioso (B a ss) Verachtest du den Reichtum seiner Gnade, Geduld und Langmütigkeit? Weißest du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? Du aber nach deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufest dir selbst den Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes.



Par te s ec onda 5. Ar ie (Teno r) Erschrecke doch, du allzu sichre Seele! Denk, was dich würdig zähle der Sünden Joch. Die Gotteslangmut geht auf einem Fuß von Blei, damit der Zorn hernach dir desto schwerer sei. 6. Rezit ativ (Al t) Bei Warten ist Gefahr; willst du die Zeit verlieren? Der Gott, der ehmal gnädig war, kann leichtlich dich vor seinen Richtstuhl führen. Wo bleibt sodann die Buß? Es ist ein Augenblick, der Zeit und Ewigkeit, der Leib und Seele scheidet. Verblendter Sinn! Ach kehre doch zurück, dass dich dieselbe Stund nicht finde unbereitet. 7. Cho ral Heut lebst du, heut bekehre dich, eh morgen kömmt, kanns ändern sich. Wer heut ist frisch, gesund und rot, ist morgen krank, ja wohl noch tot. So du nun stirbest ohne Buß, dein Leib und Seel dort brennen muss. Hilf, o Herr Jesu, hilf du mir, dass ich noch heute komm zu dir und Buße tu den Augenblick, eh mich der schnelle Tod hinrück, auf dass ich heut und jederzeit zu meiner Heimfahrt sei bereit.

103 Vgl. Petzoldt I, 238.

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a) Theolgisch-dramaturgische Beobachtungen Anders als in der Schwesterkantate BWV 101 zum 10.  Sonntag n. Trinitatis herrscht in BWV 102 mit Ausnahme des Eingangschors der Sprechakt der Verkündigung vor. Die Spruchkantate mit alttestamentlichem Dictum (Jer 5,3) an der Spitze, enthält in Satz 4 ein weiteres Bibelwort aus Röm 2,4, das man als theo­ logische Mitte und kerygmatische Matrix der Komposition begreifen kann: Gottes Güte und Gnade, Geduld und Langmut (vgl. Satz 3 und 5) werden seinem heiligen Gerichtszorn gegenüber gestellt (vgl. Satz 5; 6 und 7). Als menschliches Korrelat dazu wird negativ das verstockte Herz (vgl. auch Satz 1, 2 und 6) und positiv die Möglichkeit der Buße (vgl. Satz 1, 6 und 7) benannt. Das verstockte Herz nimmt Gottes Güte nicht wahr, ist also gleichsam negativ auf Gottes Schöpfungsund Erlösungshandeln bezogen. Die Aufforderung zur Buße zeigt, dass offenbar noch nicht alles zu spät ist und angesichts der Langmut Gottes nach wie vor eine Wende zum Guten folgen kann. Man fragt sich sofort: Ist diese zentrale Aussage eher als Drohwort des Gesetzes oder als Lockwort des Evangeliums zu ver­ stehen?104 Interessant ist in jedem Fall die dramaturgische Bewegung des gesamten Textes von der Wahrnehmung des Gerichtes und dem eigenen Schuldeingeständnis bis hin zur konkreten, aufrüttelnden Anrede an den Einzelnen. Während im Eingangschor (vgl. Jer 5,3) Gottes Gericht an seinem Volk von einem (Propheten) oder mehreren Personen (christliche Gemeinde) beobachtet und zunächst recht emotionslos ins Gebet genommen wird, steigert sich die Empathie in Satz 2, wenn davon die Rede ist, dass „wir“ – also auch wir Christen – unverbesserlich, verirrt und verstockt sind, so dass von der Gottebenbildlichkeit (Satz 2) nur noch wenig zu spüren ist. Satz 3 nimmt mit seinem Weheruf eine prophetische Gattung auf (vgl. Jes 3,9.11), die sich auch in der Jesusverkündigung findet. Zwar ist hier noch recht allgemein in der 3. Person von einer Seele die Rede, doch damit schon die Weiche in Richtung einer individuellen (Gerichts)verkündigung gestellt, die dann mit dem Arioso des Basses (vox Dei) in Satz 4, dem Beginn der eigentlichen „Bußpredigt“, auch tatsächlich einsetzt. Die Sätze 5–7a schließen sich im konkreten Du an und legen in Sachen Buße dann noch einmal kräftig nach, indem sie das Erschrecken vor dem Richtstuhl bzw. vor dem nahen Tod vor Augen malen. Durch das Stichwort Seele sind Satz 3 und 5 gleichsam symmetrisch um den zentralen Satz 4 miteinander verknüpft. Auffälligerweise verzichtet der Dichter (im Ggs. zu BWV 20 u. a.) auf die Schilderung von Höllenqualen usw. Es geht ihm vielmehr um eine Vorbereitung zum Sterben, d. h. um die Ermahnung, in der Sterbestunde mit Gott und der Welt im Reinen zu sein. Die letzte Choralstrophe (Satz 7b) ist dann wieder ein Gebet, das sich erstmals an Jesus wendet und demütig fleht: „Hilf, o Herr Jesu, hilf du mir, dass ich noch heute komm zu dir!“ Keine hehren Versprechungen der Besserung beschließen damit das Werk, sondern die einfältige Bitte, Jesus selbst möge zu einer echten und aufrichtigen Buße verhelfen. Insgesamt beschreibt die Kantate also einen geistlichen Prozess, der bei der Wahrnehmung

104 Nach EGB 196 (vgl. 404) ist dieser Text Epistel zum Buß- und Bettag.

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geschichtlich realer Not (ausgehend vom Beispiel Jerusalems) einsetzt, die als Gericht Gottes gedeutet wird. Daraufhin bezieht der Dichter sich bzw. die christ­ liche Gemeinde mit in die Schuldgeschichte Israels und der Menschheit ein und kommt zur auf­rüttelnden Ermahnung der verstockten bzw. allzu „sicheren“ Mitmenschen in Form einer „Bußpredigt“.105 b) Musikalische Analyse Ohne Zweifel gehört der umfängliche Eingangschor „zu den großen Leistungen des reifen Bach“106. Er gliedert sich in die folgenden z. T. sehr unterschiedlichen Formteile: X Einleitende Sinfonie (T. 1–25) A Homophone Durchführung mit Sinfoniethematik (T. 26–33: „Herr, deine Augen, sehen nach dem Glauben“) B Polyphone Durchführung mit Sinfoniethematik und „Gerichtsmotivik“ („Herr, deine Au­gen, sehen nach dem Glauben; du schlägest sie, aber sie fühlen’s nicht, du plagest sie, aber sie bessern sich nicht“: T. 34–45) C Polyphone Durchführung, mit erster Fuge („Du schlägest sie“… T. 45–63) A’ Homophone und imitatorische Durchführung mit Sinfoniethematik (T. 63–71) D Polyphone Durchführung mit zweiter Fuge („Sie haben ein härter Angesicht“, T. 72–99) B’ Polyphone Durchführung mit Sinfoniethematik und Gerichtsmotivik (T. 100–118)107

Insgesamt sind die Übergänge oft ineinander verschränkt, dem Hörer erschließt sich zunächst eher eine Dreiteilung: Sinfonia (T. 1–25)  – Chor + Orchester (T. 26–71); Chor + hinzutretendes Orchester (T. 71 ff), bei der jeweils ca. 45 bzw. 47 Takte als zusammengehörig wahrgenommen werden.108 Dazu trägt die große Kadenz in T. 69 und der Neueinsatz des Textes von Jer 5,3c in T. 71 wesentlich bei. Durch das ganze Stück können wir eine Fülle von Text-Ton-Beziehungen wahrnehmen, denen nun nachzugehen ist:



105 Vgl. Mildenberger, 178: „Der Hauptgedanke dieser gesungenen Bußpredigt ist es, die Frist zu nutzen, die Gott uns zur Umkehr setzt, und dabei auch die Strafen Gottes als Ruf zur Besserung zu verstehen.“ 106 Dürr, 544, vgl. Schulze, 372: „Den eindrucksvollsten Bestandteil von Bachs Komposition bildet zweifellos der gliederreiche Eingangssatz, der zwei Fugenteile mit drei nichtfugischen Chor­ abschnitten sich abwechseln läßt, wobei das in der Instrumentaleinleitung vorgestellte Themen­ material in vielfältiger und subtiler Weise als einhitsstiftendes Element eingesetzt wird.“ Bach hat ihn später noch einmal für das Kyrie seiner Messe in g-moll (BWV 235), vgl. Küster, 492–494 bzw. Petzoldt I, 240 verwendet. Dass Bach die ehemals mit der Gerichtsthematik verknüpfte Musik für ein Kyrie (und nicht etwa für das Gloria) verwendet, spricht für sein theologisches Gespür im Umgang mit geprägten Texten. 107 Betrachtet man losgelöst von der musikalischen Faktur nur die Anordnung des Textes, kommt man zu einer rondoartigen Struktur, die (vgl. Simpfendörfer, 141 f) das Schema ababacababa aufweist, das man unschwer als exakt symmetrisch erkennen kann. Der Verf. deutet dies wie folgt: „In der Mitte steht die Aussage von dem harten Angesicht der Menschen, aber die zentrale Aussage ist das, was zu Beginn, am Ende und zwischendurch immer wieder gesagt wird: Gottes eigentliches Werk ist nicht Strafe und Plage. Er will vielmehr, dass sich die Menschen ihm im Glauben anvertrauen. Er ist die einzig angemessene Haltung des Menschen vor Gott.“ 108 Vgl. ähnlich die Analyse von Darmstadt, 46.

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Das schwingende erste Thema „Herr, deine Augen“ (vgl. Einleitungssinfonie) klingt zunächst leidenschaftslos motorisch. Im zunehmenden Fortgang des ­Stückes freilich bekommen die Achtelrepetitionen (vgl. T. 1 f: Oboen) etwas Insistierendes, ja Unerbittliches. Sie musikalisieren Gottes „kritische“ Gegenwart den Glaubenden gegenüber (vgl. T. 26: Tenor/Bass; T. 27 und 35 f: Sopran/Alt). Das Staccato der Holzbläser und Streicher unterstreicht dies nachdrücklich (vgl. z. B. colla parte T. 27 und 35; vgl. im Continuo: T. 23 f; 32 f u. ö.). An diese Artikulation knüpft Bach dann mit dem ersten Gerichtsmotiv „Du schlägest sie“ an, das mit seiner Abruptio in der Mitte unmittelbar spricht. Aber auch die harmonische Einführung dieses Motivs in T. 37 f geschieht in beinahe spektakulärer Weise: Bach verrückt hier die Harmonik in einem kühnen „mediantischen“ Trugschluss von ADur nach f-moll (mit kleiner Septim), was unschwer zu interpretieren ist. Wo Gott schlägt, verschiebt sich das Gleichgewicht der Welt. In der ersten Fuge (C) gesellt Bach diesem Motiv auch noch obligate Staccato-Achtel in den Oboen (vgl. T. 46–56) zu, die in einer gewissen Unerbittlichkeit das Schlagen Gottes (immer nachschlagend auf Zählzeit 2 und 4) illustrieren. Auch das zweite Gerichtsmotiv („Du plagest sie“) ist aus der Einleitungsthematik entwickelt: Die drei Vierteltonrepetitionen im Sopran („du plagest sie“, T. 39) stammen (ver­ größert) aus den Achtelrepetitionen des vorangegangenen Abschnitts. Die eigentliche Textausdeutung findet im Alt statt (vgl. T. 39 bzw. T. 103): Hier verbindet sich eine nachdrückliche Syncopatio mit lamentierenden kleinen Sekunden (vgl. T. 52–54) und einem verminderten Septakkord, womit zum einen die Unentrinnbarkeit göttlicher Plagen als auch ihr schmerzhaftes Erleiden zum Ausdruck kommt. Das dritte Gerichtsthema („Sie haben ein härter Angesicht …“) präsentiert Bach in der zweiten Fuge, die im Gegensatz zur ersten eine echte Chorfuge (mit Instrumenten colla parte) ist. Auch hier ist wieder die aus dem ersten Thema entnommene Repetition (Viertel + zwei Achtel: „ha-ben ein“) zu finden. Charakteristisch ist freilich der harte Tritonussprung (Saltus duriusculus) auf das Adjektiv „härter“, womit Bach eine geläufige und doch geniale Textausdeutung angesichts des vorhandenen Repertoires melodischer Figuren zur Aufführung bringt.109

Zusammenfassend können wir sagen, dass Bach in diesem Satz Gottes Gerichtshandeln durch melodische (z. B. Saltus durisuculus im zweiten Fugenthema), rhythmische (Syncopationes), harmonische (vgl. T. 37–39), artikulatorische Mittel (Staccati) sowie durch Pausen (vgl. Abruptio bei „du schlä – gest“) abbildet, d. h. fast alle musikalischen „Parameter“ zum Einsatz bringt. Das folgende Secco des Basses kommt im prophetischen Gestus daher und stellt in vier Anläufen das Handeln Gottes und die menschliche Reaktion einander antithetisch gegenüber. Musikalisch gliedert es sich –der poetischen Vorlage aus Fragen und Antworten folgend – in zwei Teile: T. 1–6 (ohne echte Kadenz) und T. 7–13. Anthropologisch werden vier Teilaspekte in hamartiologischer Zuspitzung benannt: verkehrter Wille, verirrter Geist, verstockter Sinn und Dünkel des Herzens. An allen vier Stellen schreibt Bach einen verminderten Septakkord (T. 3; 9; 11; 12), die stärkste harmonische Dissonanz seiner Zeit. Dem sündigen Menschen stehen jeweils Gottes Schöpfungshandeln (Gen 1,27), sein kräftiges Wort und seine geduldige Sanftmut gegenüber, die sich freilich am Ende in Ungnade

109 Schulze, 373, meint Bach stoße mit diesem Thema „an Grenzen des in der Zeit musikalisch Möglichen“.

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und Verwerfung wendet, was die überraschende Schlusswendung nach b-moll (!) eindrücklich manifestiert.110 Die folgende Altarie ist mit ihren kammermusikalisch-intimen Klängen und einem eindringlichen Espressivo vielleicht noch eher geeignet, Verstockte auf­ zurütteln. Anstelle eines donnernden Weckrufs oder eines vernichtenden Drohwortes, erklingt im Triosatz (mit Oboe, Continuo) ein subtiles Wehe, das besonders durch harmonische und melodische Mittel Aufmerksamkeit weckt. Dürr sieht darin „ein höchst anschauliches Abbild der Seele, die ‚von ihres Gottes Gnaden selbst sich trennte‘“111, während Petzoldt hier eine leise „mahnende Stimme des Glaubens“ im Sinne einer „existentiellen Apokalyptik“112 entdeckt. Schon der Einsatz der Oboe in T. 1 (vgl. ähnlich T. 21 f) und der analoge Einsatz der Altstimme in T. 10 (vgl. T. 40) – jeweils mit einem dissonanten des’’ (verminderte Septim über dem Bass) – sind höchst ungewöhnlich und klagen über die Gottesferne der menschlichen Seele, die sich von ihrem Schöpfer abgewandt hat. Die Begleitung im Continuo mit seufzenden Zweierbindungen unterstreicht den Affekt der Trauer, ebenso die unzähligen Synkopen, zahlreichen Querstände (vgl. T. 11: es und e u. ö.) und unreinen Sprünge (z. B. as-e, vgl. T. 4), die im Sinne der klagenden Affekterzeugung (Pathopoeia) eingesetzt werden.113 Bach unterstreicht durch eine melismatische Behandlung der sinntragenden Wörter „Wehe“ und „Seele“ bzw. „Schaden und laden“ nicht nur die Reimpaare in ihrem theologischen Zusammenhang, sondern hebt dadurch klanglich auch die Vokale hervor, die am ehesten einer klangmalerischen Illustration menschlichen Weinens nahe kommen dürften (a, ä, e). Der solistische Gesang schließt (T. 46–50) mit einer abermaligen Reminiszenz an den Beginn (des’’) und inszeniert einen „Abstieg der Seele“ über den Tonraum einer kleinen None (des-b-as-ges-f-des-c) im Sinne einer Kata­basis ad infernum. Der zentrale Satz 4 ist in seiner grundsätzlichen Bedeutung am schwierigsten zu erfassen. Außergewöhnlich ist, dass er nicht den zweiten Teil der Kantate eröffnet (vgl. BWV 17 u. a.), sondern den ersten Teil  abschließt, obwohl sich die Sprechakte der Gesetzespredigt in den folgenden Sätzen unmittelbar an ihn anschließen114 und er zur vorangegangenen langsamen Klagearie mit seinem motorischen 3/8-Takt in großem Gegensatz steht. Ferner ist Bachs Überschrift Arioso

110 Petzoldt I, 240 f verweist hier auf Olearius’ Auslegung zu Röm 1,24 (Olearius V, 1033) und möchte diese durchaus auf die „hörende Gemeinde“ bezogen wissen. Dort heißt es: „Er [Gott] hat die Hand abgezogen (Ps 27) und sich von ihnen gewandt mit aller Gnade und Barmherzigkeit. Er hat sie dem höllischen Henker übergeben, der sie zu Mord und Lügen verführt (Apk 12; Joh 8) und ins höllische Feuer gestürzt hat. Sie sind ohne alle Entschuldigung hier V.20 [Rö 1,20]. Gott aber ist und bleibt gerecht. (Ps 119).“ 111 Vgl. Dürr, 545. 112 Vgl. Petzoldt I, 241 f. Eine solche Apokalyptik unterscheidet sich sowohl von plakativen Höllendarstellungen der kirchlichen Tradition, die seit dem Mittelalter Ikonographie (vgl. die roma­ nischen Portale in Burgund; den Camposanto in Pisa etc.) und Musik (z. B. die Sequenz Dies irae im Requiem) dominieren, als auch von Hollywoodszenarien im Stile von „Countdown to Harmaggedon“, „Apocalypse now“ o.ä. 113 Vgl. oben 1.7.2 u. ö. 114 So jedenfalls Küster, 321.

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einigermaßen befremdlich, handelt es sich im Grunde doch um eine ausgewachsene Arie (mit verkürztem Da capo), die ganze 147 Takte umfasst.115 Von der Anlage ist der Satz dreiteilig: Teil A („Verachtest du …“) umfasst 77 Takte, Teil B (T. 78–120) und A’ (T. 120–147) zusammen nochmals 70 Takte. Text-Ton-Beziehungen gibt es besonders an folgenden Stellen: a) T. 1–5 bzw. T. 23–27: „Verachtest du den Reichtum seiner Gnade …“: Bach setzt dem Thema des Basses, das im Vorspiel bereits von Vl. 2 vorgestellt wurde, in Vl. 1 ein zunächst rhythmisiertes und dann liegendes es’’ (T. 24–27) als Kontrapunkt entgegen, der mit Sicherheit auf die Langmut und Geduld Gottes hinweist.116 b) T. 72–76: „locket“: Durch kurz artikulierte, in Quintsprüngen über fünf Stufen abfallenden Achtelnoten, die jeweils durch eine Achtelpause unterbrochen sind, musika­lisiert Bach den Lockruf Gottes zur Buße.117 Neben der fünffachen (Vl. 1) bzw. dreifachen (Continuo: T. 72–74) Sequenz (Climax) finden wir hier die musikalische Figur der Katabasis (g-f-es-d-c), verbunden mit der fallenden Quint (g-c; f-h etc.). So wird musikalisch in doppelter Weise das geduldige und langmütige Herabneigen Gottes charakterisiert. c) T. 78–84: „Du aber mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen“: das viermalige Hintereinander von drei gleichen Tönen (des-c-b), eine beinahe penetrant zu nennende Reduplikation einer Epizeuxis“118 veranschaulicht unmissverständlich das verstockte Herz des Menschen und findet unmittelbar darauf ihre Antwort beim Text „häufest dir selbst den Zorn auf den Tag des Zorns“: Auch hier ist eine über zwei Takte reichende sofortige Wiederholung (einfache Epizeuxis) zu finden, die Gottes Reaktion auf die menschliche Verstockung symbolisiert: Dem Menschen wird seine Hartherzigkeit dereinst vergolten werden.

Kommen wir abschließend zur Interpretation: Gewiss ist der B-Teil mit der „viermaligen Motivwiederholung“, die das verstockte Herz abbildet, eine treffende Darstellung des sündigen Menschen. Doch wie ist der A-Teil zu verstehen? Dürr vermutet, dass hier „die Verachtung der Gnade Gottes gleichnishaft durch Verachtung sprachgerechter Deklamation“119 ausgedrückt sein könnte, während Petzoldt mit Olearius und Luther Gottes fortwährende Güte120 und sein Locken zum Glauben121 stark macht. Das Argument Dürrs kann – wenn man in Erwägung zieht, dass Bach in einem schnellen Dreiertakt an vielen Stellen Betonungs­ verschiebungen (Hemiolen) platziert – nicht wirklich überzeugen, während für

115 Vielleicht stammt die Überschrift Arioso auch aus der Vorlage und ist im Autograph übernommen worden. 116 Vgl. Petzoldt I, 244. 117 Vgl. a. a. O. Man könnte diese kurzen Einwürfe leicht textieren: „Hör doch!“, „Sieh doch!“ oder: „Lass ab!“; „Kehr um!“, womit der Lockruf Gottes eine intentionale Richtung im Sinne einer Einladung zur Buße bekäme. 118 Vgl. z. B. BWV 140,2 (T. 1 f) oder BWV 1,1 (T. 1 f). 119 Dürr, 545 mit Hinweis auf T. 23–28 in der Singstimme. 120 Vgl. Olearius V, 1038 (zu Röm 2,4 f): „Güte, die alle Morgen neu (Thr 3,23). […]. Davon jetzt gemeldet und seine liebreiche Verheißung (Ps 81,14; Mt 11; Ez 33). Er ist ja die Liebe (1 Joh 4,8), denn Er ist gütig […] gegen Böse und Fromme, damit er sie beiderseits zur Buße bringe und zu sich locke, wenn sie sündigen.“ 121 Vgl. Luther, Kleiner Katechismus, zur Anrede Vater unser: „GOtt will uns damit locken, dass wir gläuben sollen. Er sey unser rechter Vater, und wir seine rechten Kinder, auf dass wir getrost und mit aller Zuversicht Ihn bitten sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“ (BSLK 512)

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Petzoldts Sicht sowohl die musikalische Faktur als auch die theologischen Quellen sprechen. Allerdings bleibt ein Aspekt in der bisherigen Auslegungsgeschichte der Kantate unberücksichtigt: Ist nicht gerade der beschwingte 3/8-Takt ein probates Mittel, um die Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit des sündigen Menschen gegenüber Gottes Güte zum Ausdruck zu bringen? Man kann sich zu dieser Musik geradezu bildhaft einen leichtfertigen Menschen vorstellen, der achtlos gegenüber Gottes Handeln in Natur und Geschichte dahinlebt, und doch von Gottes Gnade und Langmut „überschattet“ wird. Der zweite Teil der Kantate, der gewöhnlich sub communione musiziert wurde, knüpft unmittelbar an das Arioso an, indem er Gottes Gericht dezidiert zum Thema macht. Der Tenor, die klassische Stimme des Verkündigers, tritt in Satz 5, einer dreiteiligen Trioarie (ABC) mit Flöte bzw. Violino piccolo und Continuo, als Gerichtsprediger auf. Im A-Teil finden wir beim Imperativ „Erschrecke doch“ zahlreiche Abruptiones in der Melodie (vgl. BWV 20,1 bzw. 102,1), womit der Affektraum der Furcht ganz unmittelbar erzeugt wird. Die „falsche“ Sicherheit des homo incuravtus in seipsum wird durch kühne Sprünge auf dem Adjektiv „sicher“ abgebildet. Im B-Teil, der semantisch nicht ganz klar ist, illustrieren lange Haltetöne das Sündenjoch (T. 45–47) bzw. laden zum ausgiebigen „Nachdenken“ ein („denk“: T. 51 f). Petzoldt vermutet hier eine „ironische Formulierung“122, die Bach allerdings nicht durch musikalische Mittel unterstreicht. Der C-Teil malt zunächst Gottes Langmut mit langen Haltetönen in einer dreifach absteigenden Gradatio aus, ehe beim Text „damit der Zorn hernach dir desto schwerer sei“ wieder in syllabischer Diktion die auf dem Fuß folgende Strafe Gottes durch pochend repetierende Achtelketten in der Singstimme (T. 68 und 70) und – besonders auf­ fällig – durch beinahe „penetrant“ sich wiederholende Sechzehntel-Figurationen in der Flöte (T. 68–72) abbildet. Das folgende (dreiteilige)  Rezitativ des Alt ist ein motivgeprägtes Accom­ pagnato, das sich durch ein unerbittlich präsentes Dreitonmotiv in den begleitenden zwei Oboen und durch äußerst wirksame Pausen in der Singstimme und im Continuo auszeichnet, die den Sinn des Textes „Bei Warten ist Gefahr“ ver­ anschaulichen. Petzoldt kommentiert dies so: „Da es inhaltlich um Zeit und Zeitverhältnisse geht, in denen es zur Buße kommen, in denen Buße aber auch verpaßt werden kann, signalisieren die in gleichmäßigem halbtaktigem Zeitmaß unaufhaltsam wiederkehrenden Obeonfiguren das unerbittliche Fortschreiten der Zeit […], das als schicksalhaft erscheint. Der Hintergrund im Sonntagsevangelium wird durch die Äußerung Jesu gegeben, der Jerusalem ein Bedenken ‚zu dieser deiner Zeit‘ wünscht (Lk 19,42). […] So neutral Zeit im Blick auf ihre Inhalte zu sein scheint, so unerbittlich erweist sich aber ihr Merkmal des unaufhaltsamen Vergehens. Ein erster Abschnitt (T. 1–6) nennt die Gefahr des Wartens; die Continuostimme am Anfang ‚wartet‘ deshalb nach dem ersten Ton mehrere Takte lang, bevor sie beim Hinweis auf die Gottesgnade weiterspielt.“123

122 Vgl. Petzoldt I, 245 f, auch für den folgenden Teil C der Arie. 123 Petzoldt I, 246.

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Im folgenden Abschnitt (T. 7–10) mit dem Text „Es ist ein Augenblick, der Zeit und Ewigkeit, der Leib und Seele scheidet“ verkürzt Bach die Deklamations­pausen in der Singstimme (zuvor Achtel) auf ein Sechzehntel und macht damit plausibel, dass Existenzerfüllung immer eine Sache eines Augenblicks ist, in dem die Ewigkeit Gottes gegenwärtig sein muss, damit der Mensch nicht an seinem Ziel vorbei lebt. Interessant ist im Blick auf den dritten Abschnitt (T. 10–14) einmal mehr der Hinweis Petzoldts auf die Olearius-Bibel: Die Wendung „verblendter Sinn“ dürfte aus 2 Kor 4,4 abgeleitet sein, wo im Anschluss an die Verblendung der Völker auch wieder vom Licht des Evangeliums (2 Kor 4,6) die Rede ist.124 Dies kann erklären, warum im folgenden Schlusschoral zwei Strophen vertont sind, die erste ganz im Jargon der Gerichtspredigt, die zweite als flehendes Gebet an Jesus Christus um Beistand in der Todesstunde, die das Stichwort des „Augenblicks“ (vgl. Satz  6, T. 8) positiv aufnimmt. So steht am Ende die geistliche Hoffnung auf Erhörung durch den Heiland und Beistand, ohne dem Menschen die „Entscheidung“ ganz abzunehmen bzw. diese vage auf den Jüngsten Tag zu verschieben. Heute  – so lautet die unmissverständliche Botschaft  – soll die Buße vollzogen werden, aber nicht durch eine schnelle menschliche Willenserklärung, sondern auf der Basis einer behutsamen Bitte und in der Hoffnung auf den Beistand Jesu. Bach verzichtet im Schlusschoral  – zumal angesichts der gegensätzlichen Aus­sagen der beiden Strophen – gänzlich auf Wort-Ton-Bezüge. Die Melodie des Vaterunserliedes erweist sich im Übrigen als musikalische Klammer zur Schwesterkantate Nimm von uns, Herr (BWV 101). Insgesamt fällt auf, dass Bach – neben vielen anderen Kleinoden der Ausgestaltung  – besonders das musikalische Mittel motivischer Wiederholung in Satz 1 (vgl. T. 18 f bzw. T. 23 f u. ö.), Satz 4 (vgl. T. 79–82), Satz 5 (vgl. T. 68–72) und Satz 6 (vgl. T. 1 f) bzw. das Mittel der (Achtel)-Repetition in Satz 1, 4, 5 und 6 (vgl. jeweils T. 1 ff) nachdrücklich einsetzt, um damit die Unerbittlichkeit des richtenden Gottes auf der einen und die Verstocktheit des Menschen auf der anderen Seite zur Darstellung zu bringen. c) Liturgische Erwägungen Wie man mit der massiven Gerichtsbotschaft der Kantate und mit dem Pro­prium des Israelssonntags bzw. des 10. Sonntags n. Trin. umgehen kann, wird man sorgfältig überlegen müssen.125 Grundsätzlich scheint es denkbar, dass die Kantate entgegen der Bestimmung Bachs an einem Stück (vor der Predigt) aufgeführt wird. Keinesfalls sollte Teil II jedenfalls sub communione musiziert werden, da die Gesetzesverkündigung die Zusage der Mahlfeier überdecken könnte. M. E. wäre es,

124 Vgl. Olearius V, 1280 f zu 2 Kor 4,4–6: „Verblendet. (Joh 9,1) […]. Der Sünder verblendet sich selbst (Lk 18,34). So zieht Gott endlich die Hand ab (Ps 27) und der Satan mach[t] Übel ärger bei dem Verstockten. (vgl. Ex 7–9; Röm 9) […] Licht. [vgl. 2 Kor 4,6]. In der Klarheit seines Kreuzes (1 Kor 1,30) […] Vgl. 1 Kor 15,3, denn der gekreuzigte Christus erleuchtet uns zum ewigen Leben (Joh 1,4. und 8,12 […].“ 125 Darmstadt, 46 meint die Kantate entspränge einer „unmittelbaren Konfrontation mit dem Heiligen“ und sei gerade darin ein Zeugnis für den „Ursprung der Theo-logie.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

wie im Blick auf BWV 101 geäußert,126 organisch, wenn Kantate und Predigt zu einem Sündenbekenntnis der Gemeinde mit Gnadenspruch hinführten. Zwei Lösungen kommen m. E. in Betracht: a) Evangelium Lk 19,41–48 – Credo – Kantate, Teil I und II – Predigt – [Credo] b) Evangelium Lk 19,41–48 – Kantate I – Predigt I – Kantate II – (Predigt II) – Beichte mit offener Schuld und (entfalteter) Zuspruch der Vergebung



126 Vgl. oben 3.2, Abschnitt c).

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4. „Tritt freudig vor Gericht“– Der offenbare Gott spricht frei und rettet 4.0 Zur anthropologischen und theologischen Rede von Buße und Gnade Im vorangegangenen Kapitel wurde versucht, die Rede vom Gericht in Bachs Vokal­werk an einigen Beispielen darzustellen. Sie nimmt  – ganz im Gegensatz zum aktuellen homiletischen und theologischen „Mainstream“ – einen beträcht­ lichen Raum in Bachs Kantaten ein. Allerdings begegnet sie uns selten isoliert, sondern steht meist in engem Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums. Dies empfiehlt sich auch für eine evangelische Gestaltung des Gottesdienstes und der Predigt. Dazu schreibt der Dogmatiker Hans-Martin Barth: „Unter der Predigt des Gesetzes sieht sich der Mensch auf den Weg zum Leben gewiesen, den er von sich aus weder finden noch gehen kann; unter der Predigt des Evangeliums sieht er sich auf den Weg zum Leben gebracht und insofern bereits in das Leben hineingerettet.“1 Zur sprachlichen Profilierung dieser dogmatischen Aussage, die das heilvolle Spannungsfeld von Gesetz und Evangelium als eine Bewegung zwischen Gott und Mensch beschreibt, sollen im Folgenden zunächst einige Kantatentexte betrachtet werden, ehe dann zwei Kantaten (BWV 168 und 60) exemplarisch analysiert werden.

4.0.1 Zur Verkündigung von Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten Theologisch leiten kann uns dabei das erste Rezitativ aus der Choralkantate Allein zu dir, Herr Jesu Christ (BWV 33), das nahezu alle wichtigen Motive enthält: Gottes heiliges Gericht und sein tröstendes Vergebungswort, das geängstete Gewissen und die hoffend-freudige Gewissheit auf der Seite des Menschen. Rezit ativ (B a ss) Mein Gott und Richter, willst du mich aus dem Gesetze fragen, so kann ich nicht, weil mein Gewissen widerspricht, auf tausend eines sagen. An Seelenkräften arm und an der Liebe bloß, und meine Sünd ist schwer und übergroß; doch weil sie mich von Herzen reuen,

1 H. M. Barth, 139.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

wirst du, mein Gott und Hort durch dein Vergebungswort mich wiederum erfreuen.

Immer wieder finden wir in Bachs Kantaten, ähnlich wie in zahlreichen biblischen und liturgischen Texten, eine schillernde Dualität von Gesetz und Evangelium, die als eine Bewegung in Gott selbst charakterisiert und gedeutet wird.2 Aus dem Propheten Hoses (Hos 11,8) stammt das diesbezüglich hochinteressante Zitat der einleitenden Bassarie aus BWV 89: Was soll ich aus dir machen, Ephraim? Soll ich dich schützen Israel? Soll ich nicht billig ein Adama aus dir machen und dich wie Zeboim zurichten? Aber mein Herz ist anders Sinnes, meine Barmherzigkeit ist zu brünstig.

Mit diesem Prophetenwort ist die spannungsvolle Situation in Gott, die Elert mit dem Begriff der Realdialektik3 beschrieben hat, treffend ausgedrückt. Sie gibt dem Menschen die Hoffnung, dass in Gott eine Wende möglich ist und seine Gnade auch dann noch erfleht werden kann, wenn der Mensch sie immer wieder mit Füßen trat. In der Kantate Es reißet euch ein schrecklich Ende (BWV 90) zum 25. Sonntag n. Trin. (Mt 24,15–28) wird dies in Satz 2 so beschrieben: Rezit ativ (Al t) Des Höchsten Güte wird von Tag zu Tage neu, der Undank aber sündigt stets auf Gnade. O ein verzweifelt böser Schade, so dich in dein Verderben führt. Ach! Wird dein Herze nicht gerührt, dass Gottes Güte dich zur wahren Buße leitet? Sein treues Herze lässet sich zu ungezählter Wohltat schauen: Bald lässt er Tempel auferbauen, bald wird die Aue zubereitet, auf die des Wortes Manna fällt, so dich erhält.4 Jedoch, o Bosheit dieses Lebens, die Wohltat ist an dir vergebens.

Auch wenn sich dieser Schluss resignativ und aporetisch anhört, zielt diese Art von Verkündigung, die gleichsam einen Blick in Gottes Herz schenkt, darauf, Menschenherzen zu bewegen. Oft schließt sich ihr folgerichtig ein Sündenbekenntnis an: Der durch den Hinweis auf Gottes gütige Vergebung seiner Schuld überführte Mensch benennt und bekennt seine Sünde wie David in 2 Sam 12,13: Ich habe ge

2 Vgl. Koch, Gericht, 462. 3 Vgl. Elert, Gesetz und Evangelium. 4 Petzoldt I, 673, versteht diese Kantate als eine Predigt an die christliche Gemeinde in ihrem „Innenverhältnis“, die „keineswegs allein aus glaubenden Menschen [besteht]; getauft sind sie zwar alle, doch folgen viele der Überzeugung, die Taufe erlaube ein Leben ohne tägliche Reue und Buße.“

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Der offenbare Gott spricht frei und rettet

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sündigt gegen den Herrn!5 In der bereits angeführten Kantate BWV 89 (bezogen auf Mt 18), lautet dies in Satz 4 (Sopran-Rezitativ) so: […] Allein, wie schrecket mich mein sündenvolles Leben, dass ich vor Gott in Schulden bin. […]

Entfaltete Sündenbekenntnisse gibt es auch in zahlreichen anderen Kantaten. So heißt es in BWV 105,1 f, das im Eingangschor Ps 143,2 aufnimmt: Cho r und R ezit ativ Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht. Mein Gott, verwirf mich nicht, indem ich mich in Demut vor dir beuge, vor deinem Angesicht.6 Ich weiß, wie groß dein Zorn und mein Verbrechen ist, dass du zugleich ein schneller Zeuge und ein gerechter Richter bist. Ich lege dir ein frei Bekenntnis dar und stürze mich nicht in Gefahr, die Fehler meiner Seelen zu leugnen, zu verhehlen!

Gegenüber diesen Beispielen individueller Bekenntnisse, formuliert Satz 4 aus Du Friedefürst, Herr Jesu Christ (BWV 116,4) zum 25. Sonntag n. Trin. ein kollektives Sündenbekenntnis: Terze t t (S opran, T eno r , Ba ss) Ach, wir bekennen unsre Schuld und bitten nichts als um Geduld und um dein unermesslich Lieben.     Es brach ja dein erbarmend Herz,     als der Gefallnen Schmerz     dich zu uns in die Welt getrieben.

Theologisch interessant ist hier, dass das Schuldeingeständnis und Sündenbekenntnis mit dem heilsgeschichtlichen Motiv der Menschwerdung und Sendung Christi7 verbunden wird. Mit dem bloßen Bekenntnis der Sünde (confessio oris) ist diese freilich noch nicht aus der Welt geschafft. Deshalb geht in vielen Kantaten die Bewegung vom Sündenbekenntnis zur Vergebungsbitte. So ermahnt der Dichter von Mache dich,



5 Seinen gottesdienstlichen Ort kann das Sündenbekenntnis heute an drei Stellen im Gottesdienst haben: entweder im Confiteor oder Rüstgebet der Messe (Grundform I), im Zusammenhang eines Kyrie mit Bußgebet (unierte Tradition, vgl. EGB 38 bzw. 62 (grau) oder in der sog. „Offenen Schuld“ nach der Predigt (vgl. Grundform II, EGB 134 bzw. 140 und zum Bußtag 191 bzw. 197 u. a.). 6 Vgl. Ps 51,13, vgl. dazu auch das Psalmlied Schaffe in mir, Gott, ein reines Herze (EG 230, vgl. EG 389). 7 Vgl. Luthers Choral Nun freut euch lieben Christen g’mein, EG 341.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

mein Geist, bereit (BWV 115) in der Sopranarie (Satz 4), an einen Choral von Johann Burchard Freystein (1695) anknüpfend, den „überführten“ Sünder, bei Gott8 Vergebung zu erflehen: Ar ie (S opran) Bete aber auch dabei mitten in dem Wachen!9 Bitte bei der großen Schuld deinen Richter um Geduld, soll er dich von Sünden frei und gereinigt machen!

Eine sprachlich gelungene, theologisch allerdings nicht unproblematische Ver­ gebungsbitte mit rahmender inclusio und dreifacher Anapher finden wir in Ich armer Mensch, ich Sündenknecht (BWV 55). Die Bitte um Erbarmen in Satz 3 umschließt drei konkretere Bitten, die mit ihren Aussagen, Gott müsse durch Tränen erweicht und sein Zorn um Christi willen gestillt werden: Ar ie (Teno r) Erbarme dich! Lass die Tränen dich erweichen, lass sie dir zu Herzen reichen; lass um Christi willen deinen Zorn des Eifers stillen! Erbarme dich!

Theologisch klarer, Gottes Heil bringendes Gedenken an die Erlösungstat Christi auf den Plan rufend, ist BWV 101,6 (Duett) mit Choraleinschüben aus dem Choral „Nimm von uns, Herr, du treuer Gott“. Hier ist das für die ganze Welt bezahlte Lösegeld (vgl. Mk 10,45; 1 Tim 2,6) als Grund für die individuelle Rettung aus dem Gericht angeführt und somit das soteriologische Grunddatum benannt, das Gott selbst in Christus erwirkt hat (vgl. auch 2 Kor 5,18 f). Duet t (S opran und Al t) Gedenk an Jesu bittern Tod! Nimm, Vater, deines Sohnes Schmerzen und seiner Wunden Pein zu Herzen! Die sind ja für die ganze Welt die Zahlung und das Lösegeld. Erzeig auch mir zu aller Zeit, barmherzger Gott, Barmherzigkeit Ich seufze stets in meiner Not: Gedenk an Jesu bittern Tod!

8 Mit großer Wahrscheinlichkeit ist hier nicht an Christus als Richter gedacht, vgl. den Schluss­ choral 115,6: „Drum so lasst uns immerdar / wachen, flehen, beten, / weil die Angst, Not und Gefahr / immer näher treten; / denn die Zeit / ist nicht weit, / da uns Gott wird richten / und die Welt vernichten.“ 9 Auch in BWV 101,4 geht die Bewegung des Gebetes (vgl. 3.2) vom richtenden zum gnädigen Gott.

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Der offenbare Gott spricht frei und rettet

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Bis hierher unterscheiden sich die Aussagen nicht substantiell von den in Kapitel 3 dargestellten Beispielen. Die entscheidende Wende geschieht vielmehr (wie in den Klagekantaten) durch den wirkmächtigen Zuspruch Gottes: Die Bitte um Vergebung steht gleichsam an der Wende vom Gesetz zum Evangelium. Ihr folgt – wie sonst in der Beichte – der Zuspruch der Sündenvergebung, die Absolution, in der sich die Gesetzesdrohung zur promissio des Evangeliums wendet. Die Sprache ist der performative Indikativ, oft in der 2. Pers. Sg., wie am Beispiel von BWV 105,4 abzulesen ist: Rezit ativ (B a ss) Wohl aber dem, der seinen Bürgen weiß, der alle Schuld ersetzet, so wird die Handschrift ausgetan, wenn Jesus sie mit Blute netzet. Er heftet sie ans Kreuze selber an, er wird von deinen Gütern, Leib und Leben, wenn deine Sterbestunde schlägt, dem Vater selbst die Rechnung übergeben. So mag man deinen Leib, den man zu Grabe trägt, mit Staub und Sand beschütten, dein Heiland öffnet dir die ewgen Hütten.

Hier ist nicht nur ein eschatologischer Horizont, sondern auch die tröstliche Eröffnung einer himmlischen Zukunft („ewige Hütte“) in Aussicht gestellt, womit ein hohes seelsorgliches Potential eröffnet wird. Fast noch emphatischer formuliert ist die Zusage in BWV 168,4. Hier wird ausdrücklich das Motiv des Bürgen aufgenommen, der im Endgericht als Stellvertreter fungiert: Rezit ativ (B a ss) Jedoch, erschrocknes Herz, leb und verzage nicht! Tritt freudig vor Gericht! Und überführt dich dein Gewissen, du werdest hier verstummen müssen, so schau den Bürgen an, der alle Schulden abgetan! Es ist bezahlt und völlig abgeführt, was du, o Mensch, in Rechnung schuldig blieben; des Lammes Blut, o großes Lieben! Hat deine Schuld durchstrichen und dich mit Gott verglichen.

Die sühnende Kraft der Stellvertretung ist hier (Salomon Franck) klassischerweise mit dem „Blut des Lammes“ (vgl. Joh 1,29; 1 Joh 1,7; 1 Petr 2,21–25; Apk 5,12) verknüpft. Diese soteriologische Begründung finden wir auch in Satz 2 der Kantate Ich lebe, mein Herze (BWV 145) von Picander.10 Dabei wird nochmals explizit auf das mosaische Gesetz rekurriert, das in Christus abgetan (vgl. Joh 1,17 f; Röm 8,1–4) und dessen überführende Macht entkräftet ist. Zugleich

10 Zur komplexen Überlieferungsgeschichte vgl. Dürr, 327 f.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

wird aber auch ein zweiter christologischer Begründungszusammenhang er­ öffnet: Rezit ativ (T eno r) Nun fordre, Moses, wie du willt, das dräuende Gesetz zu üben Ich habe meine Quittung hier mit Jesu Blut und Wunden unterschrieben. Dieselbe gilt; ich bin erlöst, ich bin befreit und lebe nun mit Gott in Fried und Einigkeit. Der Kläger wird an mir zuschanden, denn Gott ist auferstanden. Mein Herz, das merke dir!

Für das aktuelle theologische Gespräch im Blick auf die soteriologische Deutung des Kreuzesgeschehens scheint uns bemerkenswert, dass Picander ausdrücklich auf das Osterereignis verweist und damit zumindest nicht nur das Kreuz als Ort der Erlösung benennt. Insgesamt dominiert in allen Beispielen die Metaphorik des Freikaufs (vgl. Mk 10,45 bzw. 1 Tim 2,6), die an Person und Werk Christi gebunden ist. Aus dieser Zusage Gottes folgt auf Seiten des Menschen idealtypisch ein Bekenntnis des Vertrauens, aus dem die Gewissheit der Vergebung spricht. Ein schönes Beispiel finden wir in Satz 6 der Kantate Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen (BWV 48, bezogen auf Mt 9,1–8): Ar ie (Teno r) Vergibt mir Jesus meine Sünden, so wird mir Leib und Seel gesund.11.     Er kann die Toten lebend machen     und zeigt sich kräftig in den Schwachen12,     er hält den längst geschlossnen Bund,     dass wir im Glauben Hilfe finden.

Die ganzheitlich (an Leib und Seele) erfahrene Gnade Gottes beflügelt und lässt Christen eine österliche Hoffnung artikulieren, die gleichsam kosmische Dimensionen erreichen kann, wie der Schlusschoral aus dem Lied Ach, wie flüchtig, ach wie nichtig (BWV 89,6) zeigt: Mir mangelt zwar sehr viel, doch was ich haben will, ist alles mir zugute erlangt mit deinem Blute, damit ich überwinde Tod, Teufel, Höll und Sünde.



11 Dies ist der Tenor der Erzählung aus Mt 9,1–8 par Mk 2,1–12 (Heilung des Gichtbrüchigen): Der Gelähmte erfährt zunächst Vergebung der Sünden, daraus folgt Heil für Leib und Seele. 12 Vgl. 2 Kor 12,9.

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4.0.2 Frohbotschaft statt Drohbotschaft – die „evangelische“ Gegenrede zum Gericht in Bachs Kantaten Der bisher beschrittene Weg zeigte die dialogische Struktur von göttlicher Anrede im Gesetz, die menschliche Gefühlswelt der Angst und ihre Bearbeitung im Sündenbekenntnis sowie die darauf antwortetende Vergebungszusage. Dabei wurde zugleich deutlich, dass die altkirchlichen Evangelientexte der Perikopenreihe I13 nicht nur als Frohbotschaft, sondern– ihrem Inhalt und Skopus gemäß – auch als Drohbotschaft verstanden werden konnten, die die Kantate aufnimmt und unterstreicht oder weiterführt bzw. beantwortet. Dies belegen besonders die Kantaten, die auf die Gleichnisse vom Schalksknecht (BWV 89, 115; 55), vom ungerechten Haushalter (BWV 105; 168), die Zerstörung Jerusalems (BWV 46; 101; 102) und die apokalyptische Rede Jesu (BWV 90; 116), aber auch das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (BWV 20) respondieren. Etliche Kantaten (vgl. BWV 168; 105) enthalten und entfalten bereits in der Mitte einen Umschwung vom Gesetz zum Evangelium, wie etwa BWV 89,4, die als Beispiel für die „Realdialektik“14 von Gesetz und Evangelium bereits genannt wurde: Rezit ativ (S opran) […] Doch Jesu Blut macht diese Rechnung gut, wenn ich zu ihm, als des Gesetzes Ende mich gläubig wende.

Diesen Umschwung von der anklagenden Stimme des Gesetzes zum Freispruch des Evangeliums, finden wir auch in den beiden Kantaten, die nun eingehend analysiert werden.

4.1 Tue Rechnung! Donnerwort (BWV 168) Wir kehren zum „Donnerwort“-Motiv15 zurück, das die Untersuchung einzelner Kantaten zur Gesetzesthematik einleitete, und wenden uns einer Oden­ kantate aus der Feder des Weimarer Dichters Salomon Franck zu, den Bach bekanntlich sehr geschätzt hat. Es geht um die Kantate Tue Rechnung, Donnerwort (BWV 168) zum 9.  Sonntag n. Trin., bezogen auf das Evangelium aus Lk 16,1–9 vom ungerechten Haushalter. Die Erstaufführung in Leipzig war wohl am 29.  Juli 1725, der Schlusschoral stammt aus B. Ringwaldts Lied „Herr Jesu Christ, du höchster Gut“ (Str. 8), das – wie Petzoldt nachweisen kann – für den 11.  und 22.  Sonntag (Dresden 1725 und Hannover 1698) bzw. den 13.  Sonntag n. Trin. (Eisenach) als De-tempore-Lied geführt wird. Besonderes Augenmerk muss in diesem Zusammenhang einer Predigt von Heinrich Müller gelten,

13 Vgl. angesichts abweichender Perikopentexte heute: Meyer, Kirchenjahr. 14 Vgl. Elert, Gesetz und Evangelium. 15 Vgl. J. A. Steiger, Ewigkeit, 128 (vgl. oben Anm. 363 zu BWV 20).

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die sich z. T. bis in einzelne Formulierungen mit der Dichtung Salomon Francks deckt.16 1718 4. Rezit ativ (B a ss) Jedoch erschrocknes Herz, leb und verzage nicht! Tritt freudig vor Gericht! Und überführt dich dein Gewissen, du werdest hier verstummen müssen, so schau den Bürgen an, der alle Schulden abgetan! Es ist bezahlt und völlig abgeführt, was du, o Mensch, in Rechnung schuldig blieben; des Lammes Blut, o großes Lieben!18 2. Rezit ativ (T eno r) Es ist nur ein fremdes Gut, Hat deine Schuld durchstrichen was ich in diesem Leben habe; und doch mit Gott verglichen! Geist, Leben, Mut und Blut Es ist bezahlt, du bist quittiert! und Amt und Stand ist meines Gottes Gabe, Indessen, weil du weißt, er ist mir zum Verwalten dass du Haushalter seist, und treulich damit hauszuhalten so sei bemüht und unvergessen, von hohen Händen anvertraut! den Mammon klüglich anzuwenden Ach! Aber ach! Mir graut! den Armen wohlzutun, Wenn ich in mein Gewissen gehe so wirst du, wenn sich Zeit und Leben enden, und meine Rechnungen so voll Defekte sehe! in Himmelshütten sicher ruhn. Ich habe Tag und Nacht die Güter, die mir Gott verliehen, 5. Duet t (S opran/Al t) kaltsinnig durchgebracht! Herz, zerreiß des Mammons Kette, Wie kann ich dir gerechter Gott, entfliehen? Hände! streuet Gutes aus! Ich rufe flehentlich: Machet sanft mein Sterbebette, Ihr Berge fallt! Ihr Hügel decket mich bauet mir ein festes Haus, vor Gottes Zorngerichte das im Himmel ewig bleibet, und vor dem Blitz von seinem Angesichte!17 wenn der Erden Gut zerstäubet. 1. Ar ie (Ba ss) Tue Rechnung! Donnerwort, das die Felsen selbst zerspaltet, Wort, wovon mein Blut erkaltet! Tue Rechnung! Seele, fort! Ach! Du musst Gott wiedergeben Seine Güter, Leib und Leben! Tue Rechnung! Donnerwort!16

3. Ar ie (Teno r) Kapital und Interessen, meine Schulden groß und klein müssen einst verrechnet sein! Alles, was ich schuldig blieben ist in Gottes Buch geschrieben als mit Stahl und Demantstein.

6. Cho ral Stärk mich mit deinem Freudengeist, heil mich mit deinen Wunden wasch mit deinem Todesschweiß in meiner letzten Stunden; und nimm mich einst, wenn dirs gefällt, in wahrem Glauben von der Welt zu deinen Auserwählten.

16 Vgl. dazu Müller, Hertzens-Spiegel, 996: „Wir sitzen auff Rechnung  /  und müssen augenblicklich gewärtig seyn / dass diß Donner-Wort erschalle: Thue Rechnung … Fordert Gott es nicht ehe / so fordert er es gewiß in der letztenTodes-Stunde / da muß die Seele an die Rechen-Banck / und Antwort geben“. Vgl. Axmacher, 17. 17 Vgl. Müller, Hertzens-Spiegel, 970: „Er [sc. der Gottlose] wird betteln: Ach ihr Hügel, fallet über uns / und ihr Berge bedecket uns.“ 18 Vgl. a. a. O., 971: „Wenn dich nun Gott zur Rechnung fordert, so ergreiffe das Blut Jesu / thue einen roten Strich durch die Schuld / und sprich: Sieh an deines Sohns Creutz und Leiden / der uns erlöset hat mit seinem Blute.“

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a) Poetische und theologische Beobachtungen Der Text aus Salomon Francks „Evangelischem Andachts=Opffer“ (1715), den Bach sicher schon aus Weimar mitgebracht hat, – was freilich nicht auf eine Vorgängerkantate gleichen Titels schließen lässt, die dann in Leipzig umgearbeitet worden wäre19 – enthält zahlreiche kunstvolle Verbindungen mit dem Evangelium des Sonntags bzw. frappierende Anklänge an die Predigt Müllers. Es geht hier einerseits ganz konkret um den im Gleichnis geschilderten „ungerechten Haushalter“, andererseits auch um die Situation des sündigen Menschen, von dem Gott schon hier und jetzt, aber auch dereinst Rechenschaft fordert bzw. fordern wird.20 Die zahlreichen Bilder und Metaphern aus der Geldwirtschaft des 18. Jh. –„Rechnung voll Defekte“, „Kapital und Interessen“, „du bis quittiert“ usw. – muten einigermaßen fremd an, sind aber bei näherem Hinsehen ein wichtiger Aspekt für die Interpretation. Das Motiv des Donnerwortes bzw. Donnerns stammt nicht aus Lk 16, sondern ist aus Joh 12,28–31 entlehnt, wo erzählt wird, dass es während des Gesprächs Jesu mit dem Vater gedonnert habe, was der johanneische Jesus als Gerichtsäußerung über die Welt deutet.21 Was die Sprechakte und Sprechrichtungen angeht, können wir einen ständigen Wechsel verfolgen, den wir als äußeren, gleichsam „liturgischen“ oder aber als inneren, gleichsam „andächtigen“ Dialog deuten können. Satz 1 beginnt paukenschlagartig wachrüttelnd in der Anrede des persönlichen Du, während sich dann Satz 2 und 3 zu einem ebenso persönlichen Sündenbekenntnis des angefochtenen Menschen in Ich-Form wenden. Satz 4 ist wieder verkündigende Rede,  – diesmal freilich nicht in der Gestalt des Gesetzes, sondern des Evangeliums von der versöhnenden Kraft des Kreuzes Christi22 – ehe Satz 5 wieder zum persönlichen Ich wechselt und „indirekt“ eine eschatologische Paränese formuliert: Im Gegensatz zu dieser Aufforderung zu guten Taten, die aus dem Gleichnis Lk 16 gefolgert wird, bringt der Schlusschoral ein echtes Gebet vor Gott, das eschatologisch auf die Todesstunde gemünzt ist. Zwei Affekträume kommen in den Blick: Zu Beginn der Kantate sind Furcht und Erschrecken auf dem Plan, ehe dann mit Satz 4 die Stimmung wechselt und Freude und Gewissheit angesichts der Absolution durch den himmlischen Bürgen Jesus Christus die Oberhand gewinnen. Der erste Satz ist im unerbittlich pochenden trochäischen Versmaß gehalten. Das Gedicht wird durch den Imperativ „Tue Rechnung! Donnerwort!“ eingerahmt, der in der Mitte in einer Art variatio „Tue Rechnung! Seele, fort“ noch

19 Vgl. Küster, 304: „Dennoch sind die quellenkundlichen und stilistischen Merkmale eindeutig: Es kann sich nicht um eine Komposition handeln, die Bach bereits in Weimar geschrieben hat.“ 20 Vgl. dazu Axmacher, 20: „Die protestantische Auffassung von der Totalität der Sünde kommt in Satz 2 und 3 zum Ausdruck.“ 21 Vgl. Petzoldt I, 212. Perikopen aus Joh 12 bestimmen die Evangelien zu den Sonntagen Lätare und Palmarum, vgl. EGB 302–305. 22 Vgl. dazu auch Axmacher, 20: „Jesu Tod ist das stellvertretend erlittene Gericht, das den Menschen vom Todesurteil freispricht. Daneben spielt die alte Vorstellung vom Blut Jesu als Lösegeld für das unter die Sünde verkaufte Menschengeschlecht eine Rolle. Im Begriff des ‚Bürgen‘ sind beide Gedanken zusammengefasst.“

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mals auftaucht. Es geht in Aufnahme von 2 Makk 7 um eine „Lebensrechenschaft“. Die Wendung „Wort, wovon mein Blut erkaltet“, ist eine Anspielung auf Hebr 4,12 vom Wort Gottes als scharfem Schwert23 und knüpft an ein breites Zeugnis bi­blischer Tradition (vgl. Eph 6) an. Trinitätstheologisch akzentuiert Satz 1 die Rede von den anvertrauten Gaben nach Lk 16,1 ff dezidiert schöpfungstheologisch.24 Diesem Beichtspiegel schließt sich der folgende Satz mit einem ausführlichen Sündenbekenntnis an, das als anthropologische Explikation und Weiterführung zu Satz 1 zu verstehen ist. Die Stichworte „Blut und Leben“ sind ebenso aufgenommen wie der Begriff „Güter“. Gott wird als „gerecht“ prädiziert, was durch den Hinweis auf das kommende Zorngericht (Röm 5,10) eschatologisch kon­notiert und verschärft wird. Der „Blitz von Gottes Angesicht“ ist auch Inbegriff barocker Emblematik, wie Haselböck herausstellt: „Die Metapher vom Zornesblitz ist auch sinnverwandt mit dem Bild vom Pfeil Gottes. Dieses Bild liegt dem Menschen des Barock besonders nahe, denn die Furcht vor dem Zorn Gottes, vor dem Gericht des Höchsten, beherrscht in einer von Kriegen und Seuchen bedrängten Zeit sein Denken und Fühlen in besonderen Maß.“25 Zuletzt nimmt Franck mit der Wendung „Ihr Berge fallt!“ (Lk 23,30)26 ein weiteres Wort der lukanischen Jesusverkündigung aus der Endzeitrede auf. Theologisch interessant ist, dass derselbe Gott, vor dem man angesichts seines Kommens zum Gericht erschauert, auch um Schutz und Hilfe angerufen wird (vgl. Apk 6,25–27). Satz 3, für Petzoldt der „Zenit der Kantate“, ist ebenfalls im trochäischen Versmaß gehalten, was die enge Verwandtschaft mit Satz 1 unterstreicht. Der Dichter verbindet den Rechenschaftsbericht des Haushalters mit der apokalyptischen Metapher vom „Buch Gottes“ (vgl. Apk 20,12). Die Metaphorik von Stahl und Diamanten ist aus Hiob 19,23 f entlehnt, sie verschärft die vorangegangene Gerichtsdrohung. Treffend bemerkt Petzoldt, dass „sich die Arie der hartnäckigen Symbiose von Leben und Schulden“27 widmet. Insgesamt läuft die geistliche Dramaturgie der Kantate freilich auf Satz 4 zu, wo das befreiende und lebendig machende Absolutionswort ausge­sprochen wird: „Jedoch, erschrocknes Herz, leb und verzage nicht“ lautet das einleitende Motto des Satzes, der nochmals mit der Metaphorik der „Börsensprache“ das Heilsgeschehen deutet. Sätze wie „Es ist bezahlt, du bist quittiert!“ stellen uns vor die hermeneutische (und homiletische Frage), ob Bilder aus der „Wirtschaft“ heute noch nachvollziehbar sind oder das Evangelium eher banalisieren. Der mit 19 Versen längste Text der Kantate ist wie Satz 2 (18 Verse) jambisch und enthält im ersten Teil soteriologische, im zweiten Teil paränetische Aussagen in der Form der Anrede. Letztere nehmen den mahnenden Impuls aus Lk 16 auf. Der Satz expliziert

23 Vgl. die Losung des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Köln 2007. 24 Vgl. Luthers Kleinen Katechismus zum 1. Art., BSLK 510 f. Damit wird gleichsam die Ver­ antwortung für die erhaltenen Schöpfungsgaben massiv eingefordert. 25 Vgl. Haselböck, 57, Art. Blitz, vgl. auch unter den Stichworten „Gericht“, „Zorn“. 26 Vgl. Müller, Herzens-Spiegel, 970 (s. o. Anm. 464). 27 Petzoldt I, 213. Bedenkt man, dass ca. ein Viertel aller bundesrepublikanischen Haushalte überschuldet ist, so könnte dies u. U. doch ein interessantes Thema für eine Predigt sein.

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als ganzer das grundsätzliche Gefälle von Rechtfertigung und Heiligung,28 Sakrament und Nachfolge, Dogmatik und Ethik.29 Dieser Gedanke wird in Satz 5 im Charakter einer Selbstaufforderung der glaubenden Seele weitergeführt: Nächstenliebe und Fürsorge statt egoistischer Selbstsorge heißt die Devise. Christliche Freiheit besteht nicht zuletzt darin, die Bindung an Geld und Macht („Mammonskette“) zu zerreißen und dadurch eine neue Freiheit zu erleben. Bis heute dürfte dies ein gewichtiger Inhalt für eine theo­logisch verantwortete evangelische Predigt sein.30 Allerdings suggeriert der Text, für sich allein betrachtet, die Vorstellung, man könne sich durch Taten der Nächstenliebe selbst die Vergewisserung für ein Leben in der zukünftigen Welt verschaffen. Umso gelungener ist der Schlusschoral, der das einmalige stellvertetende Er­ lösungshandeln Christi (vgl. Satz 4) nochmals ins Gebet nimmt und am Ende auch die Seligkeit ganz Gottes Sache sein lässt, indem er auf die interzessorische Fürsprache Christi vor dem Vater abhebt.31 b) Musikalische Analyse Die eröffnende Bassarie ist durchkomponiert und wird neben der Vokalstimme und einem dreistimmigen Streichersatz besonders durch eine äußerst virtuose Continuostimme geprägt,32 die entweder durchgehende Sechzehntel-Triolen oder durchgehende Achtel oder punktierte Sechzehntel mit Zweiunddreißigsteln aufweist. Immer wieder vereint sie sich (vgl. T. 8 bzw. T. 26 und 50) beim Abschluss bestimmter Formteile mit den übrigen Streichern zu einem kraftvollen Unisono.33 Bereits der erste Einsatz der Solostimme markiert eine fulminant ansteigende dreifache Climax in syllabischer Form auf die Worte „tue Rechnung“, beginnend mit h, cis und d (T. 8 f, vgl. T. 15–17 bzw. auch T. 33–35), ihr schließt sich dann in

28 Vgl. dazu die drei grundsätzlichen Artikel der Augsburger Konfession, CA IV–VI, BSLK 58–60. 29 Vgl. Petzoldt I, 213 f: „Das Summarium, das den zweiten Teil eröffnet (T. 15), zielt auf den Beginn eines Lebens in dankbarer Zuwendung zum bedürftigen Nächsten, formuliert mit Lk 16,4.9 und 9 zusammen mit Hebr 13,6 in knappsten Formulierungen christliche Ethik“. 30 Vgl. dazu nochmals Axmacher, 22: „Die Eschatologie ist damit in der Kantate stärker betont als in den Predigten, die ausführlicher von der weltlichen Verantwortung des Christen für die Armen sprechen. Insgesamt aber zeigt sich, dass Franck trotz geringer Akzentverschiebungen […] der lutherischen Orthodoxie sehr nahe steht. Hier wie dort wird das Evangelium des 9. S.n. Trin. eher als Bußpredigt denn als eine Predigt ‚vonn guten wercken‘ und ‚wider den Geytz‘ gelesen.“ 31 Vgl. Olearius V, 514 (zu Lk 16): „Das Einnehmen in die ewigen Hütten Johann.14 (receptio meritoria)  tut Christus allein verdienstlich (Coloss. 2/14). der sich selbst alle Wohltat zurechnet. Matth.25/40. Vorbittsweise (intercessoria)  aber seine Brüder, Matth.25. welche vor die Wohltäter beten. Psalm 41/2 und solche Aufnehmung am jüngsten Tage öffentlich bezeugen.“ 32 Vgl. Petzoldt I, 212: „Die strenge Bezogenheit auf die Continuolinie wird in der Arie/ Duett, Satz 5, in eigenständiger Weise wiederkehren.“ 33 Vgl. Küster, 304: „Immer wieder trifft er [sc. der virtuose Part des Solobasses] mit der Musik des Vorspiels zusammen, und zwar in unterschiedlichen Textkonstellationen; dabei scheinen die Gesangsphrasen von denen des Orchesters unabhängig zu sein (etwa auf den Schlüssen der ‚Donnerwort‘-Melismen), und als Überraschung wirkt auch, dass mehrere Textgedanken demselben Orchestermotiv entgegentreten können“.

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melismatischer Form unter dem Stichwort „Donnerwort“ eine „Rachekoloratur“ an (T. 9–11, vgl. T. 15–17, vgl. T. 39–41), die von harschen Punktierungen in den hohen Streichern begleitet und unterstrichen wird. Als Kontrast dazu verweilt der Sänger (und die begleitenden 2.  Violinen und Bratschen) beim Verb „erkaltet“ (T. 22) als Symbol des Sterbens auf einer langen Liegenote, während die Sechzehnteltriolen nur noch in der 1. Violine auftauchen. Damit ist musikalisch ausgedrückt, dass das „Sterben“ nicht nur Überraschungen in sich birgt, sondern sich dabei gleichsam „oben“ und „unten“ verdrehen. Aber damit nicht genug: Bei der Wendung: „Ach, du musst Gott wiedergeben“ fällt der Streichersatz ganz weg, musikalisch werden dem Sänger also somit alle harmonischen „Sicherheiten“ entzogen. Bach bildet damit das geistliche Geschehen, Rechenschaft vor Gottes Richterstuhl (vgl. 2 Kor 5,10) geben zu müssen (vgl. T. 27–32 bzw. T. 36–38) durch den musikalischen Satz ab. Charakteristischerweise zieht sich der Affekt, den man am ehesten mit „Wut“ oder „Rache“ (Gottes) benennen könnte, durch den ganzen ersten Satz. Er ist darauf angelegt, Angst beim Hörer zu erregen. Das folgende Accompagnato (Tenor mit 2 Oboen) ist ausgesprochen farbig und abwechslungsreich in seinen Wort-Ton-Beziehungen. Es hat folgende Gliederung: T. 1–8 schildern das Schöpfungshandeln Gottes (providentia Dei, concursus divinus) im Blick auf das persönliche Leben in den drei Ständen, T. 9–16 dagegen die heftige Gewissensnot angesichts eigenen Versagens. T. 16–23 schließlich wenden sich in einem motivischen Accompagnato direkt an Gott und flehen um Vergebung und Beistand. Alle Teile werden durch eine Kadenz (A-Dur; D-moll; Cis-moll) abgeschlossen. In Teil B illustriert ein überraschender, harsch wirkender neapolitanischer Sextakkord die Wendung „kaltsinnig durchgebracht“. Das abschließende Arioso erinnert an die beiden (in unterschiedlichen Fassungen überlieferten) Tenorarien, die den ersten Teil der Johannespassion abschließen und das Sündenbekenntnis des Petrus nach der Verleugnung verarbeiten (BWV 245,13). Melodisch wird in der Singstimme bei der Anrufung „gerechter Gott“ erstmals die Spitzennote a’ erreicht (Hyperbole) und damit besonders hervorgehoben. Im Anschluss bildet Bach das „Fallen der Berge und Hügel“ (wieder a’ bei Berge) durch fallende Drei- und Vierklangsbrechungen ab, eine unmittelbar sprechende Umsetzung des Textes. Ähnlich ist auch die Sechzehntel-Figur mit SechzehntelPause bei „Blitz“ in T. 21 zu interpretieren. Hier ist gleichsam eine „Blitzlinie“ von Sechzehnteln durch den Satz erkennbar, die wir im Sinne einer Art „Augen­ musik“ verstehen dürfen. Außerdem finden sich Querstände wie in T. 19 (a-e-cisais), Saltus duriusculi als Exclamationes (vgl. „Ich rufe“, T. 18), Passus duriusculi (vgl. 19 f, Bass) und spannungsgeladene verminderte Septimakkorde über mehrere Takte, um Gottes Theophanie beim Gericht zu schildern. Innerhalb weniger Takte hat sich die harmonische Situation von D-moll (Kadenz in T. 16) um fünf Quinten nach Cis-moll verschoben, was die eminente Ordnung erschütternde und Welt verändernde Gewalt des Gerichtsgeschehens musikalisiert. Die folgende Tenor­arie (Satz 3), wie Satz 1 kein Da capo, bietet besonders im rhythmischen Bereich einige einzelne Auffälligkeiten. So wird das natürliche Metrum durch Betonungsverschiebungen immer wieder aufgebrochen. Die Tota­ litätsaussage „alles, was ich schuldig blieben“, wird durch lange Melismen stark

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hervorgehoben. Es fällt auf, dass Bach dem bildhaften zweiten Textteil, der explizit biblische Sprache enthält, ungefähr den doppelten Umfang an musikalischer Aufmerksamkeit zu­kommen lässt wie dem ersten (Finanzmetaphorik) und dabei besonders das Hendiayoin „Stahl und Demantstein“ durch lange Haltetöne hervorhebt (T. 80–86; 98 f; 119 f). Das zentrale Secco (Satz 4) enthält wenig signifikante musikalische Mittel, es bewegt sich von Fis-Dur nach G-Dur. Bezeichnenderweise singt hier der Solobass, der in der Regel für die vox Christi oder vox Dei eingesetzt wird.34 Der Affekt des freudigen Hintretens (T. 3) vor den Richter wird durch die Spitzennote e’ im Solobass der Möglichkeit des Verstummens (T. 6: H über dem tiefen Dis im Con­tinuo) antithetisch gegenüber gestellt. Die einzige Zäsur entsteht durch die Kadenz in T. 14, die damit auch den soteriologischen vom paränetischen Teil trennt. Ganz im Gegensatz dazu ist Satz 5, wie Satz 3 kein Da capo, reich an musikalischen Ausdrucksformen. So wird hier durch Zweiunddreißigstel-Figuren im Continuo (vgl. T. 1 f; 5 f.) und in den Singstimmen (vgl. T. 5; 9 u. ö.) das Zerbrechen oder Abschütteln der Kette des Mammons bildlich dargestellt. Die Kette des Mammons selbst musikalisiert Bach durch lange Koloraturketten, die ihrerseits durch Synkopen sowie ansteigende und fallende Kreisfiguren (Circoli) das Verstricktsein des Menschen in seinen Besitz abbilden. Der musikalische „rote Faden“ ist eine absteigende Basslinie im Continuo, die in der Form des Basso-Quasi-ostinato sowohl das einleitende und abschließende Ritornell (T. 1–4; 49–53) als auch die drei folgenden Formteile eröffnet (T. 5–9: e-E; T. 17–20: g-G; T. 29 ff: a-A). Stärker noch als in Satz 3 arbeitet Bach mit langen Haltetönen, die sowohl negativ die Kette des Mammons als auch positiv das „ewige Bleiben“ im Himmel illustrieren können. Dass die Form des kanonisch angelegten Duetts von Alt und Sopran theologisch den geistlichen Zusammenhang von Erlösung und tätiger Nachfolge35 bzw. Befreiung und Ethos abbildet, scheint ziemlich wahrscheinlich.36 Plausibel ist auch, dass die Einsatzfolge der beiden Stimmen im dritten Arienteil tauscht, wenn vom Himmel die Rede ist; hier wird im Sopran auch der Spitzenton a’’ erreicht. Der abschließende vierstimmige Choral, der vom ganzen Instrumentarium begleitet wird, bringt im letzten Takt noch eine musikalische Überraschung. Bei der Rede von den Auserwählten steigt eine Katabasis als Symbol des Herabneigens Gottes vom hohen d bis zum tiefen H im Bass herab, die Melodie im Sopran fällt ebenfalls eine Quint nach unten. Damit schließt die Kantate mit einer musika­ lischen (nicht textlichen) Gnadenzusage des herabkommenden Gottes. c) Homiletische und liturgische Überlegungen Insgesamt ist BWV 168 als Beispiel einer musikalischen Predigt bzw. eines liturgischen Dialogs von großer geistlicher Dynamik auch homiletisch zu beden

34 Vgl. etwa BWV 60,4 (Stimme vom Himmel) und BWV 2,4 (Stimme Gottes) oder BWV 81,4 (vox Christi) . 35 Vgl. dazu die Sopranarie „Ich folge dir gleichfalls“ aus der Johannespassion (BWV 245,13). 36 Vgl. Petzoldt I, 214.

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ken. Von der Verkündigung des Gesetzes (Satz 1) über die Antwort im Sündenbekenntnis (Satz 2 f) bis zur Vergebungszusage (Satz 4, T. 1–14) reicht der erste Teil und bildet damit paradigmatisch das Gefälle von Gesetz und Evangelium ab, ehe dann im zweiten Teil die Dynamik von Zuspruch und Anspruch bzw. Recht­ fertigung und Heiligung oder Evangelium und Nachfolge in den Vordergrund rückt. Die Kantate ist somit Beispiel für ein poetisch kompaktes Stück „gesun­ gener Verkündigung“ und „musizierten Gebetes“ auf der Grundlage lutherischer Theologie und Ethik. Soll man dies alles zum Gegenstand einer Predigt machen? Wohl kaum. Immerhin könnte die Predigt an zwei Stationen im Verkündigungsteil, den richtenden bzw. den paränetischen Aspekt des Gleichnisses zur Geltung bringen, ohne an anderer Stelle das Evangelium auszublenden, das in der Kantate selbst kräftig zum Leuchten kommt. Die Verknüpfung mit dem Evangelium des 9. Sonntags n. Trin. erscheint angesichts der ökonomischen Metaphorik auch, gerade heute noch sinnvoll und aktuell. Folgende Aufteilung der Sätze innerhalb des Verkün­digungsteils erscheint uns plausibel: Evangelium Lk 16,1–9 bzw. Mt 25,14–3037 – Credo – Kantate Satz 1–3 – Predigt I – Kantate Satz 4–6 – Predigt II – Wiederholung Satz 6 (mit Gemeinde)

4.2 O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60) Bachs 1723 entstandene Dialogkantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60) für den 24. Sonntag n. Trin. bezieht sich auf das Sonntagsevangelium aus Mt 9, 18–26, die Auferweckung der Tochter des Jairus.38 Sie unterscheidet sich in poe­ tischer, theologischer und musikalischer Faktur völlig von der jüngeren Ver­ tonung BWV 20,39 obwohl sie denselben Titel trägt. Sie ist ein sogenannter Dialogus, eine Sonderform der Kantate (vgl. BWV 49, 172,5; 21,7 f; 66,4 f),40 die sich im 17. Jh. eigenständig entwickelt hat. Der unbekannte Dichter kombiniert schon im Kopfsatz Choral und Bibelwort (Gen 49,18 bzw. Ps 119,166a)41, was eher ungewöhnlich ist.42

37 Vgl. EGB 366. 38 Zur Auslegungsgeschichte vgl. Petzoldt I, 652 f. 39 Vgl. dazu oben 3.1. 40 Bach kennt dabei in seinen geistlichen Kantaten unterschiedliche Konstellationen: Seele und Christus (BWV 21; 49 u. ö.); Furcht und Hoffnung (BWV 60 und 66); Seele und Hl. Geist (BWV 172). 41 Die Parallelstelle zum Jakobssegen befindet sich in Ps 119 und lautet vollständig: „Herr, ich warte auf dein Heil und tue nach deinen Geboten.“ Petzoldt I, 655, weist auf die gleichnamige doppelchörige Motette von Johann Michael Bach, dem ersten Schwiegervater Johann Sebastians, hin, der ebenfalls Ps 119,166a aufgreift. Dort wird sie allerdings einem anderen Choral zugeordnet: Ach wie sehnlich wart ich der Zeit, / wenn du, Herr, kommen wirst / und mich aus diesem Herzeleid / zu dir im Himmel führst. / Ach wie sehnlich wart ich auf dich, / o komm, o komm und hole mich. 42 Geläufiger ist die Lösung, dass ein Schriftwort mit einem instrumentalen Choralzitat kombiniert wird (vgl. BWV 25,1 und 77,1).

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Der offenbare Gott spricht frei und rettet 1. Duet t (C ho ral) Furcht: O Ewigkeit, du Donnerwort, o Schwert, das durch die Seele bohrt, o Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, ich weiß von großer Traurigkeit nicht, wo ich mich hinwende. Mein ganz erschrocknes Herz erbebt, dass mir die Zung am Gaumen klebt. Hoffnung: Herr, ich warte auf dein Heil. 2. Rezit ativ Furcht: O schwerer Gang zum letzten Kampf und Streite! Hoffnung: Mein Beistand ist schon da, mein Heiland ist mir ja mit Trost zur Seite. Furcht: Die Todesangst, der letzte Schmerz ereilt und überfällt mein Herz und martert diese Glieder. Hoffnung: Ich lege diesen Leib vor Gott zum Opfer nieder. Ist gleich der Trübsal Feuer heiß, genung, es reinigt mich zu Gottes Preis. Furcht: Doch, nun wird sich der Sünden große Schuld vor mein Gesichte stellen. Hoffnung: Gott wird deswegen doch kein Todesurteil fällen, er gibt ein Ende den Versuchungsplagen, dass man sie kann ertragen. 3. Duet t Furcht: Mein letztes Lager will mich schrecken. Hoffnung: Mich wird des Heilands Hand bedecken. Furcht: Des Glaubens Schwachheit sinket fast. Hoffnung: Mein Jesus trägt mir meine Last. Furcht: Das offne Grab sieht greulich aus. Hoffnung: Es wird mir doch ein Friedenshaus. 4. Rezit ativ Furcht [Secco]: Der Tod bleibt doch der menschlichen Natur verhasst, und reißet fast, die Hoffnung ganz zu Boden. Eine Stimme vom Himmel (Bass) [Arioso]: Selig sind die Toten. Furcht [Secco]: Ach, aber ach, wieviel Gefahr stellt sich der Seele dar, den Sterbeweg zu gehen! Vielleicht wird ihr der Höllenrachen den Tod erschrecklich machen, wenn er sie zu verschlingen sucht; vielleicht ist sie bereits verflucht zum ewigen Verderben.

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Stimme vom Himmel [Arioso]: Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben. Furcht: Wenn ich im Herren sterbe, ist dann die Seligkeit mein Teil und Erbe? Der Leib wird ja der Würmer Speise! Ja, werden meine Glieder zu Staub und Erde wieder, da ich ein Kind des Todes heiße, so schein ich ja im Grabe zu verderben. Stimme vom Himmel: Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben von nun an. Furcht: Wohlan! Soll ich von nun an selig sein: So stelle dich, o Hoffnung, wieder ein. Mein Leib mag ohne Furcht im Schlafe ruhn, der Geist kann einen Blick in jene Freude tun. 5. Cho ral Es ist genung; Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus! Mein Jesus kömmt; nun gute Nacht, o Welt! Ich fahr ins Himmelshaus, ich fahre sicher hin mit Frieden, mein großer Jammer bleibt danieden. Es ist genung.

Das Werk ist formal konzentrisch angelegt, als Rahmen dienen zwei choral­ bezogene Sätze aus unterschiedlichen Kirchenliedern,43 zwei Rezitative umschließen die zentrale Arie (also: ABCB’A’). Die Bibelworte stammen jeweils aus dem ersten und letzten Buch der Schrift. Drei allegorische Personen kommen vor: die Furcht (Alt), die Hoffnung (Tenor) und eine Stimme vom Himmel, die man als vox Christi44 (Bass) begreifen kann. Sie kommt nur in Satz 4 vor und zitiert Apk 14,13. Für unsere Arbeit ist diese dialogische Konstellation besonders wertvoll, weil hier nicht nur Gesetz und Evangelium aufeinander prallen, sondern die beiden Grundaffekte Furcht45 und Hoffnung sich angesichts des Todes begegnen. Dabei wird deutlich: Nicht die menschliche Hoffnung „als Teil der zwiespältigen Menschenseele“46, kann sich des ewigen Heils selbst vergewissern, dazu braucht es eine vox externa, eine „Stimme vom Himmel“, die als unmittelbarer Zuspruch Gottes stärker ist als menschliche Argumente. Bereits in der Überschrift, im Aufführungsmaterial auf der Titelseite, vermerkt der Komponist: „Dialogus Zwischen

43 Es handelt sich um Johann Rists ursprünglich 16-strophiges Lied O Ewigkeit, du Donnerwort (1642, vgl. oben 3.1.) und „Es ist genung“ von Franz Joachim Burmeister (1662). 44 Vgl. Dürr, 700 und Petzoldt I, 655. 45 Vgl. dazu die Kantate Liebster Gott, wann wer ich sterben (BWV 8), Satz 3 (Rezitativ, Alt): „Zwar fühlt mein Herz / Furcht, Sorge, Schmerz: Wo wird mein Leib die Ruhe finden? Wer wird die Seele doch / vom aufgelegten Sündenjoch / befreien und entbinden?“ 46 Dürr, 700.

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Furcht und Hoffnung. Furcht: O Ewigkeit, du Donnerwort. Hoffnung: Herr ich warte auf dein Heyl.“ Damit steht der erste Choral ästhetisch und textlich an der Seite der Furcht, während sich die Hoffnung an das biblische Wort hält.47 Diese Konstellation ist ohne ein Einverständnis des Komponisten kaum denkbar, ja wahrscheinlich geht sie gar auf eine Anregung Bachs zurück.48 Der konzertante Kopfsatz lebt von der Dialektik der beiden allegorisch-spirituellen Personen und besteht gleichsam aus drei musikalischen „Schichten“: Die Altstimme singt, verstärkt vom Horn, die erste Strophe des Chorals von Rist (1645), der äußerst facettenreich ist: „Der Liedtext vereint viele Ebenen der Todeswirklichkeit, die biblisch belegbar sind: die der Ewigkeit als Gericht (Offb 4,5.9), die des Schmerzes (Lk 2,35), die der Zeitlosigkeit (nach Offb 1,8; 10,6), die der Traurigkeit (2Kor 7,10b; Rm 9,2a) und der Fluchtlosigkeit (Ps 139,7), die des Erschreckens (Hi 37,1) und des unstillbaren Durstes (Ps 22,16b).“49 Begleitet wird sie vom konzertierenden Ritornell der Streicher und der Liebesoboen, die in T. 5 ein sehnsüchtig-flehendes Motiv spielen, das zunehmend bestimmend wird. Kurz vor dem zweiten Stollen, beim Text „O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“, stellt sich die Gegenstimme der Hoffnung mit einer Arie des Tenors ein, der das Wort „Herr, ich warte auf dein Heil“ anstimmt. Diese Einwürfe werden beinahe zwanzig Mal wiederholt, wodurch deutlich wird, dass Hoffnung mit Geduld und Beharrlichkeit gepaart ist. Auf dem Verb „warte“ finden sich im Sinne einer Hypotyposis lange Liegenoten mit bis zu acht Viertelschlägen. Angesichts der Schrecken des Todes (Choral) kann die Hoffnung der Christen nur mit beharrlichem Vertrauen an der Zusage von Gottes Heil festhalten (Gen 49,18 par Ps 119).50 Sechzehntel-Tremoli in den Streichern unterstützen die Erregung der Furcht, sie stehen für die Schrecken des Jüngsten Tages. Die beiden Oboi d’amore konzertieren dagegen im Sinne der Hoffnung, sie bringen das „sehnsüchtige Warten auf das Heil des Herrn“51 mit seufzenden Zweierbindungen in Sechzehntel-Bewegung schön zum Ausdruck. „Nachdem im laufenden Satz vereinzelt die Melodieführung der Tenorstimme über die Altstimme hin­ausführt, kommt es parallel zur zweiten Hälfte der Schlußzeile ‚am Gaumen klebt‘ mit dem Text ‚(ich) warte auf dein Heil‘ zur endgültigen tonalen Überbietung der Liedmelodie (T. 64 ff), d. h. zur Überbietung der Ebenen der Todeswirklichkeit, die die Lied­strophe aneinander reiht.“52 Damit ist – gleichsam antizipa­ torisch – der Sieg der Hoffnung über die Furcht schon angedeutet, aber noch nicht realisiert.53

47 Vgl. ähnlich Schulze, 494. 48 Vgl. Küster, 216, der mit einer „gezielten Abstimmung“ rechnet. 49 Petzoldt I, 656. 50 Petzoldt I, 656, bezieht dies zu Recht auf das Leben des Mädchens (Lk 9) und ihren plötzlichen Tod. 51 Dürr, 700. 52 Petzoldt I, 657. 53 Schulze, 496 moniert, dass in diesem Eingangssatz die beiden Stimmen nicht aufeinander eingingen. Mir scheint dies gerade von Bach so beabsichtigt, um die unversöhnliche Differenz beider Affekte aufzuzeigen.

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Das folgende Rezitativ (Satz 2) ist reich an Affekten, die durch einzelne Figuren konkretisiert werden. Es beginnt mit den Worten „O schwerer Gang“, auf vier Tönen, die man verschieden interpretieren kann: Die Tonfolge d-fis-gis-ais lässt sich sowohl als rhythmisiertes, leicht variiertes (also quasi „tonales“) Zitat des als Schlusschoral verwendeten Es ist genung von Johann R. Ahle (1662)54 oder aber, was noch näher liegt, als eine chromatische Veränderung des Themenkopfes (d-fis-g-a) und gleichsame Überbietung des Chorals O Ewigkeit, du Donnerwort verstehen. Möglich wäre auch, dass Bach mit dieser „Erhöhung“ des  a zum ais im Sinne einer Art „Augenmusik“ das Kreuz der Nachfolge abbilden will.55 Versuchen wir, die Dramaturgie des Satzes nachzuzeichnen: Zunächst verweist die Hoffnung bekenntnishaft auf den Trost des Heilands und Beistands (vgl. Joh 15,26) Jesus Christus: Mein Beistand ist schon da, mein Heiland ist mir ja mit Trost zur Seite.

Doch dann bricht die Todesangst mit voller Wucht herein. Sie wird als letzter Schmerz verstanden, der, was an den Abruptiones (kleine Sechzehntel-Pausen in T. 6) zu sehen ist, förmlich den Atem stocken lässt. Die Furcht gestaltet sich als eine den Menschen beschleichende Tortur als eine „Marter“, wenn unmittelbar danach (T. 8) das Secco in ein klagendes Arioso (Andante) mündet. Hier finden sich zahlreiche übermäßige Sekunden (z. B. f-dis), mithin ein Schulbeispiel für die affekterzeugende Pathopoeia.56 Besonderen Nachdruck verleihen diesem Abschnitt die Synkopen in der Singstimme und die sprechenden Achtelpausen im Continuo. Nochmals kehrt das deklamierende Secco wieder. Zunächst legt die Hoffnung in einer fallenden Phrase „den Leib vor Gott zum Opfer nieder“ (Hypotyposis, vgl. Röm 12,1). Ein geängstetes Gemüt (als Opfer: Ps 51,19) und geistliche Trübsal sind der Hoffnung offenbar auch nicht fremd, sie werden aber als Reinigung oder Läuterung (vgl. Ps 26,2 bzw. Dan 12,10) gedeutet. Dann setzt die „Furcht“ zum entscheidenden Schlag an: Sie artikuliert ihre Anfechtung und Sorge um das ewige Heil angesichts des Gerichtes Gottes (2 Kor 5,10) und eigener Schuld: Doch, nun wird sich der Sünden große Schuld vor mein Gesichte stellen.

Damit wird die Todesangst nun als Gerichtsangst spezifiert, worauf die Hoffnung antwortet:

54 Er kommt dann als Schlusschoral dieser Kantate: der Beginn dieses Rezitativs ist also Metamorphose und Prolepse zugleich. 55 Vgl. Meyer, 72: „Augenmusik ist auch das als Kreuzsymbol gedeutete Erhöhungsvorzeichen“. 56 Im Gegensatz zur bloßen Hinzufügung eines imperfekten Intervalls („unvollkommene Quint, kleine Sext oder große und kleine Septime“, vgl. Parrhesia) steht die die Pathopoiea für die Erzeugung klagender, (mit)leidender etc. Gefühle durch Hinzufügung eines modusfremden Tones, wie wir sie besonders in der B.c.-Stimme finden. Damit ist die Pathopoeia (=Leiden(schafts)erzeugerin) die Affektfigur schlechthin. Vgl. grundsätzlich Burmeister, MP 61; 64 bzw. oben 1.7.2.

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Gott wird deswegen doch kein Todesurteil fällen, er gibt ein Ende den Versuchungsplagen, dass man sie kann ertragen.

Wieder schlägt das Secco am Ende in ein Arioso um. Diesmal schmückt eine Sechzehntel-Bewegung das sinntragende Verb „ertragen“, die ganz ohne die oben genannten Mittel klagender Affekte auskommt und im Gegensatz zum ersten ­Arioso die Zuversicht und Gelassenheit der „Hoffnung“ vermittelt, indem Bewegung und Ruhepunkte in Singstimme und Continuo (Viertel mit angehängter Sechzehntel und drei sich bewegende Sechzehntel) miteinander komplementärrhythmisch alternieren, so dass gleichsam eine durchgehende Sechzehntel-Durchpulsung entsteht.57 War das Arioso der Furcht („martern“, T. 8–11) kleingliedrig, mit langsam fortschreitenden Achteln gleichsam statisch und ohne Instrumentalbegleitung, so klingt das der Hoffnung großzügig und weiträumig, sicher vorwärts schreitend und instrumental begleitet (T. 21–25). Der Gegensatz der beiden Ariosi ist also denkbar groß, fast alle musikalischen Parameter kommen zum Einsatz und charakterisieren jeweils Furcht oder Hoffnung: dem langsamen Tempo der Furcht steht ein rasches der Hoffnung gegenüber, die Achtelbewegung kontrastiert mit Sechzehntel-Läufen. Die Harmonik bleibt lange verschleiert, wenn die Furcht singt, während sie vom ersten Einsatz der Hoffnung an eindeutig ist. Hinzu treten bei der Furcht einschlägige Figuren mit Suspirationes im Bass und ausdruckstarker Harmonik (T. 8–10). Im zentralen Duett (Satz 3), begleitet von Solovioline und Oboe d’amore,58 spitzt sich der Konflikt der allegorischen Personen drastisch zu. Nun kommt es zu kurzgliedrigeren Redeteilen, ja im Verlauf sogar zu einer Gleichzeitigkeit (T. 45 ff), bei der sich Furcht und Hoffnung gegenseitig ins Wort fallen. Zugleich weckt der „an Trommelwirbel erinnernde Rhythmus des Continuo“ die Assoziation eines „Trauermarsches“59. Der dreiteilige Satz beginnt stets mit einer These der Furcht, der dann von der Hoffnung leidenschaftlich widersprochen wird. Hermeneutisch und musikalisch interessant ist, wie Bach die Thematik der Hoffnung aus der der Furcht entwickelt und dann jeweils variiert bzw. einer Metamorphose „unterzieht“.60 An der vierfach wiederholten Stelle „das offne Grab sieht greulich aus“ (T. 65–80)61 ändert sich die Artikulation der Achtelnoten in

57 Vgl. Walter, 194: „Die komplementäre Rhythmik stellt eine gegenseitige Stütze dar, so daß sich das ‚Ertragen‘ gemeinsam vollzieht, indem beide Stimmen ineinandergreifen und so eine Sechzehntelkette konstituieren.“ 58 Das thematische Material besteht aus zusammengebundenen Achtel-Punktierungen, die bis kurz vor Schluss nur in der Oboe auftauchen und längeren meist nachschlagend beginnenden Sechzehntel-Skalen (vorwiegend in der Sologeige. Im Verlauf des Satzes wird deutlich, dass die „Oboe eher der Furcht und die Violine eher der Hoffnung zuzuordnen“ sind (vgl. Walter, 197). 59 Vgl. Walter, 197. 60 Vgl. Dürr, 701. 61 Vgl. auch Klek, 275. Klek setzt die beiden Dialogkantaten BWV 60 und 66 (s. u.) in eine an­regende sepulkral-theologische Beziehung und dekliniert Bachs musikalische Impulse soterio­ logisch und christologisch durch.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

der Oboe beim Stichwort „gräulich“ zum staccato, ein Saltus duriusculus (verminderte Septime) in der Altstimme unterstreicht den Affekt des Schreckens. Dem hält die Hoffnung eine beinahe endlos anmutende Koloratur auf dem Wort „Friedenshaus“ entgegen und nimmt damit die konzertierenden Sechzehntel-Figuren von Solovioline und Solooboe wieder auf, die bereits im vorangegangenen Rezitativ vorbereitet worden sind. Bach lässt die ewige Weite des göttlichen Friedens als Augen- und Ohrenmusik (fünf Takte)  Ereignis werden. Wieder behält hier am Ende (wie in Satz 2) die Hoffnung die Oberhand: Die Tenorstimme hält den Kampf aus und beendet in T. 82 die Kadenz allein, während die Altstimme bereits in T. 80 mit den Worten „sieht greulich aus“ verstummt: An dieser Stelle bleiben die Instrumental-Bässe bei ihrer Figur eines punktierten Achtels e samt Sech­ zehntel und folgendem Viertel e über fünf Takte stehen, die harmonische Situation ist ebenfalls über vier Takte hinweg statisch (T. 77–80), es wird also gleichsam ein musikalisches Friedenshaus auf einem sicheren Fundament (Bass) erbaut, aus dem die Furcht vertrieben wird! Dies wird durch einen pochenden, stark insistierenden Rhythmus in den Soloinstrumenten und im Continuo deutlich hörbar. Damit wird gleichsam ein „geistliches Hausverbot“ für die Furcht ausgesprochen. Dieses Friedenshaus der Hoffnung entsteht dann auch nochmals instrumental, wenn die Solovioline am Ende des Ritornells einen Tonraum von zwei majestätisch ausgreifenden Oktaven umschreibt (T. 91–94). Das folgende Rezitativ ist einer der aufregendsten und anrührendsten Sätze Bachs. Seine Musik „inszeniert“ das Evangelium, indem sie die theologisch zentrale promissio als Stimme vom Himmel her62 in einer Weise zur Geltung bringt, die nicht nur die glaubensstarke Hoffnung, sondern auch die glaubensschwache Furcht von der Gnade Gottes zu überzeugen vermag. Die Zusage aus Apk 14,13, die in kurzen ariosen Teilen das von verminderten Akkorden geprägte Secco der Furcht immer wieder unterbricht, wird dreimal im besten Sinne des Wortes entfaltet: a) Selig sind die Toten (D-Dur) b) Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben (E-Dur) c) Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, von nun an. (C-Dur → E-Dur) Jedes Mal wendet sich das Arioso von vorangegangenem Moll nach Dur (D-Dur: T. 5–9; E-Dur, T. 18–22; G-Dur T. 31–39); allerdings ist das letzte harmonisch am Ende so erweitert (u. a. mit neapolitanischem Sextakkord, T. 43), dass die festgefügte fünftaktige Form der ersten beiden Ariosi gesprengt wird. Man hört hier förmlich noch einmal, wie Tod und Todesfurcht in den Sieg hineingezogen werden. Diese 14 Takte sind gleichsam das theologische Zentrum der Kantate, hier geschieht förmlich das, was am Karsamstag ein für allemal geschehen ist, und

62 Bach nimmt damit eine Tradition auf, die wir schon in Heinrich Schützens Musikalischen Exequien (Teil III) vorfinden. Dort werden diese Worte von einem Soloterzett oder Favoritchor dem fünfstimmigen Capellchor (Nunc dimittis) entgegen gesungen. Petzoldt I, 658, weist treffend darauf hin, dass die Stimme des Basses bei Schütz als eine „beata anima“, verstanden wird, die in das Solo der Seraphim einstimmt, also nicht als vox Christi fungiert.

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Der offenbare Gott spricht frei und rettet

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woran wir teilhaben.63 Mit dieser durch die Stimme Gottes gestärkten Gewissheit kann man getrost vor Gottes Thron treten. Dies verifiziert sich im Folgenden: Hatte die Furcht unmittelbar vor dem letzten Einwurf der vox Christi noch geäußert: „Wenn ich im Herren sterbe, ist dann die Seligkeit mein Teil und Erbe?“ So bekennt sie, durch die Zusage gestärkt und nunmehr hoffnungsvoll gestimmt, als menschliche Stimme, die nun auch die gleichsam schizophrene Spaltung von Furcht und Hoffnung aufgibt: Wohlan, soll ich nun selig sein: So stelle dich, o Hoffnung, wieder ein. Mein Leib mag ohne Furcht im Schlafe ruhn, der Geist kann einen Blick in jene Freude tun.

Dabei wendet sich die Harmonik von einem eher verhaltenen E-moll in ein versöhnlich-seliges D-Dur. Wichtig für unsere Untersuchung ist, dass hier, in der gläubigen Annahme des Trostes, der vom Himmel kommt, sich der Affekt der Freude (vgl. T. 51) als Geschenk des heiligen Geistes wieder einstellt; ein Hinweis darauf, dass Gnade substantiell mit Freude zu tun hat und Freude die Furcht vertreibt64 und sich dann mit der Hoffnung verbindet. Jetzt könnte der Choral von Rist (in D) mit seiner letzten Strophe (vgl. BWV 20,11) folgen. Doch Bach bzw. sein Dichter schließen mit Burmeisters/Ahles Es ist genung (letzte Strophe), so dass das bedrohliche O Ewigkeit du Donnerwort suspendiert, ja gleichsam in die Ewigkeit „aufgehoben“ wird: Die vierte Note des zweiten Teils der ersten Choralzeile a-h – cis-d ist (wie ähnlich schon in Satz 2) sinnenfällig nach oben (!) zum dis alteriert. Sie bildet das ab, was in der Kantate mit den menschlichen Affekten passiert ist. Die Furcht wurde durch die göttliche Stimme vom Himmel nach oben gezogen und in freudige Hoffnung verwandelt. Doch diese Stelle allein wäre nicht ausreichend, um die „meisterliche Wahl“ dieser Choralstrophe am Ende dieser Kantatenmusik zu beschreiben. „Innerhalb der sehr kurzen Spanne eines Schlußchorals werden die inhaltlichen Spannungen der gesamten Kantate erneut in Erinnerung gerufen, jedoch am Ende […] durch einen beruhigenden Charakter zum Einverständnis geführt.“65 Auch der (har­ monische) Satz birgt einige Schätze in sich und ist eines der wenigen Beispiele, wo wir in einem Kantionalsatz tatsächlich echte Figuren finden.66 Z. B. setzt das Verbum „fahren“ (im Sinne einer unmittelbar wirkenden Hypotyposis)67 eine Achtelbewegung im Bass in Gang (T. 12 f); das sich herabneigende „Gefallen Gottes“ ist durch eine katabasis abgebildet, die über den Tonraum einer Dezime nach unten

63 Dass Bach hier 14 Takte wählte, ist möglicherweise kein Zufall, die Zahl 14 ist die Summe seiner Initialen nach dem Prinzip des kabbalistischen Zahlenalphabets. Sie findet sich bekanntlich auch in der ersten Melodiezeile seiner letzten Choralbearbeitung Vor deinen Thron tret’ ich hiermit (BWV 668). Vgl. ähnlich Meyer, 74, der mit zahlensymbolischen Aussagen sonst sehr zurück­ haltend ist. 64 Vgl. Gal 5,22 bzw. die griechische Verwandtschaft der Begriffe charis=Gnade und chara= Freude, vgl. Arnold, 75–80, in Aufnahme des orthodoxen Theologen Nissiotis. 65 Vgl. Petzoldt I, 659. 66 Vgl. Schmitz, 51–57. 67 Vgl. Schmitz, 52.

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Gesetz und Evangelium in Bachs Kantaten

fällt (T. 3). An der Stelle „mein großer Jammer bleibt darnieden“, rückt bei Jammer der Satz über dem Passus duriusculus im Bass von Fis-Dur in ein entferntes d-moll (mit Sext), eine kühne Pathopoeia, eine den Affekt des Schmerzes und der Klage unmittelbar hervorrufende Figur.68 Vergleichen wir beide Kantaten unter dem Titel O Ewigkeit, du Donnerwort, so lässt sich im Blick auf die Widerfahrnisse Gesetz und Evangelium sagen, dass das letztere in BWV 60 klar zu Wort kommt und die Gesetzesverkündigung zu guter Letzt im besten Sinne des Wortes aufhebt, während in der Schwesterkantate BWV 20 die Schärfe der Gerichtsverkündigung, das opus alienum Christi69 (vgl. das altkirchliche Evangelium Lk 16), ungemildert stehen bleibt. Diese unterschiedliche Akzentuierung ist von den beiden Sonntagsevangelien her sach­ gemäß: Denn in der Auferweckungsgeschichte aus Mt 9 wird die Todesmacht von Christus besiegt und in ihre Schranken gewiesen.70 Bach erweist sich, was am Beispiel dieser beiden Kantaten unschwer abzulesen ist, als aufrichtiger Verkündiger und kongenialer Exeget des biblischen Wortes. Dies geschieht allerdings nicht in dem Sinne, dass Bach und seine Dichter nur Evangelium verkündigten, sie nehmen auch das Gesetz in der Verkündigung ernst. Damit leisten sie einen bleibenden Beitrag zur theologischen Diskussion und wehren dem Trend, biblische Aussagen vom Gericht und Welterfahrungen des Gesetzes vorschnell vom Bekenntnis zum liebenden Gott zu trennen. Für uns ist BWV 60 ein hilfreiches Beispiel dafür, wie wir mit Ängsten und Nöten von Menschen im Sinne einer musikalischen Seelsorge umgehen können, indem beide Seiten, die Angst und die Hoffnung, zu Wort kommen, aber auch der Trost nicht verschwiegen wird. Bachs Musik wird auf diese Weise zu einem seelsorglichen Ereignis.71 Sie löst Tränen aus, wischt sie aber auch wieder ab.72 Meinrad Walter hat zurecht darauf hingewiesen, dass sich Bachs Musik als cogitatio aeternitatis begreifen und insofern auch in den Dienst einer ars moriendi nehmen lässt, die nicht nur im Kasualgottesdienst oder in der persönlichen Seelsorge, sondern eben auch im Kirchenjahr ihren Ort hat (insbesondere am 16. und 24. Sonntag n. Trin.).73 Meine

68 Vgl. Schmitz, 52: „Das ist madrigaleske Oratorie. Sie beschreibt durch eine affekthaltige Figur den Jammer, auch wenn er nach dem Sinn des Satzes schon abgestreift ist.“ 69 Vgl. FC V, BSLK 790–792. 70 Vgl. Walter, 177: „Weil die neutestamentlichen Auferweckungszeugnisse davon erzählen, wie diese Begegnung [mit Christus] Leben schenkt, nähert sie dem, der sie ‚geistlich‘ auf sich bezieht, die Hoffnung auf ewiges Leben“. 71 Vgl. dazu grundsätzlich, Heymel, 175–197 bzw. speziell 304–313. 72 Vgl. Walter, 180: „Ewigkeit ist zudem etwas ‚Zweifaches‘, denn das ‚ewig, ewig‘ des Jüngsten Tages wird ‚als ein zweischneidig Schwert durch Marck und Bein durchdringen‘ wie es Johann ­Olearius […] formuliert.“ So verstanden birgt Ewigkeit die Möglichkeit des doppelten Ausgangs (vgl. Mt 25). Entscheidend ist dabei die Frage, ob sich der angefochtene Glaube an den Richter oder an den Retter Jesus Christus hält. 73 Vgl. zum 16. Sonntag n. Trin.: Mautner, Sterbekunst. Wenn wir die agendarischen Vorgaben des EGB zum 24. Sonntag betrachten, können wir dieses Proprium (neben dem Evangelium aus Mt 9) bis heute im Introitus aus Ps 39, im Leitvers für den Sonntag (Röm 14,9), dem Wochenlied „Mitten wir im Leben sind“ und in der alttestamentlichen Lesung aus Koh 3 finden. Leider kommt der 24. Sonntag n. Trin. nur in den Jahren vor, in denen Ostern vor dem 27.3. liegt.

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Erfahrung mit dieser Kantate bei Seminaren mit Haupt- und Nebenamtlichen deckt sich mit der Einschätzung Walters: Bachs „musikalisch-textliche[s] Sprechen vom Tod ist bis heute rezipierbar, weil es den Menschen ernst nimmt, vor allem in seiner Zeitlichkeit. Die ‚Furcht‘ wird nicht ‚dogmatisch‘ (im Sinne Kants) ersetzt durch die ‚Hoffnung‘, sondern es vollzieht sich ein Ringen hin zur Integration; […]. Die Dialektik von Leben und Tod hat sich für uns entfaltet in ‚objek­ tiver‘ Richtung: Zeit und Ewigkeit; sowie in subjektiver Richtung: Furcht und Hoffnung. […] Die Integration, die Bach dabei sucht, wird nicht irgendwie ‚gesetzt‘, sondern sie vollzieht sich zeitlich-dramatisch in der ‚Zeitkunst‘ Musik.“74 Von daher ist eine Aufführung dieser Kantate grundsätzlich an verschiedenen Stellen im Kirchenjahr denkbar, besonders gut aufgehoben wäre sie m. E. am Ewigkeitssonntag, gefeiert als Gedenktag der Entschlafenen,75 weil sie so den Angehörigen von Verstorbenen großen Trost spenden kann. Die Predigt könnte zugunsten der äußerst wirkungsvollen musikalischen Verkündigung, die ja nichts Anderes als eine „Trialog-Predigt“ ist, stark zurück genommen werden. Eine Besonderheit könnte die Verlesung der Namen der Verstorbenen zwischen Satz 4 und 5 sein, nachdem das dreifache „Selig sind die Toten“ (Satz 4) erklungen ist: Lesung I (z. B. Psalm 90) – Kantate Satz 1 – Lesung (z. B. Epistel Phil 1,21–26 oder Evangelium Joh 5,24–29) – Kantate Satz 2 und 3 – Predigt – Kantate Satz 4 – Verlesung der Namen der Entschlafenen – Satz 5 (Choralsatz evtl. mit Gemeinde) 



74 Walter, 182. 75 Vgl. EGB, 484 f.

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III. Gelassenes Gottvertrauen (Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten) 5. „Der alles hat, regiert und trägt“ – Der offenbare Gott waltet, bewahrt und begleitet Neben der nunmehr vorgestellten Gerichtstopik bzw. der Dialektik von Gesetz und Evangelium, thematisieren zahlreiche Kantaten Bachs auch Gottes bewahrendes Schöpfungs- und Welthandeln. Sie führen uns in die facettenreiche Lehre vom primus usus legis und eröffnen die Diskussion um den dogmatisch und ethisch aufregenden Topos von der göttlichen Providenz, zu der klassischerweise conservatio mundi, concursus divinus und gubernatio mundi gehören.1 Hier geht es nicht um das anklagende Gesetz, sondern um die der Schöpfung innewohnende göttliche Ordnung, die Leben ermöglicht und sichert. Dazu gehört auch der Segen Gottes für das gesellschaftliche Leben in den Ständen Kirche, Politik und Familie.2 Hier werden Gesetz und Evangelium zuweilen Geschwister, was auch für die Lehre von den zwei Regimenten in der Tradition Luthers gilt.3 Hermeneutisch betrachtet sind diese Kantaten in der Regel „niederschwelliger“ als die bis jetzt betrachteten Stücke, da sie zum einen näher an der Lebenswelt der Menschen und zum anderen theologisch weniger interpretationsbedürftig sind. Die Thematik der Providenz Gottes erklingt z. B. in Vertonungen von Psalm 23, der am Sonntag Misericordias Domini seinen Sitz im Kirchenjahr hat, aber darüber hinaus auch für die protestantische Frömmigkeit im Lebenszyklus (Kasualien) und die persönliche Spiritualität eine zentrale Rolle spielt. In diesen Kantaten steht das Moment der Bewahrung, Leitung und Fürsorge Gottes im Sinne der conservatio Dei im Mittelpunkt. Um Gottes Segen und Geleit für Ehe und Familie (concursus divinus) geht es in den Kantaten, die für eine Trauung geschrieben wurden. Geistliches und weltliches Regiment, d. h. Gottes Handeln in der Ge 1 In Anlehnung an Schmid, 117 (§ 21) unterscheiden wir im Folgenden drei Aspekte: Conser­ vatio, Concursus und Gubernatio. Conservatio oder creatio continuata meinen das von Gott gewährte Fortbestehen aller Kreaturen, Concursus Gottes Teilhabe (wörtlich: „Mitlaufen“) am Geschichtsprozess (also keinen Determinismus) und Gubernatio Gottes Weltregiment. 2 Vgl. dazu Bayer, Theologie Luthers, 110–139 bzw. zum Segen, Arnold, 433–460, mit besonderer Betrachtung der Ehe, 448 und 454. 3 Vgl. Bayer, Theologie Luthers, 281–296, bes. 289: „Gott regiert im Weltlichen wie im Geist­ lichen; es sind beides seine und nur seine Regimente. Verschieden sind jedoch die Art und Weise seiner Herrschaft.“ Grenze für die Befugnis menschlicher Regierungsgewalt ist das Gewissen, das den Geboten Gottes verpflichtet ist (vgl. die sog. clausula Petri Act 5,29: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen.).

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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

schichte (gubernatio Dei) kommen besonders in den Kantaten zum Ratswechsel vor. Wir denken dabei an folgende Kompositionen: Conservatio mundi Du Hirte Israel, höre (BWV 104); Misericordias Domini4; Es wartet alles auf dich (BWV 187), 7. Sonntag n. Trin. Gubernatio mundi Der Herr denket an uns (BWV 196); Herr Gott, Beherrscher aller Dinge (BWV 120a); Gott ist unsre Zuversicht (BWV 197), alle Trauung Concursus divinus Preise, Jerusalem, den Herrn (BWV 119); Ratswechsel; Nur jedem das Seine: (BWV 163) zum 23. Sonntag n. Trin.

5.0 Ich habe meine Zuversicht (BWV 188) – Hinführung zum Topos der providentia Dei Der spirituelle Grundtenor aller nun zu untersuchenden Kantaten lässt sich mit dem, was man volkstümlich als Gottvertrauen bezeichnet und sich in Situationen der Bedrängnis als Hoffnung5 artikuliert, treffend beschreiben. Gleichsam als Hinführung soll dazu die 1728 als Komposition des vierten Kantatenjahrgangs6 entstandene Kantate Ich habe meine Zuversicht (BWV 188) für den 21. Sonntag n. Trin. betrachtet werden, deren Überlieferung allerdings zahlreiche Rätsel aufgibt.7 Der Text stammt von Christian F. Henrici alias Picander. Der Text lautet: 1. Sinfo nia 2. Ar ia (Teno r) Ich habe meine Zuversicht auf den treuen Gott gericht’, da ruhet meine Hoffnung feste.     Wenn alles bricht, wenn alles fällt,     wenn niemand Treu und Glauben hält,     so ist doch Gott, der allerbeste.

3. Rezit ativ (B a ss) Gott meint es gut mit jedermann auch in den allergrößten Nöten. Verbirget er gleich seine Liebe, so denkt sein Herz doch heimlich dran, das kann er niemals nicht entziehn; und wollte mich der Herr auch töten, so hoff ich doch auf ihn. Denn sein erzürntes Angesicht



4 Ich bin ein guter Hirt (BWV 85), die dritte Kantate für diesen Sonntag, deren Text auf Mariane v. Ziegler zurückgeht, ist stark christologisch geprägt. Dies zeigen insbesondere die einzelnen Arien: „Ich bin ein guter Hirt“ (Joh 10,11); „Jesus ist ein guter Hirt“; „Der Herr ist mein getreuer Hirt“ (Choral). 5 Insofern steht das im Folgenden Betrachtete im Gegensatz zu den unter 3. erörterten Kantaten, in denen der Affekt der Angst im Vordergrund steht. 6 Vgl. Schulze, 474: „Bis heute ist die Forschung uneins darüber, ob die 1728/29 in vier Teilen erschienenen und anschließend noch einmal in neuer Anordnung gedruckten Texte die Basis für Bachs vierten Leipziger Kantatenjahrgang abgegeben haben, oder ob der Thomaskantor es mit einer Auswahl aus Picanders Angebot hat bewenden lassen. Sollte Bach Picanders Textjahrgang in toto in Musik gesetzt haben, so wäre dieser Bereich seines Œuvres als größtenteils verloren anzusehen.“ 7 Vgl. dazu Schulze, 475 bzw. Dürr, 675.

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Der offenbare Gott waltet, bewahrt und begleitet ist anders nicht als eine Wolke trübe, sie hindert nur den Sonnenschein, damit durch einen sanften Regen der Himmelssegen um so viel reicher möge sein. Der Herr verwandelt sich in einen Grausamen, um desto tröstlicher zu scheinen. Er will, er kanns nicht böse meinen. Drum lass ich ihn nicht, er segne mich denn. 4. Ar ia (Al t) Unerforschlich ist die Weise, wie der Herr die Seinen führt.     Selber unser Kreuz und Pein     muss zu unserm Besten sein     und zu seines Namens Preise.

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5. Rezit ativ (S opran) Die Macht der Welt verlieret sich. Wer kann auf Stand und Hoheit bauen? Gott aber bleibet ewiglich. Wohl allen, die auf ihn vertrauen! 6. Cho ral Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not; Er kann mich allzeit retten aus Trübsal, Angst und Nöten; mein Unglück kann er wenden, steht alls in seinen Händen.

a) Theologische und hermeneutische Überlegungen Gerade weil die Kantate durch das Proprium des Sonntags (Joh 4) weniger geprägt ist,8 hat sie für uns paradigmatischen Charakter. Sie beschreibt Gott in den Ecksätzen allgemeingültig als den „treuen“, „allerbesten“ (Satz 2) und „lieben Gott“ (Schlusschoral), der aus Angst und Not retten und dadurch Unglück wenden kann (vgl. Ps 62). Bemerkenswert ist der gänzliche Verzicht auf christologische oder pneumatologische Aussagen, was unsere Einordnung in den ersten Artikel bzw. den Topos des primus usus legis bzw. in das schöpfungstheologische Lehrstück der providentia Dei rechtfertigt, obwohl mit dem Verb retten (Satz 6) ein soteriologischer Ton mitschwingt. Zentral scheint uns das Verb führen (Satz 4), das die hermeneutische Basis für alles darstellt. Auf der anthropologischen Seite entsprechen sich in den Ecksätzen Hoffnung und Furcht als die zwei antithetischen auf Zukunft ausgerichteten Grundaffekte.9 Das Verb „vertrauen“ in Satz 5 korrespondiert mit dem Leitbegriff der „Zuversicht“ (Kopfsatz). Für unsere Untersuchung zentral ist, dass in Satz 3 die Verborgenheit bzw. der Zorn Gottes gleichsam als Schattenseite der Güte Gottes anklingen,10 dann aber am Ende wieder aufgehoben werden, wenn Gottes eigentliches „Gesicht“ erkennbar wird.11 Die theologischen und spirituellen Aussagen scheinen nicht exklusiv auf den kirchlichen Binnenraum beschränkt zu sein, sondern richten sich an „jedermann“ (Satz 3),

8 Vgl. Dürr, 675 f, der von einer „unverbindlichen Anknüpfung“ spricht, während Schulze, 475 (wie mir scheint zu Recht) einen „Konnex zur Lesung“ gänzlich abstreitet. 9 Vgl. oben 1.7.1 zur Affektenlehre (mit Hinweis auf Luthers 2. Psaltervorrede von 1528) bzw. oben 4.2 zur Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60). 10 Vgl. ausführlich oben Kapitel 2 und 3. 11 Petzoldt I, 607 entdeckt in Satz 3 eine enge Anlehnung an das Evangelium aus Joh 4, die mir nicht recht einleuchtet, auch wenn der „Gedankengang“ verwandt sein könnte. Näher liegt vielmehr eine (von Petzoldt I, 604 f ebenfalls wahrgenommene) deutliche Anspielung auf Jes 54,7 f bzw. auf Hos 6,5 („Gott tötet durch das Wort seines Mundes“) vor.

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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

an alle, „die auf ihn vertrauen“ (Satz 5). Biblischer Hintergrund ist die „dunkle“ Perikope des nächtlichen Gotteskampfes Jakobs am Jabbok, auf den wörtlich angespielt wird: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (Gen 32).12 Interessant ist zuletzt, dass die ganze Dichtung konsequent nur über Gott spricht (3. Pers. Sg.), also sowohl eine unmittelbare Anrede der Gemeinde als auch ein Gebet vermeidet. b) Poetisch-musikalische Beobachtungen Die einleitende Sinfonia geht auf Satz 3 eines Violinkonzerts (BWV 1052) zurück, das weitgehend verschollen ist.13 An Satz 2 fällt angesichts des beschwingte 3/4Taktes in F-Dur eine gewisse tänzerische Leichtigkeit und Abgeklärtheit auf, die Dürr mit der Polonaise der 6. Französischen Suite Bachs in Verbindung bringen will.14 Auffällig ist der Umgang mit dem Metrum, das sich immer wieder hemiolisch zum 3/2-Takt verschiebt. Bach signalisiert damit, dass jemand, der auf Gott vertraut, seinen Anker in unterschiedlichen Lebenssituationen finden kann. Zu Beginn sticht die oktavierende Verdopplung der Singstimme durch die Oboe ins Auge (T. 15–21). Bachs theologisches Interesse gilt offensichtlich dem zentralen Affekt der Hoffnung, die entweder mit der Freude (vgl. Koloraturen und Anabasis in T. 53) oder aber mit „Ruhe“ und „Festigkeit“ verbunden ist, die durch lange Liegetöne abgebildet werden. Der B-Teil ist beinahe tonmalerisch zu nennen und bildet zum Vorigen einen scharfen Kontrast: An der Stelle „Wenn alles bricht, wenn alles fällt“ „fallen“ Achtelketten in d-moll und A-Dur in der Oboe in Dreiklängen abwärts; die hohen Streicher spielen dazu unisono in Sechzehnteln und lassen damit die Erde „beben“. In Satz 3 können wir einmal mehr Bach als genialen Interpreten seiner Dichtung entdecken:15 Nach 19 Takten einer meditativen Reflexion über Gottes Geschichtshandeln, bei der besonders die dunklen Seiten Gottes durch scharfe Dissonanzen angezeigt werden (vgl. T. 7 „töten“; T. 16 „Grausamen“),16 wird – analog zum poetischen Wechsel des Versmaßes (Daktylus statt Jambus) – aus dem Secco ein lyrisches Arioso. Das Bekenntnis „Drum lass ich ihn nicht, er segne mich denn“ wird dabei dreimal präsentiert. Das Verb „segnen“ ist dabei im mittleren Glied durch eine brillante Koloratur geschmückt (mit dreifacher Climax und nachdrücklicher Syncopatio, T. 24–26). Petzoldt vermutet, dass die Anspielung auf Gen 32,27 durch die Musikalisierung Bachs gleichsam eine trinitarische Ent­faltung impliziert, „wobei dem mittleren Glied – der Bitte an die Sohnes­

12 Vgl. dazu Schütz, Musikalische Exequien, Teil I und BWV 23,2 bzw. in der Bildenden Kunst: HAP Grieshaber, Jakob ringt mit dem Engel (1977, VG-Bild-Kunst, Bonn 2003, vgl. Bayer, Theologie Luthers, 183). 13 Vgl. Dürr, 675 mit Hinweis auf NBA VII/7, 3 ff bzw. Schulze-Wolff, Bach-Compendium, 653. 14 Vgl. Dürr, 676. Vgl. dgg. Schulze, 476, der darin eine Sarabande erkennen möchte. 15 Petzoldt sieht in dieser Schilderung eine unmittelbare Anspielung auf den Vater des tod­ kranken Kindes aus dem Evangelium nach Joh 4. Ich halte dies angesichts fehlender Zitate nicht unbedingt für zwingend. 16 Vgl. dazu ausführlich die in Kapitel 2 dargestellten Kantaten.

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person der Trinität  – nicht nur eine Wiederholung der Segensbitte, sondern auch ihre Kolorierung zuteil wird.“17 Die Wendung „er kanns nicht böse meinen“ ist eine wörtliche Anspielung auf Paul Gerhardts Nun lasst uns Gott dem Herren.18 Die zweite Arie mit obligater Orgel und solistischem Cello ist rhythmisch und melodisch äußerst reizvoll19 gestaltet: „Mit schweifender, instabiler Melodik und vertrackter Rhythmik bewegt sich das Arienritornell […] auf verschlungenen Pfaden, bis es überraschend die Ausgangstonart zurückgewinnt.“20 Nach dem affirmativen Bekenntnis des vorangegangenen Satzes überrascht das in der Singstimme artikulierte Suchen nach dem „unerforschlichen Wirken“ Gottes (vgl. T. 9 u. ö.), das durch Chromatismen und harte Sprünge (vgl. T. 26; T. 28 f) melodisch abgebildet wird.21 Der virtuose Orgelpart mit seinen komplexen Rhythmen (Achtel, Sechzehntel-Duolen und -Triolen, Zweiunddreißigstel) unterstreicht dies: Bach drückt damit musikalisch aus, dass Gottes Geschichtswalten eher rätselhaft als eindeutig ist und sich (im Gegensatz zur Offenbarung in Christus) oft nur schwer als gütiges oder gar gnädiges Handeln Gottes begreifen lässt. Der spirituelle Schlüssel, das rätselhafte Geschichtswalten Gottes geistlich zu deuten, sind „Kreuz und Leiden“ (Christi), die es anzunehmen gilt. Dies gereicht Gott zur Ehre, geschieht zu seinem Lob. Bach drückt dies in Analogie zum Verb „segnen“ im vorigen Satz wieder durch umfangreiche Koloraturen (T. 44 f)  auf dem doxologischen Zentralbegriff „Preis“ (vgl. besonders die schöne Anabasis in T. 45) aus. Das anschließende Rezitativ des Solosopran kontrastiert die Sphäre der Welt, deren Macht dahinschwindet, mit der Hoheit Gottes, die ewig bleibt: Während in T. 2 f der Sopran symbolischerweise unbegleitet von der Welt singt, deren Macht sich verliert, spannt sich in T. 4 f dagegen eine lange Haltenote als Symbol des „Bleibens“ Gottes in den Streichern auf. Das Accompagnato schließt mit einer Seligpreisung („Wohl allen“), deren vokaler Wohlklang durch homorhythmische Achtelbegleitung in den Streichern verstärkt wird. War in Satz 3 die Bitte um den „Himmelssegen“ im Vordergrund, so findet hier eine performative Seligpreisung des glaubenden Menschen statt, die in Analogie zum Sprechakt des Segens zu begreifen ist.22 Im Schlusschoral, einem persönlichen Vertrauensbekenntnis, das zugleich Akklamation der Gemeinde ist und alles Vorige treffend zusammenfasst23, klingen Angst und Not durch Chromatismen und harmonisch aufgeladene Sept­

17 Petzoldt I, 607. Auch dazu fehlen m. E. explizite christologische Bezüge in den benachbarten Sätzen. 18 Vgl. EG 320. 19 Vgl. Dürr, 677. 20 Schulze, 476. 21 Demgegenüber wird Gottes Leitung poetisch durch den verwaisten Reim: „wie der Herr die Seinen führt“ besonders hervorgehoben. 22 Vgl. Arnold, Segen bzw. Arnold, 435–440. 23 Dazu gehört auch die Stichwortverbindung: „Wohl allen, die auf ihn vertrauen“ (Satz 5) mit „Auf meinen lieben Gott, trau ich …“.

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akkordrückungen nochmals an, ehe am Ende in den letzten Takten alles wieder in Gottes Hand gelegt wird, was ein versöhnliches A-Dur eindrücklich unterstreicht. Zuvor findet beim Text „wenden“ eine Art musikalischer „Wende“ statt, indem Bach den Tenor durch eine emphatische Syncopatio und die anderen Unterstimmen durch eine Achtelbewegung besonders hervorhebt. c) Liturgische Erwägungen Im Blick auf eine liturgische Inszenierung dieser Kantate ist eine Anbindung an den 21. Sonntag n. Trin. heute nicht notwendig, ja kaum mehr sinnvoll, da es nur wenige Anklänge an das altkirchliche Evangelium aus Joh 4,47–54 gibt und im Ev. Gottesdienstbuch die Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,38–42) das Proprium vorgeben, was noch weniger zum Inhalt passt.24 Besser geeignet scheint uns die Einbettung in einen thematischen Gottesdienst, in dem es um die Fürsorge und Leitung Gottes in schwierigen Lebenssituationen geht,25 ein Thema, das Menschen im Kreis der Kerngemeinde, aber auch unter den kirchlich Distanzierteren beschäftigt. Unter der Überschrift Dennoch auf Gott vertrauen könnte man auch an eine Trauerfeier bzw. einen Bestattungsgottesdienst denken. Im Zusammenspiel mit Ps 139 (bzw. Ps 73), Gen 32, Jes 54 oder auch Mt 24,35 (vgl. Satz 5) scheint mir folgende Dramaturgie sinnvoll: Ps 139 (in Auszügen)  – Kantate Satz 2  – Alttestl. Lesung: Gen 32 oder Jes 54,7–10 – Kantate Satz 3 und 4 – Predigt I – Credo – Kantate Satz 5 – Predigt II (evtl. mit Mt 24,35) – Satz 6

5.1 „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ – Gottes Fürsorge und Bewahrung (conservatio) Die Thematik der Bewahrung und Fürsorge Gottes lässt sich unschwer mit dem Bild des guten Hirten und des „Gastgebers“ (Psalm 23) verbinden. Eine Kantate zu Misericordias Domini, dem 2. Sonntag n. Ostern, soll deshalb hier erwähnt und kurz erklärt werden. Trotz des christozentrischen Evangeliums, der Hirtenrede nach Joh 10 mit dem berühmten Ich-bin-Wort, das auch bei vielen Bestattungen eine wichtige Rolle spielt, ist das christologische Proprium hier eher zurückgenommen.26



24 Vgl. dazu EGB 392 f. 25 Denkbar wäre hier der 15. Sonntag n. Trin. mit dem Evangelium aus Mt 6,25–34 (vgl. EGB 378, bzw. 2.5). 26 Vgl. dazu EGB 326 f. Alttestamentliches Paradigma ist neben dem Leitpsalm 23 die Hirtenrede aus Ez 34. Die Epistel steht in 1 Petr 2,21–25 (Taufbekenntnis). Die christologische „Zurückhaltung“ gilt übrigens nicht für BWV 85, Ich bin der gute Hirt, eine Kantate, die ganz eindeutig vom Evangelium aus Joh 10 her gestaltet ist.

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5.1.1 Du Hirte Israel, höre (BWV 104) Eine der schönsten Kantaten Bachs überhaupt ist Du Hirte Israel, höre (BWV 104). Sie entstand im ersten Jahr seines Leipziger Thomaskantorats zum 23. April 1724. Hier finden sich unter dem großen Hauptnenner des „guten Hirten“ theologische Aussagen zur Güte Gottes bzw. zur providentia Dei, wobei Aspekte des verborgenen und des gnädigen Gottes ebenfalls anklingen. „Das bukolische Bild vom Hirten und seinen Schafen bleibt während des gesamten Kantatentextes präsent.“27 Der Eingangschor auf Worte aus Psalm 80,2, einem Klagelied des Volkes,28 lautet: 1. Cho r Du Hirte Israel, höre, der du Joseph hütest wie der Schafe, erscheine, der du sitzest über Cherubim.

Der Eingangschor ist in Anlehnung an den „bukolischen Text“ im Stil eines Pastorale „mit ländlichem Kolorit“29 gehalten. Dazu trägt insbesondere der 3/4-Takt mit Triolenachteln, also gleichsam ein 9/8-Takt, und die Instrumentierung mit drei Oboen bei. Die beschwörenden Imperative „Höre“ und „Erscheine“ sind jeweils durch ein abgesetztes Motiv (zwei Viertel bzw. zwei Viertel mit Achtelauftakt) herausgehoben. Sie erklingen meist in einem homophonen Ruf des ganzen Chores (vgl. T. 29 f; T. 32–36 und T. 50–52 u. ö.) oder allmählich gesteigert von einer einstimmigen bis zur vierstimmigen Aufforderung. Der eindringliche Ruf „erscheine“30 verdichtet sich so stark, dass er in T. 60–71 bzw. T. 91–105 in jedem Takt vorkommt. Inmitten des ruhig dahinfließenden Siciliano wirken diese Einwürfe energetisch aufgeladen, ja sind gleichsam die musikalische „Kraftquelle“ des Satzes.31 Der Bibelvers vereint theologisch beides, sowohl das Thronen des transzendenten Gottes („der du sitzest über Cherubim“) als auch das Geschichtswalten und die Fürsorge des geschichtlich offenbaren Gottes („der du Jospeh hütest wie die Schafe“). Bezeichnenderweise ist der zuletzt genannte Aspekt viel stärker ausgeleuchtet als der erste, er wird von Bach deutlich häufiger aufgenommen und sowohl im homophonen als auch im polyphonen Satz (inkl. Fuge, vgl. 52–71) durchgeführt. Der musikalische Satz weist eine rondoartige Struktur XABA’B’A’’ (Sinfonia – Chor – Chorfuge – Chor – Chorfuge – Chor) auf, es wechseln sich dabei homophone und polyphone Teile ab. Der letzte Halbsatz („der du sitzest …“) bekommt zweimal eine besondere musikalische Ausleuchtung: So hat der Chorsopran in T. 43 f. das „hohe“ Sitzen („über Cherubim“) abzubilden (Spitzennote g’’, T. 43 f), am Ende des Satzes, in T. 112, findet sich beim gleichen Text die Spitzennote a’ im Tenor.

27 Schulze, 204. Das Motiv des Herbergsvaters oder Gastgebers (vgl. Ps 23,4–6) kommt nicht vor. 28 Vgl. Seybold, 318: „Ps 80 ist das liturgische Klagegebet einer Gemeinde, die um Wieder­ herstellung ihres früheren Zustands bittet. 29 Vgl. Dürr, 341. 30 Zum Erscheinen Gottes bzw. Christi vgl. grundsätzlich oben Kap. 2.1 und 2.2. 31 Vgl. dazu Schulze, 206 bzw. Wetzel, Psalmen, 131–150, hier: 145.

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Das folgende Secco des Tenors fasst sprachlich beide theologischen Aspekte von Ps 80,2 unter dem Prädikat des „höchsten Hirten“ zusammen und bietet darüber hinaus Anklänge an Threni 3,23 („alle Morgen neu“) und 1 Kor 10,13 („Gott ist getreu“): 2. Rezit ativ (T eno r) Der höchste Hirte sorgt für mich, was nützen meine Sorgen? Es wird ja alle Morgen des Hirten Güte neu Mein Herz, so fasse dich, Gott ist getreu.

Das Theologumenon von der Treue Gottes passt nicht nur von der deutschen Etymologie her sprachlich zu den Aussagen von Psalm 23: Gottes Treue ermöglicht und trägt menschliches Vertrauen und äußert sich zuallererst in seiner Fürsorge (vgl. auch die Brotbitte des Vaterunsers, Mt 6,11). An der theologisch zentralen Stelle, dem Vertrauensbekenntnis „Gott ist getreu“, schlägt das Secco in ein Arioso um, das den Text „getreu“ dreimal emphatisch wiederholt, das letzte Mal mit einer das Herabneigen Gottes symbolisierenden Katabasis in der Singstimme. Die folgende Arie des Tenors lässt die Erfahrung der zeitweiligen Verborgenheit Gottes (vgl. Jes 54,7) anklingen,32 benennt also auf der Basis des Vertrauens auch die dunklen Seiten Gottes: 3. Ar ie (Teno r) Verbirgt mein Hirte sich zu lange, macht mir die Wüste bange, mein schwacher Schritt eilt dennoch fort. Mein Mund schreit nach dir und du, mein Hirte, wirkst in mir, ein gläubig Abba durch dein Wort.

Die den Eingangschor und auch wieder Satz 5 dominierende Hirten-Motivik (9/8-Takt bzw. 12/8-Takt) ist hier ausgeblendet, die beiden Oboi d’amore stellen ein klagendes Thema mit abgezogenen Lamento-Achteln vor, das über eineinhalb Oktaven als Anabasis flehend nach oben steigt. Bach konzentriert sich in seiner musikalischen Exegese besonders auf das Reimpaar „lange“ und „bange“: Das erste wird durch eine die Achtel-Zweierbindungen aufbrechende melismatische Wendung bzw. durch lange Haltenoten abgebildet, die immer wieder in einen Nonenvorhalt (T. 40 f) münden. Das Adjektiv „bange“ wird ebenfalls durch lange Melismen illustriert, die u. a. aus einer chromatisch absteigenden Figur (Passus duriusculus) zusammengesetzt sind. Im B-Teil schenkt Bach dem Verb „schreien“ besondere Beachtung, indem er durch aufsteigende Skalen und Sprünge (vgl. T. 26–29) das Flehen des Beters sinnenfällig macht.

32 Angesichts der in Satz 5 explizierten christologisch-ekklesiologischen Auflösung wird man auch hier an die nachösterliche Verborgenheit Christi (vgl. Meyer, Kirchenjahr, 30) denken dürfen, wie wir sie für den Sonntag Jubilate (vgl. oben 2.3) konstatiert haben.

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Das folgende Rezitativ des Basses drückt bereits wieder Vertrauen auf Gottes Handeln aus, das die Orientierungslosigkeit beeendet und den Angefochtenen wieder gläubig Abba (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6, vgl. Mt 6,9) rufen lässt. Die Meta­ phorik reicht von „meiner Seele Speise“ über „Labsal meiner Brust“ bis hin zur himmlischen „Weide“, womit ein eschatologischer Ton in die Dichtung kommt. Mit den Begriffen „Hirte“, „Weide“ und „Schafstall“ ist die Semantik des Hirtenbildes (vgl. Joh 10) wieder aufgenommen. Auffällig ist, dass über die Fürsorge Gottes hinaus auch soteriologische Töne anklingen: 4. Rezit ativ (B a ss) Ach33 sammle nur, du guter Hirte, uns Arme und Verirrte; ach! Lass den Weg nur bald geendet sein, und führe uns in deinen Schafstall ein.

Die berückend schöne Bass-Arie (12/8-Takt, Pastorale)34 vertieft diesen Gedanken in Form einer predigtartigen Anrede der Gemeinde. Was im Eingangschor noch „offen blieb“ und lediglich als Bitte formuliert wurde, wird hier durch die Zusage des Evangeliums, und zwar einmal mehr durch die Bassstimme, vergewissert.35 Psalm 23, insbesondere V1–2 und V6, wird von Joh 10 her christologisch – nur hier taucht in der ganzen Kantate der Name Jesu auf – verstanden und eschatologisch expliziert. 5. Ar ie (Ba ss) Beglückte Herde, Jesu Schafe, die Welt ist euch ein Himmelreich. Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon und hoffet noch des Glaubens Lohn nach einem sanften Todesschlafe.

Die vergewissernde Botschaft lautet: Schon hier ist Jesu Güte zu schmecken, schon jetzt ist uns die Welt ein Himmelreich. Diese johanneisch anmutenden Aussagen unterscheiden sich deutlich von einer holzschnittartigen „Diesseits-JenseitsDialektik“, wie man sie in der Barockzeit sonst oft wahrnehmen kann. Vielmehr bringt der Satz treffsicher die eschatologische Spannung von „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ zur Geltung. Bachs größtes Interesse scheint in der Darstellung des Todesschlafes zu liegen, der gleichsam den Schnittpunkt von „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ markiert: Durch extreme Dynamik im pianissimo und einen „entrückt“ klingenden neapolitanischen Sextakkord (T. 38) „inszeniert“ Bach den Todesschlaf als spirituelles Mysterium und macht ihn durch lange, tiefe Liegetöne sinnenfällig (T. 38–40; 46, vgl. auch den Schlusston des B-Teils: Fis). Ihm

33 Der verminderte Septakkord im Continuo unterstreicht diese Exclamatio (vgl. noch stärker zuvor die Interjektion „Ja“ mit Spitzenton e’, T. 5). 34 Vgl. Schulze, 206: „Das in sich ruhende, gleichsam vollkommene 12/8-Taktmaß hat mit dem Hirtenmilieu allerdings nur mittelbar zu tun; es ist hier symbolisch gemeint und verkörpert das im Text apostrophierte ‚Himmelreich‘.“ 35 Vgl. dazu oben 2.2–2.4 und 4.2 bzw. die zentralen Sätze BWV 81,4; 154,5; 2,4; 21,7 f und 60,4.

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korrespondieren hohe Liegetöne auf dem Verb „hoffen“, womit gleichsam eine musikalisch-spirituelle Antithese geschaffen ist. Die Kantate klingt mit der ersten Strophe der Nachdichtung von Ps 23 durch Cornelius Becker (Melodie: Allein Gott in der Höh’ sei Ehr) aus. Der Choral ist gleichsam die Bekräftigung des in der Kantate ausgeführten Glaubensbekennt­ nisses als Vertrauensbekenntnis und stellt mit seinem klaren Bezug zu Ps 23 eine „alttestamentliche“ inclusio zum Eingangschor her. 6. Cho ral Der Herr ist mein getreuer Hirt, dem ich mich ganz vertraue, zur Weid er mich, sein Schäflein, führt, auf schöner, grüner Aue; zum frischen Wasser leit er mich, mein Seel zu laben kräftiglich durchs selig Wort der Gnaden.

Im Blick auf eine gottesdienstliche Aufführung der Kantate sind verschiedene Lösungen denkbar. Grundsätzlich ist der Sonntag Misericordias Domini dafür gut geeignet, es sind aber auch andere liturgische Anlässe denkbar, bei denen das Thema Vertrauen im Vordergrund stehen bzw. das Verhältnis zu Israel bedacht werden könnte (z. B. als Gottesdienst am Israelsonntag, evtl. mit Ez 34 als Predigttext). Im Blick auf das Verhältnis der Kirche zu Israel ist in jedem Falle sorgfältig zu überlegen, ob man die Kantate eher auf dem Hintergrund der Bildwelt des Alten Testamentes oder (evtl. schon ab Satz 2) dezidiert christologisch verstehen möchte. Eine schöne liturgische Pointe ist die Verknüpfung von Satz 3 („Und du, mein Hirte, würkst in mir / ein gläubig Abba durch dein Wort“) mit der Lesung des Evangeliums: Der Begriff „Wort“ in der Kantate löst dann gleichsam die Proklamation des göttlichen Wortes in der Lesung aus. a) Psalmlied EG 274 – Lesung Ez 34,10–16 – Kantate Satz 1 – Epistel 1 Petr 2, 21–25 – Kantate Satz 2–3 – Evangelium Joh 10,11–16 – Satz 4–5 – Predigt – Kantate Satz 6 – Credo b) Alttl. Lesung Ez 34,1–16.31 – Kantate Satz 1–3 – Evangelium Joh 10 – [Credo] – Predigt I – Kantate Satz 4 und 5 – [Predigt II] – Kantate Satz 6 – [Credo]

5.1.2 Es wartet alles auf dich (BWV 187) Als Beispiel für den dogmatischen Topos der conservatio mundi bzw. der bewahrenden Fürsorge Gottes soll nun die Kantate Es wartet alles auf dich (BWV 187) in den Blick kommen. Sie wurde zum 4. August 1726 komponiert und „gehört zu jener Gruppe Meininger Kantatentexte, die aus demselben Jahrgang stammen wie die der Kantaten Johann Ludwig Bachs“36. Poetisch haben wir eine „Spruch­

36 Vgl. Dürr, 505; Petzoldt I, 167 bzw. Wollny, 42.

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kantate“ vor uns, die wie zahlreiche andere aus dieser Zeit (vgl. BWV 17), aus zwei Teilen besteht, welche jeweils von einem Bibelwort des Alten und des Neuen Testamentes eingeleitet werden. Der zweite Teil  (Satz 4–7) wurde sub commu­ nione musiziert, wodurch der Text eine abendmahlstheologische Konnotation bekommt. Evangelium für den 7.  Sonntag n. Trin., der bis heute das Abendmahl zum Thema hat,37 war zur Bachzeit die Speisung der 4000 nach Mk 8,1–9, die im ganzen Werk nur schöpfungstheologisch, d. h. im Sinne der welterhaltenden providentia Dei (und nicht etwa soteriologisch oder abendmahlstheologisch) gedeutet wird. Zugleich klingt neben dem Thema „Erhaltung“ am Ende auch das Thema „Gehorsam“ bzw. „Leben nach Gottes Geboten“ (Satz 7, letzte Choralstrophe) an. Prima pars 1. Cho r Es wartet alles auf dich, dass du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit. Wenn du ihnen gibest, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt. 2. Rezit ativ (B a ss) Was Kreaturen hält das große Rund der Welt! Schau doch die Berge an, da sie bei tausend gehen; was zeuget nicht die Flut? Es wimmeln Ström und Seen. Der Vögel großes Heer sieht durch die Luft zu Feld. Secunda pars 4. Sol o (Ba ss) Darum sollt ihr nicht sorgen noch sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr dies alles bedürft. 5. Ar ie (S opran) Gott versorget alles Leben, was hienieden Odem hegt. Sollt er mir allein nicht geben, was er allen zugesagt? Ist auch meiner eingedenk und wird ob mir täglich neue durch manch Vaterliebs-Geschenk.

Wer nähret solche Zahl? Und wer vermag ihr wohl die Notdurft abzugeben? Kann irgendein Monarch nach solcher Ehre streben? Zahlt aller Erden Gold ihr wohl ein einig Mahl? 3. Ar ie (Al t) Du Herr, du krönst allein das Jahr mit deinem Gut. Es träufet Fett und Segen Auf deines Fußes Wegen, und deine Gnade ist’s, die allen Gutes tut. 6. Rezit ativ (S opran) Halt ich nur fest an ihm mit kindlichem Vertrauen und nehm’ mit Dankbarkeit, was er mir zugedacht, so werd ich mich nie ohne Hülfe schauen, und wie ich auch vor mich die Rechnung hab gemacht. Das Grämen nützet nicht, die Mühe ist verloren, die das verzagte Herz um seine Notdurft nimmt; der ewig reiche Gott hat sich die Sorge auserkoren; so weiß ich, dass er mir auch meinen Teil bestimmt.

37 Vgl. EGB 362 f.

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7. Cho ral Gott hat die Erde zugericht’, lässts an Nahrung mangeln nicht; Berg und Tal, die macht er nass, dass dem Vieh auch wächst sein Gras; aus der Erden Wein und Brot schaffet Gott und gibt’s uns satt, dass der Mensch sein Leben hat.

Wir danken sehr und bitten, dass er uns geb des Geistes Sinn, dass wir solches recht verstehn, stets in sein’ Geboten gehn. Seinen Namen machen groß in Christo ohn Unterlass: So singen wir das Gratias.

a) Poetische und theologische Beobachtungen Unsere Bemerkungen zur poetischen Gestalt fokussieren zunächst die biblischtheologischen Zusammenhänge: Pars prima wird – wie kaum eine andere Kantate Bachs38  – sprachlich von hymnischen Psalmtexten bestimmt. Vor allem Ps 104, der im Eingangschor mit V27 f wörtlich zitiert39 und im anschließenden Rezitativ40 madrigalisch paraphrasiert wird (V25 und V17), ist hier zu nennen. Satz 3 (Arie) lehnt sich an ein hymnisches Stück aus Ps 65 an, ein Loblied auf den Herrn der Ernte.41 Hier ist das persönliche Du der Gottesanrede aus dem Eingangschor (vgl. auch Satz 6) wieder aufgenommen. Betrachten wir die Kantate als poetisches Gesamtkunstwerk und die mannigfachen Bezüge innerhalb der einzelnen Sätze, so ist unschwer eine symmetrische Anlage zu erkennen. In der Mitte des siebensätzigen Werkes steht (zu Beginn des zweiten Teils) das neutestamentliche Diktum aus der Bergpredigt: „Darum sollt ihr nicht sorgen noch sagen: Was werden wir essen?“ (Mt 6,31 f). Das kausale „Darum“ verweist in der Kantate zurück auf den ersten Teil, der die Grundaussage hat: Gott sorgt für die Menschen, so wie er auch für die Kreatur sorgt. Um das zentrale Rezitativ ranken sich zwei Arien der beiden Solostimmen Alt und Sopran. Die erste preist Gottes gnädige Schöpfergüte, die „allen Gutes tut“ (vgl. Ps 65). Die zweite nimmt diese Aussage sinngemäß auf, führt das Stichwort „alle“ weiter aus und interpretiert Gottes Schöpfertreue in einer eigenartigen Wortverbindung als „Vaterliebs-Geschenk“. Man wird diese Arie daher als ein Vertrauensbekenntnis verstehen können. Kommen wir nun zum inneren Rahmen (Satz 2 und 6). Das auf den Eingangschor folgende Rezitativ enthält eine madrigalische Anknüpfung an Ps 104,12–20 (in Auszügen) und entfaltet Gottes Erhaltungshandeln in kosmologischer Weite. Am Ende wird es unter dem Stichwort „Notdurft geben“ zusammengefasst, das auch in Satz 6 wieder erscheint, dort allerdings ganz subjektiv auf den nehmenden glaubenden Menschen (und sein „verzagtes Herz“) bezogen. Diese Verklammerung macht jedenfalls deutlich: Schöpfung wird hier (Satz 2) als liber naturae

38 Vgl. BWV 190; 17; 69. 39 Bachs Dichter ersetzt „Gutes“ durch „Güte“, vgl. Petzoldt I, 168. Petzoldt deutet dies als eine theologische Akzentverschiebung, die das Thema „Erhaltung“ stärker machen soll. 40 Petzoldt I, 166 verweist auch auf Ps 50,10 (vgl. BWV 17). 41 Vgl. Arnold, 395–403, bzw. Seybold, 254: „Das Bild von der Krönung wurzelt im kutlischen Ritual. Der Anklang an das Herbstfest als Erntedank (Jahreswechsel?) ist deutlich.“

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begriffen,42 der zum Staunen und zur Erkenntnis der Offenbarung und Größe Gottes anleiten soll. Der zweite Teil des Rezitativs nimmt diese Denkbewegung auf und greift dazu auf neutestamentliche Weisheitstexte (Mt 6; Jak 2) zurück. Schon hier wird deutlich, dass aus der Betrachtung der Werke Gottes im Ganzen persönliche Konsequenzen gezogen werden sollen. Während Satz 2 weisheitlich-hymnisch „predigt“, also gleichsam eine explicatio bringt, entfaltet Satz 6 die applikative Antwort auf diese Anrede in Form eines Vertrauensbekennt­ nisses. Im Blick auf den äußeren Rahmen (Satz 1 und 7) scheint uns Petzoldts Hinweis auf Johann Olearius’ Kommentar zu Ps 104,28 (vgl. Chor, No. 1) wesentlich, zumal damit die Grundthese dieses Kapitels, die Zusammengehörigkeit von providentia Dei und Gesetz nach seinem weltlichen Brauch, erhärtet und erhellt wird: „Alles so bisher erzählet (vgl. V12.17.11.14.18.20), alle Tiere samt dem Menschen, alle ­Kreaturen, Bäume und Gras zu aller Zeit des Jahres im Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Gebest (Ps 145,16), omnia dependent a nutu tuo, velut ex[s]pectans [alles hängt von deinem Willen ab, ebenso wie es danach Ausschau hält]“.

Petzoldt folgert daraus für den Schlusschoral:43 „Da ist die Wahl der beiden Strophen am Schluß alles andere als zufällig; denn in der ersten wird eben auf die Schöpfungswerke des 104. Psalm ausdrücklich Bezug genommen […], während die zweite den Willen Gottes in seinem Geist […] und in seinen Geboten […] in Erinnerung ruft.“44 Die erste Choralstrophe lässt sich als eine hymnische Entsprechung zur Brotbitte des Vaterunsers begreifen und bleibt in der Gestalt des „beschreibenden Lobs“ (3. Ps. Sg.). Die letzte Strophe nimmt das Stichwort der Dankbarkeit aus dem vorangegangenen Rezitativ auf und lässt damit die spirituelle Grundhaltung anklingen, die der Gottes- und Welterfahrung der ganzen Kantate entspricht: die Güte des Schöpfers aufmerksam wahrzunehmen und ihm zu danken. Damit dies angemessen geschieht, weitet sich auch das Gottesbild nochmals auf, indem man im Namen Christi und im „Sinne des Geistes“ die Stimmen erhebt,45 was eine trinitarische Struktur des Betens (vgl. Röm 8,15 f.26) andeutet.



42 Vgl. Alanus de Insulis, MPL 210, 579: „Omnis mundi creatura quasi liber et pictura nobis est et speculum.“ 43 Die Strophe stammt aus Singen wir aus Herzensgrund von Hans Vogel, 1563. 44 Petzoldt I, 168. Der Choral findet sich im Dresdner Gesangbuch von 1725/36 unter Nr. 392 (S. 302). Der sechsten Strophe folgt hier eine Deo-Gratias-Strophe, zu der die letzte Choralstrophe von Vogel überleitet. 45 Hier fällt dann abschließend auch das einzige Mal der Name Christi, ohne dass dies sachlich unbedingt nötig wäre. Es geht um die spirituelle Grundhaltung, eine vom Geist gewirkte Gebets­ haltung (vgl. Röm 8,27), die Gott zum Dank singt.

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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

b) Musikalische Bemerkungen „Dem Schwergewicht, das dem Text des Satzes 1 zukommt, entspricht seine ausgedehnte und differenzierte musikalische Behandlung.“46 Diese ist folgendermaßen zu beschreiben: Bach nimmt aus der Tradition der Spruchmotette das Reihungsprinzip auf, das verschiedene Aussagen durch unterschiedliche Themen oder Motive gliedert, vereinheitlicht diese jedoch durch das instrumentale Material bzw. die konzertante Gesamtanlage. Diese erweist sich beim genaueren Hinsehen als äußerst kunstvoll. Wir folgen in der Darstellung der Analyse Dürrs: „Einleitungssinfonie (28 Takte) A Freipolyphoner Chorsatz mit Kanonbildungen und Choreinbau 1. ‚Es wartet alles auf dich.‘ Kanonisch-freipolyphoner Chorkomplex (a), Instrumente weitgehend selbständig begleitend 2. ‚Es wartet …‘ und ‚dass du ihnen Speise gebest …‘ Zweithemiger kanonischfrei­poly­phoner Chorkomplex (a + b), Instrumente weitgehend colla parte geführt [T. 35–41] 3. Choreinbau in Sinfonie, Takt 6–13 [41–19] Sinfonie, verändert und verkürzt (17 Takte) B Chorfuge, Instrumente zunächst colla parte, dann selbständiger geführt (Sinfoniemo­ tivik) Thema: „Wenn du ihnen gibest …“ Kontrapunkt: Wenn du deine Hand auftust …“ C Choreinbau (mit Anklängen an a und b) auf den vollständigen Text in Sinfonie, Takt (12)-16–28 (Verschränkung mit Teil B)“47

Wie sind diese einzelnen musikalischen Ereignisse zu deuten? Es scheint, dass in Teil A1 das „Warten“ der ganzen Kreatur durch die Kanonizität bzw. das imitatorische Durchlaufen des Themas durch alle Stimmen unterstrichen wird. Motivisch hat die aufsteigende Quart und die Syncopatio auf der zweiten Note (sowohl in den instrumentalen Themen, vgl. T. 28 als auch in den chorischen Themen, vgl. T. 28–30) etwas ausgesprochen Beharrliches, wenn nicht gar Drängendes. Bei der Synkope kann man sich die Geste einer sich öffnenden Hand vorstellen. Wie in zahlreichen anderen Kantaten ist Bach die Aussage der Totalität („Alles“) wichtig; auf diesem Wort finden ausgedehnte Koloraturen statt, sowohl im Abschnitt A1 als auch in A2 und A3. Das Warten und Sich-Ausstrecken der Kreatur nach ihrem Schöpfer kommt auch in T. 42 ff durch aufsteigende Sequenzen (Climax oder Gradatio) in Sopran und Alt zum Ausdruck. Im B-Teil zeigt sich Bach auf der Höhe kunstvollster Fugentechnik. Zwei große Durchführungen (T. 66 ff und T. 84–95 bzw. T. 95–111) werden T. 82 f nur kurz von einem instrumentalen Zwischenspiel unter Wiederkehr des Ritornellthemas (Sinfonia) unterbrochen. Im Übrigen können wir Bach auch in diesem Formteil als kreativen Exegeten des Bibeltextes bewundern. Die komposito

46 Petzoldt I, 168. 47 Dürr, 506.

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rische Anlage der groß angelegten Fuge repräsentiert den vielfältigen Widerhall der wunderbaren Taten des Schöpfers im Hymnus, drückt sich aber auch im Kleinen der kunstvollen Motivik aus: Das Fugenthema springt gleich zu Beginn auf dem Text „Wenn du“ eine Oktav nach oben, das „Du“ sitzt dabei auf der betonten Zeit und bekommt eine lange Viertelnote (vgl. ähnlich das folgende „gibest“). Ihm folgen fünf Töne auf derselben Stufe. Durch die Rhythmisierung des Textes wird nicht etwa das konditionale „Wenn“ hervorgekehrt, sondern der Schöpfer als gebendes Gegenüber des Menschen, das Du des schenkenden Gottes. Die Tonwiederholung zeigt: man bleibt zunächst ganz in der Sphäre Gottes. Interessant ist, dass Bach – wohl durchaus mit theologischer Absicht – in dieser Fuge an drei Stellen Motive unmittelbar aufeinanderfolgend verdoppelt (Epizeuxis). Wir deuten dies folgendermaßen: Dem Handeln Gottes, das durch den Nebensatz „(Wenn) Du ihnen / gibest, so“ (eine Viertel + zwei Achtel auf gleicher Tonhöhe) formuliert wird, entspricht das „Sammeln“ der Menschen (sich wiederholende Sechzehntel-Bewegung, z. B. T. 68: Bass; T. 71: Tenor, T. 74: Alt; T. 77; 85 f: Sopran usw.) sowie die Gabe des Sattwerdens (vgl. T. 74: Bass und Continuo; T. 77; Tenor und Continuo). Eine Bemerkung soll einer scheinbar unbedeutenden Pause gelten: Auf den im Kontrapunkt zu findenden Nebensatz „Wenn du deine Hand auftust“ folgt meist eine Achtelpause (vgl. T. 70: Bass; T. 73: Tenor; T. 76: Alt usw.) ehe dann auf den Text „so werden sie“ die „Sättigung“ einsetzt. Diese ist in überbordend langen Melismen abgebildet, sie erreicht im Extremfall bis zu fast vier Takten an Länge (vgl. etwa Tenor: T. 75–78). Der einfallsreiche Abschnitt schließt mit einem homophonen Noema im Chorsatz (T. 109 f), nachdem in T. 104 die Oboen das Fugenthema in hoher Lage als „Überhöhung“ allein vorgetragen haben.

Der Schlussteil C, den man als eine Art Coda verstehen kann, verschränkt die Sinfonia, den Text von Teil A und das Fugenthema aus Teil B miteinander.48 Die modifizierte Quartmotivik des Anfangs ist in einer Pseudo-Engführung (T. 113) ebenso emphatisch präsent wie die Spitzennote a’’ im Sopran auf den Text „Wenn Du“ (T. 118 f), die hier als Exclamatio (große Sext) wirkt. Das folgende schlichte Secco lässt geradezu Gott selbst reden. Der paränetische Tonfall wird durch vier rhetorische Fragen unterstrichen. Bach hebt vor allem die „Berge“, aber auch den Vogelzug durch die Luft (vgl. T. 7) durch die Überschreitung des Notensystems (Hyperbole) mit der Spitzennote es’ hervor. Die gefällige Altarie49 lebt von der rhythmischen Vielgestaltigkeit des 3/8-Taktes, der durch zahlreiche Überbindungen in unterschiedlichste Verknüpfungen und Schwerpunktbildungen eingeht (v. a. hemiolische Gruppierungen über zwei Takte). Bach gliedert das Ritornell auffallend asymmetrisch in 3+3+2+2+4+4 Takte. Möglicherweise ist das regelmäßige Ansteigen und Fallen der Melodie in Oboe und Violine I (T. 1–6) ein Stück „Augenmusik“ im Sinne der Abbildung einer Krone. Offensichtlich ist das Verbum „krönen“ nicht nur im Mittelpunkt

48 Vgl. Küster 319: „Am Ziel wird der Gesamttext, der diese vielfältige Entwicklung ermöglicht hat, mit dem Ritornell verbunden, das durchgängig als einheitsstiftendes Element wirkt.“ 49 In seiner kleinen g-moll-Messe trägt die Arie den Text: Domine Fili unigenite.

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des theologischen50, sondern auch des kompositorischen Interesses: Meist steht das Verb unter einer kunstvoll schmückenden Koloratur51 und weist schöne Sequenzbildungen auf (Climax, vgl. T. 48–51 bzw. T. 147–150), zuweilen wird es durch nachdrückliche Syncopationes verstärkt (T. 61–63). Auch das Verb „träufeln“ scheint Bach zu faszinieren, eine virtuose Koloratur mit vier kleinen Figurae cortae (T. 82 f)  bildet das aus der Höhe herab perlende Fett unmittelbar ab. Der zweite Teil der Kantate wird durch einen Triosatz für Violinen, Continuo und Solobass eröffnet, der das neutestamentliche Diktum als vox Christi präsentiert. Ein etwas stereotypes zweitaktiges Motiv, das aus der Figura corta entwickelt ist, zieht sich fast wie ein perpetuum mobile durch die Begleitstimmen und ver­ wickelt allmählich auch die Singstimme in das dialogische Geschehen. Es bildet ab, was der Text sagt: „Sorget nicht!“ M.a.W.: Für euch ist gesorgt. Gottes Zuwendung zieht sich wie ein roter Faden durch euer Leben. Eine lyrische Arie des Soprans mit einem kunstreichen Oboensolo in feierlich langsamem Adagio schließt sich an. Bach vermeidet hier ein echtes Da Capo, er lässt das sechstaktige Ritornell des Adagio (A) im Schlussteil zwar nochmals anklingen, den Text52 aber nicht mehr laut werden. Der raschere B-Teil (poco allegro) auf den Text „Weicht ihr Sorgen, seine Treu …“53 behält somit textlich das letzte Wort und gibt eine Antwort auf die zuvor gestellte Frage („Sollt er mir nicht alles geben …?) in Form eines Vertrauensbekenntnisses. Damit kommt der innere Dialog in der gläubigen Seele zu einem positiven Abschluss. Die Leichtigkeit der Sechzehntel in der Oboenstimme als Antwort auf das „Weicht ihr Sorgen!“ in der Singstimme (T. 21 ff)  macht das Verschwinden der Sorgen unmittelbar hörbar. Plastisch ist auch das „Neuwerden“ der Treue Gottes als aufsteigend-aufblühende Skala in T. 31–33. Rezitativ und Choral am Ende sind recht konventionell gehalten und bieten auf den ersten Blick keine nennenswerten Besonderheiten. Dürr kann ihnen im Kontext der gesamten musikalisch-theologischen Entwicklung jedoch viel abgewinnen: „Vielleicht ist die Wahl der Instrumentation in Arien und Chorsätzen nicht ohne Absicht geschehen; denkbar wäre, dass Bach mit der Folge: Tutti – Streichersatz + Oboe I – Violini

50 Vgl. Olearius III, 359 zu Ps 65,12: „Eine Crone ist eine Königliche Pracht 2.Sam 12/30 […] und Crönen soviel als allerley guts erweisen und damit reichlich umbgeben / erfreuen / Zieren / einfassen und verwahren Ps.5/13. 103/4. Also crönet Gott das Jahr / und zieret alle seine Jahr=Zeiten/ Monat / Wochen / Tage und Stunden / Vom Anfang deß Jahres biß ans Ende / 5.Mos.11/12. unaufhörlich mit seinen Wohlthaten/ wie eine Crone rund ist/ deren Circul weder Anfang noch Ende hat.“ 51 Vgl. dazu grundsätzlich Mattheson, V.C, II, Cap. 4, § 13: „Wenn nun hier eine fernere lehrreiche Betrachtung von der Erfindungs-Kunst angestellet werden soll, so wird zuvörderst nöthig seyn darzuthun, daß dieselbe Kunst drey unzertrennliche Gefährten haben müsse, ohne welche auch die allerschönsten Einfälle von schlechter Würde sind. Diese drei heissen: Dispositio, Elaboratio & Decoratio, d. i. die geschickte Einrichtung, fleißige Ausarbeitung und gescheute Schmückung des melodischen Wercks.“ 52 Gott versorget alles Leben, / was hienieden Odem hegt; / sollt er mir allein nicht geben, / was er allen zugesagt? 53 Vgl. BWV 21,10.

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in unisono – Oboe solo die Wandlung vom Allgemeinen zum Besonderen im Gedankengang der Dichtung nachzuvollziehen sucht. Trifft dies zu, so ist man versucht, die Streicherbegleitung des folgenden Rezitativs (Satz 6) als Symbol der Geborgenheit des Einzelnen in Gottes Liebe und in der christlichen Gemeinde aufzufassen, so wie der Schlusschoral, der alle Mitwirkenden zu gemeinsamer Vierstimmigkeit zusammenfasst, im Namen der versammelten Gemeinde stellvertretend für diese musiziert wird.“54

Dieser Interpretation folgend, können wir die beiden Choralstrophen als theologische Bündelung und als stellvertretende applicatio des Chores (für die Gemeinde) im Sinne eines Glaubensbekenntnisses betrachten.55 c) Liturgische Erwägungen Grundsätzlich passt BWV 187 auch heute noch zum 7. Sonntag n. Trinitatis, in dessen Mitte das Evangelium von der Brotvermehrung nach Joh 6,1–15 (nicht Mk 8) bzw. das Thema Abendmahl steht.56 Eine christologische Fokussierung, wie sie von der Brotrede in Joh 6 her angezeigt scheint, würde der Kantate m. E. aber eher Gewalt antun. In diesem Fall könnte der zweite Teil der Kantate tatsächlich wie zur Bachzeit sub communione musiziert werden, während Satz 1–3 auf das Evangelium von der Brotvermehrung antworten würde. Teil II der Kantate würde dann liturgisch plausibel die sakramental-christologische Pointe der Kantate performativ ausleuchten. Der Skopos der Kantate zielt freilich darauf, das Sorgen fahren zu lassen und dem gütigen Schöpfer und Erhalter zu vertrauen. Diese Aussage passt eigentlich besser zum 15. Sonntag n. Trin., dessen Evangelium schon zur Bachzeit das weisheitliche Stück aus der Bergpredigt (Mt 6, 25–34) war, das zu Beginn des zweiten Teils der Kantate zitiert wird.57 Fast noch besser wäre das Erntedankfest58 geeignet, dessen Leitpsalm Ps 104 ist, der die Kantate essentiell prägt. Außerdem wäre eine festliche Musik wie BWV 187 ein gottesdienstliches „Highlight“ für den volkskirchlich bedeutsamen Erntedank. Der „schlanke“ Verkündigungsteil des Gottesdienstes könnte folgender­ maßen aussehen: Psalmgebet oder Psalmlied mit Psalm 104 (z. B. mit dem Lied Auf Seele, Gott zu loben)59 – Evangelium Mt 6,25–34 – Kantate Satz 1–3 – Predigt – Kantate Satz 4–7 – Credo



54 Dürr, 507. 55 Vgl. Petzoldt, Liturgie und Musik, bzw. oben 1.5. 56 Vgl. EGB 362 f. 57 Vgl. EGB 378 f bzw. oben 2.5 mit Analyse der Kantate BWV 138. 58 Vgl. EGB 386 f. Als Alternative zu Mt 6,25–34 bietet die Perikopenauswahl des EGB immer noch das Gleichnis vom reichen Kornbauern nach Lk 12 an, das m. E. als drohendes Gesetz gehört werden muss. 59 Vgl. EG Württemberg, 602.

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5.2 „Wo Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ – Gottes gütiges Weltregiment (gubernatio mundi) Wenden wir uns nun den „politischen“ Kantaten Bachs zu, exemplarisch den Ratswechselkantaten und der Kantate Nur jedem das Seine (BWV 163), die zunächst betrachtet werden soll.

5.2.1 Nur jedem das Seine (BWV 163) Kantate BWV 163 zum 23. Sonntag n. Trin. lehnt sich – trotz ihres naturrechtlich anmutenden Titels60 – eng an das Evangelium vom Zinsgroschen nach Mt 22, 15–22 an. Es geht darin um das Verhältnis von weltlichem und geistlichem Regiment, Obrigkeit und Glaube, generell um das Miteinander von Gott, Welt und Kirche. Oswald Bayer fokussiert dieses Thema im Blick auf Luthers Lehre von den drei Ständen und zwei Regimenten und gewichtet auch deren Bedeutung: „In Luthers Selbsteinschätzung ist die Dreiständelehre von größerem Gewicht als die ZweiRegimenten-Lehre, die im Unterschied zur Dreiständelehre in summarischen und testamentarischen Texten nicht begegnet. Beide Lehren sind nicht identisch, aber ergänzen sich. […] Zwei Faktoren vor allem sind von Bedeutung: a) In der Zwei-Regimenten-Lehre, denkt Luther von einer kritischen Unterscheidung her – Gott handelt in je verschiedener Weise. In der Dreiständelehre nimmt er eine positive Zuordnung vor – es ist jeweils Gott, der durch alle drei Stände an jedem Menschen innerweltlich handelt. b) Die Zwei-Regimenten-Lehre ist keine statische und permanente Unterscheidung. Sie gilt lediglich interimistisch  – jetzt, im Zeitenbruch, in der Verschränkung der Zeiten, einst aber, mit der Weltvollendung, wird sie aufgehoben. Sie trägt dem Faktum Rechnung, dass nicht alle Menschen Christen sind und dass auch der Christ selbst als neuer Mensch sich bis zu seinem Tod verhalten muss zum alten, sündigen Menschen in sich, der das Gesetz nötig hat. Luthers Unterscheidung zweier Regimente Gottes dient der Orientierung des Christen, der die Weltvollendung glaubt, sie aber noch nicht sieht.“61

BWV 163 gehört zu den Weimarer Werken Bachs. Wie der Text aus S. Francks „Evangelischem Andachts-Opffer“ enstand sie 1715. Bach verzichtet auf einen üppigen Eingangschor und jegliche Bläser, das Werk ist also ausgesprochen schlicht gehalten. Der erste Satz lautet: 1. Ar ie (Teno r) Nur jedem das Seine! Muss Obrigkeit haben,

60 Suum cuique gehört wie etwa Pacta sunt servanda, Consensus facit nuptias oder In dubeo pro reo zu den naturrechtlich geprägten Grundsätzen römischer Rechtssprechung. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass über dem Eingang zum KZ Buchenwald ebenfalls der Satz Jedem das Seine zu lesen ist, der damit eine äußerst zynische, ja menschenverachtende Konnotation bekommt. 61 Bayer, Theologie Luthers, 295.

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Zoll, Steuern und Gaben, man weigre sich nicht der schuldigen Pflicht, doch bleibet das Herze dem Höchsten alleine.

Dem naturrechtlichen Prinzip Suum cuique entsprechend,62 eignet diesem Text ein eher objektiver Charakter, er ist gleichsam als allgemeine Maxime im Stil einer Weisheitsregel (vgl. Mt 7,12) formuliert. Man kann sie als eine Röm 13 aufnehmende Explikation des Evangeliums aus Mt 22 verstehen. Poetisch fallen der dem sachlichen Text scheinbar wenig entsprechende „leichtfüßige“ Dak­tylus und die deutlich überschießende letzte Zeile auf, die das „Mehr“, das wir Gott schulden, schon stilistisch abbildet. Interessant ist auch die Gewichtung der verschiedenen Textteile durch Bach. Das Motto „Nur jedem das Seine“ wird ungefähr fünfzehnmal wiederholt  – es ist allein Inhalt des A-Teils, der ja am Ende auch noch einmal im Da capo wiederholt wird  – und steht gegenüber der im B-Teil folgenden Explikation stark im Vordergrund. Damit kommt unmissverständlich zum Ausdruck, dass tatsächlich jeder das „Seine“ bekommen soll.63 Der Spitzensatz des Kopf­satzes wird somit als devisenartiges64 Motto allem voran gestellt. Dieser Eindruck wird durch die Musik J. S. Bachs deutlich unterstrichen, die Spitta mit folgenden Worten rühmt: Er „hat für die Musik selbst seine ganze Kunst und Feinheit zusammengenommen. Es fühlt sich auch bald heraus, dass er nicht ein rein musika­lisches Ideal gestaltete, sondern in Wirklichkeit eine poetische Anregung aus den Worten schöpfte.“65 Besonders ausgeprägt ist die rhythmische Gestalt der Figura corta (ein Achtel + zwei Sechzehntel), die sich durch alle Stimmen zieht und sowohl die Thematik des Ritornells als auch der Singstimme dominiert („je-dem das“). Das daktylische Versmaß wird damit also nicht tänzerisch, sondern eher emphatisch musikalisiert, was sich auch im „geraden“ Metrum (4/4-Takt) zeigt. Außerdem werden durch Syncopationes im A-Teil das Wort „jedem“ und im B-Teil das Verb „weig-re“ herausgehoben. Sonst bleibt es fast durchgängig bei einer schlichten syllabischen Diktion. In T. 32 fällt die

62 Vgl. dazu Bonhoeffer, 174 f: „In diesem Satz kommt in gleicher Weise die Mannigfaltigkeit des Natürlichen und der ihm zugehörigen Rechte, wie die in der Mannigfaltigkeit gewahrte Einheit des Rechtes zum Ausdruck. Mißbraucht wird dieser Satz, wo entweder die Mannigfaltigkeit oder die Einheit der mit dem Natürlichen gegeben Rechte aufgelöst wird. Das ist der Fall, wo man ‚das Seine‘ als ‚das Gleiche‘ verstehen will und damit die Mannigfaltigkeit des Natürlichen zugunsten eines abstrakten Gesetzes zerstört, oder wo die Bestimmung des ‚Seinen‘ willkürlich und subjektiv geschieht und damit die Einheit der Rechte zugunsten freier Willkür aufhebt.“ 63 Simpfendörfer, 262 f hat hervorgehoben, dass Bach einen interessanten „Eingriff “ in die Syntax des Satzes vornimmt: „Mittels einer Zeilenumstellung, durch die aus einem Konditionalsatz ein Hauptsatz mit absolutem Charakter wird [sc. Zoll, Steuern und Gaben muss Obrigkeit haben], hebt er [sc. Bach] ‚Zoll, Steuern und Gaben‘ hervor, die die Obrigkeit haben muß. Die parallel formulierte Zeile ‚doch bleibet das Herze dem Höchsten allein‘ [sic] vertont er gerade nicht in gleicher, sondern in entgegengesetzter Weise, indem er T. 33 ‚dem Höchsten alleine‘ betont. So stellt er musikalisch die zwei verschiedenen Reiche [besser wäre: Regimente, Anm. JA] dar, durch die Gott in dieser Welt wirkt.“ 64 Vgl. Küster, 170 bzw. Dürr, 689. 65 Vgl. Spitta I, 548.

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doxologische Anabasis auf den Text „bleibet das Herze dem Höchsten alleine“ ins Auge. Theologisch noch differenzierter und spirituell dichter ist das folgende Rezitativ, das ein dankbares persönliches Vertrauensbekenntnis an Gott richtet: 2. Rezit ativ (B a ss) Du bist, mein Gott, der Geber aller Gaben. Wir haben, was wir haben, allein von deiner Hand! Du, du hast uns gegeben Geist, Seele, Leib und Leben und Hab und Gut und Ehr und Stand!

Damit sind die eben entfalteten Theologumena der göttlichen Fürsorge (conservatio) bzw. der creatio continua angesprochen und mit dem Topos von der gubernatio mundi (vgl. Satz 1) verschränkt: Gott ist der Schöpfer und sorgt allein für die Seinen, er vertraut ihnen aber auch Hab und Gut, Ehre und Stände an, durch die er die Welt erhält und regiert. Das Gewicht dieses Satzes in der Gemengelage göttlichen und menschlichen Handelns in der Welt liegt eindeutig auf dem Handeln Gottes,66 das durch die Stände, also durch andere Menschen hindurch, Menschen er reicht. Dies wird durch die achtgliedrige Aufzählung göttlicher Gaben und die emphatische Epizeuxis „Du, du“ hervorgehoben Die anthropologische Trias „Geist, Seele, Leib“ ist hier um den Begriff des Lebens, der alles umfasst, erweitert. Erstaunlicherweise steht hier der Leib am Ende der Trias und bekommt von Bach die höchste Note innerhalb der Aufzählung, wodurch eine Antiklimax ausgeschlossen werden kann. Wir können vielmehr, von der Thematik der ganzen Kantate ausgehend, annehmen, dass es hier besonders um die Leiblichkeit, um den körperlichen Gehorsam des Menschen seinem Schöpfer gegenüber, geht. Die folgende asyndetische Aufzählung wird immer wieder durch Pausen (Abruptiones) unterbrochen, wodurch die einzelnen Aspekte noch mehr individuelles Gewicht bekommen. Das Substantiv „Ehr“ wird sinnenfällig durch ein kleines Melisma geschmückt.67 Angesichts der großen Güte des Schöpfers schuldet der Mensch ihm Dank, den er mit der „Zinsemünze“ des ungeteilten Herzens zurückgeben soll. Die Fortsetzung lautet so: Was sollen wir denn dir68 zur Dankbarkeit dafür erlegen, da unser ganz Vermögen nur dein und gar nicht unser ist?

66 Vgl. Schulze, 485 bzw. Luther, WA 31 I, 410: Die „Stände Gottes gehen und bleiben durch alle Königreiche, so weit die Welt ist, und bis an der Welt Ende.“ 67 Vgl. ähnlich T. 14 „wohlgefällt“. Bach hebt also „ästhetische“ Begriffe auch musikalisch hervor! 68 Was in Satz 1 die überschießende Schlusszeile war, ist hier die verkürzte zweite Zeile. Beide sind jeweils sehr pointiert auf Gott bezogen.

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Doch ist noch eins, das dir, Gott wohlgefällt! Das Herze soll allein, Herr, deine Zinsemünze sein.

Hier könnte Franck den Satz schließen lassen, führt ihn aber mit guten theo­ logischen Gründen weiter: Das menschliche Herz, das die Ebenbildlichkeit Gottes (vgl. Gen 1,27) in sich trug, ist durch die Sünde verdunkelt: Ach, aber ach, ist das nicht schlechtes Geld? Der Satan hat dein Bild daran verletzet, die falsche Münz ist abgesetzet.

Das widergöttliche Contra wird durch zahlreiche harte Intervalle bzw. Akkorde (verminderte Septimenakkorde o. ä.) illustriert: So werden die Exclamatio „Ach“ bzw. „aber ach!“, die Attribute „schlecht“ und „falsch“ (T. 18; 20), das Partizip „verletztet“ sowie der Diabolus „Satan“ selbst, (T. 19) harmonisch hervorgehoben. An der Stelle „die falsche Münz“ (T. 20 f mit Passus duriusculus) begegnet ein bewusster Satzfehler: Das cis im Continuo wird statt zum d zum f aufgelöst, es liegt die Satzfigur der Heterolepsis69 vor. Theologisch macht dieser Abschnitt, der im Grunde Gebet und Sündenbekenntnis zugleich ist, deutlich, wie eng gött­ liche Schöpfungsordnung (vgl. Satz 2 und 3) und menschliche Sünde innerhalb der Drei-Stände-Ordnung ineinander verschlungen sind. Die folgende Bass-Arie „Lass mein Herz die Münze sein“ (Satz 3) ist mit zwei obligaten Celli, einem „Unikum im Arienschaffen Bachs“70, sehr apart instrumentiert. Die vorwärtsstrebende, etwas unruhige Figuration der Celli macht deutlich, dass Heiligung ein Prozess ist, um den man ständig ringen muss, der aber zugleich Gott anbefohlen wird.71 Dazu passt auch, dass Bach kein Da capo komponiert. Heiligung wird als eine Läuterung und „Wiederherstellung“ der Ebenbildlichkeit Gottes in Christus zu neuem Glanze begriffen (vgl. Hebr 1,3), womit die Folgen des Sündenfalls geistlich „eingedämmt“ werden. 3. Ar ie (Ba ss) Lass mein Herz die Münze sein, die ich dir, mein Jesu steure! Ist sie gleich nicht allzu rein; ach! So komm doch und erneure, Herr, den schönen Glanz bei ihr! Komm! Arbeite, schmelz und präge, dass dein Ebenbild bei mir ganz erneuert glänzen möge.

69 Vgl. Bernhard, TCA, Cap. 41: „Heterolepsis ist eine Eingreiffung einer anderen Stimme und ist zweyerley. Erstlich, wenn ich nach einer Consonantz in eine Dissonantz springe oder gehe, so von einer andern Stimme in trasitu könnte gemacht werden. […] Zum andern, wenn bey einer syn­ copirten untern Stimme, die obere in einer Quarta begriffen nicht eine Secunde steiget, sondern eine Tertia fället.“ Vgl. Walther, Praecepta, cap. 4; § 25. 70 Dürr, 689. 71 Vgl. dazu Spitta I, 549, der die Besetzung dahingehend interpretiert, dass hier „im Dunkel zweier rüstig arbeitenden Violoncelle […] die Bass-Stimme ihr ernstes Tagewerk [treibt].“

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Das folgende Rezitativ ist theologisch und musikalisch ausgesprochen ergiebig und leitet einen atmospärischen Wechsel ein: Sopran und Alt werden immer wieder in kanonischen bzw. imitatorischen Abschnitten durchgeführt.72 Die von Bach gewählte Form des Duetts bringt das dialogische Geschehen zwischen Gott und Mensch zum einen und die innermenschliche Dialektik von „willigem Geist“ und „schwachem Fleisch“ zum anderen, mithin das Spannungsverhältnis von göttlichem Willen und trügerischer Lust, treffend zum Ausdruck. 4. Rezit ativ (S opran, Al t) Ich wollte dir, o Gott, das Herze gerne geben! Der Will ist zwar bei mir; doch Fleisch und Blut will immer widerstreben, dieweil die Welt das Herz gefangen hält; so will sie sich den Raub nicht nehmen lassen; jedoch ich muss sie hassen, wenn ich dich lieben soll!

Damit wird der oben angedeutete hamartiologische Widerspruch aus anthro­ pologischer Perspektive, vor allem durch den Gegensatz der Affekte, expliziert. Interessant sind die Tempowechsel: An der Stelle „so will sie sich den Raub“ wird das Tempo rascher, um die Tücke der Welt zu zeigen; bei der Antithese „jedoch ich muss sie hassen, wenn ich dich lieben soll“ schreibt Bach Adagio, was die Beständigkeit der Liebe unterstreicht. Der (etwas missverständlichen, zumindest jedoch interpretationsbedürftigen) Totalabsage an die Welt folgt eine Bitte um Gottes Gnade: So mache doch mein Herz mit deiner Gnade voll leer es ganz aus von Welt und allen Lüsten und mache mich zu einem guten Christen.

Der Satz findet damit am Ende zu einem versöhnlichen Schluss: Bei „so mache doch“ wechselt die Tonart von fis-moll nach D-Dur; das Adjektiv „voll“ schmückt Bach mit langen virtuosen Koloraturen als Sinnbild für die Fülle der Gnade Gottes. Bei der Bitte „und mache mich zu einem rechten Christen“ finden sich die beiden Singstimmen in immer kürzer werdenden Abschnitten textlich zusammen. Während das Rezitativ von der Vorläufigkeit eines geistlichen Lebens in der Welt geprägt war, bringt das folgende Duett (in Form einer Bitte)  die Harmonie und ruhige Freude einer innigen Gottesgemeinschaft, ja eines fröhlichen Wechsels, zum Ausdruck, in welchem eigene Selbstaufgabe und geistliches Beschenktwerden verknüpft sind. 5. Duet t (S opran, Al t) Nimm mich mir und gib mich dir,

72 Vgl. Schulze, 487: „Das folgende Satzpaar prägt ein radikaler Registerwechsel.“

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nimm mich mir und meinem Willen, deinen Willen zu erfüllen! Gib dich mir mit deiner Güte, dass mein Herz und mein Gemüte in dir bleibe für und für, nimm mich mir und gib mich dir!

Franck paraphrasiert hier die dritte Vaterunserbitte („Dein Wille geschehe“) und entfaltet sie poetisch apart durch eine inclusio (am Anfang zwei Kurzzeilen, am Ende eine Langzeile), die eine pointierte Antithese enthält: „Nimm mich mir und gib mich dir.“ Dahinter steckt die Einsicht, dass auch ein frommer Christ sich Gott nicht selbst hingeben, sondern dieses nur Gott selbst wirken kann, ja der ganze Prozess der heiligenden Hingabe Werk Gottes ist. Der an Luthers Freiheitsschrift erinnernde (fröhliche) Wechsel besteht darin, dass der glaubende Mensch Gott walten lässt und dazu seinen Willen aufgibt (vgl. Mk 14,36 par) und dafür Gottes Güte und die Gemeinschaft mit ihm („in dir bleiben“) bekommt. Es geht also um eine Art „fröhlichen Willenswechsel“73 in spirituell-mystischer Färbung. Poetisch bietet dieses Duett noch weitere Auffälligkeiten. Der I-Vokal ist ähnlich dominant wie die klingenden (nasalen) Konsonanten, von denen besonders das M (17×) ein intensives Klingen der hellen Vokale unterstützt. Musikalisch kann man dieses innige Duett als einen langsamen Schreittanz (Sarabande) auffassen, bei dem immer zwei Viertel hinter­ einander betont werden74, also etwa „Nimm mich [mir]“ bzw. „gib mich [dir]“, wobei Bach zunächst (T. 1–10 und T. 19) für die beiden korrespondierenden Halbsätze ein gemeinsames prägnantes Motiv, eine punktierte Achtelnote mit zwei Zweiunddreißigsteln, wählt, die die mystische Vereinigung auch musikalisch andeuten. So wird das antithetische und doch gleichzeitige Verhältnis der mortificatio des alten („Nimm mich mir“) und der Erweckung des neuen Menschen („Gib mich dir“) evident. Das dadurch ermög lichte „Bleiben“ in Christus bildet Bach durch lange Liegetöne (vgl. T. 51–54) und lange Koloraturen (T. 55–61) ab. Über den konzertierenden Stimmen schwebt, von allen hohen Streichern (2 Vl/Vla) vorgetragen, die Choralmelodie von Meinen Jesum lass ich nicht.

Was an Auseinandersetzungen mit der Welt noch im vorangegangenen Rezitativ ins Gebet gegeben wurde, scheint nun überwunden, nunmehr steht allein die innige Jesus-Beziehung im Vordergrund. Die mystische Sprache, das langsame Tanztempo, die Innigkeit der klingenden Konsonanten, die Form des Duetts mit den beiden für die Seele und den Geist stehenden Singstimmen geben dem Satz ein intimes, ja beinahe erotisches Gepräge. Der (nur teilweise erhaltene) Schluss­ choral75 knüpft daran mit einer Bitte um Gottes weitere Leitung an, er stellt gleichsam eine pneumtatologische Vertiefung und Bündelung der Kantate dar.

73 Zum fröhlichen Wechsel vgl. Luthers Freiheitsschrift, WA 7,25 (Text leicht modernisiert): „Das was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele, was die Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die sein der Seele eigen. So hat Christus alle Untugend und Sünd auf ihr, die werden Christi eigen.“ 74 Bach verschiebt durch Betonung der 2. und 3. Zählzeit das innere Metrum gegen das Taktschema. 75 Zur Rekonstruktion des Schlusschorales über dem allein überlieferten Continuo-Bass vgl. Dürr, 690 bzw. Krit. Bericht, NBA.

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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

6. Cho ral Führ auch mein Herz und Sinn durch deinen Geist dahin, dass ich mög alles meiden, was mich und dich kann scheiden, und ich an deinem Leibe ein Gliedmaß ewig bleibe.

Ist diese Kantate, die in der Welt ansetzt, den inneren Bruch mit Gott benennt und in der unio mit Christus und dem Geist endet, ein Modell spiritualistischer Weltflucht?76 Man wird dies anfragen können. In jedem Fall bietet sie musikalisch aufregende Lösungen, die uns den zwar sprachlich abständigen, theologisch aber äußerst gehaltvollen Text Salomon Francks näher bringen. Im Blick auf eine gottesdienstliche Aufführung sollte man nach Möglichkeit am 23.  Sonntag n. Trin. festhalten, der durch das Thema Glaube und Obrigkeit (z. B. Perikopenreihe IV mit Röm 13) nach wie vor bestimmt ist.77 Denkbar scheint auch eine Aufführung am Reformationstag oder Reformationsfest, an dem das lutherische Thema weltliches und geistliches Regiment Gottes naheliegt. Der Verkündigungsteil könnte dann folgendermaßen aussehen: a) Evangelium Mt 22,15–22  – Credo  – Kantate Satz 1–3  – Predigt  – Kantate Satz 4–6 b) Kantate Satz 1  – Evangelium Mt 22,15–22  – Kantate Satz 2–4  – Predigt  – Satz 5–6 – Credo

5.2.2 „Heil und Segen“ für die Obrigkeit!? – Musik zum politischen Kasus des Ratswechsels Nicht immer geschieht die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit theologisch so reflektiert wie in BWV 163. Die Ratswechselkantaten78 reden noch viel überschwänglicher von Gottes Weltregiment und politischer Verantwortung, menschlicher Gerechtigkeit und bürgerlichem Glück.79 Gottes Segen für das neue Regiment zu erbitten bzw. dieses als göttliche Gabe zu rühmen und ihm Glück zu wünschen, ist der Grundtenor dieser Texte. Eine schöne Zusammenfassung des Sujets „weltliches Regiment“ bzw. des Anlasses Ratswahl bieten die Texte der Leipziger Kantaten BWV 120,3–5 und 193,4 f (nur Text erhalten), die von Gottes bewahrendem und beschützendem Welt­handeln

76 Vgl. auch Schulze, 486, der den Text Francks für problematisch hält und Bach bescheinigt, dass er „ihm die wenigen brauchbaren Seiten abgewann“. 77 Vgl. EGB 396 f. Interessant ist auch, dass sich im EGB der Kasus „Erhaltung von staatlicher Ordnung und Gerechtigkeit“ (EGB, 468 f) findet, wo Lk 3,10–18 als Evangelium vorgeschlagen ist. 78 Die Ratswahl fand in Leipzig am Montag nach St. Bartholomäi (24.8.) statt, also meist am letzten Montag im August. 79 Vgl. Dürr, 802: „In Anlehnung an Römer 13 preist der Dichter  – für unsere der absolutistischen Staatslehre entfremdete Auffassung ein wenig zu überschwenglich  – die Obrigkeit als ‚Gottes Ebenbild‘ (Satz 4).“

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reden, zum Gebet für die Stadt auffordern, explizite Segensbitten entfalten und das Motto der „Lindenstadt“, wonach Gerechtigkeit und Frieden sich küssen (Ps 85,11), anklingen lassen. Hermeneutisch ist die Formulierung „Leipziger Jerusalem“ interessant, mit der man die Verheißungen des Psalms ganz auf die sächsische Me­ tropole umgemünzt hat. Dies ist allerdings ein geläufiger Topos und findet sich sowohl in Werken zeitgenössischer bildender Kunst (Jerusalem oder Bethlehem in europäischer Umgebung) als auch in biblisch-theologisch geprägter Hermeneutik seit dem Mittelalter. 3. Rezit ativ (B a ss) Auf, du geliebte Lindenstadt, komm, falle vor dem Höchsten nieder, erkenne wie er dich in deinem Schmuck und Pracht so väterlich erhält, beschützt, bewacht und seine Liebeshand noch über dir beständig hat […] Komm, bitte, dass er Stadt und Land unendlich wolle mehr erquicken und diese werte Obrigkeit so heute Sitz und Wahl verneut, mit vielem Segen wolle schmücken! […]

4. Ar ie (S opran) Heil und Segen soll und muss zu aller Zeit sich auf unsre Obrigkeit     in erwünschter Fülle legen,     dass sich Recht und Treue müssen     miteinander friedlich küssen. 5. Rezit ativ (T eno r) Nun, Herr, so weihe selbst das Regiment mit deinem Segen ein, dass alle Bosheit von uns fliehe und die Gerechtigkeit in unsern Hütten blühe, dass deines Vaters reifer Same und dein gebenedeiter Name bei uns verherrlicht sein!

In BWV 193 finden wir Folgendes zum Thema: 4. Rezit ativ O Leipziger Jerusalem, vergnüge dich an deinem Feste! Der Fried ist noch in deinen Mauern, er stehn annoch die Stühle zum Gericht, und die Gerechtigkeit bewohnet die Paläste. Ach bitte, dass dein Ruhm und Licht also beständig möge dauern! 5. Ar ie Sende, Herr, den Segen ein [sic!], lass die wachsen und erhalten, die vor dich das Recht verwalten und ein Schutz der Armen sein! Sende, Herr, den Segen ein!80

Das göttliche Segenswirken ist in den Ratswechselkantaten klar an den poli­tischen Stand gebunden und wird im Sinne der lutherischen Lehre vom usus politicus

80 Vgl. auch BWV 119,8.9 bzw. 120,6. Beide Kantaten schließen mit Strophen aus Luthers deutschem Te Deum. Hermeneutisch zentral ist darin der Satz „Segne, was dein Erbteil ist“, der den Inhalt beider Kantaten treffend zusammenfasst.

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legis zweifach, d. h. negative und positive, entfaltet: Es geht um die Begrenzung von Bosheit, um das Gedeihen von Gerechtigkeit unter den Menschen, um den Schutz der Armen, generell um die Verwaltung des Rechts und Erhaltung des äußeren Friedens. Alle sind Aufgabe der Politia, also Sache der Obrigkeit, die selbst als Gottesgabe verstanden wird. Anthropologisch finden wir hier vielfach das Motiv der Dankbarkeit bzw. im Gebet die Korrelation von Bitte und Dank ausgedrückt. Dies soll nun ausführ­ licher an BWV 119 gezeigt werden, die im ersten Amtsjahr Bachs in Leipzig entstanden ist:

5.2.3 Preise, Jerusalem, den Herrn (BWV 119) Bevor wir uns der Analyse der Kantate zuwenden, sollen einige Bemerkungen zum Ratswechsel in Leipzig und den örtlichen Gepflogenheiten vorangestellt werden. H. J. Schulze schreibt dazu: „Wie ehedem in Mühlhausen fand Bach auch in Leipzig den altüberlieferten Brauch vor, die Mitglieder des Stadtrates auf Lebenszeit einzusetzen, ihre Gesamtheit in mehrere Ratskollegien unter Vorsitz je eines Bürgermeisters aufzuteilen und diese Gremien sich in mehrjährigem Turnus in der Führung der Amtsgeschäfte abwechseln zu lassen. […] Zusammenkünfte des Plenums, also sämtlicher Ratsmitglieder, fanden nur bei besonderer Veranlassung und aus wichtigem Grunde statt: Einen solchen wichtigen Anlaß stellte im April 1723 beispielsweise die Wahl des neuen Thomaskantors dar. Der Wechsel der Amtsgeschäfte vollzog sich in Leipzig traditionell am Montag nach dem Batholomäustag, dem 24. August. Der Bedeutung des Tages und der Würde des Rates entsprach das etwas alt­ väterische [sic] Zeremoniell, das dem Ereignis vorauszugehen pflegte. Hierzu gehörte, dass der Stadtschreiber, selbst Ratsmitglied in bevorzugter Position, einige Zeit vor dem geplanten Festgottesdienst den Superintendenten aufsuchte, um bei ihm ‚die Predigt zu Aufführung eines Neuen Raths‘ in Auftrag zu geben. Gleichzeitig erschien ein etwas weniger hochgestellter Ratsbeamter […] beim Thomaskantor, um ihm ‚die Besorgung der Kirchen Music auf besagten Montag‘ aufzutragen.“81

Die Ratswechsel-Kantate Preise, Jerusalem, den Herrn (BWV 119) ist eine der am üppigsten besetzten Kantaten Bachs überhaupt.82 Es handelt sich um eine Spruchkantate mit alttestamentlichem Diktum an der Spitze,83 die fast ausschließlich84 den ersten Glaubensartikel, genauer gesagt: Gottes Segenshandeln an der Stadt

81 Schulze, 580. 82 Vgl. ähnlich die Weihnachtskantate Christen, ätzet diesen Tag (BWV 63) aus dem gleichen Jahrgang. 83 Hier zeigt sich eine gewisse Affinität von Festkantaten zu hymnischen Psalmversen, die weiter unten (6.0.2 u. ö.) nochmals zu bedenken ist. Die „Überlänge“ der Kantate und die Tatsache, dass sie im zweiten Teil (Satz 7) nochmals einen Chorsatz enthält, wirft zumindest die Frage auf, ob etwa Satz 6–9 separat musiziert worden sein könnten. Eine Aufführung sub communione ist nicht denkbar, da beim Gottesdienst zum Ratswechsel keine Mahlfeier gehalten wurde. 84 Lediglich im Schlusschoral aus Luthers deutschem Te Deum wird Jesus Christus angerufen, allerdings ohne weitere Explikationen.

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Leipzig, thematisiert. Das göttliche Segenshandeln wird im lebendigen (quasiliturgischen) Zusammenspiel von Wort und Antwort entfaltet. Als Begriff kommt der Segen bzw. das Verb segnen fünfmal in den ersten vier Sätzen vor und zieht sich wie ein roter Faden durch. Satz 2–5 explizieren dieses Segenshandeln u. a. durch die Seitenthemen Gerechtigkeit und Friede bzw. Güte und Treue. Sie sind als eine gesungene Predigt meist im performativen Indikativ formuliert, der auch mit rhetorischen Fragen abwechseln kann (Satz 2), und stellen das Handeln Gottes an der Stadt und ihren Bewohnern vor Augen, während Satz 6–9 dagegen konsequent in Gebetssprache gehalten sind und dem Leipziger „Volk“ die Antwort des Dankes in den Mund legen. In Satz 6 f stehen Freude und Dank angesichts der jüngsten Vergangenheit im Vordergrund, in Satz 8 f Bitten und Flehen angesichts der bevorstehenden Zukunft. Den Schluss markiert – ähnlich wie in manchen Ratswechselkantaten85  – die letzte Strophe aus Luthers Te Deum Deutsch, die als eine Art Fürbitte für die neuen Ratsherren zu verstehen ist. Die Segensbitte schlägt begrifflich und sachlich den Bogen zurück zum ersten Teil und lässt sich zusammenfassende applicatio der Gemeinde verstehen. Beide Sprechakte, die katabatische Anrede des ersten Teils der Kantate und die anabatische Antwort im zweiten Teil, sind im Eingangschor (V12 im Ggs. zu V 13 f) miteinander verknüpft. Biblischer Bezugspunkt ist Ps 147, ein weisheitlicher Hymnus, der Gottes Walten in der Natur und in der Geschichte (Israels) besingt und in Beziehung setzt. V2–5 ist eine Art konfessorischer Summa: Der Herr baut Jerusalem auf und bringt zusammen die Verstreuten Israels. Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden. Er zählt die Sterne und nennt sie alle mit Namen. Unser Herr ist groß und von großer Kraft und unbegreiflich ist, wie er regiert.

Besonders schön (als Zuspruch formuliert) ist V15 des genannten Psalms: Er schafft deinen Grenzen Frieden und sättigt dich mit dem besten Weizen.

Diesem Bekenntnis zur conservatio und gubernatio Dei spürt die Kantate nach, indem sie Gottes Segenshandeln an Israel auf die Stadt Leipzig und ihr weltliches Regiment münzt.86 Doch betrachten wir den Text unter Absehung dieser Probleme: 1. Cho r Preise, Jerusalem den Herrn, lobe, Zion, deinen Gott!

85 Vgl. BWV 119,9 und 120,6. 86 Dies mag uns heute hermeneutisch naiv erscheinen, war aber zur Zeit Bachs ein geläufiger Topos. Auch die Rede vom „Erbteil“ wäre im Zusammenhang der beiden Testamente zu bedenken und ggf. erst einmal christologisch einzuholen. Um heute einer unreflektierten civil religion nach amerikanischem Vorbild zu widerstehen, sollte dieses Thema energischer bearbeitet werden. Vgl. dazu die Predigt über BWV 29, Glockzin-Bever, 90: „Wenn das Machtzentrum mit Gott besetzt wird, werden alle anderen Machtpositionen relativiert. In der Beziehung zu Größerem werden mensch­ liche Machtansprüche in Frage gestellt und zugleich begrenzt.“



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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

Denn er macht fest die Riegel deiner Tore und segnet deine Kinder drinnen, er schaffet deinen Grenzen Friede.

Sprachlich lässt sich dieser Satz als hymnischer „Aufgesang“ der ganzen Kantate (vgl. Ps 98,1a: „Singet dem Herrn!“) begreifen, dem sich dann auch eine deiktische Begründung (vgl. Ps 98,1b: „Denn er tut Wunder“) anschließt, die das Handeln Gottes im Indikativ Präsens schildert. Segen und Frieden sind die beiden Güter, die das schöpferisch-bewahrende („er schafft Friede“) Handeln Gottes an Jeru­ salem bzw. Zion näher bezeichnen. Der Kopfsatz ist mit vier Trompeten und Pauken, zwei Flöten und drei Oboen üppig besetzt. Die musikalische Form der französischen Ouvertüre inszeniert gleichsam den Einzug des neu gewählten Rats als Abbild der göttlichen Herschaft in Analogie zum Einzug des französischen Königs.87 Der Affekt des Majestätischen wird besonders im instrumentalen Rahmenteil (T. 1–22 bzw. T. 50–67) durch scharfe (doppelt auszuführende) Punktierungen, aber auch durch stürmische Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Skalen unterstrichen. Der eigentliche Vokalteil im rascher wirkenden 12/8-Takt exponiert zunächst ein aufstrebendes Thema auf den Text „Preise Jerusalem den Herrn“ mit der rhetorischen Figur der Anabasis zunächst im Chorbass (T. 22). Bass und Sopran gehen den anderen Stimmen im Wechsel voran, diese fallen dann ein und treiben das Thema voran. Ab T. 31 zeigt der musikalische Exeget Bach, dass er den Subjektswechsel in der Sprache („Preise, Jerusalem … denn er macht fest“) musikalisch zu untermauern versteht. Die Begründung für den Aufgesang („denn er macht fest die Riegel deiner Tore“) wird im Gegensatz zu T. 22 ff von den beiden (weicher klingenden) Mittelstimmen eingeführt, ehe dann Sopran und Bass (umgekehrt wie vorher) wieder dazu kommen. Ein instrumentales Zwischenspiel markiert die Mitte des ganzen Satzes (nach 34 Takten von 67), hier ist das Hauptthema (Preise, Jerusalem)  – diesmal in d-moll  – nochmals aufgenommen. Darauf folgt mit dem Text „und segnet  …“ ein ruhigerer Abschnitt, in dem lange Liegenoten auf dem Verbum „segnen“ das Notenbild bestimmen, den Segen also förmlich ausbreiten. Dem Frieden widmet Bach lediglich zwei Takte, die allerdings dadurch besonders wirkungsvoll sind, dass hier die instrumentale Begleitung (bis auf das Continuo) ganz wegfällt. Durch die Reduktion der Instrumente ist also eine aparte Steigerung ins piano erreicht, die ganz im Dienste des Textes steht, ehe dann in einer Art Reprise das Thema „Preise, Jerusalem“ wiederkehrt. Die Struktur des Satzes ist demnach folgendermaßen darzustellen: A instrumental, 22 Takte (mit Wdh.: 42 Takte) B „Preise, Jerusalem“ 9 Takte C „er macht fest“ (4 Takte)  B’ instrumental: (3 Takte Zwischenspiel)



87 Vgl. dazu BWV 61,1 und BWV 20,1. Im ersten Fall ist an den Einzug des himmlischen Königs Jesus Christus als der „Heiden Heiland“ gedacht, im zweiten Falle kommt er zum Gericht (vgl. oben 3.1).

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D „er segnet“ (6 Takte) E: „er schafft Frieden“ (2 Takte) B’’ „Preise, Jerusalem“ (4 Takte) A’ instrumental, (18 Takte)

Das anschließende schlichte Secco besticht durch seine sprachliche Form. Eine inclusio88 mit der rhetorischen Figur der asyndetischen synonymischen Wiederholung89 „Gesegnet Land! glückselge Stadt“ gibt der musikalischen Predigt den Rahmen. „Bach legt in diese Rahmenform noch einen besonderen Reiz, indem er die Schlusswiederholung gleichsam rückläufig erklingen lässt. Dem Beginn [T. 1] entspricht der Schluß [T. 15 f].“90 Zwischen Kopf- und Schlusszeile steht eine fast wörtliche Aufnahme des 85. Psalms (V 10 f) in Form von rhetorischen Fragen, die die Antwort gleich mitliefern: Wie kann Gott besser lohnen? Als wo er Ehre91 lässt in einem Lande wohnen. (vgl. Ps 85,10b) Wie kann er eine Stadt mit reicherm Nachdruck segnen? Als wo er Güt und Treu einander lässt begegnen. (vgl. Ps 85,11a)

Als weitere Explikation des Segenshandelns Gottes schließt sich eine Anspielung auf das Motto der Stadt Leipzig an, wonach Frieden und Gerechtigkeit sich in seinen Mauern küssen mögen (Ps 85,11b). Allerdings hat der unbekannte Dichter aus der intransitiven Formulierung („sich küssen“) des Psalms eine transitive gemacht: Wo er Gerechtigkeit und Friede zu küssen niemals müde.

Dadurch entsteht eine neue Pointe: Gott ist es, der hier Gerechtigkeit und Frieden küsst! Eine kühne poetische Aussage, die Gott als Liebhaber des Lebens anschaulich werden lässt. Diese Aussage wird auch musikalisch in mehrfacher Hinsicht herausgehoben: Beim Wort Gerechtigkeit92 erreicht die Solostimme die einmalige Spitzennote a’. Das dann folgende „…niemals müde  /  nicht müde  …“ bindet Bach musikalisch zusammen, indem er es als eine Art Echo melodisch abfallen lässt und hier auch harmonisch einer erwarteten Kadenz ausweicht, wodurch eine große Überraschung erzielt wird. Abschließend bekräftigt der Dichter das Bekenntnis zu Gottes Treue, mithin die Aussage, dass Gottes Wort nicht leer zurück

88 Vgl. BWV 193,5. 89 Vgl. dazu Lausberg, § 652 f. 90 Dürr, 803. Dabei werden die beiden Glieder jeweils mit einem anderen Motiv musikalisiert, so dass die über dem poetischen Parallelismus ABAB ein musikalischer Chiasmus (ABB’A’) entsteht. 91 Hier wäre theologisch nachzufragen, ob mit „Ehre“ das gemeint ist, was wir heute mit wirtschaftlicher Blüte oder politischer Kultur verbinden. 92 Der sozialethische Begriff der Gerechtigkeit, der im hebräischen Denken zutiefst beziehungshaft gefüllt ist (zedaqah), bestimmt auch den Schluss des Ps 85. Die Gerechtigkeit schaut gleichsam als Person vom Himmel herab und geht im Lande einher.

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kommt (vgl. Ps 147,15–19), mit dem biblischen Zentralbegriff der Verheißung (T. 13). In BWV 119,3 wird das Erblühen in Form eines „Glückwunsches“ vergleichbar mit den Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,1–10), an die Leipziger Bürgerschaft weitergegeben. Hintergrund ist Ps 33,12: Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, das er zum Erbe erwählt hat. Ähnlich wie im vorangegangenen Rezitativ bildet der Glückwunsch als poetische inclusio den Rahmen des Stückes. Das knappe „Wohl dir“ durchzieht als vielfache Anapher das Stück und kommt insgesamt 16mal vor. Bach zitiert diesen Glückwunsch in Kurzform oder Langform stets doppelt oder dreifach (auch in der Mitte des Stückes nochmals) und greift damit im Sinne einer amplificatio in den Text ein. 3. Ar ie (Teno r) Wohl dir, du Volk der Linden, wohl dir, du hast es gut!     Wieviel an Gottes Segen     und seiner Huld gelegen,     die überschwenglich tut,     kannst du an dir befinden.

Die Sprachform ist interessant, da der Glückwunsch nicht optativisch auf die Zukunft gerichtet ist (vgl. den Kanon: „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“), sondern so etwas wie einen Syllogismus practicus93 formuliert: Dass ihr von Gott gesegnet seid, könnt ihr an euch selbst, d. h. an eurem gelingenden Leben, ablesen. Dass dieser Wunsch auch bei den Hörern ankommt, erreicht Bach in erster Linie durch die Besetzung: Die warmen Oboi da caccia und die Tenorstimme beleuchten den mittleren Klangbereich und geben einen weichen, einschmeichelnden Ton, was durch die gesangliche Melodik noch unterstützt wird. Die Vokale o und u sollen offenbar einen besonderen Wohlklang vermitteln. Schulze attestiert der Arie ferner einen „behaglich schlendernden Rhythmus“ und eine „liedhafte, eingängige Melodik“94. Kompositorisch ist die Arie nicht in Da capoForm gearbeitet, sondern eher auf eine musikalische Entwicklung angelegt und enthält manches Kuriosum. Das Ritornell schließt vor dem Einsatz der Singstimme nicht mit einer klaren Kadenz ab, vielmehr schleicht sich der Solotenor in T. 12 scheinbar einen Takt zu früh mit einem langen d’ ins Geschehen ein, ehe er sich dann mit der gleichen Melodik wie die Instrumente am Konzertieren beteiligt. Die Kadenz folgt dann erst einen Takt später, wodurch eine asymmetrische Taktperiodik entsteht (5+7 Takte). Die Musik lebt neben der gesanglichen Melodik von ständig präsenten Punktierungen. Motivisch bestimmen häufige Sequenzen (vgl. Ob.1: T. 2–4) die Melodik, darüber hinaus machen Imitationen zwischen den beiden Oboen und dem Continuo, z. T. in komplementären Rhythmen (vgl. T. 2–4 jeweils erste Zählzeit), den Satz lebendig. Wie schon im Eingangschor (Tempoproportion von ins­ trumentaler Einleitung und eigentlichem Vokalteil) ist es das Verhältnis von duolischen



93 Vgl. dazu Heidelberger Katechismus, Frage 86. 94 Vgl. Schulze, 583.

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und triolischen Rhythmen, die Bach offenbar besonders interessieren.95 Musikalisch hervorgehoben sind auf je einer ganztaktigen Liegenote (d’) die Zentralbegriffe „Wohl“ und „Segen“ (T. 12 und T. 21 f). Hier nimmt Gottes Güte gleichsam ihren Ausgangspunkt, um dann unter den Menschen an zukommen: Denn den Liegetönen schließt sich jeweils eine fallende Linie zum g hin an, die das Herabkommen des Segens abbildet (Katabasis).

Höhepunkt des Stückes sind die Koloraturen auf den Worten „Segen“ und „Volk“ (T. 39 f 96 bzw. T. 45–48), im ersten Fall schmückt Bach den Begriff mit virtuosen Sechzehntel-Triolen, im zweiten Fall mit einer langen Koloratur von Achteltriolen, beide Male also durch eine melismatische Hervorhebung. Damit sind Gabe und Empfänger des göttlichen Handelns musikalisch besonders fokussiert. Bach vermittelt den Segenswunsch „Wohl dir“, indem er durch seine Musik Gottes Gnade ruhig herabströmen lässt und den Segen, der begeistert und belebt, damit für „Herz und Gewissen“ (vgl. Satz 4) erschließt. Das folgende Accompagnato nimmt diese Aussage kraftvoll auf: Hier kommen zusammen mit dem Solo-Bass die vier Trompeten wieder zum Einsatz, die in einer polyphonen fanfarenartigen Eröffnung mit strahlenden C-Dur-Drei­ klängen und virtuosen Skalen das stolze Aussehen der Stadt Leipzig vor Augen malen. Leibliches Wohlergehen wird – wie schon in der Arie zuvor – als Zeichen gött­licher Zuwendung verstanden, die durch das weltliche Regiment wirksam ist. 4. Rezit ativ (B a ss) So herrlich stehst du, liebe Stadt! Du Volk! Das Gott zum Erbteil sich erwählet hat.97 Doch wohl! Und aber wohl! Wo man’s zu Herzen fassen und recht erkennen will, durch wen der Herr den Segen wachsen lassen. Ja! / Was bedarf es viel? Das Zeugnis ist schon da, Herz und Gewissen wird uns überzeugen, dass, was wir Gutes bei uns sehn, nächst Gott durch kluge Obrigkeit und durch ihr weises Regiment geschehn. Drum sei, geliebtes Volk, zu treuem Dank bereit, sonst würden auch davon nicht deine Mauern schweigen!

Die anfängliche Fanfare kehrt abschließend wieder. Bach nimmt damit die sprachliche Figur der inclusio aus den vorangegangenen Sätzen musikalisch auf. Inhalt

95 Aufführungspraktisch wäre zu diskutieren, ob die Punktierungen gleich von Beginn an triolisch auszuführen sind, also im Verhältnis von 2:1, oder durch das ganze Stück scharf, d. h. im Verhältnis von 3:1 aufgefasst werden sollten. Für Ersteres sprechen die ab T. 25 einsetzenden Achteltriolen und die ab T. 39 vorkommenden Sechzehntel-Triolen, zu denen die scharfe Punktierung in einem starken Kontrast träte. Für Letzteres, was schwerer wiegt, die Punktierung in T. 11 (punktiertes Achtel + zwei Zweiunddreißigstel) T. 37 (punktiertes Achtel + drei Zweiunddreißigstel). 96 Insgesamt fällt hier die Linie wiederum vom d’ bis zum d. 97 Mit dieser Wendung dürfte auf eine Zeile aus Luthers Te Deum angespielt sein: „Hilf deinem Volk, Herr Jesu Christ, und segne, was dein Erbteil ist.“

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lich haben wir es mit einer predigtartigen Entfaltung zu tun, die im Gegensatz zu den vorangegangenen Sätzen auch paränetische Züge hat. Dies wird in der folgenden Arie noch verstärkt: 5. Ar ie (Al t) Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild.     Wer ihre Macht nicht will ermessen,     der muss auch Gottes gar vergessen:     wie würde sonst sein Wort erfüllt?

In heute ungewohnter Weise wird hier die Obrigkeit als göttliche Gabe und „Ebenbild“ (vgl. Röm 13 bzw. Gen 1,27 f) gepriesen. Der Dichter gibt damit dem im Denken lutherischer Theologie fest verankerten „heiligen Stand“ der Politia großes Gewicht und führt dazu eine gleichsam naturrechtliche Begründung an.98 Doch nun zur Musik: Die intime Trio-Besetzung mit verdoppelten Traversflöten, Alt und Continuo überrascht und ist angesichts des Textes erstaunlich schlicht, könnte aber auch als Präsentation einer musikalischen Innovation vor dem Rat gedeutet werden. Symbolisch könnten die hohen Flöten einerseits für die göttliche Herkunft, die zarten Flöten andererseits (im Gegensatz zu den Trompeten) für den kondeszendenten Gabecharakter der Obrigkeit stehen. Koloraturen (im Sinne „farbiger Schmückungen“) finden wir besonders auf den schöpfungstheologisch bedeutsamen Begriffen „Gabe“ und „Ebenbild“ (T. 20–22; 24–26). Interessant ist, dass Bach den Wiedereinsatz des A-Teils mit dem indikativischen Spitzensatz „Die Obrigkeit ist Gottes Gabe …“ offenbar kaum erwarten kann und deshalb dessen beide Verse schon am Ende des B-Teils der Arie wieder bringt. Mit der Reprise des A-Teils endet der „kerygmatische“ Teil der Kantate. Das anschließende Rezitativ eröffnet den zweiten, „doxologischen“ Teil der Kantate und benennt ihren eigentlichen Anlass: 6. Rezit ativ (S opran) Nun! wir erkennen es und bringen dir, o höchster Gott, ein Opfer unseres Danks dafür …. Zumal, nachdem der heut’ge Tag, der Tag, den uns der Herr gemacht, euch, teure Väter, teils von eurer Last entbunden, teils auch auf euch schlaflose Sorgenstunden bei einer neuen Wahl gebracht, so seufzt ein treues Volk mit Herz und Mund zugleich:

Die liturgisch anmutende Formulierung „der Tag, den uns der Herr gemacht“ (vgl. Ps 118,24) benennt einen besonderen Kasus, der dann auch konkret ex­

98 Eine grundsätzliche Diskussion dieser Aussage kann hier nicht stattfinden. Nur so viel: Einerseits ist die Ausübung staatlicher Autorität natürlich noch kein direkter Hinweis auf Gott und schon gar kein Gottesbeweis. Umgekehrt ist die Deutung der Obrigkeit als Gabe Gottes immerhin eine biblisch geläufige Aussage (vgl. 1 Tim 2,1–3), die man auch nicht vorschnell abtun sollte. Dies gilt auch für demokratisch gewählte (bzw. rechtsstaatliche) Regierungen im außerchristlichen Kontext.

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pliziert wird: Die „politische Kasualie“ des Ratswechsels besteht in der Verabschiedung einzelner „alter“ und der Einsetzung „neuer“ Räte, die gemeinsam durch den Chor ins Gebet genommen werden. Mit einer Fürbitte, die zugleich Lob und Dank ausdrückt, ist der musikalische Höhepunkt der Kantate erreicht: 7. Cho r Der Herr hat Guts an uns getan. Des sind wir alle fröhlich. Er seh die teuren Väter an und halte auf unzählig und späte lange Jahre naus in ihrem Regimente Haus. So wollen wir ihn preisen.

Der Grundaffekt ist in diesem Satz – entgegen der Ankündigung im vorangegangenen Rezitativ mit dem Stichwort „seufzen“ – die Freude, was durch die große Besetzung mit vier Trompeten unmissverständlich angezeigt ist. Dürr kommentiert treffend: „Das Fugenthema ist bewusst oder unbewusst dem Beginn des Liedes ‚Nun danket alle Gott‘99 angeglichen. Die ritornellumrahmte Fuge steigert sich allmählich vom A-cappella-Satz (+Continuo) […], mit allmählich hinzutretenden Instrumenten (Holzbläser z. T. selbständig und thementragend) bis zur dreifachen Themenengführung unter Mitwirkung der Trompeten.“100 Auch hier gilt unser Interesse der Textbehandlung Bachs: Koloraturen finden sich, wie zu erwarten, auf dem zentralen Affektwort „fröhlich“. Anabasis und Circulatio sind mit einander kombiniert (vgl. T. 19; 21; 23; 27 u. ö.).101 Wie in vielen anderen Kantaten ist auch hier das prädikative „alle“102 durch Koloraturen geschmückt. Im B-Teil des Chores, der (nicht als Lob, sondern) als Fürbitte formuliert ist, ändert sich auch der Satz: Bach wechselt hier mit instrumentalen Einwürfen und vokalen Teilen. Die meist homophonen Einsätze sind mit harmonisch flächigen Zwischenspielen aus dem Material des Ritornells versehen, die wie schon zu Beginn durch kleingliedrige Tonwiederholungen geprägt sind (vgl. T. 58 f). An dieser Stelle wird der tiefere Sinn des musikalischen Materials verständlich: Er symbolisiert durch die mehrfache Epizeuxis ein Ausbreiten, ein göttliches „In-die-Länge-Ziehen“ des Segens (vgl. Ex 20,6). Tonrepetitionen (gleichsam als durchpulsten Orgelpunkt) finden sich dann auch in den Singstimmen auf den Text: „und halte auf unzählig und lange Jahre ’naus“ (vgl. Sopran, T. 66 f). Sie münden in einen echten Orgelpunkt (T. 69 f), der sich vom Sopran auf alle Stimmen ausbreitet. Melodisch wird das Herabsehen Gottes, das Her­ abkommen seiner Zuwendung, durch fallende Skalen (z. B. T. 52 f im Sopran und T. 55 f im Bass) im Sinne einer musikalischen Katabasis illustriert. Die Kantate schließt mit einem schlichten Secco-Rezitativ samt Choral, der dem Schlussteil des deutschen Te Deum entnommen ist. Hier taucht als inclusio der theologische Leitbegriff des Segens wieder auf, der hier zum ersten und einzigen Mal christologisch konnotiert ist.

99 Dies bezieht sich auf den Textausschnitt „Guts an uns getan“, also den ersten Takt des Fugenthemas. 100 Dürr, 802 f. 101 Vgl. Spieß, 156, der eine Circulatio ascendens und descendens unterscheidet. In diesem Fall ist die descendens mit einer anschließenden Tirata verbunden. 102 Vgl. Simpfendörfer, 294.

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Insgesamt können wir aus der Analyse diese liturgischen Folgerungen ziehen: Angesichts der Zunahme zivilreligiöser Anlässe auch in Europa, ist es gut, wenn die evangelische Kirche solche „öffentlichen Liturgien“ auch kirchenmusikalisch begleiten kann. Ereignisse wie etwa die Wiedervereinigung Deutschlands, die Wiedereinweihung der Dresdner Frauenkirche, aber auch die Einweihung des Hauptbahnhofs in Berlin brauchen liturgische Feiern, in denen das Evangelium auch musikalisch aufleuchtet. Hier könnte BWV 119 (wenigstens in Auszügen) auch heute aufgeführt werden.103 Zur Thematik „Segen“ bzw. „Gebet für die Stadt“ würde als biblischer Bezug Jer 29,7: Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn passen.104 Der theologisch etwas „steile“ Satz 5 und der situative Satz 6 sowie Teil B von Satz 7105 könnten notfalls gestrichen werden. Dann gäbe es einen organischen Übergang von Satz 4 zu Satz 7A mit folgendem Verkündigungsteil: Psalmgebet Ps 85  – Lied EG 362  – Epistel Röm 13 oder 1 Tim 2,1–3  – Kantate Satz 1 – Auslegung der Kantate – Kantate Satz 2–4 (+7A) – Credo – Predigt (Jer 29,7) – Kantate Satz 7A+8–9

5.3 „Wohl dir, dein Glück ist nicht zu zählen“ – Gottes Segen für die Ehe (concursus divinus) Ein weiterer Anlass für eine liturgische Musik, bei der Gottes Geleit erbeten und menschliches Vertrauen bekannt wird, also Segensbitte und Segenszuspruch106 artikuliert werden, ist neben dem Ratswechsel die Trauung.107

5.3.1 Herr Gott, Beherrscher aller Dinge (BWV 120a) Mit der nur fragmentarisch überlieferten108 Kantate BWV 120a soll hier eine Komposition betrachtet werden, die zum einen in ihrem Bezug zur parodierten Ratswahlkantate BWV 120, aber auch angesichts ihres poetisch reichhaltigen

103 Vgl. dazu auch EGB, 478 f den Kasus „Danktage“. Eine Einführung in die historischen Zusammenhänge und eine Explikation der Aussagen zur Obrigkeit wären im Falle einer Aufführung der Kantate sicher unerlässlich. 104 Vgl. Glockzin-Bever, 87–96, besonders Abschnitt IV der Predigt zu Jer 29,7. 105 Damit sind die Takte 1–52 gemeint. Auf die Verzahnung von Satz 6 und 7 (Attacca-Übergang) müsste dann verzichtet werden. Für die Verknüpfung von Satz 4 und 7 spräche auch die identische Bläserbesetzung. 106 Vgl. dazu Arnold, 433–460, bes. 433–439, bzw. Arnold, Der ganze Gott, 7–11. 107 Die Abgrenzung von den unten (vgl. Kap.  6) erörterten doxologischen Kantaten (vgl. z. B. BWV 117) ist nicht immer einfach. Bei den hier verhandelten Stücken ist weder das Lob noch das trinitarische Bekenntnis im Vordergrund. Zur liturgischen Einbettung der Kantaten innerhalb der kirchlichen Trauung, vgl. NBA, Kritischer Bericht, Kassel 1958, 7–17, mit dem Abdruck eines Verzeichnisses der Eheschließungen von 1723–1750. Eine Trauung mit der Aufführung einer Kantate wurde auch als eine „gantze Brautmeße“ bezeichnet im Gegensatz zu einer „halben Brautmeße“, bei der nur drei Choräle musiziert wurden (vgl. BWV 250–252). 108 Vorhanden sind die 2. Tr, Vla, Continuo und der Chorsatz.

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Textes109 Beachtung verdient. Zugleich wird hier nicht nur der innere Zusammenhang der in diesem Kapitel vorgestellten Kantaten evident, sondern auch deutlich, dass die Stände Politia und Oeconomia bzw. die Anlässe Ratswahl und Trauung als öffentliche Ereignisse im Schnittpunkt von geistlicher und weltlicher Sphäre ein starkes kasualtheologisches und kirchenmusikalisches Gewicht zur Zeit Bachs hatten. In sich bildet dieses Libretto110 eine kleine Liturgie ab, die sich vom Staunen über den Schöpfer und Erhalter (Satz 1 und 2) und einer ersten Fürbitte für das Paar (Satz 3) zunächst zu einer fürbittenden Litanei (Satz 5) hin bewegt, ehe dann im zweiten Teil eine „Segensbitte“ (Satz 6) und der tatsächliche Segenszuspruch (Satz 7) formuliert wird. Hier fungiert der Solobass klassisch als vox Dei. Die Kantate schließt mit zwei doxologischen Strophen aus dem bis heute bei Trauungen beliebten Lobe den Herren, den mächtigen König (EG 317), womit sowohl textlich als auch harmonisch (D-Dur) eine Brücke zum Eingangschor geschlagen wird. Auffällig ist insgesamt die Anlehnung an alttestamentliche Sprache (vgl. „Herr Zebaoth“, Satz 5; „Ephraim und Manasse“, Satz 7) sowie der mehrmalige Einsatz des Chors in allen poetischen Gattungen (Satz 1: madrigalisch, Satz 2: Bibelwort; Satz 8: Choral). Hinzu kommt die unmittelbar liturgische Funktion des Chors in der Litanei von Satz 5. Der Text des ursprünglich festlich instrumentierten Eingangschors (3 Tr/ Pk) lautet: 1. Cho r Herr Gott, Beherrscher aller Dinge, der alles hat, regiert und trägt, durch den, was Odem hat, sich regt,     wir alle sind viel zu geringe     der Güte und Barmherzigkeit,     womit du uns von Kindesbeinen     bis auf den Augenblick erfreut.

Der Text unterscheidet sich im Versmaß (Jambus statt Trochäus) von seiner Vorlage BWV 120,2, was eine geschickte musikalische Umarbeitung verlangte, die wohl von Bach selbst souverän geleistet wurde, wie ein Vergleich der beiden Chorsätze von BWV 120a,1 und 120,2 zeigt.111 In Aufnahme biblischen Vokabulars (vgl. Gen 2,7; Sirach 50,22 u. a.) werden die Theologumena des Schöpfers, Er­ halters und Weltregenten, mithin die ganze Providenzlehre, in einem hymnischpartizipialen Stil vorgetragen, ohne dass dabei eine explizit doxologische Aussage (vgl. „Jauchzet, ihr erfreuten Stimmen“ o.ä.) gemacht wird. Der A-Teil expliziert creatio und gubernatio Dei, der B-Teil eher die conservatio Dei, durch die der gütige Schöpfer erkennbar und erfahrbar wird. Der erste Teil des Chores lebt von

109 Hudson, 64 geht im kritischen Kommentar der NBA (vgl. vorletzte Anm.) davon aus, dass Bach die Vorlage der Ratswechselkantate selbst umgearbeitet hat. 110 Vgl. dazu unsere Analyse zu BWV 196 in der maschinenschr. Habilitationsschrift, Leipzig 2007. 111 Ihm Original der Ratswechselkantate steht der Text: „Lobet Gott in seinem Heiligtum / und erhebet seinen Ruhm. / Seine Güte, / sein erbarmendes Gemüte / hört zu keinen Zeiten auf.“ Der Transfer vom trochäischen zum jambischen Versmaß erfordert eine umfangreiche Umarbeitung der Partitur, der sich auch auf das thematische Material (vgl. T. 15 f in beiden Fassungen) direkt auswirkt.

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einer spritzig-virtuosen Dreiklangsmotivik, die die Souveränität und Allmacht Gottes musikalisch inszeniert. Die großen Sprünge manifestieren Gottes allumfassendes und beherrschendes Lenken. Besonders schön ist T. 34, wo die imitierenden Themenköpfe in Bass, Alt und Sopran zunächst eine Quart, dann eine Quint und schließlich eine Sext beschreiben. Besonderes Augenmerk gilt dem Wörtchen „alles“: Gottes allumfassende Macht und Güte, womit noch nicht unbedingt seine Allwirksamkeit ausgesagt ist,112 wird in langen aufsteigenden Entwicklungen (Circulatio und Gradatio) imitatorisch durchgeführt.113 Der verhaltenere, betont schlichte und gegenüber 120,2 gekürzte B-Teil kommt ohne Trompeten und anfangs auch ganz ohne Imitationen und Melismatik aus. Bach stellt im weitgehend homophonen Satz ganz die Deklamation des Textes als Gebet in den Mittelpunkt, worin er der Vorlage (120,2) folgt. Hier ist der Eindruck umgekehrt: Der B-Teil in der Trauungskantate hat, vor allem durch den Verzicht auf Trompeten und Pauken, eher gewonnen. Im anschließenden Rezitativ, das nacheinander Bass und Tenor vortragen, werden Gottes Taten im persönlichen Leben staunend aufgezählt und Gottes Bewahrung und barmherziges Vorherwissen (Präszienz) bewundert.114 Der Satz beginnt mit einer dreifachen Anapher (Wie) und schönen Alitterationen bei den W-Lauten. Wort-Ton-Korrespondenzen gibt es u. a. bei „im Verborgnen blieben“, wo die Melodie ihren tiefsten Punkt erreicht. Insgesamt werden im Wesentlichen Aus­ sagen von Ps 139 in positiv-werbender Weise als Vertrauensgebet entfaltet:115 116 117 2. Rezit ativ (B a ss) Wie wunderbar, o Gott, sind deine Werke,115 wie groß ist deine Macht, wie unaussprechlich deine Treu! Du zeigest deiner Allmacht Stärke, eh du uns auf die Welt gebracht116 Zur Zeit, wenn wir noch gar nichts sein und von uns selbst nichts wissen, ist deine Liebe und Barmherzigkeit vor unser Wohlgedeihn aufs eifrigste beflissen.

Der Name und die Lebenszeit sind bei dir angeschrieben, wenn wir noch im Verborgnen blieben;117 ja, deine Güte ist bereit, wenn sie uns auf die Welt gebracht, uns bald mit Liebesarmen zu umfassen. Und dass wir dich nicht aus dem Sinne lassen, so wird uns deine Güt und Macht an jedem Morgen neu. Drum kommts, da wir dies wissen, dass wir von Herzensgrunde rühmen müssen:



112 Vgl. zur Diskussion um Allwirksamkeit Allmacht Gottes: oben Kap. 2.0. 113 Es ist nicht zu übersehen, dass BWV 120 eine deutlichere Verbundenheit mit dem Text aufweist, wie etwa der Vergleich von T. 24 ff (BWV 120a) mit T. 23 ff (BWV 120) zeigt. In 120a,1 wird die sich hinauf schraubende Anabasis mit dem Wort „alles“ verbunden, in der Ratswechselkantate dagegen war diese Figur eindeutiger mit „steiget bis zum Himmel nauf “ verknüpft. 114 Zur wahrnehmenden Haltung des Staunens vgl. auch BWV 35 (12. Sonntag n. Trin.), s. unten 6.0.4. 115 Vgl. Ps 139,14: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin, wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele.“ 116 Vgl. EG 321,1: „Der uns von Mutterleib“ bzw. Sirach 50,22: „Der einen Menschen erhöht von Mutterschoß an“ (Einheitsübersetzung) bzw. Ps 139,13: Du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. 117 Vgl. Ps 139,16: Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben.

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Das Rezitativ, das trotz der Gebetsform in seiner großen Fülle von Gottes­ attributen durchaus predigtartig wirkt, mündet hier organisch in einen kurzen hymnischen Chorsatz, der Sirach 50,22 motettisch durchführt: Nun danket alle Gott, der große Dinge tut an allen Enden.118 Neben den langen Koloraturen auf dem Wort alle119 bekommt in T. 36–40 der Lobpreis Gottes bei „große Dinge“ durch emphatische Synkopen großes Gewicht. Das daran anschließende Tenor-Rezitativ bringt einen Wechsel vom Staunen und allgemeinen Dank angesichts der Güte des Schöpfers hin zur konkreten Bitte für das verlobte Paar, das bis jetzt noch gar nicht in den Blick gekommen ist. Erst jetzt wird die Kantate zu einer „Trauungskantate“: 2. Rezit ativ (T eno r) Nun, Herr, es werde diese Lieb und Treu auch heute den Verlobten neu, und da jetzt die Verlobten beide vor dein hochheilig Angesichte treten und voller Andacht beten, so höre sie vor deinem Throne und gib zu unsrer Freude, was ihnen gut und selig ist, zum Lohne.

Die Bitte um „Führung und Leitung“ des Paares ist auch der Grundtenor der folgenden Alt-Arie, deren Musik BWV 120,4 entlehnt ist:120 3. Ar ie (Al t) Leit, o Gott, durch deine Liebe dieses neu verlobte Paar.     Mach an ihnen kräftig wahr,     was dein Wort uns vorgeschrieben,     dass du denen, die dich lieben,     wohltun wollest immerdar.

Gott wird dabei an seine Verheißung erinnert (vgl. Ex 20,6), über Generationen hinweg denen Gutes zu tun, die seine Gebote halten und ihn lieben. Bach hebt das theologisch zentrale Verbum „leiten“ durch lange Koloraturen, z. B. mit abgezogenen, nach unten fallenden Sekundketten (vgl. die Katabasis in T. 27) besonders hervor. Er insistiert damit auf der Aussage, dass es Gott ist, der durch seine herabkommende Liebe das Paar – auch in kleinen Schritten – leiten kann und will.

118 Selbst wenn Dürr im Recht ist und hier nicht Crügers Choralmelodie (EG 321) Pate stand, ist es nicht abwegig, das Material der ersten drei Takte (Sopran, Viola) darauf zu beziehen.Vgl. Dürr, 823. 119 Vgl. Simpfendörfer, 294: „Bach unterstreicht gerne die Totalität einer Aussage, nach der positiven Seite hin durch Hervorhebung von ‚alles‘.“ 120 In der Sopranarie BWV 120,4 geht es ebenfalls um eine innige Beziehung, das Verhältnis von Heil und Segen bzw. Recht und Treue, in der neuen Stadtregierung: „Heil und Segen / soll und muss zu aller Zeit / sich auf unsre Obrigkeit / in erwünschter Fülle legen, / dass sich Recht und Treue müssen / miteinander freundlich küssen.“

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Die erbeteten Wohltaten Gottes macht Bach durch lange Haltenoten und Vorhalte evident (vgl. T. 52–55). Auf die Teil  II eröffnende Sinfonia, entlehnt aus der Partita in E-Dur für Violine solo, folgt ein weiteres Tenor-Rezitativ, das den Gestus der Bitte wiederum aufnimmt und explizit um Gottes Segen für das Paar fleht: 5. Rezit ativ (T eno r) Herr Zebaoth, Herr, unser Gott. Erhöre unser Flehn, gib deinen Segen und Gedeihn zu dieser neuen Ehe, dass all ihr Tun in, von und mit dir gehe. Lass alles, was durch dich geschehen, in dir gesegnet sein, vertreibe alle Not, und führe die Vertrauten beide so, wie du willt, nur stets zu dir. So werden diese für und für mit wahrer Seelenfreude und deinem reichen Segen, an welchem alles auf der Welt gelegen, gesättigt und erfüllt.

Dieses Gebet, in welchem der Sänger die Rolle eines mit der Gemeinde betenden Liturgen einnimmt und um leibliche und geistliche Segensgaben121 für das Paar bittet, wird vom Chor durch einen Ausschnitt aus der Litanei bekräftigt: „Erhör uns, lieber Herre Gott“122 (T. 19–21). Das im Rezitativ dreifach verwendete Begriffsfeld „Segen/segnen“ (T. 4; 9; 16) nimmt das folgende Duett ebenfalls dreimal auf. Wie Satz 5 haben wir ein Gebet (Segensbitte) vor uns: 6. Duet t (Al t , Teno r) Herr, fange an und sprich den Segen auf dieses deines Dieners Haus.     Lass sie in deiner Furcht bekleiben,     so werden sie in Segen bleiben;     erheb auf sie dein Angesichte,     so geht’s gewiss in Segen aus.

Zu einer gelingenden Ehe gehören der gute Anfang, der lange Atem und das „selige Ende“. Diese Aussage wird formal dadurch unterstrichen, dass das Stichwort Segen am Anfang, in der Mitte und am Ende des Stückes (inclusio) in diesem Sinne gebraucht wird. Bach hat im Gegensatz zur Vorlage BWV 120,1 (durch-



121 Vgl. dazu Arnold, 445–452 bzw. Luther, WA 25, 436–439 und WA 30 III, 574–582. 122 Vgl. ähnlich BWV 190,2 und BWV 41,5.

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komponierte Soloarie für Alt)123 hier ein Da capo-Duett komponiert, das in der Behandlung der Singstimmen deutlich schlichter ist und besonders im (neu geschaffenen) B-Teil (fis-moll) eine weitgehende Parallelität der Singstimmen aufweist.124 Dadurch wird musikalisch das gemeinsame und einträchtige Gebet der Eheleute, mithin ihre geistliche Einheit, abgebildet und die Sprachverständlichkeit wesentlich erhöht. Die Instrumentalstimmen sind zwar gleich besetzt (2 Ob. d’amore, Str.) wie in BWV 120,11, aber mit dem Ende des Eingangsritornells, unterscheidet sich auch der Orchesterpart deutlich von der Vorlage. Bach reduziert und steigert den Ausdruck durch Schlichtheit,125 was die Eindringlichkeit der Segensbitte verstärkt. Das Stichwort „Segen“ bildet er (T. 19 f) durch fallende Melismen mit Zweierbindungen bzw. in T. 35 f durch lange Liegenoten in den Singstimmen ab, die mit virtuosen Figurationen (Figura-corta mit anschließenden Tonwiederholungen)126 in den Oboen umspielt werden.127 Bach hat also die WortTon-Entsprechungen in der Trauungskantate eher gesteigert als geschwächt. Dann wechselt die Sprechrichtung vom Gebet zum Zuspruch. Das anschließende Bass-Rezitativ ist gleichsam die vox Dei,128 die zum Brautpaar hin gesprochen wird. Der Sänger übernimmt damit Aufgaben des „berufenen Dieners“, nun allerdings nicht betend, sondern verkündigend: 7. Rezit ativ (B a ss) Der Herr, Herr unser Gott, sei so mit euch, als er mit eurer Väter Schar vor diesem und auch jetzo war. Er pflanz’ euch Ephraim und dem Manasse gleich. Er lass euch nicht. Er zieh nicht von euch seine Hand, er neige euer Herz und Sinn stets zu ihm hin, dass ihr in seinen Wegen wandelt, in euren Taten weislich handelt. Sein Geist sei euch stets zugewandt. Wenn dieses nun geschicht, so werden alle eure Taten nach Wunsch geraten.

123 Der Part des Soloalts „bebildert“ das Verb „loben“ mit hochvirtuosen Schmuck-Koloraturen (vgl. T. 15–17 bzw. 23–25; T. 64–66; T. 68–70). Auffällig ist, dass die Stille musikalisch nur wenig (Liegenoten, T. 19; 21 u. ö.) zur Geltung kommt. 124 Parallele (bzw. homophone) Stimmführung gibt es auch schon in den Oboen und Streichern, T. 29–34, u. ö. 125 Bach hat in der Neubearbeitung die virtuose Zweiunddreißigstel-Passage der Oboen weggelassen und auch den Streicherpart vereinfacht. 126 Vgl. die Arie „Herr dein Mitleid“ im Weihnachtsoratorium (BWV 248/III, Duett Sopran/  Bass). 127 Im Original waren die Liegetöne mit dem Begriff „Stille“ verbunden, für die fallenden Sechzehntel (vgl. BWV 120,1, T. 19 f, dort aber nur als Kontrapunkt der Violinen) gibt es keine sprachliche Entsprechung in der Vorlage. 128 Vgl. dazu exemplarisch BWV 2,4 und 60,4, aber auch BWV 21,7 f; 81,4; 154,5 u. ö. (vox Christi).

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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

Und eurer frommen Eltern Segen wird sich gedoppelt auf euch legen. Wir aber wollen Gott mit Singen ein Dank- und Freudenopfer bringen.

Noch dezidierter als die vorigen Sätze lässt dieses Rezitativ den göttlichen Segen in der Vergangenheit beginnen (vgl. 1 Kön 8,57 bzw. 1 Chr 28,20).129 Die Segenslinie, die von den Vätern (vgl. Jakobs Segen für Manasse und Ephraim in Gen 48,20) auf uns gekommen ist, ermöglicht zeitliches Glück und Erfolg. Gottes Segen schenkt Gelingen für menschliche Vorhaben und mündet dann auch in ein überschwängliches „Dank- und Freudenopfer“, also in eine explizite Doxologie. Diese erklingt mit zwei Strophen von Neanders „Lobe den Herren“.130 Sprachlich ist zu beobachten, dass sich der im Deutschen optativisch formulierte Iussiv des Segens mit der vierfachen Anapher „Er“131 im zweiten Teil zu einem futurischen Indikativ wendet („so werden alle eure Taten“ etc.), was eine sachgemäße deutsche Übertragung der hebräischen Iussiv-Form ist.132 Inhaltlich wird der Zuspruch des Segens („Pflanzen“, „Nicht-Lassen“; „Nicht-Abziehen“; „Neigen“) als „Gründung“, „Beistand“ und „Ausrichtung des Herzens auf Gott hin“ beschrieben. Das erste und das letzte Glied werden positiv, die mittleren negativ formuliert, so dass sich ein kleiner Chiasmus ABB’A’ ergibt. Theologisch bedeutsam scheint uns, dass hier zwar mit Gottes Geist die dritte Person der Trinität als Geber anklingt, die Christologie aber ausgeblendet bleibt. Die Segensgaben bleiben ebenfalls eher im natürlichen Bereich. Von daher ist es sinnig, dass das „Dank- und Freudenopfer“, das mit dem abschließenden Choral von Neander erklingt, ebenfalls an Gott den Schöpfer gerichtet ist.133 Das Theologumenon des Segens dient in dieser Kantate dazu, primär „leib­ liche“ Gaben Gottes für das Paar in Aussicht zu stellen. Insgesamt können wir in der Kantate eine kleine Liturgie in nuce entdecken, deren Mitte Arie und Rezitativ No. 6 und 7 (Segensbitte und –zuspruch) sind.



129 Vgl. Dürr, 824. 130 Die letzte Strophe mit der Wendung „Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen“ hat Bach durch den festlichen Trompetenchor mit obligaten Stimmen glanzvoll überhöht, um damit die Fülle musizierender Chöre zu illustrieren (vgl. den fast identischen Satz von BWV 137,5, dort in C-Dur statt in D-Dur). 131 Vgl. BWV 190,6 mit dem Stilmittel der Anapher („Er“) am Zeilenbeginn, s. u. 6.5. 132 Vgl. Arnold, 436–440. 133 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass loben in den biblischen Sprachen auf den gleichen Wortstamm (brk) zurückgeht wie segnen. Vgl. dazu Arnold, 458 f mit Hinweis auf Eph 1 und J. A. Bengel.

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5.3.2 Gott ist unsere Zuversicht (BWV 197) Poetisch, theologisch und musikalisch ähnlich ergiebig ist BWV 197. Sie greift im zweiten Teil Sätze aus der Weihnachtskantate Ehre sei Gott in der Höhe (BWV 197a)134 auf und stellt von Anfang an die Metapher des Weges135 in den Vordergrund. Die Kantate beginnt mit einem Vertrauensbekenntnis des Paares in der Gemeinde (1. Pers. Pl.), das vom Chor vorgetragen wird und als gemeinsame Glaubensaussage die Trauung prägt (vgl. Ps 46,2): 1. Cho r Gott ist unsre Zuversicht, wir vertrauen seinen Händen.     Wie er unsre Wege führt,     wie er unser Herz regiert,     da ist Segen aller Enden.

Der erste Vers geht als „verwaister Reim“ der Dichtung als Motto voran. Dadurch entsteht ein poetisches Toppgewicht. Bach trägt dem dadurch Rechnung, dass er diesen Vers in mindestens drei verschiedenen Themen oder Motiven präsentiert. Der festlich instrumentierte Kopfsatz mit drei Trompeten, (sowie Pk, 2 Ob, Str.) in D-Dur beginnt mit einem instrumentalen Ritornell, das durch Skalenund Dreiklangsmotivik sowie harmonische Großflächigkeit zu charakterisieren ist und sofort in eine Permutationsfuge des Chors mündet, die thematisch (vier repetierte Viertel) an das Material des Ritornells anknüpft. Während die erste Zeile („Gott ist unsre Zuversicht“) beinahe statisch auf einem Ton verharrt, lebt die Vertonung der zweiten von Synkopenfiguren, die die drei zentralen Wörter „Wir“, „vertrauen“ und „seinen Händen“ abwechselnd betonen und damit den Beziehungsaspekt des Vertrauensbekenntnisses beleuchten. Eine außergewöhnliche Stelle finden wir in T. 58–63, wenn sich der vierst. Chor plötzlich in ganzen Noten (also taktweise) beim Text „wir vertrauen seinen Händen“ choralartig zusammenfindet. Es handelt sich um die Figur des Noema136, wobei die (äußerst seltene) vierfache Augmentation der bis dahin verwendeten Notenwerte (syllabisch deklamierende Viertel) vorliegt. Sie macht die ekklesiale Bekenntnisdimension dieses Satzes sinnenfällig. Musikalisch ableitbar ist diese Stelle aus dem Ritornell (vgl. T.  1–4, Oboen), das nun gleichsam vom Chor „unterlegt“ wird. Theologisch bringt Bach damit die unerschütterliche Zuversicht auf den ewigen Gott zum Ausdruck. Im Verlauf des festlichen Chores arbeitet er weiter mit dem Wechsel polyphoner und homophoner Chorpassagen. So werden im B-Teil (h-moll), der betont schlicht beginnt, zunächst drei Verse homophon und homorhythmisch behandelt, ehe dann der dritte mit den Worten „da ist Segen aller Enden“ durch

134 Vgl. dazu Dürr, 129–131. 135 Damit gewinnt der dogmatische Begriff des concursus divinus eine besondere Anschaulichkeit und bietet sich insbesondere als homiletische Brücke an. 136 Walther, Art. Noema, bezeichnet damit einen solchen „Satz, worinn lauter Consonanzen auf einmahl gehört und hervorgebracht werden“, es geht um den Wechsel von einer polyphonen zu einer (überraschend) homophonen Satzstruktur.

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Gottes Fürsorge und Weltregiment in Bachs Kantaten

zahlreiche Vorhalte und Überbindungen emphatisch wiederholt wird (vgl. T. 111– 122 bzw. T. 139–149). Bach inszeniert so das „Bleiben“ des göttlichen Segens und unterstreicht dies in T. 122–125 auch dadurch, dass die erste Trompete über vier Takte hinweg in Viertelnoten ein fis’ 16mal hintereinander, quasi als pulsierenden Orgelpunkt, anstoßen lässt. Das folgende Secco des Basses entfaltet in Entsprechung zu diesem Chor das Theologumenon der Providenz Gottes (im Gegenüber zu menschlicher Vernunft) in Form einer Kurzpredigt: 2. Rezit ativ (B a ss) Gott ist und bleibt der beste Sorger, er hält am besten haus. Er führet unser Tun zuweilen wunderlich, ja dennoch fröhlich aus, wohin der Vorsatz nicht gedacht. Was die Vernunft unmöglich macht, das füget sich. Er hat das Glück der Kinder, die ihn lieben, von Jugend an in seine Hand geschrieben.

Bach lenkt unser Augen- und „Ohrenmerk“ durch eine trugschlüssige Wendung auf den Text „das füget sich“, wodurch deutlich wird, dass Gott auch das zum Guten wenden kann, was Menschen missglückt ist (vgl. Gen 50,20). Am Ende („Er hat das Glück  …“) mündet das Rezitativ in ein kleines Arioso, das Gottes Segenshandeln in seiner Kontinuität und belebenden Kraft (motorische Figur im Continuo) durch eine dreifache Sequenz (T. 10–12, vgl. im Continuo: T. 13–15) zeigt. Die Aussage, dass Gottes Plan für unser Leben „in seine Hand geschrieben ist“ (vgl. Jes 49,16) und er aus menschlichen Missgeschicken ein glückliches Ende bereiten kann, ist die Basis für die folgende Arie von „bezaubernder Süßigkeit“137. Sie nimmt mit der typischen Besetzung Liebesoboe/Alt den Topos des „Schlafliedes“138 auf. Die Innigkeit des Textes wird durch einen dichten Streichersatz (im Gegensatz zur parodierten Vorlage BWV 249a) noch unter­ strichen: 3. Ar ie (Al t) Schläfert allen Sorgenkummer in den Schlummer kindlichen Vertrauens ein.     Gottes Augen, welche wachen     und die unser Leitstern sein,     werden alles selber machen.

Dieses Wiegenlied eines Menschen, der sich Gott kindlich anvertraut, ist an ein­ facher und tiefer Empfindung kaum zu überbieten. Das Schlafen wird durch lange

137 Spitta, II, 557. 138 Vgl. die pastorale Vorlage in der Schäferkantate BWV 249a, 7 bzw. grundsätzlich die berühmte Altarie „Schlafe mein Liebster“ aus dem Weihnachtsoratorium (BWV 248, II).



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Liegetöne in der Singstimme sinnenfällig (z. B. T. 51–54). Inhaltlich er­innert die Arie an Ps 127,1 f mit seinen Motiven menschlichen Schlafens und göttlichen Wachens. Trotz der positiven „Grundstimmung“ finden sich, etwa beim Wort „Sorgenkummer“ expressive Chromatik mit sog. Passus duriusculi (vgl Soloalt, T. 47–50). Der B-Teil bringt einen metrischen Wechsel vom 3/4- zum 4/4-Takt, Sechzehntel-Koloraturen sorgen für eine erhebliche Belebung. Auf diese Weise wird die Wachsamkeit Gottes gegenüber dem, was im Leben zu bewältigen ist, im Kontrast zum vetrauensvollen Schlaf der Glaubenden evident, der dann im A’-Teil wieder ins Spiel kommt. Der Grundtenor des Satzes lautet: Gott wird alles wohl machen und weiter über uns wachen. Das Motiv des voranziehenden göttlichen Leitsterns (vgl. Wolken- und Feuersäule bei der Wüstenwanderung, bzw. Mt 2) ist auch der Hintergrund für das folgende Accompagnato-Rezitativ, das energisch nach vorne drängt. 4. Rezit ativ (B a ss) Drum folget Gott und seinem Triebe. Das ist die rechte Bahn. Die führet durch Gefahr auch endlich in das Kanaan und durch von ihm geprüfte Liebe auch an sein heiliges Altar und bindet Herz und Herz zusammen, Herr! Sei du selbst mit diesen Flammen!139

In T. 7 f unterstreicht Bach das „Zusammenbinden der Herzen“ am Altar durch den Einsatz langer Liegetöne in den Streichern im deutlichen Kontrast zu den vorangegangenen recitato-Schlägen (T. 1–7) mit dazwischen liegenden Pausen. Dabei wird ein dissonanter Sekundakkord zum konsonanten Sextakkord „verwandelt“, womit Bach eine göttliche Metamorphose der menschlichen Liebe andeutet. Der erste Teil der Kantate (vor der Trauung) schließt mit der 3. Strophe von Luthers Nun bitten wir den heiligen Geist: 5. Cho ral Du süße Lieb, schenk uns deine Gunst, Lass uns empfinden der Liebe Brunst, dass wir uns von Herzen einander lieben und in Fried auf einem Sinne bleiben. Kyrieleis.

Im Anschluss an die Trauung (Post copulationem) wird der zweite Teil der Kantate musiziert. Breiter als in der eben besprochenen BWV 120a steht hier im zweiten Teil nur noch der Zuspruch des Segens und eine Entfaltung seiner Gaben im Vordergrund. Hintergrund ist der bei Brautmessen üblicherweise gebetete Ps 128

139 Diese Wendung erinnert an Zinzendorfs Herz und Herz vereint zusammen (vgl. EG 251,1). Das heute „abständig“ wirkende Original lautet: „Herz und Herz vereint zusammen / sucht in Gottes Herzen Ruh. / Keusche Liebes-Geistes-Flammen / lodern auf das Lämmlein zu, / das vor jenes Alten Throne / in der Blutrubinen-Pracht / und in seiner Unschuldskrone / liebliche Parade macht.“ Was in Zinzendorfs Dichtung streng christologisch gemünzt ist, wird in der Kantatendichtung auf die Liebe des Paares bezogen.

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(besonders V5).140 Alle Aussagen der folgenden Sätze werden im indikativischen Futur (vgl. Ps 121,6)141 formuliert:142 143 144 6. Ar ie (Ba ss) O du angenehmes Paar, dir wird eitel Heil begegnen Gott wird dich aus Zion segnen und dich leiten immerdar, o du angenehmes Paar! 7. Rezit ativ (S opran) So wie es Gott mit dir getreu und väterlich von Kindesbeinen an gemeint, so will er für und für, dein allerbester Freund bis an das Ende bleiben. Und also kannst du sicher gläuben, er wird dir nie bei deiner Hände Schweiß und Müh kein Gutes lassen fehlen.142 Wohl dir, dein Glück ist nicht zu zählen.143

8. Ar ie (S opran) Vergnügen und Lust, Gedeihen und Heil wird wachsen und stärken und laben. Das Auge, die Brust wird ewig sein Teil an süßer Zufriedenheit haben. 9. Rezit ativ (B a ss) Und dieser frohe Lebenslauf wird bis in späte Jahre währen. Denn Gottes Güte hat kein Ziel, die schenkt er viel, ja mehr als ein Herze kann begehren. Verlasse dich gewiss darauf.144

In Satz 7, das den empfangenen Segen bekräftigt, zeigt Bach wieder sein Gespür für wechselnde Sprachformen, indem er bei der abschließenden Seligpreisung „Wohl dir“ ein Arioso beginnen lässt. Es kulminiert im Verb „zählen“, wo eine fulminante Sechzehntel-Koloratur in der Singstimme als aufsteigende Gradatio über drei Takte (T. 15–17) einsetzt. Der Makarismus („Wohl dir“) dürfte im kollektiven Singular gemeint, d. h. sicher auf das Paar bezogen sein. Er wird insgesamt zehnmal (2+2+4+2) wiederholt, womit Bach das Motiv der Güte Gottes und menschlichen Glücks stark in den Vordergrund stellt. Musikalisch bekommt der Satz dadurch ein gewisses Achtergewicht. Ähnliches gilt für Satz 9 mit der dreifachen Einladung zum Glauben: „Verlasse dich gewiss darauf “ (T. 7–9). Sie wird eingeleitet durch eine fallende Dreiklangsfigur (T. 3 und 6) in den Streichern, die das Herabkommen der göttlichen Güte bzw. seines Segens zeigt. Es überrascht nicht, dass die promissio „Denn Gottes Güte hat kein Ziel, / die schenkt dir viel“ einmal mehr von der Bassstimme gesungen wird. Promissio und fides, Zusage und Glaube („gläuben“, „verlasse dich gewiss“),145 stehen hier also in einer engen

140 Vgl. dazu AGENDA 1748, 40 f. 141 Vgl. Arnold, 439 mit Hinweis auf Ps 121,3–8: „Es wäre daher theologisch und und sprachlich adäquater, die exhibitiv-sakramentale Seite des Segens mindestens durch einen futurischen Indikativ oder aber – sprachlich schöner – doch durch einen präsentischen Performativ auszudrücken“. 142 Vgl. Ps 84,12b. 143 Vgl. Ps 84,13. 144 Die Schlusszeile dieses Accompagnato wird langsam anwachsend dreimal wiederholt: „Verlasse dich, verlasse dich gewiß, gewiß, verlasse dich gewiß darauf.“ 145 Vgl. WA 6, 516 im Blick auf das Abendmahl.

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Korrelation, auch wenn der soteriologische Kern des Evangeliums, die Vergebung der Sünden und die Gemeinschaft mit Christus, nicht ausdrücklich als Gabe des Segens expliziert ist. Vielmehr stehen die weltlich anmutenden Wendungen „Gutes“ und „Glück“ (vgl. Satz 7 bzw. in Satz 8: „Vergnügen und Lust“), mithin ungetrübte Lebensfreude und ein langes Leben, im Vordergrund der theologischen und anthropologischen Entfaltung. Angesichts der oft problematischen Kasualpraxis unserer Gegenwart, die im volkskirchlichen Kontext von einem starken Traditionsabbruch einerseits und dem Wunsch nach einer agendarischen Beweglichkeit andererseits geprägt ist, wirkt die in Teil  II der Kantate entfaltete Weltzugewandtheit und Freude an der Schöpfung erfrischend lebensnah und zeitgenössisch, ohne sich anzubiedern oder theo­ logisch flach zu werden. In Teil I wird die Ehe dezidiert als Gottes Gabe bezeichnet und gerade deshalb auch das Leben der Eheleute unter Gottes Segen und Wirken gestellt. Der Gabecharakter der Ehe („Gott schenkt dir viel …“) steht immer an erster Stelle, ehe von der Verantwortung des Menschen die Rede ist. Die Wendung „Vergnügen und Lust“ ermutigt dazu, Sinnlichkeit und Sexualität auch homi­ letisch offen zu thematisieren. Die Kantate dürfte mit der letzten Strophe von Georg Neumarcks Wer nur den lieben Gott146 ausgeklungen sein (untextiert in Bachs Originalpartitur). Fassen wir zusammen: Bachs Kantaten zur Trauung sind auch heute noch in einem Gottesdienst anlässlich einer Eheschließung denkbar und können  – wie von Bach vorgesehen – in zwei Teilen vor und nach der eigentlichen Trauhandlung (Versprechen, Segen) musiziert werden.147 Fazit zu Kapitel 5: Wir stehen am Ende eines großen Kapitels, das uns in die bis heute aktuelle Welt jener Kantaten Bachs hinein führte, die Gottes Handeln in Schöpfung und Zeitgeschichte, aber auch die menschliche Verantwortung in Familie und Staat, Kirche und Politik thematisieren. Bachs Kantaten erweisen sich dabei in besonderer Weise als geeignet, geistliches und öffentliches Leben, Gottesdienst am Sonntag und im Alltag, Glaube an den persönlichen und gesellschaftlichen Schnittstellen der Kirche kunstvoll zur Sprache zu bringen und durch die viel­ fältigen Ausdrucksformen von Poesie und Musik eine spirituelle Brücke vom 18. ins 21. Jahrhundert zu schlagen. Insgesamt begegnet uns in diesen Kantaten ein äußerst positives Verhältnis zur Leiblichkeit der Schöpfung, die nicht nur bewundernd betrachtet, sondern auch dankbar genossen werden kann. Ihre theologische Mitte haben fast alle Kantaten im Theologumenon des göttlichen Segens, der in vielen Sätzen erbeten, wahr­ genommen und zugesprochen wird.



146 Vgl. EG 369,7. 147 Es scheint an dieser Stelle auch erwägenswert, in einem Traugespräch einzelne Sätze aus Bachs Traukantaten dem Brautpaar als Alternative zum „unvermeidlichen“ Ave Maria oder „Ich bete an die Macht der Liebe“ vorzuschlagen. Sie könnten dann z. B. als Segensbitte dem Trausegen voran­ gehen (vgl. 120a, 6) oder diesen bekräftigen (vgl. BWV 120a, 7 und BWV 197,6).



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IV. Freudige Gewissheit (Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten) 6. Soli Deo Gloria – Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre 6.0 Annäherungen an eine trinitarische „Theologie des Lobpreises“1 in Bachs Kantaten Von den bis jetzt diskutierten Kantaten unterscheiden sich die nun zu betrachtenden doxologischen Kantaten in signifikanter Weise: Hier kommen weder die dunkle Erfahrung des verborgenen Gottes, verbunden mit dem Affekt der Trauer, noch die Konfrontation mit dem richtenden Gott, verbunden mit der Affekt der Furcht, zur Sprache. Vielmehr steht hier die Rede vom barmherzigen dreieinigen Gott im Mittelpunkt, deren Mitte das Evangelium von Jesus Christus ist. Zentraler Affekt auf menschlicher Seite ist die Freude, die in vielen synonymen Begriffen2 die Poesie der Kantaten bestimmt.3 Unsere Grundthese lautet: In Bachs doxo­ logischer Musik wird die performative Kraft des Evangeliums hörbar und damit Gottes Gnade erfahrbar. Sie erhebt und erfreut Menschen4 und macht Gott schön. Sie verherrlicht damit nicht nur Gott, sondern heiligt und verwandelt auch die Welt, erweist sich somit als cultus Dei und cultura mundi.5 Im Blick auf den liturgischen „Sitz im Leben“ der Kantaten Bachs fiel auf, dass sie am Ort des nicaenischen Glaubensbekenntnisses zwischen Evangelium und Credolied der Gemeinde, also noch vor Predigt musiziert wurden.6 Sie sind damit idealtypisch beides: auf das Evangelium antwortender Lobpreis und trinitarisches Bekenntnis. Diese Qualität besitzen die nun zu untersuchenden Werke Bachs

1 Vgl. dazu Arnold, 139–145 bzw. 461–514. 2 Vgl. oben 1.6.1 f. 3 An wenigen Stellen ergeben sich, besonders was den Affekt der Freude angeht, Überschneidungen zu Kantaten, die wir dem primus usus legis zugeordnet haben, etwa zu BWV 119 oder zu BWV 197, vgl. oben 5.2.3 und 5.3.2. 4 Vgl. dazu Reddemann, 88–96. Die Autorin arbeitet die „positiven“ Grundaffekte in Bachs Musik heraus und überträgt sie für ihre therapeutische Praxis. Vgl. a. a. O., 91: „Es gibt eine Möglichkeit, Freude zu verstärken, und zwar indem wir denen dafür danken, die uns Freude bereiten und sie ‚loben‘. Es gibt fünf Kantaten von Bach, in deren Überschrift von Dank die Rede ist, sogar sechzehn, in denen von Lob gesprochen wird. […]. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass Bachs ganzes Werk ein einziger Lobgesang sei.“ 5 Vgl. dazu auch Arnold, 29 f. 6 Vgl. oben 1.5.

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in besonderer Weise. In der Zusammenschau der doxologischen Werke7 lassen sich mehrere signifikante Aussagen machen. Die erste Bemerkung gilt dem liturgischen Ort im Kirchenjahr.

6.0.1 Liturgische Konnotationen: Der „Sitz im Leben“ der doxologischen Kantaten Diejenigen Kantaten, die vom Affekt der Freude und von doxologischen Aussagen geprägt sind, hat Bach in der Mehrzahl für Fest- und Feiertage wie Weihnachten, Neujahr, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Johannis, Michaelis und die im lutherischen Festkalender verbliebenen Marienfeste komponiert. Dazu gehören teilweise auch die im letzten Kapitel behandelten festlichen Kantaten zur Ratswahl (z. B. BWV 119) bzw. zur Trauung (BWV 120a und 197).8 Genauer betrachtet sind die Kantaten zum ersten Weihnachtstag, zu Neujahr und zum Ostersonntag alle doxologisch geprägt. Oft tritt dabei eine Auslegung des jeweiligen Evangelientextes eher zurück, so dass eine Art „allgemeiner Christologie“ entsteht: „Blickt man im Unterschied zu den Kantaten der festlosen Zeit auf die der hohen Feste Weihnachten, Ostern und Pfingsten, so hat man den Eindruck, daß die Eigenheiten der betreffenden Propria nur in sehr allgemeiner Weise zum Tragen kommen. […] Weil die zentralen theologischen Aussagen der drei hohen Feste zu den Grundaussagen des christlichen Glaubens gehören, erfahren diese Propria eine eher allgemein christologische als strenger textbezogene Interpretation.“9 Darüber hinaus finden sich auch an den Sonntagen der „festlosen“ Zeit doxologische Motive. Von den gewöhnlichen Sonntagen fällt die Passionszeit – traditioneller Weise tempus clausum in Leipzig  – erwartungsgemäß komplett aus10, auch zwischen Ostern und Pfingsten, der sog. „österlichen Freudenzeit“11, gibt es mit Ausnahme von Himmelfahrt sehr wenig doxologische Texte.12 Die lange Periode der

7 Vgl. oben 1.6. 8 Hier besteht eine enge Beziehung zu den im letzten Kapitel (5.) dargestellten Kantaten, in denen es um Gottes fürsorgendes Handeln in der Welt geht (providentia Dei). 9 Petzoldt, Theologische Aspekte, 130 f. Diese Einschätzung Petzoldts muss kein Defizit an­ zeigen. Im Gegenteil: In einer volkskirchlich geprägten Gottesdienstgemeinde werden „offenere“ Formulierungen möglicherweise leichter aufgenommen werden können als eine „hohe Christo­ logie“, die in der Predigt zuerst einmal ausgelegt werden muss. 10 Von Invocavit an gab es in Leipzig bis Palmarum keine Kantatenmusik, lediglich wenn das Fest Mariae Verkündigung (25. März) in diese Zeit fiel. Himmelskönig sei willkommen (BWV 182), eine Palmsonntagskomposition aus der Weimarer Zeit, wurde in Leipzig wahrscheinlich sub communione am 25. März 1725 aufgeführt. 11 Die österliche Freudenzeit ist in der altkirchlichen Reihe der Evangelien durch das spannungsvolle Interim zwischen Ostern und Pfingsten geprägt und trägt Züge der Furcht und Trauer über den Weggang des Auferstandenen von seiner Gemeinde. 12 Am ehesten gilt dies noch für die oben (1.4.3) beschriebene Kantate Halt im Gedächtnis Jesum Christ (BWV 67) zu Quasimodogeniti mit einer doxologischen Osterchoralstrophe in der Mitte (Satz 4). Die oben dargestellten Kantaten zu Jubilate (2.3) beschreiben in der Regel die Dia­ lektik von Trauer und Freude, sind aber nicht durchgängig doxologisch ausgerichtet.

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­ rinitatis-Sonntage dagegen enthält immerhin sieben Kantaten doxologischer T Art, zwei sind Solo-Kantaten (BWV 35 und 5113). Drei der sieben fallen auf den 12. Sonntag n. Trinitatis (Lobe den Herren den mächtigen König, BWV 137; Lobe den Herrn, meine Seele, BWV 69a und Geist und Seele wird verwirret, BWV 35), dessen Evangelium die Heilung eines Taubstummen nach Mk 7,31–37 ist. Diese Gattung bestimmt auch das Evangelium für den 14.  Sonntag n. Trin. (Heilung der zehn Aussätzigen nach Lk 17,11–19) mit der Kantate Wer Dank opfert, preiset mich (BWV 17) und für den 17. Sonntag n. Trin. (Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat, Lk 14,1–11) mit der Kantate Bringet dem Herrn Ehre seines Namens (BWV 148). Es lässt sich also eine gewisse Affinität von Wunderberichten zu einer doxologischen Dichtung konstatieren, zumal dann, wenn – wie etwa an Lk 17 zu sehen ist – die Antwort des Lobs selbst zum Thema wird. Allerdings ist einschränkend zu bemerken, dass andere Heilungsberichte wie z. B. Mk 2,1–12 (19. Sonntag n. Trin.) oder die Auferweckung des Jünglings von Nain (16. Sonntag n. Trin.) die Textdichter in andere Richtungen gelenkt haben.

6.0.2 Doxologische Kantatendichtungen im Verhältnis zu Bibeltext und Choral Unter den ausgewählten doxologisch geprägten Kantaten finden sich alle drei wesentlichen poetischen Kantatenelemente:14 madrigalische Dichtung, Kirchenlied und Bibelwort. Wir beschränken uns dabei zunächst exemplarisch auf die Eingangschöre, da diese meist den Grundaffekt und die theologische Gestalt der ganzen Kantate anzeigen, und stellen folgende Tendenzen fest: Unter den insgesamt 66 Schriftzitaten in Eingangschören15 finden sich mindestens 19 mit doxologischer Qualität.16 Dabei überwiegen im Verhältnis von ca. 5:1 (genau: 16:3) hymnische Psalmworte. Nur drei Schriftstellen stammen erstaunlicherweise nicht aus dem Psalter: BWV 191,1, das lateinische Gloria in excelsis (nach Lk 2,14), das Magnificat (BWV 10,1) zu Mariae Heimsuchung sowie BWV 65,1 Es werden aus Saba alle kommen (nach Jes 60,6) zu Epiphanias17. Im Vergleich zum Gesamtœuvre der geistlichen Kantaten, bei dem sich alttestamentliche und neutestamentliche Texte ungefähr die Waage halten,18 ist hier also ein signifikan

13 Dies ist neben Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21), die paradigmatisch den Weg von der Klage zum Lob nachzeichnet (vgl. oben 2.4.2), eine populäre Kantate, die Bach ebenfalls mit dem Untertitel „[Et] In ogni Tempo/Per ogni tempo“ überschreibt. Damit dürfte gemeint sein, dass sie so etwas wie eine allgemeine, das Kirchenjahr übergreifende Gültigkeit hat oder einfach als para­ digmatische Antwort auf das Evangelium gelten kann. 14 Vgl. oben 1.2.4. 15 Vgl. Steiger, Dialogue, 38, Anm. 6. 16 Vgl. dazu die Übersicht unter 1.6. Viele der madrigalischen Dichtungen vgl. BWV 51, 66; 120; 147; 167; 172; 173 u.v.a) und Choralkantaten (vgl. BWV 1; 91; 129 u.v.a) sind allerdings aus der Sprache der Psalmen gezeugt. 17 Exegetisch interessant ist hier die am Schema von Verheißung (Jes 60,6) und Erfüllung (vgl. BWV 65,2: „Die Kön’ge aus Saba kamen dar, Gold, Weihrauch, Myrrhen brachten sie dar, Alleluja, alleluja.“) orientierte Konstellation von alttl. und neutl. Bibelwort. Vgl. dazu auch BWV 43,1.4 bzw. BWV 17,1.4. 18 Vgl. Steiger, Dialogue, 38, Anm. 6. Das Verhältnis AT:NT ist nahezu ausgeglichen (62:61).

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tes Vorherrschen alttestamentlicher Poesie, mithin der Lobpsalmen (z. B. Ps 19,2.4; Ps 65; Ps 103,2; Ps 149 f u. a.) festzustellen.19 Dies ist umso bedeutsamer, als nur mit BWV 43 (Ps 47,6 f) liturgische Tradition (Introitus des Himelfahrtsfestes) aufgenommen ist.20 Die durchaus eklektische Auswahl21 der hymnischen Psalmworte hat also für Bach und seine Dichter eher theologische bzw. spirituelle Gründe. Damit wird die bereits im Einleitungsteil geäußerte Vermutung verifiziert, dass die Psalmen für Bach so etwas wie ein geistlicher Schlüssel oder – hermeneutisch gesprochen – eine „kleine Biblia“ oder eine Art „Mitte der Schrift“ sind.22 Unter den in diesen Kantaten vorkommenden Chorälen ragt das GramannLied Nun lob mein Seel, den Herren besonders heraus. Es wird zwar nie als Grundtext einer Choralkantate verwendet, kommt aber in fünf Kantaten vor (BWV  51; 28; 167; 17; 29). Ähnlich häufig ist der Rückgriff auf Luthers deutsches Te Deum (BWV 190, 16; 119; 120), das offenbar bei eher „weltlichen“ Angelegenheiten wie Ratswechsel und Neujahrsfest von Bedeutung war.23 Oft finden sich auch Philipp Nicolais Wie schön leuchtet der Morgenstern (vgl. BWV 1; BWV 61,6 u. ö.) sowie die Lutherlieder Nun komm der Heiden Heiland (BWV 36; 61 und 62) und Gelobet seist du Jesu Christ (BWV 91).24 Im Anschluss

19 Vgl. Steiger, a. a. O. Innerhalb der alttestamentlichen Zitate ist demnach eine starke Dominanz von Psalmtexten festzustellen: „The book of Psalms is the most strongly represented among the Old Testament texts with 48 (that is about three-quarters of the movements)“. 20 Vgl. Wetzel, Psalmen, 136–138. Wetzel listet insgesamt 16 Kantaten mit Psalmtexten auf und untersucht sie auf ihre liturgisch-psalmodische Tradition. Zu BWV 47 stellt er (a. a. O., 138) fest: „Calov versteht die Verse 3–6 als Weissagung vom allgemeinen (=allumfassenden) Reich und von der Himmelfahrt Christi und die Verse 7–10 als Erweckung zum Lob Gottes. Damit entspricht die Grundstruktur des Psalms der des Gottesdienstes: Wort (Verheißung) und Antwort (Lob).“ 21 Vgl. dazu BWV 190 mit Aufnahme von Sprüchen aus Ps 149 f. Wetzel, Psalmen, 137 kommentiert: „Die zusammengestellten Verse Psalm 149,1 und 150,4.6 ergeben einen Sinnzusammenhang, der in beiden Psalmen für sich nicht vorhanden ist. Indem das Verfahren auch den poetischen Texten des 3.  und 4.  Satzes der Kantate zugrunde gelegt ist, gelingt eine charakteristische ‚Text­ legierung‘.“ 22 Die Tatsache, dass sich Psalmtexte nur in den Chören finden, können wir mit Wetzel, Psalmen, 148, darauf zurückführen, dass Bach den Psalter als Buch der Kirche begreift und damit die „ekklesiale Dimension“ des gemeinsamen Betens und Lobens unterstreicht. Vgl. dazu auch unten 7.1. 23 Dies lässt sich historisch auch weiterverfolgen. Das Te Deum wurde bis in dieses Jahrhundert hinein bei Kaiser- und Königskrönungen, ja sogar nach Siegen in der Schlacht (vgl. Händels Dettinger Te Deum) angestimmt. 24 Folgende Choräle finden sich in den von mir ausgewählten Kantaten: Nun komm der Heiden Heiland: 36,2.6.8; 62;1.6; [vgl. 61,1]; Gelobet seist du, Jesu Christ: 91,1.6; 248,7.28; [vgl. 64,2]; Vom Himmel hoch: 248,17.23; Brich an du schönes Morgenlicht: 248,12; Wie schön leuchtet der Morgenstern: 1,1–6; 172,6; 36,4; [vgl. 37,3; 49,6 und 61,6 („Komm, du schöne“ als Abgesang von EG 70,7]; Das neugeborne Kindelein: 122,1.6; Helft mir Gotts Güte preisen: 28,6; 16,6 (Satz nicht identisch); Jesu, nun sei gepreiset: 41,1.6; 190,7=171,6; Puer natus in Bethlehem: 65,2; Gelobet seist du Jesu Christ: 91; Was mein Gott will: 65,7; Nun lob, mein Seel den Herren: 28,2; 17,7 (vgl. BWV 225); 167,5; 29,8; 51,4; Christ lag in Todesbanden: 4,2–8; Du Lebensfürst, Herr Jesu Christ: 43,11; 11,6; Gott fähret auf gen Himmel: 11,9: Herr Gott, dich loben alle wir: 130; Gelobet sei der Herr: 129,1–5, Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut 117,1–9; Lobet den Herren den mächtigen König: 137; 120a; Nun danket alle Gott: 192,1–3; 79,3; 120a, 2; Was Gott tut, das ist wohlgetan: 69a,6; Herzlich lieb hab ich dich, o Herr: 149,7; Wach auf mein Herz und singe: Str. 9 f in 194; Te Deum bzw.Te Deum-Schlussstrophe: 16,1; 190,1;

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an Petzoldt25 und über ihn hinaus wäre hier zu fragen, inwiefern nicht nur bei den einschlägigen Choralkantaten der abschließende Choral die theologische und begriffliche Matrix für alles Vorangegangene ist, also Bach möglicherweise vom Schlusschoral aus einen Kantatentext zur Vertonung ausgewählt hat.26

6.0.3 Poetologische und dogmatische Beobachtungen zu einer trinitarischen Theologie des Lobpreises Versuchen wir zunächst, anhand einer sprachlichen Phänomenologie die doxo­ logischen Texte und ihren jeweiligen Kontext näher zu analysieren. Dabei lässt sich feststellen, dass hymnisch-doxologische Formen sowohl „ökonomische“ als auch „ontologische“ Aussagen über den dreieinigen Gott machen, ja zuweilen sogar der Kosmos als Subjekt des lobpreisenden Erzählens verstanden wird. Ein Blick in die ältere Theologiegeschichte soll den Diskurs eröffnen: Doxologisches und trinitätstheologisches Urgestein haben wir mit der sog. „kleinen Doxologie“, dem Gloria Patri bzw. Ehre sei dem Vater vor uns, das bis heute in vielen kirchlichen und klösterlichen Liturgien das Psalmgebet abschließt. Bereits in der alten Kirche war diese Formel Anlass für einen heftigen Streit. Dabei ging es um die wahre Gottheit Christi bzw. des Heiligen Geistes. Sollte es (wie bisher) heißen: „Ehre sei dem Vater durch den Sohn im Heiligen Geist“ oder war es möglich die Personen der Dreieinigkeit auch nebeneinander (also: Ehre sei dem Vater und dem Sohn …) zu stellen und damit subordinatianischem Denken zu entgehen? Der Kappadokier Basilius von Cäsarea (gest. 379) hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Unterscheidung vorgenommen, die hier erwähnt und gewürdigt werden soll: In seiner Schrift De Spiritu Sancto schreibt er im Blick auf Christus, dass wir, wenn wir „die Erhabenheit der Natur des Eingeborenen und seine überragende Würde vor Augen haben,“ bezeugen, dass „ihm Ehre zukommt mit dem Vater. Wenn wir dagegen an die Ausstattung mit Heilsgütern denken, wie er uns zu Gott führt und uns mit ihm vertraut macht, dann bekennen wir, dass euch diese Gnade durch ihn und in ihm gewirkt wird. So eignet sich der eine Ausdruck, das mit ihm, um Ehre zu erweisen, der andere, das durch ihn, ist auserlesen, um Dank zu sagen. [Hvh. JA]“27

Die auf den ersten Blick schwer verständliche Unterscheidung des Kirchenvaters leistet ein Doppeltes. Zum einen werden hier Person („Natur des Eingeborenen“) 119,9; 120,6; Es danke Gott, und lobe dich bzw. Es wolle Gott uns gnädig sein: 76,7.14; 69,6; Magnificat: 10, vgl. BWV 147; Wenn mein Stündlein vorhanden ist (Zusatzstrophe zu Nikolaus Hermans Lied): 31,9; Christ ist erstanden, 3. Str: BWV 66,6. 25 Vgl. Petzoldt, Theologische Aspekte, 135 f, wo der Verf. das Zusammenspiel von vier Prin­ zipien (Stichwort, Bibeltext, De-tempore-Aspekt und musikalisches Prinzip) benennt, die bei der Entstehung eines Kantatentextes zusammengewirkt haben dürften: „Meist enthält der dem Schlußchoral unmittelbar vorangehende Satz (Arie, Rezitativ) jenen charakteristischen Begriff oder entsprechende Äquivalente, die schon vom Eingangssatz an dominieren und dann möglichst am Anfang der folgenden Strophe aufgegriffen erscheinen.“ 26 Vgl. dazu auch Petzoldt II,12, der die Position vertritt, dass insbesondere die Schlussstrophe für die Auswahl der Choräle in den Choralkantaten ausschlaggebend gewesen sein dürfte. 27 Basilius, 113.115.

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und Werk („Ausstattung mit Heilsgütern …“) Christi unterschieden, zum anderen wird eine terminologische Unterscheidung getroffen, was die Qualität des Sprechakts angeht. Im einen Fall geht es um eine Ehrbezeugung (gloria), im anderen Fall um eine Äußerung von Dankbarkeit. Damit sind die beiden häufig synonym gebrauchten Gebetsformen Lob und Dank im Sinne einer grundsätzlichen liturgietheologischen Unterscheidung näher bestimmt, die nun systematisch-theologisch und gattungskritisch bedacht werden soll: a) Der Lobpreis der großen Taten Gottes – soteriologisch-heilsökonomische Aspekte Aufgrund dieser Äußerungs des Kirchenvaters ließe sich das Gloria Patri sowohl dem Hymnus als auch dem Danklied28 im Psalter zuordnen. Am ehesten ist es wohl auf die doxologischen Schlussformeln zurückzuführen, durch die die einzelnen Psalmenbücher (vgl. Ps 42,14, 72,18 f etc.) liturgisch gerahmt werden. Viel älter ist freilich das „doxologische Urgestein“, auf das wir im Miriamlied (Ex 15,21) stoßen. Dort heißt es: „Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan …“. Aufgrund einer konkreten, jüngst geschehenen bzw. sich immer wieder neu ereignenden oder auch im Gottesdienst vergegenwärtigten Tat Gottes in Schöpfung und Heilsgeschichte, stimmt der Mensch dankbar singend (und tanzend) ein in das Lob Gottes. Denn „Gott loben heißt [..], seine Taten nachzuerzählen“29, womit ein klares Gefälle von opus Dei und gratia Dei, Werk Gottes und Dank an Gott, erkennbar wird. Hermeneutisch ist eine Verschränkung der Vergangenheit mit der Gegenwart zu beobachten, der durch die biblische bzw. liturgische Kategorie der anamnesis bezeichnet werden kann. Das Adjektiv „soteriologisch“ bzw. „heils­ökonomisch“ bezieht sich hier auf das ganze Heil Gottes, ist also nicht auf das Christusereignis beschränkt, sondern umfasst Gottes gnädige Zuwendung in Schöpfung, Erlösung und Vollendung:30 Wichtig ist dabei der Begriff des Werkes Gottes. Folgende Kantaten beschreiben im Perfekt das Handeln Gottes und fordern zu freudigem Lob in der Gegenwart auf: – Weihnachten: Jauchzet frohlocket … Rühmet, was heute der Höchste getan … (BWV 248 I,1) – „Unser Mund sei voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens, denn der Herr hat Großes an uns getan.“ – „Alleluja. Gelobt sei Gott. Singen wir all aus unsers Herzens Grunde. Denn Gott hat heut gemacht solch Freud …“ (beide BWV 110) – Johannistag: „…Bedenkt, ihr Christen auch, was Gott an euch getan, und stimmet ihm ein Loblied an: Sei Lob und Preis mit Ehren …“ (BWV 167,4.5, vgl. 167,1.2., 36,1).

28 Vgl. dazu grundsätzlich die Untersuchung von Crüsemann, Studien. 29 W. H. Schmidt, 303 f. Westermann führt das Miriamlied Ex 15,21 als Paradigma für ein „berichtendes Lob des Volkes“ an, vgl. Westermann, Psalter, 26. 30 Beide Aspekte werden im Folgenden nacheinander aufgeführt Bach und seine Dichter scheinen oft den analogen bzw. im Gefälle von revelatio generalis et specialis stehenden Zusammenhang beider Offenbarungsweisen Gottes betonen zu wollen.

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– 15. Sonntag n. Trin: „Wir preisen, was er an uns hat getan …“ (BWV 51,2) – Ratswechsel: „Lobe den Herrn, meine Seele; und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“31. „Meine Seele, auf erzähle, was dir Gott erwiesen hat. Rühme seine Wundertat, lass, dem Höchsten zu gefallen, ihm ein frohes Danklied schallen“.32 (BWV 69,1.3) Folgende Beispiele nehmen Gottes Heilshandeln als präsentisches Tun wahr: – Neujahr: „Singet dem Herrn ein neues Lied; denn er tut Wunder.“ (BWV 190,1) – Ostern: „Es bricht das Grab und damit unsre Not, der Mund verkündigt Gottes Taten. Der Heiland lebt, so ist in Not und Tod den Gläubigen vollkommen wohl geraten. Lasset dem Höchsten ein Danklied erschallen vor sein Erbarmen und ewige Treu.“ (BWV 66,2.3) – Ratswechsel: „Nun danket alle Gott …, der große Dinge tut …“ (BWV 192,1) An anderen Stellen wird der Lobpreis für ein künftiges Heilshandeln Gottes in Aussicht gestellt: – Weihnachten: „…Du bist groß und dein Name ist groß und kannst’s mit der Tat beweisen.“ (BWV 110,3) – Pfingsten: „Erschallet ihr Lieder, erklinget ihr Saiten! O seligste Zeiten! Gott will sich die Seelen zum Tempel bereiten.“ (BWV 172,1) – 2. Sonntag n. Trin.: „So soll die Christenheit die Liebe Gottes preisen und sie an sich erweisen: Bis in die Ewigkeit die Himmel frommer Seelen Gott und sein Lob erzählen.“ (BWV 76,13) – Ratswechsel (?): „Vergiss es ferner nicht, mit deiner Hand uns Gutes zu er­ weisen, so soll dich unsre Stadt und unser Land mit Opfern und mit Danken preisen …“ (BWV 29) Diese Aussagen lassen sich kaum eindimensional auf Dankbarkeit beschränken, vielmehr ist deutlich, dass die Begrifflichkeiten hier changieren. b) Der Lobpreis des Wesens Gottes – ontologische Aspekte Kommen wir nun zu den Texten, in denen Gottes Wesen an sich im Mittelpunkt steht, in denen er als der Heilige und Ewige prädiziert bzw. Christus als König, Lamm oder Bräutigam gepriesen wird. Auch hier finden sich nebenein­ ander das Lob des Schöpfers (z. B. BWV 16,1 und 130,6), des Erlösers (vgl. BWV 91,1; BWV 191,1 und 1,5), aber auch  – gleichsam die spezfisch gottesdienst­ liche Pointe  – der Lobpreis der Dreieinigkeit (vgl. BWV 191,2; 51,4; 129,4 f. u. ö.). – Weihnachten: „Gelobet seist du Jesu Christ“ (91,1): „Gloria in excelsis Deo … Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto“ (BWV 191,1 f)

31 Aus dem liturgischen Kontext der Kantaten 69 bzw. 69a (Heilung der 10 Aussätzigen nach Lk 17) ist zu erkennen, dass Ps 103,2 f nicht auf die Gabe der Sündenvergebung bezogen ist (vgl. dazu unten 6.3.2). 32 Vgl. ähnlich BWV 120,3 u. a.

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– Neujahr: „Herr Gott, dich loben wir; Herr Gott wir danken dir; Dich, Gott Vater in Ewigkeit, ehret die Welt weit und breit“ (BWV 16,1 vgl. 171,1; 190,2) – Michaelis: „Darum wir billig loben dich und danken dir, Gott, ewiglich wie auch der lieben Engel Schar dich preisen heut und immerdar“ (BWV 130,6) – Mariae Verkündigung: „…Herz und Sinnen sind erhoben, lebenslang, mit Gesang, großer König, dich zu loben“ (BWV 1,5, vgl. BWV 10,7) – Trinitatis: „Gelobet sei der Herr …“ (BWV 129,4 f)  – 15. Sonntag n. Trin.: „Sei Lob und Preis mit Ehren Gott Vater, Sohn, Heiligem Geist!“ (BWV 51,4) Quantitativ besteht ein leichtes Übergewicht der „ökonomischen“ gegenüber den „ontologischen Aussagen, was auch dem biblischen Gesamtzeugnis entspricht. Darüber hinaus ist noch ein dritter Aspekt des Lobens zu nennen, der sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft ereignet: c) Der Lobpreis Gottes der klingenden Schöpfung – kosmologische Aspekte Bisweilen werden die soteriologischen und ontologischen Aussagen in geheimnisvoller Weise kosmologisch transzendiert. Im Gegensatz zu den eben genannten Formen wird hier das Lob Gottes von Engeln, Himmel, Erde und Meer mit ihren Geschöpfen, also durch den ganzen Kosmos hindurch ausgerufen.33 Nicht der Mensch allein rühmt Gott angesichts seiner Taten, sondern die ganze Schöpfungsgemeinschaft (vgl. Ps 148; Jes 55,12 f bzw. den apokryphen Gesang der Männer im feurigen Ofen) stimmt ins Lob ein. Der Kosmos ist klingende Schöpfung, Ausdruck einer musica mundana, die unmittelbar auf Gott hinweist (vgl. BWV 76,1.2; 17,2; 171,2). Er preist aber nicht nur Gottes Schöpfergüte, sondern auch Christus als Grund der Schöpfung (vgl. BWV 76,3). Besonders schön ist dies in der Osterkantate BWV 31,2 gelungen, wo der Auferstandene von Himmel und Erde als Sieger über den Tod gefeiert wird: Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret und was sie trägt in ihrem Schoß! Der Schöpfer lebt! Der Höchste triumphieret und ist von Todesbanden los. […]

Alldies geschieht ohne den logos menschlicher Sprache, gleichsam unhörbar für menschliche Ohren (vgl. BWV 76,1). Beispiele finden wir dafür erstaunlich oft in Bachs Kantaten: – Neujahr: „Herr, so weit die Wolken gehen, gehet deines Namens Ruhm.“ (171,2); – Himmelfahrt: „Gott fähret auf mit Jauchzen und der Herr mit heller Posaune … Wer jauchzt ihm zu? Wer ist’s der die Posaune rührt? Ist es nicht Gottes Heer, das seines Namens Ehr, Heil, Preis, Reich, Kraft und Macht mit lauter Stimme singet und ihm nun ewiglich ein Halleluja bringet? Ja tausendmal tausend be

33 Vgl. dazu die eindrucksvolle kosmologische Ortsbestimmung des Gottesdienstes bei Brunner, 168–180, vgl. dazu Arnold, 344–346.

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gleiten den Wagen dem König der Kön’ge lobsingend zu sagen, dass Erde und Himmel sich unter ihm schmiegt …“ (BWV 43,1–3) – 2.  Sonntag n. Trin.: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre“. (BWV 76,1, vgl. Ps 19,2.4) – 14. Sonntag n. Trin.: „Es muss die ganze Welt ein stummer Zeuge werden von Gottes hoher Majestät, Luft, Wasser, Firmament und Erden, wenn ihre Ordnung als in Schnuren geht; ihn preiset die Natur mit ungezählten Gaben, die er ihr in den Schoß gelegt …“ (BWV 17,2) – 15. Sonntag n. Trin.: „Jauchzet Gott in allen Landen! Was der Himmel und die Welt an Geschöpfen in sich hält, müssen dessen Ruhm erhöhen.“ (BWV 51,1) Insgesamt können wir Psalm 19,2–734 (vgl. auch Ps 147 f)  als hermeneutischen Schlüssel für eine solche weisheitlich-hymnische Theologie begreifen. Das Reden und Sich-Kundtun Gottes geschieht durch die Kreatur hindurch gleichsam in einem echoartigen Geschehen, das einem perpetuum mobile gleicht, als Anrede. Der ganze Kosmos ist ein aufgeschlagenes Erzählbuch des sich gnädig herab­ neigenden Gottes. Dies ist der doxologische „character indelebilis“ der Schöpfung trotz aller Katastrophen damals und heute. Alanus de Insulis dichtete: „Omnis mundi creatura Quasi liber et pictura Nobis est et speculum.“35

Doch diese Anrede ist nur ein Aspekt des kosmischen Gotteslobs. Ein Blick auf Ps 79,13, wo vom Danken und Verkündigen des Ruhmes Gottes durch Israel die Rede ist, zeigt, dass mit dem kosmischen Klingen ein indirekter Aufruf an den Menschen verbunden ist, es doch der Schöpfung gleichzutun und Gott in seiner Schöpferherrlichkeit zu loben. So wird die Schöpfung dem Menschen zum ex­ emplum laudis, zum doxologischen Vorbild. Dies ist auch die Grundlage für die Jerusalemer Tempelliturgie (vgl. Jes 6,3; 55,12 f; Num 14,21; Ps 100,1). d) Dank und Lobpreis Gottes in ökonomisch-ontologischem Gefälle Gemeinsam ist allen drei Formen, dass sie den Schöpfer und den Erlöser bzw. Neuschöpfer preisen, sich also auf Gottes Wirken in Natur und Heilsgeschichte beziehen können. Lediglich im Blick auf die letzte Rubrik überwiegt das Lob des Schöpfers. Außerdem ist oft ein Begründungs- zusammenhang dargestellt, der das Lob der menschlichen Kreatur bzw. des Kosmos zunächst aus der Erfahrung des Handelns Gottes herleitet36 und daraus auf sein Wesen schließt. In diesem Gefälle ist auch die Unterscheidung von Danken und Loben mitgesetzt:

34 Vgl. Arnold, 463–475. 35 MPL 210, 579. 36 Vgl. dazu im Blick auf die Trinitätslehre Schlink, 754: „In noetischer Hinsicht ist das trinitarische Dogma letzte Aussage. Der dreieinige Gott wird aufgrund seiner erschaffenden, erlösenden und neuschaffenden Taten erkannt. In ontischer Hinsicht ist es erste Aussage. Denn es bekennt den ewigen Gott, der in der Freiheit seiner Liebe seine großen Taten vollbracht hat und vollbringen wird.“

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„Das Anbeten ist die im eigentlichen Sinn theologische Entfaltung des Dankes für Gottes Tat, indem der Dank übergeht in den Lobpreis des ewigen Gottes selbst […] So stellen sich in der doxologischen Entfaltung Seins-, Wesens- und Eigenschaftsaussagen ein, mit denen Gottes ewige, alle Geschichte umgreifende Selbigkeit gepriesen wird.“37

Auch wenn eine Trennung der beiden Aspekte nicht schematisch geschehen kann, sollen hier Beispiele angeführt werden, die den von Schlink beschriebenen Übergang soteriologischer in ontologische Aussagen zeigen. Wir wählen dazu das Trinitatislied Gelobet sei der Herr (vgl. BWV 129 bzw. EG 139) von J. Olearius. Die ersten drei Strophen sind eine Art „Lobbekenntnis“, in dem biblische Gottes­ attribute („mein Licht, mein Heil, mein Trost, mein Leben“) mit Handlungsaussagen Gottes verknüpft werden („der mich schützt etc.“). Es wird dabei deutlich, dass insgesamt der soteriologische Ton dominiert, die Verben stehen ganz im Vordergrund. Gelobet sei der Herr, mein Gott, mein Licht, mein Leben, mein Schöpfer, der mir hat, mein Leib’ und Seel’ gegeben. Mein Vater, der mich schützt von Mutterleibe an, der alle Augenblick viel Guts an mir getan.

Gelobet sei der Herr, mein Gott, mein Heil, mein Leben, des Vaters liebster Sohn, der sich für mich gegeben. Der mich erlöset hat, mit seinem teuren Blut, der mir im Glauben schenkt sich selbst, das höchste Gut.

Gelobet sei der Herr, mein Gott, mein Trost, mein Leben, des Vaters werter Geist, den mir der Sohn gegeben. Der mir das Herz erquickt, der mir gibt neue Kraft, der mir in aller Not Rat, Trost und Hülfe schafft.

Die letzen Strophen sind dagegen ein trinitarisch entfaltetes Sanctus, in dem der göttliche Name als Inbegriff der Offenbarung, mithin das ewige Sein Gottes, mit Menschen- und Engelszungen besungen wird, so dass ein „übergeschichtlicher“, ontologischer Akzent Überhand gewinnt. Gelobet sei der Herr, mein Gott, der ewig lebet, den alles lobet, was, in allen Lüften schwebet. Gelobet sei der Herr, des Name heilig heißt, Gott Vater, Gott der Sohn und Gott der Heil’ge Geist,



Dem wir das Heilig itzt mit Freuden lassen klingen und mit der Engel Schar das Heilig, Heilig singen, den herzlich lobt und preist, die ganze Christenheit: Gelobet sei mein Gott in alle Ewigkeit.

37 Schlink, 34 f.

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Ähnliches gilt für die Kantate zum 2. Weihnachtstag, Christum wir sollen loben schon (BWV 121). Nach dem Eingangschor, der mit der ersten Strophe des Chorals so etwas wie einen „indirekten Aufgesang“ darstellt, wird das Heilshandeln Gottes in Christus kerygmatisch breit entfaltet, ehe am Ende das Lob Christi unmittelbar gesungen wird („Lob, Ehr und Dank sei dir gesagt“), dem dann auch noch die übrigen Personen der Trinität an die Seite gestellt werden. In Rezitativ (Satz 5) finden wir folgende Formulierung: […] Gott, der so unermesslich war, nimmt Knechtsgestalt und Armut an. Und weil er dieses uns zugutgetan, so lass ich mit der Engel Chören ein jauchzend Lob- und Danklied hören!

Daran schließt sich folgender Choral an: Lob, Ehr und Dank sei dir gesagt, Christ, geborn von der reinen Magd, samt Vater und dem Heilgen Geist von nun an bis in Ewigkeit.

Daraus ergibt sich die Beobachtung, dass im Blick auf die klassische Unterscheidung von immanenter und ökonomischer Trinitätslehre38 bzw. Lehre von der Person und vom Werk Christi (Christologie und Soteriologie) im Hymnus in der Regel die letztere der ersten vorgeordnet wird: Zuerst wird von Gottes Taten erzählt und von dort aus auf sein Wesen geschlossen, also zuerst die Soteriologie entfaltet, ehe ontologische Elemente zur Sprache kommen.

6.0.4 Wunder und Staunen – die anthropologische Seite des Lobs Innerhalb der untersuchten doxologischen Kantatentexte finden sich zahlreiche Beispiele einer Verknüpfung des Lobs mit dem Affekt des Staunens über die Wundertaten Gottes39. So formuliert der unbekannte Dichter der Kantate Christum wir sollen loben schon (BWV 121,2)40: Ar ie (Teno r) O du von Gott erhöhte Kreatur, begreife nicht, nein, nein bewundre nur; Gott will durch Fleisch des Fleisches Heil erwerben. Wie groß ist doch der Schöpfer aller Dinge,

38 Vgl. dazu Thomas v. Aquin, Sth. I,1 q I– XLIII. Auch in aktuellen Dogmatiken werden oft zuerst die Eigenschaften der drei göttlichen Personen in sich (opera ad intra), vor den Werken nach außen (opera ad extra) behandelt, vgl. Härle, 235–302. 39 Vgl. Bayer, Schöpfung, 173: „Dieses Lob kommt aus großem Staunen und bringt andere zu solchem Staunen: zu dem durch keine Wissenschaft zu erledigenden Staunen, daß diese Welt ist, daß ich – in ihr und mit ihr – sein darf und daß nicht vielmehr eine Chaosmacht alles, was ist, verschlingt.“ 40 Vgl. dazu unten 7.2.1.

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und wie bist du verachtet und geringe, um dich dadurch zu retten vom Verderben.

Hier bezieht sich der Begriff des Wunders auf das Geheimnis der Fleischwerdung Christi, mithin auf das Wunder der Weihnacht. Er interpretiert also das zentrale Ereignis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus als das Wunder schlechthin. Das folgende Beispiel von G. C. Lehms (BWV 35,3) bezieht sich dagegen in spezifischer Weise auf ein Heilungswunder, genauer gesagt auf die Heilung eines Taubstummen, wie sie in Mk 7,31–37 (12. Sonntag n. Trin.) erzählt wird. Rezit ativ (Al t) Ich wundre mich, denn alles, was man sieht, muss uns Verwundrung geben. […] Du bist dem Namen, Tun und Amte nach erst wunderreich, dir ist kein Wunderding auf dieser Erde gleich. Den Tauben gibst du das Gehör, den Stummen ihre Sprache wieder, ja was noch mehr, du öffnest auf ein Wort die blinden Augenlider. Dies, dies sind Wunderwerke, und ihre Stärke ist auch der Engel Chor nicht mächtig auszusprechen.

Aber auch das „vermeintlich so selbstverständliche“ Wunder der Fürsorge Gottes in der Schöpfung wird gerühmt: so etwa in der Ratswechselkantate BWV 69,2 f, wo im Prozess des Staunens die vestigia creatoris in der Schöpfung entdeckt werden. 2. Rezit ativ (S opran) Wie groß ist Gottes Güte doch! Er bracht uns an das Licht, und er erhält uns noch. Wo findet man nur eine Kreatur, der es an Unterhalt gebricht? Betrachte doch, mein Geist, der Allmacht unverdeckte Spur, die auch im kleinen sich recht groß erweist. 3. Ar ie (Al t) Meine Seele, auf erzähle, was dir Gott erwiesen hat! Rühme seine Wundertat ….

Dazu einige Beobachtungen: Der Begriff des Wunders ist vieldeutig. Er kann ein Naturwunder (z. B. einen Vulkanausbruch), besondere übernatürliche Ereignisse (z. B. Heilungen), die Bewahrung bei einem Verkehrsunfall u. a. bezeichnen. Damit ist zugleich ein Anknüpfungspunkt für herausragende Alltagserfahrungen und -deutungen heutiger Menschen gegeben. Bachs Kantaten gehen diesen Weg mit. Sie deuten Erfahrungen in Natur und Geschichte als große Taten Gottes, um ihn

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deshalb zu preisen, bleiben aber nicht in der Betrachtung eines isolierten Ereignisses stehen, sondern richten ihren Blick in vielen Fällen auf den Grund der Schöpfung: Jesus Christus ist als wahren Gott nicht nur Heiland, sondern auch Schöpfer dieser Welt (vgl. Joh 1,1–3 bzw. 1 Kor 8,6 und Kol 1,16). Als Schöpfer ist er fähig, Wunder zu wirken, die auf das schlechthinnige Wunder der Erlösung, seine Menschwerdung und Auferweckung, hinweisen, und Menschen in vielfältiger Weise zum Staunen anregen. Hierin liegt eine hermeneutische Stärke der Kantatentexte und ihrer Vertonungen durch Bach. Menschen können Alltagserfahrungen göttlicher Nähe und Zuwendung41 neu auf den dreieinigen Gott, der in Christus offenbar wird, zurückbeziehen und so zum Staunen und Danken kommen. Dies könnte ein wesentlicher Aspekt der spirituellen Tragkraft Bachscher Kantaten für die Gegenwart sein. Hier geschieht eine trinitarische Verschränkung von liturgischem und vernünftigem Gottesdienst, Alltag und Sonntag. Dies entspricht m. E. der musikalischen und theologischen Tradition des Luthertums, das sowohl eine schöpfungstheologische als auch eine christologische Begründung bzw. Motivation des Lobens kennt, die im Folgenden wenigstens angedeutet werden soll.

6.0.5 Die schöpfungstheologische Motivation: Musik als Verherrlichung des Schöpfers zur Freude des Menschen In der deutschsprachigen musiktheoretischen Tradition nach der Reformation finden wir immer wieder eine schöpfungstheologische Begründung des Gotteslobs. Dies gilt auch für die Zeitgenossen Bachs. So schreibt Andreas Werckmeister in seiner Schrift „Musicalische Paradoxal-Discourse“ von 1707, bezugnehmend auf die „klingenden Proportionen“ in der Schöpfung: „Weil nun die Music ein ordentliches und deutliches Wesen und solcher Gestalt nichts anders als ein Formular der Ordnung der Weisheit Gottes ist, so muß ja ein Mensch, wenn er nicht einer grimmigen Bestie gleich ist, billig zur Freude bewogen werden, wann ihm die Ordnung und Weisheit seines gütigen Schöpfers durch solche Numeros sonoros ins Gehör und folgends ins Herz und ins Gemüte geführt wird. [Hvh. JA]“42

Neben der Offenbarungsqualität der Musik (gleichsam als liber naturae) wird hier besonders der Affekt der Freude hervorgehoben. Aber auch der kritische Hamburger Theoretiker Mattheson schreibt 1739 in seinem Vollkommenen Capellmeister:

41 Vgl. Luther, Kl. Katechismus, BSLK 510: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat […], und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Würdigkeit“. Mit dieser Wendung bekommt Luthers Erklärung am Ende eine rechtfertigungstheologische Pointe. 42 Werckmeister, 24 f, zit. nach Eggebrecht, 358, der treffend kommentiert: „Die Freude an der Musik, auch an ihrem emotionalen Moment, ist  – kraft der Proportionalität ihrer Forma  – eine Freude in Gott, eine Unmittelbarkeit von ihm her und zu ihm hin.“

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

„Uiberhaupt ist wol zu glauben, und sehr wahrscheinlich, daß die ersten Menschen Zeit genug werden gehabt haben, ihrem mit göttlichem Lichte erfüllten Verstand, Willen und Trieb, samt den köstlichen und künstlichen Gliedmaassen ihres Leibes, zum höchsten Lobe des Schöpffers als dem einzigen Zweck der Schöpffung, und zu dessen Verherrlichung, wozu absonderlich die Kehle gemacht ist, mit allen Kräfften anzuwenden, und es ihren Vorgängern oder Anführern, den heiligen Engeln, die niemals aufhören Gott mit Klingen und Singen zu ehren und zu preisen, nach und gleichzumachen“.43

Damit ist eine protologische und angelologische Begründung für den gesungenen Lobpreis Gottes gegeben, der vermuten lässt, dass sich Mattheson auch mit der zeitgenössischen Bibelauslegung auseinandergesetzt hat. Im Gegensatz zu ihm arbeitet Luther 200 Jahre vorher das Spezifische des menschlichen Lobens im Gegenüber zur Tierwelt und zur Instrumentalmusik heraus. In seiner Vorrede zu den Symphoniae Iucundae (G. Rhau) schreibt er: „In den unvernünftigen Tieren aber, Saitenspielen und anderen Instrumenten, da höret man allein den Gesang, Laut und Klang, ohne Rede und Wort. Dem Menschen aber ist allein vor den andern Kreaturen die Stimme mit der Rede gegeben, dass er sollt können und wissen, Gott mit Gesängen und Worten zu loben, nämlich mit dem hellen, klingenden Predigen und Rühmen von Gottes Güte und Gnade, darinnen schöne Worte und lieblicher Klang zugleich würde gehöret.“44

Im Zusammenspiel mit dem Wort erweist sich die Vokalmusik als doxologisches Medium par excellence. Ähnlich wie in der Spielmannsformel Singen und Sagen lässt sich dabei keine Hierarchie (z. B. die Musik als Dienerin des Wortes) feststellen, die Musik „veredelt“ das Wort, das Wort bietet eine intentionale Präzisierung des Klangs. Dies kann man auch daran ablesen, dass Luther und Walter in der Reihenfolge der beiden Elemente abwechseln.

6.0.6 Die christologisch-pneumatologische Motivation: Musik im Dienste der Kommunikation des Evangeliums Über diesen allgemeinmenschlichen Zusammenhang des Lobens als sinnliches „Wort-Klang-Geschehen“ hinaus kennt das Neue Testament freilich noch eine spezifischere, nämlich christologische, Definition von musikalischem Lobpreis. Dazu ein Blick auf Kol 3,16, die vielleicht am häufigsten angeführte Stelle zur Begründung geistlicher Musik, gleichsam die „Einsetzungsworte der Kirchenmusik“: Das Wort Christi wohne in seinem ganzen Reichtum unter euch:     Lehrt und ermutigt einander in aller Weisheit     mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern     und singet Gott dankbar (freudig) in eueren Herzen.45

43 Mattheson, VC, Vorrede III, 14. 44 WA 50, 371, nach der Übersetzung Johann Walters, Text etwas modernisiert. 45 Der instrumentale Ausdruck „mit Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern“ lässt sich sowohl zum ersten Satzteil als auch zum zweiten ziehen, je nachdem wird dann auf die doxologische oder die kerygmatische Dimension der Kirchenmusik (des geistlichen Singens) abgehoben, vgl. Söhngen, 14 f.

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Geistliches Singen ist so verstanden selbst Wort Christi, keinesfalls nur schmückendes Beiwerk für Predigt und Sakrament. Es ist aber auch nicht nur Antwort darauf, sondern selbst Anrede. Für diese Lesart spricht insbesondere der Hauptsatz an der Spitze. Das Subjekt „Wort Christi“ ist nämlich im Sinne eines doppelten Genitivs aufzuschlüsseln: – als ein Wort, das von Christus redet (Christus als Gegenstand der Verkündigung), aber auch – als ein Wort, das Christus selbst redet (Christus als Subjekt der Verkündi­ gung).46 Darüber hinaus zielt Kol 3,16 auf die mehrdimensionale anthropologische und pneumatologische Bedeutung des Singens. Dazu gehören die stilistisch vielfältigen sinnlich wahrnehmbaren musikalischen Formen der Psalmen, Hymnen und vom Geist inspirierten Lieder, aber auch das interne vom Geist gewirkte fröhliche Danken, ein Geschehen, das sich am einzelnen und im einzelnen Menschen ereignet.47 Es geht dem Verfasser also um die Bedeutung der Kirchenmusik als äußeres und inneres Werk des Geistes,48 aber auch um ihre Funktion als Verkündigung einerseits und als Gotteslob an­dererseits. Doch ist damit noch nichts Genaues über den Ermöglichungsgrund geistlichen Singens gesagt. Luther schreibt in seiner berühmten Vorrede zum Babstschen Gesangbuch (1545): „Singet dem Herrn ein neues Lied! Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“49



46 Vgl. Schweizer, 156 f: „Subjekt solchen Gottesdienstes ist nicht eigentlich die Gemeinde, obwohl die Fortsetzung des Satzes unvermittelt in den Plural übergeht, sondern das Wort Christi selbst. Es ist das, was Paulus das ‚Evangelium‘ nennt […].“ 47 Vgl. die Argumentationsfigur von Melanchthon in CA V, BSLK 58, wonach wir einen externen, gleichsam sinnlichen Aspekt der Wortverkündigung („tamquam per instrumenta“) und einen internen, unverfügbaren geistlichen Aspekt („ubi et quando visum es Deo“) feststellen düfen, die beide Werk des heiligen Geistes sind. Vgl. dazu Arnold, 148 f bzw. 190–194. 48 Kol 3,16 ließe sich durchaus auch pneumatologisch weiter führen. Überhaupt erschiene uns eine konsequent pneumatologische Grundlegung des Singens ein sinnvoller Ansatz, der schöpfungstheologische und christologishce Ansätze zusammen bringen könnte. Vgl. dazu Bubmann, 161: „Der Heilige Geist ist die Lebenskraft Gottes. Er führt zum Glauben, lässt die Wahrheit Gottes in Jesus Christus erkennen. Er bringt Menschen ‚zur Gemeinschaft der Heiligen‘ zusammen und ermöglicht Menschen trotz ihrer Schuld und Sünde die Umkehr zum Leben. Er lässt auf­stehen gegen den Tod. Er ist Vorspiel der Ewigkeit bereits im Heute und lässt die endzeitliche Erlösung anklingen. Musik im Heiligen Geist hat Anteil an allen diesen Geisteswirkungen. Als spirituelle Musik erleuchtet sie Menschen zum Glauben, vermittelt starke Gemeinschaftserfahrungen, stärkt ihren Lebensmut, tritt für das Recht aller Menschen ein und läßt Auditionen des ewigen Lebens erklingen.“ 49 Luther, WA 35, 477.

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6.0.7 Folgerungen für die weitere Untersuchung Damit ist die soteriologische Motivation des Lobens als fröhliches, lustvolles Singen und Sagen benannt, das in Krippe, Kreuz und Auferstehung Christi seinen Grund hat. Dieser inkarnatorisch-österlichen Spur gilt es zunächst zu folgen: Ausgehend von der These, dass die doxologische Kantate die schlechthinnige Antwort auf die frohe Botschaft von Christus ist, werden zunächst christologisch geprägte Kompositionen betrachtet, die in dem untersuchten Gesamtmaterial auch quan­ titativ überwiegen. Die eben eingeführten Unterscheidungen im Blick auf die Motivation und die Struktur des Lobs – z. B. Werk und Person Christi – sind weiter im Auge zu behalten. Im weiteren Verlauf (6.2 ff) werden dann die weiteren Artikel des Credo in den Blick genommen.

6.1 Christologische Mitte50 In den meisten doxologischen Kantaten dominiert die Freude über das in Jesus Christus offenbarte Heil. Dies zieht sich durch das ganze Kirchenjahr. Schon am ersten Advent stimmt uns die Kantate Schwingt freudig euch empor auf dieses Lob ein, darauf folgen Kompositionen zum ersten und zweiten Weihnachtstag (z. B. Unser Mund sei voll Lachens, BWV 110; Gelobet seist du Jesu Christ, BWV 91; Christum wir sollen loben schon, BWV 121) sowie zu Ostern (vgl. Der Himmel lacht, 31; Erfreut euch, ihr Herzen, BWV 66), Himmelfahrt (Gott fähret auf mit Jauchzen, BWV 43), zum Johannistag (Freue dich, erlöste Schar BWV 30) und zu den im lutherischen Kalender verbliebenen Marienfesten. Die zahlreichen Beispielen zeigen, dass meist Verben des Lobens oder des freudigen Affektes theologische Sinnträger sind und daher von Bach auch kompositorisch hervorgehoben werden: So wird das Lob z. B. durch lange aufsteigende Skalen bzw. Koloraturen abgebildet.51 Im Eingangschor von BWV 91 zieht sich ein siebenfacher Aufschwung in Sechzehntel-Skalenfiguren durch die drei Oboen und die Streicherstimmen (T. 1–4). In der Himmelfahrtskantate Gott fähret auf mit Jauchzen (BWV 43,1) erhellt Bach den dialogischen Zusammenhang von Evangelium und Lobgesang, explicatio und applicatio des Bibeltextes durch die Struktur des musikalischen Satzes. Die mit „Jauchzen“ begleitete Auffahrt Jesu wird durch lange aufsteigende Kolo­raturen im polyphonen Satz dem schlichten, homophonen, beinahe choralartig



50 Die Thematik des 2. Artikels wird besonders in folgenden Kantaten(sätzen) entfaltet: BWV 30; 149; 167; 10; 147; 1; 129,2; 173; 43; (37,3); 134; 66; 31; 249; 4; 65; 171; 143; 16; 41; 151; 122; 133; 121; 63; 91; 36; 62,3.5. 51 Vgl. dazu exemplarisch BWV 121,1. Es handelt sich um einen motettischen Satz mit Vor­ imitation der Choralzeilen. Dabei bekommt das Verb „loben“ eine aufsteigende melodische Linie (Anabasis) mit Tirata-Figur (Ornament) und dreifacher Gradatio.

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anmutenden „Lobsinget“ (Noema)52 gegenübergestellt (vgl. T. 37 ff mit T. 85–92)53. Um die christologische Mitte der doxologischen Kantaten Bachs angemessen zu würdigen, sollen im Folgenden drei Beispiele näher untersucht werden. Dabei sind sowohl unterschiedliche poetische Gattungen als auch ein unterschiedlicher De-tempore-Charakter berücksichtigt. Das erste Beispiel (BWV 110) ist eine Spruchkantate, das zweite (BWV 66) eine madrigalische Dichtung, das letzte (BWV 1) eine Choralkantate. Die erste fällt in den Weihnachtsfestkreis, die zweite ist eine Osterkantate, die dritte enstand zum „christologisch motivierten“ Fest Mariae Verkündigung (25.3.) und ist besonders abendmahlstheologisch inter­ essant.

6.1.1 Unser Mund sei voll Lachens (BWV 110) Die Kantate Unser Mund sei voll Lachens ist als letzte der vollständig erhaltenen drei großen Kantaten zum ersten Weihnachtstag (außerhalb des Weihnachtsoratoriums) im Jahre 1725 entstanden. Es handelt sich um eine biblisch-theologisch und hermeneutisch interessante Spruchkantate aus G. C. Lehms’ „Gottgefälligem Kirchen=Opffer“ (1711) mit Worten aus Ps 126, die auch wichtige Stichwort­ verbindungen und Themen für die folgenden Sätze vorgeben. Signifikant ist,54 dass hier ein hymnisches Psalmwort an der Spitze der doxologischen Dichtung steht. Daran knüpfen weitere Bibelworte in Satz 3 und Satz 5 an. Mit Ps 126,2 f und dem Zitat aus Jer 10,6 (Satz 3) nimmt Lehms Schriftstellen auf, die nicht in den Kanon der weihnachtlichen Verheißungen und liturgischen Texte gehören,55 wohingegen der Lobgesang der Engel nach Lk 2,14 (Gloria in excelsis) der hymnische Kern des Weihnachtsevangeliums oder besser: seine „himmlisch-konzertante“ Beantwortung, ist. Eine Besonderheit dieser Kantate ist, dass sie ganz ohne madrigalische Rezitative auskommt. 1. Cho r Unser Mund sei voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens. Denn der Herr hat Großes an uns getan.

2. Ar ie (Teno r) Ihr Gedanken und ihr Sinnen, schwinget euch jetzt himmelan und bedenkt, was Gott getan! Er wird Mensch und dies allein, dass wir Himmels Kinder sein.



52 Vgl. BWV 137,1 T. 61 („Kommet zuhauf “) bzw. Bartel, 221: „Das musikalische noema bezeichnet einen homophonen Abschnitt in einer polyphonen Komposition“. 53 Vgl. die Osterkantate Der Himmel lacht, die Erde jubilieret BWV 31: Der von Dreiklangs­ motivik bestimmte fünfstimmige (!) Chorsatz (31,2) enthält polyphone Koloraturen sowie kurze homophone Einwürfe auf „Der Himmel lacht“ bzw. „der Schöpfer lebt“. Beide Satzarten zeigen die Totalität des Lobens und der Freude im Kosmos, was poetisch im Parallelismus membrorum „Der Himmel lacht, die Erde jubilieret […] Der Schöpfer lebt! Der Höchste triumphieret“ (ABA’B’) aus­ gedrückt ist. So ergibt sich eine chiastische Korrespondenz von Himmel und Höchster bzw. Erde und Schöpfer (abba). 54 Vgl. oben 6.0.2 bzw. unten 7.1. 55 Vgl. Schulze, 33.

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3. Rezit ativ (B a ss) Dir, Herr, ist niemand gleich. Du bist groß, und dein Name ist groß und kannsts mit der Tat beweisen. 4. Ar ie (Al t) Ach Herr, was ist ein Menschenkind, dass du sein Heil so schmerzlich suchest? Ein Wurm, den du verfluchest, wenn Höll und Satan um ihn sind; doch auch dein Sohn, den Seel und Geist aus Liebe seinen Erben heißt. 5. Duet t (S opran, T eno r) Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

6. Ar ie (Ba ss) Wacht auf, ihr Adern und ich Glieder, und singt dergleichen Freudenlieder, die unserm Gott gefällig sein.    Und ihr, ihr andachrtsvollen Saiten,    sollt ihm ein solches Lob bereiten,    dabei sich Herz und Geist erfreun. 7. Cho ral Alleluja! Gelobt sei Gott, singen wir all aus unsers Herzens Grunde. Denn Gott hat heut gemacht solch Freud, die wir vergessen solln zu keiner Stunde.

a) Überlegungen zu Poesie und Theologie der Dichtung Unschwer können wir in der BWV 110 zugrundeliegenden Dichtung eine symmetrische Anlage56 erkennen. Insgesamt geht es um den Lobpreis Gottes durch den freudig gestimmten Menschen angesichts des Wunders von Weihnachten. Satz 1–3 und Satz 5–7 sind klar doxologisch geprägt, während der zentrale Satz 4 das Wunder der Erlösung im staunenden Gebet bescheiden betrachtet. Satz 1–3 betrachten das Handeln Gottes (vgl. „Großes an uns getan“, Satz 1; „was Gott getan“, Satz 2 und „mit der Tat beweisen“, Satz 3), während Satz 5–7 Gott in unmittelbarer Weise das Lob darbringen („Ehre sei Gott“, Satz 5; „sollt ihm ein solches Lob bereiten“, Satz 6; „gelobt sei Gott“, Satz 7). Der erste Satz enthält eine Selbstaufforderung zum Lob im Wir-Stil. Die Formulierung ist gehobene Prosa, angelehnt an Ps  126,2 f. Dort heißt es in der (eschatologisch eingefärbten) Lutherüber­ setzung:57 1 Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. 2 Dann wird unser Mund voll Lachens58 und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan,

56 Vgl. dazu auch die überzeugende Darstellung bei Petzoldt II, 108. 57 Vgl. dgg. Seybold, Psalmen, 485: „Als JHWH wandte Zions Geschick, / waren wir wie Träumende. Damals füllte Lachen unseren Mund und unsere Zunge der Jubel  …“ Vgl. a. a. O., 486: „Die Tempusfrage ist von [V]1b.3 her im Sinne des Perfekts der Vergangenheit zu entscheiden“. (Vgl. ähnlich Kraus II, 853 f bzw. Deissler, 503 f). 58 Vgl. dazu Olearius III, 685 (zu Ps 126,2 f): „Risus est facultas animae rationalis repraesentans laetitiam.“ [Lachen ist eine Möglichkeit der vernüftigen Seele, Freude darzustellen/auszudrücken]. Daraus können wir folgern, dass es dem orthodoxen Lutheraner wichtig ist, dass das Lachen in geordneten Bahnen verläuft (vgl. auch das anschließende Zitat von Seneca: „Rident sinceri …“).

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3 der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.59

Lehms hat die Exilswende an Israel und deren Aneignung durch die Heiden (V2b) gleichsam ausgeblendet, um sie der christlichen Kirche in allgemeiner Form zu­ zusprechen. Aus dem „Wir“ der frühnachexilischen Israelgemeinde60 wird das „Wir“ der weihnachtlichen Christengemeinde. Der freudig-verheißungsvolle Grundton des Psalms strahlt im weihnachtlichen Licht besonders hell: Die Verheißung der Befreiung aus der Gefangenschaft ist im Kind in der Krippe erfüllt. Damit ist die Menschwerdung Christi als Rettungstat Gottes beschrieben, die sich in der Geschichte Israels anbahnt.61 Lehms sagt mit dem einleitenden Chor: Gott ist nicht nur groß an sich, er verheißt auch Großes, ja er „tut Großes an uns“62. Er ist der IMMANUEL, der Gott-mit-uns (Jes 7,14), der sich durch unser Lob wiederum erheben und groß machen lässt.63 BWV 110,1 akzentuiert also im oben dargestellten Sinn die soteriologische oder heilsökonomische Begründung des Lobpreises bzw. die Struktur von opus Dei und laus hominum, die sich auch in der Gesamtstruktur der Kantate abbildet. Dazu fügt der Dichter ein kausales „Denn“64 zwischen die beiden aus V2 f entnom­ menen Halbverse, das bei Bach zunehmend an Bedeutung gewinnt. Im zweiten Satz wird die Gemeinde zur anamnesis der Taten Gottes auf­ gefordert. Es geht um einen gedanklichen Aufschwung in himmlische Sphären, einen Einblick in die Geheimnisse des Heilsplans Gottes (vgl. Kol 1,26 f; 2,2). Damit wird das bisher Gesagte anthropologisch vertieft: Es geht darum, Gottes Handeln staunend zu betrachten und zu bekennen. Dem Loben des Mundes (vgl. ­Luther zum 2. Gebot)65 geht eine Einsicht, die gedankliche Zustimmung

59 In Luthers Übersetzung des Psalms ist ein prospektiver Konsekutivsatz an den Aufgesang (Unser Mund sei voll Lachens) angefügt: Dann wird unser Mund …. 60 Vgl. Seybold, Psalmen, 486: „Bezieht sich die Aussage von [V]1 auf die Exilswende und den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem, wäre für die Datierung ein terminus a quo gegeben und der Psalm könnte der frühnachexilischen Zeit zugewiesen werden.“ 61 Olearius III, 685 schreibt zum Adjektiv fröhlich mit Verweis auf Ps 122,1: „Wegen der sehr großen vorher in Ägypten und jetzt in Babel erwiesenen Güte, welche ein Bild war der Erlösung Christi von Sünde, Tod, Teufel und Hölle.“ Dieser Hinweis macht auch Satz 4 (s. u.) theologisch plausibel. 62 Vgl. Simpfendörfer, 99: „Im Tenor T. 54 ff werden die Worte ‚Großes an uns‘ gleich zweimal nacheinander hervorgehoben. Der Alt schiebt T. 57 f ‚an uns‘ vor einer Textwiederholung ein, der Baß T. 142 f zweimal das Objekt ‚Großes‘.“ 63 Vgl. Barth, KD II/1, 753: „Es liegt im Wesen der Herrlichkeit Gottes, daß sie nicht als gloria allein bleibt, sondern zur glorificatio wird. […] Gottes Herrlichkeit erschöpft sich nicht in dem, was Gott selbst ist, auch darin nicht, daß er von Ewigkeit und in Ewigkeit nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich ist. Gottes Herrlichkeit ist auch die von Gott selbst geweckte und hervor­ gerufene Antwort des ihm durch seine Kreatur dargebrachten Lobpreises, sofern dieser in seiner ganzen Kreatürlichkeit der Widerhall seiner Stimme ist.“ 64 Lehms tut dies in gewisser Analogie zum klassischen Hymnus vgl. Ex 15,20 bzw. Ps 98,1 („­Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“), der die Struktur: Aufgesang mit kausalem KI-Satz aufweist. 65 Vgl. dazu Gr. Katechismus (BSLK 572 ff), Kl. Katechismus (BSLK 508); Von den guten Werken (WA 6,229 bzw. 218 f), vgl. auch Arnold, 260–262.

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(assensus),66 voraus. Der Inhalt der Botschaft (doctrina) ist knapp aber treffend: Gott wird Mensch, dass wir Gottes Kinder werden. Der Verleiblichung Gottes entspricht die Teilhabe am Göttlichen seitens des Menschen, eine Figur, die mit der orthodoxen Theosis-Vorstellung67 nahe verwandt ist. Die Flöten stehen als Symbol für beides: die Erniedrigung Gottes und die „Kindlichkeit“ der Menschen, denen das Heil zuteil wird. Im folgenden Satz wird der hymnische Lobpreis durch das Bibelwort aus Jer 10,6 im prädizierenden Du-Stil aufgenommen. Die Aussage ist dreifach gegliedert und redet Gott in seiner ewigen Majestät als einzigartigen, unvergleichlichen Herrn an.68 Die triadische Aussage entspricht den drei Zeilen aus dem Gloria in Satz 5,69 schlägt aber auch eine Brücke zurück zum Eingangschor, dessen hym­ nische Struktur (vgl. Ex 15,20 bzw. Ps 98,1) ebenfalls mit den Taten Gottes endet. In der Triade „Du – dein Name – deine Taten“ (Satz 3) können wir eine Bewegung von der Person zum Werk, vom Ontologischen zum Soteriologischen erkennen, die sich auch in Satz 7 wieder findet. Von der Menschwerdung Gottes ist hier wie in Satz 1 nicht explizit die Rede. Der zentrale vierte Satz bedenkt  – weiterhin im Gebet („Ach, Herr!“ bzw. Du-Stil) – auf dem Hintergrund der Dialektik von Gesetz und Evangelium das weihnachtliche Ereignis. Ps 8,570 und Ps 14471 paraphrasierend, gibt der Dichter Gott in seinem erwählenden und verwerfenden Handeln Recht. Damit wird eine Wahrheit anerkannt, die nicht erst heute Anstoß erregt (vgl. Röm 9–11). Die Fremdheit dieser Aussage wird dadurch gesteigert, dass der verfluchte Mensch mit einem Wurm verglichen wird, der von Hölle und Teufel umgeben ist. Auch

66 Vgl dazu Schmid, § 41. Die fides besteht aus drei Strukturmomenten: notitia, assensus und fiducia. 67 Zankow, 103 f. In der Theosis-Lehre geht es also um eine soteriologische Gott-Mensch-Analogie, die gleichsam spiegelbildlich ist: So wie Christus Fleisch annahm, um uns zu erlösen, werden wir durch ihn „vergöttlicht“. 68 Vgl. dazu auch Schlink, 760–762, mit interessanten Ausführungen zu den Eigenschaften ­Gottes. 69 Vgl. Petzoldt II, 110. 70 Vgl. Dürr, 127 bzw. Schulze, 33. 71 Vgl. dazu Olearius III, 745 f: „Was ist nichts gegen alles. .(Jes 40 Ps 39. Hi 7,17) […]. Diese Frage und denkwürdige Anthropologia geht durch die ganze Philosophie, Medizin, Jurisprudenz und Theologie, die Antwort heißt Nichts und Alles. Nihil & Omnia. Nichts von sich selbst, nichts an sich selbst wegen der Sünde […] Aber Alles ist durch Gottes Gnade.“ Die folgenden Ausführungen erinnern an den Schluss von Luthers De servo arbitrio mit der Lehre von drei Lichtern (vgl. WA 18, 783–785). „I. Im Reich der Allmacht ein Auszug der gantzen Welt (Ps 139) II. Im Reich der Gnaden mehr als die Engel (Hebr 2); der Göttlichen Natur teilhaftig […], Erben und Miterben Jesu Christi. […] III. Im Reich der Ehren, da wir alle Herrlichkeit haben, da Gott wird alles in allen sein (1 Kor 15), worüber wir uns denn billig und von Herzen verwundern und erfreuen (Chrsyost. zu Hebr 1,4).“ Die Stelle bei Chrysostomus wird, wie Petzoldt II, 111 zeigt, in Olearius’ Erklärung zu Hebr 1 (Olearius V, 1752) entfaltet: „Es ist eine große und wunderliche Sache, darüber man sich entsetzen muss, dass unser Fleisch erhöhet und angebetet wird von den Engeln und Erzengeln, von den Seraphim und Cherubim. Denn darüber muss ich mich öfters verwundern, ja ich werde darüber entzückt, also dass ich fast nicht bei mir selbst bin [existamai] und muss mir von dem menschlichen Geschlecht gar große Dinge einbilden. Denn ich sehe eine großen vortrefflichen prächtigen Anfang der folgenden herrlichen Dinge und dass unsere Natur dem Allerhöchsten sehr angenehm […]“.

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die beiden letzten Zeilen des Satzes sind nicht leicht zu interpretieren. Folgende Deutung scheint uns wahrscheinlich: Gottes Sohn wird von Seele und Geist des Menschen aus Liebe als Erbe Gottes gerühmt. Dann handelt es sich um eine Replik auf Joh 3,16 f: So wie Gott den verlorenen Menschen geliebt hat, liebt dieser nun den Fleisch gewordenen Sohn. Die Antithetik der Aussage bestünde darin, dass der verlorene Mensch zwar von Gott verflucht werden muss, durch den Mensch gewordenen Christus aber Erbe der Erwählung wird und nunmehr diesen dafür preist. Der für die reformatorische Soteriologie typische foren­ sische Aspekt klingt in der Aussage „ein Wurm, den du verfluchest“ an (Rö 3,23 usw.) lässt sich aber auch auf alttestamentliches Denken (vgl. Num 16; Dtn 27) zurückführen. Gottes Liebe und Erwählung heben den Fluch über die Sünde auf. Satz 5 setzt als biblischer Kern und Zitat der Weihnachtsgeschichte den hym­ nischen Lobpreis mit den Worten des Gloria nach Lk 2,14 fort. Damit ist der doxologische und liturgische Höhepunkt der Kantate erreicht. Satz 6 enthält in Form eines Weckrufs eine nochmalige Aufforderung zum Loben. Die Steigerung besteht darin, dass sich zu den klingenden Stimmen nun auch die Instrumente der Andacht zur Bereitung des Lobs einfinden sollen (vgl. 2 Chr 5,13 f; BWV 1/5, vgl. Eph 5,19b). Anknüpfend an die vorigen Sätze wird die anthropologische Beschreibung des Lobenden vervollständigt. Adern und Glieder stehen für den von der Weihnachtsfreude ergriffenen Leib, als Personmitte des Menschen werden Herz und Geist benannt, die sich animieren lassen zum Jubel. Mit diesem Hendiadyoin sind Seele und Geist (Satz 4) variierend aufgenommen. Wie oft bietet der Schlusschoral (Satz 7), Strophe 5 aus Kaspar Fügers Lied Wir Christenleut, eine prägnante Zusammenfassung: Er setzt mit dem Lobpreis im Alleluja ein (vgl. Satz 3 und 5) und rühmt die Tat Gottes als Ermöglichungsgrund und Anstoß für die Festfreude (vgl. Eph 2,10). Menschlicher Jubel verdankt sich göttlicher Animation, der Same des Lobs ist gelegt, wo die Herrlichkeit Gottes auf den Plan getreten ist. Das Motiv des „Nicht-Vergessens“ bringt nochmals den anamnesis-Aspekt des zweiten Satzes zur Geltung. Insgesamt erkennen wir die beiden Charakteristika doxologischer Kantatentexte auch hier: der freudige Affekt,72 verbunden mit verschiedenen Ausdrucksformen des Lobs,73 das den Menschen ergreift und Gott schön macht. b) Musikalische Formen und Strukturen Die Kantate wird durch einen festlichen, groß besetzten Eingangschor (3 Trompeten und Pauken, 3 Oboen und Fagott) im konzertanten Stil eröffnet. Bach benützt für den instrumentalen Rahmen die Form der französischen Ouvertüre aus seiner Orchestersuite in D-Dur (BWV 1069), in die der Chor bzw. die Soli nahtlos eingearbeitet sind, wobei sich ein Taktwechsel vom gravitätischen alla breve zum leichtfüßig schwingenden 9/8-Takt ergibt. Insgesamt haben wir eine sym­

72 Vgl. die Ausdrücke „Lachen“ (1); „Freudenlieder, erfreun“ (6); „Freude“ (7). 73 Vgl. die Wendungen „Rühmen“ (1); „du bist groß“ (3); „Ehre sei dir“ (5); „Lob bereiten“ (6); „Gelobt sei“ (7).



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metrische Form vor uns, deren innere Rahmenteile (Chorsatz: a) identisch und deren äußerer Rahmenteile (Orchestervor- und nachspiel: x) sehr ähnlich sind. Man kann sie wie folgt beschreiben: x (T. 1–24), a (T. 24–48), b (T. 48–67), a’ (T. 67–87), b’ (T. 88–99), a’’ (T. 99–128: Fuge), b’’ (T. 128 ff); a (T. 147 ff), x’ (T. 169–189) Das Aufregendste dieses Satzes ist die Art und Weise, wie Bach hier ein weihnachtliches Gelächter musikalisiert, indem er immer wieder die Melismen der Chorstimmen ab­reißen lässt (T. 31 bzw. 38 f: Sopran, Alt, Tenor bzw. T. 79–81: Bass) und damit den Affekt der Freude in unmittelbarer Weise zu Gehör bringt. Wir haben die rhetorische Figur einer Tmesis (Zerschneidung des Satzes)74 vor uns, die in diesem Falle ein Lachen unmittelbar abbildet (Hypotyposis).75 Die beiden solistischen Teile  b und b’’ unterscheiden sich in der Besetzung. Zunächst musiziert ein Soloterzett (SAT) mit den Holzbläsern (b: T. 48 ff), während weiter hinten (b’’: T. 128 ff) der Solobass mit den Streichern konzertiert. Die text­liche Verdreifachung „der Herr“ (T. 48–51 vgl. 128–131) wird durch eine dreifach aufsteigende Gradatio unterstrichen, bei der am Ende auch das Stilmittel der Hyperbole (Solobass, T. 131) eingesetzt wird. Diese Verdreifachung zieht sich durch das ganze Stück. Das Herabkommen Gottes in die menschliche Niedrigkeit findet man in einem durch Punktierungen rhythmisierten Passus durisuculus in der 3. Oboe bzw. in der Viola ausgedrückt (vgl. T. 53–61 bzw. T. 133–141), ein in dieser Art und diesem Umfang m. W. einzigartiges Beispiel.76 In T. 62–64 schließt sich daran noch eine Paralellelführung der Stimmen an, die als Emphase Gottes wunderbares Handeln preist. Dieses Phänomen finden wir wieder in Abschnitt b’ (T. 89–91), diesmal in allen vier Singstimmen (chorisch). Eine Verknüpfung der beiden Teile a und b geschieht in Abschnitt a’’ (Fuge), wenn der Sopran über acht Takte Text und Thema des solistischen Terzettes aufnimmt (T. 109–117, vgl. T. 51–54). Immer wieder spielt die Dreizahl eine wichtige Rolle: Neben dem schwingen Takt (9/8tel als großer und kleiner Dreiertakt in einem) gilt dies auch für die Besetzung: Hier finden sich instrumental oft drei Stimmen zusammen (3 Oboen oder 2 Fl. + Ob. bzw. 3 Trompeten); was auch für die konzertierenden Soli in den Singstimmen (b) gilt. Im harmonischen bzw. melodischen Bereich sind Themen und Motive oft im Sinne einer drei­ fachen Sequenz (Gradatio) angelegt.77

Wichtig ist freilich der hermeneutische Gewinn, der sich einstellt, wenn zu Bachs Orchestermusik der Text hinzutritt: Der Sinne der Ouvertüre war: „Festlicher Glanz, herrscherliche Musik, Eröffnung, Einzug. Im Kantatensatz ist der Sinn prä

74 Vgl. Bartel, 274 f mit Hinweis auf Vogt, 152 und Spieß, 156, die diese Figur beide mit der Suspiratio in Verbindung bringen. Hier ist allerdings ganz offensichtlich ein deutlich anderer Sinn vorhanden als das sehnsüchtige, Verlangen ausdrückende Seufzen. 75 Vgl. Burmeister, HM, Art.  Hypotyposis [Übers. JA]: „Hypotyposis ist die Explikation eines Textes, durch die leblose Sachen [άψυχα] belebt [έµψυχα], vor das Auge gestellt oder verdeutlicht werden.“ 76 Die Verwendung des Passus duriusculus (vgl. Bernhard, TCA, Cap. 29) im Sinne einer Abbildung der Inkarnation (vgl. das Crucifixus der H-moll-Messe, das auf die Kantate Weinen, Klagen BWV 12,2 vgl. oben 2.3.1 zurückgeht) zeigt, dass es sich auch bei dieser rhetorischen Figur um einen „bedeutungsgenerierenden bzw. bedeutungsverstärkenden Baustein“ (vgl. oben 1.7.2) handelt, den Bach positiv oder negativ einsetzen konnte. 77 Vgl. Meyer, Einheit, 255: „Ob diese vielfach hörbar gemachte Drei als Symbol zu deuten ist – auf die Trinität, die göttliche Dreifaktigkeit – weiß ich nicht. Aber sie ist hörbar und insofern könnte sie als musialisches Sinnbild gemeint sein.“

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zisiert durch Text und Kontext. Er liegt in der Gegenwärtigkeit des Weihnachts­ geschehens: ‚Siehe dein König kommt zu dir‘ – und in der Möglichkeit sich die Antwort des Glaubens zueigen zu machen“78. In der folgenden Tenorarie, die im verhalteneren h-moll (ohne Da capo) ge­ halten ist, konzertieren mit dem Solotenor und dem Continuobass zwei Flöten. Dürr meint, dass diese Besetzung als Kontrast zum festlichen Eingangschor gewählt ist und die „niedrige Geburt des Gottessohnes“79 unterstreicht. Es scheint auch denkbar, dass Bach hier an die innige Verschmelzung der zwei Naturen Christi oder aber den fröhlichen Wechsel von Gott und Mensch denkt, wie es besonders Teil B der Arie nahe legt: „Er wird Mensch, und dies allein, dass wir Himmelskinder sein.“ Auch sonst spielt die Zweizahl in dieser Arie eine große Rolle, u. a. durch die Wiederholung von einzelnen Passagen (z. B. T. 24–26 bzw. T. 50–53) im Sinne einer musikalischen Epizeuxis.80 Eindrücklich im Sinne einer Hypotyposis vertont, ist der Text „schwinget euch anitzt von hinnen, steiget schleunigst himmelan“: So lässt Bach in T. 20–21 die Melodie der Solostimme sich zweimal aufschwingen (einmal zum g’, dann zum a’).81 In T. 26 f wird dies noch überboten, wenn der Tenor vom tiefen d zum hohen g’ über eineinhalb Oktaven (Anabasis) hinaufsteigt (vgl. auch T. 30 f). Beim zentralen Begriff „Sinnen“ – es geht in diesem Satz um die anamnesis der Menschwerdung Gottes – verharrt der Sänger auf einer langen Note (T. 16 f). Bach zeigt damit, wie die ausgedehnte Erinnerung an Gottes Heilstat den Menschen ergreift. Im zweiten Teil  steht die inkarnatorische Bewegung Gottes zu den Menschen ganz im Vordergrund. „Er wird Mensch“ (T. 39) wird durch eine fallende Sext (vgl. auch Fl. 1, T. 37 f)  bzw. eine fallende Linie (T. 37 vgl. T. 41 f) abgebildet. Die soteriologische Metapher „Himmelskinder“ illustriert Bach dadurch, dass die Melodik hier immer wieder nach oben zieht (T. 37–49). M.a.W.: Das ZurWelt-Kommen Gottes bringt den Menschen einen fröhlichen Wechsel, gleichsam eine Vergöttlichung und Vorweggabe himmlischer Herrlichkeit hier und jetzt. Das folgende Arioso (Satz 3) ist kurz und schlicht, aber dennoch ausdrucksstark. Eine aufsteigende Viertonfigur in den Streichern mit anfänglicher Suspi­ ratio (Achtelpause)  symbolisiert ein Staunen; das Aufsteigen des Motivs drückt eine anbetende Haltung aus, die sich mit dem rühmenden Text sehr gut deckt. Der offenbarungstheologisch bedeutsame Begriff des „Namens“ Gottes (vgl. Ex 3,14; Act 4,12) ist durch eine kleine Koloratur geschmückt; beim soteriologisch aufgeladenen Prädikat „groß“ wird sinnenfälligerweise die Spitzennote in der Singstimme (Bass) erreicht (Hyperbole). Weitere Spitzentöne (cis und d) finden sich

78 Meyer, a. a. O. 79 Dürr, 128. 80 Vgl. Walther, Art. Epizeuxis, bzw. Mattheson, 243: „Denn, was ist z.E. gewöhnlicher, als die musikalische Epizeuxis oder Subjunctio, da einerlei Klang mit Heftigkeit in eben demselben Theil der Melodie wiederholt wird?“ Vgl. zu dieser Figur auch die Kantate Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) Satz 1, s. u. 6.1.3. 81 Vgl. Bartel, 198, mit dem Hinweis dass Anabasis und Katabasis als „Sonderformen“ (besser wäre: Ausdrucksformen) der Hypotyposis gelten können.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

auf den Silben „ist“, „groß“ und „Tat“; das Wesen und das Handeln Gottes, Ontologie und Soteriologie, sind demnach gleichermaßen im Blick des musikalischen Exegeten Bach. Schon in der Besetzung der nun folgenden Trioarie mit Liebesoboe und Altsolo wird das Thema des Satzes deutlich: Es geht um Gottes liebende Suche nach dem sündigen Menschen, bei der die schmerzliche Distanz von Sünde und Hölle überbrückt werden muss.82 Insofern finden wir hier den Affekt der Trauer inmitten der ansonsten festlich gestimmten Kantate. Die Tonart fis-moll, die in der Singstimme fast durchgehenden Punktierungen und der langsame 3/4-Takt stehen dafür. Schon bei den Worten „Ach Herr“83 setzt der Soloalt zu Beginn mit einer ausdrucksstarken Exclamatio ein, (T. 17; T. 26, vgl. auch instr. T.  1). Das göttliche Suchen nach dem Menschenkind und seinem Heil wird durch eine zweiteilige fallende Phrase (Katabasis) abgebildet, wie wir sie exemplarisch in T. 19–21 und T. 27–29 finden. Das Continuo untertreicht diese Bewegung jeweils im anschließenden Takt. Der darauf folgende Abschnitt (T. 34 ff) nimmt sich die Darstellung des „Wurms“ und der „Hölle“ vor. Ein Saltus duriusculus nach unten (Tritonus) springt den sündigen Wurm an (T. 33 f), dessen Kriechen von der Solooboe durch das Umspielen des tiefen Tones cis’ abgebildet wird (T. 37). Die Harmonik ist in diesem Abschnitt des Öfteren durch verminderte Septakkorde oder Dreiklänge angeschärft, so dass das entsteht, was Burmeister eine Pathopoeia84 nennt. Dem sündigen Menschen wird dann Gottes Liebe entgegengehalten: Den zentralen Affektbegriff „Liebe“ drückt Bach durch übergebundene Vorhaltsnoten (T. 51 f; 57 f) und eine lange Haltenote zum Abschluss (T. 70) aus. Das anschließende Duett (Satz 5) ist die doxologische Mitte der Kantate. Von der Taktart (12/8) und Tonart erinnert der Satz an das Duett BWV 66,5, beim genaueren Hinsehen liegt hier aber weitgehend das Duett Virga Jesse floruit zugrunde, das als Einlagesatz zum Magnificat BWV 243a (frühe Es-Dur-Fassung) komponiert wurde.85 Die beiden hohen Stimmen Sopran und Tenor stehen für freudige Hochstimmung; der neue Text hat Bach zu einer Umarbeitung veranlasst, die ihn uns als musikalischen Exegeten des weihnachtlichen Lobpreises er­ kennen lassen. Motivisch können wir analog zu den drei Textteilen des Glorias auch innerhalb dieses Satzes drei Abschnitte unterscheiden.86 Die erste auf „Ehre sei Gott in der Höhe“, die zweite auf „Friede auf Erden“ und die dritte auf den Text „und den Menschen ein Wohlgefallen“.

82 Vgl. Petzoldt II, 110: „Die Zuwendung Gottes zum Menschen erfährt in der Menschwerdung seines Sohnes ihren einzigartigen Gipfel.“ 83 Vgl. die Untersuchung der Klagekantaten BWV 2 unter 2.4.1. 84 Vgl. Burmeister, MP, 61: [Übers. JA]: „Pathopoeia ist eine Figur, die geeignet ist, Affekte zu erschaffen, was geschieht, wenn Halbtöne in die Komposition eingefügt werden, die weder zum modus noch zum genus der Komposition gehören …“ Vgl. Bartel, 235. 85 Der Satz ist ein Torso und war ursprünglich für Sopran und Bass komponiert. 86 Vgl. dazu den Chor Ehre sei Gott in Teil  II des Weihnachtsoratoriums und das Gloria der h-Moll-Messe.

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a) Der Lobpreis des „Ehre sei Gott“ wird durch lange sequenzartige Koloraturen geschmückt, aufsteigende Linien in der Bassstimme (vgl. T. 6–7; T. 13 ff) symbolisieren das aufsteigende Lobopfer (Anabasis). b) Der zu den Menschen kommende Friede bringt „Entspannung“. (T. 24–27). Mit Zweierbindungen, die zunächst eine Viertel- und eine Achtelnote zu­sammenfassen, kommt die Musik merklich zur Ruhe. Die fallende Bewegung symbolisiert Gottes weihnacht­ liches Zur-Welt-Kommen (Katabasis). Die Haltetöne ermöglichen es, dass sich Friede im Inneren einstellt. Bach verzichtet zunächst ganz auf Sechzehntelnoten, ehe er dann die „Erde“ (als eine von den Himmlischen besuchte) wieder mit Koloraturen verziert. In einer vierfach abfallenden Sequenz (Gradatio) wird dies auch am Ende nochmals musikalisiert (T. 29–32). c) Der letzte (polyphone)  Abschnitt beleuchtet das den Menschen erreichende „Wohl­ gefallen“ durch jubelnde Koloraturen (auf „-fallen“), die an Teil a erinnern. Die Phrasen sind eher fallend, drücken also nochmals eine Bewegung aus, die von Gott her zum Menschen kommt (besonders T. 42–45, Tenor). In den letzten vier Takten finden sich die beiden Soli homophon konzertierend zu einem einhelligen Wohlgefallen zusammen.

Eine kraftvolle Bassarie schließt sich an, die mit Trompete, Oboen und Streichern groß besetzt ist.87 Die Musik lässt sich als Aufgesang zum Lobpreis verstehen. Besonders die aufstrebende Dreiklangsmotivik in Continuo und Trompete unterstreicht den freudigen und lobenden Affekt, der an das Gloria des vorangegangen Satzes nahtlos anschließt. Zur Unterstreichung des freudigen Affektes (vgl. besonders Satz 1) setzt Bach immer wieder emphatische Syncopationes ein (vgl. T. 11 f; 84 f: Tr; T. 23 und 29 f: Vl. 2; T. 46 f: Solobass). Dazu dient im melodisch-rhythmischen Bereich besonders die Figura corta (z. B. T. 3: Tr; bzw. T. 16 f: Singstimme). Wieder spielt auch die Figur der Epizeuxis, die identische Wiederholung eines Abschnitts, eine zentrale Rolle (vgl. T. 1 und 2 bzw. T. 13 f). Die Verdoppelung kann als musikalisches Interpretament der auf den lobenden Menschen gemünzten beiden Hendiadyoin-Ver­ bindungen „Adern und Glieder“ bzw. „Herz und Geist“ verstanden werden.88 Das Prinzip der Wiederholung findet sich auch in der großen Form: So wird das einleitende Ritornell mit Einsatz der Solostimme ab T. 13 zehn Takte lang identisch wiederholt, lediglich der Schluss erscheint zur Kadenz hin (ab T. 11 f) ohne Entsprechung am Ende des ersten Vokalteils ver­ändert. Das Schlussritornell bringt nochmals in identischer Gestalt die ersten 12 Takte.

Wir haben somit die musikalische Struktur eines variierten Da Capo vor uns: a a’  b a’ a. Im meditativen B-Teil (vgl. Satz 2) auf den Text „ihr andachtsvollen Saiten“ schweigen bezeichnenderweise die Bläser, die Trompete setzt erst bei dem Stichwort „solches Lob“ (T. 41) wieder ein. Sie fungiert gleichsam als „doxo­ logisches“ Signalinstrument. Das Gott gefällige Lob(opfer) steigt am Ende des A-Teils mit einer Anabasis-Skala „gefällig“ (T. 26) nach oben. Außerdem werden in beiden Formteilen die Affektworte „Freudenlieder“ bzw. „erfreun“ mit vir­ tuosen Koloraturen (T. 20–21 und T. 67–68 bzw. T. 45–47) geschmückt.

87 Vgl. BWV 76,5; 147,9; 66,3 u. a. 88 Vgl. dazu unten 6.1.3 die Analyse der Kantate BWV 1.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

Der abschließende vierstimmige Kantionalsatz fasst die Grundstimmung der Kantate zusammen und setzt die im Da capo der vorangegangenen Arie laut gewordene Aufforderung ins Werk: „Alleluja! Gelobt sei Gott!“. Zugleich fokussiert der Choral das Personzentrum des Menschen als Ort der Freude und des Lobs („singen wir aus unsers Herzens Grunde“). Freilich gibt der Choral zu bedenken: Gott ist es, der die Freude im Menschen bereitet, seiner Tat gilt auch die Erinnerung des Menschen. Bach harmonisiert die melodisch identischen Teile T. 4–7 und T. 8–11 völlig unterschiedlich, so dass beinahe der Eindruck entsteht, als handle es sich um zwei verschiedene Teile. Er tut dies, um jeweils eine anthro­ pologische Aussage zu beleuchten: Im ersten Fall zielt die melodische fallende Bewegung der Bassstimme auf den „Herzensgrund“ (tiefste Bassnote des ganzen Chorals und Phrasenzielpunkt in T. 6), im zweiten Fall leuchtet Bach die Aussage aus, dass ein lobender Mensch Gott nicht vergisst, indem er in T. 9 eine Oktav­ imitation im Viertelabstand zwischen Bass (Gott) und Alt (Mensch) und eine emphatische dreifache Gradatio (SAB) gestaltet. c) Liturgische Überlegungen mit zwei Alternativen BWV 110 hat ihren klassischen Ort im Gottesdienst am ersten Weihnachtstag mit dem Gloria aus Lk 2,14. Die weihnachtliche Perikope Lk 2,1–14 ist allerdings heute auf die Christvesper verschoben worden, während89 am ersten Feiertag Lk 2,15–20 gelesen wird. Daher ergeben sich grundsätzlich zwei verschiedene liturgische Orte und „Optionen“ für den Verkündigungsteil: α) Ein Gottesdienst an Heiligabend könnte folgende Dramaturgie haben: Psalmgebet Ps 126 (oder Psalmlied EG 298) – Kantate Satz 1–2 – Gemeinsames Lied, z. B. EG 27 – Lesung Jes 9,5 f oder Jer 9,22 f mit 10,6 f – Kantate Satz 3–4 – Evangelium Lk 2,1–14 – Kantate Satz 5–7 – Predigt – Kantate Satz 7 – Credo β) Ein Gottesdienst am ersten Weihnachtstag (auch abends!) könnte folgender­ maßen aussehen: Psalmgebet Ps 126 (oder Psalmlied EG 298) – Kantate Satz 1–2 – Gemein­sames Lied EG 23 – Epistel Tit 3,4–7 (oder alttl. Lesung Jer 9,22 f &10,6 f) – Kantate Satz 3–5 – Evangelium Lk 2,15–20 – Predigt – Kantate Satz 6 und 7 (evtl. mit Gemeinde) – Credo

6.1.2 Erfreut euch ihr Herzen (BWV 66) BWV 66 ist im Gegensatz zur Spruchkantate BWV 110 eine Odenkantate (madrigalische Dichtung), die mit einem schwungvoll tanzenden Eingangschor beginnt. Sie entstand auf der Basis einer weltlichen Vorlage (BWV 66a)90, deren Musik verloren ist, und hat folgenden Text:



89 Vgl. EGB 252 f bzw. 256 f. Auch Meyer, Kirchenjahr, platziert BWV 110 in der Christvesper. 90 Vgl. Petzoldt II, 710–716.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre 1. Cho r Erfreut euch, ihr Herzen, entweichet ihr Schmerzen. Es lebet der Heiland und herrschet in euch.   Ihr könnet verjagen   das Trauren, das Fürchten, das ängstliche Zagen,   der Heiland erquicket sein geistliches Reich. 2. Rezit ativ (B a ss) Es bricht das Grab und damit unsre Not, der Mund verkündigt Gottes Taten; der Heiland lebt, so ist in Not und Tod, den Gläubigen vollkommen wohl geraten. 3. Ar ie (Ba ss) Lasset dem Höchsten ein Danklied erschallen vor sein Erbarmen und ewige Treu.    Jesus erscheinet, uns Friede zu geben,    Jesus berufet uns, mit ihm zu leben,    täglich wird seine Barmherzigkeit neu. 4. Rezit ativ à 2 (Al t , Teno r) Hoffnung: Wie darf noch Furcht in einer Brust entstehn? Furcht: Lässt wohl das Grab die Toten aus? Hoffnung: Wenn Gott in einem Grabe lieget So halten Grab und Tod ihn nicht. Furcht: Ach Gott! Der du den Tod besieget, Dir weicht des Grabes Stein, das Siegel bricht. Ich glaube, aber hilf dem Schwachen, du kannst mich stärker machen, besiege mich und meinen Zweifelmut, der Gott, der Wunder tut, hat meinen Geist durch Trostes Kraft gestärket, dass er den auferstandnen Jesus merket.

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Hoffnung: Bei Jesu Leben freudig sein ist unsrer Brust ein heller Sonnenschein. Mit Trost erfüllt auf seinen Heiland schauen und in sich selbst ein Himmelreich erbauen. „Mein Grab und Sterben bringt euch Leben,    mein Auferstehn ist euer Trost.“ Mein Mund will zwar ein Opfer geben, Mein Heiland, doch wie klein, wie wenig, wie so gar geringe, wird es vor dir, o großer Sieger sein, wenn ich vor dich ein Sieg- und Danklied bringe? Hoffnung/Furcht: Mein/kein Auge sieht den Heiland auferweckt. Es hält ihn nicht /noch der Tod in Banden. 5. Duet t : Fur cht und H offn ung (Al t , Teno r) Furcht/ Hoffnung: Ich furchte zwar/ furchte nicht des Grabes Finsternissen und klagete/hoffete mein Heil sei nun/ nicht entrissen. [Gemeinsam] Nun ist mein Herze voller Trost,91 und wenn sich auch ein Feind erbost, will ich in Gott zu siegen wissen. 6. Cho ral Alleluja! Alleluja! Alleluja! Des solln wir alle froh sein. Christus will unser Trost sein. Kyrie eleis.

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a) Poetische und exegetische Beobachtungen

Bereits die weltliche Vorlage aus Köthen weist schon Elemente eines Dialogs auf, in dem die Fama und die Glückseligkeit Anhalts als Protagonisten agieren.92 In der Erstaufführung 91 Vgl. die Vorlage BWV 66a, 4: Hier findet sich eine Gleichzeitigkeit von „Zusage“ und „Gewissheit“ bei den beiden allegorischen Personen, die in der geistlichen Parodie nicht zu finden ist: Fama: Dir Anhalt sei der Himmel hold. Glückseligkeit Anhalts: Mir Anhalt bleibt der Himmel hold. 92 Vgl. BWV 66a, Satz 3–5, s. Petzoldt II, 714–716. Im Unterschied zur geistlichen Parodie ist das weltliche Original weniger antithetisch gestaltet, vgl. insbesondere Satz 3:

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der geistlichen Parodie im Jahre 1724 lässt sich – wie aus den von Bach selbst publizierten Textheften für den Leipziger Gottesdienst zu ersehen ist – eindeutig erkennen, dass Bach zunächst „Zuversicht und Schwachheit“ miteinander konfrontierte, was dann in der Wiederaufführung 1731 mit den personifizierten Grundaffekten Furcht und Hoffnung präzisiert wurde.93 Allerdings treten diese erst in Satz 4 und 5 auf. Wie erklärt sich dann der jubelnde Ton der Sätze 1–3? Eine Erklärung könnte sein, dass bei der Erstaufführung 1724 im Vespergottesdienst in St. Nikolai über die Epistel Act 10,34–41 gepredigt wurde.94

Wie in BWV 110 spielt auch hier der Affekt der Freude95 eine zentrale Rolle, die hier allerdings gepaart ist mit der Hoffnung. Die Affekte Trauer96 bzw. Schmerz und Furcht sind gleichsam als tödliche Gegenmächte oder dunkle Antagonisten mit auf dem Plan, was sich schon im Mittelteil des Eingangschores andeutet und in Satz 4 endgültig zuspitzt.97 Formal hängen Satz 1–3 und der Dialogus Satz 4–5 zusammen, der Schlusschoral bündelt beide Teile organisch. Die Fokussierung auf Furcht und Hoffnung erweist sich von den Osterevangelien her als durchaus sachgemäß: So heißt es im (sog. ersten) Markusschluss (Mk  16,8; Ostersonntag) von den Frauen am Grab: „Denn sie fürchteten sich“, bei Matthäus „gingen sie eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude“ (Mt 28,8), womit eine eigenartige Dialektik benannt ist. Schließlich können wir im Evangelium für den Ostermontag (Lk 24) geradezu ein „Affekt-Psychogramm“ angefochtener Jünger studieren, auf das der Dialogus mit seinen Personen Furcht und Hoffnung (Fassung 1731) bezogen ist. Hier findet sich der Hinweis auf das Grab: – „Wir aber hofften, er würde Israel erlösen …“ (Lk 24,21) – „Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unsrer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen“ (Lk 24,22) Doch wenden wir uns nun dem Libretto der Kantate98 im Einzelnen zu:

„Fama: Ich aber will auf meinem Ehren Wagen / Dein Lob zu allen Völkern tragen. Glückseligkeit Anhalts: Du aber kannst auf dem Ehren Wagen / sein Lob zu allen Völkern tragen.“ 93 Klek, 280 f, führt diese nachträgliche Verbesserung auf Bach selbst zurück, was gut möglich ist. Damit orientiert sich Bach – bewusst oder unbewusst – an den in Luthers Psalmenvorrede von 1528 gebräuchlichen Affekten, die auch in BWV 60 verwendet werden. 94 Vgl. Petzoldt II, 717 f. 95 Dietrich Korsch entfaltet die Bedeutung der Freude in einer Predigt zu BWV 66 wie folgt: „Freude, liebe Gemeinde, ist das eigentümlichste aller unserer Gefühle, das innerlichste, das vollkommenste – und das flüchtigste. Was doch zumeist unser Gefühl durchherrscht, was wir alle Tage spüren, ist Ungewissheit, Sorge, Ängstlichkeit. […] Freude dagegen ist Ausdruck von Unabhängigkeit. Wer sich freut, braucht nichts mehr. […] Sie ist der Inbegriff der Freiheit. Darum ist sie ja auch so selten da in unserem Leben. Darum muss sie sich erst einmal durchsetzen gegen all die anderen Gefühle, die uns auf den Leib rücken: Schmerzen, Trauern, Fürchten, Zagen: das sind die Vorboten des Todes.“ (Glockzin-Bever, 75). 96 Die im Eingangschor noch anklingende Trauer ist auf die Frage Jesu in Lk 24,17 zurückzu­ führen: „Was sind das für Reden, die ihr zwischen euch handelt unter Wegen, und seid traurig?“ 97 Vgl. dazu Luthers zweite Vorrede zum Psalter (1528), WA DB 10/1, 100.102 bzw. oben 1.7.1 (Affekte). 98 Spitta attestierte dem Werk (zusammen mit BWV 134), dass hier zwar „Geist und Anmuth“ herrschten, sie aber „unter Bachs Ostermusiken eine hervorragende Stelle nicht beanspruchen“ könne. (Vgl. Spitta II, 549 )

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Satz 1 beginnt mit einem Aufgesang, einer expliziten Aufforderung zur Freude (vgl. Jes 35,10), die sich als Gegenaffekt zum Schmerz versteht und daher (im B-Teil) zum Verjagen der Trauergeister ermutigt. Der Dichter wählt das Versmaß des Daktylus, das mit seinem Dreierrhythmus eine natürliche Affinität zum Tanz hat. Angeredet ist zunächst das menschliche Herz als Zentrum der Freude, in christologischer Hinsicht finden wir sowohl den siegreichen Herrscher als auch den erquickenden Heiland (vgl. Mt 11,28) akzentuiert, dessen Todesbande noch anklingen. Das Ostergeschehen, verknüpft mit der Verkündigung Christi, wird als Ermöglichungsgrund dafür betrachtet, dass Christen Trauer, Furcht und Angst vertreiben können. Ein Blick auf BWV 66a ist hier in sprachlicher Hinsicht sehr aufschlussreich: Das musi­ kalische Äquivalent des Eingangschors finden wir in Satz 8. Der A-Teil ist ein Glückwunsch an den Fürsten Leopold: „Es strahle die Sonne, / es lache die Wonne, / es lebe Fürst Leopold ewig beglückt.“ Demgegenüber bringt der folgende B-Teil nicht nur einen Affektwechsel (und eine überzählige vierte Zeile), sondern auch einen Wechsel in Sprechrichtung und Genre. Der Dichter formuliert hier eine Fürbitte: „Ach Himmel, wir flehen, / dies holde Licht sechzigmal wiederzusehen / die frohe Zeit sechzigmal wiederzusehen. / Gib, Höchster, was unsern Regenten erquickt.“

Satz 2 nimmt die Verkündigung der österlichen Heilstat, wie wir sie auch in der Epistel aus Act 10 finden, aus Satz 1 (A-Teil) wieder auf. Der konfessorische WirStil lässt sich als Antwort auf Satz 1 (2. Pers. Pl.) interpretieren. Darauf folgt eine abermalige Aufforderung zum Lob, für die der Dichter in sachlicher Ent­ sprechung zu Satz 1 wieder das daktylische Versmaß wählt. Semantisch ist eine Anlehnung an Threni 3,22b und 23 kaum zu überhören.99 Mit dem Begriff des „Dankliedes“, den die moderne Psalmenforschung an Texten wie Ps 30 oder Ps 116 festmacht, bezeichnet der Dichter das Osterlied völlig zutreffend als ­todah des Auferstandenen,100 das die Rettungstat Gottes am Ostermorgen preist und diese der Gemeinde freudig verkündet (vgl. Ps 118 in der österlichen Liturgie). Typisch ist dafür die sprachliche Überschneidung von Verkündigen und Danken (vgl. auch Ps 9 bzw. EG 272), die gleichsam in einer doppelten Sprechrichtung zu Gott und zur Gemeinde hin angelegt ist. Die Verkündigung des österlichen Erscheinens Jesu ist Grundlage und Ausdruck für den Auferstehungsjubel (vgl. 1 Kor 15). Zuletzt klingen Zuspruch und Anspruch einer österlichen Existenz in johanneischem Ton an (vgl. Joh 20,21–23). Der Gabe des Friedens („Friede sei mit euch“)101 entspricht das Leben mit Christus. Auffällig ist hier, dass alle Verben der Dichtung präsentisch gewählt sind und dass mit dem Stichwort „leben“ (Satz 1, 2



99 Vgl. Petzoldt II, 720 mit einem überzeugenden Hinweis auf Olearius IV, 591 (zur Stelle). 100 Vgl. dazu Gese, 107–127. 101 Vgl. Olearius V, 796 zu Joh 20,19 ff: „Friede / Trost und Freude sey mit euch.[…] Diese dreifache Wiederholung V21.26 war keine blosse Begrüssung nach menschlicher Gewohnheit davon 1.B.Sam. 16/4[…] sondern eine errfeulicher Oster-Predigt und des Nutzes seines Leidens und Aufferstehens herrliche Versicherung und Schenckung aller Glückseligkeit geistliche und ewig […].“

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und 3) eine pointierte Verknüpfung der Lebendigkeit Christi mit dem Christen­ leben („Jesus berufet uns, mit ihm zu leben“) ausgedrückt ist.102 Das folgende Dialog-Rezitativ (Satz 4), das mit seinen Protagonisten Furcht und Hoffnung stark an BWV 60 erinnert, lässt uns unmittelbar am Zwiespalt zwischen ängstlichem Zweifel und gewisser Zuversicht teilhaben. Es nimmt den Zweifel und die Not der Emmausjünger hinein in unsere Gegenwart und macht uns durch die allegorischen Personen Furcht und Hoffnung mit der nachöster­ lichen Situation gleichzeitig. Eindrücklich ist der kräftige Zuruf des Auferstandenen im Munde der Hoffnung: „Mein Grab und Sterben bringt euch Leben. Mein Auferstehn ist euer Trost.“ Diese Zusage kann uns an den johanneischen Bericht der Auferweckung des Lazarus und an das in diesem Zusammenhang gesprochene Ich-bin-Wort (Joh 11,25 f) erinnern.103 Besonders interessant ist die Sprachbewegung der Furcht: Zunächst wird ihre Skepsis radikal und kategorisch im Indikativ artikuliert, ehe sie in ein offeneres Fragen mündet: „Lässt wohl das Grab die Toten aus?“ Diese Frage wird mit einer eminent theo-logischen Antwort aufgehoben: „Wenn Gott in einem Grabe lieget, so halten Grab und Tod ihn nicht.“ Klek kommentiert treffend: „Dass mit Jesus von Nazareth tatsächlich Gott im Grabe liegt, ist höchste Zuspitzung der christologischen Paradoxien, insofern einerseits Christus einfach (verkürzt) Gott genannt wird und andererseits im Bild des Grabes definitiv die Begrenztheit menschlicher Existenz aufscheint: Das Grab lässt eben keinen mehr raus. Das Gottsein dessen, der da ins Grab befördert wird, zu erweisen, war ja gerade der Sinn der Passionsbetrachtung […]. Der Satz [sc. Wenn Gott in einem Grabe liegt …] ist gezielt aktivisch formuliert. Gottes Liegen im Grabe ist pure Potenz, wie der zweite Satzteil erschließt. Wenn Gott im Grab liegt, bekommen Grab und Tod Probleme, weil sie zum Kampf herausgefordert sind. Ihre sonst selbstverständliche Macht über die toten Gebeine ist dahin. […] Der Feind Gottes tritt im Doppelpack auf, gegenüber dem einsilbig ‚absoluten‘ Gott hat er trotzdem keine Chance.“104

Bewegend und anrührend ist der letzte Teil, der als Bitte um Glauben formuliert ist. Hier wird nicht allzu schnell  – gleichsam nach dem Prinzip „fides ex machina“ – ein perfekter Osterglaube ans Tageslicht katapultiert, sondern „nur“ ein bescheidenes Gebet formuliert. Es erinnert an die Bitte des römischen Hauptmanns: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben  …“ (vgl. Joh 4). Ein derartiges Gebet, dass der Auferstandene den Zweifel besiegen möge, wirkt auch heute authentisch und nachvollziehbar. Mit Satz 5 folgt dann ein Bekenntnis zum Auferstehungssieg (vgl. Ps 118 bzw. BWV 149) und zu neuer Hoffnung in einem Duett, das die beiden Personen immer mehr zueinander bringt, bis sie schließlich den gleichen Text singen. Klage und Furcht klingen im A-Teil noch retrospektiv an werden dann aber, was der

102 Vgl. dazu Olearius V, 737 (zu Joh 14,19 f): „Ich lebe. […] und so gewiss ich jetzt noch lebe, so gewiss werde ich wieder leben und auferstehen und euch nächst dem zeitlichen schenken das geistliche und ewige Leben.“ 103 Vgl. Petzoldt II, 715 und 722. 104 Klek, 282.

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Indikativ Präsens in Teil  B unterstreicht, vollends überwunden. Hoffnung und Trost haben nun die Oberhand. Der Schlusschoral (Satz 6) krönt die Kantate mit einem hymnischen Lobpreis (Str. 3 von Christ ist erstanden), der durch ein emphatisches dreifaches Alleluja eröffnet wird. Mit den Begriffen Trost und Freude (froh sein) werden in kate­ chetischer Prägnanz zentrale Aussagen von Satz 1 und 4 aufgenommen und das Ostergeschehen als ein Handeln Gottes begriffen, das bis heute Menschen aus der Resignation heraus reißt. „Hier klingt sowohl der Vollzug der Osterverkündigung […] nach als auch der durch den Osterpsalm initiierte Osterjubel“105. Insgesamt durchzieht die Kantate die doppelte Affektdialektik von Freude und Schmerz, Furcht und Hoffnung, deren (liturgisches) doxologisches Ziel das österliche Alleluja ist, das sich am Ende als Summe eines spirituellen Prozesses wie von selbst ergibt und erschließt.106 b) Musikalische Beobachtungen Der große konzertante Kopfsatz ist als Da capo angelegt und umfasst stolze (254+156) 410 Takte. Bach verlangt vom Orchester in allen Stimmen höchste Virtuosität. Dies gilt besonders für die möglicherweise erst nachträglich dazu komponierte Trompete107, die er mit dem seltenen Zusatz „se piace“ (=ad libitum) versieht. Der 3/8-Takt entspricht dem daktylischen Versmaß der Dichtung, was einer syllabischen Diktion des Textes (vgl. T. 25–50) entgegenkommt.108 Wir haben einen höchst modernen Chorsatz vor uns, der sich folgendermaßen gliedert: a) Orchesterritornell x (T. 1–24 in D-Dur); Chorsatz A – Orchesterritornell x’ (T. 51–75 in A-Dur); Chorsatz A’ (mit veränderten Themen ab 92 ff); Orchesterritornell x (T. 133–156) b) Langsamerer Mittelteil (Andante) in ständigem Wechsel von Alt/Bass mit Chor: Chorsatz B c) Orchesterritornell x Chorsatz A; Ritornell x’ und A’ Betrachten wir zunächst das einleitende Ritornell: Die Faktur des Tanzsatzes109 ist ebenso aufwändig wie wirkungsvoll. Trompete, Holzbläser (3st. mit obligatem Fg) und Streicher laufen 16 Takte lang unabhängig voneinander und finden sich dann punktuell zusammen (vgl. T. 19–24). Die erste Oboe präsentiert eine schwungvoll-ekstatische Melodik in Sechzehntel Bewegung mit dreifacher Gradatio; die Streicher begleiten mit Dreiklangs­ brechungen, die sich dann nach vier Takten zu virtuosen Zweiundreißigstel-Läufen stei

105 Petzoldt II, 724. 106 Zentrale Stichworte, die auch innerhalb der Sätze korrespondieren, sind: Freude (1; 6), Fürchten (1; 4), Hoffnung: (4; 5), Trauer / Klage (1;5); Danklied (3; 4); Sieg (4; 5); Tod/ Sterben/ Grab (2; 4; 5), Leben (1; 2; 4), Trost (4; 5; 6), Heiland  /  Heil (1; 2; 4; 5); Wunder  /  Taten Gottes (2), Glaube / Zweifel (2; 4), Herz (1; 5). 107 Vgl. Dürr, 318. 108 Besondere Behandlung erfahren durchgängig die Verben „herrschen“ und „leben“. 109 Finke-Hecklinger ordnet das Werk als eine Typenkreuzung von Passepied und Gigue (vgl. BWV 214,1 vgl. 248 I,1 oder 134a,8), was m. E. überzeugend ist, da das Tempo angesichts der vielen kleinen Notenwerte nicht zu schnell gewählt werden kann (als echte Gigue, vgl. dgg. BWV 248, III,1 oder das Gloria der h-moll-Messe).

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gern. Sie erinnern (in Tonart, Rhythmus und Bewegungsrichtung) an das Weihnachtsoratorium bzw. die Kantate Tönet ihr Pauken (BWV 214). In T. 5–9 schwingt sich die Geigenstimme vom d’ zum d’’’ in Skalen nach oben, wobei zunächst die Töne d’ und a’ bzw. d’’ und a’’ umkreist werden. Im Binnenritornell wird dies auf der V. Stufe, also in A-Dur (T. 55–59) wiederholt und dadurch getoppt, dass das „astronomische“ a’’’110 in den beiden Violinen erreicht wird. Nimmt man den vorausgehenden T. 54 (Fagott/Bässe) hinzu, so bewegt sich eine Linie vom großen E über viereinhalb Oktaven bis zum dreigestrichenen a. Auf diese Weise (Hypotyposis als Anabasis) wird der Topos Auferstehung gleichsam „phönixartig“ musikalisiert. In gewisser Analogie dazu ist die aufsteigende Koloratur auf den Text „herrschet“ in Sopran und Bass (T. 45–48) zu verstehen (jeweils über eine None). Rhythmisch prägend wirkt das Freudenmotiv der Figura corta (vgl. T. 17 ff). Die Einsätze der Einzelstimmen (vgl. T. 25–29 bzw. 33–36) werden von Choreinsätzen beantwortet, bei denen meist zwei Stimmen textlich gekoppelt sind.111 In Analogie zur fulminanten Ana­ basis-Bewegung des zweiten Ritornells (T. 55–60) erreichen auch die Singstimmen Sopran, Alt und Bass samt der Oboe 1 auf „leben“/„herrschen“ einen wirkungsvollen Höhepunkt mit den aufsteigenden Skalen in T. 121 f. Haltetöne finden sich im zweiten Vokalteil, aus­ geweitet in der Länge und auf alle Stimmen, nunmehr auch beim Verb „leben“ (T. 97–101 wie zuvor auf „herrschen“ in T. 40 f).

Auch wenn ein ausgeklügeltes Wort-Ton-Verhältnis angesichts der Parodie eigentlich nicht zu erwarten ist, finden wir besonders im Andante-Mittelteil eine überzeugende affektorientierte Textausdeutung in den solistischen Stimmen Alt und Bass, bei dem die Affekte Trauer/Zagen; Angst/Furcht und Verjagen der Furcht/ Hoffnung jeweils zusammen gehören. Ein Passus duriusculus (T. 158–160; T. 164 ff; T. 174–176 u. ö.) bildet das Trauern ab (im Vokalbass von e’ bis h, vgl. Alt: 162– 164). Die Streicherbegleitung lässt den Eindruck eines Seufzens entstehen, der durch die Pausen auf der 2. Zählzeit (im Sinne einer Suspiratio) erzeugt wird (vgl. BWV 12,2). Das ängstliche „Zagen“ ist zwar zunächst analog zur Trauer mit den gleichen musikalischen Motiven belegt (Chromatik und Orgelpunkte mit über­ gebundenen Achteln als Vorhalte). Nachdem die Furcht dagegen durch ein winziges Dreiton-Motiv in T. 179 eingeführt worden ist, das in eine kurze „erschreckte“ Abruptio (Sechzehntel-Pause) mündet, die wie das Stocken des Atems wirkt, wird diese Figur (abgezogene Sechzehntel) auch in der Koloratur (T. 186–191) übernommen und profiliert nunmehr den Affekt Furcht. Ab T. 179 ändert sich auch die Streicherbegleitung, die nunmehr in ängstlich pochenden Sechzehnteln erfolgt. Weitere Affektausleuchtungen der Angst/des Zagens („ängstlich“) erzeugt Bach durch Tritonussprünge (z. B. T. 180) und rhythmische Verschiebungen (Syncopationes). Das Stichwort „verjagen“ setzt dann im dritten Abschnitt des Mittelteils Zweiunddreißigstel-Koloraturen der beiden Solostimmen in Gang, die das

110 Vgl. Schulze, 184: „Die 2. Violinen in 32tel-Läufen bis zum dreigestrichenen a hinaufklettern zu lassen, wäre Bach in einer originären Kantatenkomposition nicht eingefallen; als Relikt höfischvirtuoser Musik blieb es in der Osterkantate erhalten.“ 111 Dieses Beispiel erinnert an Matthesons zweite Form im Blick auf die kompositorische Faktur von Chorsätzen: „Zweitens, wenn ein Wechsel-Gesang vorfällt, da eine Stimme allein die übrigen zur Nachfolge an­führet; oder da die eine fragt, und die andern darauf antworten; auch wohl umgekehrt“. (Mattheson, VC § 38.)

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Vertreiben der Angst in einer Art Wegwerfbewegung (T. 206–209) symbolisieren. Dies ist gleichsam der dritte Affekt, der am ehesten als eine Mischung von Angst, Wut und Hoffnung zu beschreiben ist. Dafür, dass hier nochmals etwas Neues vorgestellt wird, spricht auch die Tatsache, dass nach der Kadenz in T. 202 ein neues fünftöniges Begleitmotiv in den Oboen eingeführt wird (T. 203 ff).112 Einzigartig ist der Tremolo-Triller des Basses auf dem Verb „trauern“ in T. 208. Nochmals wird mit den Stichworten „Furcht“ und „Angst“ die Motivik des vorangegangenen Abschnittes gleichsam als Gegenaffekt aufgenommen. In T. 211 f wird die Motivik aus T. 179 bzw. T. 186 ff zusammengeführt. In T. 225 ff kommt es dann zu einer aufregenden Begegnung beider Affekträume: Beim Stichwort „Trauren“ setzen die Streicher und das Fagott mit der freudigen Thematik des A-Teils (vgl. T. 1–4 bzw. T. 51–54) ein und nehmen damit eine Tröstung vorweg, die im Folgenden vom Chor tatsächlich ausgesprochen wird: Ab T. 231 ermutigt der Chor die verzagten Seelen durch den Satz: „Der Heiland erquicket sein geistliches Reich.“ Bezeichnenderweise werden „geistlich“ und „Heiland“ in gleicher Weise durch Koloraturen hervorgehoben. Bach setzt damit nicht nur eine trinitätstheologische Pointe, sondern gibt so dem sich nun wiederholenden A-Teil auch noch eine neue Note. Das ausinstrumentierte Secco im Anschluss weist lediglich beim Wort „Not“ (T. 2) eine dissonante Schärfung durch einen verminderten Septakkkord auf. Eine echte Überraschung bietet allerdings der Schlusstakt, der sich als rhythmisch belebte Überleitung zur nachfolgenden Arie entpuppt. Bach entwickelt das Dreiklangsmotiv in den Streichern (Sechzehntel-Bewegung) in T. 6 aus der abschließenden Wendung in der Solostimme im Sinne einer Verkleinerung. Das Durchschreiten des Intervalls der Oktav klingt majestätisch und wird dann im B-Teil (T. 128 f)  der folgenden Arie wieder aufgenommen („Jesus erscheinet“). Satz 3 ist geradezu ein Schulbeispiel für eine Da capo-Arie und zugleich ein rhetorisches Paradigma für „doxologischen Sologesang“ mit obligater Orchesterbegleitung. Der A-Teil weist mit 32 Takten Ritornell (I. Stufe; A), 62 (24+38) Takten Vokalsolo und abermals 32 Takten Binnenritornell (I. Stufe; A) ein nahezu symmetrisches Verhältnis von instrumentalen und vokalen Teilen auf, während im B-Teil konventionsgemäß die instrumentalen Teile stark zurück treten. Auch wenn die Trompete (vgl. BWV 76 bzw. BWV 147) hier fehlt, werden der freudige doxologische Affekt durch die tänzerische Taktart 3/8, die Tonart D-Dur und eine sorgfältige Textbehandlung mit einzelnen rhetorischen Figuren unter­ strichen. Diese sind punktgenau gewählt, was sich auch durch die sprachlichen Analogien zur Vorlage113 erklärt.

112 Küster, 240 und Petzoldt II, 719 vermuten, dass T. 156–178 (imitatorische Abschnitte) erst spät (1735) eingebaut worden sind, eine Behauptung, die mir zu verifizieren nicht möglich ist. 113 „Traget ihr Lüfte den Jubel von hinnen, / bringet dem Himmel unsterbliches Lob. / Leopold lebet, in welchem wir leben, / Leopold herrschet, dem Himmel ergeben, / welcher den göttlichen Prinzen erhob.“ Dieser Text ist beinahe unerträglich in seiner Herrscherhuldigung und erinnert in mancher Hinsicht an die Verherrlichung von Prinzessin Diana in Elton Johns „Candle in the wind“ („Good bye, England’s rose“).

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Zwei Beispiele, die göttliches und menschliches Handeln abbilden, können dies verdeutlichen: a) jubelnder Aufstieg des Dankes (Anabasis): „Lasset dem Höchsten ein Danklied (erschallen)“: T. 33 f; 59 f (Solobass); T. 57 f (Violinen) b) gnädiges Herabneigen der Gnade (Katabasis): „(für sein) Erbarmen und ewige Treu“: T. 38 f; vgl. T. 81 (Vl / Ob) Die beiden Figuren entsprechen sich, sie bilden die Substanz des ersten und zweiten Teils eines achttaktigen Themas. Es handelt sich zwar nur um einfache Skalenbewegungen, die sich jeweils über den Tonraum einer Oktave erstrecken, sie sprechen aber eine unmissverständliche Sprache. Es folgt dann ein weiteres Motiv auf den Text „ewige Treu“, der durch lange Haltetöne (vgl. T. 41–44; 51–56 u. ö.) sinnenfällig abgebildet wird. Im Mittelteil, der in h-moll eröffnet (VI. Stufe)  wird, bringt Bach ein bisher unbekanntes Dreiklangsmotiv ins Spiel, das wiederum als unmittelbare Textabbildung (Hypotyposis) fungiert: Ein schier blitzartiges Her­abstürzen der Streicher und Oboen (T.  128 f)  deutet den Text „Jesus erscheinet“ als etwas, was von oben kommt und machtvoll in die menschliche Sphäre hereinbricht. Die mit je einer Repetition her­abfallenden Sechzehntel (T. 128 f) lassen sich als Verkleinerung bzw. Figuration der Vokalstimme (T. 127 f) verstehen und sind rhythmisch mit dem Über­ leitungsmotiv aus dem vorangegangen Rezitativ (T. 6) eng verwandt. Unmittelbar danach klingt – gleichsam als Reminiszenz – im pp und weiterhin in h-moll das Hauptthema der Arie an, ehe dann weitere Katabasis-Motive („uns Friede zu geben“, besonders T. 147 f) und ein Orgelpunkt auf dem Wort „Frieden“ über sechs Takte (T. 138–144)114 eine musikalischrhetorische Korrespondenz zum A-Teil herstellen.

Schön beleuchtet Bach den Text „Jesus berufet uns, mit ihm zu leben“. Die Berufung wird analog zum Erscheinen als herabfallender Dreiklang eingeführt (vgl. T. 149 f), gestaltet sich danach aber vielfältiger, wobei besonders das gemeinsame „Leben“ (T. 156–162) durch eine lange verschlungene Koloratur geschmückt wird. Dass zum Christenleben der Dank gehört, wird durch die Aufnahme des Hauptthemas in T. 183 ff angedeutet. Der B-Teil schließt wieder mit einer sinnenfälligen Katabasis, die das täglich neue Erbarmen Gottes abbildet (Ob.; Solo, T. 205–210). Die daran anschließenden beiden Sätze überschreibt Bach mit dem Begriff ­Dialogus (vgl. BWV 21; 49; 60 u. a.) und knüpft damit an eine im 17. Jahrhundert populäre Form des primär geistlichen Sologesangs an.115 Hoffnung (Tenor) und Furcht (Alt) treten hier wie in BWV 60 (s. o.) als eigenständige „Affektpersonen“ auf. Ingesamt ist dieser Satz fünfteilig: Rezitativ (secco)  – Arioso (a tempo)  – Rezitativ (secco)  – Duett  – Rezitativ à 2 (secco) Der erste Teil steht ganz im Zeichen des österlichen Sieges: Die Hoffnung lebt aus dem Trost der Auferstehung und fühlt Freude und Sonnenschein in sich.

114 Dies ist als Steigerung zum A-Teil zu begreifen, wo vier bzw. fünf Takte auf „ewig“ ausge­halten wurden. 115 Vgl. dazu grundsätzlich: Märker, Dialogkomposition.

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­ rster Höhepunkt des Satzes ist ein arioser Teil, in dem Christus selbst auf den E Plan tritt und Ermutigung zuspricht: „Mein Grab und Sterben bringt euch Leben, mein Auferstehn ist euer Trost.“

Dieser Teil, den Bach schlicht mit  a tempo überschreibt, beginnt zunächst in dunklem d-moll; die pochende Achtelrepetitionen im Continuo wirken bedrohlich und scheinen zur Sphäre des Todes zugehören. Beim Stichwort „Grab“ (T. 12) verdunkelt sich die Melodik durch ein tiefalteriertes h, bei „Sterben“ fällt die Singstimme zum tiefen e, erhebt sich bei „Auferstehn“ aber wieder zum f ’. Der kurze Abschnitt wendet sich dann überraschend in ein helles A-Dur. Am Ende des anschließenden Secco steigt beim Begriff „Sieg- und Danklied“ (T. 21) eine Continuo-Linie nach oben auf (Anabasis), die motivisch an die vorangegangene Arie erinnert und in ihrer Viertonstruktur das anschließende große Duett (Achtelbewegung „Mein Auge sieht“) vorbereitet, das in weiten Teilen imitatorisch oder gar kanonisch angelegt ist (vgl. T. 22 f, T. 23 f: Oktav; T. 28 f und besonders schön in T. 33–39 par T. 37–41). Im Gegensatz zu BWV 60 sind den beiden Affekt-Personen keine spezifischen Figuren zugeordnet. Dennoch arbeitet Bach mit musikalischen Kontrasten: Auffälligerweise schmücken äußerst lange Koloraturen die Stichworte „auferweckt“ und „Banden“ in beiden Vokalstimmen und analog dazu auch im Continuo, sie stehen gleichsam für Ostern und Karfreitag, Leben und Tod. Die „Banden“ werden durch Achtelbewegungen und in T. 34 f; 41 f (Tenor) bzw. T. 38 f; 49 f (Alt) durch ausgeprägte Tritonussprünge veranschaulicht, während die Auferweckung durch Sechzehntel-Koloraturen musikalisiert ist. Das Duett endet gleichsam einvernehmlich mit einer D-Dur-Kadenz (T. 53). Daran schließt sich mit einem Saltus duriusculus im Continuo und harmonischer Rückung nach Fis-Dur die Exclamatio „Wie!“ im Tenor an. Erst jetzt treten die beiden Stimmen in einen echten Dialog, der gleichsam ans „Eingemachte“ (vgl. 1 Kor 15,12–20) geht: die Hoffnung auf Auferstehung bzw. die Überwindung der Todesangst. Der Disput mündet in den theologischen Spitzensatz „Wenn Gott in einem Grabe lieget, so halten Grab und Tod ihn nicht“ den Bach äußerst konzise ge­staltet: „Der Feind Gottes tritt im Doppelpack auf, gegenüber dem einsilbig ‚absoluten‘ Gott, hat er trotzdem keine Chance. Bach unterstreicht diese sprachliche Pointe, indem er ‚Gott‘ mit einem solitären Spitzenton versieht, auf den ein Sprung im göttliche Majestät sym­ bolisierenden Oktavintervall folgt, ‚Grab‘ und Tod’ dagegen bekommen die beiden nach unten ausrastenden Töne zugewiesen. Definitivität der Satzaussage erwirkt auch die Häufung einsilbiger Worte am Schluss: ‚Grab – und –Tot – ihn – nicht‘ – Punkt.“116

Das anschließende Duett im tänzerisch pulsierenden 12/8-Takt konfrontiert noch­ mals anschaulich Fürchten (Furcht) und Nichtfürchten (Hoffnung). Bach löst das Problem der ungleichen Silbenzahl musikalisch durch eine profilierte Motivbildung und eine akzentuierte Wiederholung117 der Verben. Das Fürchten kommt

116 Klek, a. a. O., 283. 117 Vgl. Simpfendörfer, 32: „Bei der Anfangszeile ‚ich fürchte nicht des Grabes Finsternissen‘ der Tenorpartie des Duetts BWV 66/5 ist die Anfangswendung ‚ich fürchte nicht‘ stets verdreifacht



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im Metrum der punktierten Viertel daher (vgl. T. 9; 11; 23), während das Hoffen („Ich furchte nicht“) mit einem beschwingten Figura-corta-Motiv (T. 9: Tenor; vgl. T. 1: Vl. Solo) verknüpft ist, das schwungvoll insistierenden Charakter hat und sich allmählich auch in der Altstimme durchsetzt. Das Verbum „entrissen“ ziert eine Sechzehntel-Koloratur in Form einer Circulatio (T. 12 f: Tenor und T. 14: Alt u. ö.), die eine dynamische Rettung aus dem Tod abbildet. Eine weitere Beobachtung können wir zu den Affektverben „hoffen und klagen“ machen: Während man in T. 15 f klagend gleichsam „auf der Stelle tritt“ (vgl. T. 28), schreibt Bach in T. 23 (Tenor) bei „hoffete“ eine freudig aufsteigende Anabasis, was eine einleuchtende musikalische Verbindung zur Auferstehung herstellt. Im B-Teil finden sich beide Singstimmen nicht nur poetisch, sondern auch musikalisch zusammen. Harmonische Wechsel setzen sich in der Regel taktweise oder halbtaktig fort, wodurch eine gewisse harmonische Synchronität erzeugt wird, von der sich allerdings die Solovioline mit Sechzehntel-Skalen und Dreiklängen tänzerisch schwingend abhebt. Es fällt auf, dass das anfänglich für die Furcht bestimmte Vierton-Motiv („ich furchte zwar“, T. 9) nun auch von der Hoffnung übernommen wird („Nun ist mein Herze“, T. 51), was als eine Art communicatio idiomatum der Personen zu deuten ist und musikalisch auch durch eine homophone Bewegung der Sing­ stimmen am Ende der Formteile (vgl. T. 29 f bzw. T. 67 f)  sichtbar und hörbar wird.118 Bach musikalisiert in diesem Duett die Integration dialektischer Gefühlsräume von Angst und Hoffnung, Trauer und Freude, die durch die Vergegenwärtigung der Ostergeschichte zueinander finden und damit menschlichen Glauben und menschliche Anfechtung erfahrbar machen. Im Gegensatz BWV 60, die ebenfalls einen Dialog von „Furcht und Hoffnung“ entfaltet, gibt es hier keine Stimme vom Himmel, die als vox externa für die „letzte“ Vergewisserung sorgt. Der abschließende Choral, ein schlichter Kantionalsatz, bejubelt das Osterereignis mit einem dreifachen Alleluja. Das Affekt-Adjektiv „froh“ ist dabei mit einem kleinen Melisma versehen. Ihm korrespondiert der göttliche Trost (Melisma im Alt, Syncopatio im Tenor, T. 7). Das abschließende Kyrie eleis versieht Bach mit Synkopen in Alt, Tenor (T. 8) und Sopran (T. 8 f). c) Liturgische Überlegungen BWV 66 passt aus heutiger Sicht119 immer noch gut zum Ostermontag mit dem Evangelium aus Lk 24 von den Emmausjüngern, an das die Kantate einige sprachliche Anknüpfungen bietet. Der Verkündigungsteil am Ostermontag könnte – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der hymnisch-ekstatische Tonfall des Eingansgchors als Antwort auf Lk 24 nicht sofort plausibel ist – folgendermaßen aussehen: (T. 8 ff; 19 ff). Das Schlusswort der folgenden Zeile ‚und hoffete, mein Heil sei nicht entrissen‘ wird sogar fünfmal nacheinander gesungen (T. 11 ff, 23 ff), zum Anschluß dreimal (T. 27 ff).“ 118 Die Wiederholung des A-Teils macht dramaturgisch eigentlich keinen Sinn, es wäre sinnvoller gewesen, den A-Teil mit einem kurzen Da capo nach T. 8 zu schließen, was in einer gottesdienstlichen (oder konzertanten) Aufführung heute ja auch o.W. denkbar ist. 119 Vgl. Meyer, Kirchenjahr, 32.

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a) Epistel 1 Kor 15,12–20 – Kantate Satz 1–3 – Evangelium Lk 24,13–24 – Predigt I – Kantate Satz 4 und 5 – Evangelium Lk 24,25–35 –– Predigt II – Kantate Satz 6 Eine alternative Epistellesung aus Phil 4,4–7 (eigentlich 4. Advent)120 oder wie zur Zeit Bachs aus Act 10,34–41 könnte an die Stelle von 1 Kor 15,12–20 treten. Ebenso gut könnte BWV 66 aber auch am Ostersonntag musiziert werden, da das Evangelium aus Mk 16,1–8 mit der Furcht der Jünger (s. o.) schließt. Von hier aus ergibt sich eine hervorragende Anknüpfung an den Dialogteil der Kantate mit der Konfrontation der Personen Furcht und Hoffnung, die bereits im Eingangschor vorbereitet wird („Ihr könnet verjagen“). Dann wäre folgende schlichte liturgische Struktur denkbar: b) Epistel 1 Kor 15,1–11 – Kantate Satz 1–3 – Evangelium Mk 16,1–8 – Kantate Satz 4–5 – Predigt – Satz 6 mit oder anstelle des Credo.

6.1.3 Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) Als Beispiel einer Kantate, die den zweiten, aber auch schon den dritten Glaubensartikel thematisiert,121 soll im Folgenden die für Mariae Verkündigung (25. März) komponierte Choralkantate Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) betrachtet werden. H. J. Schulze rühmt zu Recht die herausragende Bedeutung innerhalb der Gattung, wenn er schreibt, dass hier „ein Meisterwerk von unvergleichlicher Frische der Erfindung vor[liegt], das nicht nur Abschluß, sondern auch Krönung bedeutet, und dem nachmals zu Recht die Ehre widerfuhr, in der 1850 begonnenen Gesamtausgabe von Bachs Kompositionen als erstes Werk veröffentlicht zu werden.“122 Dazu gehört auch die besondere theologische Dichte, die wir in dieser Vertonung vorfinden. Da der Choral Nicolais auch in zahlreichen anderen Kantaten Bachs123 eine wichtige Rolle spielt, sei hier ausdrücklich auf die an anderer Stelle vorgelegte hymnologische Deutung des Verf. hingewiesen,124 die im Folgenden kurz zusammengefasst wird.



120 Vgl. Glockzin, Bach-Kantaten predigen, 74. 121 Steiger, BWV 1,277–301, hat in ihren grundsätzlichen Ausführungen besonders auf eine Predigt Johann Arndts hingewiesen, die auf den Tag Mariae Verkündigung gemünzt ist. Dort wird das Kommen Christi als dreifaches Kommen Gottes entfaltet: a) als Kommen ins Fleisch (Inkarnation), b) Kommen unter Brot und Wein, c) Kommen ins Herz des Menschen. (Vgl. a. a. O., 277 f) 122 Schulze, 521. 123 Vgl. die Adventskantaten BWV 61 (Satz 6 mit dem Kuriosum eines auf den Abgesang verkürzten Schlusschorals), BWV 36,4 und besonders die abendmahlstheologisch wichtige Kantate BWV 49 (Satz 6) sowie die Pfingstkantate BWV 172, 6 (Schlusschoral der C-Dur-Fassung). In BWV 37,3 haben wir eine instrumentale Choralbearbeitung vor uns. Im Blick auf die De tempore-Ordnungen der Zeit sind klare Affinitäten zum 1. Advent, 20. Sonntag n. Trin und Mariae Ver­ kündigung zu beobachten, vgl. Steiger, BWV 1, 284, Anm. 32. 124 Vgl. Arnold, 505–514 bzw. Geistliches Wunderhorn, 146–153 und Rößler, 319–329.

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a) Hymnologische Beobachtungen zur Dichtung Nicolais Nicolais Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern hat man im Pendant zu Wachet auf ruft uns die Stimme die „Königin der Choräle“ genannt, ja als das „Hohelied der Jesusminne“125 bezeichnet und immer wieder seine hohe poetische und musikalische Qualität gerühmt. In zentriertem Druck ergeben die Strophen eine Kelchform. Wir haben es also mit einem Gestaltgedicht zu tun, das schon in seiner äußeren Form auf das Abendmahl verweist.126 Nicolai wählt dazu eine zwölfzeilige Strophenform mit einem je dreizeiligen Stollen (AA’) und einem sechszeiligen Abgesang (B), der zunächst zwei sehr kurze („lieblich, freundlich), dann drei etwas längere („schön und herrlich“ usw.) Verse und abschließend eine überschießende Schlusszeile („hoch und sehr prächtig erhaben“) enthält.127 Damit ist eine Art musikalisch poetisches crescendo komponiert, in dem sich die Dichtung und Melodie von einem ruhig pendelnden Schwingen allmählich „aufschaukeln“. Die Melodie kulminiert am Ende in einem Oktavsprung, durch den der Text der ersten, fünften und sechsten Strophe besonders herausgehoben wird („hoch“; „ewig“; „groß“). Der Quintsprung gleich zu Beginn ist ein Ausruf des Staunens, eine Exclamatio, die den Text diverser Strophen: „Wie schön/Du Sohn“ (Str. 1), „Ei meine Perl/mein Herz“ (Str. 3), „Von Gott/Herr Jesu“ (Str. 4), „Herr Gott/Dein Sohn“ (Str. 5) unterstreicht. Auffällig ist ferner der metrische Wechsel von jambischem zu trochäischem Versmaß vom Stollen zum Abgesang, er gliedert den Choral sehr klar in zwei Teile (also 3+3+6 Zeilen) und leitet einen Wechsel im Charakter ein: Das majestätische Schreiten des ersten Teils geht in ein tänzerisch tändelndes Wiegen über, Rößler fühlt sich an ein „kindliches Singen und Spielen“ erinnert.128 Die Schlusszeile hat wieder majestätischen Inhalt und weist wie am Anfang vier Hebungen auf, bringt also eine Art metrisch-poetischer Inclusio. Die schöne Katabasis am Strophenende lässt sich wahrscheinlich von der letzten Strophe her begreifen. Dort heißt es: „deiner wart ich mit Verlangen“. Die Wiederkunft des geliebten Bräutigams wird also gleichsam in Tönen vorweggenommen. Wesentliches poetisches Ausdrucksmittel ist der Parallelismus, weniger in ganzen Sätzen als in substantivischen Hendiadyoin-Verbindungen, wie z. B. Gnad und Wahrheit; mein König und mein Bräutigam etc. Dies wird musikalisch durch die kleinen Wiederholungen im Abgesang sinnenfällig. In Str. 7 kommt es an dieser Stelle gar zu einer Wortwieder­ holung (Amen, Amen), so dass sprachliche und musika­lische Epizeuxis koinzidieren.

Aus Nicolais eigenen Äußerungen können wichtige Schlüsse für die biblischtheologische Interpretation gezogen werden. So heißt es in der originalen Lied­ überschrift „Ein geistlich Brautlied der gläubigen Seelen von Jesu Christo, ihrem himmlischen Bräutigam, gestellet über den 45. Psalm des Propheten Davids“129.

125 Vgl. Rößler, 319. 126 Vgl. auch Steiger, BWV 1, 279, die besonders auf die eschatologische Dimension des Abendmahls hinweist. Über die abendmahlstheologisch relevante Form des Gestaltgedichts hinaus haben wir auch ein Akrostichon vor uns: Nicolai hat das Lied seinem fürstlichen Schüler Wilhelm Ernst Graf vnd Herrn zu Waldeck gewidmet. Aus diesen sieben Wörtern ergeben sich jeweils die Buch­ staben der Strophenanfänge. 127 Schulze, 523, vermutet eine Herkunft aus dem Meistersang und die Entstehung der Melodie in Straßburg. 128 Vgl. Rößler, 318 bzw. 320 f. 129 Vgl. Rößler, 320 f.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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Zahlreiche Anklänge an diesen „weltlichen“ Psalm, der zur Hochzeit des Königs gedichtet wurde, sind im Choral enthalten: – Lilie (vgl. Str. 2 Original; Ps 45,1) – König (Str.1; 2, vgl. Ps 45,2.6.12) – schön (vgl. Ps 45,3; Str.1.6) – Held (Ps 45,4; vgl. Str.5, dort allerdings Attribut für Gott, den Vater); – herrlich, Herrlichkeit (vgl, Ps.45,4 f; Str. 1) – Bräutigam/Braut (Str.1;5,6; vgl. Ps 45,1.10 u.ö) – Saitenspiel (vgl. Ps 45,9; Str. 6); – Schmuck, Edelstein (Ps 45,10, Str. 3) Der Psalm ist über diesen Psalm mit der Geisteswelt des Hohenliedes verwandt und steht in enger Verbindung mit der prophetischen Tradition Hoseas, die Gott als Bräutigam und Israel als Braut betrachtet. Nicolais Dichtung ist also keine „Neuerfindung“ pietistischer Jesusliebe, sondern speist sich aus der poetischen und mystischen Bildwelt der jüdischen und christlichen Bibel. Dies gilt auch für andere Bilder: – Morgenstern (vgl. Apk 22,16 bzw. Num 24,17) – Wurzel Jesse (Jes 11,1) – Gnade und Wahrheit (vgl. Joh 1,14b) – Milch und Honig; himmlisches Manna – Jaspis und Rubin (vgl. Apk 21) – lebendige Rippe (vgl. Gen 2,22; Eph 5,30) – A und O (vgl. Apk 1,8; Hebr 13,8) Alle sieben Choralstrophen atmen spirituelle Lebendigkeit. Dominierendes Tempus ist das Präsens, an wenigen Stellen gibt es einen Wechsel zum Perfekt. Die Zeit scheint förmlich stillzustehen. Das Staunen und Loben geschieht ganz aus der Betrachtung der unmittelbaren Gegenwart des Heils. Str. 1 besingt Christus als Verheißenen, der schon jetzt „mein König und mein Bräutigam ist“. Das Wie seines Kommens wird in Str. 2 konkretisiert: das „süße Evangelium“ und das „himmlische Manna“ des Herrenmahls sind die Brücken, über die der Geliebte ins menschliche Herz gelangt. Dies wird in der „mystischen“ dritten Strophe weiter ausgeführt, wo Nicolai Christus als Edelstein und Himmelsblume rühmt. Str. 4 nimmt die Wort- und Mahlthematik aus Str. 2 wieder auf und führt zu einem kühnen Bekenntnis über die Erwählung in Str. 5, das an den Epheserhymnus (Eph 1,3 f) erinnert, zugleich aber den Bogen spannt zur Hoffnung auf die himmlische Ewigkeit. Hier wird die menschliche Zeit gänzlich transzendiert: „ewig vor der Welt“ und „ewig soll […] mein Herz ihn loben“. Der Dichter bricht dann (Str.  6) zu einer expliziten Aufforderung zum Lob durch und macht das musikalische Jubeln und Rühmen (vgl. Eph 5,19) selbst zum Thema, was dann auch noch in die eschatologische Schlussstrophe hinein klingt. Nicolai selbst sieht im eschatologischen Grundton das Proprium des Liedes, wenn er in seinem FREUDENSPIEGEL schreibt: „Da war mir nichts Süßeres, nichts Lieberes und nichts Angenehmeres als die Betrachtung des edlen hohen

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

Artikels vom ewigen Leben, durch Christi Blut erworben“. Hierin dürfte der Schlüssel zur Interpretation des Chorals liegen. Dogmatisch gesprochen geht es um die pointierte Verknüpfung des zweiten und dritten Glaubensartikels. Das ewige Heil ist durch „Christi Blut“ erworben und wird durch die Gnadenmittel zum „ewigen Leben“ ausgteilt.130 Der poetische rote Faden durch alle Strophen hindurch ist Nicolais Hochzeits- bzw. Brautmetaphorik. Die Substantive Bräutigam/Braut, Schatz kommen in Str. 1; 5, 6 und 7 vor, klingen aber auch in Str. 2, 3, 4 an. Es herrscht ein freudig, enthusiastischer Grundton, gleichsam ein ästhetisches Hochgefühl vor, schlichtweg „Hoch-zeit“- Stimmung, was sich in den Adjektiven „freudenreich, froh; freundlich; schön, süß, lieblich, reich, prächtig“ spiegelt. Durch sparsame Stichwortverknüpfungen stellt der Dichter eine Fülle von Bezügen unter den einzelnen Strophen her, die uns eine kunstvolle Ringkomposition erkennen lassen: Äußerer Rahmen ist die erste Zeile von Str. 1 und 7 mit dem Ausruf des Erstaunens: „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ und seiner Entsprechung: „Wie bin ich doch so herzlich froh!“ Ein weiterer Bezug ist das Attribut schön in beiden Strophen. Ebenso entsprechen sich sprachlich in Str. 2 und 6 das „süße Evan­ gelium“ und die „süße Musica“, der „hochgeborne König“ und „der König der Ehren“ sowie das „Hosianna“ (2) und das „Jubilieret, triumphieret“ (6) Innerhalb der Strophen 3 und 5 korrespondieren Liebes- und Erwählungsthematik. Es fällt auf, dass die Strophen 1 und 2 in ihrem Lobgesang auf Christus, den König und Bräutigam, kaum Verben benutzen, sondern fast nur Bilder, Metaphern, Prädikate an­ einanderreihen (vgl. Str. 1). Das Loben geschieht „beschreibend“, nicht „berichtend“,131 eher „ontologisch“ als „soteriologisch“. Sein Staunen bringt der Dichter immer wieder durch Ausrufe zum Ausdruck: „Wie schön leuchtet …“; „Ei meine Perl …“; „Ei mein Blümlein“. Auch hier herrschen Seins- und Wesensaussagen gegenüber Handlungsaussagen vor. Eine Steigerung bringt die Wiederholung des Choralstollens der ersten Strophe, wenn der geliebte Bräutigam angeredet wird. Diese dialogische Struktur bleibt in Str. 2 erhalten, die Christus als „wahr[en] Gottes und Marien Sohn“ besingt. Dabei werden (weitere) christologische Formeln vermieden, der Blick wendet sich auf die soteriologischen Implikationen der Zweinaturenlehre.132 Als Klammer dienen die media salutis der Verkündigung („dein süßes Evangelium“) und des Sakraments („himmlisch Manna“).

In der zentralen Str. 4 klingen dann kühne Liebeslyrik und dogmatische claritas erstaunlich gut zusammen. Da ist von einem „geistlichen Flirt“ mit anschließender Umarmung die Rede: Die liebevollen Augen Jesu eröffnen die Fülle der göttlichen Gnade. Im Original lautet der Abgesang dieser Strophe: „Nimm mich / freundlich / in dein Arme, / daß ich warme / werd’ von Gnaden“. Christus im Mahl zu begegnen, steht also einer innigen Umarmung von Liebenden in nichts nach. Wir

130 Nicolai akzentuiert damit ein Proprium des lutherischen Bekenntnisses, das weder in einer dinghaft sakramentalistischen noch in einer abstrakt prädestinatianischen Lehre und Kirchlichkeit aufgeht, sondern den gekreuzigten und auferstandenen Christus selbst als Geber und Gabe des Heils bekennt, der sich in Wort und Sakrament hören und schmecken lässt. 131 Vgl. Westermann, 61–77 bzw. oben 6.0.3 a) und b). 132 Vgl. R. Steiger, BWV 1: „In den Predigten am Tage der Verkündigung Mariä wird in Aus­ legung der Verse Lk 1,32–33 regelmäßig und meistens breit auf das Lehrstück von den zwei Naturen Jesu Christi Bezug genommen.“

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haben hier das poetische und geistliche Herzstück des Chorals vor uns, was an den schönen Verben (!) „freundlich anblicken“, „erquicken“, „geladen“ abzulesen ist. Auch in Str. 3 geht es um die Gegenwart Jesu im menschlichen Herzen unter Verwendung biblischer Schöpfungsterminologie: Braut Christi zu sein, vergleicht Nicolai mit dem Schöpfungsakt der Eva. Braut Christi zu sein, ist nicht weniger als zu dem einen erwählten Leib der Kirche zu gehören (vgl. Eph 5,30). Bei aller Innigkeit der Jesusliebe wird die Gottesbeziehung also nicht individualistisch isoliert. Das Bleiben am Leib Christi ist Gegenstand der Bitte nicht schlechthinniger „Besitz“. In der gewichtigen fünften Strophe wird das geistliche Zwiegespräch mit Christus trinitarisch erweitert und Gott, der Vater, als „starker Held“ angeredet. Von der in Wort und Mahl erfahrenen Christusgemeinschaft aus gibt es Zugang zum Vater (Joh 14,6 u. ö.). Von der Vergewisserung des Heils beim Empfang des Mahls aus kann das Bekenntnis erklingen, ewig vor der Welt erwählt zu sein. Hier wird also keine doppelte Prädestinationslehre (im Sinne Calvins)133 vertreten, die Vergewisserung der Erwählung ereignet sich vielmehr im Lied selbst in bekenntnishafter Weise.

Die doxologische Str. 6 rühmt das Loben selbst, indem sie eine Art „Aufgesang“, einen „doxologischen Imperativ“134 an die Gemeinde formuliert. Verben der Bewegung stehen hier im Vordergrund, Nicolai inszeniert gleichsam einen rauschenden Hochzeitsmarsch oder Brautwalzer, wenn zu den Saiten der Cythara und zum Klang der Musica die singende Gemeinde an der Seite ihres Bräutigams im himmlischen Heiligtum einziehen lässt. Die 6. Strophe mündet in ein Christusbekenntnis, das den Anfang und das Ende des Christenlebens durch das christologische Alpha und Omega (vgl. Hebr 13,8; Apk 1,8.18) verklammert. b) Poetisch-musikalische Analyse der Kantate Bachs Kantate Wie schön leuchtet der Morgenstern hat ihren „Sitz im Leben“ am Fest Mariae Verkündigung und bildet den (vorzeitigen) Abschluss des Leipziger Choralkantatenjahrgangs 1724/25. Mariae Verkündigung (25.3.) ist neben Mariae Reinigung (2.2.) und Mariae Heimsuchung (2.7.) eines der drei Marienfeste, das – aus christologischen Gründen – noch im lutherischen Festkalender geblieben ist.135 Dies bot Bach die Gelegenheit, durch eine festliche Kantatenmusik – gleichsam „antizyklisch“  – ein kirchenmusikalisches „Glanzlicht“ im Leipziger Kirchenjahr zu setzen. Im Jahre 1725 fiel das Fest auf den Sonntag Palmarum, was

133 Calvin, Inst. III, 21: „Pradestinationem vocamus aeternum Dei decretum … Non enim pari conditione creantur omnes: sed aliis vita aeterna, aliis damnatio aeterna praeordinatur.“ 134 Inwiefern für eine christliche Ethik der doxologische Imperativ der ersten Gebotstafel und der kategorische Imperativ (vgl. die Goldene Regel Jesu nach Mt 7,12) zusammen gehören, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung. Ich habe in meiner Dissertation die Ansicht vertreten, dass es (mit Dietrich Ritschl gesprochen) eine doxologische und therapeutische Grundhaltung des Christenmenschen geben muss, damit Kirche glaubwürdig und Christen erkennbar bleiben. (Vgl. Arnold, 130 f.) 135 Das Proprium von Mariae Verkündigung liegt mit dem Evangelium aus Lk 1 ganz offensichtlich auf der Personchristologie, vgl. Olearius V, 374: „Denn dieser große Herr heißt Gott und Mensch wegen seiner großen Person, des lebendigen Gottes Sohn (Mt 16); er ist groß wegen seines großen Amts (Phil 2,9), er ist der große Prophet (Dtn 18; Lk 7), der große Hohepriester (Hebr 7;9; Ps 110), der große König aller Könige (1 Tim 6), der ewige König (Lk 1,33)“.

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eine besonders reizvolle De-tempore-Mischung ergibt, die zu mancher Vermutung Anlass gibt.136 Betrachtet man die gesamte Dichtung dieser Kantate, so ist zu sehen, dass wir jenen sprachlich interessanten Typus vor uns haben, der den wörtlichen Choraltext nur in den Rahmenstücken beibehält (Str. 1 und 7 des Chorals in Satz 1 und 6), während die Mittelsätze Umdichtungen der Str. 2–6 des Chorals darbieten: Satz 2 entspricht Str. 2; Str. 3 bildet für die Satz 3 die Vorlage, Satz 5 ist aus Str.  6 abzuleiten. Aus den dogmatisch zentralen Choralstrophen 4 und 5 schuf der unbekannte Dichter Satz 4. Dürr gesteht dem Textdichter zu, „daß er die Innigkeit, die Nicolais Dichtung auszeichnet und seine Lieder zum bleibenden Besitz der evangelischen Kirche hat werden lassen, einfühlend nachempfunden und, wenn auch keine geniale, so doch eine gehaltvolle und ansprechende Poesie ge­ liefert hat“137. Damit kommen wir zum Eingangschor: Auffällig an der Besetzung ist, dass Bach drei paarweise musizierende konzertierende Instrumente vorschreibt. Während die Bläser, 2 Hörner und 2 Oboi di caccia, dem Chor- und Streichersatz zusätzliche Klangfülle verleihen, schweben die beiden konzertierenden Violinen über dem Ganzen, Dürr meint gar „in deren lebhafter Figuration … unschwer das Bild des funkelnden Morgensterns erkennen“138 zu können. Der 12/8-Takt, der einer „Pastoral-Giga“139 nachempfunden ist, besitzt durch seine zusammengesetzte Taktart tänzerischen Schwung (kleines Dreier­ metrum), hat zugleich aber auch ein festliches Gepräge (großer Vierertakt), das gut für einen königlichen oder hochzeitlichen „Einzug“ in gemessenem Schreiten geeignet wäre. Dem 12er-Takt entsprechen die zwölf Takte des einleitenden Ritornells (vgl. auch die zwölfzeilige Strophenform). Den für eine Pastorale durchaus typischen Wechsel an Klangfarben erreicht Bach nicht nur durch die Gegenüberstellung der glitzernden Soloviolinen auf dem „dunklen Hintergrund“, z. B. der Hörner  – damit ist der Morgenstern am Nachthimmel abgebildet140  –, sondern auch durch den satztechnischen Wechsel von orgelpunktartigen Klangflächen

136 Es scheint so, dass Bach die für Palmarum 1714 komponierte Kantate Himmelskönig sei willkommen (BWV 182) am 25.3.1725 sub communione musizierte, während BWV 1 als Evangelien­ musik im ersten Teil des Gottesdienstes erklang. Es wurden also beide Kantaten an einem Sonntag musiziert. Dies ist auch theologisch plausibel, wenn wir die Texte vergleichen: Beide Male geht es um die Ankunft des himmlischen Königs in der Welt bzw. im menschlichen Herzen. Allerdings wäre BWV 1 mit seinen zahlreichen abendmahlstheologischen Anspielungen als Sub-communioneMusik fast noch stringenter. 137 Dürr, 739. 138 Dürr, 740. 139 Vgl. Fincke-Hecklinger, 109 bzw. dagegen Steiger, BWV 1, 280: „Zwar enthält der Satz im Part der konzertierenden Violinen auch Elemente der Giga, so das imitatorische Duettieren und ein freudig-bewegtes, den Quintsprung des Liedanfangs aufgreifendes Kopfmotiv, doch ist das Tempo – bedingt auch durch die Sechzehntelfigurationen eben dieser beiden Stimmen in der Themenfortspinnung  – in der Grundbewegung gemäßigt, so dass der Charakter der Pastorale bestimmend bleibt und man den Satz nicht eigentlich als Typenkreuzung und Mischform einer Giga-Pastorale bezeichnen muß.“ 140 Vgl. Steiger, BWV 1, 287 f mit Hinweis auf eine Predigt Lothar Steigers, der von einem „ge­ brochenen Leuchten“ des Morgensterns“, theologisch geht es um die „ästhetische Realisierung von Gottesgegenwart im Fleisch und in der Verborgenheit, von I n k a r n a t i o n“ (288).

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und harmonisch bewegten Abschnitten (Fließbewegung).141 Die paarweise Besetzung hat eine wesentliche Entsprechung in der musikalischen Motivik, wie sich schon in T. 2 und T. 4 erkennen lässt. Das figurative Geigenmotiv wird nach einem halben Takt wiederholt (Epizeuxis)142, in T. 4 liegt eine doppelte Wiederholung mit Einschub vor (Epanalepsis)143. Damit können wir eine besondere Gewichtung der Zweizahl sowohl in der Klanglichkeit (Vertikale der Partitur) als auch in der Melodik (Wiederholungen) erkennen. Es liegt nahe zu vermuten, dass die christolo­ gischen Doppelprädikationen des ganzen Chorals in diesen Doppelungen ihre musikalische Entsprechung finden (König und Bräutigam; Morgenstern und Wurzel Jesse; wahr Gottes und Marien Sohn). Dass Bach ausgerechnet drei konzertierende Instrumentenpaare vorschreibt, könnte in Bezug zu diesen drei Begriffspaaren gemeint sein; es ist aber auch denkbar, dass er die drei Hendiadyoin-Verbindungen, die im B-Teil den himmlischen König prädizieren (lieblich, freundlich; schön und herrlich, groß und ehrlich) im Blick hatte oder schlicht die göttliche Zahl 3 mit der menschlichen bzw. christologischen Zahl 2 verbinden wollte, so dass wir auch mit Vielfachen der beiden rechnen können (z. B. 6 Soloinstrumente, 12 Takt-Periode etc.). Anklänge an die Choralmelodie gibt es an folgenden Stellen: Das Motiv der Solo-Violine II in T. 1 mit Quintsprung und Sextrahmen verweist intervallisch auf die erste Melodiezeile des Chorals. Dasselbe gilt für die Dreiklangsmotivik in T. 2. Die Sequenz in T. 9 f (Solo-Vl. bzw. Continuo) mit ihrer Katabasis durch den Raum einer („königlichen“) Oktav verweist auf die letzte Choralzeile „Groß ist der König der Ehren“. Doch wenden wir uns nun einer genaueren Analyse des Chorsatzes und seiner Instrumentalbegleitung zu: Die Gesamtanlage sieht folgendermaßen aus: x (Ritornell: T. 1–13) – a (vgl. Stollen) – x (T. 38–50) – a’ (vgl. Stollen) – b – x (T. 107–119) Das zwölfeinhalbtaktige konzertante Eingangsritornell wird in der Mitte und am Schluss identisch wiederholt, so dass fast eine Rondoform entsteht. Im Blick auf die Textbehandlung durch Bach können wir folgende Beobachtungen festhalten: Aus dem jambischen Versmaß Nicolais wird in den Unterstimmen durch die 4×3 Gruppierung des 12/8-Taktes ein daktylisches Metrum. (Darüber bleibt das jambische Versmaß in den langen Noten des cantus firmus erhalten). Besonders aufschlussreich sind die dabei vorkommenden Wortwiederholungen und Akzentverschiebungen auch im musikalischen



141 Vgl. Steiger, BWV 1, 281. 142 Weitere Epizeuxis-Figuren finden sich z. B. in T. 5.6.7 im Continuo. bzw. in Hörnern und Oboen sowie in T. 8 in den Solo-Violinen und in T. 11 in den Tutti-Violinen. 143 Vgl. Bartel, 161 f mit Hinweis auf Ahle, Walther u. a.: „In der Rhetorik lassen sich zwei verschiedenartige Wiederholungsfiguren unter dem Begriff epanalepsis nachweisen. Zum einen bedeutet er allgemein eine Wiederholung eines Ausdrucks (Wort oder Satz)[…]. Zum andern versteht man unter epanalepsis eine spezifische Wiederholung, indem der gleiche Ausdruck am Anfang und am Schluß des Satzes vorkommt. […] Beide Möglichkeiten treten auch in der musikalischen Figurenlehre auf. Vogt übernimmt in seiner Definition der Figur die erste Bedeutung, wobei er den eigentlichen Zweck der Figur, die Verleihung größeren Nachdrucks: emphasis miteinbezieht […] Die zweite Bedeutung führt er unter epanadiplosis an. […] Im 17. und 18. Jahrhundert scheint sich der Begriff epanalepsis als Benennung dieser Figur durchgesetzt haben.“

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Metrum des 12/8-Taktes: Beim anfänglichen „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ betont Bach der natürlichen Diktion folgend die Silben „schön“ und „Mor-“, auch wenn diese meist auf der eigentlich schwächeren zweiten und vierten Zählzeit platziert sind. Ihnen stehen die halbtaktig akzentuierten Motive der konzertierenden Geigen gegenüber. Durch die Wiederholung des Wortes „Morgenstern“ in Alt und Tenor (T. 15 f) erhält dies eine besondere Emphase.144 Am Ende von T. 16 finden sich die zuvor einander imitierenden Unterstimmen mit den Silben „Morgen“ zusammen, zu Beginn von T. 17 sogar mit dem cantus firmus („-stern“), so dass abschließend ein homophoner Zusammenklang entsteht. Cantus-firmus-Bezüge im Chorsatz lassen sich lediglich allgemein aus dem Quart- bzw. Quintbeginn und aus dem Sextrahmen des Motivs herleiten. Der Orchestersatz bietet in seiner Dreiklangsmotivik ebenfalls Anknüpfungen an den Choral.145

Bei „voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn“ sind explizite Cantus-firmusZitate in Tenor und Oboe d.c. 2 bzw. Alt und Oboe dc. 1 (T. 20–23) zu erkennnen; es findet also eine echte Vorimitiation des cantus firmus statt. Bach wiederholt dann sowohl „Gnad’ und Wahrheit“ als auch „Wahrheit“ (Bass, T. 26) in ähnlicher Weise wie „Morgenstern“ und setzt damit eine sprachliche Epizeuxis ein, die er in T. 24 auch musikalisiert (vgl. Tenor mit wiederkehrenden Quartsprüngen). Die Abschnitte mit den Gottesattributen „Gnad und Wahrheit“ bzw. dem christologischen Doppelprädikat „König und Bräutigam“146 (Wiederholung des Stollens) haben dadurch eine ungefähr doppelt so lange Ausdehnung wie die anderen und weisen kunstvollere Vorimitationen auf. Am Beginn des Abgesangs findet ein eindrucksvoller musikalischer Wechsel in der Satzstruktur statt. Auf die Worte „lieblich, freundlich“ (T. 84) erklingt in großer Schlichtheit der Choral in breitem homophonem F-Dur, wodurch sofort die Assoziation „Gemeindegesang“ geweckt wird. Dieses auch in BWV 137,1 an der Stelle „Kommet zuhauf “ zu Beginn des Abgesangs verwendete musikalische Mittel ist ein herausragendes Beispiel für die Satzfigur des Noema.147 Nach den imitatorischen Abschnitten in der Vertonung des Stollens wirkt diese homophone Passage gleichsam als intimer Höhepunkt des ganzen Satzes. Der Text „lieblich, freundlich“ des Chorals bringt gleichsam eine liebliche Vertonung hervor, wie sie in der Satzfigur des Noema eindrucksvoll zur Geltung kommt. Hier vereinen sich nicht nur cantus firmus und Unterstimmen zu einer rhythmischen und harmonischen Einheit, auch die begleitenden Instrumentalstimmen spielen reines F-Dur über dem Orgelpunkt F. Dadurch ma

144 Zu emphatischen Wortwiederholungen vgl. auch Simpfendörfer, 97–121. 145 Vgl. Dürr, 740. 146 Das Bild des Bräutigams ist zunächst Ps 45 entlehnt, basiert aber auf einem breiten biblischen Traditionsstrom (vgl. Hosea; Mt 25,1–13; Eph 5,30–32 u. a.). Steiger, BWV 1, 283, kommentiert mit Hinweis auf Luthers Freiheitsschrift: „Das Bild von Verlobung und Ehe […] beinhaltet nach ­Luther die Gütergemeinschaft, den Wechsel und Austausch der Güter und Eigenschaften beider Partner. Bei diesem Austausch gibt Christus dem Menschen […] Gerechtigkeit und ewiges Leben, und nimmt dafür an sich die menschliche sterbliche Natur und auf sich Gottes Zorn und Strafgericht über die Sünde. Dieser kreuzweise Austausch, die communicatio idiomatum ist der Angelpunkt, an dem Luthers Rechtfertigungslehre mit der altkirchlichen Lehre von den zwei Naturen Christi verbunden ist, also Soteriologie und Christologie zusammenhängen.“ 147 Walther, Art. Noema, schreibt dazu: „Noema heißet […] ein solcher Satz, worin lauter Consonanzen auf einmahl gehört und hervor gebracht werden.“ Vgl. Bartel, 221.

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nifestiert sich im Nachhinein der Sinn der bereits in T. 2 und 13 (par) einge­ führten Takte. Besonders schön ist der langzeilige Schluss des Chorals: „hoch und sehr prächtig erhaben“ gelungen. Die fallende Tonleiter wird in den Unterstimmen um­ gekehrt: Der Katabasis der Choralmelodie stellt Bach zunächst eine hymnisch aufsteigende Linie gegenüber, die in T. 100 sinnenfällig durch die drei Unterstimmen wandert. Ab T. 101 finden wir diese aufsteigende Achtelbewegung auch in Sechsergruppen in den Instrumental- und Chorbässen, dabei bewegt sich jeweils die erste Note (d – c –B – A – G – f) parallel zum cantus firmus feierlich abwärts. Reizvolle Umdichtungen des Chorals finden wir besonders in den Rezitativen: Das Tenor-Rezitativ bezieht sich auf das Evangelium, insbesondere auf Lk 1,30 f:941841 2. Rezit ativ (T eno r) Du wahrer Gottes und Marien Sohn:148 Du König derer Auserwählten,149 wie süß ist uns dies Lebenswort, nach dem die Väter schon so Jahr’ und Tage zählten, das Gabriel mit Freuden dort in Bethlehem verheißen! O Süßigkeit, o Himmelsbrot, das weder Grab, Gefahr noch Tod aus unsern Herzen reißen.

Ei meine Perl, du werte Kron, wahr Gottes und Marien Sohn, ein hochgeborner König! Mein Herz heißt dich ein Lilium; dein süßes Evangelium ist lauter Milch und Honig. Ei mein Blümlein, Hosianna! Himmlisch Manna, das wir essen, deiner kann ich nicht vergessen.

Satz 2 wird durch eine christologische Prädikation eingeleitet, die der zweiten Choralstrophe entnommen ist. Ohne das vere Deus – vere homo des Chalcedonense150 bzw. das Bekenntnis zu Maria als Gottesgebärerin (Konzil von Ephesus 431)151 explizit aufzunehmen, wird Christus als „wahrer Gottes und Marien Sohn“ gepriesen. Der hochgeborene, d. h. „präexistente“ König (Nicolai) wird zum König der Auserwählten, aus dem „süßen Evangelium“ ein „süßes Lebenswort“. Die Metapher „Milch und Honig“, im Choral ein Attribut des Evangeliums, wird hier in leiblich-geistlichem Doppelsinn als „Lebenswort“ bezeichnet (vgl. Jer 15,16) und auf die Verheißungen des alten Bundes gedeutet. Die komplizierte Satzkonstruktion expliziert das „Lebenswort“ in einer dreistelligen Zeitenverschränkung: So wie die (Messias-)Verheißung an die Väter durch die Verkündigung Gabriels an Maria aktualisiert und erfüllt wird, so erfüllt sich „uns“ heute (unter Brot und Wein) das, was im Evangelium aus Lk 1 geschildert wird: dass Christus zu uns 148 Vgl. Olearius V, 375: „Das Heilige (Ex 28,36; Lev 19; Jes 6,3), der Allerheiligste (Dan 9,24; Lk 1,12; Mt 19,7) ist Gottes Sohn, dh. des lebendigen Gottes Sohn (Mt 16,16; Jer 23; Ps 2), der hochgelobte Gott in Ewigkeit (Rö 9), der wahrhaftige Gott (1 Joh 5), der eingeborene Sohn (Joh 1,14; 3), das heißt Immanuel (Jes 7; Mt 1).“ 149 Zur Königsprädikation vgl. Anm. 135 mit Auslegung des Olearius zu Lk 1,31 f. Weiter unten führt Olearius – passend zu Str. 2 Nicolais – aus: „und dass er heißt Immanuel (Jes 7), das genügt uns, bis uns der König in seine Freudenkammer führen wird (Cant 1,4)“. 150 Vgl. BSLK 29: „Deus est ex substantia patris ante saecula genitus, et homo est ex substantia matris in saeculo natus.“ 151 Vgl. DH 252.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

kommt. Mit „Himmelsbrot“ ist natürlich Christus selbst gemeint (vgl. Joh 6,50), der sich im Sakrament schenkt, das selbst die unheilige Trias Grab, Gefahr und Tod (vgl. BWV 66,4) den Gläubigen nicht entreißen kann. Der Kantatendichter verzichtet auf die in Str. 2 des Chorals angebotene Metaphorik („lilium“, „Blümlein“), womit eine Konzentration auf die Abendmahlsthematik erreicht wird. In BWV 1,2 werden also Präexistenz Christi und sein dreifaches Kommen ins Fleisch, ins Sakrament und ins menschliche Herz, wie wir sie bei Arndt152 gesehen haben, treffend verbunden. Präexistenzchristologie und sinnliche Mahlfeier stehen un­ gebrochen nebeneinander. Der Satz mündet in ein Bekenntnis zur Treue und Verlässlichkeit Gottes, das sich nicht abstrakt postulierend gebärdet, sondern an die Gnadenmittel bzw. an die Christusgemeinschaft gebunden weiß. Im Vergleich mit dem Original leistet das Rezitativ also eine gedankliche Durchdringung der knappen Bilder Nicolais, ohne deren spirituelle und theologische Inhalte preiszugeben oder allzu redundant auszubreiten. Besonders am Ende werden explizit tröstliche Motive akzentuiert, die in Str. 2 des Chorals kaum mitschwingen. Aus der subjektiven Ich-Du-Beziehung zu Christus bei Nicolai wird eine Wir-Du-Beziehung, der Kantatendichter bevorzugt relativische Explikationen, Nicolai dagegen syn­detische Reihungen. Während die Choraldichtung ganz in der Gegenwart des Heils aufgeht, kehrt der Kantatendichter besonders die Struktur von Verheißung und Erfüllung hervor, deren Auswirkungen bis heute, ja bis in Ewigkeit nachhaltig wirksam sind. Das schlichte Secco hebt durch große Sprünge (Quinten, Sexten und Septimen) besonders die positiven Begriffe im Sinne einer Exclamatio153 hervor: „König“; „süß“, „Lebenswort“, „O Süßigkeit“; „O Himmelsbrot“, aber auch die „Gefahr“. Die Adverbien „schon“ und „dort“ sind durch die Spitzennoten f und g in der Singstimme hervorgehoben. Bach folgt somit dem roten Faden Nicolais, setzt aber auch eigene Akzente, indem er die räumliche und zeitliche Dimension des Heilsgeschehens beleuchtet. Der Saltus duriusculus im Tenor bei dem Wort „Tod“ (Tritonus) steht für die Schattenseite der Welt, die durch Christus besiegt wird. Satz 3 setzt mit einer an Acta 2 erinnernden innigen Liebesdichtung pneu­ matologische Akzente und bezieht sich auf die Wendung in Lk 1,35, wonach der heilige Geist Maria überschatten wird: 3. Ar ie (S opran) Erfüllet, ihr himmlischen göttlichen Flammen, die nach euch verlangende gläubige Brust. Die Seelen empfinden die kräftigsten Triebe der brünstigen Liebe und schmecken auf Erden die himmlische Lust.

Geuß sehr tief in mein Herz hinein, du heller Jaspis und Rubin, die Flamme deiner Liebe, und erfreu mich, daß ich doch bleib an deinem auserwählten Leib ein lebendige Rippe. Nach dir ist mir gratiosa coeli rosa krank und glimmet mein Herz, durch Liebe verwundet.

152 Vgl. oben Anm. 121. 153 Vgl. Walther, Art. Exclamatio.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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Die munter schwingenden Daktylen werden in dieser Sopranarie von Bach in ein feines kammermusikalisches Trio gesetzt, das interessanterweise nicht im 3/4oder 3/8 -Takt, sondern im „geraden 4/4-Takt“ steht, sich zum poetischen ­Metrum also eher widerständig verhält. Auffällig, wenn auch nicht atypisch, für die ma­ drigalische Dichtung ist der verwaiste Reim bei „Flammen“ und die Kurzzeile bei „brünstige Liebe“. Der Dichter lässt offen, ob die göttlichen Flammen die die gläubige Brust der Maria oder der Gläubigen erfüllen sollen, was angesichts des Plurals „die Seelen“ wahrscheinlicher ist. Jedenfalls geht es um das Kommen Gottes ins menschliche Herz. Vergleichen wir die Arie mit ihrer Choralvorlage, so ist die Metaphorik stark zurückgetreten; stattdessen wird das pneumatologische Bild der Liebesflammen entfaltet. Die Pointe liegt im eschatologischen Para­ doxon des letzten Verses, wonach schon auf Erden himmlische Lust geschmeckt werden kann: Der Bitte im A-Teil folgt im B-Teil der Indikativ. Hic et nunc ist schon himmlische Lust zu schmecken. Dieses Verbum deutet nun wieder auf die in Satz 2 angeklungene Mahlthematik hin („o Süßigkeit, o Himmelsbrot“, vgl. Joh 6,56 und Ps 34,9). Der Textdichter der Kantate ist hier der Sprache Nicolais und seiner biblisch gezeugten Brautmystik sehr nahe, mit der dürfte an eine unio sacramentalis (mit Christus) gedacht sein. Die Triobesetzung ist ungewöhnlich: Die in Tenorlage spielende Oboe di caccia musiziert mit dem Sopran zusammen, der für die gläubige Seele steht. Offenbar will Bach durch das tiefe Soloinstrument die „Tiefe“ des Eingießens der Liebe ins menschliche Herz hörbar machen. Anklänge an den Choral finden sich in der Dreiklangsbrechung des Beginns und den Tönen von T. 2. Die Abwärtslinien von T. 5 und 7 erinnern an den Schluss des Choralabgesangs (vgl. auch T. 48 f), ebenso ist das Material des Solo-Soprans (T. 21) aus dem Ende des Stollens abgeleitet (f-g-f-es-d-c-b). Koloraturen finden sich besonders auf semantisch zentralen Affekt-Substantiven, z. B. „Verlangen“. Bezeichnenderweise steigt dieses meist nach oben (Anabasis); die „Flammen“ sind dagegen eher fallend (vgl. die Katabasis in T. 68 f) gedacht, man fühlt sich an das Herabkommen des göttlichen Geistes in der Gestalt von Flammen (vgl. Act 2), erinnert. Darauf folgt Satz 4, der Strophe 4 und 5 des Chorals zusammenbindet: Von Gott kommt mir ein Freudenschein, 4. Rezit ativ (B a ss) wenn du mit deinen Äugelein, Ein irdscher Glanz, ein lieblich Licht mich freundlich tust anblicken. Rührt meine Seele nicht; Herr Jesu, du mein trautes Gut, ein Freudenschein ist mir von Gott entstanden, dein Wort, dein Geist, dein Leib, dein Blut denn ein vollkommnes Gut, mich innerlich erquicken. des Heilands Leib und Blut, Nimm mich ist zur Erquickung da. Freundlich in dein Arme, daß ich warme werd’ von Gnaden; auf dein Wort komm ich geladen. So muss uns ja der überreiche Segen,

Herr Gott Vater, mein starker Held, du hast mich ewig vor der Welt

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

der uns von Ewigkeit bestimmt und unser Glaube zu sich nimmt,

zum Dank und Preis bewegen.

in deinem Sohn geliebet. Dein Sohn hat mich ihm selbst vertraut, er ist mein Schatz, ich seine Braut, drum mich auch nichts betrübet. Eia, eia, himmlisch Leben wird er geben, mir dort oben; ewig soll mein Herz ihn loben.

Satz 4 ist wie Satz 2 ein Secco-Rezitativ. Es folgt den zentralen Stichworten in Str. 4 und 5 bei Nicolai: „Freudenschein“, „Gut“, „Leib und Blut“, „erquicken“, „Ewigkeit“ (vgl. „ewig“, Str. 5) und bringt zunächst eine Antithese zur Sprache, die wir so bei Nicolai nicht finden: „Ein irdscher Glanz, ein leiblich Licht rührt meine Seele nicht, ein Freudenschein ist mir von Gott entstanden“. Man wird diese Wendung aber kaum im Sinne einer „Leib“- oder „Weltfeindlichkeit“ interpretieren dürfen, vielmehr geht es um die Emphase der göttlichen Herkunft Jesu Christi. Zentrale Aussagen des Choraltextes werden übernommen: Jesus Christus, „das vollkommene Gut“, erquickt uns durch sein Leib und Blut. Die hochzeitliche Thematik bzw. Brautmystik aus Str. 5 und der Abgesang von Str. 4 des Chorals sind ausgeblendet. Offenbar war es dem Dichter doch anstößig, sich eine Umarmung mit dem Bräutigam vorzustellen, die einen „warm macht“. Stattdessen bekommt die Prädestinationsaussage größere Bedeutung, allerdings mit einer leicht dogmatisierenden Tendenz. Das kräftige, persönliche „Herr, Gott Vater, mein starker Held, / du hast mich ewig vor der Welt / in deinem Sohn geliebet“, erscheint in der Wendung „Segen, der von Ewigkeit bestimmt“ (vgl. aber Eph 1,3–5) eher abgeschwächt. Die emphatische Schlusszeile „ewig soll mein Herz ihn loben“ nimmt der Dichter auf, indem er „Loben“ zu „Dank und Preis“ steigert. Eine sachgemäße Einfügung ist mit dem Begriff des Glaubens gegeben, der Empfang der Gnadenmittel geschieht in der Korrelation von Zusage und Vertrauen, promissio und fides.154 Insgesamt ist im Blick auf Satz 4 zu sagen, dass der im Choral inszenierte Dialog mit Christus (Str. 4) bzw. mit dem Vater (Str. 5) ersetzt ist zugunsten einer objektiveren Sprache (statt 2. Pers. nun 3. Pers.).

Die Vertonung Bachs schmückt die zentralen Substantive „Freudenschein“ und „Erquickung“ mit melismatischen Verzierungen, die Verkündigung des Trostes bzw. der Affekt der Freude wird dadurch deutlich unterstrichen. Die Dreiklangsbrechung in D-Dur (T. 1) mit der Wendung zur Sext lassen sich als Anklang an den Beginn des Chorals verstehen. Ebenso könnten die zahlreichen Quintsprünge bei „Freudenschein“ und „zur Erquickung“ Anspielungen auf den Choralbeginn sein. Die kleinen Melismen mit der rhythmischen Figura corta heben Freude und Erquickung musikalisch hervor. Sie vermitteln damit dem Hörer einen akkus­ tischen Zusammenhang zwischen der erquickenden Tat Gottes und dem menschlichen Gefühlsraum der Freude. Satz 5, eine Arie des Tenors, stellt sich in der Synopse mit Str. 6 des Chorals so dar:



154 Vgl. dazu WA 6,516.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre 5. Ar ie (Teno r) Unser Mund und Ton der Saiten sollen dir für und für Dank und Opfer zubereiten.

Herz und Sinnen sind erhoben, lebenslang mit Gesang, großer König, dich zu loben.

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Zwingt die Saiten in Cythara und lasst die süße Musica ganz freudenreich erschallen. Dass ich möge mit Jesulein, dem wunderschönen Bräutgam mein, in steter Liebe wallen. Singet, springet Jubilieret, triumphieret, dankt dem Herren. Groß ist der König der Ehren.

Die Arie schließt sich gleichsam durch einen Doppelpunkt an das vorangegangene Rezitativ an. „Auf die Predigt von Gottes Herabsteigen in die menschliche Natur und seine Gegenwart im Sakrament und in unseren Herzen (vgl. Satz 1–4) bricht nun die gläubige Seele in Jubel aus.“155 Das Lob in Menschenmund wird also aus dem Segen und Handeln Gottes begründet, was eine breite biblische Tradition aufnimmt (vgl. Röm 8,15.26; Lk 1,46–54, Kol 3,16), diein dieser Arbeit vielfach belegt ist. Auch Luther legt darauf besonderen Wert: „Denn es ist keines Menschen Werk, Gott mit Freuden zu loben. Es ist mehr ein fröhliches Leiden und allein Gottes Werk, das sich mit Worten nicht lehren, sondern nur durch eigene Erfahrung kennenlernen lässt“156. Diese elementare Passivität klingt auch in der Wendung „Herz und Sinnen sind erhoben“ an.157

Wie im Eingangschor finden wir hier das sprachliche Mittel des Hendiadyoin, das eine doxologische Totalität ausdrückt: „Mund und Ton der Saiten“; „Dank und Opfer“; „Herz und Sinnen“, „lebenslang mit Gesang“. Die Ganzheit des Lobens geschieht durch „Singen und Sagen“158, in Wort und Ton, in mündlichem Zeugnis und begeistertem Musizieren, mit „Psalmen, Hymnen und vom Geist eingegebenen Liedern“ (vgl. Kol 3,16 par Eph 5,19). Zugleich steht die Trias Herz, Mund und Sinne für eine anthropologische Totalität, wie sie auch in der ersten Tafel des Dekalogs anvisiert ist: Das menschliche Herz ist das Personzentrum. Hier gewinnt der Glaube Gestalt (1. Gebot), während der Mund den Glauben öffent

155 Steiger, BWV 1, 291. 156 WA 7, 550. Vgl. (mit Anspielung auf Lk 1,47) Arndt, Postilla, 377b: „Diß ist der grosse Tag des HErrn, an welchem der König der Ehren […] uns Menschen einen ewigen Freuden=Tag gemacht hat: Einen Tag des ewigen Lobes und Preises […] Einen Tag der ewigen Herrlichkeit: Dann er heute unsere menschliche Natur herrlich gemacht und zur grösten Herrlichkeit erhoben: Derowegen wir uns billig freuen sollen im Geist und jauchzen, dass unser GOtt zu uns kommen ist.“ 157 Vgl. Steiger, BWV 1, 292: „Warum auch die Sinne? Weil überströmende Freude den ganzen Menschen ergreift: ‚Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott‘ heißt es in Psalm 84,3.“ Die Verf. verweist dann auf eine Stelle in Luthers Psalmenauslegung (Ps 9,3) nach seinen Dictata (WA 3,83). Dort heißt es zum Verbum exultare: „exultare est iam plus quam letari: quia exultare est letitiam cordis redundare in sensum et carnem iocondicssimo quodam motu.“ [Fröhlich sein ist noch mehr als sich freuen: denn fröhlich sein bedeutet, dass die Freude des Herzens überfließt in die Sinne und den Leib in einer höchst vergnüglichen Bewegung]. 158 Vgl. WA 35,477, s. o. 6.0.6.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

lich bekennt (2. Gebot). Die Sinne stehen für den leiblichen Vollzug des Gottes­ dienstes (3. Gebot).159 Bach musikalisiert die trochäischen Verse in einem raschen Menuett160 (3/8Takt). Wie beim Eingangschor musizieren hier die beiden konzertierenden Geigen zusätzlich zu den Ripieno-Geigen.161 Auch hier werden kleine Einheiten wiederholt (vgl. Satz 1, T. 1, Stilmittel der Epizeuxis).162 In der Arie werden die ersten beiden Takte als Echo wiederholt, sowohl beim einleitenden Ritornell (T. 1–4) als auch beim Einsatz des Tenors, T. 19 in den konzertierenden Violinen. Damit ist eine spezfische Eigenart des Textes163 in Musik umgesetzt: Sowohl die doppelt paarige Besetzung der Geigen, also gleichsam die Vertikale der Partitur, als auch die in der Horizontale der Zeit sich abspielenden Wiederholungen, die in T. 5 ff durch zweitaktig angelegte Sequenzbildungen fortgeführt werden, manifestieren, dass Bach den überbordenden Text in ekstatische Töne übertragen hat. Im Blick auf die Textbehandlung Bachs fällt auf, dass er den Text „für und für“ stets wiederholen lässt und jeweils auf das letzte „für“ eine lange Note setzt. Hier wird also eine poetische Epizeuxis von Bach nachträglich hergestellt und damit der Textsinn im Sinne des „für und für“ als „Ewigkeit“ ausgeleuchtet. Besonders eindrücklich ist die Verknüpfung eines sprachlichen Hendiadyoin (Herz und Sinnen) mit einer musikalischen Epizeuxis bzw. doppelten Epizeuxis zu Beginn des B-Teils der Arie in T. 105–109: Das Dreiklangsmotiv im Bass (d-f-a) erklingt viermal. Das zweitaktige „Herz und Sinnen“ in der Singstimme, das zunächst in der Oberoktav von der 1. Solovioline und dann wieder von der Singstimme selbst mit dem Text „sind erhoben“ imitierend aufgenommen wird (vgl. ebenso: T. 158–162 und ähnlich T. 124 f: „lebenslang mit Gesang“), liegt darüber. Wie im Eingangschor (vgl. das homophone Noema, T. 84) finden wir hier den intimen Höhepunkt des Satzes, was durch einen polyphon-imitatorischen Kunstgriff realisiert wird. Ähnlich sind T. 115–119 bzw. T. 152–156 gestaltet, wo beide Male alle Instrumente zwei Takte als Echo (pp) wiederholen, während der Solist das Wort „König“ über vier Takte aushält. Die lange Note steht für die ewige Dauer der königlichen Herrschaft, die

159 Vgl dazu Luther, WA 6, 206–229 bzw. Arnold, 260 f: „Es liegt nahe, diese drei Gebote in ihrer konzentrischen Struktur mit einem Ring, ja sogar mit dem Lauf der Sonne, zu vergleichen. Anthropologisch betrachtet, gewinnt der Glaube im Herzen, d. h. im Denken, Wollen und Fühlen, Gestalt, äußert sich in Worten, d. h. auch im Bekenntnis und Lob Gottes, und mündet ins Handeln, das […] in der Feier […] des Gottesdienstes die Mitte hat.“ 160 Vgl. Finke-Hecklinger, 52, die BWV 1,5 für ein „besonders schönes Beispiel der großen konzertierenden Menuett-Arien“ hält. Vgl. zustimmend, aber mit ergänzender Korrektur: R. Steiger, a. a. O., 292 f: „Der im Affekt gelöste, heitere Satz zeigt Tempo und Charakter des Menuetts, etwas beschleunigt durch die Sechzehntel-Figurationen der konzertierenden Violinen in Richtung Passepied“. 161 Vgl. Steiger, BWV 1, 293: „Die Symbolik der Streicherbesetzung lässt ihn [diesen Satz] als Vorklang der Himmelsmusik erkennen.“ Steiger streitet damit eine rein assoziative Deutung der Streicher, ausgehend von der Wendung „Ton der Saiten“ ab. Sie begründet dies mit einem Hinweis auf die Sinfonia des Weihnachtsoratoriums (BWV 248/II) und die „Streichergloriole“ um Christus in der Matthäuspassion. 162 Als Epanalepse kann man die Wiederholung von T. 6 und 8, vgl. T. 34 und 37 betrachten. 163 Vgl. Nicolai: „Cythara/Musica; singet, springet; jubilieret, triumphieret“ bzw. die Kantatendichtung: „Mund und Ton der Saiten“, „für und für“.

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Orchesterbegleitung symbolisiert gleichsam den ihm zur Seite stehenden himmlischen Hofstaat. Es fällt auf, dass Bach gerade im B-Teil längere Koloraturen, besonders mit 32tel-Ketten, auf die Begriffstrias „Gesang“, „König“ und „loben“ setzt und dadurch die doxologischen Begriffe des Satzes unterstreicht, was der poe­ tischen Absicht des Kantatendichters bzw. Nicolais kongenial gerecht wird. Im Schlusschoral mit obligat konzertierendem 2. Horn – die anderen Instrumente musizieren colla parte – fällt die homophone Schlichtheit zu Beginn des Abgesangs (vgl. Satz 1, T. 84) auf: An der Stelle „Amen, Amen“ (T. 7) schreibt Bach in allen Stimmen (außer dem 2. Horn) halbe Noten: Der poetischen Epizeuxis entspricht also wieder eine musikalische (Sopran und Tenor mit entsprechender colla-parte-Begleitung). Variiert sind dagegen Alt und Bass. Besonders im Tenor wird der Ton c’ gleichsam orgelpunktartig wiederholt. Die „Amen-Akklamation“, die der Chor anstelle der Gemeinde übernimmt, bringt zum Ausdruck dass Christus, nicht nur im Gehör, sondern auch im Herzen der Hörer „angekommen“ zu sein scheint. Fassen wir zusammen: Die ästhetische, hermeneutische und spirituelle Qualität von BWV 1 ist kaum hoch genug anzusetzen. Bach und seinem Dichter gelingt es nicht nur, die hohe poetische Dichte der „Königin der Choräle“ in eine gottesdienstliche Festmusik zu übertragen, sondern auch den christologischen Topos der Zweinaturenlehre in seiner abendmahlstheologischen und doxologischen Dimension auf der affektiven Ebene lebendig zu machen. Ausgehend von der eingangs zitierten Predigt Johann Arndts, die ein dreifaches Kommen Jesu mit dem Fest Mariae Verkündigung verbindet, können wir BWV 1 als eine mehrdimensionale „Adventskantate“ im weiteren Sinne bezeichnen, die narrativ-kerygmatische, seelsorglich-sakramentale und hymnisch-doxologische Töne in gleicher Weise anzuschlagen weiß. c) Liturgische Überlegungen Dies führt uns zu einer weiteren Überlegung im Blick auf eine gottesdienstliche Aufführung. Da das Fest Mariae Verkündigung heute keine liturgische Bedeutung mehr hat, schlägt Ulrich Meyer164 vor, BWV 1 am 4. Advent zu musizieren. Da dieser zunehmend als Mariensonntag entdeckt wird und im Unterschied zu den anderen Adventssonntagen ja unter einem dezidiert freudigen Motto (Phil 4,4) steht, kann er auch als Sonntag Gaudete mit der liturgischen Farbe Rosa begangen werden. Eine Zweiteilung der Kantate ließe sich dadurch plausibel machen, dass es im ersten Teil (Satz 1–3) um die Liebe zum gekommenen und im zweiten Teil (Satz 4–6) um das Lob des kommenden Heilands und Königs geht. Der Verkündigungsteil für den vierten Advent könnte folgendermaßen aussehen: Psalm 45 (gemeinsam oder vorgelesen)  – EG 70,1–3  – Epistel Phil 4, evtl. verknüpft mit der alttestamentl. Lesung Jes 52165  – EG 70,4–6  – Evangelium

164 Meyer, Kirchenjahr, 31. 165 Vgl. Arnold/Baltruweit, 24 f. Die besondere Pointe besteht nicht nur in der hier angewandten Collage von Phil 4 und Jes 52, sondern in der dialogischen Gestaltung verschiedener Sprechakte (Ankündigung und Ausrufung der Gottesherrschaft).



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Lk 1,26–39 – Kantate Satz 1–3 -Predigt – Kantate Satz 4–6 – Credo (oder: EG 70,7 bzw. Satz 6 mit Gemeinde) Eine andere Möglichkeit ergibt sich ausgehend von der Tatsache, dass der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern Wochenlied für Epiphanias (EG 70) ist. Eine Aufführung an Epiphanias hätte allerdings den Nachteil, dass die Kantate kaum Bezüge zum Evangelium aus Mt 2,1–11 besitzt. Der Gottesdienst müsste also stärker unter dem Vorzeichen des Morgensternliedes und der dasselbe bestimmenden Bibeltexte gestaltet werden. Eine (eschatologisch akzentuierte) Abend­mahlsfeier böte sich unbedingt an: a) Psalm 45 (gelesen oder gemeinsam gesprochen, evtl. in Verbindung mit Nicolais Widmung für den Freudenspiegel ewigen Lebens) – EG 70,1–3 – Kantate Satz 1–3 – Lesung Apk 22 – Predigt I – EG 70,4–7 – Predigt II – Kantate Satz 4–6 – Credo b) Psalm 45 – EG 70,1–3 – Kantate Satz 1–3 – Apk 22 – Predigt – Credo – Abendmahlsliturgie mit EG 70,4–7 (evtl. statt Sanctus) – Kantate Satz 4–6 sub com­ munione

6.2 Pneumatologische Tiefe166 Themen des dritten Glaubensartikels finden wir weit verstreut in zahlreichen Kantaten Bachs. Im Grunde ist ja jedes gesungene Gebet als Klage oder Lob, als Dank und Bitte, aber auch jede Art von (musikalischer) Verkündigung eine Äußerung des Geistes Gottes. Explizit doxologisch gehalten sind u. a. die Pfingst­ kantaten Erschallet ihr Lieder (BWV 172) und Erhöhtes Fleisch und Blut (BWV 173) sowie die Kantate Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76). Die Liturgie wird selbst zum Thema in Bringet dem Herrn Ehre seines Namens (BWV 148) und in der Kirchweihkantate (BWV 194), wo insbesondere der Raum des Gottesdienstes in den Blick kommt. Die Pointe besteht hier in der Entsprechung von „äußerem“ und „innerem“ Gottesdienst, verbunden durch die Begriffe Haus und Herz (BWV 194,11): Wohlan demnach, du heilige Gemeine, bereite dich zur heilgen Lust! Gott wohnt nicht nur in einer jeden Brust, er baut sich hier ein Haus. Wohlan, so rüstet euch mit Geist und Gaben aus, dass ihm sowohl dein Herz als auch dies Haus gefalle.

Dabei wird auch die Frage der Ermöglichung menschlichen Lobs gestellt und pneumatologisch beantwortet (BWV 194,5)167: Hilf Gott, dass es uns gelingt, dass dein Feuer in uns dringt,

166 Der dritte Glaubensartikel wird besonders in folgenden doxologischen Kantatensätzen thematisiert: BWV 69,5; 1,2–4; 51,1; 17,6; 129,3; 172,4; 173; 65,5–7; 148,4 f; 194,6; 190,6; 28,4. 167 Vgl. dazu auch Luthers Auslegung des Magnificats (WA 7, 540–603), vgl. Arnold, 287–296.

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dass es auch in dieser Stunde, wie in Esaiae168 Munde seiner Wirkung Kraft erhält und uns heilig vor dich stellt.

BWV 148,4 f verknüpft pneumatologische Aussagen mit ethischen Folgerungen, die ihrerseits eschatologische Konsequenzen haben. Theologisches Hauptmotiv ist dabei die inkarnatorische Figur der inhabitatio:169 Ar ie (Al t) Mund und Herze steht dir offen, Höchster, senke dich hinein! Ich in dich, und du in mich; Glaube, Liebe, Dulden, Hoffen, soll mein Ruhebette sein.169

Rezit ativ (T eno r) Bleib auch, mein Gott, in mir und gib mir deinen Geist, der mich nach deinem Wort regiere, dass ich so einen Wandel führe, der dir gefällig heißt, damit ich nach der Zeit in deiner Herrlichkeit, mein lieber Gott mit dir, den großen Sabbat möge halten.

Einen besonderen Schwerpunkt bilden in Bachs Kantaten eschatologische Aussagen, die z. T. in einschlägigen Monographien bereits untersucht worden sind.170 Insbesondere die Kantaten, die für Sonntage gegen Ende des Kirchenjahrs komponiert sind, aber auch S. Francks Osterkantate Der Himmel lacht (BWV 31)171 ist hier zu nennen, wo eine aufregende Verknüpfung von Schöpfung und Erlösung bzw. Schöpfung und Neuschöpfung zu entdecken ist (Chorsatz 31,2). Auch in den Neujahrskantaten (vgl. 171,4; 16,5; 41,5; 190,5) finden sich eschatologische Wendungen.172

6.2.1 Erhöhtes Fleisch und Blut (BWV 173) Als Beispiel einer doxologischen Pfingstmusik soll im Folgenden die Kantate zum zweiten Pfingsttag Erhöhtes Fleisch und Blut (BWV 173) in den Blick kommen, die wie weite Teile des Weihnachtsoratoriums, die Adventskantate Schwingt freudig euch empor (BWV 36) oder die Osterkantaten Erfreut euch ihr Herzen (BWV 66) bzw. Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß (BWV 134) u. a. in ihrer musikalischen Gestalt auf eine weltliche Vorlage zurückgeht. Im pneumatolo­

168 Vgl. Jes 6,6 f. 169 Melodisch lässt sich an der Stelle „…senke dich hinein“ eine schöne Katabasis in der Singstimme beobachten; das Ruhebett wird durch lang gehaltene Noten abgebildet. R. Steiger weist zu Recht darauf hin, dass der Vorgang der unio bzw. inhabitatio in Analogie zum Inkarnations­ geschehen gesehen werden kann. (Vgl. Steiger, 29). 170 Vgl. z. B. Mautner, Sterbekunst. 171 Die Pointe ist hier, dass mit der Auferstehung Jesu auch unsere Auferstehung in den Blick gerückt wird. 172 Vgl. Leaver, 200: „The passing of the years does not simply mean that we are getting older, but that we are approaching nearer our final end.“

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

gischen Kontext eine solche Parodie zu betrachten, ist unter der Fragestellung sinnvoll und reizvoll, welche spezifische Qualität ein geistlicher Text gegenüber einem weltlichen hat, bzw. inwiefern die gleiche Musik zwei verschiedene Texte zum Klingen bringen kann. Es geht darum, herauszuarbeiten, wie durch einen geistlichen Text das „natürliche Medium“ der Musik „in Gottes Dienst genommen“ wird.173 Bach hat die Musik der von einem unbekannten Dichter verfassten Pfingstkantate gegenüber der Köthener Vorlage (Glückwunschmusik für den Fürsten Leopold) nur wenig verändert. Sie wurde wahrscheinlich am 29.  Mai 1724 zum ersten Mal aufgeführt, sie wäre dann die vorletzte Kantate vor dem Choral­ kantatenjahrgang 1724/25, der am 1. Sonntag n. Trinitatis 1724 mit BWV 20 er­ öffnet wurde. Spätestens im Jahre 1731  – dies ist durch Textdruck belegt  – hat Bach das Stück dann (nochmals) aufgeführt und – was einen „Ausnahmefall innerhalb des überlieferten Quellenmaterials“ darstellt  – Änderungen direkt „in die weltliche Partitur eingetragen“174. Die Kantate ist auf das Evangelium aus Joh 3,16–21, das durch seine Inkarnationsaussagen auch „weihnachtliche Töne“ anschlägt, bezogen und bietet neben ihrer doxologischen Qualität einen engen Konnex zwischen Christologie und Pneumatologie. Beide Aspekte sind für die Analyse relevant und machen die spirituelle Besonderheit dieser Kantate aus. Der Text wirkt frisch und erstaunlich zeitgemäß. Die theologische „Pointe“ besteht darin, dass Gott das, was er an Weihnachten getan hat, hier und jetzt an seiner Gemeinde wirksam machen will: Aus der Erniedrigung Christi ins Fleisch folgt die Erhöhung der Gemeinde durch den Geist. Vergleichen wir die beiden Texte in der Synopse, so finden wir bis in die semantisch tragenden Substantive und Verben hinein engste Anklänge. Dies gilt besonders für Satz 5, der im Wortlaut fast identisch ist. Im weltlichen Fall „entzündet“ sich die „Andacht“ an der Treue zum Fürsten, während die „geistliche Fassung“ ein andächtiges Stoßgebet als Herzens­opfer (vgl. Ps 50,23) zum Himmel sendet. Dies scheint uns heute eher nachvollziehbar als die „Andachtsseufzer treuer Untertanen“, die für den Fürsten bittend „zum Himmel dringen“ (vgl. allerdings 1 Tim 2,1–3). Die Übernahme der Vatermetapher aus der weltlichen Vorlage zeigt, dass innerhalb des barocken Ordo-Denkens der weltliche Fürst und Landesvater durchaus den göttlichen Vater repräsentieren konnte.

173 M. Walter hat im Zusammenhang seiner Analyse des Weihnachtsoratoriums darauf aufmerksam gemacht, dass Bach durch die geistliche Parodierung Gelegenheitswerke in einen „höheren Werkzusammenhang“ brachte, und ihnen so bleibende Gültigkeit bescherte: Vgl. dazu Walter, Weihnachtsoratorium, 28: „Dabei durchschreiten die parodierten Vokalsätze  – jedenfalls ideal­ typisch – die folgende, von unten nach oben zu lesende Skala: Missa tota geschichtsträchtige Gattung, lateinisch und ‚catholisch‘, Ordinarium Missae, persönliche Motivation Bachs Missa (Kyrie, Gloria) sonntäglicher Anlass, lateinisch, ‚lutherisch‘, Ordinarium Missae Oratorium jährlich aufzuführen, aber an einem Festtag (oder in einer Festzeit), deutsch, Proprium de tempore, Kantoratsmusik Kirchenkantate jährlicher liturgischer Anlass: Sonntag (und Festtag) deutsch, Proprium de tempore, Kantoratsmusik weltliche Kantate einmaliger Anlass, deutsch, oft nebenberufliche Auftragswerke“. 174 Vgl. Dürr, 407.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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Durchlauchtster Leopold (BWV 173a)

Erhöhtes Fleisch und Blut (BWV 173)

1. Rezit ativ (S opran) Durchlauchtster Leopold, Es singet Anhalts Welt von Neuem mit Vergnügen. Dein Köthen sich dir stellt, um sich vor dir zu biegen, Durchlauchtster Leopold.

1. Rezit ativ (T eno r) Erhöhtes Fleisch und Blut, das Gott selbst an sich nimmt, dem er schon hier auf Erden ein himmlisch’ Heil bestimmt, des Höchsten Kind zu werden. Erhöhtes Fleisch und Blut!

2. Ar ie ( S opran) Güldner Sonnen frohe Stunden, die der Himmel selbst gebunden, sich von Neuem eingefunden, rühmet, singet, stimmt die Saiten, seinen Nachruhm auszubreiten!

2. Ar ie (Teno r) Ein geheilgtes Gemüte sieht und schmecket Gottes Güte. Rühmet, singet, stimmt die Saiten, Gottes Treue auszubreiten.

3. Ba ss S ol o Leopolds Vortrefflichkeiten machen uns itzt viel zu tun. Mund und Herze, Ohr und Blicke können nicht bei seinem Glücke, das ihm billig folget, ruhn.

3. Al t S ol o Gott will, o ihr Menschenkinder, an euch große Dinge tun. Mund und Herze, Ohr und Blicke können nicht bei diesem Glücke und so heilger Freude ruhn.

4. Duet t (S opran, B a ss) Bass: Unter seinem Purpursaum ist die Freude nach dem Leide, jeden schenkt er weiten Raum, Gnadengaben zu genießen, die wie reiche Ströme fließen.

4. Duet t (S opran, B a ss) Bass: So hat Gott die Welt geliebt, sein Erbarmen, hilft uns Armen, dass er seinen Sohn uns gibt, Gnadengaben zu genießen, die wie reiche Ströme fließen.

Sopran: Nach landesväterlicher Art Er ernähret, Unfall wehret, drum sich nun die Hoffnung paart, dass er werde Anhalts Lande setzen in beglückten Stande.

Sopran: Sein verneuter Gnadenbund ist geschäftig und wird kräftig in der Menschen Herz und Mund, dass sein Geist zu seiner Ehre gläubig zu ihm rufen lehre.

Beide: Doch wir lassen unsre Pflicht froher Sinnen itzt nicht rinnen, heute, da des Himmels Licht seine Knechte fröhlich machet und auf seinem Zepter lachet.

Beide: Nun wir lassen unsre Pflicht Opfer bringen, dankend singen, da sein offenbartes Licht sich zu seinen Kindern neiget und sich ihnen kräftig zeiget.

5. Rezit ativ à 2 (S opran, B a ss) Durchlauchtigster, den Anhalt Vater nennt, wir wollen dann das Herz zum Opfer bringen;

5. Rezit ativ à 2 (S opran, T eno r) Unendlichster, den man doch Vater nennt, wir wollen dann das Herz zum Opfer bringen,

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

aus unsrer Brust, die ganz vor Andacht brennt, aus unsrer Brust, die ganz vor Andacht brennt, soll sich der Seufzer Glut zum Himmel soll sich der Seufzer Glut zum Himmel schwingen. schwingen. … 8. Cho r Nimm auch, großer Fürst, uns auf und die sich zu deinen Ehren untertänigst lassen hören! Glücklich sei dein Lebenslauf, sei dem Volke solcher Segen, den auf deinem Haupt wir legen!

6. Cho r us Rühre, Höchster, unsern Geist, dass des höchsten Geistes Gaben ihre Wirkung in uns haben! Da dein Sohn uns beten heißt, wird es durch die Wolken dringen und Erhörung auf uns bringen.

a) Poetisch-theologische Analyse Betrachten wir den madrigalischen Text, der ganz ohne Bibelwort und Choral auskommt, so fällt auf, dass die Rezitative metrisch konsequent gebaut sind. Das Metrum ist bis auf die jambischen Rezitative (Satz 1 und 5) im etwas stereo­typen trochäischen Versmaß gehalten. Satz 1 weist eine inclusio in den Rahmen­versen auf. Die Prädikation „Erhöhtes Fleisch und Blut“, die auch auf den zum Vater erhöhten Jesus bezogen sein könnte, gilt  – dies macht die Explikation: „dem er schon hier auf Erden ein himmlisch Heil bestimmt“ deutlich  – der christlichen Gemeinde.175 Der Dichter lässt damit eine dreifache Dialektik anklingen: a) Erhöhung und Leiblichkeit (Fleisch und Blut) b) Himmel und Erde bzw. himmlisches Heil schon jetzt c) Höchster und Kind Teil A von Satz 2 können wir als Rückbezug auf das vorangegangene Rezitativ auffassen. Ein Mensch, der von Gottes Geist angestiftet und inspiriert ist, erkennt, d. h. „sieht und schmeckt Gottes Güte“, was wir heute leicht als eine Anspielung auf die Abendmahlsliturgie hören können (vgl. Ps 34,9 als Einladung zur Kommunion). Dann folgt eine Art „Aufgesang“ mit den drei Verben Rühmet, singet, stimmt die Saiten, eine gleichsam „eucharistische Animation“, die auf das vokale und instrumentale Bejubeln der Treue Gottes, ausgerichtet ist. Theologisch heißt das, dass der musizierte Lobpreis auf den Zuspruch und „Genuss“ der Gnade Gottes, auf den Empfang seines Heils unter Brot und Wein folgt. Dem Imperativ „Singet …“ geht also der Indikativ („ein geheilgtes Gemüte sieht und schmecket Gottes Güte“) voraus.



175 Vgl. dazu treffend Petzoldt II, 1011 mit Hinweis auf Olearius’ Auslegung von Joh 3,16–21: „Danach darf sich der glaubende Mensch selbst als durch Gott ‚erhöhtes Fleisch und Blut‘ begreifen. Dies widerfährt ihm […] durch den Geber (Gott), durch die Gabe und den Erwerber (den Sohn Gottes), durch den Übergeber (den Heiligen Geist).“ Dazu passt, dass Olearius V, 619, in seinem Kommentar zu Joh 3,14, (Erhöhung der Schlange als Typos der Erhöhung Christi am Kreuz), auf Joh 12,32 (Erhöhung der Glaubenden) verweist.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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Auch das Altsolo in Satz 3 verkündigt zunächst die „großen“ Taten Gottes, ehe beschrieben wird, wie sich Gottes Tun auf den ganzen Menschen und seine „Gefühle“ auswirkt. Bachs Dichter redet hier recht unbefangen von „Glück“ und benennt den Affekt der „heiligen Freude“ als zentralen Impulsgeber für Lobpreis und spirituelle Aktivität. Im Grunde sind Teil B der Arie (Satz 2) und Teil A des folgenden Solos (Satz 3) dadurch verknüpft, dass hier jeweils eine klare Anrede an die Gemeinde vorliegt, während das Folgende die Wirkungen des Geistes an­ gesichts des göttlichen Heils beschreibt. Sehr dicht ist Satz 4, der auch die stärksten Anklänge an Joh 3 bietet und als Applikation auf die Welt, die Menschen und die Glaubenden verstanden werden kann: a) Der Solo-Bass erzählt zunächst von der offenbarten Liebe Gottes als Hilfe für „uns Arme“ (im Perfekt), holt dann aber das Kommen des Sohnes (Joh 3,16: „dass er seinen eingeborenen Sohn gab“) schon in die Gegenwart: dass er seinen Sohn uns gibt. In Übereinstimmung mit Satz 2 („schmecken und sehen“) wird hier vom Genießen der Gnadengaben Gottes geredet, die wie reiche Ströme fließen. Charismen sind Kraft- und Lebensquellen des göttlichen Geistes (vgl. Gal 5,22), die im Kommen Gottes in die Welt, d. h. in Christus ihren Grund haben (vgl. Gal 4,4). b) Der Solo-Sopran führt den finalen Infinitiv des ersten Abschnitts („zu ge­ nießen“) aus: Gnadengaben zu genießen, Gottes belebende Kraft zu spüren, heißt, dass Gottes Geist im Menschen aktiv, „geschäftig und kräftig“ wird. In den beiden Kurzzeilen dieser 2. „Strophe“ (vgl. in Str. 1: „sein Erbarmen / hilft uns Armen“) wird das Proprium des Geistwirkens als kräftigendes, den Menschen in Gang setzendes Handeln Gottes benannt, das im Herzen des Menschen beginnt und durch den Mund hindurch zum Klingen kommt, um Gott anzurufen und zu preisen. c) Dies geschieht, wenn im 3. Teil die beiden Solostimmen zusammen kommen. Aus dem indikativischen Predigt-Stil (3. Pers.) wird ein gemeinsames Lob­ opfer, ein doxologisches „Wir“. Was in diesem zentralen Duett pneumatologisch und anthropologisch entfaltet wurde, wird nun  – ebenfalls in der 1.  Pers. Pl.  – fortgeführt. Der Lobpreis des Vaters drängt von innen nach draußen, aus dem Herzen und der Brust schwingen sich der „Seufzer Glut“ zum Himmel. Diese anabatische Richtung beherrscht auch den abschließenden Chorsatz: Er zielt auf die unio des göttlichen und des menschlichen Geistes (vgl. BWV 172), der dadurch im Beten, wie es Jesus lehrt, unterwiesen wird (vgl. Röm 8,15 f.26). Hier berühren sich die zentralen pneu­ matologischen Ausführungen des Paulus in Römer 8 mit den Abschiedsreden aus Johannes 14–17. Stark verändert sind besonders die Ecksätze. Aufregend am Kopfsatz ist der Subjektswechsel: Hohes wird tief und Kleines wird groß: Das Verbeugen der Untertanen vor dem Fürsten ist durch das Herabneigen Gottes ersetzt! Zu Beginn wird Gottes gnädiges Kommen in die Welt, seine weihnachtliche Fleischwerdung be-

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sungen, auf deren Basis sich dann eine „Erhöhung“ des Menschen (vgl. Joh 3,14) ereignen kann. Damit wandeln sich die Vorzeichen der handelnden Subjekte fundamental im Sinne eines Aussagetausches von Haupt und Gliedern.176 Dasselbe gilt für Satz 3. In der geistlichen Fassung ist es nicht mehr der Mensch, der zu tun und zu schaffen hat, sondern Gott selbst. Dezidiert trinitätstheologisch lässt der Schluss­chor ein Gebet erklingen, das an Gott, den Höchsten gerichtet ist und die Gaben des Geistes erfleht, um das Gebet Jesu in rechter Weise auszurichten.177 Damit wird deutlich, dass der Dichter – zumindest in den Ecksätzen – eine deut­ liche Akzentuierung des pfingstlichen Propriums vornimmt. Betrachten wir nun die musikalische Realisierung Bachs, wobei die weltliche Vorlage (BWV 173a) im Blick bleibt: b) Musikalisch-theologische Betrachtungen Bach besetzt das verkündigende Eingangsrezitativ mit einem Tenor anstelle des Soprans. Er stärkt damit ganz offensichtlich das Verkündigungsmoment, da der Tenor eher eine kerygmatische Funktion hat (vgl. neben den Evangelisten-Rezi­ tativen in den Passionen und Oratorien z. B. BWV 121,2; 76,2; 93,5; 113,5 f), während der Sopran oft Gebet und Lob darstellt.178 Außerdem verändert Bach die melodische Linie der Vokalstimme an den sinntragenden Stellen: In T. 3 fällt die Phrase bei „hier auf Erden“ sinnigerweise nach unten, während sie in der Vorlage das Substantiv „Vergnügen“ mit einer Spitzennote hervorhob. Umgekehrt erreicht der Tenor bei Höchsten ein fis’, während sich der Sopran in 173a,1 aus der mittleren Lage beim Text „um sich vor dir zu biegen“ in die Tiefe herab senkt. Die virtuose Koloratur in T. 6 ist in beiden Stücken identisch: Der Fürst („Durchlauchtster“) und das erhöhte Fleisch und Blut entsprechen sich musikalisch, wenngleich die Koloratur in der geistlichen Fassung nicht nur schmückend (im Wortsinn von Koloratur als Farbgebung), sondern auch, den Sinn abbildend, melodisch zielrichtig nach oben führt (Anabasis), um die Er­höhung des Menschen durch Gottes Heilshandeln anzuzeigen. Dies ist im

176 Diese Figur wird in der östlichen Tradition als Theosis bezeichnet, als Vergöttlichung des Menschen, oder etwas weniger misssverständlich als „Kenosis Gottes zur Verherrlichung des Menschen“ (vgl. Harkianakis, 355). 177 Es wäre einfach gewesen, die letzte Nummer im Anschluss an BWV 173a etwa folgender­ maßen „umzudichten“: Nimm auch, großer Gott, uns auf und die sich zu deinen Ehren untertänigst lassen hören! Flehn wir heut doch dringlich um den Segen, den du in der Zeiten Lauf auf dein Volke mögest legen! 178 Vgl. dazu Johann Sauberts Enblem „Suavissima Musica Christo“, dargestellt in: Steiger, 120 f mit dem Spitzensatz: „Wann ferner das Gebet / wie ein Discant auffsteiget …“. Das Bild zeigt auf­ steigenden Weihrauch und gefaltete Hände an einem Altar. Steiger, 123 führt dazu aus: „Der Dis­ cantus […], inzwischen die absolut höchste Stimme des vollstimmigen Satzes, bot sich als vokales Symbol des zu Gott aufsteigenden Lob- und Dankopfers an.“ (Vgl. dazu etwa BWV 51,1–4; BWV 171,4; 31,8; 1,3; 17,3 u. a.)

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Ganzen des kleinen Rezitatives konsequent, da sich melodische Spitzennoten zuvor auch schon auf „Erhöhtes Fleisch“ (T. 1, wo allerdings Christus gemeint ist) und „Höchsten Kind“ (T. 5) fanden. Die folgende Arie des Tenors „Ein geheiligtes Gemüte“ kommt ausgesprochen delikat und beschwingt daher, ganz passend zum ursprünglichen Text in der weltlichen Fassung „Güldner Sonnen frohe Stunden“. Trotz der weitgehenden Übereinstimmung bis in die Formulierungen hinein (B-Teil) hat die geistliche Fassung freilich ein anderes Ziel: Ihr geht es nicht darum, den Nachruhm des Fürsten auszubreiten, sondern die Güte Gottes zu preisen. Und dies gelingt äußerst stringent: Die instrumentale Oberstimme, namentlich die triolischen Sechzehntel der konzertierenden Flöten179 und ersten Violinen (vgl.T. 2), stellen eine Art „heiterer“ Gemütsbewegung dar. Ja, die Oberstimme könnte gar das „liebliche“180 Wehen des Heiligen Geistes abbilden. Im Wechselpiel von Sologesang und Instrumenten mit zahlreichen Suspirationes (vgl. T. 26; 30 u. ö.)181 gestaltet Bach dann den (in beiden Versionen identischen) Text „Rühmet, singet …“. Bei diesen Imperativen gewinnt die Musik im Zusammenspiel mit dem Wort äußerste deklamatorische und dialogische Kraft. Dürr kommentiert diesen „Aufgesang“182 treffend: „Im Mittelteil steigert sich die Ausdruckskraft zu wahrhaft ‚sprechender‘ Gestik auf die Worte ‚rühmet, singet‘ – ein Motiv, das von den Streichern emphatisch wiederholt wird.“183 Das Verbum „ausbreiten“ bedenkt Bach mit zwei unterschiedlichen musikalischen Deutungen: Zunächst steht eine augmentierte Liegenote (T.  28) für das Ausbreiten der Güte Gottes, dann illustriert dies am Ende des Vokal­solos (kurzes Da capo) eine fast über vier Takte ausgedehnte Koloratur (T. 34–37), auf der sich die Solostimme in einer parallelen Bewegung eindrucksvoll mit der instrumentalen Oberstimme (Fl./ Vl. 1) vereinigt. Diese „Parallelbewegung“ mag die Vereinigung des göttlichen und menschlichen Geistes beim Singen und Musizieren184 symbolisieren. Der folgende Satz, den Bach – vielleicht wegen seiner Kürze – nicht mit Aria überschrieben hat, schilderte im Original „Leopolds Vortrefflichkeiten“. Die rasche Bewegung im Vierertakt erinnert an eine „Gavotte“185. Musikalischer Kern ist ein „umtriebiges“ Staccato-Motiv aus vier Sechzehnteln, vorgestellt von den bei-



179 Vgl. Küster, 241: „Der Streichersatz erhält aus der Mitwirkung zweier Querflöten (unisoni mit Violine I) eine zusätzliche Farbe; hier wird eine Klangwelt erahnbar, die weite Strecken des wenig später beginnenden Choralkantaten-Jahrgangs prägten.“ 180 Dürrs Kommentar zu BWV 173a,2 lautet, 893: „Die eindrucksvolle, pausendurchsetzte und von triolischem Rhythmus beherrschte Melodik sowie die zarte Instrumentation mit Flöten und Streichern verleihen ihr [der Arie] einen überaus lieblichen Charakter.“ Vgl. ähnlich Petzoldt II, 1013. 181 Vgl. dazu Bachs Orgelbüchlein zum Pfingstchoral O komm du Schöpfer, heilger Geist (BWV 631 vgl. die große Choralbearbeitung BWV 667a). 182 Vgl. auch BWV 1,5 bzw. EG 70,6. 183 Dürr, a. a. O. 184 Vgl. dazu Petzoldt II, 1013 f mit Hinweis auf BWV 172,1 und Olearius’ Kommentar zu Ps 34,9 und Ps 33,3 f. 185 Vgl. Finke-Hecklinger, 33 f.

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den Violinen (vgl. T. 2).186 Der mit dem Text korrespondierende durchgehende Affekt des Vivace-Satzes ist eine „innere geistliche Unruhe“ angesichts der großen Taten Gottes (vgl. Sir 50,24 bzw. EG 321 f). Dies kommt besonders in der un­ unterbrochenen Sechzehntel-Bewegung der Violinen (vgl. T 5–9 und T. 24–26) zum Ausdruck. Damit wendet Bach die Grundaussage der weltlichen Vorlage, die von Leopold angestiftete Geschäftigkeit, ins Geistliche. Zur Ruhe kommt die Musik erst beim Stichwort „ruhn“, wenn sich das Vivace zu einem Adagio ver­ breitert. Der folgende Tanzsatz, ein beschwingtes Menuett,187 gegliedert in klare Viertaktperioden, ist, seinem Text entsprechend, dreistrophig gebaut. Er umfasst 144 Takte mit je einem zwölftaktigen Vor- und Nachspiel sowie drei Strophen und zwei Zwischenspielen zu je 24 Takten. Strophe 1 beschreibt zunächst Gottes Handeln in Christus (2. Artikel), dann folgt mit Strophe 2 das Handeln des Geistes an den Gläubigen (3. Artikel), um zuletzt als konsequente Folge daraus das vom Geist gewirkte Lob der Christen (Wir-Form) sinnenfällig im Duett ertönen zu lassen. Wie im Original musizieren Bass und Sopran, hier freilich mit eindeutiger Anspielung auf Christus (Bass als vox Christi, Str. 1: „dass er seinen Sohn uns gibet“) und den Geist (Sopran, Str. 2: „dass sein Geist zu seiner Ehre gläubig zu ihm rufen lehre“). Zugleich ist eine harmonische und instrumentale Steigerung über die drei Teile (3 × 48 Takte) angelegt, die Dürr folgendermaßen beschreibt: „Die Tonartenfolge wandert im Quintenzirkel aufwärts von G-Dur (Teil 1) nach D-Dur (Teil 2) nach A-Dur (Teil 3); die Besetzung, die im 1. Teil nur eine Singstimme, Streicher und Continuo verlangt, wird vom 2. Teil an um 2 Flöten und im 3. Teil um eine zweite Singstimme vermehrt; in der Bewegung herrschen anfangs Viertel vor, im 2. Teil Achtel und im 3. Teil Sechzehntel.“188 Diese finden wir in eindrucksvoller, beinahe atemloser Folge, einem perpetuum mobile gleich, fast ausschließlich in der konzertanten ersten Violine. Zentrales Motiv ist eine sich immer wieder nach oben schraubende Groppofigur. Damit ist der erste doxologische Höhepunkt der Kantate erreicht. Das folgende Duettrezitativ ist nahe an seinem weltlichen Original und kommt doch in der geistlichen Fassung zur eigentlichen Vollendung. Mit der Herzenshingabe ist das Innerste einer spirituellen Haltung formuliert, die in vielen Em­ blemen und Bildern der Barockzeit, besonders aber im Pietismus, ihren Ausdruck findet.189 Musikalischer Höhepunkt des Stückes ist ein in großen Koloraturen der

186 Vgl. Petzoldt II, 1014: „Wie aus dem Mund eines viel beschäftigten Zeitgenossen erklingt dieser Satz …“ 187 Vgl. Finke-Hecklinger, 45 f. Im weltlichen Original steht ausdrücklich: „Al Tempo di Mineutto“. 188 Dürr, 894 (zu BWV 173a,4), vgl. ähnlich Küster, 242: „Somit kommt es in der letzten Strophe zur Vereinigung der instrumentalen Kräfte, zur parallelen Zweistimmigkeit der beiden Sing­ stimmen und zur intensivierten Bewegung des Begleitsatzes aus einer Sechzehntelbewegung der ­Violine I.“ 189 Vgl. Haselböck, Art. Herz, 99–103 mit einer Abbildung zu „Ich will dir mein Herze schenken“ (a. a. O., 102: „Laß mein Hertz unbefleckt seyn in deinen Rechten, dass ich nicht zu schanden werde.“)

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Solostimmen aufsteigendes Schwingen der Herzensseufzer zum Himmel (vgl. besonders die Mitte in T. 7–9): Dabei läuft auch die Linie des Continuo in Tetrachordschritten immer wieder kontinuierlich nach oben. Dies nimmt in T. 13 auch der Sopran (Anabasis-Koloratur) auf, was im vorletzten Takt noch eindrucksvoll übertroffen wird, wenn das Contiuno in einer Bewegung über beinahe zwei Oktaven „gen Himmel“ „steigt“. Das Seufzen selbst wird durch ein Lamento-Motiv in T. 10 plakativ abgebildet. Eine Besonderheit in mehrfacher Hinsicht ist der doxologische Schlusschor, der so etwas wie eine angewandte oder entfaltete Pneumatologie bietet. Wie Satz 4 handelt es sich am ehesten um ein Menuett190, das zumeist in vier- oder achttaktigen Perioden gebaut ist. Die Proportionen sind äußerst klar: 16+16 Takte in Teil  A (instrumental/vokal) stehen 32+32 Takten in Teil B gegenüber, wodurch der zweite Teil ein größeres Gewicht bekommt.191 Bach hat den Vokalsatz (im Gegensatz zur zweist. Vorlage) vierstimmig erweitert, wodurch ein Pendant zum vierbis fünfstimmigen Instrumentalsatz geschaffen ist. Schön sind auch hier die unmittelbaren Abbildungen des doxologischen Textes, etwa beim Verb „­beten“ mit einer melismatischen Anabasis im Sopran (T. 66 f), oder unmittelbar danach mit einer Gradatio auf den Text „wird es durch die Wolken dringen / und Er­hörung auf uns bringen“, die linear nach oben steigt. Der weltliche Text, der diese Figuren auf den fortschreitenden Lebenslauf des Fürsten bezieht, ist im poetisch-musikalischen Gesamtkunstwerk der geistlichen Kantate deutlich übertroffen. Wie schon in Satz 2 vermag die durchgehende Achtelbewegung, namentlich in der Soloflöte, die Wirkungen des Geistes anschaulich zu illustrieren. So können wir festhalten: Ähnlich wie in Bachs Weihnachtsoratorium, das in weiten Teilen auf weltliche Vorlagen zurückgeht, hat Bach zusammen mit seinem Dichter eine geistliche Komposition geschaffen, die in dieser Gestalt eine nachhaltige poetische, musikalische und theologische Qualität besitzt, wie sie der welt­lichen Vorlage nicht eigen war. c) Liturgische Erwägungen Selten wird man am Pfingstmontag heutzutage ein musizierendes Ensemble für diese Kantate zusammen bringen können. Hinzu kommt, dass Joh 3,16–21 heute nicht mehr Evangelium für den zweiten Pfingsttag, sondern innerhalb der Predigt­ reihe III der Christvesper zugeordnet ist. Zwar schlägt U. Meyer dennoch vor, die drei Kantaten für den zweiten Pfingsttag alle an ihrem ursprünglichen Ort zu lassen, – es könnte ja auch das Proprium im Sinne der Kantate angeglichen werden und ein musikalischer Gottesdienst gefeiert werden  – denkbar wäre aber auch eine Verschiebung auf den Trinitatissonntag mit einer Erweiterung des Evange­

190 Vgl. Finke-Hecklinger, 48: „Er trägt – dies ist das einzige Beispiel in Bachs Werk – die Taktvorschrift ‚3‘ und verkörpert damit wohl das beschleunigte, ‚italienische‘ Tempo des Menuetts.“ Vgl. dagegen Petzoldt II, 1017, der an eine Polonaise denkt. 191 Vgl. Petzoldt II, 1017: „Durch die doppelte musikalische Länge des B-Teils kommt nun auch den letzten drei Zeilen ein stärkeres Gewicht zu, was allerdings auch sachlich gerechtfertigt ist; denn sie führen die Erhörung des Gebets durch Gott auf das Geheiß Jesu zurück, in seinem Namen zu Gott dem Vater zu beten.“

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liums (3,1–15) um einige Verse, z. B. Joh 3,1–16 oder 3,1–8.16–21. Die kühnste Verschiebung wäre eine Aufführung von BWV 173 in der weihnachtlichen Christvesper, für die es ja streng genommen keine Kantatenmusik Bachs gibt. Dies wäre trotz der pneumatologischen Pointe des Textes denkbar. In allen Fällen legt sich eine Zweiteilung in Satz 1–3 und 4–6 nahe. Daraus ergeben sich folgende Optionen für den Verkündigungsteil: a) Christvesper: Lesung Joh 3,16–21 – Credo (z. B. EG 184 auf die Melodie von EG 24 Vom Himmel hoch) – Kantate Satz 1–3 – Predigt – Kantate Satz 4–6 [ggf. Predigt II] b) Pfingstmontag: Epistel 1 Kor 12,4–11  – Kantate Satz 1–3  – Evangelium Joh 3,16–21 – Predigt – Kantate Satz 4–6– [Predigt II] – Credo (z. B. EG 184 auf die Melodie von EG 126) c) Trinitatis: Epistel Rö 11,33–36 (oder Eph 1,3–14) – EG 139 – Kantate Satz 1–3 – Evangelium Joh 3,1–16 – [Credo] – Kantate Satz 4–6 – Predigt – [Credolied 184]192

6.3 Schöpfungstheologische Weite Auch der erste Glaubensartikel nimmt in den doxologischen Kantaten einen weiten Raum ein, z. B. in den Kantaten Lobe den Herren, den mächtigen König (BWV 137), Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut (BWV 117), Herr Gott, dich loben alle wir (BWV 130), Wer Dank opfert, der preiset mich (BWV 17) und Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 69/69a).193 Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders die trinitätstheologische Frage, wie in den Texten mit der Tatsache umgegangen wird, dass der Erlöser Jesus Christus in Zusammenhänge der Natur eingreift, also schöpferisch bzw. therapeutisch-heilend wirkt.

6.3.1 Lobe den Herrn meine Seele (BWV 69a und 69) Die aus dem ersten Leipziger Jahrgang stammende Spruchkantate zum 12. Sonntag n. Trin., Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 69a) wurde am 15. August 1723 erstmals aufgeführt. In seinen letzten Lebensjahren hat Bach sie zu einer Ratswechselkantate umgearbeitet.

192 Die Idee, EG 184 auf verschiedene Melodien, hier z. B. Brunn alles Heils, dich ehren wir (EG 140), singen zu lassen und kirchenjahresspezifisch einzufärben, findet sich in Wort-Klänge, 37. 193 Im Blick auf den Ort im Kirchenjahr fällt auf, dass der 12. und 14. Sonntag n. Trin., an denen Erzählungen einer Wunderheilung im Mittelpunkt des Evangeliums stehen, eine zentrale Rolle spielen. Vgl. oben 6.0.4. Nimmt man noch BWV 35, so sind am 12.  Sonntag n. Trin. vier doxologische Kantaten versammelt. Die ursprünglich auch zu diesem Proprium gerechnete Meine Seele rühmt und preist (BWV 189) stammt nachweislich von Melchior Hoffmann (vgl. Petzoldt I, 346–348).

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 69a)

Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 69)

1. Cho r Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

1. Cho r Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

2. Rezit ativ (S opran) Ach, dass ich tausend Zungen hätte! Ach wäre doch mein Mund Von eitlen Worten leer! Ach, dass ich gar nichts redte, als was zu Gottes Lob gerichtet wär! So machte ich des Höchsten Güte kund; Denn er hat lebenslang so viel an mir getan, dass ich in Ewigkeit ihm nicht vedanken kann.

2. Rezit ativ Wie groß ist Gottes Güte doch! Er bracht uns an das Licht, und er erhält uns noch! Wo findet man nur eine Kreatur, der es an Unterhalt gebricht? Betrachte doch, mein Geist, der Allmacht unverdeckte Spur, die auch im Kleinen sich recht groß erweist. Ach! Möchte es mir hierbei an Kräften fehlen, so will ich doch, Herr, deinen Ruhm erzählen.

3. Ar ie (Teno r) Meine Seele, auf, erzähle, was dir Gott erweisen hat!     Rühme seine Wundertat,     lass ein gottgefällig Singen     durch die frohen Lippen dringen!

3. Ar ie (Al t) Meine Seele, auf, erzähle, was dir Gott erweisen hat!     Rühme seine Wundertat,     lass dem Höchsten zu gefallen     ihm ein frohes Danklied schallen!

4. Rezit ativ (Al t) Gedenk ich nur zurück, was du, mein Gott von zarter Jugend an bis diesen Augenblick an mir getan, so kann ich deine Wunder, Herr so wenig als die Sterne zählen. Vor deine Huld, die du an meiner Seelen noch alle Stunden tust, indem du nur von deiner Liebe ruhst, vermag ich nicht vollkommen Dank zu weihn. Mein Mund ist schwach, die Zunge stumm Zu deinem Preis und Ruhm. Ach sei mir nah und sprich dein kräftig Hephata, so wird mein Mund voll Dankens sein!

4. Rezit ativ (T eno r) Der Herr hat große Ding an uns getan. Denn er versorget und erhält, beschützet und regiert die Welt. Er tut mehr, als man sagen kann. Jedoch, nur eines zu gedenken: Was könnt uns Gott wohl Bessres schenken, als dass er unsrer Obrigkeit den Geist der Weisheit gibet, die denn zu jeder Zeit das Böse straft, das Gute liebet? Ja, die bei Tag und Nacht vor unsre Wohlfahrt wacht? Lasst uns dafür den Höchsten preisen; auf ruft ihn an, dass er sich auch noch fernerhin so gnädig will erweisen. Was unserm Lande schaden kann, wirst du, o Höchster, von uns wenden und uns erwünschte Hülfe senden. Ja, ja, du wirst in Kreuz und Nöten uns züchtigen, jedoch nicht töten.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

5. Ar ie (Ba ss) Mein Erlöser und Erhalter, nimm mich stets in Hut und Wacht! Steh mir bei in Kreuz und Leiden, alsdenn singt mein Mund mit Freuden: Gott hat alles wohlgemacht!

5. Ar ie (Ba ss) Mein Erlöser und Erhalter, nimm mich stets in Hut und Wacht! [… s. linke Spalte]

6. Cho ral Was Gott tut, das ist wohlgetan, darbei will ich verbleiben. Es mag mich auf die raue Bahn Not, Tod und Elend treiben: So wird Gott mich, ganz väterlich in seinen Armen halten. Drum lass ich ihn nur walten.

6. Cho ral Es danke, Gott, und lobe dich das Volk mit guten Taten. Das Land bringt Frucht und bessert sich, dein Wort ist wohl geraten. Uns segne Vater und der Sohn, uns segne Gott, der Heilge Geist, dem alle Welt die Ehre tut, für ihm sich fürchten allermeist, und sprecht von Herzen: Amen!

Die Tenor-Arie ‚Meine Seele, auf erzähle‘ hat Bach „zur Alt-Arie in G-Dur um­ geformt, dabei statt mit Blockflöte und Oboe da caccia nunmehr mit Oboe und Violine besetzt“194. Dem von Bach zunächst (1723) vertonten Kantatentext liegt, wie Helmut K. Krausse nachgewiesen hat,195 eine zehnsätzige Vorlage von Johann Oswald Knauer zugrunde, die ein unbekannter Dichter oder Bach selbst stark gekürzt und überarbeitet hat.196 Die Sprechakte bewegen sich in der Dynamik von Selbstaufforderung zum Lob (Anrede der eigenen Seele im Du-Stil; Satz 1–3), tatsächlichem Lobpreis mit Bitte (Anrede Gottes im Du-Stil, Satz 4 f) und Vertrauensbekenntnis (Satz 6, Rede von Gott). Der zentrale Satz 4 ist ab der vierten Zeile eine echte Neuschöpfung und spielt mit dem Zitat „und sprich dein kräftig Hephata“197 auf die Heilung eines Taubstummen (Evangelium aus Mk 7) an, das machtvolle, Wunder wirkende

194 Dürr, 559. Vgl. Schulze, 385: „Da er [Bach] der Einfachheit halber die Änderungen unmittelbar in die Aufführungsstimmen der Erstfassung eintrug und die dort zu eliminierenden Rezitative und den Choral nachhaltig durchstrich, machte er eine Wiederaufführung der ursprünglichen Version unmöglich.“ Wie wir diesen Eingriff interpretieren sollen, wissen wir nicht. Wollte Bach sich von dem ursprünglichen Werk distanzieren? 195 Vgl. Krausse, 7–22, bzw. Petzoldt I, 304–311. Der ursprüngliche Text Knauers wurde in seinem Jahrgang „Gott=geheiligtes Singen und Spielen des Friedensteinischen Zions“, Gotha 1720/21 veröffentlicht. Vgl. auch BWV 64 und BWV 77. 196 Vgl. Schulze, 384: „Bachs Textfassung übernimmt lediglich die jeweils ersten und letzten drei Sätze der Vorlage. Der Erfolg dieses Verfahrens ist ein doppelter: Mit der Beschränkung auf sechs Sätze wird eine Anpassung an die anderen Kantaten der mittleren Trinitatiszeit von 1723 erreicht, außerdem führt der Verzicht auf Wiederholungen zu einer gedanklichen Straffung von literarischer und theologischer Relevanz.“ 197 Vgl. dazu auch Olearius V, 313: „HEPHATA: Wie sich eine Tür auftut (1Kön 8,29), von der Tür des Mundes (Mi 7,5). ‚Alle diese Umstände erinnern uns der geistlichen Seelen=Cur‘ (Mk 8,25). Wo der Sünder 1. muss berufen werden zur Kirche und abgesondert von der Welt. 2. Die Hand des Herrn muss alles tun (Ps 77). 3. Der Finger Gottes muss die Ohren eröffnen. 4. Christi Kraft in Wort und Sakrament da er uns anrühret. 5. Seine Fürbitte und Gebet. 6. Sein Machtspruch muss helfen (Ps 33).“

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Wort Jesu. Satz 5 zitiert die Stelle aus Mk 7 wörtlich, an der die Wirkung dieses Wortes beschrieben wird: „Gott hat alles wohlgemacht“198. Dies ist der theologische Spitzensatz nicht nur der Perikope, sondern auch der Kantate. Der doxo­ logische Tenor des Stückes zielt  – wie in der Vorlage Knauers  – auf die staunende und dankbare Wahrnehmung des gütigen Schöpferhandelns Gottes, das sich in einem ganzen Menschenleben beobachten lässt (vgl. Satz 2 und 4). Damit ist die Kantate deutlich auf den Bereich des ersten Glaubensartikels,199 mithin auf den Topos der providentia Dei200, gemünzt. Freilich finden sich im Gegensatz zu Knauer auch Anspielungen auf die eigene Fehlbarkeit bzw. auf das unvollkommene Lob (vgl. Satz 2 und 4), also auf die Sündhaftigkeit des Menschen. Insgesamt expliziert die Kantate Ps 103,2 als Motto des 12. Sonntages n. Trin.201, ohne dabei das menschliche „Unvermögen“ und die damit verbundene Zielverfehlung (vgl. Röm 3,23 bzw. 6,23a)  zu verschweigen.202 Durch die pointierte Umfor­ mulierung des Attributes „treuer Vater und Erhalter“ (Knauer) in „mein Erlöser und Erhalter“ ist eine deutlichere Anspielung auf Ps 103,4 („der dein Leben vom Verderben erlöst“) gewonnen.203 Die Vermutung einer soteriologisch motivierten Korrektur liegt nahe. Zugleich ist hier eine spirituelle Verdichtung zu greifen: Ein Mensch, der für das Wirken Gottes taub und für das Lob Gottes stumm geworden ist, wird durch das Eingreifen Jesu geistlich hellhörig und sprachfähig, „mit Gott und Menschen recht zu reden“204. In diesem Sinne können wir eine theologisch-anthropologische Pointe205 erkennen, die sich durch die ganze Kantate zieht: Gott löst bzw. öffnet dem Menschen Zunge, Mund und Lippen und ermögZur Bedeutung und Rezeption dieses Aramäismus vgl. Haselböck, Text-Lexikon, 98: „Einem Heilungswunder Jesu entstammend, wurde es später, sicherlich auch aufgrund seines fremdlän­ dischen Charakters, zum Zauberwort, vor allem im Taufexorzismus.“ 198 In Knauers Original war die Kantate zweiteilig konzipiert (vgl. BWV 17 unten) und schloss den ersten Teil mit der Choralstrophe Sollt ich meinem Gott nicht singen? ab. Der zweite Teil beginnt mit einem Bibelwort über Mk 7,36: „Er hat alles wohl gemacht.“ 199 Vgl. Luthers Kl. Katechismus zum 1. Art., BSLK 510 f: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat …“. 200 Vgl. Petzoldt I, 310 f, der eine Verknüpfung von Providenzlehre und Willensfreiheit entdeckt. 201 An dieser Stelle ist der Vergleich mit Knauers Text nochmals aufschlussreich. Bei ihm lautet die an der vorletzten Stelle des Werkes positionierte Arie: „Treuer Vater und Erhalter / walte ferner über mir. / Dir sey alles heimgestellt, / machs nur wie es dir gefällt, / denn ich überlaß mich dir.“ Diese Arie wurde in Bachs Kantate soteriologisch korrigiert: Aus dem Vertrauensbekenntnis „Denn ich überlass mich dir“ wird eine Bitte um Beistand in Kreuz und Leiden, womit ebenfalls eine christologische Konnotation im Sinne der Nachfolge oder imitatio Christi gegeben ist. Insgesamt wird so das schöpfungstheologische Profil der Knauerschen Dichtung trinitätstheologisch korrigiert. 202 Vgl. Petzoldt I, 311. 203 Petzoldt I, 305 verweist auf Olearius’ Kommentar z. St.: „alles wohl gemacht: Ps 22,32; Ps 13,6; gut, recht, löblich und nützlich (Weish 1,14); in diesem Wunderwerk absonderlich. Gleichwie in der Schöpfung (Ps 111), Erlösung und Heiligung (Gen 2,8; 1,31; Dt 32,4; Spr 26,10). […] Gottes Machen heißt Wohlmachen (Ps 37,5; Gen 1,1; Ps 39,7).“ 204 Vgl. Petzoldt I, 305 mit Hinweis auf Olearius V, 314 bzw. Sir 23. 205 Vgl. Olearius III, 565 zu Ps 103,1 f: „Denn zum Lobe Gottes gehöret Leib und Seel mit allem Wissen, Wollen und Können von ganzen Kräften (Lk 10), also dass Herz, Mund und Hand zugleich ehre den heiligen Namen des Herrn ohne alles Vergessen und Ablassen Tag und Nacht.“

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licht damit, dass er zu seiner ursprünglichen doxologischen Bestimmung (vgl. Röm 1,19)206 zurückfindet (Satz 2 und 4).207 Dadurch wird er wieder mit Freude erfüllt. Dieser Affekt (vgl. Ps 103,5) klingt besonders in den beiden Arien (Satz 3 und 5) an. Satz 3 hebt zudem ausdrücklich auf das Erzählen der Taten Gottes ab, womit ein Spezifikum des biblischen Dankliedes aufgenommen ist (vgl. Ps 30; 116; 111,2–4208). b) Musikalische Analyse Kommen wir nun zur Musik der Kantate: Nur wenige Eingangschöre aus dem Jahrgang 1723/24 erreichen den Grad an Komplexität, Virtuosität und Klangpracht, den BWV 69a aufweist: „Dem lobpreisenden Charakter des Textes entsprechend, bietet die Bachsche Komposition im Eingangschor ein für einen gewöhnlichen Sonntag überaus festliches Instrumentarium auf. Sein Zentrum und zugleich den Höhepunkt des Satzes bildet eine großangelegte Doppelfuge, deren Themendualismus aus dem Text gewonnen wird (‚Lobe den Herrn … und vergiß nicht  …‘).“209 Das häufig gewählte Prinzip von Präludium mit Fuge (vgl. BWV 76) finden wir auch hier. Folgende symmetrische Anlage ist erkennbar: Ein Orchestervorspiel (Ritornell) exponiert das Hauptthema in Trompete 1 und reicht über 24 Takte. Es erinnert in mancherlei Hinsicht an das Gloria der h-moll Messe (Tonart D-Dur, 3 Trompeten, Thema in Tr. 1, 3er-Takt, 24 Takte). Eine erste vokale Durchfürung dauert über 12 Takte und ist als Chorfuge (Permutationsfuge) über dem Continuo angelegt, wobei Bach auf eine Begleitung durch die Instrumente zunächst ganz verzichtet. Nach einem Zwischenspiel mit Instrumenten und Chor schließt sich eine zweite vokale Durchführung (T. 46–60) in die auch die beiden ersten Oboen mit obligaten Stimmen einbezogen werden. Das Thema ist verändert und nicht unmittelbar aus dem der ersten Fuge gewonnen, allerdings mit demselben Text „Lobe den Herrn, meine Seele“ unterlegt. Eine dritte Durchführung ab T. 60–78 schließt sich an, in der die Instrumente z. T. ebenfalls obligat behandelt werden. Höhepunkt ist der den Chorsatz überbietende Einsatz von Tr. 1 und Ob. 1 in T. 74. Eine vierte Fugendurchführung mit neuem Thema auf den Text „Und vergiss nicht, was er die Gutes getan hat“ folgt. Anstelle der melismatischen Behandlung des Textes finden wir nun eine kleingliedrige syllabische Diktion, der Chorsatz wird zunächst wiederum nur vom Continuo begleitet. Das Thema nehmen in T. 87 auch die Streicher auf. All dies mündet  – als Höhepunkt des Satzes  – in eine fünfte Durchführung, die als Doppelfuge gestaltet ist und die Themen der vorangegangenen drei Durchführungen im ersten und zweiten Thema (Subjekt / Kontra­ subjekt) aufnimmt. Außerdem treten die Holzbläser colla parte bzw. obligat hinzu. Durch die Gleichzeitigkeit der beiden Themen inszeniert Bach auch die theo­

206 Vgl. dazu Mattheson, VC Vorrede III, 14, bzw. oben 6.0.5, Anm. 43. 207 Vgl. BSLK 511: „des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin“. 208 Vgl. WA 31 II, 508 ff bzw. Arnold, 296–317. 209 Dürr, 559 f.

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logische Pointe des Satzes, die darin besteht, dass Menschen, die Gott loben, nicht vergessen, was er Gutes getan hat. M.a.W.: Danken gründet im Gedenken bzw. Dankbarkeit bildet den Modus einer geistlichen Achtsamkeit als anamnesis (Doppel­ fuge, T. 95–109). Eine weitere vokale Durchführung (T. 109–129) schließt sich an, die die vorangegangene dadurch übertrifft, dass in T. 117 auch die erste Trompete in strahlender Lage einen Themeneinsatz bringt. Diese mündet in eine hompophone Coda auf den Text „Lobe den Herrn, meine Seele“ (T. 130–141), wobei schon am Ende des vorangegangenen Formteils das Thema der ersten Fuge bzw. des Orchester­vorspiels wieder erklingt (T. 127–129). Damit können wir folgende Ordnung festhalten, die eine doppelte Rahmung erkennen lässt: X A B B’ C D D’ A’ X. Innerhalb der 164 Takte ist die ungefähr im vierten Fünftel des Satzes platzierte Doppelfuge (T. 95–129) als poetisch-musikalischer Höhepunkt auszumachen, der im Trompeteneinsatz T. 117 kulminiert. Im Blick auf die Behandlung des doxologischen Aspektes können wir beobachten, dass Bach das Verbum „loben“ wie sonst kein Wort innerhalb des Psalmverses durch lange Koloraturen schmückt. Die Linien sind – dem zu Gott emporsteigenden Lobopfer entspechend – meist steigend, immer wieder als Gradatio (stufenweise aufsteigende Sequenz) gestaltet. Hinzu kommen Orgelpunkte bzw. Haltetöne (vgl. etwa T. 70–72 Alt),210 welche die nachhaltige Dauer des Lobens (vgl. Apk 5,12) manifestieren. Bach schmückt aber auch das Prädikat „getan“ mit einer Koloratur (vgl. T. 82–84: T. 89) und verknüpft damit Handeln Gottes und Lob des Menschen. Er betont damit: Das Lob des Menschen ist durch Gottes Heilshandeln ermöglicht und motiviert („was er dir Gutes getan hat“). Musikalisch ist der Satz an Stringenz kaum zu überbieten: „Eine Steigerung der Bach’schen Prinzipien, Bibelwort-Chöre zu schreiben, scheint mit den seit der Kantoratsprobe erarbeiteten Techniken kaum mehr möglich.“211 Wenden wir uns nun den weiteren Sätzen zu: Das schlichte Secco (Satz 2) ist sprachlich eher eine Meditation des Psalmwortes im Sinne einer Selbstanrede („meine Seele“), also keine verkündigende Auslegung an die Gemeinde im Sinne einer predigtartigen explicatio. Bach deutet dies auch durch die Besetzung an. Der Sopran ist in der Regel die Stimme der glaubenden Seele.212 Höhepunkt ist T. 5 „was zu Gottes Lob gerichtet wär“ mit der Spitzennote a’’ bzw. T. 9 mit dem Melisma auf das Wort Ewigkeit. Satz 3 (Arie) nimmt im wiegend bewegten 9/8-Takt das Motiv der Selbstaufforderung zum Lob aus den vorangegangenen Sätzen auf und macht klar: Loben heißt: von Gottes Taten erzählen (vgl. Ps 9,2 bzw. 66,16). Entsprechend finden wir auf dem Verb „erzählen“ wieder das Haupt­gewicht schmückender Ausgestaltung, sei es durch Koloraturen (vgl. T. 20 f), die durch insistierende Wiederholungen

210 Sonst bekommt nur das Zentrum menschlicher Lebendigkeit und Personalität, die „Seele“, in der dritten Durchführung zweimal eine melismatische Hervorhebung (im Bass). 211 Küster, 207. 212 Vgl. dazu besonders die Dialogsätze BWV 21,7 und 8; 172,5 bzw. BWV 49. Eine generelle Deutung der Disposition der Singstimmen erscheint mir problematisch (vgl. ähnlich Steiger, 125).

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einzelner Wechselnoten (hier: d-e) be­sonders qualifiziert sind. Haltenoten (vgl. T. 29 und 37–39) interpretieren den Vorgang des Erzählens als nachhaltige Tätigkeit. Der B-Teil fällt (wie oft) eher kurz aus und lässt das Verb „dringen“ ähnlich wie zuvor das Erzählen durch Koloraturen „eindringlich“ werden. Satz 4 erfüllt dann, wozu die vorangeganene Arie aufgefordert hat. Es erzählt gleichsam biographisch Gottes Wohltaten und preist ihn in der persönlichen Anrede für seine Wunder, die er von Jugend an am Menschen in unzähliger Weise getan hat. Der Höhepunkt kommt am Schluss wenn das Secco in ein kleines Arioso (T. 16–18) mündet. Auslöser ist das aramäische Wort Hephata, das vollmächtige Wunderwort im Munde Jesu. Es löst dem Soloalt gleichsam musikalisch die Zunge und stiftet ihn zum Danken an, was sich in einer schönen Koloratur (T. 17) manifestiert, die ihrerseits durch eine ähnliche Bewegung im Continuo hervorgerufen wird. Die folgende Arie (Bass) ist ein Bittgesang an Gott, den Schöpfer und Er­ halter. Wie in Satz 3 haben wir einen Dreiertakt vor uns, der in sich nochmals triolisch rhythmisiert ist, also einen kleinen Dreier im großen Dreier darstellt.213 Bachs Textbehandlung ist hier äußerst aufschlussreich: Gottes „Wacht“ über den glaubenden Menschen wird durch lange Notenwerte abgebildet. Die mensch­liche Bitte um Beistand in „Kreuz und Leiden“ ist harmonisch und melodisch eindrucksvoll inszeniert (T. 36–42). Ein Passus durisuculus im Continuo (T. 37–41) zieht schmerzlich nach unten (vgl. BWV 12,2),214 ein pianissimo in der Oboe d’amore und taktweise wechselnde Septakkordrückungen lassen Momente höchster Beklommenheit entstehen. Doch dann schlägt das Leiden vehement in Freude um, der Satz moduliert nach D-Dur (Oboe, T. 45 f), eine äußerst lange, höchst virtuose Koloratur schmückt den Affekt der Freude (T. 43–48), womit einmal mehr der Zusammenhang von Freude und Lob musikalisch expliziert ist. Das Auf­ einandertreffen von Kreuz und Leiden und freudigem Dank geschieht angesichts des theologischen Spitzensatzes: „Gott hat alles wohlgemacht“ (vgl. Mk 7,37), der nun (nach nochmaliger Aufnahme von Kreuz und Freude)  reich entfaltet wird. Ein schlichter Kantionalsatz über Was Gott tut, das ist wohl getan nimmt die theologische Grundaussage als Vertrauensbekenntnis auf, ohne freilich die hymnische Kraft des Eingangschors nochmals zu erreichen. Zusammen mit Satz 5 verleiht er der Kantate eine besinnlich-meditative Note. Damit ist das Lob „geerdet“irdisch. Es geschieht unter dem Vorzeichen göttlicher Güte und Treue, dem das Vertrauen der Glaubenden entspricht.



213 Die Tatsache, dass Bach in dieser Kantate zwei ähnliche rhythmisch-metrische Modelle präsentiert, sie aber unterschiedlich notiert, lässt darauf schließen, dass er auch die musikalische Ausführung unterschiedlich realisiert wissen möchte: Die Punktierungen wären dann nicht triolisch, sondern duolisch (3:1) zu spielen. 214 Vgl. oben 2.3.1.

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c) Liturgische Überlegungen BWV 69a passt – besonders wegen der wörtlichen Anspielung auf Mk 7 in Satz 4 – nach wie vor hervorragend zum 12. Sonntag n. Trin. Es wäre aber auch im Rahmen eines Erntedank- oder (z. B.) eines goldenen Konfirmationsgottesdienstes denkbar. Eine Zäsur ist musikalisch nach Satz 3 oder nach Satz 4 sinnvoll, der deutlich auf das Evangelium gemünzt ist. a) Alttestl. Lesung Psalm 103 – Wochenlied EG 289 (Nun, lob mein Seel)– Kantate Satz 1–3 – Evangelium Mk 7,31–37 – [Credo] – Kantate Satz 4–5 – Predigt – Kantate Satz 6 – [Credo] b) Psalmgebet Ps 103 – Epistel – Wochenlied EG 289 – Evangelium Mk. 7,31–37 – Satz 1–4 Kantate – Credo – Predigt – Satz 5 und 6

6.3.2 Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut (BWV 117) BWV 117 ist das seltene Beispiel einer Choralkantate per omnes versus, in der ein Choraltext übernommen und für alle Sätze der Kantate gleichermaßen unver­ ändert verwendet wird.215 Das Lied wurde erstmals als Anhang abgedruckt in der im Jahre 1673 anonym (von J. J. Schütz) veröffentlichten Sammlung „Geistliches Gedenkbüchlein zur Beförderung eines anfangenden neuen Lebens“, die stark vom Pietismus Speners und Petersens216 geprägt ist. Der Text des Chorals und die Satzbezeichnungen Bachs lauten folgendermaßen, wobei zu beachten ist, dass Bach die arien­artigen Sätze 3; 6 und 7 nicht eigens als solche bezeichnet: 1. Cho ral Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte, dem Gott der alle Wunder tut, dem Gott der mein Gemüte mit seinem reichen Trost erfüllt, dem Gott, der allen Jammer stillt. Gebt unserm Gott die Ehre! 2. Vers us 2. Rezit ativ ( BAss) Es danken dir die Himmelsheer, o Herrscher aller Thronen, und die auf Erden, Luft und Meer in deinem Schatten wohnen, die preisen deine Schöpfermacht, die alles also wohl bedacht. Gebt unserm Gott die Ehre!

215 Vgl. sonst Christ lag in Todesbanden (BWV 4), In allen meinen Taten (BWV 97), Was Gott tut, das ist wohlgetan (BWV 100), Was willst du dich betrüben (BWV 107), Der Herr ist mein getreuer Hirt (BWV 112); Gelobet sei der Herr (BWV 129), Lobe den Herren, den mächtigen König (BWV 137), Ich ruf zu dir (BWV 177), Nun danket alle Gott (BWV 192). 216 Vgl. Petzoldt I, 331.

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3. Vers us 3 (Teno r ) Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten, darüber will er früh und spat mit seiner Güte walten. In seinem ganzen Königreich ist alles recht ist alles gleich. Gebt unserm Gott die Ehre! 4. Vers us 4 Cho raliter Ich rief dem Herrn in meiner Not: Ach Gott erhör mein Schreien! Da half mein Helfer mir vom Tod und ließ mir Trost gedeihen. Drum dank, ach Gott, drum dank ich dir; ach danket, danket Gott mit mir! Gebt unserm Gott die Ehre! 5. Vers us 5 Rezit ativ (Al t) Der Herr ist jetzt und nimmer nicht Von seinem Volk geschieden, er bleibet ihre Zuversicht, ihr Segen, Heil und Frieden; mit Mutterhänden leitet er, die Seinen stetig hin und her. Gebt unserm Gott die Ehre! 6. Vers us 6 (Ba ss) Wenn Trost und Hülf ermangeln muss, die alle Welt erzeiget, so kommt, so hilft der Überfluss, der Schöpfer selbst, und neiget die Vateraugen denen zu, die sonsten nirgend finden Ruh. Gebt unserm Gott die Ehre! 7. Vers us 7 (Al t) Ich will dich all mein Leben lang o Gott, von nun an ehren; man soll, o Gott, den Lobgesang an allen Orten hören. Mein ganzes Herz ermuntre sich, mein Geist und Leib erfreue sich: Gebt unserm Gott die Ehre! 8. Vers us 8 Rezit ativ (T eno r) Ihr, die ihr Christi Namen nennt, gebt unserm Gott die Ehre! ihr, die ihr Gottes Macht bekennt, gebt unserm Gott die Ehre! Die falschen Götzen macht zu Spott,

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der Herr ist Gott, der Herr ist Gott: Gebt unserm Gott die Ehre! 9. Vers us 9 Cho ral So kommet vor sein Angesicht mit jauchzenvollem Springen; bezahlet die gelobte Pflicht Uns lass uns fröhlich singen: Gott hat es alles wohl bedacht und alles, alles recht gemacht. Gebt unserm Gott die Ehre!

a) Hymnologische Analyse Dogmatisch springt ins Auge, dass von Christus in allen neun Strophen nicht explizit die Rede ist.217 Es geht vielmehr um eine doxologisch entfaltete Schöpfungsund Providenztheologie, deren Motto „Gebt unserm Gott die Ehre“ dem Moselied entnommen wurde (Dtn 32,3). Diese Beobachtung mag angesichts der im Partiturautograph fehlenden De-tempore-Bestimmung zunächst nicht überraschen, könnte es sich bei dieser Kantate doch um eine Festmusik anlässlich einer Trauung oder eines anderen Dankgottesdienstes handeln.218 Auf der anderen Seite hat Petzoldt festgestellt, dass die De-tempore-Hinweise des Dresdner (1725) und des Leipziger Gesangbuches (1734) „eine Bestimmung des Liedes für den 12. Sonntag nach Trinitatis nahe[legen]“219. Schulze sieht dies auch in späteren Gesangbüchern Sachsens und Thüringens bestätigt.220

Wichtigster Anknüpfungspunkt an das Evangelium aus Mk 7 (Heilung eines Taub­stummen) ist die Formulierung in der letzten Strophe: „Gott hat es alles wohl bedacht221 / und alles, alles recht gemacht“ (vgl. Dtn 32,6), die sich mit Mk 7,37b nahezu deckt: Er hat alles wohl gemacht, die Tauben macht er hören und die Sprachlosen redend. Außerdem bringt Str. 4 das Stichwort „Wunder“ ins Spiel und beschreibt, wie ein Mensch sich in seiner Not an Gott wendet. Das konnte der Taubstumme aus Mk 7 zwar nicht selbst tun, aber Andere „baten für ihn“ (Mk 7,32). Doch schauen wir nun auf die poetische Struktur des Chorals von Johann J. Schütz:222 Alle Strophen haben als siebente Zeile das aus Dtn 32,3 entlehnte „Soli Deo Gloria“223 als Kehrreim: „Gebt unserm Gott die Ehre.“ Dieser Vers ist bis auf Str. 8,

217 Petzoldt I, 333 f möchte die ganze Kantate christologisch bzw. trinitätstheologisch verstehen, indem er die Auslegung des Johann Olearius zu Dtn 32 heranzieht. Dies möchten wir für die Ohren eines Theologen des frühen 18. Jahrhunderts nicht ausschließen, ist aber aus dem Choral selbst nicht belegbar. 218 Vgl. Küster, 359; Dürr, 859. 219 Petzoldt I, 331. 220 Vgl. Schulze, 559. 221 Vgl. auch oben 6.3.1, BWV 69a,5. 222 Vgl. EG 326, wir verzichten daher auf einen vollständigen Abdruck. 223 Vgl. Petzoldt I, 332 mit dem Hinweis auf das Dresdner Gesangbuch von 1725/36, das weder die uns geläufige noch die von Bach ausgewählte Weise (Es ist das Heil uns kommen her), sondern

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wo er dreimal kommt, ohne eine gereimte Entsprechung in den vorhergehenden Zeilen und somit auch poetisch herausgehoben (verwaister Reim). Str. 1 und 9 bilden den doxologischen Rahmen im Sinne eines „Aufgesangs“ mit den Imperativen „Sei Lob und Ehr“ bzw. „So kommet vor sein Angesicht!“. Str. 9 vollzieht den Übergang in eine unmittelbare liturgische Situation („vor sein Angesicht“). Ein vierfacher Dativ mit der Anapher „Dem Vater“ bzw. „Dem Gott, der …“ entfaltet in Str. 1 Gottes Wirken in hymnischem Partizipialstil. Gott ist in dieser Strophe beides, das „höchste Gut“, der Gott, der alle Wunder tut, also der Allmächtige; zugleich aber auch der Vater, der Gott, der einerseits „mein Gemüte mit seinem reichen Trost erfüllt“ und andererseits „allen Jammer stillt“. Gott ist der tran­szendente und der barmherzige Gott, und das ganz und ungeteilt, was durch das Attribut „alle[s]“ angezeigt wird.224 In Str. 2 vereinen sich die Geschöpfe aller Sphären, also himmlische Welt und irdische Welt, Engel, Menschen und Natur, zum Lob des Schöpfers (creatio originans), der „alles also wohl bedacht“ hat (vgl. Gen 2,4a) und preisen seine „Schöpfermacht“225. Str. 3 bekennt in Anlehnung an Ps 117,2 und 148,5 f den Schöpfer als Erhalter (conservatio) und König (guber­ natio), der Gleichheit und Recht gelten lässt. Der Hymnus geht also von der creatio originans also in die creatio continua über: Die Strophen 1–3 bilden somit eine Einheit, in der dogmatisch die „Eigenschaften Gottes“, seine Schöpfung und Providenz nacheinander behandelt werden, wobei zum einen der kosmologische Akzent des Lobpreises226 in Str. 2 (vgl. Ps 103,20 f; Sir 39,19.21; vgl. Jes 55,12 f bzw. den Gesang der Männer im Feuerofen und Kol 1,16) und zum andern der durch das Wort „alle“, „alles“ in allen drei Strophen (je zweimal) angezeigte Totalitätsaspekt auffallen. Str. 4 fällt in gewisser Weise heraus, weil hier auf eine erhörte Klage zurückgeblickt wird und so die Struktur Klage – Erhörung bzw. Trost – Dank durchsichtig wird. Charakteristisch ist der Wechsel zur 1. Pers. Sg., der diese Strophe als persönliches Bekenntnis kennzeichnet. Das Stichwort Trost aus Str. 1 wird in diesem kleinen „Danklied“227 eines Erretteten, das der Kern des ganzen Chorals sein könnte, wieder aufgegriffen. Die Zeile „Ach Gott, vernimm mein Schreien“ atmet die Todesnot der Klagepsalmen, u. a. unterstrichen durch den Tempuswechsel zum Präsens. Str. 5 knüpft mit dem Thema der „Leitung mit Mutterhänden“ (vgl. Jes 46,3 f) an Str. 3 an und expliziert diese durch die Begriffe Segen, Heil und Frieden, womit der göttliche Schalom für „sein Volk“ bezeichnet wird. Str. 6 ist durch das Stichwort „die Melodie ‚Allein Gott in der Höh sei Ehr‘ [empfiehlt]“ und bezeichnenderweise „S. D. G. [Soli Deo Gloria] 5.B.Mos 32“ darüber schreibt. 224 Vgl. Bayer, Schöpfung, 94: „Das glaubende Ich sieht sich in eine Weite hineingerufen und schaut sich darin staunend um. Bestimmend ist keine Selbstverkrümmung in der Enge, Angst, Geiz und Sorge, sondern eine in den ‚All‘-Formulierungen zur Sprache kommende Fülle, die den Beschenkten offen, frei, freigebig und vertrauensvoll sein läßt.“ 225 Diese Strophe erinnert auch an den Lobgesang aus Ps 104 und Jes 6 und an den ersten Teil des Te Deum laudamus, vgl. auch Arnold, 496–501. 226 Vgl. oben 6.0.3, c). 227 Das zentrale Verbum danken kommt viermal vor, es ist mit den rhetorischen Mitteln der Epanalepsis, vgl. Bartel, 160–162 („drum dank, ach Gott, drum dank“) und der Epizeuxis, vgl. Lausberg, § 617 mit Hinweis auf Jes 40,1 (hier: „danket, danket Gott“) besonders hervorgehoben.

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„Schöpfer“ mit Str. 2 verknüpft. Besonders schön ist die „kondeszendente“ Formulierung „und neiget die Vateraugen denen zu, die sonst nirgend finden Ruh“. Es entsprechen sich außerdem pointiert die „Mutterhände“ von Str. 5 und die „Vateraugen“ (Ps 32,8) von Str. 6. Str. 7 beinhaltet ein persönliches Lobbekenntnis (1. Pers. Sg., vgl. sonst Str. 1 und 4), in dem „Herz, Geist und Leib“ als anthropologische Totalität angesprochen werden, die beim Loben dabei sind. Der Mensch wird beim Loben sukzessive geistlich ergriffen (vgl. Ps 104,33). Er beginnt im Herzen zu singen, dabei kommen Geist und Seele zum Klingen und die ganze Person zum Loben, was an der Häufung von Totalitätsaussagen deutlich wird.228 Str. 8 ist eine Art paränetische Fokussierung des ersten Gebots (Ex 20,2 f), in der der Kehrreim „Gebt unserm Gott die Ehre“ dreimal fanfarenartig zwischen­ geschaltet (Epanalepsis) ist. Dies ist die einzige Stelle, an der der Name Christi fällt, ohne dass dies aber weiter entfaltet würde. Ferner findet sich hier die emphatische Epizeuxis „Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott“, ein Glaubensbekenntnis, das der Selbstvorstellung Gottes im Dekalog (Ex 20,2 vgl. Ex 6,3) entspricht. Petzoldt deutet die Aufforderung „Die falschen Götzen macht zu Spott!“ als Anspielung auf die Erzählung des Konfliktes zwischen Elia und Baalspriestern auf dem Karmel (1 Kön 18).229

Der paränetische Grundtenor, verbunden mit der Aufforderung, Gottes Namen zu nennen,230 setzt sich in der letzten Strophe fort. Hier wird auf den Gedanken des Lobopfers als „gelobte Pflicht“ abgehoben, der mit dem Kehrreim ja bereits das ganze Stück durchzogen hat. Dies wird mit zwei nachdrücklichen Choral­ zeilen begründet: „Gott hat es alles wohlbedacht und alles, alles recht gemacht“. Hier ist wieder das rhetorische Mittel der Epizeuxis und der Epanalepse eingesetzt (vgl. Str. 4 „danket, danket“). Versucht man eine Gliederung der einzelnen Strophen, so kann man jeweils Str. 1–3 und Str. 5–7 zu einer Sinneinheit zusammenfassen, die auch zueinander in Beziehung stehen. Str. 5 korrespondiert inhaltlich mit Str. 3 (providentia Dei), Str. 6 ist durch die Stichworte „Trost“ und „Vater“ mit Str. 1 verbunden, Str. 7 ähnelt in ihrem doxologischen Grundtenor am ehesten Str. 2: Was dort von der Totalität der Welt gesagt wurde (Himmel, Erde, Luft und Meer) soll auch von dem ganzen Menschen (Herz, Geist, Leib) gelten. Es ergibt sich also (mit Strophe 4=X) für Str. 1–7 die komplexe Abfolge ABCXC’A’B’. Die abschließenden beiden Strophen lassen sich als Erweiterung von B’ verstehen, insofern hier alle Christen oder gar alle Menschen (vgl. Phil 2,11) aufgefordert werden, Gott das Lob­opfer darzubringen.



228 VGl. dazu auch Paul Gerhardts Programmstrophe EG 324,1 (Ich singe dir mit Herz und Mund). 229 Vgl. Petzoldt I, 331 und 337. 230 Vgl. Petzoldt I, 337: „Nennen des Christusnamens heißt vor Ungerechtigkeit zurücktreten (2 Tim 2,19c), Gottes Macht zu bekennen, heißt seine Knie vor ihm zu beugen und Gott als den Lebendigen zu glauben (Rm 14,11)“.

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b) Musikalische und theologische Analyse der Kantate Im Blick auf die poetisch-musikalische Disposition fällt zunächst auf, wie Bach mit der Textvorlage umgeht. Außer im schlichten (Choral)-Satz 4 wird in allen Teilen der „Soli-Deo-Gloria-Kehrreim“ mehrfach wiederholt und kompositorisch auf unterschiedliche Weise hervorgehoben. Er erklingt je dreimal in Satz 1, 3, 8 (Original) und 9; je viermal in Satz 2 und 5 sowie je siebenmal in Satz 6 und 7. Diese Amplificatio bzw. mehrfache Epizeuxis gibt dem Kehrreim besonderes Gewicht. Das zentrale Substantiv Ehre wird dabei häufig durch Koloraturen (vgl. 117,2, T. 18 ff; 117,3, T. 51 ff; 117,5 T. 9 ff; 117,6: T. 39 ff; 117,7; T. 49 ff) geschmückt, die Syllabik also durch Melismatik ersetzt. Die gesamte Kantate ist deutlich auf Symmetrie angelegt. Die Vertonung von Str. 9 des Chorals ist eine identische Wiederholung des Eingangschors, so dass ein starker Rahmen gesetzt ist (vgl. BWV 172,1). Die Symmetrie231 wird aber nicht so konsequent verfolgt, dass auch die exakt in der Mitte liegende Strophe 5 dazu auserkoren wäre, den chorischen Choralsatz zu bekommen, dies bleibt der theologisch herausragenden Str. 4 (erhörte Klage) vorbehalten, die somit auch musikalisch hervorgehoben wird. Vielleicht wurden Satz 5–9 als pars secunda nach der Predigt (sub communione) musiziert. Von den poetisch-musikalischen Einzelgattungen der Kantate ergibt sich folgende modifiziert symmetrische Anlage: Chor – Rezitativ – Arie – Choral; Rez. – Arie – Arie – Rez. – Chor, also: ABC D B’C’C’’B’’A’. Als Choralmelodie verwendet Bach nicht die heute geläufige Melodie Crügers (EG 326), sondern eine reformatorische Weise (EG 342: Es ist das Heil), die in Satz 4 im barocken Original vorliegt. Sehr ausdrucksstark ist die Melodik in den Unterstimmen bei „Schreien“ (angesprungener Vorhalt im Tenor; Dreiklangsbrechung im Bass): Hier wendet sich die Melodik unmittelbar nach oben, während sie davor das Vernehmen Gottes durch eine fallende Linie andeutet (Tenor). Doch nun zur Analyse des Chor- und Orchestersatzes, dem Schulze zu Recht eine „verinnerlichte Heiterkeit“ und „unerwartete Leichtigkeit“232 zubilligt. Anklänge an den Choral finden sich bereits im polyphonen Ritornell des Eingangschors. Das Ritornell verlangt eine bewegliche, ja virtuos musizierende Con­tinuoGruppe, Flöten, Oboen und Geigen sind gleichsam „verdreifacht“, also nicht jeweils mit einer eigenen obligaten Stimme vertreten. Es spielen somit fast immer mindestens zwei Instrumente zusammen. Erst mit dem Einsatz des Chores Sei Lob und Ehr ändert sich die Situation: Eine halbtaktige Dreiklangsbrechung „huscht“ durch die drei unisono spielenden Instrumentengruppen (Vl. 1/2, Ob. 1/2; Fl. 1/2), in der Partitur geschieht das sinnenfälligerweise von unten nach oben: Das Lobopfer „steigt gen Himmel“ (T. 25 f). Bei dem kurzen Zwischenspiel (T. 28–32) musizieren dann wieder die jeweils ersten und zweiten Stimmen gemeinsam, wohingegen bei den Worten „dem Vater aller Güte“, genau das Umgekehrte geschieht: Die Stimmen fallen mit demselben Motiv nach

231 Vgl. Petzoldt I, 332. 232 Vgl. Schulze, 560, vgl. Reddemann, 94.

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unten (Fl-Ob-Vl), womit das „Herabneigen“ des gütigen Gottes abgebildet wird. Die Wieder­holung des Stollens bringt eine weitere „Neuigkeit“: die vokalen Unterstimmen ATB imitieren einander ebenso im polyphonen Satz wie die jeweils in Paaren musizierenden hohen Instrumente. Damit wird die Schönheit und Vielfalt  – „alle“ wird durch Koloraturen geschmückt  – der göttlichen Wundertaten ausgelegt.233 Ähnlich dürfte Bach die beiden polyphonen Stellen im Abgesang des Chorals gemeint haben: Einmal wird der „reiche Trost“ (T. 56–58), das nächste Mal die Stillung „allen Jammers“ durch die Satzstruktur erhellt. Besonders wichtig scheint ihm die zuletzt genannte Stelle (T. 65–67): Hier überlagert er den vierst. Chorsatz mit einem Unisono der sechs Instrumente, die den mit dem Choral verwandten Kopf des Ritornell-Hauptthemas zitieren und damit möglicherweise auf Satz 4 (Erhörung der Klage)  vorausweisen. Im abschließenden „Kehrreim“ wiederholt sich das musikalische Mittel von T. 25 f und 31 f in variierter Form: Sechsmal ziehen paarweise unisono durchhuschende Gruppen von je sechs Sechzehnteln durch den Orchestersatz, ehe in T. 77 das Ritornell vom Anfang wiederkehrt, das sich mit der zweifachen Wiederholung des Kehrreims in Alt, Tenor und Bass überlappt. Diese drei Stimmen singen ihn also dreimal, weisen damit auf Str. 8 voraus und deuten damit eine trinitarische Doxologie an.

In Satz 2 ist exemplarisch zu sehen, wie Bach die doxologischen Begriffe „preisen“ (T. 6) und „Ehre“ (vgl. T. 18–20; 23 f)  durch Koloraturen schmückt und dadurch besonderes hervorhebt. Die erste Phrase „Es danken dir“ ist als aufsteigende Linie (Anabasis) komponiert, die ihre Spitzennote beim Personalpronomen Dir (Gott) erreicht. Mit der exponierten Spitzennote e’ auf „Dir“ (Hyperbole) korrespondiert weiter unten die „Luft“ im Sinne einer bildhaften Ab­bildung dessen, was „im Himmel“ ist. Das Hauptgewicht hat allerdings nicht das sylla­bische Secco (neun Takte), sondern ein beim Kehrreim (ab T. 9) beginnendes Arioso im 3/8-Takt mit einem rhythmisch straffen kontrapunktischen Motiv (Figura corta) im Continuo. Bach leuchtet den viermal wiederholten234 Text durch verschiedene Wortakzentuierungen aus. Das nächste Rezitativ (Satz 5) ist ebenfalls zweiteilig. Vor dem Kehrreim finden wir den Gesang des Solo-Alts durch eine Streicherbegleitung unterlegt, der ariose Kehrreim selbst ist danach nur noch zweistimmig, allerdings mit kano­ nischen Imitationen des Continuo, in der Satzstruktur, also ähnlich wie Satz  2, T.  9 ff. Möglicherweise soll die musikalische Form des Kanon den Text „mit Mutterhänden leitet er“ unmittelbar plausibel machen: das Continuo folgt der „mütterlichen“ Altstimme nach. Hier sind besonders „unser“ und „Gott“ durch die natürlichen Taktschwerpunkte sowie das „Ehre“ durch Melismen hervorge­

233 Vgl. Simpfendörfer, 95: „Während er [Bach], entsprechend der Barform des Chorals, für die vierte Zeile einfach die Musik der zweiten übernimmt, faßt er für die dritte Zeile ‚dem Gott, der alle Wunder tut‘ die Musik in den Begleitstimmen neu: nicht mehr homophon-akkordlich, sondern polyphon-imitatorisch.“ 234 Petzoldt I, 334 deutet: Mit „der Zahl 4 ist – auch ohne die unbeherrschbaren Künste der Zahlensymbolik zu bemühen! – das Symbol der geschaffenen Welt genannt (vier Himmelsrichtungen […], Tageszeiten, Jahreszeiten, Weltregionen: Himmel, Erde, Luft, Wasser).“

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hoben.235 Die dreifache Tonwiederholung „un- serm – Gott“ und die Tatsache, dass dieses Wiederholungsmotiv in Singstimme und Continuo je dreimal vorkommt (Vgl. T. 9 f; 13 f; T. 16.18) verweist auf die Fülle des Heilshandelns des dreieinigen Gottes. Das Motiv selbst stammt vom thematischen Kopf der Choralmelodie (vgl. „Es ist das Heil“ bzw. „Sei Lob und Ehr“… ): Zuletzt können wir mit der Aufforderung zum Lob das energetische Motiv der Figura corta beobachten, das sich in diesem Satz ab dem Stichwort „Ehre“ findet und auch in der folgenden Arie als tragend und ansteckend erweist. Das letzte Rezitativ (Satz 8) ist als Secco vergleichsweise konventionell ge­ arbeitet, mit seinem dreifachen Ruf „Gebt unserm Gott“ steht es in innerem Zusammenhang zu den aufwändigeren Sätzen 2 und 5, wo der Kehrreim (von Bach, nicht vom Dichter!) ebenfalls dreifach amplifiziert war. An der Stelle „die falschen Götzen“ verdunkelt sich die Harmonie kurzzeitig zu einem verminderten Sept­ akkord, während die Singstimme unmittelbar zuvor in einer schönen Linie in aufsteigenden Terzen den Text „die ihr Gottes Macht bekennt“ auslegt: Das doxo­ logische Bekenntnis steigt als Lobopfer nach oben. Bachs Textbehandlung in den arienartigen Sätzen, die angesichts der Choralvorlage keine Da capo-Formen aufweisen,236 verdient ebenfalls Beachtung. Dabei sind besonders die von ihm selbst vorgenommenen Textwiederholungen und die melismatische Hervorhebung sinntragender Begriffe zu bedenken. In Satz 3 finden sich Koloraturen auf den sinntragenden Verben „erhalten“ und „walten“ bzw. bei „Königreich“ und „Ehre“ als Attributen der Regentschaft Gottes. Sie versinnbildlichen durch ihre große Ausdehnung den langen Atem der erhaltenden Güte und Gnade (vgl. Ps 117,2) bzw. schmücken die königliche Macht und Ehre Gottes (T. 39–42; 51–54). In T. 26 bleibt die Singstimme bei dem Adverb „darüber“237 auf der Spitzennote g’ stehen, gleichzeitig fallen die beiden Soloinstrumente in Skalen herab: Gottes Gnade wird gleichsam „ausgeschüttet“. Bei dem Worten „alles“ bzw. „alles gleich“ (T 44 f) fügt Bach zwei weitere Wiederholungen ein, um die Vollkommenheit des göttlichen Wirkens anzuzeigen, er nimmt damit das poetische Mittel der Epizeuxis aus dem Text des Chorals (vgl. Str. 4: „danket, danket“ bzw. Str. 8: „alles, alles“) musikalisch auf.238 Das Wörtchen „alle“ bekommt auch in Satz 6 besonderes Gewicht durch zwei große Koloraturen (T. 11.15). Das Substantiv „Ruh“ (T. 34 f)  ist wie häufig bei

235 Das eingängige Motiv „Gebt unserm Gott“ mit drei emphatischen Viertelnoten wird übrigens in der folgenden Bass-Arie (Satz 6) wieder aufgegriffen und dreimal (wie im Rezitativ) verwendet (T. 38 f; 42 f; 49). Eine solch starke Verklammerung findet sich sonst in der Kantate nicht, möglicherweise möchte Bach „Mutterhände“ und „Vateraugen“ und damit Providenz und Schöpfung so nahe wie möglich aneinanderrücken. 236 Vgl. Schulze, 561: „Die drei Arien, Satz 3,6 und 7 der Kantate zeigen, was Erfindungs- und Gestaltungskraft anbelangt, den Komponisten auf der Höhe seiner Schaffenskraft.“ 237 Vgl. Petzoldt I, 334. 238 Petzoldt, a. a. O., vergleicht den Einsatz der Singstimme im „Abgesang“ des Chorals auf den Text „in seinem ganzen Königreich“ mit dem Ruf eines „Herolds“. Denkbar ist allerdings auch, dass der Themenkopf des Choralbeginns damit noch einmal aufgenommen wird: Nimmt man T. 38 und 42 zusammen (ohne die Koloratur dazwischen), so ergeben sich die Noten des Choralbeginns!

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Bach durch lange Liegetöne expliziert;239 bei dem Wörtchen „nirgend“ findet sich wieder eine Epizeuxis (vgl. T. 29; 33), verbunden mit einer Abruptio in der Singstimme, Continuo und Solovioline. Bemerkenswert ist die musikalische In­ szenierung des Herabneigens der Vateraugen (T. 27 f): Die Solovioline bewegt sich zunächst diatonisch über der Wechselnote e’, dann durchmisst sie in Zweierbindungen den Oktavraum oben nach unten. Der Kehhreim „Gebt unserm Gott“ wird mit demselben Motiv (drei Viertel auf: „un- serm Gott“) herausgehoben wie im vorangegangen Rezitativ, damit entsteht ein Bezug zwischen den einzelnen Sätzen über den Themenkopf des Chorals. Die ganze musikalische Faktur von T. 38–57 ist aus dem vorangegangenen Rezitativ gewonnen, mit dem Unterschied, dass hier drei Stimmen (Vl; Solo-Bass; Continuo) in das polyphone Geflecht einbezogen sind. Wieder ist die vorwärtsdrängende Figura corta die Keimzelle. Und wieder wird das Dreiton-Motiv dreimal in der Singstimme (T. 38.43.49) bzw. in der konzertierenden Violine (T. 40 f; 44 f; 48 f) zitiert. Eingeleitet wird der doxologische Schlussteil „Gebt unserm Gott“ durch zwei instrumentale Anabasisfiguren in T. 36 (Vl.) und T. 37 (Vl. und Continuo) und eine klare Kadenz nach D-Dur, womit dieser Teil von dem lyrischeren h-Moll des ersten Teils der Arie ab­ gegrenzt wird. Die siebenfache Wierholung des Kehrreims ergibt sich aus der Addition der dreifachen (Versus 1; 3) und der vierfachen (Versus 2; 5).

Satz 7 korrespondiert mit Satz 3, insofern hier Blasinstrumente eingesetzt sind, die Taktarten 6/8 bzw. 3/4 verwendet werden240 (beide haben sechs Achtelnoten und ein kleines bzw. größer schwingendes Dreier-Metrum241) und die ersten vier bzw. fünf Töne des Ritornell-Themas „Geschwister“ in Dur und Moll sind. Theologisch-inhaltlich können wir in beiden „Arien“ eine responsorische Entsprechung entdecken: Ging es in Satz 3 um die Erhaltung der Schöpfung, so wird in Satz 7 die Freude an der Schöpfung thematisiert. „Der Inhalt der Strophe lässt sich unschwer als persönlicher Lobpreis des geheilten Taubstummen hören […], der sich ebenso wenig wie die anwesende Menschenmenge des Evangeliums von der Mahnung Jesu, niemandem etwas von der Heilung zu sagen (Mk 7,36), am Gotteslob hindern lässt.“242 Als Zusammenfassung und Bündelung des liturgisch-musikalischen Zusammenspiels können wir die enorme Konvergenz festhalten, die sich zwischen der

239 Vgl. Petzoldt I, 335: „Das Finden der Ruhe […] hat nichts mit quietistischen Vorstellungen zu tun, sondern mit jender Erfüllung, die Menschen allein in der Existenzweise Jesu finden können (Mt 11,28–30).“ 240 Warum Bach diese wunderbare Arie nicht als 9/8-Takt (Triolen im 3/4-Takt) notiert hat, kann hier nicht diskutiert werden. Für die Ausführenden bleibt die Frage, ob Bach die Punktierungen triolisch (2+1) oder aber duolisch (3+1) ausgeführt haben will, was dann eine gewisse „Widerständigkeit“ mit sich bringt. Vielleicht geht es ihm angesichts der zahlreichen Totalitätsaussagen (mein Leben lang; an allen Orten) hier ganz bewusst um eine möglichst vielfältige, der Vielfalt des Lebens gerecht werdende Rhythmik 241 Finke-Hecklinger ordnet die Arie 117,3 einer eher raschen Tanzgattung zu, die sie als „Giga-Pastorale“ bezeichnet (a. a. O., 110), während sie 117,7 der Sarabande zuweist (a. a. O., 141, Anm. 4). 242 Petzoldt I, 336.

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doxologischen Zielaussage des Evangeliums „Er hat alles wohlgemacht“ nochmals in der letzten Strophe des Chorals ergeben. Dazu ist der Kommentar des Olearius zu Mk 7,37 zu konsultieren: „Alles wohl. Kalos panta pepoieke [=Wohl hat er alles gemacht] (Ps 22,32; Psalm 13,6)243, gut, recht, löblich und nützlich. […]. Gleichwie insgemein (Ps 111) in der Schöpfung, Er­ lösung und Heiligung (Gen 2,8; 1,31; Dtn 32,4; Prv 26,10) […]. Wenn gleich alle Menschen, alle Engel und alle Kreaturen, ja alle Tröpfein Wassers, alle Stäublein der Erden, alle Augen aller Tiere / alle Schuppen aller Fische […] lauter Zungen wären und als beglaubigte Zeugen (Hebr 12,1; Mk 8,9) eine vernünftige Rede und Wort[e] aussprechen könnten, so würden sie dennoch nichts Anderes sagen können als allein dieses: Er hat alles wohl gemacht. Gottes Machen heißt Wohlmachen […] das ist der alles Unglück weit übertreffende herrliche Trost.“244

Die hohe Affinität zwischen Versus 9 und diesem Zitat besteht in der Anhäufung kosmologischer Totalitätsaussagen (alles, alles),245 die an der Sprache hymnischer Psalmen (vgl. etwa Ps 8,2; 19,5; 148; 150,6) orientiert sind. Für Olearius konvergieren demnach die Lobversprechen der Klagepsalmen 13 und 22 und der hymnische Ps 111 mit den Schöpfungsaussagen aus Gen 1,28.31, mithin Gottes Handeln in Geschichte und Natur, creatio originans und creatio continua. Ob wir angesichts des Begriffes „Trost“ von einer trinitätstheologischen Pointe246 sprechen können, sollte eher offen bleiben. Dennoch ist auffällig, wie Olearius von einer „virtuellen Gemeinschaft aller Geschöpfe“ ausgeht, die unsere These vom kosmologischen Aspekt des Lobpreises247 (musica mundana)  noch einmal stark macht. BWV 117 ist „als Ganzes ein Meisterwerk von seltener Geschlossenheit“248 und spricht deshalb auch bis heute viele Menschen unmittelbar an. Wichtig ist, dass mit Str. 4 eine Erfahrung mitschwingt, die auch das Dunkle der conditio humana zur Sprache bringt, sonst wären der Choral und die hier ausgelegte Kantate möglicherweise zu „glatt“ oder gar „enthusiastisch“. c) Liturgische Überlegungen Ohne den ursprünglichen liturgischen Hintergrund von BWV 117 mit letzter Sicherheit ausmachen zu können, bieten sich zwei oder drei Orte besonders an. Denkbar sind Gottesdienste anlässlich einer Trauung oder (goldenen) Konfirmation, besser scheinen allerdings der 12. oder 14. Sonntag n. Trinitatis oder auch das Erntedankfest:



243 Bei der Auswahl der Schriftstellen fällt auf, dass Olearius hier auf zwei klassische Klagepsalmen rekurriert, die mit einem Lobpreis bzw. Lobversprechen enden, und somit die Erhörung aus einer Not ins Gedächtnis rufen (vgl. dazu ausführlich oben Kap. 2). 244 Olearius V, 314. Hat Olearius damit die Leibnizsche These der besten aller möglichen Welten nicht in gewisser Weise schon vorweg genommen? Vgl. dazu oben Abschnitt 2.0. 245 Vgl. Simpfendörfer, 294 f. 246 Vgl. Petzoldt I, 338. 247 Vgl. Ps 19,2.5 bzw. oben 6.0.3 c). 248 Schulze, 562.

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Erntedank: Epistel (vgl. Reihe V) 1 Tim 4,4 f – Wochenlied EG 324 – Evangelium Mt 6,25–34 – [Credo] – Kantate Satz 1–4 – Predigt I – Kantate Satz 4–8 – Predigt II – Kantate Satz 9 – [Credo] 12. Sonntag n. Trinitatis:249 Psalmgebet Ps 103 (oder Ps 147) – EG 326 – (Epistel)lesung Act 3,1–10 – [Halleluja mit Ps 34,2] – Kantate Satz 1–4 – Evangelium Mk. 7,31–37 – Predigt I – Kantate Satz 5–8 – [Predigt II] – Satz 9 – [Credo] – Wochenlied EG 289 Alternativ dazu könnte man sich auch die alttestamentliche Lesung aus Jes 29 vorstellen: Psalmgebet Ps 103 bzw. EG 289 (Wochenlied) – Jes 29,17–19(20–24) – EG 326 – Evangelium Mk 7,31–37 – Kantate Satz 1–4 – [Credo] – Predigt – Kantate Satz 5–9 – Credo

6.3.3 Wer Dank opfert, der preiset mich (BWV 17) Die Kantate Wer Dank opfert, der preiset mich (BWV 17) zum 14.  Sonntag n. Trin. ist 1726 entstanden und am 22.9. desselben Jahres erstmals aufgeführt worden. Betrachtet man zunächst nur den schon 1704 in Meiningen nachweis­ baren Text,250 so fällt auf, dass in ihm im Gegensatz zu den Schwesterkantaten BWV 25251 und BWV 78252 die dort im Vordergrund stehenden hamartiologischen Inhalte gar nicht vorkommen. Stattdessen liegt das theologische Hauptgewicht, ausgehend von Ps 50,23, beim Begriff des Heils Gottes: „Der Ausgang bei

249 Folgt man dem Vorschlag Petzoldts und ordnet die Kantate dem 12. Sonntag n. Trin. zu, ohne sie am Stück aufführen zu wollen, so könnte man davor mit der Epistel Act 3,1–10 (Heilung eines Lahmen) eine Wundergeschichte lesen, deren doxologisches Ziel in V9 f folgendermaßen lautet: Und es sah ihn alles Volk wandeln und Gott loben …; und sie wurden voll Wunderns und Entsetzens über das, was ihm widerfahren war. 250 Vgl. Küster, Meiniger Kantatentexte, mit Anknüpfung an Blankenburg, 7–25, bzw. Schulze, Dritter Jahrgang, 193–199. Vgl. auch Schulze, 408 f: „Das schon 1704 in Meinigen nachweisbare und vielleicht auch dort entstandene Libretto [ist] Bestandteil eines Textjahrgangs, der mehrfach nachgedruckt wurde und noch 1726 in Rudolstadt unter dem Titel ‚Sonn- und Fest-Tags-Andachten über die ordentlichen Evangelia‘ erschien.“ Insgesamt haben alle sieben Kompositionen J. S. Bachs (BWV 17, 39, 43, 45, 88, 102 und 187) aus dieser Sammlung ein hohes theologisch-hermeneu­tisches und poetisches Niveau (vgl. dazu unten 7.1). 251 Vgl. besonders BWV 25,4: „O Jesu, lieber Meister / zu dir flieh ich; / ach stärke die geschwächten Lebensgeister! / Erbarme dich, / du Arzt und Helfer aller Kranken, / verstoß mich nicht / von deinem Angesicht!  /  Mein Heiland, mache mich vom Sündenaussatz rein,  /  so will ich dir mein ganzes Herz dafür / zum steten Opfer leihn / und lebenslang vor deine Hülfe danken.“ Hier ist anhand alttestamentlicher Typologie der zentrale Bezugspunkt aus Ex 15,26 aufgenommen. Die Leit­ metapher ist der Begriff der „Seelenkur“. 252 Vgl. besonders BWV 78,4: „Das Blut, so meine Schuld durchstreicht / macht mir das Herze wieder leicht / und spricht mich frei. / Ruft mich der Höllen Heer zum Streite, / so stehet Jesus mir zur Seite, / dass ich beherzt und sieghaft sei.“

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diesem Psalmtext […] in Korrespondenz mit dem neutestamentlichen Rezitativ­ text (Lk 17,15–16) im Zenit der Kantate (Satz 4) bestimmt den theologischen ­Nexus nicht bei der Sünde des Menschen, sondern bei ihrem Gegenteil, dem Heil Gottes“253, was die Kantate für heutige Ohren sicher leichter zugänglich macht. a) Bemerkungen zur poetischen und theologischen Struktur Die Kantate besteht aus zwei Teilen: Die Sätze 1–3 mit alttestamentlichem Diktum wurden vor der Predigt und die Sätze 4–7 mit explizitem Evangelienzitat (Satz 4) nach der Predigt, d. h. sub communione, musiziert. Von hier an kann die Anrede „Herr“ (vgl. Satz 5) christologisch verstanden werden; es spricht aber auch manches dafür, dass die ganze Kantate, trinitätstheologisch in der Schwebe bleibt, was angesichts der Worte aus Ps 50,23 (Satz 1) und der Anspielungen auf Ps 19,5 (Satz 2) und Ps 36,6 (Satz 3) sehr plausibel ist. Obwohl in Teil I zweimal von Gottes Heil gesprochen wird, also die soteriologische Dimension anklingt, kommt der zweite Teil ohne eine entfaltete Christologie aus: Jesus, der sich im Evangelium als Herr über den Aussatz erwiesen hat, wird als Schöpfer 254 bzw. Neuschöpfer, nicht aber als Erlöser gepriesen. Theologischer Schlüssel dazu ist Satz 6: 6. Rezit ativ (B a ss) 255 Sieh meinen Willen an; ich kenne, was ich bin: Leib, Leben und Verstand, Gesundheit, Kraft und Sinn, der du mich lässt mit frohem Mund genießen, sind Ströme deiner Gnad, die du auf mich lässt fließen. Lieb, Fried, Gerechtigkeit und Freud in deinem Geist sind Schätz, dadurch du mir schon hier ein Vorbild weist, was Gutes du gedenkst mir dorten zuzuteilen und mich an Leib und Seel vollkommentlich zu heilen.

Mit dem Stichwort „heilen“ wird zwar klar auf das Evangelium aus Lk 17 (und Teil  I der Kantate)  rekurriert, aber zugleich auch unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine vollkommene Heilung erst in der himmlischen Herrlichkeit, möglich wird. Teil 1 und 2 des Rezitativs entfalten einen schöpfungstheologischpneumatologischen Parallelismus: „Leib, Leben und Verstand, Gesundheit, Kraft und Sinn“, diese Doppeltrias ist eine als parallelistisch angelegte dreifache Climax und spricht von dem, was Gottes Schöpfungsgnade jedem Menschen gewährt, während mit den Gaben Liebe, Friede, Gerechtigkeit und Freude (vgl. Röm 14,17 bzw. Gal 5,22) Charismen des Heiligen Geistes als die Gaben der neuen Schöpfung benannt werden. Der in Satz 4 zitierte Ausschnitt aus Lk 17,15 f fokussiert die Reaktion des einen dankbaren Aussätzigen, der ein Samaritaner war, und damit das erfüllt, was im

253 Petzoldt I, 418. 254 Vgl. dazu das Christologumenon von der Schöpfungsmittlerschaft in Joh 1,1–3; 1 Kor 8,6; Kol 1,16 f u. a. Schöpfungsgnade wird im ersten Teil des Rezitativs (Z. 1–4) entfaltet. 255 Blankenburg, 20, betont im Anschluss an Streck, 204 „das häufige Vor­kommen apokopierter Wortformen“ und die Vorliebe für den Alexandriner in den Meininger Dichtungen, was sich an diesem Beispiel schön sehen lässt.

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Eingangschor idealtypisch angelegt ist: Er findet das Heil (in Christus), dadurch dass er dankbar zu ihm zurückkehrt. Damit ist das Hauptthema der Kantate an­ visiert, der Dank des Menschen für die großen Taten Gottes. b) Musikalische Analyse Dies ist auch die Quintessenz des Eingangschors (vgl. Ps 50,29):256 1. Cho r Wer Dank opfert, der preiset mich, und das ist der Weg, dass ich ihm zeige das Heil Gottes.

Der großangelegte Chorsatz mit ausführlicher Sinfonia (27 Takte)  enthält zwei große Fugen (T. 28–71; T. 81–125) mit einem dazwischen liegenden „Vokaleinbau-Abschnitt“257. Das virtuose Thema (vgl. T. 28–34) besteht zum einen aus Skalenkoloraturen auf den zentralen doxologischen Verben „opfern“ und „prei­ sen“,258 wobei im ersten Fall eine Anabasis den Vorgang des aufsteigenden Dankopfers259 abbildet (T. 29 f). Zum anderen hat der bewegte erste Teil des Themas („Wer Dank opfert“) vier Fixpunkte, die allesamt eine ebenfalls aufsteigende Quart auseinanderliegen (z. B. e, a; d’, g’ beim ersten Einsatz im Tenor). Die drei letzten verleihen durch eine Syncopatio der Melodie besonderen Nachdruck. Mit dem Einsatz der zweiten Stimme (Alt) erklingen der Text „Wer Dank opfert, der preiset mich“ (Thema)  sowie „und das ist der Weg, dass ich ihm zeige, das Heil Gottes“ (Kontrapunkt) gleichzeitig. Heilsweg Gottes und Opfer des Menschen verlaufen auch melodisch in derselben Richtung! Die Pointe ist dabei die Gleichzeitigkeit von erstem und zweitem Halbsatz des Psalmverses: Im Loben und Danken vollzieht sich heilbringendes Gedenken. So ereignet sich Erkenntnis Gottes und damit Teilhabe an der doxa, am Heil Gottes.260 Besonders eindrücklich wird

256 Ein kurzer Blick auf den eben analysierten Eingangschor (vgl. 6.3.1) zeigt, wie Bach durch die in der Musik mögliche „organisierte Gleichzeitigkeit“ verschiedener Texte und Themen eine theologische Pointe erzeugt: Der konzertante Satz besteht aus drei Fugen, die jeweils von einer 24-taktigen instrumentalen Sinfonia umschlossen werden. Die erste Fuge (A) hat mehrere Durchführungen (T. 25–78) und vertont die erste Hälfte des Psalmverses u. a. mit einer sich aufschwingenden Koloratur beim Wort „Lobe“: Die zweite Fuge (B) vertont syllabisch deklamierend den Abschnitt „und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat“ (T. 78–94), die dritte (A+B) führt beide Themen in einer Doppelfuge zusammen (T. 95–123). Durch die Gleichzeitigkeit beider Themen als Subjekt und Kontra­subjekt geschieht so eine Explikation des Textes: Solange der Mensch Gott lobt, vergisst er nicht, wieviel Gutes Gott an ihm getan hat! 257 Küster, 323. 258 Auch Simpfendörfer, 39, hebt das doxologische Interesse Bachs besonders hervor: „Das Fugenthema des Chores […] ist symmetrisch gebaut mit Koloraturen auf ‚opfert‘ und ‚preiset‘, wobei zum Abschluß die Wendung ‚der preiset‘ noch einmal aufgegriffen wird. Mag in diesem Fall diese Verdoppelung bei der Textverteilung unter das Fugenthema entstanden sein, im Laufe der Fugendurchführung taucht sie auch in unthematischen Abschnitten auf, und zwar T. 59 ff im Sopran, T. 65 ff im Tenor, T. 69 ff im Baß, stets in der Wendung ‚der preiset, der preiset mich‘. Bachs ist also daran interessiert, das Dankopfer als Preisen Gottes herauszustellen.“ 259 Vgl. zum reformatorischen Begriff des Dankopfers Apol. XXIV, BSLK 354–356. 260 Vgl. Petzoldt I, 418: Es „deutet alles darauf hin, dass mit dieser Gleichzeitigkeit bereits der Grundgedanke der ganzen Kantate formuliert wird, der im Text sukzessive an Klarheit gewinnen wird: Den im Herzen empfundenen Dank für das Maß an Schätzen Gott zu opfern, ist der einzige

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diese Aussage am Schluss des Satzes, hier kulminieren verschiedene musikalische Motive noch einmal in einer Art „Coda“: So führt etwa die skalenartige Linie des Lob­opfers im Vokalbass (T. 111–114) über eineinhalb Oktaven sinnenfällig nach oben, der „Weg“ (T. 118–121) ist kunstvoll durch eine lange dreigliedrige Gradatio geschmückt, unter der vier Takte lang  – wie eine Art cantus firmus  – ein rhythmisierter Orgelpunkt im Alt und eine melismatische Achtelbewegung mit Dreiklangsbrechungen im Vokalbass („op-fert“) gelegt ist. Ähnliche musikalische Elemente und theologische Gedanken finden sich auch in den Arien (Satz 3 und 5), die beide übrigens keine Da-capo-Arien sind. 3. Ar ie (S opran) Herr! deine Güte reicht so weit der Himmel ist und deine Wahrheit langt, so weit die Wolken gehen. Wüsst’ ich gleich sonsten nicht, wie herrlich groß du bist, so könnt ich es gar leicht aus deinen Werken sehen261. Wie sollt man dich mit Dank davor nicht stetig preisen, da du uns willt den Weg des Heils hingegen weisen? 5. Ar ie (Teno r) Welch Übermaß an Güte schenkst du mir! Doch was gibt mein Gemüte dir dafür? Ich weiß sonst nichts zu bringen, als dir Dank und Lob zu singen.

In beiden Fällen werden Schöpfungsgnade und der Weg zum Heil nicht gegeneinander gestellt, sondern in einer Art Climax, gleichsam nach dem Schema von „Natur und Gnade“ oder besser: „Schöpfung“ und „Neuschöpfung“ miteinander verbunden. Der theologische Sinn von Satz 3 ist: Wenn man Gott eigentlich schon durch die Natur erkennen und ihn dafür rühmen könnte, um wievielmehr ist er nicht zu preisen als der, der den Weg des Heils offenbart hat? Damit ist ein Gefälle von der revelatio generalis zur revelatio specialis und zur Doxologie angesprochen, wie wir es auch im Röm 1,19–21, Röm 8 und Röm 11,33–36 finden. Herme­ neutischer Schlüssel ist das Adverb „hingegen“, das offenbar nicht adversativ oder antithetisch, sondern klimaktisch gemeint ist. Gewiss ist in dieser Arie weder der Vierertakt noch die Tatsache eines Quartettsatzes Zufall, immerhin bietet der Text mit der Metaphorik der sich bewegenden Wolken am Himmel die Vierzahl als symbolischen Anknüpfungspunkt für die musikalische Umsetzung an.262 Darüber hinaus kann man „in den unablässigen skalenhaften Sechzehntelbewegungen […] Weg, die Barmherzigkeit Gottes für die Menschen zu erkennen“. Vgl. Olearius III, 291 f zu „Dank“ in Ps 50,14 f: „Das Danken aber erfordert das unvergessliche Andenken (Ps 103), Gedenken (Ex 13,3), Bedenken (Lk 19) und Lenken aller Gedanken, Worte und Werke zum schuldigen Lob und Preis des Allerhöchsten […]. Und das heißt dankbarlich erkennen und bekennen, wer Gott sei und was seine Barmhertzigkeit an ihm tue.“ 261 Vgl. Röm 1,19 f. 262 Vgl. Petzoldt I, 419, der auch an die vier Tageszeiten und Jahreszeiten erinnnert.

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die Weite und Größe der Schöpfung vernehmen, die urbildlich die Reichweite der göttlichen Güte und Wahrheit zeigen will“263. Das theologische Fazit dieser Arie können wir auf dem Hintergrund von Ps 19264 mit Petzoldt so formulieren: „Dankbarkeit Gott gegenüber wird gleichsam herausgefordert, weil selbst die Natur [Gott] solchen Dank abstattet. Und über die Natur hinaus weiß der Mensch aber auch von der Erwartung des göttlichen Heils.“265 Die Arie des Tenors (Satz 5), deren „gesangliches Kopfmotiv“ angesichts seiner „volkstümlichen Eingängigkeit ein Zitat“ vermuten lässt,266 expliziert nicht genau, was mit „Güte“ gemeint ist; mit Sicherheit jedenfalls das, was uns jeden Tag an Gutem widerfährt (vgl. Satz 6, Teil I). Bach legt besonders das Substantiv „Übermaß“ aus, indem er eine Wiederholung des zweitaktigen Themas (einfache Epizeuxis) und eine – wenn man so will – sechsfache Epizeuxis des Bassmotivs d-cis zur Abbildung des Übermaßes der Güte Gottes einführt. Bei der Wiederholung des Themas wird allerdings der Text fortgeführt (vgl. T. 11–14) und dadurch gezeigt: Gottes Güte und menschliche Dankbarkeit sollen sich entsprechen. Im Folgenden wird das Übermaß der Güte Gottes durch eine dreifache Gradatio expliziert (vgl. T. 19–21), bezeichnenderweise sind auch hier sukzessive aufwärts steigende Quartsprünge (vgl. Eingangs­ chor, T. 28–30) strukturbildendes Prinzip, Epizeuxis-Figuren finden sich in den Instrumenten, die für eine zusätzliche Emphase sorgen (vgl. Vl. 1, T. 19–21 und Continuo, T. 25). In Teil II der Arie behandelt Bach den zweiten Textteil separat, er trennt die Frage an das menschliche Gemüte, was es Gott bringen will (T. 29–37), von dem Ausruf des Staunens („Welch Übermaß …“) ab. Dem Übermaß der Güte Gottes korrespondieren dann im dritten Teil der Arie (T. 41–67), den man gleichsam als Antwort auf Teil II verstehen kann, Dank und Lob des Glaubenden. Wieder finden sich auf diesen „doxologischen“ Sinnträgern lange aufsteigende Koloraturen (Anabasis), so steigt der „Dank“ mit einer vierfachen Gradatio nach oben (vgl. T. 44 f), das „Lob“ mit einer vier Quarten umfassenden D-Dur-Tonleiter (d bis g’, vgl. T. 51), was wiederum an den Eingangschor (Satz 1, T. 28–30) anknüpft. Einen anderen Akzent setzt Satz 2.  Hier stimmt der geordnete Kosmos als „stummer Zeuge“ in das Lob des Schöpfers ein (vgl. Ps 19,2–5),267 wie wir es etwa in Jes 55,12 f; dem Gesang der drei Männer im Feuerofen, einem apokryphen Zusatz zum Danielbuch, oder Ps 148 ausgedrückt finden. Damit ist in verkündigend-erzählender Sprache das exemplarisch entfaltet, was wir oben als die kosmo­ logische Dimension des Lobpreises268 angesprochen haben: 2. Rezit ativ (Al t) Es muss die ganze Welt ein stummer Zeuge werden

263 Petzoldt I, 419. 264 Vgl. Arnold, 463–475. 265 Petzoldt I, 419. 266 Vgl. Schulze, 409. 267 Vgl. dazu unten 6.4.1 die Ausführungen zu BWV 76. 268 Vgl. oben 6.0.3 bzw. Brunner, 168–180.

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von Gottes großer Majestät, Luft, Wasser, Firmament der Erden, wenn ihre Ordnung gleich in Schnuren269 geht. Ihn preiset die Natur mit ungezählten Gaben, die er ihr in den Schoß gelegt, und was den Odem hegt, will noch mehr Anteil an ihm haben, wenn es zu seinem Ruhm so Zung als Fittich regt.

Offenbar scheint es dem Dichter denkbar, dass die Lautäußerungen der Tiere als Lobpreis verstanden werden können,270 ja dass die Kreatur dadurch Anteil an Gott selbst bekommt und sich auf diese Weise auch dem Menschen etwas von der Größe Gottes des Schöpfers als „Zeugnis“ erschließt. Die Natur wird somit zum doxologischen Spiegel271 und exemplum des Menschen, der von sich aus – wie die Geschichte aus Lk 17 und Röm 1,20 f zeigen – Gott den Dank eher verweigert, als ihm die Ehre gibt. Dies gilt natürlich nicht für den Samaritaner, dessen Dank in Satz 4 allerdings denkbar unprätentiös ausfällt: Das schlichte Secco beleuchtet durch eine kleine melismatische Ausweitung lediglich das Verbum „dankete“ mit nach oben aufsteigenden kleinen Terzen. Bezeichnenderweise schließt die Kantate auch eher schlicht mit einer Strophe aus Gramanns Psalmlied Nun lob, mein Seel, den Herren (EG 289) auf den Text „Wie sich ein Vater erbarmet“ und schlägt damit nochmals schöpfungstheo­ logische Töne an. Der Dichter verwendet auch hier keine christologisch geprägte Strophe, ebenso wenig greift er zum volltönig trinitarischen Sei Lob und Preis mit Ehren.272 Die melancholische dritte,273 die allerdings in Form einer Aria in tänzerisch gelöstem Dreiertakt daherkommt, kann vielmehr auch die Schatten des Todes, der über dem Leben der zehn Aussätzigen lag274 gelöst in sich auf­ nehmen. Die Analyse ergibt, dass in Kantate BWV 17 auf dem Hintergrund von Lk 17 eine eher zurückhaltende, keinesfalls vollmundige Christologie und ihr entspre

269 Vgl. Olearius III, 120 mit Hinweis auf Ps 24,1 und Jes 14,17: „Die Meß=Schnur klatzscht /  wenn sie der Zimmermann anschlägt / dass eine gerade linea dadurch gemacht und das Holtz ab­ gezeichnet werde / wie weit es solle gehauen werden / damit es könne zum Gebäude tüchtig seyn“. 270 Vgl. Luthers Vorrede zu den Symphoniae iucundae, WA 50, 370 f (zitiert oben 6.0.6). 271 Vgl. Luthers Auslegung des Magnificat, WA 7, 559 ff, insbesondere 567: „Ein Hund springt fröhlich und ist zufrieden, ob er nicht vernünftig ist, alle Tiere lassen es sich begnügen und dienen Gott mit Liebe und Lob ohne das schalkhaftige, eigennützige Auge des Menschen.“ (Vgl. Arnold, 292). 272 Diese Strophe war, wie Blankenburg, 16, nachweist neben Str. 2 Bestandteil des Rudolstadter Textbuchs (1726), was beweist, dass Bach die Texte seine Schlusschoräle durchaus eigenständig ausgewählt hat. 273 Vgl. die Motette Singet dem Herrn (BWV 225), Satz 2, Str. 1 (vgl. Autograph) dort allerdings in geradem Metrum. Auch in der Motette erfüllt der Choral in Verbindung mit der Aria (Gott, nimm dich ferner unser an) eher eine meditative Funktion und hebt sich deutlich von seinem jubelnden Kontext (BWV 225,1 und 3) ab. 274 Petzoldt I, 421, spricht gar von einem „Totentanz“.

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chend auch eine „leise“ Doxologie komponiert ist. Dogmatischer Hintergrund ist das Christologumenon der Schöpfungsmittleschaft275 (vgl. Joh 1,1–3; 1 Kor 8,6). Die besondere Pointe dieser Kantate ist darüber hinaus, dass der Dichter – motiviert durch die Heilungsgeschichte – auch die Gaben der neuen Schöpfung (Satz 6, vgl. Gal 5,22) benennt und so den Nexus von erstem und drittem Artikel „einspielt“. c) Liturgische Erwägungen Überlegen wir zuletzt, wie BWV 17 heute liturgisch zum Leuchten kommen kann. Zunächst einmal ist die Kantate durch das Schriftzitat in Satz 4 stark an den 14.  Sonntag n. Trin. gebunden. Außerdem bietet auch der Wochenspruch aus Ps 103,2 eine inhaltliche Brücke zu Satz 7 (vgl. EG 289,3, das auch Wochenlied des Sonntags ist). Die zweiteilige Anlage der Kantate (Satz 1–3 bzw. 4–7 sub communione) sollte auch heute beibehalten werden. Dennoch ist es nicht zwingend, Teil  II während der Mahlfeier zu musizieren, da in diesem Fall eine ungeteilte Aufmerksamkeit nur schwer möglich ist. Vielmehr legt die biblisch-theologisch motivierte Zweiteiligkeit einen Verkündigungsteil nahe, in dem man das Evangelium nach Lk 17 bis zu der Stelle vortragen lässt, an der der zweite Kantatenteil einsetzt: Ps 146 (oder EG 302) – Epistel Röm 8,14–17 (oder Röm 1,19–21) – Kantate Satz 1–3 – Evangelium Lk 17,11–14 (!) – Satz 4 und 5 – Predigt mit Lk 17,17–19 – Satz 6 und 7 – Credo

6.4 Trinitätstheologische Pointen Trinitätstheologischen Verknüpfungen und Pointen finden wir, wie schon an mehreren Stellen gesehen,276 in zahlreichen Kantaten Bachs. Aufregend ist besonders der oftmals unerwartete Wechsel innerhalb der diversen theologischen Topoi mit spezifischen Pointen und Fokussierungen. Verknüpfungen des ersten und zweiten Artikels sollen hier zuerst benannt werden: So heißt es z. B. in der Osterkantate BWV 31,2 von Franck: „Der Himmel lacht, die Erde jubilieret / und was sie trägt in ihrem Schoß! / Der Schöpfer lebt! Der Höchste triumphieret / und ist von Todesbanden los!“ Ganz anders, jedoch in der anti­thetischen Pointe verwandt, predigt die Weihnachtskantate Gelobet seist du, Jesu Christ (BWV 91,3): „Gott, dem der Erdenkreis zu klein, den weder Welt noch Himmel fassen, / will in der engen Krippen sein.“ Dies mündet in die Aufforderung (BWV 91,4): „O Christenheit! Wohlan, so mache dich bereit, den Schöpfer zu empfangen!“ (vgl. BWV 121,2 f). Damit wird die in den neutestament­ lichen Hymnen gerühmte Schöpfungsmittlerschaft Christi poetisch expliziert: An

275 Vgl. Petzoldt I, 418: „Wesentliche schöpfungstheologische Aussagen sind hier auf engstem Raum zusammengeführt, vor allem die anklingende Schöpfungsmittler Christi durch den Hinweis auf die ‚hohe Majestät‘ Gottes, Hebr 1,3d“. 276 Vgl. besonders die eben analysierte Kantate BWV 17 (6.3.3) und BWV 173 (6.2.1).

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Weihnachten und Ostern geschieht eine „Heimholung der Schöpfung“277 durch den Mensch gewordenen und auferweckten Schöpfer. Weil der Schöpfer lebt, darf auch die Schöpfung leben. Im Sinne einer Theologie des „leiblichen Wortes“278 finden wir aufregende Verbindungen von erstem und drittem Artikel z. B. in der Pfingstkantate Erschallet, ihr Lieder (BWV 172,4), wo eine schöpfungstheologische Aussage überraschend pneumatologisch gewendet wird: „O Seelenparadies,  /  das Gottes Geist durchwehet,  /  der bei der Schöpfung blies,  /  der Geist, der nie vergehet.  /  Auf, auf, bereite dich,  /  der Tröster nahet sich.“ Der Spiritus creator, der bei der Schöpfung im Paradies über den Wassern schwebte (vgl. Gen 1,2) und als der göttliche Odem den Menschen belebt (vgl. Gen 2,7), erfüllt nun als Paraklet in einer neuen Weise den Menschen: „So wie der Geist Gottes bei der ersten Schöpfung das natürliche Leben gegeben hat, so erneuert er in der Wiedergeburt (die nach Joh 3, dem Gespräch Jesu mit Nikodemus, aus ‚Wasser und Geist‘ geschieht […]) das Herz. Die Erneuerung des Herzens ist also ein schöpferisches, lebendig machendes Handeln. […]. Der Schöpfergeist wirkt […] das neue Leben, er macht lebendig, was in Sünden tot war (Eph 2,5), er bringt in Bewegung“279. Die poetologische Pointe ist hier die Selbigkeit des einen Geistes, ob er nun am Schöpfungsmorgen oder bei der Taufe weht und wirkt. Durch die Metapher des „Seelenparadieses“ ist ein theologischer Transfer gewonnen, der Schöpfung und Pfingsten, Urstand und Taufe in eine überraschende Nähe bringt.280 Was für die Verschränkung von Christologie und Schöpfungslehre zu be­ obachten war, gilt auch hier: „Gottes offenbartes Licht neigt sich zu seinen Kindern“, Gottes Geist kommt zu uns „auf Augenhöhe“ und das „kräftig“ (Rö 1,16) und dynamisch. Oft kann eine trinitarische Gloriapatri-Strophe am Ende einer Kantate alles zusammenfassen, ein Phänomen, das sich sowohl in den Festkantaten zu Advent und Weihnachten als auch in Kantaten mit dem Schwerpunkt Schöpfung wahrnehmen lässt.281 Die geläufigste musikalische Form zur Darstellung der trini­ tarischen Doxologie ist der vierstimmige Kantionalsatz, wobei der Choral auch durch begleitende obligate Instrumente bis zur Sechs-, Sieben- oder Achtstimmigkeit gesteigert werden kann (z. B. BWV 76,14 vgl. 91,6; 137,5). Eine Ausnahme in der Besetzung macht das kammermusikalisch besetzte Choralkonzert

277 Vgl. Bayer, 397 f. 278 Vgl. Bayer, Leibliches Wort. 279 Steiger, 39. 280 Ein schönes Beispiel für die Verschlungenheit von zweitem und drittem Artikel mit einem Gefälle zur Doxologie bietet BWV 173,4 (vgl. oben 6.2.1): „So hat Gott die Welt geliebet, / sein Er­ barmen / hilft uns Armen, / dass er seinen Sohn uns gibet, / Gnadengaben zu genießen, / die wie reiche Ströme fließen. / Sein verneuter Gnadenbund / ist geschäftig / und wird kräftig / in der Menschen Herz und Mund, / dass sein Geist zu seiner Ehre / gläubig zu ihm rufen lehre …“. 281 Vgl. exemplarisch: Sei Lob und Preis mit Ehren, BWV 51,4; vgl. BWV 29,8 und BWV 167,5; Lob, Ehr und Preis sei Gott ( BWV 192,3); Gelobet sei der Herr (BWV 129,4 f, vgl. unten 6.4.2); Lob sei Gott, dem Vater, ’ton (BWV 62,6, vgl. BWV 36,8); Gloria patri (BWV 191,3); Lob, Ehr und Dank, sei dir gesagt (BWV 121,6, 2); Lob und Preis sei Gott dem Vater … (kl. Doxologie, BWV 10,7).

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„Sei Lob und Preis mit Ehren“ (BWV 51,4) aus Jauchzet Gott. Nur selten (vgl. BWV 129,4 f)  wird die Trinität als ganze angerufen. Ein Beispiel dafür ist die Bass-Arie aus der Pfingstkantate Erschallet, ihr Lieder: „Heiligste Dreieinigkeit, großer Gott der Ehren, komm doch in der Gnadenzeit, bei uns einzukehren.“ (BWV 172,3)282 Doch kommen wir nun zu zwei ausgewählten Beispielen von Kantaten, die einen größeren Zusammenhang trinitarischer Theologie entfalten:

6.4.1 Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) Ein Werk von erstaunlicher poetischer Qualität, theologischer Konzentration und Weite283 ist die Kantate Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) zum 2. Sonntag n. Trin. aus dem Jahre 1723. Es ist Bachs zweite in Leipzig enstandene Komposition. Sie besteht wie ihr Schwesterwerk BWV 75 (1. Sonntag nach Trin.) aus zwei umfangreichen Teilen, deren erster vor der Predigt und deren zweiter sub communione musiziert wurde. Die Dichtung eines unbekannten Poeten verknüpft Elemente aller drei Glaubensartikel. Mit Sicherheit ist der erste Teil eineinhalb Jahre später noch einmal zum Reformationsfest verwendet worden, woran bereits die vielfältige „Verwendbarkeit“ des Werkes deutlich wird. Martin Petzoldt beschreibt das große theologische Tableau der Kantate mit folgenden Worten: „Der Text kombiniert gemäß dem Thema des Evangeliums die allgemeine Gottesbezeugung aus der Schöpfung […], deren tieferer Grund Christus ist […], als Einladung an alle Menschen zur Gemeinschaft mit ihm, trotz oder wegen der Gefahr der Wider­ göttlichkeit der Welt; das alles wird als Inhalt des trinitarischen Gottesglaubens dargestellt, der in Dank und Lobpreis sich äußert. Der erste Teil der Kantate ist deutlich nach außen, der zweite nach der Innenseite der christlichen Gemeinde gewandt.“284

Ist in Teil I der Kantate die ganze verkündigende und lobende Schöpfung im Blick, deren Grund und Mittler Christus (vgl. Kol 1,16; 1 Kor 8,6) ist, so konzentriert sich Teil II auf das christliche Leben, das sich im Konflikt mit der Welt und in der Liebe zu den Geschwistern bewährt. Teil I entfaltet die Anrede Gottes im Gesetz der Natur und im Evangelium des Sakraments (Satz 2 und 3) sowie in der Gerichtspredigt (vgl. Satz 4) und antwortet mit einem doppelten Bekenntnis (Satz 5 und 6) sowie der Bitte um den Segen (Satz 7), während Teil II die Paränese der christ­lichen Gemeinde auf Glaube, Liebe und Hoffnung hin zum Gegenstand hat. Besonders reich sind die poetisch-musikalischen Affekte: Sie reichen von jubilierender Freude und Anbetung (Satz 1–3 und 14) über kämpferische Wut und leidenschaftlichen Hass (Satz 5 und 10) bis hin zu inniger Liebe (Satz 12).



282 In gesprochenen kirchlichen Gebeten ist eine Anrede der Dreieinigkeit nur äußerst selten anzutreffen, im gesungenen hymnischen Zusammenhang geschieht dies eher, vgl. die Hymne O alta Trinità beata. 283 Vgl. Dürr, 451, der dem Text einen außergewöhnlichen Gehalt zubilligt. Vgl. den vollständigen Text oben 1.4.2. 284 Petzoldt I, 55.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

a) Poetisch-theologische Beobachtungen Die Kantate expliziert und appliziert das Evangelium mit dem Gleichnis vom großen Abendmahl nach Lk 14.  So ist in Satz 2 unmissverständlich eine Ein­ ladung zum „Liebesmahl“ ausgesprochen, während Satz 6 davon redet, dass „wir Heiden von allen Straßen“ in die Tischgemeinschaft gerufen worden sind (vgl. Lk 14,23). Beide Sätze lassen sich also unschwer aufeinander beziehen. Petzoldt hat darüber hinaus überzeugend die symmetrische Korrespondenz der 14 einzelnen Sätze (Analogie von Satz 1 zu Satz 14; Satz 2 zu Satz 13 und Satz 3 zu 12285) wahrscheinlich gemacht. Aber die beiden großen Formteile bieten auch in sich eine konzentrische Struktur, was fast noch plausibler ist: Dadurch ergibt sich eine enge Korrespondenz von Satz 1 zu Satz 7, Satz 2 zu Satz 6 etc. bzw. Satz 8 zu Satz 14, Satz 9 zu Satz 13 usw. Betrachten wir, diesem Impuls folgend, zunächst Teil  I der Kantate, der im Kern eine kerygmatische Entfaltung des hymnischen Eingangschors286 ist, ehe er am Ende (Satz 6 und 7) zu einem Gebet wird.287 Der Schlüsseltext für die ganze Kantate, in jedem Fall aber für den ersten Teil, ist das auf den Eingangschor aus Ps 19,2.4288 folgende Rezitativ mit dem Wortlaut: 2. Rezit ativ (T eno r) So lässt sich Gott nicht unbezeuget! Natur und Gnade redt alle Menschen an: Dies alles hat ja Gott getan, dass sich die Himmel regen und Geist und Körper sich bewegen. Gott selbst hat sich zu euch geneiget und ruft durch Boten ohne Zahl: Auf! kommt zu meinem Liebesmahl!

Die Dichte dieser „Kurzpredigt“, die man als theologische Matrix alles Weiteren betrachten kann, ist kaum zu überbieten und lässt sich in fünf Schritten auf­ zeigen. a) „Natur und Gnade289 redt alle Menschen an.“ Die Aufnahme der Formel „Natur und Gnade“ mag auf den ersten Blick hölzern erscheinen. Gemeint ist: Gott offenbart sich in Schöpfung und Erlösung als der

285 Vgl. dazu auch unten 7.2.6. Die Entsprechungen der beiden Arien reichen bis hin zum Versmaß. Der Dichter macht damit deutlich: Dem einladenden Zeugnis der klingenden Schöpfung („Hört, ihr Völker, Gottes Stimme“) entspricht das Zeugnis der Liebe unter den Christen („Liebt, ihr Christen, in der Tat“). 286 Vgl. zur Komposition von Ps 19 Arnold, 463–467, bzw. Gese, Psalm 19. 287 Petzoldt I, 55, weist darauf hin, dass Luthers Vertonung von Ps 67 im Mühlhäuser Gesangbuch von 1712 als De-tempore-Lied vorkommt. Es ist ähnlich allgemeingültig wie Luthers Verleih uns Frieden (EG 421). 288 Vgl. Petzoldt I, 55: „Der Eingangssatz entstammt dem Psalm 19, der gern in Verbindung mit dem 2. Sonntag n. Trinitatis Verwendung findet, doch nicht zum überlieferten de-tempore-Gut gehört […]. BWV 76 wurde von Bach wohl als Reformationsmusik zum 31. Oktober 1724 wieder­ verwendet, eventuell nur Teil I (Sätze 1–7).“ 289 Bach setzt an dieser Stelle wohl bewusst einen Hochton (Hyperbole) auf das „und“!

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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selbe290 dreieinige Gott.291 Ob er das All schafft und lenkt oder in Christus mit Sündern Tischgemeinschaft hält und ihnen neues Leben im Glauben schenkt – es ist der eine gnädige Gott. Der Dichter Bachs ermutigt also zu einer soteriologisch pointierten trinitarischen Theologie. b) „Natur und Gnade redt alle Menschen an.“ Doch enthält dieser erste Satz auch eine worttheologische Implikation: Gottes Offenbarung im liber naturae geschieht nicht losgelöst in einer beziehungs­ losen Aseität. Sie ist Anrede und ereignet sich durch die Schöpfung und in der Neuschöpfung als dialogisches Wortgeschehen, das stets auf ein personales Gegenüber und seine Antwort ausgerichtet ist. c) „Gott selbst hat sich zu euch geneiget“. Gottes Offenbarung geschieht nicht in der Manier eines rücksichtslosen Imperators. Sie ist gnädiges Herabneigen, heilvolle Kondeszendenz. Bereits in der Schöpfung gibt der Allmächtige der Kreatur Raum und Freiheit. Wie in der Inkarnation entäußert er sich schon in der Schöpfung und begegnet seinen Geschöpfen „leutselig“, d. h. freundlich zugewandt,292 auf Augenhöhe. Als guter Geist begibt er sich hinein in das Zeugnis menschlicher Worte. d) „Natur und Gnade redt alle Menschen an“. Damit ist die soteriologische Spitze erreicht. Die Begründung für die Aussage, dass Natur und Gnade alle Menschen anreden, d. h. sein Heil nicht nur wenigen Auserwählten oder Privilegierten gilt, findet sich in der folgenden Sopran-Arie, die diese Aussage christologisch festmacht: „Hört ihr Völker, Gottes Stimme, eilt zu seinem Gnadenthron! Aller Dinge Grund und Ende ist sein eingeborner Sohn, daß sich alles zu ihm wende.“ Mit dieser universalistischen Aussage,293 die als Explikation des Kolosserhymnus (vgl. Kol 1,16.20) verstanden werden kann, markiert der Dichter die Überzeugung, dass Christus nicht nur Grund der Schöpfung ist, sondern seine Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung auch die Grundlage für das Heil alles Menschen ist, das durch leibliche Gaben („Gnadenthron“) hindurch Menschen erreicht.294

290 Damit ist das Buch der Schöpfung und das Buch der Geschichte, das Buch des christlichen Glaubens und das des christlichen Lebens in gleicher Weise aufgeschlagen, auch wenn Psalm 19 im ersten Teil eigentlich nur vom liber naturae und der revelatio generalis redet. Betrachtet man freilich den Psalm als ganzen (vgl. Arnold, 463–475) so ist diese Deutung zutreffend. Vgl. dazu auch Olearius’ Auslegung zu Ps 19,2: „Es ist wa[h]r / es redet Himmel und Erde / Tag und Nacht / Licht und Finsternis / das Reich der Allmacht und der Gnaden / Weh und Wol / Creutz und Trost / Todt und Leben / Gnade und Ehre.“ (III,120) 291 Hier ist eine Zusammenschau von revelatio generalis und specialis unter dem großen Hauptnenner des Heilshandelns Gottes festzustellen. Dies deutet auch Blankenburg an, vgl. Blankenburg, Mystik, 54. 292 Vgl. Deutsches Wörterbuch VI, Sp. 850 f. 293 Vgl. Simpfendörfer, 294: „Bach unterstreicht gerne die Totalität einer Aussage nach der positiven Seite hin durch die Hervorhebung von ‚alles‘.“ 294 Anders akzentuiert klingt das in der schmetternden Bass-Arie „Fahr hin abgött’sche Zunft“ (Satz 5) wieder an, wo zwei Möglichkeiten des Umgangs mit Gottes Offenbarung in der Schöpfung angedeutet werden. Das vorgegebene Paradigma ist allerdings nicht das Evangelium, sondern das

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

e) „Und ruft durch Boten ohne Zahl: Auf! Kommt zu meinem Liebesmahl“. Dieser Satz markiert die sakramentaltheologische Spitze des Rezitativs: Als der Erlösende und Vollendende tut sich Gott gerade durch die Schöpfung hindurch kund, „redet die Kreatur durch die Kreatur an“295. Der Geist Gottes bindet sich an das Wort des Evangeliums als ein leibliches Wort. Ebenso haftet die Zusage des Altarsakraments am leiblichen Empfang der kreatürlichen Mittel von Brot und Wein und ist davon ebenso wenig ablösbar wie von ihrem Geber Jesus Christus, der in der folgenden Arie (Satz 3) als innerer Grund der Schöpfung besungen wird. Hier beherrscht noch einmal die Totalitätsaussage „ALLE(S)“ das Feld, sie ruft die christologisch geprägte Kosmologie des Kolosserhymnus bzw. des Jo­ hannesprologs (vgl. Kol 1,16 bzw. Joh 1,3) und die universalistische Eschatologie des Philipperhymnus („dass sich alles zu ihm wende“, vgl. Phil 2,10 f) in Erinnerung. Die Sprechrichtung ist nochmals die der Anrede. Am Ende des ersten Teils der Kantate (Satz 6), werden zahlreiche Aspekte dieser Kurzpredigt in Satz 2 als glaubende Antwort wieder aufgenommen:296 6. Rezit ativ (Al t) Du hast uns Herr, von allen Straßen zu dir geruft, als wir im [sic] Finsternis der Heiden saßen, und, wie das Licht die Luft belebet und erquickt, uns auch erleuchtet und belebet, ja mit dir selbst gespeiset und getränket und deinen Geist geschenket, der stets in unserm Geiste schwebet.

In diesem Gebet, das Dank und Staunen über Gottes Handeln im eigenen Leben zur Geltung bringt, werden große pneumatologische Zusammenhänge evident: Gottes Ruf an „uns Christen“ aus der Finsternis [der Heiden] zu seinem wunderbaren Licht (1 Petr 2,9 vgl. Lk 14,23), ist ein schöpferischer Akt Christi. Er lässt sich mit einem natürlichen Vorgang vergleichen: Wie das Sonnenlicht die Luft erwärmt und belebt, so erleuchtet Gott auch den Christen durch Christus, das Licht schlechthin (Joh 8,12). Christus speist und tränkt uns im Abendmahl unter Brot und Wein (Joh 6,55 f)  und schenkt auf diese Weise neues Leben. Vier korrelierende Größen können wir ausmachen: Urheber (Licht; Christus), Medium (Luft; Leib/Blut Christi), Adressat (natürlicher Mensch; sündiger Mensch) und Gabe (Er­ leuchtung; geistliche Speise). Zusammenfassend können wir diese trinitätstheologische Analogie so formulieren: Wie den natürlichen Menschen das Sonnenlicht durch das Medium der Luft hindurch erquickt und belebt, so bekommt der sündige Mensch durch Brot und Wein geistliche Stärkung, ja den Geist selbst.

Gesetz, welches fragt: Perversion oder Proskynese, Ablehnung oder Verehrung Gottes? Christus wird dabei zutreffend als das „Licht der Vernunft“ (vgl. Joh 1,5) gepriesen. 295 Vgl. Bayer, Schöpfung, 31 in Aufnahme J. G. Hamanns. 296 Petzoldt I, 56 formuliert für Satz 2 und 6 folgende Überschriften: „Gott schickt Boten und Botschaften“ (Satz 2) bzw. „Gott ruft Menschen von überall her“.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre

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Poetisch können wir sehen, wie der Textdichter die theologische Entsprechung von natürlicher und neuer Schöpfung, allgemeiner und besonderer Offenbarung, erstem und drittem Artikel metaphorisch herstellt, ohne dabei den durch die Sünde entstandenen Bruch („als wir im Finsternis der Heiden saßen“) zu über­ gehen. Er befindet sich damit auf Höhe der Theologie des Johannes und des Paulus (vgl. Joh 1,5.11; Rö 1,19 f).297 Die Verknüpfung geschieht in den Sätzen 2,6 und 11, die sich unter den Überschriften Einladung, Vergegenwärtigung und Geschwisterliebe pointiert sakramentaltheologisch verbinden lassen. Begriffliche Brücke ist das Stichwort „Geist“298 bzw. der in allen Sätzen explizierte Bezug zum Abendmahl als Liebesmahl und Mahl der Stärkung. Doch zurück zu Satz  3 (Arie, Sopran), in der erstmals die christologische Mitte des Glaubens in den Blick kommt. Der meditative Charakter des vorangegangenen Rezitativs wendet sich zu einer expliziten Einladung an die Völker.299 Christus wird in pointierter Aufnahme von Röm 3,25 bzw. Hebr 4,16 her als „Gnadenthron“ bezeichnet, der den Gnadenthron der Bundeslade (Ex 25) nach christlichem Verständnis abgelöst hat. Die trinitätstheologische Brücke zu Satz 1 f besteht darin, das Christus hier als Schöpfungsmittler der kündenden Schöpfung in den Blick kommt: Alles, was uns in der Schöpfung an Güte und Kunde von der Transzendenz entgegenkommt, bekommt im Angesicht des eingeborenen Sohnes, der selbst bei der Schöpfung dabei war (vgl. auch Prv 8,22 ff), die Eindeutigkeit der Liebe Gottes. Im Gegensatz dazu lesen sich die Sätze 4 und 5 als Gerichtspredigt, die den Zustand des gottfernen Menschen bzw. des sich von Gott entfernenden Christen beklagt. Nach der einleitenden Frage („Wer aber hört“) beschreibt der Dichter unter dem Affekt der Empörung und des Vorwurfs eine Gegenbewegung weg vom Gnadenthron (vgl. Satz 3). Diese Entfernung von Gott unter Hinwendung zu den Götzen Lust, Torheit etc. ist bis hinein in die Reihen der Christen sichtbar („Und Belial sitzt wohl in Gottes Haus“). Satz 5 können wir als eine Art „Trotzbekenntnis“ begreifen (Ich-Form), das an Jesu meine Freude (EG 396,3) erinnert. Insgesamt ist BWV 76 ein hochkarätiges Beispiel für das trinitätstheologische Potenzial in Bachs Kantaten. Petzoldt schreibt dazu: „Der Selbstbezeugung Gottes in seiner Schöpfung (Satz 1) […] entspricht am Ende des ersten Teils die Erkenntnis Gottes aus seinem Werk und durch Jesus Christus (Satz 7), am Ende der gesamten Kantate der Ausdruck des Dankes an den dreieinigen Gott (Satz 14).“300 Das theologische Gesamtkonzept verläuft von der Anrede des Schöpfers und Erlösers durch Natur und Geist hin zur Nachfolge Christi im Dienst am Nächsten.301

297 Vgl. Arnold, 475–483 bzw. Hofius, Struktur. 298 Vgl. Petzoldt I, 59, weist darauf hin, dass dieses Rezitativ auch als Paraphrase der Antiphon „Veni sancte spiritus“ gelesen werden kann, die um das „Entzünden der Liebe Gottes“ durch den Geist in den Gläubigen fleht. 299 Vgl. Glockzin-Bever, 123 (Predigt von C. Zippert): „Zu ihm werden wir eingeladen – werbend, nicht fordernd, nicht nur einmal, sondern immer wieder, ein Leben lang.“ 300 Petzoldt I, 57. 301 Vgl. Petzoldt I, 60.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

b) Musikalische Beobachtungen Musikalisch bietet die Kantate viele Besonderheiten, die Bach z. T. bereits in BWV 75, der Antrittskomposition in Leipzig, am Sonntag zuvor erprobt hat. Besonders die Vielfalt der Formen  – analog zur bereits geschilderten Vielfalt der Affekte und trinitätstheologischen Aussagen  – ist für die musikalische Faktur bezeichnend. Die Besetzung des Eingangschors ist gegenüber anderen „normalen“ Sonntagen mit einer Trompete, zwei Oboen und Streichern etwas über­ durchschnittlich, unterscheidet sich aber auch von den groß besetzten Festkantaten des Weihnachts- bzw. Osterkreises (vgl. BWV 63, 31). In Teil  II kommen aparte kammermusikalische Klänge (Viola da gamba, Oboe d’amore) dazu, was gut zu einer sub-communione-Situation passt. Das dem Eingangschor zugrunde liegende Formprinzip ist das von Präludium und Fuge, wie wir es aus Bachs Orgel- und Claviermusik kennen. Beide Teile sind ungefähr gleich lang (67+72 Takte). Die Thematik des einleitenden Orchester­ vorspiels wird nach dem ersten Choreinsatz im A-Teil (Ps 19,2) beibehalten, es besteht also in dieser Hinsicht kein Kontrast zwischen Ritornell und Vokalteil. Dennoch wird mit dem ersten Vokaleinsatz in den Bässen (Konzertisten) ein neues Thema präsentiert, dessen Quartsprung zu Beginn ebenso bekräftigend wirkt wie die wörtliche Wiederholung der Melodie im zweiten Takt (Epizeuxis). Bach spielt im ganzen Satz mit dem Gegenüber von Konzertisten und Ripienisten ebenso wie mit dem Gegensatz von Vokal- und Instrumentalstimmen, womit die Dualität von Himmel und Erde, Makrokosmos und Mikrokosmos in ihrer doxologisch-kündenden Struktur musikalisch angedeutet ist. Immerhin geht schon die Auslegung des Olearius zu Ps 19,2 deutlich in diese Richtung: „Es ist wahr, es reden Himmel und Erde, Tag und Nacht, Licht und Finsternis, das Reich der Allmacht und der Gnaden, Weh und Wohl, Kreuz und Trost, Tod und Leben, Gnade und Ehre.“302 Wie musikalisiert Bach diese Aussagen? „Die Vielfalt der musikalischen Mittel, die Bach auf engem Raum einsetzt und miteinander korrespondieren lässt, will  – so sieht es aus  – der Vielfältigkeit der Anrede Gottes in der Welt ent­ sprechen, von der im Text die Rede ist. Der Trompeteneinsatz über dem vierstimmigen Chorsatz symbolisiert die eine Stimme Gottes, die seine Schöpfung immer erneut anredet.“303 Außerdem finden sich beim Wort „Feste“ lange ausgehaltene Liegetöne des Sopran bzw. des Alts (vgl. T. 25–28; 47–49, vgl. die Tr. mit ausgehaltenem e’’ in T. 59–61). Sie symbolisieren das ausgespannte Himmelszelt oder besser: das gewölbte Firmament (vgl. Gen 1,6–8). Nach einem achttaktigen Zwischenspiel bricht dann am Ende des Präludiums die Orchesterbegleitung nach einer e-Moll-Kadenz völlig ab (T. 67). In der anschließenden virtuosen Fuge vertont Bach Ps 19,4 („Es ist keine Sprache noch Rede“). Obwohl

302 Olearius III, 120. Zugleich fühlt man sich an Luthers De servo arbitirio erinnert: „Deus absconditus in maiestate, neque deplorat neque tollit mortem, sed operatur vitam, mortem et ­omnia in omnibus.“ (WA 18, 685) Es braucht also auch die Stimme des Evangeliums, die Stimme der Schöpfung bleibt sonst ambivalent. 303 Petzoldt I, 56.

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semantisch gerade nicht von menschlicher Sprache die Rede ist, evoziert schon der Begriff „Sprache“ eine vokale Behandlung, die Bach dann in kunstvollster Weise gestaltet. Nachdem das syllabisch deklamierte Fugenthema durch alle Stimmen der Konzertisten gelaufen ist, treten mit dem Einsatz des ganzen Chors auch die Instrumente (colla parte) hinzu, ehe dann, alles krönend, die Trompete einsetzt (T. 116). Die sinntragenden Begriffe „hören“ und „Sprache“ werden durch lange Melismen geschmückt. Sie korrespondieren in gewisser Weise mit den Koloraturen des Begriffspaars „verkünden“ und „Hände“ (Werk) im Präludium, ähnlich wie der „Feste“ (lange Liegetöne)  nun die „Rede“ entspricht. Was im Präludium als vielfältige Anrede Gottes durch die Natur geschildert wird, raunt in der Fuge als polyphone Antwort der Kreatur durch den Kosmos. Das folgende Rezitativ des Tenors gliedert Bach analog zur theologischen Aussage in drei Teile: Die beschreibende Rede im ersten Teil bis zum Doppelpunkt ist als ausinstrumentiertes Secco gestaltet, die eigentliche Botschaft der Natur, gleichsam die wörtliche Rede, erklingt im ruhig schreitenden Arioso. Besonders hervorgehoben sind die beiden durch den Reim aufeinander bezogenen Verben „regen“ und „bewegen“ (T. 7 und 9 f), auf denen sich jeweils ein längeres Melisma entfaltet. Charakteristisch sind die „Quasi-Zweierbindungen“ parallel zur 1. Violine und 32tel-Figurationen, die der musikalischen Bewegung einen besonderen Charme verleihen und ohne Entsprechung in den Instrumenten sind. Dürr meint, dass die „motivische[n] Violinfiguren der Deklamation der Singstimme bei der andächtigen Betrachtung der großen Taten Gottes besonderen Nachdruck verleihen.“ Ausdrucksstark ist auch der in Dreiklängen abfallende Gestus der Singstimme in T. 13 f auf den Text „Gott selbst hat sich zu euch ge­neiget“ im Sinne einer un­ mittelbaren Hypotyposis. Der dritte Teil  beginnt mit dem drittletzten Takt: Die Ausrufe „auf, auf!“ bzw. „auf, kommt!“ sind als Exclama­tiones (vgl. T. 15 f) in der Singstimme gestaltet. Die Begleitung der Streicher (Viertelschläge) wirkt munter belebt und unterstreicht damit den Imperativ im Text im Kontrast zu den Liegetönen zuvor. In der darauf folgenden Sopranarie (Triosatz) illustriert Bach die Einladung an die Völker durch ein „sprechendes“ Fünfton-Motiv, das sich in Verbindung mit dem Text „Hört ihr Völker“ schon nach wenigen Takten im Ohr festsetzt und in allen drei Stimmen (Violine, Solosopran, Continuo) ständig präsent ist.304 Das „Eilen der Völker zum Gnadenthron Gottes“ auf die einladende Stimme Gottes hin wird durch ständige Imitationen zwischen Singstimme/Vl. 1 und Continuo unmittelbar Ereignis. Betrachten wir exemplarisch T. 8: Die Stimme Gottes redet (Sopran/Violine) und die Kreatur antwortet (Continuo eine Oktav tiefer), so dass ein echoartiger Nachhall (Unteroktav) entsteht (vgl. ähnlich T. 12 f). Noch komprimierter finden wir diesen Vorgang in T. 12, wo die beiden fallenden kleinen Terzen d-h-gis, unmittelbar aufeinander folgend, zunächst in der Singstimme, dann in der Violine und zuletzt im Continuo erklingen.



304 Vgl. Petzoldt I, 57: „[…] auch dort, wo der Text selbst nicht erklingt, prägt sich der damit verbundene Ruf dem Hörer ein.“

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

Im Blick auf das Text-Ton-Verhältnis gibt es einige anschauliche Details zu beobachten: So ist im A-Teil „Gottes Stimme“ in ihrem Herabneigen eher durch fallende Terz-Motive (vgl. T. 8–10; 12 f) dargestellt, während das „Eilen zum Gnadenthron“ durch lange aufsteigende Skalen abgebildet ist (vgl. T. 10; 13; 15 f bzw. instrumental T. 3 und T. 20). Der Gnadenthron selbst wird in T. 14 durch Koloraturen reich geschmückt. Diesem Gegensatz von Anrede Gottes (Katabasis) und menschlicher Antwort (Anabasis) entspricht im B-Teil einerseits die Ausleuchtung des inkarnatorischen Attributes „eingeborner“ (Katabasis, T. 26) und andererseits das Verb „wenden“ (Anabasis, T. 35 Solosopran, T. 37 Bass).

Das folgende Secco des Basses steht zu dieser Arie in deutlichem Kontrast: Der Zuwendung zu Gott ist eine Abwendung von Christus gegenübergestellt. Die „Predigt“ entlarvt die Götter „Lust“ und „Torheit“ als gefährliche Götzen und nimmt davon die Christen nicht aus. An der Stelle „Weise brüten Torheit“ aus (T. 6) findet sich im Continuo eine Pathopoieia (mit Querstand a gegen ais und übermäßiger Sekund (g-ais) im Continuo), womit die „Torheit“ aufgedeckt wird. Ein Saltus duriusculus (mit kleiner None) illustriert die Tücke des teuflischen Belial. Das Weglaufen von Christus wird durch eine Imitation in Vokal- und Instrumentalbass mit drei Sechzehnteln als Kopfmotiv (T. 8) abgebildet. Die Silbe „laufen“ selbst trägt als einzige gar ein kleines 32tel-Melisma. Atmosphärisch betrachtet, markiert die folgende Arie einen Höhepunkt der Kantate. Die trotzige Standhaftigkeit des Christen gegenüber der Welt steht dabei im Mittelpunkt. Sie wird als eine Art „Bekenntnis“ vor der Welt und vor Gott formuliert und berührt gerade darin auch emotional. Diese Arie thematisiert als Gegenbewegung zur Sopranarie (Laufen zu Gottes Gnadenthron) das Weglaufen von Gott. Dem Gnadenstuhl entspricht negativ der Höllenpfuhl (vgl. Apk 21,8).305 Das Hauptthema beginnt nach einer Suspiratio (Achtelpause)  mit einem Dreiklangsmotiv, das sich in Abspaltungen dann durch das ganze Stück zieht. Die Singstimme bringt mit ihren Sechzehnteltriolen eine Bewegung ins Spiel, die sich unschwer als Wegwerf- oder Rachegeste deuten lässt. Im einleitenden A-Teil, der in zwei Teile zerfällt (T. 6–8 und T. 13–24), ist der Ruf „Fahr hin“ auf engstem Raum allein neunmal zu hören. Schwerer zu interpretieren ist dagegen die Tat­sache, dass die Reimentsprechungen „verkehren“ und „(Christum) verehren“ im unmittelbar anschließenden B-Teil zunächst in Folge einer Sequenz (Gradatio) mit der gleichen Motivik belegt sind (T. 19 und 21). Betrachtet man allerdings den folgenden Formteil (T. 28–36), so wird deutlich, dass Bach hier eine „Spur“ gelegt hat, die er dann freilich nicht erfüllt: T. 31 setzt T. 29 (vgl. T. 19 und 21) nicht analog mit einer weiteren Gradatio fort, sondern überrascht durch eine Koloratur, die ungefähr doppelt so lang ist und sich auch motivisch bewusst vom „Verkehren“ absetzt. Außerdem tritt eine innige Streicherbegleitung dazu (T. 31 f), die der bis dahin vorherrschenden Zerrissenheit ein Ende macht. Die theologische Pointe besteht darin, dass hier Christus als „Licht der Vernunft“ besungen wird, was Bach an dieser Stelle auch durch einen Tempowechsel zu einem eintaktigen Adagio (T. 36) unterstreicht. Die Zweierbindungen in den Sechzehnteln erinnern stark an das Arioso in Satz 2 (Tenor-Rezitativ). Am Ende kehrt der Anfang („Fahr hin abgöttische Zunft“) ohne ein echtes Da capo wieder, der Ausbruch übertrifft den Anfangsteil dadurch, dass der Imperativ „Fahr hin“ nun zehnmal statt nur neunmal erscheint, was als Hinweis auf das Gesetz (10 Gebote) verstanden werden könnte. Besonders

305 Vgl. Petzoldt I, 58.

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wirkungsvoll ist der vorletzte Einwurf, der in eine Fermate mit „falschem“ Trugschluss führt, ehe eine Tirata306 in der Singstimme (T. 48) der „Racheorgie“ ein Ende macht.

Unschwer ist das anschließende Rezitativ des Alts (Satz 6) als Gegenstück zum verkündigenden Satz 2 (Tenor) gestaltet. Die Altstimme steht als Stimme des Glaubens für die ganze zum Glauben an Christus gerufene Kirche. Formal finden wir (wie in Satz 2) die Struktur Secco-Arioso, wobei Bach das konfessorische „Drum sei dir dies Gebet demütigst zugeschickt“ vom Vorangegangenen u. a. durch mehrfache Wiederholung absetzt. Er strukturiert die 17 Takte somit in einen „retrosepktiven“ Teil (10 Takte), der auf das Evangelium aus Lk 14 bzw. auf Satz 2 und 3 bezogen ist, und einen „prospektiven“ Teil, der unmittelbar zur Choralstrophe (Satz 7) bzw. Teil II überleitet. Herausgehobene Spitzentöne im Secco sind „Herr“, „erquickt“, „Licht“ und „Geist“, sie stehen im Gegensatz zum Tiefton cis’ bei „Finsternis“. Die Choralstrophe Luthers schließt den A-Teil der Kantate ab. Ungewöhnlich ist, dass hier neben dem vierstimmigen Chor im üblichen Kantionalsatz fünf obligate Stimmen musizieren: die selten verwendete Tromba a tirarsi (Zugtrompete) und ein vierst. Streicherchor, dessen Mittelstimmen sich bei den Choraleinsätzen mit den Mittelstimmen des Chors vereinigen. Die zahlreichen Synkopen in Violine 1 geben der Segensbitte einen besonderen Nachdruck, die quasi ostinate Bassstimme (Continuo) mit ihrem rhythmisch einprägsamen Viertonmotiv könnte aus dem Mittelteil der ersten Melodiezeile entwickelt sein.307 Die Vorimitation des Choralthemas in der Trompete ist als eine musikalische Reminiszenz an den Eingangschor zu deuten, denn auch dort erklingt anfangs zuerst die Trompete. Sie steht dafür, dass Gottes Lob auch „ohne Sprache und Rede“ (Ps 19,4) durch die Schöpfung klingt.308 Den zweiten Teil eröffnet der Thomaskantor mit einem intimen Triosatz, der später in einer Triosonate für Orgel (BWV 528) noch einmal Verwendung ge­ funden hat.309 Das darauf folgende Accompagnato beschreibt nach zwei Seiten das Leben der Christen coram Deo und coram mundo, die gläubige Existenz zur Ehre

306 Vgl. Walther, Art. Tirata: „Tirata (ital.) Tirade (gall.) bedeutet ein Zug oder Strich, und überhaupt eine Reihe vieler Noten von einerley Geltung, die sowohl auf- als absteigend einander gradatim folgen.“ Mattheson, II, § 43, schreibt dazu: „Nun kommen wir zur Tirata, welche […] mit Macht herauf oder herunter schiesset und ein gar schnelles Schleuffen [sic], gemeiniglich in Pans Quint, auch wol in die Okatv, doch seltener anstellet.“ 307 Vgl. Petzoldt I, 59. 308 Simpfendörfer kommentiert dazu: „Auffällig ist auch die Verdopplung von ‚gnädig‘ bzw. ‚genädig sein‘ in Alt und Tenor am Ende der Choralzeile ‚Es wolle Gott uns genädig sein‘ (BWV 76/7), allerdings wird bei der Wiederholung und dem Choral BWV 76/14 entsprechend mit anderem Text verfahren. Es legt sich die Vermutung nahe, dass Bach zunächst, um ‚gnädig hervorzuheben, so textiert und dann eben die übrigen Choralzeilen anpasst, ohne auf die entsprechenden Worte dieselbe Betonung zu legen.“ 309 Die kammermusikalisch reizvolle Triobesetzung von Oboe d’amore, Viola da gamba und Basso continuo deutet Petzoldt als Hinweis auf die Trinität, was im Zusammenspiel mit dem Schluss­ choral und im Blick auf die Gesamtkonzeption der Kantate zu der Einordnung in den trinitäts­ theologischen Diskurs geradezu nötigt. Vgl. Petzoldt I, 56, der die Dramaturgie der ganzen Kantate in Form einer Raute darstellt. Küster weist darauf hin, dass Bach mit diesem Satz stilistisch an früheste Kantatensinfonien aus Mühlhausen und Weimar anknüpft. Vgl. Küster, 199.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

Gottes und im konfliktreichen Gegenüber zur Welt. Der Trias von Glauben, Liebe und Heiligkeit, in der Singstimme jeweils durch Pausen voneinander abgetrennt, entsprechen Streit, Hass und Gefahr im zweiten Teil, die ebenfalls durch Suspirationes unterbrochen werden. Damit stehen sich die Takte 1–5 und 6–10 anti­ thetisch gegenüber, das dritte der drei Substantive trägt jeweils den Zielpunkt der Phrase. Die anschließende Arie des Tenors nimmt den „negativen Affekt“ des zweiten Rezitativteils (Streit, Hass, Gefahr) wieder auf und entfaltet den Hass der Feinde gegen die Gerechten. Die Sprachform ist eine Art „Trotzbekenntnis“. Damit wird ein zentrales Motiv aus den Klagepsalmen aufgenommen und entfaltet. Allerdings ist der Glaubende nicht Subjekt des Hasses, sondern ihm nur ausgesetzt. Musikalisch haben wir ein ostinates Bassthema als Grundlage, das sich dem Zuhörer als Ostinato vernehmbar macht und über neun Takte erstreckt (2+2+2+3). Schon beim ersten Einsatz des Tenors klingt zwischen Continuo und Singstimme ein Tritonus, ein Triller unterstreicht die Erregung des Sängers, die im Übrigen durch ständige Syncopationes unterstrichen wird (z. B. T. 11). Insgesamt finden wir auf dem Verb „hassen“ fast alle erdenklichen Möglichkeiten einer affektbetonten Textbehandlung: a) Triller (Tremolo), vgl. T. 10 b) Synkope (Syncopatio), vgl. T. 11; 20; 28; 32; 33; 83; 87 f c) Koloratur (Tirata), vgl. T. 18; 26; 81 d) Scharfe Dissonanz zum Continuo (Pathpoieia), vgl. T. 10; 19; 27; 82. Diese Stilmittel sind umso auffälliger, als sie im B-Teil (T. 35 ff) weitgehend ausge­blendet sind, der seinerseits dem ersten Teil des vorangehenden Rezitativs entspricht und ein hymnisches Christusbekenntnis entfaltet. Bachs musikalische Sprache ist hier ambivalent und differenziert zugleich: Rein sprachlich wird christliche Existenz hier einerseits als eine fröhliche Sache beschrieben, worauf die Tonalität in C-Dur (T. 40 ff)  und die fehlenden Synkopen hinweisen. Andererseits ist aber auch ein Verzicht auf Freuden der Welt aus­ gesagt. Vielleicht ist die Überlänge der Koloratur beim Text „[Christum gläubig zu] umfassen“ (T. 43–49 bzw. 63–68), die alles Bisherige bei weitem an Virtuosität übertrifft, so zu interpretieren, dass in der innigen Christusgemeinschaft – gleichsam von selbst – alle anderen Freuden buchstäblich zur Nebensache werden.

Der Affektbegriff „Freude“ wird ebenfalls durch Koloraturen geschmückt, sei es durch eine Tirata (T. 51) oder einen Circolo mezzo,310 jeweils mündend in zwei Hemiolen­takte (T. 70). Insgesamt ist festzustellen, dass Bach durch die sich stets wiederholende Bassfigur im Continuo eine Art „Variationssatz“ schafft, dem allerdings durch die ganz aus dem Text erzeugte Melodik, Harmonik und Rhythmik eine Reprisenform (ABA’) übergeordnet ist. Im folgenden Rezitativ des Alts, das in der Wortwahl und in der Form stark an Satz 6 erinnert, spricht wieder die Stimme des Glaubens. Explizit aus Satz 6 aufgenommen werden „der Geist“ und das Sakrament als Speise für den Glauben. Hier wird der hörenden Gemeinde – während der Austeilung der Kommunion

310 Vgl. Bartel, 120 f u. a. mit Hinweis auf Walthers Lexicon.

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im Gottesdienst!  – das Abendmahl als Gemeinschaftsmahl vor Ohren gestellt, das die Geschwisterliebe stärkt. Dies geschieht durch die Metapher des biblischen „Manna“, womit die alttestamentliche Wegzehrung in der Wüste auflebt. Bach hebt diesen Begriff durch eine musikalische Verdreifachung und melismatische Behandlung besonders heraus. Das Rezitativ leitet über in eine zauberhafte Arie mit der nochmaligen Besetzung der Sinfonia (Oboe d’amore und Viola da gamba als Obligatinstrumente), die die Geschwisterliebe mit ihren letzten Konsequenzen besingt. Spätestens jetzt wird deutlich, dass Bach auch im zweiten Teil  der Kantate den Kontrast sucht. Während die Tenorarie (Satz 10) ein trotziges Bekenntnis im Angesicht einer hasserfüllten Feindesschar proklamierte, wird nun mit intimen Klängen eine Ermutigung zur „Liebe in der Tat“ ausgesprochen. In beiden Fällen verwendet der Textdichter einen Imperativ; hier allerdings mit einfühlsamem Werben, das Bach durch einen leicht beschwingten 9/8-Takt unterstreicht, obwohl hier immerhin von stellvertretendem Leiden und Sterben auch der Christen (!) die Rede ist. Es fällt auf, dass der Textdichter ganz ohne die Metaphorik eines stellvertretenden Strafleidens (Jes 53) oder einer diffizilen Sühnetheologie (Röm 3,24–28) auskommt. Die theologische Pointe ist freilich das sachliche Prae der Tat Christi. Der geschwisterlichen Hingabe geht Christi Hingabe voruas, und zwar als sacramentum, nicht als exemplum.311 Ihre Liebestat wird dadurch ermöglicht, dass „er [sc. Christus] sie verbunden hat“. Das anschließende Rezitativ des Tenors nimmt in verkündigendem Sprechakt (wie Satz 2) die vorangegangene Arie und die ersten beiden Sätze der Kantate wieder auf. Die Christenheit stellt sich mit ihrer diakonischen und ihrer doxo­ logischen Lebensäußerung an die Seite der erzählenden und Gott rühmenden Schöpfung, ja begibt sich förmlich in sie hinein. Bach schmückt das Erzählen mit einer langen Koloratur und beleuchtet damit das nimmer endende Künden der Größe Gottes, das bis in die Ewigkeit (T. 4) hinein klingt. Die Kantate schließt mit dem in Satz 7 bereits musizierten Choralsatz, der zugleich ein Dankgebet (T. 3–16) als auch Segensbitte (T. 17–22) und Akklamation (T. 24–33) ist. Da dieser Satz mit seiner trinitarischen Segensbitte im Abgesang mehr Epiklese denn jubelnder Lobpreis ist, macht die Korrespondenz mit Satz 7 sehr guten Sinn, selbst wenn eine tiefere Verknüpfung von Wort und Musik hier nicht gegeben ist. Allerdings wirkt die durchgehende Viertonfigur im Continuo mit ihrer charakteristischen Suspiratio (Sechzehntelpause) und dem nach oben steigenden Sechzehntelmotiv als expressive flehende Geste, die unmittelbar verstanden wird. c) Liturgische Betrachtung BWV 76 eröffnet durch seine dogmatische und ethische Allgemeingültigkeit und Weite, aber auch durch seinen eucharistischen Bezug die Möglichkeit in sehr unterschiedlichen Kontexten des Gottesdienstes und des Kirchenjahres eingesetzt zu werden. Ein Abendmahlsgottesdienst am Erntedankfest ist ebenso denkbar

311 Vgl. Jüngel, Sacramentum, bzw. Arnold, 18 f.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

wie ein Gottesdienst am 2. Sonntag n. Trin., der bis heute durch Lk 14 als Evangelium liturgisch geprägt wird. Neben der Abendmahlsthematik312 kann aber auch das Moment des Segens (vgl. Satz 9 und 14) oder der Nachfolge (Satz 3; 6; 9) bzw. die Gegenwart Gottes in der Schöpfung (Satz 1; 2; 13 f) akzentuiert werden. Sollte man auf eine Aufführung am 2. Sonntag n. Trin. zugehen wollen, so könnte man sich folgenden Ablauf vorstellen: Psalm 36 (oder Ps 19,1–7) – Lied EG 250 – Lesung Jes 55,1–5 – EG 363 – Evangelium Lk 14,16–24 – Kantate, Satz 1–7 – Predigt – Kantate Satz 8–14 – Credo Man könnte auch die einzelnen Sätze der Kantate verschiedenen gottesdienst­ lichen Stücken zuordnen, die dann Struktur und Ablauf des ganzen Gottesdienstes bestimmen würden: Satz 1 könnte als Psalmgebet bzw. -lied erklingen, während Satz 2–5 einen ersten Predigtteil bilden würden, wohingegen Satz 6 und 7 an der Stelle eines Gebetes stünden. Satz 8 könnte als Meditation nach einem gesprochenen Predigtteil kommen, die durch die musikalische Predigtparänese Bachs und seines Dichters in Satz 9–12 weitergeführt würde. Satz 13–14 stünden als Zusammenfassung, Sendung und Akklamation am Ende des Gottesdienstes (vor dem Segen).

6.4.2 Gelobet sei der Herr (BWV 129) Betrachten wir nun nochmals313 die Vertonung des Trinitatisliedes Gelobet sei der Herr in Bachs gleichnamiger Choralkantate (BWV 129). Sie ist eine nachträgliche Ergänzung zu seinem zweiten Choralkantatenjahrgang und wurde im Jahr 1726, entweder an Trinitatis oder spätestens am Reformationsfest,314 erstmals auf­geführt. Sie gehört zu dem Typ jener Choralkantaten, der ein Kirchenlied ohne Veränderungen übernimmt und per omnes versus durchkomponiert. Hier begegnet uns J. Olearius als Poet. Im Gegensatz zur oben betrachteten Kantate BWV 117, die demselben Typus angehört, finden sich hier keine Rezitative. Bach hat als cantus firmus die Melodie von O Gott, du frommer Gott und nicht die von Nun danket alle Gott (EG 139) zugrundelegt.315 a) Hymnologische Analyse Die Struktur der Strophen 1–3 ist auf den ersten Blick transparent: Mit Vater, Sohn und Geist werden die Personen der Trinität in ihren verschiedenen Wirkweisen besungen, was in Str. 4 und 5 mit Anklängen an Jes 6 bzw. an das Sanctus der Messe oder das Te Deum laudamus gebündelt wird. Das vierfache „Gelobet“

312 Vgl. dazu insbesondere das Proprium des 7. Sonntags n. Trin., vgl. EGB 362 f. 313 Vgl. oben 6.0.3 zum soteriologisch-ontologischen Gefälle doxologischer Aussagen (mit Abdruck des vollständigen Textes der Kantate. Zu beachten ist, dass Bach (vgl. dgg. BWV 117) Satz 2–4 mit Aria überschreibt. 314 Vgl. Petzoldt II, 1076. 315 Vgl. dazu Petzoldt II, 1076, der darauf hinweist, dass sich die Verbindung mit dieser Melodie erstmals 1679 bei Ahasverus Fritsch findet, während frühere Veröffentlichungen die uns geläufige Melodie von Johann Crüger (z. B. Dresdner Gesangbuch 1673) verwenden.

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zu Beginn von Str. 1–4 erinnert an Lk 1,68 (Benedictus), wir haben das Stilmittel der Anapher vor uns. Im Blick auf die poetische Faktur, fällt auf, dass die jambischen Verse mit Sechs- und Siebensilbern zur Hälfte kein Reimpaar haben, was einigermaßen ungewöhnlich ist. Nur Z. 2/4 und 6/8 entsprechen sich als Kreuzreime in allen Strophen. Str. 1–3 werden durch die beiden ersten Zeilen zusammengehalten, die jeweils mit „Herr“ und „Leben“ enden, hier liegt das Stilmittel der Epanalepse vor.

Außerdem kehrt das Partizip „gegeben“ in der vierten Zeile der ersten drei Strophen jedes Mal wieder. Hier haben wir den Schlüssel für das Verständnis der ersten drei Strophen, ja des ganzen Liedes: Gottes Handeln an uns in Schöpfung, Versöhnung und Erlösung ist Gabe, ganz und gar Geschenk: Hier ist zu hören, „daß das, was die Welt im Innersten zusammenhält, nicht etwa der Kategorische Imperativ ist, sondern die Kategorische Gabe“316. Str. 4 wiederholt die Kopfzeile in Vers 5, wodurch eine komprimierte und emphatische Zusammenfassung der ersten drei Strophen entsteht. Das Lob wird stärker ontologisch expliziert, wenn der Begriff des Namens und das Prädikat der Heiligkeit ins Spiel kommen. Str. 5 ist als kleines Sanctus eine doxologische Applikation von Str. 4: Hier stimmt die ecclesia militans in das Lob der ecclesia triumphans ein. Bezeichnenderweise fehlt die Kopfzeile, sie ist vielmehr ans Ende gerückt, allerdings mit einer nicht un­ erheblichen Veränderung: Anstelle von „Gelobet sei der Herr“ heißt es nunmehr „Gelobet sei mein Gott“. So mündet das objektive, eher distanzierte „der Herr“ am Ende in das subjektiv-vertrauensvolle „mein Gott“. Sprachlich fällt auf, dass Olearius zahlreiche Anaphern wie etwa „Mein“ (Str.  1); oder „Der“ (Str. 3) benützt, um die Strophen zu bündeln und untereinander zu verknüpfen: Das Handeln der drei Personen wird jeweils mit einer Bekenntnisaussage in drei Relativsätzen expliziert. Das Trikolon in Z. 2 („mein Gott, mein Licht, mein Leben“, vgl. Str. 2 f) drückt eine innige Nähe des glaubenden Menschen zu den drei Personen der Trinität aus. Gottes Handeln und Sein als Schöpfer, Versöhner und Vollender wird in der Form eines Bekenntnisses persönlich appliziert, steht also nicht als etwas ungeschichtlich Transzendentales, rein Onto­logisches da. Das jeweils mittlere Glied markiert das Proprium der jeweiligen gött­ lichen Person und ihres Werkes: „Licht“ steht für die Schöpfung (creatio originans und creatio continuata), „Heil“ für die Versöhnung in Christus und „Trost“ für das Wirken des Heiligen Geistes (als Paraklet vgl. Joh 14,26; 15,26 u. ö.) in der Austeilung des Heils. Das Proprium der schöpfungstheologischen Aussagen (Str. 1) besteht darin, dass hier Schöpfungs- und Providenzlehre auf das persönliche Moment konzentriert sind: Es geht Olearius um Erschaffung und Bewahrung schon im Mutterleib (vgl. Ps 139), aber auch an allen Tagen des Lebens.317 Mit dem Begriff „Licht“ ist pars pro toto ein Wirken in und an der ganzen Schöpfung ausgesagt, die bei ­Johannes mit der Schöpfungsmittlerschaft Christi (Joh 1,4 f.9; vgl. 8,12) verbunden ist.318 Wichtig ist der Zusammenhang von Vatersein und Schöpfersein Gottes, so dass die gütige Nähe noch die heilige Allmacht Gottes ausgewogen abgebildet sind. Die zweite Hälfte der Strophe schließt sich eng an Sirach 50,24 an, ja kann

316 Vgl. Bayer, 400. 317 Vgl. dazu Luthers Kl. Katechismus zum ersten Artikel, BSLK 510 f. 318 Vgl. auch die Formulierung im Nicaeno-Constantinopolitanum: „Deum de Deo, lumen de lumine“, BSLK 26.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

fast als „Textparodie“ von Rinckarts Nun danket alle Gott (Str. 1) bzw. von Paul Gerhardts Nun danket all und bringet Ehr (EG 322) betrachtet werden.319

Str. 2, die den zweiten Glaubensartikel ausführt, birgt eine wichtige Steigerung. Der Sohn gibt sich selbst; er gibt nicht nur etwas, wie der Vater dem Menschen Leib, Seele und Schutz gibt, sondern schenkt sich dem Glaubenden in Person. Damit sind Person und Wirken Christi untrennbar miteinander verbunden. Das Erlösungsgeschehen wird dann in doppelter Weise beleuchtet: Das „Ein-für-alle­ mal“ des Heilsgeschehens in Kreuz und Auferstehung (vgl. Hebr 9,26–28) als ontische Grundlage („erlöset hat“, Perfekt) und seine Zueignung durch den Glauben (Präsens: „schenkt“) kommen beide zur Sprache. Das „teure Blut“320 steht für die soteriologische Mitte des Sühnetodes Jesu am Kreuz (vgl. Röm 3,25; 2 Kor 5,17–21 u. ö.), ohne dass damit Satisfaktorionsaussagen gemacht wären,321 die das Heilsgeschehen am Kreuz im Sinne einer „Besänftigung des zornigen Gottes“ deuteten. Anstelle einer Opferaussage steht hier „für mich gegeben“, was den Aspekt der persönlichen Hingabe Christi in den Mittelpunkt rückt. Solus Christus, sola gratia und sola fide werden damit gleichsam zusammengeschaut: Christus ermöglicht die Zusagen des Geistes, der Geist eröffnet die Schätze des Werks Christi. Mit dem Begriff „Trost“ wird in Str. 3 das Handeln des Parakleten (vgl. Joh 14,26; 15,26 u. ö.) fokussiert. Er wird am Ende der Strophe mit dem Trikolon „Rat, Trost und Hülfe“ sogar nochmals aufgenommen. Zugleich korrespondiert das Werk des Spiritus Creator aber auch mit dem des Schöpfers: In beiden Strophen ist jeweils in der siebten Zeile eine zeitliche Totalität angesprochen: „alle Augenblick“ und „in aller Not“ sind Lebenssituationen des Menschen, die erste ist von höchster Allgemeinheit, die zweite von bedrängender Besonderheit. Das von Gott ausgehende Gute (vgl. Str. 1 „viel Guts“) wird in Str. 3 als die kreative Eröffnung von „Rat, Trost und Hilfe“ konkretisiert. Das Trikolon enthält ein orientierendes (Rat), ermutigendes (Trost) und therapeutisches (Hilfe) Moment der Zuwendung Gottes. Eine schöne Analogie ist die Entsprechung der dreifachen Anapher des Possessiv­ pronomens Mein in Str. 1 zu der vierfachen Wiederholung des Personalpronomens mir in Str. 3. Überhaupt ist das Mir als dominantes Pronomen festzustellen, woran sichtbar wird, dass der Dativ der Kasus des Evangeliums ist: Mir wird etwas geschenkt, uns kommt Gottes Gnade zugute usw.

An dieser Stelle soll der 3. Glaubensartikel kurz in seiner ökumenischen Relevanz betrachtet werden, haben sich hier doch schon 1054 im Streit um das Filioque die Geister im Westen und im Osten geschieden. Wir treten dazu in ein Gespräch mit dem orthodoxen Theologen Nissiotis ein, der das ostkirchliche Anliegen  – die Vermeidung eines Christomonismus – deutlich macht:

319 Vgl. Petzoldt II, 1077 f bzw. EG 321,1: „Der uns von Mutterleib / und Kindesbeinen an / unzählig viel zu gut / und noch jetztund getan.“ Poetisch gelungener ist Gerhardts Dichtung zu Sir 50,24: „der uns von Mutterleibe an / frisch und gesund erhält / und wo kein Mensch nicht helfen kann / sich selbst zum Helfer stellt“ (EG 322,3). 320 Vgl. 1 Petr 1,18 f bzw. Luthers Kl. Katechismus, BSLK 511 zum zweiten Artikel. 321 Vgl. dazu besonders Anselm, Cur deus homo, dessen spekulativer soteriologischer Ansatz bis heute (auch unbewusst) die theologische Diskussion prägt.

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„Filioquismus in Form eines Christomonismus führt zu einer partiellen Sicht der Offenbarung. Der Hl. Geist verliert seine personale Existenz und wird zur bloßen unpersön­lichen Kraft und zum Vertreter Christi im Menschen. So wird der Hl. Geist zu einem sekundären Element der Trinität reduziert, er wird funktional und instrumental verstanden. […] Wir müssen ein klare Vorstellung vom Hl. Geist, als dem Parakleten (Tröster, Beistand) haben, d. h. als dem personalen Wesen, das hier und jetzt das in Christus gegebene Heil unter den Menschen erfüllt, gegenwärtig und wirksam macht. Er ist der Geist, der von Anfang an beim Sohn war, der die Welt schuf, die Propheten leitete, den Logos Gottes im Fleisch Mensch werden ließ, der Jesus immer begleitete, ihn vom Tode erweckte und die apostolische Kirche gründete, indem er sie mit ihrem Haupt, Christus, an Pfingsten vereinigte.“322

Betrachten wir daraufhin nochmals Str. 3: Der Heilige Geist ist im Choral von Olearius in strenger Analogie zu Vater und Sohn selbst Herr, Gott und Leben, also handelnde Person nicht nur Kraftquelle, Liebesband o.ä. Sein Proprium gegenüber den anderen Personen ist Trost. Der Geist ist nicht identisch mit seinen Gaben „Kraft, Trost und Hilfe“, vielmher ist er immer selbst ein Geber, „der mir mein Herz erquickt“ und „der mir in aller Not Rat, Trost und Hülfe schafft.“ Zugleich wird er aber auch als Gabe des sendenden Sohnes gerühmt. Sein Werk kann von dessen Werk nicht abgetrennt (wohl aber unterschieden) werden. Innerhalb der drei ersten Strophen ist also eine innere Logik zu erkennen, die die einzelnen Personen (vgl. „des Vaters ewger Sohn“ bzw. „des Vaters werter Geist, den mir der Sohn gegeben“) aufeinander bezieht und damit den Beziehungsreichtum Gottes andeutet, ohne subordinatianische Aussagen zu machen. Das „Filioque-Pro­blem“ ist m. E. ökumenisch konsensfähig gelöst: Das „procedit“ wird nur dem Vater zugeschrieben, dennoch wird die Sendung des Geistes (vgl. Joh 14,26; 15,26 u. ö.) vom Sohn her expliziert, wenn damit gemeint ist, „dass der Hl. Geist nur vom Vater in Ewigkeit ausgeht und dass er in der Zeit durch den Sohn gesandt ist“323. Stärker als Str. 1–3 sind die beiden letzten Strophen überschwänglich doxo­ logisch geprägt. Hier kommt etwas von dem Jubel zum Ausdruck, der schon jetzt im Lobpreis Gottes himmlische und irdische Welt miteinander verbindet.324 Die Thronvision des Jesaja325 wird auf dem Horizont des Nicaenoconstantinopoli­ tanum326 bzw. des Te Deum327 dezidiert trinitarisch interpretiert.

322 A. a. O., 26 f. 323 Nissiotis, 26. 324 Vgl. Hardy/Ford, 19, mit der Rede von einer geistlichen „Logik des Überfließens“ („the logic of overflow“). 325 Vgl. dazu Olearius IV,40 zu Jes 6,3: „Die Erklärung, dass allhier zu verstehen sei der Herr Jehovah (Ps 27,1), welcher heist Jehovah Elohim (Gen 2,4 davon Gen 1,1), Adonai Gen 40,1 und ­Zebaoth (vgl. Ps 24,10), der einige HERR (Dtn 6), von welchem Johannes sagt: Die Drei sind Eins (1 Joh 5 [sc. 5,7b] nämlich: I. Der Heilige Vater, der einen ewigen Sohn hat, wie der Psalm 2 lehrt und 2 Sam 7,23 [gemeint ist wohl: 2 Sam 7,14: „Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein“]. II. Der heilige Sohn, der einen ewigen Vater hat (Ps 2), von welchem hier geredet wird (Joh 12,41). III. Der Heilige Geist (vgl. Ps 51), von welchem der Prophet redet als zu sehen (Act 28,25), welcher kein anderer als der Herr, das Wort und der Geist seines Mundes ist, wie David bezeugt (Ps 33). […] Welcher allein ist der Herr, dessen Ehre Cabod (vgl. Sir 3); doxa. (Lk 2).“ 326 Vgl. BSLK 26. 327 Vgl. Arnold, 493–505.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

b) Die Sätze der Kantate im Einzelnen Kommen wir nun zur Musik Bachs, die uns in dieser Kantate besonders strahlend und festlich begegnet und damit Trinitatis liturgisch unter die Hochfeste der Kirche einordnet. Über den opulent besetzten Eingangschor (3 Trompeten mit Pauken, drei Holzbläser) in D-Dur urteilt Dürr: „Doch wird, was dem Satz an tiefsinniger Themenverknüpfung und gelehrter Kontrapunktik fehlen mag, wieder wettgemacht durch die unmittelbare Wirkung seiner frischen, konzertierenden Thematik.“328 Wir können uns diesem etwas herablassenden Urteil nicht anschließen. Bachs Komposition besticht nicht nur durch ihre „konzertierende Thematik“, sondern auch in vielfältiger Weise durch „triadische Strukturen“, die dem Kasus Trinitatis und dem trinitarischen Choral Gelobet sei der Herr gerecht werden. Dies geschieht durch Instrumentation, Melodik, Kadenzbildungen, Satz und Textbehandlung. Die einzelnen triadischen Elemente lassen sich folgendermaßen entfalten: a) Besetzung: 3 Trompeten; 3 Holzbläser (2 Oboen und Traversflöte) b) Motivik/Melodik: In den ersten drei Takten ist ein dreifacher Aufschwung in Melodie (Fl./Vl. 1 und 2) und Begleitstimmen zu beobachten. Die Dreiklangs­ noten d, fis und a bilden jeweils die Spitzentöne. Diese Dreiklangsmotivik findet man auch in den Trompeten (T. 1 f): Spitzentöne sind z. B. d’’, fis’’ und a’’ in Tr. 1; a’, d’’, fis’’ in Tr. 2 etc. Die Trompeten 2 und 3 samt Pauke unterstreichen den dreifachen Aufschwung durch ein auftaktiges Dreitonmotiv. Auch das weitere motivische Material (vgl. T. 4–9; 10–18) lässt sich vorwiegend aus Dreiklangsbrechungen begreifen. Dreifach wiederholte Motive finden sich z. B. in T. 16–17 (Tr, Pk, Continuo) u. ö. c) Kadenzierungen, Gliederung des musikalischen Satzes im Verlauf: Das Orchesterritornell gliedert sich in 9+9 Takte329 und nicht etwa in 8+8 (vgl. ähnlich BWV 17,1 mit 27 Takten). d) Musikalischer Satz (Vertikale): Unter dem cf. des Soprans beim ersten Choreinsatz in T. 20–22 stehen die drei konzertierenden Unterstimmen des Chors, die, einander freipolyphon imitierend, mit einer Anabasis-Figur auf das Verb „Gelobet“ nach oben laufen.330 Diese Figur wird unmittelbar danach von den Trompeten übernommen. So vereinen sich gleichsam „irdische“ (Chor, ATB) und „himmlische Chöre“ (Trompeten) um den cf im Sopran herum. e) Textbehandlung: Das theologisch zentrale Trikolon „mein Gott, mein Licht, mein Leben331“, das an Ps 27,1 erinnert,332 wird von Bach in T. 25–31 in den

328 Dürr, 429. 329 Die beiden Neuntakter sind jeweils dreiteilig, wenn man Kadenzbildung und Motivik betrachtet: T1–4; T. 4–7; T. 7–9 und T. 10 f; T. 12–15; T. 16–18. 330 Die aufsteigende Figur in T. 26 (Fl. tr.) ist eine Variation der Anabasis von T. 20 (bei „Ge­ lobet“). In beiden Fällen wird also das doxologische Verbum durch die Figur der Anabasis illus­ triert, das Lobopfer steigt nach oben. 331 Das für die drei ersten Strophen zentrale Stichwort „Leben“ bekommt durch die Koloratur einen besonderen Schmuck, man kann darin auch eine unmittelbare Abbildung von „Lebendigkeit“ erkennen. 332 Vgl. Olearius III, 165 zu Ps 27,1, der eine explizite trinitarische Deutung entfaltet, vgl. Petzoldt II, 1077.

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Chorstimmen dreimal wiederholt: Dreifache Imitationen finden sich auch an den Stellen „mein Schöpfer“ etc. „mein Vater etc.“, „von Mutterleibe an“; „der alle Augenblick“ (4 × Alt; 3 × Tenor; 2 × Bass); „viel Guts an mir getan“. Freilich lassen sich die Beobachtungen zu diesem Satz nicht auf eine Subsummierung von Triaden beschränken. Folgende Wort-Ton-Bezüge sind darüber hinaus wichtig: Die Choralzeilen „mein Vater, der mich schützt“ und „von Mutterleibe an“ enthalten nicht nur die anthropologisch und christologisch reizvolle Komplemen­ tarität von göttlichem Vater und menschlicher Mutter, sie lassen sich bereits in der Choralmelodie als eine zusammenhängende Climax begreifen, die Bach auch im Chorsatz hervorkehrt.333 Am Ende dieser Abschnitte findet sich ein bekräftigender homophoner Schlussteil, ein Noema334 (vgl. BWV 137,1),335, das in seiner harmonischen Faktur gleichartig mit dem Vorigen ist. Auffällig ist ferner die Ausschmückung des Attributes „alle“ (Melismen in T. 65–68), womit deutlich wird, dass Bach wieder einmal Totalitätsaussagen besonders hervorhebt.336 Satz 2 (Arie in A-Dur) bringt die zweite, christologische Strophe des Chorals: Bezeichnenderweise singt hier der Bass, der ja gemeinhin für die vox Christi steht, nur begleitet vom Continuo. Vielleicht lassen sich die Zweistimmigkeit zum einen und die Wahl der beiden verwandten Bassregister zum anderen auf die innige Verschmelzung der zwei Naturen deuten.337 Dafür spricht auch, dass das Continuo die Solostimme zumindest anfangs (T. 17–20) exakt imitiert, also quasi kanonisch beantwortet. Das Ritornell enthält nicht 9+9 (vgl. Eingangschor), sondern wieder 8+8 Takte, was zur zweiten Person der Gottheit passt. Dennoch ist auch die Dreizahl der Trinität in der Taktart 3/8, dem tempus perfectum, präsent. Soteriologisch sind folgende Aussagen wesentlich: „Im ersten großen Vokalteil sind vier Zeilen zusammengebunden ([…] T. 29–60), aus denen das erste ‚gelobet‘ und das letzte Wort ‚gegeben‘ durch ausführliche Melismen hervorge­ hoben werden. Durch Wiederholung hebt Bach auch das ‚für mich‘ hervor und gewinnt in der Summierung mit ‚gegeben‘ die Mitte des Christuswerkes.“338 Beim Relativsatz „der mich erlöset hat mit seinem teueren Blut“, finden sich zahlreiche Kreuzmotive und Hemiolen: Das Leiden Christi und sein Kampf gegen „Sünde,

333 Vgl. Petzoldt II: „Auch die textliche Parallelisierung des göttlichen Vaters zur menschlichen Mutter – ‚der mich schützt‘ (6) ‚von Mutterleibe‘ an (7) erfährt eine charakteristische musikalische Ausarbeitung, nachdem eine Zwischenkadenz (T. 49–50) neue Aufmerksamkeit erzeugt hat.“ 334 Vgl. Bartel, 221: „Das musikalische noema bezeichnet einen homphonen Abschnitt in einer polyphonen Komposition, eine Bedeutung welche sich in allen Definitionen der Figur nachweisen lässt. […] Burmeisters Beispiele lassen erkennen, dass das ‚noema‘ stets mit den textlichen Höhe­ punkten der Komposition’ zusammenfällt.“ 335 Dasselbe Phänomen findet sich auch an den Textstellen „alle Augenblick“, T. 69, und „viel Guts, T. 71. 336 Vgl. Simpfendörfer, 294 bzw. oben 6.3.2 zu BWV 117 .ö. 337 Vgl. dgg. Petzoldt II, 1079: „Die verwandte Registerlage der beiden musizierenden Stimmen macht eindrücklich, dass Christi Erlösungstat für den glaubenden Menschen beides ist, nahe und fern zugleich, nahe in seinem Erlösungshandeln, fern in seiner unerreichbaren Heiligkeit.“ 338 Petzoldt II, 1078.

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Tod und Teufel“ wird so ausdrucksstark musikalisiert: Der rasche 3/8-Takt wird abwechselnd in Singstimme und Continuo durch einen übergeordneten 3/4-Takt überlagert, ein Hinweis wie hier göttliche und menschliche Natur Christi zur Rettung der Menschheit „ungetrennt und unvermischt“ und doch zeitgleich und „unteilbar“339 am Wirken sind. Mit der folgenden Sopranarie (Satz 3) schließt sich ein „Quartettsatz von getragener Feierlichkeit“340 (e-moll) an, in dem drei hohe Stimmen, eine Traversflöte, eine Violine und der Sopran, miteinander konzertieren. Es liegt nahe, dass die zwei Instrumente samt Sopran341 auf die Person des Heiligen Geistes ver­ weisen, der ja auch in der Kunstgeschichte immer wieder als etwas Lichthaftes (Verkündigungsdarstellungen, vgl. Lk 1) oder Schwebendes (Symbol der Taube342 in Taufdarstellungen) vorgestellt wird. Sein Herabschweben wird durch eine zirkulierende343 Sechzehntel-Figur  – insgesamt 176mal  – abgebildet. Sie lässt sich als Diminuition einer Kette von sechs Achteln begreifen, wie sie in T. 3; 13 u. ö. zu finden ist.344 Auch dieses Stück enthält eine gewisse Dreiersymbolik für die dritte Person der Trinität, aber auch für die Beziehungen der Personen zueinander: So ist schon der erste Einsatz des Soprans in T. 17 auf „Gelobet“ ausgesprochen ungewöhnlich: die Silbe „-lo-“ wird in einem dreifachen Anlauf wiederholt, erst dann folgt das eigentliche Thema, das man vom Beginn des Ritornells kennt, mit einer Ana­basis, die das zu Gott aufsteigende Lob abbildet. Besonders tiefsinnig ist die „Vereinigung“ des Soprans mit der Flöten- bzw. Geigenstimme an der Stelle „des Vaters werter Geist, den mir der Sohn gegeben“ in T. 27–30 und T. 45–48 zu einer Uni­ sono-Linie, so dass an diesen Stellen aus der Vierstimmigkeit eine Dreistimmigkeit wird! Bach zeigt mit dieser Stimmführung die Einheit des Geistes mit dem Vater (1. Oberstimme) und mit dem Sohn (2. Oberstimme) auf.345 Dem dreifachen

339 Vgl. die Formulierung von Chalcedon, DH 302. 340 Dürr, 430. 341 Vgl. dazu Steiger, 120 f mit Hinweis auf Sauberts Stimmensymbolik. 342 Vgl. Petzoldt II, 1079, der von einem fliegenden Vogel spricht. 343 Vgl. Walther, Art. Circolo bzw. Bartel, 119 f. Immerhin könnte mit der 16tel-Bewegung eine Flugbewegung im Sinne einer Hypotyposis gemeint und musiklalisch sein. 344 Es handelt sich also um eine Sechstongruppe, die oft mit einem vorangehenden Achtel kombiniert ist. Auch der erste Teil der Melodie in Flöte und Violine (T. 1) umfasst sieben Töne. Vgl. zur Symbolik der Siebenzahl Petzoldt II, 1079 bzw. Olearius IV,69 zu Jes 11,2: Der Geist wird hier folgendermaßen geschildert: „1. Der ruhende in seinem Tempel (1 Kor 3) wohnende HERR (vgl. Ps 132,14). 2. Der Geist der Weisheit. (Prv 1) 3. Des Verstandes. (Prv 3,5). 4. Des Rats […] (Jes 9). 5. Der Stärke […] (Jes 9). 6. Der Erkenntnis […] (Hi 19). 7. Der Furcht des Herrn (Ps 111) und aus der Fülle unseres Haupts empfangen wir alle Gnade (Joh 1).“ 345 Vgl. dazu auch das Duo Seraphim aus der Marienvesper von Monteverdi, jenem berühmten Terzett für drei Tenöre, das neben Jes 6,3 auch 1 Joh 5,7 f aufnimmt und an der Stelle „Et hi tres unum sunt“ einstimmig wird.

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„Gelobet“ folgt dann ein dreifaches „Der mir mein Herz erquickt“ im zweiten Teil der Arie: Gottes tröstliches Handeln und das menschliche Lob entsprechen sich. Besondere Aufmerksamkeit verdient Bachs chromatische und harmonische „Eintrübung“ beim Begriff „Not“ durch einen neapolitanischen Sextakkord (T. 69) und durch verminderte Septakkorde (mit Saltus duriusculus in T. 88 und T. 97), was an die Mitte tauftheologische Spitze des Evangeliums aus Joh 3 er­ innern mag. Dort heißt es: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, dass jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“346 Freilich bleiben derartige theologische Schärfen nur kurz präsent, zu freudig ist der Choral und Bachs musikalische Umsetzung gestimmt. Für die trinitarische vierte Strophe wählt er treffend eine Triobesetzung: Oboe d’amore und Alt duettieren in heiterer Gelassenheit über dem Continuo. Alle drei Stimmen konzertieren gleichwertig, die beiden Oberstimmen mischen sich gut durch die Lage im Altregister, was auf eine besonders innige Beziehung der göttlichen Personen hindeuten mag. Die Melodie lässt sich – z. B. mit ihrem Sextrahmen – aus dem Choralthema entwickeln, besonders schön ist die Anabasis bei „Gelobet“, vom Auftaktachtel („Ge-“) bis zur Spitzennote bei „Herr“, so wird eine große None ausgefüllt, also der Oktavrahmen um einen Ton überschritten. Das Intervall der None deutet auf die Zahl neun als Quadrat der drei. Das immer wiederkehrende Kopfmotiv der Melodie steigt als Lob des Glaubenden buchstäblich hoch zum „Herrn […], der ewig lebet“. Dieser Anfang kommt insgesamt neunmal vor, dreimal in der Vertonung des Stollens (T. 25–56) und sechsmal in der Ver­tonung des Abgesangs (T. 80 ff bzw. T. 103 ff). Die Textstelle „Gott Vater, Gott der Sohn und Gott, der heilge Geist“ bringt Bach signifikanterweise dreimal (T. 88–92; T. 109–118). „Zu den Worten ‚Gott Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilge Geist‘ erkling [sic] in T. 90–92 ein neun­töniges Unisono der drei beteiligten Stimmen, das die Dreieinigkeit symbolisiert.“347 Durch Koloraturen hervorgehoben sind die Verben „loben“; „schweben“; und das Wörtchen „alles“; das Bach an zahlreichen anderen Stellen auch immer wieder ausschmückt oder heraushebt.348

Die ganze Arie ist äußerst klar konzipiert, das Eingangsritornell in G-Dur (24 Takte) findet sich auch als Nachspiel am Ende. Die beiden Formteile des Chorals, Stollen und Abgesang, werden in zwei ungefähr gleich große Teile durch ein ebenfalls 24-taktiges Zwischenspiel abgetrennt, die gesungenen Passagen umfassen jeweils 28 Takte, 4+24 Takte im A-Teil (T. 25–56 zzgl. Zwischenspiel), und 12+16 Takte (mit Zwischenspiel) im B-Teil (T. 80–118). Der ausgesprochen festliche Schlusschoral weist eine obligate Besetzung des kompletten Instrumentariums auf, lediglich die Traversflöte oktaviert als 4’-Koppel

346 Vgl. Petzoldt, 1079 f mit Hinweis auf Olearius V, 617 zu Joh 3,8. 347 Meyer, Musik Bachs, 76; vgl. Petzoldt II, 1080, der von einem nur hier zu findenden „sukzessiven Unisono mit Oboen- und Continuostimme“ spricht, worauf dann bei der Nennung des heiligen Geistes (T. 91 f) „die Instrumentalstimmen von dem liegen bleibenden Ton der Singstimme nach außen [schweben], um sofort wieder zu einem einzigen Ton zurückzukehren“. 348 Vgl. dazu Simpfendörfer, 294: „Bach unterstreicht die Totalität einer Aussage nach der positiven Seite hin durch Hervorhebung von ‚alles‘.“ Der Verfasser verweist auf BWV 72,1; 97,1; 138,3 u. v. a.

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den cf. im Sopran nach oben. Chor (samt Flöte und Continuo) und Orchester (Bläser und Streicher) musizieren unter der Führung der Trompeten in einer Art konzertierendem Wechselspiel. An der Stelle „das Heilig, Heilig singen“ vereinen sich beide Gruppen und symbolisieren auf diese Weise das gemeinsame Musi­ zieren von irdischer und himmlischer Gemeinde (vgl. T. 20 f im Eingangschor). Dieser Satz ist gleichsam ein auskomponiertes Trishagion.349 Das ekklesiolo­ gische „Wir“, das erst in dieser Strophe explizit anklingt, wird durch den nahezu unverzierten cantus firmus im Sopran und den homophonen Satz sinnenfällig hergestellt. Hier singt der Chor hörbar „anstelle der Gemeinde“ das Lobbekenntnis.350 So entsteht durch die prächtige Instrumentation und die analoge Faktur des Satzes (Dreiklangsbrechungen, Dreitonmotive, konzertierender Wechsel von Orchester und Chor) eine starke Verklammerung von Eingangschor und Schluss­ choral. Fassen wir zusammen: Bachs Vertonung des Chorals von Olearius bietet nicht nur eine trinitätstheologische Summe seiner theologia adorationis351 und eine ökumenische Brücke zur Pneumatologie der orthodoxen Tradition, sondern lässt sich auch ohne Probleme in einer aktuellen gottesdienstlichen Situation denken, in der der Name des Dreieinigen mit Votum, Gloria Patri, Kollektengebet und Segen wöchentlich im Mittelpunkt steht. Bachs Musik ist geeignet, das Generationen und Geschlechter, Milieus und Frömmigkeitsstile umgreifende Lob des Dreimalheilig immer wieder neu zur Darstellung und zur Mitteilung zu bringen. c) Liturgische Erwägungen Gewiss ist BWV 127 prinzipiell an vielen Sonntagen und an anderen festlichen Anlässen denkbar. Sie könnte innerhalb eines feierlichen Gottesdienstes nach Grundform I mit ihren ersten drei Sätzen z. B. an der Stelle des Gloria oder des Credo und mit den beiden letzten Sätzen an der Stelle des Sanctus musiziert werden. Am ursprünglichen liturgischen Ort des Trinitatisfestes könnte ein Gottesdienstablauf folgendermaßen aussehen: Alttest. Lesung Jes 6,1–13  – EG 126  – Epistel Röm 11,33–36 (Doxologie)  – Kantate Satz 1–3  – Evangelium Joh 3, 1–8  – Credo  – Predigt  – [Credo] Satz 4 und 5



349 Auch hier lassen sich zahlreiche triadische Elemente entdecken: ein dreifacher Aufschwung in der ersten Trompete zu Beginn, der sich eine dreitaktige Sequenz mit je drei fallenden Figura-cortaMotiven (T. 3–5, auch in den Oboen) anschließt. Dreitongruppen in Pauken und Trompeten sowie im Bass (vgl. Eingangschor) und Dreiklangsbrechungen in beinahe allen Stimmen (vgl. T. 1 f) runden diesen Eindruck ab. Wie in Satz 4 ist der Ambitus der Melodie des zu Anfang und Ende erklingenden Ritornells die None (a’ bis h’’), was dem Gesamtambitus des Chorals gleichkommt. 350 Vgl. oben 1.5. 351 Vgl. Drumm, 291–296 mit Hinweis auf die Theologie Hans Urs von Balthasars.

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6.5 Das Lob des Namens Gottes in der Verschränkung der Zeiten Häufig kulminieren Bachs doxologische Kantaten in einem Lobpreis des Namens Jesu bzw. des dreieinigen Gottes.352 Dies geschieht aus gutem Grund. Schließlich spielt der Name Gottes in der biblischen Tradition und daher auch in der christ­ lichen Theologie eine wichtige, wenn nicht gar zentrale Rolle. Sie kann hier – auch nicht ansatzweise – dargestellt werden. Im Alten Testament steht der Name JHWH zum einen für die geheimnisvolle und heilige Ewigkeit Gottes (vgl. Ex 3,14; 6,3), mithin für seine Transzendenz. Zum anderen repräsentiert er auch Gottes gnädige Offenbarung und Kondeszendenz, zu der gehört, dass er „angerufen werden kann“ (vgl. Gen 4,26b) bzw. Gott-mit-uns ist (vgl. Jes 7,14). Dies besagt u. a. die „Huldformel“353 in der Präambel des Dekalogs (Ex 20,2). Im Neuen Testament steht der Name Jesu (nicht zuletzt von seiner aramäischen Bedeutung her) für Gottes Offenbarung zur Rettung aus Sünde und Tod (vgl. Mt 1,21–23; Lk 1,31–33), in der das Heil und die Seligkeit der Menschen begründet ist (vgl. Act 4,12). In Mt 18,20 wird sein Name dezidiert mit der gottesdienstlichen Versammlung und in Mt 28,18–20 mit dem Taufbefehl in Zusammenhang gebracht.

Die zentrale Bedeutung des Namens Gottes für die christliche Theologie spiegelt sich auch in der Liturgie der Kirche. So war schon im ersten Jahrhundert das älteste Taufbekenntnis mit der öffentlichen Nennung des Namens Jesu als des auferweckten Herrn verbunden. Es lautete schlicht: Kyrios Jesus. Herr ist Jesus (vgl. Röm 10,9). Von daher erklärt es sich, dass bis heute im Votum bzw. in zahlreichen Grußformeln (Salutationes) im christlichen Gottesdienst der Name Christi proklamiert und akklamiert, einander zugerufen und erinnert wird.354 Dem Gruß oder Eingangssegen entspricht der Segen am Ende des Gottesdienstes.355 Nach biblischem Verständnis wird hier der Name Gottes heilvoll und wirkmächtig auf die Gemeinde gelegt (vgl. Num 6,24–27). Fragen wir, wo im Kirchenjahr der Name Gottes eine besondere Rolle spielt(e), so stoßen wir neben dem 4.  Advent, Heiligabend und Weihnachten besonders auf die Jahreswende.356 Obwohl die Feier des neuen Jahres nicht zwingend zu den Grunddaten der Kirche gehört, hat man schon im 5. oder 6. Jh. aufgrund einer

352 Vgl. 148,1.7; 29,3; 120,5; 137,5; 117,8; [187,7];129,4 [123,2]; 171; 248/IV. An vielen Stellen des Alten Testaments findet die Offenbarung Gottes im Lobpreis des Namens Jahwes ihre doxologische Entsprechung: So schließt die Doxologie am Ende des 2. Psalterbuches mit den Worten: Gelobt sei sein herrlicher Name … (Ps 72,19a). Eine der meistgesungenen Hymnen wird auch damit eröffnet: Das ist ein köstlich Ding, dem Herren danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster (Ps 92,2). 353 Elliger, Ich bin der Herr. 354 Durch das Votum wird die Gemeinde „darauf angesprochen, dass sie sich im Namen des dreieinigen Gottes versammelt. Der trinitarische […] Zusammenhang des Grußes verweist auf die Taufe“ (Meyer-Blanck, 66). 355 Vgl. dazu Arnold, 456–458. 356 Der Gottesdienst am Altjahrabend hat erst im 20. Jh. an Bedeutung gewonnen und gehört zu den wenigen Gottesdiensten, die zunehmend besser besucht werden. Viele von ihnen stehen unter dem christologischen Motto aus Hebr 13,8 (Reihe VI): Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Damit ist der Name Jesu mit dem Motiv der Wahrnehmung und Verschränkung von Zeit und Ewigkeit verbunden.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

„christlichen Codierung“ des Jahreszyklus’ und damit auch des Neujahrsfestes die Beschneidung und Namensgebung Jesu357 an dieser Stelle angesiedelt. Explizit auf den Namen Jesu Christi verweist bis heute der Leitvers des Neujahrstages, der den Philipperhymnus abschließt (Phil 2,10 f): „In dem Namen Jesu sollen sich beugen alle Knie, und alle Zungen sollen bekennen, dass Jesus Christus der Herr sei.“358 Darin klingt noch das altkirchliche liturgische Proprium359 des Neujahrstages an. Bis heute kann es als besonderer Schwerpunkt des Feiertages begangen werden. Dann wird auch – wie zur Zeit Bachs – das Evangelium von der Beschneidung Christi (Lk 2,21) gelesen.360

6.5.1 Fest der Namensgebung Jesu und jahreszyklische Kasualie am Neujahrstag Darauf nehmen die Neujahrskantaten Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 190,4 f), und Gott wie dein Name, so ist auch dein Ruhm (BWV 171) sowie die vierte Kantate des Weihnachtsoratoriums explizit Bezug. Sie lassen auch den weihnachtlichen Kontext nochmals festlich preisend anklingen. Der Eingangschor von BWV 41 bringt dies schön zum Ausdruck: Jesu, nun sei gepreiset zu diesem neuen Jahr für dein Güt uns beweiset in aller Not und Gefahr, dass wir haben erlebet die neu fröhliche Zeit, die voller Gnaden schwebet und ewger Seligkeit. […]

Zugeich kommen in den Neujahrskantaten aber auch Aspekte vor, die im Zu­ sammenhang mit der Jahreswende stehen: Oft handelt es sich um eher allgemeine religiöse Äußerungen, die den Neujahrstag gleichsam „jahreszyklisch“ und „lebensgeschichtlich“ beleuchten.361 Bisweilen überdecken sie sogar den altkirch­ lichen christologischen Grundtenor des Festes. Da gibt es Rückblick und Ausblick, Dank für die Bewahrung im vergangenen und die Bitte um ein Gelingen des kommenden Jahres. Betrachten wir dazu nochmals BWV 41:

357 Vgl. die Überschrift Bachs: „Festo Circumcisionis Christi“. 358 Vgl. EGB, 266. 359 Vgl. Fechtner, 146 f: „Mit der biblischen Perikope begründet sich […] eine liturgische Tradition, die den 1. Januar thematisch und in seinem Festinhalt aus seiner gesellschaftlichen Praxis als Neujahrstag herausnimmt, um ihm eine eigene kirchlich-christliche Bedeutung (Codierung) zu geben. […] Nach dem Prinzip der Traditionalität halten sowohl die Eisenacher Ordnung (1890/96) wie die OPT [=Ordnung der Predigttexte, Anm. JA] (1956) an der Perikope (I. Reihe) als Evan­ gelium des Neujahrstages fest. Erst in der revidierten Fassung der OPT neu (1978) wechselt der ‚Rector‘, als Evangeliumstext ist nun Lk 4,16–21 vorgesehen.“ 360 Vgl. EGB, 422 f. Der Leitvers für die darauf folgende Woche ist ebenfalls Phil 2,10 f. 361 Vgl. zur grundsätzlichen Bedeutung des Neujahrstages in dieser Hinsicht: Fechtner, 30 f.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre 1. Cho r Jesu nun sei gepreiset, […] dass wir in guter Stille das alt Jahr habn erfüllet. Wir wollen uns dir ergeben itztund und immerdar, behüt Leib, Seel und Leben hinfort durchs ganze Jahr!

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2. Ar ie (S opran) Lass uns, o höchster Gott, das Jahr vollbringen, damit das Ende so wie dessen Anfang sei. Es stehe deine Hand uns bei, dass künftig bei des Jahres Schluss wir bei des Segens Überfluss wie itzt ein Halleluja singen.

Ähnliches formuliert Neumeister in BWV 28,1: Ar ie (S opran) Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende. Das neue rücket schon heran. Gedenke, meine Seele, dran, wieviel dir deines Gottes Hände im alten Jahre Guts getan! Stimm ihm ein frohes Danklied an. So wird er ferner dein gedenken und mehr zum neuen Jahre schenken.362

Der Jahreswechsel hilft zum eigenen Innehalten und lenkt angesichts der fortschreitenden Zeit den Blick auf die Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft im gegenwärtigen Zusammenspiel von Dank und Bitte, die im Gedenken Gottes (gen. subj) ihre Mitte haben So dürfte auch für Bachs Zeit schon gegolten haben, was Fechtner für die gegenwärtige Praxis festhält: „Erst in Beziehung auf den Jahreswechsel gewinnt der Gottesdienst an Neujahr […] seinen unver­ wechselbaren Charakter im Kreis der Feste, die im volkskirchlichen Christentum verankert sind.“363 Insgesamt ist es auch trinitätstheologisch interessant zu sehen, wie die litur­ gische Prägung des Festes der Beschneidung und Namensgebung Christi den jahreszyklischen Kasus „Neujahr“ ergänzt und mitbestimmt bzw. dieser umgekehrt das nachweihnachtliche Christusfest kasualliturgisch überlagert. Unsere grundsätzliche These lautet daher: In Bachs Neujahskantaten begegnen wir nicht nur einer aufregenden trinita­ rischen Theologie, sondern auch einer reizvollen Vielfalt gottesdienstlicher Formen in der Spannung des „volkskirchlichen Schwellenritus“ zum traditionellen Christusfest. Dies gilt besonders für die Kantate Singet dem Herrn ein nuees Lied (BWV 190), die nun exemplarisch untersucht wird.

362 Vgl. auch BWV 16,2–4; 171,5. Man wird allerdings fragen müssen, ob Neumeisters Sicht, Gottes Gedenken an uns von unserem Gedenken an ihn, d. h. unserem Danken (zum etymologischen Zusammenhang, vgl. WA 30 II, 595–626 bzw. Arnold, 274 f) abhängig zu machen, biblisch-refor­ matorisch haltbar ist. 363 Fechtner, 31. Er folgert daraus a. a. O., 37: „Gottesdienst und Predigt an der Schwelle zwischen den Jahren sind nicht vorgängig aus einer liturgischen oder homiletischen Binnenlogik zu verstehen und zu entwickeln, sondern gewinnen erst in ihrem kulturellen und lebensweltlichen Kontext Sinn und Bedeutung.“

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6.5.2 Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 190) a) Einordnung in das exegetische Umfeld der lutherischen Tradition Zur genaueren Einordnung der Kantate in den theologischen und homiletischen Kontext der lutherischen Tradition sei hier zunächst auf Abraham Calovs LutherBibel, Olearius’ biblischen Kommentar und die Postille von Johann Arndt verwiesen, der in vier Predigten zum Neujahrstag bzw. zum Fest der Beschneidung Christi die Besonderheiten von Lk 2,21 herausarbeitet. α) In Calovs Lutherbibel finden wir folgenden Kommentar zum Evangelium aus Lk 2,21: „Die Beschneidung hat der Herr nicht für sich bedürft, denn er war nicht in Sünden geboren, sondern durch das Heilige, vom Hl. Geist und ohne Sünde zur Welt gebracht worden. Er durfte nicht in den Bund der Gnaden aufgenommen werden durch das Sakrament der Beschneidung wie andere jüdische Knäblein, sondern war der Herr und Mittler des Gnadenbundes selbst; er hat aber um unsertwillen wollen beschnitten werden, welcher um unsertwillen unter das Gesetz getan ist, obwohl er ein Herr des Gesetzes war, dass wir von dem Fluch des Gesetzes erlöst würden; seine zarten Blutströpflein der Beschneidung [hat er] zum Pfandschilling unserer Erlösung dahingegeben, und ist, wie sein Name bezeuget, den er hier bekommet, unser Jesus und Heiland worden.“364 Calov verweist dabei ausdrücklich auf Luthers Hauspostille: „Und Christus greift dem Gesetz ins Maul / und nimmt ihm seine Gewalt. / Für seine Person hat er die Beschneidung nicht bedurfft. / Ebensowenig er seiner Person halben bedürftt hat / dass er seiner Mutter gehorsam war / oder am Kreuz starb.“

Luthers Hauspostille und Calovs Bibelauslegung zielen innerhalb der heilsgeschichtlichen Dialektik von Gesetz und Evangelium auf eine Unterwerfung des Gesetzes durch Christus, der das Gesetz auf sich nimmt, obwohl er dessen nicht bedurfte, und damit auch seinen „Fluch“, d. h. seine richtende Gewalt, an unserer Stelle auf sich zieht. Das Fest der Beschneidung wird v. a. durch die „Blutströpflein“ in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Leiden Christi gebracht und steht somit als ein dogmatisch-liturgisches Bindeglied zwischen Krippe und Kreuz, Weihnachten und Karfreitag. β) J. Olearius kommentiert Lk 2,21 sehr ausführlich. Seine Auslegung ist gleichsam eine biblische Hermeneutik in nuce.365 Er setzt mit dem Hinweis auf die Kondeszendenz Christi ein: „Dieses Evangelium ist erkläret in der Christen-Probe und Glaubens-Siege. […] Es ist aber die Beschneidung Christi […] ein denkwürdiges Stück seiner Erniedrigung, da unser Heiland, wahrer Gott und Mensch, in seinem angenommenen Fleisch bei der blutigen Verletzung desselben sich freiwillig dem göttlichen Gesetz unterworfen und durch Vergießung seines teuren Blutes unser Jesus, Erlöser und Heiland worden ist zu Gottes Ehre und unserm ewigen Heil, Trost und Seligkeit, gleichwie in seiner Taufe (Mt 3,15). Und demnach wird allhier die Beschneidung Christi nicht betrachtet allein […] stückweise, sofern sie ist nur eine affectio und die menschliche Natur angehende Schwachheit und beschwerliches

364 Calov-Bibel III, 436 f, Text modernisiert. 365 Vgl. Olearius V, 396–399.

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Leiden, sondern […] gänzlich und mit ihrem Zweck der erworbenen Seeligkeit, welchermaßen sie eine gottmenschliche und menschgöttliche Handlung ist oder ein apotelesma [=zielgerichtete Vollendung] und ein solches Werk, das zur Erlangung unserer Seligkeit gehört.“

Im Blick auf den Namen Jesu kommt der Verfasser dann zu folgenden zentralen Aussagen: „Insonderheit ist bei diesem werten Jesus-Namen denkwürdig: I. Der himmlische Ursprung, denn dieser neue Name (Jes 62,3), welchen in solchem Maß sonst kein Mensch jemals in der Welt gehabt (obgleich sowohl der Fürst als auch der Hohepriester Josua und andere […] diesem ähnliche und verwandte Namen als Vorbilder Christi im Alten Testament geführt haben), ist vom Himmel herabgekommen und auf Gottes Befehl den Menschen kundgetan (Act 4,14) und vom Engel Gabriel genannt worden, ehe denn unser Heiland im Mutterleib empfangen wurde [vgl. Lk 1,31 …]. II. Derivatio [=Ableitung], woher dieser Name in der h[ebr.]. Sprach entstehe, denn er hat sein Absehen nicht auf den Namen Jehovah, sondern auf das Wörtlein [çy, welches heißt „als ein Heiland helfen und erretten“ (Ps 3,9; 27,1; 88,2; Lk 2,11) als ein rechter Schilo und glücklicher Held (Gen 49), als unser Goel (Hi 19). Denn bei dem Herrn findet man Hilfe (Ps 3,9; Jes 45,21), „da bleibt’s wahr“: Bey dir allein Trost / Hülf und Rath / Mein Hertz gewiß gefunden hat / Niemand iemals verlassen ist / Der nur vertraut auf JEsum Christ.“366

Die christologischen Distinktionen dieser Auslegung, deren Mitte die Lehre von der communicatio idiomatum der zwei Naturen Christi ist, müssen von uns nicht alle nachvollzogen werden. Deutlich ist aber, dass Olearius in seiner Argumentation von der Person Christi ausgeht, um dann die heilsame und rettende Bedeutung des Namens Christi von der hebr. Wurzel [çy herzuleiten. Daran schließt sich eine soteriologische Explikation des Werkes Christi an, die anhand der Unterscheidung von beneficia privata und positiva verdeutlicht, inwiefern Christus Schaden und Unheil von uns abgewendet bzw. Heil und Seligkeit uns zuge­wendet hat. III Significatio, die eigentliche Bedeutung (vgl. 1 Makk 9,21) […] „Denn dieser Name begreift zugleich in sich […] eine vollkommene Abwendung alles Bösen, ja alles Sünden- und Strafübels und eine gnadenreiche Zuwendung alles Guten, ja einen herrlichen Auszug aller Wolthaten zeitlich und ewig, im Reich der Allmacht / Gnaden und Ehren / alle beneficia privata & positiva. Denn es wird dadurch angedeutet nicht nur Servator, ein Erhalter durch Abwendung des Todes und der Verdammnis, sondern auch Salvator, ein Seligmacher, welcher nicht allein 1. unser Leben vom Verderben erlöset, sondern 2. uns auch krönet mit Gnade und Barmhertzigkeit (Ps 103; 1 Makk 9,21).“367

Während der Hinweis auf Josua noch mit einer christologischen Spitze unter gleichzeitiger Abwertung des alttestamentlichen „Fürsten“ erfolgte, liest sich der Hinweis auf Ps 103 als eine hermeneutisch „ungebrochene“ Aufnahme der Tradition des ersten Testamentes. Dies entspricht unserer Beobachtung, dass die Psalmen als „kleine Biblia“ und Grundlage für christliches Beten und Singen (oft in Verbindung mit einer impliziten Christologie)  bei den Theologen der lutheri

366 A. a. O., 396 f. 367 A. a. O., 397.

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schen Orthodoxie „hoch im Kurs“ stehen. Ein christologisches bzw. rechtfertigungstheologisches Verständnis dieses Psalms ist vielmehr sehr geläufig:368 „IV Veneratio, die Verehrung dieses Nahmens, weil er die ganze Christologie, und die bisher angeführte tröstliche, seligmachende Lehre von dem ganzen Amt, Person und Woltaten unseres einigen Mittlers, Propheten, Königes und Hohenpriesters in sich begreift, muss sowohl innerlich in wahrem Glauben als auch äußerlich geschehen: mit Kniebeugen, Haupt-Entblößung und dergleichen (Phil 2).“369 […] VII. Applicatio, die tröstliche Zueignung dieses Namens durch wahren Glauben. Denn dieser werte Jesus-Name ist allen Christen ein rechtes Thavmatophylacivm [=Wunderschutzmittel] und unvergleichliche Schatzkammer voller unaussprechlicher Güter, welche uns weit lieber als 1000 Stück Goldes und Silbers (Psal 119) [sind].“370

Im Blick auf eine theologische Rezeption dieser gewichtigen Texte in den Bachschen Neujahrskantaten müssen wir eher eine gewisse „Leerstelle“ konstatieren. Der Topos „Gesetz und Evangelium“, wie er vor allem bei Calov, aber auch noch bei Olearius in antithetischer Ausprägung im Vordergrund steht, spielt in Bachs Neujahrskantaten so gut wie keine Rolle.371 Eine soteriologische Explikation des Namens Jesu findet sich aber in BWV 190,4 und 171,3. γ) Als erfahrener Prediger versteht es Johann Arndt, komplexe theologische Zusammenhänge durch biblische Bilder zu elementarisieren. In einer ersten Neujahrspredigt gelingt ihm dies, indem er Gesetz und Evangelium mit den beiden Keruben der Bundeslade in Verbindung bringt und zugleich einen Transfer zum aktuellen Fest der Namensgebung herstellt. „Gleichwie die zwei güldenen Cherubin bei dem Gnadenstuhl standen, wie wir lesen (Ex 25) und mit ihren Antlitzen einander gegenüber standen […], also haben wir im heutigen holdseligen Evangelium die Erfüllung solches schönen Vorbildes. Denn erstlich haben wir hier die beiden güldenen Cherubim: das ist das Gesetz und Evangelium, denn diese Beschneidung gehört zum Gesetz und ist das Gesetz. Der Name Jesus gehört zum Evangelium und ist das Evangelium selbst, denn in diesem Namen ist das ganze Evangelium begriffen“372 Daraus folgt: „Darum haben wir den rechten Segen aus Christo, weil er des Gesetzes Fluch hinweg genommen.“373

Wichtig für uns ist in dieser Auslegung die Verknüpfung des Namens Jesu mit dem Begriff des Segens, wie wir sie auch in BWV 190,6 finden: Es segne Jesus Kirch und Schul, / er segne alle treuen Lehrer. / Er segne seines Wortes Hörer; er segne Rat und Richterstuhl; / er gieß auch über jedes Haus / in unsrer Stadt die Segensquellen aus.

368 Vgl. exemplarisch das beliebte Psalmlied (EG 289) Nun lob, mein Seel, den Herren (Gramann). 369 Olearius III, 397 f. 370 A. a. O., 398 f. 371 Dieses Urteil gilt selbstverständlich nicht im Blick auf viele anderen Kantaten Bachs (vgl. oben Kapitel 3 und 4 bzw. exemplarisch BWV 9). 372 Arndt, Postilla, 135. 373 A. a. O., 137.

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In Teil II der Predigt geht es dann um die christologisch-pneumatologische Konkretion des Segens, die der Prediger in einer Begriffskette präsentiert: Heiligung – himmlische Güter – lebendiger Trost – (Herzens)friede – (Seelen)freude: „Was folgt auf solche Heiligung? Der geistliche Segen in himmlischen Gütern durch mancherlei Gaben des Geistes. Darum ist der Name Jesus unser Segen an Leib und Seele. Verflucht dich die Welt, so segnet dich dieser Name. Er segnet dein Amt, deinen Ausgang und Eingang. Vermaledeit dich das Gesetz, so segnet dich der Name Jesus, dieser Name macht dich zum Gesegneten des HERrn“ [vgl. Act 4,12]… Was folgt nun aus diesen himmlischen Gütern und was wirken sie in einem gläubigen Hertzen: wahren lebendigen Trost. Darum ist der Name Jesus unser höchster Trost, denn er tröstet uns wider unser Sünde, wider den Zorn Gottes etc. folgt Friede […] Was folgt nun aus diesem Herzensfrieden? Freude. Darum ist der Name Jesus unsere höchste Freude. Darum freut sich mein Herz und meine Seele ist fröhlich:374 Mein Geist freuet sich Gottes meines Heilandes. Jesus melin ore, melos in aure, jubilum in corde. Der Name Jesus ist mir ein süsser Honig im Munde, ein lieblicher Gesang in den Ohren und eine Wonne im Herzen. [Zitat von Bernhard v. Clairvaux, Hinweis JA] Was folgt aus dieser Seelenfreude? Stärke, Schutz und Sieg. Darumb ist der Name Jesus unsere Stärke in Schwachheit und Schutz wider die Feinde, Sieg über die Welt, Tod, Teufel und Hölle. Dies ist der starke Name Gottes, der uns schützt, der uns erhält in Kreuz, Verfolgung, Verzweiflung und in Todesnot.“375

Arndt schließt mit einer gleichsam liturgischen Conclusio, die auf den Brauch des täglichen Bekreuzigens als „Segnen mit dem Namen Jesu“ hinweist:

„Dies wollen wir nun fein zusammenfassen und zu einem Segen gebrauchen, damit wir uns täglich segnen und sprechen: „Der heilige Name Jesus erleuchte mich / lehre mich / rechtfertige mich  /  heilige mich  /  segne mich  /  mache mich selig  /  tröste mich  /  befriedige mich  /  erfreue mich  /  stärke mich  /schütze mich  /  und sei mein Sieg über alle meine Feinde.“376 Der Name Jesu beinhaltet also „Licht, Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit, Segen, Leben, Seligkeit, Trost, Friede, Freude, Stärke, Schutz, Sieg.“377

Für die theologische Analyse und Einordnung von BWV 190 am ertragreichsten ist freilich eine weitere Predigt Arndts, die sowohl die eschatologische als auch die kasualtheologische Dimension des Neujahrsfestes in den Blick nimmt. Da „wird ein ewiger Sabbath sein378, ewiges Lob Gottes, vollkommene Erkenntnis Gottes, ewige vollkommene Weisheit, da keines Predigens mehr wird von Nöten sein: ewige Ruhe, Friede, Freude und Herrlichkeit. […] Alleweil wir durch Gottes Gnade den lieben Neujahrstag erlebt haben, so ists billig, dass wir alle unserm lieben Gott danken für die vielen großen und hohen

374 Vgl. BWV 190,5: „Jesus ist mein Freudenschein, / Jesu will ich mich verschreiben.“ 375 A. a. O., 138. 376 Es ist denkbar, dass eine Dichtung wie BWV 190,6 durchaus auch in alltäglichen häuslichen Ritualen gebetet werden konnte. 377 Arndt, Postilla, 139. Für unsere Arbeit ist diese Auslegung insofern höchst relevant, als sich zahlreiche der hier angesprochenen christologischen und pneumatologischen Motive, besonders Heil, Trost, Freude, Schutz, auch in BWV 190,4 finden. 378 Vgl. dazu BWV 148,5.

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Wohltaten, so wir dies vergangene Jahr über empfangen haben. 1.  Die höchste Wohlthat ist Gottes Wort und die Hl. Sakramente. 2. Friede durch unsere fürst­ liche Obrigkeit. 3. Nahrung und das tägliche Brot. 4. Gesundheit. Und bitten Gott, er wolle uns ferner ein neues gesegnetes Jahr geben, bei Gottes Wort, Friede, Nahrung und Gesundheit erhalten, uns dasselbe segnen und benedeien durch die allerzartesten Blutströpflein des Christkinds und durch seinen gebenedeieten Namen Jesum. [Hvh. JA]“379 Zahlreiche dieser Motive sind besonders in BWV 190,6 f erwähnt: die Dankbarkeit für das vergangene Jahr,380 der Hinweis auf das Wort Gottes,381 das Motiv des Friedens382, die soteriologische Verknüpfung mit dem Blut Christi,383 sowie die Bitte um Segen im neuen Jahr.384 Die folgende Analyse soll zeigen, dass in Bachs Kantate Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 190) als einer bis heute aktuellen „doxologischen Neujahrspredigt“ in einem „weisheitlichen Sinne“ die Dankbarkeit für das vergangene und die Hoffnung auf das neue Jahr unter dem Vorzeichen des Namens und des Segens Jesu gefeiert werden.385 Der bereits mehrfach zitierte Text lautet folgendermaßen: b) Theologisch-musikalische Analyse386 1. Cho r Singet dem Herrn ein neues Lied; die Gemeine der Heiligen soll ihn loben! Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen!

Herr Gott, dich loben wir! Alles was Odem hat, lobe den Herrn! Herr Gott, wir danken dir! Alleluja!



379 Arndt, Postilla, 141 f. 380 Vgl. BWV 190,2: „Herr Gott, wir danken dir, Dass deine Gütigkeit  /  in der vergangnen Zeit / das ganze Land und unsre werte Stadt / vor Teurung, Pestilenz und Krieg behütet hat.“ 381 Vgl. BWV 190,6: „Er segne seines Wortes Hörer“ bzw. Satz 7: „dein seligmachend Wort“. Vgl. ähnlich auch BWV 41,4: „So lass der Seele doch dein selig machend Wort.“ 382 Vgl. BWV 190,6: „Er gebe, dass aufs neu / sich Fried und Treu / in unsern Grenzen küssen mögen.“ Vgl. Satz 7: „Gib Fried an allem Ende“. Zur fürstlichen Obrigkeit vgl. BWV 190,6: „Rat und Richterstuhl“. 383 Vgl. BWV 190,5: „Jesus hilft mir durch sein Blut, / Jesus macht mein Ende gut.“ Vgl. auch BWV 171,3: „Lacht sein Nam in meinem Munde, / und in meiner letzten Stunde, / ist Jesus auch mein letztes Wort.“ 384 Vgl. BWV 190,6: Nun Jesus gebe, / dass mit dem neuen Jahr auch sein Gesalbter lebe; […] so leben wir das ganze Jahr im Segen.“ Vgl. ähnlich im Schlusschoral BWV 190,7 bzw. 171,6. 385 Fechtner stellt im Verlauf seiner Untersuchung auch „moderne Neujahrspredigten“ vor. A. a. O., 151 f, schreibt er: „Den Blick zurück zu werfen auf das eigene Leben und den Blick nach vorne zu wenden, dies verbindet in der Situation des Jahreswechsels alle Menschen miteinander. Gleichwohl gehen Menschen mit ihrer Vergangenheit sehr verschieden um und nehmen unterschiedliche Haltungen zu ihrer Zukunft ein. […] Das ‚menschliche Leben‘ in der Zeit, zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist vom Kasus her das Thema der Neujahrspredigt und wird in ihr im Horizont des Psalmwortes [sc. Ps 90,10: Unser Leben währet siebzig Jahr …] erörtert“. 386 BWV 190 ist, wie der vollständig überlieferte Schlusschoral vermuten lässt, für ein festliches Instrumentarium von 3 Tr., Pk, 3 Ob., Str. und Bc. sowie drei Solisten (Alt, Tenor, Bass) komponiert worden. Leider fehlen im Eingangschor alle Bläser- und die tiefen Streicherstimmen, so dass man auf Rekonstruktionen (z. B. von Dieter Hellmann, Stuttgart 1996) angewiesen ist.

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Der gnädige dreieinige Gott in Lobpreis, Liturgie und Lehre 2. Cho ral und R ezit ativ Herr Gott, dich loben wir! Bass: Dass du mit diesem neuen Jahr uns Glück und neuen Segen schenkest und noch in Gnaden an uns denkest. Herr Gott, wir danken dir! Tenor: Dass deine Gütigkeit in der vergangnen Zeit das ganze Land und unsre werte Stadt vor Teurung, Pestilenz und Krieg behütet hat. Herr Gott, dich loben wir! Alt: Denn deine Vatertreu hat noch kein Ende, sie wird bei uns noch alle Morgen neu. Drum falten wir, barmherzger Gott, dafür in Demut unsre Hände und sagen lebenslang mit Mund und Herzen Lob und Dank. Herr Gott wir danken dir. 3. Ar ie (Al t) Lobe, Zion, deinen Gott Lobe deinen Gott mit Freuden, Auf! Erzähle dessen Ruhm, der in seinem Heiligtum fernerhin dich als ein Hirt will auf grünen Auen weiden. 4. Rezit ativ (B a ss) Es wünsche sich die Welt, was Fleisch und Blute wohlgefällt; Nur eins, das bitt ich von dem Herrn, dies eine hätt ich gern, dass Jesus meine Freude, mein treuer Hirt, mein Trost und Heil und meiner Seelen bestes Teil, mich als ein Schäflein seiner Weide auch dieses Jahr mit seinem Schutz umfasse und nimmermehr aus seinen Armen lasse.

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Sein guter Geist, der mir den Weg zum Leben weist, regier und führe mich auf ebner Bahn, so fang ich dieses Jahr in Jesu Namen an. 5. Duet t (T eno r , Ba ss) Jesus soll mein alles sein, Jesus soll mein Anfang bleiben, Jesus ist mein Freudenschein, Jesu will ich mich verschreiben, Jesus hilft mir durch sein Blut, Jesus macht mein Ende gut. 6. Rezit ativ (T eno r) Nun, Jesus gebe, dass mit dem neuen Jahr auch sein Gesalbter lebe; er segne beides, Stamm und Zweige, auf dass ihr Glück bis an die Wolken steige. es segne Jesus Kirch und Schul, er segne alle treue Lehrer, er segne seines Wortes Hörer; er segne Rat und Richterstuhl: er gieß auch über jedes Haus in unsrer Stadt die Segensquellen aus; er gebe, daß aufs Neu sich Fried und Treu in unsern Grenzen küssen mögen. So leben wir das Jahr im Segen. 7. Cho ral Dass wir demselben singen in der christlichen Gemein’ durch dein allmächtig Hand, erhalt deine lieben Christen und unser Vaterland. Dein Segen zu uns wende, gib Fried an allem Ende; gib unverfälscht im Lande dein seligmachend Wort. die Heuchler mach zuschanden hier und an jedem Ort.

Die Auswahl der Verse aus Ps 149 und 150 für den dreiteiligen Eingangschor geschah wohl mit großer Achtsamkeit. Sie muss Bach überzeugt haben, sonst hätte er nicht in der ungefähr drei Jahre später entstandenen gleichnamigen Motette BWV 225 noch einmal Ähnliches „kombiniert“ und einer Umarbeitung der Kantate durch Picander zum 200. Jahres­

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tag der Augsburger Konfession 1730 zugestimmt.387 Zunächst einige sprachliche Überlegungen: Die Brücke vom „neuen Lied“ zum „neuen Jahr“ mag auf den ersten Blick ein wenig schlicht, ja womöglich theologisch unreflektiert erscheinen, geht es bekanntlich in den so eingeleiteten Psalmen (vgl. Ps 96 und Ps 98) doch um das eschatologisch388 neue Lied. Bei genauerem Hinsehen scheint diese Assoziation aber auch theologisch stimmig. Schon jetzt haben wir Anteil am österlichen389 „neuen Lied“ der Kirche Jesu Christi.390 Und mit jedem neuen Jahr nähern wir uns auch der Ewigkeit, der „Sphäre“ also, in der das „neue Lied“ gesungen wird, so dass wir beim Anstimmen des „neuen Liedes“ im Grunde schon jetzt in die Gemeinschaft der Heiligen aller vergangener und kommender Zeiten vor Gottes Angesicht eintreten.391 Der Psalmist fordert hier nicht die ganze Welt zum Lob auf (vgl. Ps 100), sondern lediglich die „Gemeinde der Heiligen“ (vgl. Ps 111), in der das neue Lied zuerst ertönen muss, weil hier von der Klarheit des verkündigten Evangeliums her auch das Gotteslob in aller Klarheit gesungen werden kann. Die Hinzuziehung von Ps 150,4 zeigt: Auch Instrumente aller Gattungen, d. h. nicht nur unbegleiteter Chor(al)gesang, sind willkommen, ja selbst der Reigen (vgl. Ex 15,20), der leibliche Ausdruck des Lobs, die tänzerische Bewegung (vgl. Ps 67), ist „Programm“. Freilich sind die drei Psalmverse nur ein Bestandteil des Eingangschors, ebenso dazu gehört das Motto des deutschen Te Deums: Herr Gott, dich loben wir … Beide Elemente (Psalm und Choral) wechseln sich ab (ABABA). Damit kommen wir zu den Text-Ton-Bezügen der Kantate: Interessant ist, dass Bachs musikalische Gliederung des Satzes der poetischen Struktur (Psalm  – Choralzeile  – Psalm  – Choralzeile  – Psalm) folgt, indem er den konzertanten bzw. polyphonen Chorsatz mit dem „Neujahrschoral“ alterniert392, also nicht etwa beide Elemente miteinander verzahnt:393 So mündet der konzertante „Aufgesang“ „Singet dem Herrn ein neues Lied“ in einen UnisonoChoralsatz des Chores mit dem Anfang von Luthers deutschem Te Deum (vgl.

387 Vgl. Schulze, 63. 388 Vgl. Deissler, 380 zu Ps 96: „Solch universelle Weite gehört wesenhaft zu Botschaft des Psalms, weil in ihm das vergangene und gegenwärtige Königswalten Jahwes in seine endzeitliche Herrlichkeitsgestalt aufwächst.“ 389 Vgl. Deissler, 386. 390 Vgl. dazu Martin Luthers Vorrede zum Bapstschen Gesangbuch: „Singet dem Herrn ein neues Lied. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“ (WA 35,477) 391 Vgl. dazu BWV 31,8 (1. Ostertag) bzw. BWV 149,1 f (Michaelis) bzw. Praefation und Sanctus der Messe. 392 Vgl. Petzoldt II, 283: „Die Zusammenfügung des Textes aus Psalmen 149, 150 und dem Beginn des deutschen Te Deum verfolgt eine gewisse Logik: nach der Aufforderung zum Singen eines neuen Liedes amBeginn des neuen Jahres (2) wird von dem Subjekt solchen Lobpreises gesprochen, der ‚Gemeine der Heiligen‘ (3) anschließend von den Instrumenten mit denen dieser Lobpreis erklingen soll (4–5).“ 393 Vgl. dazu den 2. Satz der oben zitierten Motette Singet dem Herrn (BWV 225), wo ein motettischer Satz (Chor 1) mit dem schlichten Choral (Chor 2) in subtilem Geflecht musiziert wird.

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BWV 16), das unlöslich zum Proprium des Neujahrstages in der Bach-Zeit ge­ hörte.394 Bereits innerhalb des ersten Teils (T. 25–78) können wir beobachten, wie Bach die Einwürfe des Chores allmählich anwachsen lässt: zunächst vier Takte in imitatorischem Gewebe (T. 25–28), dann acht Takte (T. 33–40) im Wechsel von homophonem und polyphonem Satz (4+4 Takte) jeweils auf den Text „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Dann folgt – dies überbietend – ein dritter Abschnitt, der harmonisch und motivisch zunächst an T. 33–36 anknüpft (vier Takte), dann aber in einen Neuntakter auf den Text „Die Gemeinde der Heiligen soll ihn loben“ mündet. Hier verziert Bach das Verbum „loben“ (wie so oft) durch eine Koloratur in Alt und Bass bzw. eine Kette von Achtelpunktierungen in Sopran und Tenor, die eine dreifache Climax durchschreiten (T. 51–53). Unmittelbar im Anschluss wird der Psalmtext, dessen einzelne poetische Glieder allmählich angewachsen sind, nun komplettiert. Wieder beginnt Bach mit dem Ausgangspunkt des Aufgesangs „Singet dem Herrn“. Als letztes kommt im weiteren Verlauf das Textstück „Lobet ihn mit Pauken und Regen …“ hinzu, das sich über 16 Takte bzw. zusammen mit dem Vorigen über 21 Takte erstreckt. Man wird dies als eine Art musikalisch-poetischer amplificatio interpretieren dürfen, auf die der schlichte Choral, der das Lob vollzieht, dann umso eindrücklicher wirkt. Darauf folgt eine kunstvolle und virtuose Chorfuge mit zwei Durchführungen (T. 87–108 bzw. T. 109–120) zu Psalm 150,6, die wiederum eine Aufforderung enthält: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn“. Die Figura-corta des Eingangsmotivs „Singet“ kommt hier wieder als melismatischer Baustein vor („lobet“). Das Thema ist als aufsteigende Linie angelegt (d – e –fis – gis – a), sie symbolisiert das zu Gott empor steigende Lob im Sinne einer melodischen Anabasis. Die anschließenden Choralzeilen („Herr Gott, wir danken dir“) lassen wieder als unmittelbare Antwort bzw. „Ausführung“ begreifen, ehe das Halleluja (Ps 150,6b), das eine musikalische Reprise und inclusio zum Anfang bildet, den Satz virtuos beschließt. Hier dominieren homophon deklamierende Passagen: Besonders eindrücklich ist die dreifach aufsteigende Climax des Chorsatzes bei „Alleluja, alleluja“ (T. 136–141), die rhythmisch und harmonisch aus „Singet dem Herrn ein neues Lied!“ (vgl. T. 33–36 bzw. 45–48) entwickelt ist. Bach unterstreicht musikalisch die symmetrische Form der poetischen Vorlage, so dass sich die Abfolge ABA’BA ergibt. Wie in der gleichnamigen Motette BWV 225 (Satz 4) erklingt auf den Text „Alles, was Odem hat“ (A’) eine Fuge im beschwingten Dreiertakt, der die Freude an Gott unmittelbar sinnenfällig macht. Die Universalität des Lobs lässt sich musikalisch durch nichts plausibler machen als durch die polyphone Form der Fuge: Durch alle Stimmen, vokale und instrumentale, hindurch, erklingt das Lob Gottes.

Die höchste kompositorische Kunst, die Bach hier zeigt, bringt eine doxologische Lebenshaltung zum Ausdruck: Zum Lob Gottes ist gerade das Beste gut genug! Welche liturgischen Folgerungen können wir aus dieser Analyse ziehen? Innerhalb des Eingangschores ändert sich durch das Alternieren der poetischen und musikalischen Formen in stringenter Weise auch die „liturgische“ Sprechrichtung: die Aufforderung zum Lob an die „Gemeine“ („Singet dem Herrn ein neues Lied, die Gemeine der Heiligen soll ihn loben“) mündet ein ins tatsächliche Lob der „Gemeine“, das der Chor gleichsam „stellvertretend“ übernimmt: Im Choralvers mit dem Text „Herr Gott, dich loben wir“! wird dies sofort plausibel. Damit

394 Vgl. dazu BWV 16,1 bzw. auch die Ratswechselkantaten BWV 119,9; 120,6 (zwei Strophen), die das politische neue Jahr in Leipzig „einläuteten“.

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wird einmal mehr deutlich, dass der Chor im Namen der Gemeinde bekennen und rühmen, aber auch kerygmatische Funktion übernehmen kann. Eine andere aufschlussreiche Differenzierung nimmt das folgende Rezitativ im Blick auf die beiden Sprechakte Lob und Dank vor,395 was angesichts der weitgehend syn­ onymen Verwendung beider Begriffe in der Alltagssprache zunächst überraschen mag.396 Der Text lautet: Herr Gott, dich loben wir! dass du mit diesem neuen Jahr uns neues Glück und neuen Segen schenkest und noch in Gnaden an uns denkest. (Gegenwart). Herr Gott, wir danken dir, dass deine Gütigkeit / in der vergangnen Zeit / das ganze Land und unsre werte Stadt vor Teurung, Pestilenz und Krieg behütet hat. (Vergangenheit). Herr Gott, dich loben wir, / denn deine Vatertreu hat noch kein Ende, / sie wird bei uns noch alle Morgen neu …. (Zukunft).

Dank erwächst also aus konkreten Taten Gottes in der Vergangenheit, im Lob empfängt die Gemeinde staunend den Segen der Gegenwart und kann gleichsam proleptisch die künftige Gnade und Güte Gottes rühmen. Bach greift hier zu demselben musikalischen Mittel wie im Eingangschor: Die Choralzeilen: „Herr Gott, dich loben wir; Herr Gott, wir danken dir“ werden gleichsam als „Gemeindechoral“ im nunmehr allerdings vierstimmigen Chorsatz in die solistischen Teile des Rezitativs eingeworfen. Auch hier ist eine symmetrische Anlage (A=Choral; B=Rezitativ) zu beobachten (ABA’B’ABA’). Die im Rezitativ erklingende Ver­ kündigung der Taten Gottes in Gegenwart, Vergangheit und Zukunft wird durch drei unterschiedliche Solostimmen voneinander abgehoben und an die einzelnen Zeilen des vierstimmigen Chorals angebunden. Der ganze Satz ist damit theologisch auch ein Lobbekenntnis der Gemeinde, das von Einzelnen „zeugnishaft“397 erzählt wird. Biblische Grundlage dafür bilden Ps 63,5 f und Lam 3,23, das Gottes unverdiente Vatertreue rühmt, während Glück und Segen für das Gemeinwesen („Wir“) in Jes 61,2 anklingen. Die Leipziger Gemeinde dankt, angeregt durch einzelne Stimmen, für die Gaben und Güter, die sie von Gott empfangen hat: Frieden statt Krieg, Gesundheit statt Pest, Wohlstand anstelle von Teuerung, Glück und Segen statt Leid und Fluch. Die folgende Arie „Lobe, Zion, deinen Gott“ markiert den Übergang vom Lobund Vertrauensbekenntnis gegenüber dem Schöpfer und Erhalter hin zur An­ rufung Jesu Christi (Satz 5). Die „hermeneutische Brücke“ bildet dazu das Theologumenon bzw. Christologumenon des guten Hirten (vgl. Ps 23; Ez 34; Joh 10).398

395 Vgl. Westermann, Lob und Klage, 20–28 mit der Unterscheidung von berichtendem und beschreibendem Lob. 396 Vgl. die Rubrik „Loben und Danken“ im Bereich Glaube  – Liebe  – Hoffnung im EG, wo eine bewusste Unterscheidung beider Aspekte nicht vorgenommen wird. Die oben unter 6.0.3 vor­ genommene Differenzierung in soteriologische und ontologische Akzente des Lobs ist eher an Werk und Person Gottes bzw. Jesu orientiert. 397 Zum theologischen Begriff des Zeugnisses, vgl. Schlink, 35 f. 398 Vgl. die oben unter 5.1 dargestellte Kantate BWV 104. Petzoldt II, 284 verweist auf den Kommentar des Olearius zu Jes 40,11 (IV, 187), der das Hirtenbild als „Liebesbild“ deutet. Petzoldt betont außerdem, dass der Dichter hier die Aufforderung zum Gotteslob mit tröstlichem Zuspruch verbinden wolle.

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Die Arie „nimmt poetische Elemente des Aufgesangs aus dem Einganschor auf. Die christliche Gemeinde wird hier mit der alttestamentlichen Gemeinde auf dem Zion (vgl. Satz 1) identifiziert und im Singular (vgl. Num 6,24–27) angesprochen. Offenbar ist im Blick auf das Handeln Gottes nun speziell an seine Gegenwart und Nähe im Gottesdienst (vgl. „Heiligtum“) gedacht. Die Anspielung an Ps 23,1 wird dabei mit der Austeilung von Wort und Sakrament pointiert verknüpft. Der Dichter nennt Gott hier erstmals „deinen Gott“. Dies bestätigt eine dogmatischliturgische Grundthese dieser Arbeit: Der im Gottesdienst gepriesene Gott ist der persönliche, offenbare Gott, der rettende Gott des Evangeliums. Außerdem wird die Hypothese, wonach das Lob im Gegensatz zum Dank eher Gegenwart und Zukunft zuzuordnen ist, bestätigt: „Lobe Zion deinen Gott mit Freuden, auf! Erzähle dessen Ruhm, der in seinem Heiligtum fernerhin dich als dein Hirt will auf grüner Auen weiden.“ Musikalisch knüpft Bach mit dem spritzig-tänzerischen Dreivierteltakt, ja selbst in der Motivik (Figura-corta) an den Eingangschor an (vgl. T. 1 bzw. T. 25 des Eingangschors mit dem Choreinsatz „Singet“), was zum semantischen Gehalt gut passt: Der „Gemeine der Heiligen“ (Satz 1) entsprechen „Zion“ und „Heiligtum“. Der unlösbare Zusammenhang von Lob und Freude, mithin der stets wirksame freudige Affekt im doxologischen Kontext, ist hier besonders durch melismatische Stellen auf „lobe“ und „Freude“ hervorgehoben. Das zentral Verb loben ist meist mit einer unmissverständlich als aufsteigendes Lobopfer zu deutenden Anabasis-Figur verknüpft (vgl. T. 22; 26), die zeigt: „Loben zieht nach oben.“399. Das folgende Rezitativ (Satz 4) bündelt als trinitätstheologische Scharnierstelle der Kantate zahlreiche biblische Überlieferungen400 und knüpft unter Aufnahme des zentralen Stichworts „Hirt“ an die vorangehende Arie anknüpft. Der Satz bildet somit eine Brücke von Teil I zu II der Kantate, die zum einen alttestamentlich und zum anderen neutestamentlich geprägt sind bzw. Inhalte des ersten Artikels und des zweiten und dritten Glaubensartikels401 thematisieren. Zwar wird Gott, der Herr (gemeint ist der Vater Jesu Christi), in diesem Gebet zunächst noch einmal angesprochen, Jesus bzw. „sein guter Geist“ kommen aber in der 3. Pers. Sg. ebenfalls schon vor. Ja mehr noch: Die Christus zugesprochenen Gaben und Prädikate Freude, Trost, Heil und bestes Teil  setzen nunmehr einen neuen Akzent: Nicht nur um Bewahrung im leiblichen Leben (vgl. Satz 2), sondern auch um ein geistliches Bleiben im Herrn („dass Jesus … mich als ein Schäflein seiner Weide … nimmermehr aus seinen Armen lasse“) geht es jetzt. Ja, man wird sogar von „Perseveranzaussagen“402 (vgl. Joh 10,28 f)  sprechen dürfen. Die in Satz 3 noch

399 Vgl. dazu exemplarisch Ebelings Choralmelodie zu Paul Gerhardts Du meine Seele, singe (EG 302,1). 400 Vgl. Petzoldt II, 284: „Das „Bild von dem seine Schafe weidenden und schützenden Hirten wird verschmolzen mit verschiedenen Elementen aus den Psalmen, aber auch aus den Prophetien des Zacharias und des Simeon: Freude, Trost, Heil und bestes Teil.“ 401 Petzoldt II, 284 kann überzeugend nachweisen, dass der Hinweis auf die Leitung des Geistes aus Olearius’ Kommentar III, 741 zu Ps 143 stammen könnte. Dort heißt es: „Dein guter Geist führe mich auf ebner Bahn“. 402 Vgl. zu diesem eigentlich reformierten Topos: FC XI,12, Epitome, 819 f.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

offen gehaltene „Freude“ hat nun einen Namen und ein Gesicht: Jesus selbst ist „meine Freude“ (vgl. EG 396). Die letzte Aussage dieses Rezitativs: „regier und führe mich auf ebner Bahn, so fang ich dieses Jahr in Jesu Namen an“ setzt gleichsam die theologische Pointe für die ganze Kantate. Schwellenübergang zum neuen Jahr und Feier des „Namenstags Christi“ werden in Bitte und Bekenntnis zusammengeschaut. Hier verbreitert Bach die musikalische Form zu einem kleinen ariosen Andante, bei dem sich im Continuo eine halbtaktige Wendung dreimal auf verschiedenen Stufen wiederholt (T. 15–17). Alles Folgende steht dann unter christologischen Vorzeichen: Dieses Gebet an den guten Hirten geht im folgenden Duett für Tenor und Bass (Satz 5) über in ein triadisch strukturiertes persönliches Vertrauensbekenntnis zu Jesus Christus mit einer sechsfachen Anapher des Jesusnamens. Die drei Zeitstufen klingen mit den Begriffen „Anfang“, „Ende“ und „Freudenschein“ (Gegenwart) als Anknüpfung an Satz 2 wieder an, sind nun aber christologisch verankert. Das Prädikat „Freudenschein“ könnte eine Anspielung auf Nicolais Morgensternlied (Str. 4) sein, das von inniger Brautmystik geprägt ist.403 Die Innigkeit des Satzes wird durch die Verwendung der Liebesoboe und das Konzertieren von Tenor und Bass sinnenfällig, wobei letzterer durchaus eine Art „latenter vox Christi“ übernehmen dürfte. Der eschatologische Ausblick am Ende zeigt, dass das neue Jahr die Frage nach der Ewigkeit nicht nur aufwirft, sondern von Christus her be­ antwortet.404 Bach erweist seinen Feinsinn für die Dichtung einmal mehr dadurch, dass er hier auf ein Da capo verzichtet, denn wo von einem „guten Ende“ die Rede war, kann nicht nochmals der Anfang kommen: Jesus soll mein alles sein,  /  Jesus soll mein Anfang bleiben,  /  Jesus ist mein Freudenschein,/  Jesu will ich mich verschreiben.  /  Jesus hilft mir durch sein Blut,  /  Jesus macht mein Ende gut. Die Rhythmisierung und Metrisierung des tänzerisch-leichtfüßigen Stückes im 6/8-Takt (ohne Tempoangabe)  ist ungewöhnlich: Bach betont neben dem vierten Achtel an bestimmten Stellen auch noch das fünfte, wodurch quasi eine hemiolische Situation entsteht (vl. T. 1, Solo-Vl. Bzw. T. 9 und 11 Soli). Es handelt sich dabei oft um das Promomen „mein  …“ (mein „Alles“ bzw. „mein Freudenschein“), das in T. 9, 11 und 17 zusätzlich durch eine Punktierung (Achtel mit zwei 32tel-Noten) herausgehoben wird, womit Bach die Intensität der Jesusbeziehung hervorkehrt. Am häufigsten wird die Wendung „durch sein Blut“ (insgesamt achtmal) wiederholt, die als Hinweis auf die Beschneidung Jesu (Lk 2,21) zu verstehen sein dürfte.

Aus der Intimität des persönlichen Vertrauensbekenntnisses mit der sechsfachen Anapher wächst mit dem Rezitativ des Tenors (Satz 6) eine sechsfache Segensbitte heraus, die inhaltlich Gottes weltliches und geistliches Regiment verknüpft. Das sechsfache Er bzw. Es korrespondiert mit dem sechsfachen Jesus der vorangegangenen Arie. Rat und Richterstuhl, Kirche und Schule, doctrina evangelii und

403 Vgl. dazu Arnold, 505–514 bzw. oben 6.1.3. 404 Den von Petzoldt II, 285 vernommenen ethischen Aspekt des Sich-Verpflichtens vermag ich nur schwer zu hören.



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iustitia civilis werden hier nicht etwa an den Schöpfer und Erhalter, sondern an die Autorität Jesu Christi gebunden. Der Dichter denkt dabei an die drei Stände Ecclesia („Kirch und Schul“), Politia („Rat und Richterstuhl“) und Oeconomia („jedes Haus in unserer Stadt“) und spielt am Ende auf das Motto der Stadt Leipzig (Ps 85,11) an, das sich u. a. auf einer 1713 entstandenen Standtansicht Leipzigs (Stich) von C. F. Rumpf findet: „Diese Stadt muß Glück und Heyl genießen, Wo Friede und Gerechtigkeit sich küssen.“405

Mit diesen Formulierungen weitet sich die christologische Konzentration (Name Jesu) auf Inhalte des ersten Artikels aus: der biblisch-theologisch zentrale Begriff Segen meint Wohl und Glück; Friede und Treue im Sinne des hebräischen Schalom. Hier sind neben der Verkündigung des Wortes auch Güter des alltäglichen Lebens gemeint, sie fallen unter die providentia Dei. Durch die drei Stände hindurch teilt der dreieinige Gott diesen Segen aus. Damit rücken Christengemeinde und Bürgergemeinde aufs Engste zusammen. Musikalisch-melodisch finden wir in diesem ausinstrumentierten Secco einen hochinteressanten Text-Ton-Bezug: Bach arbeitet die fünf- bzw. quasi sechs­fache Anapher „Er/Es“ durch einen stets an dieser Stelle wiederkehrenden Dreiklang heraus: beim ersten Mal („Er segne beides“) mit einem steigenden und fallenden, dann jedoch fünfmal mit einem fallenden Dreiklang, der die Herabkunft des Segens (Katabasis) schön abbildet: Die berührten Tonarten sind beinahe sym­ metrisch angelegt: h-moll – fis-moll – E-Dur – A-Dur – Fis-Dur – h-moll. Diese Deutung wird am Ende nochmals mit einer schönen linearen Katabasis „das ganze Jahr im Segen“ bekräftigt. Eindrucksvoll ist auch die Hyperbole (Überschreitung des Notensystems) an der Textstelle „bis an die Wolken“, an der Bach dem Tenor ein (selten vorkommendes) hohes h zumutet. In dieser Segensbitte schließt sich der Kreis zu Satz 2: Hier wird Gottes heilvolle Zuwendung für den ganzen Menschen, ja für das Gemeinwesen erfleht. Gottes Segen gilt Leib und Seele und wird durch die drei „heiligen Stände“ mitgeteilt: im verkündigten Wort, im christ­ lichen Unterricht (Ecclesia), in Politik und Rechtswesen (Politia), in Ehe und Familie (Oeconomia). Dabei dominieren die „Güter“ eines gelingenden Lebens hier und jetzt gegenüber der Verheißung des ewigen Heils. Wir können also gleichsam eine lebensweltlich-kasualtheologische Verdichtung beobachten. In einem Zeitalter neu erwachten Interesses für die Zivilreligion, wäre daran anknüpfend die Frage nach der Bedeutung der Kirche in der Stadt (vgl. Citykirchenarbeit) bzw. der Religion für den Staat auf der einen, aber auch die Rede vom seligmachenden Namen Jesu Christi neu zu stellen:406 Wie kann die Christengemeinde Zeugnis

405 Vgl. die Ansicht der „Universitäts- und Handelsstadt Leipzig“ (1713) in: Koopman/Wolff, Kantaten III, 12.  Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den Ratswechselkantaten 119,2; 193,4 u. a., vgl. oben 5.2.2 f. Im Gegensatz zu Ps 85,11 ist die Reihenfolge der beiden Substantive vertauscht. 406 Vgl. Petzoldt II, 287: „Bemerkenswert bleibt die inkarnatorische Auslegung durch Bernhard v. Clairvaux […]; danach erfüllt der Bezug zu Ps 85,11 beides, die Assoziation zur politisch-kommunikativen und zur christologisch-inkarnatorischen Seite, die den Neujahrstag kennzeichnet.“

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

geben in der Öffentlichkeit? Was heißt es heute, dass die christliche Kirche Fürbitte tut für die Politik (vgl. 1 Tim 2,1–3)?407 J. Arndt hatte, wie oben gesehen, in seiner letzten Neujahrspredigt die christologische Mitte des Neujahrsfestes mit der Kasualie Neujahr verknüpft. Er stellt (vgl. Satz 2) den Dank für das Vergangene an die Spitze und zählt dann (vgl. Satz 6) Ecclesia (Wort und Sakrament), Politia (Friede; fürstl. Obrigkeit) und Oeconomia (Nahrung, Gesundheit) als Wohltaten Gottes auf: „Alleweil wir durch Gottes Gnade den lieben Newenjahrstag erlebet haben /  so ists billich / daß wir alle unserm lieben Gott dancken für die viel grosse und hohe Wohl­ thaten / so wir dis vergangene Jahr über empfangen haben. 1. Die höchste Wohlthat ist Gottes Wort und die H.Sacramente. 2. Friede durch unsere Fürstliche Obrigkeit. 3. Nahrung und das tägliche Brot. 4. Gesundheit: Bitten Gott / er wolle uns ferner ein newes gesegnetes Jahr geben / bey Gottes Wort / Friede / Nahrung und Gesundheit erhalten / uns dasselbe segnen und benedeyen durch die allerzarteste Blutströpffelein des Christkindleins / und durch seynen gebenedeyeten Namen Jesum.“

Der (vollständig erhaltene) festlich instrumentierte Schlusschoral, ein prächtiger Kontrapunkt zum Eingangschor, fasst sowohl die theologischen Formen der Kantate als auch deren dogmatischen Inhalt summarisch zusammen. Der Choral ist in Form eines Bittgebets formuliert und enthält fast alle wesentlichen Gesichtspunkte der Kantate: das Lob des Namens Gottes bzw. die Doxologie der christ­ lichen „Gemeine“ als ein Proprium des Feiertags (vgl. Satz 1–3); die Bewahrung und Erhaltung der „lieben Christen“ und des „Vaterlandes“. Mit den Stichworten „erhalten“, „Frieden“ und „Allmacht“ sind Güter und Gaben des Schöpfers und Welten­lenkers benannt;408 hinzu kommt aber auch die schlechthinnige Gabe des Erlösers: das „seligmachende Wort“. Dies alles lässt sich unter dem trinitätstheologischen Begriff „Segen“ subsummieren, in dem, wie Luther sagte, die „ganze Theologie auf einem Haufen ist“409. Die musikalische Faktur ist einfach, die Trompeten treten immer eineinhalb Takte vor den Fermaten in den Chorsatz ein, was sich im Abgesang noch verdichtet, wenn das zentrale Stichwort des Segens wieder fällt. Beinahe spektakulär ist die Illustration des Wortes „Schande“ durch einen Saltus duriusculus im Vokal­ bass vom d’ zum dis. Gleich darauf finden wir mit einem Tritonussprung bei „Heuchler“ (ebenfalls im Bass). Fassen wir zusammen: Der analytische Durchgang durch BWV 190 brachte uns auf eine aufregende musikalische Ausleuchtung einer trinitarischen Theologie, deren Ziel der Lobpreis des Namens Gottes ist. Die gottesdienstlichen Formen Lobpreis, Dank, Vertrauensbekenntnis und Bitte um Bewahrung und Segen

407 Vgl. Petzoldt II, 286 mit Hinweis auf das Allgemeine Kirchengebet im „Leipziger Kirchen= Staat“, Leipzig 1710. 408 Vgl. dazu oben 5.2 und 5.3. 409 Vgl. Luther, WA 24, 394 f: „Wo von Segen gesagt wird, da ist Euangelion, wo das Euangelion ist, da ist Gott mit Christo und allen Gütern. […] Wiederum ist aufgerichtet vor und ohne alle Werke lauter Gnade durch Christum, dass sich nicht jemand rühme, sondern jedermann Gott danke, dass er den Samen erweckt hat, durch welchen der reiche und ewige Segen kommt. Das ist die ganze Theologie auf einem Haufen, davon bisher keine Gelehrten noch hohe Schulen ein Wort verstanden haben.“ Vgl. auch Arnold, 447–450 bzw. Greiner, 211 f.

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geben der Kantate eine spirituelle und poetische Vielschichtigkeit. Hinzu kommt, dass die Sprechrichtungen wechseln und damit auch liturgisch bestimmte Wechsel vollzogen werden. Während Satz 1 und 2 bzw. 6 und 7 die ganze Gemeinde als „Wir“ im Blick haben (Rahmen), fokussieren Satz 3–5 das gläubige Subjekt. Satz 6 öffnet den Blick von der „Gemeine“ zur Welt hin. Dem oben geschilderten De-tempore-Charakter des Neujahrsfestes entspricht eine schöpfungstheologische bzw. kasualtheologische (Jahreswechsel) wie eine christologische (Beschneidung und Namensgebung Christi) Akzentsetzung, die allerdings im Gegensatz zur dogmatischen Literatur der Bachzeit eher zurücktritt. Der Kantatendichter versucht beidem gerecht zu werden, indem er in Satz 1–3 und 7 die Providenz und Er­ haltung Gottes thematisiert, während in Satz 4–6 dieselbe christologisch unter dem Hauptnenner des „Namens Jesu“ vertieft wird. In der Mitte der Kantate, am Ende von Satz 4, steht der beide Aspekte verbindende Satz: „So fang ich dieses Jahr in Jesu Namen an“, der gleichsam die Quintessenz dieser Kantate und der übrigen Neujahrskantaten Bachs bildet. c) Dramaturgische und liturgische Erwägungen Überlegen wir zuletzt, wie sich die liturgische Gestaltungsaufgabe eines Kantatengottesdienstes an Silvester oder Neujahr darstellt: Der Wechsel von Lob und Dank zu (Segens)bitte und Bekenntnis bzw. vom ersten zum zweiten Artikel ist zwischen Satz 3 und 4 am ehesten zu erkennen. Von daher bietet es sich an, hier die Kantate aufzuteilen und die Predigt einzubauen, was dann folgenden Ver­ kündigungsteil nahelegt: a) Evangelium zu Neujahr nach Lk 4410 oder zum „Tag der Beschneidung Christi“ (Lk 2,21) – Kantate Satz 1–3 – Predigt – Credo – Kantate Satz 4–7 Alternativ dazu könnte man das Credo auch aufteilen und sich anstelle des Evangeliums auf eine alttestamentliche Lesung und die Epistel konzentrieren. Das Evangelium käme dann gleichsam mit den Sätzen 4 und 5 der Kantate und würde dann prompt durch das Bekenntnis des zweiten Glaubensartikels durch die Gemeinde beantwortet. Dies ergäbe dann folgende Lösung: b) Lesung aus Jos 1,1–9 – Credo (1. Artikel) – Kantate Satz 1–3 – Epistel (Altjahrabend) Hebr 13,8 f 411 – Kantate Satz 4 f – Credo (2. Artikel) – Predigt – Credo (3. Artikel) – Kantate Satz 6 f Denkbar wäre zuletzt auch, dass Satz 1 anstelle eines Psalmgebetes oder Introi­ tus schon zu Beginn des Gottesdienstes musiziert würde. Satz 2 und 3 könnten anstelle eines Kollektengebetes stehen und das Thema weiter entfalten. Die Sätze 4–7 würden dann als Segensbitte am Ende des Gottesdienstes vor dem Segen zum Stehen kommen, wobei Satz 7 als schöne Zusammenfassung der ganzen Kantate auch gut nach dem Segen (gleichsam als Akklamation) erklingen könnte.

410 Vgl. EGB, 266. 411 Vgl. EGB, 264.

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Gottes Offenbarung als der Dreieinige in Bachs Kantaten

Fazit: Kapitel 6 dieser Arbeit stellt eine kleine doxologische Trinitätstheologie in nuce dar. Ausgehend von der Beobachtung, dass viele der hymnischen Kantaten Bachs im Evangelium von Jesus Christus, und das heißt immer auch in den Christusfesten von Weihnachten und Ostern ihren Kern haben, wird eine solche Trinitätslehre mit dem zweiten Glaubensartikel einsetzen (vgl. 6.1), um dann, der leiblichen und christologischen Dimension von Pfingsten eingedenk (vgl. 6.2), in die Weite der Schöpfung hinauszugehen, wo wir Spuren der Größe und Güte des Dreinigen wahrnehmen konnten (6.3), was uns am Ende mit dem Lobpreis des Dreieinigen (6.4 f) wieder ins Herz des christlichen Gottesdienstes führte.

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7. Zusammenfassung und Ausblick Die folgenden Ausführungen können die in Kapitel 1–6 erarbeitete Fülle an Beobachtungen keinesfalls ganz zusammenfassen. Sie sollen gleichwohl schlaglichtartig zentrale theologische, musikalische und spirituelle Aspekte des Bachschen Vokalwerks fokussieren, offene Fragen benennen und zur weiteren wissenschaftlichen Bearbeitung und Auseinandersetzung anregen.

7.1 Exegetisch-hermeneutische Entdeckungen zum Psalter in Bachs Kantaten An vielen Stellen sind neben den im Gottesdienst gelesenen Epistel- und Evangelienperikopen Texte aus dem biblischen Psalter expliziter Ausgangspunkt für die Kantatendichtung.1 Die Behauptung von einem „Psalmenschweigen“2 in Bachs Kantatenwerk ist daher geradezu absurd. Dennoch ist es verwunderlich, dass Bach nur in seiner frühen Kantate Aus der Tiefen (BWV 131) einen ganzen Psalm vertont, der allerdings durch den Choral Herr, Jesu Christ, du höchstes Gut von B. Ringwaldt (1588) unterbrochen und ausgelegt wird. In den meisten Fällen verhält es sich jedoch anders: Die Psalmverse bilden vielmehr häufig die poetische und theologische Matrix für die ganze Kantatendichtung.3 Diese These soll nun ex­ pliziert werden:

7.1.1 Psalmworte als hermeneutischer Schlüssel und poetische Matrix der Kantaten Betrachten wir dazu einige der bereits analysierten Kantaten nochmals genauer, indem wir uns jenen Kantaten zuwenden, die ein Psalmwort an der Spitze haben und dann in den folgenden Sätzen aus (weiteren Bibelworten), madrigalischer Dichtung und Choral bestehen.

1 Dies lässt sich schon rein quantitativ erheben: Von den 62 alttestamentlichen Schriftzitaten in Bachs Kantaten (die etwas mehr als die Hälfte aller 123 Bibelworte ausmachen), wurden über drei Viertel (48) den Psalmen entnommen. Sie stehen an der Spitze vieler doxologischer Kantaten oder werden zumindest in ihnen zitiert (19 Belege). Vgl. Steiger, Dialogue, 38, Anm. 6. 2 Vgl. Bartelmus, 648 f. 3 Erstaunlich ist, dass Bach mit Ausnahme von BWV 1083 (Pergolesi-Bearbeitung einer bereimten Fassung von Ps 51) keinen ganzen Psalm im biblischen Wortlaut am Stück vertont hat. Sonst trifft dies noch auf BWV 196 mit Versen aus Ps 115 und auf BWV 131 zu, wo freilich kommen­ tierende bzw. applizierende Choraleinschübe den Duktus von Ps 130 unterbrechen.

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Zusammenfassung und Ausblick

a) In Unser Mund sei voll Lachens (BWV 110, Text von G. C. Lehms) konnten wir im Kopfsatz sehen, wie die mit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil4 verbundene Verheißung „Dann wird unser Mund voll Lachens sein“ (Ps 126,2) in die liturgische Heilsgegenwart des Weihnachtsfestes verschoben, also dezidiert vergegenwärtigt wird: Unser Mund sei voll Lachens meint: sei jetzt, hier und heute, zum weihnachtlichen Fest „voll Lachens“. Interessant ist, dass Lehms in seinem „Neuarrangement“ von Ps 126,2 dem klassischen Modell des biblischen Hymnus folgt, der mit Aufgesang und anschließender Begründung beginnt.5 Durch diesen verallgemeinernden Kunstgriff ist BWV 110,1 sogar als eigenständiger Konzertsatz für jedes christliche oder auch jüdische Fest denkbar. Erst die darauf folgende Arie (Satz 2) gibt dem Geschehen eine klare christologische Kontur. Sie knüpft wörtlich („was Gott getan“) an Satz 1 an und kulminiert in der Aussage: „Er wird Mensch, und dies allein, / dass wir Gottes Kinder sein.“ Das „Große, das Gott getan hat“ (vgl. Ps 126,3) besteht aus christlicher Perspektive nicht (nur) in der Beendigung der babylonischen Gefangenschaft, sondern in Gottes Menschwerdung. Satz 5 knüpft mit dem neutestamentlichen Zitat aus dem Gloria (Lk 2,14) an das Psalmwort an, indem er die Aufforderung zum Lob („…und unsere Zunge voll Rühmens!“) tatsächlich vollzieht: „Ehre sei Gott in der Höhe!“. Damit ist der Höhepunkt der Kantate erreicht, die mit zwei weiteren doxologischen Sätzen (Arie und Choral) ausklingt. Auch diese ver­ halten sich sprachlich zueinander noch einmal so wie die beiden Schriftzitate,6 sie sind Aufgesang (Satz 6) und Lobpreis (Satz 7). b) Etwas anders liegt der Fall in BWV 17.7 Hier ist das Psalmzitat in Satz 1 („Wer Dank opfert, der preiset mich, und das ist der Weg,8 dass ich ihm zeige das Heil Gottes“) alttestamentlicher Typos im besten Sinne: Im Psalmwort wird das vorweg abgebildet, was sich dann in der neutestamentlichen Erzählung von der Heilung der 10 Aussätzigen, die in Satz 4 zitiert wird, ereignet: Einer kommt zurück, dankt Christus und findet dadurch den Weg zu Gott. Im Übrigen haben wir hier ein Beispiel dafür, wie auch der letzte Vers eines Psalms – er bietet so etwas wie die gottesdienstliche Summe von Ps 50 – eine tragende Funktion gewinnen und treffsicher mit dem Skopos der Evangelienperikope verknüpft werden kann. Darüber hinaus zeigt der Dichter viel Gespür für die Gattung, dadurch dass er das Psalmwort mit weiteren hymnischen Psalmzitaten bzw.

4 „Wenn der Herr, die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Ps 126,1 f) 5 Vgl. die Urform in Ex 15,21 (Miriamlied): „Lasst uns singen dem Herrn, denn er hat eine große Tat getan!“ Oder aber: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ (Ps 98,1) 6 Zwischen Psalmwort und Gloriazitat finden wir übrigens noch ein Prophetenwort aus Jer 10, das stichwortartig an Motive aus Satz 1 („Größe“ und „Tat Gottes“) anknüpft: „Du bist groß, und dein Name ist groß und kannsts mit der Tat beweisen.“ 7 Vgl. dazu grundsätzlich: Blankenburg bzw. Küster, Meininger Kantatentexte. Zur gleichen Sammlung gehören auch die Kantaten BWV 43 und 187 (vgl. 5.1.3), die beide ebenfalls ein Psalmwort an der Spitze und ein neutestamentliches Dictum aus dem Evangelium in der Mitte haben. 8 Dieser Satzteil ist im hebräischen Original schwierig oder gar verdorben. Deissler, 203, kon­ jiziert synergistisch: „und wer [rechtschaffen lebt], den werde ich das Gottesheil schauen lassen.“

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Exegetisch-hermeneutische Entdeckungen

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-paraphrasen verknüpft: Satz 2 nimmt Gedanken aus Ps 19,2–7 (die Schöpfung als „stummer Zeuge“ der Majestät Gottes) auf,9 Satz 3 zitiert die hymnische Anbetung aus Ps 36,6 und paraphrasiert am Ende wieder Ps 50,23b. Besonders an Satz 3 ist zu sehen, wie die madrigalische Dichtung nahtlos aus einem Psalmzitat herauswächst: Ar ie (S opran) Herr! deine Güte reicht so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit langt, so weit die Wolken gehen. (Ps 36,6) Wüsst’ ich gleich sonsten nicht, wie herrlich groß du bist, so könnt ich es gar leicht aus deinen Werken sehen.10 Wie sollt man dich mit Dank davor nicht stetig preisen, da du uns willt den Weg des Heils hingegen weisen? (vgl. Satz 1: Ps 50,23b)11

c) Auch in der frühen Kantate Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) spielen wörtliche Psalmzitate eine zentrale Rolle und treten in ein reizvolles Wechselspiel mit der barocken Dichtung. Die Psalmverse bilden gleichsam die wichtigsten Stationen einer existenzielle Dramaturgie der Kantate ab. Der Bogen spannt sich dabei vom mottoartigen Kopfsatz (Ps 94,17) über Satz 6 (Was betrübst du dich, meine Seele?) und Satz 9 (Sei nun wieder zufrieden, meine Seele) bis hin zum jubelnden Hymnus (Satz 11) auf das erhöhte Lamm Christus. Besonders zum letzten Satz ist es ein großer „hermeneutischer Sprung“. Betrachtet man allerdings die Sätze davor genauer, so wird transparent, was dazwischen „passiert“ ist. Die madrigalische Dichtung (z. T. in Dialogform) macht erkennbar, wie aus der verzweifelten Klage durch eine mystische Christusbegegnung neues Vertrauen entsteht.12 Diese ganze Dramaturgie ist im Kopfsatz bereits kompakt angelegt, der durch seine sprachliche und musikalische Dialektik die ganze Kantate trägt: Er benennt die „Bekümmernisse“ des Klageteils (Satz 3–5), die „erquickenden Tröstungen“ des Vertrauensteils (Satz 7 f)  und musikalisch („Aber“) auch den hymnischen Lobpreis (Satz 10 f). d) Eine weitere Spur der Rezeption von Psalmversen finden wir in Preise, Jeru­ salem, den Herrn (BWV 119) von 1723.13 Der Psalmvers an der Spitze stammt aus dem weisheitlichen Hymnus Ps 147.14 Die folgenden Sätze nehmen dann

9 Vgl. Gese, Psalm 19 bzw. Arnold, 467–469 (zur weisheitlichen Komposition von Psalm 19). 10 Vgl. Röm 1,19 f. 11 Der Dichter fügt lediglich die Verbform „langt“ in die zweite Vershälfte ein, kreiert so aber ein intaktes jambisches Versmaß (Alexandriner). Ein Kreuzreim verzahnt dann das Bibelwort geschickt mit der folgenden Meditation, die ein nachdenkliches Staunen über die Schöpfung im persönlichen Gebet vor Gott bringt. Der Paarreim am Ende schlägt wieder eine Brücke zurück zu Satz 1, indem er die Begriffe Dank und „Weg des Heils“ pointiert aufnimmt und damit zugleich den Boden bereitet für das, was in Teil II kommt. Die Dichtung fügt sich also „nahtlos“ in die Bild- und Begriffswelt der Psalmen ein, führt das Lobgebet weiter und adaptiert damit auch (syntaktisch) die Sprachform. 12 Zur Geschichte und Problematik dieser beliebten Kantate und den vielfältigen Entstehungshypothesen (z. B. von Wolff und Petzoldt) vgl. oben 2.4.2. 13 Vgl. oben 5.2.3. 14 Vgl. zum Verhältnis von Ps 19 und Ps 147: Arnold, 468 f.

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Zusammenfassung und Ausblick

sukzessiv einzelne Begriffe und Motive aus Satz 1 auf (z. B. „Friede“ in Satz 2; „Segen“ in Satz 2–4 usw.), so dass wir hier eine assoziative Bereimung mit vielfältigen Stichwortanknüpfung an den Psalmvers entdecken können. Herme­ neutisch geschieht dabei, wie auch in BWV 193,4 zu sehen ist, eine unmittelbare Identifikation der Stadt Leipzig mit dem biblischen Jerusalem, die auch am Motto der Stadt Leipzig aus Ps 85,11 f abzulesen ist, wonach sich „Gerechtigkeit und Frieden küssen“. e) In Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 69a) steht mit Ps 103,2 einer der bekanntesten Psalmen an der Spitze, der das Gedenken an das Handeln Gottes zur Grundlage der doxologischen Existenz macht. Bachs Komposition ist in hervorragender Weise geeignet, das Gedenken und das Danken erlebbar zu machen, indem er nicht nur jubelnde Klänge (3 Trompeten usw.) in strahlendem D-Dur, ein frisches Tempo (Allegro) und einen tänzerischen 3/4-Takt hören lässt, sondern auch den Zusammenhang von Gedenken (an das Handeln Gottes) und Danken (des glaubenden Menschen) durch die Struktur einer kunstvollen Fugenkomposition erhellt. Dadurch dass Bach zeitweise zwei Themen gleichzeitig ins Spiel bringt, werden das „Gedenken an Gottes Tun“ und der menschliche Dank als zwei Aspekte ein und desselben existenziellen Vorgangs transparent. Der freudige Affekt der Komposition ist gleichsam die „ästhetische Rezeptionsfolie“, auf der diese Aussagen uns ansprechen. Das im Kopfsatz vorgegebene biblisch-liturgische Motiv wird dann im Folgenden weiter entfaltet.15 Sprachlich lässt sich Satz 2 als staunendes Erzählen über Gottes Wunder verstehen, beleuchtet also eher den Halbsatz „was er dir Gutes getan hat“ (Ps 103,2b). Satz 3 führt dagegen beide Aspekte fort. Aus „lobe“ (Satz 1) werden die Imperative „Auf, erzähle“ bzw. „rühme“; aus „was er dir Gutes getan hat“ nunmehr „was dir Gott erwiesen hat“.16 Der Dichter nimmt den Psalter somit als eine Art Sprachschule für die eigene Dichtung auf und bleibt im Duktus zugleich sehr nah am Original. In Satz 4 („Gedenk ich nur zurück“) wird das Motiv „vergiss nicht“ positiv gewendet aufgenommen. So entdeckt man Spuren des Segens Gottes in der eigenen Lebensgeschichte, um dann im folgenden Satz  – gleichsam prospektiv  – Gottes Beistand für die Zukunft („Kreuz und Leiden“) zu erflehen und am Ende durch den „mit Freude singenden Mund“ eine Stichwortbrücke zum angefangenen Ps 103 (V5: „der deinen Mund fröhlich macht“) zu schlagen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Psalmwort im Kopfsatz meist nicht nur eine große sprachliche Nähe zu den folgenden Sätzen hat, sondern diese geradezu auslöst: Die weitere Dichtung erfüllt, was der Psalm vorgibt. So wird die perfor­ mative Qualität des göttlichen Wortes (vgl. Jes 55,11) poetisch und musikalisch

15 Petzoldt entdeckt allein in den beiden folgenden Sätzen Anspielungen auf sechs weitere Psalmen (Ps 30; 126; 66; 17; 150; 77), vgl. Petzoldt I, 307. 16 In der BWV 69a voraus gehenden Dichtung von J. O. Knauer folgt dieser Satz bereits an zweiter Stelle, ist also noch näher mit dem Eingangschor verbunden. Bachs 2. Satz steht an dritter Stelle.

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Exegetisch-hermeneutische Entdeckungen

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erfahrbar. Hermeneutisch findet in vielen „Psalm-Kantaten“ dabei oft eine auf­ regende Verschränkung von unterschiedlichen Sprach- und Deutungsebenen statt: Der Psalmvers bringt eine geistliche Erfahrung als autoritatives Schrift- und affektives Lebewort ins „Gespräch“, das in der Kantate als dezidiert christlicher, d. h. auf das Evangelium bezogener Kirchenmusik stets auf dem Hintergrund der neu­ testamentlichen Offenbarung in Christus verstanden wird. Beide zusammen werden ihrerseits durch unterschiedliche hermeneutische Modelle wie das Schema von Verheißung und Erfüllung in Beziehung gesetzt und interpretieren sich gegenseitig. Darüber hinaus sind in der Kantatendichtung reformatorische Theologie und Poesie (Choral) vorausgesetzt, wobei die barocken Dichter ihre eigene reli­ giöse Erfahrung noch zusätzlich einbringen. In dieses reizvolle Zusammenspiel von „Kon-Texten“ werden wir auch heute beim Hören und Musizieren hinein genommen, ja förmlich hinein gezogen. Dabei geschieht eine anamnetische Verschränkung von Zeiten, die einander durchdringen und durch die Musik zu einem ästhetischen Ganzen werden. Es ereignet sich, durch die Affektkunst der Bachschen Musik erzeugt, eine Vergegenwärtigung jüdischer, reformatorischer und protestantisch-barocker Gottes- und Welterfahrung, die uns selbst eine persönliche Gottesbegegnung und geistliche Weltdeutung eröffnen kann.

7.1.2 Psalm und Choral (Choralkantaten) Im Blick auf den Zusammenklang von Psalm und Kirchenlied17 finden wir in den Choralkantaten mindestens ebenso reizvolle Beispiele.18 Drei poetische Lösungen sind zu unterscheiden: a) Die einfachste ist (wie z. B. BWV 112; 117 und 129) ein Psalmlied19 per omnes versus. Dann hören wir die pointierte Stimme eines Dichters, der sich den Psalm spirituell angeeignet hat und ihn theologisch interpretiert. Wir haben also hermeneutisch zwei Textebenen zu unterscheiden, zu denen dann die Musik Bachs als dritte ästhetische Größe hinzukommt. b) Die zweite Form sieht so aus, dass zu Beginn und zum Schluss einer Kantate die Choralstrophe eines Psalmlieds vertont wird, meist handelt es sich um einen kunstvollen Chorsatz und einen (schlichten) Kantionalsatz. Ein treffendes Beispiel dafür ist Wär Gott nicht mit uns diese Zeit (BWV 14), eine Kantate, die auf Luthers Nachdichtung des 124. Psalms (1524) zurückgeht20 und erst 1735 ent

17 Vgl. dazu grundsätzlich: Arnold, Kirchenlied. 18 Im Einzelnen handelt es sich um Ach Gott, vom Himmel sieh darein (BWV 2, vgl. EG 273 bzw. Ps 12), Wär Gott nicht mit uns diese Zeit (BWV 14, vgl. Ps 124), Der Herr ist mein getreuer Hirt, (BWV 112, vgl. EG 274 bzw. Ps 23), Ach Herr, mich armen Sünder (BWV 135, vgl. Ps 6), Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (BWV 178, ebenfalls Ps 124), Aus tiefer Not schrei ich zu dir (BWV 38, vgl. EG 299 bzw. Ps 130). 19 Im Gegensatz zum schlichteren Liedpsalm (vgl. Genfer Psalter) ist das Psalmlied eine Neudichtung, in der der „Sinn klar und möglichst nahe dem Psalmtext“ und doch „frei wiedergegeben“ werden soll. Vgl. Luthers Brief an Spalatin (1523), WA Br 3, 220. 20 Vgl. dazu Petzoldt II, 516 f.

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Zusammenfassung und Ausblick

stand.21 Dabei zeigt vor allem der dramatische Mittelsatz (Rezitativ, Tenor) viele sprachliche Anknüpfungen an Psalm und Choral, ohne diesen unmittelbar wörtlich zu zitieren.22 Theologisch freier verfährt der unbekannte Librettist von Aus tiefer Not schrei ich zu dir (BWV 38) mit Ps 130 und dem Psalmlied Luthers, wenn er in den Mittelsätzen eine existenzielle Entfaltung der tröstenden Vergebung Jesu vornimmt, die über die subtilen Andeutungen Luthers spürbar hinausgeht.23 In der theologisch und poetisch zentralen Str. 3 (Abgesang) formulierte der Reformator: „die mir zusagt sein wertes Wort, / das ist mein Trost und treuer Hort / deß will ich allzeit harren“. Daraus wird in BWV 38,3 (Arie, Tenor): Ich höre mitten in den Leiden ein Trostwort, so mein Jesus spricht. Drum, o geängstetes Gemüte, vertraue deines Gottes Güte, sein Wort besteht und fehlet nicht, sein Trost wird niemals von dir scheiden.

Die barocke applicatio zielt auf die Wirkmächtigkeit des göttlichen Wortes und spitzt diese christologisch zu.24 c) Die dritte und komplexeste Form der Choralkantate streut einzelne Choral­ zitate in die madrigalische Dichtung ein, ja kombiniert sie z. T. geschickt mit Zitaten oder Anspielungen auf biblische Tradition (auch außerhalb der Psalmen).25 So ergibt sich ein enges dreifaches Textgeflecht von Psalm, Psalmlied und Kantatendichtung. Dabei begegnen sich in der Poesie der Kantatendichtung drei theologische Entwürfe bzw. spirituelle Deutungsmuster: eine jüdische, eine (meist) reformatorische und die barocke, die sich gegenseitig durchdringen und mit der Musik Bachs, dem vierten performativen Kommunikationssystem, ein äußerst reizvolles Zusammenspiel ergeben. Dies soll im Blick auf das Thema des „Stimmungsumschwungs“ in den Klage- und Bußpsalmen26 hier nochmals verdeutlicht werden: Wir konnten nachweisen, dass Bach die theologisch und sprachlichen Nahtstellen des theologischen Umbruchs durch musikalische Mittel (z. B. Tempo-, Takt- Affektwechsel, besondere Figuren) deutlich unterstreicht.

21 Das „Singuläre“ am Kopfsatz dieser Kantate beschreibt Dürr, 255: „Eher gleicht der Satz dem Typ der Choralmotette, in der jede Liedzeile in imitierendem Satz vorbereitet und dann von einer Stimme in langen Notenwerten vorgetragen wird.“ 22 Vgl. die Synopse bei Petzoldt II, 516 f. BWV 14 und BWV 178 sind gleichsam das „negative“ Pendant zu den Ratswechselkantaten, insofern sie Gottes Weltregiment in der Auseinandersetzung mit den Feinden thematisieren. 23 Vgl. Arnold, Kirchenlied, 187–189. Luther deutet zwar mit „Israel rechter Art“ (Str. 4) eine ekklesiologische applicatio des Psalms an, verzichtet aber (im Ggs. etwa zu „Ein feste Burg“) ganz auf eine explizite Christologie. 24 Die Arie bleibt sprachlich, musikalisch und theologisch in einer kompakten Form, die das göttliche Wort nicht dialogisch, z. B. durch eine Bassstimme, zurufen lässt. Sie gibt eine Art „innerer Vergewisserung“ wieder. 25 Vgl. dazu exemplarisch Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (BWV 178), das in Satz 2 deutliche Anklänge an Gen 3, aber auch auf andere Psalmen (z. B. Ps 136) enthält (vgl. Petzoldt I, 179–181). 26 Vgl. dazu den grundsätzlichen Aufsatz von Joachim Begrich.

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Dies gilt z. B. für die Choralkantate Ach Herr, mich armen Sünder BWV 135, deren Ausgangspunkt eine eng an den ersten Bußpsalm (Ps 6) anschließende Nachdichtung von ­Cyriakus Schneegaß (1597)27 ist. Der entscheidende Wechsel passiert zwischen Satz 4 und 5. Während der „Beter“ in Satz 4 noch seufzt und seine „Angst“28 (Tenor-Rezitativ) be­ teuert, wendet sich mit dem Einsatz der folgenden, üppig besetzten Bass-Arie das Blatt. Auslösendes Moment ist eine Choralzeile. Der kraftvolle Imperativ „Weicht all, ihr Übeltäter!“ löst die geistliche Wende aus, die der Dichter Bachs durch seinen Zusatz „mein Jesus tröstet mich!“ bereits markiert hatte. Bach unterstreicht also durch den Wechsel von Besetzung (Tenor, schlichte Continuo-Begleitung bzw. Bass, Tutti) und Form (Secco bzw. Arie) die vom Dichter durch die Strophenabtrennung schon angedeutete innere Be­ wegung. Eine Schwesterkomposition dazu ist BWV 2 (vgl. Psalm 12).29 Sie erwies sich theo­ logisch insofern als bedeutsam, als hier die Wende von der Klage zu neuem Vertrauen durch eine schon im Psalm erkennbare direkte Gottesrede in der Mitte ausgelöst wird. Bach macht die Begegnung mit dem tröstenden Wort Gottes dadurch transparent, dass er das zentrale Accompagnato (Bass) durch ein Arioso unterbricht und damit die Stimme des Solobasses zur vox Dei wird. Diese musikalische Pointe bringt den Umschwung hin zu neuer Hoffnung oder Gewissheit.30

7.1.3 Psalmen als „affektive Wegmarken“ Als Schlüsseltext zu vielen Kantaten erwies sich die zweite Vorrede Luthers zu den Psalmen (1528) mit ihrer Unterscheidung von vier Grundaffekten: Trauer und Freude, Furcht und Hoffnung.31 Wir sahen, dass es nicht angemessen ist, diese vier Gefühlsräume stereotyp oder schematisch zu begreifen, d. h. in einer Kantate nur die Trauer oder nur die Freude zu suchen. Vielmehr liegt gerade in der Dia­ lektik unterschiedlicher Gefühlsräume, der eigentliche Reiz.32 Die Psalmen als Affektbuch des Heiligen Geistes33 bieten mit ihren Sprach- und Lebensformen des Glaubens also die spirituelle und theologische Basis, in die sich dann Kantaten

27 Dieses Lied ist nicht identisch mit „Straf mich nicht in deinem Zorn“ (ehemals EKG 176). 28 Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass das anthropologische Korrelat Angst/ Furcht im Blick auf Gerichtsverkündigung und Sündenbekenntnis zutreffend ist (vgl. oben Kap. 3). 29 Vgl. oben 2.4.1. Beide Kantaten folgen einander innerhalb Bachs Choralkantatenjahrgang und haben das seltene Phänomen, dass der cantus firmus nicht im Sopran, sondern im Bass (BWV 135) bzw. Alt (BWV 2) liegt. 30 In ähnlicher Weise konnten wir dies für die Kantaten Mein liebster Jesus ist verloren (BWV 154), Jesus schläft, was soll ich hoffen (BWV 81), und Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) feststellen, wo jeweils ein Wort Jesu an die angefochtene Jüngerschar (81,4) bzw. die zweifelnde Seele (21,7 f) die entscheidende Wende bringt, ohne dass damit ausdrücklich ein Psalmvers zitiert wäre. 31 Vgl. WA DB 10/1, 100–102 bzw. oben 1.7.1 und unten 7.4.1. 32 Vgl. 1.7.1 bzw. Arnold, Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz. 33 Vgl. Luthers Ausführungen in seiner 2.  Psalmenvorlesung von 1519, den sog. Operationes in Psalmos, WA 5,23: „Der Heilige Geist bereitet uns mit diesem Buch sowohl die Worte als auch die Affekte vor, mit denen wir den himmlischen Vater anreden und bitten sollen im Blick auf das, was er in den übrigen Büchern [sc. der Schrift] zu tun und nachzuahmen gelehrt hat, damit keiner etwas vermissen kann, was ihm zu seinem Heil nötig ist.“. Vgl. Bayer, 28, mit Hinweis auf Atha­ nasius, 11–46.

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dichtung und -komposition meditativ-tröstend oder dynamisch-begeisternd einfügen können.34 Insofern können wir die Stellen, an denen Psalmen in Bachs Kantaten vorkommen, fast immer als „performative Wegmarken“ wahrnehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass am Ende nichts mehr so ist, wie es am Anfang war. Selbst das bitterste Leid (vgl. BWV 38,1–3; 135,1–4 21,3–5; 2,1–3) wird transformiert, „gewendet“ oder gar aufgehoben (vgl. BWV 21,9 f; 135,5 f; 38,5 f; 2,4 f). Die Psalmen oder die aus ihnen entwickelten Dichtungen bringen oft die Wirkmacht des Wortes Gottes zum Leuchten, erhellen aber auch innere spirituelle Prozesse. Sie sorgen gleichsam dafür, dass Wahrheit nicht dogmatisch festgeschrieben wird, sondern im „existenziellen Fluss“ bleibt. Sie nehmen uns mit hinein in eine lebendige Bewegung des Glaubens von der Klage zum Lob, von der Verzweiflung zu neuer Gewissheit. Vielfach sind sie Schlüssel zu einer neuen, dankbaren Wahrnehmung der Welt als Welt Gottes (vgl. BWV 69; 17; 76). Die Musik J. S. Bachs ist dazu die kompetenteste Partnerin, die man sich vorstellen kann: Sie bietet eine Kultur des Hörens und Staunens, des Klagens und Lobens.

7.2 Dogmatische Entdeckungen: theologischer Reichtum in weisheitlicher Weite Dogmatisch erweist sich die Beschäftigung mit Bachs Kantaten in vieler Hinsicht als ertragreich. Die in dieser Arbeit versuchte systematisch-theologische Sichtung der Kantaten und die Skizze eines theologisch gegliederten Gesamtentwurfs soll ein erster Versuch sein, dem Kosmos, dessen gerecht zu werden, was wir hier an­ treffen. Die eingangs geäußerte Vermutung, dass man Bachs Werk (und dem seiner Dichter) nicht gerecht würde, wenn man schematisch nach einer einfachen ­Loci-Methode vorginge und gleichsam jeden dogmatischen Topos vom 1.–3. Artikel bis hin zur Ethik abschritte, hat sich in vielfacher Hinsicht bestätigt.35 Die Dichte und Vielschichtigkeit an Glaubenserfahrung und Weltwahrnehmung in der Verschränkung mit biblischen Texten, evangelischer Glaubenslehre und lutherischem Gottesdienst erfordert andere Herangehensweisen: Dazu war die für die Gotteslehre wichtige Unterscheidung von „vier Widerfahrnissen Gottes“ äußerst hilfreich.36 Sie bietet ein dreifaches Bezugspaar als Grundkoordinaten theolo­ gischer Reflexion: a) die Unterscheidung von verborgenem und offenbarem Gott, b)  die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und innerhalb des Gesetzes c) die Unterscheidung von bewahrendem und richtendem Handeln Gottes („Gesetz I“ und „Gesetz II“).

34 Dies gilt natürlich auch für Kantatendichtungen, die kein Psalmzitat an der Spitze oder in der Mitte haben, denn auch in ihnen erweist sich die Sprache der Psalmen und ihre Affekte oft als latent gegenwärtig und wirksam. 35 Vgl. oben 1.0.1 f. 36 Vgl. Bayer, 408–418 bzw. Bayer, Vielheit, und prinzipiell: Roth.

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Dogmatische Entdeckungen

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Wichtig ist dabei, dass diese vier Widerfahrnisse Gottes nicht gleichwertig neben­einander stehen und daher auch keine dualistische oder manichäistische Gottes­lehre fördern sollen. Vielmehr sind sie auf die innere Mitte christlicher Theologie, auf die Offenbarung Gottes im Evangelium von Jesus Christus zu beziehen. Dadurch kann die dunkle Erfahrung der Verborgenheit Gottes bearbeitet, entkräftet oder gar aufgehoben werden (Kapitel 2). Der richtende Schuldspruch des Gesetzes, der ohne das lösende Wort schwer auf den Menschen lastet (vgl. Kapitel 3), verliert so – und nur so! – seine letzte Schärfe (vgl. Kapitel 4). Auch im Blick auf Gottes Weltregiment und die menschliche Erfahrung von Glück und Wohl (Kapitel 5) lässt sich von dieser Unterscheidung aus eine für Theologie, Verkündigung und Seelsorge hilfreiche Differenz geltend machen: Rechtfertigung und Heiligung, Geistliches und Weltliches, „Letztes und Vorletztes“37 können voneinander abgegrenzt werden: Durch das Evangelium rettet Gott Menschen ohne ihr Zutun, seine Providenz dagegen ist immer mit menschlicher Verantwortung, mit unserer cooperatio verbunden. Im einen Fall geht es um Heil, im anderen Falle um Wohl, was die in Kapitel 5 diskutierten Kantaten im Gegenüber zu Kapitel 6 deutlich zeigen. Die Stärke einer solchen theologischen Konzeption, die hier mithilfe von Bachs Vokalwerk durchgeführt wurde, erweist sich aber nur unter der Prämisse als tragfähig, dass die Dichtungen theologisch wirklich ernst genommen werden. Dann können sie sich mit ihrem geistlichen Erfahrungsschatz, der Schrift und Welt, fides und experientia in dialogischer Form vor Gott bringt, ihr tröstliches und bildendes Potential entfalten. Dies geschieht, indem die Kantaten in oft radikaler Weise dunkle Erfahrungen des Menschen benennen, für Gefühle der Trauer und der Angst Sprachräume der Klage und der Buße eröffnen, aber auch für Glückserlebnisse und Heilserfahrungen die hellen Affekte (Hoffnung und Freude) stärken, mithin Sprachformen des Vertrauens, der Dankbarkeit und des Lobpreises anbieten. Auf dem Weg von der Trauer zur Freude bzw. von der Angst zu neuer Hoffnung ist insbesondere die theologische Sprachform des Versprechens und der Zusage poetisch und musikalisch profiliert erkennbar (vgl. BWV 153, 3–5; 155, 3 f; 21,8; 2,4; 60,4; 138,1.3; 103,4 u. a.). Bach setzt gerade an diesen Stellen oft besondere musikalische Akzente: z. B. Wechsel in der musikalischen Form, im Metrum, durch den Einsatz besonderer rhetorischer Figuren usw.

7.2.1 Der sich verbergende und wieder zuwendende Gott Innerhalb der in Kapitel 2 untersuchten Kantaten konnten wir unterschiedliche „Konzepte“ eines poetisch-theologischen Umgangs mit der Erfahrung des „verborgenen Gottes“ erkennen. In vielen Kompositionen werden wir unmittelbar in die Situation von Trauer und Verzweiflung hinein genommen und gleichsam durch die poetisch-musikalische Klage affiziert. Paradigmatisch ist der Ausruf

37 Vgl. Bonhoeffer, 137–162.

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„Ach Gott“ oder „Ach Herr“, der in etlichen Kompositionen (vgl. BWV 2,1; 3,1; 135,1; vgl. 155,1;) vorkommt oder sogar den Anfang bildet.38 Der Verlust Gottes oder der Verlust Jesu bzw. seine vermeintliche Ohnmacht, die in manchen bi­ blischen Erzählungen (vgl. Joh 2,1–11 bzw. Lk 2,41–52) fast „harmlos“ anmuten, bekommen in Bachs Kompositionen eine deutlich größere Tiefe und theologische Schärfe. Die metaphorische Plastizität der Dichtung mit den Bildern vom abgewandten Angesicht (vgl. BWV 155,1; vgl. 21,4), vom Schlaf (vgl. BWV 81,1), aber auch von der leidenschaftlichen Suche nach dem abwesenden Jesus (vgl. BWV 154,1 f), ja generell die Rede von der Verborgenheit Gottes bzw. Christi (vgl. 81,2; 104,3; 103,3.6, 188,3; vgl. 138,1–3) verleihen unseren Ohnmachtserfahrungen angesichts globaler Katastrophen oder persönlicher Not eine deutliche theologische Kontur. Viele dieser Kantaten beschreiten einen dramaturgisch aufregenden Weg von verzweifelter Traurigkeit bis hin zu neuerlicher Zuversicht oder gar Gewissheit. Die theologisch klarste, ja vielleicht auch „überzeugendste“ Lösung des Konflikts ist der Einsatz eines Verheißungswortes, das oft in der Mitte (vgl. 2,4; 81,4; 154,5; 21,7 f), die entscheidende Wende bringt. Während in BWV 154 und 81 das rein akustische Vernehmen der vox Christi schon neue Zuversicht auslöst, wird in BWV 2 in Aufnahme von Ps 12,6 bzw. Luthers Psalmlied eine ausdrückliche promissio von großer Wirkung ausgesprochen. Dasselbe gilt für die Dialogkantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 60), wo in Satz 4 eine Stimme vom Himmel die Furcht besänftigt und zu einer Integration der widerstreitenden Affekte angesichts des Todes führt. In fast allen Fällen kommt dabei der Bassstimme eine Schlüsselrolle zu (vgl. BWV 32,2). Was die musikalische Form angeht, wählt Bach dazu in aller Regel ein Arioso oder ein Accompagnato, seltener eine Arie oder einen Chor. Es ist aber auch denkbar, dass ein längerer Prozess im zunächst an­ gefochtenen und dann allmählich wieder glaubenden Menschen eine neue Situation herbeiführt (vgl. BWV 13; 12; 146). Mariane von Zieglers Kantate Ihr werdet weinen und heulen (BWV 103) zum Sonntag Jubilate eignet eine eigentümliche Dialektik. Sie nimmt die Hörer ebenfalls mit auf einen längeren Weg von der Klage zu neuem Vertrauen, hält aber die Spannung der Affekte von Trauer und Freude lange aufrecht. Erst mit der fröh­lichen Tenorarie (Satz 5) und ihrer Zusage „Erholet euch, betrübte Sinnen“ sowie dem Schlusschoral aus P. Gerhardts Barmherzger Vater, höchster Gott, der in der Form einer direkten Gottesrede formuliert ist, wird das zuvor entfaltete Ge­schehen theologisch „eindeutig“. Dazu dient das biblische Motiv aus Jes 54,7: Ich hab dich einen Augenblick, o liebes Kind, verlassen; sieh aber, sieh, mit großem Glück und Trost ohn alle Maßen will ich dir schon die Freudenkron aufsetzen und verehren; dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren.

38 Vgl. aber auch zentrale andere Sätze wie BWV 124,4; 13,3; 81,2; 21,4.7; 138,3, 153,2 u. ö.

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Die berühmte Kantate Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) zum 3. Sonntag n. Trin. lässt uns im Rückblick einen Prozess nacherleben, dessen Höhepunkt die intime Begegnung mit Christus, dem liebenden Bräutigam, ist. Dabei ereignet sich schon im Eingangschor (Satz  2)  – gleichsam als Prolepse des ganzen Geschehens  – eine musikalische Konfrontation der göttlichen Tröstungen (vgl. Satz 6–9) mit den menschlichen Bekümmernissen (vgl. Satz 3–5). Beide Aspekte prallen musikalisch in der Mitte des Satzes bei dem Wörtchen „Aber“ zusammen. Es kommt zu einer Gotteswende, die Albrecht Goes in einer Predigt folgendermaßen beschreibt: „Dann plötzlich bricht das Gewoge ab, einen halben Takt lang schweigen die Stimmen und es schweigen die Instrumente, und dann kommt – in voller Wucht und in voller Ruhe – ein einziges Wort: ‚Aber‘. […] Und dann ändert sich das Tempo: ein Vivace setzt ein, und es folgen wie zu Tal fahrende Wasser, wieder und wieder wiederholend die Worte ‚Deine Tröstungen erquickten [sic] meine Seele.‘ Mannigfach sind die Bekümmernisse, mannigfach die Tröstungen; dazwischen steht das ‚Aber‘. […] so ist hier das ‚Aber Gottes‘ als die Entscheidung des göttlichen Erbarmens ausgesprochen, einmal ausgesprochen – aber unwiderruflich und gültig für immer. Wir deuten dieses ‚Aber Gottes‘ auf dreierlei Weise. Wir verstehen es als das Aber vor uns, als das Aber über uns und als das Aber für uns.“39

Das tröstliche Potential, das in einer solchen Komposition liegt, die menschliche Trauer aufnimmt, aber auch die neue göttliche Zuwendung nicht verschweigt, ist von großer Kraft.

7.2.2 Der richtende und tröstende Gott Ähnliche Qualität besitzen etliche der im Spannungsfeld von Gesetz und Evangelium liegenden Kantaten: Innerhalb der in Kap. 3 und 4 analysierten Beispiele, die das Gericht Gottes über die menschliche Sünde thematisieren, fällt auf, dass sie sprachlich und theologisch meist „abständiger“ wirken als die Klagekantaten. Ihr theologisches Gewicht besteht gleichwohl in der Aufnahme einer breiten biblischen Tradition (vgl. Gen 6–8; Ex 7–11; Num 11 f; Jos 7; 2 Sam 12; Ps 51; Am 2–5; Jer 6; Mt 25; Mk 13; Joh 5,24–30; Act 5,1–11; Röm 1–3; 2 Kor 5,10 u.v. a.) und in der Tatsache, dass hamartiologische Aussagen in Bachs Kantaten oft vorkommen: Beinahe in jeder dritten Kantate erscheint das Wort Sünde, Sünder oder ein ähnlicher Ausdruck und wird in der Regel auch sachlich entfaltet (vgl. BWV 170; 136; 46; 176; 90). Zuletzt würde eine Vermeidung uns die Chance nehmen, die vielfach marginalisierte oder trivialisierte Rede vom Gericht Gottes bzw. von der menschlichen Sünde neu zu bearbeiten, die ja auch in der aktuellen soziologischen und theologischen Debatte wieder neue Aufmerksamkeit findet.40 Wie kommt es, dass die Rede von Sünde und Gericht so stark in Bachs Kan­ taten vertreten ist, obwohl z. B. in den altkirchlichen Bekenntnissen41 zwar die

39 Goes, 62 f. Predigt zum Bachfest Ansbach 1969. 40 Vgl. dazu das Themenheft zeitzeichen 6/2007. Das Anliegen der Autoren besteht u. a. darin, die theologische Rede von der Sünde von dem Dilemma zu befreien, als würde sie alles „Lebenswerte“ verbieten und ihre Kompetenz in der Welt- und Lebensdeutung neu zu erschließen. 41 Vgl. BSLK 26 f. Dezidiert im augustinischen Sinn äußert sich dazu CA II, BSLK 53.

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Zusammenfassung und Ausblick

Wiederkunft zum Gericht, nicht aber die Sünde explizit thematisiert wird? Gewiss hat dies damit zu tun, dass viele Kantaten auf altkirchliche Evangelienperikopen bezogen sind, die mit großem Ernst von Umkehr und Buße bzw. Heiligung und echter Nachfolge sprechen.42 So ist es kein Wunder, dass die Rede vom Gericht Gottes, die insbesondere in den Propheten der Alten Testamentes ein zentrales Motiv ist, in den Kantatentexten in verkündigender und antwortend-bekennender Form stark zur Geltung kommt. Damit ist zugleich eine Grundeinsicht der jüdisch-christlichen Tradition bewahrt, deren Tenor lautet: Schuld trennt von Gott und schafft Unfrieden in der Welt. Sie muss gesühnt werden, wenn dauerhaft Leben erhalten werden soll. Versöhnung kann aber nur durch Gott gewirkt werden, Menschen sind dazu aus sich selbst nicht imstande. Deshalb stiftet Gott im alten Bund durch den Ritus des großen Versöhnungstages, im neuen Bund durch Kreuz und Auferstehung Christi (Lev 16; vgl. Röm 3,25; Jes 53,4 f, vgl. 2 Kor 5,17–20) Versöhnung.43 Besonders BWV 101 und 102 erwiesen sich als Beispiele, an die eine zeit­genössische Theologie in diesem Zusammenhang wieder modifiziert anknüpfen könnte. Sie reden unverblümt vom Ineinander menschlicher Schuld und gött­licher Strafe in der Weltgeschichte, aber auch von einer Möglichkeit der Buße, wie ­Mollers Choral zeigt: Nimm von uns, Herr, du treuer Gott, die schwere Straf und große Not, die wir mit Sünden ohne Zahl verdienet haben allzumal. Behüt für Krieg und teuerer Zeit für Seuchen, Feuer und großem Leid.

Damit ist deutlich ausgesagt, dass angesichts menschlicher Schuld auch den Frömmsten kein Entrinnen vor Bösem möglich ist, ja jeder Mensch schuldig wird (vgl. Rö 3,23). Wer dies einsieht und sich die Horrorszenarien der Shoa und vieler Kriege vorhält, der wird möglicherweise innerlich mitbeten oder mitsingen können, wenn es in Satz 5 derselben Kantate heißt: Die Sünd hat uns verderbet sehr, so müssen auch die Frömmsten sagen und mit betränten Augen klagen: der Teufel plagt uns noch vielmehr, Ja, dieser böse Geist, der schon von Anbeginn ein Mörder heißt, sucht uns um unser Heil zu bringen und als ein Löwe zu verschlingen. Die Welt, auch unser Fleisch und Blut uns allezeit verführen tut. Wir treffen hier auf dieser schmalen Bahn

42 Vgl. dazu einige ausgewählte Sonntage n. Trin. mit folgenden Texten: Lk 16,19–31 (1.); Lk 14, 16–24 (2.); Mt 5,20–26; (6.); Mt 7,15–23 (8.); Lk 16,1–9 (9.); Lk 19,41–48 (10.); Lk 18,9–14 (11.); Mt 22,1–14 (20.); Mt 18,23–35 (22.); Mt 24,15–28 (25.); Mt 25,31–46 (26.). 43 Vgl. dazu grundsätzlich: Gese, Sühne bzw. Hofius, Sühne und Versöhnung.

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sehr viele Hindernis im Guten an. Solch Elend kennst, du Herr allein, ach lass uns dir befohlen sein.

Sünde, Teufel, Welt, eine unheilige Dreieinigkeit steht im Widerstreit mit Gott und Mensch, der selbst immer wieder vom Bösen überwältigt wird, obwohl er – dies klingt hier subtil an – doch eigentlich das Gute will (vgl. Röm 7). Sicher fordert ein solcher Text einiges an theologischer Übersetzungsarbeit. Es wird u. a. darum gehen, traditionelle Begriffe wie Erbsünde oder Sündenfall, sicher auch die Rede vom Teufel als personalisiertem Bösen zu übersetzen und neu für die Gegenwart zu erschließen, indem etwa die Unentrinnbarkeit individueller Sünde und die allgemeine Verstrickung in globale Schuld zum Thema (der Predigt) gemacht werden.44 Daraus könnte ein befreiender Realismus in der Wahrnehmung der conditio humana folgen, der für das befreiende Evangelium einerseits und für eine positive Lebensbewältigung andererseits wegbereitend ist. Die Verkündigung des Gesetzes nach seinem theologischen Brauch bewahrt vor hybrider Selbstüberschätzung ebenso wie vor einer fatalistischen Selbstunterschätzung, die sich aus der Verantwortung (vgl. aktuelle Klima- und Finanzdebatte) stehlen will.45 In ihrer entlarvenden und entwaffnenden Nüchternheit ist die Predigt des Gesetzes eine Mahnung zur Buße (als Sinneserneuerung) und damit auch Weg­ bereiterin des Evangeliums. Dies konnten wir in den exemplarisch analysierten Kantaten BWV 168 und 60 deutlich wahrnehmen. Sie nehmen z. T. das „Donnerwort“-Motiv (vgl. BWV 168,1; 60,1) auf und benennen in eschatologischer Zuspitzung menschliche Gerichtsangst (BWV 168, vgl. 55) und Todesfurcht (BWV 60). Besonders wertvoll sind sie freilich in ihren befreienden und tröstlichen Tönen. In ihrer dialogischen Kraft erweisen sie sich als poetisch-musikalische Formen, die Gottes richtendes und rettendes Handeln, mithin sein aufdeckendes und lösendes Wort, für Theologie und Spiritualität, Seelsorge und Predigt wieder neu in Gespräch bringen können. Besonders eindrücklich geschieht dies in BWV 168,4, wo die menschliche Gerichtsangst angesichts eigener Sünden und „Schulden“ durch einen göttlichen Freispruch (Bass) entkräftet und entmachtet wird: Jedoch, erschrocknes Herz, leb und verzage nicht! Tritt freudig vor Gericht! Und überführt dich dein Gewissen, du werdest hier verstummen müssen, so schau den Bürgen an, der alle Schulden abgetan! Es ist bezahlt und völlig abgeführt,

44 Vgl. Fricke, 19: „Es wäre ein großer Verlust, wenn in gottesdienstlichen, gemeinde- und religionspädagogischen Kontexten der Begriff [sc. der Sünde] wegen seiner enthaltenen Zumutungen verschwiegen würde.“ 45 In jedem Fall sind die einschlägigen Gerichtskantaten liturgisch (oder im Konzert) mit großer Sensibilität aufzunehmen und nach Möglichkeit theologisch (und musikalisch) zu interpretieren, da etliche davon (vgl. alle in Kap. 3 untersuchten Kantaten BWV 20, 101 und 102) ohne ein aus­ drückliches Trostwort enden. Vgl. 3.1–3.3.

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was du, o Mensch, in Rechnung schuldig blieben; des Lammes Blut, o großes Lieben! Noch unmittelbarer an unsere Erfahrung knüpft BWV 60 an, in der die beiden Affekt-Personen Furcht und Hoffnung aufeinander treffen. Immer wieder hat es den Anschein, als könne die Tenorstimme der Hoffnung, die von Anfang an mit einem zuversichtlichen Bekenntnis gegen den bedrohlichen cantus firmus der Furcht (O Ewigkeit, du Donnerwort) ansingt, Stand halten, ja die innere Furcht angesichts des Todes überwinden. Doch gelingt dies erst, wenn in Satz 4 eine göttliche Stimme vom Himmel („Selig sind die Toten“) ins Spiel kommt und die gegensätzlichen Affekte miteinander versöhnt. Auch hier kommt der Bassstimme wieder die Schlüsselrolle der Zusage (vox Dei) zu.

Insgesamt scheint es uns aus biblisch-theologischen, dogmatischen und seelsorglichen Gründen angemessen, den in vielen Kantaten manifesten Topos von Gesetz und Evangelium theologisch festzuhalten, insofern hier Gottes heiliges Gericht zum Thema gemacht, menschliche Angst bearbeitet und vom Evangelium her eine tröstliche Perspektive eröffnet wird.

7.2.3 Der fürsorgende und bewahrende Gott Außerdem ist eine bisher noch wenig bedachte theologische Weite und „Welt­ offenheit“ in Bachs Kantatenwerk zu würdigen, die wir in jenen Kantaten ent­ decken konnten, die wir dem usus civilis legis bzw. der providentia Dei (Kapitel 5) zugeordnet haben. An erster Stelle steht in diesen Werken Gottes Fürsorge und Bewahrung bzw. das menschliche Bekenntnis zu Gottes Güte. Innerhalb der Gebrochenheit der conditio humana, d. h. unter menschlicher Sünde und Un­ vollkommenheit, die Güte Gottes wahrzunehmen und ihm zu danken, ist das Anliegen der Kantate Ich habe meine Zuversicht (BWV 188). Sie redet eher verhalten von Gottes Welthandeln, indem sie (Satz 3) anklingen lässt, dass Gott seine Liebe verbirgt, ermutigt aber zugleich dazu – auch wider allen Anschein – auf Gottes Leitung zu vertrauen (Satz 4). Die Kantaten zu Misericordias Domini zeigen einmal mehr, dass der Psalter (Ps 80 in BWV 104 und Ps 23 in BWV 112) der poetische und theologische, spirituelle und hermeneutische Ausgangspunkt vieler Kantatendichtungen ist. BWV 104 lässt die Möglichkeit der Verborgenheit Gottes und den dazu gehörigen menschlichen Aufschrei (Satz 3) anklingen, schließt dann aber mit einer beinahe kindlichen confessio zur gnädigen Leitung des guten Hirten. Einen ausgeprägt schöpfungstheologischen Akzent bietet die biblisch-theologisch reichhaltige Kantate Es wartet alles auf dich (BWV 187). Dabei stehen Dankbarkeit und kindliches Vertrauen auf das Wort der Zusage Gottes (BWV 187,4), das einmal mehr vom Solobass präsentiert wird, im Mittelpunkt. Aus der Wahrnehmung der Fürsorge Gottes für die Schöpfung folgt eine eigene Vergewisserung, die unsere Sorgen mit folgenden Worten vertreibt (Satz 5): Weicht, ihr Sorgen! Seine Treue ist auch meiner eingedenk

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und wird ob mir täglich neue durch manch Vaterliebs-Geschenk.

In diesem Zusammenhang war die Beschäftigung mit den Ratswechselkantaten besonders reizvoll, wird in ihnen doch in zunächst nur schwer nachvollzieh­barer Unbefangenheit dankbar und stolz das blühende „Leipziger Jerusalem“ (193,4) besungen und für die Stadt und ihre Regierung (vgl. BWV 119; 120a bzw. 190) um Bewahrung und Segen gefleht. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen: Nicht Menschen, sondern Gott gilt die Ehre: „Wir danken dir, Gott, wir danken dir“ steht z. B. pointiert an der Spitze von BWV 29.  Stellt man in allen Ratswahlkantaten diese Aussagen zusammen, bestätigt sich das Bild: Gottes Regiment wird hervorgehoben und gerade nicht dem politischen Geschick der Mächtigen gehuldigt.46 Auf dieser Linie liegt auch, dass in BWV 119,2, einer Art Kurzpredigt des Tenors (Rezi­ tativ), das Motto der Stadt Leipzig aus Ps 85,10 f, wonach sich „Gerechtigkeit und Frieden in seinen Mauern küssen“,47 syntaktisch dezidiert umformuliert wird. Gott selbst ist es, der Gerechtigkeit und Frieden küsst, nicht die menschliche Anstrengung oder der „Charme“ der Mächtigen. Faszinierend war in diesem Zusammenhang die Kantate Nur jedem das Seine (BWV 163) zum 23.  Sonntag n. Trin., in der Salomon Franck, das weltliche Regiment bejaht, ohne damit in unkritischer Weise die Obrigkeit zu glorifizieren (vgl. die clausula Petri nach Act 5,29). Die kritische (d. h. unterscheidende) Beschäftigung mit der Obrigkeit, ausgelöst durch die Sadduzäerfrage und die Antwort Jesu mit der Steuermünze (vgl. Mt 22,15–22), wird zum Ausgangspunkt für eine schöpfungstheologische Entfaltung des Themas, in deren Mittelpunkt das Motiv der Ebenbildlichkeit Gottes steht. Damit bietet die Kantate gleichsam eine theologische Ethik bzw. Anthropologie in nuce, deren spirituelle Mitte das Vertrauensbekenntnis der Bassarie „Lass mein Herz die Münze sein“ (Satz 3) ist.

Von diesen Beobachtungen ausgehend, ist zu würdigen, dass in der Präambel unseres Grundgesetzes der Hinweis auf den Schöpfer erhalten und auch bei staat­lichen Amtseinführungen bis heute der Gottesname präsent ist. Immerhin klingt auch im Grundgesetz48 etwas von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27) an. Die Kantaten zur Trauung stellen in ähnlicher Weise49 konsequent die Ehe als Geschenk Gottes heraus und ermutigen dazu, das „Glück“ des Ehestandes mit „Freude und Lust“ zu genießen (vgl. BWV 197,7 f). Es wird betont, dass nur Gottes Beistand das Gelingen der Ehe ermöglichen kann. Dass das Bekenntnis der Eheleute keine Privatsache ist, sondern in der Mitte der Gemeinde steht, bekundet BWV 197,1: „Gott ist unsre Zuversicht, / wir vertrauen seinen Händen. / Wie er unsre Wege führt, / wie er unser Herz regiert, da ist Segen aller Enden.“ Wir

46 Vgl. „Gott, wir danken deiner Güte“ (BWV 193,3), „Lobet Gott im Heiligtum“ (BWV 120,2), „Preise Jerusalem, den Herrn“ (BWV 119,1). Glockzin-Bever, 90: „Wenn das Machtzentrum mit Gott besetzt wird, werden alle anderen Machtpositionen relativiert. In der Beziehung zu Größerem werden menschliche Machtansprüche in Frage gestellt und zugleich begrenzt.“ (Predigt zu BWV 29) 47 Vgl. dazu den Stich von Rumpf (1713), abgedruckt bei Kopmann/ Wolff III, 12. 48 Vgl. Art. 1 des GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ 49 An dieser Stelle ist zu bedenken, dass die Trauungskantaten so etwas wie Festmusiken für den Familienstand (Oeconomia) sind und daher den Festmusiken für den Rat (Politia) entsprechen.

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konnten zeigen, dass der Begriff des Segens die entscheidende theologische Basis für alle Kompositionen zur Trauung bildet. Insgesamt kommt das Wortfeld „Segen“ in den fünf Kantaten zur Trauung dreißigmal vor.50 Gestalt und Gehalt des Segens bilden daher auch dramaturgisch den roten Faden für alle Kompositionen zur Trauung. Vielfach können wir sie geradezu als Liturgien des Segens (im Gefälle von Segensbitte, Segenszuspruch und Lob) begreifen, nach denen heute in vielen seelsorglichen und liturgischen Zusammenhängen gefragt wird. Die Gabe des Segens wird meist dezidiert leiblich verstanden. Sie besteht für die Dichter u. a. im „irdischen Vergnügen“ des Ehestandes und in zahlreichen Kindern und Enkeln (vgl. BWV 34,3), im „Vertreiben aller Not“ und „Bleiben in Gott“ bzw. in der „Furcht Gottes“ (vgl. BWV 120a, 5–7). In 197,7 findet sich die Wendung: „Er wird dir nie / bei deiner Hände Schweiß und Müh / kein Gutes lassen fehlen“. Damit ist auch Gottes Segen für Arbeit und Beruf im Blick. Eine christologische oder trinitätstheologische Explikation finden wir so gut wie nicht. Für Bachs Kantaten zum Ratswechsel gilt dies in ähnlicher Weise. Auch hier ist der Segen ein Leitbegriff, der im Sinne von wirtschaftlicher Blüte, Frieden und Bewahrung der Rechtsordnung51 bzw. Abwendung von Feuer, Pest und Krieg verstanden worden ist. In BWV 29,4 finden wir die Trias „sein Schutz, sein Trost und Licht“, die man vielleicht als eine kleine trinitätstheologische Anspielung verstehen darf und dort auf die Bewahrung der „Stadt“ und der „Paläste“ gemünzt ist.

Die Beschäftigung mit diesen Kantaten könnte dazu anregen, die freiheitliche Staatsform der Demokratie neu wertzuschätzen und in einen ästhetisch konstruktiven Diskurs hineinzuführen, der das zentrale biblische Theologumenon des göttlichen Weltregiments und seines Geschichtswaltens wieder aufnimmt und neu bedenkt, wie sowohl im persönlichen als auch im öffentlichen Bereich die Handschrift des Schöpfers und Weltregenten zu entdecken ist.52 Die festlichen Kantaten zu Ratswechsel und Trauung könnten darüber hinaus den Impuls geben, die alte Dreistände-Lehre im Sinne einer dezidiert theo-logischen Verantwortungsethik53 noch einmal zu überdenken.54 Eine Beschäftigung mit Bonhoeffers

50 Wir setzen dabei im Blick auf die späte Kantate BWV 195 die Rekonstruktion von Dürr, 828–830 voraus. 51 Vgl. BWV 193,4: „Es stehn annoch die Stühle zum Gericht, / und die Gerechtigkeit bewohnet die Paläste.“ Dazu gehört auch der Segen für diejenigen, denen der „Schutz der Armen“ am Herzen liegt (vgl. Satz 5). 52 Vgl. dazu Goes, 57 mit einer anekdotischen Reminiszenz an Barths letztes Telefonat mit Thurneysen: „Am letzten Abend seines Lebens, so wird erzählt, habe Karl Barth nach seiner Übung ein eben begonnenes Manuskript zur Seite schiebend, mit seinem Freund Eduard Thurneysen das kleine Nachgespräch am Telefon geführt, und es war auf die Weltsorgen, Weltmächte, Weltgefahren die Rede gekommen, auf Vietnam gewiß, auf China vielleicht; hier war dies und dies hin und her zu bewegen und zu wägen … aber zuletzt holte der Sprecher noch einmal tief Atem und sagte: ‚Aber das sag ich Dir. Nicht die Ohren hängen lassen! Es wird regiert.“ 53 Vgl. dazu Hohnecker, 327–337 bzw. Huber, Sozialethik. 54 Vgl. dazu Arnold, 243–254, in Auseinandersetzung mit Luthers Auslegung von Ps 117, WA 31 I, 223–257, der einerseits vom „feinen Gottesdienst“ der Stände spricht, andererseits aber auch die Gefahr ihrer Vergötzung aufzeigt. Die Sünde der Ekklesia besteht in der Perversion des Gotteslobs in Eigenlob (1. Tafel des Dekalogs), die Sünde der Politia darin, dass sie zuweilen menschenverachtend Gewalt ausübt (2. Tafel). Wichtig ist für Luther, dass die Stände „heilig“ sind, aber nicht zur „Seligkeit“ gereichen, also nicht heilsnotwendig sind.

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(fragmentarischer) Lehre von den vier Mandaten scheint uns dazu immer noch ertragreich.55 Der Impuls aus Bachs Kantaten besteht darin, dass die gemeinsame Verantwortung von Kirche, Politik und Familie für ein gelingendes Zusammen­ leben in der Gesellschaft neu gesehen wird, und dass alle drei „Stände“ fürein­ ander eintreten: Die „Obrigkeit“ bietet der Kirche den geschützten Raum für die Verkündigung, die Kirche tut ihrerseits Fürbitte für die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, mischt sich aber auch (im Sinne von Act 5,29) in politische Themen ein. Die Familie wird vom Staat geschützt und gefördert, engagiert sich als „kleines Gemeinwesen“ in Kirche und Gesellschaft und bildet so im Kleinen einen Segensraum Gottes ab (vgl. BWV 190,6).

7.2.4 Gott und den Menschen dienen Dem Gedanken, dass „jeder das Seine“ bekommen soll, dass gleichsam Gottesliebe und Nächstenliebe, Doxologie und Diakonie zusammengehören,56 begegnen wir auch in Bachs Kantaten. Die zweiteilige57 Kantate Brich mit dem Hun­ grigen dein Brot (BWV 39), wird durch einen Chorsatz eröffnet (vgl. Jes 58,7 f), der zunächst die diakonische Perspektive (jüdisch)-christlicher Existenz entfaltet und daran eine explizite Verheißung knüpft: Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so im Elend sind, führe in dein Haus! So du einen nackend siehest, so kleide ihn und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch. Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen wie die Morgenröte, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird für dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen.

Bach folgt dem Text, indem er die einzelnen Textpassagen durch unterschiedlichste musikalische Mittel punktgenau musikalisiert,58 so bricht z. B. an der Stelle „so du einen nackend siehest“ (T. 94) der Orchestersatz völlig ab, der Takt wechselt zum 4/4-Metrum, der Chorbass singt ganz allein – also gleichsam „nackt“ – weiter. Die Verheißung „dann wird dein Licht hervorbrechen“ ereignet sich dann in Gestalt einer Fuge, die sich von der bescheidenen Zweistimmigkeit bis zum vielstimmigen Satz auffächert, um so die Fülle der Zuwendung Gottes für die freigiebigen Geber zu zeigen. Satz 2 deutet das im Eingangschor gebotene dia­ konische Handeln dann von Gottes providentia her. Was wir an „Überfluss“ be

55 Vgl. Bonhoeffer, 392–412. Bonhoeffer unterscheidet innerhalb der Oeconomia Arbeit bzw. Kultur und Ehe/Familie, was sicherlich zutreffend ist, da sich in der neuzeitlichen Welt diese Lebensbereiche deutlich voneinander getrennt haben. Bonhoeffer betont immer wieder das Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der Mandate, wobei pointierte Grenzen nicht zu übersehen sind, vgl. a. a. O., 406: „Kein fremdes Gesetz zwingt Jesus Christus dem Geschaffenen auf, aber er duldet auch keine von seinem Gebot abgelöste ‚Eigengesetzlichkeit‘ des Geschaffenen. […] Erst aufgrund der aus der verkündigten Christusherrschaft entspringenden Befreiung gibt es jenes rechte Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der göttlichen Mandate“. 56 Vgl. Ritschl, 330–339 bzw. Arnold, 22–24 und 130 f. 57 Vgl. die Schwesterkantaten BWV 187, 43 und 17.  Insbesondere mit BWV 187 gibt es eine große Übereinstimmung in der theologischen Aussage. 58 Vgl. dazu ausführlich Dürr, 445 f.

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kommen, soll auf die Menschen um uns her zurückfließen. Satz 3 (Altarie) bringt dazu eine kühne Neuformulierung der Gottebenbildlichkeit (vgl. Gen 1,27) ins Spiel, die eschatologisch zugespitzt wird: Seinem Schöpfer noch auf Erden nur im Schatten ähnlich werden ist im Vorschmack selig sein. Sein Erbarmen nachzuahmen, streuet hier des Segens Samen, den wir dorten bringen ein.

Der Meininger Dichter formuliert damit die Idee einer imitatio creatoris, die mit dem Bild vom Säen und Ernten auch den Lohn für gute Werke andeutet. Im zweiten Teil, der mit einer neutestamentlichen Paränese (Hebr 13,16) eröffnet wird, ereignet sich dann ein Wechsel hin zum Gebet. „Höchster, was ich habe, ist nur deine Gabe.“ Mit diesen Worten (Satz 5) geschieht eine dankbare Existenz­ übereignung, die im folgenden Rezitativ bekräftigt wird. Ich hab’ nichts als den Geist, dir eigen zu ergeben, dem Nächsten die Begierd, dass ich ihm dienstbar werd.

Es gilt, die Gott geschuldete Dankbarkeit, den Menschen mitzuteilen und auf diese Weise an der göttlichen Verheißung (Satz 1) schon jetzt Anteil zubekommen. Der Schlusschoral bekräftigt dieses Versprechen Gottes im Sinne einer Seligpreisung: Selig sind, die aus Erbarmen sich annehmen fremder Not, sind mitleidig mit den Armen, bitten treulich für sie Gott. Die behülflich sind mit Rat, auch, wo möglich, mit der Tat, werden wieder Hülf empfangen und Barmherzigkeit erlangen.

Damit schließt sich der Kreis: Wer Gottes reiche Gaben nicht für sich behält, sondern austeilt, gibt damit Gott die Ehre. Und wer Barmherzigkeit übt, wird selbst Barmherzigkeit erlangen.

7.2.5 Der gnädige dreieinige Gott und der Lobpreis des Glaubens Der Gliederung von Kapitel 6 dieser Arbeit lag bereits eine theologische Ent­ scheidung zugrunde. Wir haben angesichts der Fülle und Qualität der Beispiele dezidiert Bachs christologisch bestimmte Festkantaten an den Anfang gestellt, ehe wir uns dann pneumatologisch, schöpfungstheologisch und trinitätstheo­ logisch ausgerichteten Kantaten zuwandten. Dazu eine knappe These: Die Freude in Christus (vgl. Phil 4,4) ist für Bach und seine Dichter nicht nur Schlüssel zum Lobpreis, sondern auch zur Erkenntnis des dreieinigen Gottes.

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a) Die soteriologische Pointe: „durch Fleisch des Fleisches Heil erwerben“ Die von der Freude in Christus bestimmten Kantaten erweisen sich in mehrfacher Hinsicht dogmatisch als besonders ertragreich. Sie machen in doxologischer und kerygmatischer Form differenzierte Aussagen über Person und Werk Christi, sie verknüpfen Christologie und Soteriologie. In der weihnachtlichen Choralkantate Christum wir sollen schon (BWV 121) heißt es: 2. Ar ie (Teno r) O du von Gott erhöhte Kreatur, begreife nicht, nein, nein bewundre nur: Gott will durch Fleisch des Fleisches Heil erwerben. […] Um dich dadurch zu retten vom Verderben. 3. Rezit ativ (Al t) Der Gnade unermesslich Wesen hat sich den Himmel nicht zur Wohnstatt auserlesen, weil keine Grenze sie umschließt. […] Gott wählet sich den reinen Leib zu einem Tempel seiner Ehren, um zu den Menschen sich mit wundervoller Art zu kehren.

In hymnisch-verkündigendem Ton wird die Fleischwerdung (vere homo) des ewigen Gottes (vere Deus), der im Mutterleib der Maria Wohnung nimmt,59 als wunderbare Offenbarung gerühmt. Damit ist die Inkarnation Christi als gött­liche Hinwendung zum Menschen und als Mittelpunkt der Heilsgeschichte entfaltet. Dies wird in Satz 2 soteriologisch zugespitzt: Gott kehrt sich den Menschen zu, um damit ihr Verderben zu wenden und ihnen das Heil zu erwerben. Knapper und prononcierter als in diesen wenigen Sätzen lässt sich der Kern der Weihnachts­ botschaft kaum sagen. Die Pointe ist nun allerdings, dass es nicht bei der bloßen Explikation der „Heilstatsachen“ bleibt, sondern diese in Teil II der Kantate auch appliziert werden: 5. Rezit ativ (S opran) Doch wie erblickt es dich in deiner Krippen? Es seufzt mein Herz: Mit bebender und fast geschlossner Lippen bringt es sein dankend Opfer dar. Gott, der so unermesslich war, nimmt Knechtsgestalt und Armut an. Und weil er dieses uns zugutgetan, so lass ich mit der Engel Chören ein jauchzend Lob- und Danklied hören.

Damit ist der Modus entfaltet, durch den Gott beim glaubenden Menschen ankommt und dieser sich seinerseits Gott zuwendet: In dankbarem Staunen erblickt er das Wunder der Weihnacht und vereinigt sein Lob mit den Stimmen der Engel.

59 Vgl. dazu das Dogma der theotokos (Gottesgebärerin), vgl. das Konzil von Ephesus 431, DH 250.

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b) Die christologisch-mystische Pointe: „aus Liebe gegen mich entzündet“ Die Freude an der Menschwerdung und an der Auferstehung Christi (vgl. BWV 63; 91; 31,2; 66,1–3; 134,1), die von Beginn an ungebrochen das Lob in den Vordergrund stellt, bildet einen zentralen Aspekt im Christuszeugnis der Kantaten. In zahlreichen anderen wird diese Freude im Sinne einer intimen persönlichen Begegnung mit dem Bräutigam (unio) vertieft. Hier kommen besonders die durch die Rezeption des Hohenliedes gefärbten Texte Salomon Francks und generell alle Dialogkantaten (vgl. BWV 57; 32; 49; 21,7 f) in den Blick. Meist sind sie abendmahlstheologisch konnotiert (vgl. BWV 49; 1; 180) und eschatologisch gefärbt. Die Liebenden sehen, hören, haben sich zunächst nicht, sie vermissen sich. Ihre Liebe ist gestört oder wenigstens unterbrochen. Jesus scheint „verloren“ (BWV 32, vgl. 154), ehe sich die glaubende Seele, ängstlich und allmählich hoffnungsvoll suchend, aufmacht, um den geliebten Bräutigam zu suchen. Kommt es zur Be­ gegnung, klingt dies z. B. wie in BWV 32,4: Jesus (Bass): So kannst du glücklich sein. Wenn Herz und Geist aus Liebe gegen mich entzündet heißt. Seele (Sopran): Ach! dieses Wort, das itzo schon mein Herz aus Babels Grenzen reißt, fass ich mir andachtsvoll in meiner Seele ein.

Meist ist es das Erklingen der tröstlichen Stimme des Bräutigams, das den Höhepunkt eines solchen Satzes (bzw. der ganzen Kantate) markiert (vgl. BWV 154, 5 f). Dies lässt sich in BWV 32,4 auch an der kompositorischen Faktur ablesen. Bis zum Moment der Begegnung singen die Stimmen nacheinander bzw. gleichzeitig unterschiedliche Texte. Dann aber vereinigen sie sich und finden sich zu einem „übermütigen“60 Abschluss zusammen: Beide: Nun verschwinden alle Plagen, nun verschwinden Ach und Schmerz.

In der Dialogkantate Ich geh und suche mit Verlangen (BWV 49), in der die Begegnung mit Christus unter dem großen Thema der Hochzeit fokussiert wird, sieht die Bewegung anders aus. Hier ist es Jesus, der sich aufmacht, um die Braut zu suchen. Dabei kommt es zu einem der intimsten, ja „erotischsten“ Momente in Bachs Musik. Nach den Worten „komm, komm“, wenn die Braut also endlich gefunden ist, verschmelzen die beiden Personen zu einer innigen Liebeserklärung: „Komm, Schönste(r), komm und lass dich küssen!“ (Satz 3, T. 21–24) Hier klingt erstmalig der Text beider Singstimmen synchron übereinander, und das Rezitativ wendet sich zum zweiten Mal, (nun aber endgültig) zu einem beschwingten Arioso im 3/8-Takt. Daran wird die sinnliche Freude an der Jesusbeziehung deutlich, die wir als zentrales Moment in Bachs Kantaten erkennen können. Vielfach wird dabei auf die zwei großen Choräle P. Nicolais Bezug genommen. So heißt es, die 7. Strophe von

60 Vgl. Dürr, 225.

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Wie schön leuchtet der Morgenstern aufnehmend, sehnsüchtig in BWV 1,6; 49,6 und 61,6: „Deiner wart ich mit Verlangen.“ c) Die schöpfungstheologisch-doxologische Pointe: „Loben zieht nach oben“ Die Beschäftigung mit BWV 17,161 erbrachte eine besondere Pointe: Durch die Gleichzeitigkeit von Thema („Wer Dank opfert, der preiset mich“) und Kontrapunkt („und das ist der Weg, dass ich ihm zeige das Heil Gottes“) verschmelzen in den Singstimmen symbolisch zwei Aussagen zu einer Einheit und bilden damit ab, was beim Loben passiert: Wer lobt, bekommt Anteil an der Fülle des göttlichen Heils; wer die großen Taten Gottes erzählt, ist auf dem besten Weg zum Heil Gottes. So geschieht eine durch die eigene Person hindurch klingende Ver­gewisserung, die spüren lässt: Wer lobt, lebt. Oder: Loben zieht nach oben. Die folgenden Sätze 2 und 3 beschreiben mit hymnischen Psalmzitaten eine dankbare Lebenshaltung und Weltwahrnehmung, die durch die Freude an der Schöpfung geprägt ist. Satz 2 staunt über ihre Ordnung, Satz 3 nimmt diese Einsicht in ein direktes Gebet („Herr! deine Güte reicht …“, vgl. Ps 36.6), das am Ende auf das Thema Gotteserkenntnis und Gotteslob zu sprechen kommt. Damit ist die anthropologische Basis für den geistlichen „Transfer“ gelegt, der im zweiten Teil  der Kantate stattfindet. Ausgehend vom neutestamentlichen Diktum aus Lk 17 (Satz 4) können sich die Hörer in einer geistlichen applicatio mit dem Aussätzigen identifizieren, der Jesus für seine Heilung dankt. Durch seine Heilung erfährt er nicht nur leibliche, sondern auch geistliche Heilung, er gewinnt die vom Schöpfer gegebene Sprache und Haltung der Anbetung (vgl. Satz 1–3) zurück. Im liedhaft-lyrischen Satz 5 (Arie, Tenor) klingt sie in der ergreifenden Schlichtheit eines Dank­gebetes an: „Herr ich weiß sonst nichts zu bringen, als dir Dank und Lob zu singen.“ Dieser Satz bildet das spirituelle und musikalische Herzstück der Kantate. Trinitätstheologisch aufregend ist Satz 6, insofern hier das Verhältnis von Schöpfung und Neuschöpfung, Heilung und Heil, in äußerst positiver Weise entfaltet wird: Ein Christ kann das ganze Leben, „Leib, Leben und Verstand, Gesundheit, Kraft und Sinn“ genießen, bekommt aber darüber hinaus auch noch weitere Gnadenströme von oben, nämlich: „Liebe, Friede, Gerechtigkeit und Freude im Geist“. Diese Energieströme geben den Glaubenden einen Vorgeschmack der Fülle, die ihnen „dorten“ zuteil werden.

d) Die trinitätstheologische Pointe: cultus Dei und cultura mundi (BWV 76) Etliche Kantaten Bachs können wir als pointierte Beiträge zu einer trinitätstheologischen Ästhetik verstehen, insofern sie in weisheitlicher Weite, die in Christus ihre Mitte hat, die Welt als Gottes Welt erschließen und zugleich menschliche Kultur prägen. So wird Gott schön, die Welt geheiligt (cultus Dei und cultura mundi) und Christus in Wort und Tat verherrlicht. Spuren einer solchen „ästhetischen Theologie“ finden wir in Rezitativ BWV 76,2, wo die Vorstellung von einer klingenden Schöpfung (vgl. Ps 19,2–4) als aufgeschlagenes liber naturae für alle Menschen entfaltet wird:62



61 Vgl. oben 6.3.3. 62 Vgl. oben 6.4.1 bzw. nochmals 6.3.3 zu BWV 17.

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Zusammenfassung und Ausblick

2. Rezit ativ (T eno r) So lässt sich Gott nicht unbezeuget! / Natur und Gnade redt alle Menschen an: / Dies alles hat ja Gott getan, / dass sich die Himmel regen / und Geist und Körper sich bewegen. / Gott selbst hat sich zu euch geneiget / und ruft durch Boten ohne Zahl: / Auf! Kommt zu meinem Liebesmahl! In einer faszinierenden kosmologischen „Vogelperspektive“ illustriert der Dichter rühmend die Offenbarungsqualität der Schöpfung samt ihrer Geschöpfe, die unmittelbar auf den gütigen Schöpfer selbst verweisen: „Schöpfung ist Rede an die Kreatur durch die Kreatur“63, Zuwendung des Schöpfers durch die Schöpfung an alle Menschen, und zugleich die Aufforderung, selbst ins Lob miteinzustimmen. Die Anrede bekommt dann (unter dem Vorzeichen des Evangeliums aus Lk 14) den konkreten Charakter einer Einladung, am großen, universalen Festmahl Gottes teilzunehmen. Diese wird im folgenden Satz (BWV 76,3) in universalistischer Weite an alle Völker gerichtet. Sie werden zu Gottes Gnadenthron (Hebr 4,16) gerufen, dessen Grund und Ende (vgl. Kol 1,16; Apk 1,8) Christus ist. Die gedank­liche Bewegung von BWV 76,1–3 geschieht also gleichsam von außen nach innen, aus der Weite der Schöpfung hin zum Mittelpunkt der Offenbarung Gottes in Jesus Christus.

Im zweiten Teil der Kantate, der gleichsam die ethische applicatio darstellt, findet sich gerade eine entgegen gesetzte Bewegung von innen nach außen, die ihrerseits die Epistel aus 1 Joh 3 aufnimmt: „Liebt, ihr Christen, in der Tat. / Jesus stirbet für die Brüder, / und sie sterben für sich wieder, / weil er sich verbunden hat.“ Der Dichter wagt vom Bekenntnis zur stellvertretenden Hingabe Christi am Kreuz aus einen „radikalen Transfer“ ins Leben der Kirche: Christen setzen sich, Jesus nachfolgend, so füreinander ein, dass sie sogar das Opfer des eigenen Lebens nicht scheuen. Die Analogien von Satz 3 und Satz 12 in BWV 76 sind frappierend. Sie zeigen sich innerhalb der symmetrischen Anlage der ganzen Kantate,64 manifestieren sich im gleichen Versmaß (vierhebiger Trochäus) und in der Formulierung des jeweils ersten Satzes: Dem einladenden Zeugnis der klingenden Schöpfung („Hört, ihr Völker, Gottes Stimme“) entspricht das Zeugnis der Liebe unter den Christen („Liebt, ihr Christen, in der Tat“). Zuspruch und Anspruch, Einladung zum Festmahl Gottes und Ruf zur Nachfolge sind so miteinander verknüpft.

7.3 Liturgische Entdeckungen: den Spuren der Dichter und Bach folgen Im Blick auf die praktisch-theologische Diskussion um Bachs Kantaten haben wir eine homiletische Erörterung hier weitgehend zurück gestellt. Gleichwohl sollen die im Anschluss an die Analysen vorgetragenen Inszenierungsvorschläge für die Gestaltung von Kantatengottesdiensten hier nochmals aufgegriffen und als An­ regungen für die Praxis zugespitzt werden:

63 Vgl. Bayer, Schöpfung, 9–32 in Aufnahme J. G. Hamanns. Treffend schreibt Bayer, a. a. O., 16: „Die Prägnanz und Aussagekraft dieser Psalm 19 aufnehmenden Formel lässt sich kaum überschätzen. Sie ist die Kurzformel einer christlichen Schöpfungslehre schlechthin.“ 64 Vgl. Petzoldt I, 55.

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Liturgische Entdeckungen

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7.3.1 Verschiedene Sprechakte wahrnehmen Ein bis heute nur wenig untersuchtes Feld der Bachforschung65 wurde hier erstmals durchgehend in den Blick genommen. Es ging dabei um die Analyse und Erschließung unterschiedlicher Sprechakte und Sprachformen innerhalb der geistlichen Kantaten Bachs. Die Fragen lauteten: Wo haben wir verkündigende oder Gottes Wort meditierende (katabatische)  und wo eher klagende, lobende oder bekennende (anabatische) Formen vor uns? Wann ist eine Kantate bzw. einzelne Sätze daraus „Predigt vor der Predigt“ und wann eher Antwort auf das Evan­ gelium? Die sprachliche Analyse ergab, dass sich beispielsweise die beiden Schwesterkantaten BWV 101 und 102 zum 10.  Sonntag n. Trin. fundamental in ihrer Sprechrichtung unterscheiden, obwohl sie sich inhaltlich (in der Erfahrung der Geschichte als Gericht) sehr nahe stehen. BWV 101 ist als durchgehendes Gebet an Gott gerichtet, während BWV 102 fast ausschließlich als Verkündigung des Gesetzes an die Gemeinde gerichtet ist (vgl. ähnlich BWV 20). Dies trifft auch für zahlreiche Kantaten zu, die explizit das Evangelium zusagen bzw. darauf ant­ worten. Die elementarste Form besteht darin, dass das biblische Wort zitiert und musikalisch in einfachen Formen inszeniert wird (vgl. BWV 17,4; 81,4; 144,1; 67,1). Zuweilen treten alttestamentliche Schriftzitate als vorbereitendes Verheißungswort hinzu (vgl. BWV 17,1 und 3) und führen zum Evangelium hin (17,4). Choral­ strophen und madrigalische Verse bieten darüber hinaus eine persönliche Aneignung und Vergewisserung an. Diese Kantaten haben performative Qualität, insofern sie als verkündigende Musik das Evangelium wirkmächtig austeilen und damit den dreieinigen Gott hier und jetzt vergegenwärtigen. In vielen Kantaten wechseln die Sprechrichtungen zu Gott und zum Menschen hin dagegen immer wieder (vgl. etwa BWV 76). Diese Fragestellung erwies sich für die dramaturgische Erhellung der Kantaten als poetische, theologische und musikalische Kunstwerke als unumgänglich. Dadurch konnten wir erkennen, auf welche Weise es vom Eingangschor (vgl. BWV 2,1; 12,2; 21,1) zum zuversichtlichen Schlusschoral kommt. Es stellt sich also die Frage: Was ist zwischenzeitlich passiert? Wie kam der Mensch mit Gott in Kontakt? Wie begegnet Gott (aufs Neue) dem Menschen? Dieser inneren Dramaturgie einer Kantate als einem geistlichen Geschehen nachzuspüren, könnte, ja müsste (auch) Sache der Predigt sein. Reizvoll ist es auch, diesen Aspekten innerhalb der Inszenierung des Gottesdienstes nachzuspüren, ja die verschiedenen „liturgischen Sprechakte und Formen“ der jeweiligen Kantate durch eine Neukontextualisierung im Gottesdienst zu erhellen.



65 Vgl. allerdings die Standardwerke Dürrs und Petzoldts sowie die Monographie von Simpfendörfer.

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Zusammenfassung und Ausblick

7.3.2 Behutsam Neuinszenierungen wagen a) Überlegungen zu einer Neuordnung des Aufführungskalenders Grundsätzlich ist nach wie vor der Sonntag im Kirchenjahr, für den die Kantate komponiert wurde, mit seinem liturgischen Proprium die „erste Option“ für eine gottesdienstliche Aufführung. Dies gilt im Blick auf die analysierten Stücke ins­ besondere für die Kantaten zum 2. und 4. Sonntag n. Epiphanias (BWV 155; 3; 13; 81). Sollte sich freilich heraus stellen, dass die Kantate zum aktuellen (weil geänderten) Proprium des Sonntags wenig Bezug hat, ist eine Aufführung an einem anderen Sonntag kein grundsätzliches Problem, ja vielleicht sogar ratsam. Ulrich Meyer hat dazu interessante Vorschläge vorgelegt,66 die wir an vielen Stellen aufgenommen und ergänzt haben. Im Falle von BWV 154 liegt der Fall klar: Das Evangelium vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2) ist auf den 2. Sonntag n. Weihnachten (Sonntag n. Neujahr) verschoben, also sollte auch die Kantate an jenem Sonntag musiziert werden. Stattdessen kann am 1.  Sonntag n. Epiphanias heute die poetisch und musikalisch hochkarätige Choralkantate Christ unser Herr zum Jordan kam (BWV 7) musiziert werden, die ursprünglich für den Johannistag gedacht war. Die in ihrer Bestimmung nicht ganz sichere, äußerst populäre Kantate 117 (Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut) empfehlen wir nachdrücklich zum Erntedankfest, dies gilt auch für Es wartet alles auf dich (BWV 187), die mit ihrem Zitat aus Mt 6 aber auch gut am 15. Sonntag n. Trin. aufgeführt werden könnte, an dem dieser Text das Evangelium ist. Erhöhtes Fleisch und Blut (BWV 173) könnte nicht nur an Pfingsten, sondern auch an Trinitatis und angesichts seiner Inkarnationsaussagen evtl. sogar an Weihnachten (Heiligabend) musiziert werden, was sicher eine überraschende Variante wäre.67 Die Neujahrskantaten (BWV 190; 16; 41 usw.) sollten wohl eher im meist gut besuchten Gottesdienst am Altjahrabend musiziert werden. Für die festliche Kantate Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) bietet sich das Epiphaniasfest an, ggf. auch (wie für die Magnificat-Kantate BWV 10) der 4. Advent an. Dies gilt übrigens auch für Herz und Mund und Tat und Leben (BWV 147), deren Weimarer Urform (BWV 147a) ja für diesen Sonntag bestimmt war. BWV 60 passt hervorragend zum Gedenktag der Entschlafenen (Toten­ sonntag), ebenso könnte auch die Bekümmernis-Kantate (BWV 21) für diesen volkskirchlichen Kasus in Frage kommen. Für einen musikalischen Gottesdienst am Buß- und Bettag eignen sich neben Aus der Tiefen (BWV 131) und Aus tiefer Not (BWV 38) vor allem BWV  55 und BWV 168, ggf. auch Mein Herze schwimmt in Blut (BWV 199) und Herr Jesu Christ, du höchstes Gut (BWV 113), die beide eigentlich zum 11.  Sonntag n. Trin. gehören.

Etliche Kantaten, die nur einen sehr offenen Bezug zum Proprium haben bzw. an sich schon eine hohe theologische Allgemeingültigkeit besitzen (vgl. BWV 2; 12; 21; 112; 188), können an unterschiedlichen Sonntagen, ggf. auch bei einer Be­ stattung oder einem besonderen Gottesdienst, z. B. anlässlich einer Katastrophe,68 aufgeführt werden.

66 Vgl. Meyer, Kirchenjahr. 67 Vgl. dazu oben 6.2.1. 68 Es ist eindrücklich, dass die öffentliche Trauerfeier nach dem Amoklauf von Winnenden (März 2009) u. a. Sätze aus BWV 21; 23 und 131 aufgenommen hat.

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b) Überlegungen zu einer spezifischen Strukturierung des Verkündigungsteils Aus der Erschließung der Sprechakte innerhalb der Kantaten, die in ihrer poetischen und musikalischen Aussage jeweils mit unterschiedlichen Themen und Affekten verbunden sind, ist auch die Inszenierung einer Kantate im Verlauf eines konkreten Gottesdienstes zu bedenken. Das heißt für die liturgische Gestaltung eines Kantatengottesdienstes: Der Verkündigungsteil, in dem die Kantate klas­ sischerweise ihren liturgischen „Sitz im Leben“ hat, ist aufgrund der inneren Dramaturgie der Kantate mit ihren verschiedenartigen liturgisch-spirituellen Sprachformen und dem jeweiligen Kasus zu betrachten. Angesichts des Reichtums der theologisch-liturgischen Sprechakte innerhalb der Kantaten und der daraus resultierenden individuellen Dramaturgie einer Kantate (z. B. von der Trauer zur Freude oder von der Furcht zu neuer Hoffnung) ist zunächst zu überlegen, ob die Kantate am Stück musiziert oder auf verschiedene (meist zwei, maximal aber drei) „Stationen“ des Gottesdienstes aufgeteilt werden sollte. Dann können andere sprachliche oder musikalische Ereignisse, z. B. eine Lesung, eine Auslegung, ein Gemeindelied, ein Gedicht, eine Meditation oder das Credo mit der Kantate in einen Dialog treten. An vielen Stellen bietet sich auch eine Teilung der Predigt an, die im Kantatengottesdienst in der Regel eine Kan­ tatenpredigt sein sollte. In etlichen Fällen sind wir zur Überzeugung gekommen, dass die zur Bachzeit gepflegte Aufführung der Kantatenmusik an einem Stück bzw. in zwei Teilen (mit Teil II sub communione)69 nach wie vor eine diskutable Möglichkeit darstellt. Zuweilen erscheint es unter seelsorglichen und liturgischen Gesichtspunkten aber bedenklich, z. B. starke Gerichtstexte unkommentiert stehen zu lassen oder gar sub communione zu musizieren (vgl. etwa BWV 20 und 102). Vielmehr fordern solche Kantaten nicht nur eine homiletische Reflexion, sondern auch eine litur­ gische „Antwort“ heraus, weshalb wir im Blick auf die in Kap. 3 dargestellten Kantaten jeweils zu einer ausdrücklichen Beichte (Offene Schuld) mit Gnadenspruch geraten haben. Auch in der Mehrzahl der übrigen Fälle ergeben sich bei genauerem Hinsehen reizvolle Möglichkeiten: Viele Kantatensätze sind in ihren individuellen Sprachformen so profiliert, dass man ihre liturgischen Gewichte viel eher zum Leuchten bringen wird, wenn man eine musikalische Darbietung auf mehrere Stellen im Gottesdienst verteilt und damit der Gemeinde die (kognitive und affektive) Möglichkeit eröffnet, in den spirituellen Prozess des Kunstwerks einzutauchen. Dies haben wir im Hauptteil dieser Arbeit an vielen Stellen angedeutet. Außerdem kann eine vorherige Einführung bzw. Lesung der Texte zum Verständnis äußerst hilfreich sein. Eine aktive Beteiligung der Gemeinde, z. B. beim Singen des Schluss­ chorals, der vielfach eine Zusammenfassung bzw. spirituelle Aneignung des Ganzen anbietet, ist ebenfalls unbedingt zu empfehlen (ggf. auch als Wiederholung am Ende des Gottesdienstes).

69 Abendmahlstheologische Konnotationen, wie sie in BWV 187 und BWV 21, aber auch in BWV 76 und BWV 1 (ursprünglich nicht zweiteilig) gegeben sind, unterstreichen die Plausiblität einer sub-communione-Musik.

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7.3.3 Kantaten als Explikationen des Credo erschließen Dass die Kantate zur Zeit J. S. Bachs meist das gesungene Nicaenum der Gemeinde ersetzt hat, galt es hier ebenfalls zu bedenken.70 Dabei konnten wir in allen Kantaten gleichsam eine verschiedenartige Akzentuierung des Glaubensbekenntnisses entdecken. Allerdings wäre es unangemessen, alle Beispiele nur im Blick auf das trinitarische Credo zu betrachten. Dies käme einer gewaltsamen Reduktion gleich, die der theologischen und spirituellen Vielfalt der Dichtungen und der Musik Bachs nicht gerecht würde. Lediglich die stark doxologisch geprägten Kantaten71 sind unschwer einem oder mehreren der drei Glaubensartikel zuzuordnen. So ist die confessio fidei im Blick auf das Widerfahrnis des verborgenen und sich wieder zuwendenden Gottes sehr grundsätzlich zu beschreiben: als ein Nicht-Glauben und Wieder-Glauben, als Gott-Verlieren und Gott-Wiederfinden oder Wiedergefunden-Werden, als Zweifeln und neuerliches Hoffen, als Trauern und Getröstet-Werden. In den Gerichtskantaten (Kap. 3 und 4) konnten wir an vielen Stellen ein Sündenbekenntnis, also eine explizite confessio peccati (vgl. BWV 55,2 f; BWV 168,2) entdecken, die in etlichen Fällen mit einer tröstenden Absolution beantwortet wird. In den doxologischen Kantaten ist das oft trinitarisch akzentuierte Credo durch den Affekt der Freude an der Offenbarung Gottes bestimmt und daher treffend als confessio laudis zu bezeichnen. Sie unterscheiden sich also nicht zuletzt dadurch von den anderen Kantaten, dass hier nur ein Affekt im Mittelpunkt steht, während sonst eher eine Affektbewegung (von der Trauer hin zur Freude bzw. der Angst zur Hoffnung) wahrnehmbar ist. Während die doxologischen Kantaten72 eher den Gehalt des Glaubens (fides quae creditur) rühmend vor Gott bringen (vgl. BWV 129, 137 und BWV 117), eignet den Kantaten, die das Widerfahrnis des verborgenen und des richtenden Gottes thematisieren, eine Suchbewegung, die sowohl die Ambivalenz der Geschichte als auch die Sünde des Menschen und damit gerade die „anderen Seiten“ in Gott (Verborgenheit, Gericht) anklingen lassen. Man findet in ihnen eher einen „undogmatischen“, bisweilen angefochtenen Glauben, der eher dem glaubenden Vollzug (fides qua creditur) als klar umrissenen theologischen Themen nachspürt.

7.3.4 Mit Bachs Kantaten Themengottesdienste gestalten Manche Kantaten sind in ihrer ursprünglichen Bestimmung selbst schon unsicher (vgl. BWV 117), oder gar von Bach bewusst für unterschiedliche Gelegenheiten konzipiert.73 Es bietet sich daher an vielen Stellen an, einen besonderen Themengottesdienst mit einer Bach-Kantate zu gestalten. Die theologische und kirchen­ musikalische Aufgabe besteht dann darin, das Thema einer Kantate aufzuspüren

70 Vgl. dazu oben 1.5. 71 Vgl. dazu oben 6.1–6.5 und in gewisser Weise auch 5.2.3. 72 Vgl. Schlink, 38 bzw. Arnold, 114. 73 Vgl. BWV 21 und 51 mit dem Zusatz per ogni tempo.

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und in die Gegenwart zu übersetzen, wobei aktuelle Themen in Kirche und Welt mitbedacht werden sollten. Das „Experiment“ Bach-Kantaten predigen in Marburg (2005/06), das zur Zeit in Hannover in ähnlicher Weise bereits wiederholt wird, bietet dazu eine Anregung: Hier wurden an zwölf Sonntagen in der gleich bleibenden Form eines Predigtgottesdienstes auf der Grundlage der jeweiligen Kantate liturgisch und homiletisch ein Thema bearbeitet. Bei der Ratswechselkantate Wir danken dir Gott (BWV 29) ging es um das Thema „Suchet der Stadt Bestes!“, bei Erfreut euch, ihr Herzen (BWV 66) um die österlichen Freude, bei Brich mit dem Hungrigen dein Brot (BWV 39) um Lohn und soziale Gerechtigkeit, bei der Be­ kümmerniskantate (BWV 21) um Leid und Trost.74

Das Evangelische Gottesdienstbuch bietet dazu wertvolle Anregungen, wenn etwa zu den Themen „Bittgottesdienst bei Katastrophen und Epidemien“, „Erhaltung von staatlicher Ordnung und Gerechtigkeit“, „Überwindung sozialer Spannungen“ „Bitte um Frieden und Schutz des Lebens“, aber auch „Urlaub und Freizeit“ und „Danktage“ eine Auswahl an Lesungen und Gebeten vorgeschlagen wird.75 Ausgehend von unseren Überlegungen im Hauptteil dieser Arbeit wären für die Gestaltung solcher Gottesdienste Aufführungen von BWV 21 und BWV 103, ggf. auch von BWV 3 und 13 (Katastrophen, Epidemien), BWV 39 oder 138 (soziale Gerechtigkeit, „neue Armut“, Diakonie)  oder BWV 187, 117, 137, 69a (Urlaub, Dank) gut denkbar. Ein öffentlicher Dank- und Bittgottesdienst anlässlich eines politischen Ereignisses (z. B. Wahl, Gedenktag der Wiedervereinigung o.ä.) könnte mit einzelnen Sätzen aus einer Ratswechselkantate (z. B. BWV 69 bzw. 29), evtl. auch mit der etwas verhaltener wirkende Kantate Ich habe meine Zu­ versicht (BWV 188) ausgestaltet werden. Ein Gedenktag zur Reichspogromnacht am 9.11.1938 könnte mit BWV 21 (erster Teil) begangen werden. Alternativ dazu käme in der frühen Kantate Aus der Tiefen (BWV 131) das Thema Schuld (allerdings unter dezidiert christlicher Perspektive) deutlich zur Sprache: Auf dem jüdisch-christlichen Hintergrund von Ps 130 könnte aber eine Solidarität mit Israel ebenso ausgedrückt werden wie die Hoffnung auf Vergebung und Ver­söhnung.

7.3.5 Mit Bachs Kantaten Kasualgottesdienste gestalten Vielfach wird es nicht einfach sein, Trauungen oder gar Beerdigungen mit live ausgeführter Musik aus Bachs Kantaten zu gestalten. Angesichts der Tatsache, dass bei kirchlichen Hochzeiten und Beerdigungen aber oft „ein Stück von Bach“ gewünscht wird und dabei die einschlägigen, d. h. von Bach selbst für diesen Anlass vorgesehenen, Kompositionen oft nicht im Blick sind, soll im Folgenden am Beispiel der beiden Kasualien Trauung und Beerdigung das eine oder andere der dargestellten Stücke zur kirchenmusikalischen und liturgischen Diskussion gestellt werden.

74 Vgl. Glockzin-Bever, 24–38 und 66–109. Als Thema wurde dabei offenbar der Titel der Kantate gewählt. 75 Vgl. dazu EGB, 446–487.

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a) Trauung Dies gilt ausdrücklich für alle der oben interpretieren Kantaten zur Trauung. Exemplarisch sei hier auf die unvollständig überlieferte Kantate O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe (BWV 34a) verwiesen, die einen kreativen Impuls für die eigene liturgische Arbeit geben kann. Zwar enthält sie, was die „Genderfrage“ angeht, nicht unproblematische Formulierungen („gesegnet der Mann“), poetisch-kompositorisch ist sie aber äußerst reizvoll.76 In Satz 7 (Teil II post copulationem) der Kantate (D-Dur) wird der aaronitische Segen durch kleine Einschübe sukzessive ausgeleuchtet und angeeignet. Die bi­ blischen und die madrigalischen Zeilen sind collageartig ineinander gefügt. Bach lässt die „biblischen“ Passagen von beiden Singstimmen unisono musizieren und dem liturgischen Rezitationston folgen, während er die madrigalischen in kon­ zertanter Zweistimmigkeit anlegt. Duet t (S opran/  Ba ss) Gib, höchster Gott, auch hier dem Worte Kraft, das so viel Heil bei deinem Volke schafft: Der Herr segne dich und behüte dich. Es müsse ja auf den zurücke fallen, der solches lässt an heilger Stätte schallen: Der Herr erleuchte [sic] sein Angesicht über dich und sei dir gnädig. Sein Dienst, so stets am Heiligtume baut, macht, dass der Herr mit Gnaden auf ihn schaut. Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Friede. Der Herr, von dem die keuschen Flammen kamen, erhalte sie und spreche kräftig Amen.

Von der synergistisch klingenden Wendung „macht, dass der Herr in Gnaden auf ihn schaut“ einmal abgesehen, bietet dieses Beispiel eine reiche spirituelle und musikalische Ästhetik des Segens an. Das biblische Wort des Segens77 ist die archaische Grundlage, unter der das eigene Leben dankbar betrachtet wird und man sich nach neuer Zuwendung Gottes ausstreckt. Auch an anderen Stellen bestehen die Trauungskantaten aus einem ähnlichen hermeneutischen Beziehungsgeflecht von biblischem Wort der Segenszusage, madrigalischer Dichtung als Segensbitte (vgl. 120a,5 und 195,8) oder Entfaltung der Zusage (vgl. BWV 197,2 und 120a,7) und hymnischem Lobpreis, der oft im Choral erklingt (vgl. BWV 195,6; 120a, 2 und 8). Diese Dramaturgie gilt es in der Gestaltung von Trau­ gottesdiensten aufzunehmen und dabei inhaltlich das zu entfalten, was die Kantaten materialiter bieten: Gottes gütiges Wirken im Leben des Paares (und der Gemeinde) wird wahrgenommen und dafür gedankt, aber auch sein Segen für die Zukunft erfleht und wirkmächtig zugesprochen.

76 Offensichtlich geht es hier um einen Bräutigam, der Theologe war (vgl. ähnlich Dürr, 820). Darauf weist besonders die Wendung „Dienst der heilgen Hütten“ hin. 77 Vgl. Arnold, 435–439.

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Die Kantaten zur Trauung erweisen sich darin kasualtheologisch und ästhetisch höchst aktuell. Sie sind „benediktionale Rituale“78, Segensliturgien in nuce, insofern sie die zentralen Formen der Trauungsliturgie abbilden und an vielen Stellen auch kleine Schriftauslegungen enthalten. Durch die Musikalisierung Bachs werden die unterschiedlichen Sprechakte deutlicher präsent und verständlich, was – im übertragenen Sinne – die zeitgenössische Kirchenmusik vor eine ähnliche Aufgabe stellt: Es gilt, das Wort- und Klanggeschehen des Gottesdienstes durch eine sorgfältige Abstimmung der Sequenzen innerhalb einer Liturgie so zu gestalten, dass ein lebendiger Dialog mit Gott, entstehen kann. b) Bestattung79 Unter Hinzuziehung einiger Beispiele zum 3. Sonntag n. Epiphanias und der oben untersuchten Kantaten kann hier nur exemplarisch angedeutet werden, welche „Art von Sätzen“ aus Bachs geistlichem Kantatenwerk innerhalb einer Trauerfeier in Frage kommen. Dabei setzen wir voraus, dass ein Gottesdienst zur Bestattung in aller Regel einen poimenisch motivierten liturgischen Dreischritt vollzieht: – Trauer wahrnehmen und vor Gott bringen (Klage) und/oder Vertrauen be­ kennen80 – Trost und Vergewisserung zusprechen (Lesung, Predigt) – Persönliches Gedenken und Fürbitten vor Gott bringen bzw. Hoffnung aus­ drücken81 M. C. Mautner hat in seiner Untersuchung zur Sterbekunst in den Kantaten Bachs ex­ emplarisch die vier Kantaten für den 16. Sonntag n. Trin. (BWV 161; 95; 8 und 27) untersucht, dabei aber nicht auf die Möglichkeit hin reflektiert, dass diese Kantaten auch bei einer Beerdigung gespielt werden könnten, da es ihm um das Einüben einer Sterbekunst (nicht erst bei der Beerdigung, sondern) an den Sonntagen des Kirchenjahrs geht. Eines seiner (knappen) Ergebnisse lautet: „Der Bitterkeit des Sterbens aber soll der Schrecken genommen werden – das ist das Ziel der Sterbekunst.“82 Dennoch scheint es uns nicht ab­ wegig, die eschatologisch orientierten Kantaten auf ihre Tauglichkeit für eine volkskirchliche Bestattung hin zu betrachten. Der wunderbare Satz 4 aus O Ewigkeit, du Donnerwort

78 Dabei ist der lateinische Begriff durchaus in seinem ursprünglichen Sinn zu verstehen: Es wird von Gott her und zu ihm hin Gutes geredet (benedicere), das sich in der unmittelbaren Zukunft erweisen soll, aber auch schon in der Vergangenheit erwiesen hat. Der Mensch wird gesegnet, Gott gelobt, vgl. dazu auch Arnold, 458 f. 79 Von J. S. Bach selbst explizit für eine Bestattung vorgesehen sind lediglich der frühe Actus tragicus (BWV 106) und (vielleicht alle)  seine Motetten. Sie können, von den doxologischen Kompositionen Singet dem Herrn (BWV 225) und Lobet den Herrn, alle Heiden (BWV 230) einmal abgesehen, auch heute eine Beerdigung im Sinne eines musikalischen Gebetes (vgl. BWV 226 und 229), eines tröstlich-trotzigen Bekenntnisses (Jesu meine Freude BWV 227) oder eines kräftigen Zuspruchs (Fürchte dich nicht, BWV 228) liturgisch tragen. 80 Viele Bestattungsagenden lassen offen, ob zu Beginn des Gottesdienstes eher ein Klage- (z. B. Ps 39) oder ein Vertrauenspsalm (z. B. Ps 23 oder 73) gesprochen oder gesungen werden soll. 81 Darauf folgt dann (sofern dies nicht vorher geschehen ist oder aber eine Feuerbestattung vorgenommen wird) die Bestattungshandlung am Grab. 82 Mautner, 391. Allerdings sind von allen Kantaten m. E. statt: nur einzelne Sätze poetisch und musikalisch wirklich geeignet, um eine zeitgenössische Bestattungsliturgie zu gestalten. Am ehesten scheinen BWV 95,3 und 7 sowie BWV 8,4–6 dazu geeignet.

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(BWV 60) wäre sicher hervorragend geeignet, im zentralen Verkündigungsteil bei einer Beerdigung musiziert zu werden, Satz 1 und 3 eignen sich eher für den Eingangsteil, Satz 5 könnte den Abschluss bilden.83

Darüber hinaus sind weitere der untersuchten Werke geeignet, eine Beerdigungsliturgie musikalisch zu tragen. So könnten etwa die Sätze 1–4 und 7 von Weinen, Klagen (BWV 12) erklingen und damit einen starken Akzent auf die Klage setzen. Dasselbe gilt für Ihr werdet weinen und heulen (BWV 103).84 In Frage kommt auch hier wieder die Bekümmernis-Kantate (BWV 21), z. B. mit den beiden mittleren Psalmvertonungen (Chorsätze) nach Ps 42,12 und 116,7. Wenn wir Petzoldts These folgen85 und davon ausgehen, dass die Sätze 2–6 und 9 ursprünglich bei einer Bestattung gespielt worden sind, liegt dies geradezu auf der Hand. Angesichts der starken Bilder der Trauer und Verzweiflung in Satz 4 und 5 wäre allerdings zu überlegen, ob man nicht mit Satz 8 noch ein tröstliches Gegengewicht schaffen sollte, um dann womöglich Satz 2 als Fazit und Höhepunkt ans Ende zu stellen. Daraus ergäbe sich folgende vierteilige Dramaturgie: Satz 3–5 Ausdruck der Klage Satz 6: Infragestellung der Klage: Was betrübst du dich? Harre auf Gott! Satz 8–9: Zuspruch, Begegnung mit Christus; Sei nun wieder zufrieden! Satz 2: Zusammenfassung der Glaubenserfahrung im Rückblick

Kommen wir zuletzt auf zwei bisher nicht betrachtete Beispiele: Die Kantate Herr, wie du willt, so schicks mit mir (BWV 73), komponiert auf den 3. Sonntag n. Epiph. mit dem Evangelium aus Mt 8,1–13, bietet für die Gestaltung einer Trauerfeier sicherlich gute Möglichkeiten. Satz 1 könnte im ersten Teil des Gottes­ dienstes musiziert werden und neben dem Schmerz auch Vertrauen und Sehnsucht nach Trost ausdrücken, der sich dann in der folgenden Liturgie abbilden könnte: Der akkordisch-kompakte 4st. Choralsatz (Satz 1) stünde als musika­ lisches Vertrauensbekenntnis der Gemeinde am Anfang des Gottesdienstes, zwischen den einzelne pointierte Rezitativteile klagend (Tenor) bzw. vertrauend (Bass) eingeschoben sind. Diese Spannung bildet, ähnlich wie die Affekte Furcht und Hoffnung in BWV 60 und 66, die Gefühlslage bei einer Beerdigung gut ab: 1. Cho ral und R ezit ativ (T eno r  / Ba ss) Tenor: Herr, so du willt, so schicks mit mir Im Leben und im Sterben. Ach! aber ach! wie viel! Lässt mich dein Wille leiden! Mein Leben ist des Unglücks Ziel Da Jammer und Verdruss, mich lebend foltern muss, und kaum will meine Not im Sterben von mir scheiden Allein zu dir steht mein Begier, Herr, lass mich nicht verderben!

83 Vgl. oben 4.2. 84 Vgl. dazu den Textabdruck oben 2.3.2. 85 Vgl. Petzoldt, Erquickung.

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Liturgische Entdeckungen

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Bass: Du bist mein Helfer, Trost und Hort, so der Betrübten Tränen zählet und ihre Zuversicht, das schwache Rohr, nicht gar zubricht; und weil du mich erwählet, so sprich ein Trost- und Freudenwort:86 Erhalt mich nur in deiner Huld sonst wie du willt, gib mir Geduld, denn dein Will ist der beste.87

Vielleicht könnten Satz 288 und Satz 5 (Choral) gegen Ende der Trauerfeier erklingen. Besonders Satz 2 bringt in positiver Weise die Affekte Hoffnung und Freude ins „Spiel“ und fügt sich in den Sprachmodus der (Für)bitte gut ein. Der Schlusschoral mit (eher verhaltenem) trinitarischem Lobpreis drückt die gemeinsame Hoffnung auf das Reich Gottes pointiert aus und kann die Liturgie ebenso gut abschließen wie z. B. das berühmte Gloria sei dir gesungen (EG 147,3). Die Kantate Was mein Gott will, das g’scheh allzeit (BWV 111) von Salomon Franck ist auf den gleichen Sonntag bezogen und ebenfalls kasualtheologisch geeignet, wobei Satz 3–6 einer volkskirchlichen Gemeinde eher nicht zugänglich sein werden. Wie im vorigen Beispiel könnte der Choralchorsatz (1) auch von einem Laienchor gut realisiert werden. Der Kopfsatz und die anschließende Bassarie eignen sich dazu, als eine „gesungene Predigt“ den zentralen Verkündigungsteil tröstlich zu prägen: Der Choral drückt gleichsam das Bekenntnis der versammelten Gemeinde aus, das die Trauernden trägt: 1. cho r Was mein Gott will, das g’scheh allzeit. Sein Will, der ist der beste. Zu helfen den’n er ist bereit, die an ihn glauben feste. Er hilft aus Not, der fromme Gott, und züchtiget mit Maßen: Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut, den will er nicht verlassen. 2. Ar ie (Ba ss) Entsetze dich, mein Herze, nicht Gott ist dein Trost und Zuversicht und deiner Seelen Leben.

86 Diese Stelle ist bei Bach besonders hervorgehoben, der Solobass erreicht bei „Freude“ die Spitzen­note, der Continuo setzt zu einer raschen Bewegung an, illustriert also so eine Wende zur Freude hin. 87 Das anschließende Sopran-Rezitativ versucht beide Aspekte auszugleichen und thematisiert zusätzlich noch Gottes Handeln als Strafe usw. 88 Es handelt sich um eine Arie des Tenors in Es-Dur mit zahlreichen Koloraturen und der Figur des Circolo mezzo auf dem Affektwort Freude (vgl. Bartel, 121): „Ach senke doch den Geist der Freuden / dem Herzen ein! / Es will oft bei mir geistlich Kranken / die Freudigkeit und Hoffnung wanken / und zaghaft sein.“

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Ja, was sein weiser Rat bedacht, dem kann die Welt und Menschenmacht unmöglich widerstreben.

Diese (zweistimmig) schlichte und zugleich zuversichtliche Arie bringt sowohl das „Widerstreben“ (vgl. T. 29–35) der gottfeindlichen Mächte als auch Gottes gnädige Nähe kräftig zum Leuchten89 und ist damit wahrhaftig und tröstlich. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass viele Kantaten, in denen das theologische Thema der Fürsorge und Bewahrung Gottes bzw. des Vertrauens auf Gott anklingen, bei Beerdigungen gut vorstellbar sind. Man denke etwa an Der Herr ist mein getreuer Hirt (BWV 112) oder auch an Ich habe meine Zuversicht (BWV 188), die gut als Ganze musiziert werden könnten und eindrucksvolle Bekenntnisse des Vertrauens darstellen.

7.4 Spirituelle Entdeckungen: tröstende und beglückende Kraft schöpfen Wie oben skizziert,90 sind die Psalmen in mehrfacher Hinsicht der hermeneutische und theologische Schlüssel für Bachs Kantaten. Dies gilt auch im Blick auf eine evangelische Spiritualität, die aus dem Kantatenwerk wichtige Impulse schöpfen kann. Zuvor sei hier auf Luthers dreistelligen Spiritualitätsbegriff verwiesen, den er u. a. aus der Beschäftigung mit Ps 119 gewonnen hat.91 Er soll im Folgenden auch musikalisch bedacht werden.

7.4.0 Oratio – Meditatio – Tentatio: lutherische Spiritualität und Bachs Musik Mit der Trias von Oratio – Meditatio – Tentatio, Gebet, Schriftmeditation und Anfechtung, lässt sich eine existenzielle Form des Theologietreibens ebenso treffend beschreiben wie eine ganzheitliche evangelische Spiritualität, die wir an vielen Stellen in Bachs Kantatenschaffen wahrgenommen haben.92 Wir treten an dieser Stelle in ein Gespräch mit Martin Luther ein: In der Vorrede zur Wittenberger Ausgabe seiner Werke (1539), in der er die spirituelle Trias ausführlich entfaltet, schreibt er: „Knie nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe.“93

89 Satz 1 und Satz 2 verbindet musikalisch die kleine Figura corta, in Satz 1 ist sie im ganzen Satz in klassischer Form (ein Achtel + zwei Sechzehntel), in Satz 2 umgekehrt (zwei Sechzehntel + ein Achtel) präsent. Dadurch bleibt ein stetiger rhythmischer Energiefluss präsent. 90 Vgl. 7.1. 91 Vgl. dazu Bayer, 55–106. 92 Die Trias findet sich auch als Interpretament der Liedauslegung bei Wimmer, 8 ff, vgl. Walter, Cogitatio, 161–164 im Blick auf BWV 8. 93 WA 50, 659.

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Das Gebet ist demnach kein rein geistiger Akt des inneren Menschen, nicht reine Kontemplation, sondern richtet sich auf den dreieinigen Gott, der bereits in sich selbst ein lebendiges, liebendes Kommunikationsgeschehen ist. Im Gebet bekommen Christen an diesem göttlichen Dialog bzw. Trialog Anteil, wie an Röm 8,26 abzulesen ist. Töne und Klänge können diesen Vorgang wesentlich unterstützen. Bachs Motette (BWV 226) auf diesen Text gibt ein beredtes Zeugnis von der sprühenden Lebendigkeit (Satz 1) und feststehenden Erhabenheit (Satz 2, Fuge) des göttlichen Wortes, auf dessen Wahrhaftigkeit sich das Gebet beruft.94 Augustin soll bekanntlich gesagt haben: „Bis orat qui cantat“. Dies gilt auch für viele von Bachs geistlichen Kantaten. Sie sind vielfach gesungenes Gebet, ja führen uns in das unaussprechliche Seufzen des Geistes hinein, der uns Formen des Betens an die Hand gibt und gleichsam ins Herz und auf die Zunge legt. Damit sind wir beim zweiten Element in der Kette, dem der Meditatio, das recht weit entfernt ist von dem, was wir heute (durch fernöstliche Einflüsse) unter Meditation verstehen: Wenn Luther den Begriff der Meditatio verwendet, dann denkt er zum einen an die Bibel, mithin an einen Menschen, der die Worte der Bibel in seinen Gedanken, in seinem Mund und in seinem Herzen bewegt und in tätiger Liebe umsetzt. Im Blick auf den weisheit­ lichen Psalm 1 beschreibt er dies treffend als ruminatio, als „wiederkäuendes Bewegen“ des Wortes: „Zum andern sollst du meditieren, das ist: Nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und buchstabische Wort im Buch immer treiben und reiben, lesen und widerlesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der heilige Geist damit meinet. […] Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben ohne das äußerliche Wort, da richt dich nach, Denn er hats nicht vergeblich befohlen, äußerlich zu schreiben, predigen, lesen, hören, singen, sagen etc.“95

Die Kommunikation des Evangeliums und Meditation der Schrift kann predigend, lesend und hörend aber auch singend geschehen, wie wir am Reichtum der gregorianischen Tradition, aber auch an Bachs Kantaten96 ablesen können. Das singende Meditieren des Wortes war für Luther eine Selbstverständlichkeit: „An den Psalmen hat Luther die enge Verbindung von Wort und Klang, von verbum theologiae und vox musicae, erfahren. Die Psalmen sind für ihn aufgrund seiner monastischen Begegnung mit dem Psalter vornehmlich gesungenes Wort. Ohne dieses Vorbild wären seine geistlichen Lieder nicht denkbar. Wenn er sich dem Psalter als biblischem Buch nähert und die Psalmen meditiert, auslegt und kommentiert, so steht er in einer kirchlichen Tradition, in der man sich der Klanglichkeit des Psalters bewusst ist und theologisch zu würdigen weiß, dass das Singen und Klingen der Psalmwort Bedeutung hat für das geistliche Leben und Verstehen. Bereits in seiner frühesten Vorlesung über die Psalmen (1513/15) wird Luther auf die für das Verstehen der Psalmworte wesentliche Differenz zischen Sprechen und Singen aufmerksam: ‚Merke, dass sich Singen und Sagen unterscheiden wie einen Psalm singen oder rezitieren und ihn bloß verstandesmäßig erkennen und

94 Die Motette Der Geist hilft unser Schwachheit auf (BWV 226) komponierte Bach anlässlich des Todes des Rektors der Thomasschule Johann Heinrich Ernesti (1729). 95 WA 50,659. 96 Vgl. oben 7.1.

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lehren. Wenn aber die Stimme hinzukommt, wird es ein Gesang, welcher die Stimme des Affektes ist. So wie also das Wort zum Intellekt gehört, so die Stimme zum Affekt.“97

Psalmen sollten also unbedingt gesungen werden. Sie sind nicht nur vielgestaltige Sprach- und Lebensformen des Heiligen Geistes, sondern auch affektreiche Klang-Formen einer beziehungsreichen Welt- und Selbstauslegung coram Deo.98 Bachs Kantaten erschließen in diesem Sinne den Reichtum des Wortes Gottes auch emotional: Doppelt meditiert, wer hört, doppelt verkündigt, wer singt. Auf den ersten Blick verbindet die Tentatio, die Anfechtung, uns mit allen Menschen, Christen und Nichtchristen. Es geht dabei um die Erfahrung von Zweifel und Not, von Entbehrung und Trauer, aber auch von Glück und Bewahrung, von allem, was wir im Alltag unserer Welt mit anderen, mit uns selbst und mit Gott erleben. Doch wie gehen wir mit den Höhen und den Tiefen unseres eigenen Lebens um? Wie können wir Katastrophen unserer Zeit, aber auch die Krisen unseres Alltags wie Trennungen, Arbeitslosigkeit, Verlust durch Tod verarbeiten? Wenn Luther von Tentatio spricht, qualifiziert er Welterfahrung geistlich im Sinne einer Versuchung oder Erprobung Gottes. Der Glaube wird geprägt und auf die Probe gestellt, ja mehr noch: Auch das Wort Gottes wird in einer kritischen und produktiven Weise auf die Probe gestellt und durch den Glauben geprüft. ­Luther schreibt: „Zum dritten ist da Tentatio, Anfechtung. Die ist der Prüfstein, die lehret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht und wahrhaftig, wie süße und lieblich, wie mächtig und tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit!“99

Die Anfechtung lehrt also in einer intensivierten Form auf Gottes Wort zu achten. Sie wirft uns zurück auf Bibel und Gebet. Dies ist freilich nur der erste Schritt. Die Musik – zumal die Bachs – schafft es, Anfechtungen zu begegnen: Luther schreibt: „Die Musik ist die beste Gottesgabe. Durch sie werden viele und große Anfechtungen verjagt. Musik ist der beste Trost für einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen vermag.“ Dies konnten wir in der Beschäftigung mit vielen Kantaten, besonders mit denen, die wir unter dem Aspekt der Ver­ borgenheit Gottes und seines richtenden Handelns untersucht haben, verifizieren: „Ihr könnet verjagen das Trauren, das Fürchten, das ängstliche Zagen“ heißt es in der Osterkantate BWV 66, und am Ende der Bekümmerniskantate steht der forsche Imperativ: „Erfreue dich Seele, erfreue dich Herze, / entweiche nun, Kummer, verschwinde, du Schmerze“ (BWV 21,10). Erfahrung, Schrift und Gebet bilden so etwas wie die Dreiheit einer elementaren Theologie und einer ganzheitlichen Spiritualität. Bachs Vokalmusik kann als wirkmächtige Affektkunst – und das heißt letztlich: als Wegbereiterin der Freude – die geistliche Bewegung innerhalb dieser Trias verlebendigen und intensivieren, sie ist gleichsam eine Botin des Evangeliums und authentische Zeugin der Wahrheit.

97 Heymel, 99, in Aufnahme von WA 4,140: „Nota, quod cantare et dicere differunt, quod ­ sallere vel psallere dicere et tantummodo intellectu agnoscere et docere. Sed vocem addnedo fit p cantus, quae [est] vox affectus. Sicut ergo verbum est intellectus, sic vox ipsius affectus.“ 98 Vgl. Bayer, 61: „Ein Theologe ist, wer von der Heiligen Schrift ausgelegt wird, sich von ihr auslegen läßt und sie als von ihr Ausgelegter anderen Angefochtenen auslegt.“ 99 WA 50,660.

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Damit ist Spiritualität auf den elementaren Vollzug betenden Singens zurück­ geführt, das seinerseits im klingenden Meditieren der Schrift gründet und in der Anfechtung bewährt wird.100

7.4.1 Geistlich und authentisch In der Beschäftigung mit der Affektenlehre der Barockzeit konnten wir Luthers vierstelligen Affektbegriff (Trauer und Freude, Furcht und Hoffnung) als zentrales Element einer evangelischen Spiritualität wahrnehmen.101 Der Hinweis auf den Reichtum anthropologischer Affekte wäre allerdings eine Engführung, die nicht im Sinne des Wortverständnisses wäre, das sich Luther im Zusammenhang seiner reformatorischen Wende „erkämpft“ hat. In seinen Operationes in Psalmos schreibt er: Der Heilige Geist „bereitet uns mit diesem Buch [sc. der Psalmen] sowohl die Worte als auch die Affekte vor, mit denen wir den himmlischen Vater anreden und bitten sollen im Blick auf das, was er in den übrigen Büchern [sc. der Schrift] zu tun und nachzuahmen gelehrt hat, damit keiner etwas vermissen kann, was ihm zu seinem Heil nötig ist.“102 Durch diesen Hinweis und im Sinne des oben entfalteten dreistelligen Spiritualitätsbegriffs dürfen wir die Affekte vielmehr als Regungen begreifen, die der Geist durch die Erfahrung der Welt (Tentatio) und das biblische Wort (Meditatio) hervorruft, um zum persönlichen und öffentlichen Gebet anzuregen (Oratio). Fünf knappe Thesen sollen Luthers Vorrede interpretieren, das bisher Gesagte pneumatologisch bündeln und auf Bachs Kantaten übertragen: 1. Spiritualität ist nicht primär Kopf- sondern „Herzenssache“, eines Herzens, das manchmal „wie ein Schiff auf wildem Meer“ umher getrieben wird. Bach lässt in seinen Kantaten tiefe Blicke in das Meer menschlicher Herzen tun, die sich wie ein „Höllenschlund“ auftun können.103 2. Das Bild des Schiffes104 und der vier Winde stellt das passive Moment, positiv gewendet, den Erlebnis- oder Widerfahrnischarakter spiritueller Erfahrung in den Vordergrund. Sowohl die Anfechtung (Tentatio) als auch das Durch­stehen der Anfechtung sind von Gott gewollt und gewirkt, uns letztlich nicht verfügbar. In Bachs Musik bleibt es allerdings nie bei der Erfahrung bloßer Ohnmacht. Vielmehr klingt oft, was wiederum idealtypisch an BWV 21 (Satz  6,

100 Vgl. WA TR 5, 384,1–3 (5863): „Sathan vincitur tribus modis, et servatur ecclesia: 1.fideliter docendo, 2. serio orando, 3. sedulo patiendo.“ Eine kongeniale musikalische Deutung dieser Formel ist das opus ultimum von Heinrich Schütz, Der Schwanengesang, in dem der ganze Psalm 119 und darüber hinaus – als doxologische „Überhöhung“ – Psalm 100 und das Magnificat vertont sind. 101 Vgl. oben 1.7.1 mit ausführlichem Zitat der 2.  Vorrede zum Psalter (1528), WA DB 10/1, 100–102. 102 WA 5,23, 30–33. 103 In BWV 21,5 singt der Tenor im B-Teil seiner ersten Arie: „Sturm und Wellen mich ver­ sehren, /und dies trübsalvolle Meer / will mir Geist und Leben schwächen, / Mast und Anker wollen brechen, / hier versink ich in den Grund, / dort seh’ ich der Hölle Schlund.“ 104 Vgl. zum Bild des Schiffes bzw. der Seelenschifffahrt auch BWV 178,3; 56,2 (vgl. Haselböck, Art. Schiff).

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Chor) abzulesen ist, im Wort der Schrift eine Hoffnung an: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist.“ (Ps 42,12) 3. Der Heilige Geist ist es, der durch die Heilige Schrift (Meditatio) Menschen affektiv anrührt und in Bewegung setzt, Gottes Willen auslegt und seine Wege aufzeigt. In zahlreichen Kantaten wird dies pneumatologisch näher entfaltet. Dabei erscheint der Geist als erquickende Kraft (vgl. BWV 76,6), als orien­tierende Hilfe (vgl. BWV 112,2), aber auch als persönlicher Tröster (vgl. BWV 129,3) und als liebendes Gegenüber (vgl. BWV 172,5). 4. Zu einer lebendigen Spiritualität gehört auch das persönliche Gebet (Oratio). Es leidet in Trauer und freut sich angesichts aktueller Zuwendung Gottes. Angst vor Not und Tod, aber auch Hoffnung auf künftiges Glück und ewiges Leben gehören dazu. Die geistlichen Affekte werden in Bachs Kantaten meist in einer dynamischen Wechselbeziehung ausgedrückt. Dabei korrelieren hauptsächlich Trauer und Freude (vgl. BWV 13,4 f; 155,1–3; 154,6; 146,6; 103,1–6 u. a.), aber auch Furcht und Hoffnung (vgl. BWV 81; 60,1–4 und 66,4 f), zuweilen auch Angst und Freude (vgl. BWV 3,3). Fast an allen Stellen werden diese Gefühle auf Gott hin ausgerichtet. Die in der Kantate Singet dem Herrn (BWV 190)105 entdeckten Gebetsformen Dank (Vergangenheit), Bitte (Zukunft), Lob (Gegenwart) verschränken nicht nur Zeit und Ewigkeit, sondern zeigen auch wie alle Affekte letztlich auf die Freude und das Lob Gottes hinzielen. 5. Diese Freude ist aber nichts Künstliches, denn zur Spiritualität gehört Authentizität. Wer sich freut, „singt anders als der in Furcht steckt“. Wahrhaftigkeit gegenüber seinen Gefühlen und damit auch vor Gott ist ein Grundzug in Bachs Kantaten, gerade dann, wenn es um eigene Angst und eigene Schuld (BWV 55, vgl. Ps 51) und um erlittene Trauer geht. Dies kann zu einer größeren Gelassenheit und einer Glaubensheiterkeit finden, wie wir sie etwa bei Hans-Dieter Hüsch finden: „Ich bin vergnügt erlöst befreit Gott nahm in seine Hände Meine Zeit Mein Fühlen Denken Hören Sagen Mein Triumphieren Und Verzagen Das Elend Und die Zärtlichkeit.“106



105 Vgl. oben 6.5. besonders in Satz 2. 106 Vgl. Evangelisches Pastorale, 28 bzw. Hüsch/Seidel, 140.

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7.4.2 Angefochten und getröstet Die Beschäftigung mit Bachs Klagekantaten und der darin vorkommenden Rede vom verborgenen Wirken Gottes nahm in dieser Untersuchung einen breiten Raum ein. Entscheidend war zunächst, dass Trauer und Leid nicht verdrängt oder marginalisiert, sondern beim Namen genannt und ausgedrückt werden. Dies kann zuweilen schmerzhaft sein, denn der Mensch neigt dazu, das Schwere eher zu verharmlosen oder beiseite zu schieben. Dennoch kann es bereits eine Entlastung darstellen, wenn Not ausgesprochen wird und mit dem Aussprechen eines Ver­lustes107 Licht ins Dunkel kommt. Wo ein Leid beim Namen genannt wird, ist der Versuch, es „totzuschweigen“, beendet und der Bann der tödlichen Stille ge­ brochen.108 Oft steht in den einschlägigen Kantaten, ähnlich wie in den Psalmen, eine „Ichklage“, die Wahrnehmung der eigenen Not, am Anfang (vgl. BWV 21,3). Kantate 13,1 (Arie, Tenor) formuliert dies so: Meine Seufzer, meine Tränen, / können nicht zu zählen sein. / Wenn sich täglich Wehmut findet / und der Jammer nicht verschwindet, / Ach! So muss uns diese Pein / schon den Weg zum Tode bahnen.

Tränen dürfen also fließen, ohne dass dies als Larmoyanz oder Selbstmitleid ab­ qualifiziert würde. Dennoch besteht dabei die Gefahr, im eigenen Leid zu ver­ sinken. Der „Weg zum Tode“, das Absinken ins absolute Nichts, steht bedrohlich bevor. Damit dies nicht passiert, geht es in der Seelsorge darum, das Leid vor Gott zu bringen und mit ihm ringend auszuhalten. In der Gottklage wird der Kontakt mit dem gesucht, der sein gnädiges Angesicht verbirgt und seine Liebeshand zurückzieht. BWV 155 beginnt mit einem Accompagnato, das dies ausdrückt: Rezit ativ (T eno r) Mein Gott, wie lang, ach lange? Des Jammers ist zuviel! Ich sehe gar kein Ziel der Schmerzen und der Sorgen. Dein süßer Gnadenblick hat unter Nacht und Wolken sich verborgen, die Liebeshand zieht sich, ach! ganz zurück. Bach verleiht dieser Klage Klang, indem er die innere Erregung verlangsamt und rhyth­ misiert: Ein Viertelschlag in den Streichern, zwei Viertelpausen, zwei Viertelschläge und abermals zwei Pausen, das Tempo ungefähr dem menschlichen Herzschlag nachempfunden, stockend, suchend, fragend. Darunter steht ein pulsierender Orgelpunkt auf dem Ton d im Continuo über ganze zwölf Takte. Unendlich lang wirkte diese Musik, wenn man die Singstimme wegließe. Damit bildet der junge Bach den instrumentalen Rahmen für den Ausdruck von Trauer. Sie wird so in gewisser Weise erlebbar, bekommt musikalische Kontur, die dann mit den syllabisch deklamierenden Phrasen des Tenors auch begreifbar

107 Die Liturgie zur Bestattung beginnt mit gutem Sinn damit, dass der Realität des Todes aus­ gesprochen wird: „Wir sind zusammengekommen, um Abschied zu nehmen. NN ist tot.“ 108 Vgl. Heymel, 350: „Trauer ausdrücken heißt: der Klage Raum geben, […] Widerspruch und Auflehnung zulassen.“

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wird. Wenige dissonante Akkorde (auf „lange“, „Schmerzen“, „ach“) lassen einzelne Worte besonders nachklingen.

Oft wird in Bachs Kantaten deutlich, dass die Aufarbeitung des Leides nicht eine Sache zwischen Gott und Mensch allein ist, sondern auch noch Andere als Betroffene (vgl. BWV 2) bzw. als Urheber (vgl. BWV 153) in den Blick kommen müssen. Manchmal ist es hilfreich, wenn in der Klage eine konkrete Bedrohung und damit auch die eigene Ohnmacht und Wut109 zum Ausdruck kommen: In Schau, lieber Gott, wie meine Feind (BWV 153), einer Kantate, die sich auf den Kindermord zu Bethlehem bezieht, finden wir folgendes Alt-Rezitativ: Mein liebster Gott, ach lass dich doch erbarmen, ach hilf doch, hilf mir Armen! Ich wohne hier bei lauter Löwen und bei Drachen, und diese wollen mir durch Wut und Grimmigkeit in kurzer Zeit den Garaus völlig machen.

Die Anrede an Gott wird hier in einer Feindklage weitergeführt, die an der Situation nichts beschönigt, ja mythische (Traum)-Bilder anbietet, um sie zu bewältigen. Böses wird als Böses gebrandmarkt. Daraus spricht die Überzeugung, dass es nicht angehen kann, wenn blutige Kriege oder gar eine gezielte Massenvernichtung nicht als Unrecht bezeichnet und bezichtigt werden. Auf diesen Schrei folgt ein tröstendes Arioso, das bezeichnenderweise vom Bass vorgetragen wird. Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit. (Jes 41,10)

Diese Zusage wird dann im folgenden Rezitativ des Tenors vom glaubenden Subjekt aufgenommen, allerdings ohne dass damit sofort eine Wende geschähe: Du sprichst zwar, lieber Gott, zu meiner Seelen Ruh mir einen Trost in meinem Leiden zu. Ach, aber meine Plage vergrößert sich von Tag zu Tage, denn meiner Feinde sind so viel, mein Leben ist ihr Ziel. Dieses hartnäckige Insistieren bleibt nicht ohne Wirkung. Ein Mensch ringt mit Gott, will keinen schnellen, „billigen“ Trost, sucht nach Spuren der Er­hörung, nach einer Wirkung des Trostwortes. In der Seelsorge kann dies dazu anleiten, auch länger bei diesem Ringen mit Gott zu verharren. Vielleicht kommt es aber auch zu einer „Lösung“, die Freude und Leid integrieren kann.110 BWV 153 schließt mit einer Choralstrophe, in der die Dialektik von Kreuz und Auferstehung als Bekenntnis erklingt:

109 Vgl. Evang. Pastorale, 119–133. 110 Eine wichtige Station ist dazu Satz 6, in dem die „Trübsalswetter“ nochmals losstürzen, dann aber zur Ruhe kommen bei den Worte: „Spricht mir doch Gott tröstlich zu: / Ich bin dein Hort und Erretter.“

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Drum will ich, weil ich lebe noch, das Kreuz dir fröhlich tragen nach; mein Gott, mach mich dazu bereit, es dient zum Besten allezeit.

Ein letztes Beispiel soll die Beschäftigung mit der spirituellen und seelsorg­ lichen Dimension der Klagekantaten abrunden. In der oben dargestellten Kantate Warum betrübst du dich, meine Seele (BWV 138) heißt es im Alt-Rezitativ, das auf den einleitenden Choral folgt: Ach, ich bin arm, mich drücken schwere Sorgen vom Abend bis zum Morgen währt meine liebe Not. Dass Gott erbarm! Wer wird mich noch erlösen vom Leibe dieser bösen und argen Welt? Wie elend ist’s um mich bestellt! Ach wär ich nur schon tot! Mit dieser Klage wird ein armer, bedürftiger, vielleicht auch ein depressiver111 Mensch dargestellt.112 Bachs Musik nimmt den Konflikt in der komplexen Anlage des Satzes auf und verstärkt den Text durch zahlreiche Affektfiguren, z. B. einen Passus duriusculus (T. 36–40), der förmlich „nach unten zieht“. Pausen in der Singstimme lassen den Atem stocken. Ausweglos scheint die Situation. Dass schon vorher, ganz zu Beginn des Satzes, in diese Situation hinein ein tröstlicher Choral gesungen wurde („Vertrau du deinem Gott, der alle Ding erschaffen hat!“), verändert nichts. Die Zusage scheint zunächst gar nicht anzukommen. Darin ist dieses Beispiel eminent „realistisch“. Bachs Musik zeigt, dass seelsorgliche Zuwendung und Begleitung oft einen langen Weg beschreiten muss, einen Weg, der noch nicht zu überschauen, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Beispielen, in denen das Trostwort (rasch) die Wende bringt, verändert sich (ähnlich wie in BWV 153) in BWV 138 über drei Sätze hinweg nicht wirklich etwas. Die Ver­zweiflung wird sogar noch gesteigert, wenn in Satz 3 aggressive Gefühle gegen Gott geäußert werden: „Ich bin verlassen, / es scheint / als wollte mich auch Gott bei meiner Armut hassen …“ Noch einmal wagt darauf der Chor die freundliche Zusage: „Dein Vater und dein Herre Gott, der dir beisteht in aller Not …“ Was dann zwischen Satz 3 und 4 spirituell passiert, wissen wir nicht. Man könnte sagen: Der Geist Gottes ist am Wirken. Oder: Menschen haben die leibliche Not gelindert und geholfen. Jedenfalls ist es tröstlich und schön zu sehen, dass Satz 4 mit einem zuversichtlichen Ausruf beginnt: „Ach süßer Trost!“ (Tenor). Damit ist der Bann gebrochen …



111 Sollten wir in BWV 138,1–3 einen depressiven Menschen vor uns haben, der nicht mehr über seine Situation hinaussieht, dann wäre die am Ende beschriebene „Todessehnsucht“ wohl als „sui­ zidal“ bezeichnen. 112 Angesichts der aktuellen Armutsdebatte in Deutschland und der Tatsache, dass bereits Tausende von Kindern in unserem Lande Sozialhilfe empfangen, braucht man nicht viel Phantasie, um sich hier konkrete Menschen in bedrückender Not vorzustellen.

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Bachs Kantaten eröffnen geistliche Trauer- und Trosträume. Sie ermutigen zur Geduld, eigenes und fremdes Leid zunächst einmal einfach nur auszuhalten. Sie bieten (archaische) Worte der Bibel und der Tradition, die Hoffnung wecken, ohne vorschnell etwas erzwingen zu wollen. Oft muss der Zuspruch wiederholt oder variiert werden, ehe neues Vertrauen entstehen kann. Vielleicht gelingt es ja, dass dann am Ende (wie in der Kantate BWV 153 u. a.) die Zuversicht steht: Was Gott tut, das ist wohlgetan, dabei will ich verbleiben.

7.4.3 Schuldig und frei Innerhalb des Bachschen Kantatenwerkes spielt die Rede von menschlicher Sünde und vom Gericht Gottes, wie wir sahen, eine große Rolle. Angesichts einer fast ganz verloren gegangenen Praxis der Ohrenbeichte und einer liturgischen Marginalisierung des Sündenbekenntnisses stellt diese Beobachtung eine Herausforderung dar. Sind solche Texte und damit auch die dazu gehörige Musik nicht grundsätzlich eine Zumutung? Umso überraschender ist es, dass in zahlreichen Zeitschriften und Publikationen, ja sogar in der Werbung das Thema Sünde wieder stark diskutiert wird, ja in gewisser Weise „angesagt“ ist. Der Soziologe Gerhard Schulze begründet diese neue Faszination an der Sünde mit einer Wiederkehr magischer Religiosität im westlichen Abendland,113 gibt aber keine Antwort auf die Frage, wie man mit diesem Phänomen umgehen soll.114 Dies bleiben uns die Dichter Bachs nicht schuldig und seine Musik tut das Ihre, um hier eine Klärung bzw. Heilung und Hilfe zu schaffen: In den untersuchten Kantaten wird Sünde radikal ernst genommen, sie wird nicht banalisiert (z. B. Diätsünde) oder ironisiert („Kann denn Liebe Sünde sein?“). Sie wird auch (nur) selten moralisiert oder sexualisiert,115 so als wäre sie nicht άµαρτία, totale Zielverfehlung. „Ach, hier gilt fürwahr kein Scherz“ heißt es unmissverständlich in BWV 20,3. Und in der Choralkantate Ach Herr, mich armen Sünder (BWV 135) hören wir am Ende von Satz 2 (Tenor-Rezitativ): Der Seele ist vor Schrecken116 angst und bange; ach, du Herr, wie lange?

Damit beschreiben die Kantatentexte nicht nur punktgenau den Affektraum der Furcht vor Gericht und Tod, es kommt auch die theologische Einsicht zur Geltung, dass die Sünde alle Menschen (vgl. Röm 3,23) von Gott trennt. BWV 101,5 formuliert treffend: „Die Sünd hat uns verderbet sehr. So müssen auch die Frömm­ sten sagen / und mit betränten Augen klagen.“ Sünde zerstört jeden Menschen und

113 Vgl. Schulze, Sünde, 137 f bzw. Bolz, 47–51! 114 Vgl. allerdings Schulze, Sünde, 123–125 mit einer erstaunlich positiven Einschätzung des Gebets gegenüber dem „Opfer“, das mit Goethes Prometheus verspottet wird. 115 Vgl. Fricke, 16. 116 Bachs Musik an dieser Stelle ist geradezu ein Psychogramm: Nach der Silbe „Schre-“ bricht die Singstimme mitten in einem kühnen Sprung (Saltus duriusculus von a nach ges’) ab, um kurz danach „cken angst und bange“ nachzuliefern. Der Atem stockt beim Lesen und beim Hören …

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jeden Menschen ganz. Gerade die besonders Frommen (vgl. Lk 7,36–50 bzw. Lk 18,9–14) stehen in der Gefahr, sich in dieser Hinsicht selbst zu überschätzen. Vor Gott gibt es keine „Teilschuld“ oder bloße „Schuldanteile“, womöglich „unter Berücksichtigung mildernder Umstände“. Auch Andere können vor Gott nicht für meine Schuld haftbar gemacht werden. Die Rede von der strukturellen Sünde, so zutreffend sie ist, mag in ethischer Hinsicht relevant sein, soteriologisch ent­lastet sie nicht. Oder sagen wir es mit Bachs: „Ich bin’s, ich sollte büßen …“ (BWV 245,10). Diese Formulierung mag zunächst eine Zumutung für viele Zeitgenossen sein und hat doch beim Hören der Matthäuspassion auch schon viele Menschen zutiefst angerührt. Sie löst eine Einsicht in eigenes Scheitern aus, die völlig evident ist, und hilft nicht nur zur Nüchternheit gegenüber sich selbst, sondern bewahrt auch vor eigener Selbstüberschätzung, ja sie wirft uns letztlich auf den zurück, der uns nicht mit einem Scherbenhaufen eigener Schuld zurücklassen will.117 Denkbar schlicht können an solchen Stellen die Sprache der Dichter und die Musik Bachs werden. Die Solokantate Mein Herze schwimmt in Blut (BWV 199) von G. C. Lehms bringt dies innerhalb des 3. Satzes knapp auf den Punkt: „Gott sei mir Sünder gnädig.“ Darauf folgt eine lyrische Sopran-Arie, die das Sündenbekenntnis entfaltet: 4. Ar ie (S opran) Tief gebückt und voller Reue lieg ich, liebster Gott, vor dir. Ich bekenne meine Schuld, aber habe doch Geduld, habe doch Geduld mit mir. Damit kehrt auch musikalisch Ruhe ein. Dürr schreibt: „Die Ausweglosigkeit und Verzweiflung des Sünders ist nach abgelegtem Schuldbekenntnis einer gefassten Ruhe gewichen, die sich in der Wechsel des Tongeschlechts vom Moll zum Dur als auch der Instrumentation vom charakteristischen Soloinstrument der Oboe zum volltönigen Streicherklang widerspiegelt.“118 Doch auch damit sind wir  – Gott sei Dank  – noch nicht am Ende. Es letztendlich darum, Menschen, die Trennung zwischen Gott und Mensch durch ein „Trostwort“ aufzuheben und zu entkräften. Lehms fährt fort (Sopran-Rezitativ und Choral): 5. Rezit ativ (S opran) Auf diese Schmerzensreu fällt mir alsdenn dies Trostwort bei: 6. Cho ral (S opran) Ich, dein betrübtes Kind, werf alle meine Sünd,

117 Vgl. dazu die auf das bereits erwähnte Rezitativ (135,2) folgende Arie (Tenor) mit folgendem Wortlaut: „Tröste mir Jesu, mein Gemüte, / sonst versink ich in den Tod, / hilf mir, hilf durch deine Güte  /  aus der großen Seelennot!  /  Denn im Tod ist alles stille, /  da gedenkt man deiner nicht. / Liebster Jesu, ists dein Wille, / so erfreu mein Angesicht.“ Hier geschieht eine Art musikalischer Vorwegnahme des Trostes. Obwohl im Text noch um Ver­ gebung und Zuwendung gebeten wird, bringt Bachs Musik (C-Dur, 3/4-Takt) den Trost der Er­ hörung schon zur Geltung. 118 Dürr, 549.

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Zusammenfassung und Ausblick

so viel ihr’ in mir stecken und mich so heftig schrecken, in deine tiefe Wunden, da ich stets Heil gefunden.

Damit hat die Sünde einen Ort, einen „Ab-Ort“ gefunden. Ihre Schrecken werden am Kreuz beendet, in den Wunden Christi ist die Schuld „aufgehoben“ und das „Heil gefunden“. Bachs Kantaten bieten an vielen Stellen einen heilsamen Umgang mit menschlicher Schuld an, weil sie zum einen ganzheitlich und zum anderen dezidiert so­ teriologisch an die Problematik herangehen: Ganzheitlich heißt in diesem Fall, dass Schuld nicht moralisiert oder als einzelne Tatsünde isoliert bzw. auf einen Teilbereich des Menschen (z. B. Sexualität) fixiert wird. Soteriologisch gewendet: Die Aussagen sind an die Person Christi und an sein Heilswerk, aber nicht an dogmatische Formeln gebunden, sie haben bildhafte und affektive Qualität, bieten Geborgenheit und Entlastung, ja schaffen sogar heitere Gelassenheit, wie das folgende Rezitativ zeigt: 7. Rezit ativ (S opran) Ich lege mich in diese Wunden als in den rechten Felsenstein; die sollen meine Ruhstatt sein. In diese will ich mich im Glauben schwingen und drauf vergnügt und fröhlich singen.

Vergebung ist, wie daraus unschwer abzulesen ist, eine befreiende und fröhliche Sache. Ein Mensch, der sich seine Schuld eingestanden, sie vor Gott ausgesprochen, ihn um Vergebung gebeten und diese Vergebung durch Christus erfahren hat, kann zur Ruhe und zu einer neuen Heiterkeit kommen, die dann selbst den Tod nicht mehr fürchtet. Ein weiterer Gewinn aus der Beschäftigung mit Bachs Kantaten könnte daher eine Spiritualität der Beichte und der Vergebung, eine musikalische Wiedergewinnung der consolatio fratrum et sororum,119 sein.

7.4.4 Glücklich und fromm Luise Reddemann deutet an, wie sie in Bachs Biographie und seinem Vokalwerk Ressourcen und Kraftquellen gefunden hat, die für ihre therapeutische Arbeit wichtig wurden: „Bachs Leben und Werk scheint mir außergewöhnlich reich an Ressourcen und Resilienz­ faktoren gewesen zu sein. […]: „Musikalität, Intelligenz, Interesse an Neuem und Lern­ bereitschaft, Konzentrationsfähigkeit, Lebensfreude und Glücksfähigkeit, Frömmigkeit, Liebesfähigkeit, Dankbarkeit, Offenheit für alle Gefühle und die Fähigkeit sie auszudrücken, die Bereitschaft, sich mit Trauer auseinanderzusetzen, die Fähigkeit, Dinge zu akzeptieren, die Fähigkeit, Hilfe anzunehmen, die Fähigkeit, das Leben als ein Ganzes zu nehmen und Einge­

119 Vgl. ähnlich AS III, Vom Evangelio, BSLK 449.

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bundensein in ein größeres Ganzes, die Fähigkeit, ‚vielstimmig‘ zu sein, Orientierung an einem übergeordneten Ziel, ‚Androgynie‘, als die Kunst, weibliche und männliche Anteile in sich zu vereinen und nicht an kulturell vorgegebenen Geschlechtsrollen zu kleben, hoher ‚Flow‘.“120

Auffällig ist zunächst, dass sich für die Autorin „Glücksfähigkeit und Frömmigkeit“ ebenso wenig ausschließen, wie „Lebensfreude“ und die „Bereitschaft, sich mit Trauer auseinanderzusetzen“. Wer die Tiefen kennt, kann sich auch über die Höhen freuen, wer den „Wermutsaft“ trinken musste, wird sich umso mehr für den „Freudenwein“ begeistern, ja ihn „lustvoll“ genießen. Der Reichtum der musikalischen und geistlichen Affekte in Bachs Kantaten, kann dazu helfen, intensiver zu leben, in einem tieferen Sinne beides aus der Hand Gottes zu nehmen. Vielleicht ist diese Lebenshaltung ja geeignet, einen Gegenentwurf zu dem vom Prediger Salomo kritisierten „Haschen nach Wind“ (Koh 1,14) zu bieten, ja sein positives Lebensmotto stark zu machen: „Alles hat seine Zeit!“ (Koh 3,1–12). Dann wäre der überstandene Verkehrsunfall oder die gelungene Operation eben kein „Zufall“ und die bestandene Prüfung nicht nur eigene Leistung, dann ließe sich sagen: „Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.“ (Koh 3,11) Vielleicht könnte dies dann sogar im Blick auf erlittenes Leid und Unrecht ausgesprochen und das Ganze mit den Augen des Glaubens als ein Werk Gottes angenommen werden. In BWV 135,5 (Arie, Bass) heißt es: Mein Jesus tröstet mich! Er lässt nach Tränen und nach Weinen die Freudensonne wieder scheinen. Das Trübsalswetter ändert sich, die Feinde müssen plötzlich fallen und ihre Pfeile rückwärts prallen.121

Darin unterscheidet sich eine christliche Spiritualität von einer esoterischen oder humanistischen Spiritualität. Es kann in einem erfüllten Leben nicht nur darum gehen, „Selbstheilungskräfte“ zu wecken, sondern auch die göttlichen „Fremdheilungskräfte“ zu entdecken und sich darüber zu freuen. Dies könnten „positive spirituelle Ressourcen“ sein, die in Bachs Kantaten zu finden sind. Dazu gehört auch Gottes kontinuierliche Begleitung im persönlichen Leben, wie sie etwa im Sopran-Rezitativ der Trauungskantate Gott ist unsre Zuversicht (BWV 197,7) formuliert ist: So wie es Gott mit dir getreu und väterlich von Kindesbeinen an gemeint, so will er für und für dein allerbester Freund bis an das Ende bleiben.

120 Reddemann, 131. 121 Die musikalischen Mittel, die Bach an dieser Stelle einsetzt, sind höchst eindrucksvoll: Die Solostimme begibt sich, dem zurückprallenden Pfeil gleich, auf eine zweitaktige „Irrfahrt“ mit diversen angesprungenen harmoniefremden Tönen (saltus duriusculi): das ist beste Augen-, Ohren- und Affektmusik!



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Und also kannst du sicher gläuben, er wird dir nie bei deiner Hände Schweiß und Müh kein Gutes lassen fehlen. Wohl dir, dein Glück ist nicht zu zählen.

Das ganze Leben ist umspannt von der Güte Gottes, der uns väterlich begleitet hat und unser Freund bleiben will. Das Bild des Vaters ist dabei auf die Kindheit, das des Freundes auf die Zukunft bezogen, womit eine Entwicklung in der Gottes­ beziehung zumindest angedeutet ist. Aber auch die menschliche Arbeit kommt vor. Sie macht einen großen Teil unserer Lebenszeit aus und gehört zu einem gelingenden Leben wesentlich dazu. Sie soll und darf gelingen: Bach unterstreicht dies dadurch, dass das Secco beim Ruf „Wohl dir“ in ein ­Accompagnato umbricht. Er amplifiziert dabei nicht nur den Ruf „Wohl dir“ (vgl. BWV 119,3) und lässt ihn vom Solo-Sopran gleich zehnmal singen, sondern entfaltet auf dem Verb „zählen“ auch eine schier endlose Koloratur mit 42 Sech­zehntelnoten, die durch eine dreifache Sequenz im Continuo getragen wird. Aber die folgende Sopran-Arie übertrifft diese Aussage noch: Vergnügen und Lust, Gedeihen und Heil wird wachsen und stärken und laben. Das Auge, die Brust wird ewig sein Teil  an süßer Zufriedenheit haben.

Genuss und Vergnügen, gleichsam die erotische Seite der Liebe, ja generell leibliches und geistliches Wohlergehen  – dafür stehen pars pro toto die anthro­ pologischen Begriffe „Brust“ und „Auge“ – sind miteinander im Einklang. Diese Dichtung ist Ausdruck einer heiteren, sinnlichen, ja ganzheitlichen Spiritualität, die Glück (Wohl) und Heil nicht auseinander reißt, sondern sich an beidem freut.122

7.4.5 Kreuzesnachfolge und österlicher Lobpreis Ich will dich all mein Leben lang o Gott, von nun an ehren; man soll, o Gott, den Lobgesang an allen Orten hören. Mein ganzes Herz ermuntre sich, mein Geist und Leib erfreue sich: Gebt unserm Gott die Ehre!

122 Bach musikalisiert dies durch eine wunderbare fünfstimmige Komposition mit zwei Liebesoboen, Solo-Violine und Solo-Sopran sowie Continuo im 6/8-Takt (Gigue). Die Oboen geben eine warme Farbe in der mittleren Lage und sorgen für ein delikates Ausfüllen der unbetonten Zähl­ zeiten (2 und 3 bzw. 5 und 6), die virtuose Geige schwebt mit brillanten Läufen darüber und der Sopran erzählt, singt zu, steigert von Takt zu Takt die Lust. Das tänzerische Metrum tut das Seinige, dass eine Art „Himmel auf Erden“ entsteht.

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Mit diesem Satz aus der Choralkantate Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut (BWV 117,7) klingt das berühmte und oft zitierte doxologische Motto Soli Deo Gloria an: Lobpreis als Lebenshaltung. Dies ist auch der Grundtenor der „doxo­ logischen Kantaten“, die in dieser Untersuchung einen großen Raum eingenommen haben. Wie können wir ihre Gedanken für eine zeitgenössische Spiritualität übersetzen? Und ist damit eine theologia crucis ebenso dispensiert wie eine Nachfolge des Kreuzes? Propagierte Bach eine Art eine praxis pietatis gloriae? Mit Sicherheit nicht. Insgesamt hat sich der Eindruck bestätigt, dass das Thema Kreuz und Leiden durch die vielfältige Rezeption der Bachschen Passionen und ein­ schlägiger Kantaten wie z. B. Ich will den Kreuzstab gerne tragen (BWV 56) oder Weinen, Klagen (BWV 12) zurecht von vielen Auslegern wahrgenommen wird. Allerdings sind beide Perspektiven, die der Auferstehung und die des Kreuzes auch bei Bach zusammenzuhalten. Zur Wahrheit der religiösen und der künstlerischen Aussage gehört beides. Es fasziniert bei Bach besonders, wie er das Aufeinandertreffen von Leid und Freude musikalisch „inszeniert“ und sich dabei die Erkenntnis durchsetzt, dass Gott „alles wohlgemacht hat“ (vgl. BWV 35,4). In BWV 69a (bzw. 69) finden wir eine Bassarie, die diese Erfahrung zum Klingen bringt: „Mein Erlöser und Erhalter, nimm mich stets in Hut und Wacht! / Steh mir bei in Kreuz und Leiden, / als denn singt mein Mund mit Freuden: / Gott hat alles wohlgemacht!“ Bach komponiert einen 3/4-Takt mit einer triolischen Bewegung auf den Viertelnoten, also gleichsam einen kleinen Dreier im großen Dreier, einen schnellen Tanz im langsamen. Außerdem steht der Satz in (strahlendem) D-Dur, die Bassstimme wird von allen Streichern und der Oboe d’amore begleitet. Das sieht alles ganz nach einer eindeutigen Sache zugunsten der Freude aus. Aber vergessen wir nicht: Die Kantate ist auf eine Heilung (Mk 7,31–37) bezogen; auf die Heilung eines Menschen, der eben noch weder hören noch sprechen konnte, der weiß, was „Kreuz und Leiden“ sind. Das kraftvolle Hephata im Munde Jesu bringt seine Lebenswende: Er kann auf einmal beides: hören und sogar sprechen. Leid und Freude, die beiden gegensätzlichen Affekte, liegen in dieser Biographie also denkbar nahe beieinander: In Bachs Musik (vgl. T. 36–42) treffen sie direkt auf­ einander: Ein Passus durisuculus im Continuo (T. 37–41) zieht schmerzlich nach unten, das pianissimo in der Oboe d’amore und taktweise wechselnde Septakkordrückungen lassen Momente höchster Beklemmung entstehen. Doch dann schlägt das Leiden vehement in Freude um, der Satz moduliert nach D-Dur (Oboe, T. 45 f), eine höchst virtuose, beinahe endlose Koloratur mit vielen Sechzehntel-Noten schmückt das Affektwort Freude (T. 43–48). Dies ist der anthropologische Aspekt, gleichsam die Erfahrungsseite. Doch damit nicht genug. Dann gilt es, die Heilung als befreiende Tat Gottes wahrzunehmen und ihn groß zu machen. Im Evangelium liegt dieser Lobpreis nicht etwa im Munde des Geheilten, sondern die staunende Menschenmenge preist am Ende Gott. Bach entfaltet diesen Lobpreis reich: Elfmal erklingt das Wörtchen „alles“ mit großem Nachdruck und bekommt mit „Gott“ und „Freude“ zusammen die Spitzennote im Vokalbass.

Wir können festhalten: Bachs doxologische Spiritualität ist stets geerdet, die „Begeisterung“ nicht enthusiastisch, sondern durch Anfechtung und Leiden so geprüft, dass die Glaubensaussage „Gott hat alles wohl gemacht“ umso wahrhaftiger wird. Wenn es dann aber soweit ist, dann darf die Freude auch ungebremst zur Geltung kommen und Gott gepriesen werden.

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Dankbarkeit wird von hier aus zum Schlüssel einer positiven Weltwahrnehmung, die täglich neu eingeübt werden muss und darin beides ist: Nachfolge des Kreuzes und kraftvolle Auferstehung aus der Taufe, Anfechtung zum einen und Freude in Christus zum anderen.

7.5 Abschließende Thesen zur Theologie und Spiritualität in Bachs Kantaten Im Blick auf die theologischen, spirituellen und seelsorglichen Potenziale in Bachs Kantaten sind bei weitem noch nicht alle Schätze gehoben. Wir meinen gezeigt zu haben, dass es auf die Dauer nicht genügt, in erster Linie historische Frömmigkeitszeugnisse zur Auslegung der Bachschen Kantaten hinzuzuziehen; wir sollten vielmehr versuchen, mit Bachs Kantaten als gottesdienstlicher Musik am Sonntag und im Alltag zu glauben und zu leben. Deshalb wagen wir am Ende dieser Untersuchung eine Thesenreihe, die in diese Richtung weist: Thes e 1: Bachs Kantaten „inszenieren“ Gottes verborgenes und helfendes Handeln. Sie bieten für die Erfahrung von Leid keine rationale Erklärung, schon gar nicht durch ein geschlossenes theologisches System. Dennoch versuchen sie, Gottes Verborgenheit (vgl. BWV 104,3; 81,2 u. ö.) geistlich zu erfassen, indem sie per­sönliches und gemeinsames Leid vor Gott wahrnehmen und ausbreiten (vgl. BWV 3,1). Am Abgrund der Gottverlassenheit (vgl. BWV 21,5) entsteht das Wagnis, Gott selbst als Ursache der Not anzuerkennen und deshalb gerade ihn um Hilfe anzurufen. So kommt es in dieser Krise mit Gott zu einer Wende in Gott selbst (BWV 103,6). Dieser „Stimmungsumschwung“ wird in Bachs Kantaten vielfältig inszeniert, in einem inneren geistlichen Prozess (vgl. BWV 13; 12; 103; 146) oder aber in einem Ereignis, bei dem sich Gott dem Menschen durch das Wort der Zusage (BWV 155,3–5; 2,4; 60,4) oder durch eine Christusbegegnung (BWV 21,7; 81,4, 154,5 f) zeigt. Thes e 2: Bachs Kantaten helfen, Leid und Trauer auszuhalten und zu bewältigen. In einer „argen Welt“ (BWV 138,1) geben sie Sprache und Klang, Rhythmus und Melodie, um Trauer auszudrücken (vgl. BWV 12,2) und damit Leid nicht zu verdrängen. Sie klagen Gott seine rätselhafte Ferne (BWV 21,4), ja rebellieren sogar gegen ihn (vgl. 13,2 f), verdrängen also eigene (vgl. BWV 13,1; 21,3) und fremde Not (vgl. BWV 2,4) nicht. Die Klagekantaten nehmen uns mit auf einen Klangweg hinein in Trauer und Verzweiflung, eröffnen aber auch Zugänge zu neuer Gelassenheit (BWV 155,3; 21,6), die sich sogar in Freude verwandeln kann (vgl. BWV 154,7; 13,5; 21,10; 32,5). So können sie dazu helfen, persönliche Lebens­ krisen in einem neuen Licht zu sehen und aufzuarbeiten. Dabei verändert sich anthropologisch gesehen auch das „Gottesbild“. Thes e 3: Bachs Kantaten reden von menschlicher Schuld auf der einen und von ­Gottes Gericht und Vergebung auf der anderen Seite. Sie bieten musikalische

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Abschließende Thesen

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Sprach- und Glaubensformen, die dazu anleiten, sich im Lichte Gottes selbst zu erkennen (vgl. BWV 102,1–6) und persönliche oder gemeinsame Schuld (vgl. BWV 168,2 bzw. 101,1) auszusprechen und vor Gott zu bringen. Sie bitten um Vergebung (vgl. BWV 55,3), bringen aber auch an vielen Stellen das „lösende“ und befreiende Wort der Zusage in seiner performativen Kompetenz zum Leuchten (vgl. BWV 135,5). Dies gilt besonders im Hinblick auf die Vorstellungen vom Gericht am Jüngsten Tag: „Die Schuld ist durchgestrichen“ (BWV 168,4). Thes e 4: Bachs Kantaten eröffnen neue Perspektiven einer theologischen Verantwortungsethik. Die „Mandate“123 von Kirche und Familie, Arbeit und Obrigkeit werden in gegenseitigem Respekt wahrgenommen und unter dem Leitbegriff göttlichen Segens betrachtet (vgl. BWV 190,6). Dabei wird festgehalten, dass Gott im Regiment sitzt (vgl. 71,5; 119,2) und Geber aller guten Gaben ist (vgl. (BWV 163,2; 197,2). Gottes Fürsorge und Treue (vgl. BWV 117,3.5; 99,2) bildet sich in einer wechselseitigen Verantwortung der Mandate füreinander und für die Schöpfung ab. So bekommt „jeder das Seine“(vgl. BWV 163,1) und Gott die Ehre. Thes e 5: Bachs Kantaten begeistern für die Schönheit der Welt Gottes. Sie nehmen die Welt als Buch der Natur und als klingende Schöpfung wahr und animieren dazu, darin Gottes Stimme und Handschrift, ja eine persönliche Anrede des Schöpfers (BWV 17,2; 76,2) zu entdecken. Sie bieten klingende Sprach- und Lebensformen für eine doxologische Existenz, die Gottes Handeln im eigenen Leben (vgl. BWV 120a,2) und in der Geschichte nachsinnt (vgl. BWV 69,4; 29,4), sich daran freut und Gott die Ehre gibt (vgl. BWV 29,6–8). Thes e 6: Bachs Kantaten vermitteln Vertrauen in das Wort der Bibel und Freude am Gebet. Fast alle Kantaten führen uns hinein in die Welt der heiligen Schrift, die meditiert, d. h. als Richtschnur „in die Mitte gestellt und bedacht“ (meditari) wird (vgl. BWV 45,1 f). Sie ermutigen dazu, den christlichen Glauben im Zusammenspiel von Gebet, Schrift und Erfahrung (Oratio, Meditatio und Tentatio) zu er­ proben und so das eigene Leben immer wieder neu auf Christus hin auszurichten (vgl. BWV 67,1 f; 85,5; 173,4) und dem Gekreuzigten und Auferstandenen nachzufolgen (vgl. 76,12; 56,1; 12,4 f). Thes e 7: Bachs Kantaten unterscheiden und integrieren disparate religiöse Er­ fahrungen. Gottes Offenbarung in Gericht und Gnade, seine rätselhafte Verborgenheit und gütige Fürsorge werden in Bachs Musik facettenreich wahrgenommen und (nach)erlebt. Poesie und Musik helfen dazu, dissonante Welt- und Gotteserfahrungen vom Evangelium in Christus her zu beleuchten und damit Licht in die ambivalente conditio humana zu bringen. Ohne die Brüche zwischen Gott und Mensch (BWV 55,1–3; 135,1–4) bzw. Gott und Welt (vgl. BWV 14; 178) zu verschweigen, ist Bachs Musik ein klingendes Zeichen dafür, dass Gott es dennoch „gut mit uns meint“ (BWV 188,3). Sie zeigt, wie Feindschaft ein

123 Vgl. Bonhoeffer, 392–398.

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Zusammenfassung und Ausblick

Ende finden (vgl. BWV 14,4 f) und Zerbrochenes wieder heil werden kann (vgl. BWV 48,6). Thes e 8: Bachs Kantaten eröffnen neue Zugänge zum Gottesdienst. Einige Kantaten ermutigen unmittelbar zum gottesdienstlichen Fest (vgl. BWV 194; 148). Viele bilden selbst gottesdienstliche Strukturen von Wort und Antwort, Gebet und Segen ab und lassen das dialogische Zusammenspiel von Bitte und Erhörung, Zuspruch und Vertrauen transparent werden, das zueilen in einer Verschränkung der Zeiten wahrzunehmen ist (vgl. BWV 190,2). Sie regen dazu an, diesen Reichtum in eine zeitgenössische Gottesdienstgestaltung hinein zu übersetzen. Als geprägte „liturgische Formen“ (vgl. etwa zum Segen: BWV 196 und 197,7 bzw. 190,6) können auch einzelne Sätze einer Kantate an dafür geeigneten Stellen musiziert und mit anderen gottesdienstlichen Stücken verbunden werden. Thes e 9: Bachs Kantaten oszillieren als affizierende Musik zwischen den Gefühlsräumen Trauer und Freude, Angst und Hoffnung. Der Affekt der Trauer bzw. des Schmerzes wird musikalisch z. B. durch ein langsames Tempo, kleine Intervalle, „harte Sprünge“, starke harmonische Dissonanzen und dunkle Molltonarten ausgedrückt und bewirkt. Theologisch gehört er auf die Seite der Klage bzw. zur Erfahrung der Verborgenheit Gottes. Furcht und Reue sind musikalisch oft ähnlich dargestellt und lassen sich theologisch auf der Seite des anklagenden und richtenden Gesetzes verorten. Der Affekt der Freude ist dagegen den Heilstaten Gottes zuzuordnen, die ihrerseits Inhalt des Evangeliums sind. Musikalische Parameter sind ein geschwindes Zeitmaß, zuweilen auch der tänzerische Dreiertakt, helle Tonarten (z. B. C- oder D-Dur), ggf. eine hohe Lage und eine festliche Be­ setzung sowie schmückende Koloraturen. Thes e 10: Bachs Kantaten machen Gebrauch von musikalisch-rhetorischen Figuren, um Menschen musikalisch zu affizieren. Sie überzeugen und bewegen, rühren an und erfreuen. Bach konnte für seine textgebundenen Werke auf ein Repertoire geläufiger musikalisch-rhetorischer Figuren zurückgreifen, die er in den übergeordneten Dienst der Erzeugung eines bestimmten Affekts stellte. Diese Figuren sind weder ein in sich schlüssiges semantisches Alphabet noch ein esoterisches System, sondern Hilfen zur „elaborirung eines textes“ (Johann G. Walther). Sie sind Bausteine in einem Ensemble „sprechender Musik“, deren ganzheitliches Ziel es ist, Menschen gedanklich zu überzeugen, aber auch emotional anzurühren und willentlich zu bewegen, indem sie Erfahrungen mit Gott vergegenwärtigen und bewusst machen. Thes e 11: Bachs Kantaten ermutigen zu einem geistlichen Leben in Fülle. In einem pneumatologisch qualifizierten Sinne werden Menschen durch sie be­ fähigt, die Welt der Schrift und die Welt der persönlichen Erfahrung auf der Ebene eines ganzheitlichen Erlebens miteinander zu verknüpfen. Im Spannungsfeld der Affekte Furcht und Hoffnung (vgl. BWV 60 und BWV 66,4 f), Trauer und Freude (vgl. BWV 21; 155,1–3; 13,4 u. a.) und der Gebetsformen Klage, Bitte, Dank und Anbetung (vgl. BWV 190,2) bildet sich in Bachs Kantaten ein Leben ab, das

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Anstelle eines Schlussworts

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Licht und Schatten kennt, das ganz bei sich und ganz bei Gott ist und gerade darin be­ziehungsfähig und welt-offen bleibt. So werden irdisches Glück und leibliches Wohl auf der einen und die Charismen des Geistes auf der anderen Seite nicht auseinander gerissen, sondern ganzheitlich wahrgenommen und genossen (vgl. BWV 69,5 bzw. 197,8). Thes e 12: Bachs Kantaten halten, getragen vom Wort der Heilszusage, die Hoffnung auf den Himmel wach (vgl. BWV 146,7; 145,4; 149,4 f; 112,5; 105,4). Eine solche, eschatologisch offene Spiritualität sehnt sich danach, schon jetzt bei Gott zu sein (vgl. BWV 161,1; 95,1; 8,4; 31,8). Diese Hoffnung gründet in der Kraft der Auf­ erstehung Christi (vgl. BWV 31,5–7; 134,3). Sie lässt jetzt schon seine Güte schmecken (BWV 104,5) und gibt Anteil an einer geistlichen Energie, die Trauer und Sorge „verjagt“ (vgl. BWV 66,1 f bzw. 145,4 f). Thes e 13: Bachs Kantaten erschließen neu das trinitarische Credo. In Natur und Geschichte entdecken sie Zeugnisse der Offenbarung des Schöpfers, ja erkennen in den Gaben der Schöpfung den sich herabneigenden Gott selbst, der „durch die Kreatur“ hindurch Menschen zu sich ruft und einlädt. (vgl. BWV 76,2). An vielen Stellen predigen und rühmen sie den Mensch gewordenen und heilenden, leidenden und auferstandenen Christus als Herrn der Kirche und der Welt (vgl. BWV 110; 121; 190; 7; 81; 23; 31, 134). Die Freude in Christus (vgl. Phil 4,4) ist für Bach und seine Dichter nicht nur Schlüssel zum Lobpreis, sondern auch zur Erkenntnis des dreieinigen Gottes. Der Heilige Geist ist es, der diese Erkenntnis durch die Heilige Schrift und ihre Affekte erschließt, indem er Gottes Willen auslegt und ihn anzurufen lehrt (vgl. 173,4). Er erscheint als erquickende Kraft und Freude (vgl. BWV 76,6; 73,2; 112,4), als orientierende Hilfe (vgl. BWV 112,2; 190,4), aber auch als persönlicher Tröster (vgl. BWV 129,3), ja als persönliches Gegenüber inniger Liebe (vgl. BWV 172,5; 34,1). Thes e 14: Bachs Kantaten verherrlichen den dreieinigen Gott. In unzähligen Varia­ tionen geben sie, verkündigend und rühmend, dem Schöpfer und Weltenlenker, dem Erhalter und Erlöser, dem Tröster und Vollender (vgl. BWV 129,1–3), dem „Gott, der alle Wunder tut und „alles wohl macht“ (vgl. BWV 100; 117; 69,5 f) ,die Ehre. Bachs doxologische Vokalmusik erhebt und erfreut Menschen und macht Gott schön. Sie verherrlicht damit nicht nur Gott, sondern heiligt und verwandelt auch die Welt, deren Mitte und Grund Christus ist (vgl. BWV 76,3). Sie erweist sich darin als Kulturträgerin par excellence, sie ist cultus Dei und cultura mundi. Sie vollzieht das, was nicht nur Lebensmotto J. S. Bachs war, sondern auch für viele Christen seiner Zeit als spirituelle Devise galt: Soli Deo Gloria.

7.6 Anstelle eines Schlussworts Die Beschäftigung mit der Kunst J. S. Bachs und der bildreich-dialogischen Poesie seiner Dichter hinterlässt ästhetische und spirituelle Spuren: Spuren der Wahrnehmung des Göttlichen in der Welt, aber auch der Vergewisserung und des

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Zusammenfassung und Ausblick

Trostes im eigenen Leben. Wer sich mit Bachs Kantatenkosmos beschäftigt, wird mit hinein genommen in ein dialogisches Wechselspiel zwischen Gott, Welt und eigenem Glauben, das auf eine Begegnung mit Christus hinzielt. In dieser Begegnung kommen Gottes rätselhafte Verborgenheit, sein souveränes Welthandeln und sein heiliges Gericht durch die „andächtige Musique“ Bachs an ihr vorläufiges Ziel. Ulrich Meyer schreibt dazu treffend: „Auf die Frage, was die Einheit der Tonsprache eines der großes, vielleicht des größten Komponisten, theologisch bedeutet, lässt sich folgende gegenwartsbezogene Antwort geben: Für uns klafft so vieles auseinander: Friedenswille und politisch-militärische Polarisierung; Wohlstandsleben und Hungersterben; christlicher Glaube und kirchliche Wirklichkeit; Wollen und Vollbringen in ganz persönlichen Bereichen. In solchen Entzweiungen erfahren wir die Realität der Sünde. In Bachs Musik aber wird uns ein klingendes Zeichen gegeben, wie ein versöhntes, das heißt wieder zur Einheit gebrachtes Leben aussehen könnte.“124



124 Meyer, Einheit, 255.

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Literatur Soweit nicht anders vermerkt, folgen wir mit den Abkürzungen der Zeitschriften den Loccumer Richtlinien bzw. dem Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG) von Siegfried Schwertner (Berlin 1974).

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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II. Monographien, Aufsätze und weitere Sekundärliteratur Ambros e, Philip p, „Weinen Klagen, Sorgen Zagen“ und die antike Redekunst, BJ 1980, 35–45. (=Ambrose, Weinen, Klagen) Amel ung, E ber har d, Gericht Gottes V. Neuzeit und ethisch, TRE 12, 492–497. (=Amelung) Ar no ld , Jochen, Der ganze Gott für den ganzen Menschen, Für den Gottesdienst 60, 2004, 7–11. (=Arnold, Der ganze Gott) – Doxologie und Dogmatik. Johann Sebastian Bachs doxologische Kantaten als musiktheologisches Paradigma, in: U. Körtner, (Hg.), Poetologische Theologie: zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen. Ein Werkstattbericht, Ludwigsfelde 1999, 141–184. (=Arnold, Doxologie) – Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz. Affekte in der protestantischen Kirchenmusik am Beispiel der Kantaten J. S. Bachs, in: W. Kabus/T. Feist (Hg.), Geistreiche Klänge – sinnliche Orte, Popularmusik und Kirche, Bd. 4, Frankfurt a. M. 2008, 45–64. (=Arnold, Hoffnung, Furcht, Freude, Schmerz) – Kirchenlied und jüdisch-christlicher Dialog am Beispiel ausgewählter Psalmlieder, in: A. Deeg/ I. Mildenberger (Hg.), „… dass er euch auch erwählet hat“, Leipzig 2006, 173–201. (=Arnold, Kirchenlied) – Musik bei Kasualien. Beitrag zum religiösen Partyservice oder Quelle geistlicher Kraft?, Für den Gottesdienst 61, 2005, 22–29. (=Arnold, Musik bei Kasualien) – Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik, 2Hanno­ ver 2008. (=Arnold) – und Baltruweit, Fritz, Psalmen und Lesungen lebendig gestalten, Hannover 2004. (=Arnold/Baltruweit) Aur eli us, Cor neli us A., Lebensdeutung im Lichte der Psalmen. Einige Gesichtspunkte, besonders zu dem Umgang Luthers mit dem Psalter, in: Welthandeln und Heils­handeln Gottes. Deus absconditus – Deus revelatus, LAR Bd. 29, hg. v. J. Heubach, Erlangen 1999, 61–73. (=Aurelius) Austin, J ohn L., Z ur Theorie der Sprechakte. Dt. Bearbeitung v. E.v. Savigny, Stuttgart 21994 [How to do things with Words]. (=Austin) Axmacher , Elke, „Aus Liebe will mein Heiland sterben“. Untersuchungen zum Wandel des Pas­ sionsverständnisses im frühen 18.  Jahrhundert. Beiträge zur theologischen Bachforschung 2, Neuhausen-Stuttgart 1984. (=Axmacher, Aus Liebe) – Bachs Kantatentexte in auslegungsgeschichtlicher Sicht, in: M. Petzoldt (Hg.): Bach als Ausleger der Bibel, Berlin 1985, 15–32. (=Axmacher) – Die Texte zu Johann Sebastian Bachs Choralkantaten, Bachiana et alia musicologica, Kassel 1983. (=Axmacher, Texte) – Erdmann Neumeister – ein Kantatendichter J. S. Bachs, MuK 60, 1990, 294–302. (=Axmacher, Neumeister) Bal tr uweit , Fr itz/v on Lingen, Jan, Gottesdienstportale. Neue Eingangsliturgien für das Kirchenjahr (gemeinsam gottesdienst gestalten Bd. 8), Hannover 2007. (=Baltruweit/v.Lingen) Bar tel, D ietr ich, H andbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 1985. (=Bartel)

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

– Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, Kassel 2006. (=Walter, Weihnachtsoratorium) – Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen. BWV 12, MuK 1996, 66–80. (=Walter, Weinen) Weber , Mat thi a s, Bachs Kantaten predigen, Dt. Pfrbl. 2001, 406–410. (= Weber, Bachs Kantaten predigen) Wer themann, Helene, Zum Text der Bach-Kantate 21 ‚Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen‘, BJ 1965, 135–143. (=Werthemann) Westermann, C l aus, Der Psalter, Stuttgart 1967. (=Westermann) – Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 51977. (=Westermann, Lob und Klage) Wetzel, Chr ist oph, Die Psalmen in Bachs Kantaten im De tempore der Leipziger Schaffens­ periode, in: M. Petzoldt (Hg.), Bach als Ausleger der Bibel, Berlin 1985, 131–150. (=Wetzel, Psalmen) Wolff , Chr ist oph, Bachs Leipziger Kirchenkantaten: Repertoire und Kontext, in: ders./T. Koopman (Hg.), Die Welt der BACH-Kantaten, Bd. III, Stuttgart/Weimar/Kassel 1999, 13–35. (=Wolff, Kirchenkantaten) – Johann Sebastian Bach, Frankfurt a. M. 2000. (=Wolff) – „Die betrübte und wieder getröstete Seele“: Zum Dialog-Charakter der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“, BJ 1996, 139–145. (=Wolff, Dialog-Charakter) – Choräle, in: ders./T. Koopman (Hg.), Die Welt der BACH-Kantaten, Bd.  III, Stuttgart/Kassel 1999, 213–221. (=Wolff, Choräle) Wolff , Hans Wal ter , Anthropologie des Alten Testaments, München 1973. (=Wolff, Anthropologie) Wollny , Peter , Das geistliche Kantatenschaffen von Bachs Zeitgenossen, in: C. Wolff/T. Koopman (Hg.), Die Welt der BACH Kantaten, Bd. III, Stuttgart/Kassel 1999, 37–50. (=Wollny) Zank ow, Ser gej, D as orthodoxe Christentum des Ostens, Berlin 1928. (=Zankow) Zobl-R uh, Susanne/B eier lein, Tilman, Internationale Bach-Tage Zürich, Musik und Gottesdienst 2005, 209–231. (=Zobl-Ruh/Beierlein) Zur M ühlen, K ar l-H einz, A rt. Affekt II. Theologiegeschichtliche Aspekte, TRE 1, 599–612. (=Zur Mühlen)

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