Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie: Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes und ihre Kritik einer systematischen Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Vernunft [1 ed.] 9783428508518, 9783428108510

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Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie: Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes und ihre Kritik einer systematischen Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Vernunft [1 ed.]
 9783428508518, 9783428108510

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E RFAHRUNG U ND D ENKEN S c h r i f t e n z u r Fö rd e r u n g d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ph i l o s o p h i e u n d Ei n ze l w i s s e n s c h a f t e n

Band 89

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes und ihre Kritik einer systematischen Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Vernunft

Von

Myriam Gerhard

Duncker & Humblot  ·  Berlin

ERFAHRUNG

UND

DENKEN

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Begründet von Kurt Schelldorfer

Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)

Schriftleitung Volker Gerhardt

Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken" besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften". 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften" wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.

MYRIAM GERHARD Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

E R F A H R U N G

U N D

D E N K E N

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 89

Von der Materie der Wissenschaft z u r Wissenschaft der Materie Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes und ihre K r i t i k einer systematischen Bestimmung des Verhältnisses von N a t u r und Vernunft

Von Myriam Gerhard

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Gerhard, Myriam: Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie : Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes und ihre K r i t i k einer systematischen Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Vernunft / Myriam Gerhard. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Erfahrung und Denken ; Bd. 89) Zugl.: Hannover, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10851-5

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-10851-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Für Venni und seine Freunde

Vorwort „Was einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben (...)." F. Schiller In diesem Sinne möchte ich denjenigen danken, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Meinem Lehrer Prof. Dr. Peter Bulthaup bin ich zu Dank verpflichtet für die intensive Betreuung der Arbeit und für so manchen Denkanstoß. Prof. Dr. Walter Jaeschke möchte ich für die freundliche Übernahme des Koreferates danken. Des weiteren gilt mein Dank für viele Diskussionen und konstruktive Kritik Prof. Dr. Günther Mensching, Dr. Frank Kühne und Till Streichert. Meinen Eltern und Diddi gehört mein aufrichtiger Dank für ihre tatkräftige Unterstützung. Hannover, im April 2002

Myriam Gerhard

Inhaltsverzeichnis Einleitung

11

Α. Die Materie der Wissenschaft I. Kant und Fichte zu einer möglichen Wissenschaft des Wissens 1. Kant zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft 2. Fichtes Grundsätze der Wissenschaftslehre (1794) II. Hegels Kritik des endlichen Idealismus in Fichtes Wissenschaftslehre . . III. Zur Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus

17 17 17 28 39 45 48

B. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie 59 I. Kant 59 1. Kants Bestimmungen des Begriffs der Materie in der Kritik der reinen Vernunft 59 a) Der transzendentale Gegenstand 59 b) Das Reale in der Erscheinung 60 c) Die einfache Substanz 63 d) Die Substanz im Räume 65 2. Sein und Realität des Selbstbewußtseins. Die Einheit des transzendentalen Gegenstandes, die Gemeinschaft der Seele mit der Materie und die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung 68 a) Die Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena 69 b) Paralogismus A 75 c) Deduktion Β 89 d) Paralogismus Β 97 e) Zur Möglichkeit der Konstruktion einer Anschauung 103 f) Die Idee des Selbstbewußtseins und das transzendentale Ideal... 105 II. Schelling Ill 1. Die Konstruktion und Produktion des Systems des Wissens 111 a) Zur Einheit von Substanz und Subjekt, transzendentaler Einheit der Apperzeption und transzendentalem Gegenstand oder die Bestimmung von Idealität und Realität des Wissens als allgemeine Deduktion des transzendentalen Idealismus 117 b) Die Geschichte des Selbstbewußtseins als der Prozeß der intellektuellen Anschauung 124 III. Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich. Fichtes Deduktion der Empfindung und der Anschauung im Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre (1795) 127

Inhaltsverzeichnis

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1. Die Deduktion der Empfindung oder die Setzung des Faktums durch die Empfindung 2. Die Setzung des Subjekts der Empfindung durch die Anschauung oder die Deduktion der Anschauung IV. Materie oder Material der Wissenschaft. Zur Deduktion objektiver Realität im System des transzendentalen Idealismus 1. Die Deduktion der Empfindung 2. Die Deduktion der produktiven Anschauung

131 132 136 136 143

C. Die Wissenschaft der Materie 149 I. Kant 149 1. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft 149 a) Vorrede 149 b) Metaphysische Anfangsgründe der Dynamik 156 II. Schelling 165 1. Die Deduktion der Materie im System des transzendentalen Idealismus (1800) 165 2. Allgemeine Prinzipien der Naturproduktion. Zur Bestimmung der Materie in der Allgemeinen(n) Deduction des dynamischen Processes oder der Categorien der Physik (1800) 167 D. Das System der Philosophie. Zur Einheit von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie, Wissenschaft und Materie I. Kant 1. Die Einheit des Systems 2. Kunstprodukt und Naturprodukt 3. Die Zweckmäßigkeit der Natur, der Naturzweck und das System der Zwecke II. Schelling 1. Zweck und Zweckmäßigkeit der Produkte. Zu den Hauptsätzen der Teleologie nach den Grundsätzen des transzendentalen Idealismus . . 2. Natura naturata und natura naturans. Zum Verhältnis von Naturprodukt und Produktivität der Natur

175 175 175 179 181 187 187 191

E. Schluß

201

F. Literaturverzeichnis I. Primärliteratur 1. Kant 2. Fichte 3. Hegel 4. Schelling 5. Andere Primärliteratur II. Sekundärliteratur

207 207 207 207 208 208 210 210

Sachwortverzeichnis

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Einleitung „Erneut ist die Romantik ins Gerede geraten, genauer: ihre Naturphilosophie. Ergossen sich seit dem Beginn des sogenannten Triumphzuges der modernen Wissenschaft noch Kübel voll Schmähungen, Spott und Hohn über sie, weht nun der Wind von ganz anderer Seite. Verstört durch die Entfremdung, die die wissenschaftlich-technische Zivilisation - ganz so wie von Adorno und Horkheimer diagnostiziert - mit sich gebracht hat, beunruhigt über die teils unerwarteten, teils unerwünschten Folgen dieser technologisierten Welt und besorgt um die Zukunft wenden sich nicht nur die Gebildeten unter den Verächtern der Wissenschaft erneut deren Geschichte zu. Und so kommt es zur Wiederentdeckung des romantischen Naturdenkens unter neuen Vorzeichen."1 Dieses Zitat mag repräsentativ für die Rezeption der Naturphilosophie Schellings am Anfang einer Arbeit stehen, in der die Berechtigung sowohl der affirmativen als auch der negativen Kritik der Schellingschen Naturphilosophie untersucht werden soll. Die Natur nicht bloß als ein Objekt der Erkenntnis, als einen Gegenstand der menschlichen Tätigkeit, sondern gleichwohl als ein Subjekt, ein Tätiges aufzufassen, ist eine Bestimmung, die Schelling in seiner Naturphilosophie zu begründen versucht. Diese Bestimmung der Natur als ein Subjekt scheint eine Möglichkeit aufzuzeigen, eine szientistisch verkürzte Naturauffassung sinnvoll zu korrigieren. Mit dem Versuch der Begründung seiner Naturphilosophie verfolgte Schelling jedoch nicht die Intention, der Natur zu ihrem Recht zu verhelfen, vielmehr ging es ihm um die Begründung der Idealität und Realität des Wissens. Die Bestimmung der Bedingung der Möglichkeit von Wissen fällt in die Transzendentalphilosophie. Doch anders als Kant sucht Schelling nicht die Be dingung der Möglichkeit von Wissen und Wissenschaft rekursiv zu erschließen, sondern aus einem als voraussetzungslos gesetzten Anfang das System des Wissens zu entwickeln. Die ausführlichste Darstellung der Transzendentalphilosophie Schellings findet sich im System des transzendentalen Idealismus. Anders als in der Wissenschaftslehre soll im System des Wissens nichts, auch kein Ich, vorausgesetzt werden, „als was sich unmittelbar aus den Bedingungen des Wissens selbst als erstes Prinzip einsehen läßt, ein ursprünglich zugleich Sub- und Objektives, durch dessen Handeln zugleich mit der objektiven Welt, als solcher, auch schon ein Bewußtes, dem sie Objekt wird, und umgekehrt, gesetzt wird (.. .)." 2 Der Anfang 1

Walther Ch. Zimmerli, Einleitung, in: Walter Ch. Zimmerli, Klaus Stein und Michael Gerten (Hg.), „Fessellos durch die Systeme4'. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 7.

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Einleitung

des Systems des Wissens sei mit der absoluten Spontaneität einer Handlung zu setzen. Die Einheit des Systems sei durch den Prozeß seiner Hervorbringung zu begründen. Im Prozeß seiner Hervorbringung ist das System Eines. Wird das System als Produkt betrachtet, zerfällt es in partikulare Gegenstände und deren Gesetzmäßigkeit. Der transzendentale Gegenstand als Inbegriff der Erscheinungen der Natur ist ein Reflexionsbegriff, der a priori die Übereinstimmung der von der transzendentalen Einheit der Apperzeption hervorgebrachten Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen der Natur mit den Erscheinungen der Natur selbst ermöglichen soll. Bedingung der Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand ist die vernünftige Organisation des Gegenstandes. Die für die Erkenntnis vorauszusetzende Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung erfordert die Indifferenz von Denken und Sein. Dem Idealismus ist die Indifferenz eine Relation von bloß formal unterschiedenen Relata, die deshalb von der Identität nicht zu unterscheiden ist. Diese idealistische Identifizierung von Denken und Sein versucht Schelling im System des transzendentalen Idealismus zu begründen. Die vernünftige Organisation der Natur hingegen ist Gegenstand seiner Naturphilosophie. Die Verbindung der beiden „Grundwissenschaften; M.G.] der Philosophie (...)" 3 erfolge darüber, daß beide wechselseitig die Resultate der anderen Grundwissenschaft je zu ihrer Voraussetzung haben. Die Natur, der Terminus ad quem der Transzendentalphilosophie, sei Terminus a quo der Naturphilosophie. Die Intelligenz, die Terminus ad quem der Naturphilosophie sei, sei Terminus a quo der Transzendentalphilosophie. Das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie läßt sich mit einem Hegeischen Begriff als das von subjektiven Subjekt-Objekt und objektiven Subjekt-Objekt, ideeller und reeller Einheit von Denken und Sein denken. Das absolute Subjekt-Objekt ist Gegenstand der sogenannten Identitätsphilosophie4, in der Schelling die Identität von Transzendental- und Naturphilosophie in einem Dritten zu begründen versucht. 5 Die vorliegende Arbeit endet mit Schellings Bestim2

F. W. J. Schelling , Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen, Schellings Werke Zweiter Band, S. 725, SW IV, S. 91. 3 F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (System), Schellings Werke Zweiter Band, S. 342, SW III, S. 342. 4 Zum Übergang zur Identitätsphilosophie vgl. R. Heckmann, Natur - Geist Identität. Die Aktualität von Schellings Naturphilosophie im Hinblick auf das moderne evolutionäre Weltbild, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 328 f. 5 Zu Schellings unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses von Naturund Transzendentalphilosophie vgl. H. Kimmerle, Intelligenz ist nicht Natur. Die Natürlichkeit des Menschen in den Schriften Schellings und Hegels von 1800 bis 1802, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur

Einleitung

mung der Identität von Intelligenz und Natur, ohne jedoch auf die zwischen 1801 und 1806 entstandene Identitätsphilosophie Schellings eingehen zu können. Daß die sogenannte Identitätsphilosophie keinen Bruch, sondern eine Fortführung der Überlegungen Schellings zur Transzendental- und Naturphilosophie ist, zeigt Bernhard Rang in seiner Arbeit zur Identitätsphilosophie Schellings.6 Erst mit der Identitätsphilosophie versucht Schelling das Verhältnis zwischen Geist und Natur als Substantialitätsverhältnis explizit zu begründen. Der spinozistische Gehalt dieser Begründung ist nicht zu verkennen, läßt aber nicht auf eine Abkehr oder einen Widerruf Schellings von seiner in der Auseinandersetzung mit Kant und Fichte gewonnenen Argumentation schließen.7 Der sich aus diesen Überlegungen ergebende Aufbau der Arbeit sei im folgenden kurz skizziert. Das erste Kapitel hat, ausgehend von Kants Kritik der reinen Vernunft, die Erklärung der Bedingung der Möglichkeit von allgemeiner und notwendiger Erkenntnis zum Gegenstand. Kant restringiert die Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung und bestimmt zum Gegenstand der transzendentalen Reflexion die Bedingung der Möglichkeit von wirklicher Wissenschaft. Der Gegenstand der Transzendentalphilosophie wird ihr als gegeben vorausgesetzt, so daß der Erkenntnisgrund und der Existenzgrund des Gegenstandes disparat sind. Eine Konsequenz hiervon ist Kants Unterscheidung von Form und Inhalt der transzendentalen Reflexion. Die notwendige Inkonsistenz dieser Unterscheidung wird anhand der Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre von Fichte dargelegt. Fichtes Begründung einer Wissenschaft des Wissens, in der Form und InAuseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 163: „Auf dem Standpunkt der Identitätsphilosophie muß man freilich sagen, daß allein die absolute Tätigkeit des identischen Subjekt-Objekts als „Original" gelten kann und daß demgegenüber sowohl die Evolution der Natur als auch die Geschichte des Selbstbewußtseins als „Kopie" oder „Nachahmung" gelten müssen. Das bedeutet für das Verhältnis von Naturphilosophie und Philosophie der Intelligenz, daß sie unter verschiedenen Aspekten jeweils die eine für die andere Original oder Nachahmung sein können. Die Philosophie der Intelligenz, die als Transzendentalphilosophie entwickelt wird, hat für den Aspekt der Begründung des Wissens und seiner Einheit die Stellung des „Originals", während die Philosophie der Natur hierfür die Stellung der „Kopie" einnimmt. Für den Aspekt der Realisierung der Inhalte des Wissens und ihrer Einheit liegt es umgekehrt." 6 Vgl. B. Rang, Identität und Indifferenz. Eine Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie, Frankfurt/M. 2000. 7 Vgl. W. Bonsiepen, Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie, Frankfurt/M. 1997, S. 149 f. FN 375: „Das System des transzendentalen Idealismus (1800) leistet die erkenntnistheoretische Begründung eines absoluten Monismus der Vernunft, der dann in der Identitätsphilosophie entfaltet wird. Die Einheitsperspektive Spinozas wird zur Vertiefung einer Fragestellung herangezogen, die dezidiert von Kants theoretischer Philosophie ausgeht."

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Einleitung

halt des Wissens gleichursprünglich sind, setzt mit dem absoluten Ich den voraussetzungslosen, absoluten Anfang aller möglichen Wissenschaft. Daß sowohl die Form als auch der Inhalt der Wissenschaftslehre ihren Ort ausschließlich in der transzendentalen Reflexion haben, ist Hegel und Schellings Kritik an Fichte. Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems gründet sich auf die Bestimmung des Verhältnisses von Form und Inhalt einer Wissenschaft des Wissens, die Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich, transzendentalem Subjekt und transzendentalem Gegenstand, Geist und Natur. Mit seinem Prinzip des transzendentalen Idealismus will Schelling ein System des Wissens begründen, das nicht nur die Reflexivität des Ich, sondern auch die Reflexivität der Natur im Prozeß ihrer Entwicklung bestimmt. Sowohl die Form als auch die Materie der Wissenschaft sollen reflexiv bestimmt werden. Das zweite Kapitel hat die Funktion und die Begründbarkeit eines allgemeinen Gegenstandes von Wissenschaft überhaupt zum Gegenstand. Kant bestimmt als die Funktion des transzendentalen Gegenstandes die Konstitution der Beziehung der Begriffe auf einen Gegenstand, d.i. die objektive Realität der Erkenntnisse. In seiner Funktion, objektive Realität zu begründen, stimmt der transzendentale Gegenstand mit der Materie der Empfindung, dem Substrat intensiver Größen und der einfachen Substanz überein. Mit der Subsumtion der Materie unter dem Raum als der formalen Bedingung der Möglichkeit aller Materie erfolgt der Übergang von der Materie der theoretischen Wissenschaft zum Substrat physikalischer Realität und damit zur Wissenschaft der Materie. Ist der transzendentale Gegenstand nichts anderes als die transzendentale Einheit der Apperzeption 8 und stimmt der transzendentale Gegenstand in seiner Funktion, objektive Realität zu begründen mit der Substanz im Raum überein, wird die Bestimmung der Gemeinschaft der Seele mit der Materie und die Bestimmung des Verhältnisses von empirischem und transzendentalem Ich problematisch. Eine Analyse der Kapitel über die Paralogismen der reinen Vernunft und der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Β zeigt die Problematik einer intellektuellen Anschauung und Kants Idee des Selbstbewußtseins auf. Daran anschließend wird die Funktion der intellektuellen Anschauung für Schellings Konstruktion und Produktion des Systems des Wissens erörtert. Die Deduktion objektiver Realität in Schellings System des transzendentalen Idealismus wird im Zusammenhang mit Fichtes Deduktion der Empfindung und der Anschauung im Grundriss des eigenthümlichen der Wissenschaftslehre und der Auseinandersetzung Schellings mit Kants Bestimmung der transzendentalen Einheit der Apperzeption, des transzendentalen Gegenstandes und der Begründbarkeit objektiver Realität dargelegt. 8

Vgl. /. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), hrsg. v. R. Schmidt, Hamburg 1990, A 109.

Einleitung

Das dritte Kapitel hat die Bestimmung der Materie als ein Gegenstand des äußeren Sinnes und die Begründung der objektiven Realität des Begriffs der Materie zum Gegenstand. Der Begriff der Materie wird nicht länger als Gegenstand der Transzendentalphilosophie, sondern der Naturphilosophie betrachtet. Es wird gezeigt, wie Kant an der Selbständigkeit des Grundes der Realität der Gegenstände möglicher Erfahrung festhält und aus diesem Grund das Dasein der Materie nicht konstruiert, sondern voraussetzen muß. Schelling fordert in seiner Deduktion der Materie jedoch den absoluten, voraussetzungslosen Anfang, so daß er nicht bloß die allgemeinen Eigenschaften, sondern zudem die Genesis des Gegenstandes der Naturwissenschaft zu begründen hat. Das vierte Kapitel hat Schellings Versuch, die prinzipielle Einheit von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie zu begründen, zum Gegenstand. Weil Schelling sich explizit auf die Kritik der Urteilskraft bezieht, werden zunächst die relevanten Bestimmungen Kants expliziert. Vermittelst der Begriffe der zweckmäßigen Selbstorganisation der Natur, der natura naturans und der natura naturata versucht Schelling die Reflexivität der Natur zu erweisen und damit das Desiderat der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes zu beheben. Die Problematik und die Konsequenzen der Bestimmung der Natur als Subjekt wird im Schlußkapitel verdeutlicht. Mit der Konzeption der Arbeit wurde beabsichtigt, die systematische Entwicklung der Schellingschen Naturphilosophie aus ihren begriffsgeschichtlichen und systematischen Bezügen aufzuzeigen. Diesem Anspruch nach ist zu zeigen, wie einerseits Schelling sich die Argumente und auch Inkonsistenzen der Argumentationen von Kant und Fichte zu nutze macht, andererseits aber vor allem Kant sich gegen diese Konsequenzen zu verwehren sucht. Der Titel der Arbeit, „Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie", versucht diesen Gedanken der Entwicklung der Schellingschen Naturphilosophie aufzugreifen. Die Problematik dieser Entwicklung läßt sich in ihrer Darstellung, die aus sachlichen Gründen selbst nicht bruchlos erscheinen kann, erkennen. Die „Materie der Wissenschaft", von der aus zur „Wissenschaft der Materie" übergegangen werden soll, ist der allgemeine Gegenstand von Wissenschaft überhaupt. Es ist dasjenige, worauf sich eine jede Wissenschaft als Wissenschaft notwendig beziehen können muß und damit wird zugleich die Bedingung der Möglichkeit von allgemeiner und notwendiger Erkenntnis zum Gegenstand der Untersuchung. Sind im transzendentalen Gegenstand Form und Materie der Wissenschaft indifferent, so daß sich der transzendentale Gegenstand allein als die notwendige Einheit des Bewußtseins bestimmen läßt, dann fallen die Einheit des Bewußtseins, Wissenschaft und deren mögliche Gegenstände in Eines. Das Selbstbewußtsein würde damit zum Grund und Gegenstand von Wissenschaft.

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Einleitung

Der von Schelling intendierte Übergang „von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie" stützt sich einerseits auf Kants Bestimmung der Einheit von transzendentaler Einheit der Apperzeption und transzendentalem Gegenstand und der Indifferenz von empirischem und transzendentalem Subjekt in der Selbstaffektion, andererseits stützt er sich auf Fichtes Deduktion der Empfindung und der Anschauung. Der Übergang von der Transzendentalphilosophie zur Naturphilosophie selbst scheint in der Kritik der reinen Vernunft angelegt zu sein. In der Kritik der reinen Vernunft läßt die Übereinstimmung von transzendentalem Gegenstand, dem Realen in der Erscheinung, der einfachen Substanz und der Substanz im Räume einen Übergang von der „Materie der Wissenschaft" zur „Wissenschaft der Materie", die die Materie als Gegenstand des äußeren Sinnes betrachtet, als möglich erscheinen. Dieser Übergang ist jedoch nicht zu begründen. Diese Unmöglichkeit begründet für Kant die Notwendigkeit der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Deshalb ist auch ein bruchloser Übergang zur Argumentation im Abschnitt C. zur Naturphilosophie nicht möglich. Die transzendentalphilosophische Begründung der Naturphilosophie scheitert an der Unmöglichkeit der Deduktion der Materie unter der Form der Anschauung des äußeren Sinnes aus der Materie unter der Form der Anschauung des inneren Sinnes und der reinen Apperzeption. Die Einheit des Systems des Wissens und des Systems der Gegenstände des Wissens sucht Schelling dadurch zu begründen, daß er sie aus einem Prinzip, dem der Zweckmäßigkeit, entspringen läßt. Auch dieser Vermittlungsversuch Schellings scheitert. Mit dem Scheitern ist zu zeigen, daß mit Schellings Bestimmung der Natur als Subjekt weder die Selbständigkeit des Grundes der Realität sich begründen läßt, noch ein szientistischer Wissenschaftsbegriff zu korrigieren ist.

„Die Kritik, in welchem Theil der Kunst oder Wissenschaft sie ausgeübt werde, fordert einen Maßstab, der von dem Beurtheilenden ebenso unabhängig als von dem Beurtheilten, nicht von der einzelnen Erscheinung, noch der Besonderheit des Subjekts, sondern von dem ewigen und unwandelbaren Urbild der Sache selbst hergenommen sey. Wie die Idee schöner Kunst durch die Kunstkritik nicht erst geschaffen wird, ebenso ist in der philosophischen Kritik die Idee der Philosophie selbst die Bedingung und Voraussetzung, ohne welche jene in alle Ewigkeiten nur Subjektivitäten gegen Subjektivitäten, niemals das Absolute gegen das Bedingte zu setzen hätte." F. W. J. Schelling (SW V, S. 3)

A . Die Materie der Wissenschaft I. Kant und Fichte zu einer möglichen Wissenschaft des Wissens 1. Kant zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft Antizipiertes Ziel einer Kritik der reinen Vernunft sei, so Kant in seiner Vorrede zur zweiten Auflage des gleichnamigen Werkes, der „Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören ( . d e n sicheren Weg einer Wissenschaft aufzuzeigen. Sicher sei der Weg, der einen steten Fortschritt ohne „Herumtappen ( . . . ) " 2 erlaube und die einzelnen Wissenschaftler „in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht verfolgt werden soll, einhellig (.. .)" 3 mache. Diese Einstimmigkeit des Wegs, der Methode, werde der Logik seit altersher zugesprochen. Der Grund der Wissenschaftlichkeit der Logik sei ihre Reflexivität, denn in ihr habe „der Verstand es mit nichts weiter als sich selbst und seiner Form, zu tun (.. .)." 4 Die Vernunft hingegen habe es nicht ausschließlich mit sich selbst zu tun, so daß 1

KrV, Β VII. Ebd. Vgl. Β XIV. 3 KrV, Β VII. 4 KrV, Β IX. An späterer Stelle, KrV Β X, heißt es jedoch, daß in bezug auf die Logik die Vernunft, und nicht der Verstand, es nur mit sich selbst zu tun habe. 2

2 Gerhard

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Α. Die Materie der Wissenschaft

der sichere Weg der Wissenschaft ihr nicht unmittelbar gegeben sei. Daß die Vernunft es auch mit ihr heteronomen Gegenständen, mit Objekten, zu tun hat, ist notwendig, sofern alle Erkenntnis von den Sinnen anhebt, wenngleich nicht jede Erkenntnis ihr entspringt 5. Daher jene Logik „als Propädeutik gleichsam nur den Vorhof der Wissenschaften ausmacht, und wenn von Kenntnissen die Rede ist, man zwar eine Logik zur Beurteilung derselben voraussetzt, aber die Erwerbung derselben in eigentlich und objektiv so genannten Wissenschaften suchen muß." 6 Die Logik ist somit, obwohl sie in der Form des Denkens einen Gegenstand hat, als Form ohne Inhalt, als Form von nichts bestimmt. Mit der Logik allein läßt sich keine Erkenntnis gewinnen. Deshalb erklärt Kant die Wirklichkeit der Wissenschaft zur Voraussetzung der Bestimmung der Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt. Das Verhältnis der beiden Kategorien der Modalität, Möglichkeit und Wirklichkeit, läßt sich in zweierlei Hinsicht bestimmen. Entweder der Begriff der Wirklichkeit enthielte in sich schon die Möglichkeit, da Unmögliches sich nicht realisieren ließe. Dann ginge die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit nicht über die Affirmation der Wirklichkeit hinaus, insofern die Apodiktizität der vorausgesetzten und zunächst bloß assertorischen Urteile mit dem rekursiven Schluß auf die Bedingung der Möglichkeit begründet werden soll. Oder der Begriff der Möglichkeit enthielte in sich die Wirklichkeit und wäre somit ein spekulativer Begriff, der ein Sein bei sich führte. Mit dem Schluß auf eine solche Möglichkeit wäre zugleich ihre Wirklichkeit gesetzt. Das Modell eines solchen Schlusses ist der ontologische Gottesbeweis.7 In diesem Schluß würde mit und durch die 5

Vgl. KrV, Β 1, Β 355. KrV, Β IX. 7 Der kosmologische Gottesbeweis geht von den Erscheinungen, von der Wirklichkeit aus. Alle Erscheinungen werden als endliche Seiende aufgefaßt, die nicht in sich subsistieren, sondern als Wirkungen einer von ihnen unterschiedenen Ursache gedacht werden. Der Beweisgrund des kosmologischen Gottesbeweis ist die Existenz der bewirkten Erscheinungen. Das Beweisziel ist die unbekannte Ursache dieser Erscheinungen. Die Problematik des kosmologischen Gottesbeweises ist, daß in ihm die Modalität des Schlusses gewechselt wird. Der kosmologische Beweis schließt vom effectus auf die causa, d.h. von einem Zufälligen wird auf ein unbedingtes Absolutes geschlossen, so daß in dem Schluß von der Prämisse auf die Konsequenz die Modalität gewechselt wird. Der Mangel des kosmologischen Gottesbeweises führt auf den ontologischen Gottesbeweis, der das Resultat der Kritik am kosmologischen Gottesbeweis, daß das Unbedingte nur an sich selbst und durch sich selbst erschlossen werden kann, zur Grundlage hat. Der zu beweisende Satz des ontologischen Gottesbeweises ist, daß zum Begriff Gottes notwendig die Existenz bzw. das Sein gehört. Das Absolute des ontologischen Gottesbeweises ist somit etwas, das als Resultat des ontologischen Gottesbeweises erschlossen ist, aber dennoch, unabhängig von diesem Schluß, existiert. Das Absolute ist erschlossen, als solches ist es aber nicht bloß ideell, d.h. es muß auch reell sein. Das Problem, das dem ontologischen Gottesbeweis zugrunde liegt, ist, wie ein Geist, der selbst end6

I. Kant und Fichte

19

transzendentale Reflexion 8 sowohl die Form als auch der Inhalt der reinen Vernunftwissenschaft gesetzt. Da Kant jedoch verhindern will, daß die leichte Taube im freien Flug durch die Luft, deren Widerstand sie fühle, die Vorstellung faßte, sie könne im luftleeren Raum noch viel besser fliegen 9 , restringiert er die Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Restriktion erstreckt sich nicht auf die Gegenstände wirklicher Erfahrung, weil dann bloß aktuale Erkenntnis einzelner Gegenstände, aber niemals allgemeine und notwendige Erkenntnis möglich wäre.

lieh ist, auf das Absolute schließen könne, ohne den Fehler des Wechsels der Modalität im Schluß zu machen. Um den Fehler zu vermeiden, müßten Beweisgrund und Beweisthema unter derselben Modalität stehen. Also kann das Absolute als Beweisthema nur aus sich als Beweisgrund bewiesen werden. Das Medium des Beweises aber ist der endliche Geist, dessen Existenz selbst nicht notwendig ist. Dieser Schwierigkeit ist die von Descartes in der Dritten Meditation behandelte Frage analog, wie das Subjekt, das durch Reflexion auf sich in sich geschlossen ist und dem alle materielle Realität zur Idee, zur Bestimmtheit seines Geistes wurde, zuverlässig etwas über die ihm transzendenten Objekte ausmachen könne. Der Begriff des Bewußtseins von seiner eigenen Unendlichkeit in der Selbstgewißheit des denkenden Subjekts kollidiert bei Descartes mit dem Selbstbewußtsein, das sich als singuläres Selbstbewußtsein eines endlichen Wesens weiß. Der Mangel des endlichen Subjekts läßt sich nur als eine privative Negation des unendlichen Subjekts der privativen Negation denken. Die Annahme einer privativen Negation ohne Subjekt der privativen Negation ist in sich widersprüchlich. Deshalb muß das schließende Subjekt, das zugleich das Resultat der privativen Negation ist, auf das Subjekt der privativen Negation schließen können. In diesem Schluß reicht das Medium des Beweises, der endliche Geist, an das Absolute heran. „So wird also auch der Tor überführt, daß wenigstens im Verstände etwas ist, über dem nichts Größeres gedacht werden kann (...)." [Anselm von Canterbury , Proslogion, S. 85]. Wäre das Absolute aber nur im Verstand, die Immanenz des Bewußtseins nicht durchbrochen, dann gäbe es keine Differenz zwischen denkendem Subjekt und Absoluten und ein Mangel wäre nicht denkbar. Die Existenz des Absoluten muß also als unabhängig vom Denken gedacht werden können. „Wenn also „das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann", im Verstände allein ist, so ist eben „das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann", über dem Größeres gedacht werden kann. Das aber kann gewiß nicht sein. Es existiert also ohne Zweifel „etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann", sowohl im Verstände als auch in Wirklichkeit." [A.a.O., S. 86 f.]. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, Lateinisch-Deutsche Ausgabe von P. Francisco Salesius O. S. B., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, insbes. Kap. 1-3. Vgl. R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, übersetzt und herausgegeben v. A. Buchenau, Hamburg 1994. Vgl. D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960. 8 Vgl. Krv, Β 318 f., Β 331. Eine „Auflistung der verschiedenen Bedeutungen (...)" [Reuter (1989), S. 95] und Belegstellen des Begriffs der transzendentalen Reflexion bringt P. Reuter, ohne aber die Funktion und das Verfahren der transzendentalen Reflexion hinreichend darzustellen. Vgl. P. Reuter, Kants Theorie der Reflexionsbegriffe. Eine Untersuchung zum Amphiboliekapitel der Kritik der reinen Vernunft, Würzburg 1989. 9 Vgl. KrV, A 5/B 9. 2*

Α. Die Materie der Wissenschaft

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Mit der Restriktion der Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung verengt Kant das Problem, welches er in der Kritik der reinen Vernunft zu lösen aufgegeben hat, auf die allgemeine und notwendige Bestimmung der Bedingung der Möglichkeit von wirklicher Wissenschaft. Der Gegenstand der Untersuchung wird als gegeben vorausgesetzt. Mit der Wirklichkeit von Wissenschaft unterstellt Kant die Apodiktizität von deren Urteilen. Diese Unterstellung ist problematisch, da sie durch einen Schluß begründet wird, der von partikularen Urteilen auf ein universelles Urteil geht. Von der Existenz einzelner Wissenschaften, wie Mathematik und Naturwissenschaft, wird auf die allgemeine Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt geschlossen. Der unangezweifelte Erfolg der Mathematik und der Naturwissenschaften hatte jedoch eine „Revolution ihrer Denkart (.. . ) " 1 0 zur Voraussetzung. Die Naturforscher „begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenem Plane gemachten Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf." 11 Diese sogenannte kopernikanische Wende der Naturwissenschaften macht es notwendig, den Bestimmungsgrund der Vorstellungen zu überdenken, denn die Bestimmtheit der rezipierten Gegenständen taugt fortan nicht mehr als alleiniger Bestimmungsgrund der Vorstellungen. Sollen die Vorstellungen von Gegenständen in einem notwendigen Gesetz zusammenhängen, müssen sich die Vorstellungen über die partikularen Gegenstände erheben und diese unter ein Gesetz subsumieren. Deshalb wird von Kant gefordert, daß alle Gegenstände möglicher Erfahrung der apriorischen Form der Erkenntnis unterliegen müssen. Durch diese allgemeine Form werden alle einzelnen Gegenstände zu einem System möglicher Gegenstände der Erkenntnis zusammengefaßt. Allein auf diese Weise, in der Subsumtion des Partikularen unter ein Allgemeines, läßt sich in allgemeinen Urteilen etwas über jeden einzelnen Gegenstand aussagen. Die Existenz der Gegenstände setzt Kant voraus, sie sind gegeben. Ihre Gegebenheit ist somit Voraussetzung ihrer Bestimmbarkeit. Der Gegenstand der Kritik der reinen Vernunft, der Bestimmungsgrund der Gegenstände möglicher Erkenntnis, hat den Existenzgrund seines Gegenstandes und den aller Gegenstände möglicher Erfahrung zur Voraussetzung. Bestimmungsgrund und Existenzgrund der Gegenstände werden als einander disparat gedacht. Eine gemeinsame Voraussetzung sowohl der Transzendentalphilosophie als auch der Einzelwissenschaften ist, daß sie einen Gegenstand haben. 10 11

KrV, Β XIII. KrV, Β XIII.

I. Kant und Fichte

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Ohne einen bestimmten Gegenstand wäre eine jede Wissenschaft Wissenschaft von Nichts, folglich keine Wissenschaft. Soll alle Erkenntnis von den Sinnen anheben, ergibt sich für Kant jedoch die Schwierigkeit, dem Gegenstand der Transzendentalphilosophie ein ontologisches Korrelat beizulegen. Die Materie der Wissenschaft als dasjenige, worauf sich eine jede Wissenschaft notwendig bezieht, wäre als intelligibles Substrat zu bestimmen. An der Bestimmung dieser Materie von Wissenschaft überhaupt läßt sich die Brüchigkeit der Argumentation Kants in der Kritik der reinen Vernunft demonstrieren. Eine rein logische Bestimmung der Materie führte auf die logische Konsistenz der Urteile als einziges Kriterium objektiver Realität. Eine rein empirische Bestimmung der Materie führte ausschließlich auf partikulare Urteile, mit denen sich keine apodiktische und systematische Wissenschaft begründen ließe. Die Voraussetzung allgemeiner und notwendiger Erkenntnis ist die systematische Übereinstimmung von Vorstellungen, die sich auf bestimmte Gegenstände beziehen können müssen. Der Begriff der Vorstellung findet bei Kant eine äquivoke Verwendung, dem als „Gattung (.. . ) " 1 2 , als Vorstellung überhaupt, sowohl der Begriff als auch die Anschauung subsumiert wird. In der Bestimmung ihres Existenzgrundes kommen Anschauung und Begriff überein. Weder die Anschauung noch der Begriff können bloß gegeben sein, denn dann würde die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis auf die Gegenstände als Grund der Vorstellungen führen. Die Selbständigkeit der Vorstellungen gegen ihre Gegenstände ließe sich so nicht aufrecht erhalten, die kopernikanische Wende wäre gescheitert. Also muß Kant Anschauungen und Begriffe annehmen, die unabhängig von den Gegenständen, a priori gegeben sind. Die Allgemeinheit der Urteile läßt sich mit der Annahme a priori gegebener Anschauungen und Begriffe rechtfertigen, die Beziehung der Vorstellungen auf Gegenstände läßt sich damit jedoch nicht erklären. 13 Entweder wären die Gegenstände von sich aus so verfaßt, wie sie erkannt werden, dann folgte daraus eine neue Ontologie. Die Erkenntnis wäre als schlichte Abbildung der Gegenstände der Erkenntnis durch die Gegenstände determiniert. Oder auf Seiten der Gegenstände könnte keine Bestimmtheit angenommen werden, sie wären dann bloßes Material in das subjektive Projektionen stattfänden, daraus folgte ein gegenstandsloses Erkennen. 14 Beide Varianten der Bestimmung objektiver Realität verwirft Kant. Sollen synthetische Urteile a priori dennoch möglich sein, muß sich die objektive Realität der Gegenstände möglicher Erfahrung auf eine allgemeine subjektive Bestimmung zurückführen lassen, so daß nicht bloß die Gegenstände möglicher Erfahrung, sondern auch die objektive 12 13 14

KrV, Β 376. Vgl. KrV, A 95. Vgl. KrV, A 129.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

Realität aller möglichen Erkenntnis, der kopernikanischen Wende gemäß, sich nach dem Subjekt richtet. Die gesuchte subjektive Bestimmung als Grund der objektiven Realität ist deshalb objektiv, weil sie für alle Subjekte dieselbe ist. 1 5 Diese allgemeine Bestimmung, unter der alle einzelnen Subjekte zu subsumieren sind, ist die allgemeine und notwendige Form aller möglichen Erkenntnis, die transzendentale Einheit der Apperzeption als die zur Erkenntnis notwendige synthetische Einheit der mannigfaltigen Vorstellungen. Nun steht alle Erkenntnis in notwendiger Beziehung auf einen Gegenstand, andernfalls die Erkenntnis beliebig und niemals a priori bestimmt sein würde 16 , so daß auch der transzendentalen Einheit der Apperzeption ein Gegenstand korrespondieren muß, in dessen Vorstellung dann alle Subjekte übereinstimmen. „Der reine Begriff von diesem transzendentalen Gegenstande, (der wirklich bei allen unsern Erkenntnissen immer einerlei = X ist,) ist das, was in allen unseren empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d.i. objektive Realität verschaffen kann. Dieser Begriff kann nun gar keine bestimmte Anschauung enthalten, und wird also nichts anderes, als diejenige Einheit betreffen, die in einem Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muß, sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht. Diese Beziehung aber ist nichts anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden."17 Die gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, die mannigfaltigen Vorstellungen zur Einheit zu bringen, ist ein Akt des transzendentalen Subjekts, 15

Vgl. hingegen A. Drews , Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems, Berlin 1894, S. 167 f.: „Das Prinzip, das unsere Vorstellungen erst zu objektiven macht, kann selbst nicht bloß subjektiver Natur sein, weil die subjektive Zuthat einer bestimmten Verknüpfungsart der Vorstellungen doch niemals aus dem Zirkeltanz der Subjektivität hinausführt. Es kann aber auch nicht rein transcendenter Natur sein in dem Sinne, daß es gar keine Beziehung zu dem Inhalt des Bewußtseins hätte, weil das Objektive eben ein Bewußtseinsimmanentes ist und als solches den inhaltlichen Gegenpol zu dem rein Subjektiven bildet. Das Prinzip der Objektivität unserer Vorstellungen kann also nur ein solches sein, das die transcendenten Außenwelt mit der immanenten Welt des Bewußtseins verbindet, und dieses thut allein die transcendente Kausalität, indem sie mit ihrem einen Ende an das Subjektive (die Empfindung) angeknüpft ist, mit ihrem anderen Ende in das Gebiet der Dinge an sich hinausreicht. Daß die transcendente Kausalität von dem Ding an sich ausgeht und gleichsam eine Kunde von jener Welt in das Bewußtsein herübersendet, dies ist es, was die objektive Vorstellung von der subjektiven unterscheidet, bei welcher eine solche reale Beziehung nicht vorhanden ist. Daß sie die Empfindung als Bewußtseinsmoment hervorruft, dies macht, das das Objektive doch bloß Vorstellung ist, daß es als solche von dem Gegenstande wesentlich verschieden und daß der Realismus, der sich auf dieser Anschauungsweise aufbaut, nicht der naive des gesunden Menschenverstandes, sondern der transcendentale Realismus ist." 16 Vgl. KrV, A 104. 17

KrV, A 109.

I. Kant und Fichte

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der konstitutiv ist für alle empirischen, Wissenschaft betreibenden Subjekte. Der Gegenstand, der allen möglichen Vorstellungen korrespondiert, ist das Selbstbewußtsein. So ist der transzendentale Gegenstand Materie der Transzendentalphilosophie, sofern die Transzendentalphilosophie auf die Form von Wissenschaft überhaupt, die ersten Gründe unserer Erkenntnis 18 geht, und der transzendentale Gegenstand ist Materie von Wissenschaft überhaupt, sofern er dasjenige ist, auf das sich alle Erkenntnis als Bedingung ihrer Möglichkeit muß beziehen können. Die Vermittlung der kollektiven Einheit des Bewußtseins mit der Realität der Erscheinungen, die der transzendentale Gegenstand in der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, der Deduktion A von 1781, nicht zu leisten vermag, erfolgt im weiteren Verlauf der Kritik der reinen Vernunft durch die Bestimmung des Realen in der Erscheinung. Mit der Einführung des Realen in der Erscheinung bleibt die logische Konsistenz der Welt der Erscheinungen nicht das einzige Kriterium der Realität der Welt der Erscheinungen. An der Selbständigkeit des Grundes der Realität festhaltend bestimmt Kant die Materie der Wahrnehmung zum Grund der objektiven Realität der Erscheinungen. Die Materie der Wahrnehmung ist bezogen auf Erscheinungen in der Welt, kann aber selbst nicht als Erscheinung vorgestellt werden. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist als funktionale Einheit aller Bestimmungen der Erscheinungen nicht als Grund der Existenz dieser Erscheinungen zu denken. Diese Restriktion der Funktion der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist notwendig, sofern Kant den ontologischen Gottesbeweis vermeiden will. Der Grund der Existenz der Erscheinungen sei das Ding an sich als die unbekannte Ursache der Erscheinung. Als unbekannte Ursache aller möglichen Gegenstände der Erfahrung ist das Ding an sich selbst kein möglicher Gegenstand der Erfahrung. Die Gegenstände möglicher Erfahrung sind als existierend vorausgesetzt. Der Kantischen Bestimmung gemäß existieren die Erscheinungen im und für das Subjekt, sie subsistieren aber nicht in sich, so daß ein anderer Existenzgrund angenommen werden müsse. Aus dem negativen, nicht in sich subsistierenden Existenzgrund wird auf einen positiven Existenzgrund der Erscheinungen geschlossen. Dieser Existenzgrund läßt sich erschließen entweder aus dem Nicht-Subsistieren der Erscheinungen oder aus dem Subjekt. Ist er aus dem Subjekt erschlossen, ist das Subjekt wiederum der logische Grund des Existenzgrundes. Dann wäre das, was für das Subjekt ist, durch das Subjekt. Kant hält jedoch an der Selbständigkeit des Grundes der Realität fest. Damit ist der Grund der Realität bestimmt als etwas, das weder Element noch Resultat der Synthesis ist und sich auch nicht unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption fassen läßt, so daß Bestimmungs18 Vgl. /. Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral, Kants Werke Akademieausgabe Bd. II, Berlin 1968.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

grund und Existenzgrund, transzendentaler Gegenstand und Ding an sich, ebenso wie Form und Inhalt der transzendentalen Reflexion auseinanderfallen. Wider diese Selbständigkeit des Grundes der Realität spricht aber, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption keinen anderen Inhalt als sich selbst haben kann. Jeder bestimmte Inhalt machte das transzendentale Subjekt zu einem empirischen Subjekt. Ohne bestimmten Inhalt ist die transzendentale Einheit der Apperzeption jedoch die reine Identität, eine leere Vorstellung von sich selbst. Dieser Konsequenz versucht Kant zu entgehen, indem er der allgemeinen Form der Erkenntnis, der transzendentalen Einheit der Apperzeption, einen Inhalt korrespondieren läßt, der jedoch völlig unbestimmt sein muß, soll er dem kollektiven Selbstbewußtsein entsprechen. Kant unterscheidet Form und Inhalt der transzendentalen Reflexion, ohne ihrer Reflexivität, die doch die Wissenschaftlichkeit der Logik von altersher begründete 19 , Herr zu werden. Auch wenn die Kritik der reinen Vernunft, ebenso wie die allgemeine Logik auf die Form des Denkens, auf die Form von Wissenschaft überhaupt geht, leugnet Kant dennoch die Möglichkeit einer reflexiven Struktur des Wissens, und damit die Möglichkeit eines Wissen des Wissens, in der die Form zum Inhalt wird, weil andernfalls das zu Begründende zu seinem eigenen vorauszusetzenden Grund würde. 20 Konsequent verneint Kant die Möglichkeit eines allgemeinen Kriteriums der Wahrheit, um sich dennoch dieses allgemeinen Kriteriums, wenn auch in anderer Gestalt, in der Argumentation der transzendentalen Logik zu bedienen. 21 „Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von anderen unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von anderen Gegenständen gelten könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der 19

Vgl. KrV, Β IX. Eine solche Teleologie der Erkenntnis will Kant vermeiden. Vgl. /. Kant, Kritik der Urteilskraft (KdU), Kants Werke Akademie Textausgabe Bd. V, Berlin 1968, S. 220: „Wo also nicht etwa bloß die Erkenntnis von einem Gegenstande, sondern der Gegenstand selbst (die Form oder Existenz desselben) als Wirkung nur als durch einen Begriff von der letztern möglich gedacht wird, da denkt man sich einen Zweck. Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztern vorher." 21 In der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, im Schematismus der reinen Verstandesbegriffe und in den Grundsätzen des reinen Verstandes widerspricht Kant seiner Einsicht in die Unmöglichkeit eines allgemeinen Kriteriums der Wahrheit, indem er darzustellen versucht, wie die allgemeinen und formalen Bestimmungen der Erkenntnis auf partikulare und kontingente Gegenstände der Erkenntnis anzuwenden sind. Gemeinsam ist den Konstruktionen in allen drei Textpassagen der Widerspruch, einerseits sich a priori durch eine notwendige formale Allgemeinheit auszuzeichnen, andererseits jedoch sich auf etwas zu beziehen, was nicht a priori, sondern nur den einzelnen Subjekten durch Erfahrung gegeben werden kann. 20

I. Kant und Fichte

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Wahrheit dasjenige seien, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne. Da wir oben schon den Inhalt einer Erkenntnis die Materie desselben genannt haben, so wird man sagen müssen: von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach läßt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen, weil es in sich selbst widersprechend ist." 22 Die Beziehung auf einen Gegenstand bedeutet für Kant die Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand. Abstrahierte man von diesem bestimmten Gegenstand, hätte die Erkenntnis keinen Gegenstand, sie wäre gegenstandslos. Möglich sei deshalb bloß ein negativer Probierstein der Wahrheit, ein bloß logisches Kriterium der Wahrheit, welches die allgemeinen und formalen Gesetze des Denkens betreffe. Die logische Konsistenz wäre dann das einzige Kriterium der Wahrheit, der objektiven Realität der Welt der Erscheinungen. Die logische Konsistenz hätte jedoch ein abgeschlossenes System zur Voraussetzung. Die Welt der Erscheinungen müßte sich als kollektive Einheit des Erfahrungsganzen erweisen lassen können, im Erkenntnisprozeß der Wissenschaften müßte die Welt als ein Ganzes den Subjekten gegeben sein. Kants kritische Einschränkung der reinen Vernunft auf Gegenstände möglicher Erfahrung verwehrt dem Subjekt aber genau diese Ansicht der Totalität. Einsicht in die Totalität der Erscheinungen erhält der Verstand allein durch die regulative Idee eines Erfahrungsganzen. Ein logisches Kriterium der Wahrheit ist somit nicht hinreichend. „Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, so sehr sie auch mit logischen Gesetzen übereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objektive) Wahrheit dem Erkenntnisse darum auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urteilen, und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher gegründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben, um hernach bloß die Benutzung und die Verknüpfung derselben in einem zusammenhängenden Ganzen nach logischen Gesetzen zu versuchen, noch besser aber, sie lediglich danach zu prüfen." 23 Die Form ihrer Gesetzmäßigkeit erhält die Natur durch das sie bestimmende Verstandesvermögen, die reflektierende Urteilskraft. 24 Allein unter der Form der Gesetzmäßigkeit kann die Natur zu einem Gegenstand der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs werden. Aus der bloßen Form folgen jedoch keine Gesetze, ihre Voraussetzung ist vielmehr die Existenz bestimmter Gesetze, die der Form der Gesetzmäßigkeit entsprechen. 22 23 24

KrV, Β 83. KrV, Β 85. Vgl. KdU, S. 179, XXVII.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

Die einzelnen Gesetze müssen sich nach Prinzipien zu einer Einheit zusammenfassen lassen. Sie müssen der transzendentalen Einheit der Apperzeption unterstehen, die somit konstitutiv ist für die Gegenstände möglicher Erfahrung. Daß „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt (...) zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung (.. . ) " 2 5 sind und darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori haben, bedeutet nicht, daß durch Kant „die Geschichte der Produktion der Natur durch unseren Geist erzählt und erklärt werde (.. .)." 2 6 Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind für Kant nicht die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, sondern sie sind Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, die zwar notwendig, aber nicht hinreichend sind. Mit dieser Einschränkung sichert Kant den möglichen Gegenständen der Erfahrung ein Moment von Selbständigkeit zu, die sich einer Produktion der Natur durch unseren Geist nicht beugt. Die Apodiktizität von empirisch sachhaltigen Urteilen, die Wirklichkeit bestimmter Erkenntnis wird von Kant zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft unterstellt. 27 Der Gegenstand der kritischen Untersuchung ist jedoch die Form der Erkenntnis. Die Bestimmung der apriorischen Form der Erkenntnis gelingt Kant nicht ohne die Annahme der Spontaneität des Verstandes. Allein in der spontanen transzendentalen Reflexion kann das Denken sich selbst zum Gegenstand werden ohne seinen bestimmten Gegenstand als gegeben vorauszusetzen. Die reflektierende Urteilskraft hingegen ist, trotz ihres Vermögens, a priori Gesetze zu bestimmen, auf die Gegebenheit eines Gegenstandes angewiesen. Als ein a priori gesetzgebendes Vermögen ist die Urteilskraft nach Kant entweder eine Funktion des Verstandes, mithin bestimmende Urteilskraft, die das Besondere unter das gegebene Allgemeine subsumiert, oder sie ist als sich selbst ein Gesetz gebend reflektierende Urteilskraft, die das Allgemeine zum gegebenen Besonderen finden soll. Die Resultate der reflektierenden Urteilskraft sind dann problematisch, d.h. von nur komparativer Allgemeinheit. Wären aber alle Resultate der reflektierenden Urteilskraft problematisch, wäre keine Wissenschaft möglich, also muß sie ein Allgemeines finden, das als Obersatz der bestimmenden Urteilskraft die Bedingung der Möglichkeit der Organisation der einzelnen Gesetze zu einem einheitlichen System des Wissens ist. Das Resultat der reflektierenden Urteilskraft hat zur Voraussetzung, daß die in dem gesuchten Allgemeinen zu Vergleichenden vergleichbar sind. Diese Bestimmtheit ist notwendig für den Vergleich und die zu Vergleichenden. Nun 25

KrV, Β 197. M. Boenke, Transformation des Realitätsbegriffs. Untersuchungen zur frühen Philosophie Schellings im Ausgang von Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 79. 27 Vgl. Kapitel Α. I. 1. Kant zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft. 26

I. Kant und Fichte

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ist die reflektierende Urteilskraft nicht bedingt durch das bedingte Einzelne, sondern ein Vermögen a priori, das gleichwohl seinen Gegenstand als gegeben voraussetzen muß. Ohne die Realität einzelnen Wissens ließe sich nicht auf die Bedingung der Einheit des Wissens reflektieren. Wird die für den Vergleich und die zu Vergleichenden notwendige Bestimmtheit ontologisch gefaßt, würde nicht nur die formale, sondern auch die materiale Bestimmtheit der Gegenstände möglicher Erfahrung zur transzendentalen Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Fichte entgeht dieser Schwierigkeit, indem er die Bestimmtheit der Gegenstände erkenntnistheoretisch nimmt. Die Objekte des Verstandes bestimmt er als „erst durch die Reflexion, und zum Behuf der Reflexion gesetzt ( . . . ) . " 2 8 Die Bestimmung der apriorischen Form der Erkenntnis ist der reflektierenden Urteilskraft nicht möglich. Hierzu bedarf es der transzendentalen Urteilskraft, die allein die Erkenntnis sich zum Gegenstand ihrer Erkenntnis machen kann. Der logische Ort der Erkenntnis der Erkenntnis ist die Vernunft und nicht der Verstand, denn der Verstand reflektiert nicht auf sich, sondern auf ihm in der Anschauung gegebene Gegenstände. Die Vernunftidee des Ich denke ist notwendige Voraussetzung aller Verstandeserkenntnis. Die Kategorien sind selber Vernunftbegriffe von konstitutivem Gebrauch, denn ohne sie gäbe es keine empirischen Urteile von apodiktischer Geltung. Die Kritik der reinen Vernunft hat demnach nicht nur die Wirklichkeit von Wissenschaft zur Voraussetzung, sondern auch das transzendentale Subjekt, dessen Begründung erst Gegenstand sein soll. Gegen diese zu kritisierende Voraussetzung bemühen Fichte und Schelling den voraussetzungslosen, absoluten Anfang einer Wissenschaft des Wissens 29 , in der dasjenige abgeleitet werden soll, was Kant bloß vorfinde. Soll Wissenschaft dem Anspruch auf Apodiktizität ihrer Urteile genügen, so müssen die ontologischen Bestimmungen der Gegenstände der Erkenntnis notwendig sein und die logischen Bestimmungen durch die Erkenntnis der Gegenstände frei sein. Gefordert ist die Übereinstimmung der Vorstellungen, die ein fundamentum in re haben, mit der Spontaneität des Denkens. Es ergibt sich somit für Kant die Notwendigkeit, Notwendigkeit und Freiheit gleichermaßen zu denken. Können Freiheit und Notwendigkeit bei Kant nebeneinander gedacht werden, sucht Fichte hingegen die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit zu realisieren. Fichtes Frage richtet sich auf die Bedingungen der Realisation der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit, den Ort ihrer Wirklichkeit. Bei Kant ist die Übereinstimmung der kollekti28 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) (WL), Fichtes Werke Bd. I, hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971, S. 242. 29 Vgl. Kapitel Β. I. 2. Sein und Realität des Selbstbewußtseins. Zu Schellings Ausgang im Unbedingten vgl. L. Hühn, Fichte und Schelling oder: Über die Grenze menschlichen Wissens, Stuttgart/Weimar 1994, S. 149 ff.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

ven Einheit des Selbstbewußtseins mit allen empirischen Bewußtseinen der höchste Punkt des Schlusses auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, es ist der „,schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt." 30 Fichte geht darüber hinaus, indem er nach den notwendigen Bestimmungen, den Bedingungen dieses Ich denke fragt, von dem Kant sagt, daß wir keinen Begriff davon haben könnten. 31 Dergestalt stößt Fichte auf das absolute Ich, die reine Identität des Ich, als Voraussetzung des Selbstbewußtseins.32 Gegenstand der Fichteschen Abhandlung zur Wissenschaftslehre ist somit die Reflexivität, deren Gegenstand wiederum die Differenz von Gegenstand und Wissenschaft ist. 2. Fichtes Grundsätze der Wissenschaftslehre (1794) Der Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das System des menschlichen Wissens. Der Existenzgrund dieses Systems des Wissens soll nicht vollständig in der Wissenschaft desselben aufgehen, „aber durch sie [die Wissenschaftslehre; M.G.] in systematischer Form aufgestellt ( . . . ) " 3 3 werden. „Das, was die Wissenschaftslehre aufstellt, ist ein gedachter und in Worte gefasster Satz; dasjenige im menschlichen Geiste, welchem dieser Satz correspondirt, ist irgendeine Handlung desselben, die an sich gar nicht n o t wendig gedacht werden müsste." 34 Die Handlung müsse nicht notwendig gedacht werden, sondern sei unabhängig von der Wissenschaft im menschlichen Geist vorhanden. Notwendig sei jedoch, daß diese Handlung Gesetzen gemäß erfolge. Jedem bestimmten Wissen ginge ein ursprüngliches Wissen 30

KrV, A 117 FN. Vgl. KrV, Β 404: „Zum Grunde derselben können wir aber nichts anderes legen, als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, sofern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, daß ich dadurch irgend etwas denke." 32 Vgl. Kants Überlegungen zur Einheit von denkendem und gedachtem Ich in der Deduktion B, KrV, Β 130 ff. Vgl. Kapitel Β. I. 2. Sein und Realität des Selbstbewußtseins. 33 J. G. Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre (Begriff d. WL), Fichtes Werke Bd. I, hrsg. ν. Η. I. Fichte, Berlin 1971, S. 70. 31

34

Begriff d. W L , S. 79.

I. Kant und Fichte

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voran, dessen Gehalt 35 als Handlung und dessen Form als die Gesetzmäßigkeit der Handlung im Geist vorhanden sei. Das Objekt der Wissenschaftslehre sei ihr somit ursprünglich gegeben. Entgegen allen anderen Wissenschaften muß eine Wissenschaft des Wissens nicht nur das Prinzip des Wissens darlegen, sondern mit ihm zugleich das Prinzipiatum, das Wissen selbst. Form und Inhalt der reflexiven Wissenschaft sind nicht voneinander zu trennen. Das absolute Prinzip des Wissens überhaupt läßt sich nur als ein Erkanntes aussagen. Das Wissen und der Grund des Wissens sind stets aufeinander verwiesen. In einer Wissenschaftslehre läßt sich das eine nicht auf das andere zurückführen, das Wissen und der Grund des Wissens sind zugleich, in gleicher Hinsicht zu erklären. Sie sind in ihrem Verhältnis absolut. Das Absolute ist für Kant kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Es ist ihm ein transzendentales Ideal, welches nicht vermag, das subjektive Denken objektiv auf die Gegenstände möglicher Erfahrung zu beziehen. Fichtes absolutes Ich ist kein transzendentales Ideal, sondern Prinzip des Wissens. Dieses gewußte Prinzip des Wissens ist nichts anderes als das Selbstbewußtsein, die transzendentale Einheit der Apperzeption. 36 Das Selbstbewußtsein ist absolute Spontaneität, d.h. es existiert durch sich und für sich. 37 Fallen Existenzgrund und Erkenntnisgrund des Selbstbewußtseins in Eines, so ist es als schlichte Reflexivität für sich leer, der reine Satz der Identität oder Ich = Ich. Der Schluß von der reinen Identität des mit sich Identischen auf das Absolute ist naheliegend. Das Absolute ist das mit sich Identische. 38 Die systematische Darstellung des Absoluten versucht Fichte durch die Bestimmung eines schlechthin-unbedingten Grundsatzes auszuführen. Es ist dies der absoluteste Grundsatz alles menschlichen Wissens 39 , auf dem sich das System des Wissens soll begründen lassen können. Als absolut-erster Grundsatz ist er begründend, aber nicht begründbar. Er ist schlechthin gesetzt, d.h. er ist „ohne allen weiteren Grund, gewiss ( . . . ) . " 4 0 Die Gewißheit des gesuchten Grundsatzes könne keinen bestimmten Grund haben, sie könne daher nur negativ über einen apagogischen Beweis erschlossen werden. „Den Satz (...) giebt Jeder zu; und zwar ohne sich im geringsten darüber zu beden35 In der folgenden Darstellung der Fichteschen Philosophie wird der Fichteschen Terminologie gemäß der Begriff des Inhalts durch das Synonym Gehalt ersetzt. 36 Vgl. Kapitel Β. I. 2. f) Die Idee des Selbstbewußtseins und das transzendentale Ideal. 37 Vgl. WL, S. 97. 38 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Enzyklopädie), Hauptwerke Bd. 6, seitengleich mit Bd. 20 der historisch-kritischen Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1999, § 115, S. 146. 39 Vgl. WL, S. 91. 40 WL, S. 93.

Α. Die Materie der Wissenschaft

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ken: man erkennt ihn für völlig gewiß und ausgemacht an." 4 1 Der Satz, dessen Geltung jedes empirische Bewußtsein zugibt, ist der Satz der Identität: A = A. Wird der Satz A = A, dem Anspruch auf Absolutheit gemäß, als völlig gewiß allgemein anerkannt, ohne daß ein weiterer Grund hierfür angegeben werden könnte, „schreibt man sich das Vermögen zu, etwas schlechthin zu setzen" 42 Schlechthin gesetzt ist damit die Beziehung von A zu A als ein notwendiger Zusammenhang, den Fichte mit X bezeichnet. Daß A sei, ist mit dem Grundsatz nicht prädiziert, d.h. der Inhalt wird von der Form unterschieden, so daß der Gehalt des Satzes für die Form desselben und damit für das Wissen irrelevant ist. Das Setzen schlechthin des notwendigen Zusammenhangs im ersten, absoluten Grundsatz ist jedoch nicht als Versuch einer Letztbegründung zu begreifen. Ein solcher Begründungsversuch taugt nicht für den ersten Grundsatz, denn einer Letztbegründung obliegt es, alles zu begründen, mithin auch sich selbst zu begründen und noch den Unterschied von Grund und Begründetem darzulegen. Aus diesem einen Prinzip alles, sowohl den unbedingten Grundsatz als auch das durch diesen Begründete, zu begründen, ohne in einen regressus ad indefinitum zu fallen, hieße die Letztbegründung affirmativ als das Absolute zu setzen. Das Resultat einer solchen Begründung wäre die Erklärung der Notwendigkeit der Reflexion. Fichte ist die Reflexion jedoch eine freie Tätigkeit, die nicht aus sich als der unbedingten Einheit die Vielheit in konstitutiver Weise hervorgehen läßt. Das, was aus dem Satz der Identität deduziert wird, ist somit nicht Resultat einer creatio ex nihilo. Der erste, unbedingte Grundsatz taugt nicht zu einer Letztbegründung, gleichwohl deduziert Fichte Wissen aus diesem Grundsatz. Den einzigen Beweis den Fichte führen kann, ist der, daß, vorausgesetzt es gebe überhaupt Wissen, selbst der Kritiker des ersten Grundsatzes nicht umhin komme, diesen zu verwenden. Die Deduktion des Wissens aus dem unbedingten Grundsatz ist nicht aus Prinzipien gewonnen, mithin nicht apodiktisch, sondern apagogisch. Der Satz der Identität in der Form der Tautologie des A = A gilt jedoch nur unter einer bestimmten Bedingung: der Existenz des A. Die Tautologie ist in dieser Form ein hypothetisches, in Kantischen Termini, ein problematisches Urteil: „wenn A sey, so sey Α . " 4 3 A = A ist demnach nur seiner Form nach unbedingt. Daß A sei, ist nicht unbedingt gewiß. Die Existenz des A, welche den spezifischen Inhalt bzw. den Gehalt der formalen Tautologie ausmacht, ist bedingt durch ein Anderes. Das Analogon dieser Tautologie des A, das Ich = Ich, gilt hingegen schlechthin und unbedingt.

41 42 43

WL, S. 92 f. WL, S. 93. WL, S. 93.

I. Kant und Fichte

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„In ihm ist das Ich, nicht unter Bedingung, sondern schlechthin, mit dem Prädikate der Gleichheit mit sich selbst gesetzt; es ist also gesetzt; und der Satz läßt sich auch ausdrücken: Ich bin" 44 Der Satz: A = A erzwingt einen Übergang zum Satz: Ich = Ich, dem absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens. Daß jedes empirische Bewußtsein den Satz A = A als schlechthin gewiß annehmen muß, kann Fichte allein dadurch beweisen, daß er ihn auf einen anderen Satz zurückführt. Das macht den Übergang von dem Satz A = A, den jedes empirische Bewußtsein zugeben muß, zu dem Satz Ich = Ich, der jedes Bewußtsein überhaupt erst ermöglicht, notwendig. Ich = Ich ist der formale Ausdruck der Einheit des Bewußtseins, die Bedingung jedes Wissens ist. Es ist die Einheit von Grund des Wissens und Wissen. Das aus dem Satz der Identität Erschlossene wird zu dem, woraus der Satz der Identität begründet wird. Von dem Satz A = A wurde ausgegangen, weil von einem jedem empirischen Bewußtsein gewissen Satz ausgegangen werden mußte. Um auf die Bedingung des Wissens zu schließen, mußte ein bestimmtes Wissen vorausgesetzt werden, ansonsten wäre das Prinzip des Wissens Grund der Existenz alles Wissbaren, aller Gegenstände möglichen Wissens. Beide Sätze der Identität, das A = A sowie das Ich = Ich, sind jeweils ihre eigene Voraussetzung. Die Argumentation des ersten Grundsatzes ist notwendig zirkulär, denn er ist Voraussetzung jeder vernünftigen Erörterung. Als sich durch sich begründend ist dieser Grundsatz absolut. Der Gehalt bloßer Zirkularität ist die Identität: Der Satz der Identität ist seine eigene Voraussetzung, die Voraussetzung hat sich selbst zur Voraussetzung oder: Wenn A = A, dann A = Α. Das ineinanderumschlagende Verhältnis von Antecedens und Konsequenz ist absolute Identität. Jeder Identitätssatz ist Ausdruck der Möglichkeit seines Inhaltes. „Alles, worauf der Satz A = A anwendbar ist, hat, inwiefern derselbe darauf anwendbar ist, Realität." 45 Alles, was im Ich gesetzt wird, unterliegt notwendig dem Satz der Identität. Für Fichte folgt aus der Anwendung des Satzes der Identität nicht nur die Einheit, sondern auch die Realität der gesetzten Gegenstände. Der Kantischen Argumentation entsprechend muß Realität jedoch als Kategorie auf etwas Gegebenes bezogen werden können. Dieses Gegebene läßt sich nicht auf die Empfindung reduzieren, sofern ein Sensualismus gemäß dem Berkleyschen esse est percipi 46 vermieden werden soll. Es muß also die Existenz einer Materie der Empfindung angenommen werden, die nur zu bestimmen ist als das, dessen Begriff an sich ein Sein enthält. Daß etwas ist, 44

WL, S. 95. WL, S. 99. 46 Vgl. G. Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, nach der Übersetzung von F. Uberweg neu hrsg. v. A. Klemmt, Hamburg 1979, S. 26: „Das Sein (esse) solcher Dinge ist Perzipiertwerden (percipi)" 45

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Α. Die Materie der Wissenschaft

ermöglicht erst die Beziehung der Kategorie Realität auf die Erscheinungen. Ist der Grund der Realität ontologisch, muß er als ein Transzendentes gegeben sein. Ist der Grund jedoch transzendentalphilosophisch, ist die Kategorie Realität durch das transzendentale Subjekt gegeben. Realität ist dann Folge des transzendentalen Subjekts, welches nicht mehr die bloß funktionale Einheit oder kollektive Einheit aller Bewußtseine sein kann. Die Realität wäre dann im und durch das Ich gesetzt. Die beiden dargelegten Sätze der Identität, A = A und Ich = Ich, sind wechselseitig aufeinander verwiesen. Vorstellung und Vorstellendes subsistieren nicht in sich. Es hat sich aber gezeigt, daß Ich = Ich, das Selbstbewußtsein, der Satz ist, aus dem sich erst der Satz des A = A begründen läßt. Die Voraussetzung findet demnach durch das Resultat seine Begründung. 47 Damit ist diejenige Tathandlung gefunden, „welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht." 4 8 Mit dem Übergang von der schlichten Tautologie „ A ist A (.. . ) " 4 9 zur bestimmten Relation, die im hypothetischen Urteil „wenn A sei, so sei A ( . . . ) " 5 0 ausgedrückt wird, wird von der willkürlich gewählten Tautologie auf das, was mit jeder beliebigen Tautologie „,schlechthin, d.i. ohne allen Grund gesetzt wird ( . . . ) " 5 1 , den notwendigen Zusammenhang = X, geschlossen. Der notwendige Zusammenhang der Relata der Identität ist im Ich und durch das Ich gesetzt, gleichwohl das Bewußtsein der Identität nicht mit der Identität selbst identisch ist. Es ist diese Relation, welche den Satz der Identität zu dem bestimmt, was jedes empirische Bewußtsein zugeben muß. Die Leugnung der unbedingten Geltung des Satzes der Identität bedeutet die Negation der Einheit des Bewußtseins, des Denkens überhaupt. Umgekehrt ist die transzendentale Einheit des Bewußtseins somit absoluter Bestimmungsgrund der Gegenstände. Nicht die Bestimmtheit der Gegenstände, sondern die Einheit des Bewußtseins ist für Fichte dasjenige, von dem aus auf die Gegenstände möglicher Erfahrung geschlossen werden könne. Die unbedingte Geltung des Satzes der Identität enthält jedoch einen Mangel, den Fichte wohlweislich nicht zum Gegenstand seiner Erörterung macht: der Satz der Identität widerspricht sich selbst. Dieser Widerspruch ist notwendig, weil jeder Satz einen Unterschied zwischen Subjekt und Ob47

Die Existenz einer mit sich identischen Vorstellung A = A ist notwendige Voraussetzung, sofern das Prinzip des Wissens nicht Grund der Existenz aller Realität sein soll. 48 WL, S. 91. 49 WL, S. 92. 50 WL, S. 93. 51 WL, S. 93.

I. Kant und Fichte

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jekt voraussetzt, den die Form des Satzes zu negieren trachtet. Der Satz der Identität unterscheidet sich somit in Form und Gehalt. Seiner Form nach ist er absolute Identität, seinem Gehalt nach Einheit Unterschiedener. Der Unterschied ist dem Satz der Identität vorausgesetzt. Der absolut-erste, schlechthin unbedingte Grundsatz weist einen Mangel auf, den der zweite Grundsatz beheben soll. Der Inhalt des zweiten Grundsatzes ist damit bestimmt, er ist durch den Mangel des ersten bedingt, lediglich seine Form ist unbedingt. Demnach bedingen sich der Satz der Identität und der Satz des Unterschiedes gegenseitig, ohne sich jedoch darin zu erschöpfen. In ihrer gegenseitigen Bedingtheit scheinen sie sich wechselseitig zu negieren und aufzuheben. Der Satz der Identität, der absolut-erste, schlechthin unbedingte Grundsatz, soll aber Ausdruck des Absoluten, des absoluten Wissens, sein. Wird das Absolute in einem Grundsatz ausgedrückt, so gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder setzt der Grundsatz die Ungleichheit von Form und Gehalt voraus, dann ist der Grundsatz jedoch durch diese Ungleichheit bedingt. Oder der Grundsatz enthält Form und Gehalt als Ungleiche. Dann ist der Grundsatz synthetisch und analytisch zugleich. Er ist antinomisch. Als Prinzip der Philosophie ist der erste Grundsatz absolut und vereinigt in sich den Widerspruch von Identität und Unterschied, er ist die Identität von Identität und Unterschied. Für die Reflexion läßt sich das Absolute jedoch nicht in einem Satz ausdrücken, insofern ist er mangelhaft und bedarf des zweiten Grundsatzes. 52 Diese aus dem Mangel des Satzes der Identität entwickelte Darstellung und Interpretation des schlechthin unbedingten Grundsatzes läuft der Intention Fichtes zuwider. Für Fichte besteht keine wechselseitige Bedingtheit zwischen dem ersten und dem zweiten Grundsatz, vielmehr werden beide schlechthin gesetzt, weil sie gesetzt werden. 53 Zwar ist der zweite Grundsatz seinem Gehalte nach bedingt, weil ein jedes Entgegensetzen ein Setzen zur Voraussetzung hat, ein Ableiten des zweiten Grundsatzes aus der Bestimmung des ersten Grundsatzes ist aber für Fichte weder möglich noch geboten. Für Schelling hingegen verweist der Mangel

52

Vgl. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (Diff), Hauptwerke Bd. 1, seitengleich mit Bd. 4 der historisch-kritischen Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1999, S. 24: „Soll das Prinzip der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und Objektiven, oder das absolute Denken; die Reflexion aber vermag nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn nämlich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll; sie muß, was in der absoluten Identität Eins ist, trennen und die Synthese und die Antithese getrennt, in Zwei Sätzen, in einem die Identität, im andern die Entzweiung ausdrücken." 53 Zum „logischen Gefälle zwischen beiden (...)" Grundsätzen vgl. H. Radermacher, Fichtes Begriff des Absoluten, Frankfurt/M. 1970, S. 24 f. 3 Gerhard

Α. Die Materie der Wissenschaft

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des ersten, schlechthin unbedingten Grundsatzes auf die prozessierende Dynamik des Prinzips des Wissens. Der Satz der Identität führt auf die Einheit des Bewußtseins, nicht aber auf die Einheit der Gegenstände der Vorstellungen. Der Gegenstand der Wissenschaft wird von Fichte nicht aus dem ersten Prinzip der Wissenschaft, dem Satz der Identität, deduziert. Soll die Wissenschaftslehre einen Gegenstand haben, so muß ein Wissen des Wissens möglich sein. Kant hatte dieses ausgeschlossen, bei ihm wird die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis restringiert auf die Fragen: „Wie ist reine Mathematik möglich? Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Von diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen: wie sie möglich sind; denn daß sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen." 54 Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis setzt diese immer schon als gegeben voraus. Fichte deduziert das Wissen und seinen Gegenstand, ohne jedoch das Eine aus dem Anderen hervorgehen lassen zu wollen. Die Form des Wissens ist die Identität, A = A, damit das Wissen einen Gegenstand hat, wird ein Unterschied vorausgesetzt. Die Materie des Wissens ist ausgedrückt im Unterschied, Α = Β. A = A ist eine affirmative Tautologie, ein Urteil, das über die Affirmation des Gegebenen nicht hinauskommt. Der Satz der Identität kann sich nicht selbst thematisieren. „So wie ich irgend etwas vorstellen soll, muss ich es den Vorstellenden entgegensetzen. Nun kann und muss allerdings in dem Objecte der Vorstellung irgendein X liegen, wodurch es sich als ein Vorzustellendes, nicht aber als das Vorstellende entdeckt: aber dass alles, worin dieses X liege, nicht das Vorstellende, sondern ein Vorzustellendes sey, kann ich durch keinen Gegenstand lernen; vielmehr giebt es nur unter Voraussetzung jenes Gesetzes erst überhaupt einen Gegenstand."55 Das Entgegensetzen ist neben dem Setzen eine schlechthin mögliche, unbedingte Handlung. Sie ist eine notwendige Bedingung der Reflexion, denn allein durch das Entgegensetzen wird das Ich unterschieden in Selbstbewußtsein und Inhalt, Ich denke und den Vorstellungen des Ich. Das Selbstbewußtsein setzt den Unterschied zwischen sich und den Vorstellungen voraus. Die Negation ist somit Bedingung der Reflexion. Umgekehrt setzt die Negation die Einheit des Bewußtseins voraus. „Das Entgegensetzen ist nur möglich unter Bedingung der Einheit des Bewusstseyns des setzenden, und des entgegensetzenden. Hinge das Bewusstseyn der ersten Handlung nicht mit dem Bewusstseyn der zweiten zusammen; so wäre das zweite Setzen kein Gegensetzen, sondern ein Setzen schlechthin. Erst durch die Beziehung auf ein Setzen wird es ein Gegensetzen."56 A = A und Ich = Ich sind 54 55

KrV, Β 20. WL, S. 104 f.

I. Kant und Fichte

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der Form nach identisch, dem Gehalt nach sind sie jedoch unterschieden. Die Tautologie des A = A ist zufällig, die Tautologie des Ich = Ich ist hingegen notwendig und unbedingt. Das Ich schließt von der Identität seiner Vorstellung A = A auf seine eigene Identität, sein Selbstbewußtsein. Damit ist das in der Tautologie Vorgestellte immer schon Nicht-Ich. Das Selbstbewußtsein vereinigt in sich Vorstellendes und Vorgestelltes, Ich und Nicht-Ich gleichermaßen. Da die Tautologie kein Bewußtsein von sich selbst haben kann, ist der Unterschied von Ich und Nicht-Ich immer schon vorausgesetzt. Der Widerspruch von Ich und Nicht-Ich ist nur zu denken, wenn beide auf dasselbe, wiederum das Ich, bezogen werden. Die Vereinigung von Identität und Unterschied des Ich erzwingt den Übergang zum dritten Grundsatz, dem Satz des Grundes. Im dritten Grundsatz werden die Entgegengesetzten durch die wechselseitige Einschränkung, durch die Kategorie Limitation vereinigt. Die im ersten Grundsatz ausgedrückte Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, die selbst wiederum kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, bestimmt Fichte als eine Tathandlung. Der Schluß auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis führt Fichte auf eine Tätigkeit des Geistes als Prinzip allgemeiner und notwendiger Erkenntnis. Dieses Prinzip der Philosophie ist im und durch das transzendentale Subjekt, es ist das Setzen seiner selbst überhaupt oder Thesis. Die Thesis als absolutes Setzen ist eine reine Tautologie. 57 Das Setzen der Thesis ist als ein willkürlicher Akt Realisierung von Freiheit. Aber nur wenn die Tathandlungen Gesetzen folgen, kann ihr Resultat der kollektiven Einheit des Erfahrungsganzen entsprechen. Die Gesetze der Reflexion sind Gegenstand der Wissenschaftslehre. Die Handlungen sind das Objekt der Wissenschaftslehre, also von der Wissenschaftslehre selbst unterschieden. Problematisch ist dann jedoch der Ort, in den die Erkenntnis fällt, daß die Wissenschaftslehre einen Gegenstand hat, der ihr selbst ungleich ist. Als Wissenschaft der Wissenschaft dürfte es diesen Unterschied der Wissenschaftslehre zu ihrem Objekt nicht geben. „Da aber jene Reflexion, nicht insofern sie überhaupt vorgenommen wird oder nicht, denn in dieser Hinsicht ist sie frei; sondern insofern sie nach Gesetzen vorgenommen wird, insofern unter der Bedingung, dass sie überhaupt statt finde, die Art derselben bestimmt ist - auch zu den nothwendigen Handlungsweisen der Intelligenz gehört, so müssen die Gesetze derselben im System dieser Handlungsweisen überhaupt vorkommen und man kann hinterher, nach Vollendung der Wissenschaft allerdings einsehen, ob man denselben Genüge geleistet habe oder nicht. Man dürfte also glauben, daß wenigstens hinterher ein evidenter Beweis der Richtigkeit unseres wissenschaftlichen Systems als eines solchen möglich wäre." 58 56

WL, S. 103. Am ontologischen Gottesbeweis läßt sich eine analoge Struktur aufzeigen: Das Absolute in der Form eines apodiktischen Urteils ist die reine Tautologie. 57

3:

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Α. Die Materie der Wissenschaft

Einen Beweis der Richtigkeit vor Vollendung der Wissenschaft einzufordern, bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die Forderung einer Methodologie der Wissenschaft, die ausdrücklich nicht Gegenstand der Wissenschaftslehre ist. Das erste Subjekt ist bei Fichte Grund aller Beziehungsgründe 59, das sich allein in einem Existenzurteil, nicht jedoch in einem prädikativen Urteil, ausdrücken läßt. Das Existenzurteil, Ich bin, wird als das Absolute, als notwendiger Grund aller Beziehungsgründe erschlossen. Dieser Schluß auf den Begriff des Ich, das notwendig existiert 60 , ist dem ontologischen Gottesbeweis analog. Allein die unbedingte Selbstunterscheidung des Prinzips vermag etwas zu setzen. Das Ich setzt sich etwas entgegen, das ebenfalls Ich ist, aber zugleich Nicht-Ich ist. Das Ich ist gesetzt und nicht gesetzt. Setzt das Ich schlechthin sich selbst, so ist das Produkt der Tätigkeit des Ich kein Wissen, sondern Objekt seiner Tätigkeit. Resultat der Tätigkeit des Ich als Wissensgrund soll aber ein Wissen sein. Das Ich muß sich sowohl als Anschauung als auch als Begriff setzen, nur so kann es Realität haben und Wissen sein. Die systematische Einheit des Wissens ist Fichte die negative Bedingung der Wahrheit. Sie ist nicht positive Bedingung, sonst wäre jedes System, auch das von Wahnvorstellungen wahrheitsgemäß. Das System des Wissens ist bestimmt durch die Ordnung und durch den Gegenstand, das Material dieser Ordnung. Das Material muß sich in die Ordnung fügen lassen, soll aber nicht aus dieser deduziert werden. Die Prinzipien des Systems des Wissens müssen ein fundamentum in re haben, sofern ihr Inhalt auf bestimmte Gegenstände und nicht bloß auf den Gegenstand überhaupt gehen soll. Bezieht sich das System des Wissens auf den Gegenstand überhaupt, so läßt sich nichts bestimmtes über das Material des Wissens aussagen. Es sind also Prinzipien der Ordnung des Wissens und Gegenstände des Wissens vorausgesetzt, die dem System des Wissens korrespondieren und eine Bestimmtheit aufweisen. Die Übereinstimmung von Form und Gehalt bestimmt Fichte als Wahrheit. Die Übereinstimmung wird garantiert durch ein Drittes, ein Absolutes. 61 Es muß also ein Gehalt angenommen werden, der unbedingt ist. Nur wenn Gehalt und Form unbedingt sind, kann der erste Grundsatz seine Funktion erfüllen. Der absolute Gehalt ist Voraussetzung der Wissenschaftslehre. Er ist weder aus der Erfahrung zu entlehnen, 58

Begriff d. WL, S. 74. Vgl. WL, S. 242. 60 Fichte hält an der Differenz von Existenz und Realität fest: „,Seyn, ohne Prädicat gesetzt, drückt etwas ganz anderes aus, als seyn mit einem Prädicate (...)." [WL, S. 93]. 61 Die Übereinstimmung von Seiendem und Verstand in einem Absoluten ist eine theologische These, der entsprechend Wahrheit nur in Gott sei. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in deutscher Übertragung von E. Stein, Löwen-Freiburg 1952, quaestio I. 59

I. Kant und Fichte

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weil er die Einheit aller Gehalte begründen soll, noch kann er der Erfahrung die Gehalte vorschreiben, weil das Wissen sich nach den Gegenständen des Wissens richtet, nicht nach den Bedingungen des Wissens. Das Verhältnis des Systems des menschlichen Wissens überhaupt zur Wissenschaftslehre ist das von bestimmender und reflektierender Urteilskraft. „Urtheilskraft ist das bis jetzt freie Vermögen, über schon im Verstände gesetzte Objecte zu reflectiren, oder von ihnen zu abstrahiren, und sie, nach Maassgabe dieser Reflexion oder Abstraction, mit weiterer Bestimmung im Verstände zu setzen. Beide Thätigkeiten, der blosse Verstand als solcher, und die Urtheilskraft als solche, müssen sich wieder gegenseitig bestimmen. 1) Der Verstand die Urtheilskraft. Er enthält schon in sich die Objecte, von welchen die letztere abstrahirt oder sie reflectirt, und ist daher die Bedingung der Möglichkeit einer Urtheilskraft überhaupt. 2) Die Urtheilskraft den Verstand; sie bestimmt ihm das Object überhaupt als Object. Ohne sie wird überhaupt nicht reflectirt; ohne sie ist mithin nichts fixirtes im Verstände, welches erst durch Reflexion, und zum Behuf der Reflexion gesetzt wird [Hervorhebung von mir; M.G.], - mithin auch überhaupt kein Verstand, und so ist die Urtheilskraft hinwiederum die Bedingung der Möglichkeit des Verstandes, und beide 3) bestimmen sich demnach gegenseitig."62 Die Urteilskraft fällt als transzendentale Urteilskraft in die Vernunft. Das absolute Ich ist absolutes Subjekt ohne Unterschied, bloße Tautologie, es hat somit kein Bewußtsein seiner selbst. Die Einheit des Bewußtseins ist erst durch die Selbstunterscheidung des absoluten Ich vermittelst der Teilung in die Einheit von Ich und Nicht-Ich denkbar. Das absolute Ich ist das, was die Teilbarkeit notwendig setzt, aber selbst nicht teilbar sein kann. Erst durch die Teilung vollzieht sich der Übergang von Einem zu Vielen. Die Teilbarkeit des Ich ist äquivok bestimmt. Zum einen ist sie bestimmt als das Teilbare, das dem Absoluten entgegengesetzt ist, die einzelnen Vorstellungen, die der transzendentalen Einheit der Apperzeption entgegengesetzt sind. Zum anderen ist die Teilbarkeit bestimmt als die vielen empirischen Subjekte, die wiederum der Einheit des transzendentalen Subjekts entgegengesetzt sind. Principium individuationis der Individuen ist die Materie als Inbegriff der Teilbarkeit, die auf das Individuum als Inbegriff der Unteilbarkeit bezogen wird. Diese wechselseitige Bestimmung von Teilbarkeit und Unteilbarkeit fällt in das absolute Ich. Es soll sich hieraus eine Indifferenz zwischen dem allgemeinen und dem individuellen Subjekt ergeben, die dennoch der logischen Vorordnung des allgemeinem Subjektes Rechnung trägt. „Das Ich soll sich selbst gleich, und dennoch sich selbst entgegengesetzt seyn. Aber es ist sich gleich in Absicht des Bewusstseyns, das Bewusstseyn ist einig: aber in diesem Bewusstseyn ist gesetzt das absolute Ich, als untheilbar; das Ich hingegen, welchem das Nicht-Ich entgegengesetzt wird, als theilbar. Mithin ist 62

W L , S. 242.

Α. Die Materie der Wissenschaft

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das Ich, insofern ihm ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, selbst entgegengesetzt dem absoluten Ich." 63 Im Selbstbewußtsein soll die Einheit des Subjekts und des Objekts als Subjekt-Objekt, welches das Absolute ist, vollzogen sein. Dieses findet seine vollständige Bestimmung im dritten Grundsatz, in dem Ich und NichtIch gegeneinander eingeschränkt werden. Im dritten Grundsatz sollen Identität und Unterschied zusammenfallen. „Ich = Ich ist Identität und Duplizität zugleich, es ist eine Entgegensetzung in Ich = Ich; Ich ist einmal Subjekt, das anderemal Objekt, aber was dem Ich entgegengesetzt ist, ist gleichfalls Ich; die Entgegengesetzten sind identisch."64 Das Ich ist sowohl identisch mit sich, Ich, als auch nicht identisch mit sich, Nicht-Ich. Um die Einheit des Bewußtseins nicht zu sprengen, müssen beide bestehen. Besteht nur das Ich als Subjekt, so kann es niemals ein Wissen von sich haben, zu einem Selbstbewußtsein gelangen, da es sich nicht auf sich als auf sein Objekt beziehen kann. Die Beziehung des Ich auf sich selbst kann nur mittelbar erfolgen, indem es sich auf seine Beziehung auf anderes und in dieser auf sich selbst bezieht. 65 Besteht nur das Ich als Objekt, d.h. Ich gibt es nur, sofern es ein Gewußtes ist, so existiert das Ich ohne ein Wissendes. Das Selbstbewußtsein besteht aber aus der Identität und Nicht-Identität seiner Relata. Das reine Bewußtsein aber soll absolute Identität des Subjekts und des Objekts sein. Identität und NichtIdentität sind so in einem Subjekt des Denkens zu denken. Diese Synthesis von A und Nicht-A, Realität und Negation, die beide Seiten eint, ohne sie zu vernichten, soll der dritte Grundsatz ausdrücken. Der Widerspruch von Ich und Nicht-Ich läßt sich nur denken, wenn beide auf Eines bezogen werden, das sie gleichermaßen bestehen läßt. Fichte vollzieht die Auflösung des Widerspruchs von Ich und Nicht-Ich in der impliziten Deduktion der Kategorien der Quantität. Der Indifferenzpunkt beider, Ich und Nicht-Ich, soll in ihrer Grenze liegen. Die Bestimmung dieser Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich würde ohne „einen absoluten Machtspruch der Vernunft (.. . ) " 6 6 „ins unendliche fortgehen (.. .)." 6 7 Das subjektive Ich ist dem objektiven Ich entgegengesetzt, beide als Einheit des Bewußtseins, als Indifferenz von empirischem und transzendentalem Subjekt im Ich denke sind der unendlichen Welt entgegengesetzt. Das Ich ist zum einen in dem Satz Ich = Ich und zum anderen in dem Satz Ich = Ich + Nicht-Ich ausgedrückt. Das subjektive Ich ist die reine Identität, 63 64 65 66 67

WL, Diff, Vgl. WL, WL,

S. 110. S. 36. Kants Widerlegung S. 144. S. 144.

des Idealismus, KrV, Β 274 - Β 279.

II. Hegels Kritik des endlichen Idealismus

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der zweierlei entgegengesetzt ist, das objektive Ich und die unendliche Welt. Diese beiden sind formal gleichermaßen bestimmt als Nicht-Ich. Nicht-Ich ist Ausdruck der Differenz von Intelligenz und Natur und zugleich Ausdruck der Differenz von subjektivem und objektivem Ich, wobei das Ich sich selbst nur dann zum Objekt haben kann, sofern es nicht allein Intelligenz, sondern auch Natur ist. Das objektive Ich vereinigt in sich den Widerspruch, einerseits identisch mit dem subjektiven Ich zu sein, da ansonsten die Einheit des Bewußtseins unmöglich wäre, andererseits ist das objektive Ich unterschieden vom subjektiven Ich. Ohne diesen Unterschied wäre das Ich bloße Intelligenz ohne Realität. Das objektive Ich ist also formal in dem Satz Ich = Ich + Nicht-Ich auszusagen. Die Synthesis des subjektiven und des objektiven Ich zu vollziehen bemüht sich der dritte Grundsatz. Durch die Limitation sollen alle Gegensätze vereinigt und die Einheit des Bewußtseins gewahrt sein.

I I . Hegels Kritik des endlichen Idealismus in Fichtes Wissenschaftslehre „Ich und Nicht-Ich, sowie sie durch den Begriff der gegenseitigen Einschränkbarkeit gleich- und entgegengesetzt werden, sind selbst beide etwas (Accidenzen) im Ich, als theilbarer Substanz; gesetzt durch das Ich, als absolutes unbeschränkbares Subject, dem nichts gleich ist und nichts entgegengesetzt ist." 68 Die Trennung, die Fichte hier im Ich vornimmt, um die Gegensätze zu vereinigen, ist der Dreh- und Angelpunkt der von Hegel in den Jenaer Schriften dargelegten Kritik. Diese Trennung des Ich ließe sich nicht wieder aufheben, so daß das objektive Ich dem subjektiven Ich gleich werde, vielmehr werde die Trennung der Identität absolut entgegengesetzt. Das absolute Ich sei dem subjektiven Ich, welchem ein Nicht-Ich entgegengesetzt ist, absolut entgegengesetzt. Um sich selbst objektiv werden zu können, müssen das Wesen des Ich und sein Setzen aber zusammenfallen. 69 Die Limitation sei nicht sich negativ auf sich beziehende Negation und damit Rückkehr in die ursprüngliche, absolute Identität. Die Synthesis des subjektiven und des objektiven Ich im dritten Grundsatz sei hingegen eine bestimmte Vereinigung der Existenz und der Erscheinung. 70 „In dieser Synthese aber ist das objektive Ich nicht gleich dem subjektiven; das subjektive ist Ich; das objektive, Ich + Nicht-Ich. Es stellt sich in ihr nicht die 68

WL, S. 119. Vgl. Diff, S. 37. 70 Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen (WdL II), Hauptwerke Bd. 3, seitengleich mit Band 11 der historisch-kritischen Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1999, Zweiter Abschnitt: Die Erscheinung, S. 323 ff. 69

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Α. Die Materie der Wissenschaft

ursprüngliche Identität dar; das reine Bewusstseyn Ich = Ich, und das empirische Ich = Ich + Nicht-Ich mit allen Formen, worin sich dieses konstruirt, bleiben sich entgegengesetzt: Die Unvollständigkeit dieser Synthese, die der dritte Grundsatz ausspricht, ist nothwendig, wenn die Akte des ersten und zweiten Grundsatzes absolut entgegengesetzte Thätigkeiten sind."71 Die Trennung in Subjekt und Objekt sei notwendig, werde sie aber der von der Trennung unterschiedenen Identität absolut entgegengesetzt, so könne sie nicht mehr in die ursprüngliche Identität der Identität und des Unterschieds aufgehoben werden. Die absolute Identität, von der ausgegangen wurde, das System zu begründen, ließe sich gemäß der Hegeischen Kritik nach der notwendigen Trennung nicht wieder herstellen und scheitere so als absoluter Grundsatz des Systems. Fichtes Trennung von Subjekt und Objekt vernichte die Identität und den Unterschied als Momente der Identität der Identität und des Unterschieds, d.h. des Absoluten. Diese „trennende Thätigkeit ist das Reflektiren, sie hebt die Identität und das Absolute auf ( . . . ) " 7 2 , indem sie eines der Getrennten als das Absolute setze. Die Getrennten seien Produkte der äußeren Reflexion und als solche ideell. Die Trennung der Philosophie müsse die Getrennten zugleich im Absoluten setzen, ansonsten seien es bloß Entgegengesetzte, die nur auf Grund der Negation des Anderen bestimmt seien. „Fichte hat nur Eins der Entgegengesetzten ins Absolute, oder es als das Absolute gesetzt; das Recht und die Nothwendigkeit liegt ihm im Selbstbewusstseyn, denn nur dieß ist ein sich selbstsetzen, ein Subjekt = Objekt; und dies Selbstbewusstseyn wird nicht erst auf das Absolute als ein Höheres bezogen, sondern es ist selbst das Absolute, die absolute Identität; sein höheres Recht, als das Absolute gesetzt zu werden, besteht eben darinn, daß es sich selbst setzt; das Objekt hingegen nicht, welches allein durchs Bewußtseyn gesetzt ist." 73 Das Absolute, derart in die Form eines Subjekts gesetzt, ist der Ausdruck der Freiheit schlechthin. Daß das Ich schlechthin sich selbst setzt, bedeutet die Freiheit der Intelligenz gegen die Notwendigkeit der Natur zu setzen. Fichte erhebt so den Idealismus über den Realismus, die Intelligenz über die Natur. Die subjektive Totalität soll ihm das ganze System begründen, nicht bloß das System der Intelligenz, sondern auch das System der Natur 7 4 , das dem ersteren so absolut entgegengesetzt ist. Das Subjekt-Objekt des Fichteschen Systems ist bloß die Subjektivität in der Form des Selbstbewußtseins. Das Selbstbewußtsein werde sich, so Hegels Kritik, nicht selbst wieder zum Objekt, die Reflexion reflektiere nicht auf sich; sie sei 71

Diff, S. 38. Diff, S. 63 f. 73 Diff, S. 64. 74 Das Fichtesche System der Natur darzulegen hat sich R. Lauth zur Aufgabe gemacht. Vgl. R. Lauth, Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984, S. XVI. 72

II. Hegels Kritik des endlichen Idealismus

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bloße Reflexion auf Anderes, nicht Reflexion in sich. Das Fichtesche System sei reiner Idealismus, das Ich sei als absolutes Denken die Unendlichkeit, welche das endliche Sein sich entgegengesetzt habe. Der Fichtesche Realismus sei Resultat des Idealismus, so daß die Identität beider bloß „die relative des Causalzusammenhangs in einem Bestimmen des einen durch das andere (.. . ) " 7 5 sei. Weil die Relata der Identität jeweils durch ein Entgegengesetztes bedingt seien, sei die Identität des Fichteschen Idealismus bloß eine relative. Ich und Nicht-Ich seien ideelle Subjekte und Objekte aus der Sphäre der Freiheit, deren Entgegensetzung ebenso eine bloß ideelle sei. Sie seien demnach keine realen, sondern ideale, gedachte Produkte der Reflexion und „aus blossen Reflexionsprodukten kann sich die Identität nicht als Totalität konstruiren, denn sie entstehen durch Abstraktion von der absoluten Identität, die sich gegen sie unmittelbar nur vernichtend, nicht construirend verhalten kann. Eben solche Reflexions-Produkte sind, Unendlichkeit und Endlichkeit, Unbestimmtheit und Bestimmtheit u.s.w. Vom Unendlichen gibt es keinen Übergang zum Endlichen, vom Unbestimmten keinen Übergang zum Bestimmten; der Übergang, als die Synthese, wird eine Antinomie; eine Synthese des Endlichen und Unendlichen, des Bestimmten und Unbestimmten aber kann die Reflexion, das absolute Trennen, nicht zu Stande kommen lassen, und sie ist es, die hier das Gesetz gibt; sie hat das Recht, nur eine formale Einheit geltend zu machen, weil die Entzweyung in Unendliches und Endliches, welche ihr Werk ist, verstattet und aufgenommen wurde; die Vernunft aber synthetisirt sie in der Antinomie und vernichtet sie dadurch." 76 Fichtes Rekonstruktion der Identität aus der Entzweiung zur Totalität hat zum Resultat das subjektive Subjekt-Objekt, die Totalität der Transzendentalphilosophie, welche über die Natur des Ich herrscht. Die Natur ist ein durch die Kausalität der Freiheit bestimmtes Unbestimmtes. Die Sphäre der Notwendigkeit ist der Sphäre der Freiheit, die Naturphilosophie der Transzendentalphilosophie untergeordnet. Das Resultat des Fichteschen Systems wird so seinem Prinzip nicht gerecht. Die für den dritten Grundsatz geforderte ideell-reelle Identität ist nur formal, die Materie kommt mit der Form nicht überein, so hat die Identität keine objektive Realität. Die Identität, welche der dritte Grundsatz zu Stande bringt, ist die relative Identität des Kausalzusammenhanges, des Bestimmens des Einen durch das Andere. Soll die absolute Identität das absolute Prinzip des ganzen Systems sein, so müssen Subjekt und Objekt als Subjektobjekt gesetzt werden. Fichtes System sei daher nur ein einseitiges System der Freiheit, jedes vollstän75 G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen (GuW), Hauptwerke Bd. 1, seitengleich mit Bd. 4 der historisch-kritischen Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1999, S. 388. 76

Diff, S. 65 f.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

dige System ist jedoch „ein System der Freyheit und der Notwendigkeit zugleich." 77 Der dritte Grundsatz setzt die Unterschiedenen, seien es A und Non-Α, Ich und Nicht-Ich, transzendentales und empirisches Ich, Intellekt und Natur, durch einen Kausalzusammenhang in eine Beziehung, die die Differenz erhält. Die Beziehung der Unterschiedenen zur absoluten Identität, in dem die Antinomie aufgehoben ist, falle außerhalb der Erkenntnis in den Bereich des Glaubens. Denn die absolute Identität sei der Begriff, den der Verstand für unbegreiflich erklärt. 78 „Wenn auch die Philosophie in ihrem transcendentalen Geschäfte sich des Kausalverhältnisses bedient, so ist B, das dem Subjekt entgegengesetzt erscheint, seinem Entgegengesetztseyn nach eine blosse Möglichkeit, und bleibt absolut eine Möglichkeit, d.h. es ist nur Accidenz; und das wahre Verhältnis der Spekulation, das Substantialitätsverhältniß ist unter dem Schein des Kausalverhältnisses das transcendentale Princip. Formell läßt sich dieß auch so ausdrükken: Der wahre Dogmatismus anerkennt bey de Grundsätze, A = A und Α = Β, aber sie bleiben in ihrer Antinomie, unsynthetisirt nebeneinander; er erkennt nicht, daß hierin eine Antinomie liegt, und darum auch nicht die Nothwendigkeit, das Bestehen der Entgegengesetzten aufzuheben; der Übergang von einem zum anderen durch Kausalitäts-Verhältniß ist die einzige ihm mögliche unvollständige Synthesis. Ungeachtet nun die Transcendental-Philosophie diesen scharfen Unterschied von dem Dogmatismus hat, so ist sie, insofern sie sich zum System konstruirt, fähig, in ihn überzugehen, wenn sie nemlich, insofern nichts ist, als die absolute Identität, und in ihr alle Differenz und das Bestehen Entgegengesetzter sich aufhebt, kein reelles Kausal-Verhältniß gelten läßt; aber insofern die Erscheinung zugleich bestehen, und hiemit ein anderes Verhältniß des Absoluten zur Erscheinung, als das der Vernichtung der letztern vorhanden seyn soll, das Kausalitäts-Verhältniß einführt, die Erscheinung zu einem Bottmässigen macht, und also die transcendentale Anschauung nur subjektiv, nicht objektiv, oder die Identität nicht in die Erscheinung setzt."79 Das Ich verbleibt in Entgegensetzung zu einem Objekt. Die Erklärung derselben sucht ihre Bedingtheit durch ein Anderes zu beweisen. Dieses absolut Andere aufzuweisen, heiße, die Entgegensetzung als Erscheinung darzutun. Der Entgegensetzung als Erscheinendes ist sein jenseitiges Absolutes entgegengestellt. So sind beide absolut Entgegengesetzte. Die Funktion der Einbildungskraft ist es nun, zwischen ihnen zu vermitteln, so daß Ich und Nicht-Ich, „ A + Β zugleich durch das bestimmte A und zugleich durch das unbestimmte Β bestimmt ( . . . ) " 8 0 werden. Die Einbildungskraft schwebe zwischen den beiden Unvereinbaren und bilde so als eine Grenze, die nicht 77

Diff, S. 72. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Logik und Metaphysik, mitgeschrieben von F. A. Good, Heidelberg 1817, Vorlesungen Bd. 11, hrsg. v. K. Gloy, Hamburg 1992, S. 16. 79 Diff, S. 32 f. 80 WL, S. 216 f. 78

II. Hegels Kritik des endlichen Idealismus

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fest ist, die Möglichkeit der Bestimmbarkeit, in welcher die Entgegengesetzten zusammengefaßt werden sollen. 81 Die produktive Einbildungskraft ist als der logische Ort der Entgegensetzung die Bedingung der Möglichkeit der Entgegensetzung. „Die produktive Einbildungskraft ist ein Schweben zwischen absolut Entgegengesetzten, die sie nur in der Grenze synthetisiren, aber deren entgegengesetzte Enden sie nicht vereinigen kann." 82 Die produktive Einbildungskraft vermöge es nicht, die absolut Entgegengesetzten zu vernichten und aufzuheben, vielmehr vereinige sie beide in sich als ihrer Grenze, die sich jedoch als Nichtbegrenzung erweise. Die als Grenze bezeichnete Einheit, welche die Einbildungskraft zwischen den Entgegengesetzten zu stiften fähig ist, ist bloß relative Identität. Das Produkt der Einbildungskraft, so bestimmt, ist analog der Hegeischen Bestimmung der begrenzten Quantität, dem Quantum. Das Quantum ist die gleichgültige, über sich hinausgehende, in einem Anderen sich kontinuierende Bestimmtheit. „Die Grenze ist mit dem Ganzen des Quantums selbst identisch (.. .)." 8 3 In der Kategorie der Qualität ist die Grenze bestimmt als die eine Bestimmtheit, durch die Etwas und Anderes sich gegeneinander erhalten. Beide sind nur durch ihre gegenseitige Begrenzung. Die Grenze ist so der Indifferenzpunkt des Etwas und des Anderen als die negative Vermittlung, welche ihre sie negativ zusammenschließende Einheit ist. „Sie ist die Mitte zwischen beyden, in der sie aufhören. Sie haben das Daseyn jenseits voneinander, von ihrer Grenze; die Grenze als das Nichtsein eines jeden ist das Andre von beyden."84 Etwas und Anderes sind nur, sofern sie eine jenseitige Grenze haben. Dieser jenseitigen Grenze bedarf auch das Quantum als seines ihm äußerlichen Bestimmungsgrundes. Die in ihrer Äußerlichkeit sich herstellende Grenze des Quantums ist keine seiende, sondern eine in der Beziehung auf das Andere, das als bloß quantitativ Unterschiedenes wiederum ein Quantum ist, werdende Grenze. Die Grenze des Quantums ist in ihrer Bestimmung gesetzt als sich aufhebende und sich in der kontinuierlichen Veränderung des Quantums neu bestimmende. Seine Grenze ist ihm wesentlich gleichgültig. Da er identisch mit seiner Grenze ist, als Begrenztes jedoch auf ein ihm Äußerliches verwiesen ist, in dem er seine Grenze sucht, schreitet das Quantum von einer ihm äußerlichen Grenze zur nächsten fort, ohne jemals sein Jenseits zu erreichen. Dem endlichen Quantum als dem 81

Vgl. WL, S. 212 ff. Diff, S. 42. Hegel paraphrasiert hier Fichte, WL, S. 215 ff. 83 Enzyklopädie, § 103, S. 139. 84 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (WdL I), Hauptwerke Bd. 3, seitengleich mit Bd. 21 der kritischen Edition der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1999, S. 114. 82

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Α. Die Materie der Wissenschaft

Begrenzten überhaupt ist die Unbegrenztheit als sein Unendliches entgegengesetzt. Das mit seiner gleichgültigen Grenze identische Quantum ist jedoch zugleich Nichtbegrenztsein, Unendlichkeit. Im Quantum ist das Sollen gesetzt, für-sich-bestimmt zu sein, welches jedoch Bestimmtsein in einem Anderen ist. Das Quantum soll „die Grenze, das Anderssein als ansich selbst seiend setzen; es zeigt sich aber, daß sie keine Grenze hat, sondern dem Ausgeschlossenen gleich ist." 8 5 Als Grenze des Vielen ist das Quantum unbestimmt, das ausgeschlossene Andere ist ein ihm Gleiches. Da sein Anderes mit ihm identisch ist, ist das Quantum begrenzt durch seine ihm äußerliche Bestimmtheit in seinem Anderen und sein Substrat unbegrenzt durch die Gleichgültigkeit jedweder Grenze. Das Quantum schreitet so im unendlichen quantitativen Prozeß fort, der nichts anderes ist als das perennierende Bestimmen des einen Quantums in seinem Anderen, deren äußerliche Bestimmtheit jeweils ein sich kontinuierendes Sollen in infinitum ist. Diese Wechselbestimmung des Begrenzten und Unbegrenzten ist der Widerspruch des Quantums. „Das Quantum setzt sich demjenigen gleich, was es aus sich ausschließt, und schließt es also in Wahrheit nicht aus; und insofern es betrachtet wird als ein für sich selbst seiendes, aus welchem anderes ausgeschlossen sei, so ist ebenso an ihm selbst die positive Einheit oder die Nichtbegrenzung, das nicht Ausgeschlossensein; das ins Unendliche über die Grenze Hinausgehen und das unendliche sich in sich Teilen ist beiden ein und ebendasselbe, daß die an ihm gesetzte Grenze, Bestimmtheit, keine Grenze oder Bestimmtheit ist; es ist im Quantum der absolute Widerspruch oder die Unendlichkeit gesetzt."86 Diese schlechte Unendlichkeit, die ihren Ausdruck in dem unendlich Kleinen bzw. Großen und der unendlichen Teilbarkeit der Materie findet, „ist die letzte Stufe, zu welcher die Unfähigkeit, den Gegensatz auf eine absolute Weise zu vereinigen und aufzuheben, fortgeht ( . . . ) . " 8 7 Das Absolute und die Totalität der Beschränkungen sind entzweit. Der absolute Widerspruch ist Ausdruck der Entzweiung, deren Seiten der Verstand absolut fixiert. Die vom Verstand fixierten Gegensätze aufzuheben, ist das Ziel der Vernunft. Ihr obliegt es, die Auflösung des absoluten Widerspruchs, welche die Aufgabe der spekulativen Philosophie ist, zu vollziehen. Von der Dialektik des Quantums ist der Übergang zum Spekulativen, dem Begriff, zu vollziehen. Fichte vollzieht diesen Übergang nicht. Subjekt und Objekt sind ihm nicht beide Subjektobjekt. Ihre Entgegensetzung ist ideell, „und das Princip der Identität formal. Bei einer formalen Identität, und einer ideellen Entgegensetzung ist keine andere als unvollständige Synthese möglich, d.h. 85

G. W. F. Hegel, Logik, Metaphysik, Naturphilosophie (LMN), Jenaer Systementwürfe (II), Hamburg 1982, S. 13. 86 LMN, S. 14. 87 LMN, S. 31.

III. Zur Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems

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die Identität, insofern sie die Entgegengesetzten synthetisirt, ist selbst nur ein Quantum, und die Differenz ist qualitativ (.. .)." 8 8 Das Quantum soll die Differenz aufheben, die Identität der Unterschiedenen stiften. Dieses Sollen erhält sich als der perennierende Widerspruch des Quantums und seines bloß quantitativ unterschiedenen Anderen. So ist die Synthese der ideell Entgegengesetzten relative Identität des Quantums mit seinem Anderen, welche die qualitative Differenz als ein fliehendes Jenseits gegen sich hat. Die Aufgabe der Philosophie, die Entzweiung aufzuheben, kann derart zu lösen versucht werden, „daß sie Eins der Entgegengesetzten vernichtet, und das Andere zu einem Unendlichen steigert; dies ist der Sache nach im Fichte'sehen System geschehen; allein die Entgegensetzung bleibt auf diese Art; denn dasjenige, was als Absolutes gesetzt wird, ist durchs andere bedingt, und so wie es besteht, besteht auch das Andere. Um die Entzweiung aufzuheben, müssen beyde Entgegengesetzte, Subjekt, und Objekt aufgehoben werden; sie werden als Subjekt und Objekt aufgehoben, indem sie identisch gesetzt sind." 8 9 Diese absolute Identität bestimmt Hegel als das in den Begriff übergegangene absolute Verhältnis. Das Kausal-Verhältnis sei eine mangelhafte Relation zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung. Dem wahren Verhältnis von Absolutem und Erscheinung liege vielmehr „die absolute Entgegensetzung zum Grunde (.. .)." 9 0 Es ist dies dieselbe absolute Entgegensetzung, wie sie auch schon im wesentlichen Verhältnis erscheint. Erst die Reflexion auf die Reflexion läßt den Verstand frei auf die Vernunft blicken, derer er bedarf, um die bestimmte Vereinigung von Existenz und Erscheinung im wesentlichen Verhältnis zur Einheit des Absoluten und seiner Reflexion aufzuheben. Den Reflexionsphilosophien, die bei dem relativen Verhältnis der bloßen Erscheinung stehenbleiben, sei diese höhere Einheit nicht viel mehr als eine unerreichbare, jenseitige Idee. Die bewußte Identität des Endlichen mit dem Unendlichen im Wissen bleibe diesen Philosophien dem jenseitigen Glauben vorbehalten.

I I I . Zur Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems Die Antinomie, die schon der erste Grundsatz notwendig enthält, setzt sich in der gesamten Wissenschaftslehre, wenn auch in unterschiedlicher Gestalt, fort. Der absolute Machtspruch der Vernunft zerschlägt den gordischen Knoten 9 1 , in den Ich und Nicht-Ich sich verwickelten, zugunsten des 88 89 90 91

Diff, S. 66. Diff, S. 63. Diff, S. 32. Vgl. WL, S. 144.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

Ich. Dieses Resultat impliziert, daß die Materie, das Objekt, nur unter der Voraussetzung selbst ein Subjekt-Objekt sein könne, daß es sich bei ihr auch um ein Selbstbewußtsein handele. Reflexivität wird somit nicht allen Gegenständen möglicher Erfahrung zugesprochen. Die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt im Wissen gelingt Fichte allein über das Selbstbewußtsein. 92 Als im und durch das Ich gesetztes ist das Nicht-Ich allein für das Ich Objekt und Realität. „Die Schranke, welche Fichte außer das Ich fallen ließ, fiel auf diese Art in das Ich selbst, und der Proceß wurde ein völlig immanenter, in welchem das Ich nur mit sich selbst, mit dem eignen, in sich gesetzten Widerspruch, zugleich Subjekt und Objekt, endlich und unendlich zu seyn, beschäftigt war. Das Ich hatte nämlich, indem es sich selbst Objekt wurde, sich zwar gefunden, aber nicht als das Einfache, das es zuvor war, sondern als ein Doppeltes, als Subjekt und Objekt zugleich - es war nun für sich selbst, hatte aber damit aufgehört an sich zu seyn (.. .)." 93 Die Realität des Ich ist wie alles Sein im Fichteschen System nur in Beziehung auf ein Wissen. 94 Sowohl das Ich als auch die Natur existieren nur 92

Deshalb wendet Fichte auch gegen die Naturphilosophie Schellings ein, daß die Naturphilosophie die Aufhebung der Transzendentalphilosophie impliziere: „Wenn wir nur wüßten von den Objekten, ohne von diesem Wissen wiederum zu wissen; dann wäre der transcendentale Idealismus nicht einmal möglich. Und dieser Standpunkt ist wissentlich der der Naturphilosophie (...)." [J. G. Fichte, Bemerkungen bei der Lektüre von Schellings transcendentalem Idealismus (Bemerkungen), Fichtes Werke Bd. XI, hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971, S. 368] Schellings Behauptung, daß alles Wissen nur eine Art des Seins sei, würde die Möglichkeit der Transzendentalphilosophie negieren, denn wie der ganze transzendentale Idealismus „aus dem absolut Einfachen und Nothwendigen (...)" [Bemerkungen, S. 369] erklärt werden könne, vermöge Schelling nicht zu begründen. Für Fichte ist daher alles Sein nur in Beziehung auf ein Wissen. Eine Naturphilosophie Fichtescher Provenienz wäre demnach, wie auch R. Lauth darlegt, nur unter der Voraussetzung zu denken, daß sie in die Wissenschaftslehre fällt. [Vgl. R. Lauth, Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984, S. XV]. Die Betrachtung bestimmter Gegenstände kann aber nicht in die Wissenschaftslehre fallen. [Vgl. Begriff d. WL, S. 65]. Schelling hingegen geht es um die Begründung eines Systems des Wissens und eines Systems der Natur, die nicht bloß den Gegenstand überhaupt, sondern auch bestimmte Gegenstände umfassen. Ein solches System der Natur als ein System der Gegenstände möglicher Erfahrung müsse zwar die Wissenschaftslehre voraussetzen, könne aber nicht in dieselbe fallen, denn „wo der einzige Gegenstand der Begriff selbst ist; es bleibt immer nur ein Wissen des denkens, und es wird nicht ein Wissen des Wissens." [F. W. J. Schelling , Fragment einer Abhandlung zur Strukturtheorie des Absoluten, in: B. Loer, Das Absolute und die Wirklichkeit in Schellings Philosophie, Berlin 1974, S. 30]. Vgl. F. W. J. Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (Einleitung), Schellings Werke Zweiter Band, S. 273, SW III, S. 273. 93 F. W. J. Schelling , Zur Geschichte der neueren Philosophie (Geschichte), Schellings Werke Fünfter Band, S. 167, SW X, S. 97. 94

Vgl. Bemerkungen, S. 369.

III. Zur Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems

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als Gewußte, so daß an der Selbständigkeit des Grundes der Realität der Gegenstände möglicher Erfahrung, anders als bei Kant, nicht festgehalten werden kann. Wissen und Gewußtes entstehen Fichte gleichursprünglich. Aus diesem Grund hält Fichte Kants Schematismus für überflüssig, denn in „der Wissenschaftslehre entstehen sie [die Kategorien; M.G.] mit den Objekten zugleich, und, um dieselben erst möglich zu machen, auf dem Boden der Einbildungskraft selbst." 95 . „Wenn aber Fichte glauben konnte, den Schwierigkeiten, denen der philosophische Geist unter Voraussetzung des objektiven Daseyns der Dinge bei Erklärung der Welt begegnet, dadurch entgangen zu seyn, daß er die ganze Erklärung in das Ich verlegte, so mußte er nur um so mehr sich verbunden erkennen, ausführlich zu zeigen, wie mit dem bloßen Ich bin für einen jeden die ganze sogenannte Außenwelt mit allen ihren sowohl nothwendigen als zufälligen Bestimmungen gesetzt sey. Er hätte die außer dem unmittelbaren Bewußtseyn gesetzten Dinge wenigstens als Durchgangspunkte, als Vermittelungen jenes Aktes der Selbstsetzung nachweisen können. Allein es ist, als ob Fichte in der Außenwelt gar keine Unterschiede wahrgenommen hätte. Die Natur ist ihm in dem abstrakten, eine bloße Schranke bezeichnenden Begriff des Nicht-Ich, des völlig leeren Objekts, an dem gar nichts wahrzunehmen ist, als daß es eben dem Subjekt entgegengesetzt ist, die ganze Natur ist ihm in diesem Begriff so zusammengeschwunden, daß er eine Deduktion, die weiter als dieser Begriff sich erstreckte, nicht für nöthig hielt." 96 95

J. G. Fichte, Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre (Grundriss), Fichtes Werke Bd. I, hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971, S. 387. Vgl. R. Lauth, Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984, S. 21. 96 Geschichte, S. 160 f., SW X, S. 90 f. Vgl. hingegen M. J. Siemek, Schelling gegen Fichte, in: A. Mues (Hg.), Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, S. 393 f.: „Im Gegenteil: wie es die neuere Forschung immer deutlicher zutage bringt, enthält die Fichtesche WL wohl zahlreiche und theoretisch wichtige Ausgangspunkte zur Entwicklung einer selbständigen Naturlehre. Im scharfen Gegensatz aber zu den ungebändigten Spekulationen von Schelling hält sich jene noch bis vor kurzem verkannte Naturlehre Fichtes streng an die Forderungen und Grenzen des transzendentalphilosophischen Standpunktes. (...) Fichtes transzendentale Naturlehre läßt nämlich - im direkten Anschluß an Kants kritische Wissenschaftstheorie - die Natur vor allem als Objekt und zugleich Produkt der modernen Naturwissenschaft hervortreten, die dann ihrerseits ebenfalls transzendental, d.h. als eine der Formen der menschlichen Kulturtätigkeiten in der modernen Welt, verstanden werden könnte." Eine ähnliche Interpretation legt R. Lauth in: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984, nahe. Fichtes Diktum, daß alles Sein nur ein Wissen sei, nimmt Lauth als Ansatz einer allgemeinen Naturlehre, die implizit in der Wissenschaftslehre enthalten sei. „Das bedeutet nun, daß das Substrat, das der Natur zugrundeliegt, überhaupt nicht in einer fertigen wirklichen Ordnung gegeben, sondern nichts als ein ursprünglich Bestimmbares und als solches virtuell und pluripotentiell ist; erst die Handlungen der Vernunft, welche aber, von den Grundkonstitutionen abgesehen, im Fortgange frei ist, erstellen eine bestimmte Welt - bestimmt durch die Konstitutionsmomente des Ichs ebenso wie durch die qualitative Bestimmtheit und die die Anschauung bestimmende Ordnung, in der sich

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Α. Die Materie der Wissenschaft

Schellings Versuch, den Fichteschen Idealismus mit der Wirklichkeit auszusöhnen97, indem er der Materie des Wissens eine reflexive Struktur gibt, die die Beziehung des Nicht-Ich auf das Nicht-Ich ermöglichen soll, wird im folgenden dargelegt. „Ich [Fichte; M.G.] antworte: 1) hast du das wirklich gethan, d.h. geleistet ( . . . ) " 9 8 , die „.Reflexion der Natur auf sich selbst (.. . ) " 9 9 zu erklären?

IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus Mit dem Prinzip des transzendentalen Idealismus will Schelling die von ihm und Hegel als asymmetrisch kritisierte Relation von Subjekt und Objekt im Fichteschen Ich als Prinzip des Wissens fortführen zu einer symmetrischen Übereinstimmung von Subjekt und Objekt als je gleichgültige Relata. Diese Adäquanz von Subjekt und Objekt, Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung sei jedem Wissen, auch der Bestimmung des Begriffs der Transzendentalphilosophie, notwendig zu unterstellen. „1. Alles Wissen beruht auf der Übereinstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven. - Denn man weiß nur das Wahre; die Wahrheit aber wird allgemein in die Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen gesetzt."100 Schelling zitiert damit die traditionelle Bestimmung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus 101 als Terminus a quo und notwendige Voraussetzung seiner Wissenschaft des Wissens, der Transzendentalphilosophie. Aus ihr entwickelt er das Prinzip des Systems des transzendentalen Idealismus, das nichts anderes als die Einheit Unterschiedener, für Schelling gar Entgegengesetzter, ist. Der erste wesentliche Unterschied, der sich in einer vernünftigen Rede aussagen läßt, ist der zwischen dem, wovon etwas ausgesagt wird und was von diesem ausgesagt wird. Es ist der Unterschied das Mannigfaltige von sich aus präsentiert." [R. Lauth, S. 15]. Beide Interpretationen unterstützen Fichtes Behauptung, daß objektive Realität allein im und durch das Ich möglich sei, die doch Anlaß der Kritik durch Hegel und Schelling war. Oder, um Schelling zu zitieren: „Am Ende war in Kants Kritik mehr Objektivität als in Fichtes Wissenschaftslehre. Denn Kant ließ sich bei der unternommenen Kritik, bei der Ausmessung des Erkenntnißvermögens, unbedenklich von der Erfahrung leiten, bei Fichte war es doch nur seine, also eine zufällige Reflexion, die alle Kosten der Fortschreitung bestritt." [Geschichte, S. 160 f., SW X, S. 90 f.]. 97 Zur Beziehung der Fichteschen und der Schellingschen Naturauffassung vgl. R. Lauth, Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre, Freiburg/München 1975, S. 118 ff. 98 Bemerkungen, S. 369. 99 Bemerkungen, S. 368 f. 100 System, S. 339, SW III, S. 339. 101 Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veri tate, in deutscher Übertragung von E. Stein, Löwen-Freiburg 1952, quaestio I, articulus 1.

IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus

49

zwischen Substanz und Akzidenz, Subjekt und Prädikat des Urteils. Diese Unterscheidung ist notwendig, sofern die Resultate der Wissenschaft über das tautologische Existenzurteil: Seiendes ist, hinausgehen können sollen; sie ist aber nicht hinreichend. Ohne eine weiterführende eminente Unterscheidung innerhalb der Substanzen, im Bereich der Gegenstände von Urteilen, müßten alle Prädikate allen Subjekten gleichermaßen zu- oder abgesprochen werden können. Allgemeine und notwendige Urteile wären dann nicht möglich. Der zweite wesentliche Unterschied ist der zwischen Subjekt des Urteils und urteilendem Subjekt, den Schelling im folgenden bemüht. „2. Wir können den Inbegriff alles bloß Objektiven in unserm Wissen Natur nennen; der Inbegriff alles Subjektiven dagegen heiße das Ich, oder die Intelligenz. Beide Begriffe sind sich entgegengesetzt. Die Intelligenz wird ursprünglich gedacht als das bloß Vorstellende, die Natur als das bloß Vorstellbare, jene als das Bewußte, diese als das Bewußtlose. Nun ist aber in jedem Wissen ein wechselseitiges Zusammentreffen beider (des Bewußten und des an sich Bewußtlosen) nothwendig; die Aufgabe ist: dieses Zusammentreffen zu erklären." 102 Mit dieser Bestimmung des Inbegriffes aller Vorstellungen als Ich und des Inbegriffes aller Gegenstände der Vorstellungen als Natur, setzt Schelling den Unterschied von Ich und Natur - von Subjekt der Vorstellung und Objekt der Vorstellung, nicht bloß den Unterschied von der Vorstellung und ihrem Gegenstand - als die allgemeinste und ursprüngliche Differenz alles Seienden, deren Aufhebung in eine Einheit die Aufgabe der Wissenschaft des Wissens sei. „3. Im Wissen selbst - indem ich weiß - ist Objektives und Subjektives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein Zweites, beide sind gleichzeitig und Eines." 103 Der Grund des Unterschiedes von Subjekt und Objekt wird von Schelling hier nicht zum Gegenstand gemacht, er wird unterstellt. Als sich wechselseitig negierend und damit bestimmend sind die Unterschiedenen einander entgegengesetzt. Diese Entgegensetzung bestimmt Schelling als absolute, als unbedingte Entgegensetzung. Gegenstand seiner Untersuchung ist daher zunächst allein die mögliche Vereinigung der Unterschiedenen, für die es, da es genau zwei gleichgültig bestimmte Unterschiedene sind, auch nur zwei Möglichkeiten zu geben scheint. „4. Es sind also nur zwei Fälle möglich. A. Entweder wird das Objektive zum Ersten gemacht, und gefragt: jektives zu ihm hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt. (...)

wie ein Sub-

B. Oder das Subjektive wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist die: wie ein Objektives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt. (...) 102 103

4 Gerhard

System, S. 339, SW III, S. 339. System, S. 339, SW III, S. 339.

Α. Die Materie der Wissenschaft

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Aber die Aufgabe fordert nur Erklärung jenes Zusammentreffens überhaupt, und läßt völlig unbestimmt, wovon die Erklärung ausgehe, was sie zum Ersten und was sie zum Zweiten machen soll. - Da auch beide Entgegengesetzte sich wechselseitig nothwendig sind, so muß das Resultat der Operation dasselbe seyn, von welchem Punkt man ausgeht."104 Gleichgültig ob die Erklärung der Übereinkunft vom Ich oder der Natur ihren Ausgang nehme, Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie müssen, so Schelling, wechselseitig und gleichermaßen aus ihrem Gegenstand das von diesem Unterschiedene explizieren können. Aufgabe der Transzendentalphilosophie ist demnach aus dem Ich die Realität der Natur zu deduzieren, indem sie „die Gesetze der Intelligenz zu Naturgesetzen materialisiert (.. .)." 105 Terminus ad quem der Schellingschen Deduktion des Prinzips des Wissens ist, daß das Ich Prinzip alles Wissens und aller Realität sei. Die Darlegung des Prinzips des Systems des transzendentalen Idealismus beginnt Schelling dementsprechend mit zwei Hypothesen. Wissen komme Realität zu, ist die erste Hypothese. Gegenstand der anschließenden Betrachtung sind die Bedingungen dieser Realität. Die zweite Hypothese behauptet, Wissen sei ein System, ein „Ganzes, was sich selbst trägt und in sich selbst zusammenstimmt." 106 Der Bestimmungsgrund eines jeden Systems sei diesem immanent, so daß, „wenn es ein System des Wissens gibt, das Prinzip desselben innerhalb des Wissens selbst liegen ( . . . ) " 1 0 7 muß. Wäre das Prinzip des Wissens dem System des Wissens äußerlich, so könnte es zum einen niemals Gegenstand der Erkenntnis sein, es wäre die unbekannte Ursache aller Erkenntnis, zum anderen wäre das System des Wissens kein ens a se, kein sich in sich selbst tragendes Ganzes, das in sich zusammenstimmt. 1 0 8 Das System des transzendentalen Idealismus ist somit bestimmt als ein System des Wissens, dem die Naturphilosophie als System der Gegenstände des Wissens korrespondieren soll. Die allgemeine Idealität des Wissens sei auf zweierlei Wege zu begründen, der allgemeinste, welcher in der Wissenschaftslehre Fichtes aus dem Satz Ich bin erschlossen worden ist, und „der faktische, der in einem System des transzendentalen Idealismus selbst dadurch geführt wird, daß man das ganze System des Wissens wirklich aus jenem Prinzip ableitet." 1 0 9 Die Deduktion dieses Prinzips des Systems antizipierte demnach das ganze System de facto. Der von Schelling eingeführte Unterschied von allgemeiner 104 105 106 107 108 109

System, S. 340 ff., SW III, S. 340 ff. System, S. 352, SW III, S. 352. System, S. 353 f., SW III, S. 353 f. System, S. 354, SW III, S. 354. Vgl. System, S. 353 f., SW III, S. 353 f. System, S. 377, SW III, S. 377.

IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus

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und faktischer Begründung des Wissens ist Resultat seiner Kritik der Fichteschen Wissenschaftslehre. Diese habe das Selbstbewußtsein als Prinzip des Wissens zur allgemeinen Voraussetzung. „Die Wissenschaftslehre, obgleich sie das Bewußtseyn erst ableiten will, bedient sich doch nach einem unvermeidlichen Cirkel aller Mittel, die ihr das (im philosophirenden Subjekt) schon fertige Bewußtseyn darbietet, um alles gleich in der Potenz darzustellen, in die es doch erst mit dem Bewußtseyn gehoben wird." 1 1 0 Diesen schon von Kant als „Unbequemlichkeit ( . . . ) " n i bezeichneten Zirkel, der aber dennoch unvermeidbar sei, möchte Schelling umgehen. In seinem System soll nichts vorausgesetzt werden, „als was sich unmittelbar aus den Bedingungen des Wissens selbst als erstes Princip einsehen läßt ( . . . ) . 4 4 1 1 2 Zum Behuf dieser Einsicht abstrahiert Schelling davon, was erst durch das freie Handeln des Philosophen in sein Objekt gesetzt wird. Das Objekt sei dann ein Gegenstand einer rein theoretischen Betrachtung, ein rein Objektives, das bar jeder subjektiven oder praktischen Einmischung des Philosophen sei. Dergestalt entstünde „ein ursprünglich zugleich Subund Objektives, durch dessen Handeln zugleich mit der objektiven Welt, als solcher, auch schon ein Bewußtes, dem sie Objekt wird, und umgekehrt, gesetzt wird ( . . . ) . " 1 1 3 Eine solche Philosophie ginge nicht wie die Wissenschaftslehre von einem „bloß subjektiven (im Bewußtseyn des Philosophen enthaltenen) Ideal-Realismus ( . . . ) " 1 1 4 aus. Aus dem reinen Subjekt-Objekt, der Natur, soll das Subjekt-Objekt des Bewußtseins, das Ich, entstehen. Das reine Subjekt-Objekt oder die Natur sei Prinzip der theoretischen Philosophie und das Subjekt-Objekt des Bewußtseins oder das Ich sei Prinzip der praktischen Philosophie. Beide vereinigt bestimmten das System der Kunst oder das System des objektiv gewordenen Ideal-Realismus. Das Prinzip ist als dasjenige, wovon ausgegangen wird, das Erste des Systems. Es kann aber nicht nur für sich sein, denn als ein unmittelbar Seiendes wäre es Prinzip von Nichts, leeres Gedankending, ens rationis. Seine Wirklichkeit 1 1 5 hat es nur in dem, was es nicht selbst ist. Es kann nur Prinzip sein für das, was selbst nicht Prinzip ist. Das Prinzip ist nur für das Prinzipiatum, die empirischen Gegenstände, die in ihm ihren Grund 110

F. W. J. Schelling , Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen (Begriff der Naturphilosophie), Schellings Werke Zweiter Band, S. 719 f., SW IV, S. 85 f. 111 KrV, Β 404. 112 Begriff der Naturphilosophie, S. 725, SW IV, S. 91. 113 Begriff der Naturphilosophie, S. 725, SW IV, S. 91. 1,4 Begriff der Naturphilosophie, S. 720, SW IV, S. 86. 115 Wirklichkeit und Realität sind bei Kant nicht gleichbedeutend. Vgl. A. Maier, Kants Qualitätskategorien, Kant-Studien Ergänzungsheft 65, Berlin 1930, S. 8 ff. und S. 73 ff. Vgl. Kapitel Β. I. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie. Kant. 4*

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Α. Die Materie der Wissenschaft

haben. Das Prinzip ist also für uns an sich und es ist in anderem, seinen empirischen Erscheinungen. Das Prinzip kann, sofern seine objektive Realität unterstellt wird, für uns nur aus dem Prinzipiatum, den empirischen Gegenständen, erschlossen werden. Schelling versucht diesem rekursiven Schluß zu entgehen, indem er das Prinzip als das Erste des Systems postul i e r t 1 1 6 und aus diesem das System des Wissen als Konstruktion 117 des Ich entstehen läßt. Die logische Konsistenz dieses sich aus dem Postulat entwickelnden Systems ist ihm der einzig mögliche Beweisgrund der Richtigkeit des Prinzips, denn weder lasse das Prinzip sich demonstrieren, noch lasse es sich anders darstellen denn als eine Forderung an den sich - aus Spontaneität - bestimmenden Intellekt. 1 1 8 Wäre das Prinzip nur aus dem Prinzipiatum zu erschließen, wäre das Prinzip zwar Bestimmungsgrund, aber nicht Erkenntnisgrund des Wissens. Das Prinzip wäre dann, entgegen der Schellingschen Intention, abhängig von etwas ihm Äußerlichen, es wäre nicht absolutes Prinzip des Wissens. „Was höchstes Prinzip des Wissen ist, kann seinen Erkenntnisgrund nicht wieder in etwas höherem haben. Es muß also auch für uns sein principium essendi und cognoscendi Eins seyn und in Eins zusammenfallen." 119 Um einen unendlichen Regreß von Prinzip und Prinzipiatum zu vermeiden, muß das Prinzip als absolutes an den Anfang des Systems gesetzt werden. Rechtfertigen läßt sich eine solche Setzung allein vom Resultat, dem vollständigen System. Die faktische Deduktion des Systems aus dem postulierten Prinzip soll den notwendigen Bruch zwischen Prinzip und Prinzipiatum in einem unendlichen Prozeß aufheben. So erscheint als der einzig 116

Mit diesem Postulat, das das Sollen der praktischen Philosophie zur Voraussetzung der theoretischen Philosophie macht, wird die Verschränkung von theoretischer und praktischer Philosophie gesetzt. 117 Schelling verwendet den Begriff der Konstruktion in Anlehnung an Kant. Vgl. KrV, Β 741: „Einen Begriff aber konstruieren heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen." Auf die besondere Funktion des Begriffs der Konstruktion für Schellings Entwicklung des Ich im System des Wissens weist S. Peetz hin. „Indem Schelling auf diese Weise die reflexive Selbstbeziehung als abkünftige Form einer ursprünglichen Selbst-Konstruktion erweist, wird klar, daß die Methode der Konstruktion vor allem darauf angelegt ist, jede Form von Philosophie, die von einem reflexiv interpretierten obersten Grundsatz ausgeht, zu überwinden." [S. Peetz, Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität, Frankfurt/M. 1995, S. 152]. 118 Vgl. KrV, Β 287: „Nun heißt ein Postulat in der Mathematik der praktische Satz, der nichts als die Synthesis enthält, wodurch wir einen Gegenstand uns zuerst geben, und dessen Begriff erzeugen, ζ. B. mit einer gegebenen Linie, aus einem gegebenen Punkt auf einer Ebene einen Zirkel zu beschreiben, und ein dergleichen Satz kann darum nicht bewiesen werden, weil das Verfahren, was er fordert, gerade das ist, wodurch wir den Begriff von einer solchen Figur zuerst erzeugen." 1

System, S. 3 6 , SW III, S. 3 6 .

IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus

53

mögliche Beweis des postulierten Prinzips die Konstruktion des Prinzipiatum aus dem Prinzip. Die Realität des Prinzips soll sich dadurch erweisen, daß das als real gesetzte Prinzip Voraussetzung seiner Idealität ist. Allein unter der Voraussetzung, daß sich aus dem bewußtlosen Ich, das mit dem erschlossenen Prinzip postuliert ist, die vollständige Intelligenz evolviert, läßt sich das Prinzip vom reflektierenden Subjekt, und nicht bloß vom Philosophen, erschließen und postulieren. Die objektive Realität des Prinzips wird dann durch sein Prinzipiatum, der Anfang des Systems des transzendentalen Idealismus durch sein Resultat begründet. Die Realität des Prinzips ist somit erschlossen als die Indifferenz von Idealität und Realität, die sich im sich selbst bewußtwerdenden Ich, im Prozeß der intellektuellen Anschauung, darstellt. Das Prinzip ist faktisch deduziert worden aus seinem Prinzipiatum, ohne daß Prinzip und Prinzipiatum auseinander fielen, weil sie Eines seien: Ich = Ich. Die Einheit der Welt der Erscheinungen als ein System des Wissens läßt sich allein durch ein Prinzip begründen. Dieses Prinzip kann nicht selbst aus der Welt der Erscheinungen abgeleitet werden. Es muß sich selbst setzen und durch sich selbst bestehen (ens a se) und doch soll es sich faktisch begründen lassen können. Die Selbsterkenntnis des Selbstbewußtseins ist ein Modell dieses Prinzips. Da Schelling das Ich nicht als gegeben voraussetzen will, muß er die Entstehung des Selbstbewußtseins als Prozeß der Bewußtwerdung aus dem Nicht-Ich erklären. 120 Das Selbstbewußtsein oder die Selbsterkenntnis ist nicht für sich faßbar, sondern nur in seiner bzw. ihrer Wirklichkeit, d.h. in dem, worin es sich entäußert, in der Geschichte des Selbstbewußtseins. Das Bewußtsein des Verhältnisses von Selbstbewußtsein und seinem absoluten Anderssein entwickelt sich erst in der Geschichte der Philosophie. Diese Entwicklung des Selbstbewußtseins legt Schelling in drei Epochen dar, durch welche die Eine absolute Synthesis, die ursprüngliche Vereinigung von Ideellem und Reellem, sukzessiv zusammengesetzt sei. Die Aufgabe der Naturphilosophie, wie die Natur dazu komme, vorgestellt zu werden 1 2 1 , sei daher ohne die Transzendentalphilosophie, deren Aufgabe es ist, zu erklären, wie zu dem Subjektiven „ein Objektives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt ( . . . ) " 1 2 2 , nicht zu lösen. Der Unterschied von Natur und Vernunft ist im Selbstbewußtsein jedoch nicht aufgehoben, vielmehr kehrt er in der Differenz von empirischem und 120

Fichte „löst" das Problem der Entstehung des Selbstbewußtseins, indem er Ich und Nicht-Ich zugleich entstehen läßt. Aus diesem Zirkel vermöchte der endliche Geist nicht herauszutreten. Vgl. WL, S. 282. Indem Fichte das Ich zum absoluten Grund setzt, vermag er jedoch nicht die Mitte zwischen Dogmatismus und Idealismus zu halten. Damit ist das Selbstbewußtsein nicht zu deduzieren, es wird schlicht erschlossen als notwendige Bedingung, als schlechthin gesetztes Setzen. 121 Vgl. System, S. 340, SW III, S. 340. 122

System, S. 341, SW III, S. 341.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

transzendentalem Subjekt wieder. Im Selbstbewußtsein denkt sich das Ich als identisch mit sich, indem es sich vom Nicht-Ich unterscheidet. Nicht-Ich ist das Objekt des Subjekts, aber indem das Subjekt sich selbst zum Objekt wird, verdoppelt sich das Nicht-Ich zur Natur überhaupt, den äußeren Gegenständen, und zur Natur des Ich, dem empirischen Ich. Nicht-Ich ist Ausdruck der Differenz von Intelligenz und Natur und zugleich Ausdruck der Differenz von subjektivem und objektivem Ich, wobei das Ich sich selbst nur zum Objekt werden kann, sofern es nicht allein Intelligenz, sondern auch Natur ist. Das objektive Ich vereinigt in sich den Widerspruch, einerseits identisch mit dem subjektiven Ich zu sein, da ansonsten die Einheit des Bewußtseins unmöglich wäre, und andererseits unterschieden vom subjektiven Ich zu sein. Ohne diesen Unterschied wäre das Ich bloße Intelligenz ohne Realität. Die Entwicklung des Selbstbewußtseins ist somit zugleich der Versuch der Realisierung des Ideellen. Aus dem bewußtlosen Produzieren des Ich als Natur soll das bewußte Produzieren des Ich als Intelligenz hervorgehen. Diese Entwicklung von Materie, Organismus und Geist in den drei Epochen des Selbstbewußtseins ist Programm des theoretischen Teils des Systems des transzendentalen Idealismus. Die Deduktion des Prinzips selbst erfolgt apagogisch. Daß Wissen möglich ist, ist eine notwendige Unterstellung, die selbst der Skeptiker zugibt, sofern er sich etwas, sei es auch das Nichtwissenkönnen, zum Gegenstand macht. Das Wissen kann entweder bedingt oder unbedingt sein. „Unbedingt weiß ich nur das dessen Wissen einzig durch das Subjektive, nicht durch ein Objektives bedingt i s t . " 1 2 3 In identischen Sätzen der Form A = A sei das in ihnen ausgedrückte Wissen allein bedingt durch das Subjekt. Die Aussage dieses Satzes ist insofern hypothetisch, als sie von der Realität des Inhalts absieht und damit nichts anderes bedeutet als „indem ich A denke, denke ich nichts anderes als A . " 1 2 4 Im Unterschied zu Fichte bezieht Schelling das urteilende Subjekt in den hypothetischen Satz „Wenn A sei, so sei A ( . . . ) " 1 2 5 ein, so daß das Wissen in diesem Satz, bloß durch mein Denken, das Subjektive, bedingt sei. Ein Wissen, das allein durch die Tätigkeit des Subjekts des Wissens, das Denken, bedingt ist, sei, weil die Bedingung des Wissens in das Wissen selbst falle, und nicht in ein dem Wissen Äußerliches falle, unbedingt. 126 Jeder bestimmte Satz der Identität hat zur Voraussetzung ein Denken, das „unmittelbar sich selbst zum Objekt wird ( . . . ) . " 1 2 7 Die Identität des Denkens, die Einheit des Selbstbewußtseins, 123

System, S. 362, SW III, S. 362. System, S. 362, SW III, S. 362. 125 WL, S. 93. 126 Vgl. System, S. 362, SW III, S. 362. Vgl. F. W. 7. Schelling , Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), AA Bd. I, 2, S. 90, Schellings Werke Erster Band, S. 91, SW I, S. 167. 124

IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus

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ist jedoch bloße Tautologie. Wissen ist aber bestimmt worden als das Zusammentreffen des Subjektiven mit einem Objektiven. „Wenn nun alle Sätze, in welchen Subjekt und Prädikat nicht bloß durch die Identität des Denkens, sondern etwas dem Denken Fremdartiges von ihm Verschiedenes vermittelt sind, synthetische heißen, so besteht unser ganzes Wissen aus lauter synthetischen Sätzen, und nur in solchen ist ein wirkliches Wissen, d.h. ein solches das sein Objekt außer sich hat." 128 Gegenstand unseres Wissens können nur solche Vorstellungen sein, die unsere Vorstellungen sind, die in die Einheit bzw. Identität des Selbstbewußtseins fallen. Wirkliches Wissen hat aber ein dem Denken Fremdartiges zur Voraussetzung, so daß Wissen die Einheit von Identischem und Unterschiedenen sei. Dieser Widerspruch, wie Idealität und Realität des Wissens gleichermaßen möglich seien, ließe sich nur dadurch lösen, daß das Identische und das Synthetische in Einem vereinigt zu denken wären. Das Prinzip des Wissens müsse demnach in sich zugleich identisch und synthetisch sein, in ihm müsse das Objekt und sein Begriff, der Gegenstand und seine Vorstellung ursprünglich und unmittelbar Eines sein. Die gesuchte Identität von Subjekt und Objekt sei nur im Selbstbewußtsein als Einheit von urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils möglich. Das Ich sei nichts anderes als der Akt des sich selbst zum Objekt Werdens. Als freie Handlung des sich selbst zum Objekt Werdens kann das Ich als Prinzip des Wissens nicht demonstriert werden. Das Ich als Prinzip der Philosophie kann nur postuliert werden, so daß die theoretische Philosophie die Freiheit zu ihrer Voraussetzung hat, die die praktische Philosophie zu ihrem Resultat hat und damit die Differenz von praktischer und transzendentaler Freiheit eingeholt wird. Als Postulat ist das Ich sowohl das Prinzip der theoretischen als auch der praktischen Philosophie, denn es ist die Vermittlung des Lehrsatzes der theoretischen Philosophie und des Gebots der praktischen Philosophie, indem es gleichermaßen Konstruktion und Forderung ist. Faktisch ist jedoch die Natur das Prinzip der theoretischen Philosophie, denn das Ich kommt erst mit dem Übergang zur praktischen Philosophie zu Bewußtsein. Vor diesem Übergang ist es bewußtloses Bewußtwerden der Intelligenz. Der Anstoß dieses Prozesses der Bewußtseinswerdung liegt jedoch im Postulat und damit außerhalb der werdenden Intelligenz. Ob die Entstehung des Selbstbewußtseins sich dennoch bar jeder subjektiven oder praktischen Einmischung des Philosophen denken läßt, wie Schelling fordert, bleibt zu zei-

127

System, S. 365, SW III, S. 365. System, S. 362, SW III, S. 362. 129 Vgl. Schellings Bestimmung der Konstruktion ohne aus dem Absoluten herauszutreten in: Über die Construktion in der Philosophie, Schellings Werke Dritter Band, S. 559, SW V, S. 139. Zum Heraustreten aus dem Absoluten vgl. F. W. J. 128

Α. Die Materie der Wissenschaft

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Das Prinzip aller Philosophie sei das Ich = I c h 1 3 0 , die absolute Identität von Bestimmendem und Bestimmbarem. Ist das Subjektive Grund aller Realität, so ist der allgemeine Zweifel an der Realität des Objektiven 1 3 1 Anfang des transzendentalen Wissens, der „Wissenschaft des Wissens ( . . . ) . " 1 3 2 Objektives wird zum Resultat der Tätigkeit des ursprünglich Nichtobjektiven. Dies ist nur möglich, sofern das ursprünglich Nichtobjektive sich selbst zum Objekt wird. Daraus folge, daß das Ich als Eines identisch mit sich selbst sei, als sich selbst zum Objekt werdendes sei es die Duplizität, als Einheit beider die Synthesis absolut Entgegengesetzter. Im Ich finde sich, daß „das Objekt und sein Begriff, der Gegenstand und seine Vorstellung ursprünglich, schlechthin und ohne alle Vermittlung Eins sind." 1 3 3 Diese unvermittelte Identität von Subjekt und Objekt komme allein dem Selbstbewußtsein zu, das Vorstellendes und Vorgestelltes, Anschauendes und Angeschautes zugleich sei. Außerhalb oder vor diesem Akt der Übereinstimmung von urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils als ursprüngliches Subjekt-Objekt sei weder ein Bewußtsein von Objekten überhaupt noch ein Selbstbewußtsein möglich, so daß Denken und Sein im Selbstbewußtsein in Eins fielen. 1 3 4 Aus dieser Übereinstimmung von Denken und Sein des Selbstbewußtseins folgert Schelling die Indifferenz des Grundes der Selbstgewißheit des denkenden Subjektes und des Existenzgrundes des denkenden Subjektes. Diesen Grund oder das Prinzip des Wissens überhaupt bestimmt Schelling als reine Tätigkeit des Selbstbewußtseins. Bedingung der Möglichkeit einer Wissenschaft des Wissens ist dann die Fixierung dieser Tätigkeit als Gegenstand des Wissens. Mit der Fixierung dieser Tätigkeit als Produkt, das gleichwohl nicht aufhört Produzierendes zu sein, versucht Schelling die faktische Deduktion seines Systems des Wissens zu begründen. Diese Fixierung des Produzierenden als ein Produkt sei ein intellektuelles Anschauen des Ich. Weil in der intellektuellen Anschauung die Indifferenz von Wissen und Gegenstand des Wissens gegeben sei, sei sie der Grund der objektiven Realität des Wissens. „Soll es also Objekt des Wissens werden, so muß dieß durch eine vom gemeinen Wissen ganz verschiedene Art zu wissen geschehen. Dieses Wissen muß a) ein absolut-freies seyn, eben deswegen, weil alles andere Wissen nicht frei ist, also ein Wissen, wozu nicht Beweise, Schlüsse, überhaupt Vermittlung von Begriffen führen, also überhaupt ein Anschauen; Schelling , Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795), AA I, 3, S. 60, Schellings Werke Erster Band, S. 218, SW I, S. 294. 130 Vgl. System, S. 377, SW III, S. 377. 131 System, S. 343, SW III, S. 343. 132 System, S. 373, SW III, S. 373. 133 System, S. 364, SW III, S. 364. Vgl. hingegen System, S. 353, SW III, S. 353. 134

Vgl. System, S. 366, SW III, S. 366.

IV. Das Prinzip des transzendentalen Idealismus

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b) ein Wissen, dessen Objekt nicht von ihm unabhängig ist, also ein Wissen, das zugleich ein Produciren seines Objekts ist - eine Anschauung, welche überhaupt frei producirend, und in welcher das Producirende mit dem Producirten eins und dasselbe ist. Eine solche Anschauung wird im Gegensatz gegen die sinnliche, welche nicht als Produciren ihres Objekts erscheint, wo also das Anschauen selbst vom Angeschauten verschieden ist, intellektuelle Anschauung genannt. (...) Ohne diese Anschauung hat das Philosophiren selbst kein Substrat, was das Denken trüge und unterstützte; jene Anschauung ist es, was im transcendentalen Denken an die Stelle der objektiven Welt tritt und gleichsam den Flug der Speculation trägt." 135 Die intellektuelle Anschauung als Substrat der Philosophie läßt jeden möglichen Gegenstand des Subjektes zum an sich unbestimmten Material der subjektiven Tätigkeit werden, so daß alles Seiende nur als „Modificationen einer auf verschiedene Weise eingeschränkten Thätigkeit zu begreifen ( . . . ) " 1 3 6 sei. Ist die Tätigkeit Grund aller Realität, dann hat die ganze Wissenschaft es in der Tat nur mit eigenen, freien Konstruktionen zu tun. Unabhängig von seiner Konstruktion sei das Product nichts, „es ist überhaupt nur, indem es construirt wird, und abstrahirt von der Construktion so wenig als die Linie des Geometers. (...) Was das Ich sey, ist eben deswegen so wenig demonstrabel, als was die Linie sey; man kann nur die Handlung beschreiben, wodurch es entsteht." 137 Die Anleitung zur Konstruktion sei nichts anderes als eine Forderung an den sich und seine Natur - aus Spontaneität - bestimmenden Intellekt. Alles, was ist, existiere demnach nur für und durch das I c h . 1 3 8 Die Apodiktizität der synthetischen Urteile a priori läßt sich jedoch nicht aus der Tätigkeit des urteilenden Subjektes deduzieren. Das bloße Befolgen einer Handlungsforderung, einer Konstruktionsanweisung hat keine apodiktisch gültigen Urteile über die Gegenstände der konstruierten Begriffe zum Resultat. Daß „dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muß ( . . . ) " 1 3 9 , läßt nicht den umge135

System, S. 369 f., SW III, S. 369 f. System, S. 375, SW III, S. 375. 137 System, S. 371 f., SW III, S. 371 f. 138 Vgl. System, S. 377, SW III, S. 377. Vgl. Hegels Anmerkung zur intellektuellen Anschauung als Grundlage des Fichteschen Systems, Diff, S. 36: „Die intellektuelle Anschauung ist hierdurch gesetzt gleich Allem, sie ist die Totalität; dies Identischsein alles empirischen Bewußtseins mit dem reinen ist Wissen; und die Philosophie, die dies Identischsein weiß, ist die Wissenschaft des Wissens; sie hat die Mannigfaltigkeit des empirischen Bewußtseins als identisch mit dem reinen, durch die Tat, durch die wirkliche Entwicklung des Objektiven aus dem Ich zu zeigen und die Totalität des empirischen Bewußtseins als die objektive Totalität des Selbstbewußtseins zu beschreiben; in Ich = Ich ist ihr die ganze Mannigfaltigkeit des Wissens gegeben." 136

139

KrV, Β 744.

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Α. Die Materie der Wissenschaft

kehrten Schluß zu, daß mit der Konstruktion synthetische Urteile a priori hervorzubringen seien, die allein in dieser Tätigkeit den Grund ihrer Apodiktizität hätten. Umgekehrt ermöglichen erst die Form der Gesetzmäßigkeiten und die einzelnen Gesetze, die den Objekten der konstruierten Begriffe unabhängig von den Konstruktionsvorschriften zukommen, die transzendentale Einheit des Subjekts.

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie „Zuerst, wie kann ich eine Erkenntnis a priori, mithin Metaphysik, von Gegenständen erwarten, sofern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind? und wie ist es möglich, nach Prinzipien a priori, die Natur der Dinge zu erkennen und zu einer rationalen Physiologie zu gelangen? Die Antwort ist: wir nehmen aus der Erfahrung nichts weiter, als was nötig ist, uns ein Objekt, teils des äußeren teils des inneren Sinns zu geben. Jenes geschieht durch den bloßen Begriff Materie (undurchdringliche leblose Ausdehnung), dieses durch den Begriff eines denkenden Wesens (in der empirischen inneren Vorstellung: Ich denke)."1

I. Kant 1. Kants Bestimmungen des Begriffs der Materie in der Kritik der reinen Vernunft a) Der transzendentale Gegenstand In der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bestimmt Kant dasjenige, was die objektive Realität der Welt der Erscheinungen ausmachen soll, als den transzendentalen Gegenstand. Der transzendentale Gegenstand ist bei allen Erkenntnissen derselbe, nämlich das X, welches „allen unseren empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d.i. objektive Realität verschaffen kann." 2 Bestimmt wird dadurch ein allgemeiner Gegenstand der Erkenntnis, der Gegenstand überhaupt, der das allgemeine Korrelat der Einheit eines jeden Bewußtseins sein soll. Da der Begriff des transzendentalen Gegenstandes keine bestimmte Anschauung enthalten kann, kann er nur auf diejenige Einheit gehen, der ein jedes Mannigfaltiges der Erkenntnis bedarf, sofern die Erkenntnis sich auf einen Gegenstand bezieht. „Diese Beziehung aber ist nichts anderes, als die notwendige Einheit des Bewußtseins, mithin auch der Synthesis des Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Gemüts, es in einer Vorstellung zu verbinden."3 1 2 3

KrV, Β 876. KrV, A 109. KrV, A 109.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die gemeinschaftliche Funktion des Gemüts ist diejenige subjektive Bestimmung, die allen Subjekten gleichermaßen zukommend die notwendige Beziehung auf die synthetische Einheit des Mannigfaltigen ermöglicht. Die objektive Realität der Erkenntnis beruht demnach auf dem transzendentalen Gesetz, daß alle Erscheinungen, sofern sie sich auf Gegenstände möglicher Erfahrung beziehen, unter der transzendentalen Einheit der Apperzeption stehen müssen.4 Die durchgängige Synthesis des Mannigfaltigen erscheint dann als Grund der objektiven Realität, so daß dem transzendentalen Gesetz gemäß allein die Konsistenz der Welt der Erscheinungen der Garant ihrer objektiven Realität ist. Das Kriterium der logischen Konsistenz müßte sich dann von jedem Subjekt auf die ganze Welt der Erscheinungen anwenden lassen können. Das hätte aber einen affirmativen Begriff der Totalität der Erscheinungen zur Voraussetzung. Die Welt der Erscheinungen ist als ein Ganzes jedoch kein Gegenstand möglicher Erfahrung, sondern Gegenstand eines spekulativen Begriffs. Die Totalität der Erscheinungen als der Inbegriff aller Möglichkeit ist für Kant ein transzendentales Ideal, das kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. 5 Aus diesem Grund bedarf die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs eines über die logische Konsistenz der Welt der Erscheinungen hinausgehenden Kriteriums, mit dem die objektive Realität partikularer Erscheinungen bestimmt werden kann. Als Grund der objektiven Realität partikularer Erscheinungen bestimmt Kant in den Antizipationen der Wahrnehmung die Materie als das Reale in der Erscheinung.

b) Das Reale in der Erscheinung Eine Antizipation ist diejenige Erkenntnis, wodurch das, was zur empirischen Erkenntnis gehört, a priori erkannt wird. Das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung ist, daß das Reale in allen Erscheinungen eine intensive Größe 6, einen Grad, hat. Da die Wahrnehmung das empirische Bewußtsein ist 7 , können die Gegenstände der Wahrnehmung, die Erscheinungen, nicht bloß reine Anschauungen sein. Die reinen oder formalen Anschauungen, Raum und Zeit, sind keine Gegenstände der Wahrnehmung. Sie sind erschlossen als Bedingung der Möglichkeit der Mathematik. Der 4

Vgl. ebd. Das transzendentale Ideal soll nicht die Funktion übernehmen, das subjektive Denken objektiv auf seine Gegenstände zu beziehen. 6 Zu Kants Unterscheidung von intensiver und extensiver Größe vgl. G. Böhme, Über Kants Unterscheidung von extensiven und intensiven Größen, in: G. Böhme, Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstruktion der Kantischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1986. 7 Vgl. KrV, Β 160, 207, 220. 5

I. Kant

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Raum als reine Anschauung ist Bedingung der Möglichkeit der Geometrie. Die Zeit als reine Anschauung ist Bedingung der Möglichkeit der Zahlenfolge. 8 Die UnUnterscheidbarkeit der reinen Anschauungen Raum und Zeit von der Form der Anschauung des äußeren Sinnes, unter der äußere Erscheinungen gegeben sind einerseits, und der Form des inneren Sinns, unter der die Erscheinungen innerlich gegeben sind andererseits, begründet die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Erscheinungen, als Gegenstände der Wahrnehmung, enthalten über die reinen Anschauungen hinaus Materien zu einem Gegenstande möglicher Erfahrung. Die Materien zu einem Gegenstande überhaupt unterscheiden sich von den bloßen Anschauungen durch ihre empirische Realität. Die Materie zu einem Objekt überhaupt ist das Reale der Empfindung. M i t dem Begriff der Materie der Empfindung soll der Grund der Realität allgemein, d.h. kategorial bestimmt werden, so daß es nicht eine Bestimmung des empirischen Bewußtseins, sondern des formalen Bewußtseins des Mannigfaltigen in Raum und Zeit ist. Beschränkte Kant die Realität auf das empirische Bewußtsein, wäre Realität als Kategorie undenkbar. Realität wäre damit als formale, allgemeine Bestimmung der transzendentalen Einheit der Apperzeption unmöglich. Terminus ad quem der Antizipationen der Wahrnehmung ist demnach die objektive Indifferenz von wahrnehmbarem und transzendentalem Gegenstand, die der Indifferenz des einzelnen Ich und des transzendentalen Subjekts in der transzendentalen Einheit der Apperzeption korrespondieren soll. Wird von dem Realen in den Erscheinungen antizipiert, daß es eine intensive Größe hat, so wird die Intensität dieser Größe der Empfindung der stufenartigen Veränderung vom empirischen Bewußtsein zum reinen entsprechen. Der Übergang von der Realität der Erscheinung zur Negation = Ο ist kontinuierlich, jeder Erscheinungsrealität kann eine von Null verschiedene intensive Größe zugesprochen werden. Mit der Subsumtion des Realen unter eine intensive Größe gibt Kant somit ein zweites Prinzip der Anwendung der Mathematik 9 auf die Erfahrung an die Hand, denn als intensive Größe ist das Reale ebenso mathematisch faßbar wie Raum und Zeit als extensive Größen. 10 Die Grundlage der Wahrnehmung ist die Empfindung oder die Rezeptivität der Sinnlichkeit. Die Empfindung ist damit Indiz der Realität der Gegenstände außerhalb unseres Denkens. Wäre die Empfindung alleiniges Kri8

Kant verwendet den Begriff der Zahlenreihe, der jedoch mathematisch nicht korrekt ist. Mit einer Zahlenfolge wird der Nachfolger zu einer Zahl bestimmt, während eine Reihe immer schon das ist, was aufsummiert ist. 9 Vgl. /. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Kants Werke Akademie Textausgabe Band IV, AA IV, Berlin 1968, S. 307. 10 Vgl. A. Maier, Kants Qualitätskategorien, Kant-Studien Ergänzungsheft 65, Berlin 1930, S. 60.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

terium der objektiven Realität, führte das aber auf einen subjektiven Idealismus, der Wahrnehmung und Realität in Eins setzt. Sind Wahrnehmung und die Realität der wahrgenommenen Gegenstände nicht voneinander zu trennen, lassen sich nur über aktuale Wahrnehmungen Urteile bilden. Jede mögliche Erkenntnis wäre auf die aktuale Wahrnehmung beschränkt, so daß sich noch nicht einmal Urteile von komparativer Allgemeinheit formulieren ließen. Soll allgemeine und notwendige Erkenntnis von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen möglich sein, muß der Begriff des Realen in der Wahrnehmung unabhängig von der Empfindung ein Sein bei sich führen. Die Materie der Empfindung soll einerseits an die Rezeptivität der empirischen Subjekte gebunden sein, andererseits soll sie Garant der Objektivität der Welt der Erscheinungen sein. Die Materie der Empfindung muß also auch unabhängig von der Wahrnehmung sein. Diese Selbständigkeit erhält sie durch die intensive Größe. „Aber das Reale, was den Empfindungen überhaupt korrespondiert, im Gegensatz mit der Negation = 0, stellt nur etwas vor, dessen Begriff an sich ein Sein enthält Mit dieser Bestimmung des Realen bzw. der Realität 12 trennt Kant den Begriff der Materie der Empfindung von der empirischen Realität der Empfindung. Diese Trennung ist notwendig, um Gegenständen möglicher Erfahrung überhaupt Realität zusprechen zu können. Diese notwendige Trennung führt Kant auf einen Begriff der Realität, der an sich selbst ein Sein enthält. Dieser Begriff ist der der Materie aller Gegenstände. Als solcher ist er unabhängig von der Empfindung. Wird die Grenze von Empfindung und Nichtempfindung überführt in eine unendliche Zahl von Graden der Materie der Empfindung, ergibt sich daraus die Unabhängigkeit der Materie der Empfindung von der Wahrnehmungsschwelle. Die Materie der Empfindung muß ihrem Begriff nach ein Sein bei sich führen. Diese Vorstellung von etwas, „dessen Begriff an sich ein Sein enthält ( . . . ) " 1 3 verweist implizit auf den ontologischen Gottesbeweis, in dem vom Begriff auf dessen, vom Schluß unabhängigen, Sein geschlossen wird. Wäre die Materie der Empfindung einerseits nicht unabhängig von der Wahrnehmung, ließe sich ein subjektiver Idealismus nicht vermeiden. Wäre die Materie der Empfindung andererseits ausschließlich das Resultat eines Schlusses, wäre sie bloß ideell. Der Beweis der Rezeptivität, d.h. der Existenz des Realen, läßt sich, entgegen der Kantischen Intention, nur über den ontologischen Gottesbeweis führen. Das Reale ist erschlossen, als dieses Erschlossene ist es aber 11

KrV, Β 217. Die Verwendung der Begriffe des Realen und der Realität als Synonyme entspricht den Kantischen Bestimmungen. Beide sind dasjenige, was der Empfindung korrespondiert. Vgl. KrV, Β 182. 12

13

KrV, Β 217.

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nicht nur ideell, sondern existiert unabhängig vom Schluß als reeller Grund der objektiven Realität. Das Reale, das dergestalt ein Sein bei sich führt, ist ein spekulativer Begriff, dem selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung korrespondieren kann und dennoch ist er bestimmt als dasjenige, welches die Materie der Möglichkeit aller Erfahrung ausmacht. Die Bestimmung der Materie der Empfindung ist demnach eine doppelte. Die Materie der Empfindung ist einerseits bestimmt als dasjenige, was den Erscheinungen im Raum Realität verschafft, was andererseits jedoch selbst keine Erscheinung im Raum sein kann. c) Die einfache Substanz Im Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung unterstellt Kant den Begriff einer einfachen Substanz. Der Begriff der Substanz wird dort nicht restringiert auf die Gegenstände möglicher Erfahrung, vielmehr soll er die Materie der Möglichkeit dieser Gegenstände möglicher Erfahrung ausmachen. Die Kategorie der Realität soll die Restriktion der Erfahrung auf die Gegenstände möglicher Erfahrung begründen. Doch läßt sich in der Kategorie der Realität die Restriktion auf Gegenstände möglicher Erfahrung nicht begründen, ohne einen spekulativen Begriff der Materie der Empfindung anzunehmen, der selber nicht restringiert ist auf die Gegenstände möglicher Erfahrung. Diese doppelte Bestimmung des Begriffs der Realität führt zu Inkonsistenzen im Kantischen Text. 1 4 Soll das Reale in der Erscheinung die Funktion übernehmen, die kollektive Einheit des Bewußtseins mit der Realität der Erscheinungen zu vermitteln, ist damit die Beziehung der Kontinuität des Substrats der Materie der Empfindung auf die Diskontinuität der diskreten Erscheinungen gefordert. Diese Beziehung ist Gegenstand der Antithesis der zweiten Antinomie. Die Antithesis behauptet, daß die Kontinuität des leeren Raumes mit den einfachen Teilen desselben unverträglich sei. „Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben."15 Jedes zusammengesetzte Ding besteht also wiederum aus etwas Zusammengesetztem, so daß der Regressus in indefinitum fortgesetzt werden könne und müsse. Die Existenz einer Simplizität sei also weder möglich noch denkbar. Unter dieser Simplizität wäre aber der transzendentale Gegenstand, die Materie der Empfindung und das Substrat intensiver Größen überhaupt zu fassen. Die in den Antizipationen unterstellte Substanz, die 14

Vgl. A. Maier, Kants Qualitätskategorien, Kant-Studien Ergänzungsheft 65, Berlin 1930. 15

KrV, Β 463.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Materie der Empfindung, stimmt in ihrer Funktion mit dem transzendentalen Gegenstand überein, der für alle Gegenstände = X, dasselbe sein soll. Ist der transzendentale Gegenstand für alle möglichen Gegenstände der Erfahrung einerlei, so ist er notwendig einfach. Dieses einfache Substrat ist der identische Gegenstand = X oder die identische Materie der Empfindung. Alles, was durch diese Begriffe gedacht werden kann, bezieht sich notwendig auf Erscheinungen im Raum, kann aber selbst nicht als Erscheinung im Raum vorgestellt werden. In seiner Beziehung auf Erscheinungen ist das X abhängig von diesen, als Nichterscheinung ist es selbständig. Mit der Bestimmung der Antithesis der zweiten Antinomie wird die Möglichkeit der zuvor als notwendig unterstellten Materie jedoch negiert. Das Beharren auf der Gleichgültigkeit des Begriffs der Materie der Empfindung und der Restriktion aller Begriffe auf Gegenstände möglicher Erfahrung hat die Problematik des Beweises der Antithesis der 2. Antinomie zur Folge. „Der zweite Satz der Antithesis, daß in der Welt gar nichts Einfaches existiere, soll hier nur soviel bedeuten, als: Es könne das Dasein des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder der äußeren, noch inneren dargetan werden, und das schlechthin Einfache sei also eine bloße Idee, deren objektive Realität niemals in irgend einer möglichen Erfahrung kann dargetan werden, mithin in der Exposition der Erscheinungen ohne alle Anwendung und Gegenstand." 16 Gegenstand möglicher Erfahrung sei nur dasjenige, welches ein „Mannigfaltiges außerhalb einander, und zur Einheit verbunden, enthält." 17 Ein einfaches Substrat könne es also nicht geben, da dies nicht Gegenstand möglicher Erfahrung sein könne. Der Beweis der Antithesis unterstellt, daß jeder einfache Teil einen Raum einnehme. Einen kleinsten Raum könne es aber nicht geben, weil jeder Raum teilbar ist. Sind der Raum und der den Raum einnehmende einfache Teil nicht vollständig voneinander zu trennen, der einfache Teil nicht unabhängig vom Raum zu haben, dann muß auch das im Raum Existierende teilbar sein. Nun hat zwar das Reale in der Erscheinung eine Größe, nicht aber eine solche, die „von den Teilen zum Ganzen geht ( . . . ) " 1 8 , sondern einen Grad, der eben nicht sich regressiv teilen läßt in weitere, im Raum ausgedehnte Teile. Die Materie der Empfindung enthalte kein Mannigfaltiges außerhalb einander, das erst durch Synthesis zur Einheit verbunden werde, vielmehr sei die Materie der Empfindung unmittelbar als Einheit gegeben. Die Schwierigkeit der 2. Antinomie ergibt sich aus der Extensionalisierung der intensiven Größe, indem Kant die Materie der 16 17 18

KrV, Β 466. Ebd. KrV, Β 210.

I. Kant

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Empfindung unter die Form der Anschauung des äußeren Sinnes subsumiert. Diese Subsumtion der Materie der Empfindung unter den Raum ist notwendig, weil intensive Größen sich nicht unter den Begriff einer Synthesis, mithin auch nicht unter den Begriff einer regressiven Synthesis fassen lassen. Die Subsumtion der Größe unter den Begriff der regressiven Synthesis ist aber für die Konsistenz der Kantischen Argumentation notwendig. Die Forderung der Vernunft, „wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben"19, führt auf die regressive Synthesis der Bedingungen, deren Resultat die regressive Totalität als das potentiell Unendliche wäre. Beweisziel der Antinomienlehre ist die Inadäquanz des Begriffs des potentiell Unendlichen für das menschliche Vorstellungsvermögen, so daß alle Antinomien von Kant auf den Begriff der regressiven Synthesis zurückgeführt werden. Es ist also der Beweis der Unangemessenheit des potentiell Unendlichen für den Verstand, der nach Kant dazu zwingt, die Materie extensional zu fassen, was dann die Unmöglichkeit des Begriffs der Materie als dem eines einfachen Substrats zur Folge hat. Kants Bestreben, die Selbständigkeit des Grundes der Realität aufrechtzuerhalten, hat zur Konsequenz, daß dieser Grund der Realität etwas beinhaltet, das weder Element noch Resultat der Synthesis ist und nicht unter die gemeinschaftliche Funktion des Gemüts zu subsumieren ist. Die Brüche in der Bestimmung des Realen sind demnach notwendig. Wird in den Grundsätzen das Reale bestimmt als dasjenige, was weder Element noch Resultat einer Synthesis von mannigfaltigen Empfindungen sein kann, so bestimmt Kant in der Antinomienlehre die Materie als die Realität im Räume, die ausschließlich als ein einen Raum Einnehmendes, ein Ausgedehntes zu denken sei. d) Die Substanz im Räume Eine weitere Schwierigkeit der Antinomie ist die Bestimmung der Kontinuität und Diskontinuität des mathematischen Raumes und der physikalischen Realität. In der Anmerkung zur 2. Antithesis bestimmt Kant den Raum als „die formale Bedingung der Möglichkeit aller Materie ( . . . ) . " 2 0 Die Bestimmungen des Raumes beträfen a priori zugleich alles dasjenige, „was dadurch allein möglich ist, daß es diesen Raum erfüllt." 2 1 Schon durch die Subsumtion aller Antinomien unter eine regressive Synthesis transformiert Kant die Materie der Empfindung in das Reale im Räume. 19 20 21

KrV, Β 436. KrV, Β 469. Ebd.

5 Gerhard

6 6 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Das, was, selbständig gegenüber der Empfindung, die objektive Realität derselben begründen sollte, wird nunmehr unter der formalen Bedingung aller Gegenstände möglicher Erfahrung, den Raum, gestellt. Mithin sei die Materie nur im Raum, der Ausdehnung möglich. Die Materie, das Reale oder die Substanz bezieht sich notwendig auf Gegenstände möglicher Erfahrung, ist nur in dieser und durch diese Beziehung möglich, ist aber selbst keine Erscheinung im Räume. Das, was sich notwendig auf Erscheinungen im Raum, Gegenstände möglicher Erfahrung, bezieht, selbst aber keine Erscheinung im Raum ist, ist eine Größe. Diese Größe ist ein bestimmtes Verhältnis zweier Größen, so daß die Erhaltung dieses bestimmten Verhältnisses das Substrat des Wechsels dieser beiden Größen zueinander ausmacht. Das Substrat der Erscheinungen, die Materie der Wahrnehmung, ist eine Erhaltungsgröße. Im Beweis zum Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz spricht Kant den Erhaltungssatz der Materie aus. Das Reale, das als das Beharrliche im Wechsel stets dasselbe bleibe, könne auch seiner Größe nach in der Natur weder vermehrt noch vermindert werden. Erhaltungssätze lassen sich in zweierlei Hinsicht betrachten: entweder bezüglich desjenigen, was erhalten wird, oder bezüglich der Summe der Relationen von Erscheinungen, die durch Erhaltungssätze begründet werden. Im ersten Fall geht der Erhaltungssatz auf die Identität des Gegenstandes, im zweiten Fall geht der Erhaltungssatz auf die Relation, die dann Bestimmungsgrund des Erhaltenen ist. Weil die Substanz kein unmittelbares Korrelat in der Erscheinung hat, muß sie sich entweder in die Relation auflösen lassen oder es muß ihr als dem erschlossenen Substrat der Erscheinungen Realität an sich selbst zugesprochen werden. Kant wählt die zweite Variante, die darin besteht, daß der Begriff der Materie als der Begriff bestimmt wird, der ein Sein bei sich führt. Um der spinozistischen Konsequenz, der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Materie als erstes Subjekt der Prädikation, zu entgehen, unterscheidet Kant die Kategorie der Realität von ihrer Anwendung auf die Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Aussagen der Kategorie Substanz sind durch ihre notwendige Beziehung auf mögliche Gegenstände der Erfahrung zu restringieren. Erhaltungssätze gelten nur für abgeschlossene Systeme, mithin für Gegenstände möglicher Erfahrung. In abgeschlossenen Systemen lassen sich alle Aussagen über die Materie oder Substanz auflösen in Aussagen über Relationen der Erscheinungen. Der Begriff der Materie oder Substanz ist Voraussetzung für die Bestimmung des Begriffs des abgeschlossenen Systems und die Realisierung dieses Begriffs zu einem Gegenstand möglicher Erfahrung. Die Substanz begründet die Relation von Erscheinungen, ist aber selbst keine Erscheinung. Dasjenige, worin das Dasein der Substanz sich äußert, ist nicht die Substanz selbst, sondern sind die wechselnden Erscheinungen. Die Substanz im Räume ist nur mittelbar ein Gegenstand möglicher Erfahrung. Unmittelbar kann die Substanz kein Ge-

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genstand möglicher Erfahrung sein, denn sie ist kein unmittelbarer Gegenstand der Wahrnehmung. Auf die Substanz im Räume kann nur geschlossen werden vermittelst bestimmter Wirkungen im Räume. „Die Substanz im Räume kennen wir nur durch Kräfte, die in demselben wirksam sind, entweder andere dahin zu treiben (Anziehung), oder vom Eindringen in ihn abzuhalten (Zurückstoßung und Undurchdringlichkeit); andere Eigenschaften kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Raum erscheint, und die wir Materie nennen, ausmachen."22 Zu erkennen ist die Materie also nur als Ursache von Wirkungen, als Ursache von Kräften, die im Raum wirken. Ist die Materie nur zu erkennen aufgrund von Wirkungen, so ist ihre Existenz aus diesen Wirkungen erschlossen. Mit dieser Bestimmung scheint der Unterschied zwischen dem Begriff der Materie und dem Ding an sich als der unbekannten Ursache der Erscheinungen aufgehoben. Alle Erscheinungen existieren als Gegenstände möglicher Erfahrung für das Subjekt, sie subsistieren aber nicht in sich. Subsistieren die Erscheinungen, auf die sich das Ich notwendig beziehen muß, nicht in sich, müssen sie einen anderen Existenzgrund haben. Aus dem negativen Existenzgrund des Nicht-Subsistierens wird auf einen positiven Existenzgrund geschlossen. Es ist zu fragen, woraus dieser Existenzgrund erschlossen wird, entweder aus dem Nicht-Subsistieren der Erscheinungen oder aus dem Subjekt. Würde er aus dem Subjekt erschlossen, wäre das Subjekt wieder der logische Grund des Existenzgrundes. Damit wäre das, was für das Subjekt ist, durch das Subjekt. Erfolgte der Schluß auf den positiven Existenzgrund aus dem Nicht-Subsistieren der Erscheinungen im Ich, so wäre der Grund außerhalb des empirischen Ichs. Das empirische Ich müßte dann empfänglich sein für die von ihm unabhängige Ursache der Erscheinungen. Die unbekannte Ursache der Erscheinungen, das Ding an sich, ist also selbst dynamisch, denn ohne seine Tätigkeit könnte es keine Wirkungen, keine Rezeptionen der Sinnlichkeit hervorbringen. Kant bestimmt die transzendentale Einheit der Apperzeption als Indifferenzpunkt von empirischem und transzendentalem Ich. Es sei dasjenige, was jedem einzelnen Ich allgemein und notwendig zuzusprechen sei. Das Korrelat der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist der transzendentale Gegenstand = X, der in seiner Funktion, objektive Realität zu begründen, übereinstimmt mit der Materie der Empfindung, dem Substrat intensiver Größen und der einfachen Substanz. Wird die Materie unter den Raum als der formalen Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung subsumiert, so wird die Materie transformiert in die Substanz im Räume, die zunächst als möglicher Gegenstand des äußeren Sinnes erscheint. Mit der Subsumtion der Materie unter den Raum als der formalen Bedingung der Möglichkeit 22

5*

KrV, Β 321.

6 8 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

aller Materie erfolgt der Übergang von der Materie der theoretischen Wissenschaft zur physikalischen Realität und damit zur Wissenschaft der Materie. Die Materie als Substanz im Räume ist aber kein Gegenstand möglicher Erfahrung, also keine Erscheinung, und ist zudem allein durch die Kräfte zu erkennen, die in derselben wirken. Der spekulative Begriff der Materie, der nichts anderes als eine Erhaltungsgröße ist, ist kein Gegenstand möglicher Wahrnehmung, aber Grundlage aller empirischen Realität. Die Materie ist das Substrat der Bewegungen im Raum als den Wirkungen der unbekannten Ursache, ohne die die Rezeptivität der Sinne nicht zu denken wäre. „Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne afficirt werden. Auf diese führt auch der Verstand alle übrigen Prädikate der Materie, die zu ihrer Natur gehören, zurück, und so ist die Naturwissenschaft durchgängig eine entweder reine oder angewandte Bewegungslehre," 23 Die Materie ist also das Bewegliche im Raum als die Substanz in demselben. 24 Die Materie ist selbst eine Erscheinung des Ding an sich und ist das Resultat des Schlusses auf die Einwirkung von Kräften. Die Wissenschaft der Materie, die auf die Bedingung der Möglichkeit der Materie geht, ist somit dynamisch und führt auf zwei Grundkräfte. Das Verhältnis dieser beiden Grundkräfte sei konstitutiv für die Materie.

2. Sein und Realität des Selbstbewußtseins. Die Einheit des transzendentalen Gegenstandes, die Gemeinschaft der Seele mit der Materie und die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich einesteils Phänomen, anderenteils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann."25

23

/. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (MAdN), Kants Werke Akademie Textausgabe Bd. IV, Berlin 1968, AA IV, S. 476 f. 24 Vgl. MAdN, S. 503. 25 KrV, Β 574 f.

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a) Die Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena Mit der Restriktion der Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung sucht Kant der Maßlosigkeit der Vernunft entgegenzutreten und der Erweiterung der Erkenntnis aus spekulativen Begriffen ihre Grenze aufzuweisen. Alles, „was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen ( . . . ) " 2 6 , sei ausschließlich für den Erfahrungsgebrauch. Alle Erkenntnis a priori müsse sich, auch wenn sie anderen Ursprungs sei, dennoch auf die Erfahrung beziehen. Der Gebrauch, den der Verstand von seinen Grundsätzen a priori machen könne, sei deshalb bloß empirisch, aber niemals transzendental. Die Grundsätze des reinen Verstandes können also niemals auf „Dinge überhaupt und an sich selbst ( . . . ) " 2 7 gehen, sondern lediglich sich auf Erscheinungen, also Gegenstände einer möglichen Erfahrung beziehen. Objektive Realität erhalten alle möglichen Begriffe durch ihre Beziehung auf einen Gegenstand. Die Beziehung einer gegebenen Anschauung auf einen Gegenstand herzustellen ist die Funktion des Denkens. Ist die Anschauung dem Verstand nicht gegeben, so ist der Gegenstand keine Erscheinung, vielmehr ein transzendentaler Gegenstand, der auf „Dinge überhaupt und an sich selbst (...) bezogen wird." 2 8 Der Gebrauch des Verstandesbegriffes ist dann nicht empirisch, sondern transzendental und geht allein auf „die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt." 29 Diese funktionale Einheit des Selbstbewußtseins wird durch den transzendentalen Gebrauch der Verstandesbegriffe jedoch bloß in seiner logischen Möglichkeit aufgezeigt. Die reale Möglichkeit der Einheit des Denkens ist ohne die Bedingung der sinnlichen Anschauung nicht zu erklären. Als bloß logische Funktion hätte die transzendentale Einheit der Apperzeption keine objektive Gültigkeit. Sie wäre somit das Resultat des „bloßen Spiels, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes ( . . . ) . " 3 0 Soll der transzendentalen Einheit der Apperzeption objektive Gültigkeit zugesprochen werden können, muß ihr, entsprechend der Kantischen Argumentation in der Deduktion A, Etwas, der transzendentale Gegenstand = X, als ihr Korrelat gegeben werden. Der Übergang von der logischen Möglichkeit des Begriffs, „da er sich selbst nicht widerspricht ( . . . ) " 3 1 , zur Möglichkeit der Dinge, „da dem Begriff ein Gegenstand korrespondiert ( . . . ) " 3 2 , ist nicht 26 27 28 29 30 31 32

KrV, KrV, KrV, KrV, KrV, KrV, KrV,

Β Β Β Β Β Β Β

295. 298. 298. 304. 298. 302. 302.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

möglich ohne ein selbständiges Material, das nicht vollständig im Denken aufgeht. 33 Resultat der transzendentalen Ästhetik ist, daß die Sinnlichkeit „nicht auf Dinge an sich selbst, sondern nur auf die Art gehe, wie uns, vermöge unserer subjektiven Beschaffenheit, Dinge erscheinen." 34 Da die Erscheinungen als Modifikationen des Gemüts aber nicht in sich selbst subsistieren, muß etwas angenommen werden, auf das sich die Erscheinungen notwendig beziehen können, was aber selbst keine Erscheinung ist. Dieses der Erscheinung korrespondierende Etwas ist demnach als ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand vorzustellen. Ein solcher Gegenstand sei ein Noumenon, dessen Begriff sich nicht positiv auf die Erkenntnis eines bestimmten Dinges richte, sondern das bloße Denken von Etwas als Gegenstand einer Anschauung überhaupt bedeute. Die Möglichkeit eines von der Sinnlichkeit unabhängigen Noumenon habe eine nicht sinnliche Anschauung zur Voraussetzung 35, wodurch es dem Verstand gegeben werden könne. Ohne eine solche nicht sinnliche Anschauung könnte das Noumenon nicht dem Verstand als ein Etwas gegeben sein, das sowohl frei von aller Sinnlichkeit als auch selbständiges Korrelat des Denkens, der Einheit der Apperzeption wäre. Als bloßes Produkt des Verstandes wäre das Noumenon zwar selbständig gegenüber aller Sinnlichkeit, es wäre aber zugleich ein leeres Gedankending, ein ens rationis, das ein bloßes Nichts zum Gegenstand hätte. Die Vorstellung des transzendentalen Objekts als Korrelatum der transzendentalen Einheit der Apperzeption durch welches die Einheit des Mannigfaltigen in der (sinnlichen) Anschauung gegeben sein soll, läßt sich nicht widerspruchsfrei denken. Weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit einer anderen als der sinnlichen Anschauung ließe sich positiv beweisen, doch ist für Kant die Frage, ob ein von aller Sinnlichkeit abstrahierendes Denken nicht die reine gegenstandslose Form eines Begriffs sei. Um 33

Vgl. KrV, A 250 f.: „Alle unsere Vorstellungen werden in der Tat durch den Verstand auf irgendein Objekt bezogen, und, da Erscheinungen nichts als Vorstellungen sind, so bezieht sie der Verstand auf ein Etwas, als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung: aber dieses Etwas [als Gegenstand einer Anschauung überhaupt; Kant, Nachträge CXXXIII] ist insofern nur das transzendentale Objekt. Dieses bedeutet aber ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können, sondern welcher nur als ein Correlatum der Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung dienen kann, vermittelst deren der Verstand dasselbe in den Begriff eines Gegenstandes vereinigt. Dieses transzendentale Objekt läßt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdann nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegenstand an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen, unter dem Begriffe eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist." 34 KrV, A 251. 35

Vgl. KrV, A 252.

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der Konsequenz, entweder eine intellektuelle Anschauung annehmen zu müssen oder das Noumenon als bloßes Nichts aufzugeben, zu entgehen, unterscheidet Kant das Noumenon in negativer und positiver Hinsicht. 36 Ein Noumenon in negativer Bedeutung sei etwas, das nicht Objekt der sinnlichen Anschauung sein könne, sofern diesbezüglich von der Anschauung abgesehen wird. Ein Noumenon in positiver Bedeutung sei hingegen das Objekt einer nicht sinnlichen Anschauung. Aber auch das Noumenon in negativer Bedeutung sei noch vom transzendentalen Gegenstand überhaupt zu unterscheiden, weil der transzendentale Gegenstand überhaupt sich nicht unter die Funktionsbegriffe des Denkens subsumieren lasse. „Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der transzendentale Gegenstand, d.i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von Etwas überhaupt. Dieser kann nicht das Noumenon heißen; denn ich weiß von ihm nicht, was er an sich selbst sei, und habe gar keinen Begriff von ihm, als bloß von dem Gegenstande einer sinnlichen Anschauung überhaupt, der also für alle Erscheinungen einerlei ist. Ich kann ihn durch keine Kategorien denken; denn diese gilt von der empirischen Anschauung, um sie unter einen Begriff vom Gegenstand überhaupt zu bringen. Ein reiner Gebrauch der Kategorie ist zwar möglich, d.i. ohne Widerspruch, aber hat gar keine objektive Gültigkeit, weil sie auf keine Anschauung geht, die dadurch Einheit des Objekts bekommen sollte; denn die Kategorie ist doch eine bloße Funktion des Denkens, wodurch mir kein Gegenstand gegeben, sondern nur, was in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht wird." 37 Die reinen Kategorien gehen zwar auf das Denken eines Objekts überhaupt und sind insofern von „transzendentale[r; M.G.] Bedeutung ( . . . ) " 3 8 , ihr Gebrauch ist jedoch niemals transzendental, da sie immer des Schemas bedürfen, das sie mit ihrem Gegenstand vermittelt. Der transzendentale Gegenstand sei jedoch aller möglichen Erfahrung transzendent und könne somit weder Phaenomenon noch Noumenon sein. Nun wurde aber der transzendentale Gegenstand in der Deduktion A als dasjenige bezeichnet, was allen empirischen Begriffen überhaupt eine Beziehung auf einen Gegenstand, d. i. eine objektive Realität vermittele. Würde der transzendentale Gegenstand nunmehr zu einem Noumenon, so würde dasjenige, was der Garant der objektiven Realität sein sollte, selbst gegenstandslos. Der transzendentale Gegenstand = X wird von Kant deshalb doppelt bestimmt: einerseits als das Korrelat der transzendentalen Einheit der Apperzeption, das für die objektive Realität sich verbürgen soll 3 9 , und andererseits als leerer Gegenstand, der allen Erscheinungen transzendent und damit unabhän36 Vgl. KrV, A 252. Eine explizite Erläuterung des Noumenon in positiver und negativer Hinsicht erfolgt in der korrigierten Fassung der entsprechenden Textstelle Β 307. 37 KrV, A 253. 38 KrV, Β 305. 39 Vgl. KrV, Deduktion der reinen Verstände s be g riffe A, A 95 - A 130.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

gig von aller Erfahrung ist. 4 0 Der transzendentale Ort 4 1 des transzendentalen Gegenstandes wird von Kant nicht eindeutig bestimmt. Die Stelle, die Kant dem transzendentalen Gegenstand zuweist, ist einerseits jenseits der Sinnlichkeit, sofern der transzendentale Gegenstand als leerer, allen Erscheinungen transzendenter Gegenstand bestimmt wird, andererseits ist er als das Korrelat der transzendentalen Einheit der Apperzeption, das Grund der objektiven Realität sein soll, nicht als zum reinen Verstand gehörend anzusehen. Als Korrelat der transzendentalen Einheit der Apperzeption müßte der transzendentale Gegenstand Objekt einer besonderen Anschauung sein können. Eine solche Anschauung kann Kant nicht zugestehen, will er die kopernikanische Wende vollziehen und nicht eine neue Ontologie begründen, in der der transzendentale Gegenstand die Vorstellungen bestimmte. Der transzendentale Gegenstand kann weder bloßes Noumenon sein, noch kann er Phaenomenon sein. Als Grund aller möglichen objektiven Realität ist er notwendig als Etwas zu denken, ohne jedoch selbst Gegenstand möglicher Erfahrung sein zu können. 42 Die Restriktion der Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung widerspricht somit der Möglichkeit der Erkenntnis des objektiven Grundes aller möglichen Erkenntnis und somit der Möglichkeit einer Wissenschaft des Wissens, die Kant auch nicht betreiben wollte. Objektive Realität spricht Kant jedem Urteil zu, sofern dem Begriff eine Anschauung korrespondiere. 43 Solange der Begriff sich auf einen Gegenstand möglicher Erfahrung beziehe, könne ihm eine uns mögliche Anschauung, nämlich eine sinnliche Anschauung korrespondieren. Die einzig uns mögliche Anschauung ist sinnlich, weil sie nicht ursprünglich, d.h. nicht konstitutiv für das Dasein der Objekte der Anschauung ist. Allein aus der logischen Möglichkeit eines Begriffs, seiner eigenen Widerspruchsfreiheit, läßt sich die reale Möglichkeit der Dinge überhaupt nicht begründen. Die Möglichkeit eines Dinges läßt sich nicht nach der bloßen Kategorie einsehen. Um die objektive Realität eines Verstandesbegriffs zu belegen, bedürfe es immer einer Anschauung, weil das Sein nach Kant kein reales Prädikat sei. „Nun kann aber die Möglichkeit eines Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs desselben, sondern nur dadurch, daß man diesen durch 40 Vgl. KrV, Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Β 316 - Β 349. Zur Bestimmung des transzendentalen Gegenstandes als transzendentes Ding an sich und die Notwendigkeit der Differenz zwischen transzendentalem Gegenstand und Ding an sich vgl. E. Adickes, Kant und das Ding an sich, Berlin 1924, S. 99 f. 41 Vgl. KrV, Β 324. 42 Vgl. Ideen, AA Bd. I, 5, S. 88, Schellings Werke Erster Band, S. 683, SW II, S. 33: „Also bleibt nichts übrig, als eine Vorstellung, die zwischen Etwas und Nichts in der Mitte schwebt (...)." 43 Vgl. KrV, Β 335.

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eine ihm korrespondierende Anschauung belegt, bewiesen werden. Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, anwenden wollten, so müßten wir eine andere Anschauung, als die sinnliche, zum Grunde legen, und alsdann wäre der Gegenstand ein Noumenon in positiver Bedeutung. Da nun eine solche, nämlich die intellektuelle Anschauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen liegt, so kann auch der Gebrauch der Kategorien keineswegs über die Grenze der Gegenstände der Erfahrung hinausreichen, und den Sinnenwesen korrespondieren zwar freilich Verstandeswesen, auch mag es Verstandeswesen geben, auf welche unser sinnliches Anschauungsvermögen gar keine Beziehung hat, aber unsere Verstandesbegriffe, als bloße Gedankenformen für unsere sinnliche Anschauung, reichen nicht im mindesten auf diese hinaus; was also von uns Noumenon genannt wird, muß als ein solches nur in negativer Bedeutung verstanden werden." 44 Sofern die sinnliche Anschauung nicht auf alle Dinge gleichermaßen gehe, könne die Möglichkeit von Gegenständen, auf die gleichwohl keine sinnliche Anschauung gehe, nicht geleugnet werden, auch wenn sich kein positiver Grund hierfür angeben ließe. Die Vorstellung eines Noumenon in negativer Bedeutung als transzendentales Objekt, das als die Ursache der Erscheinung gedacht wird, habe allein die Funktion, die Grenzen der sinnlichen Erkenntnis aufzuzeigen. Abgesehen von dieser Funktion sei das Noumenon ein leerer Gedanke, ein ens rationis, dem keine objektive Realität zukomme, weil es, frei von jeglicher Sinnlichkeit, kein Objekt eines Verstandesbegriffes sein könne. Grund der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, der „Verwechslung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung (.. . ) " 4 5 , sei einerseits der seiner Bestimmung widersprechende transzendentale Gebrauch des Verstandes und andererseits, daß „die Gegenstände, d.i. mögliche Anschauungen, sich nach Begriffen, nicht aber Begriffe sich nach möglichen Anschauungen (als auf denen allein ihre objektive Gültigkeit beruht) richten müssen. Die Ursache hiervon aber ist wiederum: daß die Apperzeption, und, mit ihr, das Denken vor aller möglichen bestimmten Anordnung der Vorstellungen vorhergeht. Wir denken also Etwas überhaupt, und bestimmen es einerseits sinnlich, allein unterscheiden doch den allgemeinen und in abstracto vorgestellten Gegenstand von dieser Art ihn anzuschauen; da bleibt uns nun eine Art, ihn bloß durch Denken zu bestimmen, übrig, welche zwar eine bloße logische Form ohne Inhalt ist, uns aber dennoch eine Art zu sein scheint, wie das Objekt an sich existiere (Noumenon), ohne auf die Anschauung zu sehen, welche auf unsere Sinne eingeschränkt ist." 4 6 Die objektive Realität des transzendentalen Gegenstandes läßt sich allein durch den ontologischen Gottesbeweis begründen, dessen Gegenstand der 44 45 46

KrV, Β 308 f. KrV, Β 326. KrV, Β 345 f.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Gegenstand überhaupt ist. Die Inkonsistenz zwischen transzendentaler Analytik und transzendentaler Dialektik resultiert aus dem Bemühen Kants, einerseits die Erscheinungen auf das individuelle Bewußtsein zu restringieren und andererseits die notwendig allgemeine Geltung der Resultate der Wissenschaft für die kollektive Einheit des Bewußtseins zu beanspruchen. Wird die Realität ausschließlich als reiner Verstandesbegriff aufgefaßt und als das transzendentale Schema der Kategorie Realität dasjenige bestimmt, „was einer Empfindung überhaupt korrespondiert; dasjenige also, dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt (.. . ) " 4 7 , ist alle Realität ausschließlich im und durch den Verstand möglich. Der Verstand ist folglich nicht bloß transzendentale Formbestimmung alles Seienden, sondern Bestimmung von Realität oder Sachheit. Realität ist somit eine Reflexionsbestimmung des Verstandes, so daß alle Realität durch den Verstand gesetzt wird. Eine Selbständigkeit des Grundes der Realität wäre dann nicht mehr zu begründen, da das Verhältnis von Seiendem und Verstand nur formal unterschieden wäre. 48 Deshalb unterscheidet Kant den Begriff der Realität in den einer Kategorie und den der Sachheit. Der Verstand ist für ihn auch Bestimmung von Realität, aber nicht als Sachheit, sondern als bloß logische Funktion. Als bloß logische, absolute Einheit 4 9 ist die Realität, die dem Ich denke zugesprochen wird, eine kategoriale Bestimmung, die an sich selbst keine objektive Gültigkeit hat. Die Äquivokation im Begriff der Realität zeigt sich auch im Verhältnis der transzendentalen Analytik zur transzendentalen Dialektik. Während in der transzendentalen Analytik die Begriffe Realität, Negation und Limitation als Kategorien Verwendung finden, wird in der transzendentalen Dialektik der Realität die Bedeutung eines gegenständlichen Begriffs unterlegt, wie Kant sie in seiner Dissertation 50 , verwendete. Dort unterscheidet er die realitas phaenomenon als das Empfin47

KrV, Β 182. Dieser bloß formale Unterschied von Seiendem und Verstand ist analog dem formalen Unterschied von Grund und Begründeten, den Hegel im Abschnitt zum formellen Grund in der Wissenschaft der Logik darlegt. Grund und Begründetes sind dort insofern bloß formal unterschieden, als daß derselbe Inhalt einmal in der Form der Unmittelbarkeit, das andere Mal in die Form der Reflexion gesetzt wird. Die Form der Unmittelbarkeit ist als Unmittelbarkeit selbst bestimmt durch die Negation der Reflexion. Wird die Form der Unmittelbarkeit durch die Negation der Reflexion bestimmt, ist sie eine Reflexionsform. Im formellen Grund ist dann nicht nur dem Inhalt nach, sondern auch der Form nach kein Unterschied, weil beides Momente der sich auf sich beziehenden Reflexion sind. Der Mangel des formellen Grundes führt auf den reellen Grund, mit dem ein Unterschied zwischen Grund und Begründetem gesetzt wird. Dieser Unterschied zwischen Grund und Begründetem kann nur negativ bezeichnet werden: der Grund ist nicht das Begründete. Kann der Unterschied zwischen Grund und Begründeten nur negativ bezeichnet werden, erscheinen sowohl der Grund als auch das Begründete als ein relativ auf das andere Nichtseiende. Vgl. WdL II, S. 302 ff. 48

49

Vgl. KrV, A 355.

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dungsgegebene, als die Materie der Erscheinung, von der realitas noumenon als einen ontologischen Realitätsbegriff, der die den Dingen an sich inhärierenden Eigenschaften als bejahendes Prädikat ausdrückt. Der allem Denken notwendig vorauszusetzende Gegenstand ist als spekulativ vom Denken erschlossener das Denken selbst. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist dasjenige, was alle bestimmten Vorstellungen zu ihrer notwendigen Bedingung haben. Mit der Bestimmung des Selbstbewußtseins wird sich also etwas zum Gegenstand, was eigentlich kein Gegenstand sein kann, weil es als seine eigene Voraussetzung sich nicht gegeben ist. Als Gegenstand einer Idee ist das Ich ein bloßes Gedankending, ein Noumenon. Dieses Ich oder Er oder Es wird von Kant nur ex negativo als unbekannte Ursache erschlossen, um den unendlichen Regreß auf das das transzendentale Selbstbewußtsein bestimmende Subjekt abzubrechen. 51 b) Paralogismus A „Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein."52 Kein Gegenstand einer bloß transzendentalen Idee ließe sich, so Kant in der transzendentalen Dialektik, unter einen Verstandesbegriff subsumieren, so daß von keiner Idee sich ihre objektive Realität in einer möglichen Erfahrung anschaulich machen ließe. „Nun beruht wenigstens die transzendentale (subjektive) Realität der reinen Vernunftbegriffe darauf, daß wir durch einen notwendigen Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden. Also wird es Vernunftschlüsse geben, die keine empirischen Prämissen enthalten, und vermittelst deren wir von etwas, das wir kennen, auf etwas anderes schließen, wovon wir doch keinen Begriff haben, und dem wir gleichwohl, durch einen unvermeidlichen Schein, objektive Realität geben." 53 Zu diesen dialektischen Schlüssen zählt Kant außer den Antinomien der reinen Vernunft und dem transzendentalen Ideal der reinen Vernunft den transzendentalen Paralogismus, welcher „von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjekts selber, von welchem ich auf diese Weise gar keinen Begriff habe (.. . ) " 5 4 , schließt. Als das „Vehikel aller Begriffe überhaupt (.. . ) " 5 5 ist 50

Vgl. /. Kant, De mundi sensibilis atque intellibilis forma et principiis, Kants Werke Akademie Textausgabe Bd. II, Berlin 1968. Vgl. A. Maier, Kants Qualitätskategorien, Kant-Studien Ergänzungsheft 65, Berlin 1930, S. 32 ff. 51 Vgl. KrV, Β 404. 52 KrV, Β 68. 53 KrV, Β 397. 54 KrV, Β 397 f.

7 6 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

das Ich denke ein transzendentaler Begriff, der aber nicht der allgemeinen Tafel der transzendentalen Begriffe zuzurechnen sei, „weil er nur dazu dient, alles Denken, als zum Bewußtsein gehörig aufzuführen." 56 Der transzendentale Paralogismus schließt vom transzendentalen Begriff des Subjekts, dem Ich denke als dem unbedingten Grund aller möglichen Wissenschaft, auf das Ich denke als Gegenstand der Wahrnehmung, worauf sich die Seelenlehre als Wissenschaft von einem bestimmten Gegenstand, d.i. als Einzelwissenschaft, gründen solle. Die transzendentale Einheit der Apperzeption, die als Idee aller Verstandesbestimmung vorauszusetzen ist, soll demnach ein durch reine Verstandesbegriffe zu bestimmender Gegenstand der rationalen Seelenlehre sein. Gegenstand der Paralogismen der reinen Vernunft ist also diejenige Wissenschaft, deren Objekt das Ich denke ist. Die rationale Psychologie könne ihren Gegenstand allein in transzendentaler Hinsicht bestimmen, da jedes empirische Urteil der Rationalität, der Unabhängigkeit der Wissenschaft von aller Erfahrung zuwider laufen würde. „Zum Grunde derselben können wir aber nichts anderes legen als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = χ, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, sofern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, daß ich dadurch irgend etwas denke."57 Um die Triftigkeit der rationalen Seelenlehre zu überprüfen, wendet Kant die Kategorien auf das Ich denke als dem dieser Wissenschaft durch den inneren Sinn gegebenen Gegenstand an. Resultat der transzendentalen Analytik ist, daß alle reinen Verstandesbegriffe nur dann eine objektive Bedeutung haben, wenn sie sich auf eine Anschauung beziehen, die ihnen als ein Mannigfaltiges gegeben ist, worauf die reinen Verstandesbegriffe als Funktionen der synthetischen Einheit angewandt werden können. Nun ist die Seele aber in keiner möglichen Anschauung gegeben. Das Ich denke ist ein reiner Vernunftbegriff, auf den, der Kantischen Bestimmung gemäß 58 , die Kategorien nicht angewandt werden können. Eine Idee kann nicht Gegen55 56 57 58

KrV, Β 399. KrV, Β 399 f. KrV, Β 404. Vgl. KrV, 396.

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stand des Verstandes sein. Auf dieser Argumentation gründet sich Kants Kritik der Paralogismen. Das Ich denke ist das Vehikel aller Erkenntnis, aber mit der Einschränkung der Erkenntnis auf eine solche der möglichen Erfahrung. Das Ich denke sei lediglich als subjektive Bedingung einer möglichen Erkenntnis zu fassen. Der Schluß auf das Ich des Ich denke als Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntnis von Gegenständen sei hingegen nicht zulässig. 59 Alle Bestimmungen des Ich, welche die vier Paralogismen zu begründen suchen, seien demnach in transzendentaler Bedeutung, d.h. sofern sie auf das Ich als bloße Apperzeption gehen, triftig. Wie allerdings der Schluß auf das Ich denke ohne Rückschluß auf das Ich des Ich denke möglich sein soll, wird von Kant nicht dargelegt. Der Schluß vom lediglich durch Begriffe gegebenen Ich auf die Seele als einer in der Wahrnehmung vorfindlichen Substanz, Simplizität und Personalität, der objektive Realität zukomme, sei ein Fehlschluß. Die von der rationalen Seelenlehre unterstellte Identität von innerem Sinn und reiner Apperzeption sei nicht zu begründen. 60 Das Beweisziel des ersten Paralogismus ist die Bestimmung des denkenden Wesens als eine Substanz. „Dasjenige, dessen Vorstellung das absolute Subjekt unserer Urteile ist und daher nicht als Bestimmung eines andern Dings gebraucht werden kann, ist Substanz. Ich, als ein denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile, und diese Vorstellung von Mir selbst kann nicht zum Prädikat irgendeines anderen Dinges gebraucht werden. Also bin ich, als denkend Wesen (Seele), Substanz" 61 Der reinen Kategorie der Substanz könne aber nur insofern eine objektive Bedeutung zugesprochen werden, als ihrer Anwendung eine Anschauung zugrunde gelegt werde. Ohne korrespondierende Anschauung könne dem Ich als Substanz bloß eine logische Bedeutung zugesprochen werden als diejenige Vorstellung, die bei allen Gedanken anzutreffen sein müsse. Der Fehlschluß des ersten Paralogismus beruhe darauf, daß „er das beständige logische Subjekt des Denkens, für die Erkenntnis des realen Subjekts der Inhärenz ausgibt, von welchem wir nicht die mindeste Kenntnis haben, noch haben können, weil das Bewußtsein das einzige ist, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht, und worin mithin alle unsere Wahrnehmungen, als dem transzendentalen Subjekte müssen angetroffen werden, und wir, außer dieser logischen Bedeutung des Ich, keine Erkenntnis von dem Subjekte an sich selbst [Hervorhebung von mir; M.G.] haben, was diesem, so wie allen Gedanken, als Substratum zum Grunde liegt." 6 2 Das Ich als denkend 59 60 61

Vgl. KrV, A 354. Vgl. KrV, A 343. KrV, A 348.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Wesen könne kein Gegenstand der Erkenntnis sein wie es an sich selbst erscheine, sondern nur als logische Bedingung aller unserer Vorstellungen erschlossen werden, ohne dieses Ich oder Er oder Es über seine logische Funktion hinaus bestimmen zu können. Die Realität dieses denkenden Wesens ließe sich also nicht als eine objektive Realität jenseits seiner Funktion begründen. Das Ich denke als Substratum aller möglichen Gedanken bezeichne „also nur eine Substanz in der Idee, niemals aber in der Realität (.. .)." 6 3 Der zweite Paralogismus, der der Simplizität, der „Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre (.. . ) " 6 4 , sucht aus der logischen Einheit des Subjekts die reale und unter der Kategorie der Modalität stehende Einheit der denkenden Substanz zu begründen. Das Argument dieses Paralogismus geht davon aus, „daß viele Vorstellungen in der absoluten Einheit des denkenden Subjekts enthalten sein müssen, um einen Gedanken auszumachen." 65 Ein Gedanke sei demnach bloß als Manifestation der absoluten Einheit des denkenden Subjekts möglich, denn anders als beim Körper, dessen Wirkung als eine Bewegung aller seiner Teile im Raum bloß äußerlich sei, seien die Gedanken dem denkenden Wesen innerlich zugehörige Akzidenzen. Wäre das denkende Wesen nun ein Zusammengesetztes, „so würde ein jeder Teil desselben einen Teil des Gedanken, alle aber zusammengenommen allererst den ganzen Gedanken enthalten." 66 Weil die Einheit eines Gedankens nicht aus dem bloßen Konglomerat seiner Teile resultieren könne, müsse das die Einheit des Gedankens stiftende Prinzip selbst als ein unteilbares Ganzes vorausgesetzt werden. Die Schwierigkeit des Paralogismus besteht für Kant darin, daß die der Einheit des Gedankens korrespondierende subjektive Einheit äquivok bestimmt ist und sich somit aus bloßen Begriffen nicht beweisen ließe, daß die Einheit des Gedankens die Einheit vieler Vorstellungen im absoluten Subjekt zur Voraussetzung habe. „Denn die Einheit des Gedankens, der aus vielen Vorstellungen besteht, ist kollektiv und kann sich, den bloßen Begriffen nach, ebensowohl auf die kollektive Einheit der daran mitwirkenden Substanzen beziehen, (wie die Bewegung eines Körpers die zusammengesetzte Bewegung aller Teile desselben ist) als auf die absolute Einheit des Subjekts."67 Der Schluß von einem aus einzelnen Vorstellungen zusammengesetzten Gedanken auf eine einfache Substanz als Bedingung der Möglichkeit der 62 63 64 65 66 67

KrV, KrV, KrV, KrV, KrV, KrV,

A A A A A A

350. 351. 351. 352. 352. 353.

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Einheit des Gedankens sei somit nicht zwingend. Das Ganze des Gedankens könne zwar geteilt werden und von verschiedenen Subjekten gedacht werden, nicht aber könne das subjektive Ich geteilt werden, denn dessen absolute Einheit ist notwendige Bedingung jeder möglichen Vorstellung. „Also ist der so berühmte psychologische Beweis lediglich auf der unteilbaren Einheit einer Vorstellung, die nur das Verbum in Ansehung einer Person dirigiert, gegründet. Es ist aber offenbar: daß das Subjekt der Inhärenz durch das dem Gedanken angehängte Ich nur transzendental bezeichnet werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken, oder überhaupt etwas von ihm zu kennen, oder zu wissen. Es bedeutet ein Etwas überhaupt (transzendentales Subjekt), dessen Vorstellung allerdings einfach sein muß, eben darum, weil man gar nichts an ihm bestimmt, wie denn gewiß nichts einfacher vorgestellt werden kann, als durch den Begriff von einem bloßen Etwas. Die Einfachheit aber der Vorstellung von einem Subjekt ist darum nicht eine Erkenntnis von der Einfachheit des Subjekts selbst, denn von dessen Eigenschaften wird gänzlich abstrahiert, wenn es lediglich durch den an Inhalt gänzlich leeren Ausdruck Ich, (welchen ich auf jedes denkende Subjekt anwenden kann), bezeichnet wird." 68 Der Satz: Ich bin eine einfache Substanz, gelte allein vom transzendentalen Subjekt als die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, nicht aber von der Seele als ein Gegenstand der Erfahrung, „weil der Begriff der Substanz selbst nur als Funktion der Synthesis, ohne unterlegte Anschauung, mithin ohne Objekt gebraucht wird (.. .)." 6 9 Durch das Ich sei jederzeit eine absolute, aber bloß logische Einheit des Subjekts zu erkennen. Die Einfachheit der denkenden Substanz sei allein in transzendentaler Hinsicht zu begründen, nicht aber als wirkliche Einheit aus reinen Begriffen zu deduzieren. Kant beschließt die Erörterung des zweiten Paralogismus, indem er die Nichtigkeit des aus reinen Kategorien gewonnenen Vernunfturteils: Die Seele ist einfach, dadurch zu beweisen sucht, daß er den Kardinalsatz der rationalen Seelenlehre in das Reich der Ideen verweist und ihm somit alle Realität des objektiven Gebrauchs abspricht. Das Urteil: „das denkende Ich, die Seele, (ein Name für den transzendentalen Gegenstand des inneren Sinnes) sei einfach (.. . ) " 7 0 , sei zwar logisch möglich, aber „dieser Ausdruck hat deshalb doch gar keinen auf wirkliche Gegenstände sich erstreckenden Gebrauch und kann daher unsere Erkenntnis nicht im mindesten erweitern." 7 1 Der dritte Paralogismus schließt auf die Seele als eine Person, sofern sie ein Bewußtsein der numerischen Identität ihrer selbst zu verschiedenen Zei68 69 70 71

KrV, KrV, KrV, KrV,

A A A A

355. 356. 361. 361.

80

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

ten hat. Die numerische Identität eines Gegenstandes des äußeren Sinnes ist gegeben, wenn sich ein Beharrliches, dem als Subjekt alle Bestimmungen der Erscheinung zugesprochen werden, durch den Wechsel der Zeit und durch den Wechsel der Bestimmungen, dessen Subjekt es ist, unverändert erhält. Problematisch wird die Bestimmung der numerischen Identität für Kant, wenn sie in gleicher Hinsicht auf Gegenstände des äußeren wie des inneren Sinnes angewandt wird. Die Anwendung der Bestimmung der numerischen Identität auf Gegenstände des inneren Sinnes wird notwendig, soll der Schluß vom Ich denke auf die Seele als eine Person möglich sein, denn das Ich kann sich selbst nur zum Gegenstand des inneren Sinnes werden. Da die Zeit die Form des inneren Sinnes ist, „beziehe ich alle und jede meiner sukzessiven Bestimmungen auf das numerisch-identische Selbst, in aller Zeit, d.i. in der Form der inneren Anschauung meiner selbst. Auf diesen Fuß müßte die Persönlichkeit der Seele nicht einmal als geschlossen, sondern als ein völlig identischer Satz des Selbstbewußtseins in der Zeit angesehen werden, und das ist auch die Ursache, weswegen er a priori g i l t . " 7 2 Selbstbewußtsein und Identität der eigenen Person sind somit nicht voneinander zu trennen. Kants Kritik des dritten Paralogismus lautet, daß das Ich nicht in gleicher Weise ein Gegenstand des inneren wie des äußeren Sinnes sein könne. Der Unterscheidung in Gegenstand des äußeren und inneren Sinnes gemäß müsse der Begriff der Identität als Identität der Person von der Identität des Ich (Apperzeption) unterschieden werden. Die Identität meiner selbst zu allen Zeiten als ein Selbstbewußtsein ist die notwendige, aber bloß „formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges, beweist aber gar nicht die numerische Identität meines Subjekts ( . . . ) . " 7 3 Wäre das einzelne Subjekt numerisch identisch, dann wäre die Indifferenz von Transzendentalität und Empirizität des denkenden Subjekts nach der Seite des empirischen Subjekts aufgelöst, und damit der Begriff der unbedingten Einheit zersetzt. Die Begriffe der Substanz, des Einfachen und der Persönlichkeit seien deshalb für die Bestimmung des Ich allein von transzendentalem Gebrauch. Eine Erweiterung der Selbsterkenntnis aus reiner Vernunft sei nicht möglich, weil die Apperzeption sich, anders als die Materie, nicht als Substanz im Räume vorstellen ließe. „Was Materie für ein Ding an sich selbst (transzendentales Objekt) sei, ist uns zwar gänzlich unbekannt; gleichwohl kann doch die Beharrlichkeit derselben als Erscheinung, dieweil sie als etwas Äußerliches vorgestellt wird, beobachtet werden. Da ich aber, wenn ich das bloße Ich bei dem Wechsel aller Vorstellungen beobachten will, kein ander Korrelatum meiner Vergleichungen habe, als wiederum Mich selbst, mit den allgemeinen Bedingungen meines Bewußtseins, so kann ich keine andere als tautologische Beantwortungen auf alle Fragen geben, indem ich nämlich meinen Begriff und dessen Einheit den Eigenschaften, die mir 72 73

KrV, A 362. KrV, A 363.

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selbst als Objekt zukommen, unterschiebe, und das voraussetze, was man zu wissen verlangte." 74 Der vierte Paralogismus hat die Idealität des äußeren Verhältnisses zum Gegenstand. Zu bestimmen ist der Beweisgrund der Wirklichkeit bzw. objektiven Realität der Gegenstände des inneren und des äußeren Sinnes, der für Kant mit der Widerlegung des im Paralogismus vertretenen skeptischen Idealismus 75 notwendig auf den transzendentalen Idealismus führt. Terminus ad quem der Kantischen Widerlegung des vierten Paralogismus ist der Beweis des Daseins der Materie durch „das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewußtseins (.. . ) " 7 6 , die „unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) ( . . . ) . " 7 7 Schon in seiner Widerlegung des Idealismus 78 versucht Kant zu zeigen, daß nicht allein die „Eine empirische Behauptung (assertio), nämlich: Ich bin ( . . . ) " 7 9 , sondern auch das Dasein der Gegenstände im Raum durch unmittelbare Erfahrung zu beweisen sei. Die Widerlegung des problematischen Idealismus des Descartes, der das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns für zweifelhaft und unerweislich hält, hat zu zeigen, daß von den dem Selbstbewußtsein äußerlichen Dingen nicht bloß Einbildung, sondern auch Erfahrung möglich sei. Das Beweisziel dieser Widerlegung ist, daß selbst die innere Erfahrung nur unter der Voraussetzung der äußeren Erfahrung möglich sei. Die erste Prämisse des Schlusses behauptet, daß das empirische Selbstbewußtsein sich seines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt ist. Alle Zeitbestimmung setze aber, so die zweite Prämisse, etwas Beharrliches in der Zeit voraus. Um eine petitio principii zu vermeiden, muß das Dasein des Beharrlichen vermittelst der Wahrnehmung und nicht der bloßen Vorstellung eines dem Selbstbewußtsein äußerlichen Dinges möglich sein. Das Bewußtsein meines eigenen Daseins ist dann „zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer m i r . " 8 0 Mit der unmittelbaren Wahrnehmung des Ich sei also die unmittelbare Wahr74

KrV, A 366. Das zu Begründende würde zu seinem eigenen vorauszusetzenden Grund. Vgl. Kapitel Α. I. 1. Kant zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft. 75 Anders als der dogmatische Idealist, der das Dasein der Materie leugne, weil die Möglichkeit derselben sich nicht widerspruchsfrei begründen ließe, erhebe der skeptische Idealist gegenüber der Wirklichkeit der Materie lediglich Zweifel, da er sie für nicht beweisbar halte. Vgl. KrV, A 377. 76 KrV, A 371. 77 KrV A 371. Zum Begriff der unmittelbaren Wahrnehmung vgl. Kapitel C. I. 2. d) Paralogismus B. Vgl. D. H. Heidemann, Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, Berlin 1998, S. 56 ff. 78 Vgl. KrV, Β 274 ff. 79 KrV, Β 274. 80 KrV, Β 276. Das Ich, das Subjekt des Schließens, ist dann selbst erschlossen. Auf dieser Figur beruht die idealistische Identifizierung des Subjekts des Urteils mit dem urteilendem Subjekt. 6 Gerhard

8 2 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

nehmung der Gegenstände im Raum gesetzt. Die äußere Erfahrung sei eine Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung des Daseins des Ich in der Zeit, nicht aber der Existenzgrund des Ich. Wäre die äußere Erfahrung der Existenzgrund des Ich, würde das Selbstbewußtsein aus seiner Wahrnehmung äußerer Gegenstände hervorgehen; es wäre bloßes Resultat seiner Rezeptivität. Als bloßes Resultat der Rezeptivität wäre das Selbstbewußtsein nicht Beziehung auf sich, sondern auf anderes. Ein Selbstbewußtsein, das nicht reflexiv ist, widerspricht jedoch seinem eigenen Begriff. Die Existenz äußerer Gegenstände sei für die Möglichkeit eines bestimmten Bewußtseins des Ich erfordert. Die äußere Erfahrung sei aber weder der Erkenntnisgrund des Daseins des Selbstbewußtseins überhaupt, noch lasse sich von der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf die Existenz eines bestimmten Bewußtseins schließen. „Freilich ist die Vorstellung: ich bin, die das Bewußtsein ausdrückt, welches alles Denken begleiten kann, das, was unmittelbar die Existenz eines Subjekts in sich schließt, aber noch keine Erkenntnis desselben, mithin auch nicht empirische, d.i. Erfahrung; denn dazu gehört, außer dem Gedanken von etwas Existierendem, noch Anschauung und hier innere, in Ansehung deren, d.i. der Zeit, das Subjekt bestimmt werden muß, wozu durchaus äußere Gegenstände erforderlich sind, so, daß folglich innere Erfahrung selbst nur mittelbar und nur durch äußere möglich ist." 81 Die Erkenntnis des transzendentalen Subjektes sei nicht möglich, weil dieses durch keine Anschauung 82 vorgestellt werden könne. Das in der Vorstellung des Ich ausgedrückte Selbstbewußtsein sei „gar keine Anschauung, sondern eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts. Daher hat dieses Ich auch nicht das mindeste Prädikat der Anschauung, welches, als beharrlich, der Zeitbestimmung im inneren Sinne zum Korrelat dienen könnte: wie etwa Undurchdringlichkeit an der Materie, als empirischer Anschauung, ist." 8 3 Die Korrelate eines jeden empirisch bestimmten Bewußtseins des eigenen Daseins sind die im Raum daseienden Gegenstände. Die Selbsttätigkeit eines denkenden Subjekts ist keiner Anschauung zugänglich und läßt sich nur in der Zeit bestimmen. Das für die Zeitbestimmung erforderliche Korrelat sind nicht nur die dem denkenden Subjekt äußerlichen Gegenstände, sondern auch die Handlung der Synthesis. Diese ist selbst nur nach dem Modell des Zeichnens einer Linie vorstellbar. Die im Raum daseienden Gegenstände können aber nur das Korrelat für das empirisch bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins sein. Das transzendentale Bewußtsein hingegen bedarf eines nicht empirischen, 81

KrV, Β 277. Daß die unmittelbare Wahrnehmung nicht als intellektuelle Anschauung aufzufassen ist, schreibt auch Heidemann. Vgl. D. H. Heidemann, Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus, Berlin 1998, S. 58. 83 KrV, Β 278. 82

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nicht sinnlichen Korrelats. Das „Identischsein alles empirischen Bewußtseyns mit dem reinen ist Wissen; und die Philosophie, die dies Identischsein weiß, ist die Wissenschaft des Wissens ( . . . ) " 8 4 , deren Möglichkeit Kant aber ebenso verneint, wie die vollständige Indifferenz von empirischem und reinem Bewußtsein. 85 Der vierte Paralogismus lautet: „Dasjenige, auf dessen Dasein, nur als einer Ursache zu gegebenen Wahrnehmungen, geschlossen werden kann, hat eine nur zweifelhafte Existenz: Nun sind alle äußeren Erscheinungen von der Art: daß ihr Dasein nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern auf sie, als die Ursache gegebener Wahrnehmungen, allein geschlossen werden kann: Also ist das Dasein aller Gegenstände äußerer Sinne zweifelhaft. Diese Ungewißheit nenne ich die Idealität äußerer Erscheinungen (.. .)." 86 Als Argument des skeptischen Idealismus führt Kant an, daß das Dasein äußerer Gegenstände nicht durch unmittelbare Wahrnehmung erkannt werden könne und deshalb die Wirklichkeit der Gegenstände der Sinne „durch alle mögliche Erfahrung niemals völlig gewiß ( . . . ) " 8 7 werden könne. Gegenstand einer unmittelbaren Wahrnehmung könne nur das sein, was im Subjekt der Wahrnehmung selbst vorzufinden sei. Das Dasein äußerer Gegenstände könne demnach allein aus der inneren Wahrnehmung erschlossen werden. Die innere Wahrnehmung erscheint dann als Wirkung der äußeren Ursache, die selbst kein Gegenstand unmittelbarer Wahrnehmung sein könne. Ein Schluß von einer gegebenen Wirkung auf die Ursache sei jedoch problematisch, „weil die Wirkung aus mehr als einer Ursache entsprungen sein kann." 8 8 Während der Gegenstand des inneren Sinnes, das Ich mit allen seinen Vorstellungen, unmittelbar wahrgenommen werden könne und seine Existenz dadurch zur Gewißheit würde, sei die Existenz der Gegenstände des äußeren Sinnes zweifelhaft, weil sie weder unmittelbar wahrzunehmen seien, noch die Gefahr eines Fehlschlusses auszuschließen sei. Die Idealität äußerer Verhältnisse ist in empirischer Hinsicht notwendig anzunehmen, wenn das Selbstbewußtsein als der einzig mögliche Ort unmittelbarer Wahrnehmung nicht bloß als Erkenntnisgrund, sondern auch als einziger Existenzgrund äußerer Gegenstände der Wahrnehmung angenommen wird. Der Grund der Realität äußerer Gegenstände der Wahrnehmung 84

Diff, S. 36. Der Schluß von der Indifferenz zur Identität von reinem und empirischem Bewußtsein ist für einen Idealisten naheliegend. Wenn die Indifferenz das Verhältnis zweier Relata ist, denen keine Differenz zugesprochen werden kann, dann seien sie identisch. 86 KrV, A 367. 87 KrV, A 369. 88 KrV, A 368. 85

6*

84

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

fiele damit in das Ich, so daß alle äußeren Verhältnisse nur im und durch das Ich existierten. Um an der Selbständigkeit der Existenz der Gegenstände der Erkenntnis festhalten zu können, ohne aber gleich einem transzendentalen Realisten den Gegenständen äußerer Wahrnehmung, der Materie, eine Existenz als Ding an sich zuzusprechen, bemüht Kant wider den empirischen Idealismus des Skeptikers den transzendentalen Idealismus. Während der transzendentale Realist äußeren Erscheinungen, sofern ihnen eine Wirklichkeit unterstellt wird, was allein auf Grund des Paralogismus möglich ist, eine von aller Sinnlichkeit und Wahrnehmung unabhängige Existenz zuspricht, hält der transzendentale Idealist die Wirklichkeit äußerer Gegenständen nur dann für begründet, sofern sie als Vorstellungen in das Bewußtsein fallen. Mit dem transzendentalen Idealismus fiele „alle Bedenklichkeit weg, das Dasein der Materie ebenso auf das Zeugnis unseres bloßen Selbstbewußtseins anzunehmen und dadurch für bewiesen zu erklären, wie das Dasein meiner selbst als eines denkenden Wesens. Denn ich bin mir doch meiner Vorstellungen bewußt; also existieren diese und ich selbst, der ich diese Vorstellungen habe. Nun sind aber äußere Gegenstände (die Körper) bloß Erscheinungen, mithin auch nichts anderes, als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind. Also existieren ebensowohl äußere Dinge, als ich selbst existiere, und zwar beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewußtseins, nur mit dem Unterschiede: daß die Vorstellung meiner Selbst, als des denkenden Subjekts, bloß auf den innern, die Vorstellungen aber, welche ausgedehnte Wesen bezeichnen, auch auf den äußeren Sinn bezogen werden." 89 Sind sowohl das denkende Wesen als auch die äußeren Gegenstände bloße Vorstellungen, müsse weder die Wirklichkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes, noch die Wirklichkeit äußerer Gegenstände durch einen Schluß begründet werden. Als Vorstellungen seien alle Gegenstände einer unmittelbaren Wahrnehmung, die in diesem Sinne nichts anderes als Bewußtsein sei 9 0 , zugänglich, womit der Beweis ihrer Wirklichkeit erbracht sei. Als Erscheinung spricht der transzendentale Idealist Kant der Materie eine Wirklichkeit zu, „die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird (...)." 9 1 Die Wirklichkeit der Materie sei somit nicht ideell, im und durch das Ich gesetzt, sondern reell. Der transzendentale Idealismus geht dergestalt mit einem empirischen Realismus einher. Die unmittelbare Wahrnehmung, das unvermittelte Bewußtsein der eigenen Vorstellungen restringiert Kant jedoch auf den empirischen Verstand. Zum Gegenstand des inneren Sinnes kann damit allein das empirische Ich denke, nicht aber die transzendentale 89 90 91

KrV, A 370 f. Vgl. KrV, A 371. KrV, A 371.

I. Kant

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Einheit der Apperzeption werden. Sowohl die Materie als auch das denkende Wesen sind als Vorstellungen Erscheinungen, die unter den Formen der Anschauung des inneren und des äußeren Sinnes, der Zeit und dem Raum, stehen. Mit dieser Einschränkung lassen sich die Gegenstände des inneren und des äußeren Sinnes bloß als empirische Gegenstände vorstellen. Der transzendentale Gegenstand hingegen sei, „sowohl in Ansehung der inneren als äußeren Anschauung, gleich unbekannt." 92 Die Grundlage aller Theorien über die Gemeinschaft der Seele mit der Materie sei die Unterstellung, daß die Gegenstände außer uns unabhängig von uns bestehen und somit vollständig vom denkenden Subjekt abgetrennt seien. Kant hingegen bestimmt die äußeren Erscheinungen als Vorstellungen, die somit zum Subjekt gehören. Drei mögliche Systeme der Gemeinschaft der Seele mit der Materie zählt Kant auf: 1. physischer Einfluß, 2. prästabilierte Harmonie, 3. übernatürliche Assistenz. 93 Der gängige Einwand gegen die Theorie des physischen Einflusses lautet, daß „dasjenige, was als Materie erscheint, durch seinen unmittelbaren Einfluß nicht die Ursache von Vorstellungen, als einer ganz heterogenen Art von Wirkungen, sein könne." 9 4 Aus diesem Einwand wider die Möglichkeit des physischen Einflusses seien die beiden letzten Theorien entstanden. Der Einwand ent92

KrV, A 372. Der von Leibniz eingeführte Begriff der prästabilierten Harmonie soll zwischen Körper und Seele und zwischen den einzelnen Perzeptionen verschiedener Monaden vermitteln. Leibniz unterscheidet drei Möglichkeiten der Übereinstimmung: 1. Wechselseitiger Einfluß, den sie aufeinander ausüben (Modell: Zwei Pendeluhren, die an einem Holzstück befestigt sind, haben die Tendenz auch gegen Störungen gleich zu schlagen), 2. Äußerliche Beeinflussung, die jede Abweichung unmittelbar korrigiert (Modell: Handwerker, der stetig eingreift), 3. Eigene Genauigkeit (Modell: Beide Uhren sind in vollkommener Übereinstimmung geschaffen worden, so daß ihre Übereinstimmung notwendig ist). Bezogen auf die Ubereinstimmung von Seele und Körper sei der Weg der wechselseitigen Beeinflussung auszuschließen, da sich der physische Einfluß zwischen materiellem und immateriellem nicht erklären ließe. Der zweite Weg des äußeren Beistandes sei ebenfalls auszuschließen, weil er eine stetige Einwirkung Gottes voraussetzte. Der dritte Weg der prästabilierten Harmonie läßt beide Substanzen mit der Schöpfung so entstehen, daß sie allein ihren eigenen Gesetzen gehorchend in vollkommener Übereinstimmung mit der anderen Substanz stehen. „Es bleibt demnach nur meine Hypothese übrig, d.h. der Weg der prästabilierten Harmonie, der darauf hinausläuft, daß durch göttliche, vorausschauende Kunst von Anfang der Schöpfung an beide Substanzen in so vollkommener und geregelter Weise und mit so großer Genauigkeit gebildet worden sind, daß sie, indem sie nur ihrer eignen, in ihrem Wesen liegenden Gesetzen folgen, doch wechselseitig miteinander in Einklang stehen (...)." [G. W. Leibniz , Zur prästabilierten Harmonie, in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Teil II, übersetzt v. A. Buchenau, hrsg. v. E. Cassirer, Hamburg 1996, S. 460]. Vgl. G. W. Leibniz, Metaphysische Abhandlungen, in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Teil II, S. 358 f. Vgl. KrV, A 390 ff. 93

94

KrV, A 390.

8 6 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

hält jedoch für Kant eine Schwierigkeit. Die Materie sei als bloße Erscheinung selbst nur eine Vorstellung, die selbst eine Wirkung äußerer Gegenstände sei. Der Gegenstand der äußeren Sinne könne daher nicht mehr mit der Materie übereinstimmen, denn nach der dogmatischen, dualistischen Trennung von Seele und Materie könne der äußere Gegenstand nur selbständig, d.h. unabhängig von der Vorstellung existieren. Die Vorstellungen äußerer Gegenstände können nicht zugleich die äußeren Ursachen der Vorstellungen in unserem Gemüt sein. Materie und der wahre Gegenstand der äußeren Sinne wären somit disparat. Wollte man nun aber die Materie, die nichts weiter als eine Vorstellung von einem unbekannten äußeren Gegenstand sei, zu einem Ding an sich hypostasieren, wäre die Vermittlung der beiden Substanzen nur über ein Drittes möglich. Mit der Einführung eines Dritten sei jedoch der unterstellte Dualismus von Materie und Seele widerlegt. Die Schwierigkeit einer Verbindung der denkenden Natur mit der Materie beruhe allein auf „jener erschlichenen dualistischen Vorstellung: daß Materie, als solche, nicht Erscheinung, d.i. bloße Vorstellung des Gemüts, der ein unbekannter Gegenstand entspricht, sondern der Gegenstand an sich selbst sei, so wie er außer uns und unabhängig von aller Sinnlichkeit existiert." 95 Die Materie bedeutet demnach für Kant nichts anderes als eine „bloße Form, oder eine gewisse Vorstellungsart eines unbekannten Gegenstandes (.. . ) " 9 6 durch den äußeren Sinn. Die Materie sei bloße Erscheinung, der zwar etwas außer unseren Vorstellungen korrespondieren mag, aber dieses Korrelat müsse uns unbekannt bleiben, denn bekannt könnte es uns nur als Erscheinung in unserer Vorstellung sein. Die Schwierigkeit der Gemeinschaft der Seele mit der Materie beruhe auf dem Blendwerke, dasjenige, was bloß in Gedanken existiert, zu hypostasieren und diesem Gegenstand eine selbständige Existenz zuzusprechen. Sind sowohl die Gegenstände des äußeren Sinnes als Erscheinungen als auch die Gegenstände des inneren Sinnes bloße Vorstellungen in uns, dann gehe die Frage nach der Gemeinschaft der Seele mit der Materie nicht mehr darauf, wie die Seele mit anderen bekannten und fremdartigen Substanzen außer uns zusammengehen könne, sondern sie handele „bloß von der Verknüpfung der Vorstellungen des inneren Sinnes mit den Modifikationen unserer äußeren Sinnlichkeit, und wie diese untereinander nach beständigen Gesetzen verknüpft sein mögen, so daß sie in einer Erfahrung zusammenhängen."97 Die Gemeinschaft des inneren und des äußeren Sinnes sei nur insofern unproblematisch, als innere und äußere Erscheinungen als bloße Vorstellungen in der Erfahrung gedacht werden, und nicht die äußeren Erscheinungen gleichermaßen wie sie in uns sind als außer uns für sich bestehende Dinge 95 96 97

KrV, A 391. KrV, A 385. KrV, A 386.

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87

angenommen werden. Werden die Tätigkeiten dieser außer uns für sich bestehenden Dinge auf das denkende Subjekt bezogen, fallen die wirkenden Ursachen außer uns und die wirkenden Ursachen in uns auseinander. Der Grund hierfür sei der, daß die außer uns wirkenden Ursachen sich lediglich auf den äußeren Sinn, die anderen aber auf den inneren Sinn bezögen. Die äußeren Wirkungen müssen im Raum vonstatten gehen, dagegen die Wirkungen in uns Gedanken sind, „unter denen kein Verhältnis des Ortes, Bewegung, Gestalt oder Raumesbestimmung überhaupt stattfindet (.. .)." 9 8 Der innere Sinn ist bestimmt durch das Schema der Zeitfolge. Die Zeitfolge ist ihrerseits durch die Handlung der Synthesis bestimmt, die allein in der Zeit vorgestellt werden kann. Einzuwenden ist dagegen, daß die Zeit nicht als reine Zeit, die Zeitfolge nicht ohne Zeitinhalt gedacht werden kann. Auf die Unterscheidung der inneren und äußeren Wirkungen gründet Kant die Unmöglichkeit einer rationalen Seelenlehre, die aus dem Begriff eines denkenden Wesens zu einer synthetischen Erkenntnis a priori fähig ist. Gleichwohl sich in einer Körperlehre, als einer „Physiologie der Gegenstände äußerer Sinne (.. . ) " 9 9 , aus dem „bloßen Begriffe eines ausgedehnten undurchdringlichen Wesens (.. . ) " 1 0 0 die Erkenntnis a priori erweitern ließe. 1 0 1 Der Grund hierfür liege in der unterschiedlichen Art, wie dem äußeren und dem inneren Sinn etwas erscheine. „Obgleich beides Erscheinungen sind, so hat doch die Erscheinung vor dem äußeren Sinne etwas Stehendes, oder Bleibendes, welches ein, den wandelbaren Bestimmungen zum Grunde liegendes Substratum und mithin einen synthetischen Begriff, nämlich den vom Räume und einer Erscheinung in demselben, an die Hand gibt, anstatt daß die Zeit, welche die einzige Form unserer inneren Anschauung ist, nichts Bleibendes hat, mithin nur den Wechsel der Bestimmungen, nicht aber den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen gibt. (...) Dieses Ich müßte eine Anschauung sein, welche, da sie beim Denken überhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgesetzt würde, als Anschauung a priori synthetische Sätze lieferte, wenn es möglich sein sollte, eine reine Vernunfterkenntnis von der Natur eines denkenden Wesens überhaupt zustande zu bringen. Allein dieses Ich ist sowenig Anschauung, als Begriff von irgendeinem Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewußtseins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten, und sie dadurch zu Erkenntnissen erheben kann, sofern nämlich dazu noch irgend etwas anderes in der Anschauung gegeben wird, welches zu einer Vorstellung von einem Gegenstande Stoff darreicht." 102 Das Reale der Anschauungen sei a priori nicht zu denken 1 0 3 , so daß die Empfindung dasjenige sei, was eine Wirklichkeit im Räume und der Zeit bezeichne. 104 98

KrV, A 387. KrV, A 381. 100 KrV, A 381. 101 Vgl. MAdN, S. 470 ff. 102 KrV, A 381 f.

99

8 8 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Der Grund des Scheins, den Kant in dem Abschnitt über die Paralogismen der reinen Vernunft zu entlarven sucht, ist, „daß die subjektive Bedingung des Denkens für die Erkenntnis des Objekts gehalten w i r d . " 1 0 5 Das Ich denke als die unbedingte Bedingung eines Gedanken überhaupt ist der Gegenstand der reinen Vernunft in diesem Abschnitt der transzendentalen Dialektik. Die Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt könne aber gar nicht objektiv sein, weil beim Denken überhaupt von aller Beziehung auf ein Objekt abgesehen werde. Das Ich denke ist bestimmt worden als die „einzige Bedingung, die alles Denken begleitet (.. . ) " 1 0 6 und ist unter der Voraussetzung seiner Unbedingtheit Gegenstand der Vernunft. Die Schwierigkeit des dialektischen Scheins ergebe sich daraus, daß das Ich denke als die unbedingte Bedingung alles Denkens bloß die formale Bedingung, d.i. die von allen Gegenständen abstrahierende logische Einheit eines jeden Gedankens sei, gleichwohl aber als ein Gegenstand vorgestellt werde, den das Ich sich denke, nämlich das Ich selbst und seine unbedingte Einheit. Dasjenige, was als unbedingte Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis erschlossen wurde, die transzendentale Einheit der Apperzeption, könne nicht selbst zum Gegenstand der Erkenntnis werden, weil sie damit selbst den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis unterworfen werden müßte, was ihrer Unbedingtheit widersprechen würde. Als unbedingte Einheit ist die transzendentale Einheit der Apperzeption jedoch leer. „Daß aber das Wesen, welches in uns denkt, durch reine Kategorien, und zwar diejenigen, welche die absolute Einheit unter jedem Titel derselben ausdrücken, sich selbst zu erkennen vermeine, rührt daher. Die Apperzeption ist selbst der Grund der Möglichkeit der Kategorien, welche ihrerseits nichts anderes vorstellen, als die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, sofern dasselbe in der Apperzeption Einheit hat. Daher ist das Selbstbewußtsein überhaupt die Vorstellung desjenigen, was die Bedingung aller Einheit, und doch selbst unbedingt ist. Man kann daher von dem denkenden Ich (Seele), das sich als Substanz, einfach, numerisch identisch in aller Zeit, und das Korrelatum alles Daseins, aus welchem alles andere Dasein geschlossen werden muß, sagen: daß es nicht sowohl sich selbst durch die Kategorien, sondern die Kategorien, und durch sie alle Gegenstände, in der absoluten Einheit der Apperzeption, mithin durch sich selbst erkennt. Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne, und daß das bestimmende Selbst, (das Denken) von dem bestimmbaren Selbst (dem denkenden Subjekt), wie Erkenntnis vom Gegenstande unterschieden sei. Gleichwohl ist nichts natürlicher und verführerischer, als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte 103 104 105 106

Vgl. KrV, A 375. Zum Begriff des intensiven Stoffs vgl. Fichte, WL, S. 312. KrV, A 396. KrV, A 398.

I. Kant

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dieser Gedanken zu halten. Man könnte ihn die Subreption des hypostasierten Bewußtseins (apperceptiones substantiatae) nennen."107 Der Unterschied zwischen Denken und Erkennen liege darin, daß eine Erkenntnis über den bloßen Begriff hinaus immer einer Anschauung des gegebenen Gegenstandes bedürfe, andererseits die Realität des Gegenstandes nur subjektiv, niemals aber objektiv sein könne. Das nicht empirische Ich denke könne demnach niemals Objekt einer Erkenntnis sein, solange es nicht in einer Anschauung dem auf sich selbst reflektierenden Denken gegeben ist. Die zur Erkenntnis der transzendentalen Einheit der Apperzeption geforderte intellektuelle Anschauung will Kant jedoch dem endlichen Menschengeist nicht zugestehen. Die transzendentale Einheit der Apperzeption wird von Kant apagogisch erschlossen aus der logischen Unmöglichkeit einer Erfahrung ohne deren Unterstellung. Das Resultat des apagogischen Schlusses könne wie der Schluß selbst nur ein Noumenon sein. Die apagogisch erschlossene Bedingung der Möglichkeit eines Wirklichen sei formale, aber nicht ontologische Bedingung eines Wirklichen. Deshalb erscheint der transzendentale Gegenstand in den Paralogismen, anders als noch in der ersten Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, nicht mehr in ontologischer Gestalt, sondern bloß als eine Funktion der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Die Unterscheidung von bestimmendem und bestimmbarem Selbst, von reiner Apperzeption und innerem Sinn, deren disjunktive Bestimmung in der ersten Fassung des Kapitel über die Paralogismen zum Movens der Kantischen Kritik an eine rationale Seelenlehre gemacht wird, wird in der Deduktion Β als Bedingung der Möglichkeit der Apperzeption bestimmt. Die synthetische Einheit von bestimmendem und bestimmbarem Ich zu konstituieren, sei die Funktion der transzendentalen Einbildungskraft. Diese Funktion der transzendentalen Einbildungskraft ist nicht unproblematisch, um nicht, wie Schelling, „von den Widersprüchen zu reden, in welche sich Kant durch Verwerfung der Construktion und rein intellektuellen Anschauung verflicht, da seine transcendentale Einbildungskraft, seine reine Synthesis der Apperception , die Wirklichkeit einer solchen Anschauung involviren ( . . . ) . " 1 0 8 c) Deduktion Β In der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe versucht Kant die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt darzulegen. Resultat dieser Deduktion ist, daß die transzendentale Einheit der 107

KrV, A 401 f. F. W. J. Schelling , Über die Konstruktion in der Philosophie (1803), Schellings Werke Dritter Band, S. 549, SW V, S. 129. 108

9 0 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Apperzeption der „transzendentale Grund der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen in einer Erfahrung ( . . . ) " 1 0 9 ist. Die Natur oder die synthetische Einheit des Mannigfaltigen nach Regeln habe ihren transzendentalen Grund in der transzendentalen Einheit der Apperzeption. In der revidierten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe wird die Möglichkeit der transzendentalen Einheit der Apperzeption selbst zum Gegenstand gemacht. Als unbedingte Identität ist das transzendentale Selbstbewußtsein leere Einheit. Soll ihr als Bedingung aller Realität selbst Realität zugesprochen werden, so würde die Apperzeption zum intelligiblen Grund aller Realität, zum ens realissimum. Die transzendentale Einheit der Apperzeption subsistiert aber nicht in sich, sondern ist selbst bedingt. Diese Bedingung der Möglichkeit der Apperzeption ist der zentrale Gegenstand der Deduktion B. Ist die Identität des Selbstbewußtseins selbst bedingt, so müsse der analytischen Einheit, der Verstandeseinheit des Ich = Ich, eine synthetische zugrunde liegen. Diese synthetische Einheit des Selbstbewußtseins nennt Kant die ursprüngliche Apperzeption, „weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann." 1 1 0 Dieses ursprüngliche Selbstbewußtsein sei Bedingung der Verstandeseinheit, so daß die analytische Einheit des Selbstbewußtseins Resultat der Reflexion der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins sei. Die Forderung einer der analytischen Einheit des Bewußtseins vorausgehenden synthetischen Einheit ist analog der Forderung „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet w i r d . " 1 1 1 Die Verstandeseinheit, die analytische Einheit des Bewußtseins, ist Gegenstand der Vernunft, niemals aber des Verstandes. Als Prinzipium der reinen Vernunft besagt diese Forderung nichts anderes als, daß „wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben ( . . . ) . " 1 1 2 Die vollständige Reihe der Bedingungen ist allein unter der Voraussetzung der vollständigen Bestimmung des Bedingten gegeben. Deshalb sei die durchgängige Identität des Bewußtseins von Vorstellungen, die durch die Synthesis des Mannigfaltigen zustande komme, nur unter der Bedingung möglich, daß die Synthesis der Vorstellungen des Mannigfaltigen selbst vorgestellt werde. Diese Vorstellung der Synthesis der Vorstellungen des Mannigfaltigen, in der die durch die Kategorien ermöglichte Verstandeseinheit zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird, 109 110 111 112

KrV, KrV, KrV, KrV,

A Β Β Β

127. 132. 364. 364.

I. Kant

91

ist Resultat der Synthesis des Subjekts der Synthesis mit dem Mannigfaltigen. Die doppelte Bestimmung der Synthesis ist notwendig, weil jede Synthesis auf ein zu Synthetisierendes geht. Damit ist die Voraussetzung der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins bezeichnet. Bedarf die analytische Einheit des Bewußtseins des ihr gegebenen Mannigfaltigen, so ist das vorauszusetzende Material der Synthesis der ursprünglichen Apperzeption das Subjekt der Synthesis des Mannigfaltigen. Analytische und synthetische Einheit des Bewußtseins wären somit wechselseitig aufeinander verwiesen. In der analytischen Einheit des Bewußtseins, dem Ich = Ich, wird das Ich als Subjekt sich selbst zum Objekt. Diese formale Einheit hat aber außer dem Satz der Identität zur Voraussetzung, daß das Subjekt des Urteils und das urteilende Subjekt, die beide gleich Ich sind, sich unterscheiden. Im weiteren Verlauf der Deduktion Β stellt sich für Kant die Frage, wie das Subjekt sich selbst zum Objekt werden könne, ohne daß ein bestimmtes Subjekt, ein empirisches Bewußtsein zur Voraussetzung der transzendentalen Einheit der Apperzeption werde. Die Transformation des transzendentalen Gegenstandes in eine bloße Funktion der transzendentalen Einheit der Apperzeption, wie sie sich bereits im Kapitel über den Paralogismus der ersten Auflage andeutet, wird erst durch die Reflexion der Reflexion möglich. Resultat der transzendentalen Reflexion ist das Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Als Resultat der transzendentalen Reflexion wird das Ich denke selbst nicht notwendig von einer bestimmten anderen Vorstellung begleitet, andernfalls wäre es mit irgendeiner empirischen Vorstellung notwendig verbunden. Gäbe es eine solche notwendige Verbindung des Ich denke mit einer empirischen Vorstellung, so ließe sich von der empirischen Vorstellung auf das Ich denke schließen. Die Vorstellung des Ich denke ist jedoch ein Aktus der Spontaneität und kann allein aus dem sich auf sich beziehenden Denken, das sich in dem tautologischen Satz Ich denke, daß ich denke ausdrückt, erschlossen werden. Die reflexive Bestimmung in dem Ich denke, daß ich denke hat ein urteilendes Subjekt zur Voraussetzung, das als Selbstbewußtsein identisch ist mit dem Subjekt des Urteils. Das Verhältnis von urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils ist nach Kant so zu bestimmen, daß sie zwar dasselbe Subjekt sind, ohne aber identisch zu sein. Wäre das Subjekt des Urteils nicht vom urteilenden Subjekt zu unterscheiden, müßte durch die reine Apperzeption das Subjekt der Apperzeption als Gegenstand, als Objekt gegeben werden. Da die reine Apperzeption aber leer ist, kann ihr durch sie selbst kein Objekt gegeben werden. Dieser Schwierigkeit begegnet Kant mit der Unterscheidung in ein urteilendes Subjekt und ein Subjekt des Urteils als gedachtes Subjekt. Das Subjekt des Denkens, das notwendig als ein allgemeines zu denken ist, ist der Apperzeption bloß als ein gedachtes Subjekt gegeben. Das gedachte Subjekt wiederum wird durch die Apperzeption ermöglicht, aber nicht hervorgebracht. Die

9 2 Β .

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von Kant ausgewiesene Abhängigkeit der analytischen Einheit des Selbstbewußtseins von einer synthetischen Einheit gründet sich darauf, daß das Subjekt (sich) selbst Objekt ist. Soll das Subjekt selbst Objekt sein, so kann die Einheit nicht rein logisch bestimmt werden. Die gesuchte Einheit kann nicht allein unter dem formalen Satz der Identität stehen, sondern muß zudem der Voraussetzung genügen, daß das urteilende Subjekt und das Subjekt des Urteils, die ein Ich sind, sich unterscheiden. Diese synthetische Einheit des Selbstbewußtseins ist somit Bedingung der analytischen. Anders als Kant hat Fichte die analytische Einheit des Ich = Ich aus dem Satz der Identität A = A erschlossen. 113 Weil A = A eine Relation sei, müsse sie in ein Drittes, in das denkende Subjekt fallen. Das denkende Subjekt als dasjenige, worein die Relation fällt, müsse der Relation analog, also selbst identisch sein. Der für Kant in der zweiten Fassung der Abschnitte über die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und den Paralogismus zentrale Unterschied zwischen denkendem Ich und gedachtem Ich ist für Fichte deshalb kein Unterschied. Das Ich denke wird von Kant in zweifacher Weise bestimmt. Einerseits muß das Ich denke reines Selbstbewußtsein als ein bloß logisches sein, weil es andernfalls abhängig wäre von empirisch Gegebenem. Andererseits läßt sich das Ich denke nicht trennen von der Einheit der Handlung der Synthesis, da erst vermittelst der Einheit der Handlung der Synthesis in der Reflexion auf dieselbe ein logischer Gebrauch des Verstandes möglich ist. Die Einheit der Handlung der Synthesis ist eine Reflexionsbestimmung, jede Reflexionsbestimmung ist aber zugleich eine Materialbestimmung, weil sie sonst gegenstandslos, leer bliebe. Das Ich denke muß notwendig eine Beziehung auf das Mannigfaltige haben, denn „durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben (.. . ) . " 1 1 4 Ein Mannigfaltiges könne bloß demjenigen Verstand durch das Selbstbewußtsein gegeben sein, dem das Vermögen der Anschauung zuzusprechen sei. Der menschliche Verstand könne jedoch lediglich denken. Notwendige Bedingung der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige. Das Mannigfaltige ist konstitutiv für das Selbstbewußtsein, sofern das transzendentale Subjekt sich selbst nicht als das Mannigfaltige seiner eigenen Anschauung zum Objekt werden kann, sondern nur vermittelst des unter der Form des äußeren Sinns gegebenen Mannigfaltigen, das allein unter der Voraussetzung des Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können 115, zu erkennen ist. Als ursprüngliche Apperzeption 113

Vgl. Kapitel Β. I. 2. Fichtes Grundsätze der Wissenschaftslehre (1794). KrV, Β 135. Vgl. Β 145. 115 Für D. Sturma „ist der sachliche Kern der These Kants von dem ,Ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß' (...)" die „epistemologische Egozentrik der Reflexion (...)"; mit dieser „Formel des ,Ich denke' (...)" führe 114

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ist die Vorstellung des Ich denke die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins. „Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem [Hervorhebung von mir; M.G.] Selbstbewußtsein gehörten, d.i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden." 116 Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist Bedingung jedes empirischen Bewußtseins, so daß, was zu keinem Bewußtsein gehören kann, auch nicht zu meinem Bewußtsein gehören könne. Während dieser Schluß von der allgemeinen Negation auf die besondere Negation begründet ist, ist der umgekehrte Schluß von der besonderen Negation auf die allgemeine Negation problematisch. Wird aus der Prämisse, daß etwas nicht zu meinem Bewußtsein gehören könne, darauf geschlossen, daß es zu keinem Bewußtsein gehören könne, wird die Indifferenz von individueller und kollektiver Einheit des Selbstbewußtseins unterstellt. Begründet wird diese Indifferenz mit der Identität der Struktur der individuellen Bewußtseine. Die Reflexivität des Ich denke ist dasjenige, was als identische Struktur in jedem Selbstbewußtsein vorhanden ist. Diese Reflexivität eines jeden selbstbewußten Subjekts läßt sich nicht aus den empirischen Bestimmungen des individuellen Subjekts deduzieren. Das Ich denke ist somit unabhängig von jeglicher empirischer Beschränkung und läßt sich folglich allein als Akt reiner Spontaneität denken. Aufgrund dieser Unabhängigkeit des Ich denke von aller empirischen Beschränkung ist die Struktur des Ich denke sowohl für die subjektive Einheit des Bewußtseins als auch für die Einheit der Apperzeption des kollektiven Bewußtseins oder der transzendentalen Einheit der Apperzeption ein und dieselbe. In einer weiteren Formulierung bestimmt Kant die ursprünglich synthetische Einheit als eine „durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen ( . . . ) " 1 1 7 , die eine Synthesis der Vorstellungen enthielte und „nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich ( . . . ) " 1 1 8 sei. Resultat der Reflexion auf die Einheit der vielen VorKant „den Begriff der prozessualen Selbstreferenz ein." [D. Sturma, Kant über Selbstbewußtsein. Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Theorie des Selbstbewußtseins, Hildesheim 1985, S. 41] Sturma übersieht dabei jedoch, daß die reine Beziehung des Ich auf sich selbst als reine Identität in eine leere Identität und damit in Nichts zusammenfallen würde. Die Beziehung auf ein Heterogenes ist notwendige Bedingung des Ich denke. 116 KrV, Β 132 f. 117 KrV, Β 133. 118

KrV, Β 133.

9 4 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Stellungen ist die Vorstellung von der Identität des Bewußtseins. Die Identität der Apperzeption ist abhängig von der Synthesis der Vorstellungen. Damit wird die Vollständigkeit, die Durchgängigkeit der Synthesis der Vorstellungen zur Bedingung der durchgängigen Identität der Apperzeption. Eine durchgängige Synthesis läßt sich aber nur denken, sofern sie auf die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen geht. Diese Forderung ist problematisch, weil eine solche durchgängige Synthesis aller in der Anschauung gegebenen Vorstellungen die apriorische Synthetisierbarkeit dieser Vorstellungen zur Voraussetzung hat. Zu erfüllen wäre diese Voraussetzung nur dann, wenn alle durch Anschauung gegebenen Vorstellungen sich immer widerspruchsfrei synthetisieren ließen. Wird der transzendentalen Einheit der Apperzeption, die indifferent gegen den Unterschied von individuellem und kollektivem Bewußtsein ist, die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen als das ihr notwendige Korrelat unterstellt, dann erscheinen alle Entgegensetzungen in der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs notwendig als bloßer Schein. Verzichtete man jedoch auf die Unterstellung der kollektiven Einheit des Erfahrungsganzen, ließe sich kein Antagonismus als Widerspruch in der Theorie darstellen, denn unter der alleinigen Voraussetzung der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs ist die Vorstellung eines Antagonismus unmöglich, weil jede partikulare Vorstellung gleichermaßen unter diese Einheit fällt. Ein Widerspruch zwischen zwei in der Anschauung gegebenen Vorstellungen ist nur zu denken, wenn beide Vorstellungen in einem Bewußtsein verglichen werden können. Durch diesen Vergleich erfolgt aber schon die Synthesis der Unterschiedenen. Kant unterscheidet in der Deduktion Β drei Synthesen: 1. die Synthesis der Vorstellungen des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, 2. die Synthesis der Vorstellungen mit dem Bewußtsein, 3. die Synthesis der einzelnen Bewußtseine. Der Gegenstand der Paragraphen 24 und 25 ist die Synthesis des Bewußtseins mit sich selbst in seiner doppelten Gestalt: in der Gestalt der Rezeptivität und in der Gestalt der Spontaneität. Der innere Sinn als das Vermögen der Rezeptivität wird von Kant strikt von der reinen Apperzeption als das Vermögen der Spontaneität unterschieden. Deshalb ist das Subjekt einerseits als das Ich des Ich denke, Subjekt der Apperzeption, und andererseits als Erscheinung in der Form der Anschauung des inneren Sinnes gegeben. Das Bewußtsein ist selbst in sich unterschieden als Subjekt der Handlung der Synthesis und als das zu Synthetisierende. Nur in dieser Unterscheidung ist eine Apperzeption möglich, sofern es bloße Bewußtseinsbestimmung wäre. Die Einheit beider Momente des Bewußtseins bestimmt Kant als die Synthesis vermittelst der produktiven Einbildungskraft. „Weil in uns aber eine gewisse Form der sinnlichen Anschauung a priori zum Grunde liegt, welche auf der Rezeptivität der Vorstellungsfähigkeit (Sinnlichkeit) beruht, so kann der Verstand, als Spontaneität, den inneren Sinn durch das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen der synthetischen Einheit der Apperzeption ge-

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mäß bestimmen, und so synthetische Einheit der Apperzeption des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung a priori denken, als die Bedingung, unter welcher alle Gegenstände unserer (der menschlichen) Anschauung notwendigerweise stehen müssen, dadurch denn die Kategorien, als bloße Gedankenformen, objektive Realität, d.i. Anwendung auf Gegenstände, die uns in der Anschauung gegeben werden können, aber nur als Erscheinungen bekommen; denn nur von diesen sind wir der Anschauung a priori fähig." 119 Die notwendige Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen ihrer Gegenstände sei nur dergestalt zu denken, „daß nämlich die Kategorien von Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt enthalten." 120 Daß die Erfahrung die Begriffe hervorbringe, sei nicht möglich, wenn an der Möglichkeit und Notwendigkeit von Begriffen a priori festgehalten werden soll. Dem Verstand komme aufgrund seiner Spontaneität das Vermögen zu, das Mannigfaltige einer sinnlichen Anschauung a priori zu synthetisieren. Das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen, nennt Kant Einbildungskraft. Die Einbildungskraft ermögliche die Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt, indem sie zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität, Bestimmbarem und Bestimmendem vermittle. Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft wird hier jedoch, anders als noch in der Deduktion A, wo die Einbildungskraft als ein drittes Vermögen neben der Sinnlichkeit und dem Verstand eingeführt wurde, als „eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit ( , . . ) " 1 2 1 bestimmt. „Das, was den inneren Sinn bestimmt, ist der Verstand und dessen ursprüngliches Vermögen das Mannigfaltige der Anschauung zu verbinden, d. i. unter eine Apperzeption (als worauf selbst seine Möglichkeit beruht) zu bringen. Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein Vermögen der Anschauungen ist, und diese, wenn sie auch in der Sinnlichkeit gegeben wäre, doch nicht in sich aufnehmen kann, um gleichsam das Mannigfaltige seiner eigenen Anschauung zu verbinden, so ist seine Synthesis, wenn er für sich allein betrachtet wird, nichts anderes, als die Einheit der Handlung, deren er sich, als einer solchen, auch ohne Sinnlichkeit bewußt ist, durch die er aber selbst die Sinnlichkeit innerlich in Ansehung des Mannigfaltigen, was der Form ihrer Anschauung nach ihm gegeben werden mag, zu bestimmen vermögend ist. Er also übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde." 122 Die Affektion des inneren Sinnes durch den Verstand vermittelst der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ist eine spontane Produk119 120 121 122

KrV, KrV, KrV, KrV,

Β Β Β Β

150 f. 167. 152. 153 f.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

tion. Diese Produktion der Selbstaffektion ist eine Handlung des bestimmenden Ich auf das bestimmbare Ich. Das Produkt dieser Handlung ist das seiner selbst gewisse Denken, dem notwendig eine ihm immanente Beziehung auf etwas, was es nicht ist, zukommt. Soll das Denken als leere Identität nicht in sich zusammenfallen, muß es sich auf einen von ihm unterschiedenen Gegenstand beziehen. Dieser Gegenstand des Denkens muß diesem jedoch adäquat sein. Die Adäquanz von Denken und Gegenstand des Denkens soll nun darüber garantiert werden, daß das Denken seinen Gegenstand selbst produziert. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft würde damit in die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Konstruktion der Gegenstände der Wissenschaft transformiert werden. In der Selbstaffektion wird das bestimmbare Ich zum Gegenstand des bestimmenden Ich, indem der Verstand auf den inneren Sinn einwirkt. Das bestimmende Ich selbst kann jedoch nicht wiederum unmittelbarer Gegenstand seiner eigenen Tätigkeit werden. Das Ich als Intelligenz ist sich nur vermöge der Reflexion auf seine Tätigkeit der Synthesis gegeben. Das Ich ist sich dann vermittelst eines Schlusses und nicht unmittelbar in der intellektuellen Anschauung gegeben, deren Möglichkeit Kant nicht zugesteht. 123 „Das, Ich denke, drückt den Aktus aus, mein Dasein zu bestimmen. Das Dasein ist dadurch also schon gegeben, aber die Art, wie ich es bestimmen, d. i. das Mannigfaltige, zu demselben gehörige, in mir setzen solle, ist dadurch noch nicht gegeben. Dazu gehört Selbstanschauung, die eine a priori gegebene Form, d.i. die Zeit, zum Grunde liegen hat, welche sinnlich und zur Rezeptivität des Bestimmbaren gehörig ist. Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin, ebenso vor dem Aktus des Bestimmens gibt, wie die Zeit das Bestimmbare, so kann ich mein Dasein, als eines selbsttätigen Wesens, nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneität meines Denkens, d.i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d.i. als das Dasein einer Erscheinung, bestimmbar. Doch macht diese Spontaneität, daß ich mich Intelligenz nenne."124 In der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption könne das Ich sich weder bewußt sein, wie es erscheine, noch, wie es an sich sei, sondern lediglich daß es sei. Diese Vorstellung des Ich denke, daß ich denke könne keine Anschauung, sondern nur ein Denken sein. Die absolute Spontaneität des Bestimmenden kann nur ein Gegenstand des Denkens, nicht aber, wie das Bestimmbare, Gegenstand der Anschauung sein. Um ein möglicher Gegenstand der Anschauung zu sein, müßte das bestimmende Ich unter die Form der Anschauung subsumiert werden können. Die Form der Anschauung des inneren Sinnes ist die Zeit. Der Begriff der Zeit ist bei Kant jedoch doppelt bestimmt. Einerseits ist die Zeit die Form der Anschauung des inneren Sinns, in der sich ein empirisches Subjekt selbst gegeben ist, 123 124

Vgl. KrV, Β 158 f. KrV, Β 157 f. *).

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andererseits ist die Zeit die Bedingung der Möglichkeit der Synthesis. 125 Werden diese beiden Zeitvorstellungen nicht wie bei Kant getrennt gedacht, sondern als Bestimmungen ein und derselben Zeit aufeinander bezogen, muß die Bedingung der Möglichkeit der Handlung der Synthesis zugleich die Form der Anschauung des inneren Sinnes und damit der Selbstanschauung des inneren Sinnes sein. Die transzendentale Einheit der Apperzeption wäre demnach nicht mehr von der intellektuellen Anschauung zu unterscheiden. Dagegen läßt sich mit Kant einwenden, daß die reinen Handlungen des Denkens zwar Grundlage jeder Metaphysik sind, selbst jedoch nicht als Produkt ihrer selbst Gegenstand einer Metaphysik der denkenden Natur werden können. d) Paralogismus Β Auch in der überarbeiteten Fassung des Kapitels über den Paralogismus hält Kant daran fest, daß das Ich denke als Vehikel aller Kategorien von bloß transzendentalem Gebrauch für den Verstand sein könne. Aus dem Bewußtsein meiner selbst im Denken ließe sich keine Erkenntnis meiner selbst als Objekt gewinnen. Der Grund für den fehlerhaften Schluß der rationalen Seelenlehre sei, daß die „logische Erörterung des Denkens überhaupt (...) für eine metaphysische Bestimmung des Objekts gehalten ( . . . y 1 2 6 werde. Diese Kritik wäre nichtig, sofern sich a priori beweisen ließe, daß allen denkenden Wesen an sich reale Prädikate zuzusprechen seien, daß Sein und Realität des Selbstbewußtseins ungeschieden wären. Das Resultat der Deduktion der Verstandesbegriffe ist aber, daß uns keine Erkenntnis a priori möglich sei, sofern sie nicht von Gegenständen möglicher Erfahrung herrühre. 127 Terminus ad quem der Kantischen Argumentation muß demnach der Nachweis sein, daß dem Ich denke allein sein Dasein zugesprochen werden könne und müsse. Für die Kantische Argumentation ist die Unterscheidung in bestimmendes und bestimmbares Subjekt zentral, die analog der in der Deduktion Β hervorgehobenen Unterscheidung von denkendem und gedachtem Subjekt ist. Geht es in der Deduktion Β vornehmlich um die Bewegung, die Tätigkeit des Bewußtseins 128 , stehen hier die Existenz und die Realität des Bewußtseins im Vordergrund der Erörterung. Vier Prädikate spricht die rationale Seelenlehre dem Ich denke zu: es sei 1. eine Substanz, 2. ein Einzelnes, 3. ein Identisches und 4. ein Existierendes. Fehlerhaft sei an allen vier Schlüssen der rationalen Seelenlehre, daß in den jeweiligen Prämissen von 125 126 127 128

7 Gerhard

Vgl. KrV, Β 154 f. KrV, Β 409. Vgl. KrV, Β 165 f. Vgl. KrV, Β 154 f.

9 8 Β .

Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

einem anderen Gegenstand ausgegangen werde. Jeder einzelne Schluß unterstelle die Identität von bestimmendem und bestimmbarem Subjekt. So sei das Urteil der ersten Prämisse im ersten Schluß, daß das denkende Ich im Denken immer als Subjekt des Urteils aufzufassen sei und nicht wie ein Prädikat dem Denken zuzusprechen sei, richtig, „aber er bedeutet nicht, daß ich, als Objekt, ein, für mich selbst bestehendes Wesen oder Substanz • ςς 129 sei. Kants Kritik am Vernunftschluß der rationalen Psychologie gründet sich auf eine Äquivokation im Begriff des Denkens. So würde in der ersten Prämisse das Denken in der Bedeutung genommen, wie es sich auf ein Objekt bezieht, d.h. als Bewußtsein, in der zweiten Prämisse hingegen, wie es in der reflexiven Beziehung auf das denkende Subjekt als Selbstbewußtsein bestünde. Der Grund des Fehlschlusses sei darin zu sehen, daß das Ich des Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können einerseits für das empirische Bewußtsein genommen werde, das unter der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit des Denkens stehe. Andererseits wird eben diese transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Denkens für den Inhalt des Ich denke genommen. Die Verwechslung von empirischem und transzendentalem Ich sei somit Grund des Paralogismus. Die Verwechslung von empirischem und transzendentalem Ich ist aber ihrerseits in der transzendentalen Reflexion angelegt, denn der transzendentalen Reflexion wird die Indifferenz des transzendentalen und des empirischen Subjekts zum Gegenstand. In der zweiten Bedeutung, als transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Denkens, gehe das Denken auf gar keinen Gegenstand, weil das reflexive Denken sich nicht in einer intellektuellen Anschauung gegeben sein könne und darum sei jedes Ich sich selbst „in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin." 130 Diese dem reflexiven Denken einzig mögliche Vorstellung von sich selbst sei ein Denken, kein Anschauen. Das Ich denke könne als denkendes Subjekt nicht als ein für das denkende Subjekt selbst bestehendes Objekt aufgefaßt werden, weil es hierfür Data benötigte, die im Denken als der leeren, ursprünglichen Apperzeption nicht angetroffen werden können. Das bestimmende Subjekt läßt sich nicht als Objekt denken, ohne in das bestimmbare Subjekt überführt zu werden. Deshalb sei eine Erkenntnis des bestimmenden Subjekts niemals möglich. „Nicht dadurch, daß ich bloß denke, erkenne ich irgendein Objekt, sondern nur dadurch, daß ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewußtseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner 129 130

KrV, Β 407. KrV, Β 157.

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als denkend bewußt bin, sondern wenn ich mir die Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens bestimmt, bewußt bin. (...) Nicht das Bewußtsein des Bestimmenden, sondern nur die des bestimmbaren Selbst, d.i. meiner inneren Anschauung (sofern ihr Mannigfaltiges der allgemeinen Bedingung der Einheit der Apperzeption im Denken gemäß verbunden werden kann) ist das Objekt." 131 Als reines Denken ist das Ich denke eine bloß logische Funktion, reine Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung. Wird das Ich denke jedoch in der Bedeutung genommen, daß das Ich denkend existiere, so gehe der Satz über die bloß logische Funktion hinaus und bestimme das Subjekt, welches dann zugleich Objekt ist, hinsichtlich seiner Existenz. Diese Bestimmung des Ich denke könne jedoch nur vermittelst des inneren Sinnes erfolgen, dessen Anschauung das Objekt als Erscheinung vorstelle. Die empirische innere Anschauung sei aber jederzeit sinnlich und könne deshalb nicht als unmittelbar sich selbst gegebenes Objekt des reinen Bewußtseins fungieren. Bestimmendes und bestimmbares Subjekt sind disparat. Die Einheit von bestimmendem und bestimmbarem Subjekt, in dem das Subjekt sich selbst zum Objekt habe, ließe sich bloß durch ein intellektuelles Prinzip der Bestimmung der Existenz des Subjekts denken. Gäbe es ein Gesetz des reinen Vernunftgebrauchs „uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen ( . . . ) . " 1 3 2 Allein im praktischen Gebrauch könne das denkende Ich sich selbst bestimmen als Subjekt und Objekt seiner Freiheit. Die Natur könne aber niemals Gegenstand der praktischen Vernunft, sondern stets nur Objekt der theoretischen Vernunft sein. Kant subsumiert schon hier die technischpraktische Vernunft, ohne die die moralisch-praktische Vernunft nicht möglich wäre 1 3 3 , unter die theoretische Vernunft. An dieser Stelle sperrt Kant sich gegen die von Fichte und Schelling aus seiner Argumentation gezogenen Konsequenzen. Resultat des rekursiven Schlusses auf die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft ist ihm allein die transzendentale Freiheit, denn die Vernunft sieht nur das ein, „was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt (. . . ) " 1 3 4 , nicht aber die sich realisierende praktische Freiheit.

131

KrV, Β 406 f. KrV, Β 430. 133 Die technisch-praktische Vernunft ist Voraussetzung der moralisch-praktischen Vernunft, weil nur über die Emanzipation vom Naturzwang die Realisierung von Zwecken in der Natur möglich ist. 134 KrV, Β XIII. 132

7*

100

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Ein Resultat der Kantischen Argumentation ist, daß dem bestimmenden Subjekt keine objektive Realität zuzusprechen sei und es lediglich als „eine bloße logische qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken überhaupt (.. . ) " 1 3 5 zu bestimmen sei. Gleichwohl könne das Ich denke, wie Kant wenige Seiten später anmerkt, nicht bloß als transzendentaler Satz genommen werden, sondern das Ich denke müsse sich in einer Hinsicht immer auch als empirischer Satz auf die Existenz des denkenden Subjekts beziehen. 136 „Das Ich denke, ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz, und enthält den Satz, Ich existiere, in sich. Ich kann aber nicht sagen: alles, was denkt, existiert; denn da würde die Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu notwendigen Wesen machen. Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satze: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafür hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existiert, vorausgehen müßte), sondern ist mit ihm identisch. Er drückt eine unbestimmte empirische Anschauung, d.i. Wahrnehmung, aus, (mithin beweist er doch, daß schon Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört, diesem Existenzialsatz zum Grunde liege,) geht aber vor der Erfahrung vorher, die das Objekt der Wahrnehmung durch die Kategorie in Ansehung der Zeit bestimmen soll, und die Existenz ist hier noch keine Kategorie, als welche nicht auf ein unbestimmt gegebenes Objekt, sondern nur ein solches, davon man einen Begriff hat, und wovon man wissen will, ob es auch außer diesem Begriff gesetzt sei, oder nicht, Beziehung hat. Eine unbestimmte Wahrnehmung bedeutet hier nur etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken überhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst, (Noumenon) sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satz: ich denke, als ein solches bezeichnet wird." 137 Kants Widerlegung des Urteils, daß alles, was denkt, existiert, ist ein Fehlschluß. Bedingt wird dieser Fehlschluß durch die Verwechslung von notwendiger Bedingung und hinreichendem Grund. Unterstellt ist mit dieser Verwechslung, daß die Allgemeinheit und Notwendigkeit des Denkens mit der Zufälligkeit der Existenz des denkenden Subjektes in einem notwendigen Zusammenhang stehe. Das Subjekt des Denkens läßt sich ebensowenig unabhängig von seiner Existenz denken, wie sich das Nicht-Denken des denkenden Subjekts denken läßt. Notwendige Bedingung des Denkenden ist, daß es denkt. Das Denken ist aber nicht der zureichende Grund der Existenz des Denkenden. Alles, was denkt, muß demnach auch existieren. Aus dem Denken allein folgt jedoch noch nicht die Existenz. Daß die notwendige Existenz von allem, was denkt, nicht aus der Allgemeinheit und Notwendigkeit des Denkens zu schließen ist, versucht Kant zu begründen. Mit dieser Begründung bliebe die Differenz von allgemeinem und besonde135

KrV, Β 413. Vgl. So-In Choi, Selbstbewußtsein und Selbstanschauung, Berlin/New York 1996, S. 43 ff. 137 KrV, Β 422 f. FN. 136

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rem Subjekt bewahrt. Das Ich denke müsse daher eine apriorische Wahrnehmung 1 3 8 ausdrücken, die Grundlage der Existenz des denkenden Ichs sei, ohne daß aus dem Denken mit Notwendigkeit die Existenz des denkenden Subjekts zu begründen sei. Vor aller Erfahrung soll diese unbestimmte Wahrnehmung vonstatten gehen, denn das transzendentale Subjekt kann selbst nicht Gegenstand seiner Wahrnehmung sein. Wahrnehmung bestimmt Kant in den Antizipationen der Wahrnehmung als das „empirische Bewußtsein, d.i. ein solches, in welchem zugleich Empfindung ist ( . . . ) . " 1 3 9 Die Empfindung sei aber eigentlich dasjenige, was gar nicht antizipiert werden könne, es sei denn „es finde sich doch etwas, was sich an jeder Empfindung, als Empfindung überhaupt, (ohne daß eine besondere gegeben sein mag), a priori erkennen läßt ( . . . ) . " 1 4 0 Die unbestimmte empirische Wahrnehmung sei Antizipation der Empfindung eines Realen, die dem Ich denke zu Grunde liege. Das Reale ist weder eine Erscheinung noch ein Noumenon, sondern der Begriff, der an sich selbst ein Sein bei sich führt. Soll das Ich denke weder bloßes Noumenon noch bloße Erscheinung sein, soll es weder ein reiner Gegenstand des Denkens noch bloßes Subjekt empirischer Tätigkeit sein, muß ihm ein Sein an sich selbst zugesprochen werden können. Die objektive Realität des Ich denke sucht Kant dadurch zu begründen, daß mit dem Ich denke ein dem Begriff korrespondierendes Reales vorgestellt wird, das einerseits nicht aus der empirischen Erfahrung hervorgehen kann, weil es transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, andererseits nicht bloßes Resultat des Denkens sein kann, weil das Ich denke dann unendlich wäre. Das Ich denke des endlichen, menschlichen Bewußtseins ist notwendig irreflexiv und reflexiv. Die Bestimmung der Identität von Denken und Sein im Ich denke ist transzendental, nicht metaphysisch zu verstehen. Einerseits ist der Unterschied von Denken und Sein dem Denken nicht äußerlich, sondern diesem immanent, denn er ist nur dann für das Bewußtsein, wenn er durch das Bewußtsein erkannt wird und fällt damit in das Bewußtsein. Andererseits ist der Unterschied von Denken und Sein im Denken, das notwendig dem Satz der Identität untersteht, negiert, aufgehoben. „Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satze sei empirische Vorstellung, vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens."141 138

Zum Begriff der unmittelbaren Wahrnehmung vgl. Kapitel Β. I. 2. b) Paralogismus A. 139 KrV, Β 207. 140 KrV, Β 209.

1 0 2 Β . Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die Vorstellung des Ich in dem Satz Ich denke sei rein intellektuell und dennoch soll dem transzendentalen Subjekt eine bestimmte Vorstellung als bloßer Stoff seines reinen Aktus gegeben sein. Die Indifferenz von transzendentalem und empirischem Subjekt wird somit zur Voraussetzung der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Der Grund für die notwendige Annahme der Indifferenz von transzendentalem und empirischem Ich ist, daß das transzendentale Subjekt nicht in sich subsistiert. Es läßt sich nicht als absolutes Produkt seiner selbst konstruieren, sondern bedarf eines Materials, des Realen in der Erscheinung. 142 Konstruieren ließe sich nur der Begriff von Größen 143 . Nun bestimmt Kant in den Antizipationen der Wahrnehmung das Reale in der Erscheinung als eine intensive Größe, so daß sich demnach dasjenige, was das Reale des transzendentalen Subjekts ausmacht, dem Begriff nach müßte konstruieren lassen können. Auch wenn dem denkenden Subjekt kein Mannigfaltiges außereinander, keine extensive Größe zukomme, so könne man aber der Seele „doch, so wenig wie irgendeinem Existierenden, intensive Größe, d.i. einen Grad der Realität in Ansehung aller ihrer Vermögen, ja überhaupt alles dessen, was das Dasein ausmacht, ableugnen (...), welcher durch alle unendlich vielen kleineren Grade abnehmen, und so die vorgebliche Substanz, (das Ding, dessen Beharrlichkeit nicht sonst schon fest steht,) obgleich nicht durch Zerteilung, doch durch allmähliche Nachlassung (remissio) ihrer Kräfte (...) in nichts verwandelt werden könne. Denn selbst das Bewußtsein hat jederzeit einen Grad, der immer noch vermindert werden kann ( . . . ) . " 1 4 4 Mit dieser Argumentation geht Kant über die Bestimmung der unmittelbaren Wahrnehmung des Ich (Genitivus subiectivus), wie er sie sowohl in der ersten Variante des Kapitels über den Paralogismus als auch in den Metaphysischein) Anfangsgründe(n) der Naturwissenschaft darlegt, hinaus. Die Möglichkeit der intellektuellen Anschauung, mit der die Bestimmung der unmittelbaren Wahrnehmung des Ich als Genitivus subiectivus und obiectivus unterstellt werden würde, leugnet Kant wohlweislich auch an dieser Stelle. Gleichwohl bestimmt er eine nichtempirische Wahrnehmung zur Grundlage der Existenz des Ich denke. Die Konsequenz, die aus der Annahme einer nichtempirischen Wahrnehmung als Grundlage der Existenz des Ich denke zu ziehen ist, die unmittelbare Wahrnehmung des Ich nicht bloß als Genitivus subiectivus sondern auch als Genitivus obiectivus aufzufassen, ist zwar der Kantischen Intention entgegen, seinen Nachfolgern jedoch nicht entgangen. Die Darstellung einer nichtempirischen Anschauung 141

KrV, Β 423 FN. Vgl. Kants Aussagen zur Produktion der Selbstaffektion in den §§24 und 25 der KrV, Β 150 - Β 159. 143 Vgl. KrV, Β 742. 144 KrV, Β 414. 142

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unabhängig von aller Erfahrung nennt Kant die Konstruktion eines Begriffes. Mit der Konstruktion des Begriffes wird die ihm korrespondierende Anschauung a priori dargestellt. Wird jedoch der Stoff der transzendentalen Einheit der Apperzeption zum Gegenstand der Konstruktion, läßt sich die transzendentale Einheit der Apperzeption nicht mehr von der intellektuellen Anschauung unterscheiden. Die Selbstaffektion des Ich denke wäre nicht als absolute spontane Produktion der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption aus transzendentaler Freiheit zu fassen, sondern wäre die Konstruktion ihres Gegenstandes. Die transzendentale Einheit der Apperzeption wäre dann nicht mehr leer, sondern würde zur sich selbst realisierenden, verwirklichenden Idee des Selbstbewußtseins.

e) Zur Möglichkeit der Konstruktion

einer Anschauung

Soll dem Existenzialsatz des Ich denke eine unbestimmte empirische Anschauung oder Wahrnehmung eines Realen zu Grunde liegen, so muß sich diese dem Ich denke korrespondierende Anschauung ebenso konstruieren lassen können wie sich die dem Begriff der Materie korrespondierende Anschauung konstruieren läßt. Ist die Konstruktion des Ich denke a priori in der Zeit möglich, so wird aus dem Begriff der ihm korrespondierende Gegenstand nicht bloß seiner Rechtmäßigkeit nach deduziert 145 , sondern hervorgebracht. Ist eine Konstruktion a priori nur unter der Voraussetzung eines heterogenen Materials möglich, so ist die Konstruktion nicht mehr vollständig a priori. „Zur Konstruktion eines Begriffes wird also eine nicht empirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Objekt ist, aber nichtsdestoweniger, als die Konstruktion eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung), Allgemeingültigkeit für alle möglichen Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß. So konstruiere ich einen Triangel, indem ich den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand, entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgendeiner Erfahrung geborgt zu haben, darstelle. Die einzelne hingezeichnete Figur ist empirisch, und dient gleichwohl den Begriff, unbeschadet seiner Allgemeinheit, auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung immer nur auf die Handlung der Konstruktion des Begriffs, welchem viele Bestimmungen, z. E. der Größe, der Seiten und der Winkel, ganz gleichgültig sind, gesehen, und also von diesen Verschiedenheiten, die den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahiert wird." 146 145 Zum Kantischen Begriff der Deduktion als Begründung der Rechtmäßigkeit eines Begriffs vgl. KrV, Β 116. 146

KrV, Β 741 f.

104

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die Konstruktion eines einzelnen Dreiecks ist aus dem bloßen Begriff des Dreiecks nicht möglich. Ein Dreieck ist eine ebene Figur, deren Fläche durch drei nicht auf einer Geraden liegenden Punkten und deren Verbindungsgeraden begrenzt w i r d . 1 4 7 Die Summe der drei Winkel im Dreieck ist α + β + γ = 180°. Ohne die Angabe, daß die Summe der Längen der beiden kürzeren Seiten zusammen größer ist als die längste Seite, läßt sich kein bestimmtes Dreieck konstruieren. 148 Das Verhältnis der Längen der Seiten zueinander muß zusätzlich zum Begriff des Dreiecks gegeben sein. Zur Konstruktion eines unter einen Begriff subsumierten Gegenstandes ist mehr als der bloße Begriff vorauszusetzen. Jede Konstruktion eines bestimmten Gegenstandes hat ein dem Begriff heterogenes Material zur Voraussetzung. Damit ist auch Kants Behauptung widerlegt, daß der Begriff von Größen sich konstruieren, d.i. a priori in der Anschauung darlegen lasse. Ohne alle empirische Beihilfe ist ein Dreieck nicht zu konstruieren. So kann dann weder die reine Vernunft im transzendentalen Gebrauch, noch die Mathematik als eine sich ohne Beihilfe der Erfahrung erweiternde reine Vernunft gelten. Die Konstruktion des Ich denke ist also in der Zeit allein nicht möglich, sie bedarf eines ihr heterogenen Materials, eines Realen. Das Reale als heterogenes Material muß einerseits unabhängig von aller Erfahrung vorhanden sein, ansonsten wäre das transzendentale Subjekt abhängig von etwas Empirischem, Kontingentem. Andererseits ist das Reale, wiewohl es durch eine intensive Größe bestimmt ist, kein Gegenstand der Konstruktion. Das Reale muß ein Moment haben, das selbständig gegenüber dem bestimmenden Subjekt ist, weil es sonst als heterogenes Material Resultat der Konstruktion aus einer leeren Identität wäre. Ohne diese Selbständigkeit des Materials wäre die Konstruktion nichts anderes als eine creatio ex nihilo. Die unbestimmte Wahrnehmung des Stoffes des Ich denke durch den Existenzialsatz des Ich denke geht auf ein Reales, das sich nicht in der reinen Anschauung konstruieren läßt, sondern das als notwendiges heterogenes Material erschlossen wird. Notwendig ist dieses heterogene Material, weil die transzendentale Einheit der Apperzeption nicht in sich subsistiert. Das Resultat dieses Schlusses muß dann dieselbe objektive Realität aufweisen, wie der Gegenstand der Konstruktion. 147

Vgl. F. Reinhardî /Η. Soeder, dtv-Atlas Mathematik, Bd. 1 (Grundlagen, Algebra und Geometrie), München 1998, S. 135. 148 Für die Bestimmung eines Dreiecks werden in der Mathematik deshalb zwei zu erfüllende Voraussetzungen angegeben: 1. Die Summe der Winkel in einem Dreieck ist α + β + γ = 180°. 2. Die Summe zweier Seiten eines Dreiecks ist stets größer als die dritte Seite oder b + c > a. Weil die vollständige Bestimmung eines Dreiecks sich nicht aus dem Begriff des Dreiecks konstruieren läßt, muß die Materialbedingtheit als zu erfüllende Voraussetzung in die Konstruktionsvorschrift eingehen. Vgl. /. N. Bronstein/K. A. Semendjajew, Taschenbuch der Mathematik, 25. Auflage, hrsg. v. G. Grosche, V. Ziegler u. D. Ziegler, Stuttgart/Leipzig 1991, S. 191.

I. Kant

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f) Die Idee des Selbstbewußtseins und das transzendentale Ideal Alle apodiktischen Sätze oder synthetische Urteile a priori teilt Kant in Dogmata, direkt synthetische Sätze aus Begriffen, und in Mathemata, direkt synthetische Sätze durch Konstruktion der Begriffe, ein. Weil alle Erkenntnis sich auf eine mögliche Anschauung beziehe, müsse ein zu konstruierender apriorischer Begriff eine reine Anschauung in sich enthalten. Läßt sich a priori keine dem Begriff korrespondierende reine Anschauung geben, bezieht sich der synthetische Satz auf Dinge überhaupt 149 und ist transzendental. Der transzendentale Satz ist konstitutiv für alle synthetische Einheit der empirischen Erkenntnis, konstituiert aber keine Anschauung a priori. „Nun enthält die ganze reine Vernunft in ihrem bloß spekulativen Gebrauche nicht ein einziges direkt synthetisches Urteil aus Begriffen. Denn durch Ideen ist sie, wie wir gezeigt haben, gar keiner synthetischen Urteile, die objektive Gültigkeit hätten, fähig; durch Verstandesbegriffe aber errichtet sie zwar sichere Grundsätze, aber gar nicht direkt aus Begriffen, sondern immer nur indirekt durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz Zufälliges, nämlich mögliche Erfahrung; da sie denn, wenn diese (etwas als Gegenstand möglicher Erfahrungen) vorausgesetzt wird, allerdings apodiktisch gewiß sind, an sich selbst aber (direkt) a priori gar nicht einmal erkannt werden können. So kann niemand den Satz: alles, was geschieht, hat seine Ursache, aus diesen gegebenen Begriffen allein gründlich einsehen. Daher ist er kein Dogma, ob er gleich in einem anderen Gesichtspunkte, nämlich dem einzigen Felde seines möglichen Gebrauchs, d.i. der Erfahrung, ganz wohl und apodiktisch bewiesen werden kann. Er heißt aber Grundsatz und nicht Lehrsatz, ob er gleich bewiesen werden muß, darum, weil er die besondere Eigenschaft hat, daß er seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung, selbst zuerst möglich macht, und bei dieser immer vorausgesetzt werden muß." 150 Weil der spekulative Gebrauch der reinen Vernunft zu keinem Dogma oder direkt synthetischem Urteil aus Begriffen führen könne, sei auch alle dogmatische Methode für den Philosophen unschicklich. Die Methode könne gleichwohl „immer systematisch sein. Denn unsere Vernunft (subjektiv) ist selbst ein System, aber in ihrem reinen Gebrauche, vermittelst bloßer Begriffe, nur ein System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher Erfahrung allein den Stoff hergeben kann." 1 5 1 149 Der Begriff des Dinges überhaupt ist für Kant der einzige Begriff, der den empirischen Gehalt der Erscheinungen a priori vorstellt, „und die synthetische Erkenntnis von demselben a priori kann nichts weiter, als die bloße Regel der Synthesis desjenigen, was die Wahrnehmung a posteriori geben mag, niemals aber die Anschauung des realen Gegenstandes a priori liefern, weil diese notwendig empirisch sein muß." [KrV, Β 748]. 150 KrV, Β 764 f. 1

KrV, Β 7

f.

106

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die Frage: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?" 1 5 2 , führt Kant auf den Begriff des Systems. Der Grund der Einheit des Systems des Wissens wäre nur zu bestimmen, wenn das System aus diesem Grund analytisch zu deduzieren wäre. Aus einem solchen Grundsatz ließe sich analytisch nur der Grundsatz selbst deduzieren, der dementsprechend nichts anderes als die leere Identität oder Ich = Ich wäre. Der Grundsatz wäre dann selbst bedingt durch das, was er selbst nicht ist und dessen systematische Einheit er konstituieren soll. Diese materielle Bedingung des Systems ist für Kant die Erfahrung. Sollen alle Erscheinungen nur in einer systematischen Verknüpfung zusammen bestehen können, so ist damit ein Begriff der Totalität gefordert, den Kant der Vernunft vorbehält. Ist die systematische Verknüpfung der Erscheinungen, die eine Leistung des Verstandes sein soll, abhängig vom Begriff der Totalität, dann ist der Verstand durch die Vernunft bedingt. Folgte man diesem Schluß, wäre die Restriktion des Gebrauchs der Kategorien auf mögliche Erfahrung, auf Erfahrung von kontingenten, empirischen Subjekten obsolet. Die Bestimmung der möglichen Gegenstände der Vernunft, sowie des Begriffs der Totalität ist somit für die Konsequenz, die aus der Kritik der reinen Vernunft zu ziehen ist, relevant. Ein Kriterium der Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis ist die Reproduzibilität ihrer Resultate. Die Reproduzibilität einzelwissenschaftlicher Resultate hat einen systematischen, widerspruchsfreien Zusammenhang aller partikularen Erkenntnisse zur Voraussetzung. Die Begründung der objektiven Realität dieser systematischen Einheit der Erkenntnisse fordert die Beziehung des Systems des Wissens auf ein System der Gegenstände des Wissens. 153 Würde dem System der Erkenntnis kein System der Gegenstände der Erkenntnis korrespondieren, könnte der Erkenntnis keine objektive Realität zugesprochen werden, da ohne Beziehung auf einen Gegenstand ein Wahnsystem nicht von einem System richtiger Erkenntnis zu unterscheiden ist. Der „durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ( . . . ) " 1 5 4 wird also 152

KrV, Β 22. Diese Forderung ist problematisch, weil sie die Übereinstimmung des Systems des Wissens mit dem System der Gegenstände des Wissens unterstellt. Die Einheit der Erfahrung und die Einheit der Erkenntnis sind nicht dasselbe. Wären die Gegenstände nur in der einen Erfahrung den empirischen Subjekten zugänglich, setzte die Erkenntnis dieser Gegenstände die Fähigkeit voraus, die Totalität wahrnehmen zu können. Da eine solche „Ansicht" der Totalität der Gegenstände dem endlichen Geist nicht möglich ist, hat eine jede Naturerkenntnis die Isolierung von Erscheinungen aus dem Zusammenhang aller Erscheinungen zur Voraussetzung. Nicht die Übereinstimmung aller möglichen Gegenstände der Erkenntnis in einem Erfahrungsganzen ist Voraussetzung der Reproduzierbarkeit von Partikularen, sondern die Isolierung von Partikularem ist conditio sine qua non von dessen Reproduzierbarkeit. Vgl. Kapitel D. II. 2. Natura naturata und natura naturans. Zum Verhältnis von Naturprodukt und Produktivität der Natur. 153

154

KrV, Β 603.

I. Kant

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die durchgängige materielle Bestimmtheit als Bedingung der Möglichkeit der Objektivität der Erkenntnisse der Natur entsprechen müssen. Materiale Bedingung der Möglichkeit der Erkennbarkeit von Gegenständen möglicher Erfahrung ist für Kant ihre durchgängige Bestimmtheit oder Definitheit. 1 5 5 Diese durchgängige Bestimmtheit sei nur unter der Voraussetzung eines transzendentalen Ideals als dem Inbegriff aller möglichen Prädikate möglich. Daher sei die Funktion des transzendentalen Ideals die des Urbildes für die durchgängige Bestimmung des Nachbildes nach Regeln a priori. Diese durchgängige materielle Bestimmtheit der Gegenstände möglicher Erfahrung ist für Kant nichts anderes als ein der durchgängigen Bestimmung unserer Vernunft untergelegtes transzendentales Substratum, das nichts anderes als die Idee von einem A l l der Realität sei. 1 5 6 Die Funktion des transzendentalen Ideals ist identisch mit der des transzendentalen Gegenstandes. 157 Soll dem System der Erkenntnis ein System der Gegenstände korrespondieren, so ist damit ein affirmativer Begriff der Totalität gefordert, der problematisch ist. Das System der Natur als System der Gegenstände der Erkenntnis ist ein Begriff der Totalität, der sich sowohl extensional als Menge aller geordneten Realitäten als auch intensional als Inbegriff aller Realitäten verstehen läßt. Die Extensionalität der Realitäten hat jedoch kein Prinzip der Ordnung dieser Realitäten, so daß sie im Ganzen erkannt werden müßte, um sich der durchgängigen Bestimmung einer bestimmten Erscheinung sicher zu sein. Nun ist die extensionale Bestimmung der Totalität der Gegenstände möglicher Erfahrung kein Gegenstand möglicher Erfahrung, was für die intensionale Bestimmung als Inbegriff aller Realität jedoch ebenso zutrifft. Die intensionale Bestimmung als Inbegriff aller Realität enthält aber entsprechend dem disjunktiven Vernunftschluß das Prinzip der Ordnung der Realitäten in sich, „und die durchgängige Bestimmung eines 155

Ist die durchgängige Bestimmtheit der Gegenstände möglicher Erfahrung Bedingung der Möglichkeit der Erkennbarkeit von Gegenständen, dann kann die Vernunft nicht „mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment in der anderen, an die Natur gehen, (...)" [KrV, Β XIII] und sie zur Antwort auf ihre Fragen nötigen. Die Vernunft müßte sich von der Natur am Leitband gängeln lassen. Vgl. KrV Β XII ff. 156 Ygi KrV, Β 604: „Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transzendentales Substratum zum Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes, daher alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden können, enthält, so ist dieses Substratum nichts anderes, als die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)." 157 Vgl. KrV, Β 709: „Die Vernunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kann; denn Erfahrung gibt niemals ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit."

1 0 8 Β . Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses A l l der Realität, indem Einiges derselben dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird, welches mit dem Entweder und Oder des disjunktiven Obersatzes und der Bestimmung des Gegenstandes, durch eins der Glieder dieser Teilung im Untersatze, übereinkommt." 158 Die Forderung nach der durchgängigen Bestimmtheit eines jeden Gegenstandes durch verneinende und bejahende Urteile ist zwingend, weil andernfalls der Gegenstand aufgrund einer einzigen Bestimmung, in der er nicht durchgängig gegen jeden anderen Gegenstand bestimmt ist, mit einem von diesen verwechselt werden könnte. Voraussetzung einer solchen durchgängigen Bestimmung der Gegenstände ist ein abgeschlossenes System von Relationen. Dieses System von Relationen muß abgeschlossen sein, weil ansonsten weiterhin Verwechslungen möglich wären. Diese Relationen haben zunächst nur die Form von affirmativen und negativen Urteilen. Partikulare Urteile der Form A ist A, A ist nicht Β, A ist nicht C etc. sind für die durchgängige Bestimmung eines Gegenstandes nicht hinreichend. Die partikularen affirmativen Urteile der Form A ist A sind tautologisch, insofern sie die Identität des Subjekt des Urteils mit sich selbst behaupten. Die entsprechenden negativen Urteile sind nichttautologische Urteile, die die Differenz des Subjekt des Urteils zu seinem Prädikat behaupten. Partikulare Urteile dieser Formen lassen sich in keinen logischen Zusammenhang bringen. Für die logische Bestimmung eines Gegenstandes sind demnach noch affirmative nichttautologische universale Urteile notwendig. Diese Urteile behaupten einerseits die Identität, insofern das Prädikat dem Subjekt des Urteils zugesprochen wird, andererseits behaupten sie die Unterschiede des Subjekt des Urteils, insofern die Prädikate dem Subjekt des Urteils nicht zugesprochen werden. 1 5 9 Diese Form des Urteils ist im disjunktiven Vernunftschluß enthalten, den Kant als Voraussetzung der logischen Bestimmung eines Begriffes angibt. Das Argument hierfür lautet, daß erst in der Beziehung auf einen Obersatz oder ein gemeinsames Subjekt die systematische Übereinstimmung voneinander unterschiedener partikularer Urteile möglich ist. Ohne diese Beziehung auf ein gemeinsames Subjekt können alle partikularen Urteile nur gleichgültig nebeneinander bestehen. Das transzendentale Ideal ist als erstes Subjekt der Prädikation, d.h. als gemeinsames Subjekt aller möglichen Urteile, Voraussetzung des Widerspruchs zwischen verschiedenen Bestimmtheiten. 160

158

KrV, Β 605. Vgl. P. Bulthaup, Idealistische und materialistische Dialektik, in: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte, Lüneburg 1998, S. 129. 160 Für Kant gibt es nur die 1. Substanz, das transzendentale Ideal, so daß dieser einen Substanz alle möglichen Unterschiede differenzlos zu- oder abgesprochen werden. Das transzendentale Ideal als gemeinsames Subjekt aller möglichen affirmativen und negativen Urteile ist dementsprechend der Inbegriff des Widerspruchs. 159

I. Kant

109

Wäre das transzendentale Ideal oder die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen notwendige Bedingung der distributiven Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes, wäre die Erkenntnis partikularer Sachverhalte nur unter der Voraussetzung der Erkenntnis des Universalzusammenhangs möglich. Die Forderung der durchgängigen Bestimmung eines Gegenstandes durch Aufzählung seiner Prädikate läßt sich von endlichen empirischen Subjekten nicht erfüllen. Wissenschaft zu betreiben wäre dann den empirischen Subjekten nicht möglich. Gelöst ist diese Schwierigkeit jedoch darüber, daß etwas erkannt werden kann, was zwar die Möglichkeit der Erfahrung eines jeden Subjekts transzendiert, ohne daß daraus die Erkenntnis der Totalität aller Gegenstände folgt oder vorausgesetzt ist. Eine Möglichkeit der Erkennbarkeit partikularer Sachverhalte ist die, daß die Welt nicht als Totalität gegeben, sondern, als in Gegenstandsbereiche eingeteilt, geordnet sei. Ein Modell der Ordnung der Gegenstandsbereiche ist die arbor porphyriana. Implizit ist durch die systematische Ordnung nach genus proximum und differentia specifica die Totalität enthalten, ohne daß dadurch alle Gegenstandbereiche in der, einen Gegenstandsbereich wesentlich bestimmenden, differentia specifica explizit gegeben wären. Ein anderes Modell ist die Folge der natürlichen Zahlen. Der Begriff des Unendlichen ist bei Anselm von Canterbury 161 der des Absoluten als dasjenige, über dem nichts Größeres gedacht werden könne. Dieser Begriff des Unendlichen ist ein spekulativer Begriff, der aus der potentiell unendlichen Reflexion erschlossen wird. Die Vorstellung eines unendlichen Progresses folgt nicht schon aus der Zahlenreihe, in der man je einen Schritt über die gegebene Zahl hinausgeht. Erst das Bewußtsein der prinzipiellen Nichtabschließbarkeit der Wiederholung des gleichen Schrittes ergibt die Vorstellung einer transfiniten Menge. Dieses Bewußtsein kann in keinen der einzelnen Schritte fallen, die allesamt nur endlich sind und jeder immer nur einen Schritt weitergeht. Die Vorstellung einer transfiniten Menge ist die Vorstellung der vollständigen unendlichen Folge. Es ist also keine empirische Vorstellung und deshalb wesentlich von dem verschieden, woraus er gewonnen wurde, nämlich aus dem einfachen Immer-Eins-Weiterzählen. Die Konstruktion der unendlichen Folge der natürlichen Zahlen erfolgt nach der Regel der Bestimmung der nachfolgenden Zahl zu einer schon erzeugten Zahl. Weil diese Regel allgemein, für alle möglichen Zahlen gilt, steckt in dieser Regel selbst die uneingeschränkte Wiederholbarkeit der Regel und hat damit die nicht abbrechende Folge der Zahlen zum Resultat. Eines ist das System allein im Prozeß seiner Hervorbringung. Sobald das System als Produkt betrachtet wird, zerfällt es in partikulare Gegenstände und deren Gesetzmäßigkeit. 162 161

Vgl. Anselm von Canterbury , Proslogion, Lateinisch-Deutsche Ausgabe von P. Franciscus Salesius Schmitt O. S. B., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, Kap. 2, S. 85 ff., Kap. 15, S. 111.

1 1 0 Β . Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die Konsequenz der durchgängigen Ordnung der Erscheinung nach den Kategorien der Kausalität und Wechselwirkung ist ein affirmativer Begriff der Totalität, so daß in der Bestimmtheit eines einzelnen Gegenstandes zugleich die Totalität der Bestimmtheiten aller anderen Gegenstände gegenwärtig sein müßte. Diese kollektive Einheit des Erfahrungsganzen ist selbst kein Gegenstand möglicher Erfahrung, sondern eine Reflexionsbestimmung, die jedoch keine willkürliche Idee, sondern als notwendige Bedingung der Einheit und Widerspruchsfreiheit von Gesetzen in ihrer Anwendung auf Gegenstände möglicher Erfahrung erschlossen ist. Das transzendentale Ideal ist Resultat eines spekulativen Schlusses, der der Form des ontologischen Gottesbeweises analog ist. Der Inbegriff aller Realität ist somit ein der höchsten Realität analoger Begriff. Als höchste, oberste und vollständige Realität ist es das, über dem nichts Größeres könne gedacht werden, und muß folglich die Realität seiner selbst einschließen. Würde das höchste Wesen oder der Inbegriff aller Realität die Realität seiner selbst nicht einschließen, wäre es widersprüchlich bestimmt, denn es enthielte alle Realität und zugleich enthielte es nicht alle Realität. Mit dem Schluß auf die höchste Realität und deren Einschränkung gemäß dem disjunktiven Vernunftschluß soll noch bei Kant die Objektivität aller Erkenntnis garantiert werden. Voraussetzung dieser Einschränkung des Inbegriffs der Realität ist ein affirmativer Begriff der Totalität, der in sich widersprüchlich ist. Als Inbegriff aller Realität ist es reines Sein und nicht Nichts, das aber in seiner Bestimmungslosigkeit vom Nichts nicht zu unterscheiden ist. Dieser Widerspruch macht den Begriff des Absoluten kritikabel und ist zugleich die adäquate Bestimmung des Absoluten. Das Absolute ist einerseits, in der Bestimmung des Schöpfers, die oberste Einheit, andererseits ist der in seinem Begriff enthaltene Widerspruch das Movens der Schöpfung des von ihm Unterschiedenen. Das Absolute als Grund der Einheit des Systems ist vom erkennenden Subjekt weder bloß affirmativ, noch bloß negativ zu bestimmen. Würde das Absolute als Grund der Einheit des Systems rein negativ bestimmt werden, so würde damit die Möglichkeit der Einheit des Systems und damit das System selbst negiert werden. Würde das Absolute rein affirmativ bestimmt werden, so hätte das zur Folge, daß jede Realität vernünftig sei. Mit der Vernünftigkeit jeder Realität wäre nicht nur die Möglichkeit des Irrtums in der Erkenntnis, sondern auch das Kriterium der Kritik des Daseienden suspendiert. Der Unterschied zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie ist zwingend, weil ansonsten das Daseiende zugleich das Seinsollende wäre. Die Differenz zwischen Daseiendem und Seinsollendem läßt sich aus der Inkonsistenz des Systems erschließen. Die 162 ygi ρ Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Lüneburg 1996, S. 86.

II. Schelling

111

Inkonsistenz des Systems erscheint daher als Bedingung der Möglichkeit der Freiheit zur K r i t i k . 1 6 3

I I . Schelling 1. Die Konstruktion und Produktion des Systems des Wissens „Was ist denn nun also jenes Ich, dem seine Handlungen, obgleich sie frei sind, doch als Folgen eines nothwendigen Zusammenhangs von Ursachen und Wirkungen erscheinen? Offenbar ein Wesen, das seinen Handlungen selbst eine äußere Sphäre gibt, das sich selbst erscheint, für sich selbst und durch sich selbst empirisch wird (...)." 164 Die Begründung der objektiven Realität des Wissens versucht Schelling aus dem Prinzip des Wissens als Konstruktion und Produktion des Systems des Wissens zu deduzieren. Zur Konstruktion und Produktion seines Systems des Wissens stützt Schelling sich auf verschiedene in der Kritik der reinen Vernunft angelegte Bestimmungen. Für Schellings System des transzendentalen Idealismus sind dabei zentral: 1. die Identität von transzendentaler Einheit der Apperzeption und dem ihr korrespondierenden transzendentalen Gegenstand 165 , die Kant in allen Varianten seiner Argumentation ebenso beständig wie notwendig zerfällt, und 2. die in den Begriffen der Selbstaffektion und der intellektuellen Anschauung 166 , die Schelling als Or163

Vgl. T. Streichen, Von der Verkehrung der Freiheit: Eine Studie zu Kant und den Bedingungen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Kap. 4.3 Der Widerspruch in der Einheit des Systems, Diss., Hanover 2002. 164 ρ ψ j Schelling , Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, Schellings Werke Erster Band, hrsg. ν. M. Schröter, S. 321, SW I, S. 397. 165 Vgl. KrV, A 109. 166 Die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung leugnet Kant. Die Anschauung ist für Kant sinnlich, weil sie nicht ursprünglich ist, d.h. nicht konstitutiv für das Dasein der Objekte der Anschauung ist. [Vgl. KrV, Β 68, Β 72] Aus der logischen Möglichkeit eines Begriffs, seiner Widerspruchsfreiheit, sei, da dem Begriff ein Gegenstand korrespondiere, die transzendentale Möglichkeit der Dinge nicht zu begründen. [Vgl. KrV, Β 148 f., Β 159, Β 303] Ohne Beziehung auf einen Gegenstand sei die objektive Realität keines Begriffs möglich. „Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen. Ist die Art dieser Anschauung auf keinerlei Weise gegeben, so ist der Gegenstand bloß transzendental, und der Verstandesbegriff hat keinen anderen, als transzendentalen Gebrauch, nämlich die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt. (...) der bloß transzendentale Gebrauch also der Kategorien ist in der Tat gar kein Gebrauch, und hat keinen bestimmten, oder auch nur, der Form nach, bestimmbaren Gegenstand." [KrV Β 304] Anders als im bloß logischen Gebrauch, sei die Anwendung der Begriffe auf einen Gegenstand überhaupt problematisch: „Wenn wir bloß logisch reflektieren, so vergleichen wir lediglich unsere Begriffe untereinander im Verstände, ob beide eben dasselbe enthalten, ob sie sich widersprechen oder nicht, ob etwas in

1 1 2 Β . Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

gane der Konstruktion und Produktion darlegt, angelegte Übereinstimmung des Begriffs des transzendentalen Subjekts mit dem Begriff der Materie als dem transzendentalen Objekt einerseits und dem empirischen Subjekt andererseits. Mit dieser Gemeinschaft der transzendentalen Einheit der Apperzeption mit der Materie sieht Schelling die Möglichkeit gegeben, reine Verstandesbegriffe nicht bloß auf Erscheinungen 167 , sondern auch auf das dem Begriffe innerlich enthalten sei, oder zu ihm hinzukomme, und welcher von beiden gegeben, welcher aber nur als ein Art, den gegebenen zu denken, gelten soll. Wende ich aber diese Begriffe auf einen Gegenstand überhaupt (im transzendentalen Verstände) an, ohne diesen weiter zu bestimmen, ob er ein Gegenstand der sinnlichen oder der intellektuellen Anschauung sei, so zeigen sich sofort Einschränkungen (nicht aus diesem Begriffe hinauszugehen), welche allen empirischen Gebrauch derselben verkehren, und eben dadurch beweisen, daß die Vorstellung eines Gegenstandes, als Dinges überhaupt, nicht etwa bloß unzureichend, sondern ohne sinnliche Bestimmung derselben, und, unabhängig von empirischer Bedingung, in sich selbst widerstreitend sei, daß man also entweder von allem Gegenstande abstrahieren (Logik), oder, wenn man einen annimmt, ihn unter Bedingungen der sinnlichen Anschauung denken müsse, mithin das Intelligible eine ganz besondere Anschauung, die wir nicht haben, erfordern würde, und in Ermangelung derselben für uns nichts sei (...)." [KrV, Β 335] Die Vorstellung eines Objekts überhaupt sei nicht Gegenstand der intellektuellen Anschauung. In der Vorstellung des Ich denke als das Subjekt der Gedanken werde von jeder Anschauung abgesehen, „ich denke mich nur wie ein jedes Objekt überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahiere." [KrV, Β 429]. 167 Vgl. Geschichte, S. 153, SW X, S. 83: „Kants Kritik ist aber vorzüglich durch die Behauptung berühmt geworden, daß die Verstandesbegriffe (oder, wie er mit dem von Aristoteles entlehnten Wort, sie nennt, die Kategorien) auf das Übersinnliche nicht anwendbar seyen; damit glaubt Kant aller Metaphysik, inwiefern sie auf eine Erkenntnis des Übersinnlichen geht, ein Ende gemacht zu haben. Allein er hat hierin mehr gethan, als er wollte. Denn wenn es mit jener Nichtanwendbarkeit der Verstandesbegriffe auf das Übersinnliche seine Richtigkeit hat, so folgt, daß das Übersinnliche nicht nur nicht zu erkennen, sondern daß es auch nicht einmal zu denken ist. Dadurch geräth aber Kant in einen Widerspruch mit sich selbst. Denn wenigstens die Existenz des Übersinnlichen leugnet er ja selbst nicht, und setzt es bei seiner Construktion der Erfahrung selbst voraus. Denn was ist doch eigentlich jenes Ding an sich, wie er es nennt? Ist es nicht auch ein Übersinnliches? Zum wenigsten ist es doch ein Außer- und Unsinnliches. Als solches kann es aber nur zweyerlei seyn, entweder etwas über, oder das unter der Erfahrung ist. Unter der sinnlichen Erfahrung wäre es, wenn es als bloßes hypokeimenon, bloßes Substrat, als reine Materie ohne alle aktuelle Eigenschaft (die es erst in der sinnlichen Anschauung erhält) gedacht würde. Der Begriff Substrat ist aber von dem Begriff Substanz nicht verschieden. Da hat er also etwas außer der sinnlichen Erfahrung Liegendes, das er genöthigt ist als Substanz zu bestimmen. Oder will er es Übersinnliches denken. Hier würde sich zuerst fragen: wie dieses Übersinnliche sich von dem Übersinnlichen der anderen Art, das Kant immer wenigstens als Gegenstand unseres Erkenntnisbestrebens darstellt, wenn er gleich leugnet, daß es wirklich erkannt zu werden vermöge, wie es sich zu jenem Übersinnlichen, das Kant in Gott, in der menschlichen Seele, in der Freiheit des Willens u.s.w. erkennt, wie es sich zu diesem verhalte."

II. Schelling

113

transzendentale Subjekt anzuwenden 168 und dergestalt die objektive Realität des Wissens als die ursprüngliche Einheit und Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstand zu garantieren. 169 Die zuerst genannte Referenz auf Kant, die Identität von transzendentaler Einheit der Apperzeption und transzendentalem Gegenstand dient Schelling zur Bestimmung von Form und Materie der Wissenschaft des Wissens als dem Substrat der Philosophie, welches die Taube 1 7 0 vor dem spekulativen Absturz bewahren soll. Die Identität von transzendentaler Einheit der Apperzeption und transzendentalem Gegenstand sei die ursprüngliche Identität des Wissens mit dem Gegenstand des Wissens. Die Begründung dieser ursprünglichen Identität zwischen dem Wissen und seinem Gegenstand erfolge vermittelst der intellektuellen Anschauung. 171 In der intellektuellen Anschauung soll sich das transzendentale Subjekt selbst zum Objekt werden. Die absolute Selbsttätigkeit des transzendentalen Subjekts sei das Vermögen, sich zu sich selbst wie zu einem leidenden Objekt zu verhalten. Dieses Handeln des Ich auf sich selbst als leidendes Objekt, welches, mit Kant gesprochen, „eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit ( . . . ) " 1 7 2 sei, sei eine Selbstanschauung unter der Form des inneren Sinnes oder Selbstaffektion. Die Wirkung des Verstandes auf seine Sinnlichkeit ist für Schelling unproblematisch, weil er die Form der Anschauung des inneren Sinnes nicht von der Bedingung der Möglichkeit der Handlung der Synthesis unterscheidet. Werden die von Kant unterschiedenen Vorstellungen der Zeit als Form der Anschauung des inneren Sinnes, in der sich ein empirisches Subjekt selbst gegeben ist, und als Bedingung der Möglichkeit der Handlung der Synthesis unter einen Begriff der Zeit subsumiert, ist die Bedingung der Möglichkeit der Handlung der Synthesis zugleich die Form der Anschauung des inneren Sinnes und damit der Selbstanschauung des inneren Sinnes. Die transzendentale Einheit der Apperzeption wäre dann von der intellektuellen Anschauung nicht zu unterscheiden. 173

168

Vgl. KrV, Β 152 ff. und Β 176 ff. Vgl. /. Görland, Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt/M. 1973, S. 119. 170 Vgl. KrV, Β 9 und Kapitel Α. I. Kant und Fichte zu einer möglichen Wissenschaft des Wissens. 171 Vgl. F. W. J. Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, S. 290, SW I, S. 366: „Nur in der Selbstanschauung eines Geistes also ist Identität von Vorstellung und Gegenstand. Also müßte sich, um jene absolute Uebereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand, worauf die Realität unseres ganzen Wissens beruht, darthun zu können, erweisen lassen, daß der Geist, indem er überhaupt Objekte anschaut, nur sich selbst anschaut. Läßt sich dies erweisen, so ist die Realität unseres Wissens gesichert." 172 KrV, Β 152. 173 Vgl. Kapitel Β. I. 2. c) Deduktion B. 169

8 Gerhard

114

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Mit der Interpretation der Begriffe der Selbstaffektion und der intellektuellen Anschauung soll der Beziehungsgrund von transzendentalem und empirischem Ich als absoluter Grund ihrer Identität bestimmt werden. Die Setzung dieser Identität von transzendentalem und empirischem Ich hat die Transformation der funktionellen Einheit des Selbstbewußtseins zum realen Selbstbewußtsein zur Folge. 1 7 4 Resultat dieser Transformation soll die faktische Deduktion der objektiven Realität aus dem Prinzip des Wissens sein. Dieser Prozeß erfolgt auf dem Wege der Konstruktion, die nichts anderes verlangt als dem Begriff ein Beispiel in concreto herbeizuschaffen 175 oder das ideelle Ich für sich reell werden zu lassen. „Das Selbstbewußtseyn ist in seinem Princip bloß ideell, aber durch dasselbe entsteht uns das Ich als bloß reell." 176 Das Prinzip der philosophischen Konstruktion sei die reine Handlung des Ich, die gemeinschaftliche Funktion des Gemüts die mannigfaltigen Vorstellungen zur Einheit zu bringen. 1 7 7 Diesen Akt des transzendentalen Subjekts sucht Schelling im Anschluß an Kant als Grund aller möglichen Realität so zu bestimmen, daß mit der Handlung das Ich aus seinem Prinzip heraustritt. Durch den Akt der Selbstaffektion, den Kant im § 24 der Kritik der reinen Vernunft als diejenige Handlung des Verstandes „aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist ( . . . ) " 1 7 8 bestimmt, sieht Schelling die reflexive Einheit von transzendentalem und empirischem Subjekt begründet. Kant beschränkt jedoch im § 25 der Kritik der reinen Vernunft die Selbstaffektion als Selbstanschauung unter der Form des inneren Sinnes auf das empirische Subjekt. Das transzendentale Subjekt als der Begriff der Selbsttätigkeit empirischer Wesen könne sich seines Daseins nicht vermittelst einer Anschauung bewußt werden. 179 Schelling hingegen faßt die intellektuelle Anschauung als einem transzendentalen Schema analog auf. Der Übergang von der transzendentalen Reflexion zur empirischen Reflexion sei durch die intellektu174

Zur Indifferenz von empirischem und transzendentalem Ich vgl. I. Görland, Die Entzweiung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt/M. 1973, S. 115. Für I. Görland führt die Indifferenz von empirischem und transzendentalem Ich auf die Gleichursprünglichkeit „der konkreten Fülle subjektiver Wahrnehmungen (...)" [ebd.] und „der Objektivität und Allgemeingültigkeit des Erkennens (...)." [Ebd.] „Indem aber nach Schelling die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Vorstellungsfolge durch ihr Einsichtigwerden im Nachvollziehen ihres Entstehensmechanismus aufgezeigt werden soll, wird der Unterschied von Wahrnehmung und Erfahrung, sowie die Verbindung von Erfahrung und objektiver Gültigkeit hinfällig." [/. Görland, S. 118]. 175 Vgl. MAdN, S. 478. 176 System, S. 390, SW III, S. 390. 177 Vgl. KrV, A 109. 178 KrV, Β 153. 179

Vgl. KrV, Β 158.

II. Schelling

115

elle Anschauung als Versinnlichung des Intellekts vermittelt. Die Funktion der intellektuellen Anschauung wäre demnach die des Schemas der Relation von transzendentalem und empirischem Subjekt. Das transzendentale Schema ist eine Vorstellung „von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen ( . . . ) . " 1 8 0 Dieses reine Vermittelnde, das einerseits intellektuell, andererseits sinnlich ist, ist ein Handeln nach Regeln oder in der Darstellung Schellings ein „Mechanismus des Geistes ( . . . ) " 1 8 1 . Der Existenzgrund des im Schema Dargestellten fällt in das Denken, so daß das im Schema Dargestellte somit Resultat einer bestimmten Synthesis der Einbildungskraft ist. Die Bedeutung eines solchen Schemas bestimmt Kant als „eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Räume ( . . . ) . " 1 8 2 Eine reine Gestalt im Raum kann weder Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, noch einer reinen Anschauung sein. Eine Gestalt im Raum kann nur eine äußerliche Erscheinung und damit Gegenstand sinnlicher Anschauung sein. Eine reine Gestalt hingegen kann nur Gegenstand einer reinen Anschauung sein, die lediglich auf die Form, unter der etwas vorgestellt wird, geht. In der reinen Anschauung ist die Synthesis der reinen Mannigfaltigkeit nach einer Regel zugleich die Konstruktion des dieser Regel entsprechenden Gegenstandes der Anschauung. Die reine Vernunft bringt demnach ihren Gegenstand nach Regeln hervor, so daß die objektive Realität der Gegenstände der reinen Anschauung Resultat oder Produkt der Tätigkeit der reinen Vernunft ist. Die „Evidenz der sinnlichen Anschauung ( . . . ) " 1 8 3 läge allein im vorstellenden Bewußtsein und sei allein durch eine Tätigkeit des Ich zu erklären. Anders als Schelling restringiert Kant den Gebrauch des transzendentalen Schemas auf die Vermittlung der Erscheinungen mit den reinen Verstandesbegriffen. Prinzipien der reinen Vernunft hingegen könnten nicht konstitutiv sein, „weil ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann, und sie also keinen Gegenstand in konkreto haben können." 1 8 4 Die Idee der Vernunft sei zwar ein Analogon zu einem Schema der Sinnlichkeit, weise jedoch den Unterschied auf, „daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Schema der Vernunft nicht ebenso eine Erkenntnis des Gegenstandes selbst ist (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnlichen Schemate), sondern nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs." 185

180 181 182 183 184 185

8*

KrV, Β 179 f. System, S. 394, SW III, S. 394. KrV, Β 180. System, S. 428, SW III, S. 428. KrV, Β 692. KrV, Β 693.

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B. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Der absolute Grund der Realität alles Wissens sei die ursprüngliche Einheit von urteilendem Subjekt und Subjekt des Urteils. Diese von Fichte wie von Schelling unterstellte Identität des Ich als Subjekt und Substanz 186 bedeutet für Kant jedoch „die Subreption des hypostasierten Bewußtseins (.. . ) " 1 8 7 , in der „die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken ( . . . ) " 1 8 8 gehalten werde. Die Indifferenz von kollektivem und individuellem Bewußtsein wird von Schelling absolut gesetzt, so daß alles das, was Gegenstand meines Bewußtseins sein kann, gleichermaßen Gegenstand jedes Bewußtseins sein können muß. Die identische Struktur der individuellen Bewußtseine wird Schelling zur Substanz des kollektiven Bewußtseins. Durch eine solche Substantialisierung wird das transzendentale Subjekt rezeptiv. Der Geist wird zur Materie, die Resultat eines allen Subjekten gemeinsamen Prozesses sei. Mit der Konstruktion wird die Indifferenz von empirischem und transzendentalem Subjekt überführt in die Indifferenz von empirischem und transzendentalen Gegenstand. Dem entsprechend werde nicht der Geist aus der Materie, sondern die Materie werde aus dem Geist geboren. 189 Entsprechend der Antizipation der Wahrnehmung ist eine stufenartige Veränderung vom empirischen zum reinen Bewußtsein möglich, weil das Reale in der Empfindung eine intensive Größe ist. Als Größe ist das Reale, gemäß der Kantischen Bestimmung, Gegenstand einer Konstruktion. Schelling zieht daraus die Konsequenz, daß das stete Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und dem ihm korrespondierenden Realen Resultat einer Konstruktion sein müsse. Die stufenartige Veränderung vom reinen zum empirischen Bewußtsein sei der Prozeß der intellektuellen Anschauung. 190

186

Die von Schelling behauptete absolute Identität von Subjekt und Substanz bezeichnet W. Bonsiepen als „ein Spinozismus der Transzendentalphilosophie (...)", der dem „Spinozismus der Physik (...)" [Einleitung, S. 273, SW III, S. 273] notwendig vorangehe. [W. Bonsiepen, Schellings und Hegels Evolutionstheorie, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 368]. Für K.-J. Grün ist das Verhältnis zwischen Natur- und Transzendentalphilosophie, zwischen Spinozismus der Physik und „Spinozismus des Geistes (...)" [Grün (1993), S. 162] schon durch das Identitätssystem begründet. Vgl. K.-J. Grün, Das Erwachen der Materie. Studie über die spinozistischen Gehalte der Naturphilosophie Schellings, Hildesheim/Zürich/New York 1993, S. 160. 187 KrV, A 402. 188 KrV, A 402. 189 yg| ρ ψ j Schelling , Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, S. 297 f., SW I, S. 373 f. 190 Das Argument des transzendentalen Idealismus findet auch im Neukantianismus seine Verwendung. Bei Cohen soll das Infinitesimale den Übergang vom Formalen zum Realen vermitteln. Vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Werke Bd. 6, hrsg. v. Hermann-Cohen-Archi ν am Philosophischen Seminar der Universität

II. Schelling

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a) Zur Einheit von Substanz und Subjekt, transzendentaler Einheit der Apperzeption und transzendentalem Gegenstand oder die Bestimmung von Idealität und Realität des Wissens als allgemeine Deduktion des transzendentalen Idealismus Voraussetzung einer jeden Wissenschaft ist, das sie einen Gegenstand hat. Wird das Wissen überhaupt zum Gegenstand, so muß auch dem Wissen überhaupt ein Gegenstand korrespondieren, der dann selbst wiederum nur ein Gegenstand überhaupt sein kann. Dieser Gegenstand überhaupt oder die Materie des Wissens ist einerseits ideell, d.h. nur für das Selbstbewußtsein, andererseits muß er reell sein, sofern er einen vom Selbstbewußtsein unterschiedenen Existenzgrund haben soll. Beide Bestimmungen des Gegenstandes überhaupt als ideelle und reelle Materie des Wissens versucht Schelling aus dem Selbstbewußtsein zu deduzieren. 191 Der faktische Beweis der Idealität des Wissens sei durch die Deduktion des ganzen Systems des Wissens aus dem Prinzip zu führen. Das Beweisziel der Deduktion ist, daß das Ich das Prinzip des Wissens und aller Realität sei. Die Beweisführung des transzendentalen Idealismus ist die vollständige Darlegung des Mechanismus des Entstehens der Welt aus dem inneren Prinzip der geistigen Tätigkeit. 1 9 2 Durch deren Mechanismus sei die Entwicklung der Welt ohne äußere Affektion, allein aus dem reinen Selbstbewußtsein zu erklären. Der transzendentale Idealismus nimmt für sich in Anspruch, den Hiatus zwischen Sein und Wissen aufgehoben zu haben. Der allgemeine Beweis des transzendentalen Idealismus nimmt seinen Ausgang in dem Satz, daß allein durch den Akt des Selbstbewußtseins das Ich sich selbst zum Objekt werde. Zweierlei sei aus diesem Satz abzuleiten. Erstens, daß das Ich nur Objekt für sich selbst ist und zweitens, daß das Ich zum Objekt wird. 193 Ersteres geht auf die Identität von transzendentalem Selbstbewußtsein und transzendentalem Gegenstand, letzteres auf den Prozeß der Selbstaffektion. Ist das Ich ausschließlich Objekt für sich selbst, so kann es konsequenterweise nicht Objekt für ein Anderes sein. Objekt zu sein für ein Äußeres setzt Schelling analog mit der Rezeptivität einer Einwirkung von außen, so daß das Objektsein immer eine Tätigkeit des zum Objektmachens voraussetze. Da das Ich als Ich aber für alles Äußere kein Objekt, also nichts sei, könne auch nichts Äußeres auf es einwirken. 1 9 4 Ohne eine ihm äußerliche Einwirkung sei das Ich aber nur dann nicht leere Identität, wenn Zürich unter der Leitung von H. Holzhey, Hildesheim/New York 1977, S. 34 f., 123 ff., 132 ff. 191 Vgl. System, S. 385, SW III, S. 385. 192 Vgl. System, S. 378, SW III, S. 385. 193 Vgl. System, S. 380, SW III, S. 380. 194 Vgl. System, S. 380, SW III, S. 380.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

die Möglichkeit aufgezeigt werden könne, wie das Ich als Ich sich selbst zum Gegenstand werden könne. Daraus und aus der Unterstellung, daß das Objektsein immer einer Tätigkeit bedürfe, schließt Schelling auf den Akt der Selbstaffektion des Ich als Bedingung der Möglichkeit der Realität des Ich. In der Selbstaffektion fallen Subjekt und Objekt der Tätigkeit in Eines, so daß sich als Grund des nur für sich selbst Objektseins die absolute Spontaneität des Ich darstellt. Durch die absolute Spontaneität wird das Ich Objekt. Die zweite Variante des Ausgangssatzes des allgemeinen Beweises des transzendentalen Idealismus hebt das Werden, den Prozeß des zum Objektwerdens hervor. Wird das Ich erst Objekt, so ist es ursprünglich das NichtObjektive. Auf diesen Satz und die Behauptung, daß alles Objektive etwas Ruhendes, Fixiertes sei 1 9 5 , gründet Schelling seinen Beweis der absoluten Spontaneität oder ursprünglichen Tätigkeit des Ich. Ist das Ich ursprünglich das Nicht-Objektive und alles Objektive ruhend, dann müsse das Ich ursprünglich, d.h. bevor es zum Selbstbewußtsein wird, bloße Tätigkeit sein. Tatsächlich ist die absolute Spontaneität oder die transzendentale Freiheit die absolute Bedingung der Deduktion des Selbstbewußtseins. Weil weder Fichte noch Schelling die Gegebenheit von etwas voraussetzen möchten, vielmehr jedes Sein deduziert wissen möchten, ist die reine Tätigkeit als absolute Spontaneität die notwendige Bedingung ihrer Wissenschaft des Wissens. Was das ursprüngliche Ich, das (noch) kein bestimmtes Selbstbewußtsein ist, zum Ich bestimmt, gibt Schelling hier nicht an. Um den Prozeß der Entstehung des Selbstbewußtseins erklären zu können, muß Schelling das Ich in ein ursprüngliches, nicht sich selbst bewußt seiendes Ich, und dem sich selbst zum Objekt werdenden Selbstbewußtsein unterscheiden. Andererseits können beide Ich nicht vollständig voneinander geschieden sein, denn dann würde das Selbstbewußtsein durch eine ihm äußere Affektion, der Tätigkeit des ursprünglichen Ich, das eigentlich kein Ich ist, hervorgebracht werden. Diese Tätigkeit des ursprünglichen Ich müsse unendlich, d.h. für Schelling unbedingt sein, denn als das ursprünglich NichtObjektive sei das ursprüngliche Ich selbständiger, absoluter Grund aller endlichen, weil als Gegenstände möglicher Erkenntnis fixierten Objekte. „Ist das Ich ursprünglich unendliche Tätigkeit, so ist es auch Grund - und Inbegriff aller Realität. Denn läge ein Grund der Realität außer ihm, so wäre seine unendliche Thätigkeit ursprünglich eingeschränkt." 196 195

Den Beweis dafür, daß alles Objektive ein Fixiertes, ein Ruhendes sei, führt Schelling in der Deduktion des transzendentalen Idealismus. In der Vereinigung entgegengesetzter Tätigkeiten des Selbstbewußtseins entstehe ein gemeinschaftliches Produkt, das Objekt des Bewußtseins. Daß etwas überhaupt zum Objekt werde, habe seinen Grund in der Fixierung der entgegengesetzten Tätigkeiten des Ich. Das Beweisziel wird hier zur Begründung seines eigenen Beweisgrundes, der absoluten Spontaneität des Ich, herangezogen. 196

System, S. 380, SW III, S. 380.

II. Schelling

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In seiner Funktion, Inbegriff aller Realität zu sein, ist das transzendentale Subjekt vom transzendentalen Ideal nicht zu unterscheiden. Als unendliche Tätigkeit sei das Ich Grund aller Realität, das reine Produzieren seiner Objekte. Zu seinen Objekten werden diese Produkte jedoch nicht durch die bloße Produktion oder das Produzieren des Ich, sondern dadurch, daß sie Gegenstände eines Selbstbewußtseins, Produkte des Ich sind. Daß etwas zum Objekt wird, setzt immer schon Selbstbewußtsein voraus. Bedingung des Selbstbewußtseins sei aber, daß die ursprünglich unendliche Tätigkeit des Ich sich selbst zum Gegenstand, zum Objekt werde. Das reine Produzieren müßte selbst ein Produkt werden. Damit also das Ich Objekte produzieren könne, müsse es selbst Produkt, mithin endlich sein. Der Grund aller Realität wäre dann nicht absolute Spontaneität, sondern selber abhängig von etwas anderem. Um für sich selbst zu entstehen, Selbstbewußtsein zu werden, muß die absolute Spontaneität sich selbst beschränken. Indem das Ich sich selbst begrenze, werde es sich selbst überhaupt erst Etwas. Die Selbstbegrenzung des Ich und das Setzen des Ich als Selbstbewußtsein sind damit bestimmt als Eines. Die Einschränkung der ursprünglich unendlichen Tätigkeit ist Negation der absoluten Realität. Die Begrenzung des Produzierens des ursprünglichen Ich müsse demnach ein dem Ich Entgegengesetztes voraussetzen. Soll die ganze Welt aus dem reinen Selbstbewußtsein, ohne äußere Affektion deduziert werden, dann kann Schelling dieses dem Inbegriff aller Realität Entgegengesetzte nur aus dem Ich selbst erklären. 197 Das ursprünglich Entgegengesetzte des Ich habe seinen Ursprung in der Handlung des Selbstsetzens, ohne welche es Nichts sei. Mit dem Akt des sich Selbstsetzens entstehe dem Ich überhaupt ein Entgegengesetztes, ein Objekt. Das Entgegengesetzte, das Nicht-Ich, könne demnach nicht als Erklärungsgrund der Handlung fungieren, durch welche das Ich für sich selbst endlich werde. Die Endlichkeit des Ich sei allein aus der Unendlichkeit des Ich zu erklären. Erklärungsgrund des Bedingten sei das Unbedingte, das Absolute. Allein aus dem Ich als absolutem Prinzip des Wissens sei das Ich als sein Prinzipiatum, als ein System des Wissens faktisch zu deduzieren. Mit dem Vollzug der Deduktion werde das aus dem absoluten Ich, dem transzendentalen Subjekt, konstruierte endliche Ich zum empirischen Subjekt. „Der Dogmatiker erklärt die Endlichkeit des Ichs unmittelbar aus dem Beschränktseyn durch ein Objektives; der Idealist muß seinem Princip zufolge die Erklärung umkehren. Die Erklärung des Dogmatikers leistet nicht, was sie verspricht. Hätten sich, wie er voraussetzt, das Ich und das Objektive ursprünglich in die Realität gleichsam getheilt, so wäre das Ich nicht ursprünglich unendlich, wie es ist, da es erst durch den Akt des Selbstbewußtseyns endlich wird. Da das Selbstbewußtseyn nur als Akt begreiflich ist so kann es nicht erklärt werden aus etwas, was nur eine Passivität begreiflich macht. Abgesehen davon, daß das Ob197

Vgl. Fichte, W L , S. 251.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

jektive mir erst durch das Endlich werden entsteht, daß das Ich erst durch den Akt des Selbsthewußtseyns der Objektivität sich aufschließt, daß Ich und Objekt sich entgegengesetzt sind, wie positive und negative Größen, daß also dem Objekt nur diejenige Realität zukommen kann, die im Ich aufgehoben ist, so erklärt der Dogmatiker die Begrenztheit des Ichs nur so, wie sich die eines Objekts erklären läßt, d.h. die Begrenztheit an und für sich, nicht aber ein Wissen um dieselbe. Das Ich als Ich aber ist nur dadurch begrenzt, daß es sich als solches anschaut, denn ein Ich ist überhaupt nur, was es für sich selbst ist." 198 Die Begrenzung des Ich sei nur aus der Selbstbeschränkung des Ich, der Selbstaufhebung des Ich als absolute Tätigkeit zu erklären. Der Übergang von der ursprünglich unendlichen Tätigkeit des Ich zu einer endlichen Tätigkeit, dem Selbstbewußtsein, ließe sich nur denken, „wenn sich beweisen läßt, daß das Ich als Ich unbegrenzt seyn kann, nur insofern es begrenzt ist, und umgekehrt, daß es als Ich begrenzt, nur insofern es unbegrenzt ist." 199 Den Beweis der wechselseitigen Bestimmung des endlichen und des unendlichen Ich, von empirischem und transzendentalem Subjekt versucht Schelling zu führen, indem er den Widerspruch von Begrenztheit und Unbegrenztheit des Ich in den Prozeß des Werdens aufhebt. ,,aa) Das Ich ist alles, was es ist, nur für sich selbst. Das Ich ist unendlich, heißt also, es ist unendlich für sich selbst. (...) bb) Das Ich ist unendlich für sich selbst, heißt: es ist unendlich für seine Selbstanschauung. Aber das Ich, indem es sich anschaut, wird endlich. Dieser Widerspruch ist nur dadurch aufzulösen, daß das Ich in dieser Endlichkeit sich unendlich wird, d.h. daß es sich anschaut als ein unendliches Werden." 200 Daß das Ich unendlich für sich selbst sei, bedeute, daß es unendlich für seine Selbstanschauung sei. Das Ich soll unabhängig von aller äußeren Einwirkung sein, d.h. uneingeschränkt durch etwas, was es nicht ist. Anders formuliert soll die Realität des Ich nicht durch Negation limitiert werden. Das Ich soll unendlich, absolut sein. Realität hat das Ich aber nur als Ich und für sich. 2 0 1 Das absolute Ich, der Inbegriff aller Realität muß also, soll es nicht bloß das ideell Reelle sein und bleiben, Selbstbewußtsein werden, sich selbst zum Objekt werden und damit durch etwas beschränkt werden, was nicht vollständig in ihm aufgehen kann. Somit werde das Ich in der Selbstanschauung sich selbst endlich. Das Ich vereine dann zwei sich widersprechende Bestimmungen in sich. Erstens sei es unendlich, da es aber nur für sich selbst in seiner Selbstanschauung unendlich sein könne, sei das Ich zweitens endlich, denn in der Selbstanschauung werde das Ich sich selbst zum Objekt, mithin endlich. Das Ich habe einerseits einen selbstän198 199 200 201

System, S. 381 f., SW III, S. 381. System, S. 382, SW III, S. 382. System, S. 383, SW III, S. 383. Vgl. System, S. 380, SW III, S. 380.

II. Schelling

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digen, unmittelbaren Existenzgrund, andererseits existiere das Ich nur für sich vermittelst seiner Selbstbestimmung. Für die Selbstanschauung müsse sich daher der Prozeß des zum Objektwerden als ein unendlicher darstellen, so daß durch das Werden die Möglichkeit von Objekten für das Ich erklärt werde und durch die Unendlichkeit dieses Werdens von Objekten das Ich als der Inbegriff aller Realität darstellbar sei. Der Inbegriff aller Realität wird damit überführt in die kollektive Einheit des Erfahrungsganzen. ,,cc) Aber ein Werden läßt sich nicht denken als unter Bedingung einer Begrenzung. Man denke eine unendlich producirende Thätigkeit als sich ausbreitend ohne Widerstand, so wird sie mit unendlicher Schnelligkeit produciren, ihr Produkt ist ein Seyn, nicht ein Werden. Die Bedingung alles Werdens also ist die Begrenzung oder die Schranke." 202 Soll das Werden ein Werden von verschiedenen Objekten sein, läßt sich der Prozeß der Objektwerdung nicht als ein bloßes Kontinuum darstellen. Das Werden muß als eine kontinuierliche Folge von diskreten Produkten erscheinen. Die einzelnen Objekte als Resultate des Werdens müssen sich voneinander unterscheiden lassen. Dasjenige, wodurch die Produkte unterschieden werden können, bestimmt Schelling als Schranke oder Begrenzung. Diese Begrenzung setzt Schelling als die Bedingung alles Werdens verschiedener Objekte. ,,dd) Aber das Ich soll nicht nur ein Werden, es soll ein unendliches Werden seyn. Damit es ein Werden sey, muß es beschränkt seyn. Damit es ein unendliches Werden sey, muß die Schranke aufgehoben werden." 203 Die als notwendige Bedingung alles Werdens bestimmte Schranke soll die kontinuierliche Entwicklung verschiedener Objekte zulassen. Für die Bestimmung einzelner Objekte sei eine Grenze notwendig, für die Fortsetzung des Werdens sei eine Unbegrenztheit notwendig. ,,ee) Dieser Widerspruch kann nur durch den Mittelbegriff einer unendlichen Erweiterung der Schranke aufgelöst werden. Die Schranke wird aufgehoben für jeden bestimmten Punkt, aber sie wird nicht absolut aufgehoben, sondern nur ins Unendliche hinausgerückt." 204 Als Ich könne das Ich nur dann unendlich oder unbegrenzt sein, sofern seine Begrenztheit ins Unendliche erweitert werde. Ebenso sei die Begrenzung des Ich nur unter Voraussetzung seiner Unbegrenztheit zu denken, denn von einer Begrenzung könne man nur dort sprechen, wo es eine Tätigkeit, ein unendliches Streben wider alle mögliche Begrenzung gebe. Indem das Ich seine Tätigkeit wider die Schranke richte, werde die Schranke für das Ich reell. Ohne diese gegen die Schranke gerichtete Tätigkeit des Ich 202 203 204

System, S. 383, SW III, S. 383. System, S. 383, SW III, S. 383. System, S. 384, SW III, S. 384.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

wäre die Schranke nicht nur nicht reell für das Ich, sondern sie existierte überhaupt nicht, weil sie allein als Negation der Tätigkeit des Ich möglich sei. Diese Tätigkeit, „welche gegen die Schranke sich richtet, ist (...) keine andere, als die ursprünglich ins Unendliche gehende Thätigkeit des Ichs, d.h. diejenige Thätigkeit, welche allein dem Ich jenseits des Selbstbewußtseyns zukommt." 2 0 5 Aus der unendlichen Tätigkeit des ursprünglichen Ich ließe sich die Begrenztheit des Ich überhaupt, die reelle Grenze, erklären, nicht aber wie das Ich für sich selbst begrenzt werde, d.h. wie die Grenze für das Ich ideell werde. iyNun muß aber die Schranke zugleich reell und ideell seyn. Reell, d.h. unabhängig vom Ich, weil das Ich sonst nicht wirklich begrenzt ist, ideell, abhängig von Ich, weil das Ich sonst sich nicht selbst setzt, anschaut als begrenzt. Beide Behauptungen, die, daß die Schranke reell, und die, daß sie bloß ideell sey, sind aus dem Selbstbewußtseyn zu deduciren." 206

Die Deduktion der beiden sich widersprechenden Behauptungen aus dem Selbstbewußtsein sei nur möglich, wenn der Widerspruch sich auflösen lasse durch einen Gegensatz, der dem Selbstbewußtsein selbst immanent sei. Die Abhängigkeit der Schranke vom Ich, seine Idealität, sei nicht aus der durch die reelle Schranke begrenzten Tätigkeit abzuleiten. Diese begrenzte Tätigkeit ist die ursprünglich unendliche Tätigkeit des Ich. Es müsse also eine weitere Tätigkeit des Selbstbewußtseins unterstellt werden, die unabhängig von der begrenzten Tätigkeit ist, die Schelling auch als reelle oder objektive Tätigkeit bezeichnet, weil sie durch ihre Begrenzung zum Objekt bzw. zu etwas Reellem wird. Die ideelle und die reelle Tätigkeit setzen sich wechselseitig voraus. „So wie sich beide Thätigkeiten wechselseitig voraussetzen, so auch Idealismus und Realismus. Reflektire ich bloß auf die ideelle Thätigkeit, so entsteht mir Idealismus, oder die Behauptung, daß die Schranke bloß durch das Ich gesetzt ist. Reflektire ich bloß auf die reelle Thätigkeit, so entsteht mir Realismus, oder die Behauptung, daß die Schranke unabhängig vom Ich ist. Reflektire ich auf beide zugleich, so entsteht mir ein Drittes aus beiden, was man Ideal-Realismus nennen kann, oder was wir bisher durch den Namen transcendentaler Idealismus bezeichnet haben."207 Die Notwendigkeit ihrer wechselseitigen Bestimmung ergibt sich daraus, daß die Darstellung des absoluten Prinzips des Wissens die Negation seiner Absolutheit zur Voraussetzung hat. Die Deduktion des Selbstbewußtseins aus der unendlichen Tätigkeit des absoluten Ich erzwingt die Setzung einer Differenz im Absoluten. Mit der Entstehung des Selbstbewußtseins aus der unendlichen Tätigkeit wird diese sich selbst zum Objekt. Das Ich wird end205 206 207

System, S. 385, SW III, S. 385. System, S. 385, SW III, S. 385. System, S. 386, SW III, S. 386.

II. Schelling

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lieh oder eingeschränkt. Jede Schranke des Ich müsse zugleich abhängig vom Ich sein, sofern sie eine Schranke des Ich ist, und unabhängig vom Ich sein, sofern sie eine Schranke des Ich ist. Die Indifferenz von Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus im Begriff der Schranke des Ich wird dadurch gerechtfertigt, daß der Genitivus subiectivus ohne den Genitivus obiectivus nicht zu denken ist, und, daß umgekehrt der Genitivus obiectivus ohne den Genitivus subiectivus nicht zu denken ist. „Dieß läßt sich nur dadurch denken, daß das Ich = ist einer Handlung, in welcher zwei entgegengesetzte Thätigkeiten sind, eine, die begrenzt wird, von welcher eben deßwegen die Schranke unabhängig ist, und eine, die begrenzend, eben deßwegen unbegrenzbar ist." 2 0 8 Das zum Bewußtseinkommen des Ich und sein Begrenztsein ist für Schelling dasselbe, denn nur dasjenige, was für das Ich im Ich begrenzt ist, könne zum Bewußtsein kommen. Als Ursache der Begrenzung müsse die begrenzende Tätigkeit jedoch außerhalb des Bewußtseins fallen und deshalb unabhängig vom Ich sein, weil „ich nur mein Begrenztseyn erblicken kann, nie die Thätigkeit, wodurch es gesetzt i s t . " 2 0 9 Weder die begrenzende noch die begrenzte Tätigkeit ist das Ich, denn das Ich sei nur im Selbstbewußtsein, im Subjekt-Objekt. Weil die begrenzende Tätigkeit als Tätigkeit des reinen Subjekts niemals zum Objekt werden kann und die begrenzte Tätigkeit das bloß Objektive im Selbstbewußtsein sei, sei die Synthesis der beiden entgegengesetzten Tätigkeiten Bedingung der Möglichkeit der Entstehung des Ich des Selbstbewußtseins. „Wenn wir das objektive Ich (die Thesis) als absolute Realität vorstellen, so wird das ihm Entgegengesetzte absolute Negation seyn müssen. Aber absolute Realität ist eben deßwegen, weil sie absolut ist, keine Realität, beide Entgegengesetzte also sind in der Entgegensetzung bloß ideell. Soll das Ich reell, d.h. sich selbst Objekt werden, so muß Realität in ihm aufgehoben werden, d. h. es muß aufhören absolute Realität zu seyn. Aber ebenso: soll das Entgegengesetzte reell werden, so muß es aufhören absolute Negation zu seyn. Sollen beide reell werden, so müssen sie in die Realität gleichsam sich theilen. Aber diese Theilung der Realität zwischen beiden, dem Sub- und Objektiven, ist eben nicht möglich, als durch eine dritte, zwischen beiden schwebende Thätigkeit des Ichs, und diese dritte ist wiederum nicht möglich, wenn nicht beide Entgegengesetzte selbst Thätigkeiten des Ichs sind. Dieser Fortgang von Thesis zur Antithesis und von da zur Synthesis ist also in dem Mechanismus des Geistes ursprünglich gegründet, und insofern er bloß formell ist (z.B. in der wissenschaftlichen Methode), abstrahirt von jenem ursprünglichen, materiellen, welchen die Transcendental-Philosophie aufstellt." 210 20 20 2 0

System, S. 3 , SW III, S. 3 . System, S. 3 , SW III, S. 3 . System, S. 3 4 , SW III, S. 3 4 .

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Wird das unbedingte Ich sich selbst zum Objekt, zerfällt es in Denken und Gegenstand des Denkens. In dem Moment, wo Denken und Gedachtes unterschieden sind, ist im Absoluten notwendig die Differenz gesetzt. Die Deduktion der Differenz im Absoluten führt eine logische Notwendigkeit mit sich. Sobald das Absolute zum Gegenstand des Denkens wird, muß es als ein in sich unterschiedenes, als etwas, was es selbst nicht ist, dargestellt werden. Die Darstellung des Absoluten als Absolutes ist nicht möglich, denn die Indifferenz von Denken und Sein zerfällt mit der Darstellung in Dargestelltes und Darstellendes. Diese logische Notwendigkeit der Differenz in der Darstellung des Absoluten wird Schelling jedoch zur metaphysischen Notwendigkeit. b) Die Geschichte des Selbstbewußtseins als der Prozeß der intellektuellen Anschauung Das Absolute ist das schlechthin mit sich Identische. Die Darstellung des Absoluten erzwingt eine Differenz im Absoluten. Der Satz der Identität, das Modell des absoluten Prinzips ist reflexiv. Die Bestimmung dieser Form der Reflexivität, der Beziehung der einander entgegengesetzten Tätigkeiten des Ich soll vermittelst der Selbstaffektion und der intellektuellen Anschauung als die Organe zur Produktion und Konstruktion des Systems des transzendentalen Idealismus erfolgen. „Das Ich ist nichts anderes als ein sich selbst zum Objekt werdendes Produciren, d.h. ein intellektuelles Anschauen."211 Wird das unendliche, absolute Ich sich selbst zum Objekt, zerfällt es in das objektive oder reelle und in das subjektive oder ideelle Ich. Weil das Ich ursprünglich reine Tätigkeit sei, bestimmt Schelling das objektive oder reelle Ich als die Thesis, die Setzung der absoluten Realität, die eine begrenzbare Tätigkeit darstelle. Das subjektive oder ideelle Ich hingegen sei die Antithesis, die Setzung der absoluten Negation, die eine unbegrenzbare Tätigkeit darstelle. Beide Tätigkeiten des Ich seien jedoch, weil sie absolut sind, bloß ideell. „Soll das Ich reell, d.h. sich selbst Objekt werden, so muß Realität in ihm aufgehoben werden, d.h. es muß aufhören absolute Realität zu sein." 212 Umgekehrt müsse das Ich aufhören, absolute Negation zu sein, wenn das Nicht-Ich reell werden soll. Beide Tätigkeiten müssen eingeschränkt, vermittelst einer dritten zur Synthesis gebracht werden, so daß das Subjektive und das Objektive gleichermaßen reell sein können. Was diesen Progressus von der Thesis zur Antithesis und von dort zur Synthesis, der „in dem Me211 212

System, S. 370, SW III, S. 370. System, S. 394, SW III, S. 394.

II. Schelling

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chanismus des Geistes ursprünglich gegründet ( . . . ) " 2 1 3 ist, von den Grundsätzen der Fichteschen Wissenschaftslehre unterscheidet, ist, daß jene Grundsätze den Fortgang nur darstellen, „insofern er bloß formell ist (...), abstrahiert von jenem ursprünglichen, materiellen, welchen die Transzendental-Philosophie aufstellt." 2 1 4 Der Beweis, daß alles Wissen aus dem Ich abgeleitet werden müsse und auch die Realität des Wissens keinen anderen Grund zulasse, sei erst vollständig mit der Deduktion der objektiven Welt in allen ihren Bestimmungen aus dem reinen Selbstbewußtsein, d.h. ohne äußere Affektion. Das aus der Reflexion auf seinen eigenen Zweifel resultierende Selbstbewußtsein kann sich seiner nur gewiß sein, sofern es unabhängig von etwas ihm Äußerlichen ist. Die Behauptung des transzendentalen Idealismus ist, daß nicht bloß das Dasein des urteilenden Subjekts, sondern ebenso das Dasein der Materie allein aufgrund des Zeugnisses des bloßen Selbstbewußtseins angenommen werden könne. 2 1 5 Schellings transzendentaler Idealismus soll zugleich ein empirischer Realismus sein, der die „Existenz der Materie einräume[n], ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen (.. . ) . " 2 1 6 Anders als Kant behauptet Schelling jedoch die Idealität der äußeren Gegenstände ohne die Annahme der Unerkennbarkeit der Dinge an sich. An die Stelle des Ding an sich soll eine innere Notwendigkeit treten, die es ermögliche, den Grund der Vorstellungen „nicht in dem Willen, sondern in der Natur des Ich ( . . . ) " 2 1 7 zu suchen. Die Abhängigkeit des Ich von der Außenwelt, von dem ihm Entgegengesetzten habe ihren Grund im Mechanismus des Geistes, der einem bewußtlosen Produzieren gleichkomme. Dieser „ganze Mechanismus des Ich ( . . . ) " 2 1 8 sei aus der „wechselseitigen Voraussetzung beider Tätigkeiten zum Behuf des Selbstbewußtseyns ( . . . ) " 2 1 9 zu deduzieren. Der Begriff eines blinden oder bewußtlosen Produzierens ist nicht weniger problematisch als der Begriff eines Ding an sich als der unbekannten Ursache einer Erscheinung. Mit der bewußtlosen Produktion wird die Konstruktion und Produktion eines Irrationalen, eines dem Bewußtsein Transzendenten gefordert. Dem Widerspruch im Begriff der bewußtlosen Produktion versucht Schelling zu entgehen, indem er das Bewußtsein nach Stufen des Bewußtseins unterscheidet. Alles scheinbar dem Bewußtsein Transzendente habe seinen Ursprung zwar im Bewußtsein, aber nicht im seiner gegenwärtigen Tätigkeit bewußten Bewußtsein, sondern im seiner aktuellen Tätigkeit unbewußten Bewußtsein. 213 214 215 216 2.7 2.8 219

System, S. 394, SW III, S. 394. System, S. 394, SW III, S. 394. Vgl. KrV, A 370. KrV, A 370. Geschichte, S. 163, SW X, S. 93 System, S. 386, SW III, S. 386. System, S. 386, SW III, S. 386.

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die Produktion und die Reflexion auf den Akt der Produktion seien zwei verschiedene Tätigkeiten, die nicht gleichermaßen in das aktuelle Bewußtsein fallen können. Die Selbständigkeit oder Unabhängigkeit der Gegenstände soll also ihren Grund darin haben, daß der bewußtseinsimmanente Ursprung der Gegenstände unbewußt sei. Mit der Annahme einer bewußtlosen Tätigkeit des Ich sei zu erklären, wie ein anderes als das „moralische hervorbringen (.. . ) " 2 2 0 , das allein auf der praktischen Freiheit des Ich beruht, möglich sei. Der Mechanismus des Geistes, dem eine bewußtlose Tätigkeit inhäriere, sei ein Produzieren, „in welchem Nothwendigkeit mit Freiheit vereinigt i s t . " 2 2 1 Wird das Objekt ausschließlich als Produkt der Tätigkeit des transzendentalen Subjekts verstanden, dann wird die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis als die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis gesetzt. Deshalb könne nur dasjenige als Prinzip der Konstruktion fungieren, in dem Konstruierendes und Konstruiertes Eines seien. Diese Bestimmung komme allein dem Selbstbewußtsein zu. Die Realisierung des Begriffs des Ich oder des ideellen Ich erfolge durch die Konstruktion der ihm korrespondierenden Anschauung. Durch den ursprünglichen Akt der intellektuellen Anschauung entstehe das Ich, sofern es gleichermaßen Produkt und Produzierendes sei, sofern es sich selbst zum Produkt seiner eigenen Tätigkeit werde. 2 2 2 Ist das Ich ursprünglich nur Tätigkeit und ist Bedingung des Selbstbewußtseins das sich selbst zum Objektwerden des Ich, so ist das ursprüngliche Ich kein Ich, sondern reine absolute Spontaneität oder transzendentale Freiheit. Der Ausgang des Systems des transzendentalen Idealismus ist die transzendentale Freiheit als Inbegriff aller Realität. Indem die transzendentale Freiheit praktisch wird, soll das transzendentale Subjekt historisch bzw. empirisch werden und aus dem Ideellen das Reelle hervorgehen. Antizipiertes Resultat des transzendentalen Idealismus, der die transzendentale Freiheit zu seiner Bedingung hat, ist somit die praktisch gewordene Freiheit. Das Prinzip der Philosophie sei ein Postulat, die Forderung einer bestimmten Handlungsweise, dessen Objekt das Ich als die ursprüngliche Konstruktion für den inneren Sinn sei. Diese Konstruktion könne nichts anderes als die Produktion seiner selbst sein. 2 2 3 Die Entwicklung des Selbstbewußtseins durch seine Konstruktion und Produktion sei allein in seiner Geschichte darstellbar. Die Geschichte des Selbstbewußtseins sei nichts anderes als der Prozeß des Werdens der intellektuellen Anschauung. Dieser Prozeß ist die Einheit Unterschiedener. Das, wovon der Prozeß seinen Ausgang nimmt, ist weder vollständig bestimmt noch 220 221 222 223

System, S. 430, SW III, S. 430. System, S. 430, SW III, S. 430. Vgl. System, S. 372, SW III, S. 372. Vgl. System, S. 371, SW III, S. 371.

III. Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich

127

bestimmungslos. Um über seinen Anfang hinausgehen zu können, muß dem Prozeß ein Moment von Bestimmbarkeit zu Grunde liegen. Um überhaupt einen Anfang haben zu können, muß der Prozeß zumindest in seinem Prinzip bestimmt sein. Weil die einzelnen Resultate des Prozesses real werden sollen, bestimmt Schelling das, was lediglich ein Moment des Prozesses ist, die Bestimmbarkeit, als ein Fürsichseiendes. Dieses Fürsichseiende, das, was sich nur als Bestimmbarkeit erschließen läßt, ist für Schelling die Bestimmtheit dessen, worin der Prozeß seinen jeweiligen Anfang hat.

I I I . Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich. Fichtes Deduktion der Empfindung und der Anschauung im Grundriss des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre (1795) In der Wissenschaftslehre von 1794 bestimmt Fichte als die eigentliche und höchste Aufgabe, „wie das Ich auf das Nicht-Ich, oder das Nicht-Ich auf das Ich unmittelbar einwirken könne, da sie beide einander völlig entgegengesetzt seyn sollen." 2 2 4 Jedes einzelne Mittelglied, das die Synthesis der Entgegengesetzten hervorbringen soll, verschiebe den Widerspruch ohne ihn endgültig aufheben zu können. So scheine der absolute Machtspruch der Vernunft die einzige Möglichkeit den unendlichen Progreß abzubrechen, wodurch der Knoten jedoch weder gelöst, noch zerschnitten werden könne, sondern „in die Unendlichkeit hinaus gesetzt ( . . . ) " 2 2 5 werden solle. Dies erfolge durch die Setzung des Ich „als ein solches, welches den Grund der Existenz des Nicht-Ich, das die Thätigkeit des intelligenten Ich vermindert, in sich selbst enthalten solle (.. . ) . " 2 2 6 Mit dieser im Sollen ausgedrückten Forderung der unendlichen Idee werde das Ich praktisch 227 und die Erklärung der Möglichkeit der Vereinigung der Entgegengesetzten aus 224

WL, S. 143. WL, S. 156. 226 WL, S. 156. 227 Die Mangelhaftigkeit von Kants Erklärung der Empfindung sei, so A. Mues, darauf zurückzuführen, daß sie das praktische Moment der Hemmung der Spontaneität übersehe. „Anstoß und Spontaneität zusammen ergeben erst eine Empfindung. Kant fragte in der Kritik der reinen Vernunft theoretisch nach unserer Erkenntnisweise der Natur. In der Kritik der praktischen Vernunft fragte er aber nicht nach der Erkenntnis weise des Handelns (u.a. also auch des erkennenden Handelns, denn Erkennen ist ja auch ein Handeln), also u. a. danach, was wir tun, wenn wir erkennen, sondern gleich danach, wie unser Handeln sein soll. So entging ihm, was auf der praktischen Seite konstitutiv für das Erkennen ist." [A. Mues, Fichtes Kritik an Kants Verständnis der Physik, in: A. Mues (Hg.), Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, S. 72]. 225

128

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

dem theoretischen Teil der Wissenschaftslehre verwiesen. 228 Zu zeigen sei dort nur, „dass und warum es nicht zu erklären sey (.. . ) . " 2 2 9 Die problematische Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich zeigt sich auch im Widerstreit zwischen Idealismus und Realismus. Die zentrale Streitfrage des Realismus und Idealismus sei die Erklärung der Vorstellung. 230 Während der Realismus davon ausgehe, daß das Nicht-Ich die Ursache der Vorstellung im Ich sei, gehe der Idealismus davon aus, daß das Nicht-Ich außerhalb der Vorstellung keine Realität habe. Im ersten Fall wäre alle Vorstellung determiniert, im zweiten Falle ließe sich kein Grund angeben, wodurch das absolute Ich als Inbegriff aller Realität zu einer bestimmten Vorstellung begrenzt werden könne. Zu zeigen wäre demnach, wie eine Begrenzung des Ich durch ein Nicht-Ich, die nicht äußerlich, dem Ich nicht heterogen sein dürfe, möglich sei. Die Funktion der Vorstellung ist die Vermittlung zwischen Ich und Nicht-Ich, deren Möglichkeit Fichte in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre zu deduzieren bemüht ist. „Die Vorstellung überhaupt (nicht etwa die besonderen Bestimmungen derselben) ist unwidersprechlich ein bewirktes des Nicht-Ich. Aber im Ich kann schlechthin nichts seyn, das ein bewirktes sey; denn das Ich ist das, als was es sich setzt, und es ist nichts in ihm, was es nicht in sich setzt. Mithin muss jenes Nicht-Ich selbst ein bewirktes des Ich, und zwar des absoluten Ich seyn: - und so hätten wir denn gar keine Einwirkung auf das Ich von aussen, sondern bloss eine Wirkung desselben auf sich selbst (...)." 2 3 1 Das Ich wäre demnach Wirkung auf sich selbst, aber in Vermittlung durch das Nicht-Ich, das in und durch diesen Prozeß hervorgebracht würde. 2 3 2 Das Ich wäre somit Ursache des Nicht-Ich. Als Ursache des 228 Ygi ρ Baumanns, Fichtes ursprüngliches System. Sein Standort zwischen Kant und Hegel, Stuttgart/Bad Cannstatt 1972, S. 102. 229 WL, S. 156. 230 Vgl. WL, S. 155 f. Vgl. /. Schüssler, Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre. Grundlage der Gesamten Wissenschaftslehre 1794/95. Zweite Darstellung der Wissenschaftslehre 1804, Frankfurt/M. 1972. 231 WL, S. 251. 232 Alles Material der Erkenntnis ist dann, wie A. Mues (1989) richtig referiert, im Ich und wird durch das Handeln des erkennenden Ich konstituiert. So ist dementsprechend die Natur „uns also gar kein An sich, kein Gegebenes im realistischen oder auch noch im Kantischen Sinne, sie ist schon unser ursprüngliches Erklären. Und daher ist sie uns auch letztlich vollkommen verstehbar, ohne zusätzlich zweckmäßig auf unser Erkennen eingerichtet zu sein. (...) Vielmehr muß die Vernunft selbst das Gegebene konstitutiv erstellen; dabei entwirft sie zugleich Verstand und Verstandesformen. Erst durch die Übertragung des praktisch und theoretisch ursprünglichen Erklärens und ursprünglich Erklärten, also des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, auf die Objekte allein entsteht dem Subjekt eine Natur. Natur ist

III. Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich

129

Nicht-Ich müßte das absolute Ich, das sich schlechthin und ohne allen weiteren Grund setzt, sich selbst einschränken, denn das Nicht-Ich ist ihm entgegengesetzt. Daraus folge andererseits, daß das Ich nicht Ursache des Nicht-Ich sein könne, denn das Ich enthielte in sich das Prinzip sich zu setzen und das Prinzip sich nicht zu setzen und würde als in sich widersprüchlich sich selbst aufheben. Der Zirkel des sich selbst bestimmenden endlichen Bewußtseins sei notwendig. Das Setzen des Nicht-Ich und das Einschränken des Ich seien gleichgültig und nur dann miteinander zu vereinbaren, sofern der Gegensatz quantitativ und nicht qualitativ gefaßt würde. Als Grund alles Bewußtseins ließe sich allein „eine Wechselwirkung des Ich mit sich selbst vermittelst eines von verschiedenen Seiten zu betrachtenden Nicht-Ich (.. . ) " 2 3 3 angeben. Der endliche Geist sei gezwungen etwas Absolutes, ein Ding an sich, außer sich zu setzen und gleichermaßen müsse er erkennen, daß dieses nur für ihn, mithin ein bloßes Noumenon sei. Der Grund aller Erkenntnis ist für Fichte die ursprüngliche Vereinigung des im Ich selbst befindlichen Widerspruchs zwischen seiner Tätigkeit und seinem Leiden. Ursprünglich ist ihm die Vereinigung, sofern sie „ohne Bewusstseyn, und zum Behuf der Möglichkeit alles Bewusstseyns (.. . ) " 2 3 4 erfolgt. Die Handlungen des Ich bestimmt Fichte als Facta, sofern sie Gegenstand der Reflexion sind. Als Gegenstand der inneren Erfahrung seien diese Facta im Bewußtsein jedoch nicht vorfindbar, sondern sie seien nur zu denken als dasjenige, was der Vorstellung der Handlungen des Ich im Bewußtsein entsprechen müsse. Der Grund hierfür sei, daß dieses Faktum „unter die Gründe der Möglichkeit alles Bewusstseyn gehört." 2 3 5 In der Funktion, das allgemeine Korrelat der Handlungen des Ich zu sein, die als Gegenstand der Reflexion jedoch nur als notwendig zu unterstellende Noumena zu setzen sind, stimmt das Fichtesche Faktum mit dem Kantischen Begriff des transzendentalen Gegenstands überein. Fichte verwahrt sich mit Kant gegen die Subreption des hypostasierten Bewußtseins, denn es sei „sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne ( . . . ) . " 2 3 6 Der Gegenstand des Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre ist nun die Eigentümlichkeit der Gründe der Möglichkeit alles Bewußtseins. daher ein Substrat, ,ein bloß Bestimmbares4 Gedachtes (...)." [A. Mues, Fichtes Kritik an Kants Verständnis der Physik, in: A. Mues (Hg.), Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, Hamburg 1989, S. 75 f.] Der Erkenntnisgrund der Natur fiele dann jedoch mit dem Existenzgrund der Natur zusammen. 233 WL, S. 282. 234 Grundriss, S. 343. 235 Grundriss, S. 334. 236 KrV, A 402. 9 Gerhard

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Terminus ad quem ist, wie das Ich sich ein Nicht-Ich entgegensetze. Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich, ist der Satz von dem die theoretische Wissenschaftslehre ausgeht. Diesem Satz müsse ursprünglich im Bewußtsein etwas als ein ursprüngliches Faktum korrespondieren. Das in der Wissenschaftslehre postulierte Faktum lautet: „auf Veranlassung eines bis jetzt noch völlig unerklärbaren und unbegreiflichen Anstosses auf die ursprüngliche Thätigkeit des Ich producirt die zwischen der ursprünglichen Richtung dieser Thätigkeit, und der durch die Reflexion entstandenen - schwebenden Einbildungskraft etwas aus beiden Richtungen zusammengesetztes." 237 Dieses Faktum müsse durch das Ich selbst in sich gesetzt werden, da im Ich nur dasjenige vorfindbar sein könne, was es selbst in sich setze. Das ursprüngliche Faktum müsse also einer ursprünglichen Erklärung, die keine wissentliche oder wissenschaftliche sei, zugänglich sein. Das Beweisziel des Grundriss 238 ist, daß das ursprüngliche Faktum durch die Empfindung, das Empfindende durch die Anschauung gesetzt wird, und daß die Anschauung in der Zeit und das Angeschaute im Raum bestimmt werden. Mit dem Beweis soll erklärt werden, wie ein Mannigfaltiges im Ich und für das Ich vorhanden sein könne. Die Kantische Voraussetzung, daß für die mögliche Erfahrung ein Mannigfaltiges gegeben sei, soll erst erwiesen werden. Der Beweis geht davon aus, das dasjenige, was gegeben ist, Etwas, d.h. ein Bestimmtes sein müsse. Bestimmtheit sei jedoch nur möglich, sofern es ein Anderes, ein das Etwas Begrenzendes und Bestimmendes gebe, das seinerseits durch ein Anderes bestimmt sein müsse. Im Grundriss geht die Betrachtung also weniger auf die Tätigkeit des Ich als auf die Produkte seiner Tätigkeit. Die im Ich sich widerstreitenden Tätigkeiten werden zwar als durch die schwebende Einbildungskraft vereinbar gedacht 239 , aber nicht ohne eine „Spur (.. , ) " 2 4 0 des Widerstreits, ein Etwas als einen möglichen Stoff zu hinterlassen. Sollen die entgegengesetzten Handlungen oder Kräfte 2 4 1 sich nicht gegenseitig aufheben, muß es ein gemeinsames Substrat geben. Dieses Substrat soll kein Vorausgesetztes sein, sondern blosses Produkt der Vereinigung entgegengesetzter Thätigkeiten ( . . . ) " 2 4 2 sein. Allein diese Vereinigung sei der Grund alles möglichen im Ich bleibenden Substrats, der Materie und in der Folge alles Mannigfaltigen einer möglichen 237

Grundriss, S. 331. Auf die sachliche Beziehung der Deduktion der Vorstellung [WL, S. 227 ff.] zum Grundriss verweist auch I. Görland in ihrer Habilitationsschrift: Die Entzweiung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt/M. 1973, S. 95. 239 Vgl. WL, S. 215 ff. 240 WL, S. 336. 241 Der Begriff der Kraft wird an dieser Stelle [Grundriss, S. 366] von Fichte ohne weitere Begründung als dem der Handlung analog eingeführt. 242 Grundriss, S. 336. 238

III. Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich

131

Erfahrung. Dieses Substrat des Ich sei, solange es nur ideell oder ohne Äußerung sei, ein „intensiver Stoff (.. . ) . " 2 4 3 1. Die Deduktion der Empfindung oder die Setzung des Faktums durch die Empfindung Der Widerstreit der beiden Tätigkeiten soll durch das Ich in das Ich gesetzt werden. Die einzige Bestimmung, die Fichte auf dieser Stufe der Reflexion dem Ich zuschreibt, ist die reine Tätigkeit. Wird der Widerstreit durch das Ich gesetzt, so setzt das Ich den Widerstreit sich entgegen. Der Widerstreit und das Ich sind demnach zunächst voneinander zu unterscheiden. Als Unterscheidungsgrund ließe sich bloß die Negation der reinen Tätigkeit denken. Das Entgegensetzen des Ich sei das Setzen von etwas als nicht reine Tätigkeit, mithin eine antithetische Handlung. Wird der Widerstreit hingegen in das Ich gesetzt und kommt dem Ich allein reine Tätigkeit zu, so ist die reine Tätigkeit als thetische Handlung der einzig mögliche Beziehungsgrund zwischen dem Ich und dem in ihm zu setzenden Widerstreit. Die im Widerstreit begriffene Tätigkeit des Ich müsse einerseits, als widerstreitende, nicht-rein bzw. heterogen sein, andererseits müsse sie, als im Ich stattfindende Tätigkeit, rein sein. Die Tätigkeit des Ich „ist demnach ihr selbst entgegengesetzt (.. . ) . " 2 4 4 Dieser Widerspruch sei nur durch eine Vereinigung von thetischer und antithetischer Handlung des Ich zu lösen. „Ein solches drittes aber wäre eine aller Thätigkeit des Ich überhaupt entgegengesetzte Thätigkeit (des Nicht-Ich), welche die Thätigkeit des Ich im Widerstreite völlig unterdrückte und vernichtete, indem sie ihr das Gleichgewicht hielte." 245 Der Widerspruch des sich im Widerstreit befindlichen Ich sei aufzuheben, sofern die Tätigkeit des Ich als bedingt rein oder nicht-rein gedacht werde. Die Tätigkeit des Ich sei rein und als rein zu setzen, „wenn die entgegengesetzte Thätigkeit des Nicht-Ich, welche sie unwiderstehlich zurückdrängt, weggedacht, und von ihr abstrahirt wird; sie ist nicht rein, sondern objectiv, wenn die entgegengesetzte Thätigkeit in Beziehung mit ihr gesetzt wird."246 Die abgeleitete Beziehung der im Widerstreit stehenden Tätigkeit auf das Ich bestimmt Fichte als Empfindung, die gleich einer ,Jnsichfindung (.. . ) " 2 4 7 zu verstehen sei. Das Empfundene sei die aufgehobene vernichtete Tätigkeit des Ich. 243 244 245 246 247

9*

WL, S. 312. Grundriss, S. 337. Grundriss, S. 337. Grundriss, S. 337. Grundriss, S. 339.

132

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

„Sie ist empfunden, fremdartig, inwiefern sie unterdrückt ist, was sie ursprünglich und durch das Ich selbst gar nicht seyn kann. Sie ist empfunden, etwas im Ich inwiefern sie nur unter Bedingung einer entgegengesetzten Thätigkeit unterdrückt ist, und, wenn diese Thätigkeit wegfiele, selbst Thätigkeit, und reine Thätigkeit seyn würde." 248 Sowohl die Empfindung als auch das Empfundene seien auf dieser Stufe der Reflexion zu vergegenständlichen, nicht aber das Empfindende, denn dieses ist in der Handlung, der Tätigkeit der Empfindung das beziehende Ich und könne demnach nicht empfunden werden, inwiefern es empfindet. Die Handlung und das Objekt, das Produkt der Handlung, werden von Fichte analog der Kantischen Unterscheidung in denkendes und gedachtes Subjekt von dem handelnden Subjekt unterschieden. Der Beziehungsgrund sei von dem Bezogenen zu unterscheiden. Das Subjekt der Empfindung und die dem Ich entgegengesetzte Tätigkeit des Nicht-Ich seien durch die Empfindung nicht zu vereinigen. Ihre Einheit solle erst durch eine höhere Synthesis erfolgen. 2. Die Setzung des Subjekts der Empfindung durch die Anschauung oder die Deduktion der Anschauung Das Setzen des Empfundenen durch das Ich bestimmt Fichte als die Handlung der Empfindung. Mit der Deduktion der Anschauung soll gezeigt werden, wie das Ich die Empfindung in sich selbst setze, wie es sich selbst als das Subjekt der Empfindung bestimme. Das Beweisziel der Deduktion der Anschauung ist, daß das Subjekt der Empfindung nicht anders sich demonstrieren lasse als vermittelst einer besonderen Anschauung, die Ausdruck eines unmittelbaren Bewußtseins sein soll. Diese besondere Anschauung ist eine intellektuelle Anschauung, die Fichte jedoch als wesentlich vom Kantischen Begriff der intellektuellen Anschauung unterschieden behauptet. „In der Kantischen Terminologie geht alle Anschauung auf ein Seyn (ein Gesetztseyn, ein Beharren); intellectuelle Anschauung wäre sonach das unmittelbare Bewusstseyn eines nicht sinnlichen Seyns; das unmittelbare Bewusstseyn des Dinges an sich, und zwar durch das blosse Denken; also ein Erschaffen des Dings an sich durch den Begriff (ungefähr so, wie die, welche das Daseyn Gottes aus dem blossen Begriffe demonstriren, das Daseyn Gottes als eine blosse Folge ihres Denkens ansehen müssen). (...) Die intellectuelle Anschauung, von welcher die Wissenschaftslehre redet, geht gar nicht auf ein Seyn, sondern auf ein Handeln, und sie ist bei Kant gar nicht bezeichnet (ausser, wenn man will, durch den Ausdruck reine Apperception )." 249 248

Grundriss, S. 339. J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Fichtes Werke Bd. I, hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971, S. 471 f. 249

III. Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich

133

Während für Kant die reine, ursprüngliche Apperzeption Bedingung der Möglichkeit des Bewußtseins ist, so ist für Fichte hingegen jedes Bewußtsein durch das reine Selbstbewußtsein bestimmt. Während im Kantischen System der Inhalt des Bewußtseins durch etwas anderes als das Selbstbewußtsein begründet sein kann, ist in der Wissenschaftslehre aller Inhalt des Bewußtseins allein durch die Bedingungen des Selbstbewußtseins begründet. 2 5 0 Darum ist die intellektuelle Anschauung des Selbstbewußtseins für Fichte ein unmittelbares, aber - und damit stimmt er mit Kant überein kein sinnliches Bewußtsein. Die intellektuelle Anschauung gehe nicht auf ein Sein, sondern sei ein Handeln auf die Selbsttätigkeit des I c h . 2 5 1 Das Ich könne, so Fichte, ursprünglich nur reine Tätigkeit sein, denn schon als ein Tätiges, als das Subjekt der Tätigkeit, wäre es Etwas, dem ein Sein zugesprochen wird und damit wäre es immer schon ein empirischer Begriff des Ich, der doch erst seiner Möglichkeit nach deduziert werden soll. 2 5 2 Die intellektuelle Anschauung sei als „Anschauung der Selbstthätigkeit und Freiheit (.. . ) " 2 5 3 des Ich die Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewußtseins. Allein vermittelst der intellektuellen Anschauung „unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenem Objecte des Handelns." 254 Das progressive Prinzip der intellektuellen Anschauung sei die unendliche Tendenz zur Reflexion. Der Übergang von der bloßen Tendenz zur aktuellen Reflexion habe einen Anstoß zur Voraussetzung. Dieser Anstoß sei nur als Begrenzung, als Einschränkung der unendlichen „Tendenz zur Reflexion (.. . ) " 2 5 5 zu begreifen. 256 Deshalb sei die Begrenzung, eine Einschränkung durch etwas, das sich als Nicht-Ich denken 250

Vgl. J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Fichtes Werke Bd. I, S. 477. 251 Zum Begriff des Handelns auf die Selbsttätigkeit des Ich vgl. KrV, Β 151 f. Die „Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit (...)" [KrV, Β 152] ist nichts anderes als eine intellektuelle Anschauung. Auf Fichtes Auffassung der transzendentalen Einbildungskraft als intellektuelle Anschauung verweist auch A. Philolenko. Vgl. A. Philolenko, Die intellektuelle Anschauung bei Fichte, in: K. Hammacher, Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, S. 99 f. Auf weitere Belegstellen für Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung als ein Handeln des Ich verweist M. J. Siemek. Vgl. M. J. Siemek, Die Idee des Transzendentalismus bei Fichte und Kant, Hamburg 1984, S. 166. Zum Begriff der intellektuellen Anschauung bei Fichte vgl. J. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart 1986. 252 Vgl. J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Fichtes Werke Bd. I, S. 495. 253 J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Fichtes Werke Bd. I, S. 466. 254 J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Fichtes Werke Bd. I, S. 463. 255

Grundriss, S. 366.

134

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

läßt, Bedingung der Möglichkeit des Reflektierens des I c h . 2 5 7 Das ist eine Variante von Kants Widerlegung des Idealismus. 258 Die Reflexion des Ich auf sich selbst erfordert die Unterscheidung des Ich in ein reflektiertes oder bestimmtes und ein reflektierendes, bestimmendes Ich. Der Beschränktheit des reflektierten Ich im Gefühl korrespondiere die Freiheit des reflektierenden Ich im Produzieren. Beide Bestimmungen sind Bestimmungen eines und desselben Ich, jedoch in unterschiedlichen Sphären. Mit der Deduktion der Empfindung bestimmt Fichte die Empfindung und das durch die Empfindung in das Ich gesetzte Empfundene, nicht aber das Subjekt der Empfindung. Im Subjekt der Empfindung soll gesetzt sein ein Leiden und ein bestimmtes, begrenztes Setzen. Beide Handlungsweisen, die des Nicht-Ich und die des Ich sollen „völlig unabhängig, aus eigenen Gründen und nach eigenen Gesetzen, neben einander fortlaufen, und doch soll zwischen ihnen die innigste Harmonie stattfinden." 259 Die Synthesis dieser entgegengesetzten Tätigkeiten sei ein Anschauen, in dem das Ich „durch eigene Thätigkeit, und mit dem Bewusstseyn eigener Thätigkeit, ein Merkmal nach dem anderen in seinem Bewusstseyn (.. . ) " 2 6 0 setzt. „Aber es setzt dieselben als Nachbildungen eines ausser ihm Vorhandenen." 2 6 1 Weder bringe das Nicht-Ich die Anschauung im Ich hervor, noch bringe das Ich die Beschaffenheit des Nicht-Ich hervor. Die Vereinigung des im Ich selbst befindlichen Widerspruchs zwischen seinem Leiden und seiner Tätigkeit müsse ursprünglich und das bedeutet „ohne Bewusstseyn, und zum Behuf der Möglichkeit alles Bewusstseyns (.. . ) " 2 6 2 erfolgen. Die Synthesis des Leidens und der Tätigkeit sei allein durch die Begrenzung möglich. Durch die Begrenzung soll sowohl das Empfindende als auch das Empfundene auf das Ich beziehbar sein. Die Grenze sei einerseits bestimmbar, andererseits müsse sie aber, um Grenze zu sein, bestimmte Grenze sein. Ist die Grenze für das Ich eine Begrenzung, so muß die Grenze bestimmt sein. Ist die Grenze durch das Ich eine Begrenzung, so muß das Ich selbst jenseits dieser Grenze sein. Die Grenze ist demnach für das bestimmbare, rezeptive Ich etwas bestimmtes oder real gesetztes. Für das bestimmende, spontane Ich ist die Grenze jedoch als Gegenstand ihrer Setzung bestimmbar. 256 Vgl. υ ciaesges, Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794-95, Den Haag 1974, S. 101 ff. 257 Vgl. Grundriss, S. 366. 258 Vgl. KrV, Β 274 ff. 259 Grundriss, S. 342. 260 Grundriss, S. 342. 261 Grundriss, S. 342 f. 262 Grundriss, S. 343.

III. Zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich

135

„Inwiefern das Ich begrenzt ist, geht es nur bis an die Grenze. Inwiefern es sich setzt, als begrenzt, geht es nothwendig darüber hinaus; es geht auf die Grenze selbst, als solche, und da eine Grenze nichts ist, ohne zwei entgegengesetzte, auch auf das über derselben liegende."263 Die gegenseitige Begrenzung von Ich und Nicht-Ich durch die Wechselwirkung von Tätigkeit und Leiden sei die Bedingung der Möglichkeit der Empfindung. Die Grenze als der gemeinschaftliche Beziehungsgrund sei aber eben so sehr der Punkt, von dem aus die im Akt der Empfindung aufeinander Bezogenen sich unterscheiden. Die „Tendenz zur Reflexion (.. . ) " 2 6 4 erlösche nicht mit der Empfindung, so daß das Ich auch in dieser Tätigkeit bemüht ist, sich anzuschauen. Das Ich werde daher über die Grenze hinausgetrieben. Die innerhalb der Grenze liegende Tätigkeit des Ich sei ideal, sofern sie lediglich im Ich begründet sei, und real, sofern sie begrenzt sei. Die über die Grenze hinausgehende Tätigkeit sei bloß ideal. Zugleich real werde die über den Grenzpunkt C hinausgehende Tätigkeit des Ich, indem sie „auf ein durch etwas reales gesetztes geht (.. . ) . " 2 6 5 Dieses, durch etwas reales, Gesetzte sei das Angeschaute als „ein idealisch aufgefasstes Product des Nicht-Ich, das durch die Anschauung ins unbedingte ausgedehnt w i r d . " 2 6 6 In der Anschauung sei das Angeschaute, das erste Substrat für das Nicht-Ich, „das Ich, inwiefern es empfindet. Das Anschauende gleichfalls das Ich, das aber über sein Anschauen nicht reflectirt, noch insofern es anschaut, darüber reflectiren kann." 2 6 7 Weil das Ich im Objekt seiner Tätigkeit nicht auf sich selbst als tätiges Subjekt reflektiere, erscheine im Objekt die Tätigkeit des Ich als ein Leiden. Mit der Anschauung erhalte das Bewußtsein dergestalt erstmals ein Substrat für die reine Tätigkeit, das Ich. Der erschlossene Grund der Empfindung sei das angeschaute Nicht-Ich. „Das Ich fühlt sich begrenzt, und setzt das angeschaute Nicht-Ich, als dasjenige, wodurch es begrenzt i s t . " 2 6 8 Die Empfindung seiner Begrenztheit sei zunächst unabhängig von der Anschauung des Nicht-Ich als die „ursprünglichste Wechselwirkung des Ich mit sich selbst ( . . . ) " 2 6 9 zu verstehen. Gegenstand der Anschauung werde das Nicht-Ich erst mit der Reflexion auf die Empfindung. Die weitere Reflexion soll erweisen, daß das Nicht-Ich im Ich und durch das Ich gesetzt sei, aber ohne Bewußtsein. Die Möglichkeit

263 264 265 266 267 268 269

Grundriss, Grundriss, Grundriss, Grundriss, Grundriss, Grundriss, Grundriss,

S. 347. S. 366. S. 354. S. 354. S. 349. S. 368. S. 369.

136

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

des bewußtlosen Setzens begründet Fichte durch die Unmöglichkeit der Gleichzeitigkeit von Setzen und Reflektieren des Ich. Der Grund des Unterschiedes zwischen Idealität und Realität, zwischen Ding und Vorstellung, sei die Unmöglichkeit des Bewußtseins einer freien Handlung. 2 7 0 Die Freiheit oder das unmittelbare Handeln des Ich sei der Vereinigungspunkt zwischen Idealismus und Realismus, aber das Ich könne sich nicht durch Reflexion, sondern lediglich durch eine Handlung als absolute Spontaneität als frei setzen. Nur „als Product seiner eigenen freien Thätigkeit (.. . ) " 2 7 1 könne das Ich sich seiner Freiheit bewußt sein. Diese Freiheit sei jedoch nur eine mittelbare Freiheit, denn als Product ist es keine freie Handlung mehr. Nicht das bestimmende, sondern bloß das bestimmbare Ich könne Gegenstand der Reflexion sein. Oder in den Worten Kants: „Nicht das Bewußtsein des Bestimmenden, sondern nur die des bestimmbaren Selbst, d.i. meiner inneren Anschauung (...), ist das Objekt." 2 7 2 Ein jedes Objekt könne aber nichts anderes sein „als ein Product der Einbildungskraft." 273 Der Grund der Objektivität der Erkenntnisse sei die Einbildungskraft, die nach einem bestimmten Gesetz verfahren müßte.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft. Zur Deduktion objektiver Realität im System des transzendentalen Idealismus „Ganz auf dieselbe Weise [wie Descartes und Spinoza res extensa und res cogitans gegeneinander bestimmten; M.G.] hatte Fichte den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich. Zwar hätte er seiner eignen Lehre zufolge, daß nur das Ich wahrhaft existirt, das Ich auch als die Substanz oder als das letzte Wesen der Natur erkennen, er hätte von der Natur behaupten müssen, daß auch sie wahrhaft nur existire, inwiefern sie innerlich oder ihrem Wesen nach = Ich, Subjekt-Objekt sey. Er hätte dies behaupten müssen, wenn er nicht alle Realität außer unsern Vorstellungen abgesprochen hätte." 274 1. Die Deduktion der Empfindung „Alle Realität der Erkenntniß haftet an der Empfindung, und eine Philosophie, welche die Empfindung nicht erklären kann, ist darum schon eine mißlun-

270 271 272 273 274 275

Vgl. Grundriss, S. 371. Grundriss, S. 371. KrV, Β 407. Grundriss, S. 388. Geschichte, S. 176, SW X, S. 106. System, S. 407, SW III, S. 407.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft

137

Das allgemeine Beweisziel der Darlegung der Geschichte des Selbstbewußtseins ist die Deduktion der Möglichkeit und der Realität des Selbstbewußtseins. Alle „Epochen ( . . . ) " 2 7 6 der Geschichte des Selbstbewußtseins werden anhand der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit und der Realität der jeweiligen Gestalt des Selbstbewußtseins auseinander entwikkelt. Movens oder das progressive Prinzip der Entwicklung sei der sich in allen Gestalten des Selbstbewußtseins fortsetzende Widerspruch der einander entgegengesetzten ideellen und reellen Tätigkeiten. In seinem Prinzip ist das Selbstbewußtsein bloß ideell, aber durch das Prinzip entsteht das Selbstbewußtsein als dasjenige, was es in seinem Prinzip nicht ist, nämlich als reell. Weil jede Bestimmung Einschränkung der ursprünglichen Tätigkeit sei, müsse dasjenige, was zunächst ideell ist, eingeschränkt werden, um als endliches reell werden zu können. Die Deduktion der Realität des Selbstbewußtseins hat also zu zeigen, wie die zunächst als unbegrenzbar angenommene ideelle Tätigkeit begrenzt werden könne. Gefordert ist damit nichts anderes als die vollständige Deduktion der Identität des reinen mit dem empirischen Selbstbewußtsein. Mit der Deduktion der Empfindung sei zu erklären, „wie das Ich dazu komme, sich als begrenzt anzuschauen ( . . . ) " 2 7 7 und „wie das Ich sich selbst als empfindend anschaue (.. . ) " 2 7 8 . Im Akt der Empfindung soll das Ich einerseits sich selbst überhaupt zum Objekt werden, d. h. sich selbst reell werden, andererseits soll das Ich sich selbst als Subjekt der Empfindung zum Objekt werden. Die Empfindung hat die Funktion, das Ich in seiner ersten Gestalt als Subjekt-Objekt, als zugleich Empfindendes und Empfundenes, zu konstituieren. Um kein subjektives Subjekt-Objekt zu bleiben, muß diese Gestalt des Selbstbewußtseins sich selbst reell werden und treibt damit sich über sich selbst hinaus, denn erst auf einer höheren Stufe, der produktiven Anschauung, vermöge das Ich sich in dieser Handlung anzuschauen. Das Gleichgewicht der ideellen und reellen Tätigkeit sei in keiner einzelnen Gestalt des werdenden Selbstbewußtseins durchgängig möglich. Die Fixierung der entgegengesetzten Tätigkeiten in einem gemeinschaftlichen Dritten betreffe die beiden Tätigkeiten nicht gleichmäßig, so daß das Gleichgewicht mangelhaft sei. Das gestörte Gleichgewicht werde zum Movens, den Widerspruch im Prozeß aufzuheben, aber nicht ohne seine Spur 2 7 9 zu hinterlassen. 280 276

System, S. 399, SW III, S. 399. System, S. 399, SW III, S. 399. 278 System, S. 411, SW III, S. 411. 279 Vgl. WL, S. 336. 280 vgl piaton, Timaios, S. 97, 52 d: „Die Amme des Werdens aber erscheine, wenn sie verflüssigt und wenn sie entzündet werde und wenn sie die Gestaltungen der Erde und Luft in sich aufnehme sowie alle anderen damit verbundenen Zu277

138

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Die absolut gesetzte Voraussetzung des Systems des transzendentalen Idealismus ist der ursprüngliche Akt des Selbstbewußtseins, der zunächst bloß ideell ist. Der Übergang vom absoluten Akt des Selbstbewußtseins, „idurch welchen für das Ich alles gesetzt ist f . . . / ' 2 8 1 , zur Thesis und Antithesis der im Ich absolut entgegengesetzten Tätigkeiten sowie ihrer Synthesis sei notwendig, wenn nicht bei der Erklärung des Begrenztseins überhaupt stehen geblieben werden soll. Während im ursprünglichen Akt das Selbstbewußtsein danach strebt, sich bloß Objekt überhaupt zu werden, soll das Selbstbewußtsein im Prozeß seiner Entwicklung zum Subjekt-Objekt werden, indem es sich in seinen Gestalten selbst bewußt wird. Die Reflexion des sich aus der ursprünglichen Tätigkeit entwickelnden Selbstbewußtseins auf seine ihm in jeder Synthesis reell gewordenen Tätigkeiten ist das progressive Prinzip der Geschichte des Selbstbewußtseins. Mit und in der Synthesis sollen die einander absolut entgegengesetzten Tätigkeiten aber nicht vernichtet, sondern in ein gemeinschaftliches Produkt ihrer Konkurrenz aufgehoben werden. Dieses aus dem wechselseitigen Verhältnis der beiden ideellen Tätigkeiten hervorgehende Produkt ist selbst diesen entgegengesetzt. Das Produkt soll weder ein Tätiges, noch ein Ideelles, vielmehr ein untätiges Reelles oder reelles Untätiges sein. „Was reell ist, ohne thätig zu seyn, ist der bloße Stoff, ein bloßes Produkt der Einbildungskraft (...). Aller Stoff ist bloßer Ausdruck eines Gleichgewichts entgegengesetzter Thätigkeiten, die sich wechselseitig auf ein bloßes Substrat von Thätigkeit reduciren." 282 Die Synthesis der entgegengesetzten Tätigkeiten ist demnach als das tertium comparationis der beiden Tätigkeiten das Substrat, die Materie der Tätigkeiten als ihr bestimmtes und in einer Größe darstellbares Verhältnis. Diese Materie müsse reell sein, weil sie den ideellen, sie produzierenden Tätigkeiten entgegengesetzt sein soll. Diese Realität der Materie ist aber Produkt der einander entgegengesetzten ideellen Tätigkeiten, ohne ein Moment der Selbständigkeit zu haben. Sowohl der Existenz- als auch der Erkenntnisgrund der Materie liegt für Schelling in der Tätigkeit des Subjektes begründet. Kant konnte an der Selbständigkeit der Existenz des Erkenntnisgegenstandes festhalten, indem er das Reale in der Erscheinung als einen Begriff einführte, der an sich selbst ein Sein mitführt. Dieser Existenzgrund ist als erschlossener ideell, Realität komme ihm aber unabhängig vom Denken zu. Die Kantische Argumentation führt notwendig zu Inkonsistenzen, stände erfahre, als mannigfaltig anzuschauen. Da sie aber weder von ähnlichen noch von im Gleichgewicht stehenden Kräften erfüllt werde, sondern indem sie auf jeder Seite ungleichmäßig auf- und abschwanke, werde sie selbst durch jene Kräfte erschüttert und erschüttere, durch jene in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene." 281 System, S. 395, SW III, S. 395. 2 2

System, S.

, SW III, S.

.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft

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die Schelling umgehen möchte, indem er die Selbständigkeit des Existenzgrundes des Gegenstandes der Erkenntnis ohne äußerliche Affektion, ausschließlich durch die Tätigkeiten des denkenden Subjektes zu begründen versucht. Die Verwandlung eines ursprünglichen Seins in ein Wissen sei nur zu denken, sofern Sein und Wissen nicht allo genos seien. Entweder sei die Vorstellung selbst eine Art des Seins oder das Sein eine Art von Vorstellung, so daß der Existenzgrund mit dem Erkenntnisgrund zusammenfiele. „Das Denken als eine materielle Erscheinung zu erklären, ist nur dadurch möglich, daß man die Materie selbst zu einem Gespenst, zur bloßen Modifikation einer Intelligenz macht, deren gemeinschaftliche Funktionen das Denken und die Materie sind." 283 Der Materialismus sei nur als transzendentaler Idealismus möglich. Der Hiatus zwischen Sein und Wissen sei allein im Akt des Selbstbewußtseins aufzuheben, weil es die ursprüngliche Einheit beider sei. Hängt die Realität der Erkenntnis an der Empfindung und soll ein jedes Objekt für das Ich ohne äußerliche Affektion möglich sein, so ist mit der Deduktion der Empfindung zu erklären, wie das Ich ausschließlich in der Form der Anschauung des inneren Sinnes zugleich und gleichermaßen Empfundenes und Empfindendes für sich selbst sein könne. Der Grund der Realität der Erkenntnis ist dann die Selbstaffektion des Ich. Die erste Aufgabe der Deduktion der Empfindung, zu erklären, wie das Ich dazu komme, sich als begrenzt anzuschauen, führt Schelling auf die Affektion des Ich. Weil eine Affektion nur unter gleichartigen Dingen möglich sei, könne der „Akt, wodurch das Ich sich selbst begrenzt, (...) kein anderer als der des Selbstbewußtseyns ( . . . ) " 2 8 4 sein. Sowohl der Beziehungs- als auch der Unterscheidungsgrund zwischen Affizierendem und Affiziertem müssen deshalb im Ich liegen. Die Anschauung seiner Begrenztheit ist der Akt des sich selbst zum Objekt Werden des Ich. In diesem Akt wird das Ich sich aber bloß als etwas Passives, nicht als ein Aktives bewußt. Das Ich ist in der Anschauung seiner Begrenztheit ein Affiziertes. Erst mit der Auflösung der zweiten Aufgabe der Deduktion der Empfindung, wie das Ich dazu komme, sich als empfindend anzuschauen, wird es sich nicht nur als Objekt einer Tätigkeit, sondern zugleich als Subjekt einer Handlung zum Gegenstand. Die Einheit von Empfundenem und Empfindendem, Objekt und Subjekt im Akt der Empfindung ist für Schelling nur als Selbstaffektion des Ich zu denken. Die von Schelling sogenannte ursprüngliche Empfindung, die Affektion des Ich durch ein Nicht-Ich sei nur möglich aufgrund des gestörten Gleich283 284

System, S. 407, SW III, S. 407. System, S. 406, SW III, S. 406.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

gewichts der ideellen und der reellen Tätigkeit und der unendlichen Tendenz des ideellen Ichs sich in dem reellen Ich anzuschauen. Das gestörte Gleichgewicht ermögliche die Differenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Empfindung, so daß das Ich überhaupt etwas in sich finden könne, ohne als leere Identität in sich zusammenzufallen. Die Reflexivität des Ich hingegen sei nur möglich, wenn das Ich etwas in sich finde oder die Affektion überhaupt auf sich selbst beziehe. Das Selbstanschauen in der Begrenztheit sei nichts anderes als ein Empfinden. Das Ich finde etwas in sich, das als ihm entgegengesetzt, als nicht durch seine Tätigkeit hervorgebracht erscheine. „Das Entgegengesetzte ist im Ich, heißt: es ist dem Ich absolut entgegengesetzt; das Ich findet etwas als sich entgegengesetzt, heißt: es ist dem Ich entgegengesetzt nur in Bezug auf sein Finden und die Art dieses Findens (.. . ) . " 2 8 5 Die Realität der Empfindung beruhe demnach allein darauf, daß das Ich das Empfundene nicht anschaut als durch sich gesetzt. Anders ausgedrückt finde das sich in seiner Begrenztheit anschauende Ich im Angeschauten etwas, was nicht durch das Ich im Akt der Anschauung gesetzt sei. Anschauen und Begrenzen seien zwar ursprünglich Eines 2 8 6 , aber weil das Ich nicht zugleich Anschauen und auf dieses Anschauen reflektieren könne, finde das Ich das Begrenztsein als nicht durch sich selbst, mithin durch ein Nicht-Ich gesetzt. „Das Ich kann also sich nicht anschauen als begrenzt, ohne dieses Begrenztseyn als Affektion eines Nicht-Ich anzuschauen." 287 Dieses Nicht-Ich sei jedoch nicht als ein Objekt, als ein Ding an sich zu denken. Vermittelst der Vorstellung eines Ding an sich ließe sich zwar die Passivität der Empfindung, die Affektion des Ich erklären, nicht aber die zweite Aufgabe der Deduktion der Empfindung lösen. Wie das Ich sich selbst als empfindend anschaue, die Selbstaffektion des Ich sei nicht durch ein Leiden zu erklären. Die Erklärung der Möglichkeit der Empfindung komme ohne die Annahme der Existenz eines Ding an sich aus, weil im Akt der Empfindung das Ich etwas ihm Entgegengesetztes finde, nicht weil mit der Empfindung etwas absolut Entgegengesetztes im Ich sei. Der Gegenstand der Empfindung sei nie ein dem Ich überhaupt äußerliches Objekt, sondern stets etwas, was dem tätigen Subjekt entgegengesetzt sei. Ist die wesentliche Bestimmung des Ich seine Tätigkeit, so müsse ihm dementsprechend die Negation von Tätigkeit entgegengesetzt sein. Das Empfundene ist dann die eingeschränkte Tätigkeit des Ich. Die ursprüngliche Empfindung sei möglich, weil das Ich „sich selbst als ursprünglich begrenzt anschaut." 288 Diese Anschauung selbst kann nicht in 285 286 287

System, S. 404, SW III, S. 404. Vgl. System, S. 403, SW III, S. 403. System, S. 403, SW III, S. 403.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft

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ein und derselben Handlung vom Ich angeschaut werden. Sowohl die Reflexion als auch der Gegenstand der Reflexion sind ein Anschauen, ein Handeln. Während in der Anschauung, die Gegenstand der Reflexion ist, das Ich sich selbst zum Objekt wird, wird das Ich sich in der auf sich beziehenden Anschauung als Subjekt zum Gegenstand. Die erste Anschauung, die ursprüngliche Empfindung ist dasjenige Moment des Selbstbewußtseins, „in welchem das Ich sich in der ursprünglichen Begrenztheit anschaut, ohne daß es dieser Anschauung sich bewußt, oder ohne daß ihm diese Anschauung selbst wieder zum Objekt würde." 2 8 9 Das Ich ist bloß Empfundenes. Weil das Ich durch ein ihm Fremdes affiziert wird, sei es leidend, und Leiden ist die Negation seiner Handlung. Die Selbstaffektion des Ich, die Anschauung des Ich als Subjekt der Empfindung, hingegen sei nur unter der Voraussetzung einer Tätigkeit des Ich zu denken. Um für sich selbst Empfindendes zu sein, um als Subjekt der Empfindung sich selbst zum Objekt zu werden, muß das ideelle Ich die Passivität des Leidens in sich setzen. Jede Reflexion hat die absolute Spontaneität des Verstandes zur Voraussetzung. Wenn das Ich auf sich selbst als ein Empfindendes zurückgehen soll, bedarf es der transzendentalen Freiheit, die für Schelling die schlechthin unbegrenzbare Tätigkeit des ideellen Ich ist. „Das Ich kann also nicht Empfindendes seyn für sich selbst, ohne überhaupt thätig zu seyn. Das Ich nun, was hier thätig ist, kann nicht das begrenzte seyn, sondern nur das unbegrenzbare. Aber dieses ideelle Ich ist unbegrenzt nur im Gegensatz die objektive, jetzt begrenzte Thätigkeit, also nur inwiefern es über die Grenze hinausgeht. Wenn man darauf reflektirt, was in jeder Empfindung vorgeht, so wird man finden, daß in jeder etwas seyn muß, was um den Eindruck weiß, aber doch von ihm unabhängig ist, und über ihn hinausgeht; denn selbst das Urtheil, daß der Eindruck von einem Objekt herrühre, setzt eine Thätigkeit voraus, die nicht an dem Eindruck haftet, sondern auf etwas jenseits des Eindrucks geht. Das Ich also ist nicht Empfindendes, wenn nicht in ihm eine über die Grenze hinausgehende Thätigkeit ist. Vermöge derselben soll das Ich, um für sich selbst empfindend zu seyn, das Fremdartige in sich (das ideelle) aufnehmen; dieses Fremdartige ist aber selbst wieder im Ich, es ist die aufgehobene Thätigkeit des Ich." 2 9 0 Soll das Subjekt der Empfindung zum Objekt werden können, dann ist für diese Reflexion des Ich auf sich selbst ein Moment von Freiheit gefordert. Die Reflexion auf das Subjekt der Empfindung muß selbst unabhängig von der Empfindung sein. Diese Unabhängigkeit des ideellen Ich von der Empfindung bezeichnet Schelling als eine über die Grenze hinausgehende Tätigkeit. Die Grenze ist gesetzt worden als das der ideellen Tätigkeit Entgegengesetzte, das also in die reelle Tätigkeit fällt. Soll nun das Ich für 288 289 290

System, S. 411, SW III, S. 411. System, S. 412, SW III, S. 412. System, S. 413, SW III, S. 413.

142

Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

sich selbst Empfindendes sein, muß es das ihm Entgegengesetzte in sich selbst setzen, so daß die Grenze in das ideelle Ich fallen müßte. Das Verhältnis der Grenze zum ideellen Ich sei aber weder derart zu bestimmen, daß die ideelle, über die Grenze hinausgehende Tätigkeit die Grenze aufheben würde, noch sei ihr Verhältnis derart zu bestimmen, daß die ideelle Tätigkeit die Grenze hervorbringen würde. Würde die Grenze aufgehoben, so könnte sie auch nicht als Grenze in die ideelle Tätigkeit fallen. Dann könnte das Ich nicht Empfindendes für sich selbst sein oder eine Einheit von ideellem und reellem Ich wäre nicht denkbar. Ohne Übereinstimmung von ideellem und reellem Ich ist die Aufhebung des Widerstreits von Idealismus und Realismus in einen Ideal-Realismus nicht möglich. Würde aber die Grenze vom ideellen Ich hervorgebracht werden, so „wäre die ins ideelle Ich gesetzte Grenze nicht dieselbe mit der im reellen gesetzten, was doch seyn soll." 2 9 1 Schellings Argument für den Ideal-Realismus, der weder die Möglichkeit objektiver Realität noch die Möglichkeit transzendentaler Freiheit leugne, beruht darauf, daß jede Bestimmung des reellen Ich weder zugleich noch in gleicher Hinsicht für das ideelle Ich gesetzt sei. Das reelle Ich muß einerseits unabhängig vom ideellen Ich sein, andererseits muß es mit ihm übereinstimmen können, um überhaupt für das Ich sein zu können. Die Grenze dürfe vom ideellen Ich weder aufgehoben noch hervorgebracht werden, vielmehr müsse die Grenze bestimmt werden. „Was ich bestimmen soll, muß unabhängig von mir da seyn. Aber indem ich es bestimme, wird es durch das Bestimmen selbst wieder ein von mir Abhängiges. Ferner, indem ich ein Unbestimmtes bestimme, hebe ich es auf als Unbestimmtes, und bringe es hervor als Bestimmtes."292 Das Unbestimmte ist hier die Passivität des empfindenden Ich, das im Empfinden sich nicht des Aktes der Empfindung selbst bewußt wird. „Jene bloße Passivität ist der bloße Stoff der Empfindung, das rein Empfundene." 2 9 3 Mit der Bestimmung des Stoffes der Empfindung würde etwas Bestimmtes hervorgebracht werden, jene „Handlung des Bestimmens wäre also ein Produciren, der Stoff dieses Producirens die ursprüngliche Passivit ä t . " 2 9 4 In diesem Akt der Produktion seien Aktivität und Passivität absolut vereinigt. In diesem Moment des Bewußseins sei das Ich Empfindendes für sich selbst. Das Subjektive im Ich wird sich selbst zum Objekt, indem die über die Grenze hinausgehende Tätigkeit zum Objekt wird. Weil einerseits nur die ideelle, empfindende Tätigkeit über die Grenze hinausgehen könne und andererseits nur die reelle, empfundene Tätigkeit zum Objekt werden könne, müsse diejenige Tätigkeit, durch welche das Ich als empfindend 291 292 293 294

System, System, System, System,

S. 415, S. 415, S. 416, S. 416,

SW SW SW SW

III, III, III, III,

S. 415. S. 415. S. 416. S. 416.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft

143

sich zum Objekt wird, zugleich ideell und reell sein. 2 9 5 Diese Forderung werde allein von der produzierenden Tätigkeit erfüllt. Vermittelst der produzierenden Tätigkeit sollen die reelle und die ideelle Tätigkeit in ihrem Widerstreit fixiert werden. In dieser fixierten Beziehung erschienen die reelle Tätigkeit als das Ich an sich und die ideelle Tätigkeit als Ding an sich. Das Ich an sich und das Ding an sich seien die reellen Korrelate der reellen und der ideellen Tätigkeit, die beide ideell sind. Auf der reellen Entgegensetzung von Ich an sich und Ding an sich beruhe die Bestimmtheit der Empfindung. Das Ich als das Empfundene für sich selbst sei nicht mehr Teil des gegenwärtigen Bewußtseins, so daß nunmehr das Empfundene als das dem reellen Ich Entgegengesetzte, als unabhängig von diesem existierendes Ding an sich erscheine. 2. Die Deduktion der produktiven Anschauung „Ein System des Wissens ist nothwendig entweder Kunststück, Gedanken-Spiel ( . . . ) - oder es muß Realität erhalten, nicht durch ein theoretisches, sondern durch ein praktisches, nicht durch ein erkennendes, sondern durch ein productives , realisirendes Vermögen, nicht durch Wissen, sondern durch Handeln" 296 Das Resultat der Deduktion der Empfindung und die Voraussetzung der Theorie der produzierenden Anschauung sei, daß durch die Beziehung der über die Grenze hinausgegangenen und der innerhalb der Grenze gehemmten Tätigkeit beide Tätigkeiten als etwas einander Entgegengesetztes fixiert werden. Diese in ihrer Entgegensetzung Fixierten seien das Ich an sich und das Ding an sich, die an sich unvereinbar seien. Die wechselseitige Beziehung der Entgegengesetzten sei allein Resultat des Handelns des Ich. „Beide Entgegengesetzte werden afficirt nur durch das handeln des Ichs, und sind insofern ein Produkt des Ichs, das Ding an sich sowohl, als das Ich, das hier zuerst als Produkt von sich selbst vorkommt." 2 9 7 Sowohl der Unterscheidungs- als auch der Beziehungsgrund des reellen Ich und des Ding an sich fiele in das Ich, jedoch auf unterschiedlichen Stufen seiner Entwicklung. Während in der Empfindung das Ding an sich und das reelle Ich ohne Vermittlung einander entgegengesetzt sind, so daß sie dem empfindenden Subjekt als zwei vollständig getrennten Welten angehörig erscheinen, sollen Ding an sich und das reelle Ich vermittelst der produktiven Anschauung in der Erscheinung miteinander vermittelt werden. Für das reelle oder objektive Ich könne das Ding an sich nur außer ihm sein. Für das intelligente, das zugleich ideelle und reelle Ich sei das Ding an sich im Ich 295

Vgl. System, S. 420, SW III, S. 420. 296 f ψ j Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795), AA Bd. I, 3, S. 73, Schellings Werke Erster Band, S. 229, SW I, S. 305. 297 System, S. 432, SW III, S. 432.

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

und für das Ich. Das sowohl ideelle als auch reelle Ich sei das in der Produktion begriffene Ich. Kant bestimmt das Ding an sich als die unbekannte Ursache der Erscheinungen. Als unbekannte Ursache der Erscheinungen kann das Ding an sich kein Gegenstand der Erkenntnistheorie, sondern nur das Resultat eines negativen Schlusses sein. Weil die Erscheinungen nicht in sich subsistieren, müsse ihnen das Ding an sich als der negativ erschlossene, aber positiv gesetzte Existenzgrund korrespondieren. Eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist, daß das erkennende Subjekt sich auf etwas bezieht. Dieses Andere oder Nicht-Ich des erkennenden Subjekts ist als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis unabhängig vom Ich. Insofern das Andere des erkennenden Subjekts aber erschlossen wurde, ist es als Resultat des Schlusses wiederum abhängig vom Ich. Als Resultat eines Schlusses durch das Subjekt sei, so Fichte im Anschluß an Kant, der Existenzgrund des Nicht-Ich in das Handeln des Ich zu setzen. 298 An diesem Punkt setzt Schellings Kritik an: „Nach Fichte also war alles durch das Ich und für das Ich. (...) Die Meinung dieses subjektiven Idealismus selbst konnte nicht seyn, daß das Ich die Dinge außer sich frei und mit Wollen setzte, denn nur zu vieles ist, das das Ich ganz anders wollte, wenn das äußere Seyn von ihm abhienge. Der unbedingteste Idealist kann nicht vermeiden, das Ich, was seine Vorstellungen von der Außenwelt betrifft, als abhängig zu denken - wenn auch nicht von einem Ding an sich, wie es Kant nannte, oder überhaupt von einer Ursache außer ihm selbst, aber doch wenigstens abhängig von einer inneren Nothwendigkeit, und wenn er dem Ich ein Producieren jener Vorstellungen zuschreibt, so muß dieses wenigstens ein blindes, nicht in dem Willen sondern in der Natur des Ich gegründetes Producieren seyn." 299 Der vollkommenste Idealismus ist für Schelling zugleich der vollkommenste Realismus, der nur in einer Natur möglich sei, „welche in den Dingen nur ihre eigne, durch Thätigkeit eingeschränkte Realität erblickt." 3 0 0 Der Mechanismus des Geistes soll sich als Garant der Notwendigkeit und Allgemeinheit, der objektiven Gültigkeit seiner Produkte erweisen. Die Problematik des von Fichte gesetzten ideellen Existenzgrundes des Nicht-Ich bestehe darin, daß dieser absolut gesetzt wird. Ein absoluter Existenzgrund ist reine Beziehung auf sich selbst oder für sich Seiendes. Die Reflexion würde auf den Existenzgrund führen, so daß die Reflexion zugleich ihr Existenzgrund wäre. Damit die Reflexion nicht in sich subsistiert, müssen Existenzgrund und Reflexion von unterschiedlichem ontologischen Rang sein. Das seiner selbst gewisse Denken hat eine ihm immanente Beziehung auf 298 299 300

Vgl. WL, S. 156. Geschichte, S. 162 f., SW X, S. 92 f. System, S. 428, SW III, S. 428.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft

145

das, was es selbst nicht ist, zur Voraussetzung. Die Beziehung zwischen Ich und Nicht-Ich ist für die Selbstgewißheit des Denkenden notwendig, weil die reine Apperzeption leer ist. Ohne die Beziehung auf ein dem Denken transzendentes Objekt, wäre das Denken ein Denken von Nichts, mithin kein Denken. Weil das transzendentale Subjekt sich selbst nicht als das Mannigfaltige seiner eigenen Anschauung zum Objekt werden könne, macht Kant das unter der Form der Anschauung des äußeren Sinnes gegebene Mannigfaltige zur Voraussetzung der transzendentalen Einheit der Apperzeption. 301 Das transzendentale Subjekt könne sich nicht in sich selbst unterscheiden und dergestalt sich selbst als ein Bestimmendes zum Objekt machen. Schelling versucht, im Anschluß an Fichtes Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich, das Transzendente als etwas dem Prozeß der intellektuellen Anschauung oder der Geschichte des Selbstbewußtseins Immanentes zu bestimmen. Die Immanenz des dem Bewußtsein Transzendenten erfordere die Unterscheidung des Bewußtseins in unbewußtes und bewußtes Bewußtsein. Dem Bewußtsein transzendent seien bloß seine ihm unbewußten Bestimmungen. Das dem Denken Transzendente soll nicht als gegebenes Mannigfaltiges dem seiner selbst gewissen Denken vorausgesetzt werden, sondern soll als Produkt der Tätigkeit des Ich erscheinen. Diese Erscheinung sei die Materie, die allein aus der Tätigkeit des Ich zu deduzieren sei. Der „Ursprung der Dinge ( . . . ) " 3 0 2 liege in der zugleich ideellen und reellen Tätigkeit, der produktiven Anschauung. Die einfache Anschauung, die als ideelle, unbegrenzbare Tätigkeit das Ich zuallererst als Objekt, als reelles Ich im Akt der Empfindung begrenzte, wird in der produktiven Anschauung selbst zum Objekt der Anschauung. Die als schlechthin unbegrenzbar gesetzte ideelle Tätigkeit könne aber nicht als anschauende Tätigkeit, sondern nur als Angeschautes angeschaut werden. Seine eigene Tätigkeit könne das Ich nur unter der Voraussetzung anschauen, daß es sich als Subjekt dieser Tätigkeit oder als Substanz von dieser Tätigkeit unterscheide. 303 Für Schelling hat die Beziehung zwischen dem Ding an sich und dem reellen Ich ihren Grund in der Entgegensetzung ihrer Tätigkeiten. Das reelle Ich ist bestimmt worden als reelle, begrenzbare Tätigkeit. Das Ding an sich wurde bestimmt als ideelle, unbegrenzbare und begrenzende Tätigkeit. Auf der Stufe der Empfindung ist das Ding an sich gesetzt worden als Resultat der Tätigkeit des Ich. Diese Tätigkeit des Ich ist analog dem Schluß des erkennenden Subjekts auf sein Anderes oder Nicht-Ich, so daß das Andere des Ich, das Nicht-Ich Resultat des Schlusses des Ich oder ideelle Tä301

Vgl. WL, S. 332 f. System, S. 428, SW III, S. 428. 303 Zur Bedeutung des Verhältnisses von Substanz und Objekt vgl. W. Jaeschke, Substanz und Subjekt, in: Tijdschrift voor Filosofie 62 (2000), S. 439^58. 302

10 Gerhard

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

tigkeit ist. Das Ding an sich ist also ideell, abhängig vom sich selbst vermittelst des Nicht-Ich begrenzenden Ich. Das, was als Tätigkeit des Ding an sich erscheine, sei „nichts anderes als die ideelle in sich zurückgehende Thätigkeit des Ichs ( . . . ) . " 3 0 4 Reell oder unabhängig vom Ich werde das Ding an sich, sofern es an und für sich selbst aufhörte Tätigkeit zu sein. In der produktiven Anschauung soll das reelle Ich zugleich ideell, d.h. intelligent werden und das ideelle Ding an sich soll zugleich reell werden. Die Entgegensetzung der ideellen und reellen Tätigkeit soll nicht mehr zwischen dem reellen Ich und dem Ding an sich bestehen, sondern in das Ich und das Ding selbst übergehen. Als zugleich ideell und reell seien das Ich und das Ding als Passive und Untätige fixiert. Die Entgegensetzung zwischen Ich an sich und Ding an sich sei aufgehoben in einem gemeinschaftlichen Dritten von Ich und Ding, der Erscheinung. Subsistieren die Erscheinungen im Ich nicht in sich als Erscheinungen, sondern haben sie vielmehr einen Grund jenseits des empirischen Ichs, so muß das empirische Ich für diese Ursache empfänglich sein. Die Erscheinungen sind dann Wirkungen eines Nicht-Ich. Grund dieses tätigen Nicht-Ich kann entweder das Ich oder wiederum ein Nicht-Ich, ein Ding an sich sein. Um Wirkungen in der Rezeptivität der Sinnlichkeit hervorzubringen, muß das Ding dynamisch sein, es ist somit ein tätiges Ding. Indem das Ding Tätigkeit ist, unterscheidet es sich nicht vom Ich, ihre Unterscheidung beschränkt sich nunmehr auf die Entgegensetzung ihrer Tätigkeiten. Als einander entgegengesetzte Tätigkeiten bedürfen sie eines gemeinsamen Dritten. Dieses Dritte bestimmt Schelling zum einen als das absolute Subjekt, das des Philosophen, der die Entgegensetzung der Tätigkeiten feststellt, zum anderen ist es bestimmt als Resultat der nicht sich, sondern der einander entgegengesetzten Tätigkeiten. Dieses Resultat der einander entgegengesetzten Tätigkeiten seien die Erscheinungen. Die Bedingung der Möglichkeit der produktiven Anschauung sei, daß die Entgegensetzung von Ich und Ding absolut sei, weil in einer relativen Entgegensetzung beide sich wechselseitig vernichten würden. Die Erklärung einer absoluten Entgegensetzung bleibt problematisch. „Denn in das Ich kommt alles nur durch sein Handeln, also auch jener Gegensatz. Aber ist jener Gegensatz durch ein Handeln des Ich gesetzt, so hört er eben dadurch auf absolut zu sein." 305 Eine relative Entgegensetzung bedeutet, daß die beiden Entgegengesetzten in und durch ihre Beziehung aufeinander entgegengesetzt sind. Der Beziehungs- und der Unterscheidungsgrund fallen in diesem Fall in eines. Im gemeinschaftlichen Dritten verschwindet ihre Entgegensetzung. Als Bei304 305

System, S. 437, SW III, S. 437. System, S. 433, SW III, S. 433.

IV. Materie oder Material der Wissenschaft

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spiel mag die Entgegensetzung zwischen der Zahl Eins mit einem negativen Vorzeichen und der Zahl Eins mit einem positiven Vorzeichen dienen. Werden die positive und die negative Eins aufeinander bezogen, wird die Entgegensetzung der beiden Zahlen aufgehoben in der Null als das gemeinschaftliche Dritte der aufeinander Bezogenen. Der Unterschied ist in der Beziehung der Unterschiedenen aufeinander verlorengegangen. Für Schelling müssen aber, um den Prozeß der intellektuellen Anschauung voran zu treiben, Beziehungs- und Unterscheidungsgrund stetig auseinander fallen. Die Entgegensetzung muß deshalb für die Entgegengesetzten absolut sein, sie erscheinen bloß als Entgegengesetzte. Der Grund ihrer Entgegensetzung liegt nicht in ihrem Verhältnis zueinander, so daß die Entgegengesetzten allo genos erschienen. Die Auflösung der Schwierigkeit einer absoluten Entgegensetzung sei geleistet, wenn zu zeigen ist, daß das Handeln des Ich selbst im Bewußtsein verloren gehe 3 0 6 , weil dann „nur die beiden Glieder des Gegensatzes (Ich und Ding an sich) als an sich (durch sich selbst) unvereinbar zurückbleiben." 307 Im Bewußtsein sollen allein die Relata, Ich und Ding an sich, verbleiben, nicht aber die Relation, die ihren Grund im Handeln des Ich hat. Der Beziehungsgrund dieser als unvereinbar erscheinenden Relata, Ich an sich und Ding an sich, liege in etwas Drittem, in einer höheren Synthesis, der produktiven Anschauung. Die produktive Anschauung, wie Schelling sie darlegt, ist keine Form der Anschauung, unter der etwas, was von ihr unabhängig wäre, erkannt wird, sondern ist die Konstituierung und Produktion des Gegenstandes der Erkenntnis. Wurde zunächst die absolute Entgegensetzung der beiden Tätigkeiten als Bedingung der produktiven Anschauung behauptet, so folge umgekehrt aus der absoluten Entgegensetzung der beiden Tätigkeiten, „daß sie in einem und demselben Subjekt gesetzt seyn müssen. Denn nur, wenn zwei entgegengesetzte Thätigkeiten Thätigkeiten eines und desselben Subjekts sind, kann die eine die absolut entgegengesetzte der andern seyn." 3 0 8 Ungeklärt bleibt, ob die beiden einander entgegengesetzten Tätigkeiten konstitutiv für das Subjekt der Tätigkeiten sind oder ob das Subjekt selbst Voraussetzung der absolut entgegengesetzten Tätigkeiten ist. Im Bezug auf die Dynamik ist die analoge Frage zu stellen, ob die Kräfte konstitutiv für den Körper sind oder aber der Körper den Kräften vorauszusetzen ist. Im folgenden Kapitel soll dargelegt werden, daß Materie bzw. Masse notwendig als dasjenige vorauszusetzen ist, welches Schwerkraft hat und damit der Beziehungsgrund der attrahierenden und repulsiven Kräfte ist. Der Beziehungsgrund ist Voraus-

306 ygi Grundriss, S. 370: „Es ist sogleich einleuchtend, dass das dieses Product setzende Ich im Setzen desselben sich selbst vergisst, das mithin dieses Product ohne Bewusstseyn des Anschauens angeschaut wird." 307 System, S. 433, SW III, S. 433. 308 System, S. 437, SW III, S. 437. 10*

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Β. Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie

Setzung der Beziehung, nicht aber ist die Beziehung der Relata die Voraussetzung des Grundes der Beziehung. Der Beziehungsgrund ist nicht Resultat der Beziehung. Die Deduktion der Materie kommt nicht ohne das Zitat des vorauszusetzenden Materials aus. 3 0 9 Die Unterscheidung des Subjekts der Tätigkeit oder der Substanz von der Tätigkeit selbst ist zur Deduktion der objektiven Realität nicht hinreichend.

309 Daß Schellings Deduktion der Materie keine Konstruktion ist, und daher „eine rein apriorische Naturphilosophie bis in alle Spezifikationen des Empirischen hinein (...)" unmöglich ist, betont H. D. Mutschier. [H. D. Mutschier, Spekulative und empirische Physik. Aktualität und Grenzen der Naturphilosophie Schellings, Stuttgart 1990, S. 111]. Oder, wie Bloch zur Mangelhaftigkeit der Schellingschen Deduktion der Materie schreibt: „Bei alldem freilich bleibt auch in Schellings so beschaffener letzter Naturfeier die Materie eine Kruste der Idee, nicht ihr Substrat." [E. Bloch, Natur als organisierendes Prinzip - Materialismus beim frühen Schelling, in: M. Frank/G. Kurz (Hg.), Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt/M. 1975, S. 303].

C. Die Wissenschaft der Materie I. Kant 1. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft a) Vorrede Terminus ad quem der Argumentation der Metaphysische(n) Anfangsgründe der Naturwissenschaft ist die Bestimmung, wie Materie als ein Gegenstand des äußeren Sinnes vorgestellt werden könne, sowie die Begründung der objektiven Realität des Begriffs der Materie. Mit und durch diese Bestimmung des Begriffs der Materie soll die Realisierung der Funktion des Begriffs der Materie ermöglicht werden. 1 Kant beginnt die Vorrede mit der Bestimmung dessen, was Gegenstand einer Naturwissenschaft sein könne. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Natur mache eine Distinktion erforderlich, die schon in der Kritik der reinen Vernunft angegeben wird. „Natur, adjektive (formaliter) genommen, bedeutet den Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges nach einem inneren Prinzip der Kausalität. Dagegen versteht man unter Natur, substantive (materialiter), den Inbegriff der Erscheinungen, sofern diese vermöge eines inneren Prinzips der Kausalität durchgängig zusammenhängen. Im ersteren Verstände spricht man von der Natur der flüssigen Materie, des Feuers etc., und bedient sich dieses Worts adjective; dagegen wenn man von den Dingen der Natur redet, so hat man ein bestehendes Ganzes in Gedanken."2 Der Gegenstand der Naturwissenschaften könne lediglich die Natur in materieller Bedeutung als der „Inbegriff aller Erscheinungen, so fern sie Gegenstände unserer Sinne (.. .)" 3 sind, sein. Die Natur in formaler Bedeutung, sofern sie „das erste, innere Princip alles dessen bedeutet, was zum Dasein eines Dinges gehört (.. .)" 4 , könne nicht der allgemeine Gegenstand der Naturwissenschaften sein, weil es andernfalls eben so viele Naturwissenschaften wie Dinge gebe. Gleichwohl bestimmt Kant die Natur in forma1 Vgl. Kapitel C. I. 1. Kants Bestimmungen des Begriffs der Materie in der Kritik der reinen Vernunft. 2 KrV, Β 446 *). 3 MAdN, S. 467. 4 Ebd.

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C. Die Wissenschaft der Materie

1er Bedeutung als eine Bedingung der Möglichkeit bestimmter Naturwissenschaften. Der natura formaliter spectata werden in der Kritik der reinen Vernunft zwei verschiedene Bedeutungen zugesprochen. Einerseits sei die Natur in formaler Bedeutung die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit 5 , der Zusammenhang der Erscheinungen nach allgemeinen Gesetzen6, die systematische Einheit der Natur nach Regeln 7 oder die von uns selbst in die Erscheinungen gebrachte Ordnung und Regelmäßigkeit 8 , die nichts anderes als die synthetische Einheit des Mannigfaltigen nach Regeln 9 oder die Einheit des Verstandes 10 sei. Andererseits sei die Natur in formaler Bedeutung der Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges nach einem inneren Prinzip der Kausalität 11 oder das Innere der Natur der Dinge 1 2 . In der ersten Bedeutung ist die natura formaliter spectata transzendental bestimmt und geht auf einen Gegenstand überhaupt, die zweite Bedeutung hingegen ist metaphysisch und bezieht sich auf einen bestimmten Gegenstand. Weder in der einen noch in der anderen Bedeutung kann die natura formaliter spectata Gegenstand einer Naturwissenschaft sein, weil diese entweder als reine Form überhaupt leer, oder sie in so viele einzelne Naturwissenschaften eingeteilt werden müßte, wie es Gegenstände gibt. Eine Bedingung der Möglichkeit bestimmter Naturwissenschaften kann die natura formaliter spectata nur sein, sofern sie als ein transzendentales Prinzip fungiert, mithin in bezug auf einen Gegenstand überhaupt verwendet wird. Ein transzendentales Prinzip sei „dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objecte unserer Erkenntniß überhaupt werden können." 13 Das Kriterium einer Wissenschaft, daß sie einen Gegenstand haben müsse 14 , ist mit dem Inbegriff aller Gegenstände, die unseren Sinnen gegeben sind, erfüllt. Ein weiteres Kriterium einer Wissenschaft ist die systematische Ordnung aller Erkenntnisse zu einem kohärenten Ganzen aller Erkenntnisse. Die Ordnung erfolgt nach Prinzipien, die Kant in Grundsätze der empirischen und der rationalen Verknüpfung unterscheidet. Die rationale Verknüpfung der Erkenntnisse zu einem Ganzen bedeute nichts anderes als die Ordnung alles dessen, was 5

Vgl. KrV, Β 165 und Β 446. Vgl. KrV, Β 263, Β 479, A 114. 7 Vgl. KrV, Β 263, Β 492, Β 679, Β 719 ff., A 114. 8 Vgl. KrV, A125. 9 Vgl. KrV, A 126 f. 10 Vgl. KrV, Β 281. 11 Vgl. KrV, Β 446, Β 570. 12 Vgl. KrV, Β 333 f. 13 KdU, S. 181, XXIX. 14 Zur Präzisierung dieses Kriteriums der Wissenschaft sei darauf hingewiesen, daß für Kant ein jeder Gegenstand jeder Wissenschaft zur Voraussetzung hat, daß er ein Gegenstand möglicher Erfahrung ist. 6

I. Kant

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zum Dasein des betrachteten Dinges gehöre, nach einem ersten und inneren Prinzip. Ihr allein stünde der Titel einer Naturwissenschaft zu, dagegen die Ordnung der Erkenntnisse nach einem empirischen Grundsatz lediglich Naturbeschreibung oder Naturgeschichte heißen könne. Die apodiktische Gewißheit einer eigentlichen Naturwissenschaft gründe sich auf die in ihr enthaltenen Prinzipien a priori. Die Naturgesetze, die einer jeden Naturwissenschaft zugrunde liegen, müssen a priori erkannt werden können, um ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit begründen zu können. Derjenige Teil der Naturwissenschaften, der die apodiktische Gewißheit ihrer Urteile garantiere, sei eine reine Vernunfterkenntnis aus Begriffen und wird von Kant als reine Philosophie oder Metaphysik bezeichnet. Weil die systematische Ordnung der Naturerkenntnisse nach Gesetzen oder inneren, apriorischen Prinzipien dessen, was notwendig zum Dasein eines Dinges gehört, Bedingung der Möglichkeit einer eigentlichen Naturwissenschaft, mithin ein transzendentales Prinzip ist, und der Begriff dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört „sich nicht construiren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann ( . . . ) " 1 5 , habe jede eigentliche Naturwissenschaft eine Metaphysik der Natur zu ihrer Voraussetzung. Die einer jeden eigentlichen Naturwissenschaft vorauszusetzende Metaphysik der Natur könne sich entweder auf einen Gegenstand überhaupt beziehen und die Gesetze bestimmen, „die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen (.. . ) " 1 6 und ist der transzendentale Teil der Metaphysik der Natur oder „sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Princip zur Erkenntnis gebraucht wird (z. B. sie legt den empirischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens zum Grunde und sucht den Umfang der Erkenntniß, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist), und da muß eine solche Wissenschaft noch immer eine Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden Natur, heißen, aber es ist alsdann keine allgemeine, sondern besondere metaphysische Naturwissenschaft (Physik und Psychologie), in der jene transcendentale Principien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne angewandt werden." 17 Die Gesetze der bestimmten Naturwissenschaften, Körperlehre und Seelenlehre, sollen Resultat der Anwendung der transzendentalen Prinzipien auf die zwei Arten der Gegenstände unserer Sinne sind. Die bestimmten Naturdinge sollen zwar a priori erkannt werden, können aber selbst nicht Resultat diskursiver oder philosophischer Erkenntnis aus Begriffen sein. Sie müssen einerseits empirisch gegeben sein, müssen aber andererseits, um 15 16 17

MAdN, S. 469. MAdN, S. 469. MAdN, S. 470.

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C. Die Wissenschaft der Materie

Gegenstand einer apodiktischen Wissenschaft sein zu können, a priori bestimmbar sein. Zu lösen sei diese Schwierigkeit nur, wenn der Begriff des bestimmten Naturdinges empirisch gegeben sei und die diesem Begriff korrespondierende Anschauung weder empirisch noch rein, sondern, in der Terminologie Schellings, produktive Anschauung sei. Diese dem Begriff korrespondierende Anschauung, die weder bloß rein noch bloß empirisch sein könne, soll Resultat einer Konstruktion sein. Als Resultat einer Konstruktion ist das angeschaute Naturding empirisch vorhanden. Weil seine Bestimmung durch die in seinem Begriff angelegte Konstruktionsvorschrift seiner Existenz vorhergehe, sei seine Anschauung a priori gegeben. „Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Theil, der dem empirischen zum Grunde liegt, und der auf Erkenntniß der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens (daß er sich selbst nicht widerspreche), aber nicht des Objects als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existirend) gegeben werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch erfordert, daß die dem Begriffe correspondirende Anschauung a priori gegeben werde, d.i. daß der Begriff construirt werde." 18 Sofern der Begriff der Materie sich unter die mathematischen Kategorien subsumieren lasse, ist die dem Begriff korrespondierende Anschauung möglicher Gegenstand der Konstruktion. 19 Mit der Konstruktion wäre dann der 18

MAdN, S. 470. Daß es Kant in seiner Theorie der Materie um eine Konstruktion der Materie geht, leugnet Krings mit dem Verweis auf MAdN, S. 524 f. Vgl. H. Krings, Genesis und Materie - Zur Bedeutung der „Timaeus" - Handschrift für Schellings Naturphilosophie, in: F. W. J. Schelling, „Timaeus" (1794) (Timaeus), hrsg. v. H. Buchner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 124. Sofern der Begriff der Materie sich unter die mathematischen Kategorien subsumieren lasse, könne nach Kant auch „der dynamische Begriff der Materie als des Beweglichen, das seinen Raum (in bestimmten Grade) erfüllt, construirt werden (.. .)."[MAdN, S. 517] Aber sobald „der Stoff selbst in Grundkräfte verwandelt wird (deren Gesetze a priori zu bestimmen, noch weniger aber eine Mannigfaltigkeit derselben, welche zur Erklärung der specifischen Verschiedenheit der Materie zureichte, zuverlässig anzugeben, wir nicht im Stande sind), uns alle Mittel abgehen, diesen Begriff der Materie zu constuiren und, was wir allgemein dachten, in der Anschauung als möglich darzustellen." [MAdN, S. 525]. Das Dasein der Materie, dessen Begriff diejenigen Eigenschaften enthält, die notwendig zum Dasein eines Dinges gehören, fällt unter die dynamischen, nicht unter die mathematischen Kategorien und läßt sich nicht a priori konstruieren. „Und hierin hat die mathematisch-mechanische Erklärungsart über die metaphysisch-dynamische einen Vortheil, der ihr nicht abgewonnen werden kann, nämlich aus einem durchgehends gleichartigen Stoffe durch die mannigfaltige Gestalt der Theile ver19

I. Kant

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Beweis der objektiven Realität des Begriffs geleistet. Deshalb fordert Kant für die Naturwissenschaften die Anwendung der Mathematik. Die Metaphysik der körperlichen Natur soll die „Principien der Construktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören ( . . . ) " 2 0 bestimmen, um die Funktion des Begriffs der Materie zu realisieren. Diese metaphysischen Prinzipien sollen den Begriff der Materie „a priori zur Anwendung auf äußere Gegenstände tauglich machen (.. .)." 2 1 Zur Realisierung der Funktion des Begriffs der Materie fordert Kant zunächst die Anwendung der transzendentalen Prinzipien auf die natura materialiter spectata. Weil sich aber eine apriorische Erkenntnis über bestimmte Naturgegenstände nicht aus Begriffen deduzieren lasse oder, anders formuliert, die Erkenntnis bestimmter Naturdinge nicht diskursiv erfolgen könne, bedürfe eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge der Mathematik. „Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre, die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen Principien der Construktion der Begriffe, welche zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin wird eine vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäft der reinen Philosophie ist, die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Räume und der Zeit (nach Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt wesentlich anhängen) bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik der Natur ist." 22 Mit der Anwendbarkeit der Mathematik auf die bestimmten Naturgegenstände soll die apodiktische Gewißheit der bestimmten Naturlehre sichergestellt werden. Begründet wird das dadurch, daß „dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muß." 2 3 Aus der Übereinstimmung zwischen dem konstruierten Objekt und den realisierten Konstruktionsvorschriften läßt sich jedoch nicht schließen, daß die Konstruktion konstitutiv mittelst eingestreuter leerer Zwischenräume eine große specifische Mannigfaltigkeit der Materie sowohl ihrer Dichtigkeit, als Wirkungsart nach (wenn fremde Kräfte hinzukommen) zu Stande zu bringen. (...) Aber jenen Vortheil büßt dagegen eine blos mathematische Physik auf der anderen Seite doppelt ein, indem sie erstlich einen leeren Begriff (der absoluten Undurchdringlichkeit) zum Grunde legen, zweitens alle der Materie eigene Kräfte aufgeben muß (...)." [MAdN, S. 525] In der Tat betont Schelling im Timaeus, daß Piaton der Materie eine Wirkungsfähigkeit abspricht. Ein Werk der Materie könne es nicht geben; jedes Werk sei Werk eines Weltbaumeisters oder einer Intelligenz. Vgl. Timaeus, S. 26 f., 32 f. 20 MAdN, S. 472. 21 MAdN, S. 472. 22 MAdN, S. 472. 23

KrV, Β 744.

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C. Die Wissenschaft der Materie

sei für die apodiktische Gewißheit der synthetischen Urteile a priori. Der allgemeine Gegenstand der reinen Naturwissenschaft ist die Materie. Die Materie ist Voraussetzung der reinen Naturwissenschaft, sofern diese nicht Wissenschaft von Nichts sein soll. Die Materie ist somit das als gegeben vorauszusetzende Material der reinen Naturwissenschaft. Bedarf die reine Naturwissenschaft jedoch eines empirisch gegebenen Materials, so ist sie nicht mehr reine, sondern empirische Naturwissenschaft. Ihre Urteile sind dann nicht apodiktisch, sondern von bloß komparativer Allgemeinheit. Als reine Naturwissenschaft müßte sie demnach ihre eigenen Voraussetzungen schaffen, d. h. sie müßte die Materie als dasjenige, worauf ihre Gesetze allgemein anzuwenden sind, unabhängig von aller Erfahrung konstruieren. Mit der Konstruktion der Materie vor aller Erfahrung wird aber die Realisierung des Begriffs gefordert. Die Konstruktion wird zur Produktion ihres Gegenstandes. Soll also reine Naturwissenschaft möglich sein, dann muß sich die Materie als zugleich reell und ideell erweisen lassen können. Ideell muß die Materie sein als der Gegenstand überhaupt, als die notwendige Bedingung objektiver Erkenntnis. Reell muß sie sein als das unabhängig von der Tätigkeit des urteilenden Subjekts gegebene Material der Erkenntnis. Die Materie ist demnach ein Reflexionsbegriff, dem unabhängig von der Reflexion Realität muß zugesprochen werden können. Diese doppelte Bestimmung des Begriffs der Materie läßt sich auch zur Klärung mißverständlicher, wenn nicht gar inkonsistenter Formulierungen im Kantischen Text heranziehen. Der von Kant in der Vorrede verwendete Ausdruck „metaphysische und mathematische Construktionen (.. . ) " 2 4 hat Anlaß zu vielfältigen Interpretationen gegeben. 25 24

MAdN, S. 473. Vgl. P. Piaass, Kants Theorie der Naturwissenschaft, Göttingen 1965, L. Schäfer, Kants Metaphysik der Natur, Berlin 1966, H. Hoppe, Kants Theorie der Physik, Frankfurt/M. 1969, K. Gloy, Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft, Berlin 1976. Für P. Piaass kann es in einer metaphysischen Konstruktion nicht „darum gehen, etwas, was im empirischen Begriff schon liegt, nur gleichsam unter dem Gesichtspunkt der Kategorie (analytisch) herauszuziehen, sondern es muß die Erzeugung reiner Begriffe gemeint sein." [P. Piaass (1965), S. 76]. Die metaphysische Konstruktion eines Begriffes wäre demnach nicht die Hervorbringung einer dem Begriff gemäßen reinen Anschauung, sondern die Hervorbringung einer dem gegebenen Begriff gemäßen Bestimmung, die angebe, wie der besondere Gegenstand seinem Dasein gemäß nach allgemeinen Gesetzen des Denkens vorgestellt werden könne. Für L. Schäfer ist die metaphysische Konstruktion ein Verfahren, die Gesetzlichkeit der Natur, die von der Metaphysik der Natur nicht als Faktum vorausgesetzt werden könne, auszuweisen. Der Ursprung der Gesetzlichkeit der Natur sei die reine Vernunft und die metaphysische Konstruktion sei das Verfahren, die Gesetzlichkeit der Natur in der empirischen Anschauung zur Einheit zu bringen. [Vgl. L. Schäfer (1966), S. 30 ff.] H. Hoppe richtet sich in seiner Darstellung der metaphysischen Konstruktion explizit gegen Piaass. Aus dem Kontext ergibt sich für Hoppe, daß der Ausdruck metaphysische Konstruktion der Unachtsamkeit Kants geschuldet 25

I. Kant

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„Um deswillen habe ich für nöthig gehalten, von dem reinen Theile der Naturwissenschaft (physica generalis), wo metaphysische und mathematische Construktionen durch einander zu laufen pflegen, die erstere und mit ihnen zugleich die Principien der Construktion dieser Begriffe, also der Möglichkeit einer mathematischen Naturlehre selbst, in einem System darzustellen."26 Die Schwierigkeit der Kantischen Argumentation ist darin begründet, daß Kant rekursiv erschlossene Reflexionsbegriffe als transzendentale Prinzipien verwendet. Transzendentale Begriffe sind erkenntnistheoretische Reflexionsbegriffe, die Resultat des rekursiven Schlusses auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis sind. Werden die erschlossenen Begriffe als transzendentale Prinzipien auf die Gegenstände möglicher Erfahrung angewandt, so wird das logisch spätere, die erschlossenen transzendentalen Begriffe, zum logisch ersten einer möglichen Erkenntnis gemacht. 27 sei und es vielmehr „metaphysische Begriffe (...)" [H. Hoppe (1969), S. 57] heißen müßte. Diese metaphysischen Begriffe seien diejenigen, die durch eine metaphysische Zergliederung des empirischen Begriffs der Materie hervorgingen und auf die „allgemeinen Eigenschaften einer empirisch gegebenen ausgedehnten Natur überhaupt (...)" [H. Hoppe (1969), S. 57] gingen. „Die Dinge liegen eben so, daß die besondere Metaphysik zunächst die allgemeinsten Eigenschaften einer empirisch gegebenen ausgedehnten Natur überhaupt a priori angibt und dadurch weiter die eigentliche Naturwissenschaft so begründet, daß sie die Konstruierbarkeit dieser Eigenschaften nachweist." [H. Hoppe (1969), S. 61] K. Gloy kritisiert den von Hoppe unterstellten empirischen Ansatz der MadN, weil aus rein empirischen Urteilen sich die Allgemeingültigkeit der Bewegung als der Grundeigenschaft aller Materie nicht begründen läßt. Die „Anwendung transzendentaler Prinzipien auf die durch Bewegung zu charakterisierenden Gegenstände äußerer Sinne (...)" [K. Gloy (1976), S. 12] wie Piaass und Schäfer als ein Verfahren der metaphysischen Konstruktion zu bezeichnen sei problematisch. Eine Konstruktion bedeute immer eine anschauliche Explikation des Gegebenen. Soll die Anwendung der transzendentalen Prinzipien über eine „systematische Entfaltung des im Bewegungsbegriff bereits Enthaltenen (...)" [K. Gloy (1976), S. 13] hinausgehen, soll ein „synthetisches Verfahren, welches zur Aufstellung eines Systems synthetischer Sätze führt (...)" (ebd.) möglich sein, müßte die Vorstellung der Bewegung nicht begrifflicher, sondern anschaulicher Art sein. Eine metaphysische Konstruktion sei „die Darstellung der Begriffe in der Anschauung." [K. Gloy, Das Verhältnis der Kritik der reinen Vernunft zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, in: Philosophia naturalis 21 (1984), S. 40.] Diese Interpretation kommt Schelling, dessen Deduktion der Materie zugleich Resultat der produktiven Anschauung ist, sehr nahe. Vgl. hierzu das folgenden Kapitel C. II. zur Deduktion der Materie bei Schelling. An der Unterscheidung zwischen mathematischer und philosophischer Konstruktion hält auch A. R. Sadik fest. Vgl. A. R. Sadik, Die Ontologie der Erscheinungen als Konstruktion. Eine Untersuchung zu Kants Naturphilosophie, Bonn 1979. 26 MAdN, S. 473. 27 Die UnUnterscheidbarkeit der Form der Anschauung, die Bedingung der Erscheinungen, und reiner Anschauung, die Bedingung von Geometrie bzw. der Zahlenfolge, erlaubt die geometrische und zeitliche Verortung der Phänomene durch Supposition einer Folge zeitunabhängiger Konstruktionen (Ptolemäus, Kopernikus, Kepler), aber noch nicht den Übergang von der Phoronomie zur Dynamik. Die ma-

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C. Die Wissenschaft der Materie

Notwendige Voraussetzung der Naturwissenschaft ist, daß den Naturerscheinungen erkennbare Gesetze zugrunde liegen. Weil die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst hervorbringt, schließt Kant, daß sie der Natur die Gesetze als Form der Gesetzmäßigkeit vorschreibt. Eine vollständige Deduktion der Naturgesetze aus der Vernunft ist aber nicht möglich. 2 8 Zur Erkenntnis einzelner Gesetze muß Erfahrung hinzukommen. Deshalb und um die Selbständigkeit der Realität der Naturgegenstände gegenüber der Vernunft zu wahren, unterscheidet Kant die Naturwissenschaft in eine reine und in eine empirische. Diese Trennung der reinen von der empirischen Naturwissenschaft ist problematisch, weil sie ihre wechselseitige Angewiesenheit verdeckt. Die Naturgesetze, die „empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen (.. . ) " 2 9 , werden den empirischen Naturwissenschaften subsumiert. Die Allgemeingültigkeit der besonderen Gesetze ist aber allein durch die Subsumtion unter die allgemeinen Gesetze der reinen Naturwissenschaft zu garantieren. Die objektive Geltung der allgemeinen Gesetze der reinen Naturwissenschaft hingegen wird durch ihre Beziehung auf Gegenstände möglicher Erfahrung bedingt. Die metaphysische Konstruktion ist deshalb der Versuch die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze mit dem notwendig vorauszusetzendem Material der Gesetze, dem einer mathematischen Konstruktion unzugänglichem Dasein der Natur, zu vereinbaren.

b) Metaphysische Anfangs gründe der Dynamik In der zweiten Analogie der Erfahrung, im Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität 30 , bestimmt Kant die Begriffe der Handlung, der Kraft und der Substanz als durch die Kausalität aufeinander verwiesen. Der Schluß von der Handlung auf die Beharrlichkeit des Handelnden, die wesentliche Eigenschaft der Substanz, sei unproblematisch, denn „Handlung bedeutet schon das Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung." 3 1 Der Schluß erfolgt von der Handlung auf das Beharrliche, die thematische Konstruktion schon bekannter phoronomischer Funktionen aus der Dynamik (Newton) fügt der phänomenologischen Kenntnis zunächst nichts hinzu. Die Dynamik erscheint zunächst als Reflexionsform der Phoronomie. Allerdings erlaubt erst die Dynamik die Berechnung der Wechselwirkung der Planeten (Störungsrechnung) und den Schluß auf die bis dahin unerklärliche Irregularität der Bahn des Uranus auf die Existenz des Neptun. Was zunächst bloße Reflexionsform der Phoronomie war, wird konstitutiv für die Erkenntnis der Existenz des Neptun. Vgl. M. Grosser, Entdeckung des Planeten Neptun, Frankfurt/M. 1970. Den Hinweis auf diesen Sachverhalt verdanke ich P. Bulthaup. 28 Vgl. KrV, Β 165. 29 KrV, Β 165. 30 Vgl. KrV, Β 233 ff. 31

KrV, Β 250.

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Substanz derselben. In den Metaphysische(n) Anfangsgründe(n) der Naturwissenschaft verkehrt Kant diesen Schluß. Dort heißt es nicht mehr: „Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz ( . . . ) . " 3 2 Vielmehr legt sie „den empirischen Begriff einer Materie (...) zum Grunde und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist (. . . ) " 3 3 und stößt auf die beiden Grundkräfte der Materie als die metaphysischen Prinzipien des Realen im Räume. Die Bedingung der Möglichkeit der Grundkräfte sei nicht zu bestimmen, „denn sie heißen eben darum Grundkräfte, weil sie von keiner anderen abgeleitet, d. i. gar nicht begriffen, werden können." 34 „Denn es ist überhaupt über den Gesichtskreis unserer Vernunft gelegen, ursprüngliche Kräfte a priori ihrer Möglichkeit nach einzusehen, vielmehr besteht alle Naturphilosophie in der Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zu Erklärung der Wirkungen der ersten zulangen, welche Reduction aber nur bis zu Grundkräften fortgeht, über die unsere Vernunft nicht hinaus kann. Und so ist Nachforschung der Metaphysik hinter dem, was dem empirischen Begriffe der Materie zum Grunde liegt, nur zu der Absicht nützlich, die Naturphilosophie, so weit als es immer möglich ist, auf die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe zu leiten, weil diese allein bestimmte Gesetze, folglich wahren Vernunftzusammenhang der Erklärungen hoffen lassen/'35 Die Idee der Grundkraft diene der Vorstellung eines systematischen Zusammenhangs der Mannigfaltigkeit von Kräften. Mit der Subsumtion aller möglichen Kräfte unter der Idee einer absoluten Grundkraft soll eine hypothetische Vernunfteinheit hergestellt werden, die konstitutiv für eine systematische Einheit der Erkenntnisse ist. 3 6 Die „Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt (...)" 3 7 ist daher nicht als eine analytische Erkenntnis 38 zu verstehen, sondern als der rekursive Schluß auf die Bedingungen der Möglichkeit einer rationalen Naturwissenschaft. Die metaphysische Erklärung des Begriffs der Materie bestimmt diesen als den eines jeden möglichen Gegenstand der äußeren Sinne, sofern sie nicht auf die Bestimmung des Begriffs der Materie „durch ein Prädikat, 32

KrV, Β 250. MAdN, S. 470. 34 MAdN, S. 513. 35 MAdN, S. 534. 36 Vgl. KrV, Β 676 ff. 37 MAdN, S. 472. 38 Vgl. L. Schäfer Kants Metaphysik der Natur, Berlin 1966, S. 31. Auch M. Rudolphi mißversteht Kants Versuch der Erklärung des Wesens der Materie, die eine Erklärung des Daseins der Materie nicht umfassen kann, als eine petitio principii. Vgl. M. Rudolphi, Produktion und Konstruktion. Zur Genese der Naturphilosophie in Schellings Frühwerk, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 181. 33

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C. Die Wissenschaft der Materie

was ihr selbst als Objekt zukommt, sondern nur durch das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen, in welchem mir die Vorstellung allererst gegeben werden kann (. . . ) " 3 9 , geht. Die metaphysische Erklärung geht auf die Materie aller Erscheinungen als die natura materialiter spectata. Während der Raum die Form aller äußeren sinnlichen Anschauung bezeichne, sei die Materie „im Gegensatz der Form das, was in der äußeren Anschauung ein Gegenstand der Empfindung ist, folglich das Eigentlich-Empirische der sinnlichen und äußeren Anschauung, weil es gar nicht a priori gegeben werden kann. In aller Erfahrung muß etwas empfunden werden und das ist das Reale der sinnlichen Anschauung (.. .)." 4 0 Diese bloße Empfindung der Materie in der Erfahrung würde auf den idealistischen Sensualismus Berkeleys, dem Sein ein Wahrgenommenwerden ist 4 1 , führen. Die Antizipation der Wahrnehmung hingegen, die apriorische Erkenntnis dessen, was zur empirischen Erkenntnis gehört, hat zu ihrer Voraussetzung, daß das Reale in allen Erscheinungen eine intensive Größe hat. Mit der Subsumtion unter eine intensive Größe ist das Reale ebenso mathematisch faßbar wie die extensiven Größen des Raumes und der Zeit. Soll der Begriff der Materie aber alle möglichen Gegenstände äußerer Erfahrung in sich enthalten, muß die Materie selbst der formalen Bedingung aller Gegenstände möglicher Erfahrung genügen und dem Raum subsumiert werden. Die Materie aller Wahrnehmung, die als intensive Größe die Anwendung der Mathematik zuläßt, wird mit der Subsumtion unter die Form der äußeren Anschauung zum Realen im Raum. Die Materie als intensive Größe wird damit einer extensiven Größe zugeordnet. Die Problematik des Verhältnisses von intensiver und extensiver Größe wird an der Forderung der Teilbarkeit der Materie deutlich. Die Forderung der Teilbarkeit der Materie ist für Kant zwingend, weil die Funktion des Realen in der Erscheinung, die kollektive Einheit des Bewußtseins mit der Realität der Erscheinungen zu vermitteln, nichts anderes fordert als die Beziehung der Kontinuität des Substrats der Materie der Wahrnehmung auf die Diskontinuität der diskreten Erscheinungen. Der Beweis der unendlichen Teilbarkeit des Raumes impliziert nur unter der Voraussetzung, „daß in jedem Theile des Raumes materielle Substanz sei (.. .)" 4 2 , den Beweis der unendlichen Teilbarkeit der Materie. Umgekehrt muß, sofern der Raum die Form der Materie als das Reale im Raum ist, jeder Teil der Materie sich im Raum befinden. Wenn der Raum und das den Raum Erfüllende nicht voneinander zu trennen sind, muß auch das im Raum Existierende auf

39

MAdN, S. 481. MAdN, S. 481. 41 Vgl. G. Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, nach der Übersetzung von F. Uberweg neu hrsg. v. A. Klemmt, Hamburg 1979, S. 26: „Das Sein (esse) solcher Dinge ist Perzipiertwerden (percipi)." 42 MAdN, S. 504. 40

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die gleiche Art und Weise teilbar sein. Die Problematik des Verhältnisses von mathematischer Teilbarkeit des Raumes und physischer Teilbarkeit der Substanz thematisiert Kant in der Anmerkung 2 zum 4. Lehrsatz der Dynam i k . 4 3 Die Auflösung dieser Schwierigkeit soll der Mathematik zu einer sicheren Anwendung auf die Naturwissenschaft verhelfen. Der Lösungsansatz stützt sich jedoch nicht auf den Begriff der Materie als einer intensiven Größe, die die Anwendung der Mathematik ermögliche, sondern darauf, daß sowohl der Raum als auch die Materie bloß in der Vorstellung als subjektive Vorstellungsarten, nicht aber an sich wirklich seien. Die Materie unter der Bezeichnung des Realen oder der Substanz im Raum als dasjenige, was nur durch sein Verhältnis zum Erkenntnisvermögen bestimmt sei, stimmt nicht überein mit der Materie als das Reale in der Erscheinung, was als intensive Größe ein Moment von Selbständigkeit gegenüber der Wahrnehmung hat. Die Substanz im Raum ist für Kant keine einfache Substanz oder Monade, sondern eine unendlich teilbare Erscheinung. Die Annahme einer physischen Monadologie führte auf eine unvollständige Anwendbarkeit der Mathematik auf die Naturwissenschaft, denn eine kontinuierliche Erfüllung des Raumes durch physische Monaden läßt sich nicht denken. Eine unendliche Teilbarkeit sei der Materie nur als Erscheinung widerspruchslos zuzusprechen, denn als Ding an sich ließe sich die Materie nicht ohne contradictio in adiecto als das Ganze einer unendlichen Menge von Teilen denken. „In jeder Materie ist das Bewegliche im Räume das letzte Subject aller der Materie inhärierenden Accidenzen (.. ,)." 44 Die Grundeigenschaft dessen, was ein Gegenstand äußerer Erfahrung sein könne, müsse Bewegung sein, weil durch diese überhaupt die Affektion der Sinne durch die dem Ich äußerlichen Dingen möglich sei. Auf die Bewegung sollen alle Eigenschaften der Materie, „der Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne (.. . ) " 4 5 sind, zurückgeführt werden können. Die Materie als das Substrat der Bewegung soll anhand der Subsumtion der Bewegung unter die vier Kategorien vollständig bestimmt werden. Die Phoronomie habe die Konstruktion der Bewegungen überhaupt als Größen zum Gegenstand und sei eine bloße Größenlehre der Bewegung. Die Dynamik sucht die Bewegung unter der Bezeichnung einer ursprünglichen Kraft als zur Qualität der Materie gehörig zu bestimmen. Die Mechanik betrachtet auf der Grundlage der Analogien der Erfahrung die Materie mit der ihr immanenten Eigenschaft der Bewegung in den möglichen Relationen. Die Phänomenologie geht auf die Bewegung in Beziehung auf die Vorstellungsart, so daß aus der Erscheinung ein Gegenstand der Erfahrung 43 44 45

Vgl. MAdN, S. 505 ff. MAdN, S. 541. MAdN, S. 467.

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C. Die Wissenschaft der Materie

werden könne. Im folgenden wird vornehmlich auf die metaphysischen Anfangsgründe der Dynamik Bezug genommen. Die Restriktion ist der Tatsache geschuldet, daß Schelling sich in seiner Kritik vornehmlich auf die von Kant in diesem Abschnitt dargelegten Vorstellungen einer dynamischen Naturphilosophie bezieht. Sofern Bestimmungen aus anderen Abschnitten für die Argumentation relevant sind, werden sie herangezogen. Die dynamische Erklärung des Begriffs der Materie setzt der phoronomischen Bestimmung der Materie als das Bewegliche im Räume die Eigenschaft der Raumerfüllung hinzu, so daß Materie das Bewegliche sei, nicht bloß sofern es im Räume ist, sondern „sofern es einen Raum erfüllt." 46 Die Raumerfüllung ist von der bloß geometrischen Ausdehnung zu unterscheiden, weil sie nicht nur einen Raum einnimmt, sondern das Vermögen enthält, einschränkenden Kräften zu widerstehen. Die Raumerfüllung oder das Vermögen, einer äußerlichen Bewegung innerhalb eines bestimmten Raumes zu widerstehen, sei diejenige Bestimmung der Materie, die der Empfindung der Materie als das Reale im Raum vorauszusetzen sei. 47 Die Undurchdringlichkeit der Erscheinungen sei nur unter der Voraussetzung mathematisch konstruierbar, daß sie sich als eine intensive Größe bestimmen lasse. Das Reale im Raum müsse mithin einen Grad haben oder einen endlichen Raum in bestimmten Maß erfüllen. Die Einnahme eines erfüllten Raumes könne nicht durch die bloße Existenz der Materie erklärt werden. Der Grund dafür, daß die Eigenschaft der Raumerfüllung nicht aus dem Dasein der Materie erschlossen werden könne, sei die Unmöglichkeit der Konstruktion aller derjenigen Eigenschaften, die zum Dasein eines Dinges gehören. Der Beweis des ersten Lehrsatzes, daß die Raumerfüllung nicht durch die bloße Existenz der Materie, sondern durch „eine besondere bewegende Kraft ( . . . ) " 4 8 möglich sei, hat eine bewegende Kraft zur Voraussetzung, die der zu erklärenden Kraft der Wirkung nach entgegengesetzt ist. Nur unter der Voraussetzung einer eindringenden Kraft läßt sich die Raumerfüllung als eine widerstehende Kraft der Materie denken. Ohne diese Unterstellung der eindringenden Kraft müßte die Raumerfüllung als Solidität, die „jedem Dinge, was existirt (Substanz) (.. . ) " 4 9 , zukomme, behauptet werden. 50 Damit wäre ein Datum der Konstruktion des Begriffs der Materie gesetzt, das sich selbst nicht konstruieren lasse, und „das Zurückgehen zu 46

MAdN, S. 496. Vgl. MAdN, S. 508, KrV, Β 215, L. Schäfer, Kants Metaphysik der Natur, Berlin 1966, S. 70. 48 MAdN, S. 497. 49 MAdN, S. 497. 50 Vgl. Ch. F. von Pfleiderer, Physik. Naturlehre nach Klüngel, Stuttgart - Bad Cannstatt 1994, S. 64: „§. 4. Die Undurchdringlichkeit der Körper gründet sich auf das Gesetz: Wo ein Körper ist, kann nicht ein anderer einen Raum einnehmen, ohne den anderen vorher daraus vertrieben zu haben." 47

I. Kant

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den ersten Principien in der Naturwissenschaft ( . . . ) " 5 1 würde unnötig gehemmt werden. Die eindringende und die widerstehende Kraft gehören den zwei einzig möglichen Arten der Kräfte an, den attrahierenden und repellierenden Kräften, „worauf alle Bewegungskräfte in der materiellen Natur zurückgeführt werden müssen (.. .)." 5 2 Diese beiden Grundkräfte können ihrer Möglichkeit nach selbst nicht weiter erklärt werden, haben aber ihre Berechtigung darin, daß sie „einen Begriff von einer wirkenden Ursache und ihren Gesetzen [gebe; M.G.], nach welchem die Wirkung ( . . . ) " 5 3 geschätzt werden könne. 54 Die Konstruktion der Materie beruhe demnach auf dem Widerstreit zwischen eindringender und widerstehender Kraft, deren relatives Gleichgewicht als Materie erscheine. Beide Arten der Grundkräfte werden von Kant wechselseitig auseinander entwickelt. Durch die bloße Anziehungskraft sei keine Materie möglich, weil alle möglichen Teile der Materie, sofern sie allein durch die Attraktion bewegt werden, in einem mathematischen Punkt zusammenfielen. Durch die bloße Repulsionskraft sei eben so wenig die Möglichkeit der Materie zu erklären, weil die durch Repulsion bewegte Materie sich ins Unendliche zerstreuen würde, so daß in keinem Raum eine zu bestimmende Quantität der Materie gegeben wäre. Trotz der von Kant hervorgehobenen wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Grundkräfte der Materie, gesteht er der repellierenden Kraft einen höheren ontologischen Rang zu. Die repulsive Kraft enthielte den Grund der Undurchdringlichkeit der Materie, „wodurch sie sich als etwas Reales im Räume unseren äußeren Sinnen zuerst offenbart (.. .)." 5 5 Die Undurchdringlichkeit sei diejenige Eigenschaft der Mate51

MAdN, S. 498. MAdN, S. 499. 53 MAdN, S. 502. 54 Die beiden Grundkräfte sind Reflexionsbegriffe, die Resultat des rekursiven Schlusses auf die Bedingungen der Möglichkeit von Materie überhaupt sind. Als Prinzipien der Erklärung des Begriffs der Materie können sie nicht selbst wiederum zum Gegenstand der Erklärung gemacht werden, ohne auf einen unendlichen Regreß von Begründungen zu führen. Deshalb sind die Grundkräfte selbst ihrer Möglichkeit nach nicht weiter zu erklären. Daraus folgt aber nicht, wie V. Mudroch darzulegen versucht, die Unbegreiflichkeit der Grundkräfte und auch nicht „die Tatsache, daß Kant seine dynamische Theorie nur als eine Hypothese auffaßt (...)." [V. Mudroch, Kants Theorie der physikalischen Gesetze, Berlin 1987, S. 92] Vgl. Einleitung, S. 277, SW III, S. 277: „Da die letzten Ursachen der Naturerscheinungen selbst nicht mehr erscheinen, so muß man entweder darauf Verzicht thun sie je einzusehen, oder man muß sie schlechthin in die Natur setzen, in die Natur hineinlegen. Nun hat aber, was wir in die Natur hineinlegen, keinen andern als den Werth einer Voraussetzung (Hypothese), und die darauf gegründete Wissenschaft muß ebenso hypothetisch seyn, wie das Princip selbst. Dieß wäre nur in Einem Falle zu vermeiden, wenn nämlich jene Voraussetzung selbst unwillkürlich und ebenso n o t wendig wäre als die Natur selbst." 52

55

MAdN, S. 508.

11 Gerhard

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C. Die Wissenschaft der Materie

rie, die „unmittelbar mit dem Begriffe einer Materie gegeben ( . . . ) " 5 6 sei. Das Vermögen der Anziehung werde hingegen nicht mit dem Begriff der Materie gedacht, sondern durch Schlüsse dem Begriff der Materie beigelegt. Die Raumerfüllung sei aller weiteren Bestimmung der Materie zum Grunde zu legen, weil durch sie allein den äußeren Wahrnehmungen überhaupt ein Gegenstand gegeben werde. Die Bestimmung dieses Gegenstandes erfolge durch die einschränkende Wirkung der attrahierenden Kraft. Vermittelst der Raumerfüllung sei etwas überhaupt im Raum gesetzt. Zu einer bestimmten Materie könne dieses Etwas allein durch eine Entgegensetzung werden, so daß keine der beiden Grundkräfte im Begriff der Materie voneinander getrennt werden könne. Problematisch ist der Ausgang der Bestimmung von der Raumerfüllung, weil die Raumerfüllung nicht die Wirkung der repellierenden Kräfte allein ist, sondern immer schon die attrahierenden Kräfte zu ihrer Voraussetzung hat. Die Inkonsistenz der Kantischen Argumentation, die einerseits der Raumerfüllung einen ontologischen Vorrang einräumt, andererseits konstatiert, daß mit der Annahme nur einer Grundkraft der Raum leer bleiben müsse, ist dem Programm der metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft geschuldet, das die vollständige Abhandlung der Qualität der Materie unter den Kategorien der Realität, Negation und Limitation fordert. Die Thesis der Raumerfüllung ist nur als Resultat ihrer Negation und Limitation zu denken. Mit der Thesis ist die Materie gesetzt. Diese Setzung widerspricht nicht der Kantischen Argumentation, denn das Subjekt der Bewegung, die Materie, soll nicht deduziert, sondern konstruiert werden. Das Subjekt der Bewegung ist seinem Dasein nach metaphysisch vorausgesetzt. Nicht das Dasein, sondern das Wesen der Materie, d. h. das erste, innere Prinzip alles dessen, was zur Möglichkeit der Materie gehört 57 , wird so erklärt. Zum Wesen der Materie gehörig erklärt Kant die beiden Grundkräfte Repulsion und Attraktion, die Kant, weil sie aus nichts anderem abgeleitet werden können, als ursprüngliche Kräfte bezeichnet. Die Wirkung der ursprünglichen Kräfte müsse unmittelbar sein und sich allgemein auf jeden möglichen Teil der Materie erstrecken. Für die ursprünglich repellierende Kraft ergebe sich eine unmittelbare Wirkung durch Berührung. Die physische Berührung ist, anders als die mathematische Berührung, nicht bloß die gemeinschaftliche Grenze zweier Räume, sondern „ist Wechselwirkung der repulsiven Kräfte in der gemeinschaftlichen Grenze zweier Materien." 58 Die unmittelbare Wirkung der repellierenden Kräfte ist demnach die unmittelbare Wechselwirkung der Undurchdringlichkeit der Materie. Weder das Wesen der Materie, noch die Undurchdringlichkeit seien ausschließlich 56 57 58

MAdN, S. 509. Vgl. MAdN, S. 468 *). MAdN, S. 512.

I. Kant

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durch repellierende Kräfte zu erklären, so daß die unmittelbare Wirkung der repellierenden Kräfte ein bestimmtes Verhältnis beider ursprünglichen Kräfte zur Voraussetzung habe. Weil die ursprüngliche Anziehungskraft den Grund der Möglichkeit der Materie als dasjenige, was einen Raum in einem bestimmten Maß erfüllt und begrenzt, enthält, müsse die unmittelbare Wirkung der ursprünglich attrahierenden Kraft unabhängig von aller Berührung wirken können. „Weil die ursprüngliche Anziehungskraft zum Wesen der Materie [Hervorhebung von mir; M.G.] gehört, so kommt sie auch jedem Theil derselben zu, nämlich unmittelbar auch in die Ferne zu wirken." 59 Die Verwendung des Begriffs der Fernwirkung ist mißverständlich. Die Fernwirkung sei nichts anderes als eine Anziehung ohne Vermittlung, eine ursprüngliche Anziehung. Weil die ursprüngliche Anziehungskraft eine Bedingung der Möglichkeit für die Materie im Räume sei, müsse sie unabhängig von aller möglichen Raumerfüllung sein. In diesem Sinn ist die Fernwirkung nicht als ein physisches Vermögen, das im und durch den real erfüllten Raum wirkt, zu verstehen. „Die Wirkung von der allgemeinen Anziehung, die alle Materie auf alle und in allen Entfernungen unmittelbar ausübt, heißt die Gravitation ( . . . ) " 6 0 und sei eine konstitutive Bedingung der Möglichkeit der Materie in dynamischer Bedeutung. Der dynamische Begriff der Materie als des Beweglichen, das seinen Raum zu einem bestimmten Grad ausfüllt, sei aus der Entgegensetzung, dem Konflikt der ursprünglichen Anziehungskraft und der ursprünglichen Zurückstoßungskraft zu konstruieren und so „kann die dem Maße nach bestimmte Erfüllung eines Raumes durch Materie nur von der ins Unendliche sich erstreckenden Anziehung derselben bewirkt und jeder Materie nach dem Maß ihrer Zurückstoßungskraft ertheilt werden." 61 Mit dieser Aussage scheint im Hinblick auf die Konstituentien der Materie der allgemeinen Anziehung ein Vorrang konstatiert zu werden. „Man hüte sich aber über das, was den allgemeinen Begriff einer Materie überhaupt möglich macht, hinaus zu gehen und die besondere oder sogar specifische Bestimmung und Verschiedenheit derselben a priori erklären zu wollen. (...) Denn die Möglichkeit der Gestalten sowohl als der leeren Zwischenräume läßt sich mit mathematischer Evidenz darthun; dagegen, wenn der Stoff selbst in Grundkräfte verwandelt wird (deren Gesetze a priori zu bestimmen, noch weniger aber eine Mannigfaltigkeit derselben, welche zu Erklärung der specifischen Verschiedenheit der Materie zureichte, zuverlässig anzugeben, wir nicht im Stande sind), uns alle Mittel abgehen, diesen Begriff der Materie zu construieren und, was wir allgemein dachten, in der Anschauung als möglich darzustellen."62 59 60 61 62

1*

MAdN, MAdN, MAdN, MAdN,

S. 516. S. 518. S. 518. S. 524.

164

C. Die Wissenschaft der Materie

Die Konstruktion des dynamischen Begriffs der Materie als eines Beweglichen, das seinen Raum in einem bestimmten Grad erfüllt, bedürfe eines Gesetzes, das das spezifische Verhältnis der beiden ursprünglichen Kräfte bestimmte. Diese Konstruktion könne nur Aufgabe der Mathematik, nicht aber der Metaphysik sein, weil letztere „blos die Richtigkeit der unserer Vernunfterkenntnis vergönnten Elemente der Construktion [verantwortet; M.G.], die Unzulänglichkeit und die Schranken unserer Vernunft in der Ausführung verantwortet sie nicht." 6 3 Das Verdienst der Metaphysik hinsichtlich der Konstruktion des dynamischen Begriffs der Materie oder der Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft im Hinblick auf diejenigen Eigenschaften, wodurch Materie einen Raum in bestimmten Maß erfüllt, ist, daß die Bestimmung dieser Eigenschaften „metaphysisch-dynamisch(.. . ) " 6 4 und nicht „mathematisch-mechanisch(.. . ) " 6 5 , wie eine rein mathematische Methode nahe legte, erfolge. 66 Die Bestimmung der Undurchdringlichkeit als der bestimmte Grad der Raumerfüllung, fiele in die vornehmste Aufgabe der Naturwissenschaft, nämlich die „Erklärung einer ins Unendliche möglichen specifischen Verschiedenheit der Materien ( . . . ) " 6 7 , die der Methode nach entweder mechanisch oder dynamisch sein könne. Die mechanische Naturphilosophie ist Atomistik oder Korpuskularphilosophie, die zur Voraussetzung ihrer Erklärung die Existenz physischer Monaden und leerer Räume annimmt. Die Wirklichkeit leerer Räume sei aber weder durch die Erfahrung noch durch Schlüsse begründet anzunehmen, ebenso wenig sei diese Annahme notwendig. Die Erklärung des bestimmten Grades der Raumerfüllung durch das wechselseitige Verhältnis der beiden ursprünglichen Kräfte zueinander mache die der mechanischen Naturphilosophie gemäße Behauptung einer absoluten Undurchdringlichkeit, die zur Spezifikation der Dichtigkeit bestimmter Materien der Annahme leerer Räume bedarf, obsolet. Die dynamische Naturphilosophie, „welche aus Materien nicht als Maschinen, d.i. bloßen Werkzeugen äußerer bewegenden Kräfte, sondern ihnen ursprünglich eigenen bewegenden Kräften der Anziehung und Zurückstoßung die specifische Verschiedenheit der Materie ableitet ( . . . ) " 6 8 , habe nicht die Funktion Kräfte, die nur aus der 63

MAdN, S. 517 f. MAdN, S. 525. 65 MAdN, S. 524. 66 Vgl. F. Moiso y Kants naturphilosophisches Erbe bei Schelling und von Arnim, in: W. Ch. Zimmerli/K. Stein/M. Gerten (Hg.), „Fessellos durch die Systeme". Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, S. 214: „Kant zeigt nämlich, daß es unzulässig ist, eine mathematisch-physikalische Konstruktion der philosophischen Grundlagen der Materiebildung vorzunehmen." 67 MAdN, S. 532. 68 MAdN, S. 532. 64

II. Schelling

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Erfahrung erschlossen werden können, a priori einzusehen. Vielmehr sei es die Aufgabe der dynamischen Naturphilosophie die systematische Vernunfteinheit der Erklärungen zu konstituieren. 69

I I . Schelling 1. Die Deduktion 70 der Materie im System des transzendentalen Idealismus (1800) „Gegen Kants Construktion der Materie habe ich überhaupt zweierlei einzuwenden: 1) daß sie nur für den Standpunkt der Mechanik gilt, wo die Materie schon als Produkt gegeben ist, 2) daß sie unvollständig ist, da das, was Kant durch Attraktivkraft bezeichnet, eine von der Schwerkraft ganz verschiedene Kraft ist, indem jene ganz und gar auf Construktion des Produkts verwandt wird, diese über das Produkt hinauswirkt. Die Attraktivkraft bleibt auch nach Kant noch immer, was sie gewesen ist - ein unerwiesenes und insofern chimärisches Princip." 71 Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft gehen in ihrer Zergliederung des Begriffs der Materie nicht über die Bestimmung dessen hinaus, was unter einen allgemeinen Begriff der Materie subsumiert werden könne. Mannigfaltige Spezifikationen der Materie seien nicht zu konstruieren. Für Schelling gibt die „a priori abgeleitete Construktion der Materie (...) die Grundlage zu einer allgemeinen Theorie der Naturerscheinungen (.. . ) " 7 2 , die alle möglichen Spezifikationen umfasse bzw. unter sich subsumiere. 69

Das „Problem, wie die Konstitution spezifischer Materie gedacht werden könne (...)" [7. Jantzen, Die Philosophie der Natur, in: H. J. Sandkühler (Hg.), F. W. J. Schelling, Stuttgart 1998, S. 93] ist in den metaphysischen Anfangsgründen der Dynamik deshalb nicht zu lösen, weil es dort nicht seinen Ort hat. 70 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß der Begriff der Deduktion bei Schelling eine andere Verwendung findet als bei Kant. Für Kant ist eine Deduktion eine „quaestio iuris (...)" [KrV, Β 116], für Schelling hingegen bedeutet Deduktion die Konstruktion ihres Gegenstandes als einer „transzendentalen Genesis der Natur als Produkt (...)." [H. Krings, Natur als Subjekt. Ein Grundzug der spekulativen Physik Schellings, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 114]. Zur Mangelhaftigkeit der Identifikation des Deduktionsbegriffs mit dem Konstruktionsbegriff vgl. H. D. Mutschier, Spekulative und empirische Physik. Aktualität und Grenzen der Naturphilosophie Schellings, Stuttgart 1990, S. 109 ff. Der von Schelling intendierte Übergang von der Spekulation zur Erfahrung ist mit seiner Deduktion und Konstruktion nicht zu leisten. 71 F. W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (System der Naturphilosophie), Schellings Werke Zweiter Band, S. 103 FN, SW III, S. 103 FN. 2

S y s t e m , S.

3, SW III, S.

3.

166

C. Die Wissenschaft der Materie

Mit dem absoluten Prinzip des Wissens hat Schelling das System als ein vollständiges gesetzt, aus diesem soll sich aber das Reale gleichsam als unendliche Folge des Reellen 73 evolvieren 74 , das tota simul des Absoluten in die unendliche Sukzession des Endlichen übergehen. Die absolute Identität ist jedoch der vollkommene Mangel an Realität. Soll aus der absoluten Identität etwas Endliches folgen, so muß sie sich in ihre Faktoren zerlegen. Aus dieser unendlichen Trennung müsse eine dritte Tätigkeit hervorgehen, die beide Faktoren als eine relative Identität, ein Gleichgewicht realisiere. „Die beiden Thätigkeiten, die im Produkt sich das Gleichgewicht halten, können nur als fixierte ruhende Thätigkeiten, d.h. als Kräfte, erscheinen."75 Die beiden Tätigkeiten sind die Faktoren der ursprünglichen Produktivität, des Ichs im Moment seines Anschauens begriffen. In der produktiven Anschauung vereinigen sich die absolut entgegengesetzten Tätigkeiten des Ich, die zunächst als absolute Entgegensetzung von Ich und Ding an sich bestimmt wurden, zur anschaubaren Erscheinung des Ding an sich. Da das Ich auf dieser Stufe seiner Entwicklung bloß anschauend, d.h. nicht reflektierend auf seine ursprüngliche Tätigkeit sei, sei das Vereinigte zugleich getrennt in ideale Anschauung und reales Angeschautes. Dieses Objekt der sinnlichen Anschauung sei das Ich, sofern es sich noch nicht zur Intelligenz erhoben hat. In diesem Moment der intellektuellen Anschauung sei das Ich von der Materie nicht zu unterscheiden. 76 Die Faktoren der Materie seien zwei einander absolut entgegengesetzte Kräfte. Ohne Entgegensetzung gäbe es keine Bewegung, keinen Prozeß. Ohne Absolutheit der Entgegensetzung würden ihre Produkte aller Notwendigkeit entbehren. 77 Das Gleichgewicht der entgegengesetzten Kräfte sei die aus der Differenz hervorgegangene Indifferenz, die es aber nicht vermöge die Stabilität der ursprünglichen Identität wieder herzustellen. Als unvollkommenes Gleichgewicht sei die Indifferenz ein Endliches, das in einer unendlichen Sukzession Indifferenter der Einheit in der absoluten Identität zustrebe, ohne sie je erreichen zu können. Die Materie ist somit bestimmt als die Einheit zweier absolut entgegengesetzter Kräfte, von denen die eine, die sogenannte positive, sich ins Unendliche ausdehne. Die negative, hemmende Kraft wird gesetzt als eine der positiven Kraft äußere Kraft. Sind beide Kräfte Faktoren der ursprünglichen 73

Zur Kantischen Bestimmung von Realem und Reellem vgl. MAdN, S. 498,

508.

74

Vgl. Enzyklopädie, § 249, S. 238 f. System, S. 440, SW III, S. 440. 76 Vgl. System, S. 453, SW III, S. 453: „In der That ist die Materie nichts anderes als der Geist im Gleichgewicht seiner Thätigkeiten angeschaut." 77 Vgl. System, S. 394, SW III, S. 394: „Wäre im Ich keine Entgegensetzung, so wäre in ihm überhaupt keine Bewegung, keine Produktion, also auch kein Produkt. Wäre die Entgegensetzung nicht eine absolute, so wäre die vereinigende Thätigkeit gleichfalls nicht absolut, nicht nothwendig und unwillkürlich." 75

II. Schelling

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absoluten Identität, so muß der Ursprung der äußeren Kraft identisch sein mit dem der positiven Kraft. Es ist demzufolge nicht bloß zu zeigen, wie die entgegengesetzten Kräfte in einem Subjekt vereinigt gedacht werden können, sondern wie Kräfte, die in absolut entgegengesetzter Richtung wirken, einen gemeinsamen Ursprungs- oder Ausgangsort haben können. Zur Lösung dieser Aufgabe bedient Schelling sich der von Kant angeführten Fernwirkung. Die Fernwirkung sei eine Kraft die unmittelbar wirke. Die unmittelbare Einwirkung der Attraktivkraft auf den Grenzpunkt sei durch diese Möglichkeit, in der Ferne zu wirken, erklärt. Diese Wirkungsweise sei derjenigen der Expansivkraft entgegengesetzt, welche nur in Kontinuität von ihrem Ausgangspunkt auf den Grenzpunkt einwirken könne. In der Darstellung der attrahierenden und der repeliierenden Kräfte stimmt Schelling mit Kant überein. Mit der Fernwirkung sei jedoch nicht zu erklären, wie die beiden schlechthin entgegengesetzten Kräften in einem Dritten vereinigt gedacht werden können. Der Beziehungsgrund beider Kräfte dürfe nicht in eine der beiden Kräfte fallen, sondern müsse eine dritte, synthetische Kraft sein. Diese synthetische Kraft sei das die Materie konstruierende Moment und nicht ein Element, ein Faktor der Konstruktion. Das konstruierende Moment sei analog der produktiven Anschauung die „eigentlich produktive und schöpferische ( . . . ) " 7 8 Kraft, die allgemeine Gravitation. Weil die Gravitation kein Element der Konstruktion, sondern die konstruierende Tätigkeit selbst sei, müsse die Attraktivkraft entgegen Kants Darstellung von der Schwerkraft unterschieden werden. Die Undurchdringlichkeit des Realen im Raum sei als ein Produkt der produktiven und schöpferischen Kraft der Gravitation zu begreifen. Weil die Gravitation die konstruierende Tätigkeit der Materie selbst sei, sei die Undurchdringlichkeit das Resultat des dynamischen Prozesses der Selbstkonstruktion der Materie. 2. Allgemeine Prinzipien der Naturproduktion. Zur Bestimmung der Materie in der Allgemeinen(n) Deduction des dynamischen Processes oder der Categorie η der Physik (1800) Schelling unterscheidet sowohl im System des transzendentalen Idealismus als auch in der Allgemeine(n) Deduction des dynamischen Prozesses den Naturprozeß in einen Prozeß der ersten Ordnung und einen Prozeß der zweiten Ordnung. Der Prozeß erster Ordnung geht auf die Konstitution der Materie überhaupt, dessen Resultat die sich bis in die Sphäre der Erfahrung hineinstreckende 79 Raumerfüllung sein soll. Der Prozeß der zweiten Ord78

System, S. 444, SW III, S. 444. Vgl. F. W. J. Schelling , Allgemeine Deduktion des dynamischen Processes oder der Kategorien der Physik (Physik), Schellings Werke Zweiter Band, S. 677, SW IV, S. 43. 79

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C. Die Wissenschaft der Materie

nung geht auf die Konstitution der spezifischen Materie, dessen Resultat die Wirklichkeit der spezifischen Qualitäten sein soll. Der Unterscheidung des Naturprozesses in Prozesse zweier Ordnungen entspricht die Unterscheidung der Natur in natura formaliter spectata und natura materialiter spectata80. Die natura materialiter spectata wird von Schelling als ein organisiertes System interpretiert. Beide Unterscheidungen seien aber bloß formal, so daß die Materie überhaupt und die organische Natur durch dieselben Kategorien zu konstruieren seien. Die Unterscheidungen seien formal, denn keine natura formaliter spectata sei ohne natura materialiter spectata denkbar, weil die Erkenntnis der leblosen Natur nicht in diese selbst fallen könne. „Da selbst die organische Natur nichts anderes als die in der höheren Potenz sich wiederholende unorganische ist, so sind uns zugleich mit den Categorien der Materie überhaupt [Hervorhebung von mir; M.G.] auch die für die Construktion des organischen Produkts gegeben. Die gegenwärtig aufzustellende Untersuchung ist also zugleich die allgemeinste der gesammten Naturwissenschaft [Hervorhebung von mir; M.G.]." 81 Der Prozeß erster Ordnung soll sich bis in die Sphäre der Erfahrung erstrecken, der Prozeß zweiter Ordnung findet in der Erfahrung statt. Der Prozeß erster Ordnung habe die Materie überhaupt zum Gegenstand und sei reine Naturwissenschaft. Der Prozeß zweiter Ordnung habe die spezifische Materie oder den einzelnen Naturkörper 82 zum Gegenstand und sei empirische Naturwissenschaft. Schellings Versuch, eine gesamte Naturwissenschaft, eine zugleich reine und empirische Naturwissenschaft, über die Analogie ihrer Momente zu begründen, muß, vor dem Hintergrund des derzeitigen Standes der Naturwissenschaften, als gescheitert angesehen werden. Die Intention der Begründung einer gesamten Naturwissenschaft ist jedoch der Versuch, die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze mit empirisch bestimmten Erscheinungen zu vermitteln. 83 „Der Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit bleibt das grundlegende Problem." 84 Im folgenden soll dar80

Vgl. KrV, Β 163 ff. Physik, S. 638, SW IV, S. 4. 82 Vgl. System, S. 449, SW III, S. 449. 83 Vgl. R. Heckmann, Natur - Geist - Identität. Die Aktualität von Schellings Naturphilosophie im Hinblick auf das moderne evolutionäre Weltbild, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 308. R. Heckmann betont: die „Naturphilosophie bleibt, im Verhältnis zur empirischen Erkenntnis der Natur, immer nachträglich (...)." Würde die Naturphilosophie der empirischen Erkenntnis ausschließlich nachträglich sein, wären die Funktion der Naturphilosophie auf die nachträgliche Ordnung vorausgesetzter einzelner empirischer Erkenntnisse restringiert. 84 J. Jantzen, Die Philosophie der Natur, in: H. J. Sandkühler (Hg.), F. W. J. Schelling, Stuttgart 1998, S. 105. Zur vermittelnden Funktion der Schellingschen 81

II. Schelling

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gelegt werden, ob, und gegebenenfalls wie, der Prozeß erster Ordnung 85 sich bis in die Erfahrung erstrecken könne oder wie der Übergang von der Materie überhaupt zur bestimmten Raumerfüllung zu denken sei. Die Aufgabe der Naturwissenschaft sei die Konstruktion der Materie. 86 Weil die unendliche Folge der mannigfaltigen Prozesse und Stufen der Entwicklung der Natur zwar als bewußtlose Produktion der Natur darstellbar sei, alle möglichen Varianten und Spezifikationen der Naturprozesse aber alle endlichen Kräfte übersteige, ließen sich nur die allgemeinen Prinzipien aller Naturproduktion bestimmen. Die bewußtlose Produktion der Natur nach allgemeinen Prinzipien sei ein dynamischer Prozeß der Selbstkonstruktion der Materie. Notwendige Bedingung dieser Selbstkonstruktion der Materie und Terminus a quo der allgemeinen Deduktion des dynamischen Prozesses sei „ein ursprünglicher Gegensatz von Kräften in dem ideellen Subjekt der Natur (.. .)." 8 7 Weil die beiden Kräfte ein und demselben identischem Subjekt, der Natur, zugesprochen werden müßten, seien sie als einander absolut entgegengesetzt zu denken. Im Beweis der gemeinsamen und gleichgültigen Ursprünglichkeit beider Kräfte paraphrasiert Schelling Kant. 8 8 Die attrahierende oder hemmende Kraft sei erschlossen 89, aber Naturphilosophie zwischen einer Metaphysik der Natur und einer Erfahrungswissenschaft vgl. R. Heckmann, Natur - Geist - Identität. Die Aktualität von Schellings Naturphilosophie im Hinblick auf das moderne evolutionäre Weltbild, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie des jungen Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 294 f. 85 Die im Prozeß zweiter Ordnung dargestellten Theorien finden in dem von M. Durner, F. Moiso und J. Jantzen verfaßten wissenschaftshistorischen Bericht eine ausführliche Erläuterung. Vgl. F. W. J. Schelling, Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings Naturphilosophischen Schriften 1797-1800, Ergänzungsband zu Werken Band 5 bis 9, hrsg. v. H.M. Baumgartner, W. G. Jacobs und H. Krings, Stuttgart 1994. 86 Die Konstruktion der Materie wird von Schelling nicht auf die Konstruktion der Materie überhaupt restringiert, sondern umfaßt auch die Konstruktion einzelner Naturkörper. Vgl. K. Düsing, Teleologie der Natur. Eine Kant-Interpretation mit Ausblicken auf Schelling, in: R. Heckmann/H. Krings/R. W. Meyer (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, S. 194-203. 87 Physik, S. 639, SW IV, S. 5. 88 Vgl. MAdN, S. 513. 89 Auch in seiner Schrift Von der Weltseele (1798) bestimmt Schelling die positive, d.i. die repellierende Kraft als die unmittelbare und die negative, d.i. die attrahierende Kraft als die zu erschließende Kraft. Vgl. F. W. J. Schelling , Von der Weltseele - Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798), Historisch-kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Bd. I, 6, hrsg. v. J. Jantzen, AA Bd. I, 6, S. 77, Schellings Werke Erster Band, S. 450. SW II, S. 382: „Das einzig-unmittelbare Object der Anschauung ist das Positive in jeder Erscheinung. Auf das Negative, (als die Ursache des bloß Empfundnen) kann nur geschlossen werden."

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C. Die Wissenschaft der Materie

keine aus dem versteckten und täuschenden Spiel der einander wechselseitig einschränkenden Expansivkräfte bloß abgeleitete Kraft. Als einander entgegengesetzte Kräfte eines identischen Subjekts müssen sie ein Moment von Selbständigkeit gegenüber ihren Beziehungsgrund haben, andernfalls sie sich in diesem in ihrer Wirkung aufheben würden. Die Entgegensetzung der beiden ursprünglichen Kräfte müsse demnach absolut, auf keinen angebbaren Grund zurückzuführen oder voneinander abzuleiten sein. 90 Schelling fordert im Begriff der Natur als dem identischen Subjekt der Kräfte die absolute Vereinigung entgegengesetzter Tätigkeiten, die absolute Identität, zu denken. Die Einheit der Natur mit sich selbst fordere die Vereinigung der Kräfte. Bedingung der Realität sei jedoch die dynamische Trennung der beiden Kräfte. Einmal entzweit sei das Bestreben der Natur, in allen Erscheinungen diese absolute Identität wieder herzustellen, unendlich und unerfüllbar. Die nach Synthesis strebende Tätigkeit werde durch die Entzweiung hervorgebracht und vereinige die einander entgegengesetzten Tätigkeiten in dem sie sie aufeinander beziehe und dergestalt relative Identitäten stifte. Diese die Materie konstituierende, synthetische Kraft sei die Gravitation. In der Konstruktion der Materie unterscheidet Schelling drei Momente, die in der von ihm geforderten genetischen Konstruktion spekulativ, nicht reell durchlaufen werden müßten. Konstitutiv für jedes der Momente sei das spezifische Verhältnis der einander entgegengesetzten Kräfte zueinander. 91 Nicht die Konkurrenz der beiden Kräfte überhaupt konstituiere die Materie, „sondern es ist ein bestimmtes Verhältnis beider zueinander im Bezug auf den Raum, was die Materie möglich macht (.. .)." 9 2 Nicht die Wirkung in alle mögliche Richtungen an sich, sondern ein bestimmtes Verhältnis zwischen Repulsiv- und Attraktivkraft konstituiere eine Wirkung nach allen Dimensionen, die wirkliche Erfüllung des Raumes mit Materie. Der erfüllte Raum oder die Materie im Raum sei das „vollständige Vermittlungsglied des geforderten Verhältnisses zwischen Repulsiv- und Attraktivkraft ( . . . ) " 9 3 , das „nicht an sich, sondern bloß als Auflösung jenes Problems in der Natur ( . . . ) " 9 4 existiere. Im ersten Moment der Konstruktion 90

Eine allgemeine Deduktion der Entgegensetzung könne nur darauf zurückgeführt werden, daß die Entgegensetzung im Begriff der Natur mitgedacht werden müsse. Vgl. Physik, S. 669, SW IV, S. 35. 91 Die Trennung zwischen Erfahrung und Spekulation ist für Schelling nichtig. Deshalb ist es für ihn auch kein Widerspruch jedes Moment durch ein spezifisches Verhältnis der Kräfte, das nicht a priori zu deduzieren ist, entstehen zu lassen und zugleich die genetische Konstruktion spekulativ aufzufassen. Vgl. Ideen, AA Bd. I, 5, Schellings Werke Erster Band, S. 689, SW II, S. 39. 92 Physik, S. 660, SW IV, S. 26. 93 Physik, S. 666, SW IV, S. 32. 94 Physik, S. 666, SW IV, S. 32.

II. Schelling

171

der Materie als dem ersten bestimmten Verhältnis von Repulsiv- und Attraktivkraft werden beide Kräfte als in einem gemeinsamen Grenzpunkt vereinigt gedacht. Ihre Tätigkeit weise dieselbe Richtung, aber die entgegengesetzte Orientierung auf 9 5 , so daß eine gemeinsame Wirkungslinie der positiven und negativen Kraft entstehe, die in einem indifferenten Grenzpunkt die einander entgegengesetzten Kräfte vereinige. Diese erste Dimension der Materie sei Grundlage der reellen Konstruktion der Länge. Das die Länge Konstruierende sei der Magnetismus. Das zweite Moment der genetischen Konstruktion der Materie bestimme den indifferenten Grenzpunkt beider Kräfte als diesen äußerlich, so daß dieser nicht mehr als der gemeinsame Beziehungs- und Vereinigungspunkt, sondern als Unterscheidungspunkt fungiere. Mit dem zweiten Moment der Konstruktion der Materie soll der zweidimensionale Raum, die Fläche, und die in der zweidimensionalen Ebene wirkende Elektrizität deduziert werden. Die Deduktion des zweidimensionalen Raumes und der in diesem möglichen Wirkungsweise unterstellt die Repulsivkraft als eine zentralsymmetrische Expansivkraft. Allein der gemeinsame Grenzpunkt vereinige die Repulsiv- und die Attraktivkraft in einer Wirkungslinie. Mit der dynamischen Trennung beider Kräfte entfiele ihr gemeinsamer Beziehungspunkt, womit „die beiden Kräfte völlig frei werden, und ihrer ursprünglichen Tendenz, nach allen Richtungen zu wirken, ungehindert folgen können." 96 Warum die Tendenz, nach allen Richtungen zu wirken, auf zwei Dimensionen des Raumes beschränkt bleibt, erklärt Schelling nicht. Die dritte Dimension entstehe erst als Vermittlungsglied eines bestimmten Verhältnisses zwischen Repulsiv- und Attraktivkraft, so daß erst mit der Limitation der bloßen Konkurrenz der beiden Kräfte die Materie möglich werde. „Es ist nicht genug, zu wissen, die Existenz der Materie beruhe auf dem Gegensatz zweier Kräfte, sondern es muß noch überdieß deutlich gemacht werden, wie es denn vermöge jener zwei Kräfte möglich sey, daß ein Raum wirklich erfüllt werde, und da jede Raumerfüllung nothwendig eine dem Grade nach bestimmte ist, wie vermöge jener Kräfte ein bestimmtes Maß der Raumerfüllung entstehen könne. - Diese Fragen werden dadurch nicht beantwortet, daß man durch bloße Analyse des Begriffs der Materie als etwas, das den Raum erfüllt oder undurchdringlich macht, die Nothwendigkeit der beiden Kräfte zur Hervorbringung derselben darthut." 97 Die Deduktion der Materie dürfe nicht bei einer Bestimmung des Realen im Raum stehen bleiben, sondern müsse auch auf die Bestimmung des Reellen gehen. Während das Reale im Raum durch das Verhältnis der Kräfte 95 Die vektorielle Darstellung von zwei Kräften, die eine gleiche Richtung, aber entgegengesetzte Orientierung haben, ist wie folgt: — . Zwei Kräfte mit gleicher Richtung und Orientierung werden hingegen so dargestellt: —>— 96 Physik, S. 646, SW IV, S. 12. 97

Physik, S. 659, SW IV, S. 25.

172

C. Die Wissenschaft der Materie

überhaupt bestimmt werden kann, verlangt die Bestimmung des Reellen im Räume die Angabe des spezifischen Verhältnisses der Kräfte oder das durch sie konstituierte, bestimmte Maß der Raumerfüllung. Die Konstruktion eines Reellen erfordere die Vereinigung des ersten und des zweiten Moments der Konstruktion, so daß die Kräfte einerseits einem identischen Subjekt zugesprochen werden, andererseits aber dynamisch getrennt seien. Dieses erfolge im dritten Moment, indem beide Kräfte als entgegengesetzte, in bezug auf den Raum aber als identisch gesetzt werden. In jedem Punkt des Raumes wären sowohl Repulsiv- als auch Attraktivkraft anzutreffen, so daß der zunächst geometrische Raum zu einem undurchdringlichen werde. Der Raum als formale Bedingung der Beziehung der Kräfte aufeinander werde damit zur reellen Form des spezifischen Verhältnisses der Kräfte. An diesem Punkt geht Schelling über Kant hinaus, indem er die für die Deduktion einer Materie, die zu einem bestimmten Grad den physischen Raum erfüllt, notwendigen empirischen Data a priori zu bestimmen sucht. 98 Die Elemente oder reinen Bedingungen der Konstruktion, seien für die Deduktion der Materie notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen. 99 Erst mit der konstruierenden Tätigkeit selbst sei die Materie als ein den Raum erfüllendes Bewegliches hinreichend deduziert. Die konstruierende Tätigkeit liege außerhalb der reinen Bedingungen der Konstruktion und sei deshalb empirisch. 98

Ein solcher Versuch ist Kant nicht fremd, geht es Kant doch in den Antizipationen der Wahrnehmung um eben eine solche apriorische Bestimmung empirischer Daten. 99 Schellings Kritik an Kants Begründung der Materie im Raum vermittelst der Beziehung der beiden Grundkräfte Repulsion und Attraktion richtet sich gegen die Bestimmung der physischen Raumerfüllung durch die geometrische Raumbegrenzung. Ließe sich die physische Raumerfüllung aus der geometrischen Raumbegrenzung herleiten, wäre alle Geometrie zugleich Naturwissenschaft. Eine Raumbegrenzung ohne Raumerfüllung ist in der reinen Anschauung, d.h. ohne Antizipation der Wahrnehmung, möglich. Als Raumbegrenzung lassen sich ideale Körper denken, die aus elementaren geometrischen Figuren konstruiert werden. So bestimmt Piaton aus der Zusammensetzung von Elementardreiecken die Mannigfaltigkeit aller möglichen Körper und daran anschließend das Entstehen der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper. [Vgl. Piaton, Timaios, Werke in acht Bänden Bd. 7, griechischer Text von A. Rivaud und A. Diès, deutsche Übersetzung von H. Müller und F. Schleiermacher, Darmstadt 1972, S. 99 f., 53 c ff]. Eine physische Raumerfüllung ist aus der Zusammensetzung geometrischer Figuren jedoch nicht abzuleiten. „Denn die Dreiecke, aus denen die regulären Körper gebildet werden sollen, sind ja selbst nicht Materie, da sie als zweidimensionale Gebilde keinen Raum erfüllen. Sie sind gedankliche Konstruktionen, die durch die Art ihrer Zusammenfügung räumliche Gebilde darstellen. (...) Letzten Endes wird also der Materiebegriff (...) auf Mathematik zurückgeführt." [W. Heisenberg, Piatons Vorstellungen von den kleinsten Bausteinen der Materie und die Elementarteilchen der modernen Physik, in: Werner Heisenberg Gesammelte Werke Bd 1: Physik und Erkenntnis 1927-1955, München/Zürich 1984, S. 397].

II. Schelling

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„Das empirische Datum, was zur Construktion eines Körpers von bestimmtem Grad der Raumerfüllung gehört, ist also, daß der Grad seiner Attraktivkraft zum voraus schon durch Körper außer ihm eingeschränkt und bestimmt seyn muß, und da dieses Verhältnis nothwendig ein wechselseitiges ist, so nämlich, daß die Attraktivkraft jedes Körpers auf den bestimmten Grad eingeschränkt ist durch die eines jeden anderen, so sieht man, daß das empirische Datum, was zur Construktion einer dem Grade nach bestimmten Raumerfüllung gehört, die allgemeine Verkettung aller Materie unter sich ist (...)." 1 0 0 Die Bestimmung eines einzelnen Körpers hat dann zu ihrer notwendigen Voraussetzung ein System von Körpern. Die Konstruktion eine dem Grade nach bestimmten Raumerfüllung, eines einzelnen Körpers, habe demnach die Totalität aller einen Raum erfüllenden Subjekte zu ihrer Bedingung. Diese Totalität der wechselseitigen Verhältnisse aller einzelnen Körper sei das „empirische Datum ( . . . ) " 1 0 1 , das zur Konstruktion eines einzelnen notwendig sei. Die Erfahrung der Totalität der Körper wäre somit Bedingung der Möglichkeit der Konstruktion einzelner Körper. Schelling übersieht hierbei, daß die Gesetze der Mechanik nur die Bewegungen von Körpern in isolierten Systemen, nicht aber die Totalität der Bewegungen aller möglichen Körper bestimmen. Damit die körperliche Substanz Ursache einer physischen Wirkung sein könne, sei weder ihre Bestimmung als substantielle Form noch die der Ausdehnung hinreichend. Kant gibt in seinen Metaphysischen Anfangs gründen der Naturwissenschaft der Materie daher die dynamische Bestimmung eines Realen, eines Beweglichen im Räume. Die Raumerfüllung oder Undurchdringlichkeit, die „die Grundeigenschaft der Materie, wodurch sie sich als etwas Reales im Räume unseren äußeren Sinnen zuerst offenbart ( . . . ) " 1 0 2 ausmache, sei nicht aus der bloßen Existenz der Materie, sondern durch „eine besondere bewegende Kraft ( . . . ) " 1 0 3 zu erklären. Die Kraft ist Ursache der Bewegung und Voraussetzung des Beweglichen, der Materie. Wird das Reale der Gegenstände äußerer Sinne, wie in den Metaphysische(n) Anfangsgründe(n) der Naturwissenschaft, als bewegende Kraft bestimmt, fällt der äußere Grund der Erscheinungen in die Dynamik. Die Prinzipien der Mechanik sollen leisten, was die funktionale Einheit des Selbstbewußtseins nicht zu leisten vermag, sie sollen die objektive Realität der Erscheinungen garantieren. Wenn aber die Gegenstände möglicher Erfahrung im durchgängigen Verhältnis dynamischer Wechselwirkungen stehen, dann ist vom Begriff auf die Einheit des Systems der Gegenstände geschlossen worden. Schelling greift Kants Dynamik auf und versucht über den dynamischen 100 101 102 103

Physik, S. 663, SW IV, S. 29. Physik, S. 663, SW IV, S. 29. MAdN, S. 508. MAdN, S. 497.

174

C. Die Wissenschaft der Materie

Zusammenhang der Gegenstände das empirische Datum aus der objektiven Einheit des Systems des Wissens mit den Gegenständen des Wissens zu begründen. Diese objektive Einheit des Systems des Wissens mit den Gegenständen des Wissens ist für Schelling Ausdruck der Indifferenz von Spekulation und Erfahrung. Die Indifferenz von Spekulation und Erfahrung versucht Schelling über eine Generatio aequivoca von Geist und Natur zu erweisen. Indem beide aus demselben absoluten Prinzip entspringen, seien sie gleichermaßen Produkt analoger Tätigkeiten. Schellings Deduktion der Materie ist zugleich Resultat der produktiven Anschauung. Sowohl Wissenschaft als auch Natur, sowohl das System des Wissens als auch das System der Gegenstände, sind für Schelling Produkt einer Tätigkeit.

D. Das System der Philosophie. Z u r Einheit von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie, Wissenschaft und Materie I. Kant 1. Die Einheit des Systems In der Kritik der reinen Vernunft bestimmt Kant die Form der Anschauung und die reinen Verstandesbegriffe als die formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. So „müssen alle möglichen Wahrnehmungen, mithin auch alles, was zum empirischen Bewußtsein immer gelangen kann, d.i. alle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach, unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (bloß als Natur überhaupt betrachtet), als dem ursprünglichen Grunde ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit (als natura formaliter spectata), abhängt. Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhaupt, und dem, was als ein Gegenstand erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori Belehrung." 1 Die reinen Verstandesbegriffe bestimmen die Form der Erscheinungen, sind aber nicht der Grund der Existenz dieser Erscheinungen. Die Bestimmung der Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen durch die Kategorien hat keine durchgängige Determination der Erscheinungen zur Folge. Die spezifischen Gesetze der Natur werden, anders als die Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen der Natur, nicht durch die Kategorien bestimmt. Physik als die Wissenschaft der Gesetze der körperlichen Natur ist rein erkenntnistheoretisch nicht zu begründen, sondern bedarf der Erfahrung. Die Erfahrung ist somit die materiale Voraussetzung jeder Einzelwissenschaft, obwohl jede Erfahrung als Erfahrung notwendig unter der Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen stehen muß. Die Forderung 1

KrV, Β 164 f.

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D. Das System der Philosophie

nach einer hinzukommenden Erfahrung, um aus der formalen Möglichkeit der Erkenntnis zu einer wirklichen Erkenntnis zu gelangen, kann jedoch allein für diejenigen Erkenntnisse zwingend sein, die eine Beziehung der Kategorien auf Erscheinungen erfordern. Sofern rein mathematische Erkenntnisse durchgängig synthetische Urteile a priori sind, ist für diese Form der Erkenntnis eine hinzukommende Erfahrung nicht von konstitutiver Bedeutung. Die Vermittlung der allgemeinen Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen, der reinen Verstandesbegriffe, mit den besonderen Gesetzen erfordere ein besonderes Vermögen des Gemüts, die Urteilskraft. Die Urteilskraft überhaupt vermag das Besondere als im Allgemeinen enthalten zu denken. Wird die Urteilskraft als das Vermögen der Vermittlung des Allgemeinen mit dem Besonderen gefaßt, ergeben sich zwei Möglichkeiten der Erfüllung ihrer Funktion. Entweder ist das Allgemeine, das Prinzip oder das Gesetz, gegeben und die Urteilskraft ist, indem sie das Besondere unter das gegebene Allgemeine subsumiert, bestimmend. Oder das Besondere ist gegeben und die Urteilskraft, die das Allgemeine zu diesem gegebenen Besonderen bestimmt 2 , ist reflektierend. Die bestimmende Urteilskraft ist subsumierend, die reflektierende Urteilskraft bestimmt Kant hingegen als ein sich selbst das Gesetz gebende Vermögen. Wäre die reflektierende Urteilskraft nicht a priori gesetzgebend, müßte sie das zu findende Allgemeine aus etwas anderem als sich selbst hernehmen und wäre von der bestimmenden Urteilskraft, der das Allgemeine gegeben sein muß, nicht mehr zu unterscheiden. Die Funktion der Vermittlung zwischen der allgemeinen Form der Gesetzmäßigkeit und den besonderen Gesetzen, der Einheit der Gesetze und der Einheit der Erfahrung, könne nur der reflektierenden Urteilskraft zugesprochen werden. Vermittelst der bestimmenden Urteilskraft werden die besonderen Gegenstände der allgemeinen Form subsumiert. Die Subsumierbarkeit hat aber zur Voraussetzung, daß die Gegenstände an sich allgemein bestimmt sind. Allgemein kann jedoch nur eine Relation einzelner Gegenstände, nicht aber ein einzelner Gegenstand selbst sein. Die Allgemeinheit einer Relation von Gegenständen kann nicht unmittelbar aus den Gegenständen selbst folgen, sondern wird vermittelst der reflektierenden Urteilskraft an sie herangetragen. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft müsse es dieser ermöglichen, vom Besonderen zum Allgemeinen aufzusteigen, ohne sich dabei der Erfahrung bedienen zu müssen.3 Weil das Prinzip 2

Daß die reflektierende Urteilskraft in die bestimmende Urteilskraft umschlägt, wurde schon im Kapitel Α. I. Kant und Fichte zu einer möglichen Wissenschaft des Wissens, gezeigt. Die Konsequenzen sollen im folgenden deutlich gemacht werden. 3 Die systematische Ordnung des gegebenen Besonderen zu einem Allgemeinen soll unabhängig von der Erfahrung erfolgen. Würde mit Hilfe der Erfahrung vom Besonderen zum Allgemeinen aufgestiegen, wäre die Ordnung von bloß komparativer Allgemeinheit. Der Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen ist aber ohne die Erfahrung als materiale Voraussetzung nicht möglich. Weil die Erfahrung aber

I. Kant

177

der reflektierenden Urteilskraft konstitutiv ist für die systematische Ordnung der gegebenen Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen, die eine Naturerkenntnis erst ermögliche, sei es ein transzendentales Prinzip. Als dieses transzendentale Prinzip der Urteilskraft bestimmt Kant die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit. Vermittelst des Prinzips der Zweckmäßigkeit wird die Natur so vorgestellt, „als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte." 4 Der Begriff der Zweckmäßigkeit sei jedoch bloß formal, um über die nach empirischen Gesetzen gegebene Verknüpfung der Erscheinungen reflektieren zu können, nicht sie zu bestimmen. Mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit soll eine allgemeine Bedingung a priori vorgestellt werden, unter der das gegebene Besondere zu Gegenständen unserer Erkenntnis überhaupt werden könne. Die Begriffe der unter dem Prinzip der Zweckmäßigkeit gedachten Objekte sind nicht empirisch, sondern reine Begriffe von Gegenständen einer möglichen Erfahrungserkenntnis überhaupt. Die Aufgabe des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft 5 , der formalen Zweckmäßigkeit der Natur, sei die, „aus gegebenen Wahrnehmungen einer allenfalls unendliche Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze enthaltenden Natur eine zusammenhängende Erfahrung zu machen, welche Aufgabe a priori in unserem Verstände liegt. Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte; aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung der Natur, in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind." 6 Mit der reflektierenden Urteilskraft sollen einzelne gegebene Gegenstände oder Körper, deren Existenz metaphysisch vorausgesetzt wird, unter allgemeine Gesetze zu subsumieren sein, die der Verstand der Natur vorschreibt. Weil die mannigfaltigen Spezifikationen der Natur nicht Gegenstand der theoretischen Philosophie, der Naturphilosophie, sein können, müsse die Klassifikation der empirischen Gesetze der Natur nicht durch den Verstand, sondern durch die Urteilskraft erfolgen. Obwohl alle Naturerscheinungen unter den allgemeinen Gesetzen stehen, die sie zu möglichen Gegenständen einer Erfahrungserkenntnis bestimmen, immer schon unter der Form der Gesetzmäßigkeit gedacht wird, ist das Verhältnis von Erfahrung und dem Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen zirkulär. 4 KdU, S. 181, XXVIII. 5 Zur Funktion des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft vgl. J. Peter, Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft, Berlin 1992, S. 265: „Die Zweckmäßigkeit der Natur ist die höchste regulative Idee für eine erkenntniskritisch fundierte Beurteilungsmöglichkeit der Natur durch Vernunftbegriffe. Sie ist ein Prinzip der Urteilskraft, in welchem dieses Vermögen sich als Heautonomie Gesetz der Reflexion über die Natur ist (...)." 6

KdU, S. 184, X X X I V f.

12 Gerhard

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D. Das System der Philosophie

sei es dennoch denkbar, daß „die specifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur sammt ihren Wirkungen dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken, ihre Producte in Gattungen und Arten einzutheilen, um die Principien der Erklärung und des Verständnisses des einen auch zur Erklärung und Begreifung des anderen zu gebrauchen (.. .)" 7 und dergestalt eine zusammenhängende Erfahrung zu ermöglichen. Die Unvollständigkeit der Bestimmung der Gegenstände möglicher Erfahrung ihrem Bestimmungsgrund nach widerspricht einerseits der Einheit der Erfahrung, andererseits ist diese unvollständige Bestimmung der Gegenstände möglicher Erfahrung bezüglich ihres Bestimmungsgrundes notwendig. Wären alle Gegenstände möglicher Erfahrung vollständig bestimmt, folglich determiniert, gäbe es keine Möglichkeit der Realisierung von Zwecken. Die Urteilskraft als das Mittlere zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Naturphilosophie und Moralphilosophie, soll die Vereinbarkeit und Realisierbarkeit eines vernünftig bestimmten Willens mit und in einer durch Naturgesetze bestimmten Welt ermöglichen. Für die Mangelhaftigkeit der Erklärung spezifischer Verschiedenheiten empirischer Gesetze durch ein allgemeines Gesetz kann folgendes als ein Modell dienen. Aus dem ersten Newtonschen Axiom, dem Trägheitssatz, das jedem Körper seinen Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung beibehalten läßt, solange der Körper nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Bewegungszustandes gezwungen wird, läßt sich das folgende allgemeine Gesetz folgern: Ein frei beweglicher Körper ändert seinen Bewegungszustand, wenn eine Kraft auf ihn einwirkt. Die spezifische Art dieser Kraft, sei es Gravitation oder eine elektrostatische Anziehung verschiedener Ladungen, geht aus dem allgemeinen Gesetz nicht hervor und läßt sich auch nicht aus diesem ableiten. Weil der Stoff der Erfahrung, obwohl er nach Kategorien geordnet ist, so viele Bestimmungen enthalten könne, daß er für den endlichen Intellekt des Menschen in keine faßliche Ordnung zu bringen sei, müsse es ein weiteres Prinzip der Ordnung geben. Dieses apriorische Prinzip der Klassifikation der gegebenen Mannigfaltigkeit der empirischen Gesetze bestimme, trotz der unendlichen Mannigfaltigkeit der spezifischen Verschiedenheit der Natur, die Einheit der Erfahrung. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ist dann konstitutiv für ein System der Erfahrung nach besonderen Gesetzen. „Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Ge7

KdU, S. 185, X X X V I .

I. Kant

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setz vorschreibt, welches man das Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte, das sie a priori an ihr nicht erkennt, sondern zum Behuf einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung derselben in der Eintheilung, die sie von ihren allgemeinen Gesetzen macht, annimmt, wenn sie diesen eine Mannigfaltigkeit der besonderen unterordnen will." 8 Vermittelst dieses apriorischen Prinzips der Möglichkeit der Natur „schreibt man dadurch weder der Natur ein Gesetz vor, noch lernt man eines von ihr durch Beobachtung (obzwar jenes Prinzip durch diese bestätigt werden kann) (...)" 9 , denn die Spezifikation der allgemeinen Gesetze der Natur nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit sei Resultat der Anwendung der reflektierenden, nicht aber der bestimmenden Urteilskraft. Die Ordnung der Natur nach „ihren allgemeinen Gesetzen ( . . . ) " 1 0 sei einerseits unabhängig von der subjektiven Maxime der reflektierenden Urteilskraft, andererseits jedoch allein vermittelst dieser durch unseren Verstand zu erkennen. Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist nur für die Gegenstände konstitutiv, die ohne diese subjektive Maxime kein Gegenstand möglicher Erfahrung wären. Die Heautonomie der reflektierenden Urteilskraft ermöglicht es, der Natur ein Gesetz vorzuschreiben und gleichwohl der Natur gegenüber autonom zu handeln. Weil die reflektierende Urteilskraft jedoch, anders als die praktische Vernunft, sich selbst nicht das von sinnlichen Bedingungen unabhängige Gesetz, sondern das allgemeine Gesetz gibt, unter das die ihr heteronomen empirischen Gesetze zu subsumieren sind, verweist ihre Autonomie notwendig auf ein ihr immanentes arbiträres, heteronomes Moment. Das System des Wissens und das System der Erfahrung, das durch die subjektive Maxime der reflektierenden Urteilskraft zur Einheit gebracht werden soll, sind disparat. Für die Erkenntnis ist die Einheit des Systems der Erfahrung zwingend. Wäre die Zweckmäßigkeit der Natur aber nicht bloß ein regulatives Prinzip, sondern ein konstitutives Prinzip der Erkenntnis, müßte der erkennende Geist sich die Natur nicht nur nach seinem Zwecke einrichten, sondern schaffen. 2. Kunstprodukt und Naturprodukt Kant unterscheidet das Kunstprodukt vom Naturprodukt anhand der Funktion des Zweckbegriffs für das Produkt. Der Zweck ist „der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die Causalität eines Begriffs in Ansehung seines Objects ist die Zweckmäßigkeit (forma finalis). Wo also nicht etwa bloß die Erkenntniß von einem Gegenstande, sondern 8

KdU, S. 185 f., XXXVII. KdU, S. 186, XXXVII f. 10 KdU, S. 186, XXXVIII.

9

12*

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D. Das System der Philosophie

der Gegenstand selbst (die Form oder Existenz desselben) als Wirkung nur als durch einen Begriff von der letztern möglich gedacht wird, da denkt man sich einen Zweck. Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztern vorher." 11 Das Kunstprodukt ist das Resultat der Realisierung eines Zwecks. Das Naturprodukt wird vermittelst des Zweckbegriffs zu einem Gegenstand möglicher Erfahrung. Für das Kunstprodukt ist der Zweckbegriff Bestimmungs- und Existenzgrund. Für das Naturprodukt ist der Zweckbegriff jedoch der Erkenntnisgrund. Ein Naturprodukt ist das Resultat der Wirkung einer Kausalität nach Naturgesetzen. 12 Eine solche Kausalität nach Naturgesetzen, könne nur durch den Verstand vermittelst der Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen gedacht werden. Diese Kausalverbindung der wirkenden Ursachen, der nexus effectivus, ermögliche den Schluß von den Wirkungen auf deren Ursache. Die absteigende Reihe von Ursachen könne nicht in eine aufsteigende Reihe von Wirkungen überführt werden, so daß die gegebenen Wirkungen, auf deren Ursachen in der absteigenden Reihe geschlossen wird, selbst als gegebene Ursachen, auf deren Wirkungen in einer aufsteigenden Reihe geschlossen wird, fungieren könnten. Die zweite mögliche Art einer Kausalverbindung sei die der Endursachen (nexus finalis), die nach einem Vernunftbegriff gedacht werde. Der nexus finalis muß als Einheit von absteigender und aufsteigender Reihe der Ursachen und Wirkungen gedacht werden, so daß ein jedes Ding zugleich Ursache und Wirkung sein kann. Der Vernunftbegriff, der die Vorstellung der Kausalverbindung ermögliche, sei der Zweck. Der Zweck ist der „Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält ( . . . ) . " 1 3 Daß der Zweck dementsprechend der Existenzgrund des Objekts ist, trifft auf die Bestimmung des Kunstprodukts zu. Für das Naturprodukt hingegen muß der Zweck sein Existenzgrund sein und der Zweck darf doch nicht der Existenzgrund des Naturprodukts sein. Wäre der Zweck als Vernunftbegriff der Existenzgrund des Naturprodukts, müßte die Natur als durch einen vernünftigen Willen determiniert vorgestellt werden. Könnte der Zweck als Vernunftbegriff jedoch nicht Existenzgrund eines Naturprodukts sein, ließen sich keine Zwecke in der Natur realisieren, und alle Naturprodukte wären durchgängig nach mechanischen Naturgesetzen bestimmt.

11 12 13

KdU, S. 220, Β 32 f. Vgl. KdU, S. 397, Β 332 f. KdU, S. 180, XXVIII.

I. Kant

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3. Die Zweckmäßigkeit der Natur, der Naturzweck und das System der Zwecke Die subjektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihren besonderen Gesetzen bestimmt Kant als transzendentales Prinzip, welches ein System der Erfahrung nach besonderen Gesetzen ermögliche. Es ist die von Kant erschlossene Bedingung der Möglichkeit der Übereinstimmung der Gegenstände möglicher Erkenntnis mit dem Erkenntnisvermögen. Eine objektive Zweckmäßigkeit der Natur hingegen unterstellte eine durchgängige Ordnung und Bestimmung der Dinge der Natur durch die Relation von Mittel und Zweck; „wie aber Zwecke, die nicht die unsrigen sind, und die auch der Natur (welche wir nicht als intelligentes Wesen annehmen) nicht zukommen, doch eine besondere Art der Causalität, wenigstens eine ganz eigene Gesetzmäßigkeit derselben ausmachen können oder sollen, läßt sich a priori gar nicht mit einigem Grunde präsumiren." 14 Wird die Teleologie nicht bloß als regulatives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zur Beurteilung der Erscheinungen nach besonderen Naturgesetzen gebraucht, sondern als konstitutives Prinzip der Ordnung der Natur und ihrer Produkte genommen, würde mit dem Naturzweck als ein Vernunftbegriff der Natur eine absichtlich wirkende Kausalität unterstellt. Die Ordnung der Natur wäre dann nicht nur durch die Kausalität des Mechanismus, sondern durch die Kausalität nach Zwecken bestimmt. „Um einzusehen, daß ein Ding nur als Zweck möglich sei, d.h. die Causalität seines Ursprungs nicht im Mechanism der Natur, sondern in einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird, suchen zu müssen, dazu wird erfordert: daß seine Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sei, d.i. solchen, welche von uns durch den Verstand allein, auf Gegenstände der Sinne angewandt, erkannt werden können; sondern daß selbst ihr empirisches Erkenntniß, ihrer Ursache und Wirkung nach, Begriffe der Vernunft voraussetze."15 Die Bedingung der Möglichkeit eines Dinges als Naturzweck liege im Mangel der Erkenntnis desselben vermittelst der Kausalität nach bloßen Naturgesetzen. Ein Naturprodukt könne nur unter der Voraussetzung zugleich als Zweck beurteilt werden, daß es von sich selbst Ursache und Wirkung sei. Als Naturzweck läßt sich allein ein solches Ding bestimmen, das kein Kunstprodukt ist und durch einen Zweck bestimmt ist. Ist ein Kunstprodukt das Resultat der Realisierung eines Zwecks, kann das Naturprodukt nur insofern auch als Zweck beurteilt werden, als sein Zweck, anders als beim Kunstprodukt, kein ihm äußerlicher sein dürfe. Das Naturprodukt, das auch Naturzweck ist, müsse daher, indem es sich selbst zugleich Ursache und Wirkung ist, reflexiv sein. Diese Bestimmung reicht aber nicht hin, das Na14 15

KdU, S. 359, Β 268. KdU, S. 369 f., Β 284.

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D. Das System der Philosophie

turprodukt als in sich subsistierend, als causa sui zu erklären. Die geforderte Reflexivität des Naturzwecks wird über die Selbsterhaltung der Naturprodukte im Gattungs- und Wachstumsprozeß erfüllt. Indem die einzelnen Exemplare einer Gattung als Ursache und Wirkung ihrer Existenz zum Zweck der Erhaltung der Gattung miteinander verbunden sind, erscheine das Naturprodukt als Naturzweck. Die Selbsterhaltung des Individuums, z. B. eines Baumes, durch den Prozeß des Stoffwechsels und Wachstums sei ein weiteres Modell für die Reflexivität des Naturzwecks. Das dem Wachstum vorauszusetzende heterogene Material sei nicht die Ursache des Wachstums, weil das vorauszusetzende Material der Assimilation erst durch den Stoffwechsel in eine spezifische Form gebracht werde, die für den Stoffwechsel und das Wachstum konstitutiv sei. Der Baum produziert demnach die Ursache seines eigenen Wachstumsprozesses, auch wenn die Ursache selbst ein ihr heterogenes Material zur Voraussetzung hat. Die Reflexivität des Naturzwecks muß behauptet werden, wenn der Unterschied zwischen Kunst- und Naturprodukt nicht mit dem Postulat eines Naturzwecks aufgehoben werden soll. Der Zweckbegriff ist ein Vernunftbegriff, der auf die Realisierung eines vernünftig bestimmten Willens geht. Der Zweck dieses vernünftig bestimmten Willens kann nun entweder dem zu realisierenden Produkt äußerlich oder ihm immanent sein. Wäre der Zweck dem Naturprodukt äußerlich, so wäre es vom Kunstprodukt nicht mehr zu unterscheiden. Wäre der Zweck der Natur immanent, wäre ihr selbst ein vernünftig bestimmter Wille zuzusprechen. Beide Konsequenzen will Kant vermeiden. Zur Bestimmung eines Dinges als Naturzweck seien daher zwei Voraussetzungen zu erfüllen. Erstens müßten die Teile, sowohl ihrer Form als auch ihrem Dasein nach, allein durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sein. Weil das Ding als Zweck durch eine Idee in allen seinen Teilen bestimmt vorgestellt wird, ist die Verbindung der Teile zu einem Ganzen die Wirkung einer vernünftigen Ursache. Diese Verbindung der Teile mit dem Ganzen wäre die Kausalität der Begriffe von vernünftigen Wesen, die dem Ding äußerlich wären. Das Resultat der Verbindung, die Realisierung des Zwecks, wäre ein Kunstprodukt. Soll ein Naturprodukt „als Naturzweck und ohne die Causalität der Begriffe von vernünftigen Wesen außer ihm möglich sein ( . . . ) " 1 6 , müsse die zweite Voraussetzung, daß die Teile und das Ganze „voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind ( . . . ) " 1 7 , erfüllt werden. „Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Theile bestimme: nicht als Ursache - denn dann wäre es ein Kunstprodukt - , sondern als Erkenntnißgrund der systematischen Einheit der Form und Verbin16 17

KdU, S. 373, Β 290. KdU, S. 373, Β 291.

I. Kant

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dung alles Mannigfaltigen, was in der gegebenen Materie enthalten ist, für den, der es beurteilt." 18 Die Beurteilung eines Dinges als Naturzweck an sich fordere die wechselseitige Verknüpfung der wirkenden Ursachen, so daß die Teile „ein Ganzes aus eigener Causalität hervorbringen ( . . . ) " 1 9 und die Idee des Ganzen wiederum als Ursache der Verbindung vorgestellt werden könnte. Jeder Teil eines solchen Naturprodukts sei ein andere Teile hervorbringendes Organ, so daß das Ganze ein „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen ( . . . ) " 2 0 sei. Im Unterschied zur Maschine habe das organisierte Wesen nicht bloß bewegende, sondern bildende Kraft. Die Vorstellung der bildenden Kraft der Natur als Ursache organisierter Wesen impliziert, die Tätigkeit der Natur als eine Handlung nach einem Vernunftbegriffe zu denken. Die Selbstorganisation 21 der Naturprodukte von „der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, (...) [der; M.G.] rohen Materie ( . . . Γ 2 2 bis zum Menschen sei aber nicht Resultat der Realisierung des objektiven Naturzwecks an sich, denn die Idee des Naturzwecks sei „kein constitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft, kann aber doch ein regulativer Begriff für die reflectirende Urtheilskraft sein (...)." 2 3 Die Bestimmung der Naturprodukte als an sich seiender Naturzwecke ist ein Schluß der reflektierenden Urteilskraft. Die Idee von einem Naturzweck sei notwendig, weil die Organisation der belebten Natur durch die Kausalität des Mechanismus allein nicht hinreichend zu erkennen sei. Die Existenz organisierter Dinge ist der Grund für den Schluß der reflektierenden Urteilskraft auf die regulative Idee des Naturzwecks. „Es ist also nur die Materie, sofern sie organisirt ist, welche den Begriff von ihr als einem Naturzwecke nothwendig bei sich führt, weil diese ihre specifische Form zugleich Product der Natur ist. Aber dieser Begriff führt nun nothwendig 18

KdU, S. 373, Β 291. KdU, S. 373, Β 291. 20 KdU, S. 374, Β 292. 21 Zum Begriff der Selbstorganisation vgl. M.-L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986. Heuser-Keßler vergleicht Schellings Begriff der Selbstorganisation mit den Theorien von I. Prigogine und H. Haken und kommt zu dem Schluß, daß „vor allem Schellings Idee (...), daß die Natur primär ein Produktionsprozeß ist, der durch alle einzelnen Gestalten und Objekte hindurchgeht, ohne in einer einzelnen Stufe fixierbar zu sein (...)" [M.-L. HeuserKeßler, S. 109 f.], in einer modernen Theorie der Selbstorganisation Berücksichtigung finden sollte. B.-O. Küppers hingegen verwirft die Vereinnahmung Schellings als ein Vordenker der Selbstorganisationsdebatte als unbegründet, „die im wesentlichen die Folge eines bodenlosen Spiels mit Begriffen und Analogien ist." [B.-O. Küppers, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt/M. 1992, S. 118]. 22 KdU, S. 419, Β 369. 19

23

KdU, S. 375, Β 294 f.

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D. Das System der Philosophie

auf die Idee der gesammten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Principien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen) untergeordnet werden muß. Das Prinzip der Vernunft ist ihr als nur subjektiv, d.i. als Maxime zuständig O·.)." 24 Von der Organisation einzelner Naturprodukte „nach der Regel der Zwecke (.. . ) " 2 5 schließt Kant auf ein System der Naturzwecke, das Resultat der durchgängigen teleologischen Bestimmung aller organisierter Wesen sei. Der Schluß vom Naturzweck einzelner Naturprodukte auf ein System der Naturzwecke geht von der inneren Zweckmäßigkeit des einzelnen Organismus auf die äußere oder relative Zweckmäßigkeit aller Organismen. Analog der inneren Zweckmäßigkeit, die alle Teile des Naturprodukts durch die wechselseitige Verbindung als Mittel und Zweck organisiert, sei die Konstruktion einer Totalität aller Organismen oder eines Systems der Naturzwecke durch die äußere oder relative Zweckmäßigkeit aller Organismen möglich. 2 6 Das Problem dieses Schlusses liegt in der Verwechslung der Form eines partikularen allgemeinen Prozesses, dem Prozeß der zweckmäßigen Organisation des Organismus, mit der allgemeinen Form partikularer Prozesse, dem Prozeß der zweckmäßigen Organisation aller partikularen Organismen. Gegen die Konstruktion einer Totalität aller Organismen spricht, so Kant, die Unmöglichkeit eines absoluten teleologischen Urteiles aufgrund der äußeren oder relativen Zweckmäßigkeit. Der von einer Teleologie der Totalität geforderte Zweck der Naturzwecke führt auf einen regressus ad indefinitum, dessen spekulativer Abbruch einen Endzweck als unbedingten Zweck setzte. Dieser unbedingte Zweck der Natur müßte jedoch „über die Natur hinaus gesucht werden." 27 Die durchgängige Ordnung aller Organismen durch den Zweckbegriff führt auf ein System der Naturzwecke. Das System der Naturzwecke ist die Idee einer durch den Zweckbegriff organisierten Totalität aller Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Idee eines Systems der Naturzwecke dürfe dem Mechanismus der Natur nicht widersprechen, sondern müsse vielmehr diesen unter sich subsumieren. Die Vereinbarkeit der zwei Arten von Kausalität, der nach Naturgesetzen und der nach Zwecken, ist notwendig, sofern sich Zwecke in der Natur realisieren lassen sollen. Die Realisierbarkeit von Zwecken in der Natur ist Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, denn die Vernunft sieht nur das ein, „was sie selbst nach ihrem Entwürfe 24

KdU, S. 378 f., Β 300. KdU, S. 378 f., Β 300. 26 Kein Organismus subsistiert in sich, sondern jeder einzelne Organismus ist von anderen Organismen abhängig. So sind ζ. B. Tiere von Pflanzen oder anderen Tieren abhängig. Jeder Organismus hängt also von einem System der Zwecke ab, aber das System der Zwecke ist nicht abgeschlossen. 27 KdU, S. 378, Β 299. 25

I. Kant

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hervorbringt (...)·" 2 8 Bedingung der Realisierbarkeit von Zwecken in der Natur ist die Unvollständigkeit der Bestimmung der Gegenstände möglicher Erfahrung dem Bestimmungsgrund nach. Wären die Gegenstände möglicher Erfahrung durchgängig nach der Kategorie Kausalität und Wechselwirkung bestimmt, so wären sie vollständig determiniert und die Realisierung von Zwecken in der nach bloßen Naturgesetzen bestimmten Natur nicht möglich. Der Grund der Realisierbarkeit von Zwecken in der Natur kann aber andererseits nicht in der „absichtlichefn; M. G.] Hervorbringung (.. . ) " 2 9 der Natur gesucht werden, weil dieses absichtliche Handeln der Natur in den Erscheinungen oder in der Materie das Dasein eines transzendentalen Subjekts unterstellte. Ein solches Natursubjekt wäre nach Kant ein Begriff der Totalität und der könnte kein Gegenstand möglicher Erfahrung sein. Die Naturprodukte seien als Resultate des „Technicism der Natur ( . . . ) " 3 0 zu denken, ohne jedoch diesem eine absichtliche Handlung eines Subjekts zugrunde zu legen. Die Vorstellung eines Naturzwecks dient der Bestimmung der Möglichkeit von Dingen. Der Zweck als Grund der Möglichkeit eines Dinges sei aber bloß eine subjektive Maxime der Erkenntnis und kein das Ding metaphysisch determinierendes Prinzip. Als metaphysischer Bestimmungsgrund eines Dinges wäre der Zweck eine apriorische konstitutive Bedingung der Möglichkeit der Natur. Die Konstitutivität und Durchgängigkeit des Prinzips der Zweckmäßigkeit hätte ein System oder einen Organismus der Natur zur Folge, in dem alles und jedes Element Mittel für den Zweck der Natur wäre, der zugleich Naturzweck wäre. Die Natur müßte als ein Ganzes vorgestellt werden, das an sich und für sich reflexiv wäre. Die Reflexivität der Natur wäre aber nicht als Selbstorganisation der Materie 31 zu denken, sondern das Resultat der Organisation der Natur durch einen ihr transzendenten Zweck. Der Grund hierfür liegt in der Irreflexivität der Elemente der einzelnen Organismen und der Unmöglichkeit der unmittelbaren Transformation des Irreflexiven in ein Reflexives. Die Elemente des einzelnen Organismus sind irreflexiv. Erst durch die zweckmäßige Ordnung der einzelnen Elemente entsteht ein reflexiver Organismus, in dem alle Teile sich wechselseitig Mittel und Zweck sind. Das reflexive Moment des Organismus, seine Ordnung, läßt sich nicht aus den Elementen der Ordnung, den Irreflexiven deduzieren. Die Selbsterhaltung des Organismus erfolgt gemäß den Regeln von Kausalität und Wechselwirkung. Die Ordnung des Or28

KrV, Β XIII. KdU, S. 408, Β 351. 30 KdU, S. 413, Β 359. 31 Der Versuch der Begründung des Begriffs der Selbstorganisation der Materie „auf der Basis des Kantischen Teleologie Verständnisses" scheitert deshalb schon im Ansatz. Vgl. P. Heinen, Die Vorstellung einer Selbstorganisation der Materie, Versuch einer erkenntniskritischen Wertung auf der Basis des Kantischen Teleologieverständnisses, Aachen 1987. 29

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D. Das System der Philosophie

ganismus hingegen ist zwar mit den Regeln der Kausalität und Wechselwirkung verträglich, nicht aber aus diesen herleitbar. Die Reflexivität des Organismus läßt sich nicht aus seinen irreflexiven Elementen konstruieren. Der Naturzweck kann demnach selbst kein Naturprodukt sein, in dem Sinn, daß er aus den Elementen des durch ihn geordneten Organismus entstünde. Faßte man das Ordnungsprinzip des Organismus als einen Zweck auf, wäre zugleich ein absichtlich handelndes Subjekt vorauszusetzen, das diesen Zweck setzte und mit technischen Mitteln realisierte. Ein absichtliches Handeln der Natur unterstellte ein der Materie transzendentes Subjekt, das absichtsvoll in der Natur gemäß den von ihm gesetzten Zwecken wirkte. Die teleologische Ordnung aller Naturprodukte soll lediglich der Erkenntnis als Maxime dienen, ohne daß aus der Idee des Naturzwecks auf einen „