Von Flaschenpost bis Fischreklame: Die Wahrnehmung des Meeres im 19. und 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783412510145, 9783412509521

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Von Flaschenpost bis Fischreklame: Die Wahrnehmung des Meeres im 19. und 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412510145, 9783412509521

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Von Flaschenpost bis Fischreklame Die Wahrnehmung des Meeres im 19. und 20. Jahrhundert

Jens Ruppenthal, Ruth Schilling, Martin P. M. Weiss (Hg.)

Jens Ruppenthal, Ruth Schilling, Martin P. M. Weiss (Hg.)

Von Flaschenpost bis Fischreklame Die Wahrnehmung des Meeres im 19. und 20. Jahrhundert

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Eugene Gustav Dücker, Nördlicher Strand / Abendliche See, Ölgemälde, 19. Jahrhundert, Sammlung DSM. Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51014-5

INHALT DANK

Jens Ruppenthal, Ruth Schilling, Martin P. M. Weiss DAS MEER WAHRNEHMEN Kontinuität und Wandel im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . 9

Christian Holtorf EIN ARKTISCHER OZEAN Josef Chavanne, das „ewige Eis“ und die Vorläufer der Klimadiagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Dorit Müller ZWISCHEN WISSENSOBJEKT, MEDIENLABOR UND UMWELT Zur Wahrnehmung der Eismeere seit 1800 . . . . . . . . . . . . 47

Wolfgang Struck FLASCHENPOST – FLASCHENSCHWINDEL . . . . . . . . . . .

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Ole Sparenberg DER OZEAN SELBST, VON EINER BESONDEREN SEITE ANGESEHEN Die völkerrechtliche Wahrnehmung des Meeres seit 1945 . . . . . . 91

Ruth Schilling DAS MEER AUSSTELLEN Das Museum für Meereskunde und die Wahrnehmung des Meeres um 1900 . . . . . . . . . . . . . 111

Jens Ruppenthal „AUS DEM MEER! AUS DER DOSE!“ Konservierte Wahrnehmung der Nahrungsquelle Meer . . . . . . 129

Hans-Christian Bresgott AUF SAND GEBAUT – VERSUCHSRAUM KÜSTE Natur und Geschlecht im Seebad des frühen 19. Jahrhunderts . . . . 151

Martin P. M. Weiss DIE FRIEDLICHE EROBERUNG DER OZEANE Meeresforschung in der DDR-Zeitschrift „Urania“ . . . . . . . . 173

Franziska Torma HYDROTOPISCHE MOMENTE Wahrnehmung, Historizität und Epistemologie der Meere . . . . . .191

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN . . . . . . . . . . . . . . 205

INDEX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

DANK Über die Wahrnehmung des Meeres lässt sich an vielen Orten reflektieren, aber sicher besonders gut in einem Museum, in dessen Sammlung vielfältige Stimmen, Meinungen, Wertungen und Gestaltungen zum Meer überdauert haben. Dieser Sammelband geht zurück auf einen Workshop, der im Dezember 2014 im Deutschen Schifffahrtsmuseum/Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DSM) stattfand, um verschiedene Aspekte der „Wahrnehmung des Meeres“ zu erschließen. Die Geschäftsführende Direktorin des DSM, Sunhild Kleingärtner, hat das Projekt dieses Bands mit persönlichem Interesse begleitet. Er kann dank der finanziellen Unterstützung des DSM erscheinen. Besonders hervorheben möchten wir den Einsatz von Erik Hoops, der die Texte wissenschaftlich redigiert hat. Niklas Pulinski hat als studentische Hilfskraft einige knifflige Recherchen übernommen. Damit letztlich alle dieses Buch in Händen halten können, haben schließlich Johannes van Ooyen und der Böhlau Verlag mit Rat und Tat zu seiner Entstehung beigetragen. Vor allem aber möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, die in ihren Beiträgen analysiert und deutlich gemacht haben, welchen verschlungenen Wegen die menschliche Sicht auf das Meer folgt. Jens Ruppenthal, Ruth Schilling, Martin P. M. Weiss Bremen/Bremerhaven, August 2018



Jens Ruppenthal, Ruth Schilling, Martin P. M. Weiss

DAS MEER WAHRNEHMEN KONTINUITÄT UND WANDEL IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

Die Geschichte des Meeres ist in letzter Zeit populär geworden. Auf dem Buchmarkt erschienen in den vergangenen Jahren diverse Titel, die von fachkundiger Hand geschrieben wurden und sich gleichwohl an eine breite Leserschaft richten. Teilweise handelt es sich dabei um Versuche, maritime Weltgeschichte zu schreiben. Lincoln Paine beispielsweise veröffentlichte 2013 The Sea & Civilization: A Maritime History of the World und betrachtete im Sinne eines globalen Zugriffs nicht nur Schiffbau und Seehandel, sondern auch Kunst und Religion.1 Gleiches gilt für Michael Norths 2016 erschienenes Buch Zwischen Hafen und Horizont. Weltgeschichte der Meere. Unter der „Konnektivität der Meere“ versteht er sowohl die Verbindung der Kontinente durch Meere als Transiträume als auch die ­Verbundenheit der Meere und Ozeane untereinander.2 Jüngstes Beispiel im deutschsprachigen Raum ist derzeit Jürgen Elverts Monographie Europa, das Meer und die Welt, die ebenfalls den Anspruch erhebt, Geschichte vom Meer aus zu denken, und dies aus dezidiert europazentrierter Warte.3 Ein populäres Interesse an der Maritimen Geschichte spiegelt indes nicht nur der Buchhandel. Fern der Küste widmen Museen und Ausstellungshäuser ohne etatmäßigen schifffahrtshistorischen oder meeresnaturkundlichen Schwerpunkt maritimen Themen größere Ausstellungen.4 Daneben entstehen derzeit europaweit größere Umgestaltungs1 2 3 4

Lincoln Paine, The Sea & Civilization. A Maritime History of the World, New York 2013, S. 4. Michael North, Zwischen Hafen und Horizont. Weltgeschichte der Meere, München 2016, S. 13. Jürgen Elvert, Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit, München 2018. Europa und das Meer, Deutsches Historisches Museum, 13. Juni 2018 bis 6. Januar 2019, Katalog: Dorlis Blume/Christiana Brennecke/Ursula Breymayer/Thomas Eisentraut (Hg.),

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und Neubauprojekte schifffahrtsgeschichtlicher Museen, die darauf hinweisen, dass auch die jeweiligen Mittel- und Ideengeber auf ein reges Publikumsinteresse hoffen und von der gesellschaftlichen Relevanz einer historisch fundierten Auseinandersetzung mit dem Meer überzeugt sind.5 Das gestiegene Interesse am Meer als Geschichtsraum ist jedoch beileibe nicht nur ein Publikumsphänomen. Seit einigen Jahren genießt das Meer auch in der Historiographie und in den wissenschaftlichen Publikationen verwandter Disziplinen erhöhte Aufmerksamkeit. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich ebenso um seine Beschreibung und Einordung wie Kultur-, Literatur- oder Sozialwissenschaften, wie verschiedene Tagungsbände6 und Monographien7 belegen. In Abgrenzung zur Maritime History oder zur Schifffahrtsgeschichte geht es in diesen Werken nicht um die gleichsam traditionellen maritimen Themen Schiffbau, Schifffahrt, Marine und Fischerei,8 sondern um deren lange Zeit wenig beachtetes kul-

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Europa und das Meer, Berlin/München 2018; Tiefsee, Ausstellungszentrum Lokschuppen Rosenheim, 23. März bis 2. Dezember 2012, Katalog: Gerold Wefer/Frank Schmieder/Stephanie Freifrau von Neuhoff (Hg.), Tiefsee. Expeditionen zu den Quellen des Lebens. Begleitbuch zur Sonderausstellung im Ausstellungszentrum Lokschuppen Rosenheim, 23. März bis 4. November 2012, Rosenheim 2012. Vgl. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum/Leibniz-Institut für maritime Geschichte: https://www.logbuch-bremerhaven.de/wenn-die-baustelle-zum-ausstellungsort-wird-deutsches-schifffahrtsmuseum-auf-spannendem-kurs-in-richtung-zukunft/ (letzter Zugriff: 29.8.2018) oder auch das Musée Marine Mer in Bordeaux, dessen Eröffnung für Frühjahr 2019 vorgesehen ist: https://www.museedelamerbordeaux.fr (letzter Zugriff: 29.8.2018). Marta Grzechnik/Heta Hurskainen (Hg.), Beyond the Sea. Reviewing the Manifold Dimensions of Water as Barrier and Bridge, Köln/Weimar/Wien 2015; Alexander Kraus/ Martina Winkler (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert (Umwelt und Gesellschaft, Bd. 10), Göttingen 2014; Rudolf Holbach/Dietmar von Reeken (Hg.), „Das ungeheure Wellen-Reich“. Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15), Oldenburg 2014; Thomas Brandstetter/Karin Harrasser/Günther Friesinger (Hg.), Grenzflächen des Meeres, Wien 2010; Bernhard Klein/Gesa Mackenthun (Hg.), Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 7), Konstanz 2003. Dieter Richter, Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft, Berlin 2014; John Mack, The Sea. A Cultural History, London 2011; Philip E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge 2001. Die Maritime History charakterisieren z.B. Frank Broeze, Introduction, in: ders. (Hg.), Maritime History at the Crossroads: A Critical Review of Recent Historiography (Research in Maritime History 9), St. John’s 1995, IX–XXI; Lewis R. Fischer, Are We in Danger of Being Left with Our Journals and Not Much Else: The future of maritime history? In: The Mariner’s Mirror 97, 1 (2011), S. 366–381; John B. Hattendorf, Maritime History Today. in: Perspectives on History, February 2012, URL: http://www.historians.org/pub-

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turhistorisches Potenzial. Drei der Sammelbände präsentieren Ergebnisse der historischen Forschung und weisen das gemeinsame Merkmal auf, dass sie zur Entwicklung neuer Perspektiven auf das Meer als Geschichtsraum auffordern. Rudolf Holbach und Dietmar von Reeken leiten „Das ungeheure Wellen-Reich“ mit der Forderung nach einer historischen Erweiterung der auf „naturwissenschaftlich-technische Ansätze“ limitierten Auseinandersetzung mit dem Meer ein. Insbesondere der Anspruch einer nachhaltigeren Nutzung der Meere in der Zukunft erfordere die Integration von kulturhistorisch erzielten Erkenntnissen über „menschliche Wahrnehmungen, Ängste, Wünsche, Projektionen usw.“ Ansonsten drohten „technokratische Lösungen“, die „nicht an die Erwartungen und Bedürfnisse der handelnden Menschen und […] Gesellschaften angepasst“ seien.9 Der zeitliche Rahmen der Beiträge des so begründeten Bandes umfasst die drei Großepochen von Antike, Mittelalter und Neuzeit sowie europäische und asiatische Meeresräume. Demgegenüber sind die Texte in dem ebenfalls 2014 erschienenen und von Alexander Kraus und Martina Winkler herausgegebenen Band Weltmeere auf das „lange“ 19. Jahrhundert beschränkt und behandeln vorrangig wissens- und wissenschaftshistorische Themen, nehmen dabei allerdings ganz unterschiedliche Weltregionen in den Blick. Kraus und Winkler zufolge gehen sie der „Komplexität menschlicher Wahrnehmung, Strukturierung, Nutzung und Orientierung des Meeres“ nach.10 Das übergeordnete Ziel des Bandes sei eine „Pluralisierung der kulturellen Meeresforschung“, um den indifferenten Vorstellungen von simplifizierenden Kollektivsingularen wie „das Meer“ und „der Mensch“ entgegenzuwirken.11 Der dritte hier zu nennende Sammelband, Beyond the Sea, herausgegeben von Marta Grzechnik und Meta Hurskainen, fragt schließlich nach den trennenden wie den verbindenden Eigenschaften von Meeren (und im Einzelfall von Flüssen). Einzelne Beiträge des Bandes beziehen sich auf Antike und Mittelalter, die Mehrzahl jedoch auf Frühe und Späte Neuzeit. Wiederum einzelne betrachten lications-and-directories/perspectives-on-history/february-2012/maritime-history-today (letzter Zugriff: 30.04.2018). Einen Überblick zu Schlagworten der Maritime History gibt das Nachschlagewerk John B. Hattendorf (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Maritime History, Oxford 2007. 9 Rudolf Holbach/Dietmar von Reeken, Das Meer als Geschichtsraum, oder: Warum eine historische Erweiterung der Meeresforschung unabdingbar ist, in: dies. (Hg.), „Das ungeheure Wellen-Reich“. Bedeutungen, Wahrnehmungen und Projektionen des Meeres in der Geschichte (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft, Bd. 15), Oldenburg 2014, S. 7–22. 10 Alexander Kraus/Martina Winkler, Weltmeere. Für eine Pluralisierung der kulturellen Meeresforschung, in: dies. (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert (Umwelt und Gesellschaft, Bd. 10), Göttingen 2014, S. 9–24, hier S. 12. 11 Vgl. ebd., S. 12–20.

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globale Perspektiven, während ansonsten ein klarer regionaler Fokus auf dem Ostseeraum liegt. Die verbindende Zielsetzung ist eine Analyse von interessegeleiteten Zuschreibungen und Perspektiven historischer Akteure auf maritime Räume und damit einmal mehr die Frage nach Bedeutungszuweisungen in Abhängigkeit von spezifischen Kontexten.12 Ein vergleichbares Ziel verfolgt der im Jahre 2017 erschienene Sammelband „Ozeane. Mythen, Interaktionen und Konflikte“, der aus zwei Gründen verdienstvoll ist: Erstens unterstreichen mehrere Beiträge die Wichtigkeit eines maritimen Bewusstseins bis hin zum Leitmotiv der politischen Kultur in geographisch meeresfernen Gebieten. Zweitens unternimmt der Band immer wieder einen Blickwechsel – von Europa auf das Meer hin zu einer tatsächlichen Globalgeschichte der Wahrnehmung des Meeres.13 An dieser Stelle lässt sich die Untersuchung von differenten Wahrnehmungen und Deutungen des Meeres im historischen Wandel als kleinster gemeinsamer Nenner der jüngeren kulturgeschichtlichen Forschung zu maritimen Themen ausmachen. Damit stellt sich die Frage, wie der vorliegende Band einzuordnen ist und was er zu einer durchaus beeindruckenden Diskussion beitragen kann. Denn angesichts der zahlreichen Publikationen der letzten Jahre kann keineswegs mehr die Rede davon sein, dass die geistes- und kulturwissenschaftliche Erforschung der Meere und Ozeane noch immer ein ausgesprochenes Desiderat sei. Zwei Aspekte finden jedoch bei der dynamischen Entwicklung der Aufmerksamkeit für das Maritime in der Geschichte weiterhin wenig Beachtung: Erstens ist es eine nähere, stärker methodisch ausgerichtete Betrachtung der spezifischen Medien, in denen sich historische Wahrnehmungen und Deutungen des Meeres niederschlugen und die als Quellen die Grundlage der retrospektiven Interpretation jener Wahrnehmungen und Deutungen bilden. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes analysieren ihre Quellen dabei mit einem besonders scharfen Blick für Umbrüche und Kontinuitäten im historischen Umgang mit dem Meer. Auf die Frage nach der Identifizierbarkeit von Momenten des Wandels geht diese Einleitung später noch einmal ein. Zweitens ist es eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrnehmung, der vielfach eher pauschal verwendet und dem die Deutung subsumiert wird, um unterschiedlichste Formen des Ausdrucks von Ansichten, Meinungen 12 Marta Grzechnik/Heta Hurskainen/Alexander Drost, Beyond the Sea. Introduction, in: Marta Grzechnik/Heta Hurskainen (Hg.), Beyond the Sea. Reviewing the Manifold Dimensions of Water as Barrier and Bridge, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 9–15, besonders verdichtet S. 13–14. 13 Friedrich Edelmayer/Gerhard Pfeisinger (Hg.), Ozeane. Mythen, Interaktionen und Konflikte (Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder, Bd. 16), Münster 2017.

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und Werturteilen über das Meer in schriftlichen oder bildlichen Erzeugnissen zu bezeichnen. Dabei ist es gerade „die Wahrnehmung“, durch die „das Meer“ in der Historiographie darstellbar wird. Es ist deshalb ein zentrales Anliegen dieses Bandes, die „Wahrnehmung des Meeres“ in verschiedenen Fallbeispielen zu differenzieren und so, im Sinne der Forderung von Kraus und Winkler, der Verfestigung von vereinfachenden Kollektivsingularen entgegen zu wirken. Damit erscheint „das Meer“ hier zunächst variantenreich und uneinheitlich. Die Varianten basieren dabei nicht vorrangig auf den geographischen oder zeitlichen Kontexten, die von den Autorinnen und Autoren zur Eingrenzung ihrer Untersuchungsgegenstände gewählt wurden, sondern auf der durch die jeweiligen Medien respektive Quellen geformten Wahrnehmung und Deutung.

DAS MEER UND DIE MEDIEN „La mer n’existe pas“ – so ließen sich in Anlehnung an einen französischen Chansontitel die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes zusammenfassen.14 Alle vermitteln einen Blick auf das Meer vom Land aus, gegossen in auf Dauer gestellte Formen der Kartographie, der Postkarte oder auch Fischdosen. Kein einziger reflektiert die Wahrnehmung derjenigen, deren Lebenswelt sich hauptsächlich auf dem Meer abspielt, also der Seeleute und Fischer. Die Geschichte einer Wahrnehmung des Meeres vom Meer aus wäre also noch zu schreiben.15 Die vorliegenden Beiträge sind aber für die Einbettung des Meeres in politische, wissenschaftliche und mediale Wandlungsprozesse vom 18. bis zum 20. Jahrhundert aufschlussreich. Sie zeigen, überspitzt zusammenfasst, die „Erfindung“ des Meeres in diesem Zeitraum. Um das Meer wahrnehmen zu können ist es notwendig, es überhaupt erst einmal als etwas Wahrnehm- und damit Beschreibbares zu definieren. Die Widersetzlichkeit des Meeres gegenüber der dafür notwendigen Fest-Stellung wird bis heute an den Diskussionen über die terminologische Fassung von „Meer, Meere, Ozeane“ deutlich wie auch in der Unsicherheit, wie weit denn maritime Kulturen ins Landesinnere reichen.16 14 ART Mengo, La mer n’existe pas, Sony Music 1995. Vgl. https://www.youtube.com/ watch?v=5K0D3Ms4Wnw (letzter Zugriff: 16.5.2018). 15 Diesem Anspruch des Standortwechsels folgen auch Alexander Drost und Michael North, Die Neuerfindung des Raumes. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Neuerfindung des Raumes. Grenzüberschreitungen und NeuOrdnungen, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 9–17. 16 Vgl. Dieter Richter, Das Meer: Geschichte der ältesten Landschaft, Berlin 2014, S. 13–26; Burkhardt Wolf, Fortuna di Mare. Literatur und Seefahrt, Zürich/Berlin 2013, S. 133–186.

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In Mittelalter und Früher Neuzeit überwog ein gefahrenbewusster Umgang mit dem Meer, der sich in einer topischen Einhegung seines grenzüberschreitenden Charakters ausdrückte.17 Damit unterlagen die Medien, in denen ein Sprechen über das Meer möglich war, einem fest definierten Kanon, der sich bis in die Expeditionsberichte des 18. Jahrhunderts auswirkte und das Meer noch nicht als ein Thema auffasste, das als eigenständiges Sujet besonders darstellenswert war.18 Ein Medium stellt nach McLuhan eine „technische Erweiterung menschlicher Fähigkeiten“ dar, ein Kommunikationsinstrument zur Speicherung von Botschaften.19 Die in diesem Band adressierten Medien weisen eine große Bandbreite auf, von einer musealen Ausstellung über Postkarten und wissenschaftliche Karten bis hin zu Fischdosen und Zeitschriften. Alle diese unterschiedlichen Darstellungsformen trugen dazu bei, das Meer überhaupt erst als einen wahrnehmbaren Gegenstand zu definieren und zwar in den meisten Fällen so erfolgreich, dass das Meer als Sujet wiederum zur Etablierung bestimmter medialer Kommunikationsformen beitrug. Die hier vorgestellten Fallbeispiele lassen sich in zwei große Gruppen einordnen. Die erste Gruppe zeigt, wie bereits etablierte mediale Ausdrucksformen durch die Beschäftigung mit dem Meer transformiert wurden. Dabei verfolgen die Beiträge ganz unterschiedliche methodische Ansätze. So zeigt Christian Holtorf en détail auf, wie sich im kartographischen Werk des österreichischen Geographen Josef Chavanne (1846–1902) durch die Darstellung von Periodizität das Bild vom Eismeer von einer zu erobernden und zu beschreibenden Fläche hin zu einem dynamischen Meer wandelt. Holtorf beschreibt dabei anschaulich, welche konkreten Schwierigkeiten in der Integration von Elementen der Visualisierung von Zeitlichkeit in Karten eröffnet wurden. Dokumentierten Karten bis weit in das 19. Jahrhundert allein territoriale Gebietsansprüche auch auf dem Meer, trugen Vorhaben wie die Josef Chavannes dazu bei, dass sie als Instrumente zur Messbarkeit naturräumlicher Bedingungen und ihrer Wandlungsprozesse genutzt werden konnten. Der kartierende Blick auf das Meer wurde damit nicht frei von politischen Interessen, eröffnete aber die Möglichkeit der Dokumentation vorher nicht darstellbarer Zusammenhänge.20 17 Joachim Grage, Vorwort, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Wissens- und Wahrnehmungsgeschichte des Meeres in der frühen Neuzeit (Cardanus. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 8), Wiesloch 2012, S. 7–8, hier S. 7. 18 Anne Mariss, „A World of New Things“. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster (Campus Historische Studien, Bd. 72), Frankfurt/New York 2015, S. 180– 206. 19 Rudolf Stöber, Neue Medien, Geschichte: Von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution, Bremen 2012, S. 17. 20 Zum Zusammenhang zwischen Evidenz und Bildgebung vgl. auch die beiden Sammel-

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In zeitlich breiterer Perspektive, vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, geht Dorit Müllers Beitrag Praktiken und Diskursen der Wahrnehmung der Eismeere nach und skizziert drei Spannungsfelder, die sich herausgebildet haben, die sie mit „Wissensobjekt, Medienlabor und Umwelt“ betitelt. Anders als Holtorf hebt sie nicht auf ein zeitliches Nacheinander von „Heldenzeitalter“ und Verwissenschaftlichung ab. Sie konstatiert vielmehr, dass sich wissenschaftliche und kulturelle Wahrnehmung, vor dem Tableau technischer Entwicklungen, stark wechselseitig bedingten: Die Heroisierung der Polarforscher sorgte somit für eine sinnliche Erfahrbarkeit und damit größere öffentliche Akzeptanz eines immer abstrakter werdenden Gegenstandes. Neue mediale Ausdrucksformen (Film, Fotografie) vertieften dabei die bereits in frühen Reiseberichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts angelegten Ambivalenzen zwischen exakter Beschreibung und emotionalem Schrecken, indem sie zu einem „Distanzverlust“ gegenüber dem Meer beitrugen. Wandelte sich das Eismeer von einem statischen Sujet hin zu einer dynamischen, nachprüfbaren, aber auch als Sehnsuchtsort für landgebundene Bedürfnisse neu gestalteten Projektionsfläche, so wandelt sich das Meer im Beitrag Wolfgang Strucks von einer undefinierten Fläche hin zu einem aus potentiellen Linien und Wegen gebildeten Netz: Mithilfe einer sensiblen Untersuchung der Figur der Flaschenpost gelingt es ihm, literarische und wissenschaftliche Beschreibungen miteinander zu verschränken: Im Falle der Figur der Flaschenpost gaben bestimmte etablierte Erzählmuster des Verschollenseins die Unberechenbarkeit des Meeres vor. Sie wurden im 19. Jahrhundert umgedeutet und für eine gezielte Erfassung von Bewegungen auf dem Meer genutzt, ein Vorhaben, das auch deswegen nicht unumstritten war, da die Bedeutung der Flaschenpost als Medium zur Beschreibung des Meeres gleichsam umgepolt werden musste. Machten Flaschenposte und andere driftende Körper zum ersten Mal Bewegungen des Meeres nachvollziehbar, so geht Ole Sparenberg auf einen weiteren fundamentalen politischen und normativen Wandel in der Bewertung der Meere ein, der sich darin ausdrückte, dass der Meeresboden zum ersten Mal seit der Frühen Neuzeit juristisch relevant wurde. Dieser Wandel, so Sparenberg, wurde durch die technologische Entwicklung, die Dekolonisation und zunehmende Ressourcenkonflikte bedingt. Dorit Müller hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Heroisierung der Expeditionen in die Eismeere auch dem Umstand geschuldet war, dass es in zunehmendem Maße keine leeren Flächen mehr gab, die beschrieben werden bände aktuelleren Datums: Helmut Lethen/Ludwig Jäger/Albrecht Koschorke (Hg.), Auf die Wirklichkeit zeigen: zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften: ein Reader, Frankfurt am Main 2015; Nicola Mößner/Alfred Nordmann (Hg.), Reasoning in measurement, London 2017.

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mussten. Parallel hierzu ließe sich ausgehend von Ole Sparenbergs Beitrag danach fragen, ob nicht der juristischen Beschreibung des Raumes auch inhärent ist, keine unbeschriebenen Räume zuzulassen, was natürlich eng mit grundlegenden politischen Strukturen verbunden ist. Franziska Torma hat in ihrem Kommentar vollkommen zurecht darauf hingewiesen, dass diesem juristischen Zugriff auf die Tiefe des Meeres keine Studien an der Seite stehen, die sich mit dem medialen Zugriff befassen, wie er insbesondere auch in Filmen deutlich wird.21 Hier könnten weitere Forschungsvorhaben zur „Wahrnehmung des Meeres“ anschließen. Museen standen und stehen immer an den Schnittstellen zwischen Wissen, Räumen, Gegenständen, Produzenten und Rezipienten von Wissen. Das „Museum für Meereskunde“ in Berlin nutzte dabei explizit seit der Frühen Neuzeit etablierte Muster der Anordnung und Repräsentation, folgte mit der Form der naturkundlichen Dioramen aber auch rezenteren Ausdrucksformen.22 Sein Erfolg wird meist mit der großen politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der wilhelminischen Flottenpolitik in Verbindung gebracht. Er könnte aber auch damit zusammenhängen, dass hier naturräumliche Phänomene zum ersten Mal darstell- und damit begreifbar gemacht wurden wie etwa die Visualisierung des Salzgehalts des Meeres. Außerdem wäre zu fragen, ob der Erfolg des Meeresmuseums nicht auch mit einem Festhalten an der Sinnlichkeit eines durch wissenschaftliche Kartierung immer abstrakter werdenden Phänomens zusammenhängt. Die zweite Gruppe an in dem Band versammelten Fallstudien befasst sich mit massenhaft und industriell produzierten Bildern des Meeres, die neue Ausdrucksformen entwickeln mussten. Im Gegensatz zur ersten Gruppe konnte hier nicht auf vertraute visuelle Formen zurückgegriffen werden, in die neue Muster eingehängt werden konnten. Gläser bzw. Dosen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln entwickelten sich erst im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Verbindung von Nahrungsaufnahme und symbolischen Deutungen stellt dabei keine Innovation des 19. oder 20. Jahrhunderts dar, die massenhafte mediale Verbreitung einheitlicher Bilder dagegen schon.23 Hinsichtlich der Wahrnehmung des Meeres sind diese Bilder besonders aufschlussreich: Sie reflektieren bewusste Entscheidungen darüber, was als erfolgsversprechend dabei galt, das mit dem Bild verbundene Produkt zu 21 Franziska Heller, Das Meer: Filmische Wahrnehmung und das Unermessliche, in: Roman Mauer (Hg.), Das Meer im Film. Grenze, Spiegel, Übergang, München 2010, S. 45–60. 22 Alexander Gall/Helmuth Trischler (Hg.), Szenerien und Illusion. Geschichte, Variation und Potenziale von Museumsdioramen (Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte N.F. 32), Göttingen 2016. 23 Vgl. auch Frank Bösch/Manuel Borutta (Hg.), Medien und Emotionen in der Moderne. Historische Perspektiven, in: Frank Bösch (Hg.), Die Massen bewegen: Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt am Main 2006, S. 13–41.

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verkaufen, also bei der Käuferschaft vertraute, positive Vorstellungen und Assoziationen zu erwecken. Jens Ruppenthal verweist dabei zurecht auf die zeitliche Diskrepanz zwischen dem Wissen darüber, dass das Meer eben kein unerschöpflicher Ressourcenraum ist, und der zeitgleich zu verzeichnenden unbeschränkt positiven Popularisierung des haltbar gemachten Fischs. Ein weiterer Unterschied verbindet das Medium der Fischdose mit den von Hans-Christian Bresgott verwendeten historischen Postkarten: Beide offenbaren sehr viel stärker als das in der ersten Gruppe von Beiträgen analysierte Karten- und Reiseberichtsmaterial die Integration von Wahrnehmungsmustern in Alltagshandlungen und damit weniger bewusste, aber vielleicht daher umso wirkungsvollere Wahrnehmungs- und Wertungsmuster. Hans-Christian Bresgott zeichnet nach, wie sich im langen 19. Jahrhundert die Verhandlung der Grenzziehung zwischen Küste und Meer mit einer Konstruktion bürgerlicher binärer Geschlechteridentitäten verband. Populärmedizinische Ratgeber und Postkarten stellen seine Hauptquellen dar, da sich in ihnen Wahrnehmungsmuster etablierten und wiederum auf das praktische Verhalten der Badegäste auswirkten. Medien und Praktiken verbanden sich hier zu einem ein bestimmtes Bild des Meeres affirmierenden Geflecht. Einen vergleichbaren Befund bietet der Beitrag von Martin Weiss über die Wahrnehmung des Meeres in der populärwissenschaftlichen in der DDR herausgegebenen Zeitschrift „Urania“ in den 1960er Jahren. Aufschlussreich ist hier das Wechselspiel zwischen zivilen und militärischen Konnotationen der Meeresforschung, die von den Mustern des Kalten Krieges bestimmt waren. Daneben dominierten Entwicklungen das Bild des Meeres, die durchaus zeitgleich mit denen in der Bundesrepublik stattfanden, wie die Abkehr von der Unerschöpflichkeit des Meeres als Ressourcenraum. Die Zeitschrift eröffnete ein Fenster für die Bevölkerung der DDR zum Meer: Über Bilder und Reportagen konnte sie an der wissenschaftlichen Erschließung einer Welt teilhaben, von der die meisten zu recht annehmen konnten, dass sie sie nie erleben würden und dies in zweierlei Hinsicht: zum einen in der Teilhabe an per se unbegrenzten Meeresthemen und zum anderen in der Teilhabe an über die DDR hinausgehenden Diskursen und Entwicklungen. Als eine weiterführende These ließe sich aus der Zusammenschau der vorliegenden Beiträge fragen, ob sich die Ausdifferenzierung neuer Medien zur Dokumentation von Wissen und seiner Popularisierung im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht auch maßgeblich deswegen durchsetzen konnte, weil mit dem Meer und insbesondere dem Eismeer Räume zu beschreiben waren, die durch die Medientechniken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nur unzureichend zu erfassen waren: Bedingten neue Techniken in der Kartographie, Fotografie, der Ausstellungs- und letzten Endes auch der Filmtechnik einen „Distanzverlust“ gegenüber dem Meer, der es auch deswegen zu einem so populären

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Beschreibungsgegenstand machte, weil mit der medialen Aufladung das Versprechen in Reichweite erschien, das Fluide und Unergründliche des Meeres aufzulösen? Sicher geben die vorliegenden Beiträge hierauf keine letztgültige Antwort, führen aber zu weiterführenden Fragen, die es noch in geschichts-, kultur- und medienwissenschaftlichen Studien zu untersuchen gilt. Eine Schlüsselrolle bei solchen Studien wird sein, die Ausdifferenzierung medialer Betrachtungen mit politisch-sozialen Kontinuitäten, Zäsuren und Wandlungsprozessen in Verbindung zu bringen, die in allen Beiträgen grundlegend herausgearbeitet wird. Auf diese Weise wird es möglicherweise auch gelingen, dem Meer einen integralen Platz und keine Sonderrolle in makrogeschichtlichen Perspektiven auf die Moderne zuzuweisen.

WANDEL UND KONTINUITÄTEN Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zielen mit ihren Fragestellungen zu historischen Wahrnehmungen und Deutungen der Meere und Ozeane nicht auf die Erfassung statischer Zustände, die nur als Momentaufnahmen von meeresbezogenem Geschehen vom 18. bis 20. Jahrhundert zu verstehen wären. Vielmehr geht es ihnen bei der Analyse von medial vermittelten und in Medien fassbaren Perspektiven auf maritime Räume darum, historische Veränderungsprozesse in Betrachtungs-, Vorstellungs- und Deutungsweisen nachzuvollziehen. Das Bewusstsein dafür, dass Meer nicht gleich Meer ist, auch wenn allzu oft „das Meer“ als scheinbar einheitliche Sphäre genannt wird, spiegelt sich in den Beiträgen dieses Bandes. Diese belegen die Notwendigkeit der Differenzierung nicht nur entlang geographischer, sozialer oder wissenschaftlicher Linien, sondern auch hinsichtlich der Relation von Wandel und Kontinuität. Die Begriffe Wandel und Kontinuität stehen stellvertretend für zwei grundlegende Möglichkeiten, um vergangenes Geschehen zu betrachten: einerseits als Anzahl von aufeinander folgenden und voneinander verschiedenen Zuständen und andererseits als wiederum zeitlich nacheinander gelagerte, aber eben nicht substanziell voneinander verschiedene Konstellationen. Als Bestandteile des Vokabulars der modernen Geschichtsschreibung zeichnet sie aus, dass in einer Beschreibung historischer Vorgänge beide einander nicht ausschließen. Beide Begriffe lassen sich als integrale Bestandteile historischer Prozesse verstehen. In der modernen Historiographie sind diese beiden Begriffe gleichermaßen präsent. Zahlreiche geschichtswissenschaftliche Texte der vergangenen knapp zehn Jahre zitieren Jür-

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gen Osterhammels Die Verwandlung der Welt,24 um auf das ganze Panorama oder einen Ausschnitt der globalen Veränderungsprozesse im Lauf des „langen“ 19. Jahrhunderts zu verweisen. Im Kern geht es bei Osterhammel wie bei den meisten der ihn Zitierenden um die Untersuchung eines Übergangs von einem Vorher zu einem Nachher. Die Kontinuität begegnet im aktuellen Schrifttum wohl ebenso häufig, sei es in Gestalt einer kontroversen Kontinuitätsthese, wie sie beispielsweise von Jürgen Zimmerer mit Blick auf die Verbindungen zwischen den Kolonialkriegen des deutschen Kaiserreichs und dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg formuliert wurde,25 sei es im Rahmen einer technikhistorischen Untersuchung, die den Nachweis einer unerwarteten Langlebigkeit von vermeintlich rückständigen Formen der Wasserkraftnutzung erbringt,26 sei es im Rahmen wissenschaftshistorischer Studien, die personelle, methodische und politische Konstanzen in der Formung von Forschungsprogrammen zu identifizieren suchen.27 Disziplinübergreifend ist in den vergangenen Jahren zudem eine Debatte um die Definition des „Anthropozäns“ entstanden, im Rahmen derer bestehende Einteilungen in Epochen und historiographisch konventionell gesetzte Zäsuren und Umbruchphasen sowohl aus natur- wie aus geisteswissenschaftlicher Perspektive hinterfragt werden.28 An die Stelle einer Sichtweise, derzufolge einzelne Ereignisse am „Beginn“ neuer Epochen stehen, ist die „weitaus komplexere Vorstellung getreten, dass epochale Übergänge […] lang andauern und ein weiträumiges Geflecht von Kontinuitätsund Bruchlinien bilden, in dem sich parallele und widersprüchliche, häufig voneinander unabhängige Entwicklungen ausmachen lassen.“29 Als Folge dieses Sicht24 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 25 Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2008; ders., Kein Sonderweg im „Rassenkrieg“. Der Genozid an den Herero und Nama 1904–08 zwischen deutschen Kontinuitäten und der Globalgeschichte der Massengewalt, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 323–340. 26 Christian Zumbraegel, „Viele wenige machen ein Viel“ – Eine Technik- und Umweltgeschichte der Kleinwasserkraft (1880–1930) (Geschichte der technischen Kultur, Bd. 5), Paderborn 2018. 27 Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006. 28 Helmuth Trischler, The Anthropocene. A Challenge for the History of Science, Technology and the Environment, in: N.T.M. 24 (2016), S. 309–335. 29 Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhardt/Marianne Sommer, Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte, in: Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhardt/Marianne Sommer (Hg.): Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, S. 2–19, hier: S. 9. Das Zitat bezieht sich eigentlich auf Epochenumbrüche in der Wissenschaftsgeschichte.

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wechsels rückten die Geisteswissenschaften zunehmend von der Vorstellung monolithischer Einheiten ab und wendeten sich der Frage zu, wie diese vermeintlichen Blöcke konstruiert wurden und wie ein Transfer vom Lokalen zum Globalen erfolgte. Diesem Fokus auf Verflechtungen vorgreifend, versuchte zum Beispiel Christian Meier bereits 1978 zwischen den zahlreichen Gebrauchsformen der Bezeichnung „Prozess“ zu differenzieren. Er begann seine Ausführungen mit der Feststellung: „Das wichtigste und vermutlich auch schon das einzige gemeinsame Merkmal scheint zu sein, daß eine unübersehbar große Zahl von Impulsen einen irgendwie zusammenhängenden, einheitlichen Vorgang auszumachen scheint.“30 Jene inhärenten Zusammenhänge an verschiedenen meeresbezogenen Vorgängen von Wahrnehmungswandel aufzuschlüsseln, ist das Ziel der Beiträge dieses Bandes. Die subjektive Färbung der Beurteilung eines Wandlungsprozesses betont zum Beispiel Jens Ruppenthal in seinem Beitrag, indem er die Bedeutung der „shifting baselines“ in der Beurteilung von Fischfangmengen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorhebt. Der Eichpunkt – also die „baseline“ –, anhand derer die Veränderung von Fischbeständen beurteilt wurde, hing stark von der persönlichen bzw. beruflichen Biografie, d.h. Zeitlichkeit der oder des Beurteilenden ab. Während erst die Erhebung entsprechender Daten einen langfristigeren Vergleich zuließ, zeigt Ruppenthal außerdem auf, wie die daraus resultierende Erkenntnis einer starken Überfischung von Fischkonsumentinnen und -konsumenten ausgeblendet werden konnte, weil Fisch als Lebensmittel nach wie vor oft in den bereits im 19. Jahrhundert aufkommenden Konserven verpackt und verkauft wurde – versehen mit romantisierenden Abbildungen von Meeresgöttern und anderen maritimen Sujets konnte so der Konsument weiter an die Unerschöpflichkeit der Fischbestände glauben, solange die Supermarktregale konstant gefüllt wurden: ein deutliches Beispiel paralleler und widersprüchlicher Wahrnehmungen des Meeres. Christian Holtorf und Wolfgang Struck identifizieren in ihren Beiträgen am Ende des 19. Jahrhunderts die grafische Abbildung von Messwerten als wesentlichen Faktor in der Herausbildung eines völlig neuen Zugangs zum Meeresraum. Der Statistiker und Meteorologe Chavanne, so Holtorf, konstatierte in dieser Zeit als erster eine Periodizität der Eisvorkommen in der Arktis. Damit erhielt das Eismeer eine neue Zeitlichkeit, was wiederum als grundlegende Änderung in der Geschichte der Wahrnehmung des Eismeeres definiert werden könnte, mündend in der heute stark vom Klimawandel geprägten Sicht auf die Polarregionen. Während Chavanne eine von ihm eingeführte, neue Form der wissenschaftlichen Nota30 Christian Meier, Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse, in: KarlGeorg Faber/Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse (Beiträge zur Historik, Bd. 2), München 1978, S. 11–68, hier S. 12.

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tion als Grundlage für seine Aussagen nutzte, bleibt im Fallbeispiel Strucks das Medium – die Flaschenpost – gleich; seine Bedeutung wandelt sich jedoch als Folge seiner „Verwissenschaftlichung“: Statt persönlicher Botschaften transportiert sie universell lesbare, quantitative Daten, auf Basis derer wiederum eine grafische Darstellung der Meere über die Kartierung von Potentialfeldern erfolgt, die alle möglichen Trajekte einer Flasche über die Meere und damit „das Meer“ selbst verbildlicht. Auch Dorit Müller sieht die Wandlung wissenschaftlicher Praktiken als eine der wesentlichen Triebkräfte für Änderungen in der Wahrnehmung der Eismeere und identifiziert vier Phasen. Sie betont, dass diese Phasen nicht sequentiell aufeinander folgen, sondern parallele Entwicklungen mit unterschiedlichen Hochphasen darstellen. Interessant ist dabei, dass die Technologie, die die wissenschaftliche und personengebundene Wahrnehmung der Eismeere bedingt, auch das Verhalten derer prägt, die sie einsetzen: Der Fotograf Frank Hurley beispielsweise riskiert während einer Expedition Ernest Shackletons sein Leben, um seine Fotomaterialien im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Untergang zu retten. Der langfristige Wandel über eine 200 Jahre umfassende Zeitspanne, den Müller nachzeichnet, mündet in das gegenwärtige Verständnis des Eismeers als Umwelt im Sinne eines verwundbaren natürlichen Raumes. Der Befund eines Wandels in der Wahrnehmung des Meeres konnte ganz unterschiedliche Rückwirkungen auf die Gruppe der Wahrnehmenden haben. Eine grundsätzliche Veränderung in der Annäherung an das Meer war Beleg für eine gewandelte Perspektive der Zeitgenossen, musste aber keineswegs deren Selbstbild in Frage stellen. In Hans-Christian Bresgotts Beitrag wird erkennbar, wie gesellschaftliche Gepflogenheiten und Moralvorstellungen die körperliche Wahrnehmung des Meeres bedingen können. Bresgott arbeitet heraus, wie das Schamgefühl, die Prüderie und Geschlechterrollen der Kaiserzeit die Ostseebäder mitprägten. Umgekehrt scheint der Kontakt mit dem Meer in diesen Ostseebädern – vielleicht wegen der Immanenz bürgerlicher Ideale in ihrer Architektur – nicht zu einer Reflektion der damaligen Gesellschaftsordnung geführt zu haben. In den Beiträgen von Ruth Schilling, Ole Sparenberg und Martin Weiss steht ein weiteres Moment, das Änderungen in der Wahrnehmung des Meeres verursacht, im Mittelpunkt: die Einbettung nationaler Interessen in einen internationalen Kontext. Bezeichnenderweise konzentrieren sich alle drei auf vergleichsweise kurze Zeiträume von jeweils ungefähr einer Dekade – ein Indikator dafür, dass hier Nuancen eines umfassenderen, noch in seiner Ganzheit zu erfassenden Prozesses analysiert werden. Insbesondere Sparenberg versucht, die sich vor allem in den 1970er Jahren entzündenden Aushandlungsprozesse um eine Neuformulierung des Seerechts in einen größeren Kontext zu stellen und betont, dass die Ergeb-

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nisse der dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen (1973–1982) jahrhundertealte Traditionen ersetzten – alleine, dass diese Verhandlungen jedoch mehr als ein Jahrzehnt dauerten, deutet auf die Kontinuität des zugrundeliegenden Wandels hin. Dieser bestand im Übrigen nicht nur in einer Verrechtlichung der Weltmeere als Transiträume, sondern umfasste auch deren dritte Dimension einschließlich des Meeresbodens. So beschreibt Sparenberg einen Aushandlungsprozess, der mit der Kodifizierung des Rechts für den dreidimensionalen Meeresraum dokumentiert wurde. Schilling zeigt auf, wie bei der Einrichtung des Museums für Meereskunde in Berlin im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nationale Erwägungen den Versuch, ein international ausgerichtetes Narrativ zu präsentieren, teils schlichtweg aus praktischen Gegebenheiten, wie dem Sammlungsbestand, heraus übertrumpften. Sie illustriert damit auch die Schwierigkeit eines „Bruchs“ und die teilweise unfreiwillige Kontinuität in der Darstellung und Wahrnehmung des Meeres über maritime Sammlungsbestände. Die Verflechtung unterschiedlicher Stränge wird dabei ebenfalls deutlich: Das Museum für Meereskunde zementierte in Deutschland eine Gleichsetzung von „Museen“ mit „öffentlichen Ausstellungen“ mit pädagogischen, zivilisierenden Intentionen, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete. Weiss zeigt in seinem Beitrag, wie im Zeitalter der Systemkonkurrenz politische Umstände zu einer selektiven Darstellung der wissenschaftlichen Erschließung des Meeresraums führten. Es wird dabei deutlich, wie mehr noch als die Entwicklung der Medien, die zur Wahrnehmung des Meeres eingesetzt werden, technische Entwicklungen in anderen Bereichen den Zugang zum Meer prägen können: Im Falle der Berichterstattung in der Zeitschrift Urania war die Wahrnehmung des Meeres bzw. der Meeresforschung deutlich auch von der „epochalen“ Leistung geprägt, einen Menschen auf den Mond zu bringen – denn in der DDR führte dies wiederum zu einer verstärkten Betonung einer bereits lange zuvor ansetzenden Sicht des Meeres als zu schützendes Gut. Trotzdem, so Weiss, dominierte insgesamt weiterhin eine lang etablierte utilitaristische Sicht auf das Meer seine Darstellung in der Zeitschrift Urania. Für einen geschichts- und kulturwissenschaftlichen Blick auf das Meer bedeutet der Ertrag dieses Bandes zweierlei: Zum einen ließe sich fragen, ob das Meer nicht auch deswegen eine so prominente Rolle in der öffentlichen Kultur der beginnenden Moderne erhielt, weil es sich einer massenhaften Reproduzierbarkeit und letztgültigen wissenschaftlichen Erschließung immer wieder entzog. Zum anderen legt der Band einen differenzierten Blick auch auf das Verhältnis medialer Betrachtungsformen und Wertungen sowie Nutzungen des Meeres auch in anderen Epochen nahe.

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Nutzungsmöglichkeiten und Schauwert, Konfliktträchtigkeit und Heilkräfte, Forschungspotentiale und Unerschöpflichkeit – diese und andere maritime Zuschreibungen besaßen Beharrungskräfte, die oft nur ganz allmählich nachließen. Veränderungen konnten dafür sowohl grundsätzlicher wie gradueller Natur sein. So wandelte sich beispielsweise das Bild der Meeresküste als Übergangszone in einen Gefahrenraum, den Menschen nur aus wirtschaftlichen Zwängen aufsuchten, in das Bild eines Sehnsuchtsortes, an dem ein Aufenthalt der Gesundheit sogar zuträglich war. Dagegen stellt die Nutzung mariner Ressourcen eine Konstante im menschlichen Umgang mit Meeren und Ozeanen dar, die in geradezu räuberischer Manier fortgesetzt wird, obwohl das Wissen über die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit erheblich zugenommen hat. Welchen Mehrwert besitzt vor diesem Hintergrund also der vorliegende Band für die geschichtswissenschaftliche Diskussion um den historischen Stellenwert des Meeres? Es zeichnet sich ab, dass die Prozesse des Wandels in der Wahrnehmung des Meeres in den vergangenen zwei Jahrhunderten von unterschiedlicher Dauer und Intensität waren und sich zeitlich und räumlich überlagern konnten. Die Rückschlüsse, die menschliche Akteure zogen, um ihr aktives Handeln an ein verändertes Bild des Meeres anzupassen, waren dementsprechend uneinheitlich. Dieser Band soll deshalb nicht nur weitere Argumente dafür liefern, dass es „die Wahrnehmung“ „des Meeres“ nicht gab. Vielmehr fragen die folgenden Fallstudien gezielt danach, inwieweit sich die Momente des Wandels in den unterschiedlichsten Blickwinkeln in Medien niedergeschlagen haben und rückblickend ausgemacht werden können. Es geht darum, in welchem Verhältnis das Vorher und das Nachher in einem Vorgang der Betrachtung des Natur- und Kulturraums Meer zueinanderstanden, und vor allem darum, wie aus dem Vorher das Nachher (gemacht) wurde. Derartige Momente des Wahrnehmungswandels bilden die Fixpunkte in der historiographischen Kartierung des Verhältnisses von Mensch und Meer – oder präziser: von Menschen und Meeren.

Christian Holtorf

EIN ARKTISCHER OZEAN JOSEF CHAVANNE, DAS „EWIGE EIS“ UND DIE VORLÄUFER DER KLIMADIAGRAMME

Das Arktisfieber früherer Jahre hatte sich gelegt. Zahlreiche Polarexpeditionen, ihr hoher technischer und finanzieller Aufwand, extremer Körpereinsatz und spektakuläre Rettungsaktionen hatten nicht ausgereicht, um zu entscheidenden Ergebnissen zu kommen. England hatte Jahrzehnte pausiert. Die USA waren polaren Fieberträumen erlegen und brachten keine größeren Aktivitäten mehr hervor. Auch Deutschland und Österreich schienen schon nach kurzer Zeit wieder auf Normaltemperatur gebracht. Die Polarforschung, glaubte der österreichische Geograf Josef Chavanne, stand an einem Wendepunkt. Nicht länger, schrieb er im Jahr 1884, könnte „die Entdeckung neuer Landmassen im arktischen Eismeere, die Feststellung der Configuration derselben und des Verhältnisses von Land und Wasserfläche“ ihr Hauptziel sein.1 Er fasste damit eine Entwicklung zusammen, an der er selbst maßgeblich beteiligt war: das Ende der heldenhaften Versuche, immer weiter nach Norden vorzustoßen, um als erster Mensch den Pol zu 1



Josef Chavanne, Jan Mayen und die österreichische arktische Beobachtungsstation: Geschichte und vorläufige Ergebnisse derselben (nach den Aufzeichnungen und Berichten des Leiters Linienschiffslieutenant E. von Wohlgemuth), Wien 1884, S. 9. Die „Vertheilung des Festen und Flüssigen auf der Erde“ galt lange als Hauptfrage der Geographie, siehe Franz Ritter Le Monnier, Der Fortschritt der Polarforschung im Jahr 1880, Wien 1881, S. 42; vgl. auch August Petermann, Der Nordpol und Südpol, die Wichtigkeit ihrer Erforschung in geographischer und kulturhistorischer Beziehung, in: Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt 11 (1865), S. 146–160, hier S. 149. Der Aufsatz ist dem Arktishistoriker Stephen A. Walsh gewidmet, der während der Drucklegung dieses Buches plötzlich verstorben ist. Stephen teilte mit mir das Interesse an Josef Chavanne und mit jenem die Faszination für die österreichische Nordpolforschung und die Insel Jan Mayen. Zuletzt erschien: Stephen A. Walsh, Void into Meaning: Geophysics & Imperial Cartography in the High Arctic, in: Holt Meyer, Susanne Rau, Katharina Waldner (Hg.), SpaceTime of the Imperial, Berlin/Boston 2017, S. 394–412.

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erreichen, und die Etablierung alternativer wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten. Chavannes Beitrag zur Einführung statistischer Datenerhebungen und ihrer grafischen Aufbereitung eröffneten der Polarforschung neue Wege. Er forderte, künftig systematisch vorzugehen und die Unzugänglichkeit des Polarmeeres durch die Auswertung von Daten zu kompensieren. Die Mühen der Arktisexpeditionen wären vergeblich, wenn sie zwar den extremen Wirkungen der Naturkräfte begegneten, aber ihre Ursachen nicht zu verstehen lernten – sie blieben dann nichts anderes als „ein mit der Hoffnung Sieger zu bleiben, mit dem launenhaften Zufall eingegangenes Spiel“.2 Auch Carl Weyprecht, der Leiter einer der beiden erfolglosen österreichischen Expeditionen, hatte nach seiner Rückkehr aus der Arktis „eine Reihe gleichzeitiger Expeditonen“ vorgeschlagen, um „an verschiedenen Punkten des arktischen Gebietes vertheilt, mit gleichen Instrumenten und nach gleichen Instructionen gleichzeitige einjährige Beobachtungsreihen zu schaffen.“3 Aufgrund von Weyprechts Initiative begann im Sommer jenes Jahres 1882 das Erste Internationale Polarjahr. Zwölf Monate lang wurden vergleichbare Daten an 14 verschiedenen Messstationen gesammelt. Chavannes Forderung schien also berechtigt, ein Neuanfang bereits gemacht. Doch wenig bekannt sind seine eigenen wissenschaftlichen Beiträge zur Vorbereitung des Ersten Internationalen Polarjahres und der darauf zurückgehenden neuen ozeanografischen Epistemologie. Chavannes Pionierarbeiten sind deswegen besonders interessant, weil sie einen Wandel in der Wahrnehmung des Arktischen Ozeans erkennbar machen. Sie haben zugleich die Methoden und Anwendungserwartungen der Polarforschung verändert und zur Entwicklung und Erprobung neuer Darstellungstechniken beigetragen. Im Folgenden werden sie nach einer kurzen biografischen Vorstellung Josef Chavannes (1), der Darstellung seiner Arktisforschungen (2) sowie ihrer Einordnung in die Wahrnehmungsgeschichte der Meere (3) in drei Abschnitten analysiert: Chavannes Ideen wirkten daran mit, dass sich das Bild der Arktis vom „ewigen Eis“ zu einem dynamischen Ozean entwickelte – und lange vor der Beobachtung des Klimawandels verzeitlicht wurde (4). Wichtigste Voraussetzung der neuen Wahrnehmungsweise war die Erhebung von Daten, ihre statistische Auswertung und grafische Veranschaulichung (5). Dabei trat die Erleichterung der Navigation 2 3

Josef Chavanne, Die Eisverhältnisse im arktischen Polarmeere und ihre periodischen Veränderungen, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 21 (1875), S. 134–142, 245– 280, hier S. 134. Julius Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, Wien 1876, S. LXIV, zitiert in Chavanne, Jan Mayen, S. 10.

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an die Stelle von Bemühungen, sich über die Grenzen zwischen Land und Meer zu versichern und letzte „weiße Flecken“ rings um den Nordpol zu erreichen (6).

EIN WIENER GEOGRAF Josef Chavanne (1846–1902) war ein österreichischer Geograf, Meteorologe und Publizist.4 1869 und 1870 war er an der österreichischen Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus beschäftigt, von 1875 bis 1883 arbeitete er als Redakteur der Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Wien. Schon mit 25 Jahren veröffentlichte er eine Studie, die statistische Daten in Form von Isothermen grafisch aufbereitete.5 Weitere Beiträge zur Klimatologie Österreich-Ungarns und eine Beteiligung an der Herausgabe eines Physikalisch-statistischen Handatlas folgten.6 Herausragende Karten sind von Chavanne nicht bekannt.7 Als sich herausstellte, dass er große Teile eines Werks ohne Quellenangabe aus einem anderen Buch übernommen hatte, wanderte er nach Argentinien aus und war dort bis zu seinem Tod als Kartograf und Beamter des Hydrographischen Amts von Buenos Aires tätig.8 Bereits in jungen Jahren hat ihn die Arktis beschäftigt. Zwischen 1872 und 1874 dürfte er von Wien aus den Verlauf der österreichisch-ungarischen Polarexpedition aufmerksam verfolgt haben.9 Ab 1874 berichtete er über deren Ergebnisse in Petermanns Geographischen Mitteilungen (PGM), verfasste eine Darstellung der österreichischen Forschungen auf der kleinen Insel Jan Mayen im Nordatlantik

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Vgl. Franz Peter Dammerer, Leben und Werk der österreichischen Kartographen Josef Chavanne und Franz Ritter von Le Monnier, in: Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, Bd. 6, Hamburg 1995; Obituary: Josef Chavanne, in: The Geographical Journal, 21,4 (April 1903), S. 464. Josef Chavanne, Die Temperaturverhältnisse von Oesterreich-Ungarn, dargestellt durch Isothermen, Wien 1871. Josef Chavanne, Beiträge zur Klimatologie von Oesterreich-Ungarn, Wien 1872; ders., Physikalisch-statistischer Handatlas, Wien 1882–1887. Ein Überblick über die von Chavanne erstellen Karten findet sich in: Dammerer, Leben und Werk, S. 83–103. Es handelt sich um Chavannes Werk „Reisen und Forschungen im alten und neuen Kongostaate in den Jahren 1884–1885“, Jena 1887. Angaben bei Dammerer, Leben und Werk, S. 82. Vgl. zur Rezeption der Arktisexpeditionen in Wien: Johan Schimanski/Ulrike Spring, Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874, Wien 2014, insbes. S. 387–402.

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und war an einer Bibliografie zur Polarforschung mitbeteiligt.10 Nach Afrika, Nordund Mittelamerika sowie in den Mittleren Orient führte Chavanne eigene Forschungsreisen durch, nicht aber in die Arktis. Dort unterstützte er die Initiativen des Herausgebers der PGM, August Petermann (1822–1878) und verteidigte die meisten von dessen umstrittenen Hypothesen, so die Verlängerung Grönlands bis zur Beringstraße und die Existenz eines eisfreien Polarmeeres. Als „armchair geographer“ war Chavanne beim Lesen von Reiseberichten und wissenschaftlichen Studien aufgefallen, dass Arktisreisen durch „stetes Schwanken von dem Extrem eines vollkommen eisfreien Meeres unter dem Pole bis zum entgegengesetzten einer für die Ewigkeit gebauten, undurchdringlichen Eisbarriere und dahinter liegenden ununterbrochenen Eisfläche“ gekennzeichnet waren.11 Noch dazu seien die Nachrichten vom Erreichen hoher Breitengrade immer „in bestimmten Epochen und nach nahezu gleich langen Intervallen“ aufgetaucht.12 Um eine Erklärung zu finden, verglich Chavanne die verfügbaren Messdaten der Periodizität von Eisbewegungen und Durchschnittstemperaturen, von Winden und Meeresströmungen aus den nördlichen Teilen Europas, Amerikas und Asiens mit den Intervallen der Gezeiten und der Häufigkeit von Nordlichtern. Dabei ging er von einem System kompensierender Naturkräfte aus.13 Er versuchte aus der systematischen Datenauswertung langfristige klimatische Wechselbeziehungen, Regelmäßigkeiten und Anomalien zu entnehmen, die Prognosen für günstige Routen und Zeitpunkte von künftigen Arktisexpeditionen ermöglichten.14 Die Österreichisch-Ungarische Nordpolarexpedition hatte dafür Pionierarbeit geleistet, indem sie wissenschaftliche Beobachtungen über zwei vollständige Jahre aus der Arktis mitgebracht hatte, wie Chavanne in den PGM anerkennend berichtete.15 Seine eigenen Schlussfolgerungen publizierte er nur ein Jahr später an gleicher Stelle – zur selben Zeit als auch Weyprecht an die Öffentlichkeit gegangen war.

10 Josef Chavanne, Die Resultate der 2. Österr.-Ungar. Nordpolar-Expedition in ihrer Beziehung zum gegenwärtigen Standpunkte der Kenntniss Arktischer Geographie, in PGM 20 (1874), S. 386–389; ders: Die Nordpolfrage und die Ergebnisse der zweiten Österr.Ungar. Nordpolar-Expedition, in: PGM 20 (1874), S. 421–425; ders., Jan Mayen; ders./ Alois Karpf/Franz Ritter von Le Monnier, Literatur über die Polarregionen der Erde, Wien 1878. 11 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 135. 12 Ebd. 13 Chavanne, Nordpolfrage, S. 423; ders., Eisverhältnisse, S. 262. Vgl. ders., Die englische Nordpol-Expedition 1875/76 und der Stand der Polarfrage, in: Mittheilungen der kais. und kön. geographischen Gesellschaft in Wien 20 (1877), S. 69–104, hier S. 94–100. 14 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 134, 254. 15 Chavanne, Resultate, S. 389.

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DIE ABSTRAKTION DES NORDPOLARMEERS Auf 45 Seiten fasste Chavanne alle ihm zugänglichen historischen Angaben zusammen, erstellte eine tabellarische Übersicht der Expeditionen seit 1517 und teilte die Daten in 15 regionale Gruppen ein. Vor allem aber fügte er „zur größeren Anschauung und leichteren Orientirung“16 ein Schaubild bei, das August Petermann nach seinen Angaben anfertigte (Abbildung 1). Von den 15 Datengruppen verwendete er hier diejenigen zehn, für die „eine ununterbrochene, längere Reihe von Beobachtungs-Jahren vorlag“.17 Auf der Grafik im Format 39,7 x 26 cm sind vierzehn Kurvendiagramme untereinander angeordnet. Die oberen zehn stellen den „periodischen Gang der Abweichungen der jährlichen Wintertemperaturen vom normalen Mittel“ in der Zeit zwischen 1800 und 1875 in zehn Regionen dar. Darunter befinden sich jeweils zwei Kurven mit dem „Säcularen Gang der eisfreien Zeit auf der Dwina bei Archangelsk“ (einer nordrussischen Hafenstadt) und dem „Säcularen Gang der Nordlichter-Anzahl“. Mit „säcular“ war dabei die Entwicklung über ein Jahrhundert gemeint: Die oberen beiden umfassen denselben Zeitraum wie die Temperaturangaben (1800 bis 1875), die unteren reichen in das vorhergehende Jahrhundert bis 1722 zurück und sind wegen der veränderten Skala nicht unmittelbar vergleichbar. Mit Ausnahme der Nordlichter wurden jeweils Mittelwerte ermittelt und als Nulllinie genommen. Jedes der 14 Diagramme umfasst drei Kurven, die die Abweichungen vom Mittelwert bzw. die Anzahl der Nordlichter bezeichnen: Eine dünne schwarze Linie verbindet die jährlichen Daten, eine etwas kräftigere Linie stellt den Durchschnitt aus drei Jahren dar, ein breiter schwarzer Strich den Durchschnitt aus neun Jahren. Die mittlere Kurve ist rot unterlegt, so dass sie besonders deutlich hervortritt. Chavanne verglich Jahresdurchschnittswerte, verzichtete jedoch auf die Beachtung von jahreszeitlichen Schwankungen. Er kam zu dem knappen Ergebnis, dass das polare Klima keineswegs konstant ist, sondern großen Schwankungen unterliegt.18 Die jährlichen Temperaturen seien so unterschiedlich, dass auch „nicht von ewigem Eis die Rede sein“ könne.19 Sein Befund sei „aus der Tabelle der Abweichungen kaum auf den ersten Blick zu erkennen“, trete aber, „aus der Zeichnung deutlich hervor“.20 Er behauptete: 16 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 257. Für ihre große Unterstützung der Recherchen danke ich den Gothaer Kartografiehistorikern um Iris Schröder, Petra Weigel und Sven Ballenthin. 17 Ebd., S. 258. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 142. 20 Ebd., S. 257–258.

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Abbildung 1: August Petermann, Illustrationen zu Chavanne‘s Abhandlung: „Die Eisverhältnisse im arktischen Polarmeere & ihre periodischen Veränderungen“, in: PGM 21 (1875), Tafel 14. Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, SPA 4° 000100 (021).

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Ein flüchtiger Blick genügt schon, um die ziemlich große Übereinstimmung desselben in den Gruppen von Mittel- und Nord-Europa zu erkennen. Völlig entgegengesetzt zu diesen beiden Gruppen verhält sich West-Grönland und der Amerikanische Kältepol, zwischen Mittel-Europa und dem Amerikanischen Kältepole vermittelt das Golfstrom-Gebiet die Ausgleichung [...] Einen spezifisch eigenthümlichen Gang zeigt im Gegensatz zu West-Grönland der Asiatische Kältepol, während das Analogon des Golfstrom-Gebietes im pacifischen Oceanbecken, das Gebiet des Kuro-Siwo (Westküste von Nord-Amerika), weder mit diesem und Mittel-Europa, noch mit irgend einem zweiten Gebiete Ähnlichkeit zeigt.21

Tatsächlich sind diese Ergebnisse aber keineswegs auf einen Blick zu registrieren. Die einzelnen Kurven sind ohne erkennbaren geografischen Zusammenhang angeordnet, so dass die beschriebenen Effekte nur umständlich nachzuvollziehen sind. Hinzu kommt, dass die hervorgehobenen Kurven der Mittelwerte von drei und neun Jahren die Anschaulichkeit eher vermindern als erhöhen, denn die deutlichsten Übereinstimmungen und Gegensätze weisen die einzelnen Jahresdaten auf der dünnsten der drei Kurven auf. Auch zur Anzahl der Nordlichter will Chavanne einen „auffällige[n] Zusammenhang“ erkennen,22 der sich optisch aber nicht bestätigen lässt. Zwar konnte sein Schaubild die Debatte über die Zukunft der Arktisexpeditionen nicht wesentlich beeinflussen und stand – zwei Jahre vor Petermanns Tod – auch fast am Ende von dessen Karriere, doch war es das erste komplexe Schaubild der PGM, das weit über die bisherigen kartografischen und tabellarischen Darstellungen hinausging.23 Zugleich war es – ein halbes Jahrhundert nach der Etablierung der grafischen Datenvisualisierung – eine der ersten abstrakten Darstellungen des Nordpolarmeeres überhaupt. Aus dem jahrhundertealten Ziel wagemutiger Fischer und abenteuerlicher Nordpolexpeditionen war erst jetzt ein neues Mess- und Experimentierfeld der Wissenschaften geworden, das die Arktis 21 Ebd., S. 261–262. 22 Ebd., S. 137. 23 Insgesamt haben die „Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt …“ (1855–1878) bzw. „Dr. A. Petermann’s Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt“ (1879–1937), ab 1938 „Petermanns geographische Mitteilungen“ (PGM), in den ersten 30 Jahrgängen (1855–1884) 798 Karten veröffentlicht, davon etwa ein Viertel zu thematischen Fragen (Paul Langhans, Zum Abschluss des 75. Bandes von Petermanns Mitteilungen, in: PGM 75 (1929), S. 289–290, hier S. 289; Werner Stams, Die Kartographie in den ersten 30 Jahrgängen von „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ (Teil 2), in: PGM 4 (1978), S. 271–284, hier S. 272). In dieser Zeit sind nur neun Diagramme erschienen, davon zwei unter dem Namen von August Petermann (Stams, Kartographie, S. 273).

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nicht mehr als Schauplatz unglaublicher Naturerlebnisse und mythischer Geheimnisse verstand, sondern zum Gegenstand abstrakter Grafiken machte. Sie sollten den stürmischen arktischen Ozean endlich beherrschbar machen, obwohl seine ganzjährige, aber dünne und nie völlig durchgehende Eisdecke so unzugänglich war.

EIN NEUER WEG DURCHS EWIGE EIS Tatsächlich hatte die Arktis seit Hunderten von Jahren als unveränderliche, lebensfeindliche Natur mit einer geschlossenen Eisdecke und einem statischen Pol („Polus Arcticus“) gegolten.24 Ohne Zugangsmöglichkeit für den Menschen war sie mehr als jedes andere Meer Imaginationsgegenstand und Medienobjekt, mehr eine metaphorische Landschaft als eine irdische Region. Ein „mit für die Ewigkeit gebauten Bollwerken von Eis erfülltes Meer“, wie Chavanne diese alte Vorstellung umschrieb,25 kam für eine Verwendung durch den Menschen nicht in Betracht. Land ließ sich besiedeln, aber was ließ sich mit einem zugefrorenen Ozean anfangen? Solange das Eismeer als unzugänglich und nutzlos galt, war es auch kein Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. So wurde die Grenze Alaskas in zwei Verträgen Russlands mit Großbritannien (1825, Art. III) und den Vereinigten Staaten (1867, Art. I) einfach als gerade Linie entlang des 141. Meridians „as far as the Frozen Ocean“ gezogen. Nur für den Fall, dass jenseits dieser Linie doch noch besiedelbares Land entdeckt werden würde, sollte die Frage seines Besitzes neu geregelt werden. Allein Wal- und Robbenjäger segelten regelmäßig bis zur arktischen Eisgrenze und darüber hinaus. Viele verfügten über ausgezeichnete Navigationskenntnisse, die sie freilich oft für sich behielten. Chavanne beklagte, dass „Tausende“ aus der Arktis zurückgekehrt waren, ohne dass ihre Aufzeichnungen erhalten geblieben seien. In der Regel hatte der materielle Gewinn im Vordergrund gestanden und ihre Navigationshilfen waren entweder Berufsgeheimnis oder bloßes Mittel zum Zweck.26 Der Golfstrom war Walfängern schon im 17. und 18. Jahrhundert bekannt, aber die hohe Variabilität der arktischen Eisverhältnisse machte ihnen zu schaffen. In einem Jahr war ein Schiff problemlos in hohe Breiten gelangt, in einem anderen 24 Vgl. die Weltkarten von Gerhart Mercator und Martin Waldseemüller, dazu Christian Holtorf, Das offene Polarmeer. Ein Bilddiskurs im 19. Jahrhundert, in: Franz K. Eder/ Oliver Kühschelm/Christina Linsboth (Hg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 145–172, besonders S. 148–150. 25 Chavanne, Festland, S. 246. 26 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 134–135.

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wurde es viel weiter südlich von undurchdringlichen Eisfeldern gestoppt. Während Expeditionsschiffe Karten anfertigten, um Eisgrenzen und Küstenlinien immer genauer zu bestimmen und die Orientierung in der Arktis zu erleichtern, glaubten die Walfänger lapidar: „So lange Ebbe, Fluth und Strom, Südwest- und Ostwind sein werden, wird die Küste immer vom Eis besetzt und wieder frei werden“.27 Karten, die sich nicht auf die Grenzziehung zwischen Land und Meer beschränkten, sondern spezifischere Fragen behandelten, gab es seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Doch erst im frühen 19. Jahrhundert, mit dem Entstehen der Naturwissenschaften, der Entwicklung präziser Beobachtungsinstrumente und verbesserter Kartentechnik, breitete sich die thematische Kartografie weiter aus.28 Etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie auch für die Arktis relevant. Das öffentliche Bild der Arktis betonte nun nicht mehr nur die Exponiertheit des höchsten Nordens und die Irritation der Sinne durch wilde Eislandschaften, sondern „normalisierte“ die Arktis mithilfe der Auswertung statistischer Daten. Dabei bestanden beide Sichtweisen nebeneinander und beeinflussten sich wechselseitig.29 Eine besondere Rolle spielte um die Wende zum 19. Jahrhundert der englische Walfänger William Scoresby Jr. (1789–1857).30 Er verband den Walfang ausdrücklich mit wissenschaftlichen Interessen und nutzte seine navigatorischen Fähigkeiten, um die variablen Beschaffenheiten des Eises und seine wechselnde Ausbreitung in unterschiedlichen Jahren genauestens zu kartieren. Scoresby unterschied jahreszeitliche Schwankungen, maß Luft- und Meerestemperaturen und versuchte, tatsächliche Erfahrungen von bloßem Hörensagen zu unterscheiden. Seine Karten blieben über ein halbes Jahrhundert Standardwerke der Kartografie, Petermann bezog sich ebenso auf ihn wie Chavanne.31 Keineswegs waren Naturforschung und Kartografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts also so neu, wie Johann Georg Kohl 1857 vor der Smithsonian Institution

27 David Cranz, Historie von Grönland, Barby 1765, S. 41, zitiert nach Chavanne, Eisverhältnisse, S. 246. 28 Vgl. Ingrid Kretschmer, Die Entwicklung der Methodenlehre der thematischen Kartographie bis in die 1960er Jahre, Wien 1989, S. 13; Steffen Siegel/Petra Weigel (Hg.), Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung, München 2011. 29 Vgl. Sybilla Nikolow, Die Versinnlichung von Staatskräften. Statistische Karten um 1800, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte. Revue d’histoire 6 (1999), S. 63–82, hier S. 72. 30 Vgl. Christian Holtorf, „The Singular State of the Ice“. Das kartografische Wissen des Walfängers William Scoresby Jr., in: ders. (Hg.), Zur Wissensgeschichte von Geografie und Kartografie. Themenheft. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40,1 (März 2017), S. 64–85. 31 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 136.

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behauptete – nicht einmal in der Arktis.32 Hintergrund der wieder aufgenommenen Aktivitäten ab Mitte der 1860er-Jahre war vielmehr eine neu entfachte Diskussion in England, an der sich auch August Petermann als Mitglied der Royal Geographical Society kritisch beteiligt hatte. Kurz darauf initiierte er selbst zwei Nordpolexpeditionen aus Deutschland, doch deren baldige Misserfolge veranlassten ihn, den Wettstreit mit England um die beste Route zum Nordpol für beendet zu erklären. Im Jahr 1875 sah er nach zehnjähriger fruchtloser Diskussion keinen Grund mehr für Meinungsverschiedenheiten.33 Die Hauptsache war für ihn, dass überhaupt an der Arktisforschung festgehalten wurde. Er fragte nun nicht mehr nach dem kürzesten Weg ins offene Polarmeer, sondern nach dem günstigsten Zeitpunkt. Tatsächlich ermöglichten zum einen technische Entwicklungen wie Dampfantrieb und Schiffschraube,34 zum anderen die Etablierung präziser wissenschaftlicher Mess- und Aufzeichnungsverfahren und schließlich auch Petermanns eigene Weiterentwicklungen der Kartografie neuartige datengestützte Forschungen, die das „ewige Eis“ zunehmend weniger ewig erscheinen ließen. Chavanne hatte Petermanns ältere Karten von 1852 und vor allem diejenige von 1865 als Grundlage seiner Argumentation genutzt.35 Petermanns Karten stellten warme und kalte Meeresströmungen in den Mittelpunkt, die nun immer genauer gemessen werden konnten, und differenzierte sie nach Jahreszeiten. Ganz in Petermanns Sinne nannte Chavanne sie „Thorwege zum Herzen der Polarregion“.36 Enthielt sein Schaubild also im Verborgenen noch eine zweite physisch-geografische Ordnung? Immerhin beruhte es auf Petermanns geografischen Spekulationen, die auf dessen Karte von 1865 in Form einer keilförmigen Verlängerung Grönlands und von drei Eintragungen „offenes Polarmeer“ deutlich zu erkennen waren. Chavanne verteidigte beide Annahmen gegen die überwiegende Kritik,37 wenngleich er der Behauptung von der Existenz eines aus32 Johann Georg Kohl: Substance of a Lecture Delivered at the Smithsonian Institution on a Collection of the Charts and Maps of America, in: Annual Report of the Board of Regents of the Smithsonian Institute 1856, Washington D.C. 1857, S. 93–146, hier S. 132– 133. 33 August Petermann, Exploration of the Arctic Regions. A Letter to the President of the Royal Geographical Society, in: Proceedings of the Royal Geographical Society XIX (1875), S. 173–180, hier S. 173–174. 34 Vgl. Petermann, Nordpol und Südpol, S. 147. 35 Vgl. Josef Chavanne, Das arktische Festland und Polarmeer, in: PGM 20 (1874), S. 241– 252, hier S. 241; Petermann, Nordpol und Südpol. 36 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 135; vgl. Chavanne, Festland, S. 251; Chavanne, Resultate, S. 386. 37 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 135; Chavanne, Jan Mayen, S. 66; Chavanne, Nordpolfrage, S. 425; Chavanne, Nordpol-Expedition, S. 96, 101.

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Abbildung 2: August Petermann, Karte der Arktischen und Antarktischen Regionen, PGM 1865, Tafel 5, (Ausschnitt). Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, SPA 4° 000100 (011).

gedehnten Polarmeeres gelegentlich auch kritisch gegenüberstand.38 Seine eigenen Forschungsergebnisse formulierte er in dieser Hinsicht sehr neutral: Ohne an ein offenes Polarmeer zu denken, oder andererseits auf die Unnahbarkeit des in der Geschichte der Nordfahrten wiederkehrenden Bollwerks aus ewigem Eise u. dgl. mehr besonders hinzuweisen, wird es aus der einfachen Uebersicht der arkti38 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 260.

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schen Unternehmungen hervorgehen, dass es in jeder einzelnen Partie des Polarmeeres Jahre gab, wo die Eisverhältnisse zur erstgenannten, andere Jahre die zur letztgenannten Auffassung des Polarmeeres Anlass gaben.39

Durch die Möglichkeit zeitlicher Flexiblität machte Chavanne das im Eis stecken gebliebene Schiff Petermanns gewissermaßen wieder flott: Wenn es keine bestimmte Route gab, die den Zugang zum höchsten Norden eröffnete, dann bot vielleicht die Statistik eine Lösung. Sie konnte die Blockade der deprimierenden Berichte durchbrechen, einen periodischen Weg durchs Eis eröffnen und die Arktis nun plötzlich in Form von Kurven in ausgeprägter Wellenform präsentieren. Das offene Polarmeer wurde trotz seiner räumlichen Unauffindbarkeit wieder vorstellbar: als Abfolge von dynamischen Bewegungen in einer abweisenden Eislandschaft. Die Öffnung in ein schiffbares Polarmeer, nach der Petermann suchte, schien nicht räumlich zu finden zu sein, sondern zeitlich.

DAS KLIMA STATISTISCH SEHEN Doch das neue Tor sollte sich nicht zum Pol hin, sondern zum Raum über und unter dem Eis öffnen. Die klimatischen Veränderungen erwiesen sich nämlich nicht nur durch den Küstenverlauf, sondern auch durch die Gestalt des Meeresbodens, den Verlauf von Meeresströmungen und Gezeiten, durch Luftströmungen und ihre Temperaturen bedingt.40 In mehrerer Hinsicht beruhte Chavannes Schaubild auf zeitlichen Variablen: Es nutzte historische Aufzeichnungen, beruhte auf der Idee, dass Eisverhältnisse und Meerestemperaturen veränderlich und mögli39 Chavanne, Nordpol-Expedition, S. 94. 40 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 136. Zur Geschichte der Gezeiten: David Edgar Cartwright, Tides. A Scientific History, Cambridge 1999. Die erste Karte des Meeresbodens des Nordpolarmeers veröffentlichte Frithjof Nansen: Frithjof Nansen, Bathymetrical Chart of North Polar Seas, in: ders., On North Polar Problems, in: Geographical Journal 30,5 (1907), S. 469–487. Zur Geschichte der Meteorologie: H.W. Dove, Die Verbreitung der Wärme auf der Oberfläche der Erde: erläutert durch Isothermen, thermische Isanomalen und Temperaturcurven, Berlin 1852; Adolf Mühry, Zur Vertheidigung der Oceanität am Nordpol, in meteorologischer Hinsicht, in: ders.: Supplement zur klimatographischen Übersicht der Erde: mit einem Appendix, enthaltend Untersuchungen über das WindSystem, und eine kartliche Darstellung des Systems der Erd-Meteoration, Leipzig 1865, S. 224–236. Vgl. Katharine Anderson, Predicting the Weather. Victorians and the Science of Meteorology, Chicago 2005; Mark Monmonier: Air Apparent. How Meteorologists Learned to Map, Predict, and Dramatize Weather, Chicago/London 1999; James Rodger Fleming, Meteorology in America, 1800–1870, Baltimore/London 1990, S. 128, 132.

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cherweise periodisierbar seien, und suchte nach Möglichkeiten, wie Schiffe die Eisbarriere taktisch überwinden konnten. Die Abbildung zeitlich veränderlicher Eis- und Strömungsverhältnisse war spätestens seit Scoresby zu einer kartografischen Herausforderung geworden. Wie lässt sich Zeit überhaupt auf zweidimensionalen Karten abbilden?41 Während sich für die Abbildung von Bewegungen, regelmäßigen Abfolgen und Ereignissen grafische Zeichen- und Symbolsysteme wie Pfeile, Linien, Punkte oder eingefärbte und schraffierte Flächen etabliert hatten, war offen, wie sich langfristige periodische oder diskontinuierliche dynamische Entwicklungen darstellen ließen. Isolinien kamen nicht in Betracht, denn sie dienten dazu, gleiche regelmäßige Werte miteinander zu verbinden. Möglich waren Serienkarten, bei denen für jedes Entwicklungsstadium eine eigene Karte angefertigt wird, die mit den anderen verglichen werden kann. Viel geeigneter aber schien ein abstraktes Diagramm. Die Kurven und gemittelte Daten zeigten nämlich, was kartografisch nicht darstellbar war: den Überblick über eine längere zeitliche Entwicklung. Ein Diagramm konnte das Unsichtbare (die Strömungen) sichtbar und das Sichtbare (die Eisbarrieren) unsichtbar machen.42 Es war also kein Zufall, das Chavanne und Petermann dafür in den PGM ein neues grafisches Format erprobt haben, denn es bestand ja die Gefahr, dass „[in] seeking to narrate the world as stable, orderly, and knowable, geography could become blind to very real changes occuring in the world.“43 Schon auf Arktiskarten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist tatsächlich zu beobachten, wie sich die scheinbar unveränderliche, große weiße Eisfläche verringert. Das dadurch vollkommen veränderte Bild der Arktis war ein Resultat mehrerer Entwicklungen: 41 Vgl. als Überblick Ulrich Freitag, Über Zeit und Zeitkarten, in: L. Zentai/J. A. Györffy/T. Zsolt (Hg), Térkép – Tudomány/Map – Science/Karte – Wissenschaft. Festschrift Prof. István Klinghammer. Térképtudomány Tanulmányok 13, Budapest 2006, S. 115–123. Zur Diskussion siehe Irina Vasiliev, Mapping Time, in: Cartographica 34 (1997), S. 1–51; Mark Monmonier, Strategies for the Visualization of Geographic Time-Series Data, in: Cartographica 27,1 (1990), S. 30–45; Donna J. Peuquet, It’s About Time: A Conceptual Framework for the Representation of Temporal Dynamics in Geographic Information Systems, in: Annals of the Association of American Geographers 84 (1994), S. 441–461; David Harvey, Between Space and Time: Reflections on the Geographical Imagination, in: Annals of the Association of American Geographers 80 (1990), S. 418–434; Don Parkes/Nigel Thrift, Putting Time in its Place, in: Tommy Carlstein/Don Parkes/Nigel Thrift (Hg.), Making Sense of Time, London 1978, S. 119–129; James Morris Blaut, Space and Process, in: The Professional Geographer 13 (1961), S. 1–7. 42 Vgl. Nikolow, Versinnlichung, S. 79. 43 Susan Schulten, The Geographical Imagination in America, 1880–1950, Chicago/London 2001, S. 239.

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einerseits der Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen wie der Meteorologie, der Ozeanografie und der Weiterentwicklung der Kartografie, andererseits der Etablierung neuer Bildtechniken und Medien. Schaubilder und Diagramme visualisierten nun Forschungsergebnisse, die in wissenschaftlichen Journalen und Zeitschriften abgedruckt wurden.44 Chavannes Versuch, die klimatischen Bedingungen der nördlichen Hemisphäre statistisch zu erfassen und als Klimadiagramm avant la lettre abzubilden, bedeutete für die PGM eine späte Premiere und konnte sich auf viele Vorläufer beziehen. Bilder hatten in der Entwicklung von der Wetterkarte zur Klimadarstellung seit ihren Anfängen um 1800 eine wichtige Rolle gespielt, denn erst die Visualisierung der Messdaten ermöglichte die Betrachtung klimatischer Zusammenhänge.45 Chavanne scheint einerseits die Idee von Marc Monmonier vorweggenommen zu haben, dass „(c)artographic research must turn away from its search for the single optimum map, and begin to deal with sequences of maps and the need to integrate maps with statistical diagrams and text blocks containing definitions and other relevant information.“46 Andererseits kam er jedoch nur zu dem mageren Ergebnis, dass es „Wechselbeziehungen der drei Elemente: Temperatur, Nordlichter und Eisverhältnisse“ gebe und die Regel gelte, je weniger Nordlichter, desto günstiger die Eisbedingungen.47 Mit langfristigen Temperaturkurven und der Feststellung von Abweichungen vom mehrjährigen Mittel hat sich mittlerweile ein manifester Klimawandel feststellen lassen, doch im Jahr 1875 hatte eine solche Grafik noch „den Charakter eines Versuches“.48 Sie sollte keine langfristigen Veränderungen, sondern mehrjährige periodische Temperaturschwankungen zeigen und untersuchte gerade einmal Perioden zwischen drei und neun Jahren, keine 30-jährigen Mittelwerte wie die heutige Klimaforschung. August Petermann bezeichnete sie im Titel seines Schaubildes auch nicht als „Klimadiagramm“, sondern nur als „Illustrationen“; sie machten ihn zusammen mit Josef Chavanne aber dennoch zu einem ihrer wissenschaftlichen Vorläufer.

44 Vgl. Michael Friendly, A Brief History of Data Visualization, in: Chun-houh Chen/Wolfgang Härdle/Antony Unwin (Hg.), Handbook of Data Visualization, Berlin/Heidelberg 2008, S. 15–56, hier S. 25; James R. Beniger/Dorothy L. Robyn, Quantitative Graphics in Statistics: A Brief History, in: The American Statistician 32,1 (1978), S. 1–11, hier S. 4. 45 Vgl. Birgit Schneider, Die Kurve als Evidenzerzeuger des klimatischen Wandels am Beispiel des „Hockey-Stick-Graphen“, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2009), S. 41–55, hier S. 43. 46 Monmonier, Strategies, S. 43–44. 47 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 269; vgl. Chavanne, Nordlicht, S. 474–478. 48 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 136.

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DIE AUFBEREITUNG VON DATEN Die Idee, durch exakte Messungen die Gesetze einer dynamischen Natur zu entdecken, wird vor allem mit dem Namen Alexander von Humboldts verbunden. Seine Isothermenkarte von 1817 revolutionierte die Kartografie, weil sie die empirische Naturforschung mit neuen Methoden der grafischen Visualisierung verband. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Verwendung von Schaubildern und Kurvendiagrammen wissenschaftlich etabliert.49 Auch Petermann wusste mit dieser Darstellungstechnik umzugehen, wie mehrere Kurvendiagramme zeigen, die er als junger Kartograf in London publiziert hatte.50 Gleichwohl zeichnet sich das Schaubild von 1875 durch eine gewisse Experimentalität aus. Es ist für die PGM auch deswegen untypisch, weil die grafische Gestaltung unklar erscheint.51 Sie zeigt kein deutliches Bild der Periodizität von Temperaturschwankungen, wohl aber Petermanns Bemühen, auch dann noch an der Idee eines schiffbaren Polarmeeres festzuhalten, als englische, deutsche und österreichische Expeditionen wiederholt von Packeis und Eisbergen daran gehindert worden waren, es zu erreichen.

49 Friendly, History, S. 25. Die historische Beziehung zwischen Karten, Bildern und kartenähnlichen Darstellungen (wie Diagrammen) ist erst wenig erforscht. Zum Stand der Forschung siehe Stephan Günzel/Lars Nowak, Das Medium Karte zwischen Bild und Diagramm. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, Wiesbaden 2012, S. 1–31; Gyula Pápay, Kartenwissen – Bildwissen – Diagrammwissen – Raumwissen, in: ebd., S. 45–62; Antje Schlottmann/Judith Miggelbrink, Visuelle Geographien – ein Editorial, in: Social Geography 4 (2009): Themenheft „Visual Geographies/Visuelle Geographien“, S. 13–24. 50 August Petermann, Atlas of Physical Geography, London 1850, S. 120, 134, eingesetztes Diagramm auf Tafel 15 vor S. 136. 51 In den ersten 25 Jahrgängen (1855–1879) und zehn Ergänzungsbänden (1860–1876) beschäftigten sich die PGM häufig mit Temperaturverteilungen, doch nur in wenigen Fällen werden Kurven und Diagramme verwendet. Temperaturkurven wurden zweimal publiziert: kleine Jahreszeitenkurven in PGM 2 (1856), S. 87–89, sowie die fünf Verlaufslinien auf der Einsatzkarte „Graphische Darstellung der Niveau-Veränderungen der Wolga bei Strachan, in den Jahren 1853–1857“ in: PGM 4 (1858), Tafel 5. Aus vier abstrahierten Luftsäulen besteht Petermanns „Tafel zur vergleichenden Übersicht der thermischen Beobachtungen, die bei den englischen wissenschaftlichen Luft-Schiffahrten im J. 1852 angestellt worden sind“ in: PGM 2 (1856), Tafel 18. Zwischen Sommer und Winter, einer nummerischen und einer abstrahierten Darstellung unterscheiden die vier „Sturmkarten des Atlantischen Ozeans“ in: PGM 8 (1862), Tafel 15. 20 abstrakte Kreisdiagramme zu Messergebnissen einzelner Monate enthält die Tafel zu „Dr. Kane’s Temperatur- & Windbeobachtungen in Rensselaer Bay“, in: PGM 13 (1867), Tafel 7.

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Kurvendiagramme verbreiteten sich mit der Zunahme von Datenmengen, die ausgewertet wurden.52 Zusammen mit ihnen entstand die wissenschaftliche Statistik und war etwa ab Beginn des 18. Jahrhunderts etabliert, wenn auch noch nicht flächendeckend verbreitet.53 Auch die PGM enthielten zwar schon seit der ersten Ausgabe von 1855 Länderkunden, die auf statistischen Daten beruhten, beschränkten sich aber in ihrem grafischen Programm lange auf Tabellen und physische Überblickskarten. Noch 1857 ordnete Kohl Kurvendiagramme in die Sammelkategorie „miscellaneous maps“ ein,54 obwohl „all of the modern forms of data display“ schon verbreitet waren.55 In den USA war der deutschstämmige Charles Anthony Schott (1826–1901) als Chefmathematiker des United States Coast Survey ein Pionier der Aufbereitung statistischer Klimadaten und der Zeichnung von Kurvendiagrammen. Er bearbeitete seit den 1850er-Jahren die geomagnetischen und meteorologischen Daten der amerikanischen Küsten- und Meeresforschung, darunter auch die Aufzeichnungen der amerikanischen Arktisexpeditionen von Elisha K. Kane und Isaac I. Hayes. Im selben Jahr wie Chavannes Grafik entstanden Schotts viel ausgereiftere „Curves of Secular Change in the Mean Annual Temperature“.56 Die von Schott standardisierten und vereinheitlichten Daten nordamerikanischer Städte machten Regelmäßigkeiten erkennbar, die sich grafisch gut erkennen ließen. Um sie erklären zu können, so Schott, müssten die Streuungen der Temperatur, des Niederschlags und der Windrichtungen über möglichst viele Jahre und aus allen Teilen der Welt gemeinsam ausgewertet werden.57 Am selben Ziel arbeitete auch Chavanne. Er war aufgrund seiner Publikationen und der Funktionen als Geschäftsführer und Redakteur mit den kartografischen und statistischen Techniken gut vertraut. Aber um „eine gesetzmässige Periodici-

52 Beniger/Robyn, Quantitative Graphics, S. 2. 53 Laura Tilling, Early Experimental Graphs, in: The British Journal for the History of Science 8/3 (1975), S. 193–213, hier S. 194; vgl. Nikolow, Versinnlichung, S. 63–64; H. Gray Funkhouser: Historical Development of the Graphical Representation of Statistical Data, in: Osiris 3 (1938), S. 269–404, hier S. 291; Theodore M. Porter, The Rise of Statistical Thinking, 1820–1900, Princeton 1986. Zur Geschichte von Big Data siehe jetzt das Themenheft der NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 25/4 (2017). 54 Kohl, Substance, S. 135. 55 Friendly, History, S. 25; vgl. Kretschmer, Entwicklung, S. 51; Beniger/Robyn, Quantitative Graphics, S. 4. 56 Vgl. Fleming, Meteorology, S. 128, 132. 57 Vgl. Charles Anthony Schott, Tables, Distribution, and Variations of the Atmospheric Temperature in the United States, Washington D.C. 1876, S. 317.

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Abbildung 3: Charles A. Schott, Curves of Secular Change in the Mean Annual Temperature, May 1875, in: ders., Tables, Distribution, and Variations of the Atmospheric Temperature in the United States, Washington 1876, gegenüber S. 310. Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, Eph 4° 00117/02-120 (21).

tät in den Veränderungen der Eisverhältnisse“58 feststellen zu können, wie von Chavanne gewünscht, waren die Lücken im vorhandenen Datenmaterial zu groß. Erforderlich war mehr Information, denn: Nicht um ein blindes Losgehen, ein touristisches und nautisches Bravourstück konnte und durfte es sich bei unserer Nordpol-Expedition handeln, die Wissenschaft erwartete eine reiche Fülle von Beobachtungen, die sich nur durch unermüdliche Ausdauer und Energie, strenge und unablässige Beachtung der Aufgabe erlangen liessen.59 58 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 135. 59 Chavanne, Resultate, S. 389; vgl. dazu auch Chavanne, Jan Mayen, S. 9, 11.

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Chavanne lobte Petermann deshalb für die Idee, schon während der 2. Deutschen Nordpolfahrt die Eisdicke „numerisch festzustellen“.60 Dadurch wurde die Aufgabe von Expeditionen vor allem in der Zeit nach ihrer Rückkehr wesentlich ergänzt: Für die Führer und Offiziere der Expedition beginnt nun nach ausklingendem Festjubel die Zeit ernster wissenschaftlicher Thätigkeit, das massenhaft aufgespeicherte Beobachtungs-Material bedarf einer vielseitigen Bearbeitung und Verwerthung, deren Resultate mit grosser Spannung erwartet werden; erst ihr Bekanntwerden wird ein erschöpfendes Urtheil gestatten.61

EIN MOTOR DER SEGELSCHIFFFAHRT Der wichtigste Zweck von Chavannes Schaubild von 1875 bestand jedoch darin, die Navigation von Segelschiffen sicherer zu machen. Schon die ersten thematischen Karten des englischen Astronomen und Kartografen Edmond Halley, die Windrichtungen, Meeresströmungen und Gezeiten darstellten, sollten die Schiffahrt unterstützen.62 Auch Petermann hat darauf hingewiesen, dass man bisher „die Eisströme der Erdpole kaum in einem anderen Lichte betrachtet [habe] denn als einen Gegenstand des Schreckens und der Gefahr für die Handels- und Postschiffe der Erde.“63 Nach praktischem Wissen wurde bei allen Formen von Wettervorhersagen, in der Seefischerei, beim Wal- und Robbenfang, bei der Gewinnung von Bodenschätzen und der Kompassnutzung des Erdmagnetismus gefragt. Nicht zuletzt im Sinne der Vertretung nationaler politischer und wirtschaftlicher Interessen bot die Polarforschung ein praxisnahes Arbeitsfeld. Auch Charles Schott nannte als Ziel seines Kurvendiagramms „to render this investigation more useful to practical men“.64 Selbst für Petermanns theoretische Betrachtung des Meeres waren Fragen der Anwendung und des Nutzens wichtig. Sie riefen das öffentliche Interesse hervor, das jede Forschungsexpedition nicht nur zur Finanzierung benötigte, sondern auch als Legitimation, die angesichts der vielen gescheiterten Unternehmungen nicht mehr allein in der Faszination des Pols liegen konnte, sondern auch einen 60 61 62 63 64

Chavanne, Eisverhältnisse, S. 260. Chavanne, Nordpolfrage, S. 421. Kretschmer, Entwicklung, S. 5. Petermann, Nordpol und Südpol, S. 151. Charles A. Schott, On the Secular Variation of the Magnetic Declination in the United States and at Some Foreign Stations, in: U.S. Coast and Geodetic Survey, Methods and Results, Appendix 12: Report for 1882, Washington 1883, S. 211–280, hier S. 211.

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konkreten Nutzen erforderte. Für die Deckung der Kosten bestand fast immer die Aufgabe, „ein dem Gross-Publikum greifbares, in die Augen fallendes Ziel wie den Nordpol vorführen“ zu müssen.65 Auch wenn es im 19. Jahrhundert keine starke Differenz zwischen den Karten der Wissenschaft und den Interessen der (gebildeten) Zeitungsleser gab, wurden manchmal Erwartungen geweckt, die sich nicht halten ließen. Auch hier konnten abstrakte Grafiken helfen: Zwar waren sie erläuterungsbedürftig, konnten aber zur Eliminierung von fehlerhaften oder lückenhaften Messungen und dem Gewinn eines geschlossenen Bildes eingesetzt werden.66 Auch Chavanne nutzte diese Option: Er widersprach zwar der „von zahlreichen Theoretikern aufgestellte[n] Ansicht, dass sich zwischen der Periodicität der Sonnenflecken, Nordlichter und des Temperaturganges [...] die Existenz einer elfjährigen Periode“ ergebe.67 Stattdessen behauptete er aber Perioden in Zeiträumen eines Vielfachen von Drei – auch bei Nordlichtern und beim Eistrieb der Flüsse.68 Störungen dieses Prinzips erklärte er schlichtweg durch unsorgfältige Beobachtungen und den lapidaren Hinweis, dass ihre Ursachen „uns gegenwärtig noch unbekannt“ seien.69 Dem Ziel, brauchbare Hinweise für die Schiffbarkeit des Polarmeeres zu geben, kam er dadurch nur in einem sehr allgemeinen Sinne nach. Seine Diagramme zeigten lediglich, dass die Schiffbarkeit „abhängig von den periodischen Veränderungen der Wärmeerscheinungen im Laufe von Jahrhunderten“ sei und „ein bestimmter periodischer Wechsel von günstigen und ungünstigen Verhältnissen“ stattfinde.70 Das Ausmaß des Eises hänge von der Witterung des Vorjahres ab.71 Es sei „in keinem Falle in jedem Jahre ein Vordringen im Küstenwasser oder aber wieder in offener See in jedem Theile des Polarmeeres und in jedem Spätsommer zu erwarten“, denn: „Jede Art des Vordringens hat in jedem Theile des Polarmeeres ihre periodisch bestimmte Wiederkehr der Aus­führbarkeit.“72

65 August Petermann, Die große Englische Nordpol-Expedition unter Kapitän Nares, 29. Mai 1875–27. Oktober 1876, in: PGM 22 (1876), S. 456–482, hier S. 457. 66 Vgl. Erica Royston, Studies in the History of Probability and Statistics: III. A Note on the History of the Graphical Presentation of Data, in: Biometrika 43/3–4 (1956), S. 241–247, hier S. 242; Tilling, Graphs, S. 209. 67 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 262. 68 Josef Chavanne, Das Nordlicht und seine Beziehungen zu den Temperatur- und Eisverhältnissen der arktischen Polarregion. Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse Wien 16 (1876), S. 439–478, hier S. 466–468; Chavanne, Eisverhältnisse, S. 263. 69 Chavanne, Nordlicht, S. 468. 70 Chavanne, Eisverhältnisse, S. 253, 261. 71 Ebd., S. 261. 72 Ebd., S. 270.

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Chavanne konnte folglich akzeptieren, dass die günstigen Eisverhältnisse in den Jahren 1816/17 und 1863–1865 nur Anomalien gewesen waren,73 denn es sei „sicher zu erwarten, dass günstige Verhältnisse auf einer oder zweier dieser Routen, ungünstigere Vertheilung des Eises auf den anderen im Gefolge haben“.74 Rund 150 Jahre vor den heutigen Darstellungen der globalen Erwärmung erschienen auf Chavannes Schaubild von 1875 frühe Versuche einer Dynamisierung der Arktis. Das Polarmeer erhielt eine „oceanische Natur“,75 doch der erste Versuch eines Kurvendiagramms in den PGM blieb unbefriedigend. Zwar lassen sich darauf versetzte Wellenbewegungen mit Erwärmungen und Abkühlungen erkennen, aber kein visueller Zusammenhang. Während August Petermann sonst ein Meister kartografischer Präzision und Übersichtlichkeit war, manifestierte sich bei seiner „Illustration zu Chavanne’s Abhandlung“ die für die PGM neue Methodik in Unschlüssigkeiten der grafischen Darstellung. Über mehr als 20 Jahre hatte August Petermann die Polarforschung maßgeblich mitgestaltet, indem er die Berichte zahlreicher Expeditionen, immer wieder an undurchdringliche Eisgrenzen gelangt zu sein, nicht auf sich beruhen ließ. Er hatte die breite öffentliche Wahrnehmung des Arktischen Ozeans gefördert, als wirkungsvoller Vernetzer und Multiplikator fungiert und war einer der großen Motoren der wissenschaftlichen Forschung geworden – nicht obwohl, sondern weil er nach dem offenen Polarmeer suchte. Um einen Weg ins Eismeer zu bahnen, veröffentlichte er immer neues Karten- und Bildmaterial, mit dem er zahlreiche Expeditionen ermutigte und neue Bilder schuf, die mithelfen sollten, das Eis zu öffnen. Dafür scheint er sich auch die Erforschung der Periodizitäten zu eigen gemacht zu haben, die Chavanne ihm vorgeschlagen hatte. Petermanns Versuch, die Daten aus mehreren Weltteilen durch ihre grafische Anordnung und (geringe) farbliche Gestaltung möglichst übersichtlich und aussagekräftig anzuordnen, scheiterte jedoch an der Auflösung des physisch-geografischen Zusammenhangs, am Verzicht auf eine einheitliche zeitliche Skalierung und am Neben- und Übereinanderlegen mehrerer statistischer Auswertungsverfahren. Tatsächlich galt „[u]ntil quite recently“, dass „mapping of the often featureless and constantly moving ice of the Arctic Ocean was a considerable challenge to cartographers.“76 Schotts Kurven aus dem gleichen Jahr erscheinen dagegen äußerst aussagekräftig, sogar so sehr, dass er selbst erkannte, dass sie im Jahr 1876 etwas noch nicht zeigten: 73 74 75 76

Ebd., S. 249. Chavanne, Nordpol-Expedition, S. 99. Chavanne, Eisverhältnisse, S. 141. Derek Hayes, Arctic, The, in: Marc Monmonier (Hg.), History of Cartography, Bd. 6.1, Chicago 2015, S. 73–78, hier S. 73.

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There is nothing in these curves to countenance the idea of any permanent change in the climate having taken place, or being out to taken place; in the last 90 years of thermometric records, the mean temperatures showing no indication whatever of a sustained rise or fall.77

Ein Klimadiagramm ergibt ohne grafische Extrapolation keinen Sinn. Chavanne konnte deshalb aus seiner Darstellung nichts Konkretes folgern. Aber nicht nur methodisch, sondern auch geografisch hat die Arktisforschung seiner Idee inzwischen Recht gegeben. Heute gilt: “The land/ocean boundary is artificial in the Arctic.“78

77 Schott, Tables, S. 311. 78 Oran R. Young, Arctic Governance – Pathways to the Future, in: Arctic Review 1,2 (2010), S. 164–185, hier S. 178.

Dorit Müller

ZWISCHEN WISSENSOBJEKT, MEDIENLABOR UND UMWELT ZUR WAHRNEHMUNG DER EISMEERE SEIT 1800

In ihrer Studie über die Wahrnehmung der Weltmeere im 19. Jahrhundert machen Alexander Kraus und Martina Winkler das Narrativ der „Angst und Distanz“ als „vorherrschende Meistererzählung“ über das Verhältnis des Menschen zum Meer aus.1 Sie plädieren dafür, die in historischen Studien vorherrschenden Sichtweisen einer Dämonisierung einerseits und Eroberung der Meere andererseits aufzubrechen und die Vielfalt der marinen Wahrnehmung in ihren historischen Kontexten stärker in den Blick zu nehmen. Das Meer soll nicht mehr als primär symbolischer und weitgehend geschichtsloser Ort begriffen, sondern in seiner historischen Wandelbarkeit ernst genommen werden. Ein solches Vorgehen lässt notwendigerweise die jeweils historisch bedingten Umgangsformen mit dem Meer – seine politische und medientechnische Vereinnahmung, die wissenschaftliche Beobachtung und Vermessung – wie auch seine sinnlich-körperliche Erfahrung und ästhetische Gestaltung in den Vordergrund der Untersuchung treten. Einen Beitrag zu dieser historischen Vervielfältigung des Meeres wollen die vorliegenden Überlegungen mit Blick auf wissenschaftliche, literarische und filmische Quellen zur Meereswahrnehmung seit 1800 liefern. Sie entstammen verschiedenen historischen Konstellationen, die für jeweils spezifische Betrachtungsund Umgangsweisen mit marinen Prozessen stehen, wobei der Fokus auf das Eismeer gerichtet ist. Aufgrund seiner extremen klimatischen Bedingungen und begrenzten Zugänglichkeit hat dieser Bereich der Ozeane auf besondere Weise historiographische Narrative der Angst und Eroberung heraufbeschworen.2 Die 1 2

Alexander Kraus/Martina Winkler, Weltmeere: Für eine Pluralisierung der kulturellen Meeresforschung, in: dies. (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 9–24, hier S. 10. Zu den Narrativen in historischen Darstellungen der Polarforschung vgl. Anka Ryall/ Johan Schimanski/Henning Howlid Wærp, Arctic Discourses: Introduction, in: dies.

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Verflechtungen zwischen wissenschaftlichen Umgangsformen, ästhetischen Erfahrungen und medialen Praktiken blieben jedoch eher ein Randphänomen der Forschung.3 Auch zum Wandel der Wahrnehmungsformen des Eismeeres liegen kaum Untersuchungen vor. Ausgeblendet blieben Fragen danach, wie sich die Zugangsformen und Darstellungsweisen der Eismeere in Wissenschaft und Populärkultur verändern, welche Begrifflichkeiten und Narrative in den Vordergrund treten, wie sich die Aufzeichnungs- und Präsentationsformen von Eismeerwissen aufgrund verkehrs- und medientechnischer Bedingungen ändern. Nicht zuletzt bildet die Wahrnehmungsgeschichte des Eismeeres als Umwelt noch immer ein Desiderat der Geschichtsschreibung.4 Im Folgenden werden deshalb auf der Grundlage exemplarischer, vornehmlich deutschsprachiger Expeditionsberichte, Hand- und Lehrbücher, Romane und Filme Veränderungen in den Betrachtungsweisen und Umgangsformen mit dem Eismeer untersucht. Dabei lässt sich zeigen, dass im Zuge seiner wissenschaftlichen Erforschung und kulturellen Aneignung sehr unterschiedliche, sich teilweise überlagernde Zuschreibungen an das Eismeer herangetragen wurden: Es begegnet als empirisches Wissensobjekt und Imaginationsraum, als sinnlich-körperliche Herausforderung und unberechenbarer Akteur, als medientechnisches Experimentierfeld und Spielwiese für Helden, als Politikum und zu schützende Umwelt. Historisch gesehen gehe ich von mindestens vier Zäsuren in der Wahrnehmung des Eismeeres aus, die der Beitrag zur Diskussion stellt: (1.) Im Rahmen von Weltumsegelungen und Entdeckungsfahrten des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird das Eismeer erstmals zum empirischen Untersu3

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(Hg.), Arctic Discourses, Cambridge 2010, S. IX–XXII. Dazu u.a. zur Epoche der Aufklärung Christiane Weller, Das Eismeer: Verortungsversuche, in: Georg-Forster-Studien XI,1 (2006), S. 111–130; zum 19. Jahrhundert Christian Holtorf, Das offene Polarmeer. Ein Bilddiskurs im 19. Jahrhundert, in: Franz K. Eder/ Oliver Kühschelm/Christina Linsboth (Hg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 145–172, und Alexander Kraus, Der Klang des Nordpolarmeers, in: ders./ Martina Winkler (Hg.), Weltmeere: Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 127–148; zum frühen 20. Jahrhundert Cornelia Ortlieb, Eismeere: Zur Geschichte eines modernen Phantasmas, in: Hannah Baader/Gerhard Wolf (Hg.), Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich/Berlin 2010, S. 123– 145. Eine dezidiert akteursnahe und praxisorientierte Perspektive auf die Forschungsreisen im antarktischen Meer liefert Pascal Schillings, Der letzte weiße Flecken. Europäische Antarktisreisen um 1900, Göttingen 2016. Anregungen bieten z.B. Adrian Howkins, „Have You Been There?“ Some Thoughts on (Not) Visiting Antarctica, in: Environmental History 15 (2010), S. 514–519, und Shane McCorristine, Träume, Labyrinthe, Eislandschaften. Körper und Eis in Arktis-Expeditionen des 19. Jahrhunderts, in: Alexander Kraus/Martina Winkler (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 103–126.

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chungsobjekt, dessen Beobachtung und exakte naturkundliche Beschreibung zentrale Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig jedoch ist die literarische Reiseberichterstattung, wie sie beispielhaft Georg Forster vertritt, auf inszenatorische Verfahren und ästhetische Vergleiche angewiesen, um die Formenvielfalt und Materialität des Meeres einem breiten Publikum zu vermitteln. Die Wahrnehmung der Eismeere bleibt trotz empirischer Ansätze an antike Topoi des faszinierend-bedrohlichen Meeres geknüpft. (2.) Als Gegengewicht zu einem versachlichten Diskurs der sich etablierenden Meereskunde rückt im ausgehenden 19. Jahrhundert die sinnlich-körperliche Wahrnehmung des Eismeeres verstärkt in den Vordergrund. Polarreisende treten in einen unmittelbaren Austausch mit der Materialität des Meeres, nehmen es als Akteur wahr, betrachten dessen Wirkungsweisen situationsgebunden und verknüpfen die Beobachtungen mit sozialen Praktiken und Überlebenstechniken. (3.) Um 1900 wird das Eismeer zum Experimentierraum für Medienakteure. Einerseits nutzen sie dessen natürliche Beschaffenheit als Medienlabor, um fotografische und filmische Verfahren zu erproben, andererseits konstituieren sie das Eis als widerständigen Katastrophenort und machen das Polarmeer zum Projektionsraum für Eroberungs- und Heldennarrative. (4.) In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet sich schließlich ein Konzeptwandel des Eismeeres als schützenswerte Umwelt in Literatur und Wissenschaft ab. Gegen eine vornehmlich kommerziell ausgerichtete Forschung, die das Eismeer als auszubeutende Ressource deutet, etabliert sich in der kulturellen Öffentlichkeit eine Wahrnehmung des Meeres als Umwelt des Menschen, dessen zerstörerische anthropogene Beeinflussung insbesondere in literarischen Texten kritisch reflektiert wird.

WISSENSOBJEKT UND IMAGINATIONSRAUM Im ausgehenden 18. Jahrhundert wird die empirische Erforschung der Eismeere zu einem wichtigen Bestandteil von Weltumsegelungen und Entdeckungsfahrten. Im Zeitalter der Aufklärung dringen Europäer in den Nordpazifik, nach Grönland und Spitzbergen, ins nördliche Sibirien und in die Antarktis vor. Obwohl die Erkundung der polaren Meere vornehmlich politisch-strategischen und ökonomischen Interessen folgt,5 erlangt die exakte Beobachtung und Aufzeichnung natürlicher 5

Vgl. den Überblick bei Mike Frömel, Offene Räume und gefährliche Reisen im Eis. Reisebeschreibungen über die Polarregionen und ein kolonialer Diskurs im 18. und frühen

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Objekte zentrale Bedeutung. Die Verwissenschaftlichung von Expeditionsreisen lässt sich beispielsweise an der Zusammensetzung der Schiffsmannschaften ablesen. So hatte James Cook auf seiner Zweiten Südseereise (1772–1775), während der er das antarktische Eismeer durchquerte, mehrere von der Londoner Royal Society ausgewählte Gelehrte für unterschiedliche Forschungsaufgaben an Bord.6 Das Eismeer wird erstmals zum systematisch untersuchten Wissensobjekt empirisch arbeitender Naturforscher. Der Blick richtet sich auf die physikalischen Eigenschaften und Größenverhältnisse des Treibeises, auf die Ursachen seiner Entstehung, auf die Himmelserscheinungen und das Wetter sowie die Möglichkeit zu entdeckender Landstriche.7 Der Wissenstransfer an die lesekundige Öffentlichkeit geschieht nach den Reisen vornehmlich durch literarische Reiseberichte, deren Funktion eine doppelte ist: Sie beanspruchen, sachbezogene wissenschaftliche Aufklärung zu geben und zugleich literarische Unterhaltung zu bieten, wobei sie sich an die Rhetorik und inszenatorischen Verfahren der Erzählliteratur anlehnen.8 Georg Forsters 1778 erschienene, aus den Logbüchern der Südseereise gewonnene Reiseschilderung führt das anschaulich vor. Forster folgt einerseits dem wissenschaftlichen Anspruch, einzelne Gegenstände richtig und in ihrem wahren Lichte zu beobachten, [...] dieselben zu verbinden, allgemeine Folgerungen daraus zu ziehen, um dadurch sich und seinen Lesern den Weg zu neuen Entdeckungen und künftigen Untersuchungen zu bahnen.9

In den Passagen über die Eismeerdurchquerung verwandelt sich der Reisebericht andererseits in ein literarisches Experimentallabor, in dem ästhetische Verfahren an Bedeutung gewinnen, um die Phänomene des antarktischen Eismeeres sichtund nachvollziehbar zu machen. Die kaum vorhandene Kenntnis der Erscheinungsweisen und Prozesse des Eismeeres, das Fehlen vergleichbarer Daten aus der 6

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19. Jahrhundert, Hannover 2013, S. 38–55. Neben den deutschen Naturforschern Johann Reinhold und Georg Forster und dem schwedischen Botaniker und Ornithologen Anders Sparrmann fuhr auf jedem der beiden Expeditionsschiffe ein Astronom mit, der sich um die geographischen Positionsmessungen zu kümmern hatte. Georg Forster, Reise um die Welt, hg. v. Gerhard Steiner, Frankfurt am Main 1983, S. 31. Ebd., S. 106–135, 470–474. Zur Gattung des literarischen Reiseberichts und seinen Funktionen in der Aufklärung vgl. Johannes Görbert, Die Vertextung der Welt: Forschungsreisen als Literatur bei Georg Forster, Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso, Berlin/München/Boston 2014. Forster, Reise, S. 17.

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Antarktis sowie die Unbeständigkeit der Gestalt, Größe und Farbgebung der gesichteten Eismassen erfordert eine ausufernde Vergleichspraxis und Rekurse auf die Literaturgeschichte der Seefahrt. Da sich das Eismeer „als widerständig“ gegenüber eingeübten (nordeuropäischen) Wahrnehmungs- und Deutungsmustern erweist,10 unternimmt Forster zunächst den Versuch, die Erscheinungen mittels Veranschaulichung, Analogsetzung und Gegenüberstellung zum Vertrauten und Gewussten zu systematisieren. Das Erfahrungs- und Beschreibungsinventar der Nordseefahrer sowie vertraute Vorstellungen der Bewohner des europäischen Nordens bleiben der Referenzraum seiner Ausführungen. So findet er nicht nur Ausdrucksformen für den Farbenreichtum und die Konsistenz des Eises (von „Sapphyr- oder vielmehr Beryll-Blau“ bis zu „verschiedne[n] Arten von Weiß“, „bald klein- bald grobkörnicht, bald in leichten federichten Flocken [herabfallend]“,11 sondern beschreibt auch „ungeheure EißMasse[n]“, die „ohngefähr zweytausend Fuß lang, vierhundert breit, und wenigstens noch einmal so hoch als unser höchster mittelster Braam-Mast“ seien.12 Er schließt von der bekannten Landmasse im Norden auf ein zu findendes unbekanntes „südliches Grönland“ in der Antarktis,13 nimmt die wärmeren Temperaturen Londons zum Ausgangspunkt, um über die Ursachen der Kälte im Süden Thesen aufzustellen,14 und hält den Lesern „unsre Nordlichter“ vor Augen, damit er deren Farbenvielfalt mit der eintönig „weißlichte[n] Farbe“ der Südlichter kontrastieren kann. Zur Steigerung der Anschaulichkeit lässt er sogar den Kapitän auftreten und wie auf einer Bühne dem Schiffsvolk (und damit auch den Lesern) ein Experiment vorführen, das die Eigenschaften geschmolzenen Eises nahebringt: Der „Capitain“, so Forster, ließ „ein Gefäs voller kleiner Eisstücke in eine warme Cajütte stellen, wo es nach und nach schmolz und dann ungleich weniger Raum als zuvor einnahm.“15 Mittels szenischer Aufführung werden so die Transformationsprozesse des Eismeeres aus dem unermesslichen Naturraum in ein überschaubares Ambiente übertragen und durch einen gleichsam performativen Akt zum epistemischen Ding gemacht. Diese Bühnenästhetik entspricht in gewisser Hinsicht der Perspektive, mit der die Eismeerfahrer vom Schiff aus auf das Meer blicken. Eingebunden in einen Kos10 11 12 13 14

Weller, Eismeer, S. 119. Forster, Reise, S. 118. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114. Ebd., S. 113: Forster hält fest, dass bei 51 Grad südlicher Breite (was etwa der Lage Londons auf der Nordhalbkugel entspricht) eine weit größere Kälte herrsche, was ihn zur These führt, dass das Meer im Süden „die Strahlen der Sonne verschluckt und nicht zurück wirft“, wie es „auf der nördlichen Halbkugel von dem Erdreich geschiehet“. 15 Forster, Reise, S. 124.

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Abbildung 1: „The Ice Islands, seen the 9th January 1773“, James Cook, London 1777, aus: James Cook, A Voyage Towards the South Pole and Round the World, Bd. 1, London 1777, Tafel XXX.

mos aus technischen und wissenschaftlichen Gerätschaften sowie kulturellen Artefakten an Bord können die professionellen Beobachter des Meeres aus der mehr oder weniger sicheren Entfernung im Rhythmus der Schiffsbewegung das Faszinationsobjekt Eis betrachten, ohne sich ihm direkt ausliefern zu müssen.16 Als Passagiere sehen sie wie Kinozuschauer die Kulissen des Meeres an sich vorübergleiten und können bei „schöne[m] heitern Wetter einen ganz vortrefflichen Anblick“ genießen.17 In dieses ästhetische Muster passen auch die bildlichen Darstellungen des Eismeeres (Abb. 1). Wo Forster die sprachlichen Möglichkeiten zu reduziert erscheinen, um den Erscheinungen des Eismeeres gerecht zu werden, verweist er auf die vom Expeditionsmaler William Hodges erstellten Abbildungen, die Cooks zeitgleich erschienener Reisebeschreibung beigegeben sind. Der „The Ice Islands“ betitelte Stich veranschaulicht in einer bühnenartigen Anordnung nicht nur die Größenverhältnisse zwischen Mensch, Eisberg und Schiff, sondern lädt auch den Betrachter ein, die Szene des mühseligen Eishackens zur Auffüllung des Trinkwasservorrats als idyllisches Schauspiel zu betrachten. 16 McCorristine hat darauf hingewiesen, dass das Schiff vor allem im 19. Jahrhundert „eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung von (Eis)Landschaften“ spielte, weil seine Einrichtung „die Bewegung und das Tempo der Körper der Seeleute“ bestimmte. McCorristine, Träume, S. 111–112. 17 Forster, Reise, S. 114.

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In seiner klar überschaubaren und harmonisch-klassizistischen Komposition imaginiert der bildkünstlerische Zugriff auf das Eismeer ein erhabenes Naturstück, das in Forsters Text aufgegriffen und in ein literarisches Landschaftsbild verwandelt wird. Denn er ergänzt die „malerische Abbildung“ um „einige große Wallfische, die dem Augenmaaß nach sechzig Fus lang seyn mochten, und viele Pinguins“, welche „auf kleinen Eisstücken neben uns vorbey[trieben]“.18 Obwohl Forster die Ursachen der Eisbildung durch Anführung empirischer Belege hinreichend erläutert, greift er zur Beschreibung des Treibeises gern auf alltagsweltliche und religiöse Bildarsenale zurück, was seiner im Vorwort proklamierten objektiven Berichterstattung imaginative Nuancen hinzufügt. So bestaunt er die „außerordentlicher Größe“ der „wie Kirchthürme“ gestalteten „Eisinseln“, die der „Einbildungskraft freyes Spiel“ geben19 oder konstruiert „eine Ähnlichkeit“ zu „gewisse[n] Gegenden der Hölle“, um die Zersplittertheit und das „unabläßige Fluchen und Schwören“ der Eiswelt zur Anschauung zu bringen.20 Eine Dramatisierung erzeugen auch die zahlreichen Zitationen von Weltklassikern wie Vergil, Horaz oder Shakespeare. Es handelt sich um Textstellen, die das Wüten der Elemente, drohenden Schiffbruch, Kälte und Todesgefahr poetisch verarbeiten und so das auf der Reise Erlebte in den Kontext der Imaginationsgeschichte des Reisens in gefährliche Räume stellen. Sie binden die Eisfahrtpassagen an die seit der Antike tradierten Topoi der Irrfahrt und des Schiffbruchs.21 Diese Imaginationsarbeit ist sicher mehr als nur ein Versuch, der dem Zufall ausgesetzten Phänomene des Eismeeres Formen zu geben und ein „Therapeutikum“ gegen die Eintönigkeit zu schaffen.22 Die bemühten Analogien übernehmen vielmehr sinnstiftende, illustrierende und letztlich auch dramatisierende Funktionen. Forsters Reisebericht bleibt, wenngleich er sich als Teil einer beginnenden Verwissenschaftlichung der Meereskunde versteht, auf ästhetische Verfahren angewiesen, um die unvorstellbaren Erscheinungen im Eismeer überhaupt kommunizierbar zu machen. Die noch fehlende wissenschaftliche Begrifflichkeit zur Beschreibung der Erscheinungsweisen, Eigenschaften und Dynamiken des Eismeeres ersetzen alltagskulturelle Vergleiche, szenische Inszenierungen und Verweise auf die Literaturgeschichte, in denen das Meer als erhabenes oder lebensfeindliches Element erscheint. Die Bewältigung der widerständigen Materialität des Eises vollzieht sich im Modus kalkulierter ästhetisch-inszenatorischer Verfahren. 18 19 20 21 22

Ebd., S. 123. Ebd., S. 132. Ebd., S. 464. Vgl. Weller, Eismeer, S. 113. Catherina Zabravsky, Terra incognita. Begegnungen im Treibeis, in: Manfred Rösner/ Alexander Schuh (Hg.), Augenschein – ein Manöver reiner Vernunft. Zur Reise J.G. Forsters um die Welt, Wien 1990, S. 29–62, hier S. 51.

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SINNLICHKEIT UND KÖRPERTECHNIK Hatte Cook im Rahmen seiner Weltreise das antarktische Meer nur deshalb durchfahren, um einen mutmaßlichen Südkontinent zu finden, so sind die Polarreisen im ausgehenden 19. Jahrhundert spezialisierter. Die Erforschung der Eismeere (ihrer Strömungen, Temperaturen, Formen und magnetischen Eigenschaften) gehört zum Reiseprogramm. Eine fortschreitende Verwissenschaftlichung macht sich durch erste Handbücher, Lehrwerke und Zeitschriften der sich etablierenden Meereskunde bemerkbar; systematische Messungen werden durchgeführt und Statistiken über die Dauer und Anzahl von Eisbildungsprozessen in den Polargebieten angefertigt.23 Polarreisen dienen der Vervollständigung solcher Messungen und Erhebungen. Zudem hat sich die Schiffstechnik soweit vervollkommnet, dass Überwinterungen im Eismeer einkalkuliert werden. Die oftmals im Packeis eingefrorenen Schiffe driften teilweise jahrelang im Eis, was nicht nur neue Einsichten in die Beschaffenheit der Eisoberfläche ermöglicht, sondern auch sinnliche Erfahrungen und Überlebenstechniken im Eis in den Vordergrund der Reiseschilderungen rückt. In den Zeitraum nach 1870 fällt zudem die Trennung von wissenschaftlicher und populärkultureller Berichterstattung über Polarexpeditionen; beide treten in einen Wettstreit um Deutungshoheit.24 Während in wissenschaftlichen Publikationen die erhobenen Messwerte der Temperaturen und Eisberghöhen, die Länge von Eiswänden und die Lage der Gletscher beschrieben und damit jeglicher Ereignishaftigkeit entrissen werden,25 tritt in den populären Reiseberichten die sinnliche Wahrnehmung des Eismeeres verstärkt in den Vordergrund. Die meist chronologisch angelegten und mit Illustrationen versehenen Reiseschilderungen verfolgen eine Art Physiognomie des beweglichen Eises, studieren die Erscheinungs- und Ausdrucksweisen, die Verlautbarungen und Verhaltensweisen des Meereises, wobei die Rhetorik je nach Situation zwischen Dämonisierung und Glorifizierung des Meeres schwankt.26 Alexander Kraus hat die sinnliche Präsenz des Eismeeres am Beispiel der akustischen Wahrnehmung in einschlägigen englischsprachigen Reiseberichten des 23 Als signifikanter Zeitpunkt wird meist das Internationale Polarjahr 1882–1883 angegeben, doch lassen sich bereits in den 1770er-Jahren Tendenzen einer verwissenschaft­ lichten Expeditionskultur ausmachen. Vgl. Schillings, Flecken, S. 60. 24 Für Großbritannien vgl. Russell A. Potter, Arctic Spectacles. The Frozen North in Visual Culture, 1818–1875, Seattle/London 2007; für Österreich-Ungarn Johan Schimanski/ Ulrike Spring, Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 463–545. 25 Etwa in Albert Heim, Handbuch der Gletscherkunde, Stuttgart 1885, S. 456–487. 26 Vgl. etwa die Reiseberichte von Julius Payer, George W. de Long und Fridtjof Nansen.

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19. Jahrhunderts aufgezeigt. Seine These, dass die „Höreindrücke des Nordpolarmeers“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Schreibenden mit zunehmender Intensität im Zusammenhang mit Horror und Angst vor dem Meer thematisiert wurden,27 lässt sich auch auf die deutschsprachige Berichterstattung übertragen. Hinzu tritt jedoch ein weiteres Moment. Das Eismeer wird als eigenständig agierendes Element wahrgenommen, das bestimmte Überlebenstechniken notwendig macht. Die Polarforscher erkunden das Eis nicht mehr nur vom Schiff aus, sondern betreten das zugefrorene Meer; die Gefahren werden unmittelbar körperlich spürbar. Man könnte mit Shane McCorristine davon sprechen, dass die (westlichen) Akteure in der Arktis „von somatischen und klimatischen Bedingungen bestimmt waren, die aktiv die Art und Weise von Bewegung und Verstehen beeinflussten“.28 Anders als die Schreibtischarbeiter, die aus der Ferne Daten und Erscheinungen des Eismeeres in Tabellen notierten und auswerteten, traten die Polarreisenden in einen unmittelbaren Austausch mit der Materialität des Meeres. Entgegen der forschungsdominanten These, dass die Arktis im 19. Jahrhundert zum Abenteuerraum für weiße, männliche „Eroberer“ wird, weil die vorgefundene „Leere“ zur ideologischen Vereinnahmung einlädt,29 erweist sich der arktische Meeresraum in vielen Reiseberichten als ein Kommunikationsraum zwischen Körper und Umwelt. Hier werden die durch das Meer affizierten Sinneserscheinungen und körperlichen Befindlichkeiten thematisiert, aber auch alltägliche Rhythmen, Körpermobilität und Schmerzerfahrungen sowie Möglichkeiten des angemessenen Umgangs mit der extremen Umwelt thematisiert. Der österreichische Bergsteiger und Kartograph Julius Payer, der zwischen 1872 und 1874 gemeinsam mit dem deutschen Marineoffizier Carl Weyprecht eine Forschungsreise im arktischen Meer auf der Suche nach dem Nordpol unternimmt, legt denn auch den Fokus seiner Reiseaufzeichnungen auf die „Erfahrungen [...] über die Beschaffenheit des Eismeeres und die Chancen seiner Bereisung“; die „Tabellen der magnetischen und meteorologischen Beobachtungen“ seiner wissenschaftlichen Kollegen Weyprecht, Brosch und Orel sowie die Zeichnungen der „Fauna des Eismeeres“ werden mit Bedacht nicht in den Bericht integriert.30 Statt 27 Kraus, Klang, S. 129. 28 McCorristine, Träume, S. 105. 29 Etwa Jen Hill, White Horizon. The Arctic in the Nineteenth-Century British Imagination, New York 2008; Inge Stephan, Eisige Helden. Kältekult und Männlichkeit in den Polarphantasien von Georg Heym, in: Ulrike Brunotte/Rainer Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008, S. 271–285, hier S. 274–275. 30 Julius Payer, Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, Wien 1876, S. IX.

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mit Zahlen befasst sich der Text umfassend mit den Formen, Farben und Verlautbarungen des Eises. Payer hört das „Nagen des Meeres“, das „Knistern und Knacken, welches durch das Zerspringen der Eistheilchen hervorgebracht wird“, aber auch „das flüsternde Hinsterben des Eises“; er beobachtet „die geschäftige Emsigkeit des Schmelzungsprocesses [...] der Eiswelt“ und bewundert ihre „zarte rosige Blendung“, die glühender wird, je mehr sich die Sonne dem Horizont nähert.31 Insbesondere den Geräuschen der Eispressungen, denen die Mannschaft monatelang ausgesetzt ist, gelten seine Aufmerksamkeit und sein poetischer Gestaltungswille: Ein furchtbar kurzer Rhythmus des stoßweisen Geheuls verkündet die höchste Spannung der Gewalt, ängstlich lauscht das Ohr dieser wohlbekannten Bewegung. Dann folgt ein Krach, mehrere schwarze Linien irren ohne Wahl über den Schnee.32

Payers Reisebericht verfolgt eine Art Physiognomie des beweglichen Eises, die neben die wissenschaftlich institutionalisierte tritt und jene erweitert. Sie richtet sich auf die ästhetische Wahrnehmung der äußeren Natur des Eises, betrachtet dessen Wirkungsweisen situationsgebunden und verknüpft die Beobachtungen mit sozialen Praktiken oder ergänzenden Wissensformen, die als „Überlebenswissen“ bezeichnet werden können.33 In einer Passage über die bedrohliche Macht der Eispressungen im Polarmeer lässt Payer hervorbrechende Eisberge „wie unzählige Teufel“ erscheinen, welche den Eismeerfahrern mit „tausendstimmigem Wutgeheul“ das nahende „Verderben“ ankündigen.34 Unzweifelhaft greift er mit seiner Höllenmetaphorik einen tradierten Topos auf, der die Seefahrtsliteratur seit der Frühen Neuzeit bis zu Autoren der Aufklärung wie Forster bestimmt. Doch erfahren die Leserinnen und Leser bei Payer weiterhin, wie Eispressungen sich ankündigen, ausbreiten und verschwinden. Sie lernen auch, wie sie die menschlichen Sinne beanspruchen, welche Möglichkeiten des Schutzes es gegen sie gibt und was ein Schiffbrüchiger im Eismeer als Überlebenspaket benötigt, um sich den Umweltbedingungen anzupassen. Neben Pelz- und Tuchhandschuhen, Schneebrillen, Gewehren, Patronen und Zelt hält Payer es für wichtig, Bleistifte, Notizbücher und 31 Ebd., S. 11–12. 32 Ebd., S. 90. 33 In der Forschung wurde das Konzept des „Überlebenswissens“ bisher nur auf Polarreisen des frühen 20. Jahrhunderts bezogen. Vgl. Ulrike Brunotte, Unfall-Wissen. Ernest Shackletons Antarktisexpedition (1914–1916) und die Kunst des Überlebens, in: Christian Kassung (Hg.), Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld 2009, S. 395–416. 34 Payer, Nordpol-Expedition, S. 36–37.

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Tagebücher in einen Rettungssack zu packen.35 Letztere Utensilien unterstreichen nicht nur die eminente Rolle der Dokumentation auf Eismeerreisen, sondern übernehmen auch therapeutische Funktionen. Denn nichts scheint trostloser als die „dunkle Einöde“ des arktischen Winters, dessen Kälte und Entbehrungen mit „unablässiger Arbeit“ begegnet werden müsse.36 Neben einer lückenlosen Aufzeichnung der Beobachtungen und Ereignisse, dem meteorologischen Beobachtungsdienst und landschaftlichen Studien (soweit diese im Dämmerlicht überhaupt möglich waren) gehörte dazu auch die Abrichtung der Hunde, die Aufbereitung von Eis zur Wasserversorgung, das Verarbeiten von Tran zur Brennstoffgewinnung sowie die Beschaffung von Bärenfleisch. Vor allem aber musste das Schiff vor den immerwährenden Angriffen des Eises geschützt werden. Es geht im Reisebericht also auch um die organisierende und steuernde Macht, die das stoffliche Phänomen Eismeer ausübt. Das Meer wird als Akteur adressiert, denn es „besetzt“ das Schiff, nimmt es „in Haft“, lässt die Mannschaft „willenlos den Launen des Eises“ folgen oder zwingt sie zu „mühseliger Arbeit“ am und gegen das Packeis.37 Zudem ruft es soziale Praktiken auf den Plan. Um nicht der Hoffnungslosigkeit in der „furchtbaren Gleichförmigkeit“ des „Gefangenlebens“ zu verfallen, wird das Schiff am Namenstag des Kaisers Franz Josef beflaggt und zur Huldigung desselben ein Scheibenschießen veranstaltet; zudem lenken sich die Eismeerforscher (solange die Helligkeit und ruhiges Wetter es zulassen) mit Eisbauprojekten ab, indem sie aus dem Packeis „Häuser“, „krystallene […] Mauern“ und „massive“ Türme errichten.38 Das Festfrieren im Eismeer und das Ausgeliefertsein an die bedrohlichen Eispressungen verändert auch den menschlichen Blick auf die Expeditionshunde, von deren Wohlergehen die erhoffte spätere Erkundung arktischer Inseln durch Schlittenfahrten abhängt. In der Beschreibung ihrer vermeintlich schockierten Wahrnehmung der „brüllenden Wogen des Eises“ und der sich ihrer bemächtigenden „scheue[n] Demuth“ spiegelt Payer das menschliche Verhältnis zur machtvoll agierenden Natur, der nichts entgegenzusetzen ist, und lässt Mensch und Tier emotional zusammenrücken.39 35 36 37 38

Ebd., S. 43. Ebd., S. 61. Ebd., S. 14, 24. Ebd., S. 30, 33. Die rhetorischen Anleihen bei architektonischen Gebilden, die nicht nur im 19. Jahrhundert zum bevorzugten Bildarsenal von Eismeerbeschreibungen gehörten, werden hier quasi in die Praxis umgesetzt. Vgl. zur Architekturrhetorik etwa McCorristine, Träume, S. 118. 39 Payer, Nordpol-Expedition, S. 39. Zum komplexen und ambivalenten Verhältnis von Menschen und Tieren auf Polarreisen vgl. die Ausführungen von Schillings, Flecken, S. 208–222.

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Das Zentrum seiner Überlegungen bilden allerdings Themen körperlicher und psychischer Befindlichkeit des Menschen: Schlaflosigkeit, Nervosität, Hoffnungslosigkeit, Erfrierungen, Verlangsamung des Stoffwechsels durch unzureichende Ernährung, Skorbut und Lungenkrankheiten werden aufgelistet und als Effekte der Umwelt gedeutet. Sie manifestieren die enorme Bedeutung, welche umweltgebundene und psychologische Bedingungen auf die Wahrnehmung und Arbeitsweise der Polarforscher hatten: „Tags keine Ruhe zum Lesen oder Arbeiten; fast jede Nacht wird uns der Schlaf verkümmert durch das schauerliche Erwachen innerhalb eines prasselnden großen Sarges“; „gleich gehetzten Thieren springen wir auf, um im Dunkel der schreckenvollen Nacht zu warten auf das Ende“.40 „Niederdrückend“ wirke „die Entbehrung eines Zieles und der ihm entsprechenden Thätigkeit“; „bei längerer Fortdauer so urplötzlicher Bedrohungen“ überrasche es nicht, „den Verstand ein[zu]büßen“; „nirgends auf der Erde kann ein Exil so vollständig sein wie hier, unter dem furchtbaren Triumvirat: Finsterniß, Kälte und Einsamkeit.“.41 Die Extrembedingungen des winterlichen Ausharrens im Meer graben tiefe Spuren in die Körper der Männer, so dass kaum ein Tag vergeht, „an dem wir nicht einen bis zwei Kranke hatten“; als Ursache werden „Mangel an Bewegung, jäher Temperaturwechsel, Gemüthsverstimmung, periodischer Abgang frischen Fleisches, Feuchtigkeit und Vereisung der Wohnräume“ auf dem Schiff genannt.42 Die Körperlichkeit der Forscher spielt auch bei ihrer Ankunft in der Zivilisation – nach der Aufgabe ihres Schiffes und monatelanger Wanderung über das Eismeer Richtung Nowaja Semlja – eine zentrale Rolle. Erwartet wurden in Österreich-Ungarn nicht kultivierte Polarhelden, die die Spuren ihrer handfesten Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsobjekt abgewaschen hatten, sondern möglichst maskuline Helden mit den Abdrücken der Kälte, des Hungerns und harter Arbeit, kurz: Männer, denen man ansehen konnte, dass sie im Eis um ihr Überleben gekämpft hatten.43 Dieses Betonen der sinnlich-körperlichen Aspekte der Begegnung mit der Arktis und dem Eismeer kann als „Verlangen nach dem Authentischen und Sensationellen“ gedeutet werden,44 scheint zugleich aber auch ein Gegengewicht zu einer zunehmend versachlichten und formalisierten Umgangsweise mit dem Eismeer zu bilden. Während Letztere den Meeresraum entsinnlicht, indem sie seine Eigenschaften auf Zahlen und Lagebeziehungen reduziert, richten sich die erzählenden Expeditionsberichte auf die ästhetische Wahrnehmung der 40 41 42 43 44

Payer, Nordpol-Expedition, S. 50. Ebd., S. 62, 79. Ebd., S. 82. Vgl. die Auswertung von Pressestimmen bei Schimanski/Spring, Passagiere, S. 142–148. Ebd., S. 146.

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äußeren Natur des Eises, betrachten dessen Wirkungsweisen situationsgebunden und thematisieren das Eismeer als Akteur und Auslöser körperlicher Prozesse. Sie geben dem Eismeer eine Gestalt, befreien es aus Messwerten, physikalischen Gesetzmäßigkeiten und statistischen Reihungen und machen es zum aktiven Gegenüber des Menschen. Diese Tendenz verstärkt sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der professionelle Einsatz von Fotografie und Film das Eismeer zum Experimentierfeld neuer Medientechniken macht und es sowohl als Katastrophenort als auch Projektionsfläche für Eroberungsphantasien visuell greifbar werden lässt.

MEDIENLABOR UND SPIELWIESE FÜR HELDEN Eine Zäsur in der europäischen Wahrnehmungsgeschichte des Eismeeres bewirken die nach 1900 forcierten Wettläufe zu den Polen, die zu Medienereignissen ausgeschlachtet werden.45 Die wissenschaftlichen Zugangsformen zum Polarmeer verschwinden hinter dem Drang, das Eismeer rasch und ohne Zwischenfall zu durchqueren, um die letzten „weißen Flecken“ der Erde zu „erobern“. Expeditionsmaler und Amateurfotografen werden auf Expeditionsreisen durch Berufsfotografen und Filmpioniere ersetzt, damit sie die Vereinnahmung der Natur „hochwertig“ und publikumswirksam dokumentieren. Das Eismeer erhält dabei den Charakter eines Medienlabors.46 In ihm werden neue Techniken und Darstellungsweisen erprobt, zugleich prägt die Darstellungslogik der Fotografien und Filmaufnahmen die Wahrnehmung und das öffentliche Bild des Eismeeres als Schauplatz heroischen Eingriffes in eine widerständige Natur. Im Fall der Terra-Nova-Expedition Robert Falcon Scotts (1909–1912) und der Endurance-Expedition Ernest Shackletons (1914–1917) werden Herbert Ponting und Frank Hurley als ausgebildete Fotografen und Filmoperateure mit künstlerischen Ambitionen angeheuert. Beide Unternehmungen können als Paradebeispiel für die frühe fotografische und filmische Erkundung der Antarktis aufgefasst werden, wobei den Medien Bedeutung für die Bewältigung des Scheiterns im Eis zukam. Scotts Mannschaft erreichte zwar im Januar 1912 ihr Ziel, doch traf sie erst fünf Wochen nach dem norwegischen Kontrahenten Roald Amundsen am Südpol ein und kam dann aufgrund widriger Wetterbedingungen auf dem Rückmarsch zum Basislager um. Shackleton, der den antarktischen Kontinent erstmals voll45 Vgl. Schillings, Flecken, S. 317–327. 46 Vgl. Dorit Müller, Antarktis als medialer Wissensraum. Die Expeditionen Ernest Shackletons, in: dies./Sebastian Scholz (Hg.), Raum Wissen Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs, Bielefeld 2012, S. 181–212.

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ständig durchqueren wollte, manövrierte sein Schiff bereits vor Erreichen des Festlandes ins Packeis, wo es abtrieb und schließlich durch Eispressungen zerstört wurde. Die Expeditionsteilnehmer bewegten sich monatelang auf einer Eisscholle mit der Drift und konnten sich schließlich mit Beibooten auf eine Insel retten, von wo sie nach langem Ausharren von einem Schiff befreit wurden. Beide Spielarten des „Scheiterns“ wurden von den Kameraleuten medientechnisch avanciert umgesetzt und retrospektiv bearbeitet, was dem Nachruhm der Polarreisenden zuarbeitete. Glaubt man ihrer Selbstinszenierung in den Expeditionsberichten, so ist diese Filmarbeit hochgefährlich und erfordert den intensiven Einsatz des Körpers. So schildert Ponting eine Situation, in der er beim Filmen fast von Schwertwalen von einer Eisscholle in den McMurdo-Sund gestoßen worden wäre.47 Um die Bewegung des Schiffes im Eis erfassen zu können, lässt er sich auf riskante Aktionen ein. So filmt er auf seitlich am Schiff angebrachten Planken bäuchlings liegend, mit der einen Hand die Kamera vor Sturz schützend, mit der anderen die Kurbel bedienend, den Bug des Schiffes, wie er durch das dichte Eis bricht.48 Frank Hurley, der Shackletons Expedition begleitet, wird gar als „Krieger“ mit „Kamera“ bezeichnet,49 der alles riskiert, um ein Foto zu machen. Als das Schiff vom Packeis zerstört wird und untergeht, balanciert er unter Lebensgefahr zwischen den Trümmern, um Aufnahmen zu machen und taucht im Eismeer unter, um seine Filmmaterialien aus dem Schiffwrack zu retten.50 Durch die Aufnahmen vom Untergang der ENDURANCE und des sich anschließenden Überlebenskampfes der Mannschaft trägt Hurley dazu bei, dass die Expedition bis heute als ein Symbol zwar gescheiterter, aber positiv bewältigter Polarreisen im kulturellen Gedächtnis gespeichert wird. Die Aufnahmen erscheinen einerseits in künstlerisch ambi47 Herbert Ponting, The Great White South. Being an Account of Experiences with Captain Scotts South Pole Exhibition and of the Nature Life of the Antarctic, New York 1922, S. 63–64: „The head of one [whale] was within two yards of me. I saw its nostrils open, and at such close quarters the release of its pent-up breath was like a blast from air-compressor. The noise of the eight simultaneous blows sounded terrific, and I was enveloped in the warm vapour of the nearest ‚spout‘, which had a strong fishy smell. Fortunately the shock sent me backwards, instead of precipitating me into the sea.“ 48 Ebd., S. 41. 49 Lionel Greenstreet über Hurley in einem Brief an seinen Vater, zitiert nach Caroline Alexander, Die Endurance. Shackletons legendäre Expedition in die Antarktis, Berlin 1998, S. 222. 50 Ernest H. Shackleton, South. The Story of Shackleton’s last Expedition 1914–1917, New York 1920, S. 80, sowie Hurleys Tagebucheintrag vom 2.11.1915, in: Robert Dixon/Christopher Lee (Hg.), The Diaries of Frank Hurley 1912–1941, London/New York/Delhi 2011, S. 33.

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tionierten Fotobänden und werden als (intellektuelle und körperliche) Pionierarbeit gefeiert,51 da sie als Zeugnis einer logistisch perfekt durchgeführten Entdeckungsreise gelten52 und die „Kunst des Überlebens“ in der Antarktis repräsentieren.53 Andererseits werfen sie Fragen danach auf, inwieweit die Fotoarbeit die sozialen Praktiken während der Expedition veränderte und wie sehr wohl das Blick-Regime der Fotografie die Wahrnehmung und das öffentliche Image der Südpolargebiete prägte. So wurden Hurleys fotografische Methoden auch als ethnographische bezeichnet, die darauf zielten, die Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt zu veranschaulichen sowie die körperliche Erfahrung des extremen Raumes sichtbar zu machen.54 Dass diese Erfahrung eine genuin männliche war, die Eigenschaften der Willenskraft, Tapferkeit, Zielstrebigkeit und Mut adressierte, ist in der Forschung eingehend thematisiert worden.55 Gleichwohl haben viele der Fotografien Feldforschungscharakter. Sie konzentrieren sich auf die Lebens- und Arbeitsweise der Expeditionsteilnehmer, beobachten, wie die Polarforscher kochen und essen, mit Tieren und Instrumenten umgehen, auf dem Eis Fußball spielen und campieren. Diese Fokussierung auf das anthropologische Moment in der Eiswüste trägt nicht nur zu einer Sozialgeschichte der Antarktis bei, sondern konstruiert auch nationale Erinnerungsbilder „of a clean national endeavour in far away places“.56 Einige der Fotografien gingen später in den 1919 von Hurley hergestellten Expeditionsfilm „South“ ein. Dieser aus Originalaufnahmen, nachträglichen Filmaufzeichnungen, Fotografien, gemalten Bildern und Wortbeiträgen kompilierte Film kam zunächst unter dem reißerischen Titel „In the Grip of the Polar Pack“ in die Kinos.57 Bereits der Titel verrät, dass der Überlebenskampf im Zentrum steht. Die Präsentation der insgesamt recht marginalen Forschungsergebnisse (insbesondere sind dies Eisformationen und zoologische Aufnahmen von Robben, Pinguinen und Meeresvögeln) ist Bestand51 U.a. Alexander, Endurance, und David Hempleman-Adams (Hg.), The Heart of the Great Alone. Scott, Shackleton and Antarctic Photography, London 2009. 52 Vgl. Stephanie Barczewski, Antarctic Destinies. Scott, Shackleton and the Changing Face of Heroism, London 2007, S. 283–304. 53 So Brunotte, Unfall-Wissen, S. 395. 54 Vgl. Kathryn Yusoff, Configuring the Field. Photography in Early Twentieth-Century Antarctic Exploration, in: Simon Naylor/James R. Ryan (Hg.), New Spaces of Exploration. Geographies of Discovery in the Twentieth Century, New York 2010, S. 52–77, hier S. 73. 55 Vgl. dazu Schillings, Flecken, S. 232–234. 56 Yusoff, Field, S. 74. 57 Ich beziehe mich in der Analyse auf folgende Fassung: „South“ (GB 1919, Regie und Produktion: Frank Hurley, rekonstruierte und viragierte Fassung des National Film and Television Archive London, DVD Edition arte, absolut Medien, 2007).

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teil eines umfassenden Plots, der auf die Gattungskonventionen der Abenteuerliteratur rekurriert. Die Forschungsdaten werden an Wissenschaftlerfiguren gebunden und in eine Heldengeschichte eingebettet, die vom Aufbruch in ferne Welten, von Schiffskatastrophen und vom Bestehen harter Prüfungen sowie einer glücklichen Rückkehr in die Heimat berichtet. Die Dramaturgie des Films folgt gängigen und Erfolg versprechenden Strategien der zeitgenössischen Publikumsunterhaltung. Sie stützt sich auf eine ausgewogene Mischung unterschiedlicher Bildmedien (Realfilmaufnahmen, Fotografien und künstlerische Bilder), kontextualisiert diese durch eingängige Kommentare in den Zwischentiteln und rahmt die chronologisch aufgebaute Filmhandlung durch ein heroisch-pathetisches Narrativ. Die Zwischentitel am Anfang und Ende des Films preisen die Polarforscher als mutige und selbstlose Männer und die Expedition als Ausdruck der Selbstaufopferung für das Vaterland. Das Eismeer ist Schauplatz schmerzhafter Prüfungen und Projektionsfläche heroischer Selbstentwürfe, deren Umsetzung den Einsatz körperlicher Qualen fordert. Ähnlichen Gestaltungsprinzipien unterliegt der Film „90 Degrees South – With Scott to the Antarctic“, der auf Foto- und Filmmaterialien Pontings von der TerraNova-Expedition beruht und 1933 als Tonfilm in die Kinos kommt.58 Auch hier überschneiden sich zwei Zugangsformen. Die Expedition wird als tödliche Katastrophe des Scheiterns im Eis inszeniert und gleichermaßen als ein groß angelegtes Wissensprojekt verkauft. Der Film durchwandert alle Stationen der mehrjährigen Expedition, zeigt die Basisstation Cape Evans, erläutert die Formen und Veränderungen des Eises, geht auf die Lebensweise von Robben und Pinguinen ein, demonstriert die wissenschaftlichen Vermessungsarbeiten und gibt Anschauungsunterricht in Überlebenstechniken. Durch die Realfilmaufnahmen wird die stete Transformation der Elemente veranschaulicht. Das Eismeer wird zum Schauplatz wechselnder Arrangements und Bewegungen, Wissensobjekte und Forscher, Technik und Landschaft. Nicht zuletzt sind es aber vor allem die filmisch erzählten Ereignisse, wie das gemeinsame Erkunden der Eiswüste auf Skiern, das Bauen von Hütten, das Beobachten von Meerestieren, die Vermessung der Eislandschaft und der tragisch endende Versuch ihrer Durchquerung, welche die Begegnung mit der polaren „Leere“ für diverse Wissensdiskurse anschlussfähig machen und einen weiteren Baustein für die Imaginationsgeschichte des Siegens und Scheiterns im Eis legen. Im ausgehenden Zeitalter der Entdeckungen, in dem die „weißen Flecken“ fast vollständig von den Landkarten getilgt sind, verschiebt sich allerdings 58 Folgende Filmfassung liegt zugrunde: „90 Degrees South. With Scott to the Antarctic“ (GB 1933, Regie und Produktion: Herbert Ponting, restaurierte Fassung des National Film and Television Archive London, DVD Milestone Film & Video, 1992).

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der Fokus auf das Scheitern.59 An die Stelle erfolgreicher Bewährung und Reifung im Kampf gegen die Natur tritt ein Katastrophenszenario, das in Wissenspräsentationen eingebettet wird, damit der Entdeckertod sinnstiftend bleibt. Kommentar, Filmaufnahmen, Standbilder und Tagebuchauszüge tragen jedoch dazu bei, die Wissenspräsentationen in einen Heroisierungsdiskurs zu überführen, der romantische, martialische und nationalistische Narrative vereint und somit den Zeitgeist seiner Entstehung kaum verleugnen kann. Die medientechnische Vereinnahmung der Antarktis lässt demnach einen durchaus ambivalenten Zugang zum Eismeer erkennen: Einerseits nutzen die Medienakteure dessen natürliche Beschaffenheit als experimentellen Spielraum für die Weiterentwicklung ihrer Verfahren und Darstellungsformen, andererseits finden sie im Eis einen widerständigen Ort, dessen heldenhafte Erschließung Entbehrungen und Opfer fordert. Das ändert sich auch nicht in Bezug auf die filmische Erkundung Grönlands in den 1920er- und 1930er-Jahren, als das Eismeer erstmals auch filmisch als Lebensraum indigener Kulturen wahrgenommen wird. Beispielhaft demonstriert dies der Kulturfilm „Das große Eis. Alfred Wegeners letzte Fahrt“ von 1936, denn er stellt gleichfalls das Opfernarrativ ins Zentrum seiner „Aufklärungsarbeit“.60 Die im Auftrag der NS-Kulturgemeinde und der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft im Atelier Noldan ausgeführte Filmarbeit für die Degeto (Deutsche Gesellschaft für Ton und Film) wurde als ein „Dokument deutscher Forscherarbeit und Denkmal für Alfred Wegener“ angekündigt.61 Noch vor dem Ende des Vorspanns weiß der Zuschauer, dass Wegener „im Kampfe um die Erforschung des großen Eises“ gefallen ist. Nicht nur die für Darstellungen der Polarfahrt typische Kriegs- und Heldenmetaphorik, sondern überhaupt die Tatsache, dass Forschung an das tragische Schicksal einer Wissenschaftlerfigur geknüpft wird, verdeutlicht die inszenatorische Stoßrichtung des Expeditionsfilms. Neben seiner propagandistischen Machart, die an tradierte Narrative heroischer Land59 Wolfgang Struck, Entdecker und Entdeckungsreisen, in: Bodo Traber/Hans J. Wulff (Hg.), Filmgenres: Abenteuer, Stuttgart 2004, S. 126–137, hier S. 128. 60 Der Film basiert auf den Ereignissen der Expedition Wegeners zum grönländischen Inlandeis zwischen 1930 und 1931. Mit einem größeren Expeditionsteam errichtete Wegener drei Forschungsstationen an der Ost- und Westküste sowie im Zentrum Grönlands, auf denen ganzjährige geophysikalische und meteorologische Messungen vorgenommen wurden. Das Unternehmen erregte öffentliches Aufsehen weniger aufgrund seiner wissenschaftlichen Ergebnisse als durch den Umstand, dass Wegener und sein grönländischer Begleiter Rasmus Villumsen bei einer Schlittenfahrt im Inneren Grönlands 1930 ums Leben kamen. 61 So der Titel einer anonymen Filmkritik: „Das grosse Eis“. Dokument deutscher Forscherarbeit und Denkmal für Alfred Wegener im Ufa-Theater Kurfürstendamm, in: Der Film, Nr. 35, 29.8.1936.

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nahme und des Opfergangs für Nation und Wissenschaft anknüpft, manifestiert der Film jedoch auch die Erprobung avancierter Filmtechnik im arktischen Meer. Die Faszination des polaren Raumes erschließt sich im Laufe des Films nicht nur durch beeindruckende Aufnahmen kalbender Gletscher und ungeheurer Eismassen, welche sich in diversen Lichtbrechungen spiegeln. Auch die Dramaturgie des Zusammenschnitts der überlieferten Expeditionsaufnahmen mit ergänzendem Material entfaltet eine suggestive Wirkung. Nachträgliche Aufnahmen aus Grönland beschäftigen sich schließlich auch mit den Ureinwohnern der Arktis und betonen, dass diese naturgemäß kein Interesse daran hätten, die „gefährlichen Eiswände“ im Meer und das „Inlandeis“ zu betreten. Parallel zu diesem Kommentar laufen Realfilmbilder, die männliche Inuit beim Seehundfang und ihre Frauen beim Herstellen von Kleidung einfangen. In diesen ethnographischen Bilddiskurs werden Zahlen eingespeist – die Zuschauer erfahren, dass Grönland fünfmal so groß wie das Deutsche Reich ist und dennoch auf ihm nur 16.000 „Eskimos“ leben. Mit dem Hinweis auf Deutschland wird dann allerdings der Übergang von den Küstengebieten hin zum Inneren der Insel angekündigt – das Refugium der europäischen „Entdecker“, das mit dem Leben der Inuit nichts mehr zu tun hat: Was „im Inneren liegt, hinter den Gebirgsmauern in ihrem Rücken, das liegt außerhalb ihrer Welt“. Letztlich werden die einzelnen Stationen der Wegener-Expedition mit Filmaufnahmen und Fotografien, musikalischer Untermalung und erläuternden Kommentaren nacherzählt. Grönland erscheint dabei als Raum der systematischen Durchquerung und wissenschaftlich-technischen Eroberung sowie als Heroenschauplatz deutscher Forscher, der dem „Eskimo“ verborgen bleiben muss. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass die Inuit in den knapp eineinhalbstündigen Erörterungen über die Erkundung des Inlandeises keine Rolle mehr spielen. Der Kulturfilm „Das große Eis“ ist trotz aller Aufklärungsbemühungen vorrangig ein Film über die vermeintlich großartigen deutschen Kulturleistungen und keineswegs ein Film über die Kultur derjenigen, deren Lebensraum erforscht werden soll.

UMWELT Ein markanter Umbruch in der Wahrnehmungsgeschichte polarer Meeresräume geht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem Konzeptwandel des Eismeeres als zu schützende Umwelt in Literatur und Wissenschaft einher. Dieser Wandel kündigt sich bereits in der Science-Fiction-Literatur der 1920er-Jahre an, die sich mit den verheerenden Konsequenzen menschlicher Eingriffe in die natürliche Umwelt befasst. So steht im Zentrum von Alfred Döblins dystopischen Roman

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„Berge Meere und Giganten“ (1924) das technische Großprojekt der Enteisung Grönlands, welches ungeahnte zerstörerische Kräfte hervorbringt. Denn auf dem trockengelegten Eisboden werden jahrtausendealte, unter dem Eis konservierte Lebenszellen wiederbelebt, die sich in Form einer todbringenden Saurierkultur über die gesamte Erde ausbreiten. Während sich hier bereits aktuelle Debatten über die Gefahren von „geo-engineering“ und Klimamanipulation abzeichnen, bleiben ökokritische Dimensionen im Rahmen der Meeresforschung lange Zeit ausgeblendet. Erste Anfänge eines Umdenkens signalisieren Ansätze zu einer „marinen Landschaftskunde“, welche eine Neubetrachtung der Meeresräume anstrebt, die anthropogeographische Faktoren berücksichtigt.62 Im Rahmen dieser Neukonzeptualisierung wird darüber nachgedacht, welche Auswirkungen menschliche Handlungen auf das Meer haben und inwieweit die Menschen ihre bisherige Lebensweise an die Dynamiken des Eismeeres anpassen müssen. Zwar folgt die Eismeerforschung in den 1970er-Jahren vornehmlich kommerziellen Interessen,63 doch ist in Einführungswerken zur Meereskunde bereits vom Walsterben die Rede.64 Am Ende der Dekade rückt der Klimawandel in den Blick, angeregt durch die erste Weltklima-Konferenz von 1979. Das Meer wird nicht mehr als auszubeutende Ressource gedacht, sondern als „Patient auf der Intensivstation“. Ins Zentrum der Forschung soll deshalb das Meer als „Umwelt des Menschen“ rücken und die Auswirkungen seiner „anthropogene[n] Beeinflussung“ untersucht werden.65 Literarische Texte der 1980er-Jahre greifen diese Figur des bedrohten und vor den Invasionen des Menschen zu schützenden Eismeeres auf. Sie thematisieren den Größenwahn historischer Expeditionsprojekte, kritisieren Narrative der Natureroberung und gestalten das Scheitern im Eis als notwendige Konsequenz eines maßlosen und zerstörerischen Zugriffs auf die Natur.66 So stellt Christoph Ransmayr in seinem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984) die überlieferten Dokumente der Österreichisch-ungarischen Nordpol-Expedition in den Kontext gescheiterter Polarfahrten seit der Antike und liest die Entde62 Günther Böhnecke, Denkschrift zur Lage der Meeresforschung. DFG Bericht, Wiesbaden 1962. 63 So bildete die Ressourcenforschung (Krill, Erze, wertvolle Mineralien, Ölvorräte) die Motivation der westdeutschen Polarforschung, dem Antarktisvertrag beizutreten. Vgl. Cornelia Lüdecke, Deutsche in der Antarktis. Expeditionen und Forschungen vom Kaiserreich bis heute, Berlin 2015, S. 150. 64 Günter Dietrich/Kurt Kalle/Wolfgang Krauss/Gerold Siedler, Allgemeine Meereskunde. Eine Einführung in die Ozeanographie, 3. Aufl. Berlin/Stuttgart 1975, S. 528. 65 Ebd., S. VI. 66 U.a. Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1983; Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Wien 1984, sowie W. G. Sebald, Und blieb ich am äußersten Meer, in: Manuskripte 23,85 (1984), S. 23–27.

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ckergeschichte als eine Abfolge vergeblicher und tragischer Fahrten ins Niemandsland, die bis in die Gegenwart verlängert werden. Denn der Erzähler lässt ein Jahrhundert nach der Expedition eine fiktive Figur namens Mazzini die Reise zum Pol nachfahren. Auf der Suche nach einer Vergangenheit, die er nur aus Erzählungen seiner Mutter sowie aus Reiseberichten über die Arktis kennt, bricht Mazzini 1981 als Tourist nach Spitzbergen auf. Hier schließt er sich einer Forschungsreise des Norwegischen Polarinstituts zum Franz-Josef-Land an, die jedoch bald aufgrund ungünstiger Wetterbedingungen abgebrochen werden muss. Die Ereignisse der Reise werden zum Inbegriff einer Abrechnung mit dem Mythos der heldenmütigen Abenteuerreise zum Pol. Der zutiefst desillusionierte Passagier des hoch technisierten Forschungsschiffes wird Zeuge einer effizienten und ausbeutenden Wissenschaftspraxis, die weder ihr Interesse an Erdölvorkommen im Polarmeer verbergen kann noch vor brutalen Tierversuchen im Dienst einer zoologischen Forschung zurückschreckt. In einer grausam anmutenden Überwältigungsszene bringen Zoologen vom Helikopter aus „vier panisch flüchtende Polarbären mit Betäubungsgewehren zu Fall“, brechen ihnen Zähne aus, setzen Metallmarken ins Ohr und besprühen sie mit rotem Lack.67 Noch drastischer wird das Töten von Robben in Szene gesetzt. Hier ist von aufplatzenden Eingeweiden und „blutüberströmten Kadaver[n]“ die Rede, welche in „Plastiksäcke gepackt“ werden und als „Material für die Labors“ nach Oslo gehen. Schließlich kann aufgrund schlechter Wetterbedingungen nicht einmal der ersehnte Ort, das Franz-Josef-Land, erreicht werden. Das „Wendemanöver“ beschreibt Mazzini resigniert als einen „Vorgang bar jeder Feierlichkeit und allen Bedauerns. Was zu messen war, ist gemessen; was an Arbeit zu tun war, getan. [...] So sieht das Ende einer Dienstfahrt aus“.68 Nach der Rückkehr erlernt er in Spitzbergen den Umgang mit Schlittenhunden, bricht eines Tages allein auf ins arktische Eis, wo sich seine Spuren verlieren. Der Ausgang seiner Bemühungen im sinnleeren Nichts wiederholt das Scheitern der Österreichischungarischen Nordpol-Expedition und dekonstruiert die Polarmythen, welche den arktischen Raum als Stätte des Abenteuers und Heldentums glorifizieren. Stehen bei Ransmayr neben einer Auseinandersetzung mit den Problemen historischer Rekonstruktionsarbeit vor allem Fortschrittskritik und die Anprangerung anthropozentrischer Umgangsweisen mit der arktischen Umwelt im Zentrum, so wird das Eismeer in jüngeren Texten selbst zum „Hauptakteur“.69 In Hans Christoph Buchs autobiographischem Roman „Elf Arten, das Eis zu brechen“ (2016) kann der Erzähler als Passagier des argentinischen Eisbrechers ALMIRANTE IRI67 Ransmayr, Schrecken, S. 166. 68 Ebd., S. 170. 69 Hans Christoph Buch, Elf Arten, das Eis zu brechen, Frankfurt am Main 2016, S. 202.

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ZAR, der 1992 zur Forschungsstation Belgrano II im antarktischen Meer unterwegs ist, die Bewegungsformen des Eises studieren. Er beobachtet seine allmähliche Verdichtung von „Eissuppe zu Eisbrei, von dort zu Pfannkucheneis und weiter von sauber ausgestanzten Kuchenstücken zu Eisbomben und Eistorten“, bis es schließlich in Form von Tafeleisbergen erscheint, „breit wie Fußballarenen und hoch wie Wolkenkratzer, von denen unaufhörlich Wasser rieselt, während ihre Fenster phosphoreszierend leuchten.“70 Die Überführung der Formenvielfalt in kulinarische und architektonische Bauformen erinnert zunächst an die bildreiche „Bändigung“ der bizarren Eisgebilde in historischen Reiseberichten. Doch liegt der Fokus hier eher auf dem machtvollen Eigenleben der gigantischen Eismassen. So wird der an Bord befindliche Reiseschriftsteller belehrt, dass beim unteren Abschmelzen der Tafeleisberg „seinen Schwerpunkt“ verlagere und „eine Flutwelle [auslöst], die Schlauchboote kentern lässt“,71 und dass das Schiff „aufs Packeis gleiten, seitlich ausscheren und umkippen kann“.72 Zudem erlebt er, dass auch Eisbrecher im Packeis stecken bleiben. Ob der dafür verantwortliche Wetterumschwung „durch die Erderwärmung verursacht wurde oder durchs Ozonloch“, können allerdings selbst die Meteorologen an Bord nicht klar beantworten.73 Sicher jedoch ist, dass auch die Eisforscher Opfer der globalen Erwärmung werden, da sie auf dünnem Eis einbrechen und verunglücken können. Als der Erzähler Jahre später Gast auf einer Forschungsstation in der nordkanadischen Meeresbucht Resolute Bay ist, wo Meteorologen den Klimawandel erforschen und Glaziologen „das schrumpfende Meereis vermessen“,74 erfährt er von der Tragödie zweier Forscher, denen das milde Klima zum Verhängnis wird. Auf ihrer Suche nach Daten über die Folgen der Erderwärmung stoßen sie auf brüchiges Eis und ertrinken. Mit dieser Katastrophe endet der dreiteilige, aus elf Einzelgeschichten bestehende Roman, in dem es buchstäblich und metaphorisch um die Möglichkeiten geht, das Eis zu brechen oder auch von ihm gebrochen zu werden. Auf der metaphorischen Ebene wird der Romantitel zur semantischen Rahmung einer Abenteuereise in die verdrängten Winkel der biographischen Geschichte des Erzählers (und Autors), auf der buchstäblichen Ebene werden das Eis in seiner Materialität selbst zur Sprache gebracht und seine Deformationen und Zerstörungen aufgezeigt. Nicht zufällig ist dem Roman ein Zitat aus Jules Vernes „Die Eissphinx“ (1897) vorangestellt, welches das Eindringen „ins fahle Innere des Eisbergs“ als „Verlust“ und „Vergänglichkeit“ thematisiert. Und passenderweise ziert den Buchumschlag 70 71 72 73 74

Ebd., S. 202–203. Ebd., S. 11. Ebd., S. 206 Ebd., S. 204. Ebd., S. 232.

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Abbildung 2: Caspar David Friedrich, Das Eismeer, 1823/1824, Hamburger Kunsthalle/ bpk Foto: Elke Walford.

ein Ausschnitt des berühmten Gemäldes „Das Eismeer“ (1823/1824) von Caspar David Friedrich. Ein Schiff scheint darauf durch die Macht der Schollen gegen das Eis der Landregion gedrückt und gekentert zu sein. Es ist halb verdeckt durch nachgeschobene Eisplatten; lediglich ein Teil des Hecks, der Besanmast, ein Stück Segel und Taue bleiben zwischen Eisgeröll erkennbar und heben sich vor einem scharfkantigen Eisberg ab (Abb. 2). Die Deutungsmöglichkeiten des Bildes liefert Buchs Erzähler im Vorspann gleich mit: „je nach Blickwinkel [symbolisieren die Eisschollen] die politische Restauration oder die Kälte und Gleichgültigkeit der sozialen Umwelt“.75 Diese gut bekannten Lesarten des Gemäldes werden den Lesern als Interpretationshilfe gleichermaßen für Bild und Roman angeboten. Das Eismeer als kunsthistorisches Zitat wird so zum übergreifenden Thema, ist Anspielung auf Teile der Handlung sowie Metapher für Erstarrung, politisches Unrecht und soziale Ignoranz. Letztlich geht es im Roman auch darum, wie durch literarisches Schreiben Verkrustungen und Vereisungen aufgebrochen werden. Nicht von ungefähr erinnert der Erzäh75 Ebd., S. 10.

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ler an die vielzitierte Bemerkung Kafkas in einem Brief an Felice Bauer, in der er das „Buch als eine Axt für das gefrorene Meer in uns“ bezeichnet.76 Buchs Roman selbst ist diese Axt. Aufgrund seiner semantischen Offenheit und ästhetischen Komplexität etabliert er eine Art alternativer Eismeerkunde, welche erstarrte Begriffe und Vorstellungen aufbricht, auf Fehlentwicklungen im Umgang mit natürlichen Umwelten aufmerksam macht und die vielfältigen Dimensionen wissenschaftlicher, kultureller und ästhetischer Wahrnehmungsformen des Eismeeres in ein produktives Verhältnis setzt. Ähnlich wie Buchs Roman unternahm die vorliegende Studie den Versuch, das komplexe Feld einer Wahrnehmungsgeschichte der Eismeere zu vermessen. Auch wenn hier nur einige der dafür einschlägigen Zusammenhänge erschlossen werden konnten, so zeichnen sich doch für den Zeitraum seit 1800 deutliche Verschiebungen und Überlagerungen in den Betrachtungs- und Inszenierungsweisen der Eismeere ab. Sie betreffen zunächst einmal die für das 19. Jahrhundert auffällige Tendenz, das Eismeer nicht mehr als einen passiven Untersuchungsgegenstand zu fassen, der aus der Distanz beobachtet und in messbare Eigenschaften zerlegt wird, sondern als aktives Gegenüber des Menschen zu adressieren. Zeitgleich mit einer Verwissenschaftlichung der Meereskunde vollzieht sich somit eine Hinwendung zur unmittelbar körperlichen Auseinandersetzung mit dem Eismeer. In den Fokus rückt nicht nur dessen sinnlich-wahrnehmbare materielle Beschaffenheit, sondern auch seine Wirkungsweise auf die körperlich-seelischen Prozesse des Polarforschers. Eine ähnliche Verschiebung zeigt sich im künstlerischen bzw. medientechnischen Bereich. Wird das Polarmeer im ausgehenden 18. Jahrhundert noch aus der sicheren Distanz des Schiffes als erhabenes Naturkunstwerk modelliert, so dient es im frühen 20. Jahrhundert als Schauplatz medientechnischer Experimente selbsternannter Helden, die sich als Eroberer des Eises profilieren oder aber das Scheitern am Eis in Szene setzen. Das Polarmeer wird nunmehr als eigenständig agierendes Element wahrgenommen, das bestimmte Überlebenstechniken und Kulturpraktiken notwendig macht. Fast zeitgleich werden bereits in der frühen Science-Fiction die verheerenden Konsequenzen eines zerstörerischen Zugriffs auf die Natur gestaltet, lange bevor sich in der Wissenschaft ein neues Konzept der Eismeere als schützenswerte Umwelt des Menschen abzeichnet. Dass dieser Wahrnehmungswandel in eine gleichwohl literarisch imaginierte „alternative Eismeerkunde“ münden kann, belegen Gegenwartsromane wie Christoph Buchs „Elf Arten, das Eis zu brechen“. Ob sich das Konzept der Polarmeere als eine eigendynamische und zu bewahrende Umwelt behaupten wird und welche Veränderungen dieses 76 Ebd.

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Umdenken im wissenschaftlichen Kontext hervorruft, lässt sich heute noch nicht absehen. Zumindest aber sollte der Blick dafür geschärft sein, dass unsere Wahrnehmung der Eismeere Ergebnis sich wandelnder wissenschaftlicher Praktiken und kultureller Deutungen ist, die eng miteinander verflochten sind.

Wolfgang Struck

FLASCHENPOST – FLASCHENSCHWINDEL

Eine Flaschenpost ist der Gegenstand eines Gedankenexperiments, das im Zentrum eines Anfang der 1920er-Jahre entstandenen kurzen Prosa-Textes Bertolt Brechts steht: „Die Flaschenpost“. Die Protagonistin, eine junge Frau, versucht damit ein ebenso unerklärliches wie unerträgliches Ereignis wenn nicht zu verstehen, so doch zu verarbeiten: Ihr Verlobter hatte ihr kurz vor der geplanten Hochzeit erklärt, er müsse noch eine mehrjährige Reise in die Tropen unternehmen, bevor er sich binden könne, und hatte ihr einen verschlossenen Umschlag übergeben, den sie erst öffnen soll, wenn er nach drei Jahren nicht zurückgekehrt sein sollte. Nach drei Jahren vergeblichen Wartens findet sie in dem Umschlag jedoch nur ein leeres Blatt Papier. Da sie nicht glauben mag, Opfer eines zynischen Spiels geworden zu sein, sucht sie nach anderen Erklärungen, und das führt sie auf die titelgebende Flaschenpost: Eine Zeitlang beruhigte mich folgender Gedanke: Schiffer, die an der chilenischen Küste untergehen, übergeben in einer Flasche dem Meer Aufzeichnungen über ihre letzten Stunden und chilenische Fischer entkorken vielleicht nach 20 Jahren die Flasche, und obwohl sie in keiner Weise die fremden Schriftzeichen verstehen, erleben sie doch einen Untergang auf fremden Meeren nach. Wasser und Gischt haben die Schreiber vertan, aber die Schriftzeichen, frisch wie am ersten Tag, verraten nicht, wie lange es her ist. Wie lächerlich wäre die Botschaft, wäre sie lesbar; denn wie unmöglich ist es, in einem Leben ein Wort zu finden, das die Stille nicht stört, die nach Untergegangenem entsteht und irgend etwas sagt, das nicht böse ist!1

Das Gedankenexperiment erklärt nicht wirklich etwas, es „beruhigt“ jedoch, gerade indem es das Verstehen suspendiert. Nicht das Lesen und Verstehen eines Textes stiftet eine Gemeinschaft zwischen Fischern und Schiffern, sondern eine geteil1

Bertolt Brecht, Die Flaschenpost, in: Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/KlausDetlef Müller, Bertolt Brecht, Werke, Bd. 19, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1997, S. 166–168, hier S. 167.

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te maritime Praxis, eben das Versenden von Flaschenpost-Botschaften im Moment der Katastrophe. Man kann das lesen als eine poetologische Metapher für eine literarische Erinnerungsarbeit, die das zu Erinnernde nicht verdinglicht, verfestigt, instrumentalisiert und genau damit des Eigensinns beraubt. Brecht hätte damit nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs eine Metaphorisierung der Flaschenpost vorweggenommen, in der auf unterschiedliche Weise Paul Celan und Theodor W. Adorno nach der Katastrophe der Schoah ein nur mehr paradoxal mögliches Gedenken konzeptualisieren. Dass die Katastrophe bei Brecht – unter anderem – damit zu tun hat, dass das Meer zum imperialistisch-nationalistischen Kriegsschauplatz wird, habe ich an anderer Stelle versucht zu plausibilisieren.2 Hier möchte ich dagegen die Flaschenpost in einem nicht-metaphorischen Sinn verstehen: als eine tatsächlich existierende maritime Praxis, die im Laufe des 19. Jahrhunderts eine fundamentale Transformation durchlaufen hat. Nicht (mehr) als Zeugen von Katastrophen und Botschaften von der Grenze des Todes interessieren Flaschenposten um 1900, sondern als Instrument der sich als wissenschaftliche Disziplin etablierenden Ozeanographie. Gerade indem sie als epistemisches Objekt ernst genommen werden, vermögen sie, so meine These, erneut zum ästhetischen Objekt zu werden. Einen Hinweis, wie gerade die Unlesbarkeit der „Botschaft“ zu einer Lesbarkeit des Meeres führen könnte, gibt Brechts Text in der Verschränkung der beiden Kollektive, die durch die Flaschenpost verbunden werden: die Fischer und die Schiffer, die nicht nur die semantische Zuordnung zum maritimen Raum miteinander teilen, sondern auch die Buchstaben des Alphabets, die in (beinahe) anagrammatischer Transformation ineinander übergehen. Versucht man, diese Transformation graphisch aufzuzeichnen, dann entsteht zwischen den linearen Syntagmen der Worte eine Fläche, ein Transitraum, in dem die Adresse der einzelnen Grapheme aufgehoben ist und neu organisiert wird – eben dieser Verlust der Adresse macht die im Zwischenraum frei flottierenden Buchstaben zu „fremden Zeichen“:

Abbildung 1 2

Wolfgang Struck, Ein Untergang auf fremden Meeren. Bertolt Brechts Flaschenpost, erscheint in: Hans Richard Brittnacher/Achim Küpper (Hg.), Seenöte, Schiffbrüche, feindliche Wasserwelten, Göttingen 2018.

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Das Anagramm verweist auf einen Prozess des Dimensionswechsels von der Linie zur Fläche, der ja auch semantisch eine, bei aller Nähe, entscheidende Differenz von Schiffern und Fischern bestimmt: Für die einen ist das Meer der Transitraum zwischen zwei Häfen, die es auf einer möglichst kurzen Linie zu verbinden gilt, für die anderen dagegen ist es ein Feld, das sie immer wieder „durchpflügen“, dessen Eigenheiten, wie etwa Temperaturunterschiede, Strömungsverhältnisse, Bodenbeschaffenheit, sie aus täglicher Erfahrung kennen – kein „fremdes Meer“, sondern Teil einer hybriden, durch die Küste nicht getrennten, sondern verbundenen Heimat. Fischer eignen sich diesen Raum in ihrer Alltagspraxis an, sie grenzen ihn auch gegeneinander ab als je eigenen Fischgrund, Schiffer dagegen überschreiten Grenzen, nehmen das Recht der Passage in Anspruch, gerade weil sie nicht vorhaben, zu bleiben, weil sie die Linie ihrer Passage nicht zur Fläche weiten. Natürlich sind auch viele der nautischen Praktiken von Schiffern keineswegs „linear“. Als potentiell aggressive Usurpatoren dringen sie in den fremden Raum ein, um Neues zu entdecken, Handel zu treiben oder Eroberungskriege zu führen. Dabei bewegen sie sich wie die Fischer auf einer Fläche, der Oberfläche des Meeres, aber relevant ist für sie doch die Bewegungsrichtung, während die Aufmerksamkeit der Fischer in die Tiefe geht. Es ist der Unterschied zwischen einer global und einer lokal operierenden Kultur, zugleich und vor allem aber der Unterschied einer Raumlogik, die von einem Übergang der Zweidimensionalität der Fläche zur Eindimensionalität der Linie bestimmt ist, und einer, die in umgekehrter Richtung auf die Dreidimensionalität des (Tiefen-)Raums hin orientiert ist. Brechts (Beinahe-)Anagramm vollzieht also im Raum der Sprache eine analoge Operation wie im Raum seiner (maritimen) Semantik der Flaschenpost, eine Operation, die von der Linie zur Fläche führt und die dabei zwischen den einzelnen, manifesten Äußerungen einen Raum der Potentialität und der alternativen Anordnungen aufspannt. Die graphische Darstellung dieser Operation lenkt die Aufmerksamkeit von den Syntagmen der Worte ab, hin auf den Raum des Dazwischen. Dabei ähnelt sie auf erstaunliche Weise einem Versuch, die Bewegungen von Flaschenposten graphisch darzustellen, einem Versuch, mit dem die Meereskunde im 19. Jahrhundert die gleiche Operation eines Wechsels von der 1. zur 2. (und tendentiell auch zur 3.) Dimension vollzieht: Für seine 1843 und nochmals 1852 publizierte „Bottle Chart of the Atlantic Ocean“ hat der Herausgeber des einflussreichen Londoner „Nautical Magazine“, Alexander Becher, 119 zwischen 1806 und 1842 dokumentierte Driftkörper – neben Flaschen auch ein Schiffswrack und den Kadaver eines harpunierten Wals – ausgewertet, um dann die dokumentierten Ausgangs- und Endpunkte der Driften auf

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Abbildung 2: Bottle Chart of the Atlantic Ocean, by A. B. Becher, Commander Royal Navy, 2. Auflage 1852.

der Karte einzutragen und durch gerade Linien zu verbinden.3 Unter den Lesern des „Nautical Magazine“ hat diese „Bottle Chart“ eine heftige Kontroverse ausgelöst. Etwas bislang Ungesehenes trete hier, so John Evans, Lieutenant der Royal Navy, vor Augen: The idea of the construction of such a chart is a very happy one, for, without it, we are sure that the reading, or even the studying of the lists of the latitudes and longitudes of the departure and landing of the bottles, would not have been attended with the same result, as is afforded by the clear exposition of the facts concentrated, as it were, into one focus, and which, from a single glance at the chart, stamps the whole at once upon the mind; an impression that will, no doubt, remain indelible, for future use, as occasion may require.4 3 4

Alexander Becher, Bottle Papers, in: The Nautical Magazine and Naval Chronicle for 1843, London 1863, S. 181–184; Bottle Chart of the Atlantic Ocean, by A. B. Becher, Commander Royal Navy, 1843 (2. Auflage 1852). John Evans, The Bottle Chart, in: The Nautical Magazine, 1843, S. 323–326, hier S. 324.

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Dabei ist keineswegs klar, was hier eigentlich zu sehen ist. Darauf haben mehrere andere Leser hingewiesen und dabei gerade jene Evidenz, die Evans dem Lesen und dem Studium vorziehen will, als irreführend kritisiert. Angeführt wird der Chor der Kritiker von dem Polarforscher John Ross: „I have felt it my duty to expose this bottle fallacy“.5 Zum einen sei, wie Ross durch eigene Experimente nachgewiesen habe, nicht zu entscheiden, welchen Anteil der Wind und welchen die Meeresströmungen an der Bewegung der Flaschen haben. Vor allem aber seien die Flaschen zwar dem Wind exponiert, der menschlichen Beobachtung aber entzogen, so dass niemand wissen könne, welchen Weg sie tatsächlich zwischen Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Reise genommen hätten. Bechers Linien seien also pure Spekulation. Genau das allerdings sind sie, Becher selbst zufolge, nicht. Denn sie sollen, wie er im Kommentar zu seiner Karte betont, ausdrücklich nicht die Bewegungen der Flaschen repräsentieren: The lines drawn [...] must not be taken as the actual tracks of the bottles [...] but merely intended to connect the point of departure with that of the arrival of the bottle, the rest being left open to opinion and speculation [...]. Indeed they all present a fair field for discussion.6

Ross selbst ist also dem aufgesessen, was er als erschlichene Evidenz der visuellen Darstellung kritisiert. Nur: Wenn die Linien nicht den Weg der Flaschen zeigen sollen, was zeigen sie dann? Welches Ganze hat Evans gesehen, wenn sich ihm „the whole at once“ eingeprägt haben soll? Becher bleibt da bei seiner vorsichtigen Formulierung, die Linien würden „a fair field for discussion“ öffnen. In ihrer Vielzahl lassen sie das hervortreten, was zwischen Start- und Zielpunkt liegt, und das ist eben keine bekannte Linie, sondern ein unbekannter Raum, der Raum nicht einer aktuellen, sondern aller potentiellen Passagen. So vollzieht die „Bottle Chart“ eine paradoxe Operation: aus der Linie eine Fläche, oder, wenn man die komplexen Verhältnisse von Wind, Oberflächen- und Tiefenströmungen hinzunimmt, einen Raum entstehen zu lassen. Das Meer selbst erscheint hier. Anders als auf den meisten Karten zuvor erscheint es jedoch nicht als Transitraum oder Verbindung zwischen den Kontinenten, sondern als epistemisches Objekt.7 Und die Flaschenpost fungiert als 5 6 7

John Ross, The Bottle Chart, in: The Nautical Magazine, 1843, S. 321–323, hier S. 321 (Hervorhebung im Original). Becher, Bottle Papers, S. 181. Das heißt, Hans-Jörg Rheinberger folgend, in einer für epistemische Dinge „charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit“. Die Flaschenpost ist dementsprechend ein Medium für „das, was man noch nicht weiß“: Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 24–25.

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das Medium, in dem es sich selbst aufzeichnen soll. Ihre Funktion bestünde also darin, der Meereskunde ihr eigenes Objekt zu geben, und, wie es der spätere Direktor der Deutschen Seewarte, Georg Neumayer, formuliert, „Zeugnis abzulegen über die Richtung jener grossen Adern, die den Ocean nach allen Richtungen durchziehen und Bewegung und Leben in der unendlichen Wassermasse erzeugen“.8 Was ein „alter Gebrauch unter den Seeleuten“ gewesen sei, soll nun, im 19. Jahrhundert, wissenschaftlich beerbt werden. Wenn Flaschenposten nicht mehr von den Besatzungen untergehender Schiffe oder den auf einsamen Inseln Verschollenen verfasst, sondern von Wissenschaftlern systematisch ausgesetzt werden, dann verlagert sich das Interesse von den „Nachrichten“ der Menschen auf das „Zeugnis“ des Meeres selbst. Neumayers Plädoyer für die Flaschenpost-Forschung, das 1868 in den „Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt“ erscheint, provoziert eine Neuauflage des zweieinhalb Jahrzehnte zuvor im „Nautical Magazine“ ausgetragenen Streits. 1870 schließt sich der Herausgeber der „Mittheilungen“, August Petermann, in einem grundlegenden Artikel zum Stand der Erforschung des Golfstroms den Flaschenpost-Kritikern an und zitiert noch einmal zustimmend Ross’ diffamierende Polemik.9 Dem „Flaschenschwindel“, wie Petermann Ross’„bottle fallacy“ übersetzt, setzt der Gothaer Geograph Indikatoren wie Salzgehalt und Temperatur des Wassers entgegen, die punktgenau gemessen werden können, die quantifizierbar sind und die daher Bechers nur mittels „opinion and speculation“ zu extrapolierende Linien durch ein (zumindest theoretisch) beliebig zu verfeinerndes Netz von Koordinaten ersetzen. Wenn Petermann dies aber in dem abschließenden Urteil zusammenfasst, „die bottle experiments [seien] entschieden etwas aus der ‚Mode‘ gekommen“,10 dann ist diese Verabschiedung voreilig. Fast alle Institutionen der sich etablierenden Meereskunde stellen in den kommenden Jahrzehnten Flaschenpost-Forschungen an. In Deutschland ist es vor allem die Deutsche Seewarte, wo die von Neumayer privat begonnenen Versuchsreihen systematisch fortgesetzt werden. 1897 publiziert Neumayers Assistent Gerhard Schott die Auswertung von 600 Flaschenreisen über alle Weltmeere in einer ausführlich kommentierten Serie von sechs Karten.11 Und drei Jahre später taucht 8

Georg Neumayer, Die Flaschenpost, in: Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesamtgebiete der Geographie, hg. von August Petermann, Gotha 1868, S. 99–100, hier S. 99. 9 August Petermann, Der Golfstrom und Standpunkt der thermometrischen Kenntniss des Nord-Atlantischen Oceans und Landgebiets im Jahre 1870, in: Mittheilungen 1870, S. 201–244. 10 Ebd., S. 240. 11 Gerhard Schott, Die Flaschenposten der Deutschen Seewarte, (Aus dem Archiv der Deutschen Seewarte, XX. Jg., Nr. 2), Hamburg 1897.

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Abbildung 3: O. Pettersson, Die Wasserzirkulation im Nordatlantischen Ozean, in: Petermanns Geographische Mitteilungen, 1900, Tafel IV.

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auch in der von Petermann begründeten Zeitschrift, die mittlerweile seinen Namen im Titel trägt, eine Flaschenpost-Karte auf – ausgerechnet in einem Artikel, der erneut Petermanns spezifisches Forschungsfeld, den Golfstrom, beschreibt.12 Dass die Flaschenposten mittlerweile zu den Instrumenten meereskundlicher Forschung gehören, so dass eine „Stromkarte“ in „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ erscheinen kann, ohne dass noch einmal auf den alten Streit hingewiesen werden muss, hat verschiedene Gründe. Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass selbst gewöhnliche Flaschen von den Meeresströmungen auch gegen die Windrichtung bewegt werden können. Darüber hinaus scheint die Frage „für die Hochsee infolge der weitgehenden Uebereinstimmungen von Luft- und Wasserbewegungen gar nicht die ausserordentliche Bedeutung“ zu haben;13 die Flaschenpost bewegt sich also in einem Raum der Interaktion von Atmo- und Hydrosphäre, so dass sich auch hier eine Dimensionsausfaltung von der Linie über die Fläche zum Raum beobachten lässt. Schott weist zudem darauf hin, dass man auch die verschiedenen Instrumente, die diesen Raum beobachtbar machen, nicht gegeneinander ausspielen, sondern im Verbund betrachten sollte. Welche Funktion genau die Flaschenpost darin einnimmt, ist allerdings nach wie vor nicht ganz geklärt. So konstatiert Schott, die Ergebnisse und die darauf basierenden Karten würden umso nützlicher, „je besser wir auf Grund anderer Quellen über die Strömungen eines Ozeans schon orientiert sind“.14 Auf Schotts Karten finden sich ebenso wie auf Otto Petterssons „Stromkarte“ in „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ zwei Typen von Linien: Geraden, die nach wie vor ein Nicht-Wissen über die tatsächliche Drift repräsentieren, und mehr oder weniger geschwungene Kurven, die Extrapolationen der vermuteten Wege darstellen aufgrund eines Wissens, das sich ,anderen Quellenʻ – wie Messungen von Temperatur und Salzgehalt – verdankt, da man denn die wahrscheinliche Richtung einer Trift mit vergleichsweise großer Sicherheit [...] eintragen kann und somit die ausserdem auftretenden Momente, wie Geschwindigkeit, Bevorzugung gewisser Küsten u.s.w. als neue Ergebnisse dabei resultiren.15

Schott scheint hier in einer gewissen Verlegenheit, das „Neue“ zu benennen, das die Flaschenposten vermitteln könnten. Dass sie für die Bestimmung der Geschwindigkeit nur sehr unsichere Indikatoren liefern, hat er an anderer Stelle ausdrück12 O. Pettersson, Die Wasserzirkulation im Nordatlantischen Ozean, in: Petermanns Geographische Mitteilungen, 1900, S. 61–65, S. 81–92 und Tafel IV. 13 Schott, Flaschenposten, S. 2. 14 Ebd. (Hervorhebung im Original gesperrt). 15 Ebd. (Hervorhebung im Original gesperrt).

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Abbildung 4: Gerhard Schott, Die Flaschenposten der Deutschen Seewarte, Hamburg 1897, Tafel 1.

lich ausgeführt,16 und längst nicht alle Flaschen werden an Küsten gefunden (die meisten finden sich in den Netzen von Fischern). So scheint das innovative Moment in jenem vagen epistemischen Raum des „u.s.w.“ ebenso verborgen zu bleiben wie die Flaschenposten selbst im physischen Raum des Ozeans, in dem sie sich für die Dauer der Reise der Beobachtung entziehen – und in der großen Mehrzahl der Fälle für immer: Darüber, wie hoch der Anteil der Rückläufer unter den ausgesetzten Flaschen ist, kann Schott nur sehr vage Angaben machen, er schätzt ihn aber auf deutlich weniger als 10 %.17 16 Ebd., S. 25. 17 Ebd., S. 3. Für Neumayer ist jede der ausgesetzten Flaschen potentiell verschollen: „Daher kommt es auch, dass man ein eigenes Gefühl empfindet, wenn man die wohlverkorkte Flasche im Strudel des Kielwassers herumwirbeln sieht, wenn man vom höchsten Punkte des Deckes aus ihr ängstlich mit den Augen folgt, bis ihr schwarzer Hals hinter dem entfernten Wellenberge verschwindet. Ob sie wohl wieder gefunden, ob sie der ersehnte

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Hier liegt ein weiteres Dilemma der Flaschenpost-Forschung: Ihr epistemologisches Prinzip ist das der großen Zahl. Um das Meer und insbesondere die Driften selbst berechenbar zu machen, ist es, wie bereits Neumayer herausstellt, notwendig, spektakuläre Einzelfälle in statistisch erfassbare Normalität zu transformieren. Genau das aber gelingt immer nur unvollkommen. Nicht nur bleiben die allermeisten Flaschen für immer verschollen, unter den Funden drängen sich immer wieder diejenigen hervor, die mit dem scheinbar gesicherten Wissen nicht ohne Weiteres in Übereinstimmung zu bringen sind. Schott führt in seiner ausführlichen Diskussion eine ganze Reihe kurioser Einzelfälle an, und er beschränkt sich dabei keineswegs, wie er angekündigt hatte, auf Flaschen-Driften. So verzeichnet die Nord-Atlantik-Karte auch die Drift des 1888 havarierten Schoners W.L. WHITE. Da diese durch eine Vielzahl von Sichtungen gut dokumentiert ist, sei sie besonders „lehrreich für die Frage, welche Wege die Stromflaschen in Wirklichkeit auf See einschlagen mögen“.18 Und diese Wirklichkeit sieht anders aus als die extrapolierten Flaschendriften. Ein halbes Jahr lang ist das Wrack „auf vergleichsweise beschränktem Raum umhergeirrt“,19 und so hinterlässt es auf der Karte eine eigentümlich verschlungene, arabeske Figur. Angesprochen und auf einer eigenen Karte verzeichnet wird auch eine der bemerkenswertesten Havarien. Am 22. Juni 1892 wurde der kanadische Schoner Fred B. Taylor etwa 250 Seemeilen vor New York von dem Schnelldampfer Trave des Norddeutschen Lloyd gerammt und sauber in zwei Teile zerschnitten. Beide Teile trieben noch mehrere Wochen auf See, aber in entgegengesetzte Richtungen. Eine mögliche Erklärung ist, dass das Heckteil dem Wind eine größere Angriffsfläche geboten haben könnte. Aber Schott führt auch noch das Beispiel von zwei identischen Flaschen an, die gleichzeitig in der Mitte des Atlantik ausgesetzt wurden und von denen eine in Westindien, die andere in Sierra Leone gestrandet ist.20 Die Flaschenposten, das haben auch gezielte Experimente in der Kieler Bucht nachgewiesen,21 bewegen sich in einem Raum vielfältiger Kontingenzen. Eben darin scheint mir ihre epistemische Spezifik begründet. Anders als die an Schiffe gebundenen Instrumente, mit denen Salzgehalt oder Temperatur gemessen werden, werden die „Treibkörper“ (Schott) für eine (un-)gewisse Zeit zum Teil des Nachricht zur Bereicherung der Wissenschaft verkünden wird?“ (Mittheilungen, 1868, S. 99). 18 Schott, Flaschenposten, S. 10 (Hervorhebung im Original gesperrt). 19 Ebd. 20 Ebd. Zur Drift der Wrackteile der FRED B. TAYLOR auch ebd., Carton auf Tafel 2, sowie Otto Krümmel, Flaschenposten, treibende Wracks und andere Triftkörper in ihrer Bedeutung für die Enthüllung der Meeresströmungen, Berlin 1908. 21 Schott, Flaschenposten, S. 18.

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Raums, den sie registrieren und kartieren, indem sie sich von ihm bewegen lassen. Anders gesagt: Ihre Bewegungslinien zeichnen sich nicht länger als „Figuren“ auf dem „Grund“ ab, den eine homogen zu denkende Oberfläche des Meeres bildet, sondern das Meer selbst tritt in den unregelmäßigen Mustern der Linien als Figur hervor. Emblematisch für dieses Kippen zwischen Figur und Grund erscheint das Schicksal der Fred. B. Taylor: Durch die Kollision mit dem unbeirrt seinen Kurs verfolgenden Schnelldampfer ist der Schoner aus dem Transitraum des Weltverkehrs in einen anderen Raum geraten, der nicht mehr durch die eine, verkehrstechnisch optimierte Linie definiert wird, sondern durch die Gesamtheit aller potentiellen Linien – von denen die entgegengesetzten Driften nur zwei kontingente Aktualisierungen sind. Dass die Flaschenpost zum Medium einer Selbstaufzeichnung des Meeres werden kann, setzt aber auch voraus, die Botschaften, die Menschen ihr mitgegeben haben, auf ein Minimum zu reduzieren. Becher hat, ergänzend zu seiner Tabelle und Karte, den ganzen Jahrgangsband 1843 hindurch eine Vielzahl solcher Botschaften abgedruckt. Sie zeugen von individuellen, dramatischen und alltäglichen Ereignissen und Erlebnissen auf einem Meer, auf dem die Menschen beginnen, sich einzurichten, als Passagiere, als Freizeit-Seeleute, als Besatzungen regelmäßig verkehrender Handelsschiffe, als Marine-Offiziere. Sie zeugen dabei auch von einem zunehmend routinierteren Verlauf der Reisen, und immer wieder betonen sie auch den Stolz der Verfasser, Teil eines umfassenden kollektiven Projekts zu sein, das nicht nur die See in einen wissenschaftlich zu beobachtenden und zu vermessenden Raum, sondern auch Seefahrer (Passagiere wie Offiziere) in disziplinierte Datensammler transformiert. In der Logik dieses Projektes liegt es jedoch auch, den individuellen Mitteilungsdrang einzugrenzen. Ab der Jahrhundertmitte entwerfen Meereskundler wie Becher und Neumayer Formulare, die sie in großer Stückzahl in Flaschen aussetzen und aussetzen lassen. „Vielsprachige Formulare“, wie sie die Deutsche Seewarte ab 1890 verwendet,22 adressieren ihre potentiellen Finder als ein internationales Kollektiv und limitieren zugleich den Raum für potentielle Mitteilungen immer weiter, so dass schließlich nur noch die essentiellen Daten, Ort und Zeit des Aussetzens und des Fundes, möglichst numerisch notiert werden sollen. Die Flaschenpost erweist sich dabei auch als ein Medium der Reduktion und der wissenschaftlichen Disziplinierung: Werden zunächst die einzelnen Schreiber und ihre in ihrer jeweiligen Sprache aufgeschriebenen Schicksale auf die Mehrsprachigkeit transnationaler Formulare reduziert, so führt der nächste Schritt in 22 Ebd., S. 5.

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Abbildung 5: Gerhard Schott, Die Flaschenposten der Deutschen Seewarte, Hamburg 1897, Fig. 4.

ein Universum jenseits aller (Alltags-)Sprachen und Geschichten, in die Universalität der Zahlen. Aufgefordert, ihr individuelles Mitteilungsbedürfnis zurückzustellen und sich auf die wissenschaftlich relevanten Daten zu beschränken, hören Sender und Empfänger der Flaschenpost auf, Individuen zu sein, die eine bestimmte Sprache sprechen und eine Geschichte mitzuteilen haben. Stattdessen werden Seeleute wie Passagiere zu Teilhabern an einem kollektiven, transnationalen, vor allem aber auch translingualen Forschungsprojekt. Wenn Brechts Verschollener ein leeres Dokument hinterlässt, bevor er zu seiner potentiellen Expedition aufbricht, scheint er also eine in der Flaschenpost-Forschung besonders gut abzulesende Konsequenz der naturwissenschaftlichen Episteme des 19. Jahrhunderts zu extrapolieren: die der wissenschaftlichen Forscher-Persona eingeschriebene Selbstauslöschung.23 23 Vgl. zum Zusammenhang einer „Selbstnegierung“ der Forscher-Persona und der Inten-

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Wenn in der Flaschenpost das Meer selbst sprechen soll, dann muss zunächst die Geschwätzigkeit der menschlichen Sprachen eingedämmt werden. Nur so vermag sie, als ein Medium des Eigensinns, das Meer als einen Raum nicht nur zwischen den Kulturen, etwa denen von Fischern und Schiffern, zu kartieren, sondern auch einen Natur-Raum jenseits jeder Kultur, jenseits auch von ökonomischer Verwertbarkeit und militärischer Macht, zu erfassen. Noch nicht erklärt ist damit allerdings die Radikalität, mit der in Brechts Gedankenexperiment die potentielle „Botschaft“ als „lächerlich“ und „böse“ zurückgewiesen wird. Einen Hinweis darauf kann vielleicht ein anderer literarischer Text liefern, der sehr viel gesprächiger als Brechts wortkarge Parabel eine Flaschenpost von einem „Untergang auf fremden Meeren“ zeugen lässt: Jules Vernes Roman „Les enfants du Captaine Grant“, im gleichen Jahr 1868 erschienen wie Georg Neumayers „Flaschenpost“-Aufsatz.24 Wie dieser geht er von dem „alte[n] Gebrauch“ der Seefahrer aus: Ein auf einer einsamen Insel gestrandeter Schiffbrüchiger macht mit einer Flaschenpost auf sich aufmerksam und bringt damit eine abenteuerliche Reise um die Welt auf den Weg, während der die Flaschenpost wie das von ihr erschlossene Meer unterschiedlichsten Transformationen unterworfen sind. Auf ironische Weise nimmt der „Zettel“, der sich zu Beginn der Geschichte in einer aus dem Magen eines Hais geborgenen Flasche findet, die Schreibpraktiken vorweg, die die Flaschenpost-Forschung in den kommenden Jahrzehnten etabliert. Die Botschaft ist in drei Sprachen, Englisch, Französisch und Deutsch, abgefasst und sie doppelt die entscheidende Information, indem sie in allen drei Versionen die Insel, auf der drei Schiffbrüchige gelandet sind, zugleich mit ihrem Namen und mit ihren geographischen Koordinaten bezeichnet. Trotz dieser Sorgfalt stehen die Finder der Flasche jedoch vor einem Rätsel, denn eingedrungenes Wasser hat Lücken in die Schrift gefressen, so dass nur noch Fragmente zu entziffern sind. Von den numerischen Angaben ist nur eine erhalten, „37°11’“, die nur mithilfe der Wortbestandteile „ongitude“ und „austral“ in der französischen Version dem südlichen Breitengrad zugeordnet werden kann – allerdings durchaus nicht in der Eindeutigkeit, in der Vernes Figuren das tun. Hier allerdings lässt Verne seine Figuren, die nun aufbrechen, diesem Breitengrad einmal um die Welt zu folgen, Recht behalten, auch wenn die Deutung von „austral“ im Verlauf der Handlung mehrfach wechseln wird. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die Deutung der übrigen Textbestandteile, so dass der weitere tion, die Natur „für sich selbst sprechen“ zu lassen Peter Galison, Urteil gegen Objektivität, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie, Frankfurt am Main 2003, S. 384–426, hier S. 386. 24 Jules Verne, Les Enfants du Capitaine Grant, voyage autour du monde, Paris 1868, im Folgenden zitiert nach der ersten, sehr erfolgreichen deutschen Übersetzung: Die Kinder des Kapitän Grant, Wien/Pest/Leipzig 1876.

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Abbildung 6: Die drei Flaschenposten und Schema der Relektüren, in: Jules Verne, Les Enfants du Capitaine Grant, voyage autour du monde, Paris 1868, S. 8, 10, 11.

Verlauf der Geschichte durch immer neue (Fehl-)Lektüren und daraus resultierende Irrfahrten der bunt zusammengewürfelten Reisegruppe bestimmt ist, die sich aufmacht, die Verschollenen aus ihrer insularen Gefangenschaft zu befreien. Um den Fragmenten einen Sinn zu verleihen, müssen die Interpreten sie einem Kontext zuordnen und in ein kohärentes Syntagma überführen können. Dazu fügen sie zunächst die drei Dokumente in einer Interlinearübersetzung zusammen, was in der ersten Zeile tatsächlich zu einem gut lesbaren Text führt. Allerdings funktioniert das nur deshalb so gut, weil diese Zeile zu einem großen Teil aus Eigennamen besteht, die nicht nur in allen drei Sprachen identisch sind, sondern auch syntaktisch an gleicher Position auftauchen, so dass sie sich wie Puzzleteile aneinanderfügen lassen: „Bri“-„tannia“, „Glas“-„gow“, „7. Juni“-„62“, wobei noch dazu der Schiffsname „Bri[tannia]“ durch die Großschreibung in der englischen Version als Eigenname gekennzeichnet ist (dies Detail hätte die Lesenden/Reisenden auch darauf bringen können, dass das französische „austral“ nicht, wie sie zwischenzeitlich einmal annehmen, auf den Kontinent Australien verweisen kann). Dieser Name kann dann durch zusätzliche Informationen, die den Lesenden ein Schiffsregister liefert, sowohl mit dem Datum seiner letzten Ausfahrt als auch mit seinem Kapitän in Verbindung gebracht werden (1862, Gr[ant]). Dieser Erfolg verleitet die Lesenden jedoch dazu, auch in den folgenden Zeilen, in denen die Versionen zunehmend voneinander abweichen, eine höhere Kohärenz zu unterstellen, als die Wortbestandteile zulassen. Um den verlorenen Kontext wiederherzustellen, greifen sie nun auch auf Mittel zurück, die sehr viel unzuverlässiger sind als das gedruckte Schiffsregister. So führt sie die Folge „pr“, „cru-

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el“ und „indi“ der 5. Zeile der französischen und „graus“ in der deutschen Version zu einem literarisch beliebten Topos des 18. und 19. Jahrhunderts, indem sie die Verschollenen als Gefangene grausamer Indianer („Indiens“, da sie zugleich „contin“ und „gonie“ auf den südamerikanischen Kontinent und Patagonien bezogen haben) oder Indigener („indigènes“, nachdem „austral“ in Australien umgedeutet worden ist) sehen. Unterstützt wird diese Lesart dadurch, dass „contin“ als Kontinent gelesen und der Gedanke an eine unbewohnte Insel damit zurückgewiesen wird. Der Roman selbst wird dieses rassistische Stereotyp ausbuchstabieren, indem er seine Protagonisten zu Gefangenen neuseeländischer Maori werden lässt. Die Verschollenen jedoch befinden sich weder auf einem Kontinent noch in Gefangenschaft anderer Menschen, sondern auf einer unbewohnten Insel in der Weite des Pazifischen Ozeans. Die Reisenden/Lesenden hätten sie in einer imaginierten Fortsetzung ihrer Reise am Ende des ersten Teils fast schon einmal erreicht, als einer von ihnen, der französische Geograph Jacques Eliacim François-Marie Paganel, noch einmal die Linie um die Welt im Geiste abläuft: indem der siebenunddreißigste Grad Amerika verlässt, durchschneidet er den Atlantischen Ozean [...]. Zieht über die Inseln Tristan d’Acunha [...]. Läuft zwei Grad unterhalb des Caps der Guten Hoffnung vorbei [...]. Durchläuft [...] den Indischen Ocean [...]. Streift [...] die Insel Sanct Pierre von der Gruppe der Inseln Amsterdam [...], durchschneidet Australien in der Provinz Victoria [...]. Indem er Australien verläßt ...25

Hier bricht ein Geistesblitz die imaginäre Reise ab, der Paganel in „austral“ den Kontinent Australien und in „indi“ dessen indigene Einwohner entdecken lässt. Somit hat die Reisegruppe, die gerade vergeblich Südamerika durchstreift hat, ein neues Ziel, zu dem sie unverzüglich aufbricht. Hätte der französische Geograph zunächst die virtuelle Reise durch die geographische Nomenklatur fortgesetzt, wäre er dagegen über Neuseeland bis zur Insel Tabor gelangt, die sich fast vollständig in den Buchstaben „abor“ der französischen Version verbirgt. Als die Reisenden wenig später den Breitengrad noch einmal, nun auf einer englischen Seekarte, verfolgen, stoßen sie dort auf „Maria Theresia“, ein Name, von dem, wie Paganel zu Recht bemerkt, „in den drei Documenten keine Spur“ zu entdecken ist.26 Die Lösung des Rätsels, der der leider ebenso zerstreute wie geniale Geograph hier sehr nahe gekommen ist, verbirgt sich in einer Polysemie der geographischen Nomenklatur. 25 Ebd., S. 211. 26 Ebd., S. 254.

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In der Welt der natürlichen Sprachen sind die Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat alles andere als eindeutig, und selbst noch die geographische Wissenschaft droht dort, wo sie sich ihrer bedient, in einem Strudel der Vieldeutigkeiten zu versinken. Der Roman weist allerdings noch auf etwas anderes hin: Im semantischen Überschuss entstehen zugleich jene Redundanzen, die es überhaupt erst ermöglichen, die Lücken im Text extrapolierend zu füllen und somit die Reise auf den Weg zu bringen. Die fehlende numerische Angabe dagegen lässt sich durch keine noch so geistreiche Spekulation erschließen, hier bleibt das Papier unwiderruflich leer. Auch die wissenschaftliche Erschließung des Meeres ist auf Interpolationen und Konjekturen angewiesen, aber genau darin öffnet sich die „Flächigkeit“ und „Räumlichkeit“ des Meeres, der Raum der Potentialitäten und Transformationen. Die unvollständigen sprachlichen Syntagmen weisen in die Irre, die unvollständigen Koordinaten weisen nirgendwo hin. Allerdings scheint der Roman einen Ausweg aus dem Dilemma vorzuschlagen: den Raum der Repräsentationen ganz zu verlassen und sich in die Welt hinaus zu begeben, so wie es die Reisenden letztlich auch tun, wenn sie aller Interpretationsversuche zum Trotz stur entlang des infrage stehenden Breitengrades einmal um die Welt fahren.27 Nur ist das, zum einen, keine sehr gute Lösung für einen Roman, der ja diese Reise nicht macht, sondern sie erzählend erfindet, zum anderen wäre diese Erfindung gar nicht möglich ohne jene Geographie, die allererst das Netz der Längen- und Breitengrade über die Welt gelegt hat. Vernes Roman ist eine zutiefst ironische Phantasie über die Linie. Als Schlüsselwort im Prozess der Fehl-Lektüren erweist sich jenes „contin“, das die Reisenden/Lesenden von den Inseln und dem Meer ablenkt und auf die Kontinente führt, auf denen sie sich immer wieder verlaufen und in abenteuerliche Handlungen verstricken. Tatsächlich stand auf dem Dokument „continuelle“; das Meerwasser hat, indem es die Kontinuität des sprachlichen Syntagmas aufgelöst hat, zugleich die Bedeutung, die aus dem semantischen Feld des Kontinuierlichen stammt, verwischt. Denn die Kontinente sind, so führt Paganel in einer großen „Hynme auf den Ozean“ aus, gerade das, was die Einheit einer globalen Welt, die im Weltmeer realisierte Kontinuität der Verkehrsströme, unterbricht: O, das Meer! Das Meer! [...] das ist das auserwählte Feld für die Entfaltung der menschlichen Kräfte und das Schiff ist der wahre Träger der Civilisation. Wäre die Erdkugel nur ein ungeheurer Continent gewesen, man kennte auch im 19. Jahrhundert kaum 27 Vgl. dazu Jörg Dünne, Map Line Narratives, in: Anders Engberg Pedersen (Hg.), Literature and Cartography. Cambridge, MA/London 2017, S. 361–390.

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den tausendsten Theil davon! [...] Zwanzig Meilen Wüste scheiden die Menschen mehr, als fünfhundert Meilen Ocean! Man ist sich nahe von einer Küste zur andern, man ist sich fremd, wenn nur ein Wald uns trennt! England grenzt an Australien, während Aegypten z.B. Millionen Stunden weit vom Senegal entfernt, und Peking der Antipode von St. Petersburg zu sein scheint! Ueber das Meer reist man jetzt bequemer, als durch die kleinste Wüste, und ihm ist es zu verdanken, daß sich, wie es ein amerikanischer Gelehrter ganz richtig ausdrückt, zwischen allen Theilen der Erde eine Art internationaler Verwandtschaft herausgebildet hat.28

Verne selbst weist in einer Fußnote darauf hin, dass es sich bei dem zitierten amerikanischen Gelehrten um den Meereskundler Matthew Maury handelt. Dessen „Physical Geography of the Sea“ unterstellt sich in der Tat den Interessen des Welthandels, aber auch des Wal- und Fischfangs, und sehr viel allgemeiner der Wissenschaft. Nachdem er eine Vielzahl von Logbüchern verschiedenster Schiffe ausgewertet und die Informationen auf Karten übertragen habe, sei er überrascht gewesen, „to see how they cut up and divided the ocean off into great turnpikelooking thoroughfares“, während weite Flächen „of the ocean by the wayside were blank, untraveled spaces“.29 Um diese „blank spaces“ geht es Maury eigentlich, und um sie zu erschließen hat er unter anderem auch Flaschenpost-Experimente angestellt (und deren Ergebnisse mit der Hamburger Seewarte ausgetauscht).30 Weit eher als Paganel könnte sich der Kapitän der Dampf-Jacht, mit der Vernes Reisende die Erde umrunden, auf Maury berufen, wenn er nicht die verkehrstechnische Erschließung, sondern die physikalische Berechenbarkeit des Meeres betont: Hätte man die Flasche „auf offener See unter einem bestimmten Grad Länge und Breite aufgefischt, [dann] hätte man durch Berechnungen der Luft- und Meer-Strömungen herausbringen können, welchen Weg sie gemacht hat“.31 In dieses Kontinuum der Strömungsli28 Verne, Die Kinder des Kapitän Grant, S. 267 – „Ah ! La mer ! La mer ! [...] c’est le champ par excellence où s’exercent les forces humaines, et le vaisseau est le véritable véhicule de la civilisation ! [...] Si le globe n’eût été qu’un immense continent, on n’en connaîtrait pas encore la millième partie au XIXe siècle ! [...] Vingt milles de désert séparent plus les hommes que cinq cent milles d’océan ! On est voisin d’une côte à une autre ; étranger, pour peu qu’une forêt vous sépare ! L’Angleterre confine à l’Australie, tandis que l’Égypte, par exemple, semble être à des millions de lieues du Sénégal, et Péking aux antipodes de Saint-Pétersbourg ! La mer se traverse aujourd’hui plus aisément que le moindre Sahara, et c’est grâce à elle [...] qu’une parenté universelle s’est établie entre toutes les parties du monde.“ 29 Matthew F. Maury, The Physical Geography of the Sea, New York 1855, S. IX. 30 Vgl. Schott, Flaschenposten, S. 3. 31 Ebd., S. 10; vgl. Maury, Physical Geography, S. 124–125.

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nien aber hat der „verirrte“ Hai, der die Flasche aus fremden Meeren an die schottische Küste getragen hat, ein Loch gefressen, ebenso wie das Meerwasser in das Kontinuum der Sprache(n). Wenn die natürlichen Bewegungslinien der Flasche wie des Lesens nun durch die künstliche Linie des Breitengrads ersetzt werden, dann verlässt der Roman auch das von Paganel beschworene Kontinuum des Weltverkehrs, dessen Ströme keineswegs den Längen- und Breitengraden folgen und das überhaupt nur in wenigen Ausläufern bis an den 37. Grad südlicher Breite heranreicht. Paganel selbst hat dieses Kontinuum verlassen, als er, mit einem Nachtzug im Hafen ankommend, sich in einem Akt der Zerstreutheit auf der Jacht der Verschollenen-Sucher statt auf einem nach Indien bestimmten Schnelldampfer eingeschifft hat. Als er den Irrtum bemerkt, ist er bereits seit 24 Stunden in der falschen Richtung unterwegs. Wie bei den Flaschenpost-Experimenten in der Kieler Bucht kann auch im dampfgetriebenen Weltverkehr eine winzige Differenz in den Ausgangsbedingungen einen Reisenden, wie Paganel auf Columbus anspielend bemerkt, in die „lächerliche Lage“ versetzen, „sich nach Indien einzuschiffen, und nach Amerika zu fahren!“32 Wie auf den Flaschenpost-Karten bezeichnet die gerade Linie nicht eine tatsächliche, von A nach B führende Reiseroute, sondern eine Potentialität: die Gesamtheit aller möglichen Aufenthaltsorte eines Verschollenen, dessen tatsächlicher Aufenthalt, das zeichnet das Verschollensein aus, ebenso wenig benannt werden kann wie die tatsächlichen Trajektorien von Flaschenposten. Indem er sich der Kontingenz ausgesetzt hat, ist Paganel, der verhinderte Passagier, auf ein anderes Meer geraten als das, welches er in seiner „Hymne auf den Ocean“33 besingt. Es ist ein Meer nicht der Schnelldampfer-Routen, sondern der „blank spaces“, in denen Seefahrer nach wie vor verschollen gehen können – und mit ihnen ganze Inseln: Die Insel, auf der Vernes Verschollene schließlich gefunden werden, wurde auf den englischen und deutschen Seekarten als „Maria Theresa“, auf den französischen als „Tabor“ eingetragen, nachdem Asaph P. Taber, Kapitän des Walfängers MARIA THERESA aus New Bedford, Massachusetts, in seinem Logbuch die Sichtung von Brandungswellen bei 37° südlicher Breite und 137° westlicher Länge eingetragen hatte.34 Kein anderer Navigator hat seitdem dort eine Insel oder auch nur ein Riff 32 Verne, Grant, S. 58. 33 Ebd., S. 268. 34 Vgl. dazu Andreas Fehrmann, Wo liegt denn eigentlich Kapitän Grants Insel?, in: http:// www.j-verne.de/verne8_4.html (letzter Zugriff: 27.10.2017); sowie: A List of the Reported Dangers to Navigation in the Pacific Ocean, Whose Positions are Doubtful, or not Found on the Charts in General Use. Compiled at the Bureau of Navigation, Navy Department, Washington 1866, S. 170, Nr. 1535, 1536: „A reef with the name of Maria Theresa, said to be dangerous, is shown by Blunt’s chart [...], and by the British Admiralty’s chart

Flaschenpost – Flaschenschwindel

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gesehen, aber so schnell sie auf den Karten aufgetaucht war, so lange dauerte es, bis sie wieder von ihnen verschwunden war. Dass Verne seine Verschollenen auf einer Phantominsel hat stranden lassen, ist eine Ironie, die ihm selbst nicht bewusst werden konnte. Allerdings hat diese Ironie die Verschollenen und mit ihnen auch Vernes Roman auch davor bewahrt, sich allzu sehr in die Transformationen zu verstricken, in denen das Meer nicht mehr als internationaler Transitraum oder als transnationales Forschungsobjekt erscheint, sondern als Sphäre imperialer Expansion. Denn tatsächlich waren Vernes Verschollene, schottische Nationalisten, aufgebrochen auf der Suche nach einem Land, das sie kolonial in Besitz nehmen wollten. Als Flüchtlinge, die der Unterdrückung ihrer kulturellen Identität im englisch dominierten „Empire“ entkommen wollten, hatten sie selbst zugleich keine Scheu, ein noch zu entdeckendes fremdes Land für sich in Anspruch zu nehmen. Gehindert daran hat sie nur „ein Untergang auf fremden Meeren“, den sie mit Brechts „Schiffern“ teilen. Die „internationale Verwandtschaft“, die das Meer, Paganel und seinem realen Vorbild Maury zufolge, herstellen soll, wird schon durch die Sprachen der Flaschenpost-Formulare auf den nordatlantischen Raum beschränkt.35 Zu Englisch, Französisch und Deutsch kommen gelegentlich noch Spanisch, Portugiesisch, Dänisch, Schwedisch – Sprachen, die sich lateinischer Buchstaben bedienen und sich tatsächlich in Anagrammen wie in Interlinearübersetzungen einigermaßen ineinander transformieren lassen. Erst in Brechts „Flaschenpost“ wird die Linearität radikaler infrage gestellt. Die „fremden Schriftzeichen“, die die Fischer „in keiner Weise“ verstehen, könnten, wie etwa die chinesischen, anderen Prinzipien der Anordnung folgen als die lateinischen. Und so könnte das Meer zu einem anderen Raum der Globalisierung werden. Bereits 1857 schreibt Petermann über den Pazifik:

[...], differing 100 miles in latitude.“ Der Eintrag in die Karten der Britischen Admiralität brachte die Insel auch in englische und, über die Vermittlung Petermanns, deutsche Atlanten. In Perthes’ See-Atlas ist die Insel noch in der 7. Auflage von 1906 zu finden (Tafel 24, Süd-Polar-Meer). 35 Bei Maury ist es allerdings weniger der Weltverkehr als die Wissenschaft selbst, die einen inter- und transnationalen Raum herstellt. Eine 1853 in Brüssel stattfindende Konferenz, auf der sich die wichtigsten seefahrenden Nationen Europas und Amerikas auf ein gemeinsames System der meteorologischen und hydrographischen Beobachtung verständigt haben, das künftig jedes zivile und militärische Schiff in „a floating observatory, a temple of science“ verwandeln soll, beschreibt Maury emphatisch als „sublime spectacle presented to the scientific world: all nations agreeing to unite and co-operate in carrying out one system of philosophical research with regard to the sea. Though they may be enemies in all else, here they are to be friends“ (Physical Geography, S. XIII).

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Der Grosse Ozean [...] drängt sich als Schauplatz grossartiger, gewaltiger Ereignisse mehr und mehr in den Vordergrund unserer Zeit,“ [ein] „Tummelplatz sich einander berührender Thätigkeit und Interessen der herrschenden Völker unseres Planeten [...]. Engländer und Amerikaner, Franzosen und Russen, Chinesen und Japaner stehen, wie die Haupt-Figuren auf einem grossen Schachbrett, neben einander oder gegenüber, um – eine jede die ihrer Eigenschaft und Machtstellung entsprechenden – Züge zu thun.36

Diese „Züge“ können in der Demonstration militärischer Macht durch expansive Imperien bestehen, aber auch in kaum aufhaltbaren Migrationsbewegungen, wie sie Petermann etwa zwischen China und Amerika prophezeit. Hier deutet sich bereits an, dass die sich auf diesem „Schauplatz“ entfaltenden Dramen anders und vor allem weit weniger harmonisch verlaufen könnten als es Paganels „Hymne auf den Ocean“ imaginiert. Im Blick auf den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und die Weltkriege des 20. erscheint Vernes Vision „internationaler Verwandtschaft“37 nicht nur als naiv, sondern als Kehrseite all jener Begehrlichkeiten, die dem Meer das wieder eintragen, was in der Ausfaltung der Linie zur Fläche zunächst überwunden schien: jene Linerarität zielgerichteter Pläne, die den Kurs eines Schiffes zum Vektor von Eroberungs- und Machtphantasien werden lassen. Zur Fläche geworden, schien das Meer, das mehr ist als die den Zwischenraum zwischen zwei Küsten überwindende Linie, zum Modell zu werden für ein sich von den Zwängen der Subjektivität befreiendes, dem Eigensinn der Dinge Raum gebendes Schreiben. So jedenfalls ließe sich Brechts „Flaschenpost“ auf dem Hintergrund der sich entwickelnden Ozeanographie deuten. Zur Fläche geworden, wird das Meer aber auch zum „Schauplatz“ all jener Dramen, die der „Untergang auf fremden Meeren“ vielleicht nur verzögert hat. Vernes Naivität könnte das Residuum für jenes „Böse“ sein, das in Brechts „Flaschenpost“ der Begegnung von Schiffern und Fischern potentiell innewohnt und das nur im Schweigen abgewendet werden kann.

36 August Petermann, Der Grosse Ocean, in: Mittheilungen, 1857, S. 27–48, hier S. 27. 37 Verne, Grant, S. 267.

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DER OZEAN SELBST, VON EINER BESONDEREN SEITE ANGESEHEN DIE VÖLKERRECHTLICHE WAHRNEHMUNG DES MEERES SEIT 1945

EINLEITUNG Wenn Juristen versuchen, ihr oft als lebensfern angesehenes Fach Laien verständlich zu machen, erklären sie gern, letztlich sei das Recht das Leben selbst, nur von einer besonderen Seite aus angesehen.1 Dem Recht liegt auf jeden Fall eine bestimmte Ansicht oder Wahrnehmung seines Gegenstands zugrunde, die wiederum das Handeln von Menschen entscheidend mitprägt. Entsprechend basiert auch das internationale Seerecht, das die geltende Ordnung für den größten Teil der Erdoberfläche – die Ozeane – kodifiziert, auf der Sicht auf seinen Gegenstand von einer besonderen Seite aus und somit auf einer spezifischen Wahrnehmung des Meeres. Diese Wahrnehmung ist jedoch keinesfalls konstant, sondern war insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem bedeutenden Wandel unterworfen. Philip E. Steinberg zufolge besaß jede Epoche des Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert eine bestimmte Raumordnung auf dem Land und eine komplementäre, oft gegensätzliche Raumordnung der See, die jeweils von Interessengruppen sozial konstruiert wurden.2 Der folgende Beitrag fokussiert dagegen konkreter, zeitlich und thematisch begrenzter auf das internationale Seerecht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die These dieses Beitrages ist, dass sich die dem Seerecht zugrunde liegende Wahrnehmung des Meeres seit 1945 fundamental geän1

2

Das zugrunde liegende Zitat lautet korrekt: „Das Recht nämlich hat kein Daseyn für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen.“ Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 30. Philip E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge 2001.

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dert hat: An die Stelle einer binären Einteilung des Meeres in zwei Zonen, die als Flächen gedacht wurden, trat eine deutlich komplexere Wahrnehmung vielfältiger, sich teils überlappender Räume. Es fand also zum einen eine deutlich stärkere Ausdifferenzierung statt und zum anderen erweiterte sich die Wahrnehmung von der zweiten in die dritte Dimension. Dabei verlor die See in der juristischen Vorstellung ein Stück weit ihren Eigencharakter und glich sich dem Land an. Weiter soll aufgezeigt werden, dass sich drei Prozesse – die technologische Entwicklung, zunehmende Ressourcenkonflikte und die Veränderung der Staatengemeinschaft nach der Dekolonisation – identifizieren lassen, die zu diesem Wandel in der Wahrnehmung des Meeres geführt haben. Somit geht der vorliegende Beitrag über eine eng verstandene Rechtsgeschichte hinaus und knüpft an die Betrachtung der Meere durch eine globalhistorisch orientierte Zeitgeschichte an, wie sie in einem von Christian Kehrt und Franziska Torma 2014 herausgegebenen Themenheft vertreten wird.3 Das traditionelle (europäische) Völkerrecht, wie es sich seit der Frühen Neuzeit herausgebildet hatte, basierte auf der fundamentalen Einteilung des Globus in Land und Meer. Während die Landfläche restlos in souveräne Staaten aufgeteilt war (oder diese zumindest das Recht besaßen, sich bislang staatenlose Gebiete, z.B. als Kolonien, anzueignen), blieb die Wasserfläche einheitlich staatsfrei.4 Die Vorstellung der Freiheit der Meere, also dass das Meer keiner Souveränität unterstand und als res communis prinzipiell nicht anzueignen war, wird mit Hugo Grotius’ „Mare Liberum“ (1609) verbunden und hatte sich bis zum 19. Jahrhundert gegen die Herrschaftsansprüche einzelner Staaten über große Meeresgebiete durchgesetzt.5 Neben der Hohen See, für die die Freiheit der Meere galt, kannte das Seerecht lediglich noch das Küstenmeer (oder die Hoheitsgewässer), die als schmale Streifen entlang der Küsten vollständig der Souveränität des Küstenstaates unterstanden. Die genaue Ausdehnung des Küstenmeeres war nicht einheitlich geregelt, da viele Staaten (darunter Großbritannien, die USA und Deutschland) eine Breite von drei Seemeilen (ca. 5,6 km) beanspruchten, die skandinavischen Staaten allerdings vier Seemeilen und andere Staaten sogar sechs oder zwölf Seemeilen (so Russland bzw. die Sowjetunion). Es schien aber ein Konsens darüber zu bestehen, dass die Breite des Küstenmeeres und damit die Grenzen der uferstaatlichen Sou3 4 5

Christian Kehrt/Franziska Torma, Einführung: Lebensraum Meer. Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen in den 1960er und 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 40, 3 (2014), S. 313–322. Carl Schmitt, Land und Meer, 8. Auflage, Stuttgart 2016, S. 86. Yoshifumi Tanaka, The International Law of the Sea, Cambridge 2012, S. 16–17.

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veränität bei mindestens drei und maximal zwölf Seemeilen lagen.6 Strittig konnte zudem der Verlauf der Basislinie sein, von der an die Breite des Küstenmeeres landseitig gerechnet wurde, je nach dem, bei welchem Wasserstand gerechnet wurde, oder wenn die Küste zerklüftet war und viele Buchten oder Flussmündungen aufwies.7 Im Mittelpunkt des Seerechts stand die Schifffahrt, also Fragen nach dem Recht, in Friedens- oder Kriegszeiten bestimmte Seegebiete zu befahren und Häfen anzulaufen oder die Schiffe anderer Nationen zu kontrollieren und sie daran zu hindern, Seegebiete zu befahren oder Häfen anzulaufen. Entsprechend wurde das Meer in erster Linie als zweidimensionale Fläche wahrgenommen, auf der Schiffe verkehrten. Es ergibt sich somit für die Zeit bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bild des Meeres im Völkerrecht, das aus einer Fläche besteht, die in zwei Zonen eingeteilt ist: der Hohen See, die den bei Weitem größten Teil der Weltmeere umfasst, und schmaler Küstenmeere (oder Hoheitsgewässer), die die Ufer der Staaten säumen. Bis Ende des 20. Jahrhunderts hat sich dieser Zustand grundlegend verändert und es ergibt sich heute ein deutlich komplexeres Bild (s. Abb.).8 Inzwischen beträgt die maximale Breite des zum eigenen Staatsgebiet zählenden Küstenmeeres zwölf Seemeilen. Die souveränen Rechte des Staates erstrecken sich ausdrücklich auf den Meeresboden, dessen Untergrund, die Wassersäule und -oberfläche sowie den darüber liegenden Luftraum. An das Küstenmeer schließt die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) an, deren seeseitige Grenze in einer Entfernung von 200 Seemeilen (etwa 370 km) vom Ufer (bzw. der Basislinie) liegt. Die AWZ gehört nicht zum Staatsgebiet des Uferstaates, aber ihm kommen die ausschließlichen Rechte der wirtschaftlichen Ressourcennutzung in dieser Zone zu. Dies umfasst die Ressourcen des Meeresuntergrundes (z.B. Öl und Gas), der Wassersäule (z.B. Fischbestände) und auch die Windkraft über dem Meer. Teilweise deckungsgleich mit der AWZ ist der Festlandsockel (oder Kontinentalschelf), der ebenfalls nicht als Staatsgebiet gilt. Hierbei handelt es sich ursprünglich um einen geologischen Begriff, der den vom Meer bedeckten Rand eines Kontinentes bezeichnet bis zu dem Bereich, an dem die Neigung des Meeresbodens 6 7 8

Georg Dahm, Völkerrecht. Band I, Stuttgart 1958, S. 654; Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts. Erster Bd.: Allgemeines Friedensrecht, München/Berlin 1960, S. 319–320. Hans Jürgen Abraham, Das Seerecht. Ein Grundriß mit Hinweisen auf die Sonderrechte anderer Verkehrsmittel, vornehmlich das Binnenschiffahrts- und Luftrecht, Berlin/ New York 1974, S. 31–32. Für eine Übersicht über das aktuelle Seerecht siehe: Tanaka, Law; Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.), Handbuch des Seerechts, München 2006. Aus Gründen der Klarheit werden weitere, weniger relevante seerechtliche Räume (Innere Gewässer, Meerengen, Anschlusszonen und Archipelgewässer) hier nicht dargestellt.

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Rechtszonen des Meeres gemäß Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, Grafik in: Maribus (Hg.), World Ocean Review, Hamburg 2010, S. 202.

deutlich zunimmt. Im juristischen Verständnis umfasst der Festlandsockel jedoch mindestens die AWZ und reicht also bis 200 Seemeilen, auch wenn im geologischen Sinne kein Festlandsockel vorliegt. Unter bestimmten geologischen Bedingungen kann ein Küstenstaat allerdings einen Festlandsockel beanspruchen, der sich über 200 Seemeilen hinaus noch weiter in den Ozean hinein erstreckt. Im Unterschied zur AWZ umfasst der Festlandsockel lediglich den Meeresboden sowie dessen Untergrund und die dort befindlichen natürlichen Ressourcen – in erster Linie Öl und Gas, aber auch sesshafte Lebewesen wie z.B. Austern –, deren Nutzungsrechte dem Küstenstaat zukommen. Außerhalb der AWZ liegt weiterhin die Hohe See, für die das Prinzip der Freiheit der Meere gilt, so dass dieser Raum nach wie vor keiner staatlichen Jurisdiktion unterliegt und alle Staaten dort gleiche Rechte genießen. Im Unterschied zu der Situation um die Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Hohe See allerdings in ihrer Ausdehnung durch die 200 Seemeilen breiten AWZ, die sämtliche Küsten und auch kleine Inseln umgeben, deutlich eingeschränkt. Der Tiefseeboden und sein Untergrund unter der Hohen See bilden den historisch jüngsten Raum im Seerecht und werden als das sogenannte „Gebiet“ bezeichnet. Das „Gebiet“ umfasst den gesamten Meeresboden außerhalb nationaler Jurisdiktion, also außerhalb der AWZ und des Festlandsockels, und unterliegt dem Prinzip des „Gemeinsamen Erbes der Menschheit“ und nicht der Freiheit der Meere. Dies bedeutet, dass die Nutzung vor allem mineralischer Ressourcen dort nicht für jeden Staat frei ist, sondern dass die Ausbeutung nur im Interesse der gesamten Menschheit erfolgen darf. Daher untersteht das „Gebiet“ oder der Tiefseeboden der eigens eingerichteten Interna-

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tionalen Meeresbodenbehörde, die u.a. durch einen Kapital- und Technologietransfer sicherstellen soll, dass von einer – bis heute noch nicht realisierten – Ressourcennutzung im „Gebiet“ alle Staaten, insbesondere Entwicklungsländer, profitieren. Die Wahrnehmung des Meeres im völkerrechtlichen Blick hat sich somit binnen eines halben Jahrhunderts grundlegend gewandelt: An die Stelle einer zweigeteilten Fläche ist eine Einteilung in mehrere, sich teilweise überlappende dreidimensionale Räume getreten, die neben der Meeresoberfläche auch den Untergrund, den Meeresboden, die Wassersäule und den Luftraum mit einschließen. Zudem wurde die Freiheit des Meeres von staatlicher Herrschaft, die das Hauptmerkmal des Seerechts gegenüber der juristischen Ordnung des Landes ausmachte, zunehmend zugunsten der Uferstaaten eingeschränkt.

DIE TECHNOLOGISCHE ENTWICKLUNG Eine wesentliche Triebfeder für die oben skizzierte Entwicklung bildete der technologische Fortschritt, der neue Nutzungsweisen des Meeres ermöglichte und den nutzbaren Bereich der Ozeane, vor allem in die Tiefe, bis heute fortlaufend erweitert hat. Damit einher gingen neue Konfliktpotentiale und somit ein Bedarf für die Fortbildung des Seerechts. Eine Verbindung zwischen dem Stand der Technik und dem Seerecht bestand schon seit dem 18. Jahrhundert, als viele Staaten unter dem Gesichtspunkt der Beherrschbarkeit des Meeres vom Ufer aus die Breite des Küstenmeeres auf drei Seemeilen festlegten, was in etwa der damaligen Reichweite der Küstenartillerie entsprach. Ein völkerrechtliches Lehrbuch von 1958 merkte hierzu bereits an, dass es schon zum damaligen Zeitpunkt angesichts der militärtechnischen Entwicklung gar keine Freiheit der Meere mehr geben würde, wenn man dieser Definition weiterhin folgte.9 Tatsächlich wurde stattdessen das Kriterium der Kanonenschussweite allmählich aufgegeben. Die Fischerei wurde ebenfalls durch die technologische Entwicklung entscheidend verändert. Traditionell war man, wie auch der britische Biologe Thomas Henry Huxley10 oder der französische Historiker Jules Michelet,11 vielfach davon ausgegangen, dass die Fischbestände des Meeres unerschöpflich seien,12 so dass 9 10 11 12

Dahm, Völkerrecht, S. 654. The Fishery Exhibition, in: Nature, Bd. 28, Nr. 707 (21.6.1883), S. 176–177. Jules Michelet, Das Meer, Leipzig 1861, S. 81–87. Zur Frage der historischen Wahrnehmung von Fischbeständen: Glenn M. Grasso, What Appeared Limitless Plenty: The Rise and Fall of Nineteenth Century Atlantic Halibut Fishery, in: Environmental History 13 (2008), S. 66–91; Callum Roberts, The Unnatural

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das Recht der Fischerei auf der Hohen See jedermann zugestanden wurde. Allerdings ließ sich diese Fiktion angesichts des Fortschritts in der Hochseefischerei spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr aufrechterhalten, und damit wurde die Frage aufgeworfen, wie sich Fangbeschränkungen rechtlich durchsetzen ließen.13 Die durch neue Ortungs-, Fang- und Verarbeitungstechnologien zutage tretende Erschöpfbarkeit und Knappheit der Ressource drängte die Freiheit der Meere zugunsten der Herausbildung von Eigentumsrechten zurück.14 Nachdem über Jahrhunderte die Nutzung des Meeres vor allem aus der Schifffahrt einschließlich der Fischerei bestand, entstand Ende des 19. Jahrhunderts ein erstes wissenschaftliches Interesse an der Tiefsee und dem Meeresboden, das auch im Zusammenhang mit einer Entwicklung der Nachrichtentechnik, nämlich den ersten transatlantischen Telegraphenkabeln ab 1857, stand.15 Die Bedeutung des U-Bootkrieges im Zweiten Weltkrieg und im beginnenden Kalten Krieg schließlich vermehrte deutlich die Kenntnisse und technologischen Fähigkeiten bezüglich der Unterwasserwelt. Spätestens in den 1960er-Jahren erschien das Innere der Ozeane als eine „Frontier“, die hinsichtlich der Herausforderungen und der Potentiale oft mit dem anderen großen Thema der Zeit – dem Weltall – gleichgesetzt wurde.16 Wachsende technologische Fähigkeiten führten so zu Plänen für die weitere Erforschung, Ausbeutung und sogar menschliche Besiedelung der Unterwasserwelt, die sich als ein „amphibisches Projekt“ bezeichnen lassen. Damit einhergehend wurde das Meer zunehmend als dreidimensionaler Raum wahrgenommen.17 Die für das Jahr 1975 prophezeiten „colonies of aquanauts living and working on the ocean floor“18 sind bis heute Zukunftsmusik geblieben, aber die verbesserten technischen Möglichkeiten zur Ausbeutung von Öl und Gas vor der Küste haben deutliche Spuren im Seerecht hinterlassen. Den Anfang machten die USA, als sie mit einer Proklamation durch Präsident Harry S. Truman vom 28. Septem-

13 14 15 16 17 18

History of the Sea, Washington u.a. 2007, S. 130–170; Ole Sparenberg, „Segen des Meeres“. Hochseefischerei und Walfang im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik, (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 86), Berlin 2012, S. 69–77. Ebd., S. 699–700. Susan J. Buck, The Global Commons. An Introduction, Washington, D.C. 1998, S. 100. Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the Deep Sea, Cambridge, Mass./London 2005, S. 13–16. Helen M. Rozwadowski, Arthur C. Clarke and the Limitations of the Ocean as a Frontier, in: Environmental History 17 (2012), S. 578–602, hier S. 579–580. Sabine Höhler, Die Weltmeere. Science Fiction des Unerschöpflichen in Zeiten neuer Wachstumsgrenzen, in: Geschichte und Gesellschaft 40,3 (2014), S. 437–451, hier S. 441– 443, 449. Arvid Pardo, in: Foreign Affairs, Bd. 47, Nr. 1 (Oktober 1968), S. 123–137, hier S. 126.

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ber 1945 die Hoheit über den Festlandsockel vor ihrer Küste beanspruchten, ohne die Grenzen des betreffenden Gebiets näher zu definieren. Eine Vielzahl von Staaten folgte diesem Beispiel mit teilweise noch weitreichenderen Ansprüchen, so dass man bald von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung sprechen konnte. Die genaue Begrenzung des Festlandsockels wurde ein Gegenstand der 1958 in Genf abgehaltenen ersten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen. Die dort beschlossene Konvention über den Festlandsockel legte zwei Kriterien für die seeseitige Grenze fest: Der Festlandsockel erstreckte sich nach dieser – später revidierten – Definition bis zu einer Tiefe von 200 m oder darüber hinaus, wenn die Wassertiefe die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gestattete.19 Mit diesem Ausbeutungskriterium in der Genfer Konvention war jedoch der seerechtliche Festlandsockel von den geologischen Gegebenheiten völlig losgelöst und damit die Ausdehnung der Rechte des Küstenstaates direkt an die technologische Entwicklung geknüpft worden. Wie bald festgestellt wurde, wäre bei entsprechendem technologischen Fortschritt der Anspruch eines Küstenstaates auf den Meeresboden gar nicht mehr durch die Wassertiefe begrenzt, sondern würde sich ggf. in den Ozean hinein erstrecken, bis er auf den Festlandsockel des Staates auf dem gegenüberliegenden Kontinent träfe, so dass der Meeresboden vollständig unter den Uferstaaten aufgeteilt wäre.20 Eine solche Entwicklung, von der nur wenige, geographisch begünstigte Staaten überproportional profitiert hätten, war jedoch nicht im Interesse der Mehrheit der Staatengemeinschaft. Daher wurde der Vorschlag des maltesischen Botschafters bei den Vereinten Nationen, Arvid Pardo, den er in der Generalversammlung im November 1967 vorbrachte, positiv aufgenommen: Pardo regte an, ein Moratorium für alle weiteren Souveränitätsansprüche zu erklären und den Meeresboden jenseits nationaler Jurisdiktion als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ („common heritage of mankind“) unter eine internationale Aufsicht zu stellen und nur im Interesse aller Staaten zu nutzen.21 Seinen Vorschlag begründete Pardo mit dem allgemeinen technischen Fortschritt, der nicht mehr wie bisher nur die flachen Randmeere, sondern die gesamte Unterwasserwelt für die menschliche Nutzung öffnete. Diese Rede bildete den ersten Anstoß für die dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen (1973–1982), an deren Ende im Wesentlichen das heutige Seerecht stand. Die deutsche Bundesregierung sah den Anlass für diese Konferenz, die auch wichtige deutsche Interessen berührte, ebenfalls in der tech19 Dahm, Völkerrecht, S. 708; Abraham, Seerecht, S. 35. 20 Berber, Lehrbuch, S. 331. 21 United Nations General Assembly, 22nd Session, First Committee, 1515th Meeting, A7C.1/PV.1515, in: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/NL1/556/03/ PDF/NL155603.pdf?OpenElement (letzter Zugriff: 1.9.2017).

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nologischen Entwicklung begründet; dadurch würden „Nutzungen des Meeres möglich, die noch vor wenigen Jahren nicht vorausgesehen werden konnten“.22 Im Rahmen dieser Konferenz einigte sich die Staatengemeinschaft nach langwierigen Verhandlungen auch auf die seeseitige Begrenzung des Festlandsockels und das sogenannte „Gebiet“ als Rechtsordnung für den Meeresboden außerhalb nationaler Jurisdiktion.

ZUNEHMENDE RESSOURCENKONFLIKTE Die qualitativ und quantitativ neue Nutzung mariner Ressourcen wurde nicht nur von der technologischen Entwicklung auf der Angebotsseite, sondern mindestens ebenso von der Nachfrageseite getrieben, wobei beide Faktoren sich gegenseitig verstärkten. Insgesamt waren die Nachkriegsjahrzehnte von einer steigenden Nachfrage nach Nahrung, Energieträgern und industriellen Rohstoffen gekennzeichnet, hinter der als Grundtatsache der Epoche das globale Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum (zumindest bis 1973) stand. Da die historischen Akteure dazu neigten, die in mancher Hinsicht exzeptionellen Wachstumsraten der ersten Nachkriegsjahrzehnte in die Zukunft fortzuschreiben, erwarteten sie für die nähere Zukunft eine krisenhafte Zuspitzung der Versorgungssituation. Dies fand seinen Niederschlag auch in einer geänderten Betrachtung des Meeres, denn angesichts begrenzter Ressourcen auf den Kontinenten wurden die Ozeane nun in einem gesteigerten und vielfältigeren Maße als Rohstoff- und Nahrungsquelle wahrgenommen, wie es bis dahin in der Literatur vielleicht nur Jules Verne vorweggenommen hatte.23 Zeitgenössische Beobachter erkannten als Motiv hinter dem bereits geschilderten Ausgreifen der Staaten auf den Festlandsockel die dort befindlichen Erdöl- und Gasvorkommen.24 Die Bedeutung insbesondere des Erdöls nahm in der Nachkriegszeit stetig zu, indem es die Steinkohle als zentralen Energieträger in den Industriegesellschaften ablöste. Arvid Pardo wies vor der Generalversammlung auf die gewaltigen Erdgasfunde unter der Nordsee hin, die dazu geführt hatten, dass die Anrainerstaaten, darunter die Bundesrepublik, den Meeresboden dieses Randmeeres bereits vollständig unter sich aufgeteilt hatten.25 22 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU (Drucksache 7/5120): Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 23.6.1976, Deutscher Bundestag Drucksache 7/5455, S. 1. 23 Jules Verne, Zwanzigtausend Meilen unter Meer, Zürich 1976 (EA Paris 1870). 24 Berber, Lehrbuch, S. 331; Dahm, Völkerrecht, S. 706f.; Abraham, Seerecht, S. 35. 25 United Nations General Assembly, 22nd Session, First Committee, 1515th Meeting,

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Seit den 1960er-Jahren gerieten vermehrt mineralische Ressourcen – vor allem Erze – vom Meeresboden in den Blick. Den Hintergrund bildeten die wachsenden Verbrauchsraten, der Anstieg der Weltmarktpreise sowie zunehmende politische Spannungen zwischen den Produzentenstaaten im globalen Süden und den Verbraucherstaaten im industrialisierten Norden. Spätestens seit Erscheinen der Studie „Limits to Growth“ des Club of Rome 1972 beschäftigten die Öffentlichkeit auch Sorgen über die bevorstehende Erschöpfung der Rohstofflagerstätten.26 Der amerikanische Ingenieur John L. Mero sah dagegen in seiner einflussreichen Darstellung „The Mineral Resources of the Sea“ von 1965 die Argumente für Rohstoffe aus den Ozeanen weniger in der damals bereits diskutierten Endlichkeit kontinentaler Vorkommen, sondern betonte wirtschaftliche und politische Vorteile: Marine mineralische Ressourcen seien in gewaltigen Mengen vorhanden, sie seien vergleichsweise kostengünstig abbaubar und, sofern sie sich auf dem Tiefseeboden außerhalb nationaler Hoheitsansprüche befanden, für Bergbauunternehmen einfach zugänglich, ohne dass sie mit ausländischen Regierungen verhandeln und Lizenzgebühren zahlen müssten. Somit könnten Industriestaaten Abhängigkeiten von politisch instabilen Produzentenstaaten vermeiden.27 Die Ozeane enthalten verschiedene erzhaltige Mineralien, die als nutzbare Ressourcen infrage kamen, aber die Aufmerksamkeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik konzentrierte sich bald auf die Manganknollen (auch polymetallische Erzknollen genannt). Manganknollen bedecken insbesondere im Pazifik große Teile des Tiefseebodens in 4.000 bis 6.000 m Tiefe und enthalten neben Mangan relativ hohe Anteile an Nickel, Kupfer und Kobalt, wobei vor allem Nickel kommerziell von Interesse war. Der Tiefseebergbau nach dieser Ressource war in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren Gegenstand der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten mehrerer Konsortien von Unternehmen aus den USA, der Bundesrepublik, Japan und anderen westlichen Industrienationen. Trotz einer erfolgreichen Testförderung unter deutscher Beteiligung 1978 wurden die Tiefseebergbauprojekte in den 1980er-Jahren wieder zu den Akten gelegt, ohne dass bis heute ein kommerzieller Abbau stattgefunden hätte. Ausschlaggebend hierfür waren fallende Rohstoffpreise sowie die aus Investorensicht ungünstigen rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich des sogenannten „Gebiets“, wie sie auf der dritten UNA7C.1/PV.1515, S. 3, 9 in: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/ NL1/556/03/PDF/NL155603.pdf?OpenElement (letzter Zugriff: 1.9.2017). 26 Donella H. Meadows/Dennis L. Meadows/Jørgen Randers/William W. Behrens, The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972. 27 John L. Mero, The Mineral Resources of the Sea, Amsterdam/London/New York 1965, S. 5, 273–280.

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Seerechtskonferenz beschlossen worden waren.28 In Pardos Rede vor der UNGeneralversammlung 1967 kam den Manganknollen eine zentrale Bedeutung zu, als er vorschlug, jede weitere Ausdehnung nationaler Hoheitsansprüche zu stoppen und den Tiefseeboden und damit die Lagerstätten dieser Ressource als gemeinsames Erbe der Menschheit einer internationalen Verwaltung zu unterstellen.29 Manganknollen waren der Wissenschaft seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt, aber erst als eine Nachfrage nach den in ihnen enthaltenen Erzen bestand und der Abbau technisch möglich schien, besaßen sie das Potential, die Wahrnehmung der Tiefsee radikal zu verändern, was sich wiederum in der Etablierung des „Gebiets“ als eigenem Rechtsraum niederschlug. Neben Energieträgern und mineralischen Ressourcen prägte im 20. Jahrhundert die gestiegene Nachfrage nach Nahrung aus dem Meer dessen Wahrnehmung und rechtliche Ordnung. Auch im Fall der Nahrungsressourcen kam der technologischen Entwicklung ein hoher Stellenwert zu, da einerseits die Bandbreite der nutzbaren Ressourcen zunahm, andererseits die Gefahr der Übernutzung und Erschöpfung stieg. Viele Wissenschaftler gingen in den Nachkriegsjahrzehnten davon aus, dass den Ozeanen angesichts des globalen Bevölkerungswachstums in der nahen Zukunft eine deutlich größere Rolle bei der Welternährung zukommen müsse als bisher. Dabei war nicht nur an die Intensivierung der Fischerei gedacht, sondern auch an den Ausbau der Aquakultur sowie an neue Ressourcen wie Krill oder Algen.30 Viele der vom Technikoptimismus der Epoche gekennzeichneten Pläne wie der Fang mit unbemannten U-Booten oder Atomkraftwerke auf dem Meeresboden, um nährstoffreiches Tiefenwasser zur Düngung des Meeres an die Oberfläche zu leiten, blieben bislang nur auf dem Papier, aber die weltweite Fangmenge aus Fischerei und Aquakultur stieg zwischen 1950 und 2014 tatsächlich von 20 auf über 160 Mio. t.31 28 Ole Sparenberg, Meeresbergbau nach Manganknollen (1965–2014), in: Der Anschnitt 67,4/5 (2015), S. 128–145. 29 United Nations General Assembly, 22nd Session, First Committee, 1515th Meeting, A7C.1/PV.1515, S. 4, in: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/ NL1/556/03/PDF/NL155603.pdf?OpenElement (letzter Zugriff: 1.9.2017). 30 Cord-Christian Troebst, Der Griff nach dem Meer. Amerika und Rußland im Kampf um die Ozeane der Welt, Düsseldorf 1960, S. 146–161, 182–195; Alexander F. Marfeld, Zukunft im Meer. Bericht – Dokumentation – Interpretation zur gesamten Ozeanologie und Meerestechnik, Berlin 1972, S. 488–507. Vgl. auch das bundesdeutsche Krill-Projekt in den 1970er- und 1980er-Jahren: Christian Kehrt, „Dem Krill auf der Spur“. Antarktisches Wissensregime und globale Ressourcenkonflikte in den 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 40,3 (2014), S. 403–436. 31 Food and Agriculture Organization of the United Nations, 2016. The State of World Fisheries and Aquaculture. Contributing to Food Security and Nutrition for All, Rom 2016, S. 3.

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Vor diesem Hintergrund strebten die Staaten die Kontrolle über die Nahrungsquellen vor ihren Küsten an, und insbesondere die Schaffung der 200 Seemeilen breiten AWZ zielte auf lebende Ressourcen ab. Einer der Ursprünge der AWZ liegt in den Ansprüchen Chiles und Perus im Jahr 1947, die beide die Souveränität über das Meer vor ihrer Küste bis zu einer Entfernung von 200 Seemeilen forderten, womit diese Distanz zum ersten Mal im Seerecht erschien. Diese Ansprüche, denen sich später weitere lateinamerikanische Staaten anschlossen, beriefen sich auf das Vorbild der US-amerikanischen Truman-Proklamation von 1945, gingen aber deutlich darüber hinaus. Im Unterschied zu den USA beanspruchten die lateinamerikanischen Staaten nicht nur die Bodenschätze des Festlandsockels, sondern forderten volle Souveränität auch über die darüber liegende Wassersäule bis zu einer Entfernung von 200 Seemeilen von der Küste. Ein Festlandsockel von nennenswerter Breite fehlt im geologischen Sinne dagegen vor der südamerikanischen Pazifikküste, wo der Meeresboden vielmehr steil abfällt und daher auch mögliche Öl- und Gasvorkommen fehlen.32 Chile und Peru ging es um biologische Ressourcen. Den Anstoß gab ein chilenisches Walfangunternehmen, das sich während des Zweiten Weltkrieges gegründet hatte, als Europäer und Japaner den Fang eingestellt hatten. Es fürchtete nun nach dem Krieg das Wiedererscheinen der ausländischen Konkurrenz vor der Küste Chiles und suchte daher bei der Regierung um Schutzmaßnahmen nach. Peru schloss sich dem Anspruch seines südlichen Nachbarn rasch an und hatte dabei seine Fischerei vor Augen. Die peruanische Regierung sorgte sich um das mögliche Auftreten US-amerikanischer Thunfischfänger vor ihrer Küste und plante zu dieser Zeit, eine große Fischmehlindustrie auf der Grundlage der immensen Bestände an Anchovetas (Peruanischen Sardellen) aufzubauen.33 Ein weiterer früher Impuls für die Entstehung der AWZ ging von Island aus. Dem nordatlantischen Inselstaat, dessen Export in den 1950er-Jahren zu 90 % aus Fisch und Fischprodukten bestand, ging es ebenfalls um diese Ressource, die vor der isländischen Küste jedoch in hohem Maße von britischen und westdeutschen Trawlern genutzt wurde, die überdies den isländischen Fangschiffen technologisch zunehmend voraus waren. Vor diesem Hintergrund beanspruchte Island – anders als Chile und Peru, aber ähnlich dem Konzept der späteren AWZ – nicht die volle staatliche Souveränität über das Meer um die Insel, sondern lediglich eine Fischereizone, in der ausländischen Fischereifahrzeugen der Fang verboten war. Islands 32 Dahm, Völkerrecht, S. 708; Alexander Proelß, Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ), in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.), Handbuch des Seerechts, München 2006, S. 222–264, hier S. 225–226. 33 Ann L. Hollick, The Origins of the 200-Mile Offshore Zones, in: The American Journal of International Law 71, Nr. 3 (Juli 1977), S. 494–500.

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Anspruch richtete sich zunächst 1952 auf eine Fischereizone von 4 Seemeilen Breite, die 1958 auf 12 Seemeilen, 1972 auf 50 Seemeilen und schließlich 1975 auf 200 Seemeilen erweitert wurde. Die Fischereiflotten Großbritanniens und der Bundesrepublik wurden somit sukzessive völlig von ihren wichtigsten Fanggründen ausgeschlossen, weshalb diese Staaten zunächst die isländischen Ansprüche nicht akzeptierten. Das Ergebnis waren die drei sogenannten Kabeljaukriege zwischen 1958 und 1975, teils gewalttätige Konfrontationen zwischen den britischen und westdeutschen Trawlern, der Royal Navy und westdeutschen Fischereischutzbooten auf der einen und der Küstenwache Islands auf der anderen Seite.34 1977 hatten bereits 27 Staaten, darunter auch die USA, Frankreich und Großbritannien, eine 200-Seemeilen-Wirtschaftszone beansprucht,35 so dass sich dieses Konzept bereits vor Abschluss der dritten UN-Seerechtskonferenz 1982 international durchgesetzt hatte. Im Unterschied zu den ersten lateinamerikanischen Ansprüchen gilt die AWZ, die am Ende dieser Entwicklung stand, aber nicht als Staatsgebiet. Vielmehr sind die Rechte des Küstenstaates funktional begrenzt auf die Nutzung der Ressourcen dieses Raumes, während ansonsten die Rechte anderer Staaten – vor allem die freie Schifffahrt – erhalten bleiben. Insofern gleicht die heutige AWZ der anfangs von Island beanspruchten Fischereizone, schließt aber alle Arten von Ressourcen ein.

DIE VERÄNDERUNG DER STAATENGEMEINSCHAFT NACH DER DEKOLONISATION Der dritte Prozess, der zu der grundlegenden Veränderung des juristischen Blicks auf das Meer nach 1945 beitrug, war die Dekolonisation. Nachdem schon im 19. Jahrhundert die lateinamerikanischen Staaten ihre staatliche Unabhängigkeit erlangt hatten, änderte sich das globale Staatensystem mit dem Ende der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal grundlegend. Die Zahl der Mitglieder der Vereinten Nationen, die 1945 von 51 Staaten gegründet worden waren, hatte sich bis in die 1970er-Jahre durch die Dekolonisation fast verdreifacht. Die neuen Mitgliedsstaaten drängten angesichts fortbestehender postkolonialer Abhängigkeiten und einer eher noch wachsenden ökonomischen Kluft zwischen ihnen und den Industriestaaten im globalen Norden auf fundamentale Reformen der inter34 Ingo Heidbrink, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts, Bremen 2004, S. 90–102, 128– 148; Proelß, Ausschließliche Wirtschaftszone, S. 225. 35 Hollick, Origins, S. 494.

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nationalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke konnten sie ihre Anliegen in den Vereinten Nationen zumindest auf die Tagesordnung setzen.36 Eine zentrale Forderung der neuen Staaten, wie sie u.a. 1974 in der UN-Resolution zur Errichtung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ formuliert wurde, bildete die vollständige Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen, deren Nutzung auch nach der staatlichen Unabhängigkeit regelmäßig noch in der Hand von Unternehmen aus dem globalen Norden war.37 Die neuen, als Entwicklungsländer oder Dritte Welt – Letzteres ursprünglich auch eine Selbstbezeichnung ohne pejorative Bedeutung38 – bezeichneten Staaten sahen sich einer rechtlich-politischen Ordnung im Allgemeinen und einem internationalen Seerecht im Besonderen gegenüber, die in den vorangegangenen Jahrhunderten ohne ihre Mitsprache von den europäischen Mächten gestaltet worden waren und deren bindende Kraft sie daher infrage stellten.39 Das alte Seerecht mit der Freiheit der Meere im Mittelpunkt war seit der Frühen Neuzeit entstanden. Kaum eine Überblicksdarstellung versäumt zu erwähnen, wie im Zuge des Konflikts zwischen der Niederländischen Ostindien-Kompanie und Portugal um das Recht, nach Indien zu fahren, Hugo Grotius sein „Mare Liberum“ (1609) verfasste und Großbritannien, als es zur dominierenden Seemacht geworden war, im 19. Jahrhundert dem Prinzip der Meeresfreiheit zum allgemeinen Durchbruch verhalf. Kurzum: Das alte Seerecht war eng mit der Geschichte der europäischen See- und Handelsmächte verbunden. Es lässt sich sogar sagen, dass die Freiheit der Meere letztlich eine logische Folgerung aus dem Prinzip des freien Handels war, das wiederum eine Voraussetzung für den Aufstieg des Kapitalismus und die europäische

36 Paul Kennedy, Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung, München 2007, S. 148–155; Klaus Dieter Wolf, Die UNO. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, 2. Aufl. München 2010, S. 37–44. 37 Vgl. die von den Entwicklungsländern initiierte und geprägte „Erklärung zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung“: United Nations General Assembly, Resolution 3201 (S–VI): Declaration on the Establishment of a New International Economic Order, 1.5.1974. 38 Bedeutende Vordenker und Vorkämpfer der Dekolonisation wie der auf Martinique geborene Psychiater und Autor Frantz Fanon und Tansanias erster Präsident Julius Nyerere verwendeten regelmäßig den zuerst 1952 von Alfred Sauvy geprägten Begriff „tiers monde“ bzw. „Third World“; Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1974; Julius Nyerere, Third World Negotiating Strategy, in: Third World Quarterly 1,2 (1979), S. 20–23. Zur Begriffsgeschichte: Brian Roger Tomlinson, What was the Third World?, in: Journal of Contemporary History 38,2 (2003), S. 307–321. 39 Wolfgang Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Seerechts, in: ders. (Hg.), Handbuch des Seerechts, München 2006, S. 1–61, hier S. 40.

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Vorherrschaft über die Welt darstellte.40 Die dritte UN-Seerechtskonferenz wurde 1973 somit auch einberufen, um der fundamentalen Veränderung der Staatengemeinschaft durch die Dekolonisation Rechnung zu tragen.41 Zu den postkolonialen Staaten, von denen Impulse zur Änderung des Seerechts ausgingen, gehörten auch Island und Malta, die man heute nicht zu den Entwicklungsländern zählen würde, die aber ebenfalls erst spät – Island 1944 und Malta 1964 – ihre staatliche Unabhängigkeit erlangten. Die Rolle von Island, Chile und Peru wurde bereits erwähnt, einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der AWZ leistete aber auch Kenia. Auf den Vorschlag dieses afrikanischen Staates ging der Kompromiss zurück, der das eigentliche Konzept der AWZ ausmachte: Indem die Rechte des Küstenstaates im Unterschied zu den ersten lateinamerikanischen Ansprüchen auf die Ressourcennutzung beschränkt wurden und allen anderen Nationen die volle Schifffahrtsfreiheit blieb, wurde die AWZ auch für die Großmächte und Seefahrtnationen annehmbar.42 Die Entwicklungsländer und der Nord-Süd-Konflikt zwischen ihnen und den Industriestaaten prägten überdies in besonderem Maße die Entstehung des „Gebiets“, also die rechtliche Ordnung des Tiefseebodens außerhalb nationaler Hoheitsansprüche. Das Konzept geht, wie bereits dargelegt, auf die Initiative des maltesischen Vertreters bei den Vereinten Nationen, Arvid Pardo, zurück. Die genaue Ausgestaltung bildete den umstrittensten Punkt auf der dritten Seerechtskonferenz.43 Für Industrienationen wie die Bundesrepublik Deutschland, die über die Technologie für den Tiefseebergbau verfügten und deren Volkswirtschaften Erze benötigten, stand der für ihre Unternehmen freie und rechtlich gesicherte Zugang zu den Manganknollen am Meeresboden im Mittelpunkt.44 Hierin lag für sie nicht zuletzt eine Möglichkeit, wirtschaftlich und politisch gefährliche Abhängigkeiten von den Entwicklungsländern beim Rohstoffbezug zu verringern.45 Die Entwick40 41 42 43

Tanaka, Law, S. 17. Ebd., S. 25–27. Proelß, Ausschließliche Wirtschaftszone, S. 226–227. Wolfgang Graf Vitzthum, Die Bemühungen um ein Régime des Tiefseebodens. Das Schicksal einer Idee, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 38 (1978), S. 745–800, hier S. 745; James M. Broadus, Seabed Materials, in: Science, Bd. 235, Nr. 4791 (20.2.1987), S. 853–860, hier S. 854. 44 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU (Drucksache 7/5120): Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 23.6.1976, Deutscher Bundestag Drucksache 7/5455, S. 1; Danny M. Leipziger/James L. Mudge, Seabed Mineral Resources and the Economic Interests of Developing Countries, Cambridge, Mass. 1976, S. 122. 45 Mero, Mineral Resources, S. 5; Elisabeth Mann Borgese, The International Seabed Autho-

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lungsländer hingegen besaßen weder die Möglichkeit, Manganknollen abzubauen, noch einen Bedarf nach den darin enthaltenen Metallen. Denjenigen Staaten im globalen Süden, die selbst Erze exportierten, schien durch den Tiefseebergbau sogar ein erheblicher Einnahme- und Bedeutungsverlust zu drohen. Daher forderten die Entwicklungsländer, den Tiefseeboden als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ einer mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten UN-Meeresbodenbehörde zu unterstellen. Diese Behörde sollte nach ihren Vorstellungen Produktionsobergrenzen festlegen, um einen Preisverfall auf den Rohstoffmärkten zu verhindern. Sie sollte mit einem behördeneigenen Unternehmen oder zumindest in Joint-Ventures mit der privaten Industrie selbst Tiefseebergbau betreiben und zugleich über die Umverteilung von Gewinnen sicherstellen, dass die Nutzung der Tiefseebodenressourcen insbesondere den ärmsten Staaten zugutekäme.46 In diesem Kontext erscheint bemerkenswerterweise eine Wahrnehmung des Meeres als Raum für politisch-gesellschaftliche Utopien durch, wie sie an Platons „Atlantis“ oder Thomas Morus’ „Utopia“ erinnert. Insbesondere Elisabeth Mann Borgese als einflussreiche Vordenkerin eines neuen Seerechts dachte weit über die unmittelbare Frage einer Beteiligung der Dritten Welt am Tiefseebergbau hinaus. Bevor sie zum Seerecht kam, hatte sie sich mit Ideen für eine Weltregierung beschäftigt.47 Die geplante Meeresbodenbehörde stellte für Mann Borgese einen Prototyp für eine internationale Ressourcenbewirtschaftung unter der Ägide der UN dar und war damit ein Vorbild, das auf Bereiche wie Ernährungswirtschaft, Erdöl, Atomkraft oder Weltraumsatelliten ausgedehnt werden könnte, wenn es einmal für die Tiefsee etabliert worden sei.48 Daher ging es in ihrer Perspektive bei den Verhandlungen auf der dritten UN-Seerechtskonferenz nicht lediglich um Spezialprobleme des internationalen Rechts, sondern das neue Seerecht bildete „a model for, or nucleus of, a Constitution for the World. Neptune’s trident is the scepter of the world, an old saying goes.“49 Die Vorstellung, dass es bei dem Tiefseebodenregime darum ging, einen weiterreichenden Präzedenzfall zu setzen, teilte auch der bundesdeutsche Völkerrecht-

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rity as Prototype for Future International Resource Management Institutions, in: RenéJean Dupuy (Hg.), Le nouvel ordre économique international, Den Haag 1981, S. 59–73, hier S. 61. Hamilton S. Amerasinghe, The Third World and the Seabed, in: Elisabeth Mann Borgese (Hg.), Pacem in Maribus, New York 1972, S. 237–248, hier S. 244–246; Leipziger/ Mudge, Seabed Mineral Resources, S. 121–122, 131–132; Mann Borgese, International Seabed Authority, S. 62. Kerstin Holzer, Elisabeth Mann Borgese. Ein Lebensportrait, Berlin 2001; Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 334–336. Mann Borgese, International Seabed Authority. Elisabeth Mann Borgese, The Mines of Neptune, Amsterdam 1985, S. 135–136.

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ler Wolfgang Graf Vitzthum. Er sah ein Tiefseebodenregime, in dem Produktionsmengen und Preise durch politische Entscheidungen einer von den Entwicklungsländern dominierten Behörde statt durch den Markt geregelt würden, ebenfalls – aber mit deutlichem Unbehagen – als Muster für die von den Staaten des globalen Südens angestrebte „Neue Weltwirtschaftsordnung“.50 Auch die deutsche Bundesregierung und die Opposition betrachteten die Pläne der Entwicklungsländer für ein Tiefseebodenregime als Teil größerer weltwirtschaftlicher Reformvorstellungen, die aus bundesdeutscher Sicht ordnungspolitisch höchst problematisch waren.51 Am Ende der dritten Seerechtskonferenz stand 1982 als Ergebnis das Seerechtsübereinkommen als Grundlage des neuen Seerechts. Hinsichtlich des Tiefseebodenregimes, also des „Gebiets“, entsprach dieses Schlussdokument tatsächlich weitgehend den Vorstellungen der Entwicklungsländer.52 Diese neue rechtliche Situation führte in Verbindung mit den bis zu diesem Zeitpunkt wieder gefallenen Rohstoffpreisen dazu, dass alle am Tiefseebergbau interessierten Unternehmen ihre Projekte in den 1980er-Jahren einstellten.53 Dass die Staaten des globalen Südens im Fall der AWZ und des „Gebiets“ einen derartigen Einfluss auf die internationale Seerechtsentwicklung nehmen konnten, mag zunächst erstaunen. Zum einen stellten diese Länder eine Mehrheit in allen internationalen Gremien, in denen nach dem Prinzip „ein Staat – eine Stimme“ votiert wurde, und es gelang ihnen trotz ihrer außenpolitischen Unerfahrenheit, rasch gemeinsame Positionen zu entwickeln. Zum anderen müssen diese Erfolge relativiert werden: Im Fall der AWZ war entscheidend für die Akzeptanz durch die Großmächte und Industriestaaten, dass die Schifffahrtsfreiheit gewahrt blieb. Zudem gehören die Hauptprofiteure, also die Staaten, die die größten Wirtschaftszonen erhielten, keineswegs überwiegend zur Gruppe der Entwicklungsländer, vielmehr sind dies die USA, Frankreich, Indonesien, Neuseeland, Australien, Russland und Japan, da sie über sehr lange Küstenlinien verfügen oder – oft als Relikt ihrer Kolonialreiche – über kleine ozeanische Inseln, die jeweils von einer AWZ umgeben sind.54 50 Graf Vitzthum, Régime des Tiefseebodens, S. 795. 51 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU (Drucksache 7/5120): Auswirkungen der Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, 23.6.1976, Deutscher Bundestag Drucksache 7/5455, S. 2, 12. 52 Vgl. Teil XI des Seerechtsübereinkommens (Law of the Sea Convention): Vaughan Lowe/ Stefan Talmon (Hg.), The Legal Order of the Oceans. Basic Documents on Law of the Sea, Oxford/Portland 2009, S. 306–332. 53 Sparenberg, Meeresbergbau, S. 137–141. 54 Tanaka, Law, S. 125.

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Hinsichtlich des „Gebiets“ und des Tiefseebergbaus muss man den Erfolg der Entwicklungsländer auf der dritten UN-Seerechtskonferenz als einen Pyrrhussieg bezeichnen. Sie konnten zwar aufgrund ihrer Stimmenmehrheit in dem Seerechtsübereinkommen von 1982 ihre Vorstellung weitgehend durchsetzen, doch hatte dies zur Folge, dass die westlichen Industriestaaten das Übereinkommen nicht unterzeichneten und es daher in dieser Form nie in Kraft trat, da die hierfür nötige Zahl an Unterzeichnerstaaten nicht erreicht wurde. Die westlichen Industriestaaten, darunter auch die Bundesrepublik, begründeten ihre Ablehnung des Seerechtsübereinkommens ausdrücklich mit den Bestimmungen bezüglich des Tiefseebergbaus und des „Gebiets“.55 An dieser aus heutiger Sicht nachrangigen Frage scheiterten somit die seit Beginn der dritten UN-Seerechtskonferenz 1973 laufenden internationalen Bemühungen, zu einem neuen, weltweit anerkannten Seerecht zu gelangen. Erst nachdem vor allem der Tiefseebergbau, aber auch der Nord-SüdKonflikt ihre Bedeutung weitgehend verloren hatten, gelang es mit dem Durchführungsübereinkommen vom 28. Juli 1994 einen Kompromiss zu finden, der viele der von den Industriestaaten kritisierten Punkte wesentlich entschärfte. Somit konnten die meisten der bis dahin abseits stehenden Staaten – darunter die Bundesrepublik, aber bis heute nicht die USA – dem Seerechtsübereinkommen beitreten, so dass es Ende 1994 in Kraft trat.56

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Das Bild der Ozeane im juristischen Blick hat sich in dem halben Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg so stark verändert wie seit dem Zeitalter der Entdeckungen in der Frühen Neuzeit nicht mehr. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich drei Prozesse ausmachen, die diesen Wandel vorangetrieben haben. Es handelt sich erstens um die beschleunigte technologische Entwicklung, die qualitativ und quantitativ neue Nutzungen auch in bisher nicht erreichbaren Tiefen der Weltmeere ermöglichte; zweitens um zunehmende Konflikte über Rohstoffe und Nahrungsmittel angesichts des globalen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums; drittens um das Auftreten neuer staatlicher Akteure im Zuge der Dekoloni55 Law of the Sea, in: Yearbook of the United Nations 36 (1982), S. 178–247, hier S. 184; Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 1985 der Bundesregierung, 30.1.1985, Deutscher Bundestag Drucksache 10/2817, S. 19; Tanaka, Law, S. 29. 56 Satya Nandan, Administering the Mineral Resources of the Deep Seabed, in: David Freestone/Richard Barnes/David M. Ong (Hg.), The Law of the Sea. Progress and Prospects, Oxford 2006, S. 75–92, hier S. 77–78; Tanaka, Law, S. 33.

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sation, die bestrebt waren, ihre Vorstellungen und Interessen in das internationale Recht einzubringen. In einem Prozess, der spätestens mit dem Inkrafttreten des Seerechtsübereinkommens 1994 abgeschlossen war, hatte sich somit die juristische Vorstellung des Meeres grundlegend geändert: An die Stelle der Hohen See als einheitlicher Fläche, die nur von äußerst schmalen Küstengewässern gesäumt wurde, trat eine Mehrzahl von sich teils überlappenden, funktional differenzierten Räumen, so dass sich das Bild sowohl deutlich verkompliziert als auch um die dritte Dimension erweitert hatte. Abgesehen davon, dass das Gesamtbild vielfältiger geworden war, liegt ein wesentliches Ergebnis dieser Entwicklung darin, dass die Freiheit des Meeres, die im Zentrum des alten Seerechts gestanden hatte, zugunsten staatlicher Hoheitsansprüche merklich zurückgedrängt wurde. Global betrachtet macht die Summe der küstenstaatlichen Ausschließlichen Wirtschaftszonen zwar nur 8 % der Erdoberfläche, aber 36 % der Ozeanoberfläche aus und umfasst nahezu 90 % der Fischbestände weltweit sowie sämtliche Öl- und Gaslagerstätten, so dass die Etablierung von AWZ und Festlandsockel „den größten Transfer natürlicher Ressourcen in den Bereich staatlicher Hoheitsbefugnisse in der Geschichte der Menschheit“ darstellte.57 Der Völkerrechtler Wolfgang Graf Vitzthum sah diesen Vorgang schon 1981 deutlich kritisch und sprach von der „Terranisierung des Meeres“ und der „Gleichschaltung von Land und Meer“.58 Die zeitgleiche und vom Prinzip her gegenläufige Entwicklung, die den verbleibenden Tiefseeboden – das „Gebiet“ – als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ definierte und dem Zugriff der einzelnen Staaten entzog, verblasst gegenüber dem Trend zur Nationalisierung der Ozeane in Form von AWZ und Festlandsockel, da angesichts der bislang gescheiterten Tiefseebergbauprojekte bis heute keinerlei ökonomische Nutzung der globalen Gemeingüter im „Gebiet“ stattgefunden hat. Insofern lässt sich angesichts des Umfangs und der Bedeutung der AWZ sagen, dass das Meer in der juristischen Wahrnehmung ein bedeutendes Stück weit seinen bisherigen Eigencharakter verloren und sich dem Land angeglichen hat. Die weitere Entwicklung in der näheren Zukunft ist schwer abzusehen. Ein Faktor, der ebenfalls in etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine wachsende Rolle spielt und dem zukünftig eine noch größere Bedeutung zukommen dürfte, ist der ökologische Aspekt, insbesondere Fragen der Überfischung und der Meeresverschmutzung. Die Erhaltung der Fischbestände war bereits Gegenstand der aus der Genfer Seerechtskonferenz von 1958 hervorgegangenen Fischereikonvention, der jedoch 57 Proelß, Ausschließliche Wirtschaftszone, S. 222. 58 Wolfgang Graf Vitzthum, Die Gleichschaltung von Land und Meer, in: ders. (Hg.), Die Plünderung der Meere. Ein gemeinsames Erbe wird zerstückelt, Frankfurt am Main 1981, S. 49–76, hier S. 60.

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nur wenige Staaten beitraten. Nachdem sich schon der Völkerbund 1926 mit der Ölverschmutzung beschäftigt hatte, einigte sich die Staatengemeinschaft 1954 auf das Übereinkommen zur Verhütung der Verschmutzung der See durch Öl und 1973/1978 auf das Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe (MARPOL). Auch das Seerechtsübereinkommen von 1982 deckt die Bereiche Überfischung und Verschmutzung ab, so dass der überkommene Laisserfaire-Ansatz der Freiheit der Fischerei und der Freiheit der Einleitung von Substanzen abgelöst wurde durch die Verpflichtung der Staaten, Überfischung und Meeresverschmutzung zu verhindern.59 Dennoch kann die bestehende Rechtslage insbesondere hinsichtlich der Durchsetzungsmöglichkeiten als unzureichend gelten; zudem sind die seerechtlichen Zonen selten deckungsgleich mit Räumen ökologischer Zusammenhänge. In jedem Fall haben die ökologischen Fragen trotz steigender Beachtung zumindest bisher keinen Faktor dargestellt, der die juristische Wahrnehmung des Meeres geprägt hätte. Vielleicht werden der steigende Regelungsbedarf und das Bewusstsein globaler Zusammenhänge hier in Zukunft zu neuen Raumvorstellungen führen.

59 Gerhard Hafner, Meeresumwelt, Meeresforschung und Technologietransfer, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.), Handbuch des Seerechts, München 2006, S. 355–460; Tanaka, Law, S. 219–334.

Ruth Schilling

DAS MEER AUSSTELLEN DAS MUSEUM FÜR MEERESKUNDE UND DIE WAHRNEHMUNG DES MEERES UM 1900

An der Wende zum 20. Jahrhundert existierte eine Reihe von Möglichkeiten, das Meer in ein Museum zu holen: Schiffsmodelle und Gemälde konnten eine nationale maritime „Ruhmeshalle“1 bilden, Organismen aus dem Meer in der Art naturkundlicher Schausammlungen ausgestellt werden.2 Weltausstellungen lieferten die Vorlage für eine Leistungsschau, die auch schifffahrtsbezogene Technologien umfassen konnte.3 Fischereiausstellungen verglichen Fangquoten und technologische Innovationen in globaler Perspektive.4 Es stand also ein weites Spekt1

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HUB, UA, Institut für Meereskunde 038, Gutachten des Abteilungsvorstandes im Institut für Meereskunde, Prof. Dr. von Halle, über die Eingabe des Kustos der Reichs-Marine-Sammlung, Kapitän a.D. Wittmer vom 20. Juni 1903, S. 2–3: Von Halle geht auf die Konzeption des künftigen Museums als „Ruhmeshalle“ ein, die er ablehnt. Vgl. Kristin Becker zum Meer als Ausstellungsthema um 1900: Kristin Becker, Affe, Mond und Meer. Inszenierungen von Wissen und Wissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2014, S. 91–106; außerdem Carsten Kretschmann zur Tradition naturkundlicher Schausammlungen im 19. Jahrhundert: Carsten Kretschmann, Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 76–86, 194–195. 295–300. Eine zeitgenössische kritische Reflexion biologischer Museen findet sich in Otto Lehmann, Biologische Museen, in: Museumskunde 2 (1906), S. 61–66. Vgl. spezifisch zum Museum für Meereskunde auch Lynn K. Nyhart, Modern Nature: The Rise of the Biological Perspective in Germany, Chicago 2009, S. 278–288. Zu Weltausstellungen vgl. die jeweiligen Beiträge in: David Raizman/Ethan Robey (Hg.), Expanding Nationalisms at World Fairs: Identity, Diversity, and Exchange, 1851–1915, London/New York 2018; Jutta Zander-Seidel/Roland Prügel (Hg.), Wege in die Moderne: Weltausstellungen, Medien und Musik im 19. Jahrhundert. Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 27. März–21. September 2014, Nürnberg 2014. Zu Fischereiausstellungen fehlen bislang jegliche historische Arbeiten. Exemplarisch für viele vergleichbare Broschüren sei hier genannt: Deutsche Fischerei-Ausstellung auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1896: Verzeichniss der ausgestellten Gegenstände mit erläuterndem Text, Berlin 1896.

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rum an Möglichkeiten zur Auswahl, in die das Meer als Wahrnehmungsgegenstand platziert werden konnte: Es konnte als Projektionsfläche für die Nation als imaginierte Gemeinschaft dienen,5 als ein mit möglichst genauen Mess- und Darstellungsmethoden systematisch zu beschreibender Gegenstand der Naturkunde, Meteorologie oder der sich formierenden Ozeanographie6 oder als Schauplatz technischer Innovations- und ökonomischer Leistungsfähigkeit. Das Meer als einen musealen Gegenstand zu begreifen bedeutet, es mit dreidimensionalen Gegenständen in Verbindung zu bringen und eine Brücke zwischen seinem sich stetig wandelnden fluiden Charakter und dem primär statischen Medium einer Ausstellung im Sinne einer Raum-Objekt-Assemblage zu schlagen.7 Ein Museum zum Thema Meer zu konzipieren, bedeutete um 1900 wie auch an der Wende zum 21. Jahrhundert eine räumlich und visuell fokussierte Aussage darüber zu treffen, welches Meer denn eigentlich begreifbar gemacht werden soll: eine historisch fassbare Interaktionsfläche unterschiedlicher menschlicher politischer Interessen, ein Naturraum oder auch eine Begegnungszone zwischen Technik, Mensch und Natur. Auf dem Deckblatt der im Jahre 1899 verfassten „Denkschrift zur Errichtung eines Marine-Museums“ ist der gedruckte Titel „Marine-Museum“ durchgestrichen und nachträglich durch „Institut für Meereskunde“ ersetzt worden.8 Damit werden die zwei Pole sichtbar, zwischen denen sich die Gründung des „Museums für Meereskunde“ in Berlin bewegte: Zum einen suchten Interessensgruppen und Akteure, die sich unter dem Dach des im Jahre 1898 gegründeten „Deutschen Flot5 6

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Zur Bedeutung von Museen in der Erschaffung von Nationen als „imaginierter Gemeinschaft“ vgl. M. Elizabeth Weiser, Museum Rhetoric: Building Civic Identity in National Spaces, Pennsylvania 2017, S. 118–149. Zur Geschichte der Ozeanographie vgl. Patrick Geistdoerfer, Histoire de l’océanographie: de la surface aux abysses, Paris 2015; außerdem die 2017 erschienene Fallstudie zur Kieler Meeresforschung: Lisa Kragh, Kieler Meeresforschung im Kaiserreich: Die Planktonexpedition von 1889 zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 2017; zur Meeres- und Polarforschung im Kaiserreich außerdem Cornelia Lüdecke, Deutsche in der Antarktis: Expeditionen und Forschungen vom Kaiserreich bis heute, Berlin 2015. Zur Reflexion des Raum-Text-Objekt-Verhältnisses und seiner philosophischen Implikationen vgl. Katharina Hoins/Felicitas von Mallinckrodt, Der dritte Ort. Neuer Materialismus und Museum, in: Bernadette Collemberg-Plotnikov (Hg.), Das Museum als Provokation der Philosophie. Beiträge zu einer aktuellen Debatte, Bielefeld 2018, S. 199– 214. Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv, Institut für Meereskunde 011, [Ferdinand von Richthofen] Denkschrift zur Errichtung eines Marinemuseums in Berlin: „eines Marinemuseums“ ist mit Bleistift durchgestrichen und „Institut für Meereskunde“ daneben gesetzt, es handelt sich vermutlich um ein nicht datiertes Konzeptpapier.

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tenvereins“ zusammenschlossen, nach einer öffentlich sichtbaren Plattform.9 Zum anderen versuchten Wissenschaftler wie Ernst Lévy von Halle (1868–1909), Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833–1905) und Erich von Drygalski (1865– 1949) die politische Förderung der Marine zur Etablierung eines nationalen Forschungsinstituts für Meereskunde zu nutzen.10 Alle drei vertraten dabei unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven: Der Nationalökonom Ernst von Halle hielt es für grundlegend notwendig, Deutschlands Nationalwirtschaft mit einer Stärkung von Seehandel, Fischerei- und Marineförderung zu verbinden.11 Der Geograph Ferdinand von Richthofen sah die Beschäftigung mit dem Meer als Erweiterung einer kolonial begründeten geographischen Forschungstätigkeit.12 Erich von Drygalski wiederum befand sich im Jahre 1900 zwischen zwei entscheidenden Etappen seiner wissenschaftlichen Karriere: Im Jahre 1899 wurde er zum außerordentlichen Professor für Geographie und Geophysik an der FriedrichWilhelm-Universität zu Berlin ernannt. In den Jahren 1901–1903 leitete er die erste deutsche Südpolarfahrt, die sog. GAUSS-Expedition.13 Richthofen bekleidete bis kurz vor Eröffnung des Museums das Direktorenamt, Ernst von Halle fungierte als Kopf der geographisch-naturwissenschaftlichen Abteilung und Erich von Drygalski als Leiter der historisch-volkswirtschaftlichen Abteilung.14 Alle drei waren zudem Mitglieder des Lehrkörpers der Friedrich-Wilhelm-Universität und standen somit für eine enge Verbindung zwischen musealer Konzeption und wissenschaftlicher Ausrichtung in der Gründungszeit. 9

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Regina Stein, Seefahrt, Nation und Krieg – Die Konstruktion eines deutschen Nationalbildes im Museum für Meereskunde zu Berlin 1906 bis 1945, in: Juliette Wedl/Stefan Dyroff/Silke Flegel(Hg.), Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder, Berlin 2007, S. 127–140. Zu von Halle vgl. Peter George Julius Pulzer, Jews and the German State: The Political History of a Minority, 1848–1933, Oxford 1992, S. 181–182; zu von Richthofen HansDietrich Schultz, „Geben Sie uns seine scharfe Definition der Geograpie!“ Ferdinand von Richthofens Anstrengungen zur Lösung eines brennenden Problems, in: Bernhardt Nitz/ Hans-Dietrich Schultz/Marlies Schulz (Hg.), 1810–2010: 200 Jahre Geographie in Berlin, Berlin 2010, S. 57–93; zu von Drygalski vgl. Pascal Schillings, Der letzte weiße Flecken: Europäische Antarktisforschung um 1900, Göttingen 2016, S. 98–228, sowie Cornelia Lüdecke, Erich von Drygalski und die Gründung des Instituts und Museums für Meereskunde, in: Historisch-meereskundliches Jahrbuch 4 (1997), S. 19–36. Ernst von Halle, Die Seemacht in der deutschen Geschichte, Leipzig 1907. Ferdinand von Richthofen, Das Meer und die Kunde vom Meer: Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität Friedrich Wilhelm III. in der Aula am 3. August 1904, Berlin 1904. Vgl. Schillings, Der letzte weiße Flecken, S. 174–182. Albert Röhr, Bilder aus dem Museum für Meereskunde in Berlin 1906–1945, Bremerhaven 1981, S. 12.

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Museen und Forschungsinstitute stellen bis heute ressourcenintensive Investitionen dar. Dies sollte auch lange gegen die Errichtung eines eigenen Museums und Instituts für Meereskunde sprechen. Die Einrichtung einer solchen, durch das preußische Kulturministerium geförderten Institution wurde erst knapp 40 Jahre nach der Gründung der Deutschen Seewarte in Hamburg (1868) realisiert. Im Rückblick kommt neben den politischen Aspirationen der im Flottenverein versammelten Gruppen und den wissenschaftlichen Plänen seiner Gründer der öffentlichen Anteilnahme eine wohl nicht ganz unbeträchtliche Bedeutung dabei zu, nicht nur ein Institut, sondern auch ein öffentlich zugängliches Museum zu errichten. Eine der frühesten Ausstellungen schifffahrtsgeschichtlicher Gegenstände war auf einer Ausstellung Bremischer Gewerbe- und Industrieerzeugnisse im Jahre 1865 zu sehen gewesen.15 Ab 1881 verfügte die Deutsche Seewarte in Hamburg über eine permanente eigene Ausstellung.16 Im Winter des Jahres 1897/1898 hatte eine Ausstellung von Marine-Modellschiffen zu einem Publikumsandrang in Berlin geführt. Dies beschleunigte die Realisierung der Pläne für die Errichtung eines Museums für Meereskunde und führte außerdem zur Wahl von Berlin als Ort anstelle des vorher diskutierten Kiel.17 Am 25. Mai 1899 billigte Kaiser Wilhelm II. einen gemeinsam durch das Reichs-Marineamt und das preußische Kulturministerium vorgelegten Entwurf zur Errichtung eines „Instituts für Meereskunde mit meereswissenschaftlichen Sammlungen (Marinemuseum)“.18 Das Kuratorium bestand aus dem Direktor, einem Vertreter des Ministeriums sowie einem Abgeordneten des Reichs-Marineamtes. Dieses fungierte als finanzielles Aufsichtsorgan. Eine Allerhöchste Kabinetts-Order vom 21. Dezember 1901 gab die Anweisung, dass alle Gegenstände und Archivmaterialien, die nicht mehr für Lehr- oder praktische Zwecke in der Deutschen Seewarte oder in der Kaiserlichen Marine benötigt werden würden, in die Sammlung des Museums zu übergeben seien – ohne allerdings dem Museum die Verfügungsgewalt über diese Objekte einzuräumen, die als Sonderbestand allein der Kaiserlichen Marine unterstellt blieben.19 Provisorisch wurde für die wachsende Sammlung von Institut und Museum das in den Jahren 1865–1867 erbaute Gebäude des Ersten Chemischen Instituts der Friedrich-Wilhelm-Universität, Georgenstraße 34–36 (Berlin-Mitte, Nähe Friedrichstraße), bestimmt.20 Für das Museum wurde folgende Einteilung festgelegt: 1. Reichs-Marine-Sammlung; 2. historisch-volkswirtschaftliche Sammlung; 3. oze15 Röhr, Bilder, S. 11. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Röhr, Bilder, S. 12. 19 Röhr, Bilder S. 13. 20 Ebd.

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anologische Sammlung und 4. biologische und Fischereisammlung.21 Am 5. März des Jahres 1906 wurde das Museum in Gegenwart Kaiser Wilhelms II. und des Fürsten Albert I. von Monaco (1848–1922) feierlich eröffnet. Albert I. bewies ein großes und aktiv betriebenes Interesse an der Meeresforschung.22 Im Jahre 1889 hatte er ein Ozeanographisches Museum gegründet, das im Jahre 1910 in Monaco eröffnet wurde.23 Seine Teilnahme an der Eröffnung des Museums für Meereskunde in Berlin weist darauf hin, welch hohe Aufmerksamkeit es in der internationalen Fachwelt erregte. Es zeigt außerdem, in welches museale und wissenschaftliche europäische und internationale Umfeld es sich einbettete.

MUSEALE ITINERARIEN Genau um dieses Umfeld soll es in diesem Beitrag gehen. Dabei soll weder eine genaue Rekonstruktion aller Reisen geleistet noch en détail einzelnen konkreten Objektbiographien nachgegangen werden. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie in Abgrenzung und im Vergleich zu anderen musealen Narrativen die Ausstellungskonzeption am Berliner Museum für Meereskunde entstand. Dabei gilt es ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, mit welchen zeitlichen, räumlichen und materiellen Aspekten das Meer als Ausstellungsgegenstand verknüpft wurde. Albert Röhr hob in seiner kurzen Darstellung der Geschichte des Museums die originäre Eigenleistung der Berliner Museumsplaner hervor und folgte damit weitgehend deren in den Schriftstücken an das Ministerium formulierter selbstbewusster (und um weitere finanzielle Unterstützung ringender) Einschätzung.24 Die Akten aus der Konzeptions- und Gründungsphase zeigen eine intensive Reisetätigkeit, bei der neben Europa auch Russland, Japan und Amerika bereist wurden.25 Diese Reiseziele weisen darauf hin, in welche Wahrnehmungspole die 21 Röhr, Bilder, S. 14. 22 Jules Richard, Les Campagnes Scientifiques de S.A.S. Le Prince Albert Ier de Monaco, Monaco 1910; Jacqueline Carpine-Lancre, Oceanographic Sovereigns: Prince Albert I of Monaco and King Carlos I of Portugal, in: Margaret Deacon/Tony Rice/Colin Summerhayes (Hg.), Understanding the Oceans: A Century of Ocean Exploration, London 2001, S. 56–68. 23 Zum Museum und seiner Gründungsgeschichte fehlen bislang wissenschaftshistorische Studien; zum Gründungsprogramm vgl. Louis Joubin, Séance d’Ouverture des Cours de l’Institut Océanographique à la Sorbonne le 5. Nov. 1906, Monaco 1906. 24 Röhr, Bilder, S. 6. 25 Hierfür wurden ausgewertet: HUB, UA, Institut für Meereskunde 01, 07, 033, 037–038.

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Museumsmacher das Meer einordnen wollten, das sie öffentlich vermitteln, universitär erforschen und zum Lehrgegenstand machen wollten. Das Museum für Meereskunde fiel bereits in der Konzeptionsphase in zwei distinkte Bereiche, zum einen den der Ozeanographie und Biologie und zum anderen den sich um die Reichs-Marine-Sammlung gruppierenden historischen, volkswirtschaftlichen und militärischen Sammlungs- und Ausstellungsteilen. Die Planung und spätere Leitung der Reichs-Marine-Abteilung lag in den Händen des Kapitäns zur See a.D. Rudolf Wittmer, der als einziger kein Hochschullehrer war und durch einen ehemaligen Korvettenkapitän und Marinemaler unterstützt wurde (E. Kohlhauer), während von Halle, von Richthofen und Drygalski die Konzeption der anderen drei Abteilungen verantworteten. Bereits die Reiserouten verweisen darauf, dass keine Schnittmenge zwischen der Reichs-Marine-Sammlung und den beiden anderen beiden Abteilungen erzielt werden oder gar ein Dialog in Gang gebracht werden sollte: Die einen Emissäre konzentrierten sich auf die Besichtigungen von Marinesammlungen in Frankreich, England, Russland und Spanien, während von Halle, von Richthofen und Drygalski neben Museen auch Forschungsinstitute und Fischereiausstellungen besichtigten.26 Korvettenkapitän Kohlhauer versuchte die aus seiner Sicht fehlende historische Tiefe der Sammlung der kaiserlichen Marine durch Besuche auf schwedischen, noch nach traditionellen Methoden bauenden Schiffswerften zu kompensieren sowie sich mit amerikanischen Sammlungen zu vernetzen, die über frühneuzeitliche Schiffsmodelle verfügten.27 Die Gruppe um von Richthofen, von Halle und Drygalski hingegen plante ein geographisch und thematisch sehr viel weiter gefasstes Besuchsprogramm: Sie besichtigten mehrere Male die umfangreichen Sammlungen des South Kensington Museum und des Trinity House in London,28 unterzogen die niederländischen Sammlungen einer umfassenden Bewertung, versuchten (vergeblich), in Schottland an Objekte und Archivalien zu gelangen, mit denen sie die Challenger-Expedition ausstellen könnten, und unternahmen – last but not least – eine mehrmonatige Studienreise zu den Smithsonian Museums (USA).29 Sie zielten zudem darauf, nicht nur Forschung „zweiter Hand“ 26 HUB, UA, Institut für Meereskunde 037–038. 27 HUB, UA, Institut für Meereskunde 037, Brief des Korvettenkapitäns a.D. Kohlhauer an den Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst vom 16. Juli 1900. 28 Das South Kensington Museum ist heute als Victoria and Albert Museum bekannt; mit Trinity House ist die Sammlung der Corporation of Trinity House of Deptford Strond gemeint, die bis heute die Leuchtfeuer in den britischen Hoheitsgewässern mit Ausnahme Schottlands, Nordirlands und der Isle of Man verwaltet. 29 Der Reisebericht wurde teilweise publiziert in: Denkschrift über die Ergebnisse einer Studienreise nach Frankreich, England und Holland für die Ausgestaltung des Instituts

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auszustellen, sondern selbst forschend tätig zu sein, um das Museum zu einer möglichst authentischen Vermittlungsstätte werden zu lassen.30 So rechtfertigte beispielsweise Gustav von Zahn (1871–1946), der bei von Richthofen in Geographie promovierte, seinen Antrag auf Reisekostenerstattung zum Besuch des Geologenkongresses in Mexiko damit, dass die authentischen Erlebnisse der Seereise bei der Hin- und Rückfahrt für das Vortragsprogramm des Museums von Interesse sein könnten.31 Die ungewöhnlich hohe zeitliche Dichte der Reisen, die von Richthofen und seine Mitarbeiter unternahmen, ist erklärungsbedürftig, zumal diese zeitgleich mit dem eigentlichen Aufbau des Museums in Berlin stattfanden. Sie zeigt die große politische Unterstützung, welche die Wissenschaftler seitens des Ministeriums genossen, da anscheinend alle Reisekosten bewilligt wurden.32 Sie weist aber auch darauf hin, wie sehr die beteiligten Wissenschaftler ihr Unterfangen mit anderen Beispielen messen wollten und wie sehr sie es für notwendig erachteten, sich mit anderen Museen und Sammlungen zu vernetzen. Auf internationaler Ebene wurde die Genese der Meeresforschung also durch eine Vernetzung sammelnder und die neue Wissenschaft für die Öffentlichkeit vermittelnder Institutionen begleitet, von denen die Reisen der Berliner Geographen und Meeresforscher nur einen sehr kleinen, bis heute kaum untersuchten Ausschnitt darstellen. Die Reisen beider Gruppen weisen aber auch darauf hin, wie wenig tatsächlich an Ausstellbarem in Berlin vorhanden gewesen sein muss, da sowohl Kohlhauer als auch andere in ihren Briefen in steter Wiederkehr auf die Möglichkeit eingehen, Exponate nach Berlin zu transportieren, und sei es wenigstens leihweise.33 Hier stieß die politische Unterstützung des Projekts schnell an ihre Grenzen: Es wurde kaum zusätzliches Geld für Sammlungsankäufe zur Verfügung gestellt.34 Dies trug mit dazu bei, dass die Planer über neue Wege der konzeptionellen Gestaltung nachdachten bzw. nachdenken mussten. und Museums für Meereskunde zu Berlin, Berlin 1900; vgl. außerdem HUB, UA, Institut für Meereskunde 037, Ernst Lévy von Halle, Bericht über Besichtigungen und Verhandlungen in Washington und New York für die Ausgestaltung des Instituts für Meereskunde zu Berlin und Brief von von Halle aus New York an von Richthofen vom 7. Januar 1901. 30 Denkschrift, S. 6–7. 31 HUB, UA, Institut für Meereskunde 01, Brief von Gustav von Zahn an den Direktor des Museums Albrecht Friedrich Karl Penck vom 15. Juni 1906. 32 Vgl. Anm. 25: Für die Ablehnung von Reisegesuchen findet sich hier kein einziger Beleg. 33 Vgl. HUB, UA, Institut für Meereskunde 038, Notizen über die Entwicklungsgeschichte des Instituts (ohne Autor, ohne Datum). 34 Ebd.

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KEINE RUHMESHALLE, ABER AUCH KEIN WELTMUSEUM: DIE ROLLE POLITISCHER ZUORDNUNGEN IN DER REICHS-MARINE- UND DER HISTORISCH-VOLKSWIRTSCHAFTLICHEN ABTEILUNG In den Reiseberichten derjenigen, die sich mit marine- und schifffahrtsgeschichtlichen Themen auseinandersetzten, wird deutlich, dass sie gegenüber den bereits etablierten Sammlungen und Museen das Defizit des Berliner Vorhabens empfanden. So riet Ernst von Halle in einem Gutachten aus dem Jahre 1903 von der Planung einer schifffahrtsgeschichtlichen „Ruhmeshalle“ ab, da diese sich nicht mit den „Ruhmeshallen“ der marinehistorischen Museen in London, Paris, Den Haag und Lissabon messen könne.35 Immer wieder scheint auch in den Berichten die Frustration darüber durch, dass die Sammlungsakquise weltweit einfacher vonstattenzugehen schien als in Berlin.36 Die durch von Halle deutlich formulierte Absage an eine „Ruhmeshalle“ ging auf Bemühungen des Deutschen Flottenvereins ein, auf die Planungen des Museums einzuwirken. So hatte zwei Jahre zuvor der Verlagsbuchhändler Julius Friedrich Lehmann in einer Eingabe an das „Ministerium für geistliche Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten“ seine Enttäuschung darüber kundgetan, dass statt einer „Flottenruhmeshalle“ ein „preußisches Institut für Meereskunde“ geschaffen werden solle.37 Lehmann verband die Initiative zu einer solchen „Ruhmeshalle“ auch mit konkreten Finanzierungsvorschlägen: Ich bin mit Vergnügen bereit, dafür zu sorgen, daß, wenn die Regierung dem Plane einer Deutschen Flotten-Ruhmeshalle sich freundlich zeigt und bereit ist, dafür einzutreten, ein Antrag im Reichstag von je einem Bayer, Württemberger, Badenser, Sachsen und Hessen gemeinsam gestellt wird, das geplante Museum als Sache des Reiches zu betrachten und vom Reiche aus die Mittel zu gewähren.38

Die Reisen in die europäischen und internationalen Marinesammlungen boten die Möglichkeit, die Initiativen des Flottenvereins mit Verweis auf die mangelnde 35 HUB, UA, Institut für Meereskunde 038, Gutachten des Abteilungsvorstandes im Institut für Meereskunde, Prof. Dr. von Halle, über die Eingabe des Kustos der Reichs-Marine-Sammlung, Kapitän a.D. Wittmer vom 20. Juni 1903, S. 2–3. 36 HUB, UA, Institut für Meereskunde 037, Bericht von von Schimmelmann an das Ministerium über den Besuch des Marine-Museums in St. Petersburg vom 14. November 1899. 37 HUB, UA, Institut für Meereskunde 037, Justus Friedrich Lehmann an das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten, Eingabe vom 26. August 1901. 38 Ebd.

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Repräsentationsfähigkeit wenig Raum im Museum gewinnen zu lassen. Dies macht deutlich, wie wenig fest definiert eine nationale Interpretation der historischen Dimensionen von Schifffahrt in den Köpfen der an den Konzeptionen des Museums Beteiligten eigentlich war. So skizzierte Kohlhauer in einer an das ReichsMarineamt gerichteten Denkschrift eine Zeitleiste schifffahrtsgeschichtlicher Ereignisse, in der er neben der germanischen Eisenzeit auch das römische Imperium repräsentiert sehen wollte. Aufschlussreich ist, dass er zu Beginn die „Zeit des Großen Kurfürsten“ als epochensetzend nennt, im Anschluss aber diesen brandenburgisch-preußischen Fokus verlässt, um über die historische Relevanz (und die Schönheit der sie präsentierenden Schiffsmodelle) der englischen, niederländischen und französischen Flotten der Frühen Neuzeit ins Schwärmen zu geraten: Am Ende dieses Zeitraumes war der Ozean der Schauplatz jener gewaltigen Kämpfe zwischen England, Frankreich und Spanien, die bei Trafalgar ihren Abschluß fanden. Der Louvre enthält prachtvolle Modelle aus diesem ganzen Abschnitt und sehr schöne ältere Galeeren-Modelle. Das Gleiche gilt von London.39

Die europäische Perspektive, die Kohlhauer hier einnimmt, ist von ihm kaum bewusst reflektiert. Vielmehr gelangt er zu ihr, weil ihm die Zuordnung materieller Hinterlassenschaften und politischer Ereignisse nur so gelingt: Zu den Stichworten „Großer Kurfürst“ und „Hansa“ wies der Marine-Bestand, aus dem das Museum bestückt werden sollte, keinerlei nennenswerte Exponate auf. Auch die Reisen erbrachten hierzu keinerlei konkrete Objekte. Neben diesem eher museumsspezifischen Aspekt lässt sich auch fragen, ob es nicht ein Spezifikum des Meeres ist, das Kohlhauer hier dazu bringt, die eigentliche nationale Matrix, die er füllen wollte, zu verlassen: So lässt sich wohl auch eine zutiefst nationale Seekriegsgeschichtsschreibung nicht ohne eine Schilderung des Gegners verfassen und gleichfalls nicht, ohne die eigentlich als national definierten Territorien zu verlassen. Zum Abschluss seines Gutachtens gelangte Kohlhauer dann auch zu einer globalen Vision für die historische Ausstellung des Museums: Was ich in gedrängter Kürze hier oben angegeben habe, zeigt bereits, welch ein großer Rahmen die gestellte Aufgabe umspannt, umfaßt sie doch mehr als ein Jahrtausend menschlicher Entwicklung. Noch unendlich erweitert sich aber das Arbeitsfeld, wenn man auch die außereuropäischen Staaten, wilde und halbzivilisierte Völker mit hineinzieht.40 39 HUB, UA, Institut für Meereskunde, 37, Bericht des Korvettenkapitäns a.D. Kohlhauer an den Staatssekretär des Reichs-Marineamtes vom 20. Mai 1899, S. 1, 9. 40 Bericht des Korvettenkapitäns a.D. Kohlhauer, S. 12.

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Diesem zivilisationsgeschichtlichen Ausblick schließt sich der explizite Appell an, „ausländische“ Schiffsmodelle einzubeziehen und zu überlegen, ob das Museum für Meereskunde nicht auch zu Teilen ein „Kolonialmuseum“ werden sollte.41 Dennoch bleibt eher unkonturiert, wie sich ein weltumspannendes schifffahrtsgeschichtliches Konzept in der Ausstellung selbst zeigen sollte. In dem im Jahre 1906 zur Eröffnung gedruckten Museumsführer zeigt sich ein Nebeneinander unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen in der Gestaltung der „Reichs-Marine-Sammlung“ und der „historisch-volkswirtschaftlichen Sammlung“. In dem den Rundgang eröffnenden „Historischen Saal“ begrüßten mehrere großformatige Gemälde des Marinemalers Hans von Petersen (1850–1914) die Besucherinnen und Besucher. Diese hingen dort dank der Initiative des Flottenbauvereinsmitglieds Julius Friedrich Lehmann.42 Hans von Petersen lebte in München. Dort stand er ab 1901 der Münchner Künstlergenossenschaft vor. Insbesondere seine historisierenden Seeschlachtengemälde waren bei seinem süddeutschen Publikum sehr beliebt.43 Lehmann hatte in mehreren Eingaben versucht, von Richthofen zur Annahme der Kunstwerke Petersens für das neue Museum zu bewegen. Dieser lenkte nach einem entsprechenden Hinweis des Ministeriums auf den „leidenschaftlichen Charakter“ Lehmanns und der damit verbundenen Gefahr eines öffentlichen Skandals schließlich ein.44 Die sich anschließende Schiffsmodellausstellung behandelte die Vergangenheit, indem sie Wikinger- und Hansezeit neben eine maritime europäische Frühe Neuzeit stellte. Hier liegt der Gedanke nahe, dass weniger systematische Gesichtspunkte die Auswahl bestimmten, sondern vielmehr die Not, ausstellungsfähige Voll­ modelle45 noch vor Ausstellungseröffnung zu akquirieren.46 Neben diesen beiden historisch orientierten Ausstellungsräumen wurde die weitere marinehistorische Ausstellung vornehmlich von sehr rezenten bzw. zeitgenössischen Aspekten bestimmt. Das Museum wollte vermitteln, wie Schiffe zur Zeit seiner Eröffnung aussahen, um den „ungeheuren Fortschritt“ der deutschen 41 Ebd. 42 Briefwechsel Ministerium – von Richthofen 1901. 43 Angelika Mundorff/Eva von Seckendorff (Hg.), Hans von Petersen (1850–1914). Ein Marinemaler in Bayern, Germering 2010. 44 HUB, UA, Institut für Meereskunde 037, Briefwechsel vom 12.9.1901 und 22.2.1902. 45 Vollmodelle stellen möglichst vollständige Modelle von Schiffen dar. Sie stammen aus der Tradition der kirchlichen Votivschiffe und später auch des Schiffbaus. Zur Klassifikation von Schiffsmodellen vgl. Karl-Heinz Haupt/Reinhard Sachs, Die Welt der Schiffsmodelle. Die Klassifizierung der Schiffsmodelle im Deutschen Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven 2012, S. 10. 46 Museum für Meereskunde an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, [Berlin 1906], S. 3–4.

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Schifffahrt seit dem Beginn des Kaiserreichs darzustellen.47 Hierfür setzten die Planer Mittel einer szenographischen Inszenierung ein, indem begehbare Kabinen das Gefühl des Luxus an Bord von Passagierschiffen kommunizieren sollten.48 Elektrisch betriebene Modelle von Torpedos und Schiffen, die die Besucherinnen und Besucher anfassen durften, führten zu einem sehr unmittelbaren Verständnis aktueller Schiffstechnik. Allein beim Thema Schiffbau öffnete sich das Fenster des musealen Narrativs weg von einer konsequenten Fokussierung auf die staunenswerte maritime Gegenwart des Kaiserreichs hin zu einem Versuch, globale Zivilisationsgeschichte zu inszenieren: Im schiffbautechnischen Teil wird der Holz- und Eisenschiffbau durch Quer- und Längsschnittsmodelle veranschaulicht, unter denen das Längsschnittmodell S.M. Linienschiff „Braunschweig“ besonders hervorzuheben ist. Dazu kommen Modelle der Takelage einer älteren Fregatte in 1 : 20 und eines modernen Gefechtsmastes in 1 : 10 natürlicher Größe sowie Dock- und Stapellaufmodelle. Hier haben schließlich auch noch einige Modelle von Seefahrzeugen fremder Völker, besonders solcher des Stillen Ozeans, Aufstellung gefunden: die Anfänge einer besonderen Gruppe, welche die Ethnographie der Schifffahrt und des Schiffbaues darzustellen bestimmt sein wird.

Dieses Zitat ist aufschlussreich, da es zeigt, welcher Logik der Blick auf globale Themen, die mit Schiffen und ihren Formen in Verbindung gebracht werden konnten, folgte: Es war nicht die Inszenierung als Kolonialmacht, die hier im Zentrum des Narrativs stand, sondern vielmehr ein Versuch, Formelemente von Schiffen mit historischen Zivilisationsstufen zu verknüpfen.49 Aufschlussreich ist die Passage auch deswegen, weil sie im Futur gehalten ist: Die Pläne waren noch nicht umgesetzt worden. An einem Mangel an Objekten kann es in diesem Fall eher nicht gelegen haben, da zeitgleich in Berlin umfassende ethnologische Sammlungen entstanden.50 Auch 47 Museum für Meereskunde, S. 6. 48 Ebd. 49 Vgl. mit weiterführenden Quellenangaben zur Verknüpfung von Schiffstypologie und historischen Konzepten um 1900: Mike Belasus, Historical Ship Archaeology in the Shadow of Historism and Nationalism. A German Perspective, in: Alastair Brooks/Natascha Mehler (Hg.), The Historical Archaeology of Nationalism and National Identity, Gainesville 2017, S. 222–241. 50 Vgl. Anja Laukötter, Von der „Kultur“ zur „Rasse“ – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2007, S. 140–172.

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wenn sich die Entscheidung für oder gegen einen Ausbau einer ethnologischen Abteilung im Museum für Meereskunde in den schriftlichen Quellen nicht nachvollziehen lässt, so lässt sich doch festhalten, dass sie nicht zur Prioritätensetzung derjenigen gehörte, die die Konzeption in der Gründungsphase zu verantworten hatten. Die Entscheidung für den prominenten Gegenwartsbezug in der Reichs-Marine-Sammlung und der historisch-volkswirtschaftlichen Sammlung reflektiert mehrere Dilemmata: Zum einen zeigten die Besichtigungen gerade in Europa das Fehlen einer nationalen, sich in materieller Kultur ausdrückenden Schifffahrtsgeschichte. Zum anderen wurde diese auf frühneuzeitlichen Ruhm gegründete maritime Erfolgsgeschichte nicht in eine gegenwartszentrierte Schau kolonialer Macht überführt. Der Konflikt mit dem Verlagsbuchhändler Lehmann führte allen Beteiligten deutlich vor Augen, wie wenig überregional konsensfähig eine „borussisch“ gewendete maritime Geschichtsdeutung sein würde. In der Konzeption der Abteilungen führte dies zu einer konsequenten Perspektivierung des Besuchererlebnisses auf die Gegenwart. Dies barg zudem den Vorteil, durch Stiftungen und Schenkungen über ausreichend Ausstellungsexponate zu verfügen. Die museale Vermittlung, die das Museum hier beschritt, war im Vergleich zu den anderen europäischen, aber auch amerikanischen Häusern mit der Inszenierung ganzer Räume und dem Einsatz von Hands-on-Modellen besonders innovativ: eine Innovationsfähigkeit allerdings, die nicht oder zumindest nicht nur, wie es Albert Röhr vermutete, der intellektuellen Brillanz der Gründungsgeneration zuzurechnen war, sondern eher aus der Not heraus geboren, glanzvolle Geschichten ohne glanzvolle materielle Zeugnisse erzählen zu müssen.

MENSCH UND MEER IN HELGOLAND Das Museum sollte der Brennpunkt werden, an welchem alle von deutschen Expeditionen gesammelte Grundproben des Meeres zusammenkommen, gleichviel ob sie, neben ihren Funktionen als Erläuterung der Beschaffenheit des Meeresbodens an gewissen Stellen, ein biologisches Interesse besitzen, oder nicht.51

Von Richthofen formulierte hier die enge Verbindung der sich disziplinär ausdifferenzierenden Meeresforschung und der Rolle des Museums. Die Verbindung von Forschung und Museum stellte kein Berliner Unikum dar: Vielmehr integrierten sowohl das South Kensington Museum als auch das Maritime Museum in Greenwich nautische Praktiker und Wissenschaftler sowohl in Form öffentlicher Vor51 Denkschrift, S. 16.

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träge und Lehrveranstaltungen in das Vermittlungsprogramm als auch inhaltlich in die Gestaltung einzelner Ausstellungsbereiche.52 Einem vergleichbaren Anspruch folgten die Initiative Alberts I. von Monaco, die auf eine museale Inszenierung der Tiefseeforschung zielte, oder auch die Versuche zur Popularisierung von Fisch als Lebensmittel durch den Deutschen Seefischerei-Verein.53 Im Gegensatz zu seinen französischen und englischen Counterparts versuchte das Berliner Museum aber, Marine-Museum und Institut für Meereskunde unter einem Dach zu vereinen, ein Umstand, den Lehmann als Versuch einer „Borussifizierung“ alldeutscher Meeresbegeisterung empfand.54 Lehmann reflektierte damit die Tatsache, dass die Integration der Meeresforschung in eine nationale Meeresausstellung zu einer grundlegenden Modifizierung des Narrativs führte, die auch von Richthofen bereits in seiner im Jahre 1900 gedruckten „Denkschrift über die Ergebnisse einer Studienreise nach Frankreich, England und Holland für die Ausgestaltung des Instituts und Museums für Meereskunde zu Berlin“ formuliert hatte: Umfassender ist der Gedanke, der den Sammlungen des Instituts für Meereskunde in Berlin zu Grunde liegt; denn sie sollen neben der Seeschiffahrt auch Alles, was die Kenntniss des Meeres an sich und seine Ausnutzung durch den Menschen betrifft, zur Darstellung bringen. Ist auch die volksthümliche Anregung für das Meer und die deutsche Seegeltung ein Ziel, das in erster Linie durch zweckmässige Ausstellung umfassender und schöner Schausammlungen in der Art der in Paris und London besichtigten Marine-Museen Rechnung getragen werden muss, so ist es doch die vornehmste Aufgabe des hier damit zu verbindenden Universitäts-Instituts, das selbständige Studium zu fördern, der Forschung die Wege zu weisen und grundlegende Kenntnisse zu verbreiten.55

In der musealen Umsetzung bedeutete dies, dass die beiden Ausstellungseinheiten „Ozeanologische Sammlung und Instrumentarium“ und „Biologische und Fischerei-Sammlung“ sich eher auf die nicht-wirtschaftlichen Aspekte der Meeresnut-

52 Vgl. zum allgemeinen Kontext der Vermittlung in britischen Museen dieser Zeit: David N. Livingstone/Charles Withers, Geographies of Nineteenth-Century Science, Chicago 2011, S. 51–72; außerdem Denkschrift, S. 2–3, sowie Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv, Institut für Meereskunde, 37, Ernst von Halle, Entwurf zum Immediatvortrag über die Errichtung eines Marinemuseums zu Berlin, S. 6. 53 Vgl. Louis Joubin, Séance d’Ouverture. 54 Eingabe von Julius Friedrich Lehmann vom 26.8.1901, S. 1–2. 55 Denkschrift, S.7.

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zung konzentrierten.56 Außerdem sollte die Ausstellung selbst einen möglichst naturgetreuen Eindruck des Naturraumes Meer vermitteln. Dies führte dazu, dass der für die biologische Abteilung zuständige Wissenschaftler auf seinen Reisen darauf achtete, wie naturgetreu Meereswasser dargestellt wurde.57 Als ein weiteres Qualitätsmerkmal wurde erachtet, inwieweit Dioramen eine tatsächliche Lebenswirklichkeit abbildeten.58 Der Aspekt einer möglichst umfassenden systematischen Anordnung aller marinen Organismen, wie sie noch in naturkundlichen Sammlungen älteren Datums üblich war, wurde somit konsequent einer möglichst authentischen Lebensraumdarstellung untergeordnet.59 Zur Darstellung eines Korallenriffs hatte von Richthofen daher auch eine eigene Studienreise an die Sinaiküste des Roten Meeres anordnen lassen.60 Die Korallen selbst wurden nicht nach Spezies unterteilt, sondern nach ihrer Rolle im Riff, also nach „Wachstum, Absterben und Verfall“61: Die Besucherschaft begab sich also in dieser Abteilung im Anblick des Dioramas nicht nur auf eine geographische, sondern auch auf eine zeitliche Reise. Die enge Verbindung zu meeresbezogenen Forschungsthemen sollte auch in einer dynamischen Sammlung widergespiegelt werden. Hierzu heißt es in einer Stelle der „Denkschrift“: Ein anderer Punkt betrifft die dynamische Einwirkung der Meereswelle, besonders der Brandungswelle, auf die Gestaltung des Küstenabfalls und der Küstenlinien, sowie die chemische Einwirkung ansitzender Thiere und Pflanzen auf Veränderungen im festen Gestein. Ansätze zu Sammlungen, welche sich hierauf beziehen, befinden sich in den Museen des Owens College in Manchester und der Geological Survey in London. Wahrscheinlich sind sie auch in Frankreich vorhanden (...). Es sind aber solche Sammlungen, um Anschauungsmaterial für eine Küstenkunde zu geben, sehr zu erweitern. Ist ein guter Anfang gemacht, so werden Ergänzungen der Reisenden, deren Aufmerksamkeit darauf gerichtet worden ist, leicht eingehen.62

56 HUB, UA, Institut für Meereskunde 07: In Denkschriften und Briefwechseln wird das Für und Wider einer Darstellung der wirtschaftlichen Erfolge der Fischerei diskutiert und das Fehlen entsprechender Objekte für die Ausstellung moniert. 57 HUB, UA, Institut für Meereskunde 07, Bericht von L. Glaesner an den Museumsdirektor vom 10. Juni 1912. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Museum für Meereskunde, S. 10. 61 Ebd. 62 Denkschrift, S. 15.

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Aufschlussreich ist hier zweierlei: Von Richthofen scheint an eine dynamische Entwicklung der Sammlung vor den Augen der Öffentlichkeit gedacht zu haben, da ansonsten nicht erklärbar ist, wie die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt werden sollte. Zweitens scheint er es für denkbar gehalten zu haben, auch eine interessierte Öffentlichkeit in die Sammlungserweiterung einzubinden. War die Perspektive von Richthofens und seiner Kollegen auf die Darstellung der „Bedeutung des Meeres selbst für den Menschen, sein Wesen als die alle Küsten verbindende Fläche“ gerichtet63 – und dies in wissenschaftlichem Dialog mit französischen, britischen und auch amerikanischen oder monegassischen Forschern –, so wird diese Internationalität in der eigentlichen Ausstellung nicht reflektiert. Hier sind der Hafen von Tsingtau neben dem Korallenriff der SinaiKüste und einer Handvoll Schiffsmodelle die einzigen geographischen Anknüpfungspunkte, die außerhalb des Nord- und Ostseeraums liegen. Eine große Rolle mag hierbei gespielt haben, dass die Ausstellung unmittelbar an die Lebenswirklichkeit seines Publikums anknüpfen wollte: So ist der Salzgehalt des Meeres mithilfe einer Installation vor Augen geführt, die auf den Reichstag Bezug nimmt, der sich in Laufnähe zum Museum befand.64 Die restlichen Schaugruppen, Geräte und Präparate thematisieren vornehmlich Helgoland und Sylt. Sehr viel weniger prominent hingegen wird die Ostseeküste dargestellt, für die ein „dreiteiliger Schrank“ am „Abschluß des Saales“ genügen musste.65 Ist die vornehmlich nationale Ausrichtung beider Abteilungen im Kontext der politischen Rahmenbedingungen des Museums nicht überraschend, so erscheint doch die deutliche Fokussierung auf den Nordseeraum erklärungsbedürftig, zumal die meisten Berlinerinnen und Berliner dieser Zeit am ehesten mit der Ostsee in Kontakt gekommen sein dürften.66 Auf den zweiten Blick reflektiert sie die große politische Bedeutung, die der Tatsache zukam, dass Helgoland ab 1890 zum Deutschen Kaiserreich gehörte.67 Sie spiegelte damit die politische Orientierung der Seepolitik des Kaiserreichs hin auf den Atlantik und zu Großbritannien, die in der öffentlichen Kommunikation als wichtiger erachtet wurde als die Orientierung zur Ostseeküste. Wissenschaftlich war die Integration Helgolands durch die Gründung der Königlich Preußischen Biologischen Anstalt Helgoland im Jahre 1892 gefördert worden, die allerdings keine Hauptrolle in den wissenschaftlichen Aktivitäten 63 64 65 66

Denkschrift, S. 21. Museum für Meereskunde, S. 9. Museum für Meereskunde, S. 12. Vgl. den Beitrag von Hans-Christian Bresgott in diesem Band sowie Hansjörg Küster, Die Ostsee. Eine Natur- und Kulturgeschichte, München 2002, S. 252–270. 67 Vgl. Eckhard Wallmann, Helgoland: eine deutsche Kulturgeschichte, Hamburg 2017, S. 492–582.

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der Museumsgründer spielte.68 Erstaunlicherweise formten politische Gesichtspunkte damit die vordergründig rein wissenschaftlichen Ausstellungen des Museums weitaus stärker als die eigentlichen historisch orientierten Abteilungen.

AUSBLICK Die Analyse von Museumskonzeptionen als Indikator für eine durch Vergleich und Abgrenzung sich artikulierende Bewertung und Wahrnehmung des Meeres hat sich als ein aufschlussreicher Zugang erwiesen. In einem nächsten Schritt könnte und sollte beispielsweise untersucht werden, in welcher Weise sich die Kuratoren der französischen, niederländischen, englischen und amerikanischen Museen gegenüber dem Meer als Ausstellungsgegenstand positionierten: Thematisierten sie es überhaupt als eigenständiges Thema? Wenn ja, warum und wie? Mit welchen Objekten und Vermittlungsformen wollten sie es bestücken? Wie verhielten sie sich gegenüber anderen Beispielen, u.a. auch dem Museum in Berlin? Eine weitere wichtige Erweiterung wäre eine zeitliche Ausdehnung der Analyse auf die Museen und Ausstellungen nach der Eröffnung im Jahre 1906, um die Öffentlichkeiten der jeweiligen Städte und Länder als Akteure einzubeziehen, die die Wahrnehmung im Museum mit produzierten. Hier wären Besucherzahlen, journalistische Berichterstattung, aber auch die Veränderung der Ausstellungen im Laufe der Jahre aufschlussreich. All dies konnte an dieser Stelle nicht untersucht werden. Deutlich wurde aber, auf welche Weise die Reisen, die im Vorfeld der Gründung des Museums unternommen wurden, auf die Konzeption des Museums und damit auch den Stellenwert des Meeres als Ausstellungsgegenstand einwirkten: Die Abgesandten aus Berlin trafen auf ein in den meisten Fällen gut etabliertes Netzwerk an adligen und privaten Sammlern und Stiftern. Dementsprechend waren die von ihnen besuchten Häuser räumlich und finanziell konsolidiert, was auf das Berliner Projekt nicht zutraf: Die in England, Frankreich und den Niederlanden ausgestellte Schifffahrtsgeschichte war ein selbstverständlicher Bestandteil der jeweiligen sich in den Museen manifestierenden Erinnerungskultur. Die Museumsmacher aus Berlin beneideten die anderen Museen. Sie versuchten aber, für ihr eigenes Handeln durch einen konsequenten Gegenwarts- und Zukunftsbezug das durch sie empfundene historische Defizit einer nicht vorhandenen materiellen nationalen maritimen 68 Hauke Bietz, Die Entwicklung der deutschen Wattforschung: ein wissenschaftshistorischer Beitrag zur Bedeutung der Pionierarbeiten, Bremerhaven 2004, S. 61–62; Gotthilf Hempel, Die Anstalt der klugen Köpfe, in: Mare 128 (Juni/Juli 2018), S. 114–121.

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Kultur auszugleichen. Dies verhinderte auch, dass das Museum zu einem Forum politischen Dissenses werden konnte, wie es sich in dem Konflikt mit dem Verlagsbuchhändler Lehmann in der Planungsphase abzeichnete. Das Zurückschrecken vor einer bewussten national gehaltenen Geschichtserzählung in den beiden historischen Abteilungen bedeutete allerdings nicht im Umkehrschluss, dass das Meer als Forschungs- und Ausstellungsgegenstand in den naturkundlich gehaltenen Bereichen konsequent entpolitisiert oder gar global gedacht worden wäre. Hier zeigte sich vielmehr die enge Einbindung der sich ausdifferenzierenden Meeresforschung in das politische Gefüge des Kaiserreichs, indem Helgoland als Pars pro Toto für die ganze weltweite Inselwelt stilisiert wurde. Ob und wie es den beteiligten Wissenschaftlern bewusst war, dass sie damit den von Richthofen offensiv formulierten Anspruch, die Bedeutung des Meeres für den „Menschen“69 zu erforschen und zu vermitteln, nicht ganz einlösten, muss noch erforscht werden.

69 Denkschrift, S. 8.

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„AUS DEM MEER! AUS DER DOSE!“ KONSERVIERTE WAHRNEHMUNG DER NAHRUNGSQUELLE MEER

EINLEITUNG In einem Vortrag mit dem Titel „Das Meer als Nahrungsquelle“1 erläuterte der Zoologe Hermann Henking im Jahr 1913 in allgemein verständlicher Form die Bedeutung von Fisch als Lebensmittel. Neben der Biologie der wirtschaftlich interessanten Fischarten und den gängigen Fangmethoden widmete er sich auch der deutschen Fischwirtschaft, der Fischverarbeitung und -vermarktung. Dabei sah Henking, der damals auch Generalsekretär des Deutschen Seefischerei-Vereins war, die Versuche des Handels, bis dato unbekannte Arten durch die Vergabe neuer Bezeichnungen zu bewerben, eher kritisch. Tatsächlich setzte sich für den Köhler der offenbar bis heute attraktiver klingende Name „Seelachs“ durch, obwohl Köhler keineswegs mit Lachsen, sondern mit Kabeljauen verwandt sind. Henking konstatierte eine neue Nomenklatur von dem Gesichtspunkte aus, der Hausfrau, der letzten und wichtigsten Instanz in der Frage der Fischverwertung, die neuen fremdartigen Fischgestalten angenehm und begehrenswert zu machen.2

Im Verlauf der kommenden Ausführungen sind zwei Aspekte dieses Zitats von Belang: Zum einen richten sich die Überlegungen in diesem Beitrag auf das Ende der Verwertungskette, als deren „letzte Instanz“ nicht nur Henking, sondern auch 1 2

Hermann Henking, Das Meer als Nahrungsquelle, in: Meereskunde. Sammlung volkstümlicher Vorträge zum Verständnis der nationalen Bedeutung von Meer und Seewesen 7, 9 (1913). Ebd., S. 25.

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noch die Reklame der Fischwirtschaft oder die Tagespresse in der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die „Hausfrau“ bezeichnete.3 Zum anderen geht es um Fisch als umfänglich verarbeitetes Lebensmittel, das in Form der Konserve auf besondere Weise den Konsumentinnen und Konsumenten „angenehm“ gemacht wurde. Die Verbraucherschaft interessiert vor dem Hintergrund eines fundamentalen Wandels in den Meeren und Ozeanen, nämlich der Überfischung als Folge einer immer intensiveren Ausbeutung durch die industrialisierte Fischerei v.a. seit 1945.4 Wenngleich sich mit der Figur der „Hausfrau“ auch Fragestellungen der historischen Geschlechterforschung verbinden ließen, ist sie hier als ein Sinnbild für das küstenferne Alltagsleben zu verstehen. Dieser Beitrag nimmt eine umwelthistorische Perspektive ein und untersucht, inwiefern zwischen 1950 und 1990 die Grenzen der Verfügbarkeit von Nahrung aus dem Meer durch eine bestimmte Form der Ware Fisch außerhalb von Fachkreisen – in diesem Fall sind dies Fischer, Fischwirtschaft und Fischereiforschung – wahrgenommen oder nicht wahrgenommen wurden. Es stellt sich die Frage, ob bei Seefischkonsumentinnen und -konsumenten eine „Anpassung der Wahrnehmung an die schleichende Veränderung der Wirklichkeit“,5 nämlich die Verknappung von Fischbeständen in den Weltmeeren, stattgefunden hat oder zumindest, welche Eigenschaften der Ware Fisch die Möglichkeit der Wahrnehmung einer sich wandelnden Wirklichkeit begünstigt oder beeinträchtigt hat. Das aus der Fischereiforschung hervorgegangene und in den Sozialwissenschaften adaptierte Konzept der „shifting baselines“ bildet hierfür den gedanklichen Ausgangspunkt und wird im Folgenden ausführlich vorgestellt.6 Die Fischkonserve wiederum stellt im hier abgesteckten Rahmen das Medium dar, das langfristig die Vorstellung von der Unerschöpflichkeit der Meeresressourcen verstärkte, obwohl der Informationsfluss durch andere Kanäle geeignet war, diese Vorstellung infrage zu stellen. Die Konservendose überbrückte gewisserma3

4

5 6

Als Beispiel aus der Fischwirtschaft: Anzeige „Bremerhaven, gesicherte Frische durch tägliche Anlandungen, größtes Warenangebot“, in: Der Fischeinzelhändler 2, 2. Januarausgabe 1950; als Beispiel aus der Tagespresse: Steckbriefe für wandernde Fische, in: FAZ vom 17.12.1956, S. 6. Überblicke bieten z.B. Poul Holm, World War II and the Great Acceleration of North Atlantic Fisheries, in: Global Environment 10 (2012), S. 66–91; Ingo Heidbrink, From Sail to Factory Freezer: Patterns of Technological Change, in: David J. Starkey/Ingo Heidbrink (eds.), A History of the North Atlantic Fisheries, vol. 2: From the 1850s to the Early Twenty-First Century (Deutsche Maritime Studien 19), Bremen 2012, S. 58–78. Claus Leggewie/Harald Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009, S. 202. Daniel Pauly, Anecdotes and the Shifting Baseline Syndrome of Fisheries, in: Trends in Ecology and Evolution 10 (1995), S. 430.

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ßen die von Experten gespeisten kritischen Deutungen von Fischbestandsveränderungen und schien eine nicht mehr zeitgemäße Wahrnehmung zu bestätigen. Sie ist wie kaum ein anderes Produkt dazu geeignet, industrielle Fischerei und Konsumgesellschaft miteinander zu verknüpfen. Mit ihr gelangten Heringe und andere Speisefische ebenso massenhaft wie unkompliziert auf die Esstische auch küstenfernster Regionen. Dort erschien der verarbeitete Fisch nicht nur nicht mehr in seiner vollständigen, natürlichen Form, er war in den meisten Fällen auch verzehrfertig zubereitet, etwa als „Brathering in würziger Marinade“, als „Hering in Gelee“ oder als „Echte Lachspastete“. Die Fischkonserve ist ein Beispiel für die Massenprodukte der Industriegesellschaft und stellt folglich aus geschichtswissenschaftlicher Warte ein Zeugnis der materiellen Kultur des 20. Jahrhunderts dar und zugleich eine serielle Quelle.7 Dieser Beitrag geht deshalb in einer Verschränkung von umwelt- und kulturhistorischer Perspektive der Frage nach, inwiefern Fischkonserven vor dem Hintergrund einer bis zum Raubbau intensivierten Nutzung der biologischen Meeresressourcen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts einen Eindruck des Meeres bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Binnenland erzeugt haben könnten, der von der Realität in den Ozeanen abwich. Im Einzelnen interessieren dazu folgende Fragen: Welchen Fisch enthielten die Dosen? Wie waren sie gestaltet: Zeigten sie den notorischen „Serviervorschlag“ oder einen bärtigen Seebären mit Pfeife? Vor allem jedoch: Wie ist die weitgehend einheitliche Formgebung der Konserve zu bewerten? Allgemeiner formuliert: Welche Qualitäten als Zeugnisse einer materiellen Kultur des Fischkonsums weisen Fischkonserven auf? In der Sammlung des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) befinden sich mehr als 1.000 verschiedene Exemplare aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und aus verschiedenen europäischen Ländern, die hierüber Aufschluss geben können.8 Ergänzend zu diesen materiellen Quellen wurden vereinzelt Fachpublikationen der Fischindustrie herangezogen und daraufhin ausgewertet, wie Fischkonserven beworben wurden und welchen Normen sie in Produktion und Handel unterlagen. Indem der Blick auf Fischkonservendosen und nicht auf Frischfisch gerichtet wird, bleiben Kochbücher mit Fischrezepten als Quellen im Folgenden unberücksichtigt. Obgleich Kochbücher für konsumgeschichtliche Fragen von Interesse sein können, sind sie hier nicht thematisch relevant. Von diesen einleitenden Überlegungen ausgehend, lässt sich die Zielsetzung dieses Beitrags in Form einer logisch erscheinenden These fassen: In der moder7 8

Wolfgang König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne, Stuttgart 2008, S. 50. Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96.

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nen Konsumgesellschaft konservierten Fischdosen die Wahrnehmung des Meeres als unerschöpfliche Nahrungsquelle und blockierten die Erkenntnis des globalen Wandels der realen Meeresumwelt.

DAS KONZEPT DER „SHIFTING BASELINES“ Im Herbst 2017 machten die Insekten Schlagzeilen. Allerdings schafften sie es nicht auf die vorderen Zeitungsseiten, weil irgendwo Heuschrecken oder Mücken besonders hungrig in Erscheinung getreten wären. Vielmehr schlugen Biologinnen und Biologen Alarm, nachdem sie bei vielen Insektenarten einen massiven Rückgang konstatiert hatten: Einer Untersuchung zufolge war die Zahl der Insekten in Deutschland seit 1990 um drei Viertel zurückgegangen. Es sei nicht auszuschließen, dass diese Entwicklung wenigstens eine europaweite, wenn nicht gar eine globale sei.9 Im Zuge der Berichterstattung dürften zwei Informationen für viele besonders überraschend gewesen sein: Zum einen sind nicht nur Honigbienen für die Bestäubung von Wild- und Nutzpflanzen und damit für die menschliche Nahrungsmittelproduktion wichtig, sondern in hohem Maße auch weniger populäre Mücken und Käfer. Zum anderen war die katastrophale Dimension des Insektenschwunds unbemerkt geblieben, weil es zu wenige flächendeckende Untersuchungen gab. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfügten also nicht über die erforderlichen Daten, um diese dramatische Veränderung der Biodiversität zu erkennen. Sie kam nur durch die umfassende Auswertung separater Studien aus drei Jahrzehnten zum Vorschein. Mit anderen Worten: Erst als die Biologinnen und Biologen ihre Forschungen zum gegenwärtigen Zustand der Insekten um eine historische Dimension erweiterten, zeigte sich ein Wandel in der natürlichen Umwelt. Die an der Studie Beteiligten hatten dadurch das Problem des Nicht-Erkennens von schleichenden Veränderungen in der natürlichen oder sozialen Umwelt überwunden, das erstmals in der Fischereiforschung der 1990er-Jahre als „shifting baseline syndrome“ diskutiert wurde. Der Meeresbiologe und Fischereiexperte Daniel Pauly prägte diese Formulierung, als er 1995 den kurzen, aber viel beachteten Fachbeitrag „Anecdotes and the Shifting Baseline Syndrome of Fisheries“ publizierte. Sein Artikel enthielt nichts Geringeres als eine Grundsatzkritik an den Forschungsmethoden seiner eigenen Disziplin.10 Er beschrieb darin ein prinzipielles Wahrnehmungsproblem von Fischereiforschern: Eine Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern finde zu Beginn ihrer Berufstätigkeit eine 9 Von wegen Ungeziefer, in: Süddeutsche Zeitung, 04./05.11.2017, S. 2. 10 Pauly, Anecdotes, S. 430.

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Fischbestandssituation vor, die sie als Normalzustand und Berechnungsgrundlage annehme. Ausgehend von dieser Basislinie galten die zumeist anwendungsbezogenen Untersuchungen der Fischereiforscher in erster Linie den künftigen Entwicklungen der Bestände und damit der Prognose ihrer ökonomischen Potenziale. Langfristige Veränderungen der Populationen, wie sie infolge der im 19. Jahrhundert einsetzenden, industriell betriebenen Seefischerei in vielen Fanggebieten eintraten, blieben so verborgen. Da jede Generation von Fischereiforscherinnen und -forschern auf veränderte Bestandssituationen traf und zurückliegende Entwicklungen in ihrer Arbeit nicht berücksichtigte, verschob sich die Basislinie ganz allmählich: The result obviously is a gradual shift of the baseline, a gradual accommodation of the creeping disapearance of resource species, and inappropriate reference points for evaluating economic losses resulting from overfishing […].11

Wenngleich die Vorstellung von einander ablösenden geschlossenen Wissenschaftlerkohorten zu idealtypisch erscheint, erfasste Pauly doch ein strukturelles Problem der Fischereiwissenschaft. Um dem „Syndrom“ entgegenzuwirken, plädierte er für eine „incorporation of earlier knowledge“ und meinte damit Beschreibungen von Veränderungen der marinen Lebewelt in historischen und anthropologischen Schriften sowie Erfahrungsberichte von Fischern und anderen Personengruppen.12 Paulys Impuls aufgreifend, untersuchten Andrea Sáenz-Arroyo u.a. am Beispiel des Golfs von Kalifornien drei Alterskohorten mexikanischer Fischer. Alle drei Gruppen berichteten von schwindenden Fischbeständen in den von ihnen befischten Gewässern, vom Verlust von Arten und abnehmenden Fischgrößen. In der Bewertung des Ausmaßes der Veränderungen unterschieden sich die Gruppen jedoch: Mit zunehmendem Alter bewerteten die Fischer die Veränderungen in ihrer Umwelt dramatischer.13 Diese Befragungen stützten nicht nur Paulys Ansatz, sie zeigten auch, dass Menschen mit verschiedenen Verbindungen zum Meer gleichermaßen einen Wandel der marinen Biodiversität wahrnehmen. Die Geschichte der bundesdeutschen Fischereiforschung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1970er-Jahre spiegelt das Problem der „shifting baselines“. Optimistische Einschätzungen der Forscherinnen und Forscher hinsichtlich der Fischbestandsentwicklungen wichen nur allmählich und aufgrund von Negativer11 Ebd. 12 Ebd. 13 Andrea Sáenz-Arroyo u.a., Rapidly Shifting Environmental Baselines Among Fishers of the Gulf of California, in: Proceedings of the Royal Society. Biological Sciences 272/1575 (2005), S. 1957–1962.

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fahrungen einem Problembewusstsein, wie sich anhand der „Jahresberichte über die deutsche Fischerei“, herausgegeben vom Bundesernährungsministerium und 1958 in „Jahresberichte über die deutsche Fischwirtschaft“ umbenannt, nachvollziehen lässt. Insbesondere die darin enthaltenen Berichte des Instituts für Seefischerei der Bundesforschungsanstalt für Fischerei zur biologischen Entwicklung der Fischbestände dokumentieren die jeweils vorherrschenden Einschätzungen der Fischereiforschung. Für das Jahr 1955 beurteilte Institutsdirektor Johannes Lundbeck die Entwicklung optimistisch: Ziemlich allgemein konnte die biologische Forschung für die Gegenwart und nahe Zukunft gute Nutzfischbestände feststellen, deren Auswirkungen sich in erhöhten Fängen vielfach zu erkennen gaben und auch weiter zu erwarten sind […].14

Dazu passte die Prognose des Leiters der Unterabteilung Fischwirtschaft im Ministerium, Gerhard Meseck, wonach „in den nächsten Jahrzehnten“ die Meere und Ozeane „immer mehr für die Nahrungserzeugung herangezogen werden müssen.“15 Knapp ein Jahrzehnt später schrieb Meseck in seiner jährlichen Zusammenfassung der wichtigsten Geschehnisse aus der Sicht seines Ressorts, dass die internationalen Expertenkommissionen für die nordatlantischen Fischereiregionen sich mit der Frage einer Übernutzung der Bestände befassten.16 Als mögliche Reaktion wurde die Erschließung von bislang ungenutzten Fanggebieten in Betracht gezogen, deren Ergiebigkeit freilich noch nicht beurteilt werden konnte.17 In den biologisch-statistischen Ausführungen des Instituts für Seefischerei desselben Jahres war bezüglich der Verknappung der nordatlantischen Bestände von „einer allzu intensiven Befischung“ in Verbindung mit „Änderungen der Umweltsverhältnisse [sic]“ die Rede.18 Im Jahr darauf verwies Ministerialdirigent Meseck schließlich in einem Rückblick auf die Verhandlungen der internationalen Nordostatlantischen Fischereikommission in Moskau. Dort waren zwei Meinungen zur Fisch14 Johannes Lundbeck, Biologisch-statistischer Bericht über die deutsche Hochseefischerei im Jahre 1955, in: Jahresbericht über die deutsche Fischerei 1955, Berlin 1956, S. 112–138, hier S. 112. 15 Gerhard Meseck, Die Fischwirtschaftspolitik im Jahre 1955, in: Jahresbericht über die deutsche Fischerei 1955, Berlin 1956, S. 7–17, hier S. 7. 16 Gerhard Meseck, Die Fischwirtschaftspolitik 1964/65, in: Jahresbericht über die deutsche Fischwirtschaft 1964/65, Berlin 1965, S. 7–17, hier S. 8. 17 Ebd., S. 12. 18 Ulrich Schmidt, Biologisch-statistischer Bericht über die deutsche Hochseefischerei im Jahre 1964, in: Jahresbericht über die deutsche Fischwirtschaft 1964/65, Berlin 1965, S. 126–153, hier S. 129. Zu diesen Umweltveränderungen zählte Schmidt die „langfristigen klimatischen Schwankungen“ (ebd.).

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bestandsentwicklung aufeinander getroffen: Die eine ging davon aus, dass „die lebenden Schätze des Meeres nicht unerschöpflich wären, zumal sich teilweise schon Überfischungserscheinungen bemerkbar machten“, während die andere „das Meer als Ganzes“ noch lange nicht als voll ausgenutzt ansah.19 Das bis dahin nur langsam aufkommende Problembewusstsein prägte sich binnen weniger Jahre zunehmend stärker aus. So basierten laut dem „Biologisch-statistischen Bericht“ für 1970 die Rückgänge der deutschen Hochseefischerei vor allem auf der dramatischen Verringerung der Bestände im Nordwestatlantik.20 Dort sei etwa für den Schellfisch „ein völliges Fangverbot die sinnvollste Lösung“ aus biologischer Sicht.21 In den nordostatlantischen Gewässern um Island, dem für die deutsche Hochseefischerei wichtigsten Fanggebiet, gab es zwar dem Bericht zufolge beispielsweise genug Kabeljau. Doch dieser Umstand wurde auch mit der Fischereipolitik der isländischen Regierung in Verbindung gebracht, die „mit Sicherheit alle möglichen Anstrengungen zum Schutze dieses wertvollen Bestandes unternehmen [werde], um eine Intensivierung seiner Befischung durch fremde Fangflotten […] zu verhindern.“22 Wenngleich diese Prognose auf die nordatlantischen Fischereikonflikte jener Jahre verweist,23 so bezeugt sie doch vor allem die zunehmende Verknappung der Ressource Fisch in einem überregionalen Ausmaß. Zu diesem Zeitpunkt war das internationale Problem der Überfischung ein zentrales Thema in der bundesdeutschen Fischereiforschung geworden.24

„SHIFTING BASELINES“, FISCHEREIFORSCHUNG UND ÖFFENTLICHKEIT Daniel Pauly hatte seine folgenreiche Publikation mit der Feststellung begonnen, dass sich die Fischbestände in den Ozeanen in einem desaströsen Zustand befän19 Gerhard Meseck, Die Fischwirtschaftspolitik 1965/66, in: Jahresbericht über die deutsche Fischwirtschaft 1965/66, Berlin 1966, S. 9–19, hier S. 11. 20 Ulrich Schmidt, Biologisch-statistischer Bericht über die deutsche Hochseefischerei im Jahre 1970, in: Jahresbericht über die deutsche Fischwirtschaft 1970/71, Berlin 1971, S. 75–107, hier S. 75. 21 Ebd., S. 89. 22 Ebd., S. 88. 23 Ingo Heidbrink, „Deutschlands einzige Kolonie ist das Meer!“ Die deutsche Hochseefischerei und die Fischereikonflikte des 20. Jahrhunderts, (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 63), Bremerhaven/Hamburg 2004. 24 Klaus Tiews, Institut für Küsten- und Binnenfischerei – 50 Jahre, in: Archiv für Fischereiwissenschaft 40,1/2 (1990), S. 3–38, hier S. 16.

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den, zugespitzt in dem Satz: „fisheries are a global disaster.“25 Von der Problematisierung des Syndroms und der Integration einer historischen Perspektive in die Fischereiforschung versprach er sich ein besseres Verständnis der „true social and ecological costs of fisheries.“ Er entwickelte seine These vor dem Hintergrund einer Veränderung der natürlichen Meeresumwelt, die jener der aktuell abnehmenden Insektenpopulationen durchaus ähnlich ist. Grundsätzlich kann von einer Übertragbarkeit seiner Überlegungen auf diverse Umweltentwicklungen ausgegangen werden, die somit Gegenstand umwelthistorischer Forschung sein können, dafür jedoch einer Entdeckung oder Wahrnehmung seitens der Wissenschaft oder anderer Akteure bedürfen. Am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) befasste sich von 2008 bis 2013 ein von Harald Welzer geleitetes Forschungsprojekt mit dem Phänomen der „shifting baselines“. Im Rahmen dessen sowie eines weiteren Projekts zur „Katastrophenerinnerung“ wurden zahlreiche Interviews zu individuellen und kollektiven Wahrnehmungsweisen von Umweltveränderungen geführt und qualitativ ausgewertet.26 Für den zentralen Begriff des Wahrnehmungswandels galt folgende Definition: Allgemein können wir Wahrnehmungen von Wandel als Reflexionsprozesse begreifen, in denen ein Zustand eines Sachverhalts mit zumindest einem weiteren ungleichzeitigen Zustand dieses Sachverhalts verglichen wird und daraus Urteile über Wandel (sofern eine Differenz der verglichenen Sachverhalte besteht) bzw. Kontinuität (sofern keine Differenz erkannt wird) hervorgehen. Wahrnehmungen von Wandel setzen daher unter anderem voraus, dass solche auf bestimmte Sachverhalte ausgerichteten Reflexionsprozesse überhaupt stattfinden. Auch wenn sich Wandel vermeintlich ‚vor den Augen des Menschen‘ vollzieht, ist es keinesfalls selbstverständlich, sondern voraussetzungsreich, dass Wandel überhaupt wahrgenommen wird. Zu diesen Voraussetzungen zählt auch, dass nicht aus der Gegenwart stammende Zustände in Gedächtnissen festgehalten und für diese vergleichende Reflexion zu Wandel abgerufen werden können.27

In den Interviews ging es um die Wahrnehmung von sowohl abrupt eintretenden Katastrophen als auch langfristigen Vorgängen wie dem Klimawandel. Letzterer 25 Dieses und das folgende wörtliche Zitat: Pauly, Anecdotes, S. 430. 26 Projekt Shifting Baselines, http://www.kwi-nrw.de/home/projekt-50.html (letzter Aufruf: 22.11.2017); Dietmar Rost, Wandel (v)erkennen. Shifting Baselines und die Wahrnehmung umweltrelevanter Veränderungen aus wissenssoziologischer Sicht, Wiesbaden 2014, S. 2. 27 Rost, Wandel (v)erkennen, S. 201.

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sei nach Ansicht eines der beteiligten Forscher prinzipiell mit der Überfischung der Meere vergleichbar, weil in beiden Fällen die Veränderungen „ob ihrer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der unmittelbaren Wahrnehmung in Alltag oder Arbeitstätigkeit nicht oder nur in kleinen Ausschnitten zugänglich werden.“28 Im Rahmen dieser Problematik knüpfte das Shifting-baselines-Projekt des KWI an die Arbeiten von Pauly und Sáenz-Arroyo an. Neben der wissenschaftlichen Erforschung eines Umweltbereichs und der in ihm praktizierten Nutzung sollte auch der Bereich des „Alltagswissens und der Alltagspraktiken“ untersucht werden. Dabei resultiere das Alltagswissen über bestimmte Umweltzustände nicht aus einer „zielgerichtete[n] Aufmerksamkeit.“29 Eine solche gibt es im Falle der Fischereiforscherinnen und -forscher sowie Fischer und ist hier berufsbedingt. Die Verbraucher von Fischprodukten sind auf andere Referenzen angewiesen, um veränderte Bedingungen bei der Gewinnung von Nahrung aus dem Meer zu erkennen. Informationen über mögliche Veränderungen der Fischbestände in den Ozeanen waren im Untersuchungszeitraum durchaus öffentlich zugänglich, etwa in Form von Zeitungsmeldungen. Schon in den 1950er-Jahren tauchte das Thema – noch vereinzelt – in der Tagespresse auf. Im Dezember 1956 berichtete zum Beispiel die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über fischereiwissenschaftliche Untersuchungen zur Fortpflanzung und zu Wanderungsbewegungen von Nutzfischen sowie zu fischereibedingten Bestandsveränderungen. Letztere drohten umso schneller zum „Raubbau“ zu werden, je lückenhafter das Wissen um das Verhalten der Fische blieb.30 Im gleichen Bericht wurde darauf hingewiesen, dass Tausende Seefische mit Markierungsmarken versehen worden seien. Verbraucherinnen und Verbraucher, die bei der Zubereitung eine solche Marke entdecken und diese einsenden würden, sollten eine Prämie von 6,– DM ausgezahlt bekommen. Die Forscherinnen und Forscher hätten hierbei, so der Bericht, „die Hausfrauen im Binnenland als die letzten Glieder in der langen Kette der Fischwirtschaft“ im Blick.31 Der allmähliche Wandel des Problembewusstseins in der Fischereiforschung, der dazu führte, dass um 1970 die Überfischung zu einem wesentlichen Untersuchungsgegenstand geworden war, fand schließlich auch in der Presseberichterstattung seinen Niederschlag. Häufig gingen die Informationen über die Entwicklung von Fischbeständen mit politisch konnotierten Berichten einher. In den 1970erJahren waren dies insbesondere die Fischereikonflikte im Nordatlantik. Als der „Spiegel“ im Juli 1975 einen ausführlichen Artikel zu den sogenannten Kabeljau28 Ebd., S. 9. 29 Ebd., S. 25. 30 Steckbriefe für wandernde Fische, in: FAZ vom 17.12.1956, S. 6. 31 Ebd.

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kriegen zwischen Island und Großbritannien und Deutschland publizierte, ging es darin ebenso um die wirtschaftliche Bedeutung der Fischerei für die beteiligten Länder wie um „den Raubbau in der See und die Bedrohung der NahrungsmittelReserven.“32 In entsprechend drastischer Zuspitzung hieß es dort: „[…] langfristig erscheint das scheinbar unerschöpfliche Nahrungs-Reservoir unter Wasser bedroht – die Fische gehen aus.“33 Neben Zeitungen und Zeitschriften vermittelten mitunter schon früh auch Sachbücher und andere, populär und konzis gehaltene Publikationen von kundiger Seite kritische Überlegungen zur Beständigkeit des Nahrungsangebots der Meere und Ozeane. So räsonierte bereits 1947 Paul-Friedrich Meyer-Waarden in einer handlichen Schrift über die Frage, ob die Fischerei des 20. Jahrhunderts nicht eine Form des „Raubbaus“ sei. Er kam zwar nicht zu dem Schluss, dass ein globales Überfischungsproblem drohe, diskutierte jedoch in allgemein verständlicher Form die Möglichkeit.34 Rund 20 Jahre später, in den Jahren um 1970, erschienen schließlich zahlreiche Sachbücher, die insbesondere Schlaglichter auf zeitgenössische technische Entwicklungen auf dem Gebiet der Meeresnutzung warfen. Die immer raffiniertere Ausbeutung mariner Nahrungsquellen kam darin regelmäßig zur Sprache. Die Autoren stellten in der Regel Darstellungen von technischer Machbarkeit und Warnsignale der Überfischung einander gegenüber. Der britische Meeresökologe und Wissenschaftsjournalist Tony Loftas verfuhr in seinem 1969/1970 erschienenen Werk ganz ähnlich, schätzte die weltweite Fischereisituation jedoch tendenziell kritisch ein. Neben mancher positiven Entwicklung auf technologischem Gebiet nannte er die Gesamtsituation „düster“ und konstatierte: „Niemand hat bis jetzt eine völlig befriedigende Lösung jenes Problems gefunden, dem die meisten traditionellen Fanggebiete gegenüberstehen: dem zu starken Ausfischen.“35 Loftas beschrieb die industrielle Fischerei als „unerbittliche Ausbeutung“, für die ein nachhaltiges Ressourcenmanagement erst noch installiert werden müsse.36 Auch Presseberichte und erst recht Sachbücher mussten jedoch bewusst rezipiert werden, damit die darin transportierten Informationen über die Veränderungen der Fischpopulationen jene erreichen konnten, die in keiner direkten Beziehung zur Fischwirtschaft oder zur Meeresforschung standen. Die meisten NichtExperten kamen mit Seefischen nicht etwa mittelbar in Berührung, weil sie Prin32 33 34 35

„Bald sind die Meere leer gefischt“, in: Der Spiegel 31 (1975), S. 36–42, hier S. 36. Ebd., S. 36–37. Paul-Friedrich Meyer-Waarden, Raubbau im Meer? Hamburg 1947. Tony Loftas, Letztes Neuland – die Ozeane, Frankfurt am Main 1970, S. 53 (die engl. Originalausgabe „The Last Resource“ war ein Jahr zuvor erschienen). 36 Ebd.

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terzeugnisse lasen, sondern ganz direkt dadurch, dass sie Fisch verzehrten. Die Frage nach der Wahrnehmung der Lebewelt der Meere durch Verbraucherinnen und Verbraucher lässt sich daher am besten beantworten, indem man konkret die materielle Präsenz von Fischprodukten in den Haushalten in den Blick nimmt.

FISCHKONSERVEN ALS UMWELTHISTORISCHE QUELLEN Die eingangs dieses Beitrags in einem Zitat als „letzte und wichtigste Instanz in der Frage der Fischverwertung“ bezeichnete „Hausfrau“ prägte die Werbung der Fischwirtschaft Jahrzehnte übergreifend: Im Januar 1950 erschien in der Fachzeitschrift „Der Fischeinzelhändler“ eine ganzseitige Anzeige der „Propaganda-Abteilung des Seefischmarktes Bremerhaven“, die den „Weg des Fisches vom Fischdampfer zur Hausfrau“ darstellte.37 Der Fischwirtschaftsexperte Karl Rühmer gab 1954 in einem Sachbuch mit dem Titel „Fische und Nutztiere des Meeres, deren Fang und Verwertung“ eine Aussage des Vereins Deutsche Fischwerbung wieder: „Die Gesundheit einer Familie liegt in der Auswahl begründet, welche die Hausfrau für den täglichen Speisezettel trifft, wozu man den Fisch nicht oft genug einsetzen kann!“38 1964 schrieb der Fischereiwissenschaftler Fritz Bartz über die deutschen Fischkonsumgewohnheiten: „In den großen Küstenorten gibt es Fischbratküchen nach englischem Muster in größerer Zahl als im Binnenlande, wo immer noch die Restaurants normaler Art und die Hausfrau die Verwerter des frischen Fisches sind.“39 Und 1970 stellte das Fischwirtschaftliche Marketing Institut mit Sitz in Bremerhaven in der „Allgemeinen Fischwirtschaftszeitung“ (AFZ) seine Konzeption für eine Werbekampagne in den „großen Illustrierten, besonders in den großen Frauenzeitschriften“ vor und erläuterte: „Es liegt aber auf der Hand, daß bei der Mediaplanung die (einkaufenden) Frauen besonders berücksichtigt wurden.“40 37 Anzeige „Bremerhaven, gesicherte Frische durch tägliche Anlandungen, größtes Warenangebot“, in: Der Fischeinzelhändler 2, 2. Januarausgabe 1950. 38 Karl Rühmer, Fische und Nutztiere des Meeres, deren Fang und Verwertung, München 1954, S. 3. Vor 1945 war Rühmer als Mitglied der SS u.a. für Forschungen zur Fischzucht zuständig gewesen. Er leitete ab 1941 die Hauptabteilung Fischwirtschaft im Wirtschaftsund Verwaltungshauptamt der SS. Vgl. Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003, S. 822–828. 39 Fritz Bartz, Die großen Fischereiräume der Welt, Versuch einer regionalen Darstellung der Fischereiwirtschaft der Erde, Bd. 1: Atlantisches Europa und Mittelmeer, Wiesbaden 1964, S. 260–262. 40 „Dem Fisch sagt man viel Gutes nach“, in: AFZ 1970, Nr. 1, S. 161–164, hier S. 162. Der folgende Satz bemüht sich um weitere Präzisierung: „Und natürlich die im Alter von 20 bis 30 Jahren, von denen man sagt, sie seien geistig am beweglichsten“ (ebd.).

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Die Konsumentenansprache – sei es direkt durch Werbung oder indirekt z.B. durch Sachbuchtexte – zielte im Allgemeinen darauf, Fisch als Lebensmittel attraktiv oder wertvoll erscheinen zu lassen. Im Besonderen wurde durchaus zwischen den verschiedenen verfügbaren Fischprodukten differenziert, etwa zwischen Frischfisch, Tiefkühl- oder Konservenprodukten. In der Werbekampagne von 1970 lautete ein Slogan: Es lebe der moderne, der leichte, der schlankmachende, der kraftbringende, der genußreiche, der tausendfache – der Fisch! Aus dem Meer! Aus der Dose! Aus dem Glas! Aus der Räucherei! Aus der Kühltruhe!41

Beim hastigen Lesen dieser Zeilen mag für einen Moment der irritierende Eindruck entstehen, als ob Fisch sowohl aus dem Meer als auch aus der Dose kommen könne. Wesentlich für die Überlegungen dieses Beitrags ist die Feststellung, dass die Konserve explizit Erwähnung findet. Da Kundinnen und Kunden auf dieses Fischprodukt direkt angesprochen werden, erweisen sich Fischkonserven und die sie begleitende Werbung grundsätzlich als historische Quellen zur Erforschung des Verhältnisses von Konsum und Speisefisch. Diese Bewertung stützt sich auch auf den hohen Verbreitungsgrad und die konstante Präsenz von Konservendosen in der Warenwelt des 20. Jahrhunderts. Sie sind ein typisches Beispiel für die Verknüpfung von rationalisierter Massenproduktion und hoher Konsumentennachfrage in der Moderne.42 Wenngleich die ersten Formen von Konserven in napoleonischer Zeit entstanden und das erste Patent 1810 in Großbritannien angemeldet wurde, kamen Lebensmittel in Konservendosen zunächst vorrangig in militärischen Kontexten oder bei Forschungsreisen zum Einsatz.43 Das womöglich bekannteste Beispiel für Letztere dürfte die britische Expedition nach der Nordwestpassage, dem arktischen Seeweg zwischen Atlantischem und Pazifischem Ozean, unter der Leitung des Marineoffiziers John Franklin von 1845 sein. Die beiden beteiligten Schiffe und ihre Besatzungen gingen verschollen. Als später die Gräber einiger Expeditionsteilnehmer gefunden und die mumifizierten Leichen untersucht wurden, wies die erhöhte Konzentration von Blei in den Körpern darauf hin, dass die bleihaltige Versiegelung der mitgeführten Konserven schadhaft gewesen und zu einer schleichenden Vergiftung der Seeleute geführt haben könnte.44 41 Ebd. 42 König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft, S. 50. 43 Ebd., S. 99; Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2016, S. 15. 44 Diese These war allerdings nie unumstritten und wurde erst kürzlich unter Verweis auf

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Jedenfalls etablierten sich Konservenlebensmittel allmählich auch im Bereich des privaten Konsums, was mit dem zunehmend mechanisierten und daher kostengünstigen Produktionsvorgang zusammenhing. Das Aufkommen automatisch arbeitender Fertigungsmaschinen im Laufe des 19. Jahrhunderts beförderte die Produktion der vergleichsweise unkompliziert konstruierten Blechdose zunehmend. Wie bei anderen einfachen Stückgütern wie Papier oder Seife waren die in Gestalt und Material wenig komplexen Konservendosen für eine massenhafte Herstellung gut geeignet.45 Durch die Normierung der Dosen in Form und Größe und die Möglichkeit, sie in hohen Stückzahlen zu erzeugen, waren die gewissermaßen lehrbuchmäßigen Voraussetzungen für eine kostengünstige Massenproduktion gegeben.46 Zum festen Bestandteil des allgemeinen Warenangebots wurden Konserven in den USA noch vor und in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg.47 Zu ihrem Aufschwung trug auch die Wiederverwertbarkeit des verwendeten Materials bei. Ein 1905 entwickeltes Verfahren zur Trennung der Blechdosen von ihrer korrosionsbeständigen Zinnbeschichtung ermöglichte die erneute Verwendung beider Bestandteile und führte in den beiden eben genannten Staaten in den 1920er-Jahren zu einer Wiederverwertungsquote von etwa 50 %. Als die Wandstärken und Beschichtungen der Dosen immer dünner wurden, lohnte sich das Prozedere nicht mehr.48 Mit moderneren Recyclingmethoden seit dem Ende des 20. Jahrhunderts stieg allerdings die Wiederverwertungsrate in Deutschland bei Dosen auf heute über 90 %. Gemeinsam mit einem weiter reduzierten Rohstoffeinsatz aufgrund immer geringerer Wandstärken gelten Konservendosen inzwischen als durchaus nachhaltig.49 Der eigentliche Konservierungsvorgang besteht darin, die Blechdose mit dem Lebensmittel zu befüllen und sie dann hermetisch zu verschließen und durch Erhitzen auf mindestens 100 °C zu sterilisieren. Nach Angaben der Stiftung Warentest wird die Mindesthaltbarkeit von Vollkonserven in der Regel mit 18 Monaten angegeben, doch gilt: „Theoretisch sind Vollkonserven fast unbegrenzt haltbar.“50

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zeittypisch erhöhte Bleikonzentrationen infrage gestellt. Owen Beattie/John Geiger, Der eisige Schlaf. Das Schicksal der Franklin-Expedition, Köln 1989. Aktuelle Kritik an der Vergiftungsthese üben Keith Millar/Adrian Bowman/William Battersby, A re-analysis of the supposed role of lead poisoning in Sir John Franklin’s last expedition, 1845–1848, in: Polar Record 51,3 (2015), S. 224–238. König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft, S. 67. Ebd., S. 62. Ebd., S. 99. Trentmann, Die Herrschaft der Dinge, S. 15–16. Mischa Drautz, Heilig’s Blechle!, in: Die Zeit, 50/2012. Nicht gleich wegwerfen, in: test, 04/2009, S. 25–27, hier S. 27. In diesem Sinne zitierte auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ in einem Artikel von 2012 den Lebensmittelchemi-

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Fisch gehörte zu den ersten Lebensmitteln, die in größerem Umfang durch Konservierung in Dosen haltbar gemacht wurden. Die Folge war eine enorme Erweiterung des traditionellen Marktes für Seefisch, weil die Dosen überallhin transportiert werden konnten. Zudem entfiel die für viele Verbraucher ungewohnte Zubereitung des Fisches praktisch vollständig.51 Eine veritable Fischkonservenindustrie entstand um 1820 in Frankreich und hier vor allem in der Bretagne. Mit dem Schwerpunkt auf Sardinen entwickelte sich Frankreich zum Hauptproduzenten. Hauptabnehmer wiederum waren die USA, die um 1880 selbst die Weltspitze in der Fischkonservenproduktion übernahmen. Ab 1900 bildeten sich schließlich auch in Spanien, Portugal und Norwegen wichtige Konservenindustrien. In Großbritannien machten Konserven gar zwei Drittel aller Fischimporte aus. 52 In Deutschland begannen erste Hersteller in den späten 1920er-Jahren mit der Konservenproduktion.53 In der Zwischenkriegszeit wurde diese Konservierungsmethode noch wichtiger, zumal Tiefkühlfischprodukte bis zum Zweiten Weltkrieg noch nicht verbreitet waren. Da die Konservierungsmethode den Aufbau größerer Verarbeitungsbetriebe und einen entsprechenden Kapitaleinsatz voraussetzte, wuchs die Konservenindustrie parallel zum Aufbau industrieller Hochseefischereiflotten auch nach 1945 weiter.54 Dabei erweiterten die Hersteller kontinuierlich die Produktpalette. In den 1952 erstmals formulierten „Leitsätzen für die Beurteilung von Fischwaren“ des Bundesverbandes der deutschen Fischindustrie wird unterschieden zwischen Fischvollkonserven in Tunke, Sauce, Creme, solchen in Öl, in Öl und eigenem Saft und solchen in eigenem Saft oder in Aufguss.55 Im Unterschied zur Vollkonserve werden Halbkonserven oder Präserven nach dem Verschließen

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ker Thomas Simat: „Bis heute gibt es keine alternative Technik, die eine ähnliche Konservierungsdauer erreicht“ (Drautz, Heilig’s Blechle!). Chris Reid, Evolution in the Fish Supply Chain, in: David J. Starkey/Ingo Heidbrink (eds.), A History of the North Atlantic Fisheries, vol. 2: From the 1850s to the Early TwentyFirst Century (Deutsche Maritime Studien 19), Bremen 2012, S. 27–57, hier S. 36. Ebd. Vgl. außerdem mit Schwerpunkt auf der Sozialgeschichte der spanischen Konservenindustrie Luisa Muñoz Abeledo, Living Standards in Spanish Canning and Fishing Families during the Interwar Period, in: David J. Starkey/James E. Candow (eds.), The North Atlantic Fisheries: Supply, Marketing and Consumption, 1560–1990 (Studia Atlantica 8), Hull 2006, S. 83–109, hier S. 85. Walter W. Schwedke/Peter W. Sommer, Das Fischsortiment. Fachwissen hilft verkaufen, Heft II, Hamburg 1956, S. 40. Ingo Heidbrink, Fisheries, in: N.A.M. Rodger (Hg.), The Sea in History: The Modern World, Woodbridge 2017, S. 364–373, hier S. 369–370; Walter Ludorff, Fisch und FischErzeugnisse (Grundlagen und Fortschritte der Lebensmitteluntersuchung 6), Berlin 1960, S. 66. Ludorff, Fische und Fisch-Erzeugnisse, S. 170.

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auf weniger als 100 °C erhitzt. Sie sind daher auch nur begrenzt haltbar und zum baldigen Verzehr bestimmt.56 Präserven enthalten häufig Marinaden oder Fischprodukte wie Brathering oder den besonders auf dem deutschen Markt verbreiteten „Hering in Gelee“.57 Nicht nur die Inhalte, auch die Dosenformen und -größen unterlagen einer ausdifferenzierten Normierung. In Deutschland existierten runde und verschiedene ovale Formen, deren bekannteste die sogenannte „Hansadose“ darstellte, eine „stumpfovale“ Form von 148 mm Länge, 81 mm Breite und 24 oder 31 mm Höhe.58 Die im Verhältnis zur Höhe relativ große Oberfläche beschleunigte während des Sterilisationsprozesses die Wärmedurchdringung der Dose.59 Zudem sollten die Dosen nach Ansicht der Fischindustrie „durch gefällige Form und Aufmachung auch der Absatzwerbung“ dienen.60 Für die Fragestellung dieses Beitrags ist auch die gleichbleibende Erscheinungsform der Konservendose ein relevanter Aspekt. Bezogen auf die Definition des Wahrnehmungswandels, wie sie im Shifting-baselines-Projekt des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen galt, lässt sich also fragen, ob sich das Nicht-Erkennen der Veränderungen der Meeresfauna bei küstenfernen Konsumentinnen und Konsumenten an der Referenzlosigkeit der Fischkonservendose festmachen lässt.

DIE MATERIELLE KULTUR DES KONSERVENFISCHKONSUMS Am Beispiel von Heringskonserven lässt sich gerafft darlegen, warum Fischkonserven als materielle Quellen dazu geeignet sind, der Frage nach einer „shifting baseline“ bei Nicht-Fischereiexperten bzw. Fischkonsumenten nachzugehen. Der Hering bildete die Grundlage für mehr als die Hälfte der deutschen Fischvollkonserven.61 Um 1950 machte dieser Fisch etwa die Hälfte aller deutschen Fischanlandungen aus und blieb auch in den folgenden Jahrzehnten von großer wirtschaftlicher Bedeutung.62 Als 1970 die Bestände in der Nordsee in bis dato ungekanntem Ausmaß 56 57 58 59

Ebd., S. 93–97. Ebd., S. 89–92. Ebd., S. 183. Viktor Meyer, Weitere Verarbeitung des Fisches, in: Ernährungswissenschaftlicher Beirat der deutschen Fischwirtschaft (Hg.), Fisch, das zeitgemäße Lebensmittel (Schriften der Bundesforschungsanstalt für Fischerei Hamburg 9), Berlin 1969, S. 32–45, hier S. 34. 60 Ludorff, Fische und Fisch-Erzeugnisse, S. 116. 61 Ebd., S. 93. 62 Dietrich Sahrhage, Institut für Seefischerei – 75 Jahre Fischereiforschung, in: Archiv für Fischereiwissenschaft 36,1/2 (1985), S. 3–25, hier S. 7.

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zurückgegangen waren, bilanzierte das Institut für Seefischerei: „Wir müssen nach der Katastrophe in der Nordseeheringsfischerei unsere Ansicht revidieren, daß die Heringsbestände unerschöpflich sind.“63 In der Fischereiforschung zeigte sich damit auf dramatische Weise die Folge einer „shifting baseline“. Noch 1975 waren die Heringsfänge im Nordostatlantik so gering, dass den deutschen Hochseetrawlern noch nicht einmal die als optimal errechneten Mengen ins Netz gingen.64 Von den 1.173 Fischkonservendosen in der Sammlung des Deutschen Schifffahrtsmuseums stammen etwa 240 aus der bundesdeutschen Fischindustrie, etwa 60 % davon enthielten Produkte aus Hering. Mit großem Abstand folgen Konserven mit Makrelen, auf die gut 12 % entfallen. Die übrigen Objekte verteilen sich unregelmäßig auf Produkte aus Seelachs, Muscheln und einige andere. Die Sammlung spiegelt damit recht genau die aus der Forschungsliteratur und zeitgenössischen Publikationen der Fischindustrie zu entnehmenden Angaben zur bundesdeutschen Fischkonservenproduktion. Insgesamt ist die Struktur des Bestandes an Dosen hinsichtlich Inhalt, Herkunftsland und Herstellungszeitraum relativ heterogen. Zu den Herkunftsländern gehören neben der Bundesrepublik Deutschland Frankreich mit knapp 300 Objekten, Marokko (180), Portugal (140), Italien (130), Spanien (50), Griechenland (29), Kanada (26) und diverse andere in geringerem Umfang. Die genauen Zahlen sind nicht in allen Fällen zu ermitteln, weil häufig Produkte aus Portugal, Marokko und Dänemark für den Import nach Deutschland oder Frankreich hergestellt wurden, ohne dass die Beschriftungen dies jedes Mal definitiv erklärten. Der Inhalt der Dosen besteht in den meisten Fällen aus Sardinen in Öl: Bei den portugiesischen, marokkanischen und griechischen sind es nahezu 100 %, bei den spanischen ca. 65 % (weitere 23,5 % entfallen auf Thunfisch), bei den französischen ca. 55 % (weitere 24 % entfallen auf Thunfisch bzw. 18 % auf Makrele) und bei den italienischen ca. 50 % (weitere 30 % entfallen auf Thunfisch bzw. 7 % auf Makrele). Die ältesten Exemplare des gesamten Bestandes sind zwei italienische Sardinenkonserven, auf denen als Haltbarkeitsdatum der 12. April 1969 angegeben ist.65 Als wahrscheinlich jüngstes Objekt lässt sich aufgrund des Haltbarkeitsdatums 21. Dezember 2002 eine Dose „Heringsfilets in Französischer Zwiebel-Creme“ der Lübecker Firma Hawesta identifizieren.66 Der weitaus größte Teil der Dosen stammt 63 Bundesforschungsanstalt für Fischerei, Jahresbericht 1970, S. 18. Vgl. außerdem Daniel Pauly/Jay Maclean, In a Perfect Ocean. The State of Fisheries and Ecosystems in the North Atlantic Ocean, Washington/Covelo/London 2003, S. 11–14. 64 Zur Quotierung vgl. Katharina Jantzen, Cod in Crisis? Quota Management and the Sustainability of the North Atlantic Fisheries, 1977–2007 (Deutsche Maritime Studien 15), Bremen 2010, S. 40–43. 65 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0377 und 0379. 66 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 01.

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allerdings aus dem Zeitraum 1977–1997 und verteilt sich hinsichtlich des Herstellungs- oder Haltbarkeitsdatums durchaus regelmäßig auf diese zwei Jahrzehnte. Da jedoch längst nicht bei allen Dosen eine Datumsangabe sichtbar geblieben ist, lassen sich zeitbezogene Aussagen nur unter einem gewissen Vorbehalt treffen. Inhalte und Bezeichnungen der jüngeren Objekte deuten im Übrigen bereits an, dass bis zur Jahrtausendwende transnational ein Höchstmaß der Varianten von Fischprodukten und zugleich des Konsums von Fischprodukten erreicht war.67 In die Sammlung des DSM gelangten die Dosen im Jahr 1996 als Stiftung einer Privatperson aus Südwestdeutschland, die jüngsten Exemplare kamen nachträglich hinzu.68 Der Sammler hatte sich die Mühe gemacht, alle Dosen mit einem scharfen Werkzeug am Boden zu öffnen, um den Inhalt zu entnehmen, ohne Oberseite und Seiten zu beschädigen. Da der Bestand nur wenige Dubletten enthält, dürfte das ursprüngliche Sammelinteresse der Vielfalt der Motive, Sorten oder Firmen und nicht etwa der bloßen Anzahl gegolten haben. Das Ziel, unterschiedliche Varianten eines Konsumprodukts zu sammeln, setzt dabei die serielle und über längere Zeit erfolgte Herstellung des Grundprodukts unter Einschluss eines gewissen Variantenreichtums voraus. Im Fall der Fischkonserven war dies gegeben. Die Motive der Dosenoberseiten variierten je nach Hersteller stark: Während etwa eine Dose mit Sardinen in Öl der portugiesischen Marke „Snob“ einen stilisierten Fisch mit Zylinder, Gehstock und Zigarette zeigt,69 präsentiert der Deckel einer deutschen Dose mit „Zarten Heringsfilets Tomatencreme“ der Cuxhavener Firma Appel ein Foto von zwei Stücken Fischfilet in einer roten Sauce. Freilich sind die schneeweißen Filets von der Sauce quasi umrahmt und mit drei Basilikumblättern garniert, angerichtet auf einem fischförmigen Teller und umgeben von mehreren Tomaten.70 Eine Vielzahl der Konserven aus der Sammlung ist mit einem derartigen „Serviervorschlag“ und dem Hinweis, dass es sich um einen solchen handelt, versehen. 67 Reid, Evolution in the Fish Supply Chain, S. 40. 68 Sammler war der studierte Biologe und Mathematiker Peter Ihm, bis 1991 Leiter des „Instituts für Medizinisch-Biologische Statistik und Dokumentation“ an der Universität Marburg und spezialisiert auf die Entwicklung von Analysesystemen für naturwissenschaftlich erhobene Daten. Der vielseitig interessierte Ihm befasste sich mit „Pflanzenund Miniaturensammlungen“, wie einem Nachruf zu entnehmen ist. Vgl. Hans-Hermann Bock, Nachruf auf Prof. Dr. Peter Ihm (1926–2014) vom 2.4.2014, veröffentlicht auf der Homepage der „Gesellschaft für Klassifikation“, URL: http://www.gfkl.org/wp-content/ uploads/2014/04/Nachruf_Prof_Ihm.pdf (Zugriff vom 22.06.2018). 69 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0211, Haltbarkeitsdatum: Ende 1986. Angesichts der Beschriftung handelt es sich wohl um ein Importprodukt für den deutschen Markt. 70 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 1115, Haltbarkeitsdatum: Ende 1986.

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Abbildung 1: Thunfischkonserve der italienischen Firma „Cirio“, undatiert, Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0434.

Dagegen ziert eine italienische Konserve mit Thunfisch in Olivenöl des Herstellers „ReMarino“ mit Sitz in Mailand aus dem Jahr 1989 eine gezeichnete, farbige Darstellung mehrerer Boote beim Thunfischfang.71 Das Behältnis des neapolitanischen Unternehmens „Cirio“ greift dieses Motiv auf, wobei hier die Bildunterschrift den dargestellten Vorgang als „Mattanza a Capo Passero“, dargestellt nach einem Gemälde aus dem Museo di S. Martino in Neapel, ausweist (s. Abb. 1). Mit „Mattanza“ werden traditionelle Thunfischjagden in den Gewässern um Sizilien bezeichnet, wobei die wörtliche Übersetzung „Abschlachten“ darauf hindeutet, dass es sich tatsächlich um eine blutige Prozedur handelt.72 Nur im Einzelfall jedoch tragen die Konserven der Sammlung solche Illustrationen mit konkretem Bezug zum Fang der Fische. 71 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0430. 72 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0434, Konserve ohne Datumsangabe. Eine Beschreibung der „mattanza“ aus der Mitte des 20. Jahrhunderts findet sich z.B. bei Reinhard Demoll, Früchte des Meeres (Verständliche Wissenschaft 64), Berlin/Göttingen/Heidelberg 1957, S. 93–95. Ebd. schreibt der Autor von „einem blutigen Amoklauf “ und der „Mordlust dieser Schlächter“, in deren Folge „sich der prachtvolle Fisch in Stapel von Büchsen verwandelt“ habe.

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Abbildung 2: Sardinenkonserve der französischen Firma „Gendreau et Fils“, undatiert, Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0562.

Im Vergleich zu den meisten anderen Objekten dieses Ensembles ebenfalls eher aufwendig illustriert ist eine Dose des französischen Herstellers „Gendreau et Fils“ mit Sardinen in Tomatensoße (s. Abb. 2). Auf dem Deckel sieht man eine siebenköpfige Gruppe von vergleichsweise detailliert gezeichneten antiken Göttergestalten auf grünem Hintergrund. Der am Dreizack erkennbare Neptun sitzt mittig an einer halbrunden Tafel, flankiert von jeweils drei männlichen und weiblichen Figuren, die zumindest teilweise ebenfalls an ihren Attributen als Bewohner des Olymp zu identifizieren sind. Auf der Tafel sind mehrere Teller mit Fischen zu erkennen. Unterhalb der Szene zeigt ein durch Verzierungen abgesetzter und in kontrastierendem Rot unterlegter Bereich den auf Homers „Ilias“ verweisenden Schriftzug: „Les dieux se nourrissaient de sardines & d’ambroisie (Illiade chant XXV)“.73 Zwar weist das Objekt keine Angabe zu Herstellungs- oder Verfallsdatum auf, doch Design und Zustand ähneln stark vergleichbaren Produkten derselben Firma aus den späten 1970er-Jahren.74 Das göttliche Sardinenmahl lässt die profane Blechdose optisch reizvoller erscheinen als viele andere Konserven aus der Sammlung. Dennoch dürften auch hier aus Verbrauchersicht der Inhalt und seine leichte Zugänglichkeit entscheidend gewesen sein. Letztlich ging es nur in einem besonderen Fall wie der beschriebenen Sammlung vorrangig um Variationen in der Gestaltung der Dosen und um ein73 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0509. 74 Fischkonservensammlung des DSM, Inv.-Nr. I/07573/96, Pos. 0562.

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zelne Exemplare. In der Regel waren der essbare Inhalt sowie seine Haltbarkeit und unkomplizierte Verwertbarkeit die für die Verbraucherschaft entscheidenden Kriterien. Das spiegelt auch eine Handreichung der Fischindustrie für den Fischeinzelhandel aus dem Jahr 1956. Sie enthält eine Warenkunde und geht darin auch auf die praktischen Vorteile von Fischkonserven ein, wie etwa dieser Vorschlag für ein Verkaufsargument zeigt: Vollkonserven sind stets schnell zur Hand. Wenn überraschend Besuch kommt, empfiehlt es sich, einige Vollkonserven als Reserve in der Speisekammer zu haben. Ihre Unempfindlichkeit gegen Temperaturschwankungen macht die Vollkonserve als ständige Aufschnittreserve besonders geeignet.75

Die Werbeanzeigen der Konservenhersteller im Fachjournal „Allgemeine Fischwirtschaftszeitung“ verweisen über Jahrzehnte konstant auf die Vorzüge von Konservendosen bei der Konsumentenansprache. Danach reichen diese Vorzüge von der einfach zu handhabenden Dosenöffnung („Der Zieh-fix zieht Käufer an!“)76 über den Reiz einer gleichzeitigen Auswahl von verschiedenen Geschmacksrichtungen („Fische und Kunden soll man nicht zappeln lassen“)77 bis zur permanenten Verfügbarkeit im Warensortiment des Handels und zur Lagerfähigkeit in der heimischen Vorratskammer („selbstverständlicher Bestandteil“ und „wirtschaftliche Vorratshaltung“).78 Fischdosen erscheinen in den Quellen somit in erster Linie als praktischer und zuverlässiger Bestandteil des alltäglichen Speiseplans. Wolfgang König betont die „Kontinuität der Nahrungsmittelversorgung“ als Zweck sämtlicher Methoden der Haltbarmachung von Lebensmitteln.79 Danach waren Konserven in der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen und Fischkonserven im Besonderen zwar positiv konnotiert und ihr Inhalt als qualitativ einwandfrei geschätzt, hatten jedoch nicht das Image luxuriöser Lebensmittel. International zeigt sich ein uneinheitliches Bild: So gelten Konserven in Österreich als eher minderwertig, während sie in Frankreich hochgeschätzt sind und beispielsweise für „Jahrgangssardinen“ hohe Preise verlangt werden.80 Eine differenzierte Bewertung würde vor diesem Hintergrund vergleichende Untersuchungen voraussetzen. 75 Schwedke/Sommer, Das Fischsortiment, S. 48. 76 Anzeige der „Günther Wagner Verpackungswerke“, in: AFZ, 1951, Heft 21, o.S. 77 Anzeige der „‚Nordsee‘ Deutsche Hochseefischerei GmbH“ für die Konservenmarke „Norda“, in: AFZ, 1963, Heft 10, S. 12–13. 78 Anzeige der „Schmalbach-Lubeca GmbH“, in: AFZ, 1981, Heft 18, S. 626–627. 79 König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft, S. 98. 80 Karin Schuh, Der Hype um die Jahrgangssardine, in: Die Presse, Online-Ausgabe vom 27.7.2013.

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FAZIT Chris Reid beschreibt in seiner Bewertung des Verhältnisses von Fischindustrie und Fischkonsum vom späten 19. Jahrhundert bis heute einen fundamentalen Wandel: A key aspect of our changing relationship with fish has been food technology’s role in reducing its distinctiveness against other foodstuffs, transforming it from a challenging to an everyday commodity.81

Dieser Wandel drückt sich auch in der Verfügbarkeit und Handhabbarkeit von Konserven aus. Sie können als Ausdruck eines grundlegenden Wandels des Lebensmittelkonsums „von einem existenziellen Grundbedürfnis zu einem Kulturbedürfnis“ gesehen werden und sind ein Ergebnis von „Industrialisierung und Technisierung der Lebensmittelproduktion“.82 Die Konserve steht somit für permanente Verfügbarkeit und einfache Handhabung bei großen Variationsmöglichkeiten hinsichtlich der Befüllung. Alle Aspekte zusammen verleihen dem Produkt Fischkonserve eine Qualität, die das Shifting-baseline-Syndrom begünstigt. Nach der ursprünglichen Beschreibung von Daniel Pauly, der daran anknüpfenden Arbeit von Andrea SáenzArroyo mit Fischern am Golf von Kalifornien und schließlich der sozialwissenschaftlichen Adaption durch das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen bietet das Konzept der „shifting baselines“ nicht nur eine Möglichkeit zur Verknüpfung von umweltund wahrnehmungshistorischen mit meeresbiologischen Fragen, sondern verlangt geradezu nach einer Erweiterung der untersuchten Akteure. Die Konsumentinnen und Konsumenten von Seefischprodukten stellten bisher eine Gruppe solcher Akteure dar. Die Fischkonservensammlung des Deutschen Schifffahrtsmuseums erweist sich dabei als Beispiel für die materielle Kultur der Shifting-baseline-Problematik. Sowohl die materielle Beschaffenheit der Dosen selbst als auch die Werbung der Fischindustrie für ihre Konservenprodukte berechtigen zu der Annahme, dass diese Form des Nahrungsmittels Fisch die Vorstellung von der Unerschöpflichkeit der Meeresressourcen gewissermaßen zu konservieren vermochte. Die Existenz der hier betrachteten Sammlung hängt jedoch nicht mit einem wissenschaftlichen Interesse an der Erforschung umweltgeschichtlicher oder fischereiwissenschaftlicher Fragen als vielmehr mit dem Prinzip des Sammelns möglichst unterschiedlicher Varianten eines seriell angefertigten Gebrauchsgegenstands zusammen. Deshalb würde eine Analyse der Sammlung anhand ästhetischer Fragen gewiss andere Aspekte der Wahrnehmung des Meeres zutage fördern, als in diesem Beitrag zur Sprache kamen. 81 Reid, Evolution in the Fish Supply Chain, S. 35. 82 König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft, S. 96.

Hans-Christian Bresgott

AUF SAND GEBAUT – VERSUCHSRAUM KÜSTE NATUR UND GESCHLECHT IM SEEBAD DES FRÜHEN 19. JAHRHUNDERTS

Betrachtet der Mensch das Meer, tut er dies in aller Regel von einem festen Standpunkt aus: dem Strand. Aber ist der Strand wirklich ein fester, ein sicherer Standpunkt? Wiebke Kolbe beschrieb den Strandraum in seiner stets fragilen Konstitution als „liminoiden (Erfahrungs-)Raum“1, einen Raum, dessen Status sich nicht auf das Meer und nicht auf das Land begrenzen lässt; geprägt vom rhythmischen Wellenschlag, der keine dauerhaften Spuren im Sand entstehen lässt, der als Folge des regelmäßigen Einbruchs von Meereswasser einer nicht endenden Veränderung des Landes unterliegt. Die Seebadekultur2 bietet für die Frage nach der Konstitution dieses Strandraumes als fluide Grenze zwischen Land und Meer ein bisher kaum beschrittenes Forschungsfeld. Im vorliegenden Fall soll dieses Feld bearbeitet werden, indem ein Blick auf die Entstehungsphase der deutschen Ostseebäder geworfen wird, einen Zeitraum von ca. Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mithin die Sattelzeit (Reinhart Koselleck), deren tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen sich auch in der Konstitution des Seebades widerspiegeln. Dabei soll gezeigt werden, wie sich am Verhalten von Kurgästen am Strand und mit dem Bad im Meer Mechanismen einer modernen Gesellschaft erkunden lassen und wie an diesem exzentrischen Ort vor allem die Frage des Umgangs mit dem Leib nach bürgerlichen Moralvorstellungen experimentell verhandelt wird. 1

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Vgl. Wiebke Kolbe, Strandurlaub als liminoider (Erfahrungs-)Raum der Moderne? Deutsche Seebäder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Gilomen/Beatrice Schumacher/Laurent Tissot (Hg.), Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 187–199, hier S. 187–188. Seebadekultur wird hier verstanden als Aushandlung und Kodifizierung von Verhalten im Raum des Seebades. Dieser Prozess findet dabei statt im Schnittpunkt zwischen Naturund Kulturgeschichte, in dem der Raum zwischen Meer und Land, der Küsten- resp. Strandraum Grundlage für die Aushandlungsprozesse bietet.

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Zunächst soll an dieser Stelle in einem Exkurs der Frage nachgegangen werden, warum sich im Folgenden explizit mit der Badekultur in den Ostseebädern beschäftigt wird. Es ließe sich das Badeverhalten und der Umgang mit dem Meer auch auf die Nordsee ausweiten, doch sollen hier Besonderheiten der Ostsee und deren Folgen für die Badekultur gezeigt und so das Ineinandergreifen von Natur- und Kulturgeschichte fassbar gemacht werden. Mit Heiligendamm erfolgte 1793 die erste deutsche Seebadgründung an der Ostsee, obwohl prominente Stimmen wie Georg Christoph Lichtenberg3 sich vehement für eine Seebadgründung an der Nordsee ausgesprochen hatten. Entscheidend für Lichtenbergs Vorschlag war die Kenntnis der vorbildhaften englischen Seebäder, die wegen ihrer Lage an Nordsee und Ärmelkanal zwei der für die Zeitgenossen entscheidenden Charakteristika mitbrachten: einen großen Wellenschlag und stark salzhaltiges Meerwasser. Beides, zuzüglich der Temperatur, war für die Mediziner entscheidend für ein erfolgreiches Meeresbad und unterschied zudem die Seebäder grundlegend von den Flussbädern,4 deren Wirksamkeit allein auf dem Temperaturreiz des Wassers beruhte. Aufgrund ihrer geografischen Konstitution bietet die Ostsee beides dagegen in nur geringem Maße; sie besitzt nur einen schmalen Zugang zur salzreichen Nordsee (Atlantik) und ist ansonsten von Festland umgeben, was die Ausbildung von Gezeiten fast vollständig verhindert, zudem kommt so nur wenig Salzwasser, dafür aber umso mehr Süßwasser von Flüssen in die Ostsee, was den Salzgehalt von West nach Ost immer mehr sinken und schließlich kaum noch messbar sein lässt. Damit waren in dem Diskurs um die beste Lage für ein Seebad beide Kernforderungen an ein ordentliches Seebad für die Ostsee obsolet und es bedurfte anderer, weicherer Kriterien, die die Badeärzte und Befürworter der Ostsee ins Feld führen mussten. Zwar galten weiterhin der Wellenschlag und das Salz im Meer als 3

4

Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), Professor (a.o. Professor ab 1775) für Physik, Mathematik und Astronomie in Göttingen, zudem begnadeter Aphoristiker, gab seit dem Ende der 1770er-Jahre den Göttinger Taschen Calender heraus, in dem 1793 sein Aufsatz „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?“ erschien, der als Initialzündung für die Gründung der deutschen Seebäder gelten kann. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?, in: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 3, München 1967, S. 95–103. Lichtenberg besuchte davor bereits mehrfach englische Seebäder und forderte diese Einrichtungen auch für Deutschland. Der Badearzt von Swinemünde, Dr. Richard Kind, charakterisierte die wirksamen Faktoren des Seebades wie folgt: „1. Die Temperatur der See und ihr Verhältnis zur Temperatur der Luft. 2. Der Wellenschlag. 3. Die Eigenthümlichkeit der Seeluft. 4. Die chemische Composition des Seewassers.“ Richard Kind, Das Seebad zu Swinemünde, Stettin 1828, S. 15–16.

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unverzichtbare Ingredienzien; die Gezeitenlosigkeit der salzarmen Ostsee ermöglichte aber die bis an den Strand heranreichenden Wälder mit ihrer klaren Luft.5 Dieses zusätzliche therapeutisch wirksame Element sollte die mangelhafte Ausbildung von Wellen aber mehr als wettmachen.6 Tatsächlich ließen sich direkt an der Küste der Ostsee problemlos Promenaden errichten – stets mit Blick auf das Meer – und am Strand Badeanstalten ins Wasser bauen, so dass der Kurraum direkt am Kurmittel entstand, während an der Nordsee die Gezeiten die Bademöglichkeiten reglementierten und die salzhaltige Luft nur spärlichen Bewuchs am Strand zuließ, Waldpromenaden mit Meeresblick also praktisch nicht möglich waren. Nicht unwichtig war den Zeitgenossen aber noch etwas anderes: die aus dem philosophischen Diskurs um das Erhabene herrührende besondere Funktion des Meeres. Dessen scheinbare Unendlichkeit verwies auf die göttliche Unendlichkeit und übertrug damit einen Schimmer ihrer Sakralität auf den Meeresblick, dem psychische Heilkräfte unterstellt wurden.7 Trotz und wegen ihrer geringen Größe bot die Ostsee den unschätzbaren Vorteil, dass man hier stets den Blick über die Wasserfluten bis zum Horizont genießen konnte, das erhabene Schauspiel des Meeres jedem Badegast allzeit vor Augen stand. Für die Zeitgenossen waren es also letztlich naturräumliche Kategorien wie der Wellenschlag, der Salzgehalt des Meeres oder die Ausprägung der Gezeiten, durch die sich die Nordseebäder von den Ostseebädern unterschieden. Den Diskurs um diese Fragen wie um die gesamte Ausprägung der Seebäder als Kurorte bestimmten in der Gründungszeit der deutschen Seebäder vor allem die Badeärzte. Ihr erster und prominentester Vertreter war Samuel Gottlieb Vogel (1750–1837), Professor für Medizin in Rostock und Leibarzt des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin. Er war nicht nur der Initiator der ersten Seebadgründung 1793 in Doberan-Heiligendamm, sondern publizierte eine Vielzahl von Schriften zum Seebad, die in ihrer Mischung aus exemplarischen Patientenberichten und der Vorstellung der Kurgesellschaft prägend für die ärztliche Literatur zu den See5 6 7

Vgl. zu den naturräumlichen Besonderheiten der Ostsee als binnenähnliches Meer Hansjörg Küster, Die Ostsee. Eine Natur- und Kulturgeschichte, München 2002, hier S. 88–91. Vgl. dazu Hans-Christian Bresgott, Ostseeküste – Ostseebad. Von der Entdeckung des Nordens zur Entstehung der deutschen Ostseebäder im 19. Jahrhundert, Konstanz/München 2017, S. 45–49, 224–228. Die zeitgenössische Diskussion zum Erhabenen war in Deutschland maßgeblich durch Immanuel Kant geprägt, der sich mehrfach, beginnend mit den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (Königsberg 1764), mit dem Erhabenen beschäftigte. Die neuere Literatur zu diesem Thema ist sehr umfangreich; hier sei wegen der expliziten Bezugnahme auf das Meer beispielhaft genannt Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979.

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bädern wurde.8 Die Mediziner publizierten Badeschriften und stellten mit Artikeln in großen Lexika und Handbüchern einem breiten Publikum die Seebäder als Kurorte neuen Typs vor. Zwischen den Badeärzten der Nord- und der Ostsee gab es bis weit ins 19. Jahrhundert zum Teil scharfe Auseinandersetzungen darum, ob das Bad im jeweils anderen Meer überhaupt sinnvoll und heilsam sein könne. Der Kampf um die Diskurshoheit um den Heilraum Strand wurde heftig ausgefochten, immer fußend auf den naturräumlichen Gegebenheiten und ihrer Übersetzung in daraus resultierende kulturelle Praktiken. Mit zunehmender Anzahl von Ostseebädern entstand aber auch hier eine Binnenkonkurrenz, die schließlich über verschiedene Kriterien wie den Salzgehalt, die Lage und Erreichbarkeit, die Qualität des möglichst steinfreien Strandes zu einer sozialen Klassifikation der Bäder führte, von kleinen, schlichten Familienbädern wie Ahlbeck, Horst oder Kahlberg tief in Ostpreußen bis hin zu mondänen Luxusbädern wie Heiligendamm, Cranz oder Heringsdorf. Wie wurde aber nun dieser Baderaum am und im Meer konstruiert, welche Rolle spielten Vorstellungen von Geschlecht und sozialer Zugehörigkeit? Bereits mit der Entstehung der Ostseebäder im späten 18. Jahrhundert etabliert sich das Seebad als (auch) geschlechtlich konstruierter Raum.9 Die geschlechtsspezifische Zuordnung von Krankheiten, dem männlichen Hypochonder und der weiblichen Hysterikerin, beruht dabei auf zeitgenössischen, medizinisch legitimierten gesellschaftlichen Rollenbildern. Die Differenz zwischen Männerkrankheiten und Frauenleiden spiegelt die gesellschaftliche Hierarchisierung der Geschlechter, die sich, entgegen den egalitären Naturrechtsvorstellungen der Aufklärung, im geschlechtlichen Körper manifestiert. Eine geschlechtsspezifische Zuordnung von Krankheitsbildern konterkariert die naturrechtlich definierte Egalisierung aller Gesellschaftsmitglieder und schafft durch die Zuordnung des Geschlechts eine neue Hierarchisierung. So führt der Diskurs um den geschlechtlichen Leib, verstanden als außerhalb der Geschichte stehende biologische Konstante, zur erneuten Legitimation hierarchisierter Strukturen, wobei der männliche als stark, der Außenwelt zugewandt, der weibliche als schwach und auf das Soziale konzentriert galt.10 Über den Körper am Strand um 1800 zu sprechen, ist angesichts einer eingeschränkten Quellenlage nicht ohne Weiteres möglich.11 Während die ärztlichen 8

Zur Karriere und Professionalisierung von Vogel und seinen Badearzt-Kollegen vgl. Bresgott, Ostseeküste, S. 167–172. 9 Vgl. dazu und zum weiteren sozial- und medizinhistorischen Kontext ebd., S. 141–273. 10 Vgl. dazu Pia Schmid, Zur Geschichte des weiblichen Körpers im 18. Jahrhundert. Literaturbericht, in: Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert, Jg. 14, Heft 2), Marburg 1990, S. 159–180. 11 Zur Problematik, in welchem Ausmaß aktuelle Theoreme wie die Vorstellung des Bades

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Intentionen, was die Rolle des Körpers im Seebad angeht, vielfach in den Schriften der Mediziner abgebildet sind, bleiben Dokumente der „Betroffenen“ spärlich, und gerade ein explizites Körperempfinden wird in Zeiten wachsenden Schamempfindens selten thematisiert. Dabei ist es vordringlich das Verhalten der Gäste im Seebad, bei dem um 1800 in einer bis dahin unbekannten Fülle körperliches Empfinden in der Öffentlichkeit thematisiert wird. Denn das Seebad ist der einzige Ort, an dem gerade Mitglieder der höchsten sozialen Schicht ihren sonst als Distinktionsmerkmal privatisierten Körper einer (freilich sozial beschränkten) Öffentlichkeit präsentierten und dies anerkanntermaßen als Teil eines gesellschaftlich akzeptierten, wenn nicht geforderten Rekreationsprogrammes. Abseits des Gesellschaftslebens in den Seebädern sollen hier deshalb der Umgang des Körpers während der Badeprozedur am Strand sowie dessen Folgen betrachtet werden. Mit dem Eintauchen des ganzen Körpers ins Meer als zentrale Praxis des Kuraufenthaltes erwuchs zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neuartige Körpererfahrung. Den eigenen Körper dem Ozean auszuliefern, sich den Wellen entgegenzuwerfen und ins kalte, bewegte Wasser zu tauchen, gebot zunächst die Pflicht, nicht die Neigung. Durch das Meer tauchte dabei, nachdem das Wasser schon lange als Heilinstrument in Thermalbädern und den Flüssen des Binnenlandes präsent war,12 ein jahrhundertelang in Vergessenheit geratener neuer medizinischer Heilraum wieder auf. Für Männer, vor allem aber für Frauen, war das Bad im Meer eine gänzlich neue Erfahrung. Sie war angstbesetzt, da ungewohnt und von der realen Gefahr des Ertrinkens begleitet. Und sie war im Spiel mit dem Wasser sowie angesichts der unerwarteten Körperreaktionen zugleich lustvoll. Nicht zuletzt deswegen muss das Seebad auch als ein erotisch aufgeladener Ort empfunden worden sein. Gemäß dem Rollenbild der Geschlechter und der Tatsache, dass auch das soziale Verhalten des eigenen Geschlechts zeittypisch erlernt wird, führen Angst und Lust zu verschiedenen Verhaltensoptionen, die eingebettet bleiben in einen ständig weiter verhandelten gesellschaftlichen Kontext. Wie konnte nun diese Körpererfahrung im Kontext eines weitgehend privatisierten bürgerlichen Körpers erlebt werden? Wie ließ sich die schambesetzte Leiblichkeit mit der im Seebad geforderten körperlichen Repräsentation verbinden? Welche Strategien zu einer (begrenzten) Auflösung der „Tyrannei der Intimität“13 als Gegenwelt im historischen Kontext zu bewerten sind, vgl. Kolbe, Strandurlaub, S. 188–189. 12 Vgl. dazu etwa Michael Matheus (Hg.), Badeorte und Bäderreisen in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2001; Raingard Eßer/Thomas Fuchs (Hg.), Bäder und Kuren in der Aufklärung – Medizinaldiskurs und Freizeitvergnügen, Berlin 2003. 13 So der deutschsprachige Untertitel von Richard Sennetts Werk über „Verfall und Ende

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wurden angewandt? In welchem Maße konnte sich damit im Seebad (als körperbetontem Raum) ein andersartiges Körperverständnis entwickeln? Immerhin bot der Zugang zum Meer, der Strandraum, den Zeitgenossen einen Raum, der bisher kulturell kaum beschrieben war und jetzt die Möglichkeit bot, Grundlage neuer körperlicher Erfahrungen zu sein. Selbst dort, wo zunehmend der Lustcharakter des Badens in der See betont wurde, erhielt sich zunächst einmal der instrumentelle Charakter des Körpers – und das auch in der Differenzierung zwischen beiden Geschlechtern.14 In besonderer Weise widmete man sich in der Badeliteratur den Frauen, einer schon quantitativ großen Gruppe der Besucher, denen man eine besondere Affinität zu allem Leiblichen zusprach. Im Zusammenhang pathologischer Muster und sozialer Rollen wurde der Frau sowohl ein gesonderter, klar umrissener Raum innerhalb des Seebadbezirkes als auch ein spezifischer Verhaltenskodex zugewiesen. In den Badeeinrichtungen, vor allem den nach Geschlechtern separierten Badeanstalten, bündelten sich die Zuschreibungen zeitgenössischer Geschlechterbilder. Dabei war es kein Zufall, dass die Errichtung fester Badeanlagen und die Einführung der Badekarren mit dem Wunsch der Frauen nach dem Bad im offenen Meer zusammendes öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ (Orig.: The Fall of Public Man, New York 1974), Berlin 2008, in dem er auch die Rolle der Kleidung und der Intimität im Prozess einer zunehmenden Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre im 18. und 19. Jahrhundert untersuchte. Nach Sennett wird Mitte des 18. Jahrhunderts der Bruch „zwischen Privatem einerseits und dem Öffentlichen und Konventionellen andererseits“ (ders., Verfall, S. 141) vollzogen. Darauf beruhend zeigt sich die unklare und immer wieder neu diskutierte Frage nach der Körperpraxis im Seebad, das als Raum einen öffentlichen Charakter besitzt, in dem aber ein an das Private gemahnendes Verhalten gefordert und praktiziert wird. So sprechen Badeärzte wie Samuel Gottlieb Vogel aus Heiligendamm, Dr. Ludwig Sachs aus Königsberg und Christoph Wilhelm Hufeland Anfang des 19. Jahrhunderts über die medizinische Notwendigkeit des Nacktbadens, wohl wissend um die damit verbundenen Schwierigkeiten der körperlichen Zurschaustellung des privaten Körpers für die Badegäste. Vgl. dazu Bresgott, Ostseeküste, S. 207–211. 14 Gernot Böhme sieht das moderne Körperbild als Ergebnis eines gesellschaftlich geforderten und verhandelten Instrumentalisierungsprozesses: „Damit dürfte noch einmal klar geworden sein, dass Selbst-Natur-Sein nicht ist, was sich von selbst versteht oder gar schlicht gegeben ist. Vielmehr ist unter den Bedingungen der technischen Zivilisation ein Verhalten habituell geworden, bei dem einem die eigene Natur in der Regel äußerlich ist und der Körper als ein Instrument benutzt wird. Die durchschnittliche Lebensform, insbesondere in Arbeit und Verkehr, zwingt zu einer Haltung und einem Selbstverhältnis, das die eigene Natur veräußerlicht und instrumentalisiert. Die dabei ständig vollzogene Unterdrückung der eigenen Natur ist etwas, das man als wesentliches Bestandsstück erwachsenen Daseins in unserer Zivilisation begreift.” Gernot Böhme, Die Natur vor uns. Naturphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug 2002, S. 24.

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Abbildung 1: Karte (Ausschnitt) des Ostseebades Kolberg, 1906, mit den gut sichtbaren, in das Meer hineinragenden geschlechtergetrennten Badeanstalten. Zwischen dem links gelegenen Damenbad (der größten Anlage und mit weiterem Abstand zur Promenade) und dem Herrenbad liegt der Seesteig, ganz rechts das neue Familienbad. Aus: „Führer durch die Badeorte des Verbandes Deutscher Ostseebäder, 1914, S. 216b“

hingen.15 Gemäß ihrer sozialen Rolle als Ehefrau und Mutter standen ihr mit den geschlechtsspezifischen Frauenleiden auch die zugewiesenen weiblichen Verhaltensweisen zu. Dazu gehörten die große Rolle von Scham und Intimität wie die Instrumentalisierung des weiblichen Körpers als zartes, gebrechliches und zu schützendes Objekt. Mit diesem Verlangen nach Intimität auch im öffentlichen Raum des Seebades setzte die räumliche Trennung der Geschlechter ein. Je höher der Status eines Seebades und seiner Gesellschaft war, umso mehr verstärkte sich der Prozess der Segregation. In den einfachen Bädern wurde dies durch einfache zeitliche Einteilung in Männer- und Frauenbadestunden geregelt. Andernorts, vor allem an Mündungsorten, diente auch der Fluss als Grenze zwischen den Geschlechtern. In Treptow-Deep in Hinterpommern hielt der dortige Regimentsarzt in seiner Beschreibung der bisherigen Badegebräuche fest: „Der Rege-Fluß theilt das Ufer für beide Geschlechter ein und gewährt hierdurch das Bequeme und Ungenierte,

15 Vgl. zur Etablierung des Damenbades ab 1800 in Doberan Horst Prignitz, Vom Badekarren zum Strandkorb. Zur Geschichte des Badewesens an der Ostseeküste, Leipzig 1977, S. 99.

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welches der Gesundheit so förderlich ist.“16 Gelegentlich ist auch die „Unsitte“17 des gemeinsamen Bades beider Geschlechter praktiziert worden, vor allem dort, wo die sozialen Unterschiede und das Bemühen um Distinktion innerhalb der Badegesellschaft gering waren. So ist für 1815 eine Regierungsverfügung an den Swinemünder Magistrat überliefert, in der darauf aufmerksam gemacht wurde, dass beim Baden am Strande zwischen männlichen und weiblichen Personen keine Trennung statthabe, und dass daher angemessen auf endliche Abstellung dieser allen guten Sitten zuwiderlaufenden Einrichtungen gedrungen werden müsse.18

Der Magistrat, dem der Strandbereich nicht gehörte und der damit nicht für die Polizeigerichtsbarkeit verantwortlich war, entgegnete, er habe schon vor mehreren Jahren nicht nur den dortigen Einwohnern bei Strafe untersagt, den Badehütten am Strande zu nahe zu kommen, sondern auch angeordnet, jedermann habe sich wenigstens in einer solchen Entfernung davon zu halten, dass die im Bade befindlichen Personen, vorzüglich Frauenzimmer, nicht verhindert werden, das Wasser nach Gefallen zu verlassen. Dass diese Maßregel aber nicht hinlänglich sei, um eine Trennung der Geschlechter beim Baden herbeizuführen, davon könne wohl niemand mehr, als er selbst überzeugt sein.19

Die Stralsunder Zeitschrift „Sundine“ berichtete 1829, dass in vielen Dörfern der Küste gebadet werde, und zwar

16 Acta von See-Bädern in Pommern, Vol. 1 von Juni 1801 bis Okt. 1829, Schreiben des Arztes und Kommandeurs des 4. Ulanen-Regiments in Treptow am Deep vom 6.12.1823, Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz (GStA), Berlin, Rep. 76 VIII A, Nr. 2557. 17 Der Misdroyer Badearzt Heinrich Oswald sprach von der in Frankreich gebräuchlichen „Sitte, mit Bademänteln zu baden“, die „jedem Kurzwecke hinderlich“ und „aus der Unsitte“ entsprungen sei, „dass in manchen Nordseebädern Badegäste verschiedenen Geschlechts gemeinschaftlich baden.“ Vgl. Heinrich Oswald, Das Seebad Misdroy. Ein Leitfaden für Badegäste nebst Bemerkungen über die Wirkungsweise der Seebäder, der Seeluft und ihre Verbindung mit Brunnenkuren, für Ärzte und gebildete Laien, Berlin 1855, S. 25. 18 Zitiert nach Lothar Knaak, Die Entwicklung der Ostseebäder an der vorpommerschen Küste und ihre volks- und staatswirtschaftliche und kulturelle Bedeutung, Würzburg 1923, S. 28–29. 19 Zitiert nach ebd.

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sehr oft mit Hintansetzung aller dem schönen Geschlecht schuldigen Dezenz, vielleicht das einzige Paradiesische dieser Lebensweise [...] und selbst habe ich’s erlebt, dass die Zofe die Herren bitten musste, ihre Blicke ein paar Minuten abzuwenden, weil ihre Dame dem Wasser entsteigen wollte.20

Auch wenn Grenzen durch indiskrete Blicke hier leichter überschritten werden konnten, wird man sich diese „wilden“ Bäder nicht als Stätten eines verbreiteten unzüchtigen Verhaltens vorstellen dürfen.21 Nur galt es hier, wo sich noch keine Konventionen für das Bad in der offenen See ausprägen konnten, eine Regelung für das Verhalten der Geschlechter beim Baden zu finden. Von der bereits länger existierenden Praxis vor allem junger Männer, in den Flüssen des Binnenlandes zu baden,22 konnte man für das Seebad keinen praktikablen Verhaltenskodex übernehmen. Daher musste für die gleichzeitig badenden Frauen und Männer ein zeitgemäßer Verhaltenskodex eingeführt werden, der die Sinnlichkeit der Leibeserfahrung und der Geschlechterkollision mit den Schamgefühlen der Badenden zu vereinbaren imstande war.23 In den „wilden“ Bädern, in denen keine öffentliche Kontrolle vorhanden war, wird es dabei zu einem dauernden Wechselspiel zwischen dem Begehren nach Intimität und den diesem Wunsch entgegengesetzten indiskreten Blicken gekommen sein. Mit der Gründung der öffentlichen Seebäder24 wurde das Baden einer zunehmenden öffentlichen Kontrolle und Reglementierung unterzogen. Die strikte – zeitliche wie räumliche – Trennung der Geschlechter während des Kurprozesses gehörte von dort an zum Ordnungsprinzip der Seebäder.25 In den Badeschriften 20 Zitiert nach Prignitz, Badekarren, S. 80. 21 Vgl. zur Rolle von Scham und fremden Blicken, besonders auch beim Baden, Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, Frankfurt am Main 1988, S. 135–139. 22 Vgl. Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997, S. 221. 23 Vgl. zur Problematik von Scham und Badekultur u.a. Georges Vigarello, Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 209. Hans Peter Duerr weist in seiner Kritik an Norbert Elias’ These vom fortschreitenden Zivilisationsprozess nach, dass im Umgang der Geschlechter mit dem nackten Körper die Scham nicht erst eine Folge des zunehmenden Zivilisationsdruckes der Neuzeit gewesen ist. Ders., Nacktheit, S. 92–98. 24 Die erste offizielle Seebadgründung ging 1793 von Gottlieb Samuel Vogel aus. Vogel bereitete diese Gründung in Heiligendamm bei Bad Doberan mit dem Besuch verschiedener Bäder im In- und Ausland penibel vor. Seine bald jährlich publizierten Badeschriften prägten in Stil und medizinischer wie gesellschaftlicher Definition für Jahrzehnte das Bild der deutschen Seebäder. 25 In welchem Maße die zunehmende Anzahl von Gästen mit auf diesen Prozess einwirkte, ist angesichts der wenigen Quellen schwierig zu beurteilen. Im Fall Swinemündes, in

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wurden regelmäßig die genauen Entfernungen zwischen den Badeanstalten für Männer und denen für Frauen angegeben, später ließ sich diese Trennung auch anhand der beigefügten Karten nachvollziehen. Diese klare Abgrenzung zwischen den Geschlechtern sollte erst um 1900 mit der Etablierung der Familienbäder schrittweise aufgelöst werden. Zentrale Aufgabe der Badeanstalten wie auch aller anderen Hütten und Zelte am Strand war aber die Wahrung der Privatsphäre, die, das sei hier nur am Rande bemerkt, neben der Geschlechtertrennung auch dem Schutz der körperlich Versehrten diente. Vor allem während des Übergangs zum öffentlichen Seebad galt es, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht überall durchgesetzte Wahrung der Intimität mit der Errichtung von Umkleidehäusern, Zelten und anderen leichten Bauwerken zu gewährleisten.26 Die Aufrechterhaltung der Intimsphäre, vor allem des entkleideten Körpers, entsprach den bürgerlichen Körpervorstellungen, mit denen man sich zugleich gegen die niederen Schichten abgrenzte. Vor allem der weibliche entkleidete Körper bedurfte des Schutzes vor fremden Blicken. In der Folge entstanden immer kompliziertere Sichtblenden, die die Badeanstalten zu uneinsehbaren Zonen umgestalteten, zunächst nur für die Frauen, schließlich aber auch für die Männer. Entsprechend zahlreich sind die Berichte über versuchte oder vollzogene Blickbelästigungen. Wer Täter, wer Opfer war bei dieser voyeuristischen Attacke, erscheint dabei eindeutig: „In C. wurde ein Polizeidiener angestellt, um den Andrang des masculini generis vom Badeplatze der Frauen abzuhalten. O tempora!“27 Gegen die Gewalt des Blickes ging man mit der Ordnungsmacht der Badepolizei vor.28 Intensiv setzte man sich in den 1830er-Jahren in Warnemünde mit der Anlage von Badeanstalten auseinander, wobei die Frage, an welcher Stelle das Damenbad dem mit der Eröffnung der Badeanstalt 1824 sofort die Trennung beider Geschlechter eingeführt wurde und wo dies wenige Jahre vorher nicht der Fall war, darf man aber annehmen, dass die Umsetzung der gesellschaftlichen Norm das entscheidende Motiv für die strikte Geschlechtertrennung war. 26 So musste man vorbereitend zur Anlage von Badeanlagen in Warnemünde feststellen, dass „fast der größte Theil der Badenden sowohl von den Damen als den Herren genöthigt [ist], sich ganz frei am Ufer zu entkleiden“. Badeanstalt Warnemünde, Schreiben an das Gewett vom 8.1.1836, Archiv der Hansestadt Rostock (StA Rostock), 1.1.3.23–34, Nr. 26. 27 Zitiert nach Prignitz, Badekarren, S. 80. 28 Vgl. zur Funktion der Badepolizei am Beispiel Berlins auch Jens Thiel, Urbane Räume unter Polizeiaufsicht. Einfluß und Grenzen polizeilicher Regulierung im städtischen Alltag Berlins um 1800, in: Claudia Sedlarz (Hg.), Die Königsstadt. Stadtraum und Wohnräume in Berlin um 1800. Hannover 2008, S. 45–68, hier S. 55–56; Ragnild Münch, Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel, Berlin 1995, hier S. 211–213.

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errichtet werden könne, eine zentrale Rolle spielte. Neben den zu verhandelnden praktischen Fragen nach dem Ort des besten Wellenschlages, der geringen Vermischung mit dem Flusswasser der Warnow und dem passenden Ufergrund wurde ausgiebig darüber diskutiert, an welcher Stelle das Damenbad sicher vor fremden Blicken errichtet werden konnte. Der Vorschlag, das Damenbad in die Nähe Warnemündes an die Warnow zu verlegen, erregte Widerspruch, da hier die Gefahr von den als besonders vulgär empfundenen Gaffern drohte – den Matrosen. Es würde „eine Einrichtung zum Schutze der badenden Damen gegen profane Blicke z. B. aus den Masten der aus- und eingehenden Schiffe, sehr schwer oder doch sehr kostspielig werden“.29 Damit scheint hier noch einmal die schon in der Antike verbreitete Meinung auf, dass besonders Hafenstädte Orte der Zügellosigkeit und gefährdeten Sittlichkeit wären, da in ihnen auch die kaum zu disziplinierenden Matrosen aus aller Welt ein und aus gingen.30 Die schließlich mit Polizei, Zäunen und Baderegeln errichtete Exklusivität des geschützten Badebereiches war damit auch eine Grenzziehung gegen das Vulgäre der Unterschichten. Dagegen empfahl sich für die Warnemünder die Einrichtung der Badeanlage an einem ungefährlicheren Platz, an dem man „das Damenbad durch ein einfaches Geländer den Blicken unzugänglich“ machen könne und das Bad „durch die in entsprechender Entfernung aufzustellenden Warnungstafeln“ hermetisch vor Blicken schützen wolle. Aber nicht nur die Blicke der Fremden und Unterschichten wurden gefürchtet, auch die nebenan im Meer badenden Männer galten als Gefahrenquelle: Das das Damenbad begränzende Geländer in der See wird vom Strande ab erstlich geführt, so dass auch von denjenigen Herren, welche tief in die See hineinschwimmen, dennoch die Badestelle nicht übersehen werden kann.31

Generell fürchtete man Störungen, die in der Lage waren, von außen in den besonders sensiblen Raum und die Ordnung des Bades einzugreifen. Und so erließ 1823 die Königlich Preußische Regierung zu Danzig im Badereglement für Zoppot die Anweisung, dass ein „durch Schild am linken Arm kenntlich“32 gemachter Bade29 Badeanstalt Warnemünde, Bd. 1, Schreiben an das Gewett vom 21.1.1835, StA Rostock, Sign. 1.1.3.23–34, Nr. 4. 30 Zur Genese des Bildes vom Matrosen als Außenseiter vgl. Timo Heimerdinger, Der Seemann: ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung (1844–2003), Köln 2005, hier v.a. S. 107–110. 31 Badeanstalt Warnemünde, Bd. 1, Schreiben an das Gewett vom 10.1.1835, StA Rostock, Sign. 1.1.3.23–34, Nr. 3. 32 Friedrich Ludwig Augustin, Die Königlich Preußische Medicinalverfassung, Bd. 4, ent-

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Abbildung 2: Badestrand in Sellin auf Rügen, im Hintergrund die Damenbadeanstalt, separiert und mit Sichtblenden versehen. Kolorierte Postkarte, 1905, Sammlung des Autors.

aufseher „zum Schutz der Badenden gegen Störungen“ und zur „Aufrechthaltung der Badeordnung“ angestellt werde. Die Angst vor dem verbotenen Blick reichte durch den, wenigstens gefühlten, Gebrauch von Ferngläsern noch weiter.33 Heinrich Laube, Korrespondent der populären „Zeitung für die elegante Welt”, badete 1833 in Putbus-Lauterbach und damit in einiger Entfernung durch das Wasser des Greifswalder Boddens von der Universitätsstadt getrennt, und beschrieb das wie folgt: angesichts dieser edlen Stadt stürzten wir uns ins Meer. Ich kann mir wohl denken, dass diese Türme, die man bei gutem Wetter und mit gesunden Augen am Horizonhaltend die Medicinalverordnungen von 1823–1827, Potsdam 1828, S. 867, § 3. In dem ebenfalls 1823 von der Königlich Preußischen Regierung zu Danzig erlassenen Badereglement für das nahe Zoppot gelegene Brösen heißt es, dass außerhalb der Badestunden „niemand das Ufer des Badeplatzes besuchen“ darf, bei Zuwiderhandlung werde der Übeltäter durch die „ausgestellte Wache der Ortsbehörde zur Bestrafung angezeigt“ werden. Ebd., S. 872. 33 Zu diesem Phänomen, das erwartungsgemäß nicht auf die Ostseebäder beschränkt blieb, vgl. die Schilderungen aus England bei Alain Corbin, Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Frankfurt am Main 1994, S. 107.

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te sieht, dem Seebade Putbus nachteilig wurden: es hat etwas Schamverletzendes, von Türmen im Stande der Unschuld betrachtet zu werden. Wie leicht könnten Studenten [...] tubusbewaffnet auf diesen Türmen erscheinen und das größte Unglück anrichten!34

Eine derartige Verletzung des Körpers durch fremde Blicke zu verhindern, dazu sah sich auch die Öffentlichkeit aufgefordert. Der Magistrat von Swinemünde erließ noch vor der Gründung des öffentlichen Seebades 1824 ein Verbot, „bei 2–5 Talern Geld- oder verhältnismäßiger Gefängnisstrafe jedem, der nicht baden wollte, die Annäherung an die Badehütten bis auf 50 Schritt“.35 Aber nicht nur bei den Badeanlagen vollzog sich eine geschlechtsspezifische Differenzierung. Bereits Badearzt Samuel Gottlieb Vogel hatte in Doberan dafür Sorge getragen, dass für Frauen zum Schutz vor Sonne und Regen ein kleines Gebäude am Strand errichtet wurde. Dazu wurden die ins Wasser führenden Stege verbreitert und mit Geländern versehen, denn, so Vogel: „Die Damen, unsre Gebieterinnen, haben überall die ersten Ansprüche auf unsern Beistand, unsere Aufmerksamkeit und Sorge.“36 Diese Aufmerksamkeit galt in besonderem Maße auch der dem weiblichen Geschlecht zugeschriebenen Ängstlichkeit vor dem Bad in der See. Als dem „schwachen Geschlecht“ stand es der Frau zu, sich dem großen Element mit Vorsicht zu nähern, und es war die Aufgabe des Arztes, diese Furcht anerkennend, die Frauen zu einem „natürlichen“ Umgang mit dem Wasser zu bewegen. In Doberan geschah das unter anderem dadurch, dass man die dort existierenden Badewagen mit den Namen von „ausgezeichneten Damen dekorirt, welche mit vorzüglichem Nutzen und Wohlgefallen darin gebadet haben“.37 Mit der großen Scheu vieler Frauen vor dem gänzlichen Eintauchen des Körpers wurde aber auch auf die Rolle der Frau als „schöne Begleiterin“ des Mannes verwiesen. Während dieser sich bedingungslos dem Meer entgegenstellte, hinderte die Frauen ihr unvernünftiges Festhalten an Putz und Tand an einer wirksamen Badekur. Die „Furcht, die Frisur für den folgenden Tag“38 beim Untertauchen zu 34 Heinrich Laube, Reise durch das Biedermeier. Neu herausgegeben von Franz Heinrich Korber, Frankfurt 1968, S. 372. Tubus, lat. Rohr, Röhre, war ein zeitgenössischer Begriff für ein Fernrohr. 35 Knaak, Ostseebäder, S. 28. 36 Samuel Gottlieb Vogel, Kleine Schriften zur populären Medicin. Nebst einer kurzen Geschichte der Badezeit am Seebade zu Doberan im Sommer 1816 und einigen Beobachtungen, welche den Nutzen des Seebades in mannichfaltigen Krankheiten bestätigen, Berlin 1817, S. 42. 37 Ebd., S. 42. 38 Johannes Christoph Schmige, Das Seebad Heringsdorf. Kurze Anleitung zum zweckmässigen Gebrauch des Seebades für Kurgäste, Berlin 1852, S. 90.

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zerstören, war ein Zeichen dieses Fehlverhaltens, das doch gleichzeitig die Stellung der Frau in der Badegesellschaft garantierte. Eine ungleich lebhaftere Diskussion entzündet sich am ärztlichen Diktum des Nacktbadens.39 Durften Frauen Kleider tragen während des Bades? Und, wenn ja, welche? Letztlich ging es um die Durchsetzung des Diktums der „Natürlichkeit“, an dem sich der rechte Gebrauch des Seebades spiegelte. Dr. Richard Kind aus Swinemünde widmete eine längere Passage in seiner Badeschrift der Frage nach der Badekleidung. Als Arzt hob er den medizinischen Aspekt hervor: „Im Wasser sind alle ohne Ausnahme ganz entkleidet, denn in Kleidern baden, ist durchaus schädlich, vermindert die Wirkung des Wellenschlages und hebt sie fast ganz auf.“40 Es musste ihm aber auch daran gelegen sein, das Schamgefühl der nackt Badenden zu respektieren und trotzdem das Seebad als Raum zu konstruieren, in dem der empfundene Verstoß gegen die moralische Ordnung seine Berechtigung hatte. Kind versuchte das, indem er das private Schamempfinden aufzuheben bestrebt war und den Regelverstoß mit dem Verweis auf bereits vollzogene, vorbildhafte Überschreitungen legitimierte. Diese wurden zugleich mit dem quasi privaten Badevorgang als auch mit der gleichgeschlechtlichen Ausführung des Badeaktes moralisch abgesichert. Es sei, so Kind, gewiß kein Verstoß gegen die Sittlichkeit [...] wenn Männer von Männern, Frauen von Frauen beim Baden, wo übrigens Jeder mit sich selbst in den Wellen zu beschäftigt ist, als dass er nach Andern zu schauen Zeit und Lust hätte, Kopf und Schultern zu sehen bekommen. [...] Auch die delicatesten Damen haben dies eingesehen, und auch nicht den geringsten Anstoß dabei gefunden, nachdem sie einige Male andere Damen auf diese Weise baden gesehen und selbst gebadet hatten.41

Die von Kind angesprochene Aufhebung des Schamgefühls durch das geschlechtshomogene Baden erwies sich jedoch als zweifelhafter Wunsch. Wie weit die Körperlichkeit und Körpernähe außerhalb des privaten Raumes auch innerhalb einer 39 Bereits bei Vogel findet sich die Aufforderung, jegliche Kleidung zu meiden, was von den meisten Ärzten übernommen wurde. Allerdings passte man sich verstärkt den Wünschen des Publikums an und erlaubte einzelne Kleidungsstücke. Umstritten war vor allem die Kopfbedeckung, zu der Dr. Johannes Christoph Schmige aus Heringsdorf 1852 bemerkte: „Zum Schutz der Haare sind Hauben von dünnem Wachstaffet im Gebrauch, doch ist deren Anwendung nur dann zu gestatten, wenn die Damen wirklich untertauchen, oder sich wenigstens begiessen lassen.“ Schmige, Heringsdorf, S. 91. 40 Richard Kind, Mittheilungen über das Seebad zu Swinemünde, (Wochenschrift für die gesammte Heilkunde, Nr. 52), Berlin 1833, S. 57. 41 Ebd., S. 58–59.

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geschlechtshomogenen Gruppe schambehaftet war, zeigt ein Beispiel aus Warnemünde. Dort riet das Gewett42 1835 zur Anlage eines zweiten in das Wasser führenden Steges beim Damenbad, da der erste nicht mehr ausreichte. Man hatte hier nämlich beobachtet, dass „beim Damen-Bade die Damen aus Schamgefühl in größerer Zahl zugleich den Steg nicht benutzen, sondern [...] abwarten, bis der Steg frei ist“.43 Auf der anderen Seite besaß die Möglichkeit, angeschaut zu werden, auch lustvolle Aspekte.44 Vergegenwärtigt man sich den Druck, den eigenen Körper vollständig zu privatisieren und hier im Seebad diese Vorgabe abstreifen zu können, musste das Gefühl, den eigenen Körper befreien zu können, und seien es nur die offenen Haare, einen ungeheuer dramatischen Vorgang in der Selbstwahrnehmung repräsentieren.45 So berichtete Fanny Mendelssohn Bartholdy (1805–1847) in einem Brief an ihren Mann vom Verhalten einer mitgereisten Freundin: Wie kannibalisch M. des Morgens nach dem Bade aussieht, das steht in keiner Weltgeschichte. Wie ein Menschenfresser. [...] Die zweite Gnade aber, die ich mir ausbat, ist mir nicht zuteil geworden, nämlich, dass sie ihr Haar aufbinden sollte, [nun läuft sie herum wie ein] zottiger Pudel oder ein ungekämmter Kannibale [...] bis Mittag. Dazu schwarze Strümpfe und ein roter Unterrock, der bei graziösen Bewegungen zum Vorschein kommt.46

Neben diesen visuellen Reizen dürfte auch die von spitzen Schreien der Damen begleitete Badeprozedur den erotischen Reiz des Ortes deutlich erhöht haben. Bereits die Annäherung an das kalte Nass geriet zur auditiven Raumergreifung. Anschaulich wie dem Phänomen bereits ironisch rückblickend zugewandt, beschrieb Elizabeth von Arnim (1866–1941), britisch-deutsche Schriftstellerin, den sich als Stereotyp verdichteten Prozess weiblichen Badeverhaltens zwischen Rollenbild und physischem Schrecken in ihrem Roman „Elizabeth auf Rügen“ (1904): 42 Das Gewett, abgeleitet vom niederdeutschen Wedde, d.h. Strafe oder Strafbestimmung, unterstand dem Rostocker Rat und war für die niedere Gerichtsbarkeit, Polizei und Verwaltung in Warnemünde zuständig. 43 Badeanstalt Warnemünde, Rat Warnemünde, Bd. 1, Schreiben an den Rostocker Rat vom 9.12.1835, StA Rostock, Sign. 1.1.3.23. 44 Vgl. dazu Corbin, Meereslust, S. 106–107. 45 Vgl. zum gewandelten Bild des Körperempfindens am Strand Eva Kreitlhuber, Körper am Strand oder: Es ist voll im Paradies, in: Christoph Hennig/Tobias Gohlis/Dieter Richter (Hg.), Voyage – Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung, Bd. 6, Köln 2003, S. 64–77, hier S. 66–67. 46 Sebastian Hensel (Hg.), Die Familie Mendelssohn. 1729–1847. Nach Briefen und Tagebüchern, Frankfurt am Main/Leipzig 1995, Brief vom 6.7.1839, S. 508–509.

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Während ich das tat, hörte ich, wie sie [die Dame im Nachbarbadekabinett, H.C.B.] ihre Kabine verließ und die Badefrau ängstlich fragte, ob das Meer kalt sei. Dann streckte sie anscheinend einen Fuß hinein, denn ich hörte sie aufschreien. Dann beugte sie sich wohl hinab, schöpfte mit der Hand Wasser und bespritzte sich damit das Gesicht, denn ich hörte sie nach Luft ringen. Dann versuchte sie es mit dem anderen Fuß und schrie wiederum auf. Die Badefrau fürchtete, daß sie um fünf Uhr immer noch im Dienst sein müsse, und redete mit honigsüßen Worten auf sie ein. […] Nach einem längeren Palaver wirkte die Überredung der Badefrau, und mit einem wilden Aufschrei stürzte sich die Unbekannte in die Flut, die sofort über ihr zusammenschlug. Als sie wieder auftauchte und zu Atem gekommen war, packte sie das Seil und schrie ohne Unterbrechung mindestens eine Minute lang. ,Es muß furchtbar kalt sein‘, sagte ich zu Gertrud, nicht ohne geheimes Schaudern. Als ich über die Bretter rannte und unter mir die Unglückliche sich festhielt und schrie, sah sie zu meinem Erstaunen mit nassem, aber strahlenden Gesicht zu mir auf, unterbrach ihr Gekreisch und stieß hervor: ,Prachtvoll!‘47

Gesteigert wurde dieses besondere Körperempfinden schließlich noch durch die Tatsache, dass der Vorgang des Badens nur eine sehr kurze Zeit in Anspruch nahm. Die Kodifizierung des Badeablaufs, also die festgelegte Anzahl von Tauchvorgängen oder die minutengenaue Abrechnung der Badezeit und das Gebot von maximal zwei Badeeinheiten pro Tag, verdichteten noch einmal die Intensität des Badens. Aus dem gesellschaftlichen Druck auf die Frauen, sich im bürgerlichen Haushalt einzurichten und aus moralischen Gründen etwa auf die in Mode gekommenen Flussbäder zu verzichten,48 wurde so auf ärztliche Anweisung für eine begrenzte Zeit „eine unerwartete Freiheit, ein Zugang zu außergewöhnlichen Vergnügungen“.49 Seine deutlichste Verkörperung fand der private Zugang im öffentlichen Baderaum aber wohl in dem Gebrauch des Badekarrens. Auch in Doberan setzte man, nachdem sich das zunächst eingesetzte Badeschiff nicht bewährte, ab 1803 auf die aus England bekannten Karren, die ins Meer gezogen wurden oder an festen Ste-

47 Elizabeth von Arnim, Elizabeth auf Rügen. Ein Reiseroman, Frankfurt am Main 1995 (Original: The Adventures of Elizabeth of Rügen, London 1904), S. 71. 48 „Badebekleidung war vor 1800 weitgehend unbekannt. Frauen und Mädchen der ,gesitteten Stände’ waren vom Flußbad ganz ausgeschlossen. Zudem galt das Baden in den unregulierten Flüssen zu Recht als lebensgefährlich.“ Frey, Der reinliche Bürger, S. 219. In Berlin gefährdeten, so die Meinung des Polizeipräsidenten, die „offenen Flußbadeanstalten, mehr noch aber die vielerorts noch ungeniert nackt Badenden die Moral der ,sittsamen Bürger’“. Thiel, Urbane Räume, S. 56. 49 Corbin, Meereslust, S. 107.

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Abbildung 3: Badekarren blieben v.a. in kleineren Seebädern lange im Einsatz, hier 1911 im Ostseebad Nienhagen bei Rostock. Postkarte (Ausschnitt) aus der Sammlung des Autors.

gen verankert waren.50 Obwohl nicht in allen Bädern eingesetzt, galten die Badekarren als typisches Kennzeichen der Seebäder und fanden bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein Verwendung. Hier wurde der Badegast in einem „mobilen Badezimmer“ in das Meer gefahren und konnte sich dabei vollständiger Intimität gewiss sein. Sowohl das Entkleiden als auch das Bad unter der heruntergezogenen Markise und das anschließende Ankleiden verliefen in völliger Einsamkeit. Ähnlich dem einsamen Spaziergang in der als romantisch empfundenen Natur wurde auch hier der eigene Körper als von der Natur abgeschieden erlebt. In besonderer Weise zielte auch dieser Rückzugsakt auf die Rolle der Frau. Der Rügenwalder Badearzt Dr. Georg Büttner bemerkte in diesem Zusammenhang: „Ein dergleicher Badekarren ist besonders für Damen sehr gut, die doch gern so unbemerkt wie möglich baden wollen“.51 Der städtische, bürgerliche Habitus von Reinlichkeit, Hygiene und Sittlichkeit wurde so gleichsam an das Meer verpflanzt, womit immer wieder auch der Distinktionscharakter der Seebadekur unterstrichen wurde. Stigmatisiert wurde dagegen das gemeinsame, lustbetonte Herumspringen im Wasser als Zeichen eines infantilen Verhaltens. Dementsprechend wurde lediglich 50 Vgl. dazu auch Prignitz, Badekarren, S. 85–99. 51 Georg Büttner, Etwas über die Anlage einer Seebade-Anstalt auf der Rügenwalder Münde, in: Christoph Wilhelm Hufeland (Hg.), Journal der practischen Heilkunde, Bd. 40, 4. St., Berlin 1815, S. 119–125, hier S. 122.

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Kindern dieses Spiel zugestanden. Diese gehörten wiederum, bis zu einem Alter von vier bis sechs Jahren, in den geschützten Bereich der Frauen. Ältere Jungen durften danach nur noch im Männerbereich baden.52 Aber nicht nur während des Badens spiegelte die Frage nach der Verfügbarkeit über den gewohnten Habitus das Verhältnis von Arzt und weiblichen Patienten im Seebad wider. An der See hatte die Vernunft in Form praktischer, warmer Kleidung zu herrschen. Dagegen, so Christoph Wilhelm Hufeland53 (1762–1836), trügen viele Damen „unbegreiflich dünne Kleidung, und [einen] an den Stand der Unschuld erinnernden Anzug, dem aber leider die Umgebung des Paradieses fehlt“.54 Auch Prof. Samuel Gottlieb Vogel kritisierte die herrschende antikisierende Mode als „im warmen Griechenland eigentlich einheimische, für unser Clima durchaus unschickliche, Nymphen und Najadentracht“, die im Sinne der Gesundheit „gänzlich abgeschafft“ gehöre. Vogel ging über eine bloße Kritik an der weibischen Putzsucht hinaus und forderte energisch eine verbindliche, egalitäre Bekleidung für den Aufenthalt im Seebad. Diese sollte es ermöglichen, den sozialen Druck zu mindern und als therapeutisches Gebot den Spaziergang auch für alle Damen verpflichtend einzuführen, der bisher „Leider! [...] bey den Damen durch die Toilette oft verhindert [wird] aus Besorgniß, dass der Putz aus der schönen Lage und Fassung verrückt, oder sonst einer Gefahr ausgesetzt werde“.55 Dass die Ärzte mit diesen Forderungen dauerhaft wenig Erfolg hatten, zeigten später die Bilder der promenierenden Besucher vor allem in den großen Bädern. Ein überbordendes Repräsentationsbedürfnis dürfte Vogel und seinen Kollegen ein Gräuel gewesen sein und unterlief ihr Ziel, aus der Küste einen Heilraum zu konstruieren, dauerhaft. In einer Zeit, in der die „Persönlichkeit als Produkt der äußeren Erscheinung“56 hervortrat, musste Vogels Ansinnen ein frommer Wunsch bleiben. In gleicher Art, wie die dem weiblichen Körper zugeschriebenen Eigenschaften sich in den der Kurpraxis angemessenen Verhaltensweisen spiegelten, gilt dies auch für die Konstruktion des männlichen Körpers und die daraus resultierenden Ansprüche an die Verhaltenspraxis im Seebad. Vorherrschendes Motiv dieser 52 Vgl. Kind, Swinemünde, S. 117. 53 Christoph Wilhelm Hufeland, in Göttingen u.a. Schüler Georg Christoph Lichtenbergs, angesehener und einflussreicher Arzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, war ab 1801 Leibarzt der preußischen Königsfamilie und vor allem als Herausgeber des ab 1795 erscheinenden „Journal der practischen Arzneykunst“ prominenter Förderer der Seebäder. 54 Christoph Wilhelm Hufeland, Praktische Übersicht der vorzüglichsten Heilquellen Deutschlands nach eigenen Erfahrungen, 2. Auflage, Berlin 1820, S. 242. 55 Samuel Gottlieb Vogel, Handbuch zur richtigen Kenntniß und Benutzung der Seebadeanstalt zu Doberan, Stendal 1819, S. 51. 56 Sennett, Verfall, S. 273.

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Konstruktion war der sich mutig ins Meer stürzende Held. Ganz im Gegensatz zur weiblichen Rolle sollte hier die soziale Funktion des Mannes als aktiver Beschützer und als dem Element Wasser tapfer entgegentretendes Subjekt verdeutlicht werden. So war es selbstverständlich, dass ein Schwimmlehrer, mit dessen Künsten man das nasse Element erst bezwingen konnte, nur „für das männliche Geschlecht“57 eingestellt wurde. Dem weiblichen Wunsch nach Komfort und Schutz stand das bürgerlich-männliche Ideal einer spartanischen Körperabhärtung gegenüber.58 Sich gegen die Wellen zu stemmen und keine Angst zu zeigen, zudem möglichst auf Bequemlichkeiten zu verzichten, gehörte wenigstens für die ersten Jahrzehnte zum festen Repertoire männlicher Badepraxis. In welchem Umfang dieser Anforderung auch wirklich Genüge getan wurde, lässt sich nur vermuten. Wie überall wird auch hier neben dem Ideal viel Platz für dessen Relativierung gewesen sein. Während das als selbstverständlich empfundene männliche Verhalten in den ärztlichen Schriften so auch kaum Erwähnung fand, gab es in einigen anderen zeitgenössischen Texten Hinweise auf die Reflexion dieser Normen. 1804 erschien Hans Heinrich Ludwig von Helds (1764–1842) Schrift „Über das Meerbad bei Colberg und die beste und wohlfeilste Art sich desselben mit Nutzen zu bedienen“. Held stilisierte das zu diesem Zeitpunkt sehr schlichte Seebad zum Heilmittel für den geschundenen Körper und die von der modernen Zivilisation verdorbene Seele. Dabei sei es die Urgewalt des Ozeans, die aus dieser menschlichen Schwäche mit Hilfe von spartanischen Tugenden aus dem Kranken wieder einen gesunden Menschen forme. Entsprechend emphatisch lesen sich Helds Schilderungen wie die Bekenntnisse eines Konvertiten.59 Sie zeigen zudem, dass und wie vor allem junge Männer die Begegnung mit dem Element als Kampf und innere Läuterung 57 Paul Friedrich Lieboldt, Travemünde und die Seebade-Anstalt daselbst topographisch und geschichtlich dargestellt, Lübeck 1841, S. 351. 58 Mit der Betonung eines rationalen Körperbildes dominierte im 19. Jahrhundert noch länger das Ideal des funktionierenden Körpers, der sich gegen Weichlichkeit und Schwäche wandte. „Luxus und Bohemientum bleibt im Bürgertum bis 1848 noch durchaus verpönt, Selbstdiziplinierung ist angesagt.“ Wolfgang Kaschuba, „Deutsche Sauberkeit“ – Zivilisierung der Körper und Köpfe. Nachwort, in: Georges Vigarello, Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter, Frankfurt am Main/New York 1992, S. 292–326, hier S. 321. 59 Der Mediziner Dr. Sachse aus Doberan führte Held in seiner umfangreichen Literatursammlung mit der Bemerkung auf: „Am eigenen Körper erprobt. Grosses Lob, voll der grössten Übertreibungen.“ Johann David Wilhelm Sachse, Über die Wirkung und den Gebrauch der Bäder, besonders der Seebäder zu Doberan. Medicinische Beobachtungen und Bemerkungen, Bd. 1, Über Bäder, besonders in Beziehung auf die Seebäder in Doberan, Berlin 1835, S. 51.

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interpretierten. In diesem Sinne konnte das Bad nur mit furiosem Einsatz gelingen. Held schrieb: Ich „stürzte [...] mich in das Meer und seine Wellen rissen mir bald den Ärger aus Kopf und Brust“.60 Held, der sich ganz im Rausch eines neuen Körperempfindens befand, stellte nicht nur das Bad als Akt der Entsagung vor. Für ihn musste die gesamte Umgebung „natürlich“, das heißt jenseits konventioneller Gesellschaftsräume sein: Gröblich irren, schmerzlich täuschen würde sich der Badegast, der nach Colberg käme, voll des Projects, sich hier im gewöhnlichen Sinne der Badeörter zu divertiren. Nichts, was nur auf das Entfernteste dem ähnlich wäre, ist hier anzutreffen. Der Ankömmling muss sich mit der rohen Natur begnügen, sich mit sich und seinen mitgebrachten Büchern unterhalten, übrigens aber nichts anderes wollen und treiben als Baden. Diese Idee muss einzig seinen Aufenthalt in Colberg beherrschen, dies muss Hauptbeschäftigung und alles andere dagegen Nebensache seyn.61

Held schwärmte von der Züchtigung des Leibes, der „Stählung des Körpers“ und der „Abhärtung gegen Witterung“62. Zum Höhepunkt seines Seeaufenthaltes geriet so ein Bad im Angesicht von Kälte, Nacht und Sturm: Ich bin im Jahr 1802 zum letztenmale am 13. November des Abends in der Dunkelheit und während eines strengen stürmischen Nordwindes im Meere gewesen, wo ich um mich her nichts sehen konnte, als die langen, weißen Linien der schäumenden krausen Wellen, die mit einem chaotisch gemischten Tone von Geheul und Gebrüll gegen mich anrollten, und es ist mir wohl bekommen.63

Held, der von den künftigen Badegästen bis zu 120 Bäder pro Kur forderte, verlangte auch von den Frauen die Benutzung des Seebades, aus dem erst die „wahre“, die „natürliche“ Frau, abseits gesellschaftlicher Modeerscheinungen, entstehen könne. Und auch für den Nachwuchs sei das Seebad die Quelle für ein gesundes, langes Leben: Glauben können sie [die Frauen, H.C.B.] indeß ganz sicher, dass, wenn das Meerbad irgend menschlichen Wesen heilsam ist, dies vor allen Anderen mit ihnen der Fall ist. Es befestigt das System der Muskeln, erhält den Busen straff, und befördert leich60 Hans Heinrich Ludwig von Held, Über das Meerbad bei Colberg und die beste und wohlfeilste Art sich desselben mit Nutzen zu bedienen, Berlin 1804, S. 53. 61 Ebd., S. 54. 62 Ebd., S. 17. 63 Ebd., S. 17.

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te Geburten. Kinder, in das Meer getaucht, müssen sich nothwendig froh und glücklich entwickeln.64

Helds Konzept spiegelte zweifellos ideale, von männlichen Tugenden der Kraft und Stärke geprägte bürgerliche Körperkonzeptionen des 19. Jahrhunderts. In dieser rigorosen Form einer Inszenierung des männlichen Körpers fand das Badeerlebnis aber keine Verbreitung. Zum Kampf mit den Wellen gehörte auch das Spiel mit den Wellen. Was sich später im Bau von Strandburgen auch und gerade durch Männer deutlich zeigte, nahm hier seinen Anfang.65 Im Seebad war inmitten stark besetzter Körperbilder von Beginn an aber auch die Möglichkeit gegeben, einer begrenzten Regression ins Kindliche Platz einzuräumen. Neben dem Kampf war das Bad auch Spiel. So berichtete der gefeierte Berliner Schauspieler Ludwig Devrient (1784–1832) seiner Frau von einem Badeerlebnis in Heringsdorf: Ich komme eben aus der See, die heut ganz prächtig bewegt ist. [...] Das war nun eine Herrlichkeit in der See, die ankommenden Wellen zu erwarten, sie mit einer Art von Bangen gegen sich anwachsen zu sehen, und wenn sie sich brechen und überstürzen beim Herankommen, ordentlich davon hinweggehoben zu werden. Das ist ein so lustiges, halb ängstliches und doch so ermutigendes Spiel, dass man sich mit großer Überwindung der Verordnung fügt, das Bad abzukürzen.66

Auch der junge Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) schrieb seiner Schwester Fanny begeistert von der Ostsee. Denn trotz des bitter schmeckenden Salzwassers „ist’s doch ein göttliches Gefühl darin zu baden, u. sowohl gegen die Wellen, als mit den Wellen zu schwimmen“.67 Und dieses berauschende Gefühl schien, folgt man Elizabeth von Arnim, besonders in der deutschen Badegesellschaft eine ungeahnte körperliche Annäherung ermöglicht zu haben: deutsche Touristen neigen dazu, im Wasser zutraulich zu werden. An Land, in einengende Korsetts geschnürt, gekleidet, mit trocknem und gelocktem Haar, müssen sie sich in den Grenzen der Konvention halten; je mehr Kleider sie jedoch ablegen, desto mehr scheinen sie zu glauben, die letzten Barrieren müßten fallen, und sie 64 Ebd., S. 90. 65 Vgl. dazu Kreitlhuber, Körper, S. 74–75. Zum Phänomen Strandburgbau auch Harald Kimpel, Die Strandburg: Ein versandetes Vergnügen, Marburg 1995. 66 Hans Devrient (Hg.), Briefwechsel zwischen Eduard und Therese Devrient, Stuttgart 1909, Brief vom 19.7.1834, S. 17–18. 67 Eva Weissweiler (Hg.), Fanny und Felix Mendelssohn. „Die Musik will gar nicht rutschen ohne Dich“. Briefwechsel 1821 bis 1846, Berlin 1997, Brief vom 27.7.1824, S. 25.

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benehmen sich im gemeinsamen Element Wasser, als ob sie einander seit Jahren übermäßig schätzten. Ich war überzeugt, daß es mir unmöglich sein würde, den Annäherungsversuchen der anderen Badewilligen zu entkommen.68

So standen die Versuche, den schambehafteten eigenen Körper auch im Seebad zu schützen und zu bewahren, neben einer neuen Verhaltenspraxis, die diesen „peripheren Raum, im geografischen wie im gesellschaftlichen Sinne“,69 als Versuchsraum markierte. Dass unkonventionelles Verhalten, vor allem aber nicht nur in Bezug auf freiere Körperlichkeit, am Strand möglich war, ist evident. Inwieweit dieses auf der Definition des Badestrandes als medizinischer Heilungsraum70 beruhende Verhalten sich auch in die städtischen Verhaltenskodizes der Badebesucher zurückspiegelte und damit der Küstenraum als Labor körperlicher Entlastungserfahrungen im 19. Jahrhundert dienen konnte, gilt es in weiteren Untersuchungen herauszufinden.

68 Arnim, Rügen, S. 71. 69 Kolbe, Strandurlaub, S. 189. 70 Vgl. Bresgott, Ostseeküste, S. 141–145.

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DIE FRIEDLICHE EROBERUNG DER OZEANE MEERESFORSCHUNG IN DER DDR-ZEITSCHRIFT „URANIA“

EINLEITUNG Zu den Museen mit den höchsten Besucherzahlen der DDR zählte das Meeresmuseum in Stralsund. In den 1980er Jahren bildeten sich in der Urlaubszeit Schlangen vor dem 1956 gegründeten Museum, um hineingelassen zu werden.2 Besucherinnen und Besucher erwartete dort eine umfangreiche Ausstellung zu allen Aspekten des Meeres, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Meeresbiologie und Fischerei. Teil des Museums war ein Aquarium mit Meerestieren aus aller Welt.3 Offensichtlich gab es unter Urlaubern an der Ostseeküste also ein reges und konstantes Interesse an den Meeren der Welt, vielleicht verstärkt durch die eigene Erfahrung des Meeres am Strand oder durch ein gewisses, urlaubstypisches Fernweh und die Assoziation des Meeres mit exotischen Häfen und romantischen Abenteuern, bzw. einem entsprechenden Gefühl der Freiheit und Grenzenlosigkeit, das im Kontrast stand zu den Beschränkungen der Reisefreiheit aller DDR-Bürger. Ob letzteres bei Besuchern eine Rolle spielte oder nicht – man kann davon ausgehen, dass sie spätestens auf dem Nachhauseweg über das, was sie in der Ausstellung erlebt hatten, gesprochen haben werden und sich damit über „das Meer“ und „Meeresforschung“ ausgetauscht haben werden. Damit bildete das Museum eines 1 2 3

Mein Dank gilt dem Informationszentrum des Hauses der Geschichte Bonn, den Teilnehmern des Workshops zur Wahrnehmung des Meeres an der Universität Bremen im Februar 2017 sowie dem Deutschen Schifffahrtsmuseum, Leibniz-Institut für Maritime Geschichte. Sonnfried Streicher/Harald Benke (Hg.), Sieben Weltmeere hinter Klostermauern. 50 Jahre Meeresmuseum im 750 Jahre alten Katharinenkloster, Stralsund 2001, S. 20. Siehe hierzu: Das Meeresmuseum Stralsund. Entwicklung, Aufgaben, Arbeitsergebnisse (Meer und Museum 1), Stralsund 1980.

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der Foren, über das Vorstellungen vom Meer und seiner wissenschaftlichen Erschließung in der Öffentlichkeit der DDR geprägt wurden. Die Wichtigkeit solcher Zentren des Wissensaustauschs ist von der jüngeren Wissensgeschichte hervorgehoben worden – für die DDR steht eine systematische Aufarbeitung entsprechender Orte jedoch noch am Anfang, die bisherige Forschung hat sich vor allem auf die Geschichte wissenschaftlicher Institutionen, Fachgebiete und Biografien konzentriert.4 Auch in der Umweltgeschichte der DDR lag der bisherige Fokus weniger auf „Grassroots“-Bewegungen, und mehr auf den Direktiven staatlicher Instanzen, auch wenn hier bereits thematisiert wurde, wie DDR-Bürger Umweltgesetze für Protestaktionen gegen die Obrigkeit nutzten.5 An diesen Punkten möchte die folgende Studie ansetzen, indem sie der Frage nachgeht, welches Bild der Meeresforschung sich Leserinnen und Leser der ostdeutschen Zeitschrift „Urania“ in den 1960er Jahren machen konnten. Leitende Fragen sind dabei, wie prominent meereskundliche Themen im Vergleich zu anderen Fachbereichen präsentiert wurden, ob (und wenn ja welche) Themen in der Berichterstattung betont wurden, wie die Rolle einzelner Akteure – insbesondere ostdeutscher Wissenschaftler – und ihrer institutionellen sowie internationalen Einbindung bei der wissenschaftlichen Erschließung des Meeresraums thematisiert wurde, ob dabei das Verhältnis von Grundlagenforschung und angewandter Forschung problematisiert wurde, und welche historischen Pfadabhängigkeiten aufgezeigt wurden, also welche Ereignisse aus der Geschichte der Meeresforschung betont wurden. Eine zu prüfende Arbeitshypothese ist zudem, dass im Ostblock – und damit auch in der „Urania“ – nach der erfolgreichen Mondlandung der Amerikaner im Juli 1969 kompensatorisch der Fokus verstärkt auf die Erschließung 4

5

Zur Wissenszirkulation und dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit siehe: James Secord, Knowledge in Transit, in: ISIS 95 (2004), S. 654–672; Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander, Frankfurt/New York, 2007. Zur Geschichte der Wissenschaften in der DDR siehe: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der DDR, Berlin 1997; Raymond G. Stokes, Constructing Socialism. Technology and Change in East Germany 1945–1990, Baltimore/London 2000; Clemens Burrichter/Gerald Diesener (Hg.), Auf dem Weg zur „Produktivkraft Wissenschaft“, Beiträge zur DDR-Wissenschaftsgeschichte Reihe B, Bd. 1, Leipzig 2002; Jens Niederhut, Wissenschaftsaustausch im Kalten Krieg. Die ostdeutschen Naturwissenschaftler und der Westen, Köln/Weimar/Wien 2007. Zur Umweltgeschichte der DDR und ihrer Einordnung siehe zum Beispiel: Julia Obertreis, Von der Naturbeherrschung zum Ökozid? Aktuelle Fragen einer Umweltzeitgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 115– 122; Tobias Huff, Über die Umweltpolitik der DDR. Konzepte, Strukturen, Versagen, in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 523–554; Frank Uekötter, Deutschland in Grün. Eine zwiespältige Erfolgsgeschichte, Göttingen 2015, S. 177–190.

Die friedliche Eroberung der Ozeane

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des „inner space“, also auf die Tiefsee gerichtet wurde und dabei der Schutz dieser Region zum neuen Konkurrenzthema stilisiert wurde.6 Die Zeitschrift „Urania“ eignet sich aus mehreren Gründen als Fallbeispiel, anhand dessen diesen Fragen nachgegangen werden kann. Erstens wurde in der Zeitschrift sowohl über wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Themen berichtet, häufig auch über die gesellschaftliche Verankerung der Wissenschaften bzw. die Verflechtung von Wissenschaft und Gesellschaft. In den ersten Jahrzehnten der DDR trug die Zeitschrift deshalb auch als vollen Titel „Urania – Zeitschrift über Natur und Gesellschaft“. Zweitens war die Zeitschrift „Urania“ Teil eines größeren Konglomerats: Sie wurde vom Urania-Verlag herausgegeben, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Tradition des gleichnamigen, in den 1920ern in Jena gegründeten, aber 1933 geschlossenen Verlags wiedergegründet wurde.7 Der Urania-Verlag gab im Laufe der Geschichte der DDR mehrere Zeitschriften sowie Filme und Bücher heraus. Zu letzteren gehörten die Jahrbücher „Urania-Universum“, die der Zeitschrift sehr ähnlich waren. Ab 1957 übernahm die Berliner Urania-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse gemeinsam mit dem seit 1947 der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nahestehenden Schriftsteller- und Künstlerverband „Kulturbund“ die Herausgabe der Zeitschrift „Urania“. Juristisch gesehen blieben dabei Gesellschaft und Zeitschrift zwar weiter getrennt, eine enge Verzahnung war jedoch die Folge. Da außerdem der Kulturbund direkt dem Ministerium für Kultur unterstand, kann man – drittens – auch davon ausgehen, dass die Berichterstattung der Zeitschrift danach sozusagen auf Linie lag, auch wenn es „einige Jahre [dauerte], bis die Zusammenarbeit in der gewünschten Weise funktionierte“.8 Gleichzeitig zeichnete sich die Zeitschrift dadurch aus, dass aktive Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darin Beiträge veröffentlichten. Das Beispiel der Meeresforschung wiederum eignet sich aus mehreren Gründen dazu, mehr über die Zirkulation wissenschaftlichen Wissens in der DDR zu erfahren. Erstens spielten Wissenschaft und Technik im Zeitalter der Systemkon6

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Zum Begriff des „inner space“ siehe zum Beispiel: Don Walsh, The Exploration of Inner Space, in: Fred S. Singer (Hg.), The Ocean in Human Affairs, New York 1990, S. 187–214; Jens Ruppenthal, Raubbau und Meerestechnik. Die Rede von der Unerschöpflichkeit der Meere (HMRG Beihefte 100), S. 173–181. Nicht nachgegangen werden kann im Rahmen dieses Beitrags der Frage, welche Entwicklungen zeitgleich in Zeitschriften West-Deutschlands zu beobachten waren. Zur Geschichte der Zeitschrift Urania siehe: Thomas Schmidt-Lux, Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess, Würzburg 2008, S. 241– 243. Ebd., S. 242.

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kurrenz eine zentrale Rolle, sowohl im Hinblick auf das militärische Wettrüsten, als auch in der „Werbung“ für die jeweiligen ideologischen Konzepte der beiden Blöcke.9 Anders formuliert, eine bereits seit dem 19. Jahrhundert zu konstatierende „Verwissenschaftlichung“ aller Gesellschaftsbereiche erreichte im Kalten Krieg einen vorläufigen Höhepunkt, indem sich Entscheidungsträger überwiegend auf wissenschaftliches Wissen beriefen. Die wissenschaftliche Erschließung des Meeresraums ist dabei – zweitens – besonders interessant, weil sie einerseits zur explorativen Grundlagenforschung gezählt werden kann, und andererseits beinahe zwangsläufig nahe an der Anwendung ist. Genauer gesagt ist Wissen über die Meere immer auch im Hinblick auf die Erschließung von Ressourcen (z.B. Fisch) und deren Transport (Handelsschifffahrt), sowie militärstrategische Erwägungen relevant. Diese Aspekte traten im Kalten Krieg deutlich hervor.10 Dabei wurde auch ein dritter Punkt relevant: Allein durch ihren schwer einzugrenzenden Forschungsgegenstand, also das fluide Meer, ist die Meeresforschung zwangsläufig international ausgerichtet. Am Umgang mit dem Meer spiegelten sich deshalb auch im Zeitalter des Kalten Kriegs internationale Verhältnisse und Konfliktlösungsstrategien, wobei die Ergebnisse der Meeresforschung mit einflossen.11 Viertens regt insbesondere die Tiefsee mit ihrer Unzugänglichkeit die menschliche Fantasie an, gespiegelt in Mythen und Sagen sowie romantischen Vorstellungen über die Seefahrt mit all ihren Gefahren. Der Zeitraum der Studie, die 1960er Jahre bzw. genauer die Jahre von 1957 bis 1973, wurde vor allem deshalb gewählt, weil er zwei der für die öffentliche Diskussion der Wissenschaften und Technik im Kalten Krieg wichtigsten Ereignisse umfasst: Zum einen den Start des ersten Satelliten, Sputnik I, 1957 durch sowjetische Wissenschaftler im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahrs; zum anderen die Mondlandung der Amerikaner im Jahr 1969.

WISSENSCHAFT UND MEERESFORSCHUNG IN DER DDR Beide Ereignisse waren sowohl Symptome als auch Katalysatoren gesellschaftlicher, insbesondere forschungs- und bildungspolitischer Entwicklungen.12 Die deutlichs9

Siehe hierzu zum Beispiel: Jon Agar, Science in the Twentieth Century and Beyond, Cambridge/Malden 2012; Matthias Heymann, Perspectives on Cold War Science in Small European States, in: Centaurus 55 (2013) 3, S. 221–242. 10 Siehe hierzu zum Beispiel: Jacob Darwin Hamblin, Oceanographers and the Cold War, Seattle 2005. 11 Vgl. hierzu zum Beispiel den Beitrag von Ole Sparenberg in diesem Band. 12 Siehe hierzu zum Beispiel die Beiträge in: Roger D. Launius/John M. Lodgson/Robert W.

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te Auswirkung des „Sputnik-Schocks“ war der medial zelebrierte „Wettlauf zum Mond“. Gleichzeitig wurde in westlichen Ländern durch Reformen des Bildungssystems und stärkere Betonung mathematisch-naturwissenschaftlich-technischer Fächer versucht, der vermeintlichen Überlegenheit des Ostblocks entgegenzuwirken. Auch in der DDR gab es in dieser Phase tiefgreifende Reformen des Bildungssystems und der Forschungslandschaft – diese waren jedoch weniger eine Reaktion auf die Erfolge des sowjetischen Raumfahrtprogramms, sondern eher der Versuch einer Konsolidierung bereits zuvor eingeleiteter Entwicklungen mit dem Ziel, eine sozialistische Gesellschaft nach den Vorstellungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) herbeizuführen, insbesondere nach der Schließung der Grenze nach Westdeutschland und dem Bau der Berliner Mauer im August 1961.13 So führte der Staatsratsvorsitzende und mächtigste Politiker der DDR, Walter Ulbricht, in den 1960er Jahren ein „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung“ ein, im Zuge dessen die zentrale Planwirtschaft der DDR Elemente eines marktwirtschaftlichen Wettbewerbs erhielt. In der Forschung machte sich dies in einem Ruf nach höherer Anwendungsbezogenheit bemerkbar, die wiederum im Zuge der als „Akademiereform“ bekannt gewordenen utilitaristischen Neuausrichtung der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) und ihrer Umbenennung in Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) zum Ende des Jahrzehnts manifest wurde.14 Diese Änderungen hatten auch auf die Meeresforschung der DDR tiefgreifende Auswirkungen, da ihre prominenteste Institution – das Institut für Meeresforschung (IfM) in Rostock – seit 1957 ein Forschungsinstitut der DAW war.15 In diesem Jahr Smith (Hg.), Reconsidering Sputnik, Amsterdam 2000; Stephen J. Dick/Roger D. Launius (Hg.), Societal Impact of Spaceflight, Washington DC 2007; Klaus Gestwa/Stefan Rohdewald (Hg.), Kooperation trotz Konfrontation. Wissenschaft und Technik im Kalten Krieg, Osteuropa 10, 2009; I. J. Polianski/M. Schwartz (Hg.), Die Spur des Sputnik, Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a.M./New York 2009; Agar, Science. 13 Stokes, Constructing, 2000; John Rodden, Repainting the Little Red Schoolhouse. A History of Eastern German Education 1945–1995, Oxford/New York 2002. 14 Hubert Laitko, Das Reformpaket der sechziger Jahre. Wissenschaftspolitisches Finale der Ulbricht-Ära, in: Hoffmann/Macrakis, Naturwissenschaft, S. 35–58; Peter Nötzoldt, Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Innovation oder Mogelpackung? In: Burrichter/Diesener, Produktivkraft, S. 141–163. 15 Siehe hierzu und im Folgenden zur Geschichte der Meeresforschung in der DDR und der Entwicklung ihrer Institutionen: Hans-Jürgen Brosin, Zur Geschichte der Meeresforschung in der DDR. Meereswissenschaftliche Berichte, Bd. 17. Institut für Ostseeforschung Warnemünde, Warnemünde 1996. Ergänzend kann für einige Aspekte hinzuge-

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war das Institut aus dem Seehydrographischen Dienst der Seestreitkräfte der DDR (SHD) herausgelöst worden und zu einer rein zivilen Forschungseinrichtung deklariert worden, die nur noch Auftragsarbeiten für die Seestreitkräfte ausführen sollte. Dass dies im Jahr des IGJ erfolgte, war kein Zufall: Eine Zugehörigkeit zu einer zivilen Forschungseinrichtung war Voraussetzung für die Teilnahme von ostdeutschen Wissenschaftlern an den internationalen Projekten des IGJ. Dennoch blieb das IfM den Seestreitkräften verbunden. So konstatierte ein leitender Wissenschaftler nach der Wende: „Im Rückblick muß festgestellt werden, daß wiederholt in kritischen Phasen der Institutsentwicklung die Unterstützung seitens der Marine entscheidend für die Weiterführung der langfristig angelegten Arbeiten war.“16 Mindestens genauso wichtig war jedoch eine enge Anbindung an die Fischereiforschung. Nachdem die DDR in den 1950er Jahren eine vergleichsweise große, weltweit konkurrenzfähige Fischereiflotte mit Zentren in Saßnitz und Rostock aufgebaut hatte, war eine Optimierung des Fischfangs und seiner industriellen Verarbeitung für die DDR von volkswirtschaftlicher Bedeutung.17 Folgerichtig wurden die ostdeutschen Fischkombinate im Zuge der Neustrukturierung der Forschungslandschaft auch zu „gesellschaftlichen Auftraggebern“ des IfM, das bereits vorher intensiv zu Meereszirkulationsvorgängen in potentiellen Fanggründen geforscht hatte. Auch mit dem Institut für Fischereiforschung in Rostock-Marienehe war nach 1969 eine engere Verzahnung vorgesehen.18 Die Zeit der Akademiereform deckt sich mit einer Hochzeit der Meeresforschung in der DDR. Auch personell konnte das Institut in den frühen 1970er Jahren expandieren. Bald setzte jedoch eine Stagnation ein. Auch wenn das IfM bis zum Ende der DDR selbständig blieb und etwa einhundert Mitarbeiter beschäftigte, blieb es doch im internationalen Vergleich ein personell gesehen kleines Institut. Sowohl Ursache als auch Symptom der ständigen Limitierung der ostdeutschen Meeresforschung war dabei auch der begrenzte Zugang zu hochseetauglichen Forschungsschiffen – eine Grundvoraussetzung für meereskundliche Forschung.19

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zogen werden: Dietwart Nehring, Auf Forschungsfahrt in der Ostsee und im Ostatlantik. Erinnerungen eines Ozeanografen, Rostock 2002; Wolfgang Matthäus, Friedrich Möckel (1919–1993). Pionier der Meeresforschungstechnik in der DDR, in: Historisch-Meereskundliches Jahrbuch 21 (2016), S. 17–52. Alle drei Autoren waren selbst in der ostdeutschen Meeresforschung aktiv. Brosin, Meeresforschung, S. 101. Beispiele für die Zusammenarbeit nennt Brosin auf S. 105, S. 108–109, S. 121. Siehe zur Hochseefischereiflotte der DDR zum Beispiel: Dietrich Strobel/Wulf-Heinrich Hahlbeck, Hiev Up. So war die Hochseefischerei der DDR, 2. Auflage, Hamburg 1997. Brosin, Meeresforschung, S. 38–50 & S. 96–136. Zur Personalentwicklung des IfM siehe Brosin, Meeresforschung, S. 166; Für eine Übersicht aller von IfM genutzten Schiffe siehe ebenfalls Brosin, Meeresforschung, S. 204.

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Vielleicht auch deshalb konnte einigen Bereichen der Meeresforschung, die besondere öffentliche Aufmerksamkeit genossen – wie beispielsweise der Tiefseeforschung – in den Planungen der ostdeutschen Meeresforschung nur wenig Beachtung geschenkt werden, im Gegensatz zu fischereibiologisch und militärisch relevanten Fragen. Die Beantwortung letzterer musste zudem geheim bleiben. Inwieweit sich diese Situation auch in der Darstellung der öffentlichen Meeresforschung spiegelte, soll die Analyse des folgenden Abschnitts klären helfen.

MEERESFORSCHUNG IN DER „URANIA“

Abbildung 1: Das Titelblatt der Zeitschrift „Urania“ vom Februar 1967. Die Illustration wurde von Georg Seyler (1915–1998) angefertigt, der in dieser Zeit häufig Bildmaterial zu maritimen Themen für „Urania“ und andere Zeitschriften lieferte.

Das einzige Mal, dass im betrachteten Zeitraum die Meeresforschung mit einer Illustration auf der Titelseite der „Urania“ zum Titelthema erhoben wurde (s. Abb. 1), im Februar 1967, leitete der Autor seinen Artikel mit dem Satz ein: „Nachrichten aus der noch heute sagenumwobenen Tiefsee wurden in den letzten Jahren von den Meldungen über Weltraumforschung lautstark übertönt.“20 In der Tat kann man feststellen, dass vor und nach dem erfolgreichen Start der Sputnik-Satelliten Themen mit Bezug zur Weltraumforschung weitaus mehr Platz eingeräumt wurde als Themen mit Bezug zur Meeresforschung. In den 1950er Jahren, bis in die frühen 1960er Jahre hinein, gab es in der „Urania“ sogar eine eigene Rubrik „Astronomie und Astronautik“ – ein Status, den die Meeresforschung nie erreichte.21 Dabei war gerade die Tiefseeforschung noch 1959 in einen Zusam-

20 Ernst A. Arndt, Geheimnisse der Tiefsee, in: Urania (1967) 2, S. 74–79. 21 Die Kategorie wurde 1964 im Zuge der Einführung eines neuen Layouts abgeschafft.

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menhang mit der Raumfahrt gestellt worden, als ebenbürtiges Vordringen in unbekannte Sphären. In einem „Urania“-Heft, in dem sich viele Beiträge um das zehnjährige Jubiläum der DDR drehten, wurden Errungenschaften betont und Zukunftspläne vorgestellt. In einem Artikel zum Atomeisbrecher LENIN hieß es entsprechend: Dank des gewaltigen Fortschritts von Wissenschaft und Technik dringt der Mensch in immer mehr, früher nur ‚Göttern‘ vorbehaltenen Gebiete der Natur ein. Kaum zeichneten künstliche Erdsatteliten ihren siegreichen Weg in den kosmischen Sphären, als sich eine neue sowjetische Rakete nach Überwindung der Erdgravitation in einen zehnten Planeten des Sonnensystems verwandelte. […] Auch der Meeresgott Poseidon kommt mit Werken des menschlichen Geistes in Berührung. So war es während des Internationalen Geophysikalischen Jahres ein denkwürdiges Ereignis, als sowjetische Wissenschaftler eine Meerestiefe von 11 034 m ausmaßen. Und vor kurzem gelangte ein neues wissenschaftliches Mittel des Menschen in die Tiefen des Ozeans, das sowjetische Forschungs-Unterseeboot ‚Sewerjanka‘.22

Knapp zehn Jahre später fand in einem Artikel von 1967 mit dem Titel „Erfolge der DDR-Wissenschaft“ anlässlich des VII. Parteitags der SED weder die Meeresforschung im Allgemeinen noch die Tiefseeforschung im Speziellen Erwähnung, auch wenn es darin hieß: „mit Recht sagt man, daß wir in das Zeitalter der Biologie eingetreten sind.“23 Dies bezog sich jedoch auf die Mikrobiologie und Genetik; vielmehr wurde in demselben Artikel angekündigt, im anbrechenden „kosmischen Zeitalter“ eine „intergalaktische Physik“ zu entwickeln. Der Weltraumforschung wurde also nach wie vor mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der Meeresforschung.24 Auch in einem größeren Rahmen, als einige Monate später anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Oktoberrevolution Errungenschaften der Sowjetunion thematisiert wurden, spielten meereskundliche Themen eine periphere Rolle – schon eher wurde in der „Urania“ der Polarforschung in den folgenden Jahren Aufmerksamkeit geschenkt. Trotzdem kann keineswegs konstatiert werden, dass Meeresforschung in der „Urania“ keine Rolle gespielt hätte: Mit verlässlicher Konstanz wurden Themen mit 22 L.D. Tschernousko, Atomeisbrecher Lenin, in: Urania (1959) 8, S. 281–285. Das Fazit des Abschnitts war, dass „[j]ede neue Erkenntnis der Naturvorgänge hilft, die Geheimnisse der alten griechischen Götter zu entschleiern und die veralteten Lehren der Kirche zu überwinden.“ 23 Werner Hartke et al.: Erfolge der DDR-Wissenschaft, in: Urania (1967) 4, S. 4–9, hier S. 7. 24 Ebd.

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meereskundlichem Bezug jeden Monat in Rubriken mit Kurzinformationen wie der in allen Heften vorkommenden und häufig mehrseitigen Sektion „Mosaik“ vorgestellt. Noch wichtiger war sicherlich, dass Entwicklungen, die kurz berichtet wurden, häufig später auch ausführlicher in mehrseitigen Artikeln mit Illustrationen vorgestellt wurden.25 Einen Höhepunkt der Berichterstattung über Meeresforschung in dieser Form stellte eine dreiteilige Serie von Artikeln im Sommer 1970 dar, in der unter anderem Mitarbeiter des IfM ihre Forschungsfelder vorstellten.26 Allerdings lässt sich danach keine Erhöhung der Artikel zu meereskundlichen Themen feststellen. Auch wenn in demselben Jahr im von der Zeitschrift selbst veröffentlichten Jahresinhaltsverzeichnis aller Artikel die neue Kategorie „Meereskunde“ eingeführt wurde – die Anzahl der Beiträge blieb auch danach konstant bei durchschnittlich etwa zwei pro Jahr. Eine genaue Quantifizierung der Artikel zur Meeresforschung ist dabei allerdings insofern schwierig, als dass meereskundliche Zusammenhänge häufig auch im Kontext ihrer Anwendung vorgestellt wurden, beispielsweise in Artikeln zum Fischfang. Überhaupt lässt sich für die Berichterstattung in den 1960er Jahren konstatieren, dass auch in den Artikeln, deren Ausgangspunkt die wissenschaftliche Erforschung des Meeresraums bildete, die Anwendung der Forschungsergebnisse überaus stark betont wurde. Im bereits erwähnten Leitartikel zur Tiefsee von 1967 führte der Autor zum Beispiel aus: Heute ist es nicht etwa nur Neugier oder wissenschaftliches Interesse, das die großen Industrienationen Millionenbeträge in die Tiefseeforschung investieren läßt. Die Tiefsee, die zwei Drittel des Erdballs bedeckt, ist ein Wirtschaftsobjekt ersten Ranges geworden. […] Das Meer bietet Rohstoffe, die in riesigen Mengen vorliegen und relativ leicht zu gewinnen sind.27

Mit dieser Aussage wiederholte er etwas, das seit Beginn der 1960er Jahre immer wieder hervorgehoben worden war. So trug bereits 1961 ein Beitrag den Titel „Die Weltmeere als Rohstofflager für die Industrie von morgen“, was im auffälligen Kon25 Beispielsweise wurde das Internationale Jahr der Meeresforschung 1969 erst in der Sektion „Mosaik“ kurz vorgestellt, drei Monate später folgte ein mehrseitiger Artikel hierüber: Am Internationalen Jahr der Ostsee 1969/70, in Urania (1969) 6, S.46; Dietwart Nehring, Internationales Ostseejahr 1969/70, in: Urania (1969) 9, S. 60–63. 26 E.D., Unser blauer Kontinent. Natürliche Ressourcen, in: Urania (1970) 6, S. 20–23; HansJürgen Brosin, Unser blauer Kontinent. Rohstoffe aus dem Meer, in: Urania (1970) 7, S. 4–9; Dietwart Nehring, Unser blauer Kontinent. Energie aus dem Meer, in: Urania (1970) 8, S. 24–29. 27 Arndt, Geheimnisse.

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Abbildung 2: Eine Weltkarte mit Meeresströmungen und Fischfanggebieten, als Illustration veröffentlicht zum Artikel: E.D., Unser blauer Kontinent. Natürliche Ressourcen, in: Urania (1970) 6, S. 20–21.

trast stand zu Beiträgen der späten 1950er Jahre, in denen eher Forschungsergebnisse beschrieben wurden und die Anwendung dieser Ergebnisse höchstens peripher eine Rolle spielte.28 Während in den frühen 1960er Jahren Fisch und andere organische Substanzen wie Algen als Ressourcen an erster Stelle standen und von der „Speisekammer Ozean“ gesprochen wurde, trat in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend die Erforschung mineralischer Rohstoffe des Ozeans in den Vordergrund der Berichterstattung.29 28 Roman Frydrych, Höchste Höhen, Tiefste Tiefen, in: Urania (1955) 10, S. 380–387; Max Wolff, Über einige Ergebnisse der Tiefseeforschung, in: Urania, (1958) 8, S. 305–311; Max Wolff, Über einen merkwürdigen Tiefseeleuchtkrebs, in: Urania, (1959) 5, S. 192; Eberhard Schuster, Die Weltmeere als Rohstofflager für die Industrie von morgen, in Urania, (1961) 5, S. 196–197. 29 Diese Entwicklung lässt sich zum Teil schon an den Titeln folgender Beiträge ablesen: Herbert Ritzhaupt, Speisekammer Ozean. Perspektiven der Weltfischerei, in: Urania, (1964) 2, S. 10; Wolfgang Braune, Meeresalgen. Eine wenig bekannte Nahrungs- und Rohstoffquelle, in: Urania, (1964) 10, S. 828–831; Manfred Sturm: Fischgründe der

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Die Gewinnung dieser organischen wie anorganischen Rohstoffe sollte dabei „der Menschheit nutzbar“ gemacht werden.30 Im Westen hingegen – so wurde stark suggeriert – hatten vor allem profitstrebende „kapitalistische Monopol­unter­ nehmen“31 und das Militär ein Interesse an der Meeresforschung. Dies wurde beispielsweise im Kontext utopischer Visionen einer möglichen Besiedlung des Meeres angebracht, wo es 1967 hieß, dass im Gegensatz zu den humanistisch-wissenschaftlichen und betont volkswirtschaftlich orientierten ozeanographischen Projekten besonders der Sowjetunion und des französischen ozeanographischen Instituts unter Leitung von Cdt. J. Y. Cousteau die USA auch in diesem Falle den militärischen Aspekten den Vorrang geben.32

An dem Zitat ist eine weitere Charakteristik der Berichterstattung über Meeresforschung in den 1960er Jahren in der „Urania“ erkennbar: Die häufige Erwähnung von Jacques-Yves Cousteau, der sogar immer als „Kommandant“ bezeichnet wird. Er, sowie Auguste und Jacques Piccard, sind nicht nur die einzigen westlichen Meeresforscher, die namentlich genannt werden, sondern über die mehrfach berichtet wird.33 Während in den späten 1950ern noch vollständige Übersichten vergangener Tiefseeforschungsexpeditionen gegeben wurden und auf westliche Literatur verwiesen wurde, wurde in den 1960er Jahren neben sowjetischen Expeditionen (insbesondere die Expedition der WITJAS während des IGJ, in der ihre Besatzung den tiefsten Punkt des Meeres lotete) fast ausschließlich auf die britische CHALLENGER-Expedition der 1870er, die dänische GALATHEA-Expedition von 1952 sowie Unternehmungen von Jacques Piccard mit dem Tauchboot TRIESTE und

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Zukunft, in: Urania, 1965 (12), S. 992–995. Lew Alexandrowitsch Senkewitsch, „Terra Incognita“. Ozean, in: Urania, (1966) 2, S. 38–43 & S. 85–86; Heinz Wagner, „Bergbau“ im Ozean. 71% der Erdoberfläche sind noch fündig, in: Urania, (1966) 9, S. 70–75; Arndt, Geheimnisse; Karl-Bernhard Jubitz, Submarine Geologie. Geologisch-Geophysikalische Grundlagenforschung in den Ozeanen, in: Urania, (1968) 2, S. 62–63. Jubitz, Geologie. Ähnlich hieß es an anderer Stelle: „Die Ozeanologie gehört zu den Wissenschaftszweigen, deren Bedeutung stetig anwächst, weil ihre Ergebnisse der Menschheit großen Nutzen bringen werden.“ Senkewitsch, Terra Incognita. Siehe zum Beispiel: Brosin, Rohstoffe. R. Schilling, Hotel und Labor unter Wasser, Mensch und Technik erobern die Ozeane, in: Urania (1968) 7, S. 4–9. Für Cousteau siehe außer Schilling, Hotel und Labor, auch: K. Goede, Rendezvous mit Neptun, in: Urania, (1965) 12; Arndt, Geheimnisse. Für die Piccards siehe: Frydrych, Höchste Höhen, 1955; Wolff, Ergebnisse, 1958; Arndt, Geheimnisse; Schilling, Hotel und Labor; Gottfried Kurze, Die Enkel der „Nautilus“. Tauchboote für die Meeresforschung, in: Urania, (1973) 4, S. 4–7.

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von Cousteau mit dem Forschungsschiff CALYPSO eingegangen.34 An Cousteau wurde zudem gelobt, dass er eine erfolgreiche Protestaktion gegen die Verklappung von Atommüll im Meer durchgeführt hatte. Die Verklappung radioaktiver Materialien war ein häufig wiederkehrendes Thema in der „Urania“. Bereits 1959 fand der Leser einen Kurzbericht mit dem Titel „Auch im Meer bleibt Atommüll gefährlich“.35 Darin wurden die Eckpfeiler der wiederholt aufgegriffenen Hinweise auf eine mögliche Verklappung eingeführt: Die Engländer und die Amerikaner versenkten in den letzten acht Jahren radioaktive Materialien, insbesondere Maschinenteile, in die Tiefen des Atlantik in der Überzeugung, daß sie von hier aus keinen Schaden anrichten könnten. Neuerdings aber warnt man in der UdSSR vor diesem Vorgehen, weil Untersuchungen ergeben haben, daß selbst die großen und tiefen Gräben im Boden der Weltmeere nicht dazu geeignet seien, radioaktive Abfälle aufzunehmen. Man müsse damit rechnen, daß in einer Zeitspanne von fünf Jahren ein Austausch zwischen den Wassermassen der Tiefe und denen der Oberfläche erfolge.36

Die „Untersuchungen“, auf die verwiesen wurde, wurden in anderen Artikeln ausgeführt als vom sowjetischen Forschungsschiff WITJAS aus durchgeführte Strömungsmessungen in großen Tiefen, die die Theorie widerlegten, dass in den Tiefen der Ozeane keine Wasserzirkulation stattfinde.37 Auf diese Weise wurde dem Leser der „Urania“ das Bild vermittelt, dass die Sowjetunion sehr viel verantwortungsvoller auf einen nachhaltigen Umgang mit den Meeren achtete als der Westen. Überhaupt ist auffällig, wie früh dem Thema Umweltschutz – nicht nur in Bezug auf die Meere – in der Zeitschrift Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es gibt zahlreiche Beispiele, aber einige Schlaglichter können den Trend illustrieren: 1964 beispielsweise enthielt die Mai-Ausgabe der „Urania“ einen Artikel mit dem Titel „Weltnaturschutz – Wunsch oder Wirklichkeit? Sorge um die Erde“.38 Ungefähr zu dieser Zeit wurde auch kurz über eine 34 Auf sowjetische Expeditionen, an denen teilweise auch Wissenschaftler der DDR teilnahmen, wird zum Beispiel in folgenden Beiträgen genauer eingegangen: R. Schemainda, Auf Forschungsfahrt mit der „Michail Lomonossow“, in: Urania (1963) 12, S. 1008– 1012; Leonid Tschernousko, Schwimmende Laboratorien, in: Urania (1967) 12, S. 74–79. 35 Auch im Meer bliebt Atommüll gefährlich, in: Urania, (1959) 5, S. 171. 36 Ebd. Ebenfalls thematisiert wird die Verklappung zum Beispiel in: Arndt, Geheimnisse, 1967; Tschernousko, Laboratorien. 37 Tschernousko, Laboratorien. 38 R. Gilsenbach, Weltnaturschutz. Wunsch oder Wirklichkeit? Weltweite Sorge um die Erde, in: Urania (1964) 5, S. 359–363.

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gemessene Klimaveränderung berichtet („auf dem gesamten Gebiet der Sowjetunion [war] in den Jahren 1940 bis 1960 der April wärmer als in den vorangegangenen 20 Jahren“39), und 1967 wurde darauf hingewiesen, dass „der Ozean den Wärmehaushalt unseres Planeten“ regelt.40 Zum Ende des Jahrzehnts konnte ein Leser der „Urania“ zudem eine deutliche Intensivierung der Berichte zu Umweltschutzfragen bemerken. Im Mai 1968 wurde ein „Monat des Naturschutzes“ veranstaltet. Mit einem „Exklusivbeitrag“ zum Internationalen Biologischen Programm (im Rahmen dessen weltweit ein besseres Verständnis der biologischen Produktivität herbeigeführt werden sollte) wurde dabei in der „Urania“ angeregt, „die im Artikel 15 der neuen Verfassung unserer Republik verankerten Grundgedanken zum Naturschutz neu zu durchdenken.“41 Diese juristische Verankerung des Naturschutzes wurde zwei Jahre später noch weiter betont, als im Mai 1970 das „Gesetz zur planmäßigen Gestaltung der sozialistischen Landeskultur“ verabschiedet wurde. In den Monaten zuvor und danach häuften sich die Verweise auf den Naturschutz in der Berichterstattung der „Urania“, unter anderem in den politischen Leitkommentaren, die jedes Heft einleiteten. Diese verstärkte Betonung von Umweltthemen steht in deutlichem Kontrast zur Berichterstattung über das amerikanische Raumfahrtprogramm – hatte eine Kurznachricht 1964 noch darüber informiert, „daß die ursprünglich für 1966 vorgesehene amerikanische Mondlandung auf das Jahr 1969 verschoben wurde“, so wurde die dann tatsächlich erfolgte Mondlandung in der Berichterstattung der „Urania“ faktisch ignoriert.42 Sicherlich werden Bürgerinnen und Bürger der DDR über andere, aktuelle Medien Ausführlicheres über die Apollo-11 Mission erfahren haben, dennoch bleibt das offensichtliche Schweigen über diese technische Errungenschaft für eine Zeitschrift, die zu Themen der Wissenschaft und Gesellschaft berichtete und zudem in den vorhergehenden Jahren mehrfach Raumstationen und Raketen als Titelbilder verwendet hatte, bemerkenswert.43 Umso mehr, da Themen der Raumfahrt und Astrophysik auch in den Folgejahren in der „Urania“ besprochen wurden. So hieß es im November 1970: „Wenn ein Ereignis aus der jüngeren Geschichte der Weltraumforschung besondere Beachtung verdient, dann

39 Die Veränderung des Klimas auf der Erde, in: Urania (1964) 11, S. 838. 40 Tschernousko, Laboratorien. 41 B.E. Bychowski/A.G. Banikow, Internationales Biologisches Programm, in: Urania (1968) 5, S. 68–73 & S. 84. 42 Wussten Sie schon…? In: Urania (1964) 8, S. 663. 43 Eine Rezeptionsgeschichte der Mondlandung in der DDR bildet ein Forschungsdesiderat.

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ist es ohne Zweifel das sowjetische ‚Luna 16‘-Experiment.“44 Dabei wurden mit einem Roboter Gesteinsproben vom Mond aufgesammelt. Auf die Apollo 11-Mission wurde in dem Beitrag mit keinem Wort verwiesen, wohl aber die Luna 16-Mission mit der beinahe missglückten Apollo 13-Mission kontrastiert, wobei nahegelegt wurde, dass im sowjetischen Raumfahrtprogramm kein Menschenleben gefährdet würde. Stattdessen seien „wissenschaftlicher Wert und geringstes Risiko […] die Eckpfeiler der sowjetischen Raumflugprogramme“.45 Die Luna 16-Mission eignete sich außerdem dazu, einen Themenbereich, dem neben der Umweltproblematik ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in den Artikeln der „Urania“ immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde, in den Fokus zu rücken: Die Automatisierung, bzw. die elektronische Datenverarbeitung. Ihr Einsatz wurde als konsequente Weiterführung einer Planwirtschaft präsentiert. Ob als Folge einer bewussten Strategie oder nicht: Die erfolgreiche Mondlandung der Amerikaner wird einer bereits erfolgten stärkeren öffentlichen Betonung sowohl der rasanten Entwicklungen im Bereich der EDV, als auch von Umweltschutzthemen, Auftrieb verliehen haben. Dazu passt zum Beispiel die bereits erwähnte, ungewöhnlich hohe Anzahl von drei Artikeln zum „blauen Kontinent“ in den Sommermonaten des Jahrs 1970, und auch, dass in den folgenden Jahren in Berichten über Luftverschmutzung Aussagen fielen wie: Auf der ersten Etappe der Raumflüge galten alle Untersuchungen dem Kosmos. Heute werden neben der Erforschung des Weltraums immer häufiger die Objektive der Fotoapparate an Bord der bemannten Raumschiffe auf die Erde gerichtet. […] Eines der vielen Untersuchungsobjekte ist die Einwirkung des Menschen auf die Natur.46

Trotz einer zunehmenden Betonung des Umweltschutzes in den „Urania“-Heften um 1970 sei jedoch für den Umgang mit dem Meer einschränkend hinzugefügt, dass unmissverständlich gemacht wurde, dass der Meeresraum nicht um seiner selbst willen zu schützen sei, sondern damit er nachhaltig als Rohstoffquelle fungieren könne. Auch dies war keine neue Entwicklung, sondern schon im Jahrzehnt zuvor wurde die Aufgabe der Forschung im Kontext der Fischereibiologie mehrfach so definiert, dass ihre Erkenntnisse eine Überfischung verhindern sollten. 1959 hieß es beispielsweise: „Die Antwort der Wissenschaft ist beruhigend“, als die Frage aufgeworfen wurde, „[w]ird bei einem Jahresfang von 25–30 Mill. t der Fisch

44 Ein Roboter auf dem Mond, in: Urania (1970) 11, S. 2–3. 45 Ebd. 46 Umschau: Die Erde aus neuer Sicht, in: Urania (1971) 2, S. 73.

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nicht eines Tages aussterben?“47 Und so war es im Sinne eines Narrativs, das der „Urania“-Leser gewohnt war, nur konsequent, wenn es beispielsweise 1973 in einem Beitrag zum Abbau von Kies in der Ostsee zunächst allgemein hieß: Etwa 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt. Unter dieser riesigen Wasserfläche befinden sich auf dem Meeresboden und in der Erdkruste große Vorräte an mineralischen Rohstoffen, die es zu gewinnen gilt. Für die Meeresforschung ergibt sich daraus die Aufgabe, einerseits den Meeresboden und die Erdkruste zu erforschen, Lagerstätten zu erkunden, andererseits in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftszweigen und der Industrie Methoden zur rationellen Förderung der Rohstoffe zu entwickeln.48

Spezifisch wurde dem über die Arbeit der VEB Bagger-, Bugsier und Bergungsreederei hinzugefügt: Das entspricht auch den Bestimmungen der effektiven Nutzung von Grund und Boden und dem Landeskulturgesetz, denn jeder Quadratmeter Neuland oder Unland, der bebaubar zur Verfügung gestellt wird, verhindert, daß wertvolles Kulturland verlorengeht.49

Und bei dieser „Erfüllung der vom VIII. Parteitag [der SED] gestellten Hauptaufgabe, die die volle Ausnutzung der örtlichen Reserven und natürlichen Rohstoffe fordert“, waren – so wurde explizit betont – „Untersuchungen, besonders des Instituts für Meereskunde der Akademie der Wissenschaften der DDR“, hilfreich.50 In demselben Heft von 1973 hieß es in einem Beitrag zu Forschungs-U-Booten: [D]ie Erforschung des dreidimensionalen Raumes unserer ‚blauen Kontinente‘ mit diesen modernen Unterwasserfahrzeugen wird dem Abenteuer der Weltraumfahrt nicht nachstehen. Die Aquanauten und Hydronauten in den stählernen und gläsernen Druckkammern der Tauchboote werden ebenso wie alle anderen in der Ozeanographie und Meerestechnik beschäftigten Wissenschaftler, Arbeiter und Ingenieure Wegbereiter einer neuen Entwicklung sein – der friedlichen Eroberung der Ozeane.51

47 Werner Bönisch, Fischfang und Fischverarbeitung, in: Urania (1959) 8, S. 286–291. 48 Kurt Brauckhoff, Rohstoffe aus der Ostsee, in: Urania (1973) 4, S. 14–17. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Kurze, Enkel.

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Martin P. M. Weiss

FAZIT Zusammenfassend lässt sich zunächst sagen, dass die Forschung zu meereskundlichen Themen in der DDR geprägt war von der Notwendigkeit ihrer Legitimierung über ihren potentiellen Nutzen für Fischerei und Militär. Diese utilitaristische Grundhaltung spiegelte sich wider in der Berichterstattung der „Urania“ in den 1960er Jahren, in der vor allem der Nutzen des Meeres als Quelle organischer und anorganischer Rohstoffe hervorgehoben wurde. Selbst in utopischen Visionen einer zukünftigen Besiedlung des Meeresraums wurde dies betont, wobei solche Kontexte auch eine Gelegenheit boten, darauf hinzuweisen, dass im Westen militärische Interessen in der Meeresforschung zum Tragen kamen, ohne dabei auf ähnliche Interessen im eigenen Land hinzuweisen. Im betrachteten Zeitraum sind zudem unterschiedliche Phasen zu erkennen. Nach der Grenzschließung und dem Bau der Berliner Mauer fällt auf, dass Verweise auf im Westen veröffentlichte Literatur zur Meeresforschung nicht mehr genannt wurden. Ebenso wurden ab den frühen 1960er Jahren nur noch ausgewählte historische Expeditionen erwähnt – beispielsweise die erste britische CHALLENGER-Expedition oder die dänische GALATHEA-Expedition von 1952 – sowie verstärkt aktuelle sowjetische Forschungsprojekte, wie Expeditionen der WITJAS. Nachdem in den ersten Jahren des Jahrzehnts vor allem über die Reichhaltigkeit tierischer und pflanzlicher Rohstoffe im Meer berichtet wurde, rückten in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts zunehmend Mineralien in den Fokus der Artikel zur Meeresforschung. In den Jahren nach der Mondlandung wurde in der „Urania“ ein Trend fortgesetzt, der sich bereits davor abgezeichnet hatte: eine verstärkte Aufmerksamkeit für Umweltschutzthemen. Die Verklappung atomarer Abfälle im Meer war bereits seit den späten 1950er Jahren wiederholt angeprangert worden, wobei auch der ebenfalls häufig erwähnte Jacques-Yves Cousteau herangezogen wurde. Allerdings wirkte sich dieser Fokus auf Umweltthemen nicht in Form einer dauerhaften Erhöhung der Anzahl von Artikeln zu meereskundlichen Themen aus. Außerdem wurde bei der Berichterstattung über das Meer nach wie vor dessen Nutzen als Rohstoffreservoir betont, dass es jedoch insofern zu schützen gelte, dass es nachhaltig bleibe. Vielleicht die beste Zusammenfassung, wie sich die Redaktion der „Urania“ wohl erhoffte, dass die Bürger der DDR auf das Meer hinausschauten, und in welchen Kontext sie eine Meeresforschung einordneten, die einer nachhaltigen Gewinnung von Rohstoffen dienen sollte, lieferte ein Autor der Zeitschrift als Einleitung zu seinem Beitrag von 1973:

Die friedliche Eroberung der Ozeane

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Zehntausende verbringen Jahr für Jahr ihren Urlaub an der Ostsee. Sie finden Erholung und Entspannung beim Baden und bei Spiel und Sport am Strand. Sie sehen mit Interesse und etwas Fernweh den großen Schiffen nach, die Fisch anlanden oder Rohstoffe und Industrieerzeugnisse in den Häfen an unserer Ostseeküste löschen oder Güter zum Transport in andere Länder übernehmen. Sie wissen vom Meer als riesigem Reservoir an tierischem Eiweiß, lesen mit Interesse Berichte über Algenernten im Fernen Osten, über Austernzucht und über die Erdölförderung in verschiedenen Küstenregionen der Weltmeere. Sie erfahren, daß Bergwerke von Land aus in den Meeresboden vorgetrieben werden und daß große Schwimmbagger gebaut werden, um von der Meeresoberfläche aus die Mineralien und Rohstoffe des Meeresbodens zu gewinnen.52

Das Zitat spricht alle Aspekte an, die auch im Vorgehenden angesprochen wurden: Beginnend mit dem Urlaub in der Küstenregion und „etwas Fernweh“, leitet der Autor des Zitats direkt über zu einer stark utilitaristischen Sicht des Meeres als „Reservoir“ für Rohstoffe jedweder Art. Abschließend lässt sich also feststellen: Nicht nur strukturell prägte eine utilitaristische Grundhaltung die Wissenschaft der DDR (insbesondere im Rahmen der Akademiereform wird dies im betrachteten Zeitraum deutlich), sondern auch die öffentliche Darstellung der wissenschaftlichen Erschließung des Meeresraums stellte zumindest in der Zeitschrift „Urania“ den Nutzwert des Meeres in den Vordergrund. Inwieweit sich eine solche öffentliche Betonung des gesellschaftlichen Nutzens von Grundlagenforschung auch in anderen Wissenschaftsbereichen und in anderen öffentlichen Foren der DDR beobachten lässt, und inwieweit eine solche Betonung Auswirkungen auf gesellschaftliche Debatten zur Forschungspolitik hatte, wäre weiter zu prüfen.

52 Brauckhoff, Rohstoffe.

Franziska Torma

HYDROTOPISCHE MOMENTE WAHRNEHMUNG, HISTORIZITÄT UND EPISTEMOLOGIE DER MEERE

Bereits im Jahr 1999 beschrieb der Literaturwissenschaftler Ian Baucom die Gegenwart als hydrotopischen Moment: this moment […] is, I believe, the moment that we collectively inhabit. It is the moment in which we experience ourselves – as Alonso, to his surprise, must have experienced himself – not as drowning, but as liquefying.1

Als Aufhänger dieser Interpretation dient ihm Ariels „obituary hymn“ in Shakespeares Stück „The Tempest“: Full fathoms five thy father lies; Of his bones are coral made; Those are pearls that were his eyes: Nothing of him that doth fade But doth suffer a sea-change Into something rich and strange. (The Tempest I, 2)2

Baucoms hydrotopischer Moment verweist auf drei strukturelle Merkmale, die nicht nur Shakespeares Dramen im 16. Jahrhundert und deren literaturphilosophische Interpretation, sondern auch die Historiographie zum Meer bestimmen: das Prinzip der Tiefe („drowning“), das Prinzip der Verflüssigung („liquefying“) und die Aufforderung, globale Transformationsprozesse vom Meer aus neu zu denken („sea1 2

Ian Baucom, Hydrographies, in: Geographical Review, Volume 89, 2 (1999), S. 301. Zitiert nach Baucom, Hydrographies, S. 301.

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change“). Ian Baucom zählt zur Denkrichtung des Black-Atlantic-writing. Autoren in diesem Umfeld stellen sich die Frage, wie sich die Herausbildung der modernen Welt aus maritimer Perspektive erklären lässt. Der transatlantische Sklavenhandel und die Ausbeutung der afrikanischen Diaspora seit dem 18. Jahrhundert bildeten demnach die Grundlagen der kapitalistischen Weltordnung.3 Diese Kritik an der (terrestrischen) Moderne ist im Zuge postkolonialer Perspektiven auf die europäische Entdeckung und ökonomische Aneignung der Welt in den letzten 20 Jahren entstanden. Verflüssigt wurden bis dahin vorherrschende Meistererzählungen der europäischen Entdeckung der überseeischen Welt und der romantischen Faszination des Neuen auch durch Forschungen im Umfeld der Melbourne Group – einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Geschichte und Ethnographie verbindet. Greg Dening, der sich mit der Meuterei auf der BOUNTY und mit maritimen Orten, wie Stränden, beschäftigte, war von den 1960er-Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 2008 die zentrale Figur dieses Zusammenschlusses.4 Das Schiff als Bühne sowie fluide Räume und deren Einfluss auf moderne Subjektkonstruktionen gerieten in das Blickfeld. Greg Denings Arbeit machte aus den Schiffen, Inseln und Stränden heuristische Metaphern.5 Sie lassen sich als Schauplätze verstehen, an denen sich Transformationsprozesse verdichten und anhand derer sich Geschichte von mehreren Standpunkten und aus unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven analysieren lässt.6 Diese Impulse aus der Frühen Neuzeit erschufen verflochtene Narrative über die Entstehung der globalisierten Welt durch maritime Kontakte. Für die Zeit des Hochimperialismus trat neben der Verflüssigung von Gewissheiten („liquifying“) die historiographische Entdeckung der Tiefe (metaphorisch: das „drowning“) hinzu. Auch historisch stand nicht mehr der Umriss von Konti3

4 5 6

Dazu grundlegend z.B. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double-Consciousness, Cambridge, Mass. 1995; Ian Baucom, Specters of the Atlantic. Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History, Durham 2005. Die Exploration von Übersee zählte zudem als letzte Epoche eines Prozesses, der sich als „Rise of the West“ verstehen lässt, vgl. z.B. William H. McNeill, The Rise of the West. A History of the Human Community, Chicago 1963. Zur kondensierten populären Wahrnehmung siehe den Link in Wikipedia: https:// en.wikipedia.org/wiki/Age_of_Discovery (letzter Zugriff: 14.2.2018). Auch in Verbindung von Wissenschaft und Romantik: Richard Holmes. The Age of Wonder: The Romantic Generation and the Discovery of the Beauty and Terror of Science, New York 2010. Greg Dening, Mr. Bligh’s Bad Language. Passion, Power, and Theatre on the Bounty, Cambridge, UK 1992. Greg Dening, Islands and Beaches. Discourse on a Silent Land, Marquesas, 1774–1880, Belmont 1980. Greg Dening, Beach Crossings. Voyaging across Times, Culture, and Self, Melbourne 2004.

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nenten und Landmassen – bis auf die fixe Idee eines offenen Polarmeers7 – auf der Agenda europäischer und nordamerikanischer Forschungsambitionen, sondern die Faszination an der Tiefsee. Angefangen mit der Expedition der britischen Korvette CHALLENGER (1872–1876), rüsteten Staaten in Nordamerika und Europa Forschungsreisen mit dem Ziel aus, die Welt unter der Wasseroberfläche durch biologische und hydrographische Instrumente zu erkunden.8 Koloniale Aspirationen leiteten diese Reisen, wobei sich die Faszination am Meer im Lauf des 19. Jahrhunderts vom Horizont in die Tiefe verschob. Das Meer selbst wurde zum Forschungsgegenstand, zum Imaginationsarsenal, zum Wirtschaftsraum und zur geopolitischen Bühne. Was früher der Horizont war, war nun die Vertikale: „Soundings and crossings“ entstanden als leitende Mobilitäts- und Interpretationsmuster, die das 20. und 21. Jahrhundert begleiten.9 Ergänzend zu Baucoms erstem hydrotopischen Moment lässt sich deshalb in den letzten zehn Jahren ein zweiter hydrotopischer Moment ausmachen, der häufig unter dem Rubrum des Oceanic Turns firmiert.10 Die Wassermasse zwischen Oberfläche und Meeresgrund, zwischen Horizont und Land, gilt nicht mehr als bloßer Containerraum und Bühne der menschlichen Geschichte, sondern als historischer Faktor.11 Motiviert durch global- und umweltpolitische Fragestellungen gewinnen die Ozeane für die Neueste Geschichte und die Zeitgeschichte an Bedeutung.12 Wegbereitend ist ein geisteswissenschaftlicher Umweltbegriff, der das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Natur als Analyserahmen setzt. Auf diesem basiert auch das Interaktionen betonende Neuverständnis der menschlichen Aneignung und Wahrnehmung der See.13 In diesen zweiten hydrotopischen Moment 7 8 9 10 11

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Siehe Christian Holtorf in diesem Band. Auch: Philipp Felsch, Wie August Petermann den Nordpol erfand, München 2010. Helen M. Rozwadowski, Fathoming the Ocean. The Discovery and Exploration of the Deep Sea, Cambridge, Mass. 2008. Katharine Anderson/Helen M. Rozwadowski, Soundings and Crossings. Doing Science at Sea, Sagamore Beach 2006. Alexander Kraus/Martina Winkler (Hg.), Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2014. Zum Begriff: Hester Blum, The Prospect of Oceanic Studies, in: PLMA 125, 3 (2010), S. 670–677. W. Jeffrey Bolster, Putting the Ocean in Atlantic History. Maritime Communities and Marine Ecology in the Northwest Atlantic, 1500–1800, in: American Historical Review 113, 1 (2008), S. 19–47; Ryan Tucker Jones, Running into Whales. The History of the North Pacific from below the Waves, in: American Historical Review, 118, 2 (2013), S. 349–377. Z.B. Christian Kehrt/Franziska Torma, Lebensraum Meer. Globales Umweltwissen und Ressourcenfragen in den 1960er und 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 40, 3 (2014), S. 313–322. Z.B. Melanie Arndt, Umweltgeschichte, überarbeitete, erweiterte Version 3.0, in: Docu-

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fällt der Band. Die Beiträge untersuchen Begegnungen mit dem Meer, von der Badekur bis zur Fischkonserve, und verstehen diese als Momente des Kontakts, die wiederum spezifische Umgangsformen mit der See offenlegen. Die Motive der Standortgebundenheit von Wahrnehmung und des reflexiven Wandels verbinden die heterogenen Themen.14 Auf einen blinden Fleck des Bandes sei gleich verwiesen – er bleibt an der Wasseroberfläche. Die historiographische Vermessung der Tiefe würde methodologische Möglichkeiten eröffnen, die menschliche Wahrnehmung der Meere im Sinn einer dreidimensionalen oder amphibischen Geschichte zu verstehen.15 Die hier versammelten Beiträge loten jedoch, bis auf einen zum internationalen Seerecht, das Meer nicht als die dritte Dimension des Planeten aus, sondern spielen auf dem Schiffsdeck, im Museum oder im arktischen Eis. Ihr Verdienst liegt darin zu zeigen, wie Interaktion und Wahrnehmung Verbindungen zwischen Land und See erschaffen und verändern. Das Anliegen des Bandes, vom Meer aus Narrative zu entwerfen, die andere Perspektiven auf das Festland zulassen, zeugt zudem davon, wie künstlich die häufig als „natürlich“ konzipierte Grenze zwischen Land und Meer eigentlich ist.16 Insofern verflüssigen diese Beiträge auf ihre Art festgefügte Gewissheiten. In ihrer Gesamtheit spiegeln sie als historische Zeugnisse der Auseinandersetzung mit dem Meer keine punktuelle, zeitlich und räumlich eingefrorene Beobachtung wider; in ihnen manifestiert sich vielmehr ein stetiger Reflexionsprozess, der zu sich ständig wandelnden Bewertungen des Meeres führt.17 Sie zeigen zudem deutlich, dass Meereswahrnehmung standortgebunden ist. Die Autorinnen und Autoren rücken spezifische maritime Dinge, Praktiken, Orte und Räume in den Fokus. In Bezug auf die allgemeine Wahrnehmung des Meeres in der Geschichte und ihren Narrativen lassen sie Einsichten in drei übergreifende Zusammenhänge zu: I. in Positionen und Bedeutungsfelder der menschlichen Wahrnehmung, II. in die Historizität und Wandelbarkeit der Meereswahrnehmung (sea changes) und III. in Epistemologie des Fluiden (liquefying).

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pedia-Zeitgeschichte, 10.11.2015; Frank Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007. So in der Programmatik eines Workshops „Wahrnehmung des Meeres“, 28.2.2017, Deutsches Schifffahrtsmuseum, Bremerhaven, der diesem Band vorausging. John R. Gillis/Franziska Torma, Fluid Frontiers. New Currents in Marine Environmental History, Cambridge, UK 2015, Introduction. So z.B. Holtorf in diesem Band. Programmatik des Workshops „Wahrnehmung des Meeres“, 28.2.2017 im Deutschen Schifffahrtsmuseum.

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WAHRNEHMUNG: POSITIONEN UND BEDEUTUNGSFELDER Von welchen Standpunkten aus betrachten nun die Autorinnen und Autoren das Meer? Sie zeigen zunächst, dass die Wissenschaft vom 18. bis zum 21. Jahrhundert ein zentraler Antrieb der menschlichen Beschäftigung mit dem Meer ist. Im Sinn einer Ausdifferenzierung der Wahrnehmung wird die Entität des Meeres in regionaler Hinsicht mit einem Fokus auf die Eismeere präzisiert. Neben dem Imaginationsraum der Tropen, der in diesem Band nicht als Geozone repräsentiert ist, waren und sind die Eiswüsten der Arktis und Antarktis wichtige Themen in der Geschichte der Meere. Zunächst schürten sie, als einige der vermeintlich letzten weißen Flecken, koloniale Raumerschließungsphantasien. Dann traten sie in ihrem Schmelzen als Inbegriff der bedrohten Umwelt in die Klimawandeldebatte ein.18 Zeitlich umspannt der Band diese Jahre, vom Zeitalter der Entdeckung bis zur Neuvermessung der maritimen Umwelt im Kalten Krieg, von den Entdeckungsfahrten James Cooks und Georg Forsters im 18. Jahrhundert bis hin zur Meeresforschung in der Deutschen Demokratischen Republik.19 Es wird dabei nicht vergessen, dass die Meereswahrnehmung der Wissenschaft zwischen Forschung und populärer Repräsentation oszillierte. Die Beiträge legen offen, dass in der Gunst der öffentlichen Aufmerksamkeit mediale Kommunikationsformen und museale Darstellungsformen wichtig waren.20 Ganz im Sinn der neueren material-cultureForschung treten Gebrauchsgüter, wissenschaftliche Instrumente oder maritime Dinge (Flaschenpost) als Mitspieler der Wissens- und Wahrnehmungsproduktion hervor.21 Als zentrale Motive, warum das Meer im 20. Jahrhundert an globaler Bedeutung gewann, tauchen wirtschaftliche Interessen der Fischerei sowie die internationale Politik in Zeiten der steigenden Ressourcenausbeutung auf.22 Ein Beitrag zeigt, warum gerade die Tiefe wichtig wurde, da im 20. Jahrhundert politisch motivierte Verrechtlichungsprozesse die räumliche Wahrnehmung der See fundamental veränderten: An die Stelle einer binären Einteilung des Meeres in zwei Zonen, die als Flächen gedacht wurden, trat eine deutlich komplexere Wahrnehmung vielfältiger, sich teils

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Müller und Holtorf in diesem Band. Müller und Weiss in diesem Band. Müller, Schilling und Weiss in diesem Band. Ruppenthal, Müller, Holtorf und Struck in diesem Band. Ruppenthal und Sparenberg in diesem Band.

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überlappender Räume. Es fand also zum einen eine deutlich stärkere Ausdifferenzierung statt und zum anderen erweiterte sich die Wahrnehmung von der zweiten in die dritte Dimension.23

Die Anerkennung der Hochsee und Tiefsee als Räume des Völkerrechts trug zudem zur Reglementierung nationalstaatlicher Ansprüche im Titel der global commons bei, dies vielleicht auch als Notlösung, um die zuwiderlaufenden Interessen zwischen westlichen Industriestaaten und sogenannten Entwicklungsländern in einem Rechtstitel zu befrieden.24 Der Stellenwert des Meeres als Ressource und Ressourcenspender prägte Konsum- und Freizeitmuster; daran erinnern Beiträge zum Kuraufenthalt, Badeurlaub und zur Eindosung von Fisch. Dieser Fokus auf moderne Konsummuster legt auch die erheblichen anthropogenen Veränderungen der marinen Umwelt offen.25 Welche Bedeutungsfelder eröffnet das Meer in diesen Texten? Alle Beiträge betonen die Wandelbarkeit und die Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen des Meeres in der menschlichen Wahrnehmung. Die Flüssigkeit des Mediums symbolisiert auch Metamorphosen des Betrachtungsgegenstandes. Maritime Orte und Räume sind leisure spots, Heilorte, fluide Erfahrungsräume, Wissensobjekte, Schauräume, aber immer noch Transiträume und Verbindungsflächen zwischen den Kontinenten. Die Meere sind Politikfelder, Ressourcenspeicher, Umwelten und „alle potentielle[n] Passagen“26 eröffnenden Möglichkeitsräume. In allen Beiträgen oszillieren sie zwischen Imagination und Materialität, zwischen Wissensraum und Medienobjekt, teilweise „mehr […] metaphorische Landschaft als […] irdische Region.“27 Trotz dieser Multiperspektivität, die die eine Antwort, was die Wahrnehmungsform des Meeres in spezifischen Epochen der Neuzeit kennzeichnet, unmöglich macht, halten die Beträge ein gemeinsames Motiv fest. Im 19. und 20. Jahrhundert knüpften sich wandelnde Wahrnehmungsformen verstärkt an sich pluralisierende Umgangsformen mit den Meeren. Die See galt in der Antike und der früheren Neuzeit aufgrund der Alltagsferne für breite Bevölkerungskreise an Land – mehr oder weniger – als Chaos oder Wildnis, die imaginativ zwischen Faszination und Schrecken pendelte.28 Die vielfältiger werdenden Berührungspunkte der europä23 Sparenberg, S. 92. 24 Zur Verrechtlichung: Sparenberg in diesem Band. Zu den global commons: Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons, in: Science 162 (1968), S. 1243–1248. 25 Ruppenthal und Bresgott in diesem Band; auch: Alain Corbin, Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Frankfurt am Main 1994; John Gillis, The Human Shore. Seacoasts in History, Chicago 2015. 26 Struck, S. 75. 27 Holtorf, S. 32. 28 W. Jeffrey Bolster, Opportunities in Marine Environmental History, in: Environmental History 11 (Juli 2006), S. 567–597.

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ischen und amerikanischen Festlandsbevölkerung mit der See im Badeurlaub, im Museum, im Aquarium, auf der Schiffsreise, in der Fischkonserve, in wissenschaftlichen und populären Medien differenzierten auch die Formen der Wahrnehmung aus. Je mehr Personen und Personengruppen die See kennenlernten und erschlossen, desto fragmentierter wurden auch die Bilder vom Ozean. Aus diesem Grund wird für alle Beiträge, neben der den Band zusammenhaltenden Leitinterpretation der Wahrnehmung, die Beleuchtung unterschiedlicher Praktiken wichtig. Denn diese produzierten die Versionen der Meere in der Neuzeit. Die spezifische Natur des Meeres stellte dabei eine Herausforderung für den Festlandbewohner dar, mithilfe des terrestrischen Praxis- und Technikarsenals mit dem fluiden, eigendynamischen Medium in Kontakt und Interaktion zu treten. Die spezifische „Natur“ macht das Meer deshalb zu einem Ort der Innovation und Kreativität, da sich neue Formen des Umgangs, wie Mobilitätsmuster (Baden) und Praktiken (das Aussetzen und Beobachten von Flaschenpost), herausbilden mussten, wenn Menschen mit der See in Kontakt treten wollten.

SEA-CHANGES: HISTORIZITÄT UND WANDELBARKEIT Das Verständnis des Meers als Raum der Innovation prägte nicht nur Praktiken, sondern auch wissenschaftliche Repräsentationen der maritimen Natur. Das Meer lieferte dynamisierte graphische Darstellungen (Vorläufer von Klimadiagrammen).29 Als eine Facette der Auflösung territorial eingespielter Verhaltens- und Interpretationsmuster erscheint Dynamisierung insgesamt als historiographisches Prinzip der See. Indem sie Dynamik und Wandel betonen, leisten damit die Beiträge des Bandes einen wesentlichen Beitrag zur Historisierung der menschlichen Wahrnehmung des Meeres. In den praxeologischen Feldern des Badens, Forschens, Sammelns, Ausstellens und Essens lösen sie die eindimensionale Sicht auf das Meer als jenseits menschlichen Einflusses stehende Natur auf.30 Die Ozeane gewinnen in dem hier vorgestellten Geflecht aus Umgangsformen, Erzählungen und Repräsentationen als Raum Gestalt, der erst durch Kulturen und Geschichte(n) geformt wird und dadurch veränderbar wird. Diese Transformationen (sea-changes) beeinflussen, wie die Beispiele des Badens oder der Fischkonserve zeigen, auch soziokulturelle Verhaltens- und Konsummuster der Gegenwart. Der Wandel von häufig als ideengeschichtlich konzipierten „Bildern“ wird zum Gegenstand soziokultureller Prozesse. Diese Prozesse 29 Holtorf in diesem Band. 30 Zur Praxeologie: Theodore R. Schatzky/Karin Knorr Cetina/Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, New York/London 2001.

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eröffnen auch Fragen der Periodisierung von übergreifenden Deutungsmustern: So spiegeln sich von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die sozialen Veränderungen der Sattelzeit in der menschlichen Annäherung an das Meer im Fall der Errichtung von Bädern und der Entstehung bürgerlicher Freizeitmuster wider.31 Auch wissenschaftliche Praktiken verweisen auf Wandel in der longue durée: Wie die Herausbildung neuer Disziplinen der Botanik und Zoologie im 18. Jahrhundert zu einer Romantisierung vor allem tropischer, insularer Landschaften beitrug, so schufen die im 19. Jahrhundert entstehenden Disziplinen wie Meteorologie und Hydrographie die Voraussetzung für die Dynamisierung der maritimen Naturerfassung in komplexen Repräsentationsformen. Das Museum für Meereskunde in Berlin (eröffnet 1906) erinnert uns daran, dass physische und epistemologische Bewegungen zunächst vom Festland ausgehen konnten. Der Gründungsdirektor, Ferdinand von Richthofen, war ein auf den asiatischen Kontinent spezialisierter Geograph. Obwohl die Inszenierung von Weltmacht durch die Ausstellung deutscher Flottenpolitik ein Gegenstand der maritimen Leistungsschau war, eröffnet der Beitrag zum Museum für Meereskunde neue Interpretationshorizonte einer global verflochtenen Wahrnehmungsgeschichte: Anhand der Reiseberichte, die vom Sammeln erzählen, und von Dokumenten, die vom Ausstellen in anderen Museen als mögliche Orientierungshilfen berichten, lässt sich nachvollziehen, wie Richthofen und seine Mitarbeiter die Meere als Welträume32 in ihrer physikalischen, ökologischen Gesamtdarstellung zur Schau stellen.33 Neben politischen Prozessen (Imperialismus, Dekolonisierung) erscheinen somit Wissenschaft und Medien als Katalysatoren des Wandels. An der Schnittstelle von Wissens- und Mediengeschichte schlägt der Band anhand des Untersuchungsobjekts „Eismeer“ vier historische Wahrnehmungsschichten vor. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machten die wissenschaftlichen Praktiken der Beobachtung und naturkundlichen Beschreibung das Eismeer zunächst zum empirischen Untersuchungsobjekt. In diesem ersten Entdeckungszeitalter gewinnt seine Wahrnehmung als Wissensobjekt und Imaginationsraum überhaupt Gestalt. Als Gegentrend zu dieser Versachlichung der Natur tritt eine spezifische Wahrnehmungsform im ausgehenden 19. Jahrhundert hervor, die das Eismeer als Raum von Sinnlichkeit und Körpertechnik neu erfindet. Um 1900 machen Expeditionsreisende das Eismeer zum Projektionsraum für Eroberungs- und Heldennarrative. Die Polarregionen werden im Lauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem 31 Bresgott in diesem Band. 32 Iris Schröder/Sabine Höhler (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt am Main 2005. 33 Dazu Schilling in diesem Band.

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„Medienlabor“ und einer „Spielwiese für Helden“. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen schließlich mediale und literarische Darstellungen der bedrohten Meeresnatur Gestalt. Diese Deutung setzt sich „in der kulturellen Öffentlichkeit“ als „eine Wahrnehmung des Meeres“ als „schützenswerte Umwelt“ des Menschen durch.34 Die Übertragbarkeit dieser Art von Periodisierung, von den Eismeeren auf eine euroamerikanische Wahrnehmungsgeschichte der Meere, ist in weiteren Forschungen zu prüfen. Hier sei auf einen zweiten blinden Fleck des Bandes verwiesen: Nicht nur Wissenschaft und Medien, sondern auch die hier nur am Rande erwähnten Technikund Imaginationsgeschichten des Kalten Krieges und der Dekolonisation sind für die Wahrnehmung der Meere im 20. Jahrhundert bedeutsam.35 Technologische Entwicklungen arbeiteten neuartigen Ressourcenregimen zu, die den nach 1945 steigenden globalen Ressourcenbedarf stillen sollten. Dieser stieg nicht nur in den Industrieländern, sondern im Zuge der entwicklungspolitisch motivierten Industrialisierung auch in den Ländern des Globalen Südens. In Zeiten planetarischer Knappheit und angesichts prognostizierten Versiegens terrestrischer Rohstofflager erschien das Meer als postkolonialer Ergänzungsraum des Festlandes. Verknüpft mit Imaginationen von Machbarkeit, die die Technikaffinität des Kalten Krieges begleiteten, blühte ein eigenes Genre der Unterwasser-Science-Fiction auf. Utopien dieser Unterwasser-Kolonisation wurden in einer Zeit laut, als die politische koloniale Verfügungsgewalt des Globalen Nordens über die Weltmeere Risse bekam. Science-Fiction folgt aber einer nur auf den ersten Blick widersprüchlichen politischen Logik. Die von Fischmenschen und Aquanauten bevölkerten UnterwasserPhantasiereiche mussten sich im Gegensatz zu den Meeresbodenregimen nicht an politischen, sozialen und biologischen Gesetzen messen lassen. Phantasiereiche unter Wasser eröffneten epistemologische Verfügungsgewalt.36 Die Technisierung und Verwissenschaftlichung der Natur im Kalten Krieg prägte aber nicht nur Bilder euroamerikanischer Beherrschung der See, sondern auch Ideen der fragilen, marinen Umwelt.37 Weltklimamodelle und das Verfahren des Earth-System-Modelling zeigten Spuren anthropogenen Wandels und die Bedeutung der Meere für die „Gesundheit“ des Planeten Erde auf.38 Verdichtet wurde diese aufkeimende Besorg34 Müller, S. 49. 35 Der Kalte Krieg klingt im Beitrag von Weiss in diesem Band an. 36 Birthe Kundrus (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt am Main 2003. 37 Sabine Höhler, Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960–1990, London 2015; Helen M. Rozwadowski, Arthur C. Clarke and the Limitations of the Ocean as a Frontier, in: Environmental History 17, 3 (2012), S. 1–25. 38 Zur politischen Dimension: John R. Fleming, The Pathological History of Weather and

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nis um die eine fragile Welt im Bild der Blue Marble, das die Erde aus einer holistischen Vogelperspektive als von Meeren bedeckten, blauen Planeten zeigt.39 Dieser Band thematisiert nicht nur die Konstruktion dieser holistischen Weltsicht, sondern auch die oft übersehenen Praktiken des Ausblendens, auf denen das „Umweltbewusstsein“ basierte: Die Sorge um die eine Umwelt konnte im Alltagskonsum zum Beispiel leicht übergangen werden. Die Konservendose machte Fisch in Zeiten globaler Überfischung verfügbar und erzeugte bei den Konsumentinnen und Konsumenten im Binnenland eine Wahrnehmung, die maßgeblich von den Prozessen des Artensterbens abwich: In der modernen Konsumgesellschaft konservierten Fischdosen die Wahrnehmung des Meeres als unerschöpfliche Nahrungsquelle und blockierten die Erkenntnis des globalen Wandels der realen Meeresumwelt.40

Trotz unterschiedlicher zeitlicher Rhythmen (Shifting Baselines,41 Sattelzeit,42 periodische Transformation43), die die Beiträge leiten, zeichnen sich in diesem Band zwei Sachverhalte ab: Erstens, mit dem Konzept und Politikum der Umwelt ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Kategorie entstanden, die anthropogene Veränderungen und Zerstörungen kommunizierbar machte. Zweitens, Uneindeutigkeit und ein Oszillieren zwischen Funktionen und Bedeutungen kennzeichnen die Wahrnehmung der See. Das einzige, was beim Meer sicher erscheint, ist, dass es nicht eindeutig zu fassen ist, sondern sich in immer neue Mehrdeutigkeiten auflöst. Das Meer erscheint als die Umwelt, in der die (terrestrische) Vernunft an ihre Grenzen stößt.

Climate Modification. Three Cycles of Promise and Hype, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences, 37, 1 (2006), S. 3–25; ders., Fixing the Sky. The Checkered History of Weather and Climate Control, New York 2010; Andreas Folkers, Klima und Krieg. Die Biopolitik vitaler Systeme und die Sicherheitsagenda der Gegenwart, in: Stephan Lessenich (Hg.), Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, 2017: https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2016 (letzter Zugriff: 2.2.2018). 39 Alexander Linke/Dominique Rudin, The Earth as Seen from Apollo 8 in Space. Eine Kurzgeschichte des Blicks auf die Erde im Jahrzehnt der Mondlandung (Leitbilder I), in: rheinsprung 11 (Zeitschrift für Bildkritik), S. 147–156. Dennis E. Cosgrove, Apolloʼs Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination, Baltimore/London 2005. 40 Ruppenthal, S. S. 131–132. 41 Ruppenthal in diesem Band. 42 Bresgott in diesem Band. 43 Müller in diesem Band.

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LIQUEFYING: EPISTEMOLOGIE DES FLUIDEN Die prinzipielle Schwierigkeit, das Meer im sprachlichen und erkenntnistheoretischen Horizont des Festlandes zu erfassen, spiegelt sich in fast allen Aufsätzen wider. Einerseits ist ein Vokabular auffällig, das von der „stets fragilen Konstitution“ des Meeres spricht, „vom rhythmischen Wellenschlag, der keine dauerhaften Spuren hinterlässt“ 44 , vom Meer als „Raum der Potentialitäten und Transformationen“.45 Das fügt sich in ein Metanarrativ des Flüchtigen,46 in dem bestimmte Akteursgruppen das Meer performativ produzieren. Bei einem Blick auf die Gesamtheit der Beiträge erscheint das Meer als Grenzraum, in dem sich terrestrische Sicherheiten und Bedeutungen mit den Wellenschlägen entziehen. Kategorien der Begegnung zwischen Mensch und Meer müssen neu ausgehandelt werden. Dabei lässt sich die Eigendynamik der See nicht restlos im sprachlichen Gerüst der modernen, euroamerikanischen Wissenschaft fassen,47 die sich geradezu anhand der Erforschung der Natur, Gesellschaft und Kultur des Festlandes entwickelt hat. Diese Inkommensurabilität verdeutlicht die Flaschenpost als Pars pro Toto: Wenn in der Flaschenpost das Meer selbst sprechen soll, dann muss zunächst die Geschwätzigkeit der menschlichen Sprachen eingedämmt werden. Nur so vermag sie, als ein Medium des Eigensinns, das Meer als einen Raum nicht nur zwischen den Kulturen, etwa denen von Fischern und Schiffern, zu kartieren, sondern auch einen Natur-Raum jenseits jeder Kultur, jenseits auch von ökonomischer Verwertbarkeit und militärischer Macht.48

Für Wissenschaftler damals vor Ort und für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute vor den Zeugnissen erscheint das Meer als vager epistemischer Raum des Nicht-Notwendigen, des Nicht-Zweckgerichteten. Die spezifische Epistemologie ist die Kontingenz. Durch die materiell spürbare agency der Umwelt erfordert das Meer eine Anpassungsleistung des Menschen. Diese ständige Herausforderung, das Fluide als eigenständig zu erfassen, ist ein Experiment. Die 44 Bresgott, S. 151. 45 Struck, S. 86. 46 Bresgott in diesem Band. 47 Dazu auch: Michael Chiarappa/Matthew McKenzie (Hg.), Marine Forum (Environmental History 18, 1, 2013); Isabella Löhr/Andrea Rehling (Hg.), Global Commons im 20. Jahrhundert. Entwürfe für eine globale Welt (Jahrbuch für europäische Geschichte 15), München 2014. 48 Struck, S. 83.

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Akteure mussten sich nicht nur durch die Erfindung neuer Praktiken, sondern auch durch die Erfindung neuer Disziplinen helfen. In deren Bahnen versuchten sie, durch wissenschaftliche Instrumente, durch Messkoordinaten und durch die rational-wissenschaftliche Erfassung, die Natur der See zu domestizieren. Sie machten vor allem die Eismeere, die in Form gefrorenen Wassers etwas an festem Grund boten, zu Freiluft-Laboren. Die Metapher des Labors durchzieht aber nicht nur die praxeologische Zeitschicht der Akteure, sondern prägt auch die heutige epistemologische Reflexion über deren historische Wahrnehmung und Erfahrung. Deshalb gewinnt in den Aufsätzen das Ereignis, zunächst anstelle der Struktur, an Bedeutung. Der (hydrotopische) Moment der Handlung eröffnet Deutungen. Aus einem Vorgang oder Experiment lassen sich übergeordnete Veränderungsprozesse ableiten. Die inszenierte Zurschaustellung eines schmelzenden Eiswürfels an Bord eines Schiffes zum Beispiel zeigt nicht nur Naturvorgänge in zeitlich und räumlich kondensierter Form, sondern macht das Meer zu einem epistemischen „Ding“, von dem ausgehend sich Interpretationsmöglichkeiten und Wissensformen entwickeln.49 In den wissenstheoretischen Experimentalsystemen der Meere werden Labore von Akteurskategorien zu hermeneutischen Metaphern. Auffällig ist nämlich, dass nicht nur die Geschichten der See(er-)fahrenden, sondern auch die Autorinnen und Autoren des Bandes eine Sehnsucht nach dem Neuen, dem Anderen erahnen lassen – nach Geschichte(n) jenseits der beaten tracks. Kondensiert wird diese Suche in Formulierungen wie: „so könnte das Meer zu einem anderen Raum der Globalisierung werden.“50 Was dieses Andere ist, und wohin die Reise führen wird, kann erst die kommende Forschung zeigen. Dieser Band ist dazu ein Anfang. Hier stehen wir nun selbst an Denings Strand oder befinden uns mit Ariel gar unter dem Meeresspiegel: Das andere ist noch nicht explizit benannt, aber – vielleicht? – in diesem zweiten hydrotopischen Moment im Entstehen. Der fluide Charakter des Meeres erscheint als ständige Herausforderung an die terrestrische Moderne mit ihrem Drang zu Ordnung, Kausalität und Eindeutigkeit, die als Deutungskategorien ohnehin in Bedrängnis geraten sind. Insofern schließt sich im 21. Jahrhundert der Kreis zu Shakespeares „Tempest“, der früheren Verknüpfung von Romantik und Wissenschaft, aber auch zu den wissenschaftspolitischen Subtexten des Black-Atlantic-writing. Das Meer ist aber nicht so sehr das doppelte Bewusstsein, sondern vielmehr die Unterströmung der Moderne mit ihrer Sehnsucht nach

49 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt am Main 2006. 50 Struck, S. 89.

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Eindeutigkeit.51 Die Suche nach neuen Narrativen hat erst begonnen, indem sich die heutigen Forscher von mehreren Standpunkten, gerne auch vom Festland aus, mit den Geschichten, Dingen, Menschen treiben lassen.

51 Paradigmatisch auch im Scheitern: James Scott, Seeing like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1999.

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN Dr. Hans-Christian Bresgott ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Facts & Files, Historisches Forschungsinstitut Berlin. Hier arbeitet er an zahlreichen Projekten, Veröffentlichungen und Ausstellungen mit, häufig zu Fragen der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Er hat zur Entwicklung der deutschen Ostseebäder promoviert und forscht zu umwelt- und medizinhistorischen Themen sowie zur Geschichte der Wohlfahrtsverbände. Prof. Dr. Christian Holtorf ist Professor für Wissenschaftsforschung und Wissenschaftskommunikation an der Hochschule Coburg. Als Historiker und Kulturwissenschaftler forscht er zur Kultur- und Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Er publizierte unter anderem zur Geschichte der Telegraphie und zur Kulturtheorie, sein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Geschichte der Kartographie. PD Dr. Dorit Müller ist Germanistin und Kulturwissenschaftlerin und lehrt als Privatdozentin am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen das Verhältnis zwischen Literatur-, Verkehrs- und Wissensgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert sowie die Mediengeschichte des Reisens seit dem 18. Jahrhundert. Zuletzt bearbeitete sie ein Projekt zu „Polarreisen zwischen Empirie und Imagination seit der Frühaufklärung“. PD Dr. Jens Ruppenthal ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Schifffahrtsmuseum/Leibniz-Institut für Maritime Geschichte in Bremerhaven. Schwerpunkt seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Koordinator im Ausstellungsbereich „Schifffahrt und Umwelt“ ist die Umweltgeschichte der Schifffahrt und der Meere in der Späten Neuzeit. Seine weiteren Forschungsinteressen gelten der Erinnerungskultur und der europäischen Kolonialgeschichte. Prof. Dr. Ruth Schilling ist Juniorprofessorin für die „Kommunikation museumsbezogener Wissenschaftsgeschichte“ (Universität Bremen) und wissenschaftliche Ausstellungs- und Forschungskoordinatorin am Deutschen Schifffahrtsmuseum/ Leibniz-Institut für Maritime Geschichte. Sie hat zur stadtrepublikanischen Selbstdarstellung in der Frühen Neuzeit promoviert und außerdem zu wissenschaftshistorischen Themen geforscht.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Ole Sparenberg ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Seine Interessenschwerpunkte umfassen die Umwelt- sowie Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Zurzeit arbeitet er an einer Geschichte der Rohstoffpolitik in den 1960er- bis 1980er-Jahren einschließlich der bundesdeutschen Pläne für den Tiefseebergbau. Er promovierte zur Rolle mariner Ressourcen in der nationalsozialistischen Autarkiepolitik. Prof. Dr. Wolfgang Struck ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Seine Forschungsinteressen liegen im Spannungsfeld von Literatur und Wissen, Fiktion und Dokumentation, unter anderem im Hinblick auf die Kolonialgeschichte und die Geschichte der Geographie und Kartographie. Dr. Franziska Torma ist Historikerin und Fellow am Rachel Carson Center for Environment and Society in München. Dort bearbeitet sie das von der DFG geförderte Projekt „Das marine Umweltbewusstsein. Wissen, Medien und Politik der belebten Unterwasserwelt (1870 bis 1980)“. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Umwelt-, Kultur-, Wissenschafts- und Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Dr. Martin P. M. Weiss ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Schifffahrtsmuseum/Leibniz-Institut für Maritime Geschichte. Am Beispiel der Forschungsschifffahrt forscht er zur gesellschaftlichen Einbettung wissenschaftlicher Expertise im 20. Jahrhundert, insbesondere im Kalten Krieg. Nach seiner Promotion an der Universität Leiden zum Wandel der öffentlichen Rolle des Teyler Museums im Laufe des 19. Jahrhunderts arbeitete er in Brüssel bei der Europäischen Kommission und in München am Deutschen Museum.

INDEX

ORTSINDEX Afrika 28 Ahlbeck 154 Alaska 32 Amerika 28, 85, 90, 115, 193 Antarktis 49–51, 54, 59, 60, 63, 67, 195 Archangelsk 29 Argentinien 27 Arktis 25–26, 28, 31–34, 36–37, 44, 55, 64, 66, 195 Ärmelkanal 152 Atlantischer Ozean/Atlantik 27, 80, 135, 137, 140, 144, 152 Australien 85 Beringstraße 28 Berlin 22, 112–115, 117, 122–123, 126, 175, 198 Bremen 114 Bremerhaven 139 Bretagne 142 Buenos Aires 27 Cape Evans 62 Chile 101, 104 China 90 Cranz 154 Cuxhaven 145 Dänemark 144 Danzig 161 Den Haag 118 Deutschland, Bundesrepublik 92, 98–99, 101, 104, 107, 130, 132, 138, 141–145, 148, 177

Deutschland, Deutsche Demokratische Republik 17, 22, 173–175, 177–178, 180, 188–189, 195 Deutschland, Kaiserreich 19, 25, 34, 64, 125, 127 Doberan 153, 163, 166 Dwina 29 England 116, 123, 126, 166 Essen 136, 143, 149 Europa 28, 115, 193 Frankreich 101, 106, 116, 123, 126, 142, 144, 148 Franz-Josef-Land 66 Genf 97 Golf von Kalifornien 133, 149 Golfstrom 32, 78 Gotha 76 Greenwich 122 Greifswalder Bodden 162 Griechenland 144 Grönland 28, 34, 49, 51, 63–65 Großbritannien 32, 92, 101, 103, 125, 138, 140, 142 Hamburg 87, 114 Heiligendamm 152, 154 Helgoland 122, 125, 127 Heringsdorf 154, 171 Hinterpommern 157 Horst 154

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Ortsindex

Indien 103 Indonesien 106 Island 101–102, 104, 135, 138 Italien 144 Jan Mayen 27 Japan 99, 106, 115 Jena 175 Kahlberg 154 Kanada 144 Kenia 104 Kiel 114 Kieler Bucht 80 Lissabon 118 London 39, 50–51, 73, 116, 118 Lübeck 144 Mailand 146 Malta 104 Marokko 144 McMurdo-Sund 60 Mexiko 117 Monaco 115 Moskau 134 München 120 Neapel 146 Neuseeland 85, 106 New York 80 Niederlande 123, 126 Nordpol 55, 65–66 Nordsee 98, 143, 152, 154 Norwegen 142 Nowaja Semlja 58 Oslo 66 Österreich 25, 27, 58, 148 Ostpreußen 154

Ostsee 12, 125, 151–154, 171, 173 Paris 118 Pazifischer Ozean/Pazifik 49, 85, 89–99, 101, 140 Peru 101, 104 Portugal 103, 142, 144 Putbus 162 Resolute Bay 67 Rostock 177–178 Rotes Meer 124 Russland 32, 92, 106, 115, 116 Saßnitz 178 Schottland 116 Sibirien 49 Sinai 124–125 Sizilien 146 Sowjetunion/UdSSR 92, 185 Spanien 116, 142, 144 Spitzbergen 49, 66 Stralsund 158, 173 Südpol 59 Swinemünde 163–164 Sylt 125 Treptow-Deep 157 Tsingtau 125 USA/Vereinigte Staaten von Amerika 25, 32, 92, 99, 101–102, 106–107, 116, 141–142 Warnemünde 160–161, 165 Warnow 161 Wien 27 Zoppot 161

Personenindex

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PERSONENINDEX Adorno, Theodor W. 71 Albert I., Fst. von Monaco 115, 123 Amundsen, Roald 59 Arnim, Elizabeth von 165, 171 Bartz, Fritz 139 Baucom, Ian 191–193 Bauer, Felice 69 Becher, Alexander 73, 75, 81 Brecht, Bertolt 71–73, 82–83, 89–90 Brosch, Gustav 55 Buch, Hans Christoph 66, 68–69 Büttner, Georg 167 Celan, Paul 71 Chavanne, Josef 14, 20, 25–29, 31–34, 36–38, 40–45 Columbus, Christoph 88 Cook, James 50, 52, 54, 195 Cousteau, Jacques-Yves 183–184, 188 Dening, Greg 192 Devrient, Ludwig 171 Döblin, Alfred 64 Drygalski, Erich von 113, 116 Evans, John 74–75 Elvert, Jürgen 9 Forster, Georg 48–53, 56, 195 Franklin, John 140 Franz Josef I., Ks. von Österreich und Kg. von Ungarn 57 Friedrich, Caspar David 68 Grotius, Hugo 92, 103 Grzechnik, Marta 11 Halle, Ernst Lévy von 113, 116, 118 Halley, Edmond 42

Hayes, Isaac I. 40 Held, Hans Heinrich Ludwig von 169–171 Henking, Hermann 129 Hodges, William 52 Holbach, Rudolf 11 Horaz 53 Hufeland, Christoph Wilhelm 168 Humboldt, Alexander von 39 Hurley, Frank 21, 59–61 Hurskainen, Meta 11 Huxley, Thomas Henry 95 Kafka, Franz 69 Kane, Elisha K. 40 Kehrt, Christian 92 Kind, Richard 164 Kohl, Johann Georg 33, 40 Kohlhauer, E. 116–117, 119 Kolbe, Wiebke 151 Koselleck, Reinhart 151 König, Wolfgang 149 Kraus, Alexander 11, 13, 47, 54 Laube, Heinrich 162 Lehmann, Julius Friedrich 118, 120, 122–123, 127 Lichtenberg, Georg Christoph 152 Loftas, Tony 138 Lundbeck, Johannes 134 Mann Borgese, Elisabeth 105 Maury, Matthew 87, 89 McCorristine, Shane 55 McLuhan, Herbert Marshall 14 Meier, Christian 20 Mendelssohn Bartholdy, Fanny 165, 171 Mendelssohn Bartholdy, Felix 171 Mero, John L. 99 Meseck, Gerhard 134 Meyer-Waarden, Paul-Friedrich 138

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Personenindex

Michelet, Jules 95 Monmonier, Marc 38 Morus, Thomas 105 Neumayer, Georg 76, 81, 83 North, Michael 9 Orel, Eduard 55 Osterhammel, Jürgen 19 Paganel, Jacques Eliacim François-Marie 88 Paine, Lincoln 9 Pardo, Arvid 97–98, 101, 104 Pauly, Daniel 132–133, 135, 137, 149 Payer, Julius 55, 57 Petermann, August 28–29, 31, 34, 36–39, 42, 44, 76, 78, 89–90 Petersen, Hans von 120 Pettersson, Otto 78 Piccard, Auguste 183 Piccard, Jacques 183 Platon 105 Ponting, Herbert 59–60, 62 Ransmayr, Christoph 65–66 Reeken, Dietmar von 11 Reid, Chris 149 Richthofen, Ferdinand Freiherr von 113, 116–117, 122–125, 127, 198 Ross, John 75–76 Röhr, Albert 115, 122 Rühmer, Karl 139 Sáenz-Arroyo, Andrea 133, 137, 149 Schott, Charles Anthony 40, 42, 44 Schott, Gerhard 76, 78–80 Scoresby, William Jr. 33, 37 Scott, Robert Falcon 59 Shackleton, Ernest 21, 59–60 Shakespeare, William 53, 191 Steinberg, Philip E. 91

Torma, Franziska 92 Truman, Harry S. 96, 101 Ulbricht, Walter 177 Vergil 53 Verne, Jules 67, 83, 86–90, 98 Vitzthum, Wolfgang Graf 106, 108 Vogel, Samuel Gottlieb 153, 163, 168 Wegener, Alfred 63–64 Welzer, Harald 136 Weyprecht, Carl 26, 28, 55 Wilhelm II., Deutscher Ks. und Kg. von Preußen 114–115 Winkler, Martina 11, 13, 47 Wittmer, Rudolf 116 Zahn, Gustav von 117 Zimmerer, Jürgen 19