Von der Liebe erzählen: Sechs Lebensgeschichten von Frauen 9783205791508, 9783205787495

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Von der Liebe erzählen: Sechs Lebensgeschichten von Frauen
 9783205791508, 9783205787495

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Damit es nicht verlorengeht … 64

Begründet von Michael Mitterauer. Herausgegeben vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien

Toni Distelberger (Hg.)

Von der Liebe erzählen Sechs Lebensgeschichten von Frauen

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung

Bildnachweis auf S. 304

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78749-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­­Abbil­dungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur ­auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG., Wien . Köln . Weimar www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Demczuk Fairdrucker Gesellschaft m.b.H., Purkersdorf

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Karoline Kohn „Er hatte sehr viele schwarze Locken“ . . . . . . . . . . 11 Ilse Winter „Die Frau ohne Honeymoon“ . . . . . . . . . . . . . . . 28 Gertrud Kantor „Egal, welcher Nation er angehört“ . . . . . . . . . . . . 71 Maria Zach „Was verboten ist, brennt heiß wie Feuer“ . . . . . . . 116 Mathilde Faschingleitner „Ich habe mich dann regelrecht in ihn verliebt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Maria Elisabeth Windisch „Und die Liebe, die kam nicht zu kurz!“ . . . . . . . .

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Toni Distelberger Von der Liebesgeschichte in der Lebensgeschichte . . . 265 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Vorwort Die Liebe wird von den meisten Menschen als eine so kostbare Erfahrung angesehen, dass man selten bereit ist, darüber viele Worte zu verlieren. Obwohl im Laufe von rund dreißig Jahren in der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“1 an der Universität Wien schriftliche Le­ benserinnerungen von mehr als 3000 Personen gesammelt wurden, war es nicht ganz einfach, darunter auch welche zu finden, in denen Erzählungen von der Liebe einen größeren Stellenwert einnehmen. Frauen lassen weitaus häufiger die Bereitschaft erkennen, sich über persönliche Empfindungen in autobiographischen Manuskripten zu äußern. Die sechs Beiträge des Bandes spiegeln diesen Überhang an weib­lichen Lebens- und Liebesgeschichten im Textarchiv, sie geben jedoch nur Ausschnitte aus dem viel breiteren Spektrum an Beziehungswirklichkeiten zwischen den Dreißiger- und Fünf­ zigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder. Die Erinnerungen der Autorinnen an ihre Liebesbeziehungen sind dabei so eng mit der restlichen Lebensgeschichte verknüpft, dass die kurzen, oft geradezu lakonischen Ausführungen über die Liebe erst im Zusammenhang der ganzen Lebensgeschichte ihre Aussagekraft entwickeln. Eine stärkere Beschränkung auf die eigentlichen „Liebesgeschichten“ hätte den historischen und gesellschaftlichen Kontext ausgespart und das Verständnis für manche persönlichen Beweggründe erschwert. Dieses Buch hat einen Vorläufer, dessen Titel als Motto auch hier vorangestellt werden könnte. Die Herausgeberinnen eines Bandes, in dem ältere Frauen aus dem Waldviertel zu Wort kamen, leiteten ihre Sammlung mit dem Zitat ein: „Ich weiß über die Liebe gar nicht viel ...“2 Diese Aussage will meiner Ansicht nach mehr mitteilen als das bloße Eingeständnis des eigenen Unwissens. Nur vordergründig wollen die Erzählerinnen sich damit als unzuständig oder unerfah7

ren erklären, wenn es darum geht, über die Liebe Auskunft zu erteilen. Ich lese heraus, dass die Erzählerinnen sich damit auch von einem Begriff der Liebe distanzieren, wie er ihnen im Fernsehen und anderen modernen Medien begegnet ist. Sie wollen ausdrücken, dass diese „Liebe“ mit jener, die sie kennen, nicht viel zu tun hat. Auch die Erzählerinnen im vorliegenden Band lehnen es ab, ihre eigene Lebenserfahrung am Maßstab gängiger Liebesideale, etwa der „romantischen Liebe“ der Herz-Schmerz-Romane zu messen. Was nicht bedeutet, dass die Autorinnen als Leserinnen diese Darstellungen der Liebe nicht auch zu schätzen wüssten. Die Gespräche der Frauen aus dem Waldviertel über „Heirat, Liebe, Sexualität und Aufklärung“ wurden vor mehr als zwanzig Jahren geführt, zu einem Zeitpunkt, als die Verbindung von Bildungsarbeit und „Oral History“ noch neu war. Bei lebensgeschichtlichen Interviews und Gesprächskreisen, wie sie im Waldviertel geführt wurden, wenden die Erzählerinnen und Erzähler sich unmittelbar an eine Zuhörerin, einen Zuhörer. Beim autobiographischen Schreiben bleibt es dagegen häufig offen, wann die Texte interessierte Leserinnen und Leser finden werden. Oft richten sich die Schriften zwar an bestimmte Personen, meist an Nachkommen; deren Interesse an den Erinnerungen ihrer Vorfahren kann jedoch recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Die lebensgeschichtliche Erzählung wird zur Flaschenpost, dem Strom der Zeit überantwortet. Aleida Assmann versteht die Erinnerung als eine Form der Wahrnehmung, zwar als eine nichtsinnliche Variante, aber grundsätzlich genauso als Wahrnehmung wie Sehen, H ­ ören, 3 Schmecken, Riechen und Fühlen. Doch wie alle Formen der Wahrnehmung, sinnliche und nichtsinnliche, ist auch die Erinnerung auf vorhergehende Bedeutung angewiesen. ­Erinnern können wir uns nur an Erlebnisse, die wir in den ­lebendigen Erfahrungsschatz aufgenommen haben. Sind 8

­Erinnerungen nicht in das Bild integrierbar, das wir heute von uns haben, ergeben sie als Bausteine der persönlichen Biographie keinen Sinn. An solche Erfahrungen will und kann man sich oft auch nicht erinnern. Autobiographische Erinnerungstexte enthalten so ihre besonderen Wahrheiten und Wertigkeiten, die nicht mit der wissenschaftlichen Sicht der Dinge übereinstimmen müssen. An den Texten der Autorinnen, die in diesem Buch versammelt sind, fasziniert mich ihr Anspruch, sich bei der Bewertung der Umstände ihrer Lebensgeschichte auf die individuelle Wahrnehmung zu verlassen. Den Anspruch auf die persönliche Wirklichkeit zu vertreten, ist eine Selbstermächtigung der Autoren und Autorinnen. Nicht Geschichte wollen sie schreiben, die allgemein gültig und verbindlich ist. Es sind die persönlichen Geschichten, mit denen sie den Mut haben, sich der Kritik ihrer Umwelt auszusetzen. Mit mir gemeinsam diesem „Eigensinn“ der Lebensgeschichten nachzuspüren, möchte ich die Leserinnen und Leser dieses Buches einladen. Toni Distelberger

Anmerkungen 1 2

3

Vgl. http://lebensgeschichten.univie.ac.at. Verein für erzählte Lebensgeschichte (Hg.): „Ich weiß über die Liebe gar nicht viel ...“ Waldviertler Frauen erzählen über Heirat, Liebe, Sexualität und Aufklärung. Vitis 1990, S. 16: Rosa Bartl (Jahrgang 1924): „Mein Gott, ich weiß über die Liebe gar nicht viel.“ Die Erzählerin leitet damit die Mitteilung ein, dass sie ihren späteren Mann kennt, seit sie 15 ist, sie also nicht viel Gelegenheit hatte, Erfahrung in Liebesdingen zu sammeln. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 9–10.

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„Er hatte sehr viele schwarze Locken“

Karoline Kohn wurde am 9. Oktober 1916 als Karoline Hikade in Urschendorf bei Wiener Neustadt in Niederösterreich geboren. Ihr Vater war Spitzenweber und stammte aus Mähren. Nach ihrer Schulentlassung arbeitete Karoline kurze Zeit bei Bauern und als Dienstmädchen beim örtlichen Gemeindearzt. Schließlich fand sie eine Anstellung in der Gummifabrik Semperit in Wimpassing. Nach ihrer Heirat im Jahr 1935 zog sie mit ihrem Mann Gottlieb (1902–1971), der in der folgenden Erzählung Gustl genannt wird, nach Wien und lebte vier Jahre in einer Siedlung im 21. Bezirk. Das Paar hatte in dieser Zeit drei Kinder. Über Zeitpunkt und Motiv der Niederschrift des folgenden Erinnerungstextes ist nichts Näheres bekannt. Das handschriftliche Manuskript gelangte 1999 in die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“. Der Text findet auf der letzten Seite des Schreibheftes ein unvermitteltes Ende. Ich wurde als neuntes Kind eines Spitzenwebers geboren. Meine Kindheit war schön, weil wir nichts anderes gekannt haben. Wir waren viele Kinder in einem großen Haus, das zur Spitzenfabrik gehörte. Es waren zirka vierzig Familien mit vielen Kindern. Mein Vater und meine Schwestern und Brüder waren in der Fabrik beschäftigt. Mein Bruder und ich hatten ein freies Leben. Er war um zwei Jahre älter als ich. Wir hatten einen weiten Schulweg, aber wenn wir nach Haus gekommen sind, waren wir nach dem Essen frei. Es war eine schöne Kindheit. Das Lernen 11

war nicht so anstrengend. Als ich die Schule mit vierzehn Jahren verlassen hab, sollte ich etwas lernen. Ich wäre so gerne Schneiderin geworden, aber meine Eltern hätten vierzig Schilling im Monat bezahlen müssen, das konnten sie nicht aufbringen. Ich habe für die anderen Hausparteien Wäsche ausgebessert, ich hatte großes Talent, mit Nähmaschine und Nadel umzugehen, so bekam ich ein bisserl Taschengeld. Mein Bruder arbeitete in einem Gutshof als Taglöhner. Auch er verdiente etwas, musste aber der Mutter davon abgeben. Aber für Kino reichte es bei ihm und bei mir. Die Fabrik wurde 1928 stillgelegt. Alle verloren ihre Arbeit. Meine Schwestern wurden Dienstmädchen. Auch ich sollte im Haushalt irgendwo unterkommen, aber meine älteste Schwester war dagegen: „Unsere Jüngste soll es besser haben, sie darf in keinen Dienst gehen, sie soll etwas lernen!“ Alle vier Schwestern wollten für meine Kleidung sorgen und die Mutter unterstützen. Ich wollte aber schon Geld verdienen, mein Bruder hat in einer Fabrik Arbeit bekommen, so bin ich halt auch Arbeit suchen gefahren. Mein Bruder borgte mir sein Fahrrad, und ich fuhr nach Wimpassing in die Gummifabrik und wurde aufgenommen. Ich glaub, ich war der glücklichste Mensch. Ein anderes Leben begann für mich. Ich kaufte mir gleich ein neues Fahrrad. Das musste ich haben, weil keine andere Möglichkeit war hinzukommen. Natürlich musste ich jede Woche zehn Schilling Rate bezahlen, aber ich hatte ein schönes Rad und Arbeit. Ich verdiente damals siebzehn Schilling pro Woche. Ich war der glücklichste Mensch, obwohl es in eine Richtung 15 Kilometer waren, bei jedem Wind und Wetter, Winter und Sommer. Es kam dann noch eine Schulfreundin dazu, wir waren erst zu zweit, dann zu dritt. 1934 kam die Wende. Die Fabrik, zu der das Haus gehörte, wo wir wohnten, wurde zum Abbruch verkauft. Es kam ein Mann aus Wien, der den Abbruch leitete. Nach Arbeitsschluss 12

ist die Jugend bei ihm zusammengekommen, und es ist bis in die späte Nacht geplaudert worden. Ich war nie dabei, ich musste ja bei Frühschicht um vier Uhr früh aufstehen. Die andere Woche hatte ich von zwei Uhr am Nachmittag bis zehn am Abend Spätschicht, da kam ich wieder um halb zwölf in der Nacht nach Hause. Meine karge Freizeit verbrachte ich auf einem Bauernhof. Der Sohn wollte mich heiraten, seine Mutter war schon alt. Aber er wurde sehr krank: TBC. Ich machte dort viel Arbeit und gab ihm Trost, aber heiraten wollte ich ihn nicht. Meine Mutter redete mir zu. Aber ich wollte Kinder haben. Und was hab ich für Aussichten bei einem schwer lungenkranken Mann und vielleicht noch Vater meiner Kinder? Froh konnte ich ja nicht sein, weil er mir sehr leidtat. Und wieder wendete sich mein Schicksal. Ich ging früh zu Bett, ich musste ja früh zur Arbeit. Da kam meine Mutter zum Bett und sagte: „Du, da draußen stehen deine Freunde vom Haus. Du sollst auch zu ihnen kommen, sie haben eine Musik und tanzen, du sollst mitkommen!“ Ich ging nicht, ich schickte sie weg. Die Woche darauf hatte ich von zwei bis zehn Uhr Schicht und kam erst um halb zwölf Uhr in der Nacht heim. Ich war noch drei Kilometer von zu Hause weg, da waren alle Freunde auf der Straße und holten mich ab. So ging ich mit ihnen nach Haus, auch der Wiener war dabei. Das ging so weiter, aber es wurden immer weniger. Es kam dann die Frühschicht. Ich musste an einem hohen Bretterzaun vorbeifahren, die Bretter waren oben rund ausgeschnitten, und da stand er, der Wiener, und schaute um vier Uhr früh durch den Ausschnitt. Er dachte aber nicht, dass seine Haare höher waren als der Zaun. Er hatte sehr viele schwarze Locken, und die ragten über den Zaun hinaus. Ich habe gewusst, er schaut nach mir. 13

Bei der nächsten Abendschicht stand er schon alleine auf der Straße und wartete. Wir gingen allein und plauderten. Er erzählte mir viel von seiner Mutter, das gefiel mir sehr. Ich sprach über alles mit meiner Mutter, vom Schauen über den Zaun in der Früh und über alles, was wir geredet haben. Es war der alltägliche Trott. Jeden Samstag fuhr er nach Wien, und am Sonntagabend holte ich ihn von der Bahn ab. Wir gingen dann spazieren. Er brachte mir immer Kleinigkeiten als Geschenk mit. Es kamen damals die feinen Kniestrümpfe auf. Es war etwas ganz Besonderes, wir am Land kannten sie noch nicht. Ich war aber zu stolz, mir von ihm Strümpfe schenken zu lassen, so schenkte er sie einem anderen Mädchen. Es wurde eine Freundschaft, aber nicht mehr. Mein Vater war ein sehr guter Mensch und hat meinem Freund eine Frau besorgt, die ihm sein Zimmer aufgeräumt hat. Vater hat ihm abends den Ofen eingeheizt und hat sich um ihn gesorgt, da er ja abends dann allein war. Mutter hat ihm manchmal Essen mit dem Vater geschickt. Dafür bekam mein Vater Holz zum Heizen. Es vergingen viele Wochen und Monate. Der Weg war immer derselbe, aber wir sind uns etwas nähergekommen. Immer, wenn er weggefahren ist am Samstag und ich mit ihm auf den Zug wartete, wurde er unruhig, und wenn ich ihn gefragt habe: „Was hast du?“, sagte er: „Wenn ich dir das sage, so magst du mich nicht mehr.“ Ich sagte: „So sag es mir, es macht mir sehr viel Kopfzerbrechen, was das für ein Geheimnis ist.“ Als er wieder kam, sagte er kein Wort darüber. Das ging wochenlang so fort. Ich stand wieder mit ihm am Bahnsteig, da sagte ich zu ihm: „Wenn du es mir jetzt nicht sagst, werde ich dich nicht mehr abholen.“ Da wurde er ganz ruhig und nahm mich bei der Hand und sagte: „Wenn ich es dir sage, ist es mit unserer Freundschaft vorbei.“ Ich gab nicht mehr nach, der Zug kam schon bald, da sagte er: „Ich bin ein Jude!“ 14

Auf mich machte es gar keinen Eindruck. Ich sagte ihm: „Und deswegen muss ich mir so viele Gedanken machen? Bist du anders als ich, nur weil du einen anderen Glauben hast als ich?“ Da fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er fuhr erleichtert nach Wien, und ich hatte jetzt den Kopf voll Sorgen. Ich sagte nichts zu Hause. Mein Bruder lebte noch daheim, er war nur zwei Jahre älter als ich und ein illegaler Nazi. Es kam dann eine Zeit, da wurden Flugblätter verstreut und überall Hakenkreuzfahnen aufgehängt. Die Polizei hatte viel zu tun, es wurden auch Wände und Häuser angemalt mit Hakenkreuzen. Es war an einem Samstag früh, die Polizei ging in die Wohnungen, wo sie die Täter vermutet hatte. Mein Bruder sagte mir noch: „Komm mit Benzin in den Wald hinauf!“, sprang aus dem hinteren Zimmerfenster und lief davon. Die Polizei ging zum Gustl, so hieß mein Freund, und fragte ihn aus. Er wusste aber von nichts, auch nicht, dass mein Bruder dabei war. Ich putzte meinem Bruder am Waldrand mit dem Benzin die Farbe von den Händen, so konnte er wieder heimgehen. Nach einiger Zeit sagte ich doch meiner Mutter, dass der Gustl ein Jude ist. Sie war gar nicht so erstaunt. Sie sagte mir: „Wenn er auch nichts hat und arm ist, wenn du wirtschaftlich bist, wirst du auch zufrieden sein, denn er hat Arbeit und ist fleißig. Und ein Mann, der seine Mutter gern hat, hat auch seine Frau gern.“ Die Juden hätten ihre Frauen sehr geschätzt, und ich würde es nicht bereuen, meinte meine Mutter. Das Leben begann für mich, ich weiß nicht wie. Ich war nicht verliebt, aber diese Liebe, die er mir gezeigt hat, war anders. Ich konnte ihm mit keinem Wort wehtun. Ich war für ihn eine Göttin. Wir brauchten keine Freunde mehr, wir waren nur mehr zu zweit. Meine Mutter ahnte schon, dass da mehr war. Und dachte schon weiter. So ging sie zu unserem Pfarrer und holte sich Rat, sagte ihm: „Meine Tochter will heiraten, aber er ist Jude. Ich mach 15

mir Sorgen. Sollte es ihr vielleicht einmal schlecht gehen und sie geht um Hilfe zu den Juden, werden sie ihr sagen, sie ist Christin, das geht uns nichts an, und die anderen werden dasselbe sagen.“ Da sagte ihr der Pfarrer: „Wenn es ihr schlecht geht, werden ihr die nicht helfen und die anderen auch nicht. Da müsste sie sich selber helfen.“ Und somit war es erledigt. Es gab in meiner Familie keinen Widerspruch. Niemand hat sich geäußert, auch nicht mein Bruder. Unsere Beziehung wurde inniger. Wir verbrachten unsere Freizeit immer zusammen; es war nicht viel. Ich musste zur Arbeit, aber die paar Stunden, die wir hatten, waren schön zum Plaudern. Meine Mutter kochte für ihn, und er ging bei uns schon ein und aus. Schlafen ging er noch in sein Zimmer. Über seine Nationalität wurde nicht gesprochen, obwohl Mutter alle mit vorgehaltener Hand eingeweiht hatte. Es war an einem Sonntag, wir waren spazieren. Es war schon Abend und ich über irgendetwas beleidigt. Wir gingen nebeneinander, und ich gab keine Antwort. Da sagte er: „Was kann ich machen, dass du wieder gut bist auf mich?“, und ich sagte spontan: „Ein Kind!“ (Meine Freundin hatte ein Kind bekommen, und ich wollte auch eines.) Und dabei blieb es, obwohl ich vorher immer zur Mutter gesagt hatte: „Ich möchte zwar gerne ein Kind, ich brauch aber keinen Vater dazu, ich möchte es nicht teilen.“ Bald war ich schwanger, aber natürlich war der Vater auch da. Ich war glücklich, und auch meine Eltern freuten sich, aber am meisten meine Schwestern. Eine besorgte den Kinderwagen, und er wurde wunderschön ausgestattet. Babywäsche wurde genäht. Es war eine wunderschöne Zeit, obwohl ich noch in die Arbeit hab fahren müssen. Aber jetzt kam die große Überraschung, ich wollte heiraten. Mein Freund hatte nichts einzuwenden – nur, wie und wo? Gustl sagte: „In Wien am Standesamt.“ Er ging in Wien aufs Standesamt, und sie verlangten dort eine Heiratsverweigerung von meinem Pfarrer. 16

So ging ich aufs Pfarramt und bat den Pfarrer, er solle mir eine Verweigerung ausstellen. Er sagte: „Ich weigere mich nicht, euch zu trauen, nur müsst ihr mir einen Dispens* vom Kardinal Innitzer holen.“ Gustl ging die Woche darauf zum Kardinal selbst in die Rotenturmstraße, und sofort hat er ihn bekommen. Wir haben ganz sang- und klanglos geheiratet, keiner hat etwas gewusst, um sechs Uhr in der Früh an einem Sonntag. Der Pfarrer sagte: „Sollen wir in die Kirche hinübergehen, oder bleiben wir gleich da in der Kanzlei?“ Wir blieben gleich in der Kanzlei mit zwei Trauzeugen, und in zehn Minuten waren wir verheiratet. Es hat sich in unserem Leben nichts geändert. Ein halbes Jahr drauf kam mein Kind zur Welt, mein Fritzerl. Ach, war ich glücklich, und alle mit mir! Es hatte ja bis dahin in der ganzen großen Familie kein Baby gegeben. Ich kannte aber zu der Zeit nur eine Schwester und einen Bruder von meinem Mann, und es waren sehr fesche Menschen. Mutter und Vater kannte ich nur auf dem Bild. Die Wochen vergingen, und meine Arbeit fing wieder an. Aber nicht lange, und ich wurde wegen Arbeitsmangel abgebaut. Ich war nicht bös’ darüber, denn der Abbruch ging auch dem Ende zu, und Gustls Schwester suchte schon für uns in Wien eine Wohnung. Es war nicht leicht, aber sie fand ein Zimmer. Es war groß und schön in einer Siedlung. Wir hatten ja nicht viel, aber das Zimmer war schön und voll Sonne, und die Hausfrau war sehr nett und versprach uns die nächste leere Wohnung. Mein Sohn Fritzi blieb noch bei meiner Mutter. Wir nahmen das Notwendigste, was wir tragen konnten, mit, und ich fuhr mit Tränen weg von meinem Kind. Aber er sollte bald nachkommen, sobald wir alles fertig hatten. Dann wollte Mutter mit einem Auto kommen und mir Fritzi bringen. Wir stiegen in den Zug nach Wien. Ich merkte bald, dass mein 17

Mann etwas nervös wurde. Ich fragte ihn: „Was hast?“ Ich dachte mir, das Wegfahren von dem Kleinen gehe ihm auch nahe. Aber es wurde immer schlimmer. In Wien fragte ich ihn: „Sag mir doch, was dich bedrückt!“ Er gab mir keine Antwort und ging in eine Telefonzelle. Ich wollte mit hinein. Er sagte: „Es geht nicht, wir haben keinen Platz“, und so stand ich draußen, hörte aber nicht, was er sprach. Er sagte mir, er habe die Mutter angerufen, dass wir schon in Wien sind. Ich sah das erste Mal die Oper, wir mussten dort umsteigen in eine andere Straßenbahn. Ich war das erste Mal in Wien. Aber die Unruhe, die meinen Mann packte, wurde immer größer. Wir stiegen aus der Straßenbahn aus, da sagte ich ganz energisch: „Sage mir, was du hast, sonst fahr ich gleich wieder heim!“ Da nahm er meine Hände und sagte: „Ich hab dir etwas verschwiegen, ich muss es dir jetzt sagen. Ich habe ein Kind, und die Mutter von dem Kind lebt bei meinen Eltern, was machst du jetzt?“ Was sollte ich machen! Ich blieb stark. Ich sagte mir: „Na, dann haben wir halt zwei Kinder.“ Mir blieb nicht viel Zeit zum Denken, wir waren gleich da. Ich fragte nur: „Wie heißt das Kind, und wie alt ist es?“ – „Vier Jahre, und es heißt Sonja“, war die Antwort meines Mannes. Wir kamen in die Wohnung seiner Eltern. Ich wurde nett empfangen. Die Mutter war eine liebe Frau, und bei den ersten Worten hab ich sie gleich ins Herz geschlossen. Sie sagte mir dann, ihr Sohn Gustl habe keine Verpflichtungen für das Kind, es bleibe in ihrem Haushalt. Die Schwestern standen alle im Zimmer herum. Gustl hatte noch vier Schwestern, und alle waren anwesend. Ich wurde als Landmädel beäugt. Ich habe aber die Prüfung bestanden. Wir tranken noch Kaffee und sprachen über allerlei, auf einmal ging die Tür zum Wohnzimmer auf, und ein Mäderl 18

mit acht Jahren stürzte herein und schrie vor Freude: „Vati, Vati!“, und fiel meinem Mann um den Hals. Ich sah, wie meine Schwägerinnen ganz starr wurden, aber ich zuckte mit keiner Wimper und tat so, als hätte ich es nicht gehört. Die Schwägerin sagte: „Dann kommt, ich gehe mit euch in euer Heim.“ Ich war wie in einem Trancezustand. Als wir dann allein waren, sagte ich zu Gustl: „Was soll das?“, und er sagte mir: „Das ist mein zweites Kind Anni. Seine Mutter wollte es nicht, sie hat es meiner Mutter gegeben.“ Wer kann sich meine Lage vorstellen! Soll ich zurück nach Hause – das Gerede von den Leuten, diese Schadenfreude von allen Leuten? Ich hatte so viele Burschen verschmäht, die mir den Himmel auf Erden versprochen hatten, und jetzt das. Wie werde ich es meinen Eltern und Geschwistern beibringen? Gar nicht, die dürfen es nicht erfahren. So blieb es, es half kein Jammern und Klagen: Ich musste da durch. Nach ein paar Tagen kam meine Mutter und brachte mir mein Kind und alles andere. Sie fuhr mit dem Wagen, der entladen wurde, wieder nach Hause. Es gab viele Tränen und Ratschläge, und Mutter war weg. Gustl arbeitete wieder bei seinem Chef im 2. Bezirk. Ich richtete mir meinen Haushalt ein. Viel hatte ich nicht, aber es genügte mir. Mein Mann verdiente ja nicht viel, aber ich bekam in Wien noch mein Arbeitslosengeld. So konnte ich mir immer etwas dazukaufen. Es war eine große Umstellung für mich, aber ich hatte mein Kind bei mir, und mein Mann war mit allem einverstanden, was ich machte. Wir verstanden uns. Es schmeckte ihm alles, was ich kochte. Die Zeit wurde mir bald zu lange, ich konnte nicht immer spazieren fahren. So half ich der Hausfrau im Garten. Ich bekam dafür Gemüse, wir verstanden uns gut. Nach einem Jahr kam mein Schwager und sagte: „Ihr könnt meine Wohnung haben.“ Es war Zimmer und Küche. Wir zogen um, es war nicht weit und näher bei den Schwiegereltern. 19

Das Verhältnis zu Sonjas Mutter war nicht irgendwie feindlich. Ich hatte etwas Mitleid, aber ich sprach mit ihr wie zu einer Schwägerin. Sonja sagte „Papa“ zu meinem Mann, und das Verhältnis war nicht angespannt. Anni kam mich oft besuchen und sagte „Lotte“ zu mir. Zu ihrer Großmutter sagte Anni „Mutter“, meine Schwiegermutter hatte ja Anni bei sich, seit diese geboren wurde. Mein Arbeitslosengeld nahm ein Ende, die Zeit war aus, das Geld wurde knapp. Die Schwiegermutter strickte für ein Geschäft Pullover, und so strickte ich mit ihr mit und hatte meinen Fritzi immer bei mir. Ich hatte auf einer Wiese hinter einem großen Haus eine Frau kennengelernt, die auch mit ihren zwei Kindern dort gespielt hatte. Auch sie war vom Land und hatte keine Beziehung zur Stadt und keine zu den Leuten. Wir verstanden uns sehr gut. Ihr Mann war in der Kaserne angestellt – Offizier oder so etwas Ähnliches. Ihn habe ich nie gesehen. Die Kinder haben gespielt und ich gestrickt. Sie schaute nach den Kindern, ich freute mich immer auf das Zusammensein mit ihr. Ich war mit meinem zweiten Kind schwanger. Ich trug es mit Fassung. Fritzi bekam ein Geschwisterchen: Poldi kam im Dezember auf die Welt. Meine älteste Schwester arbeitete in Wien und kam jeden Sonntag zu mir. Sie sorgte sich sehr um mich, sie war meine zweite Mutter. Schon von Kind auf war sie immer um mich besorgt gewesen, sie war um 18 Jahre älter als ich. Sie lebte allein und ging in eine Fabrik als Kunststopferin. Es war eine Schwesternfabrik von uns zu Hause, es wurden dort Spitzen und Vorhänge erzeugt. Oft holte sie Fritzi am Samstag, und Sonntag brachte sie ihn wieder. Fritzi war sehr lieb zu seinem kleinen Bruder. Ich kochte einmal Mohnnudeln und gab Fritz etwas auf den Teller. Er wollte schon allein essen. Poldi lag im Betterl, ich ging schnell Windeln aufhängen und ließ die Kinder allein. Als ich hineinkam, war das Kind fast am Ersticken. Fritzi fütterte ihn mit den Nudeln und steckte ihm den Mund voll. Als ich ihn gereinigt hatte, sag20

te ich zu Fritzi: „Was hast du gemacht!“ Er sagte weinerlich: „Poldi hatte Hunger. Er wollte auch essen.“ So verging die Zeit. Von meinen Eltern hörte ich nicht viel. Es kam der März 1938. Wir, mein Mann und ich, gingen am Abend mit den Kindern noch spazieren. Da wurde es auf der Wagramer Straße unruhig, alles ging zum Kagraner Platz. Wir wollten schon nach Hause gehen, da hörten wir das Horst-Wessel-Lied* singen – ich kannte es ja von meinem Bruder her. Da kamen sie schon mit Fahnen anmarschiert. Wir gingen gleich nach Hause. Wir sprachen beide kein Wort, wir drehten das Radio auf und hörten den Dr. Schuschnigg sprechen, dass die Nazis die Grenzen überschritten hätten. Und Schuschnigg sagte noch: „Gott schütze Österreich!“ Wir nahmen uns um den Hals und weinten, aber wir wussten noch nicht warum. Mein Mann ging in der Früh wieder zur Arbeit. Es war aber eine große Unruhe, der Chef war nicht im Büro, die Sekretärin ging bald nach Hause, und mein Mann kam auch bald zurück. Es würden schon Leute angepöbelt, erzählte er mir, er wisse nicht, wie es weitergehen werde. Er ging die nächsten Tage wieder zur Arbeit. Ich hatte keine Ruhe mehr zu Hause und holte ihn am Abend immer ab mit den Kindern im Wagerl. Wenn das Wetter schlecht war, blieb ich zu Hause und wartete auf die Neuigkeiten, die er brachte. Nach Wochen kam dann einmal meine zweite Schwester, die auch in Wien arbeitete. Sie kam, als Gustl nicht zu Hause war, und sagte: „Du musst dich scheiden lassen! Jetzt kannst du nicht mehr bei ihm bleiben.“ Ich nahm es nicht ernst und gab ihr auch keine Antwort darauf. Meine Schwester kam jetzt öfters und verlangte immer dasselbe: „Du kannst nicht bei ihm bleiben!“ Ich machte mir noch keine Gedanken darüber. Mutter wollte wieder den Fritzi haben. Meine Schwester brachte ihn zu ihr. „Aber nur acht Tage“, sagte ich – es wurde aber länger. 21

Ich holte wieder einmal meinen Mann von der Arbeit ab und sah schon von weitem die SS-Männer mit der Reitpeitsche ins Haus Nr. 12 hineingehen. Und im Haus Nr. 8 arbeitete mein Mann. Natürlich eine Menge Menschen mit Gejohle hinter der SS her. Ich lief mit dem Kinderwagen ins Haus – im Hof arbeitete mein Mann – und sagte: „Schnell, komm, die SS kommt!“ Er lief noch ins Büro. Sein Chef und die Angestellten liefen gleich weg. Mein Mann sperrte alles zu, und wir gingen durch das Haustor raus, und die SS ging in das Haus hinein. Wir konnten nicht sehen, was sie drinnen machten. Wir waren froh, davongekommen zu sein. Die Firma wurde nicht mehr aufgesperrt. Mein Mann war ohne Arbeit. Er musste sich auf dem Arbeitsamt Hermanngasse melden, bekam aber kein Geld. Wir hatten einen Kohlenhändler als Nachbar, er ließ meinen Mann bei Nacht Holz hacken, und so verdiente er etwas. Es kam dann wieder eine Schwester zu Besuch. Es war nicht die älteste, sondern eine, die mich nur selten besuchte. Sie legte mir nahe, ich müsse mich jetzt scheiden lassen und nach Hause gehen. Mutter würde auf die Kinder schauen, mein Bruder hätte einen guten Posten bekommen, und er wolle mir einen guten Posten verschaffen. Ich hätte dann den Himmel auf Erden, und die Kinder wären bei der Mutter gut versorgt. Ich sagte nichts darauf. Ich sah keine Zukunft mehr für uns. Wie sollte es weitergehen? Ich sagte nur: „Lass mir Zeit! Ich muss überlegen.“ Ich habe dabei viel geweint: „Wie soll ich es schaffen? Wie soll ich ihn verlassen? Was wird aus meinem Mann – die Kinder ohne Vater?“ Fritzi war gerade wieder bei meiner Mutter, da kam meine älteste Schwester am frühen Vormittag mit meiner Lieblingstante, der Schwester meiner Mutter. Ich war sehr überrascht, denn meine Schwester musste ja arbeiten. Sie spielten mit

dem Kleinen, und ich merkte gar nicht, dass etwas in der Luft lag. Sie blieben den ganzen Tag bei mir. Wenn sie fragten, ob ich nicht zurück nach Hause möchte, gab ich ihnen keine Antwort. Am Abend gingen sie wieder fort. Nach zwei Wochen kam die jüngere Schwester wieder. Ich war wieder allein, mein Mann hatte kleine Gelegenheitsarbeiten und kam spät nach Hause. Meine Schwester sagte: „Was ist jetzt, wann gehst du nach Hause?“ Ich hatte einen schweren Kampf durchzustehen. Ich sagte wieder: „Lasst mir noch Zeit! Ich werde noch überlegen.“ Sie antwortete mir: „Da gibt es nichts zu überlegen!“, und ist fortgegangen. Ich weinte wieder. Mein Mann kam nach Hause, sah mich verweint und fragte: „Waren sie schon wieder da und haben dich sekkiert?“, und schimpfte auf sie. Es tat mir auch wieder weh, wenn er auf meine Schwester schimpfte. Dann kam der entscheidende Tag. Meine Schwester kam und sagte: „Am Freitag kommt die Mutter mit einem Auto, holt dich und alle Sachen! Schau, dass Gustl dann fort ist, damit alles rasch geht.“ Jetzt war es ernst, ich hatte keine Möglichkeit mehr, mich auszureden. Ich hatte den Kleinen am Arm und stand beim Fenster und schaute ins Leere. Was meine Schwester redete, hörte ich nicht mehr, und mir war, als legte sich eine Schlinge um meinen Hals. Ich drehte mich um und sagte ihr mit ganz fester Stimme: „Nein, ich gehe nicht! Ich bleibe bei ihm! Er braucht mich.“ Sie war ganz weg und sagte mir: „Merke dir: Eltern und Geschwister hast du nicht mehr. Du bist für uns gestorben!“, und ist bei der Tür hinaus. Ich warf mich ins Bett und weinte. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so einen Schmerz verspürt zu haben. Als Gustl am Abend heimkam, fragte er natürlich: „Was haben diese Ludern dir schon wieder angetan?“ Ich sagte ihm nichts von dem ganzen Kampf, den ich ausgestanden hatte. Mir wurde nur erzählt, was Mutter nach den vergeblichen 23

Versuchen, mich zu überreden, gesagt haben soll: „Gebt ihr nichts! Wenn sie Hunger hat, wird sie von selbst von Gustl weglaufen.“ Aber das war eine Täuschung. Gustl bekam vom Arbeitsamt eine Verständigung, er müsse sich in der Castellezgasse in der Schule einfinden. Mit Kleidung und Sachen, die er braucht – es war Feber. Ich gab den Kleinen zur Großmutter und begleitete ihn zur Schule. Wir verabschiedeten uns, und ich fuhr nach Hause. Mein Leben änderte sich. Ich hatte kein Geld. Ich bin aber nicht weggelaufen. Ich nahm jede Arbeit an. Ich bin putzen gegangen, hab bei Gärtnern gearbeitet, bin Wäsche waschen gegangen. Ich nahm alles, womit ich etwas verdienen konnte. Abends holte ich den Kleinen von der Großmutter wieder ab. Bald bekam ich eine Karte von meinem Mann. Sein Transport war nach Steinhaus bei Wels in Oberösterreich zum Autobahnbau gekommen. Mehr erfuhr ich nicht. Als die ersten Nazis vom Kagraner Platz heruntermarschierten, war Sonjas Mutter Olga mit ihrer Tochter verschwunden. Am nächsten Tag kam sie zu Olgas Großmutter und holte ihre Sachen ab. Meine Schwiegermutter fragte sie: „Was wird mit dem Kind?“ Olga antwortete: „Mach dir keine Sorgen, das Kind war eh nicht von Gustl!“, und ist ohne Dank gegangen. Man hat nichts mehr gehört von ihr. Man hatte ja genug Sorgen und war diese Person los. Annis Mutter lebte auch nicht weit von uns. Sie ging täglich zur Straßenbahn, um zur Arbeit zu fahren. Auch Anni kannte ihre Mutter. Sie hatte nichts für ihr Kind übrig, sie ging an ihr vorüber wie eine Fremde. Man hörte schon allerlei Gerüchte über Auswanderungen, und Schwiegermutter ließ Annis Mutter fragen, was mit Anni geschehen sollte. Annis Mutter schickte der Oma eine schriftliche Verzichtserklärung auf das Kind, und so blieb Anni in Omas Obhut. Ich holte an einem Abend meinen Kleinen von der Oma ab und ging nach Hause. Da ging vor uns ein kleines, altes 24

Weiberl und weinte. Ich fragte sie, was sie hat. Da antwortete sie mir, sie sei Jüdin, und ihr Mann sei Arier gewesen. Er wäre aber vor kurzem gestorben, die Schwiegertochter hätte das Siedlungshaus geerbt, und sie müsse ausziehen. Ich nahm sie mit mir nach Hause. Sie klagte mir ihr Leid. Ich machte ihr den Vorschlag, sie könne bei mir bleiben. Ich hatte aber nur Zimmer und Küche, und so schlief sie im Bett von meinem Mann, solange er fort war. Ich war froh mit ihr, sie spielte sehr lieb mit meinen Kindern, und ich musste meine Kinder nicht immer mitnehmen. Fritzi war auch wieder bei mir. Es war noch kein Jahr vergangen, da bekam ich mein drittes Kind. Ich hatte noch zu Hause entbunden, nur mit der Hebamme. Am Tag nach der Geburt ging meine Arbeit wieder weiter, nun machte ich Handarbeiten für Leute. Ein Zuckerlgeschäft verkaufte meine Arbeiten, und Frau Gabi, so hieß die alte Frau, gab mir auch etwas Geld. Es war Mai 1939, und ich bekam vom Hausherrn die Kündigung. Binnen vierzehn Tagen müsse ich die Wohnung geräumt haben. Ich fuhr sofort ins Wohnungsamt in der Bartensteingasse. Auf der Straße stand eine Menschenschlange – alles Juden, die aus den Wohnungen mussten. Ich hatte ein Dirndlkleid an und fiel auf, denn Juden durften keine Dirndlkleider tragen. Es kam der Aufseher auf mich zu und fragte: „Was machen sie da?“, und ich sagte ihm: „Ich brauche eine Wohnung!“, und er schickte mich gleich hinauf auf Zimmer Nr. 222. Der Beamte fragte nicht viel und wies mir eine Wohnung zu, im 2. Bezirk. Die Aufzeichnungen von Karoline Kohn brechen im Jahr 1939 ab. Christa Putz, die im Jahr 1999 mit der Autorin ein lebensgeschichtliches Interview führte und ihre Unterlagen zur Verfügung stellte, danke ich für die nachfolgenden Informationen zum weiteren Lebenslauf Karoline Kohns. 25

Als bereits ihr drittes Kind geboren war, wurde Karoline Kohn im Mai 1939 die Wohnung gekündigt, und die Familie wurde in ein Haus im 2. Bezirk eingewiesen, in dem Jüdinnen und Juden mit nichtjüdischen Partnern lebten. Innerhalb von acht Tagen zogen weitere fünf Zwangseingewiesene in die Wohnung ein. Karoline Kohn arbeitete auf dem nahen Karmelitermarkt bei einer Gemüsehändlerin. Sie erreichte, dass ihr Mann nach Wien zurückkommen und sich zur Arbeit melden konnte. Eine Zeitlang arbeiteten beide Eheleute in der Müllsammelstelle der Stadt Wien. Nach der Geburt der ersten Tochter im Jahr 1940 blieb Karoline Kohn zu Hause und kümmerte sich um zwei jüdische Waisenmädchen, die sie regelmäßig aus dem Waisenhaus abholte und versorgte. Zugleich organisierte sie Lebensmittel, die sie ins jüdische Waisenhaus brachte. Karoline Kohn war in den Jahren 1943 und 1944 mit Anzeigen wegen Schleichhandels und Wehrkraftzersetzung konfrontiert, jedoch kam es in keinem Fall zu einer Verurteilung. Die Befreiung durch die Rote Armee erlebte die Familie in einem Keller. Karoline Kohn erlitt in dieser Zeit einen Nervenzusammenbruch, und ihr 1944 geborener Sohn Franz erkrankte an Ruhr. Die beiden jüdischen Waisenkinder wurden in die Familie aufgenommen. Die Eltern von Gottlieb Kohn waren in Theresienstadt ermordet worden; zwei Geschwistern gelang die Flucht nach England bzw. in die USA, zwei weitere Geschwister wurden wie ihre Eltern ermordet; eine Schwester überlebte wie ihr Bruder Gottlieb in einer interkonfessionellen Ehe; ihre Tante Magda nahm Anni, das uneheliche Kind von Gustl, nach England mit, wo sie Krankenschwester wurde. Als Gustl Kohn durch sein Engagement in der Sozialistischen Partei eine Parteigenossin näher kennenlernte, geriet die Ehe in eine Krise. Im Mai 1947 zog Karoline Kohn wieder in ihren Geburtsort Urschendorf, während ihr Mann in Wien blieb und kurzzeitig ein kleines Gemüsegeschäft betrieb. Ein Jahr später folgte Gustl seiner Frau nach Urschendorf und arbeitete dann zwölf Jahre als Bergmann in Grünbach am Schneeberg. Zwischen 1947 und 1959 wur26

den vier weitere Kinder geboren. Die Familie besaß in Urschendorf ein großes Gartengrundstück, wo Karoline Kohn Erdäpfel zog und Ziegen hielt. 1968 starb Karoline Kohns Mutter, der sie den mangelnden Rückhalt in der Zeit des Nationalsozialismus lange nicht verziehen hatte. Auch das Verhältnis zu den Brüdern blieb ambivalent. Nach der Pensionierung ihres Mannes im Jahr 1960 entschloss sich Karoline Kohn, wieder in die Fabrik zu gehen, und sorgte elf Jahre lang, bis 1971, mit Akkordarbeit für einen Zuverdienst. Im selben Jahr starb ihr Mann. Danach war sie noch bis in die Neunzigerjahre in der Alten- und Krankenpflege tätig und nahm zwei weitere Pflegekinder auf. Insgesamt hatte Karoline Kohn zwölf leibliche Kinder und vier Pflegekinder, außerdem wuchs ein uneheliches Kind eines ihrer Söhne bei ihr auf. Drei eigene Kinder verstarben kurz nach der Geburt (Zwillinge im Jahr 1945, eine Tochter 1948), und Karoline Kohn musste auch den Tod von vier erwachsenen Söhnen erleben. Ein Sohn wanderte nach Israel aus, wo ihn Karoline Kohn besuchte. Auch zu ihren zahlreichen Enkelkindern hatte Karoline Kohn eine starke Beziehung. Oft erzählte sie im Familienkreis ihre Lebensgeschichte, was ihre jüngste Tochter mit der Aussage unterstreicht: „So wie andere Kinder mit Märchen, so sind wir mit den Geschichten aus dem Leben unserer Mutter aufgewachsen.“ Karoline Kohn verstarb am 28. Juli 2009 in Urschendorf.

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„Die Frau ohne Honeymoon“

Ilse Winter kam am 5. April 1918 als Ilse Bauer in Wien zur Welt und verbrachte mit ihrem um acht Jahre älteren Bruder Herbert anfangs eine behütete Kindheit in bürgerlichem Umfeld. Die Arbeit des Vaters als Buchautor, Journalist und Redakteur sicherte der Familie eine standesgemäße Wohnung in einem vornehmen Wiener Wohnbezirk. Die beiden Kinder wurden von ihrer Mutter teilweise privat unterrichtet. Der Sohn besuchte danach ein Wiener Gymnasium und konnte schließlich Medizin studieren. Der Tochter der Familie blieb ein solcher Berufsweg verschlossen, weil der ursprünglich gutbürgerliche Status der Familie schon Ende der Zwanzigerjahre durch berufliche Probleme des Vaters und durch eine langwierige Krankheit der Mutter ernsthaft in Frage gestellt wurde. Die vergeblichen Bemühungen des Vaters, sich als Zeitungsherausgeber zu etablieren, ließen den Zusammenhalt der Familie damals zerbrechen. Der Kontakt zum Vater brach ab. Nach Abschluss des Medizinstudiums übernahm Herbert Bauer die Sorge für den Unterhalt der Familie. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich bekam die Familie die antisemitischen Repressalien des neuen Regimes zu spüren. Herbert Bauer wurde es verwehrt, weiterhin seinen Beruf als Arzt auszuüben; ihm gelang als Erstem die Flucht nach England. Für seine Schwester jedoch gestaltete es sich schwierig, gemeinsam mit ihrer Mutter das Land zu verlassen. In den frühen Neunzigerjahren schrieb Ilse Winter ihre Lebenserinnerungen für ihre Enkel auf, nachdem sie sich entschieden hatte, wieder in Österreich zu leben. Ihr maschinschriftliches Manuskript wurde hier um die Beschreibung ihres Lebens in Brasilien gekürzt. 28

Es ist Zeit, meine geliebten Enkel, euch zu sagen, wie mein Leben wirklich war und woher ihr kommt – damit ihr erkennt, wie ihr durchs Leben geht. Ich glaube, ihr habt längst geahnt, dass ihr ein bisschen anders seid und euer Hintergrund abweicht von dem der anderen Kinder. Nun, ich habe dieses „Anderssein“ viel früher gespürt. Es war an einem Fronleichnamstag in Wien, und ich war, glaube ich, vier oder fünf Jahre alt. Ich stand am Fenster unserer schönen Wohnung im dritten Stock eines gutbürgerlichen Hauses in einem gutbürgerlichen Bezirk, zusammen mit meinen Eltern und meinem Bruder, der acht Jahre älter ist und stets für mich so etwas wie ein Vorbild und Beschützer geblieben ist. Ich bewunderte die Prozession und den feierlichen Ritus, die prächtigen Gewänder der Priester, den Baldachin und die Blumen. Und dann kamen viele kleine und weiß gekleidete Mädchen mit Kränzen im Haar und streuten Blumen auf den Weg. Dieser Anblick entzückte mich, und ich rief aus: „Darf ich auch einmal mit diesen Mäderln mitgehen?“ Meine Eltern warfen einander lächelnde Blicke zu und wichen meiner Frage aus. Mein Instinkt sagte mir, dass ich niemals mit diesen Kindern gehen würde, obwohl meine Eltern das nie sagten. Als ich in die Schule kam, erfuhr ich, dass ich dem jüdischen Religionsunterricht zugeteilt war und in der Zeit, in der die Kinder meiner Klasse vom Herrn Katecheten unterrichtet wurden, Freizeit hatte. Es waren einige wenige protestantische Kinder dabei, die auch einen anderen Religionsunterricht hatten. Die biblischen Geschichten, die uns unsere Lehrerin vortrug, interessierten mich ungemein, und ich konnte sie in der nächsten Unterrichtsstunde sehr gut nacherzählen. Deshalb hat mir unsere Lehrerin wohl auch nachgesehen, dass ich in der hebräischen Schrift gar nicht gut war und sie weder zu lesen noch zu schreiben erlernte. 29

In einer dieser Freistunden durfte ich mit einem anderen jüdischen Mädchen zu ihr nach Hause gehen, denn sie wohnte gegenüber der Schule in einem, wie mir schien, wunderschönen Haus mit Garten, einer richtigen Villa. Ich wurde auch zu ihren Geburtstagen eingeladen, zusammen mit mehreren anderen Mitschülern. Wir wurden mit vielen köstlichen Dingen bewirtet, die ich nicht kannte, und nachher wurde immer gefragt, was es gegeben hätte. Mir gefiel es sehr dort, auch die Spiele im Garten. Nur der Kakao, der meistens eine Milchhaut hatte, bereitete mir Schwierigkeiten, da ich das Getränk nicht mochte und nicht wagte, es zurückzuweisen. Immer öfter merkte ich, dass die Mädchen, die nicht eingeladen waren, sich über meine Freundin und ihre Eltern sehr hämisch äußerten und deren Reichtum als unrecht, weil durch Börsenspekulationen erworben, bezeichneten. Mein Bruder ging dann schon aufs Döblinger Gymnasium und erlebte Ähnliches. Da er ein ausgezeichneter Schüler war, wurde er öfter zu Klassenkameraden eingeladen und gebeten, denen beim Studium zu helfen. Ich war ein Nachkriegskind des Ersten Weltkrieges, aus dem mein Vater gerade zurückgekehrt und eine neue Existenz aufzubauen bemüht war. Er arbeitete freiberuflich als Journalist und Redakteur und war bestrebt, eine eigene Zeitung und eine Zeitschrift aufzubauen. Ich erinnere mich an einige seiner Mitarbeiter. Ich erinnere mich auch an eine Zeit, in der ich früh ins Bett geschickt wurde, weil die Eltern Besuch von Künstlern erwarteten und mein Vater eine Zeitlang als Musikkritiker für eine Zeitung tätig war. In dieser Zeit durfte ich mit den Eltern einige Male in die Oper gehen. Wenn mein Bruder oder ich krank waren, behandelte uns der Herr Hofrat Silberspitz, der im ersten Stock wohnte und mit seinem weißen Spitzbart und Gehrock eine ehrwürdige Erscheinung war. Gleich neben ihm war die Wohnung der „Generalin“, der Hausbesitzerin, deren Gatte und Nachkommen schon alle verstorben waren. Sie selbst in 30

ihren bodenlangen, schwarzen Kleidern, die mit Jettperlen* bestickt waren, thronte stets in einem Erker am Fenster und empfing dort am Monatsersten ihre Mieter des vierstöckigen Hauses, die der ehrwürdigen Dame die Miete brachten und nach dem Austausch einiger Höflichkeiten sich zurückziehen durften. Sie hielt richtig Hof, und ihre ebenso alte Haushälterin und Gouvernante wachte gleich einem Zerberus* über sie. Ich lernte noch vor Schulbeginn lesen, denn ich wollte nicht warten, bis meine Mutter mir am Abend vor dem Schlafengehen ein Kapitel von „Nesthäkchen“ und „Trotzkopf“ der Else Ury vorlas. Ich war so begierig darauf, dass ich bald selbst weiterlesen konnte, und habe seither nicht mehr aufgehört zu lesen. Ich las alles, was ich im Hause fand: die deutschen und die griechischen Göttersagen, die Klassiker, die mein Vater in seiner Bibliothek hatte, die 52 Bände Karl May meines Bruders und schließlich alle Bücher der Jugendbibliothek, in der mein Bruder später abends aushilfsweise als Bibliothekar arbeitete. Diese von mir als gut empfundene Zeit ging aber sehr bald zu Ende. Meine Eltern planten eine größere Reise, auf der ich sie begleiten sollte, da ich die versäumte Zeit in der Schule leichter aufholen konnte, als mein Bruder, der das Gymnasium nicht unterbrechen sollte. Er blieb in der Obhut meiner Großmutter und Tante mütterlicherseits, und auch mein Onkel Bela, der Arzt war und seine Praxis auf der Hernalser Hauptstraße hatte, kümmerte sich um ihn. Unsere Reise führte uns an die französische Riviera, und wir stiegen in dem prächtigen „Hotel de Paris“ in Monte Carlo ab. Ich begleitete meine Eltern zum Strand, nach Monaco, in die Cafés und Restaurants. Ich wurde seitens der französischen Bevölkerung mit der gleichen Höflichkeit wie eine Erwachsene behandelt und überall als Mademoiselle betitelt. Wir reisten auch ziemlich viel herum, und oft machte ich meine Lektionen und Aufgaben während der Zugreisen. 31

Denn meine Mutter unterrichtete mich, wie sie es auch schon mit meinem Bruder getan hatte, als sie während des Krieges, 1914 bis 1918, mit ihm in Mauthausen auf dem Lande lebte und mein Vater Soldat war. Mein Bruder besuchte dort keine Schule, schaffte aber mit zehn Jahren mühelos in Wien die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium. Während dieser Reisen wurde ich öfter Zeugin von Spannungen zwischen meinen Eltern, was mir unbehaglich war, und ich widmete mich dann meinen Puppen und versuchte, dem auszuweichen. Ich begann auch zu verstehen, dass es sich meistens ums Casino handelte und um das Spiel sowie die langen Abende, die mein Vater dort verbrachte. Mein Vater war oft mit einer Gruppe von Männern zusammen, die eifrig an einem „todsicheren“ System arbeiteten, das sie alle reich machen sollte. Stattdessen ging es uns immer schlechter, und wir mussten bald in drittklassigen Pensionen wohnen und manchmal sogar unsere Koffer zurücklassen, was mich viele Tränen kostete, da unter den anderen Sachen auch die eine oder andere Puppe oder Spielzeug zurückblieb. Am längsten wohnten wir in Nizza. Aber auch dort war uns das Glück nicht hold, und wir reisten ziemlich überstürzt ab. Wir fuhren aber nicht nach Hause, wie ich gehofft hatte, sondern zu einem Bruder meines Vaters, der eine deutsche Geschäftsfrau geheiratet hatte und in Greiz in Thüringen wohnte, wo beide ein schönes Herrenmodengeschäft betrieben. Sie bewohnten ein schönes Haus, und da sie keine Kinder hatten, war alles tadellos in Ordnung, und ich durfte mich dort nicht viel bewegen oder spielen. Allein der alte Dackel wurde mein Spielkamerad, und als der starb, war ich ziemlich unglücklich. Ich vermisste meinen Bruder, meine Freundinnen, die Schule und mein Heim in Wien. Also beschloss mein Vater, mich dort vorübergehend in die erste Klasse Volksschule zu schicken, da ich ja Land und 32

Leute so wenig kannte wie die Schulmethoden. Der Lehrer war ein eigentümlicher Mann, der uns mit grauenhaften Geschichten erschreckte und mir wie ein böser Riese erschien. Da ich nichts lernte und immer unglücklicher wurde, nahmen mich die Eltern bald aus der Schule heraus, und meine Mutter übernahm wieder den Unterricht – so weit als möglich, da sie im Geschäft des Schwagers als Verkäuferin arbeitete. Obwohl der Umsatz dank der österreichischen Freundlichkeit meiner Mutter, die den Käufern die Artikel anbot und jeden individuell und höflich bediente, stark anstieg, lehnte meine Tante und Inhaberin bald jede Beteiligung meiner Mutter aus Eifersucht ab, und es war auch dort kein Bleiben mehr. Als wir nach Wien zurückkamen, musste ich feststellen, dass unsere schöne Döblinger Wohnung aufgelöst worden war – um die Reise zu finanzieren, wie ich später erfuhr. Mein Vater war von nun an viel auf Reisen, während die Familie in verschiedenen Substandardwohnungen, zumeist in Untermiete, wohnen musste. In der Schule hatte ich keine Schwierigkeiten, die verlorene Zeit wieder aufzuholen. In dem schrecklich kalten Winter von 1928 bekam ich die Masern und von mir auch mein achtzehnjähriger Bruder, der schwerer erkrankte als ich. Wir kamen beide in ein Isolationsspital, und ich litt sehr unter der Trennung von meiner Mutter, die uns nur manchmal durch ein Fenster von außen sehen konnte. Meistens wartete sie draußen in der Kälte und im Schnee, und wahrscheinlich hat sie sich damals den schweren Rheumatismus zugezogen, unter dem sie später litt. Sobald wir gesund wurden, maturierte mein Bruder, und ich unterstützte ihn begeistert als Zuhörerin und Abhörerin seiner Aufgaben. Er hatte Griechisch als Wahlfach gewählt, und bald hatte ich Homer auf Deutsch gelesen und kannte auch ein wenig davon auf Griechisch. 33

Zu dieser Zeit wurde meine Mutter schwer krank. Sie musste ins Rothschild-Spital gebracht werden, wo sie monatelang lag, während mein Bruder und ich auf uns allein gestellt waren. In dieser Zeit vermisste ich meinen Vater sehr und konnte nicht verstehen, warum er nicht da war, wo wir ihn so bitter nötig brauchten. Ich dachte an die schönen Zeiten, als wir in einem gepflegten Heim als Familie lebten und er mich oft an Sonntagvormittagen in die Innere Stadt mitzunehmen pflegte. Dort erklärte er mir jedes Mal ein Denkmal oder ein Ringstraßengebäude, führte mich in ein Kaffeehaus, wo ich bei Kaffee und Guglhupf saß und mich in seinem Schutz und seiner Gegenwart sonnte. Ich war stolz auf ihn und genoss es, wenn er mich bekannten Herren und Damen vorstellte. Dort las ich dann die Kinderseite der Zeitungen und lernte die gemütliche Atmosphäre und die Gespräche schätzen, obwohl ich von Letzteren wenig verstand. Wie anders war die Situation jetzt, als Mama im Spital lag, mein Bruder gerade maturierte und sich um mich kümmern musste und wir in einer fremden Wohnung auf einem Zimmer hausten. Der Wohnungsinhaber ging uns unverständ­ lichen Geschäften nach und empfing nachts die Lebedamen, die wohl seinen Unterhalt bestritten. Das war mir damals ­natürlich nicht bewusst, aber es war mir doch unheimlich, und ich rannte oft noch zu später Stunde ins Krankenhaus, um meine Mutter zu besuchen und mir etwas Trost zu holen, den sie doch selber so dringend brauchte. Sie lag unter großen Schmerzen im Bett, ohne sich bewegen zu können, und nur die Tatsache, dass mein Onkel Bela dort Oberarzt war und ziemliches Ansehen genoss, erleichterte ihre Lage. Seine Esspakete, die jede Woche von einer Wiener Delikatessenhandlung bei meinem Bruder und mir einlangten, erleichterten auch unsere Lage. Das ging monatelang so, bis es ihr endlich besser ging und der Professor zu ihr sagte: „Nun, Frau Bauer, tanzen werden sie nicht mehr, aber mit entspre34

chender Nachbehandlung können sie wieder gehen, wenn auch mit Stock.“ Sie erhielt einen Kuraufenthalt in Baden und konnte bald anstatt mit zwei Stöcken mit einem gehen und nach einem Jahr auch ohne. Man merkte kaum, dass ihr Knie steif geblieben war, obwohl diese Tatsache uns später großen Kummer bereiten sollte. Als Mutter nach Hause kam, besuchte uns mein Vater noch einmal kurz und reiste nach einem Wochenende, an dem er die schlechte Situation und unsere miese Unterkunft bedauerte, wieder nach Berlin ab, wo er nun einen Verleger gefunden hatte und angeblich bei einer Zeitung arbeitete. Ich habe ihn dann nie mehr gesehen und weiß bis heute nichts Genaues über sein Schicksal. Es ist anzunehmen, dass er, der als Intellektueller besonders gefährdet war, noch vor oder während der „Machtergreifung“ umgekommen ist. Es war auch bekannt, dass er ein Mitarbeiter Hugo Bettauers* war, der in den Zwanzigerjahren einen mutigen Kampf gegen den aufkommenden Nazismus führte und der in Wien in seinem Büro von Faschisten erschossen wurde. Wir wechselten noch ein paar Mal die Wohnung und ich dadurch die Schulen, während mein Bruder sein Medizinstudium begann, welches er sich mit Unterrichtsstunden und Gelegenheitsarbeiten verdiente. Dass ich heranwuchs, merkte ich daran, dass junge und ältere Männer mich aufmerksamer betrachteten als bisher. Besonders einer sprach mich öfter im Park an, wo ich mich mit Schulfreundinnen traf. Er war „alt“ für mich, so um die vierzig, und gab an, ehemals Offizier gewesen zu sein und in Währing zu wohnen. Er lud mich zu sich ein, und da ich das ablehnte – nicht so sehr aus Angst oder Scheu –, bat er mich, ihn meiner Mutter vorzustellen und mit ihr und meinem Bruder zu ihm zum Essen zu kommen. Er machte einen vornehmen Eindruck und hatte sogar seinen Burschen, der ihm schon während des Krieges zugeteilt war, als Bedienten*. Nach einiger Zeit, während der mich 35

Herr P. manchmal von der Schule abholte, sagte Mama der Einladung zu. Sie und ich gingen also zum Mittagessen in seine Wohnung, wo uns der Bursche öffnete und ins Esszimmer führte. Herr P. benahm sich vorbildlich, und nach dem Essen, das von dem Burschen serviert wurde, zeigte er uns ein neuartiges Gerät, ein Grammophon, und spielte die Platten „Zwei rote Lippen und ein roter Tarragona“, „Valencia“ und einige andere Schlager dieser Zeit. Meine Mutter, die besser zu ihm gepasst hätte, schien anzunehmen, dass seine Aufmerksamkeit ihr galt. Als sie merkte, dass er sich für mich interessierte, beendete sie diese seltsame „Freundschaft“, und ich bin froh, dass er sich nach einigen Versuchen damit abfand und mich nur manchmal aus der Ferne beobachtete, was mir schon ein bisschen unheimlich war. Er hat mir nichts getan, aber ich kann verstehen, wie leicht Kinder einem Verführer anheimfallen können. Denn er lud mich ein, mit auf den Christkindlmarkt zu kommen, und kaufte mir dort all den Kram, den ich mir damals wünschte, sogar eine Puppe, mit der ich noch lange gerne spielte. In der Schule war ich ganz gut, bis auf Mathematik, und da es unsere finanzielle Lage nicht erlaubt hätte, noch ­einen in der Familie studieren zu lassen, nahm ich Kurse in Schreibmaschine, Steno und Handelsschulfächern. Ich hatte einige wenige Kenntnisse in Französisch, was damals als Fremdsprache unterrichtet wurde, und nahm privat Englisch­unterricht bei einer Freundin meines Bruders. Zwischendurch jobbte ich als Kindermädchen bei befreundeten Familien. Meine Mutter sah sich nun gezwungen, auch etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Aber da sie keinen richtigen Beruf erlernt hatte, fiel es ihr schwer. Sie hatte kein Talent zum Nähen, was damals für Frauen als einzige Möglichkeit galt, etwas dazuzuverdienen. Da sie sich aber schick anzog und manchmal darauf angesprochen wurde, versuchte sie Wäsche und Kleidung auf dem Lande zu verkaufen – was 36

ihr mehr oder weniger gelang. Sie bezog ihre „Ware“ von einem einschlägigen Geschäft in Währing, wo sie die Sachen in Kommission bekam, und sie legte Wert darauf, dass ich sie begleitete. Einmal – ich war knapp siebzehn Jahre alt – gingen wir gemeinsam über die Währinger Straße und begegneten einem jungen Mann, der mich intensiv ansah und einen unglaublichen Eindruck auf mich machte. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. An diesem Abend war ich seltsam unruhig und bat, mit einer Freundin in die Tanzschule auf der Währinger Straße gehen zu dürfen. Schon beim Eintreten bemerkte ich diesen jungen Mann, der auch mich wiedererkannte und mich zum Tanz aufforderte. Sein Name war Leo. Es hatte „gefunkt“, wie man heute sagt, und obwohl er als flotter Tänzer viele Bekanntschaften hatte und die Mädchen öfter wechselte, blieben wir zum Erstaunen seiner ganzen ­Clique zusammen und wurden – sozusagen – das Paradepaar! Ja, wir durften sogar, ohne Eintritt zu bezahlen, kommen und die neuesten Tänze vorführen, weil das den Umsatz hob. Tanzen wurde meine liebste Freizeitbeschäftigung, und wir tanzten Tango, Foxtrott, Slowfox und alle Tänze, die damals modern waren, sowie auch Walzer oder Polka. Nachher fuhren wir mit der Elektrischen* nach Grinzing, Sievering oder Nussdorf, die damals noch verträumte, echte Heurigenlokale hatten und vom Fremdenverkehr noch wenig ahnten. Leos Freunde kamen natürlich mit und auch eine ehemalige Schulkollegin von mir, die ebenfalls eine begehrte Tänzerin und mit einem Polizisten liiert war. Wir waren eine lustige Gruppe junger Menschen, die trotz großer wirtschaftlicher und beruflicher Probleme fröhlich sein und ihre Jugend genießen konnten. Da war aber auch noch etwas, was uns nicht so uneingeschränkt glücklich sein ließ. Denn so sehr ich Leo liebte 37

und mir wünschte, mit ihm zusammen zu sein, so kam ein Zusammenleben für mich doch nur in Form einer Heirat in Frage. Etwas anderes konnte ich mir bei der damaligen Gesellschaftsordnung gar nicht vorstellen, und so wartete ich darauf, dass er einen guten Posten finden und mich dann fragen würde, ob ich für immer seine Frau sein wollte. Leider war er wie seine Brüder arbeitslos und wurde wie auch seine Mutter, bei der noch der größte Teil seiner großen ­Familie lebte, von seinen Schwestern unterstützt. Unter diesen schwierigen Umständen kam es nicht in Frage, dass ich seine Mutter und Geschwister kennenlernen konnte. Er aber besuchte uns öfter, und als mein Bruder endlich promovierte und eine Anstellung als Internist im Krankenhaus der Wiener Kaufmannschaft oben beim Türkenschanzpark bekam und wir in eine eigene schönere Wohnung in der Billrothstraße zogen, wo mein Bruder seine Praxis eröffnete und ein Schild am Balkon verkündete, dass hier „Dr. Herbert Bauer“ ordinierte, konnte er zu uns in die neue Wohnung kommen. Mein Bruder, der nun Haushaltsvorstand war, konnte seine Skepsis nur schwer verbergen und duldete meinen Freund nur, weil er ein ­toleranter Mensch ist. Auch hatte er sein eigenes Liebesleben sowie genug andere Sorgen, um sich um die Liebelei seiner kleinen Schwester zu kümmern. Leo gehörte zu einer Gruppe junger Menschen, die alle mehr oder weniger in derselben Lage waren, die der schlechten Zeiten wegen arbeitslos waren und keine ordentliche Wohnung hatten. Viele davon lebten noch bei den Eltern, wo sie auf engstem Raum zusammenzuleben gezwungen waren. Die Mädchen hatten auch ähnliche Sorgen wie ich. Sie wollten ihre Freunde heiraten und eine Familie gründen, entbehrten jedoch jeder Grundlage dazu, da weder eine entsprechende Wohnung noch ein Einkommen vorhanden waren. Unter diesen Umständen war die alles beherrschende Frage: Kann ich es riskieren oder verantworten, mit meinem Freund intim 38

zu werden, eine eventuelle Schwangerschaft herbeizuführen etc.? Damals gab es ja keine entsprechende Schwangerschaftsverhütung, man sprach auch nicht darüber, und es gab keinerlei Information. Das Einzige, was ich darüber wusste, war, dass viele Mädchen in dieser unglücklichen Lage die Ärzte aufsuchten, um von der „Schande“ befreit zu werden – denn ein „anständiges“ Mädchen durfte nicht in diese Lage kommen. Mein Bruder und seine Kollegen waren oft überfordert, vom Mitleid und vom Gesetz her, das strenge Strafen für Schwangerschaftsabbruch und den Entzug der ärztlichen Zulassung vorsah. In diesem Dilemma befand auch ich mich und konnte dieses Risiko nicht eingehen, denn nun begann sich außerdem noch eine Wende in der Politik anzubahnen, die nichts Gutes ahnen ließ – wenn auch noch niemand im Entferntesten an das wirkliche Ausmaß des Schreckens und des Terrors dachte. In dieser Zeit fand ich einen Posten im Büro der Firma Schlesinger, die Fahrräder und Radios verkaufte. Diese Radios waren große Kästen und funktionierten schlecht. Aber sie wurden wie die Fahrräder viel und gerne gekauft, und zwar meistens von armen Leuten, die später die Ratenzahlungen nicht mehr leisten konnten. Es gehörte zu meinen unangenehmen Pflichten, zu Gericht zu gehen, wenn Kunden von der Firma geklagt worden waren, den Hergang des Kaufes sowie den Verzug der Zahlungen zu erklären. Das bestand darin, dass ich die entsprechenden Verträge vorlegte und die Anzahl der bezahlten Raten bekanntgab. Als Angestellte hatte ich keinen persönlichen Kontakt mit den Kunden, aber manchmal baten sie mich, zu vermitteln und einen Aufschub zu gewähren – was ich auch immer meinem Chef unterbreitete, mit mehr oder weniger geringem Erfolg. Mittags ging ich in ein gegenüberliegendes Kaffeehaus auf einen Kaffee, zu dem ich eine mitgebrachte Wurstsemmel aß 39

und so meine Mittagspause verbrachte. Manchmal kam auch Leo hin, und wir waren froh, auch noch untertags eine kleine Weile zusammen sein zu können. Ich hatte im Büro einen netten Kollegen, der mir oft bei der Arbeit half und mich sogar nach Büroschluss in seinem klapprigen Auto nach Hause brachte. Da er verheiratet war, sah ich keinen Anlass, seine freundlichen Hilfsangebote auszuschlagen – was aber trotzdem Leo Anlass zur Eifersucht gab. Er war niemals grob zu mir oder auch nur irgendwie aggressiv, wie viele seiner Freunde zu ihren Mädchen. Ich habe ihn nur einmal wütend auf andere Burschen gesehen, als einer mir in den Mantel helfen wollte und sich dabei an meinen Hals lehnte, um mich zu küssen. Er ging auf ihn los, und nur die anderen konnten eine handgreifliche Auseinandersetzung verhindern. Seine Freunde meinten manchmal, wenn wir uns trafen, erstaunt gutmütig: „Was, noch immer die Ilse? Sonst hast du doch am meisten die Mädchen gewechselt, was ist los?“ Wir lachten allesamt und dachten uns nichts dabei. Oft waren wir eine lustige Heurigenpartie und saßen zu sechst oder siebent im Auto des Hans, der zwar auch keine Arbeit hatte, aber sein Geld auf mysteriöse Art zu verdienen schien, was uns nicht kümmerte. Er hielt uns auch schon mal frei, und keiner fragte, warum und woher. Bis zur Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß hatte ich mich nie mit Politik beschäftigt, sondern hing lieber meinen Jungmädchenträumen nach. Und nun, da ich auch etwas verdiente und mein Bruder die Familie erhalten konnte, weil seine junge Praxis recht gut ging, konnten wir wieder besseren Zeiten entgegensehen. Ich genoss die schöne Wohnung, das grün gekachelte Badezimmer, welches ziemlichen Luxus bedeutete in einer Zeit, in der in Wien die meisten Familien auf Zimmer und Küche hausten mit Klo und Wasser am Gang. Auch die meisten meiner Freundinnen wohnten so. Ich kaufte mir hin und wieder ein Stück für meine Ausstattung, ein 40

schönes Tischtuch oder eine Garnitur Bettwäsche, weil das damals für eine Braut wichtig war – und als solche betrachtete ich mich, zumal auch Leo in diese Richtung dachte und wir uns täglich sahen. Eine gute Bekannte meiner Mutter, eine Frau Schneider, die wunderschön sticken konnte, half mir bei meiner Aussteuer und fertigte manches besonders schöne Stück. So bestickte sie auch ein schwarzseidenes Dirndl für mich, das großes Entzücken hervorrief. Frau Schneider war eine richtige, resche Hausmeisterin in der Villa eines reichen, alten Mannes im Cottage, wie das Döblinger Villenviertel genannt wurde. Sie war eine geschiedene Frau, kinderlos, und liebte ihre Drahthaarfoxhunde abgöttisch. Sie führte den Haushalt des „Hausherrn“ (dessen Geliebte sie auch manchmal abgab), machte das Haus sauber und stickte in ihrer Freizeit die feinsten Stoffe. Es blieb ein Rätsel, wie ihre Hände die gröbste sowie die zarteste Arbeit verrichten konnten. In zunehmendem Maße merkte ich Leos Besorgnis, und er vertraute mir an, dass er durch seine Brüder Kenntnis von bevorstehenden politischen Ereignissen hatte, die, wie er befürchtete, auch uns betreffen würden. Zwei seiner Brüder sah ich manchmal, ohne dass er mich ihnen vorgestellt hätte, und sie wussten auch von mir. Sie waren zwei und vier Jahre älter als er, größer als Leo und sehr gutaussehend in einer kräftigen, blonden Art, während Leo, mittelgroß, schwarzhaarig und von dunklem Teint, eher den Latin-Lover verkörperte. Er hatte einen Zwillingsbruder, der in der Schweiz verheiratet war, und zu dem er eine – wie in diesen Fällen häufig der Fall – gute Beziehung unterhielt. Leo kleidete sich stets gut und hatte einen guten Schneider als Freund, der gerne für ihn arbeitete, auch wenn Leo seine Garderobe oftmals nur langsam von seinem Nebenverdienst bezahlen konnte. Er musste, wie damals fast jeder, gelegentlich schwarzarbeiten, um sich eben Kleidung und 41

­ aschengeld zu verdienen. Er hatte Mut zur Mode, trug auch T mal ein rosa Hemd – was überhaupt nicht üblich war –, und seine Anzüge, Schuhe und Hüte waren von bester Qualität. Obwohl er eine Stirnnarbe hatte, die von einer Stirnhöhlenvereiterung stammte, die durch Aufstemmen der Stirn operativ geheilt werden musste, als er etwa sechzehn Jahre alt und in der Lehre war, wirkte er sehr attraktiv, und wann immer wir uns trafen, spürte ich ein warmes Gefühl des Glücks, das mich überkam, sobald seine schlanke Gestalt auftauchte und er mich in die Arme nahm. Leo hatte eine besondere Begabung, er konnte sehr gut zeichnen. Er besuchte Kurse in der Volkshochschule und machte beeindruckende Kohlezeichnungen, darunter ein Porträt von mir, das außergewöhnlich gut gelungen war. Nachdem er es eine Zeitlang bei sich zu Hause aufbewahrt hatte, brachte er es mir und bat mich, es bei mir daheim zu lassen. Als ich den Grund seiner Verlegenheit wissen wollte, gestand er mir, dass seine Familie, hauptsächlich seine beiden älteren Brüder, etwas gegen seine Liebe zu mir hätten. Und ich verstand, worum es ging, denn es war mir nicht entgangen, dass seine Familie nazistische Tendenz zeigte. Diese Partei war damals verboten, und so betätigten sie sich ­illegal, was dazu führte, dass beide Brüder mehrmals wegen national­sozialistischer Umtriebe in Wöllersdorf* interniert waren. Leos Schwester Fini, die mit einem Magistratsbeamten gut verheiratet war, wohnte ebenfalls in derselben Wohnung und trug durch ihre Schneiderarbeiten zum Lebensunterhalt der Mutter und der drei noch zu Hause lebenden Geschwister bei. Unsere Zukunft erschien uns nun düster, und wir besprachen mehrere Pläne, die wir wegen der mangelnden Mittel wieder fallen lassen mussten. Zu Beginn des unseligen Jahres 1938 sah man immer mehr Burschen mit weißen Stutzen und kurzen Hosen in Wien, was 42

bei der Kälte absonderlich aussah. Man hörte furchtbare Dinge aus Deutschland, die wir nicht fassen konnten und nicht glaubten. Leo und ich trafen uns, sooft wir konnten, wie unter einem drohenden Damoklesschwert, und mein Bruder und meine Mutter legten mir nahe, meine Freundschaft zu ihm zu beenden, da es für mich gefährlich werden könnte. Das lehnte ich natürlich ab, und da meine Mutter Leo sehr gerne mochte, kam er immer öfter zu uns – wenn auch auf Umwegen. Denn es wäre nicht gut gewesen, in öffentlichen Lokalen seinen Brüdern zu begegnen. Es gab aber ein Lokal, wo wir uns noch ungestört treffen konnten, und das war die Döblingerhof-Bar, ein kleiner Raum unter dem gleichnamigen Kaffeehaus, in dem ein Klavierspieler und ein Geiger zum Fünfuhrtee aufspielten. Wir trafen uns in dem dunklen, winzigen Platz und tanzten und sprachen ungestört ein paar Stunden lang bei einem Tässchen Kaffee. Als am 11. März die bekannten Ereignisse stattgefunden hatten und Bundeskanzler Schuschniggs Rede im Radio verklungen war, wusste ich auch, dass unser Schicksal besiegelt war und wir einer furchtbaren Welle des Hasses und der Unmenschlichkeit hilflos ausgesetzt waren. Unsere Welt veränderte sich schlagartig. Die bisher versteckten und unterschwelligen Strömungen traten zu Tage und äußerten sich in unglaublicher Weise in einem psychischen und physischen Terror, der unfassbar war und ist. Von nun an trafen wir uns nur mehr versteckt, einmal bei einer Freundin, die sonst keiner unserer Bekannten vermutete, ein anderes Mal bei Frau Schneider in ihrer kleinen Hausmeisterwohnung. Auch sie war entsetzt und überrascht von den Ereignissen und sagte mit Bedauern, dass meine schöne, liebevoll zusammengestellte Aussteuer anstatt einer glück­ lichen Braut nun einer verfolgten Auswanderin gehöre. Ich bat sie, den Koffer bei sich aufzuheben, bis ich ihn abholen oder irgendwohin senden lassen konnte. 43

Eine andere Möglichkeit, uns zu treffen, bot ein Hallenbad, da man ja am nackten Körper schwer ein Hakenkreuz befestigen konnte und man dort also anonym war. Leo trug sein Hakenkreuz unter dem Rockaufschlag, um es jederzeit herzeigen zu können, wenn er angepöbelt wurde. Es war nicht nur meinetwegen, dass ihm dies alles zuwider war. Er hasste den Militarismus, die Gewalt und die Gräuel! Er wollte nicht mitmachen und blind gehorchen. Er konnte keine Versammlungen leiden, bei denen wüste Parolen ausgegeben wurden. Er wollte nicht eingeteilt und Blockwart werden. All das war ihm in der Seele zuwider. Trotzdem will ich nicht sagen, dass nicht auch er schwankend wurde angesichts dieser geballten Bedrohung. Er litt unter der Vorstellung der Gefahr, der ich ausgesetzt war – und wohl auch er. Denn seine Brüder sparten nicht mit dem Ausmalen der Konsequenzen, falls er mich nicht aufgeben würde. Und gerade da überraschte er mich eines Tages mit ein paar goldenen Eheringen, wie sie auch Verlobte damals schon vor der Eheschließung trugen. Es war eine innige Geste der Treue in einer ausweglosen Situation, und ich bewahrte sie wie auch das Foto von ihm, das ihn in seiner ganzen jugendlichen Ausstrahlung und eigentlichen Gesinnung zeigt, bis heute auf. Der ganze Terror gegen die Juden setzte schlagartig ein und zeigte sich in verschiedenen Facetten. Eines Tages kamen SA-Leute in das Geschäft, wo ich arbeitete und verlangten den Chef zu sprechen, der aber seit ein paar Tagen nicht mehr ins Geschäft kam, sondern in seiner Wohnung blieb, die oberhalb gelegen war. Sie stürmten über die Treppe hinauf, zerrten den alten Mann und seine behinderte Tochter unter dem Gejohle der Meute auf die Straße zum „Reiben“, wie es hieß, wenn jüdische Personen die Straßen putzen mussten. Nach ein paar Stunden kamen sie zerfetzt und blutend zurück und konnten von uns, den Angestellten, die im Geschäft zurückgeblieben waren, einigermaßen versorgt werden. Spä44

ter konnte er zu einer anderen Tochter nach Holland reisen, wo er und seine Familie aber auch nach 1942 umkamen. Die behinderte Tochter wurde vorher abgeholt und am Steinhof* ermordet. Ein guter Freund unserer Familie erschien eines Tages, ganz weiß im Gesicht, und bat uns, ein wenig bleiben zu dürfen. Er hatte ein bedrückendes Erlebnis gehabt und musste sich etwas erholen. Da er Junggeselle war, pflegte er seit Jahren in seinem Stammlokal zu essen und war dort bestens mit den Eigentümern und dem Ober bekannt und ein Duzfreund der anderen Stammgäste. Er war ein angesehener Geschäftsmann und recht gut bekannt. Nun, er war wie jeden Tag zu Mittag in dieses Restaurant gekommen und hatte seine Bestellung gemacht, die schweigend angenommen wurde. Nach einer Weile bat er den Ober, endlich bedient zu werden, was dieser übersah. So ging das eine Zeitlang, und als er gehen wollte, wurde er daran gehindert, und eine Rotte von ­SA-Leuten und anderen Gästen begannen, unflätige Beschimpfungen auszustoßen und Parolen wie „Juda verrecke!“ zu brüllen. Sie steigerten sich darin, bis es im Horst-WesselLied gipfelte. Irgendwie gelang es ihm, durch die Küche zu entkommen und in unserer Wohnung Zuflucht zu suchen. Wir alle wälzten Pläne, wie wir da herauskommen und wohin wir uns wenden könnten. Wir fanden keine Lösung, obwohl wir nächtelang diskutierten. Auch mein Bruder war in größter Gefahr. Er schlief nicht mehr zu Hause, sondern täglich bei einem anderen Freund und entkam den Häschern oftmals nur um Haaresbreite durch einen Sprung aus dem Fenster, wenn sie bei der Tür hereinkamen. Obwohl sein Name, Dr. Herbert Bauer, keinen Juden vermuten ließ, mussten wir das Schild von seiner Praxis entfernen. Unsere Hausbesitzerin war darüber sehr erstaunt und meinte, wenn doch alle Juden so wären wie wir, bestünde doch gar kein Grund zur Verfolgung. Außerdem ärgerte sie der Umstand, dass 45

sie als Kinobesitzerin die Miete ihrer Filme trotzdem bezahlen musste, wo sie doch dachte, das sei nicht mehr nötig, da der Verleiher Jude war. In ihrem Kino trafen Leo und ich uns noch oft, wenn wir auch die Filme nicht mehr ungetrübt genießen konnten. Da wir aber jung waren, lachten wir trotzdem über Oliver Hardy und Stan Laurel und liebten Greta Garbo. Weil unsere Wohnung zu exponiert an der Hauptstraße lag, mussten wir sie aufgeben und zogen wieder einmal in Untermiete in ein Häuschen, das unserer Gemischtwarenhändlerin gehörte. Das heißt, meine Mutter und ich, denn meinem Bruder war es Gott sei Dank gelungen, nach London zu entkommen. Auf ihn setzten wir unsere ganze Hoffnung, einen Weg zu finden, um dem Unheil zu entgehen. Leo besuchte mich auch dort, meistens abends, wenn es dunkel war, und er glaubte, eine Möglichkeit für uns gefunden zu haben. Er hatte an seinen Zwillingsbruder in Zürich geschrieben und angefragt, ob er und ich zu ihm kommen könnten. Viele Menschen flohen in die Schweiz, und es schien uns ein Hoffnungsschimmer zu sein, obwohl ich noch das Problem hatte, meine Mutter nicht zurücklassen zu können. Überraschend erschien dieser Bruder mit seiner Frau und vierjährigen Tochter in Wien zu Besuch bei seiner Mutter und seinen Geschwistern und wollte sich anscheinend ein Bild von der Lage in Österreich machen. Leo holte mich ab, und wir trafen die Familie in einem ruhigen, kleinen Lokal in Nussdorf, um uns kennenzulernen. Obwohl Zwillingsbrüder, hatten sie überhaupt keine Ähnlichkeit. Ferdinand war eher seinen anderen Brüdern ähnlich, die rötlich-blond und von kräftiger Statur waren. Jedoch bemerkte ich eine gewisse Ähnlichkeit des Wesens und fand ihn sympathisch. Seine Frau war eine große, schlanke Blondine. Sie stammte aus Deutschland und ließ erkennen, dass sie es war, die in der Familie das Sagen hatte. Das kleine Mäderl war sehr zart und lieblich. 46

Wir sprachen nicht über unsere Situation, und die Unterhaltung verlief eher allgemein. Sie machten nur einen kurzen Besuch in Wien und waren bei unserem nächsten Treffen bereits wieder nach Zürich abgereist. Ich versuchte nun alles, um meine Ausreisepapiere, Heimatschein*, Pass und vor allem Steuerunbedenklichkeit*, zusammenzukriegen. Dazu musste ich auf das Polizeikommissariat, um die Bestätigung zu erhalten, dass gegen mich nichts vorlag. Der Beamte dort war ein Bekannter, der Freund meiner Schulfreundin. Er war sehr verlegen und sagte mir, wie sehr er das Ganze bedauere und dass die Polizei vollkommen machtlos wäre und – nachdem er sich vergewissert hatte, dass wir allein im Zimmer waren: „So ham ma uns des net vorgstellt, des is ja schrecklich, und mir kennan gar nix machen, mir san de reinsten Deppen!“ Er gab mir den benötigten Zettel mit Hakenkreuzstempel und erzählte mir von seinen Sorgen mit der Mitzl, meiner Schulfreundin. Sie hatten inzwischen geheiratet, aber es ging ihr nicht gut. Sie litt unter Ohnmachtsanfällen und lag oft am Boden, wenn er besorgt vom Dienst heimkam. Es tat mir sehr leid, denn wir waren seit der Schule befreundet, und sie war das vitalste und lebenslustigste Mädl, das ich kannte. Nun aber durfte ich sie nicht einmal besuchen. Der schlimmste Brocken war aber die Steuerunbedenklichkeit, die auf dem Rathaus einzureichen war. Es war sehr schwierig, und es wurden allerhand Schikanen und Fallen gestellt. Obwohl ich als Angestellte mit dem geringsten Gehalt schon davon befreit war, wusste ich nicht, was mir bevorstand, als ich nach stundenlangem Anstehen auf der Treppe endlich drankam. In diesem Moment ertönte ein markerschütternder Schrei, und die Menschen schrieen durcheinander. Der Beamte, der meine Papiere entgegennahm, blickte kurz aus dem Fenster und sagte: „Schon wieder einer, der sich heruntergestürzt hat.“ 47

Diese Verzweiflungstat schien an der Tagesordnung zu sein. Die Menschen waren schon so zermürbt, dass sie es vorzogen, von eigener Hand zu sterben, als weiter ohne Aussicht auf eine Ausreise in dieser Angst zu leben. Ich erhielt auch da meinen Stempel und ging zitternd nach Hause. Die Menschenschlangen vor den ausländischen Botschaften und Konsulaten nahmen astronomische Ausmaße an, und es war sinnlos, sich anzustellen, wenn es auch Leute gab, die für Geld eine Nacht lang den Platz besetzten. Denn es war immer schon zu spät, um dranzukommen, bevor zugesperrt wurde, und manchmal wurde die Visumsabteilung überhaupt nicht mehr geöffnet. Eines Abends, nach zehn Uhr, kamen drei SA-Leute zu uns und verlangten Leo zu sprechen. Ich war froh, dass er gerade gegangen war, und sagte ihnen, dass ich nichts von ihm wüsste. Sie sahen sich um – meine Mutter lag schon im Bett – und gingen dann wieder mit dem Versprechen, öfter nachschauen zu kommen. Ich erkannte zwei von ihnen, die ich früher öfter mit Leos Brüdern zusammen gesehen hatte. Meine Mutter und ich blieben ziemlich verzweifelt zurück und wussten, dass wir noch mehr Anstrengungen machen mussten, um auszureisen. Nun mussten wir noch vorsichtiger sein. Wir trafen uns auf Umwegen, während er auf einer Straßenseite ging und ich auf der anderen. Auch das Hallenbad und die anderen Treffpunkte schienen uns bald zu gefährlich. Da entschloss sich Leo zu einem außergewöhnlichen Schritt. Er gab vor, starke Halsschmerzen zu haben, und da er schon früher öfter an Mandelentzündungen gelitten hatte, ließ er sich die Mandeln entfernen. Nach dieser Operation beantragte er einen Erholungsurlaub in der Schweiz, der nach einigem Hin und Her gewährt wurde. So konnte er sich zumindest über eine Grenze begeben, denn auch die „Arier“ konnten nur aus sehr triftigen Gründen und mit spezieller Erlaubnis ausreisen. Ich begleitete ihn zum Bahnhof, und 48

da wir dort inmitten der vielen Menschen eine gewisse Anonymität genossen, konnten wir uns innig verabschieden. Er küsste meine Tränen weg und versicherte mir, dass ich bald nachkommen würde, und wenn nicht legal, so über die Berge. Mein Herz war schwer vom Abschied, und ich wusste, dass ich mit Mama niemals über die Berge käme, wegen ihrem steifen Knie und ihrem Alter. Sie war nie in die Berge gegangen, und ein Ausflug in den Wienerwald war das Weiteste und Anstrengendste, was wir uns jemals zugemutet hatten. Als der erste Brief aus Zürich kam, war ich selig, obwohl seine Vorschläge, mit gewissen Schleppern, die er mir nennen würde, in Verbindung zu treten, doch zu riskant schienen. Ich befürchtete, dass seine Brüder nun etwas gegen mich unternehmen würden, da ich allein war. Sie hätten mich ja mit einem Wort an ihren Gruppenführer vernichten können. Dass sie es nicht taten, war wohl dem Umstand zu verdanken, dass sie doch nicht die Monster waren, die damals aus ganz gewöhnlichen Menschen hervorkamen. Inzwischen versuchte in London mein Bruder alles Menschenmögliche, um Mama und mir permits* zu beschaffen. Da in England ein großer Mangel an Hausangestellten bestand, gab es die domestic permits, wenn man einen Haushalt fand, der auch ungeschultes Personal einstellen wollte und gleichzeitig für diese fremde Person bürgte, die ja selten auch noch Englisch sprach. Durch seinen Freundeskreis und unter größten Bemühungen gelang es nun meinem Bruder, solche permits für Mutter und mich zu besorgen. Aber wir mussten ein amtsärztliches Gesundheitszeugnis beibringen. In meinem Fall war es leicht. Jedoch bemerkte der Arzt das Gebrechen meiner Mutter und schrieb sie „nicht tauglich“. Also scheiterten auch unsere Bemühungen um ein Einreisevisum. Sie allein zurücklassen konnte ich keinesfalls, und so verging eine Zeit, in der dann auch mein Visum abzulaufen drohte. Mein Bruder versuchte nun auf andere Weise eine Möglichkeit zu finden. Er schrieb uns, dass eine 49

bekannte Dame, eine englische Schriftstellerin, die sich sehr um die Flüchtlinge bemühte, nach Frankfurt kommen würde, um sich um mehrere ihrer Schützlinge zu kümmern. Wenn Mutter und ich dorthin fahren würden, um sie zu treffen, hofften wir, dass sie uns ein englisches Visum besorgen könnte. Als wir die Adresse einer reichen Kaufmannsfrau aus Frankfurt erhielten, wo wir ein paar Tage wohnen konnten, bis wir – mit Gottes Hilfe – auch das Visum für meine Mutter bekämen, machten wir uns auf den Weg ins „Reich“, denn dorthin durften wir nun fahren. Es war ein bitterkalter Winter – nicht nur des Wetters wegen –, denn der furchtbare November* brachte unbeschreibliche Schrecken. Wir hörten das Klirren der berstenden Scheiben und erlebten einen Vandalismus ohnegleichen, bei dem unzählige Menschen umkamen oder verschleppt wurden. Wir kamen nach einer langen, kalten Fahrt Anfang Dezember 1938 in Frankfurt an und fuhren zu der angegebenen Adresse in einem feinen Viertel. Es war eine luxuriöse, elegante Wohnung, in welche uns eine Nachbarin einließ, denn die Eigentümerin war kurz vorher in Hausschuhen und Hausmantel geflüchtet, wie sie uns erzählte. Das Tafelsilber hatte sie vorher noch laut Vorschrift abgegeben. Die Nachbarin wusste von der Erlaubnis, die Wohnung für ein paar Tage benützen zu dürfen. In der Speisekammer fanden wir noch reichlich Lebensmittel, und sogar der Eisschrank war noch in Funktion. Wir bereiteten uns etwas Tee und Kekse und ruhten uns aus, um den Anruf der Engländerin zu erwarten. Miss Cook war eine sehr liebenswürdige, junge Frau, die volles Verständnis für unsere Lage hatte und bereit war zu helfen. Ihr Plan bestand darin, mit dem englischen Konsul zu sprechen und ihn um ein Einreisevisum für Mutter zu bitten und den besonderen Umständen Rechnung zu tragen. Sie als Engländerin wurde sofort vorgelassen, wobei wir sie in der eisigen Kälte vor dem Konsulat erwarteten. Da sie zuerst 50

selbst und allein mit ihm sprechen wollte, verharrten wir ungeduldig etwas seitlich der endlosen Menschenschlange, die immer und jederzeit dort wartete. Als sie endlich erschien, merkten wir sofort, dass sie nichts hatte erreichen können, und sie weinte mit uns vor Enttäuschung und Schmerz. Der Konsul konnte nicht den Befund des Arztes übergehen und hatte strenge Instruktionen, keine Ausnahme zu machen. Er sagte, dass es nicht fair wäre angesichts all der Tausenden, die sich um ein Visum bemühten, irgendjemanden vorzuziehen. Miss Cook versprach nun, sich in London doppelt zu bemühen, um eine Garantie zustande zu bringen, die es meiner Mutter erlauben würde, auch ohne Arbeit in England zu leben, obwohl sie selbst schon für mehr Personen Garantien ausgestellt hätte, als erlaubt sei. Jedoch würde sie weiter in ihrem Bekanntenkreis suchen und dafür sorgen, dass sich jemand, der ein entsprechendes Einkommen vorweisen könne, sich derart für die Rettung eines Menschen einsetzen würde. Außerdem würden ja mein Bruder und ich dort für die Mutter sorgen. Unter diesen Umständen sei es ratsam, dass ich mit ihr, Miss Cook, reisen solle, bevor mein Visum ablaufen würde. Das musste ich einsehen, und so reisten Miss Cook und ich ab, nachdem wir für Mutter eine Unterkunft besorgt hatten, wo sie sich bei einer Familie aufhalten konnte und als entfernte Verwandte gemeldet war. Ich verließ meine Mutter schweren Herzens und war mir bewusst, dass ich alles daransetzen musste, sie in den nächsten Tagen herauszubringen. Miss Cook war sehr lieb zu mir und versuchte meinen Kummer zu mildern, indem sie ihrerseits versprach, aber auch alles zu tun, um Mutter nachkommen zu lassen. An der Grenze fragten mich die Uniformierten, ob ich für immer ausreisen würde, was ich entschlossen bejahte. Sie sahen mich etwas merkwürdig an, aber da ich in Gesellschaft einer Engländerin reiste, ließen sie uns in Ruhe 51

passieren. Sie durchsuchten auch nicht das Gepäck von unterst bis oberst, was sie sonst zu tun pflegten, indem sie alle Koffer einfach umdrehten und die verstreuten Sachen nicht mehr einpacken ließen. Auch Miss Cook war erleichtert, als wir die Grenze passiert hatten, denn sie war eine Freundin von großen Künstlern, hauptsächlich Opernsängern, und hatte vieles in ihrem Gepäck versteckt, was sie diesen Personen dann in Freiheit wieder zurückgeben und ihnen damit über die erste Zeit hinweghelfen konnte. Unter anderem trug sie eine sehr auffallende Brosche an ihrem sonst sehr schlichten Kostüm, die aber so groß war, dass die Beamten es für selbstverständlich hielten, dass es eine Imitation sei. Sie erzählte mir von ihrem Leben und wie sie und ihre in London lebende Schwester als große Opernfreunde oft nach Deutschland oder in die USA gefahren wären, um eine besondere Opernaufführung zu erleben, und wie sie dadurch auf die entsetzlichen Veränderungen in Deutschland aufmerksam wurden und beschlossen zu helfen. So hatten die Schwestern bereits für viele Menschen Garantien gegeben und auf jede Weise geholfen. Sie unterhielten eine Wohnung in London, wo sie ihre Schützlinge fürs Erste unterbrachten, um sie dann nach Möglichkeit in ein neues Leben zu entlassen. Miss Cook hatte eine besondere Gabe der Erzählung und schrieb Romane, die sich sehr gut verkauften und deren Erlös sie hauptsächlich für ihre Arbeit für die Flüchtlinge, refugees genannt, verwendete. Sie half mir auch so manches Mal weiter, und wir sind bis zu ihrem Tod die besten Freunde und stets in brieflicher Verbindung geblieben. Während der stürmischen Überfahrt von Calais nach Dover war mir sterbensübel, aber als wir die weißen Klippen von Dover sahen, wurde mir in Erwartung von Land wieder besser. Miss Cook konnte mit ihrem englischen Pass gleich durchgehen, aber ich musste in der langen Schlange der Emi52

granten warten und konnte mich ein bisschen nützlich machen, indem ich vielen Leuten beim Ausfüllen der Landungsformulare half. Ich sah tatsächlich, dass manche die Rubrik male or female mit yes beantworteten und auch sonst wegen ihrer Sprachunkenntnis die komischsten Sachen herauskamen. Endlich war ich durch die Sperre gekommen und konnte mit Miss Cook weiter nach London fahren. Am Bahnhof VictoriaStation erwartete mich mein Bruder mit einem Mädchen meines Alters, mit dem er sehr vertraut schien. Sie hieß Hanna und war in Wien als Hilde Gross aufgewachsen. Da sie das Glück hatte, durch Zufall in London geboren zu werden, konnte sie englische Staatsbürgerin werden. Ihre Mutter und eine Gruppe anderer Personen bildeten einen Verein, „Austrian Aid“*, und versuchten, ebendiesen Österreichern zu helfen. Mein Bruder sagte mir, dass wir ein paar Tage in London bleiben würden, in Hannas Wohnung, genauer gesagt, in der ihrer Mutter, bis ich weiterreisen konnte zu einer englischen Familie, die mir das permit ausgestellt hatte und mich als Hausmädchen wollte. In Mrs. Gross’ Appartement in Hampstead Heath wohnten eine Menge Flüchtlinge, und ich sah ein, dass ich schnellstens wegkommen musste. Ein paar Tage, in denen mein Bruder und ich von baked beans on toast* lebten, was das Billigste war, wovon man sich ernähren konnte, blieben wir dort. Während dieser Zeit erklärte ich ihm die Situation unserer Mutter, und es war für uns beide das Wichtigste, ihr eine Einreise zu verschaffen. Diese Last ruhte nun alleine auf ihm, denn ich musste ja weiter in einen kleinen Ort in den Midlands, von wo aus ich nichts unternehmen konnte. London erschien mir in der Vorweihnachtszeit etwas unwirklich. Es waren viele Emigranten in der Stadt, die sich meistens in den Wohnvierteln von Hampstead Heath und Golders Green aufhielten. Ich wäre gerne in London geblieben, um helfen zu können und etwas für meine Mutter zu tun, 53

aber ich musste das ganz meinem Bruder und seinen Freunden von „Austrian Aid“ überlassen. Ich merkte bald, dass Herbert, mein Bruder, und Hanna ein Paar waren, und so sehr ich ihm sein Glück gönnte, so unglücklich war ich, meine Mutter in größter Gefahr zu wissen und meinen geliebten Leo in prekärer Situation in Zürich. Von dort musste er entweder zurück nach Wien – ein entsetzlicher Gedanke – oder woanders hin, ins möglichst weite Ausland. Nach England war es ganz aussichtslos, da er „arisch“ war, also keiner Gefahr ausgesetzt, und England überhaupt keine Männer mehr aufnahm, aus was für Gründen auch immer. Es wurde befürchtet, dass sie Spione sein könnten, die sich als Flüchtlinge einschleusen wollten, oder Sonstiges. Also wurde Leos Situation immer schwieriger. Er konnte nicht ständig bei seinem Bruder bleiben, und er würde sich auch nicht lange dem Druck seiner Familie und dem der Behörden entziehen können, die ihn zur Rückkehr nach Wien und zur Einberufung zwingen konnten. Obwohl er mich in seinen Briefen trösten wollte, fühlte ich seine Verzweiflung. Und die Tatsache, dass er in Horgen Schnee schaufeln musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und keine Aussicht hatte, mit mir in England oder sonst irgendwo zusammenzukommen, belastete uns furchtbar. In gedrückter Stimmung reiste ich also ab und wurde von der Tochter des Hauses am Bahnhof erwartet. Da nur wenige junge Mädchen in dem kalten und nebeligen Ort ausstiegen, erkannte sie mich sofort und brachte mich zu ihrem Auto. Es war eine lange Fahrt durch Eis und Schnee, bis wir endlich bei einem einsamen, schlossartigen Haus hielten, das einer Beschreibung von Agatha Christie alle Ehre gemacht hätte. Es hieß Drumore. Mr. und Mrs. Smith erwarteten mich an der schwach erleuchteten Haustüre und sahen so aus, wie ich es erwartet hatte. Beide waren groß und hager. Mrs. Smith gelei54

tete mich in den living room mit den wuchtigen, altmodischen Möbeln und bot mir Tee an. Sie schien erstaunt über meine Englischkenntnisse und erfreut, dass sie sich mit mir verständigen konnte. Sie erklärte mir gleich meine Pflichten, die daraus bestanden, am frühen Morgen gleich die Kaminfeuer in dem riesigen living room und im dining room zu entzünden und diese Räume zu säubern sowie in der Küche der Köchin beim Frühstück zu helfen. Dann führte mich Mrs. Smith in die oberen Räume. Im ersten Stock lagen die Schlafzimmer der Familie und darüber die der Angestellten, also mein Zimmer und das der Köchin, denn der Gärtner hatte ein eigenes Häuschen. Mein kleines Zimmer war eisig kalt und hatte keinerlei Heizung. Das Wasser im Porzellankrug war gefroren, und Mrs. Smith wies die Köchin an, mir warmes Wasser zubringen, welches aber auch erkaltete, noch bevor ich mich waschen konnte. Am Morgen nach einer traurigen Nacht fühlte ich, wie feucht die Decken waren, unter denen ich schlief, oder besser gesagt, nicht schlafen konnte. Die Köchin rief mich, zeigte mir die Küche und gab mir mein Frühstück, bestehend aus Tee und Brot, das sie in Fett herausgebacken hatte. Am ersten Morgen gelang es mir nicht, die Kaminfeuer in Gang zu bringen, und ich musste die Köchin um Hilfe bitten, die sie mir nur sehr widerstrebend gewährte; ich konnte ihr Misstrauen gegenüber der „Fremden“ spüren. Es war Mr. Smith, der als Erster herunterkam und sich meiner annahm. Er zeigte mir, wie man im offenen Kamin Feuer macht, indem man die Asche vom Vortag entfernt und dann mit viel Papier und geeignetem Holz ein Feuer zustande bringt, das aber nur in einem Umkreis von etwa einem Meter den Raum erwärmt. Sofort kamen zwei riesige Hunde und legten sich vor das nun prasselnde Feuer. Es war ein trübes Weihnachtsfest, das ich in Drumore verbrachte, und das kälteste meines Lebens. Ich wartete auf die 55

Post von meinem Bruder aus London, der aber leider nichts Neues in der Angelegenheit um Mama berichten konnte. Von ihr selbst kamen tapfere Briefe, in denen sie auf uns, ihre Kinder, vertraute, sie bald zu uns zu bringen. Inzwischen lernte sie fleißig Englisch und verbrachte ihre Zeit damit, der Familie, bei der sie lebte, so gut als möglich beizustehen. Zu den Feiertagen empfing die Familie Smith öfter Gäste, und ich verstand genug, um aus den Bemerkungen während des Essens, bei dem ich die Speisen auftrug, herauszuhören, dass sich alle Sorgen machten, ob es Krieg mit Deutschland geben könnte. Obwohl ich sehr viel zu tun hatte, konnte ich meine Sorgen nicht vergessen und weinte mich täglich in den Schlaf. Am 31. Dezember sagte mir Mrs. Smith, dass sie mit mir sehr zufrieden sei und für mich arrangiert hätte, dass ich mit anderen jungen Mädchen zu einer Silvesterunterhaltung gehen könne, um mich etwas abzulenken. Sie schenkte mir ein Toilettekleid ihrer Tochter, das mir zwar passte, aber viel zu dünn war; und ich fror trotz Mantel und Schal entsetzlich. Zwei Mädchen holten mich ab, und wir gingen ziemlich weit zu Fuß bis zu einem inn*, wo schon mehrere junge Leute versammelt waren. Es wurde getanzt, und als sie merkten, dass ich gut tanzen konnte, kamen auch mehr Burschen, um mich aufzufordern. Die Lieder, wie „Under the Chestnuttree“, waren einfach und gingen ins Ohr. Eines der Mädchen, die mich abgeholt hatten, fragte mich, ob ich öfter mit ihr ausgehen wolle, und da ich am Sonntag immer in der Küche saß, weil ich es in meinem kleinen Zimmer vor Kälte nicht aushielt, sagte ich zu. Meine neue Bekannte, Muriel, hielt Wort und holte mich am Sonntag ab. Wir stapften durch den Schnee den Weg hinunter, den ich nun schon kannte, und nahmen den Bus nach Bromsgrove. Das war nur ein Dorf, und ich nahm an, dass wir nun irgendwo einkehren würden. Aber Muriel ging geradewegs auf die Kirche zu, und wir wohnten einer Messe bei. Danach brachte sie mich ins Pfarrhaus und stellte mich dem 56

Ortspfarrer vor. Er begrüßte uns freundlich und bot uns Tee an, der von der Haushälterin hereingebracht wurde, und ein paar hauchdünne Scheiben Brot und Butter. Er hatte noch nie Kontakt mit refugees gehabt und interessierte sich sehr für die Umstände, die mich nach England gebracht hatten. Letztlich fragte er mich, welche Religion mein Verlobter hätte und ob ich nicht auch die römisch-katholische Religion annehmen möchte. Obwohl ich nie religiös erzogen wurde und nur einmal in meinem bisherigen Leben einem Laubhüttenfest* beigewohnt hatte, welches eher ein fröhliches Fest ist und den Kindern Spaß macht, zögerte ich. Doch der Gedanke an Leo und dass es für ihn vielleicht besser wäre, wenn wir dieselbe Religion hätten, ließ mich überlegen. Von nun an holte mich Muriel jeden Sonntag ab. Wir gingen in die Kirche, dann in ein Gasthaus, um einen Imbiss einzunehmen, und am Abend ins Kino, wovon jedes der umliegenden Ortschaften eines besaß. Dort konnte ich mich ein wenig ablenken, und es hatte den großen Vorteil, dass ich meine Sprachkenntnisse wesentlich verbessern konnte. Auch Father Brown pflegte mich öfter einzuladen und gab mir Gebetbücher und Anweisungen, was ich bis zum nächsten Mal zu lernen hätte. Da die Katholiken in England eine Minderheit bilden und sehr viel Verständnis für Verfolgte aufzuweisen schienen – was aber mehr von Einzelpersonen ausging als von der gesamten Kurie, die sich ja schon in Wien den Nöten und Ängsten der Verfolgten verschloss –, fühlte ich mich immer mehr zu ihnen hingezogen und betete innig zu Gott, dem Allmächtigen, meine Mutter und Leo zu retten. Father Brown gelang es immer wieder, meine Zweifel an einem Gott, der all das Unrecht geschehen ließ, zu zerstreuen, und letztlich ließ er mich glauben, dass ich durch meine Bekehrung meinen Lieben und anderen in meiner Lage helfen könnte. Ich klammerte mich an diese Aussage und bereitete mich auf die Taufe vor, indem ich fleißig lernte und lange, tröstliche Gespräche 57

mit Father Brown führte. Hier war ein Mensch, der für meine Nöte Verständnis hatte und mir väterliche Liebe schenkte. Er legte auch seinen Arm um mich, und ich fand die Zuflucht, die ich brauchte. Ich fühlte, dass er mich gerne sah, und da er sich immer korrekt benahm, vertraute ich ihm ganz. Innerhalb von zwei Monaten sollte ich dann getauft werden. Father Brown stellte mir zwei geistliche Schwestern vor, die sich um mich kümmern sollten und mir auch ein schönes Tauffest bescherten. Eine der Nonnen, die Mary hieß, wurde meine Taufpatin. Nun konnte ich Leo schreiben, dass wir in der Kirche heiraten könnten, sobald wir nur zusammentreffen konnten, und dass es auch bezüglich der Religion für unsere zukünftigen Kinder keine Hindernisse geben würde. In seiner Antwort schien er sehr gerührt über meine Geste und stimmte mir zu, obwohl er selbst nie etwas von mir verlangt hätte, das ich nicht selbst wollte. Er nahm es als Geschenk dankbar an, konnte mir aber nicht verbergen, dass er demnächst entweder zurück nach Wien werde gehen müssen, wo ein Einberufungsbefehl für ihn vorlag, oder in ein anderes Land. Dafür bestand aber kaum eine Möglichkeit, da ihm alle vorhielten, dass er in seiner Heimat ja nicht verfolgt würde und im Gegenteil rasch Arbeit finden könnte. Ebenso drängten seine Mutter und die gesamte Familie auf seine Rückkehr. Der Schweizer Bruder hielt ihm vor, dass schwere Zeiten auf alle zukommen würden und er auch nicht länger für ihn sorgen würde können. Außerdem würde er als Deserteur erschossen werden, wenn die Deutschen ihre Macht auch auf die Schweiz ausdehnen würden, was durchaus möglich war. Unter diesen Umständen konnte ich nicht länger in einem entlegenen Winkel Englands abwarten, sondern musste in die Hauptstadt zurück, um etwas zu tun, was meine Mutter und meinen Mann mit mir vereinen sollte. Ich bat meinen Bruder bei einem seiner gelegentlichen Besuche, mir einen Posten 58

in London zu verschaffen, da ich es auf Drumore nicht mehr aushielt. Sehr zur Enttäuschung der Familie Smith musste ich kündigen, um endlich wieder in Verbindung mit Menschen zu kommen, die mein Schicksal beeinflussen sollten. In London hatte mein Bruder mir wieder einen Posten verschafft, wo ich nur auf einen kleinen Jungen aufzupassen hatte. Ich war sehr froh darüber, denn ich war nun näher am Geschehen und konnte auch wieder Verbindung zu Miss Cook herstellen, die sich sehr bemühte, einen Garanten für unsere Mutter zu finden. Mein Bruder lief hunderte Male zum Home Office*, wo er immer wieder vertröstet wurde, bis wir beide oft keine Kraft mehr hatten, immer und immer wieder nach Personen zu suchen, die sich für die Rettung von Menschen in Deutschland und Österreich einsetzen würden. Die Stimmung in England war gedrückt, als sie erkennen mussten, dass Chaimberlains* Appeasementpolitik keinen Erfolg hatte, dass nach Österreich auch die Tschechoslowakei eingenommen wurde und nun Polen und Frankreich bedroht waren. Ich wurde immer unruhiger wegen Mutter, die zudem schrieb, dass sie nicht mehr lange würde durchhalten können, weil bereits so viele Personen in die Lager verschickt wurden. Diese Nachrichten erhielten wir natürlich verschlüsselt, und jedes Mal machten wir verzweifeltere Anstrengungen, um sie nach England kommen zu lassen. Ich sprach auch wieder mit Miss Cook, die sich ebenso sehr darum bemühte. Alles sprach vom Krieg, der nun nicht mehr zu vermeiden wäre. Endlich, wie ein Wunder, gelang es Herbert in wirklich letzter Minute, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, und knapp vor Ausbruch des Krieges im September 1939 konnten wir Mutter in Liverpool abholen. Sie war leicht geschockt, aber überglücklich, uns zu sehen, und meine Freude war übermächtig. Für kurze Zeit konnte sie mit mir bei der Familie mit dem Kind bleiben. Dann gelang es uns, in einem Haus in Croydon, 59

in dem nur refugees, also alles Leute in unserer Lage, wohnten und wir eine mäßige Miete zu zahlen hatten, eine kleine Wohnung, eher nur ein Zimmer, zu bekommen. Ich verpflichtete mich, für Mutters und meinen Lebensunterhalt aufzukommen, und fand bald einen Posten in einem Kaufhaus, wo eine Person dadurch für den war effort* Englands frei wurde. Es wurde jeder gebraucht, und auch die Frauen leisteten großartige Dienste bei Heer, Marine und Luftwaffe. Zuerst war ich im Verkauf tätig, später im Büro, und mein Englisch verbesserte sich so, dass mich bald niemand mehr als Ausländerin erkennen konnte. Ich wurde auch dem Wachdienst zugeordnet und musste jeweils eine Nacht im Kaufhaus verbringen, um vom Dach aus anfliegende Formationen zu melden oder um Feuerbomben löschen zu helfen. Da wir in Croydon lebten, wo sich ein Militärflughafen befand, wurde dieser öfter bombardiert als andere Ziele. Manchmal konnten wir Kämpfe zwischen MesserschmidtBombern und Spitfire-Jagdflugzeugen, sogenannte dog fights*, beobachten. Sie umkreisten sich und beschossen sich aus ihren Maschinengewehren, so dass man das Mündungsfeuer genau sehen konnte, bis einer in Flammen herunterfiel. Nun, da meine Mutter bei mir war und ich selbst für unseren Lebensunterhalt sorgen konnte, galt meine ganze Sorge meinem Leo, von dem ich durch die Kriegswirren nur mehr sporadisch Post bekam. Zu meiner Überraschung erhielt ich aber dann von ihm einen Brief aus Rio de Janeiro, wohin er knapp vor Kriegsausbruch auf einem italienischen Auswandererschiff gekommen war. Er hatte sich ein sogenanntes Papst-Visum* verschaffen können, welches in seltenen Fällen an Menschen in seiner Lage vergeben wurde, sofern sie katholisch waren und triftige Gründe für ihren Wunsch auszuwandern hatten. Ich las unter Lachen und Weinen, dass er nun weit genug weg war vom Kriegsgeschehen in Europa und vom Zwangsmilitärdienst bei der deutschen Wehrmacht, aber auch 60

weit von mir. Wir schrieben einander wöchentlich, aber nicht jeder Brief erreichte sein Ziel, und oftmals kam ein versengter oder zerrissener Umschlag, auf dem gedruckt war, dass er durch Kriegseinwirkung beschädigt war. Ich zitterte jedem dieser Briefe entgegen, und meine Sorge war nun, wie er es wohl erfahren könnte, falls uns etwas geschehen sollte. Denn London wurde immer stärker bombardiert, und bald konnten wir keine Nacht mehr im Hause schlafen, sondern mussten sie im Bunker verbringen. Ich musste natürlich trotzdem jeden Morgen ins Geschäft und regelmäßig zum firewatching*, um meinen Teil beizutragen zum Schutz des Gastlandes. Der Großteil der Engländer war nett zu uns. Wir bekamen die gleichen Rationen und wurden als erste Opfer geachtet. Unser effort* wurde anerkannt, und wir hatten viele gute und echte Freunde. Nach einer schlimmen Nacht kamen wir manchmal ans Tageslicht und fanden ganze Häuserreihen in rauchenden Trümmern. Dann ging alles an die Aufräumungsarbeiten und an die Bergung der Opfer. Es geschah alles mit großem Einsatz und einer Disziplin, die nicht durch Furcht oder Befehl entstand, sondern aus der einfachen und menschlichen Notwendigkeit. Das Leben ging trotzdem weiter, und man arbeitete, so gut es ging, und half einander nach Möglichkeit. Meinem Bruder war es gelungen, mit seiner Hanna nach Amerika zu gelangen, wo die beiden heirateten. Er musste dort seine Prüfungen wiederholen und nostrifizieren*, bevor er sich eine neue Existenz als Arzt aufbauen konnte. Leo bemühte sich nun intensiv um eine Einreisegenehmigung für mich nach Brasilien und erfuhr, dass ledige junge Frauen keine Aussicht auf ein Visum hätten, da für ihren Unterhalt nicht gesorgt war und viele der Prostitution und dem grassierenden Mädchenhandel zum Opfer fielen. Auch für meine Mutter würde es genauso schwer werden, wie es für England gewesen war. Hinzu kam noch, dass kei61

ne Reisemöglichkeit bestand, da es wegen der deutschen ­U-Boote keine zivile Schifffahrt gab. Es schien also wiederum ­aussichtslos, auf ein Zusammenkommen zu hoffen. Wir ­gaben trotzdem nicht auf und waren dabei – jeder auf seiner Seite –, Bestätigungen und Papiere zusammenzutragen, die uns helfen konnten. Ich fuhr an jedem freien Tag nach London in die City, wo die brasilianische Botschaft lag, und erkundigte mich dort nach Möglichkeiten, selbst wenn es erst nach Kriegsende sein sollte. Auch dort waren immer viele Flüchtlinge, die versuchten, von England aus weiterzukommen. Man musste für eine einzige Auskunft stundenlang warten. Man wurde höflich auf unbestimmte Zeit vertröstet, und ich erfuhr, dass die Strategie des Vertröstens auf einen späteren Zeitpunkt zu ihrer Lebensart gehört, egal, ob das Anliegen gewährt werden kann oder nicht. Ich konnte also keine klare Antwort bekommen und wusste nie, ob ich nun doch eine Chance hatte oder nicht. Da der Krieg immer näher zu kommen schien und ein Land nach dem anderen kapitulierte, sodass eine Invasion Englands bevorzustehen schien, war ich wieder einmal der Verzweiflung nahe und erlitt öfters einen Schwächeanfall nach dem Besuch der brasilianischen Botschaft. Mutter und ich waren uns darüber einig, dass wir im Falle eines Sieges Deutschlands über England uns das Leben nehmen würden, und besprachen bereits verschiedene Methoden. Einen diesbezüglichen Brief an Leo hatte ich bereits vorbereitet. Da kam Nachricht aus Brasilien, dass Leo unsere Hochzeit by proxy* vollzogen hatte und ich diese nur mehr bei einem Notar und der Polizei zu bestätigen und zu melden hätte, um Mrs. Ilse Mary Winter zu sein. Ich erledigte schnellstens die Formalitäten und erhielt eine neue Identität. Meine Freude war bittersüß, meine Freunde bezeichneten mich als die Frau ohne honeymoon* und legten mir einen süßen, kleinen Teddybären ins 62

Bett. Wie auch immer, ich fasste wieder Mut und konnte eine Zeitlang die Schrecken des Bombenkrieges leichter ertragen. Wie ich später den Eindruck hatte, wussten die Menschen in Österreich und Deutschland gar nicht, dass London verwüstet wurde und Nacht für Nacht Feuerbomben auf viele Städte Englands niederregneten und die neue V2* ganze Straßenzüge umlegte. Ich war stolz und froh, nun Mrs. Winter zu sein, und wurde auch so angesprochen, sowohl im Geschäft wie auch privat. Im Geschäft ging es mir gut. Ich erkannte bald den Geschmack der traditionellen englischen Kundschaft und passte mich an, sodass ich von einer Abteilung zur anderen versetzt wurde, um alle Sparten kennenzulernen. Meine Arbeit wurde geschätzt, sodass ich auch bald besser entlohnt wurde. Von den Kunden – meist feine Damen – erhielt ich oft Theaterkarten oder andere Aufmerksamkeiten. Es ging fast niemand mehr ins Westend*, da es doch fast immer Alarm gab und man kaum eine Vorstellung bis zum Ende sehen konnte. Trotzdem ließ ich es mir nicht entgehen, die besten Stücke anzusehen und Sir Laurence Olivier und Vivian Leigh auf der Bühne zu erleben. Manchmal lud mich auch Miss Cook zu einem Opernabend ein, und ich genoss diese Aufführungen trotz der Störungen und Unterbrechungen, die der Krieg mit sich brachte. Meine Mutter war jedes Mal erleichtert, wenn ich wieder zu Hause war, weil ja auch die Züge von London nach Croydon oft Ziele von Angriffen aus der Luft waren. Solange es aber noch möglich war, wollte ich noch Schönes erleben, und da ich mich sehr für Literatur, Theater und Kino interessierte, wollte ich es nicht lassen. Manchmal ging ich mit dieser oder jener Freundin aus, und die eine, die ich schon von meiner Schulzeit kannte und die einen Engländer geheiratet hatte, der auch eingerückt war, holte mich öfter zu einem Kinobesuch oder in ein Tanzlokal ab. Da wir nun beide verheiratete Frauen waren, fanden 63

wir nichts dabei, zusammen ein Lokal zu besuchen. Wir tanzten gerne und hörten auch Musik, und es war natürlich, dass wir Gesellschaft fanden. Sobald sich aber ein junger Mann intensiver zu interessieren begann, klärten wir ihn auf, dass wir uns nur ein wenig ablenken und unterhalten wollten. Ein Geschäftmann aus Croydon, den ich im Geschäft, wo ich tätig war, kennenlernte, meinte es aber ernst mit mir und bat mich sogar, meine Ehe annullieren zu lassen und ihn zu heiraten. Er besaß ein Haus und hätte meine Mutter und mich gerne zu sich genommen. Ich aber empfand nicht mehr für ihn, als dass er angenehme Gesellschaft gewesen wäre, und ich hatte nicht den Wunsch, ihn näher kennenzulernen, obwohl er sehr zurückhaltend und dennoch intensiv um mich warb. Es kamen auch viele Soldaten aus den anderen Ländern, die alliierten Polen und Tschechoslowaken, die dem britischen Heer unterstellt waren. Auch ein Pole machte mir sehr den Hof in seiner schwermütigen Art und verbrachte Stunden in unserer Straße, um mich abzuwarten. All das konnte mich nur zeitweilig von meinem Ziel ablenken, die nötigen Papiere für die Einreise nach Brasilien zu erlangen, obwohl dies nun trotz meiner Heirat und offizieller Zugehörigkeit zu meinem Mann immer schwieriger zu werden schien. Bei der Botschaft konnte ich nun zwar mit einer gewissen Berechtigung auftreten, aber meiner Bitte um ein Visum wurde immer nur der passive Widerstand entgegengesetzt, der so zermürbend war. Eines Tages nach einem schweren Bombenangriff in der Nacht erfuhr ich, dass die Botschaft ausgebombt und geschlossen war, weil auch alle Unterlagen und Papiere verbrannt waren. Ich erlitt auf der Stelle einen Ohnmachtsanfall, und ein paar Leute kümmerten sich um mich, die mich über den Strand* und Trafalgar Square wieder zum Zug nach Croydon brachten. Danach war ich ziemlich niedergeschlagen und traurig in einer Weise, die ich nun auch immer öfter bei meinen Kolle64

ginnen im Geschäft erleben musste, wenn ihre Männer verletzt oder vermisst wurden. Auch die Kriegsnachrichten waren schlecht, und die Deutschen rückten immer weiter vor, ohne dass ihnen wirklicher Widerstand entgegengesetzt zu werden schien. Sie durchbrachen die Maginot-Linie* und würden wohl auch bald England zu Wasser, zu Lande und in der Luft immer mehr angreifen. Eines Nachts wurde die Stadt Coventry in Schutt und Asche gelegt, und der Himmel über England färbte sich rot vom Feuerschein der brennenden Städte. Nun endlich trat auch Amerika in den Krieg ein, und ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich ab. Immer mehr amerikanische und kanadische Truppen kamen nach England und operierten von hier aus. Die Nachbarn rückten enger zusammen, und auch in unserem Haus wuchs die Wohngemeinschaft mehr zusammen. In jedem Raum wohnte eine Familie. Nebenan waren es Mutter und Tochter wie bei uns. Im unteren Stockwerk eine Frau alleine und neben uns eine junge Familie aus Wien. Er war der Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes und seine junge blonde Frau, Mitzi, ein Mädchen vom Lande, das im Hause der Familie im Dienst gewesen war und in welches sich der Sohn verliebt hatte, sodass sie zusammen, noch bevor es unmöglich wurde, seine Geschäftsverbindungen ausnützen konnten, um zu fliehen. Sie hatten zwei kleine Mädchen, und meine Mutter kümmerte sich um die Kinder, wenn die junge Mutter auch zeitweise arbeitete. Es gab im Haus nur eine Küche, die jeweils benützt werden konnte, und ebenso das Badezimmer. Wer ein Bad nehmen wollte, musste eine Person dabei haben, die mit der Kleidung daneben stand, um im Falle des Alarmes gleich helfen zu können, damit man rasch in den Keller oder nächsten Bunker – sie wurden shelter genannt – kommen konnte. Jeder hatte einen Gasring* im Zimmer, sodass man Tee und kleinere Mahlzeiten im eigenen Raum zubereiten konnte. Meine Mutter bereitete am Abend stets eine kleinere 65

Mahlzeit vor, die wir, wenn ich nach Geschäftsschluss nach Hause kam, einnahmen. Oft kauften wir aber auch fish and chips*, die es im Laden an der Ecke heiß zu kaufen gab und die wir sehr gerne aßen. Die doppelte Belastung des Kriegsgeschehens mit den schlaflosen Nächten sowie der Angst vor dem, was uns geschehen könnte, wenn der Krieg von den Alliierten verloren würde, verursachte eine totale Erschöpfung, sodass ich schwer an der Gürtelrose erkrankte. Da auch der Beschuss Croydons wegen des Militärflughafens immer stärker wurde, sollten Frauen und Kinder aus diesem Bereich evakuiert werden. Mutter und ich waren unter denjenigen, die nach Stoke on Trent in den Midlands gebracht wurden, wo wir bei der Familie eines Minenarbeiters in deren Reihenhäuschen untergebracht wurden. Es waren arme, einfache Menschen und der Mann ein Trinker, was häufig unter den Bergarbeitern dieser Mine der Fall war. Ihr Leben glich sehr dem von dem englischen Schriftsteller Cronin beschriebenen. Nach ein paar Monaten in dieser Kleinstadt begann sich die Wende im Krieg abzuzeichnen. Wir hörten im Radio, dass es in der Wüste bei El Alamein einen Sieg des englischen Generals Montgomery über Rommel gegeben hatte, und wagten, vorsichtig glücklich zu sein. Als London nun weniger unter den Luftangriffen zu leiden hatte, konnten wir in das Haus nach Croydon zurückkehren, und ich nahm meine Tätigkeit in dem großen Kaufhaus wieder auf. Nun sah man auch immer öfter amerikanische Truppen und vor allem Piloten in England, und das half die Moral der Bevölkerung, die sich vorbildlich und besonders uns refugees gegenüber fair verhalten hatte, wesentlich zu heben. Bis zum Ende des Krieges versuchte ich immer wieder, unsere Ausreise nach Brasilien vorzubereiten, was mir aber nicht gelang, denn ich sollte die Reisespesen und Reisemöglichkeit vorweisen, um ein Visum zu erlangen, was ich aber nicht 66

konnte. Erstens gab es keinen Schiffsverkehr für Passagiere wegen der Kriegshandlungen, und die deutsche U-Bootflotte versenkte alles, was ihnen begegnete. Man hörte vom Untergang vieler Flüchtlingsschiffe, von Handelsschiffen ganz zu schweigen. Es war eine Zeit größter Anspannung, geprägt von Hoffnung und totaler Niedergeschlagenheit. Trotzdem schlossen wir uns eng zusammen und richteten einander auf, wenn es zu schwer war. Und nur dieser Zusammenhalt gab mir die Kraft, weiter zu hoffen und nicht aufzugeben. Endlich, endlich vollzog sich die Wende, und nach Hitlers Desaster von Stalingrad schien das Ende des Krieges nahe. Es dauerte noch bis zum 8. Mai 1945, bis die Menschen erlöst auf die Straße rannten und mit ungeheurer Erleichterung das Ende des mörderischsten Krieges unseres Jahrhunderts wahrnehmen konnten. Ich fuhr zu meiner Freundin Hertha, und wir umarmten uns weinend. Sie hatte ihre Mutter und zwei Brüder verloren, von denen einer nach Frankreich geflohen war, wo er sich dem Maquis* angeschlossen hatte und im Kampf gefallen war. Zwei Schwestern meiner Mutter und deren Kinder starben in Theresienstadt, wie wir später erfuhren. Es sollte noch eine Zeit dauern, bis es endlich so weit war und Mutter und ich nach Brasilien kommen konnten. Ich bekam wohl mein Visum als verheiratete Frau, deren Mann in Rio lebte und eine Anstellung bei einer Tochterfirma des deutschen Konzerns Siemens hatte; jedoch gab es kein Visum für die Mutter, die wegen ihres steifen Knies arbeitsunfähig und zudem schon im Pensionsalter war. Dasselbe Problem hatten wir schon einmal, und es hätte sie beinahe das Leben gekostet. Sie alleine in London zurücklassen konnte ich genauso wenig übers Herz bringen. Mein Bruder wollte sie nach Amerika kommen lassen, aber sie bat mich innigst, mit mir kommen zu können. Endlich besorgte mein Bruder das Geld für 67

Flugkarten nach Rio, und am 26. März 1946 war es endlich geschafft. Ich errang mit unglaublicher Zähigkeit und Glück zwei Flugkarten in dem ersten möglichen Transport. Wir mussten noch die Impfungen für Gelbfieber, Pocken und einige andere Tropenkrankheiten absolvieren. Aber die Aussicht, in ein neues, unbeschädigtes Land zu kommen, und für mich – nach sieben langen Jahren – meinen treuen und geliebten Mann wiederzusehen, ließ mich auch diese Unannehmlichkeit mit Freuden ertragen! Das Flugzeug war ein rasch umgebauter Lancaster-Bomber mit Namen Starlight, bei dem man die Motorengeräusche und schnell installierte Sitze hinnehmen musste. Wir flogen von dem damals erst kurz erbauten Flugplatz Heathrow nach Lissabon. Das war die erste Station, denn es gab ja noch keine Nachtflüge. Wir übernachteten in einem schönen Hotel und genossen den ersten Kontakt mit einer Stadt ohne Kriegseinwirkungen. Die nächste Zwischenlandung war in Afrika, ­Bathhurst, das war ein englischer Stützpunkt für die Royal Air Force. Wir waren fast den ganzen Tag geflogen und kamen im Dunkeln an. Es war eine kleine Lichtung im Dschungel mit einem Dorf und ein paar Baracken für Flieger und Bodenpersonal, welches aus den Einheimischen bestand. Ein Abendessen war im Freien gerichtet, und wir genossen die vielen tropischen Früchte. Auch das Frühstück wurde am selben Ort serviert. Die Tische waren im Freien gedeckt, und kleine Äffchen kamen blitzschnell aus den Bäumen herabgesprungen und stibitzten Brötchen und Bananen von dem reich gedeckten Tisch. Manche steckten die Finger in die Marmelade- und Honigschüsselchen und leckten sie ab, bevor sie grinsend und schnatternd das Weite suchten, als sie von den Bediensteten verscheucht wurden. Wir waren so perplex, dass meine Mutter, die ein Frühstücksbrötchen in der Hand hielt, nicht merkte, wie ein kleiner Räuber es ihr aus der Hand riss und damit verschwand. 68

Weiter ging der Flug über den Atlantischen Ozean, und gegen Abend landeten wir in Natal, auf brasilianischem Boden. Da ich geglaubt hatte, bereits in Rio anzukommen, war meine überhöhte Erwartung in Enttäuschung umgeschlagen, und wir saßen müde und erschöpft im Flughafengebäude, wo uns eine Schüssel mit bräunlichem Wasser zum Händewaschen angeboten wurde und ein Glas Mineralwasser, welches wir dankbar tranken. Plötzlich wurde mein Name ausgerufen, und ich erhielt ein Telegramm aus Rio von meinem Mann, der mich dort erwartete. Das hob meine Stimmung ein wenig, und bald konnten wir weiterfliegen und hatten noch sechs Stunden Flug. Als uns die blaue Bucht von Copacabana und der große Christo vom Corcovado winkten, erfuhr ich ein so unbeschreibliches Gefühl von Glück und Vorfreude. Gleich darauf gab es einen Krach, und einige Leinen, die außen am Flugzeug angebracht waren, rissen und schnellten an den Fenstern vorbei. Da habe ich gebetet, dass es doch nicht jetzt vorbei sein solle, bevor ich mein ganz eigenes großes Glück des Wiedersehens genossen hätte. Trotzdem landete der Pilot glücklich auf der Insel Galleon, die den Flughafen beherbergte. Die Passagiere wurden dann in kleinen Motorbooten ans Festland gebracht. Und endlich, endlich sah ich in der wartenden Menge meinen Leo mit einem Riesenblumenstrauß. Ich ließ mein Handgepäck fallen und er seine Blumen, und wir rannten aufeinander zu und hielten uns nach fast acht Jahren wieder in den Armen. Ich warte auf Dich, was immer geschieht, fest und unerschütterlich, bis die Zeit entflieht. Ringsum die Welt in Flammen steht, meine Seele trauert tief. Oh, wenn alles zugrunde geht, bleibt mir ein Trost – Dein Brief. 69

Deiner Liebe Schwung erhebt mich, hoch über all Leid empor, sie trägt mich fort zum Himmel hinauf, horch – das Glück pocht an mein Tor. Monica Kreuzer, die Tochter von Ilse und Leopold Winter, fand im Jänner 2011 anlässlich der Vorbereitung dieser Publikation in einem kleinen Schreibbuch dieses auf den 5. September 1943 datierte Liebesgedicht ihrer Mutter. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Brasilien feierten Ilse und Leo Winter in Rio de Janeiro eine zweite Hochzeit. Danach zogen sie nach Monte Alegre, einem Ort im Landesinneren, im südlichen Bundesstaat Paraná, wo beide in einer Papierfabrik arbeiteten, Ilse Winter später auch als Sekretärin. Ihr Kinderwunsch brachte das Paar dazu, in einen größeren Ort mit besserer klinischer Ausstattung zu ziehen. Die Wahl fiel auf Curitiba, die Hauptstadt des Bundesstaates, wo am 3. Juli 1954 ihre Tochter Monica geboren wurde. Leo Winter versuchte sich in Curitiba zuerst als Taxiunternehmer, später war er im städtischen Elektrizitätswerk beschäftigt; während seine Frau am amerikanischen Kulturinstitut Englisch unterrichtete. Ilse und Leo Winter wurden in Brasilien schnell heimisch. Ein österreichischer Klub und ein ausgedehnter deutschsprachiger Bekanntenkreis kamen ihrem Bedürfnis nach Aufrechterhaltung einer Verbindung zur Kultur ihres Herkunftslandes entgegen. 24 Jahre lang lebte das Paar gemeinsam in Brasilien, bis Ilse Winter 1970 binnen weniger Wochen ihren Mann und ihre Mutter verlor. Nach ihrer Pensionierung kehrte die Autorin zusammen mit ihrer Tochter, deren österreichischem Mann und ihren Enkeln im Jahr 1981 nach Österreich zurück. Einige Jahre später konnte sie als „verfolgte Altösterreicherin“ die österreichische Staatsbürgerschaft wiedererlangen. Ilse Winter verstarb am 19. Februar 2001 in Metnitz in Kärnten. 70

„Egal, welcher Nation er angehört“

Gertrud Kantor geboren am 30. März 1922 in Wien als Gertrud Harzhauser, wuchs mit einem älteren Bruder in bescheidenen Verhältnissen auf. Die schwierige wirtschaftliche Situation in den Dreißigerjahren machte es dem Vater, einem Schlosser, nicht mehr möglich, allein für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen. Die Mutter musste durch Heimarbeit zum Einkommen beitragen. Trotzdem langte es nicht für die Kaution, die für die von der Tochter angestrebte Friseurlehre aufzubringen gewesen wäre. Gertrud Kantor absolvierte daher mit wenig Begeisterung eine Lehre in einem Strickerei- und Wirkwarenbetrieb und wurde unmittelbar nach deren Abschluss zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen. Erlebte sie diesen noch als positive Abwechslung zu ihrer ungeliebten Lehre, so war der nachfolgende sechsmonatige Kriegshilfsdienst in einer Waffenfabrik in Wien für Gertrud Kantor nur noch eine Last. Schließlich wurde sie als Luftwaffenhelferin eingezogen und kam nach der Ausbildung in Lagern in Oberösterreich und im nordfranzösischen Metz in der Normandie und in Oberschlesien zum Einsatz. Gertrud Kantor gab ihrem 1994 verfassten lebensgeschichtlichen Erinnerungstext den Titel „Verlorene Jugendjahre“. Im Mittelpunkt stehen ihre Erlebnisse in den Jahren 1940 bis 1948. Die Autorin verfasste ihr maschinschriftliches Manuskript im Hinblick auf eine mögliche Veröffentlichung in der Buchreihe „Damit es nicht verlorengeht ...“ und schickte ihre Geschichte im Jahr 1994 an den Böhlau Verlag. Der Text wird hier leicht gekürzt wiedergegeben.

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Heute lebe ich wieder in Wien, in Margareten. Geboren und aufgewachsen bin ich aber in Döbling. Seit Ende des Krieges, 1945, hatte ich die Straße, in der ich aufgewachsen bin, nicht mehr gesehen. Warum? Ich weiß es nicht. Was hat mich plötzlich veranlasst, mich in die Straßenbahn zu setzen und hinaus nach Döbling zu fahren, nach so vielen Jahren? Ecke Billrothstraße und Silbergasse stieg ich aus und ging die Silbergasse entlang, wo ich einst die Volksschule besuchte; die gibt es nicht mehr. Auch das kleine Gasthaus, wo mein Vater und mein Großvater am Sonntagvormittag gerne ihr Glas Wein getrunken haben, gibt es nicht mehr. Ich ging weiter zum Saarpark. Wie oft bin ich da wohl durchgegangen, zuerst in die Schule und dann in die Lehre? Ich durchschritt den Park, und am anderen Ende kam ich dann in meine alte Pfarrwiesengasse. Vieles hat sich verändert. Jetzt fährt sogar ein Autobus durch die einstmals stille Straße. Langsam ging ich die Häuserzeile entlang und suchte die Nummer, wo ich einst mit meinen Eltern, meinem Bruder und meinen Großeltern gewohnt habe. Die Hausnummer existiert noch, aber das Haus war mir fremd. Es wurde im Krieg fast zur Gänze ausgebombt. Lange blieb ich davor stehen und ließ meine Gedanken bis zurück in meine Kindheit wandern. Ich bin ein Mädchen aus einem einfachen bürgerlichen Haus. Ich besuchte die Volksschule und anschließend die Hauptschule. Mit dem Abschluss einer zweijährigen Hauswirtschaftsschule beendete ich dann meine Schuljahre. Nach Beendigung der Schule suchte ich eine Lehrstelle als Friseurin. Mein Traum war es, mich nach abgeschlossener Lehre weiterzubilden, dann mit der Meisterprüfung abzuschließen und Theaterfriseurin zu werden. Schon als Kind spielte ich oft mit meiner Freundin aus dem Nachbarhaus Friseurin. Sie hatte zwei wunderschöne, dicke Zöpfe, die sich herrlich zu verschiedenen Frisuren legen ließen. 72

Mein Vater ging nun mit mir zu einigen Friseuren, um anzufragen, ob sie nicht ein Lehrmädchen aufnehmen würden. Aber niemand konnte eines aufnehmen. Die Zeiten um 1938 waren schlecht, es gab mehr arbeitslose als arbeitende Menschen. An einen Friseur kann ich mich noch heute gut erinnern. Er sagte meinem Vater: „Wenn sie eine Kaution erlegen können, so kann ihre Tochter bei mir anfangen.“ Mein Vater war leider schon lange arbeitslos, und obwohl meine Mutter durch mühsame Heimarbeit etwas hinzuverdiente, reichte es vorne und hinten nicht aus. Von der Erlegung einer Kaution konnte daher keine Rede sein, und damit scheiterte meine Lehre als Friseurin wie so vieles im Leben am lieben Geld. Mein Vater erklärte mir, die nächste Lehre, die sich uns biete, würde genommen. Nach längerer Suche fanden meine Eltern durch Bekannte eine Lehrstelle in einer kleinen Wirk- und Strickwarenerzeugung. Ich vergoss so manche Träne, aber es nützte mir nichts. Ich musste diese Lehre annehmen, ob ich wollte oder nicht. Kein Mensch fragte damals nach den persönlichen Wünschen. Ich gehorchte und fing im Februar 1938 meine Lehre an. Ich war todunglücklich. Mein Traum, Friseurin zu werden, war wohl ausgeträumt. Ich ging nun in diesen Betrieb, und meine erste Tätigkeit morgens war, da es Winterszeit war, einen großen Ofen anzuheizen, von den Arbeiterinnen die Essgeschirre einzusammeln und rechtzeitig darauf zu achten, dass das Essen zu Mittag gut warm war. Dann musste ich die Wohnung der Chefin aufräumen, und abends, wenn alle nach Hause gingen, musste die Werkstatt saubergemacht werden. Wie ich diesen Beruf hasste! Aber nie im Leben hätte ich mich darüber beklagt. Es hätte auch nichts geändert. Meine Eltern waren froh, eine Lehre für mich gefunden zu haben; meine Wünsche waren unwichtig. Als der Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich stattfand, war ich gerade 16 Jahre alt geworden. Im Februar 73

1940 beendete ich meine Lehre und wurde zur „Gehilfin“ ernannt. Aber auch diese Beförderung konnte in mir keine Liebe zu diesem Handwerk erwecken. Ich blieb weiter in diesem Beruf, verdiente endlich etwas mehr Geld und musste meinen Eltern nicht länger auf der Tasche liegen. Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, gab mir meine Mutter einen Brief. Es war ein Einberufungsbefehl, zum Reichsarbeitsdienst*. Meine Eltern wollten alles daransetzen, um mich vom Arbeitsdienst zu befreien. Ich war ein spindeldürres Mädchen, bei dem man nicht wusste, wo vorne oder hinten war, und mein lieber Bruder, der mich gerne ärgerte, meinte des Öfteren, ich könne mich hinter einem Grashalm verstecken. Das ist eben wahre Geschwisterliebe. Meine Mutter, die mich natürlich gerne zu Hause behalten wollte, meinte, dass ich die Arbeit bei einem Bauern nicht aushalten würde, da ich viel zu schwach war. Ich musste zur Untersuchung gehen, und man erklärte mich für tauglich. Am 1.  Oktober 1940 wurde ich eingezogen und sollte mich im Arbeitsdienstlager Wallsee an der Donau melden. So machte ich nun meine erste alleinige Bahnfahrt nach Am­ stetten, und als ich dort ankam, musste ich mich erst einmal durchfragen, wann ein Autobus nach diesem Wallsee fuhr, von dem ich noch nie in meinem Leben etwas gehört hatte. Das war ja damals eine Tagestour. Ich selbst war sehr glücklich darüber, endlich diesem verhassten Beruf entfliehen zu können, selbst wenn es der Arbeitsdienst war. Ich sollte meinen Beruf auch nie mehr ausüben, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Endlich hatte ich auch diese Fahrt geschafft und stand mitten auf dem Marktplatz von Wallsee. Ich sah mich um. Der alte Marktplatz war von wunderschönen, alten Bäumen umsäumt, und dadurch wirkte er so richtig heimelig. Ich dachte mir, hier kann man es schon aushalten. Wallsee ist ein kleiner Ort an der Donau, in dessen Mittelpunkt ein Schloss steht. 74

Aus weiter Ferne kann man schon den Schlossturm erblicken. Wie ich aber so dastand, kam ich mir schon sehr einsam und verlassen vor, und mich packte das Heimweh. Ich war doch das erste Mal von zu Hause weg und ganz auf mich alleine gestellt. Ich fragte eine Frau, wo denn die Arbeitsmaiden* untergebracht seien. Diese schickte mich in ein kleines Schlösschen an der Donau, dort befand sich das Arbeitslager. So ging ich nun den beschriebenen Weg und landete im Büro der Lagerführerin. Sie war eine große, magere – fast so, wie ich damals gewesen bin –, nur um einige Jahre ältere Person mit streng zurückgekämmtem Haar, das hinten am Kopf zu einem Knoten befestigt war. Für mich, deren Wunschberuf Friseurin gewesen ist, war es eine ganz scheußliche Frisur. Gut, dass man meine Gedanken nicht lesen konnte. Nach Angabe meiner Personalien bekam ich ein Arbeitsdienstbuch. Dann wurde ich eingekleidet und in einen Schlafsaal geführt, in dem ich noch mit neun anderen Mädchen das Zimmer teilen musste. Es gab für jedes Mädchen einen Spind und einen Schlafplatz in einem Stockbett. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch mit zehn Sesseln. Dies war nun für sechs Monate mein Zuhause. Nur zwei Mädchen stammten aus der Ostmark, wie Österreich damals genannt wurde; alle anderen waren aus dem Deutschen Reich, die meisten aus der Umgebung von Berlin. Anfangs war mir alles sehr fremd, denn die meisten der Mädchen sprachen einen sehr schwer zu verstehenden Dialekt. Auch das Eingewöhnen in eine so große Gemeinschaft bedurfte schon einer großen Umstellung, aber wir hatten uns schon bald aneinander gewöhnt. Mit einem Gongschlag, der durch das ganze Haus hallte, wurden wir ums sechs Uhr geweckt, um bei jedem Wetter im Freien zum Morgensport anzutreten. Ich unsportliches Wesen musste im Freien bei kühlem Wetter Freiübungen machen, und dies alles wegen der sogenannten „Abhärtung“. 75

Nachher gab es Frühstück, Marmeladebrote ohne Butter und eine Brühe, die sich Kaffee nannte. Da ich aber von zu Hause nicht verwöhnt war, machte mir das nichts aus. Dann gab es Stubenappell. Das Bett musste ganz exakt gemacht werden. War es der Heimleiterin nicht glatt genug, wurde einfach an einer Ecke des Bettes angezogen, und die ganze Bettenmacherei begann von vorne. Ebenso wurde der Inhalt des Spindes besichtigt. Nun, ich musste des Öfteren mein Bett neu machen und auch meinen Spind frisch einräumen, da die Ecken der Taschentücher nicht genau übereinander lagen oder die Schuhe nicht in einer geraden Linie standen. Da mir meine Mutter jegliche Hausarbeit abgenommen hatte, fiel mir das Bettenmachen anfangs schon sehr schwer. Aber man hat es mir beigebracht, und ich bin heute sehr froh darüber. Dann mussten wir uns zur Fahnenweihe im Hof aufstellen und ein Lied singen. Singen am frühen Morgen war auch nicht gerade mein Fall. Nachher gab es Lagebesprechung, und wir wurden in mehrere Gruppen zur Arbeit eingeteilt: Stubendienst, Küchendienst, Waschküchendienst und Außendienst. Ich wurde gleich zum Außendienst eingeteilt. Der Weg zu meinem Bauernhof dauerte fast eine Stunde, doch da ich mit einigen Mädchen die gleiche Richtung hatte, verging uns die Zeit mit Plaudern trotzdem sehr schnell. Es war für meine Begriffe ein sehr schöner, großer Bauernhof – ich hatte ja noch nie einen in natura gesehen. Als ich mich der Bäuerin als neue Arbeitsmaid vorstellte, sah sie mich eine Weile an und sagte zu mir: „Was soll ich denn mit dir anfangen? Du schaust ja ganz verhungert aus. Für unsere Arbeit am Hof bist du ja viel zu schwach.“ Ich war den Tränen nahe und fürchtete, dass sie mich wieder zurück ins Lager schicken würde. Diese Schande wäre für mich ganz furchtbar gewesen. Auf meine schüchterne Bitte, sie solle es doch mit mir versuchen, ich würde mich bemühen, ihr alles recht zu machen, ging sie nicht ein und sagte nur: „Komm mit mir mit!“ 76

Wir gingen in den Schweinestall, um die Tiere zu füttern. Mein Gott, so viele Schweine auf einmal hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Sie machten einen Höllenlärm, da die Tiere wussten, wann ihre Zeit zum Füttern war. Ich hielt mich in respektvoller Entfernung, um ja nicht zu nahe an die Tiere heranzukommen. Die Bäuerin sah mich einige Male, wie es mir schien, von der Seite an, sagte aber nichts. Ich half ihr, so gut ich konnte. Endlich war es Mittag geworden, und wir saßen alle zusammen in einer Küche von riesigen Ausmaßen um einen großen Tisch versammelt. Ich kann mich noch heute an diese erste Mahlzeit erinnern. Es gab Knödel mit gebratenem Fleisch – und das mitten im Krieg. So eine Köstlichkeit hatte ich schon lange nicht gegessen. Ich konnte nur einen kleinen Teil von dem essen, was ich auf dem Teller hatte, da ich so ein üppiges Mahl einfach nicht gewöhnt war. Aber dies sollte sich bald ändern. Eines Tages wurde auf dem Hof geschlachtet, und man gab das Blut der Tiere in einen Kessel, wo es ständig gerührt werden sollte, und diese Arbeit teilte man mir zu. Blut habe ich noch nie sehen können, noch dazu in einer solchen Menge. Ich rührte halt mit wahrer Todesverachtung, so gut ich konnte, ich hätte aber nie gedacht, dass diese Arbeit so anstrengend sein kann. Ich glaubte, meine Arme müssten mir abfallen. Noch dazu wurde mir von diesem ungewohnten Geruch so schlecht, dass ich wie ein Stück Holz neben den Kessel hinfiel. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder zu mir kam. Somit war die Bauernarbeit für mich beendet. Ich musste so manchen Spott über mich ergehen lassen, da ja alle gemerkt hatten, dass ich mich vor den Kühen und Schweinen fürchtete. Da fragte mich die Bäuerin schon leicht entnervt, ob ich nähen könne. Endlich konnte ich mit ruhigem Gewissen Ja sagen, hatte ich doch in der Schule in Handarbeiten immer einen Einser gehabt. Es gab eine Nähstube, da kam 77

alles hinein, was sich im Laufe der Zeit an Wäsche zum Ausbessern angesammelt hatte. Sie zeigte mir alles, und dann war ich mir selbst überlassen. Ich war sehr froh, endlich eine Hilfe zu sein. Die Bauernarbeit war halt doch nicht meine Stärke. Aber die vier Wochen vergingen sehr schnell, und ich sollte wieder ins Lager zurück. Es wurde alle vier Wochen die Arbeit gewechselt, sodass alle Maiden* die Arbeitsgänge durchzumachen hatten. Ich sollte nach dem Außendienst in den Stubendienst eingeteilt werden. Da mussten die Maiden alle Schlafsäle, Aufenthaltsräume, Duschen, Toiletteanlagen und Gänge kehren, waschen und abstauben. Diese Arbeit war bei den Maiden nicht sehr beliebt. Waren wir damit fertig, wurde alles kontrolliert. Wenn es nicht sauber genug war, musste es noch einmal gemacht werden. Dem entging ich, da meine Bäuerin zu meiner Lagerführerin ging und sie bat, ob ich nicht die ganzen sechs Monate bei ihr meine Arbeitsdienstzeit ausüben könne, da sie endlich jemanden gefunden hätte, der ihren großen Wäscheberg aufarbeiten würde. Sie selbst hätte zum Nähen keine Zeit und wolle sich nicht alle Monate an ein neues Gesicht gewöhnen und immer alles von vorne erklären müssen. Gott sei Dank sagte sie nicht, dass ich für die Arbeit am Hof nicht taugte. Es hätte mir sehr leidgetan, nicht mehr hingehen zu können, besonders des guten Essens wegen. Nach längerem Hin und Her bekam ich die Erlaubnis, nur bei dem einen Bauern meine Dienstzeit zu verbringen. Ich wurde von den anderen Maiden glühend beneidet. Ich war froh, keinen Küchen- oder Waschküchendienst machen zu müssen; noch dazu war das Essen im Lager lange nicht so gut wie bei meinem Bauern. Ich habe im Laufe dieser sechs Monate fast zehn Kilo zugenommen. Vom Krieg hörten wir in dieser Abgeschiedenheit nicht viel, nur wenn man von zu Hause Post bekam. Manche Mädchen erhielten die Nachricht, dass die Wohnungen ihrer El78

tern ausgebombt oder ein Familienmitglied gefallen wäre. Mein Vater und mein Bruder waren auch schon längst eingezogen worden, und meine Mutter schrieb mir, dass sie dienstverpflichtet* wurde, aber in Wien bleiben konnte. Abends, wenn wir zusammensaßen, erzählte so manches Mädchen über ihr Zuhause. Da zehn Mädchen in einem Schlafsaal untergebracht waren, gab es immer genügend Gesprächsstoff. Oft war es nötig, meinen Wiener Dialekt für die Mädchen aus dem Norden zu übersetzen, da sie damit nicht zurechtkamen. Zum Beispiel unsere gute alte Semmel, die ja in Berlin Schrippe heißt. Umgekehrt war es natürlich genauso; bis alles richtig ausgedeutscht war, gab es oft genug Grund zum Lachen. Wir hatten schon so manchen Spaß und stellten auch einigen Unsinn an. Bevor wir schlafen gingen, hatten wir noch oft Polsterschlachten. Einmal wurde mit einem sehr schadhaften Polster herumgeworfen, bis er platzte und die ganzen Federn im Schlafsaal herumflogen. Das ist uns aber nicht gut bekommen, wir mussten noch den ganzen Schlafsaal von den Federn befreien. Es war keine leichte Aufgabe, denn die lieben Federn hatten die schlechte Eigenschaft, sich immer, wenn man nach ihnen greifen wollte, in Luft aufzulösen. War das ein Anblick, wenn zehn Mädchen in langen, züchtigen Nachthemden wie die Wilden nach den herumfliegenden Federn haschten! Da wir auf Strohsäcken schliefen, konnte man sehr gut, wenn man eine Mulde machte, eine Schüssel mit Wasser ­hineinstellen und das Leintuch fest darüberspannen. Auch mir ging es einmal so. Ich legte mich mit vollem Schwung ins Bett, um vollkommen nass wieder in die Höhe zu fahren – unter dem Gelächter der anderen Mädchen. Das passierte einem aber nur einmal, dann war man schon vorsichtiger, und bevor man ins Bett ging, schaute man gut nach. So gingen die sechs Monate beim Arbeitsdienst sehr schnell vorüber. Als wir entlassen wurden, tat es uns allen sehr leid, diese schöne 79

Gegend verlassen und vor allem zu Hause wieder mit dem auf Marken zugeteilten Essen leben zu müssen. Es war sicher meine sorgloseste Zeit, in der ich nicht wusste, was noch alles auf mich zukommen sollte. Als ich Ende März aus dem Arbeitsdienst entlassen wurde und zu meiner Mutter nach Hause kam, erkannte sie mich nicht gleich wieder, da ich so viel zugenommen hatte. Sie war sehr froh, dass ich wieder bei ihr sein konnte und so gesund aussah. Ich konnte mich aber nur ein paar Tage der Freiheit erfreuen, dann bekam ich einen neuerlichen Einberufungsbefehl. Ich wurde zum Kriegshilfsdienst in eine Fabrik am Rande von Wien eingezogen. Ich kam in ein großes Barackenlager mit vielen anderen Mädchen aus allen Schichten der Bevölkerung. Vierzig Mädchen waren in einem Schlafsaal untergebracht. Ruhe gab es nie, da wir in Schichten arbeiteten. Auch wenn ein Drittel der Mädchen schlief, verhielten sich die anderen nie ganz ruhig. Streit gab es auch öfters, und liegen lassen durfte man nichts; das war garantiert weg. Obwohl auf Kameradschaftsdiebstahl schwere Strafen standen, verschwand doch gelegentlich einiges. Es ging sehr streng militärisch zu. Das ganze Lager war von einem hohen Stacheldrahtzaun umschlossen. Man kam sich selber wie eine Gefangene vor. So ein freies und sorgloses Leben wie beim Arbeitsdienst war es nicht mehr. Jetzt erst kam mir zu Bewusstsein, dass die schönste Zeit meines Lebens wohl vorbei war. Ich musste an einer kleinen Drehbank in eine lange Eisenstange Gewinde einfräsen und in einer gewissen Länge abschneiden. Diese Arbeit war nicht ungefährlich. Wenn man nicht aufpasste und die Eisenstange nicht gut fixiert war, fing sie an, sich in rasender Geschwindigkeit zu drehen – wehe, wer da getroffen wurde! Im Werk gab es viele Kriegsgefangene, die meisten von ihnen waren aus Frankreich. Die mussten 80

an den großen Pressen arbeiten. Viele von ihnen verunglückten, denn so mancher kam mit den Händen oder mit den Armen in die großen Pressen hinein. Es war eine sehr eintönige und ermüdende Tätigkeit. Wir wurden streng bewacht. Sprechen mit Kriegsgefangenen war strengstens verboten. Sprechen war sowieso nicht möglich, da der Lärm in der Fabrikshalle so enorm war, dass man das eigene Wort nicht verstehen konnte. Aber den Blickkontakt konnte einem niemand verbieten. Dass der Krieg immer größere Ausmaße annahm und die Verpflegung immer schwieriger wurde, spürten wir natürlich auch. Es gab meistens Eintopf. Das Essen hielt keinen Vergleich mit dem des Arbeitsdienstes aus. Allmählich verringerte sich auch mein Gewicht wieder, da mir einfach die nahrhafte Kost fehlte. Oft dachte ich an meine Bauersleute zurück. Tag für Tag stand ich nun bei meiner Drehbank. Abends war man von der ungewohnten Arbeit so müde, dass man froh war, wenn man eine ruhige Nacht hatte. Inzwischen war ich 19 Jahre alt geworden. Ich hatte wohl eine abgeschlossene Lehre gemacht, das war aber auch schon alles. Allen Jugendlichen ging es gleich, die Männer mussten in den Krieg, und die Frauen wurden genauso eingesetzt. Ich konnte meinen Kriegshilfsdienst wenigstens in Wien abdienen, in der Hoffnung, dass diese sechs Monate auch einmal vorübergehen würden. Der Kriegshilfsdienst war alles andere als schön, und ich war heilfroh, dass er nur sechs ­Monate dauern sollte. Unentwegt patrouillierten Soldaten der Wehrmacht durch die Reihen, um zu kontrollieren. Wir hatten die gleiche Arbeitszeit wie alle anderen, nur Nachtschicht brauchten wir nicht zu machen. Aber ich hatte auch so genug davon, den ganzen Tag auf einem Fleck zu stehen, ohne Pause, da die Maschinen auf keinen Fall abgestellt werden durften. Ende September 1941 waren meine sechs Monate beendet, und ich wurde aus dem Kriegshilfsdienst entlassen und konn81

te wieder nach Hause zu meiner Mutter fahren. Die war sehr froh, dass ich wieder da war und sie nicht mehr so allein sein musste. Ich hatte mir schon während des Kriegshilfsdienstes Gedanken gemacht, ob ich nach meiner Entlassung wieder in meinen erlernten, obwohl „verhassten“ Beruf zurückkehren sollte. Ich wollte ja schließlich wieder einmal Geld verdienen. Aber das Schicksal hatte schon für mich die Weichen gestellt. Die Freude meiner Mutter über meine Heimkehr dauerte nur drei ganze Tage, da bekam ich einen neuerlichen Einberufungsbefehl, den dritten in meinem jungen Leben. Am 1. Oktober 1941 wurde ich als Luftwaffenhelferin einberufen. Die paar Tage bei meiner Mutter vergingen viel zu schnell. Am Tag meiner Einberufung begleitete mich meine Mutter zum Bahnhof. Wir sprachen nicht viel miteinander. Jeder hing seinen Gedanken nach, und wir ahnten beide, dass es diesmal wohl eine längere Trennung sein würde. Nun blieb meine Mutter wieder alleine mit der Ungewissheit zurück, ob sie je wieder einen von uns sehen würde. Von meinem Vater bekamen wir des Öfteren Nachricht, aber von meinem Bruder hatten wir schon lange nichts mehr gehört, wir wussten nicht, ob er noch am Leben war oder nicht. In Lagern in Oberösterreich und Metz wird Gertrud Kantor zur Luftwaffenhelferin ausgebildet und danach an einer Leitstelle für die Luftraumkontrolle in der Normandie eingesetzt. So machten wir uns voller Erwartung auf den Weg ins Ungewisse. Erst mit der Bahn, dann mit einem alten, rumpeligen französischen Autobus bis zur Endstation. Von dort mussten wir noch ein gutes Stück zu Fuß marschieren, bis wir an Ort und Stelle waren. Diesmal war es ein sehr großes Lager. Wie immer waren wir in größeren Schlafsälen untergebracht, wie immer ein Platz im Stockbett und ein Spind, wo man die ­wenigen Sachen, die man hatte, unterbringen konnte. 82

Ich frage mich heute oft, ob ich damals eigentlich Angst hatte. Wir waren ja schließlich in Feindesland, und die französische Untergrundbewegung war sehr rege. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich damals keine Angst. Die kam erst viel später. Die Unbekümmertheit der Jugend machte viel aus. Da man ja immer mit vielen zusammen war, kam ein Angstgefühl gar nicht auf. Man fühlte sich doch durch die große Gemeinschaft irgendwie beschützt. Das Lager war sehr großzügig angelegt. Es gab eine Kantine, wo man nach Dienstschluss hingehen konnte. Es war auch eine Bühne vorhanden, wo Theater gespielt wurde; genug Jugend­liche fanden sich zu einer Laiengruppe zusammen. Die Kostüme der Schauspieler wurden von uns allen mit der Hand genäht, denn Nähmaschine hatten wir keine. Da auch einige ein Instrument spielten, wurden Konzerte veranstaltet. Eine Gruppe spielte modern, die andere hatte sich auf Kammermusik verlegt, so gab es für jeden etwas. Wir hatten auch eine eigene Lagerzeitung, die von den Soldaten herausgegeben wurde, sodass man immer informiert war, was am Abend gespielt wurde. Das alles durfte aber nur in unserer Freizeit gemacht werden. In der Mitte des Lagers war die größte Baracke, und dort war das Kernstück, die Leitstelle. Als ich das erste Mal in der Leitstelle zum Dienst eingeteilt wurde, sah alles sehr verwirrend für mich aus. An den Wänden gab es große Kartentafeln, wo die Offiziere ihren Dienst versahen und von wo aus alle Meldungen hinausgingen oder hereinkamen. An den Seiten waren Kojen, und in jeder einzelnen Koje saß eine Helferin. Ich hatte einen kleinen Tisch mit einer Karte, die in lauter Planquadrate eingeteilt war, und ein Telefon und eine Küstenstelle an der Strippe, wie man damals sagte. Wenn ein feindlicher Einflug gemeldet wurde, musste ich auf meiner Karte genau den Weg einzeichnen, den die Flugzeuge nahmen, und weitergeben, sodass in der Heimat rechtzeitig Vor83

alarm gegeben werden konnte. Dies ging von einer Leitstelle zur anderen, so war der ganze Luftraum überwacht. Die ersten Tage waren furchtbar für mich. Ich war sehr aufgeregt, ja keinen Fehler zu machen, denn das hätte sicher böse Folgen für mich gehabt. Aber mit der Zeit wurde auch diese Tätigkeit zur Routine. Es gab Tage, da war der Luftraum ganz ruhig. Aber wehe, wenn ein Feindeinflug gemeldet wurde, da überstürzten sich die Ereignisse, und es ging wie in einem Bienenhaus zu. Dies übertrug sich auch auf uns Helferinnen. Hatten wir Nachtdienst, und es war Ruhe, durften wir in einem Nebenraum auf einer Pritsche liegen und – wer konnte – ein bisschen schlafen. In voller Kleidung, sodass man bei Alarm sofort wieder einsatzfähig war. Der Nachtdienst war das Unangenehmste, denn so bequem wie in einem Bett war es natürlich nicht. Nach dem Nachtdienst hatten wir eineinhalb Tage frei, dann von Mittag bis Abend Dienst und die Nacht frei, und erst wieder von Morgen bis Mittag Dienst, dann wieder eineinhalb Tage frei bis zum nächsten Nachtdienst. So waren die Tage sehr ausgefüllt. Nach dem Nachtdienst schlief man meistens bis zum Mittagessen, dann ging man in die Kantine zum Essen. Essen gab es in zwei Schichten. Die Zeiten mussten genau eingehalten werden. Am Nachmittag ging man gerne ins Dorf, um kleine Einkäufe zu tätigen und vor allem, um dem Lagerleben ein bisschen zu entrinnen. Der Weg ins Dorf war zwar weit, aber das machte uns nichts aus. Aus Sicherheitsgründen durften wir nur zu zweit oder noch besser zu dritt gehen. So vergingen die Monate im Lager recht abwechslungsreich. Man verlor fast jede Zeitrechnung und lebte hier sehr ruhig und sorglos dahin, aber dies sollte sich schnell ändern. Eines Nachmittags, ich hatte gerade Dienst, gab es plötzlich Alarm, und einige feindliche Flieger flogen im Tiefflug über unser bis jetzt so ruhiges Lager und schossen mit ihren Bordkanonen, was das Zeug hielt. Ich legte meinen Kopf in 84

meine Arme und dachte: „Jetzt hat deine letzte Stunde geschlagen.“ Es ging ununterbrochen tak, tak, tak. Alles ging so schnell, dass man wie gelähmt vor Angst sich nicht von der Stelle rührte. Man durfte während eines Angriffes die Stellung nicht verlassen. Ein Mädchen – nur ein paar Meter von mir entfernt – wurde von einer Kugel in den Oberschenkel getroffen und im Geschosshagel, denn die Flieger kamen immer wieder, zur Sanität gebracht. Seit dieser Zeit hatten wir keine ruhige Minute mehr und immer Angst vor einem neuerlichen Angriff. Ein paar Tage später gab es wieder Alarm, und zwei feindliche Flieger flogen über unser Lager. Aber sie drehten wieder ab. Seit dem ersten Angriff hatte ich panische Angst, und mit meiner Unbekümmertheit war es endgültig vorbei. Wenn ich nur ein Flugzeug in der Ferne hörte, fing ich vor lauter Angst zu zittern an. Wenn ich keinen Dienst hatte und mich im Schlafsaal befand, wenn es Alarm gab, mussten wir uns, so gut es ging, selbst schützen, denn Luftschutzkeller gab es keine. Ich kroch meistens unter das Stockbett, ohne zu denken, dass dies absolut kein Schutz gegen Bordkanonen oder Bomben gewesen wäre. Ich muss sagen: Obwohl wir noch einmal von feindlichen Fliegern angegriffen wurden, hatte ich immer das unwahrscheinliche Glück, weder von Splittern noch Geschossen getroffen worden zu sein. Ich muss einen besonderen Schutzengel gehabt haben. Aber die Angst ließ mich nie mehr los und wurde mein ständiger Begleiter. Hatte ich Dienst und bekam die Meldung „Feindeinflug“, dann brach mir schon der Angstschweiß aus, und ich konnte mich nur mit Mühe auf meine Arbeit konzentrieren. Den anderen Mädchen ging es auch nicht besser. Ab diesem Zeitpunkt gab es weder Theateraufführungen noch Konzerte. Es hatte auch niemand Lust, in die Kantine zu gehen, da man immer befürchten musste, dass es wieder einen Angriff gab. Seit diesen Luftangriffen konnte man eine 85

ganz eigenartige Spannung im Lager registrieren. Alles wurde verschärft, die Ausgänge fast zur Gänze gestrichen, und wenn man doch einmal ins Dorf wollte, so musste man in Begleitung eines Soldaten gehen. Kam man ins Dorf, so lag es ziemlich verlassen da. Man spürte fast körperlich die Feindseligkeiten. Man trachtete, so schnell wie möglich wieder ins Lager zurückzukommen, das einen wie eine schützende Mauer umfing, obwohl dieser Schutz auch nicht mehr gewährleistet war. Ruhe hatte man keine mehr. Jede Minute konnte man erneut mit einem Luftangriff rechnen, und man wusste nie, ob es einen nicht auch einmal treffen würde. Es gab Gerüchte, dass wir Mädchen verlegt werden sollten, aber Genaueres wusste niemand. Nach einigen Tagen war es dann wirklich so weit, dass wir innerhalb kurzer Zeit zum Abmarsch bereit sein mussten. In den ohnehin sehr begrenzten Räumen herrschte das reinste Chaos, da die 150 Mädchen gleichzeitig zusammenpacken mussten. Wir hatten ja alle nicht sehr viel an persönlichen Dingen, aber einen Koffer hatte doch jede von uns. So wurden wir auf große Lastwagen verfrachtet und aus dem Lager hinausgefahren, das uns doch für einige Monate unsere Heimat ersetzt hatte. Wo fuhren wir hin? Das wussten wir nicht. Wir waren ja im Grund nur Schachfiguren, die man beliebig hin und her schieben konnte. Der Einsatzort, an den Gertrud Kantor verlegt wurde, war ein weiteres Lager in der Normandie. So begann das Jahr 1944. Die Feindeinflüge wurden immer zahlreicher und die Verluste immer größer. In den Baracken hatten wir kein Radio, das gab es nur in der Kantine, und da hörte man die Sondermeldungen, alles andere wurde abgedreht. Gerüchteweise erfuhren wir von den schweren Verlusten, die wir erlitten. Aber laut wagte niemand darüber zu reden. Wir zeichneten brav die Feindeinflüge auf unsere 86

Glastafeln und gaben sie an die Heimat weiter, um wenigstens unsere Angehörigen, die in der Heimat ihr karges Leben fristen mussten, rechtzeitig vor den Bomben zu warnen. Hier in diesem Lager hatten wir vorläufig unsere Ruhe. Aber die Angst steckte in uns allen tief drinnen, und man lebte immer in einer gewissen Spannung. Jedes ungewohnte Geräusch ließ einen sofort horchen. Die Wochen vergingen im täglichen Einerlei von Dienst und Freizeit und wieder Dienst. Das Lager verließen wir überhaupt nicht mehr. So verging der Frühling, und der Sommer hielt langsam seinen Einzug. Eines Nachts im Juni 1944 wurden wir durch Alarm sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen. Sofort dachte ich, es gebe Fliegeralarm, aber unsere Heimleiterin ging von Zimmer zu Zimmer und rief uns zu, in einer Stunde müssten wir mit unserem gesamten Gepäck vor der Baracke zum Abmarsch bereitstehen. Wenn man plötzlich in der Nacht so unsanft aus dem Schlaf gerissen wird, alles zusammenpacken soll, alle sich gegenseitig im Wege stehen, man nicht weiß, was denn eigentlich los ist und warum man dieses Lager überhaupt verlassen muss, scheint alles unwirklich und unheimlich. Wir stellten uns in Reih und Glied, denn Disziplin musste ja sein. Die Lastautos standen schon bereit, und wir kletterten auf die unbequemen Sitze hinauf, die eigentlich für Lasten und nicht für Menschenfracht bestimmt waren. Wieder verließen wir ein Lager und fuhren einige Zeit, bis wir außerhalb eines Bahnhofes Halt machten. Weit und breit war kein Zug zu sehen, nur ein Güterzug stand auf den Gleisen. Wir kletterten von den Wagen herunter, und man teilte uns eine Marschverpflegung zu. Es gab „Bims“, wie man das Brot nannte, da es meistens nach drei Tagen steinhart war. Einige Konserven vervollständigten unsere Mahlzeiten. Nach der Größe der Marschverpflegung ahnten wir, dass es eine längere Fahrt werden würde. 87

Nachdem wir die Verpflegung erhalten hatten, mussten je 20 Mädchen in einen Güterzug einsteigen. In der Mitte des Waggons hatte man Stroh aufgehäuft. Sollte das unser neues Zuhause sein? Unsere Stimmung war auch dementsprechend schlecht: unausgeschlafen und nicht wissend, was der Grund unserer – man kann sagen – „Flucht“ war, denn es sah ganz danach aus. Als wir, so gut es ging, einen Platz im Stroh fanden, fing es schon langsam an zu dämmern. Als sich der Zug dann endlich in Bewegung setzte, war es bereits früher Morgen. An Schlafen war nicht zu denken. Man döste nur so dahin, und nur ein einziger Gedanke beschäftigte alle: Wohin fuhren wir? Was hatte man mit uns vor? Eintönig ratterte der Zug dahin, um nach einiger Zeit plötzlich auf freier Strecke zu halten. Wir glaubten, es gäbe Fliegeralarm, aber alles blieb ruhig. Neugierig schauten wir hinaus und hofften, dass wir den Zug verlassen könnten, um uns wenigstens ein bisschen frisch machen zu können. Aber wir durften die Waggons nicht verlassen. Nur ein paar Soldaten, die für unsere Sicherheit sorgten, gingen den Zug entlang. Außer Wiesen und Feldern war nichts zu sehen, und nach einiger Zeit fuhr der Zug wieder weiter. Müde, unausgeschlafen und ungewaschen hockten wir im Stroh, und wenn der Zug hielt, brannte die Sonne unbarmherzig auf das Dach nieder. Mir fiel auf, dass der Zug immer nur auf freier Strecke stehen blieb, wo es außer Feldern nichts zu sehen gab. Schon lange sprachen wir nicht. Jede war mit sich selbst beschäftigt. Was sollte man auch reden? Die Frage nach dem Wohin konnte oder wollte niemand beantworten. Langsam waren wir der Verzweiflung nahe. Im Waggon war es kaum auszuhalten vor lauter Hitze. Meine einzige Vertraute fragte ich: „Glaubst du, wir werden nach Russland versetzt?“ Sie sagte nur: „Alles ist möglich!“ Sie wusste ja schließlich auch nicht mehr als ich selber. 88

Einem Mädchen ging es gar nicht gut. Sie klagte über Übelkeit und starke Kopfschmerzen. Wir konnten nichts für sie tun, da wir keine Medikamente hatten. Sie muss auch hohes Fieber gehabt haben, denn ihre Stirn fühlte sich sehr heiß an. Wir hatten schon jedes Zeitgefühl verloren, als der Zug endlich wieder einmal stehen blieb. Es war auch schon höchste Zeit, denn unserer Kranken ging es sehr schlecht. Wir standen daneben und konnten nichts tun, als ihr den Schweiß von der Stirne zu wischen. Als Soldaten den Zug entlang gingen, riefen wir ihnen zu, dass wir eine Kranke hier liegen hätten, der es sehr schlecht zu gehen schien. Es dauerte sehr lange, bis ein Sanitätswagen kam und unsere Kameradin in ein Krankenhaus brachte. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Wir selber durften aber den Zug nicht verlassen. Nachdem unsere Kranke weggebracht worden war, fuhr der Zug wieder an. Stunden fuhren wir dahin, um dann bei einem kleinen Bahnhof stehen zu bleiben; und da gab es einen Brunnen. Endlich durften wir waggonweise aussteigen, um uns notdürftig zu erfrischen. Es war auch höchst notwendig, denn unsere Kleidung klebte uns am Körper. Aus lauter Freude, Wasser zu haben, spritzten wir uns gegenseitig an, bis auch unsere Kleidung ganz nass war. Es dauerte einige Zeit, bis der ganze Zug durch war, dann mussten wir wieder in die Waggons einsteigen, und wir fuhren weiter einer ungewissen Zukunft entgegen. Fünf Tage waren wir bereits unterwegs, als der Zug in der darauf folgenden Nacht in einer Stadt stehen blieb und es hieß: „Alles aussteigen!“ Von dem vielen Sitzen waren meine Beine wie Gummi, und ich musste mich erst ein bisschen aufrappeln, um wieder einigermaßen gehen zu können. Wir gingen durch einige Gassen, um dann vor einem dunklen, mächtigen Gebäude stehen zu bleiben. Viel sah man ja nicht, da es wegen der Verdunkelung sehr finster war, aber so viel konnte man schon erkennen, 89

dass es sich um eine Burg handeln musste. Es gab dicke Mauern, und alles sah sehr düster und nicht gerade einladend aus. Aber diese tagelange und qualvolle Fahrt und die Übermüdung hatten uns so zugesetzt, dass mir alles egal war. Ich war nur von dem Wunsch beseelt, mich endlich einmal gründlich waschen und ausschlafen zu können. Es dauerte aber noch etwas, bis 150 Mädchen untergebracht waren. Wir mussten noch unsere Betten beziehen, um dann todmüde hineinzufallen. Drei Tage gab man uns Zeit, um uns etwas von den Strapazen zu erholen. Wir erfuhren, dass wir in Oberschlesien, in Liegnitz, gelandet waren und als Funker ausgebildet werden sollten. Ich konnte es nicht glauben, dass ich zur Funkerin ausgebildet werden sollte, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Auch hörten wir, dass am 6. Juni die Invasion an der ­Kanalküste stattgefunden hatte und es schwerste Kämpfe gab. Darum hatten wir unser Lager so schnell verlassen müssen. Einige Räume der Burg wurden als Lehrzimmer umfunk­ tioniert, und nach ein paar Tagen hatten wir schon den ersten Unterricht. Ein Funkausbildner sollte uns in das Morsealphabet einführen. Wir waren alle zwischen 19 und 24 Jahren alt, aber schon weit voraus. Unsere Unbekümmertheit hatten wir schon lange verloren. Durch die vergangenen Ereignisse waren wir müde und ausgelaugt. Unser Eifer im Unterricht war darum nicht gerade groß. Das Ziel erreichte niemand, da der Krieg vorher zu Ende war. Aber ich will nicht vorgreifen. Trotz strengster Geheimhaltung sickerten die Gerüchte doch durch, wie es in Wirklichkeit aussah: Die Ostfront rückte immer näher. Ich dachte mir nur: „Hier bin ich am Ende angelangt, meine Eltern sehe ich nie wieder.“ Der Lehrstoff war sehr gedrängt. Vormittag hatten wir Unterricht, und am Nachmittag gab es viel zu lernen, damit wir die Punkte und Striche der Morsezeichen auch gut im 90

Gedächtnis behielten. Eines wussten wir: In ein paar Wochen war Funken nicht zu erlernen. Freizeit hatten wir nur am Abend, und da saßen wir nur in unseren Schlafsälen. Ausgang hatte man nur mit Passierschein und in Begleitung von zwei Soldaten, da die Lage für weibliche Wehrmachtsangehörige viel zu gefährlich geworden war. So blieben wir meistens in unserer alten, düsteren Burg, die alles andere als Gemütlichkeit ausstrahlte. Da waren ja die Barackenlager noch besser gewesen, vor allem heller. Aber wir waren ja schon mit allem zufrieden. Es hätte auch nichts geändert. Es wurde Herbst und die Lage immer trister. Allmählich näherten wir uns Weihnachten 1944. Von zu Hause hatte ich schon länger keine Post erhalten. Die Feldpostbriefe waren oft lange unterwegs. Aber ich wusste genau, dass meine Mutter viel an mich dachte und sich große Sorgen um mich machte, mir aber nicht helfen konnte. So wurde es Weihnachten, wohl die traurigsten in den ganzen Kriegsjahren. Wir waren eine Schar junger Mädchen, die möglicherweise an der Endsta­ tion des Lebens angelangt war. Urlaub bekam niemand. Wir machten uns keine Illusionen, dass wir hier auf verlorenem Posten standen und dass der Krieg endgültig verloren war. Aber laut wagte keiner etwas zu sagen. Auf Wehrkraftzersetzung stand Todesstrafe. Der Unterricht ging weiter, als wenn tiefster Frieden herrschen würde. Es ging sehr schleppend, denn die meisten hatten nicht das richtige Gehör. Noch dazu war es ein sehr strenger und kalter Winter. Wir froren ganz gehörig, denn die Burgräume waren schwer zu heizen, und wir mussten auch sehr sparen. Abends gingen wir immer sehr zeitig zu Bett und deckten uns mit allem zu, was wir hatten, zuletzt mit dem Uniformmantel. Aber viel wärmer war uns damit auch nicht. Den Heiligen Abend verbrachten wir im Schlafsaal. Was anderes hatten wir ja nicht. Es gab eine kleine zusätzliche Es91

sensration, damit man wusste, dass Weihnachten war. Hunger hatte niemand. Alle hingen ihren traurigen Gedanken nach, und am liebsten hätten wir geheult. Aber wir mussten ja tapfer sein. Die beiden anderen Weihnachtsfeiertage vergingen nicht besser, und wir waren froh, dass wir wieder Unterricht hatten, um nicht weiter denken zu müssen. Zwei Tage vor Silvester fühlte ich mich nicht besonders gut. Ich fror entsetzlich, etwas Halsschmerzen hatte ich auch, und ich dachte mir: „Sicher habe ich eine Grippe erwischt, kein Wunder bei dieser Kälte.“ Ich ging nicht gerne zum Unterricht, aber krank sein wollte ich auch nicht. So schleppte ich mich dahin, war nicht gerade krank, aber auch nicht gesund. Am Silvesterabend um Mitternacht sollte Adolf Hitler eine Rede halten. Im Unterrichtszimmer wurde ein Radio aufgestellt, und wir mussten uns alle dort versammeln, um die Rede gemeinsam anzuhören. Als die Rede vorüber war, hatte das Schicksalsjahr 1945 begonnen. Am 1. Jänner hatte ich Fieber, und ich konnte nicht mehr aufstehen, da mir sehr übel war. Es wurde die Heimleiterin geholt, und die sagte, ich dürfe nicht im Schlafsaal bleiben. Kein Bitten half, ich musste in die Krankenstube übersiedeln, und es wurde nach einem Arzt gerufen. Da lag ich nun alleine, und mich überkam das heulende Elend. Alle vergangenen Geschehnisse weinte ich mir von der Seele. Angst hatte ich ja auch, da die Ostfront immer näher rückte. Nach einiger Zeit kam ein Luftwaffenarzt und sagte, er wäre nicht ganz sicher, aber er vermute, dass ich an Scharlach erkrankt sei. Wo ich mir als einziges Mädchen diese Krankheit geholt hatte, ist mir unerklärlich geblieben. Am Abend kam der Arzt noch einmal und sagte, jetzt könne man die Merkmale deutlich erkennen, es sei Scharlach und ich müsse ins Krankenhaus. Hier dürfe ich wegen der Infektionsgefahr nicht bleiben. So wurde ich am 3. Jänner in das Liegnitzer Krankenhaus eingeliefert. Da lag ich nun in einem schönen, weißen und lang entbehrten Bett. Eine junge Bäuerin aus der Umgebung von Lieg92

nitz hatte vor einer Woche einen Knaben geboren und lag nun mit der gleichen Krankheit mit mir zusammen. Von ihr erfuhr ich dann, dass die russische Armee schon bedenklich nahe an Liegnitz herangekommen wäre. Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen und dachte mir, all die Jahre wäre ich gut davongekommen, aber hier ereile mich das Ende. Entweder komme ich in Gefangenschaft oder in ein Lager, um dort schwer zu arbeiten. Nach ein paar Tagen, die ich im Krankenhaus verbracht hatte, kam eine Schwester zu mir und sagte, ich solle aufstehen, da ich Besuch bekommen habe. Sie führte mich in ein Zimmer mit einem Guckfenster, wo ich durch ein Gitter sprechen konnte. Es war meine Kameradin, die im Stockbett über mir geschlafen hatte. Sie sagte: „Ich bringe dir deinen Koffer, denn wir werden nach Berlin verlegt.“ Durch die Tür schob sie mir meinen Koffer herein. Sie verabschiedete sich von mir und sagte, sie müsse gehen, da das Lastauto unten beim Tor auf sie warte. Ich war total fertig. Ließ man mich hier alleine zurück? Ich nahm meinen Koffer, ging vollkommen verstört in mein Zimmer zurück und konnte es einfach nicht fassen, dass mich alle, nach so vielen gemeinsamen Jahren, einfach meinem Schicksal überlassen hatten. Meine Nachbarin tröstete mich. Noch dazu konnte man schon in der Ferne einen roten Himmel beobachten und ein Geräusch wie fernes Donnergrollen, von den Geschützen. So nah war die Front schon herangerückt. Die ganze Nacht konnte ich vor Aufregung nicht schlafen, weil ich als einzige Luftnachrichtenhelferin zurückbleiben musste. Zwei Tage später ging der Chefarzt des Krankenhauses durch alle Zimmer und sagte: „Wer will, kann das Krankenhaus verlassen, da es freigegeben wird.“ Sofort meldete ich mich. Er fragte mich noch, von wo ich herkomme. Ich sagte ihm: „Aus Wien.“ Ich solle mich fertig machen und mir dann die nötigen Papiere abholen. Ich verabschiedete mich 93

von meiner Bettnachbarin, die mir viel Glück wünschte und meinte, dass sie hier bleiben würde. Sie sei hier geboren und hätte einen Bauernhof und zu Hause noch zwei Kinder und jetzt das Neugeborene. Wohin sollten sie auch gehen? Sie gab mir etwas Brot und ein bisschen Wurst, die ihr Mann gebracht hatte. Sie wünschte mir viel Glück auf meinem Weg und bat mich, manchmal an sie zu denken. Ich holte meinen Koffer und meine Entlassungspapiere. Auch der Chefarzt wünschte mir viel Glück. Das konnte ich gebrauchen. Langsam ging ich nun durch den Krankenhauspark. Ich fror ganz entsetzlich, da ich ja nur das dünne Kostüm anhatte und auch der Mantel keinen ausreichenden Schutz gegen die Kälte bot. Eigentlich solle ich ja noch im Bett liegen, aber mein einziger Gedanke war: „Nur heim zu meiner Mutter!“ Als ich beim Tor hinauswollte, sah ich eine unübersehbare Menschenmenge, die sich im Schritttempo fortbewegte. Man sah Pferdegespanne, die das gesamte Hab und Gut mitnahmen, und obenauf saßen alte Leute oder Kinder, die wegen der großen Kälte ganz vermummt waren. Ich zwängte mich in die Menschenschlange hinein und hielt krampfhaft meinen Koffer in der Hand, als wenn er mir Halt geben würde. So einen Flüchtlingstreck habe ich mir vorher nicht vorstellen können. Die Menge drängte sich dicht aneinander, sodass keine Handbreit frei war. Alles flüchtete in Richtung Westen. Niemand wollte den Russen in die Hände fallen. Ich wusste, es gab einen Militärflughafen, und dorthin wollte ich. Aber es dauerte längere Zeit, da es einfach kein Fortkommen gab. Als ich den Flughafen erreichte, herrschte dort reges Treiben. Er bestand ja nur aus ein paar Holzbaracken und einer Landebahn, wo einige Transportmaschinen standen. Ich ging in eine der Baracken hinein und stand einem Leutnant der Luftwaffe gegenüber. Er sah mich ganz entgeistert an und fragte, wo ich denn herkäme, da die Luftwaffenhelferinnen ja schon längst evakuiert worden seien. Ich sagte ihm, dass ich aus 94

dem Krankenhaus käme. Wohlweislich verschwieg ich, dass ich noch immer Scharlach hatte. Ich fragte ihn, ob ich nicht ausgeflogen werden könne. Die Antwort höre ich noch heute: „Wir fliegen nur kriegswichtiges Material aus, da kann niemand mitfliegen.“ Welch ein naiver Gedanke von mir. Was war schon eine kleine Luftwaffenhelferin? Sollte das jetzt das Ende sein? Ich ging wieder hinaus, und vor den Baracken standen einige Lastautos, die hoch mit Ballen bepackt waren, und oben saßen ein paar Soldaten, die mich ansahen, als käme ich von einem anderen Stern: „Ja, eine Luftwaffenhelferin! Wo kommst du denn her?“ Wieder sagte ich mein Sprüchlein, dass ich aus dem Krankenhaus entlassen worden wäre und nach Hause auf Genesungsurlaub fahren dürfe. Ob ich konnte, das war eine andere Frage. „Ja, und wohin willst du?“ Ich sagte: „Nach Wien.“ – „Das ist aber ein weiter Weg. Nun, nach Wien fahren wir nicht. Aber wenn du willst, kannst du mit uns bis nach Görlitz fahren, wo wir einen Volkssturm bilden müssen. Wir lassen doch eine Luftwaffenhelferin nicht im Stich und nicht alleine zurück.“ Ein Soldat stieg von seiner Höhe herab und legte eine Leiter an, denn anders wäre ich nie auf den Wagen hinaufgekommen. „Den Koffer musst du stehen lassen, da ist kein Platz mehr.“ So stieg ich nun die Leiter hinauf. In der Mitte hatte man eine Grube gemacht, damit für die Beine Platz war. Man gab mir eine große Decke, die ich mir umhängen musste. Ich wäre sonst bestimmt erfroren, denn die Temperatur betrug damals 20 Grad minus. Nun saß ich da oben auf dem Wagen und sah auf meinen Koffer herab, der mich so viele Jahre begleitet hatte. Das sah ein Soldat. Der stieg noch einmal herunter vom Wagen und holte meinen Koffer und meinte, dass es auf den auch nicht mehr ankäme. Wir stellten unsere Füße darauf. Dann mussten wir uns gut einhängen, um nicht von dieser 95

luftigen Höhe herunterzufallen. Der Wagen schwankte bedenklich, hoch bepackt, wie er war. Die Decke war sicher meine Rettung. Wir wickelten uns alle gut ein, denn es wehte ein eisiger Wind. Wenn mir die Decke wegrutschte, hatte ich das Gefühl, als ob ich Papier angehabt hätte. Endlich fuhren wir an, und die Wagen versuchten auf die einzige Straße, die es gab, zu kommen. Aber es war ein schweres Unterfangen, da die Straßen von Menschen überquollen und die Wagen sich nur im Schritttempo bewegen konnten. Ich dachte mir: „Hoffentlich holt uns der Russe nicht ein, dann wäre alles vergeblich gewesen.“ Teilweise standen wir lange Zeit. Wir wussten nicht warum. Die Pferde konnten oft nicht weiter, und so manches Tier lag im Straßengraben und war erfroren. Einmal hieß es auch: „Alles weg von der Straße!“, und wir landeten in einer Wiese. Es war furchtbar. Jeden Moment glaubte ich, dass wir vom Wagen heruntergeschleudert werden würden. Eine Panzerkompanie der Waffen-SS fuhr in Richtung Osten, um die russische Armee aufzuhalten, aber es gab nichts mehr zum Aufhalten. Für diese Strecke brauchten wir einen Tag und fast eine Nacht; dass wir das alles heil überstanden haben, grenzt an ein Wunder. Ich hatte kein Gefühl mehr, spürte weder Kälte noch Hunger. Ob ich wieder Fieber hatte? Auch das spürte ich nicht, dazu war es zu kalt. Seit Stunden hatten wir weder gegessen noch getrunken. Ich hatte meinen kleinen Vorrat gleich mit den Soldaten geteilt. Ohne sie wäre ich sicher schon in Gefangenschaft geraten, denn eine andere Kleidung als meine Uniform hatte ich nicht. Als wir in Görlitz ankamen, sah es auch nicht besser aus als dort, wo wir herkamen. Menschen aus der ganzen Umgebung waren auf der Flucht. Man sagte mir, ein Zug solle noch kommen, aber das sei der letzte. Man kann sich ja vorstellen, dass diesen alle erreichen wollten. 96

Nun hielten die Wagen, und wir stiegen mit Hilfe einer Leiter wieder von der Höhe herunter, und die Soldaten sagten noch: „Mädel, schau, dass du gut nach Hause kommst. Wir können das von uns nicht sagen.“ So nahm ich nun meinen Koffer und versuchte, zum Bahnhof durchzukommen. Immer wieder dasselbe Bild: Menschen über Menschen. Manche lagen schon Tage im Bahnhofsgebäude mit der Hoffnung, noch den letzten Zug zu erreichen. Auf den Stufen und Bahnsteigen, überall standen oder lagen Menschen, um die letzte Fluchtmöglichkeit zu nutzen. Als ich mich zum Bahnsteig durchgearbeitet hatte, setzte ich mich auf meinen Koffer und wartete mit den anderen. Kommt wirklich noch ein Zug? Angeblich sollte ein Zug aus Richtung Berlin kommen, aber der hatte schon einige Stunden Verspätung durch Fliegeralarm. Wenn ich mir die Menschenmassen ansah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass wir alle genug Platz finden würden, denn leer würde der Zug sicher nicht kommen. Die Verspätung war ja meine Rettung. Wäre der Zug früher gekommen, hätte ich mich nur mehr zu Fuß auf den Weg machen können. Ob ich da rechtzeitig davongekommen wäre? Niemand wusste etwas Genaues, Kinder weinten – sicher aus Hunger –, und die anderen saßen in ihr Schicksal ergeben da. Die meisten waren so eingewickelt, dass nur die Augen frei waren. Die Kälte machte das Warten noch schlimmer. Plötzlich gab es Unruhe, und Bewegung entstand. Auch ich stand von meinem Koffer auf. Und wirklich, aus der Ferne näherte sich ein Zug. Aber bevor er noch hielt, sah man, dass dieser Zug bereits mehr als voll war. Der Zug stand noch nicht richtig still, als sich die Menge wie auf ein Kommando auf die Waggons stürzte. Ich dachte mir: „Jetzt fällt der Zug um, denn diesem Ansturm kann er nicht standhalten.“ 97

Unbeschreibliche Szenen spielten sich ab, um einen Platz im Zug zu erreichen. Die Verzweiflung trieb die Menschen zu ungeahnten Kräften an, und es gab wahre Kämpfe vor den Eingängen. Ich stand da und wollte mich von der Menge nicht erdrücken lassen. Ich hätte auch nicht die Kraft gehabt, mich gegen diesen Ansturm zu wehren. Ich konnte es ja verstehen, denn dieser Zug war für alle die letzte Hoffnung. Aber wieder hatte ich Glück. Oder einen Schutzengel? Wie man es auch nennen will. Im Waggon waren einige Soldaten, die schon mit dem Zug mitgekommen waren. Als ich so gottergeben dastand, winkten sie mir aufgeregt zu, dass sie mich beim Fenster hinaufziehen würden: „Wir lassen dich doch nicht hier alleine zurück.“ Meine Uniform war jetzt doch meine Rettung. Ich hob meine Arme, und sie zogen mich durch das Fenster in den Waggon hinein. Meinen Koffer ließ ich stehen. Was sind schon ein paar Kleidungsstücke? Meine Umhängetasche mit meinen sämtlichen Papieren hatte ich um den Hals gehängt. Wir waren wie die Heringe geschlichtet, aber ich war in Sicherheit. Es gab keine Fenster und Türen. Alles war samt den Rahmen herausgerissen, und es zog wie in einem Vogelhaus. Als der Zug anfuhr, hob ein ungeheures Schreien an, von denen, die zurückbleiben mussten. Viele rannten noch dem Zug mit erhobenen Händen nach, um dann in ein verzweifeltes Weinen auszubrechen. Dieses Elend mit ansehen zu müssen, war furchtbar. Aber man war bereits so abgehärtet und froh, selbst das Glück und einen Rettungsanker zu haben. Zu dieser Zeit soll Liegnitz, wo ich herkam, schon unter heftigem Beschuss gewesen sein. Der Zug fuhr nach Westen. Wohin? Ich wusste es nicht – nur fort, so weit es ging! Aber auch dieser Zug konnte nicht ruhig dahinfahren. Nach einiger Zeit gab es Fliegeralarm, und als der Zug stehen blieb, stürzte alles aus dem Zug, um in Deckung zu gehen. Gut, dass ich keinen Koffer mehr bei 98

mir hatte. So war ich wenigstens ungebunden, denn nach der Entwarnung rannte alles, so schnell es ging, in den Zug, um wieder einen Platz zu erwischen. Meine Uniform hatte keine Ähnlichkeit mehr mit meinem grauen Luftwaffenkostüm: schmutzig, fleckig und teilweise nass. Tagelang hatte ich mich schon nicht gewaschen; ich sah geradeso heruntergekommen aus wie alle anderen. Mein ganzer Besitz bestand aus dem, was ich am Körper trug. Wieder fuhr der Zug an. Das einzig Gute war, man konnte nicht umfallen. Zwischen den Waggons, auf den Puffern und auf den Stufen saßen oder standen die Menschen und klammerten sich aneinander, um nicht vom fahrenden Zug herunterzufallen. Ich hatte einen Platz im Gang erwischt und konnte mich nicht einen Millimeter von der Stelle rühren, aber dafür spürte ich auch die Kälte nicht so stark. Man sagte mir, dass der Zug nach Prag unterwegs war. Mir war alles recht. Je weiter von Osten weg, umso besser. Wir fuhren und hielten und fuhren, um dann tatsächlich im Bahnhof von Prag stehen zu bleiben. Alles musste aussteigen, denn hier war für diesen Zug Endstation. Nach kurzer Zeit stand ich mutterseelenallein auf dem Bahnsteig, und ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Aber da sah ich schon die Wehrmachtspolizei – Kettenhunde genannt – auf mich zukommen. Ein bisschen Herzklopfen hatte ich schon, da ich ja wirklich alles andere als gepflegt aussah. Ich nahm meine Papiere heraus: Soldbuch und Entlassungspapiere aus dem Krankenhaus mit der Bescheinigung, nach Hause überwiesen zu werden. Sie schauten sich alles gründlich an. Mein Herzklopfen verstärkte sich etwas. Auch mich musterten sie eingehend, aber – ich atmete auf – sie gaben mir alles wieder zurück und sagten nur, ich solle das Bahnhofsgelände nicht verlassen. Ich hatte auch nicht die Absicht und fragte sie, ob es eine Möglichkeit gäbe, einen Zug in Richtung Wien zu bekommen. 99

Vielleicht in einigen Stunden von Berlin, aber es ist ganz ungewiss. Sie zeigten mir noch die Rotkreuzstation, wo ich einen Kaffee erhalten würde, und gingen wieder weiter, um nach einem anderen Opfer zu suchen. Nach Tagen bekam ich endlich etwas Warmes zu trinken, und dann hieß es halt warten. Warten war mir ja schon zur Gewohnheit geworden. Der ganze Bahnhof war menschenleer. Ich konnte mir nicht erklären, wo denn alle, die mit mir Prag erreicht hatten, hingekommen waren. Nur die Wehrmachtspolizei ging öfters die Bahnsteige entlang. Ich ging auf und ab, da ich ja so viele Stunden im Zug fast unbeweglich stehend zugebracht hatte. So war ich nun in der sogenannten Goldenen Stadt, aber ich sah nur das Innere des Bahnhofes. Ich wäre sowieso nicht hinausgegangen, denn ich wollte den Zug, der doch vielleicht einmal kommen sollte, auf gar keinen Fall versäumen. Heute frage ich mich, wie ich das alles ausgehalten und ertragen habe. Nur mein unbändiger Wille, nach Hause zu meiner Mutter zu kommen, hielt mich aufrecht. Auf dem Bahnhof stand kein einziger Zug, und kein Mensch war zu sehen. Nur ein Güterzug fuhr ein und blieb auf dem Bahnsteig stehen, wo ich gerade auf und ab ging. Es war ein Pferdetransport, denn bei der oberen Hälfte der Waggons sahen die Köpfe der Tiere heraus. Ich ging den Zug entlang. Bei einem der Waggons gingen die Schiebetüren auseinander, und ein paar Soldaten kamen heraus, um sich die Beine zu vertreten. Wieder hörte ich die gleichen Worte: „Ja, eine Luftwaffenhelferin! Wo kommst denn du her?“ Ich erwiderte, dass ich aus Liegnitz käme. Sie fragten mich noch, wo ich denn hinwolle. Ich sagte ihnen, dass ich nach Wien wolle, aber nicht wisse, wann und ob noch ein Zug kommen würde. Sie antworteten mir, dass sie nach Wien unterwegs wären, um die Pferde abzugeben. Aber es würde noch eine Weile dauern, da die Pferde mit Stroh versorgt werden mussten. 100

Sie boten mir an, mit ihnen mitzufahren. Ich würde mit ihnen sicher schneller nach Wien kommen als mit dem Zug, der vielleicht nie ankäme. Ich zögerte nicht lange, und sie halfen mir in den Waggon hinein, der zur Hälfte mit Pferden belegt und zur anderen Hälfte mit Stroh bedeckt war. Dort hatten sich die Soldaten ein Lager gemacht. Das Strohlager war mir ja nichts Fremdes. Ich hatte mich immer vor Pferden gefürchtet, wahrscheinlich ihrer Größe wegen, aber jetzt überwand ich auch diese Furcht. Ich machte es mir, so gut es ging, im Stroh bequem. Die Soldaten hatten sogar etwas zu essen. Der Hunger musste mir aus den Augen geschaut haben, denn sie drückten mir ein Stück Brot in die Hand, sogar ein bisschen Wurst, und ich aß nach Tagen mit großer Andacht diese Kostbarkeit. Nach dem Essen musste ich eingeschlafen sein. Ich merkte nicht, wie der Zug anfuhr, nicht die ganze lange Strecke von Prag nach Wien, die sicher dreimal so lange gedauert hatte wie zu normalen Zeiten. Als wir schon in Wien angekommen waren, schlief ich immer noch. Man kann sich ja vorstellen, wie lange es dauerte, den ganzen Zug von den Pferden zu entladen, und trotzdem schlief ich noch immer. Die Soldaten weckten mich vergeblich, ich rührte mich nicht. Da sie fürchteten, dass ich vielleicht krank sein könnte, holten sie einen Arzt, und der sagte, dies wäre ein Schlaf der totalen Erschöpfung. Aber hier konnten sie mich nicht liegen lassen, da ja die Waggons wieder verschoben wurden. Sie holten eine Tragbahre, hoben mich hinauf und trugen mich in einen Raum der Rotkreuzstation, legten mich auf ein Bett, und der Arzt ordnete an, mich schlafen zu lassen, bis ich von selber wieder aufwachen würde. Als ich aufwachte, sagte man mir, ich hätte mehr als 24 Stunden geschlafen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich zurechtfand, und ich konnte nicht glauben, dass ich wirklich zu Hause war. Ich sah ja zum Fürchten aus. Stroh hing 101

mir noch in den Haaren, und die Uniform war vollständig verschmutzt. Ich konnte mich nicht einmal bei den Soldaten bedanken, die so viel für mich getan hatten. Sie waren schon längst wieder in alle Windrichtungen zerstreut. Als ich mich beim Rotkreuzarzt bedankte und mich verabschiedete, fragte er mich, in welchem Bezirk ich denn zu Hause wäre. Ich antwortete: „In Döbling.“ Ich bat ihn, ob er mir nicht eine Mark leihen könnte, da ich keinen Pfennig besaß und weit mit der Straßenbahn zu fahren hatte. Im Soldbuch stand ja meine Adresse, und in ein paar Tagen würde ich ihm das Geld zurückbringen. Er sah mich nur an, gab mir eine Mark und schickte mich nach Hause. Ich fuhr nun mit der Straßenbahn nach Döbling hinaus. In der Silbergasse stieg ich aus und ging die Straße entlang. Bei dem kleinen Gasthaus stand der Wirt vor der Tür. Er kannte mich schon seit der Schulzeit und rief mir über die Straße zu: „Ja, wo kommst du denn her?“ Ich sagte nur: „Von weit.“ Er rief noch etwas hinter mir her, aber ich achtete nicht darauf, und nur ein Gedanke beherrschte mich – ob meine Mutter zu Hause sein würde? Vor dem Haus blieb ich einen Augenblick stehen. Es hatte sich nichts verändert. Nur ich selber war eine andere geworden. Ich stieg die Stufen zum zweiten Stock hinauf, läutete, hörte noch Schritte, die näher kamen, und dann wusste ich nichts mehr von mir. Meine Mutter öffnete die Tür, sah aber niemanden. Dann erst bemerkte sie mich, auf dem Boden liegend. Mit Hilfe einer Nachbarin trug sie mich ins Bett. Wieder wurde ein Arzt gerufen. Es war unser guter, alter Hausarzt. Zum Scharlach, den ich mir in Liegnitz geholt hatte, kamen noch eine doppelseitige Nierenentzündung und schwere Erschöpfung hinzu. Er sagte noch, dass ich eine eiserne Natur haben müsse, denn mit Scharlach bei dieser Kälte so lange unterwegs zu sein, wäre für die meisten tödlich ausgegangen. 102

Vor die Tür kam ein Schild: „Infektionsgefahr. Kein Eintritt!“ Er verordnete noch strenge Bettruhe und dass ich mich auf keinen Fall blicken lasse solle. Der Tag meiner Rückkehr war der 3. Februar 1945. Somit war diese Odyssee beendet, und eine andere fing an. Ich konnte es fast nicht glauben, dass ich wirklich alles gut überstanden hatte und zu Hause bei meiner Mutter war. Der Scharlach verursachte mir keine Schmerzen, aber an der Nierenentzündung hatte ich noch längere Zeit zu laborieren. Ende März mussten mir die Mandeln entfernt werden. Nach drei Tagen konnte meine Mutter mich wieder nach Hause holen, wo ich mich erholen sollte. Aber mit Ruhe und Erholung war es nicht weit her, denn es gab fast täglich Fliegeralarm. Wenn im Radio der Kuckuck* schrie, wollte ich vor lauter Panik in irgendeinen Luftschutzkeller rennen. Meine Mutter versicherte mir immer, dass wir noch Zeit hätten. Ich konnte das Vergangene nicht vergessen. Ich flehte meine Mutter immer wieder an, Wien zu verlassen. Die vielen Bombenangriffe zerrten so an meinen Nerven, dass ich vor lauter Angst halb verrückt wurde; aber noch größere Angst hatte ich vor russischer Besatzung. Eines Tages, als es wieder Alarm gab, gingen meine Mutter und ich in einen aufgelassenen Tunnel, wo wir vor den Bomben, die reichlich fielen, Schutz suchten. Als dann Entwarnung war und wir wieder in unsere Wohnung zurückwollten, sahen wir schon aus einiger Entfernung, dass unser Haus getroffen worden war. Das Stiegenhaus stand noch, aber die Wohnung war zerstört. Alles war mit dickem Ziegelstaub bedeckt. Jetzt standen wir da und wussten nicht weiter. Meine Mutter weinte und sagte: „Alles, was wir uns in all den Jahren mühsam erspart und aufgebaut haben, ist jetzt mit einem Schlag zunichte gemacht worden. Jetzt hält uns nichts mehr hier.“ Bei Nachbarn, deren Wohnung noch intakt war, fanden 103

wir vorerst Unterschlupf, aber eine Dauerlösung war es auch nicht. Meine Mutter war in einem Krankenhaus dienstverpflichtet, und aus diesem Krankenhaus wurden Schwerstverwundete aus Wien evakuiert. Meine Mutter versuchte, als Begleiterin eines dieser Transporte mit mir Wien zu verlassen. Nur der Hartnäckigkeit meiner Mutter war es zu verdanken, dass es eines Tages dann doch so weit war, dass wir mitgenommen wurden. Um vier Uhr morgens mussten wir uns beim Krankenhaus einfinden, wo schon die Verwundeten im Lastauto auf Matratzen gebettet waren. Sechs Frauen und zwei Kinder konnten am Rande der Ladefläche auf dem Boden Platz nehmen. Wir fuhren über Langenlois nach Zell am See. Es war auch schon höchste Zeit, denn die russische Armee kämpfte schon in Baden, und es gab nur mehr diesen einen Weg, um aus der Umklammerung herauszukommen. Diese Fahrt war ein einziger Horror. Bei jedem Ruck stöhnten die Verwundeten vor Schmerzen. Es gab keine ärztliche Betreuung. Wir Frauen halfen, so gut wir konnten. Viel konnten wir nicht tun. In der Nacht schliefen wir im Freien, und am frühen Morgen ging die Fahrt wieder weiter. Da die Wagen alle überbelegt waren, kamen wir nur sehr langsam vorwärts, und an manchen Stellen schaukelten wir ganz bedenklich. Die Verwundeten rutschten hin und her, was ihnen furchtbare Schmerzen verursacht haben musste. Es war schon schrecklich, dies mit ansehen zu müssen. Wenn ich meine Mutter nicht bei mir gehabt hätte, ich weiß nicht, ob ich auf dem Wagen geblieben wäre. Aber ihre Anwesenheit stärkte die Kraft, die ich noch hatte, alles auszuhalten. Sicher ging es meiner Mutter auch nicht besser, und sie hielt wegen mir durch. So spielten wir uns gegenseitig Stärke und Zuversicht vor. Acht Tage waren wir unterwegs, mit ganz wenig Ver­pflegung. Wir waren wie gerädert, als wir in Zell am See ankamen. Jetzt waren wir Heimatlose im eigenen Land geworden. 104

Ich wusste genau, dass meine Mutter es bereute, von Wien weggegangen zu sein. Auch ich machte mir im Stillen Vorwürfe, meine Mutter immer wieder überredet zu haben, von unserem Zuhause wegzugehen, auch wenn die Wohnung zerstört war. Vielleicht wäre dann vieles anders verlaufen. Aber nie habe ich von meiner Mutter einen Vorwurf gehört, obwohl die Zeit, die auf uns zukam, sicher sehr schwer war. In Zell am See war es verhältnismäßig ruhig. Durch das Rote Kreuz fanden wir in der Umgebung bei einem Bauern eine karge Unterkunft; aber wir hatten wenigstens ein Dach über dem Kopf und keine Luftangriffe. Für die Verpflegung mussten wir natürlich arbeiten. Anfang Mai war der Krieg endgültig vorbei, und Zell am See war von amerikanischen Truppen besetzt. Als nach einiger Zeit etwas Ruhe eingekehrt war, wollte ich versuchen, Arbeit zu finden. Ich war nicht kräftig genug. Von den Krankheiten, Entbehrungen und der unzureichenden Ernährung gezeichnet, war die Arbeit bei dem Bauern für mich zu anstrengend. Da alle Hotels und Gasthöfe von Amerikanern besetzt waren und es keine Arbeitsmöglichkeit auf privater Basis gab, versuchte ich, in einem Hotel Arbeit zu finden. Ich wurde aufgenommen und hatte Wäsche und Uniformen zu bügeln. Mit noch drei anderen Mädchen teilte ich ein kleines Zimmer. So bügelte ich von morgens bis abends. Es war auch nicht gerade leicht, aber doch besser als auf einem Bauernhof. Endlich gab es auch genug zum Essen. Wir erhielten die gleichen Essensrationen wie die amerikanischen Soldaten. Es gab alles, was wir jahrelang entbehrt hatten. Obst und Schokolade hob ich für meine Mutter auf, und sonntags, wenn ich nicht arbeiten musste, besuchte ich sie, die noch bei dem Bauern arbeitete, und brachte ihr alles, was ich nur irgendwie entbehren konnte. Sie brauchte es dringend, 105

denn es ging ihr gesundheitlich gar nicht gut. Aber wir hatten einfach keine andere Möglichkeit: keine Arbeit, kein Essen. Von meinem Vater und meinem Bruder wussten wir nichts. Wir hatten natürlich beim Nachbarn, bevor wir von Wien weggingen, Nachricht hinterlassen, falls unsere Angehörigen sich melden sollten. Wir waren ohne Hoffnung und ohne Ziel. Es war schon eine groteske Zeit. Ich war doch Jahre beim deutschen Militär gewesen, und jetzt musste ich bei unseren sogenannten Feinden um Arbeit bitten und war froh, mich endlich satt essen zu können. Mein Vater befand sich zu dieser Zeit in amerikanischer Gefangenschaft und mein Bruder in englischer. Dies erfuhr ich aber erst viele Monate später. Ich schreibe dies nieder, um vielleicht mehr Verständnis für meinen Fehltritt, wenn man es so nennen will, zu haben. Da wir große sprachliche Verständigungsschwierigkeiten hatten, mussten wir notgedrungen wenigstens die wichtigsten Wörter oder Sätze lernen. Mir selbst fiel es nicht schwer, da ich von Natur aus sprachbegabt bin. Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis ich mich so halbwegs verständigen konnte. Wenn man tagein und tagaus in einer verhältnismäßig kleinen Kammer steht und arbeitet, fühlt man sich schon sehr allein und einsam. Noch dazu beschränkte sich der Kontakt zu den anderen Mädchen nur auf die gemeinsame Arbeit. Meine Mutter sah ich nur einmal in der Woche, und wir versicherten uns gegenseitig, wie gut es uns ging. Es ging uns auch besser als vielen anderen. Ich hatte wenigstens mein regelmäßiges Essen, und das noch sehr reichlich. Ich konnte meiner Mutter immer etwas abgeben. Man findet immer Gründe, wenn man einen Menschen ­sehen oder sprechen will. Unter so vielen Männern ist immer einer dabei, der einem sympathischer ist als alle anderen, egal, welcher Nation er angehört. Da kam sehr oft ein großer, blonder Sergeant in unsere Bügelkammer und bat 106

mich, ich solle ein Hemd oder ein anderes Kleidungsstück für ihn ­bügeln. Mir fiel auf, dass er sehr oft mit unnötigen Kleidungsstücken kam, aber ich hatte mich ja nicht zu wundern, sondern das Verlangte zu erledigen. Meine Bettnachbarin, die auch mit mir bügelte, sagte eines Tages zu mir: „Der kommt aber besonders oft und immer nur zu dir. Der sieht dich ­gerne.“ Uns war jeder private Kontakt zu den Soldaten verboten. Ich hatte genug erleben müssen, um mir nicht noch mehr Kummer und Leid zuzufügen. Aber wie immer im Leben kommt alles anders, als man denkt. Dieser Sergeant – wollen wir ihn Bill nennen – war sehr hartnäckig. Er kam immer wieder und brachte mir auch jedes Mal eine Kleinigkeit mit. Wenn ich heute so über alles nachdenke, frage ich mich, wie wir denn gekleidet waren? Die Strümpfe wurden gestopft, bis man vom Strumpf nichts mehr sehen konnte und nur das Gestopfte die Strümpfe zusammenhielt. Mit der Kleidung ging es uns ebenso. Eines Tages, als er wieder einmal eine Uniform zum Bügeln brachte, legte er mir ein kleines Paket auf die Uniform. Zuerst wollte ich es nicht annehmen, aber meine Nachbarin sagte: „Sei nicht so dumm und nimm es!“ Es waren die ersten Nylonstrümpfe, die ich in der Hand hielt. Beim nächsten Mal gab ich ihm zu verstehen, dass ich kein Geschenk mehr annehmen würde. Ich hatte Angst, dass ich die Arbeit verlieren würde, wenn uns vielleicht jemand in dem Moment beobachtete, wo ich das Geschenkte gerade in den Händen hielt. Es kamen ja immer Soldaten oder Offiziere herein, um etwas zu bringen oder abzuholen. Ich ging jede Woche meine Mutter besuchen, meistens an einem Sonntag. Sie wartete auch schon immer auf mich. Da erzählte ich ihr, dass ich ein paar Strümpfe geschenkt bekommen hätte. Sie schimpfte sehr mit mir und sagte: „Wie kannst du nur etwas von einem fremden Mann annehmen? Noch 107

dazu von einem Besatzungssoldaten, da doch der Kontakt zu den Besatzungsmitgliedern streng verboten ist!“ Eines Sonntags, als ich wieder einmal auf dem Weg zu meiner Mutter war, stand Bill vor der Haustüre. Ich sah ihn ganz entgeistert an und fragte ihn, was er denn hier wolle. Er bot mir seine Begleitung an, da er wüsste, dass ich jeden Sonntag eine bestimmte Richtung einschlug. Ich war ganz entsetzt und sagte ihm, dass dies ganz unmöglich sei. Ich würde meine Mutter besuchen, die bei einem Bauern arbeite und könne unmöglich mit einem amerikanischen Soldaten aufkreuzen. Ich wollte auch nicht mit ihm gesehen werden, denn das Getuschel der Leute war alles andere als edel. Da ich mir nicht anders helfen konnte, erzählte ich ihm, dass ich selbst beim deutschen Militär als Luftwaffenhelferin gearbeitet hätte und mich jetzt nicht mit einem amerikanischen Soldaten sehen lassen konnte. Ich hoffte, dass ihn meine Antwort kurieren würde. Er aber fragte mich, ob ich mich freiwillig gemeldet hätte, und ich sagte ihm, dass ich so wie viele andere auch eingezogen worden war. „Na ja“, meinte er, dann wäre ja alles okay. Für ihn war es das vielleicht, aber nicht für mich. Ich ging alleine zu meiner Mutter. Doch es hatte schon einiger Beredsamkeit bedurft, um ihn abzuschütteln. Meiner Mutter erzählte ich nichts davon. Ich wollte sie nicht unnötig aufregen. Sie hatte es ja so schon schwer genug. Bill gab keine Ruhe. Immer wieder bat er mich um ein Wiedersehen. Obwohl er mir sehr sympathisch war, wehrte ich mich dagegen, Gefühl zu zeigen, da dies ja zu nichts führen konnte. Aber eines Abends ließ ich mich doch erweichen, und wir gingen zusammen spazieren. Er erzählte mir davon, dass auch er eingezogen worden war, wo er lebte und von den beruflichen Plänen, die er verwirklichen wollte, wenn er wieder nach Amerika zurückkehren würde. 108

Auch ich erzählte ihm von meinem leider nicht erfüllten Berufswunsch, dass ich gerne Friseurin geworden wäre und einen ungeliebten Beruf ergreifen musste; wie dann der Krieg dazwischenkam und ich jetzt hier gelandet war und man nicht sagen konnte, wie es denn weitergehen würde. Wir verstanden uns recht gut. Ich muss gestehen, dass ich morgens insgeheim immer wartete, ob er kommen würde. Je mehr ich mich dagegen wehrte, desto mehr gefiel er mir. Es kam, wie es kommen musste: Trotz Verbot hatten wir uns ineinander verliebt. Es war eine verbotene, aber trotzdem schöne Liebe. Eines Tages merkte ich, dass unser Beisammensein nicht ohne Folgen geblieben war. Ich war verzweifelt. Wie würde es Bill aufnehmen? Aber am meisten hatte ich Angst davor, es meiner Mutter beizubringen. Ihr fiel mein verändertes Wesen jedoch bald auf, und da gestand ich ihr, dass ich schwanger war. Sie sagte zuerst gar nichts, meinte aber dann, dass ich nicht mehr nach Hause könne, denn mein Vater würde ein außerehe­ liches Kind nicht akzeptieren. Bill erzählte ich von meiner Schwangerschaft und davon, wie meine Mutter darüber dachte. Er antwortete mir, falls er versetzt werden sollte, würde er mich mitnehmen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es dauerte gar nicht lange, bis Bill mir seine Versetzung nach Frankreich mitteilte und mir versprach, mich mitzunehmen. Ich ging noch einmal zu meiner Mutter, und wir hatten eine lange Unterredung. Wir weinten auch sehr viel, da wir uns ja wieder einmal trennen mussten. Sie hatte kein Wort des Vorwurfs für mich. Sie wünschte mir nur alles Gute und viel Glück und bat mich, von mir hören zu lassen. Es war ein sehr bitterer Abschied. Zwei Tage später konnte ich illegal – denn legal ging damals noch gar nichts – im Auto versteckt mit Bill über die Grenze nach Frankreich einreisen. Ein amerikanischer Konvoi 109

wurde ja nicht kontrolliert. Die Reise war sehr beschwerlich, da ich mich ja nicht blicken lassen durfte. Es war eine kleine Stadt an der Yonne, wo Bill stationiert war und wo er auch eine kleine Wohnung fand. Ich konnte mich erholen und auch eingewöhnen. Es war mir ja alles fremd, die Umgebung, die Menschen und die Sprache. Es kehrte endlich etwas Ruhe ein, und ich konnte mich ganz auf meine Schwangerschaft einstellen. Ich hatte ein Heim und machte es uns gemütlich, so gut es ging. Auch das musste ich erst lernen – einen Haushalt zu führen. Als ich eingezogen wurde, war ich knappe 18 Jahre alt, und jetzt war ich 23. Gesundheitlich ging es mir gut, ich hatte alles gut überstanden. Die Schwangerschaft brachte mir keine Beschwerden, nur wurde ich immer runder. Es war für mich wieder eine große Umstellung. Ging ich einkaufen, musste ich zeigen, was ich wollte, da ich ja kein Wort Französisch verstand. Bill brachte mir ein Lehrbuch der französischen Sprache mit. Ich hatte ja genügend Zeit, da Bill erst am Abend zu mir kommen konnte. So lernte ich eifrig wenigstens die wichtigsten Worte, die ich brauchte, um im täglichen Leben zurechtzukommen. Bill war ein sehr liebevoller und guter Partner, er half mir, wo er nur konnte. Nur über die Zukunft sprachen wir nie. Das hätte mir einfach zu denken geben müssen. Schließlich erwartete ich ja ein Kind von ihm. Ich war schon im siebenten Monat meiner Schwangerschaft, da kam mir Bill sehr verändert vor. Auf meine Frage, ob er Sorge hätte, antwortete er nur kurz, es gebe Schwierigkeiten in der Dienststelle. Ich drang nicht weiter in ihn. Ich war schon sehr besorgt, da er immer stiller und wortkarger wurde. Eines Morgens verabschiedete sich Bill besonders lange und herzlich von mir; ich machte mir keine Gedanken darüber. Als er jedoch am Abend nicht nach Hause kam, mach110

te ich mir im Stillen Gedanken, doch entschuldigte ich sein Fernbleiben durch mögliche Besprechungen und legte mich schlafen. Erst am Morgen merkte ich, dass Bill nicht nach Hause gekommen war. Er kam nie mehr wieder. Ich konnte nicht einmal bei seiner Dienststelle nachfragen, da ich ja ganz illegal in Frankreich lebte. Ich habe ein Kuvert gefunden, in dem Geld für einige Zeit zum Leben enthalten war. Welche ein Hohn, Liebe mit Geld zu bezahlen! Ich habe mir vergebens den Kopf zerbrochen, warum? Alles Denken half nichts, ich musste versuchen, mein Leben selbst in den Griff zu bekommen. Da aber der Geburtstermin schon nahe bevorstand und das Geld ja trotz größter Sparsamkeit nicht ewig reichen würde, musste ich versuchen, Arbeit zu bekommen, aber wie? Mit Kind? Es war schrecklich. Manchmal war ich so verzweifelt, dass ich mir das Leben nehmen wollte, aber dazu war ich zu feige. Drei Wochen vor dem Geburtstermin musste ich unbedingt einen Arzt aufsuchen. Dem schilderte ich schonungslos meine Situation. Ich kann nur mit äußerster Hochachtung von diesem Arzt sprechen. Noch nie hat mir ein Mensch so selbstlos und unbürokratisch geholfen wie er. Er verschaffte mir sofort ein Bett im Spital, wo ich mein Kind zur Welt bringen konnte. Dann meinte er, wenn ich mich etwas erholt hätte, könnte ich in der Spitalswäscherei als Hilfe arbeiten – für Kost und Quartier mitsamt meinem Kind, da ich ja die kleine Wohnung auch verlassen musste. Der schwierigste Punkt war, mich polizeilich zu melden. Er ging selbst mit mir zur Polizei, da er ganz gut Deutsch sprach. Dort musste ich erzählen, wie ich denn nach Frankreich einreisen konnte, wo doch die Grenzen gesperrt waren. Ich wurde wie eine Spionin behandelt, verhört und immer wieder verhört. Hätte mich der Arzt nicht begleitet, ich weiß nicht, wie alles ausgegangen wäre. 111

Sie fragten mich, ob ich mein Kind zur Adoption freigeben würde. Ich wies dieses Ansinnen empört von mir. Wenn ich schon ein außereheliches Kind erwartete, so würde ich es auch großziehen, trotz aller Schwierigkeiten. Täglich musste ich mich bei der Polizei melden, später nur mehr einmal wöchentlich. Ich zog gleich ins Krankenhaus und fing mit der Arbeit an. Bis zum Geburtstermin waren es ja noch drei Wochen. Am Tage meines Geburtstages bekam ich einen gesunden Buben. Meine Kolleginnen aus der Wäscherei hatten mir einen großen Kuchen gebacken, und jede brachte mir für mein Kind ein kleines Geschenk mit. Über diese Hilfsbereitschaft war ich ganz gerührt, denn sie hatten ja selber nicht viel. Sie behandelten mich einmalig gut, ließen mich nie spüren, dass ich ja eigentlich eine ehemalige Feindin gewesen war. Sie brachten mir immer eine Kleinigkeit für mein Kind mit und bemühten sich auch, mir ihre Sprache näherzubringen. So vergingen ein paar Monate. Mein Sohn gedieh prächtig, er konnte immer bei mir sein. Bei einem Fenster in der Wäscherei stand sein Bettchen und meines daneben. Wenn meine Kolleginnen nur ein bisschen Zeit hatten, beschäftigten sie sich mit dem Kind, das eigentlich allen gehörte. Eines Tages kam der Arzt, der mir schon so viel geholfen hatte, zu mir und fragte mich, ob ich nicht zu einer Familie mit Kindern gehen würde. Die Dame erwartete ihr viertes Kind und bräuchte dringend ein Kindermädchen. Für meinen Sohn hätte er Pflegeeltern, und ich könnte zweimal wöchentlich mein Kind besuchen. Natürlich sagte ich zu, denn ewig konnte ich ja nicht in dem Spital bleiben. Die Trennung von meinem Kind fiel mir schon sehr schwer, aber was blieb mir anderes übrig? Ein paar Tage später ging der Umzug vonstatten. Meine Kolleginnen weinten, als ich sie verließ. Ich bedankte mich für alles Gute, das sie mir entgegengebracht hatten. 112

Diese französische Familie besaß ein sehr großes Haus mit Garten. Ich bekam sogar ein eigenes Zimmer. Sie hatten zwei Zwillingsmädchen und einen Buben, es waren ganz reizende Kinder. Das Eingewöhnen wurde mir sehr leicht gemacht, ich wurde ganz in die Familie integriert. Die drei Kinder trieben so manchen Schabernack mit mir, da sie sofort merkten, dass ich manches falsch verstand oder nicht gut aussprach. Oft genug gab es Grund zum Lachen. Durch Fürsprache des Hausherrn musste ich mich nur mehr alle drei Monate polizeilich melden. Als ich mich eingewöhnt hatte, versuchte ich mit meiner Mutter in Kontakt zu kommen, um ihr mitzuteilen, dass sie Oma geworden war und ich alleine dastand, kurz gesagt, um ihr meinen Werdegang zu schildern. Ich erhielt keine Antwort. Was ich nicht wissen konnte: Sie hatte meine Briefe nie erhalten, erst viel später. Ich war sehr traurig, da ich annahm, dass sie unversöhnlich blieb. Ich lebte nun schon das zweite Jahr in Frankreich. Wieder einmal schrieb ich an meine Mutter. Ich litt sehr an Heimweh, konnte aber mit niemandem darüber sprechen. Nach ein paar Wochen erhielt ich endlich eine Antwort von ihr; einen Brief, in dem sie mir mitteilte, dass mein Vater schwer krank aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen war. Sie wohnten jetzt in Kaprun, wo Vater bei einem großen Kraftwerk Arbeit gefunden hatte. Er war anfangs sehr böse auf mich gewesen, wollte aber doch, dass ich nach Hause kommen sollte, da er sein Enkelkind gerne kennenlernen wollte. Ich weinte vor Erleichterung und erzählte es meiner französischen Familie. Sie sagten, ich solle gleich versuchen, einen Pass zu erhalten. Dies wurde aber abgelehnt. Ich stand jetzt mit meinen Eltern in einem regen Briefkontakt, da die Post wieder besser funktionierte. Wieder und wieder versuchte ich, einen Pass zu bekommen, er wurde mir jedoch immer verweigert. Es dauerte drei volle Jahre, bis man mir das ersehnte Dokument endlich 113

bewilligte. Meine französische Familie bezahlte mir die Reise von Paris bis Zell am See und beschenkte mich noch sehr großzügig. Ich teilte meinen Eltern meine Ankunft mit, und mein Vater erwartete uns am Bahnhof von Zell am See. Ich sah diesem Wiedersehen mit sehr gemischten Gefühlen entgegen, da ich ja die moralischen Ansichten meines Vaters gut genug kannte. Das Wiedersehen nach acht Jahren war einfach unbeschreiblich. Obwohl mein Vater mich zuerst sehr zurückhaltend begrüßte, schlug mein kleiner Sohn vom ersten Augenblick an in seiner Unbekümmertheit die Brücke zu seinem Herzen. Dem strahlenden Lächeln des Kindes konnte er einfach nicht widerstehen, und es schwemmte alle Bitterkeit, die sich im Herzen meines Vaters aufgestaut hatte, hinweg. Auch von ihm hörte ich nie ein Wort des Vorwurfes, im Gegenteil, meine Eltern sorgten sich rührend um ihr Enkelkind. Es hatte den Anschein, als wäre mein Leben nach so vielen Turbulenzen endlich in ruhigere Bahnen gelenkt worden. Leider hatte es nur den Anschein, denn auch mein künftiges Leben stand unter keinem guten Stern. Doch das steht auf einem anderen Blatt. Nach ihrer Rückkehr aus Frankreich im Jahr 1948 lebte die Autorin bei ihren Eltern in einem Arbeiterwohnheim in Kaprun, Salzburg. Von dort fuhr sie täglich nach Zell am See, wo sie als Ordinationshilfe bei einem Landarzt arbeitete. Ihr Kind wurde währenddessen von ihrer Mutter versorgt. Nach der Frühpensionierung des Vaters zogen die Eltern wieder nach Wien und übernahmen die Obsorge für ihr Enkelkind. Die Autorin heiratete 1952 in Kaprun einen Arbeitskollegen ihres Vaters, Eugen Kantor, der als Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit in Jugoslawien bei Kriegsende nach Salzburg geflohen war. Die Ehe blieb kinderlos. Nach Kaprun fand Eugen Kantor Arbeit bei der Errichtung der Donaukraftwerke Ybbs-Persenbeug, 114

Aschach und Wallsee-Mitterkirchen, wohin ihm seine Frau jeweils nachfolgte. Das Ehepaar lebte in Dienstwohnungen für die Arbeiter der Kraftswerksbaustellen. In Ybbs-Persenbeug arbeitete Gertrud Kantor in einer Schirmfabrik, in Aschach wieder als Ordinationshilfe und in Wallsee so wie ihr Mann beim Donaukraftwerk. Bis zu ihrer Scheidung im Jahr 1982 blieb Gertrud Kantor in Wallsee, dann zog sie nach Wien, in jenes Wohnhaus, in dem auch ihre Eltern wohnten. Sechs Jahre lang pflegte sie für den Caritas Sozialdienst der Diözese Wien alte Menschen, bis sie nach dem Tod ihres Exmannes im Jahr 1988 eine Witwenpension zugesprochen erhielt. Seit 2007 lebt Gertrud Kantor in einem Wiener Seniorenwohnheim.

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„Was verboten ist, brennt heiss wie Feuer“ Maria Zach kam am 11. Dezember 1930 als Maria Rappold in Lasselsdorf in der Gemeinde Groß St. Florian (heute Großgemeinde Rassach) in der Weststeiermark zur Welt. Sie wuchs bei ihrer noch unverheirateten Mutter auf dem kleinen bäuerlichen Anwesen ihres Großvaters auf, der die wichtigste Bezugsperson ihrer Kindheit wurde. Ihr lebensgeschichtliches Manuskript mit dem Titel „SchneeRosen“ entstand, nachdem Maria Zach im Jahr 2003 durch einen Zeitungsaufruf in Kontakt mit der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien gekommen war. Angeregt durch die Betreuerin der Sammlung, Li Gerhalter, schrieb sie, mit der Hand und in zahlreiche kürzere Episoden gegliedert, auf insgesamt 120 Seiten die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend nieder. Das Bedürfnis, einerseits dem geliebten Großvater, andererseits ihrer ersten großen Jugendliebe ein Andenken zu setzen, war ihr dabei das wichtigste Schreibmotiv. Über die „Sammlung Frauennachlässe“ gelangte eine Kopie des im Herbst und Winter 2003/04 entstandenen Erinnerungstexts in die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“. Die Lebenserinnerungen Maria Zachs sind in eher mündlicher Erzählweise abgefasst. Diese Besonderheit ihres Textes wurde bei der redaktionellen Bearbeitung weitestmöglich erhalten. Das Manuskript wird hier in etwas gekürzter Form wiedergegeben.

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Ich werde geboren Ich war unerwünscht und durfte doch leben. Mein Mädchenname ist Maria Rappold. Meine Mutter wurde schon mit sechs Jahren Halbwaise. An einem Maientag 1918 legte man ihre gute Mutter zu früh ins kühle Grab. Die bitteren Tränen meiner Mutter und ihrer sechs Geschwister fielen als letzter Gruß in das offene Grab. Da ihre Mutter schon länger krank war und der Vater erst kurz vor Mutters Tod aus dem Krieg heimkam, begann eine ganz harte Zeit. Die älteren Geschwister gingen fort von zu Hause: die Brüder in eine Lehre, Peter als Zimmermann, Sepp als Maurer, die Schwestern, Maria und Resi, als Bauerndirnen. Der Vater war mit drei kleinen Mäderln allein. Not und Elend waren tägliche Begleiter in der „Grabenpeterkeusche“. Der Vater nahm eine Magd am Hof als Wirtschafterin auf. Sie war fleißig, aber im Haushalt war – wie mir meine Mutter erzählte – nicht viel los. Auch war zum Kochen nicht viel im Haus. Sie war zwar nicht böse zu den Mäderln, aber eine eigene Mutter war sie halt auch nicht. Großvater liebte seine Kinder alle. Es kam einmal ein wohlhabendes, kinderloses Ehepaar und wollte einfach meine Mutter als eigen Kind bei sich aufnehmen, aber Großvater sagte: „Nein, ich gebe kein Kind her.“ Zu meiner Mutter, die sieben oder acht Jahre alt war und als einzige von den Schwestern blonde Haare hatte, sagte er: „Du schaust am meisten mir ähnlich, du bekommst, wenn du groß bist, die Keusche*!“ Das hat mir meine Mami oft erzählt. Die Jahre vergingen, und aus dem kleinen, blonden Nannerl (Anna) wurde ein hübsches Mädchen. Aber allzu früh suchte sie Liebe und Geborgenheit bei einem feschen Dorfburschen. Sie verliebte sich heimlich als Sechzehnjährige, aber die heimliche Liebe ließ sich nicht lange verbergen. Sie wurde ungewollt schwanger – für die damalige Zeit eine Schande. 117

Aber ihr Vater, vor dem sie ein bisschen Angst hatte, sagte, als er es an ihrer Körperfülle erkannte, dass sie keine Angst zu haben braucht: Wenn sie ihm das Recht lässt, dem Kind, das bald das Licht der Welt erblicken würde, einen Namen zu geben, dann hilft er auch, gut auf das Kind zu schauen. So war es dann auch. Bei der Arbeit gab es für meine Mami keine Schonung, aber so war es halt bei fast allen Bauersfrauen, und besonders bei den Mägden. Es fehlte halt immer die Mutter. Kurz nach Mitternacht musste Großvater am 11. Dezember 1930 für seine Tochter Nanni zu Fuß nach Groß St. Florian gehen, die Hebamme holen. Vier Kilometer hin und vier Kilometer zurück – was das für werdende Mütter bedeutet hat, so lange auf Hilfe zu warten! Und auch für die Hebamme war es eine große Anstrengung. Außerdem gab es, wie mir erzählt wurde, gerade eine große Kälte. Also wurde ich um dreiviertel 4 Uhr geboren, um 14 Tage zu früh. Großvater hat mich sofort in sein Herz geschlossen, meine achtzehnjährige Mami war halt noch sehr unerfahren und hatte noch dazu ein Kind ungewollt bekommen. Großvater hatte Erfahrung genug mit Babys, und so übernahm er die meiste Pflege. Mit seinem liebevollen Herzen und seinen braven, abgerackerten Händen wurde ich sehr gut versorgt – wie es halt damals ging. Er legte mich in ein Körberl und stellte das Körberl mit mir in den Ofenwinkel. Da war halt eine gleichmäßige Wärme, sozusagen ein Vorfahre vom heutigen Brutkasten. Da ich ein nicht allzu kräftiges Mäderl war, hat mir die Ofenwärme gut getan. Wie damals üblich, wurde auch ich schon am dritten Tag meines Lebens zur Taufe getragen. Meine Taufpatin war die Lebensgefährtin von Großvater. Mir wurde erzählt, dass es ein kalter Tag war mit viel Schnee und wunderbar mit Raureif behangenen Bäumen. So gingen – wie es damals bei ärmeren Leuten üblich war – die Patin und die Hebamme mit dem 118

Taufkind zur Kirche. Die beiden Frauen konnten sich beim Tragen des Kindes abwechseln, denn es waren vier Kilometer zur Kirche – eine Stunde Fußmarsch, und noch dazu bei großer Kälte. Da die meisten Frauen anstatt eines Mantels große Umhänge hatten, wurden die kleinen Babys unter den Umhängen mit der Körperwärme gewärmt, eine Wärme, die bei meiner Patin auch von Herzen kam. Sie war eine gutherzige Frau und ersetzte mir ein bisschen eine Großmutter, was ich ihr bis heute mit Gebeten noch danke. Da es in der Kirche von Groß St. Florian eisig kalt war – und dazu das kalte Taufwasser, heute unvorstellbar –, wurde ich lebensbedrohlich verkühlt, aber davon später. Es wurde der Hebamme ein bescheidenes Essen in einem Gasthaus bezahlt, das beide Frauen gemeinsam einnahmen. Dann gingen sie mit mir kleinem Bünderl und neu aufgenommenem Mitglied in der Gemeinschaft der katholischen Christen den weiten Weg durch den Wald heimzu. Vielleicht haben Gott und meine Namenspatronin, die Gottesmutter Maria, deren Schutz ich durch den Namen Maria anvertraut wurde, den Wald mit so viel silberweißem vorweihnachtlichem Raureif geschmückt, denn dieses Naturwunder ist auch für arme Menschen ein herrlicher Anblick. Aber ein paar Tage später wurde ich schwer krank. Die Hebamme, Frau Oswald, eine schon ältere Frau, sagte zu meiner jungen Mami: „Das Mäderl wird eh sterben, und du bist deine Last los!“ Aber die pflegenden Hände und die Herzensliebe meines lieben Tati, wie ich Großvater später nannte, retteten mir das Leben. Wahrscheinlich hätte sich mein Vater sehr gefreut, wenn ich ein kleines Engerl geworden wäre, dann hätte er nicht für mich Alimente zahlen brauchen. Meine Mami erreichte das aber mit Hilfe der Fürsorge und des Gerichtes. Als ich dann ein Jahr alt war, kam mein Vater und sagte: „Jetzt will ich einmal mein Kind anschauen“, aber mein Großvater hätte meinen Vater bald* davongejagt. Danach besuchte mich mein Vater öfter. 119

So war es eben: Ein lediges Kind war für eine so junge Mutti und auch für einen jungen Vater wie meinen eine Last. Damals ging das nicht so einfach, dass junge Leute, die beide nichts hatten, heiraten konnten. Auch Eltern der jungen Mütter waren sehr wild* auf ledige Burschen, die ein Kind der Sünde zeugten. So wurde halt auch bei meinen Eltern das Heiraten von vornherein ausgeschlossen, und Vater suchte bald Trost bei einer anderen Frau, wo er auch sofort bei seiner Schwiegermutter willkommen war. Meine Familie und mein Heimathaus Was ich an ersten Erinnerungen an meine Familie noch habe: Es wohnten damals in meinem Heimathaus meine junge Mami, Großvater, der das Familienoberhaupt war, seine Lebensgefährtin (meine Taufpatin Nanni) und meine liebe Cousine Anna, die noch zur Schule ging. Sie kam mit zwei Jahren ins Haus, weil ihr Stiefvater sie nicht mochte. Da Großvater Kinder liebte und ein gutes Herz hatte und auch Nanni Kinder mochte, hatte Anna, die ich als meine große Schwester empfand, in dieser bescheidenen Lebensgemeinschaft eine Heimat gefunden. Ja, so ist es eben: Die Mütter werden von solchen Männern geheiratet, aber die Kinder sind dann sehr oft im Weg und sollten einfach nicht mehr da sein – was dann auch bei mir später zutraf. Da in meiner Familie drei Annas waren, also meine Mami, meine Taufpatin und meine Cousine, wurden sie von Leuten in der Nachbarschaft so angesprochen: Meine Mami war die „große Nanni“, meine Taufpatin war die „alte Nanni“ und die Cousine die „Schulner-Nanni“. Jetzt werde ich einmal mein Heimathaus beschreiben. Das alte Haus war ein Holzhaus, mit der Jahreszahl 1777, die in einen Wandbalken eingeschnitzt war. Das Holzhaus musste viel überdauern, auch einen schneereichen, sibirischen Winter wie 1928/29, als die Bäume erfroren, wie Großvater immer 120

erzählte, und sogar Türen und Fenster über Nacht zufroren; in der Früh war Raureif an der Wand. Im ganzen aus Holz gezimmerten Haus waren nur zwei Räume: die große Stube und ein Schlafstüberl. Es war eine große, behagliche Stube mit einem alten gesetzten Sparherd* und einer Tischecke, wo es zwischen den Holzwänden ganz schön kalt hereinzog. Ein kleines Kasterl stand im Tischwinkel, wo die Löffel lagen, die nach dem Essen nur abgewischt und nicht gewaschen wurden. Also, das Esszeug wurde zwischen den Mahlzeiten im Wandkasterl aufbewahrt und bei der nächsten Esszeit herausgenommen. Und alle haben aus der gleichen Schüssel oder Rein gegessen, da gab es keine Teller. Aus Tellern zu essen und das Esszeug abzuwaschen, das hat erst meine Mutter später eingeführt. Oberhalb des Tischkasterls war wie überall ein kleiner, ehrwürdiger Hausaltar. Im Eck stand ein Kreuz mit dem gekreuzigten Jesus, rechts und links hingen Bilder: ein sehr schönes Muttergottesbild und auf der gegenüberliegenden Seite ein Bild von Jesus mit der Dornenkrone und dem blutenden Haupt. Ich schaute oft zu diesem Bild empor, weil mir der blutende Jesus erbarmte. Es wurde mir erzählt, dass meine Großmutter, als sie noch lebte, oft vor dem Herrgottswinkel kniete und darum betete, dass ihr Gatte, mein Großvater, gesund vom Krieg heimkommt, denn Großvater war seit 1914 im Ersten Weltkrieg Soldat. Besonders Großvater war sehr fromm und brachte mir früh im Kindesalter schon den Glauben und das Beten bei, wofür ich ihm noch über sein Grab hinaus dankbar bin. In der Stube stand neben dem Fenster ein Bett mit einem großen Polster, der mit Woazlaschi* gefüllt war; darin schlief meine Mami, und auch ich kam in diesem Bett zur Welt. An der Wand nahe dem Herd war ein Schüsselkorb* aufgehängt, darin waren ein paar Schüsseln und was halt beim Kochen gebraucht wurde, auch ein paar Häferln. Bei wohlhabenden 121

Bauern gab es schöne, bemalte Teller und mitunter die herr­ lichen Rosenhäferln mit den modellierten Blumen, die ich heute mit Leidenschaft sammle. Dann war eine kleine Bank, das war die Wasserbank, weil ein bis zwei Eimer Wasser zum Küchengebrauch benötigt wurden. Auch ein Saukessel war in einer Mauernische, fürs Kochen des Saufutters. So war es eben. Dann war noch die „Labm“, das Vorhaus, das mit Steinplatten ausgelegt war. In der Labm waren ein Getreideschrein sowie eine alte Mühle, die mit der Hand angetrieben wurde. Da war eine Stange von oben herunter. Mit einer Hand wurde das Getreide in die Öffnung gegeben und mit der zweiten, die Stange fest im Griff, der Mühlstein im Kreis getrieben. Das war eine schwere Arbeit. Unterhalb war eine Lade, in die das Mahlgut hineinfiel. Auch ich habe als Zwölfjährige schon damit gemahlen. Wenn an einem Tag im Sommer ein Gewitter kam, haben in der Früh die Steinplatten geschwitzt, also die Bodensteine waren nass. Unter der Bodenstiege, die auch von der Labm hinaufging, war ein Kotter für junge Hühner, die dann im Spätherbst gemästet wurden. Die wurden dann in einer Steige in der Stube eingesperrt und geschoppt*. Das ging so bis vor Weihnachten, bis alle Junghühner verkauft waren. Dann erst zog Großvater mit seiner kleinen Werkstatt in der Stube ein; auch die alte Nähmaschine wurde von Mami im Winter in der Stube fleißig gebraucht. Oberhalb der Nähmaschine hing an der Wand ein Bild von ihrer Mutter, meiner Großmutter. Mami sagte oft: „Ach, wäre meine Mutter noch am Leben!“, und schaute traurig zum Bild empor. Unsere Stube war im Winter Koch-, Ess- und Aufenthaltsraum, auch Werkstatt für Großvater. Da stand seine Hobelbank in der Stube, weil er für einige Schilling aus Holz ­Zockel* anfertigte. Wie schön war es, wenn am Abend die ganze Familie beim Petroleumlicht in der Stube beisammen 122

war! Da habe ich von Großvater noch ein Flascherl gezuckerter Milch bekommen, denn ich schlief am Abend oft in der Stube in Mamis Bett. Weil Großvater nicht mehr so viel arbeiten konnte, betreute er halt liebevoll seine geliebte Enkelin Mitzi, wie ich gerufen wurde. Auch Mamis alte Nähmaschine stand in der Stube. Zu meiner Kinderzeit wurde ja jedes zerschlissene Kleidungsstück mit Flecken ausgebessert oder – wenn’s ganz nottat – auch ein paar Schürzerln und anderes neu genäht, denn Mami konnte gut nähen. Oft schlief ich am Nachmittag im Bett von Mami ein, denn das Werken mit dem Schusterhammerl störte mich nicht. Gerne beschäftigte ich mich mit Papier und Bleistift. Mir gefielen am Fenster die Eisblumen, und ich versuchte immer, so zauberhafte Gebilde auf Papier nachzumalen, was von meiner Familie ganz schön bestaunt wurde. Die Eisblumen am Fenster kamen deshalb zustande, weil bei unserem Haus nirgends Winterfenster* waren. Aber es strahlte auch ganz kalt vom Fenster her, sodass ich beim Zeichnen am Tisch steife Fingerchen bekam. Nach Heilige Drei Könige, wenn es guten Schnee gab, haben die größeren Bauern angefangen, Mist auszuführen. Auf einigen entlegenen Äckern in unserer Nähe wurde der Mist im Winter auf großen Haufen abgeladen, sodass im Frühjahr das weite Fahren wegfiel und der Anbau schneller vonstatten ging. Der Weg, auf dem mit großen Fuhrschlitten, vor die zwei Ochsen gespannt waren, Mist geführt wurde, war ganz nahe an unserem Haus. Bei großer Kälte taten mir die Tiere sehr leid, weil an den Fotzerln* der Ochsen Eiszapfen hingen. Auch die Knechte hatten es nicht leicht. Ich kratzte mit den Händen das Eis vom Fenster, sodass ich die großen und schweren Ochsen vorbeiziehen sah. Der Schnee quietschte unter den Schlittenkufen. Oft hatten die Zugtiere hell klingende Glocken am Zugzeug hängen, das war meistens bei 123

Pferden so. Wenn ein anderes Gespann entgegenkam, konnte schon rechtzeitig eine Ausweichstelle angefahren werden, was bei Tiefschnee nicht immer leicht war. Das Mobiliar im Schlafstüberl bestand aus zwei Betten, aus einem etwas breiteren alten Ehebett und einem normalen Bett. Im großen Bett schlief mein Großvater und vom zweiten Lebensjahr bis Schulbeginn auch ich neben Großvater. Im anderen Bett schliefen Nanni, die Lebensgefährtin von Großvater, und meine Cousine Anna, solange sie in die Schule ging. Erst als sie zwölf war, bekam sie in der Stube, wo auch Mami schlief, ein eigenes Bett. Zwei Kästen waren auch für die paar schönen Sonntagskleider oder das „Kirchengwand“, wie man sagte. Großvater hatte seinen Kasten selber geschreinert und sperrte ihn immer zu. Er hatte allerhand Sachen im Kasten: Bilder von Kaiser Franz Joseph, dem er ja im Krieg gedient hatte. Da war ich oft ganz schön neugierig, was für geheime, schöne Sachen wohl im Kasten sein könnten. Ein Glas Honig hatte Großvater auch im Kasten, da bekam ich öfter ein Teelöfferl voll – das war halt was Besonderes. Dann waren da ein kleiner runder Tisch mit zwei Sesseln sowie ein kleiner Herrgottswinkel mit einem schönen Kreuz, darunter ein gesticktes Altartücherl. Was aber ganz wichtig war: ein kleines gusseisernes Öferl sowie oberhalb vom Tischerl eine sehr schöne Schwarzwälder Uhr. Sie tickte leise und unermüdlich dahin. Mit klingenden Schlägen wurden jede Stunde und jede halbe Stunde verkündet. So wurden die Stunden unseres bescheidenen Lebens gezählt. An was ich mich noch erinnere, ganz weit zurück – mit drei Jahren muss es gewesen sein –, an den ersten Schnee, wie ich den erlebte. Es muss um Weihnachten 1933 gewesen sein, an einem Sonntag. Ich bin am späten Nachmittag im Großvaterbett aufgewacht. Im Stüberl war nicht mehr ganz helles Tageslicht. Da sagten Großvater und Cousine Anna, ich sol124

le aus dem Fenster schauen. Da kann ich mich ganz gut erinnern, weil es wieder was ganz Neues war. Der ganze Hof war wie ein Bettpolster flaumig weiß, und die Flocken fielen dicht vom Himmel. Im Stüberl saß die ganze Familie. Wenn es draußen kalt war, heizte Großvater ein kleines Öferl, das oft ganz rot glühend wurde und bei Dämmerung herrliche Lichtstrahlen auf die Wände zauberte. Unsere Nachbarn Mein Großvater hatte einen Grundnachbarn, mit dem er gut befreundet war. Es war ein größerer Bauer aus dem Dorf. Unser Haus war etwas vom geschlossenen Dorf Lasselsdorf entfernt. Wenn die Ackerfrucht schon im Wachsen war, kam dieser Bauer sonntags oft zu seinem Acker neben uns schauen, wie es am Acker vorangeht. Und da haben der Großvater und der Herr Wippl halt immer viel politisiert. Ich hörte oft von Schuschnigg und anderen Politikern und viel von den vergangenen Kriegsjahren 1914 bis 1918 erzählen. Aber die beiden Männer hatten eine neue Kriegsangst, so viel bekam ich schon mit, obwohl ich nebenbei mit Blumen, die am Wegrand blühten, spielte. Man glaubt’s kaum, was sich kleine Kinder, wenn Erwachsene sprechen, fürs Leben einprägen. Ich spürte aus den Gesprächen eine gewisse Angst, weil so viel Schreckliches vom Krieg erzählt wurde, von Hunger und Kälte. Als Kind hatte ich schon eine gewisse Angst, was ich aber gar nicht ganz begreifen konnte, denn ich hatte ja immer zu essen, wenn auch genügsam. Aber Hunger leiden brauchte ich nicht. Mami kaufte oft vom Brotausträger, der ein bis zwei Mal in der Woche mit Brot und Semmeln von Haus zu Haus ging, ein paar Semmeln, die ich in die Milch eingebrockt bekam. Und der Kälte war ich auch nicht ausgesetzt, im Winter wurde bei uns immer warm eingeheizt, besonders das Öferl im Stüberl. 125

An den Tag des Nazi-Aufstandes* kann ich mich noch gut erinnern. Ein sehr heißer Julitag kündigte sich an. Es war vormittags schon sehr heiß. Als meine Familie zum BauwoazSchneiden* aufbrechen wollte, hörten wir vom Dorf Schüsse knallen und Geschrei. Meine Familie benahm sich sehr ängstlich, und Großvater sagte: „Jetzt haben die Nazi den Flurl erschossen“, und begann zu weinen. Der Flurl war derjenige Bauer – und zugleich politisch als Nationalrat tätig –, mit dem mein Großvater sonntagnachmittags oft über Politik und Krieg sprach. Es wurde – nur durch Zufall – in der Wippl-Familie zwar niemand getötet, aber es floss doch unschuldiges Blut. Denn es gab trotz Abwehr von einem treuen Knecht arge Schussverletzungen. Diese Nazi-Terroristen wurden bei einem schon damals nazibegeisterten Dorfbewohner besoffen gemacht und angestiftet, denn ohne Alkohol hätten diese feigen, darunter auch uns nicht bekannte Täter, sich eh nicht getraut, so etwas zu unternehmen. Aber irgendwie wurde es wieder still um solche Überfälle. Die feigen Helden flohen nach dem Putsch ins Nachbarland Deutschland. So waren sie ihrem geliebten Führer näher, der langsam, aber sicher als gewaltiger Blutsverbrecher in die Geschichte der Welt einging. So sind einige Erinnerungen von meinem vierten Lebensjahr hängen geblieben. Im Sommer, wenn meine Angehörigen am nahe gelegenen Acker arbeiteten, schlief ich auf einer Decke unter einem Baum, während meine Angehörigen mir bestimmt oft ihre besorgten Augen zuwandten. Auch andere Kinder mussten damals oft unter einem schattenspendenden Baum schlafen oder spielen. Im Winter durfte ich schon ein bisschen mit Anna Schlitten fahren. Den Schlitten hatte Großvater einmal vor Jahren für sie gemacht, als sie noch klein war. Herrlich war’s auch im warmen Stüberl, wenn Anna mir Geschichten erzählte. Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen, so dass Anna, 126

wie sie mir später einmal sagte, selber einige Märchen für mich erfunden hat. In meinem fünften Lebensjahr durfte ich schon oft mit zu den Nachbarn gehen. Es war früher so und auch notwendig, dass kleine Bauern, die sich keine Dienstboten leisten konnten, gegenseitig bei der Arbeit aushalfen. Da wurden Kinder mit vier, fünf Jahren schon öfter mitgenommen. Meine Mami hat oft bei Nachbarn gearbeitet, zum Beispiel bei der Grabentoni-Mutter. So wurden ältere Bauernfrauen genannt, zuerst der Haus- oder Vulgoname und anschließend wurde „Mutter“ oder „Vater“ dazugesagt. Die Grabentoni-Mutter war eine liebe Frau, von der ich oft mit bittenden Händchen ein Stückerl Brot bekam. Es wurde ja immer gesagt: „Vom fremden Brot tun Kinder wachsen!“ Ihren Mann mochte ich nicht so gerne, er war sehr unrein, denn er hatte einen wunden Fuß, den er mit einem Kleimsack* eingebunden hatte. Der hat im Sommer ganz grauslich gestunken. Dagegen konnte die gute Frau nichts machen, obwohl es ihr grauste, wie sie öfter sagte. Sie hatte einen Sohn mit in die Ehe gebracht. Der hat mich oft aufgehoben und an sein Herz gedrückt. Weil Franz, so hieß er, gut Ziehharmonika spielen konnte, spielte er mir auch öfter was vor. Aber leider hieß es eines Tages, Franzl hätte mit dem Motorrad einen schweren Unfall gehabt, und nach einer Woche ist er mit 30 Jahren gestorben. Ich habe das noch nicht ganz mitgekriegt, nur, dass meine Familienangehörigen halfen, Kränze zu binden, und viel weinten, überhaupt seine Mutter. Uns Kindern wurde ein solches Ereignis nicht erklärt, aber ich kann mich noch gut erinnern, dass in der Stube bei der Trauerfamilie einige Nachbarfrauen mit viel Tannenreisig gearbeitet haben. Ein Nachbar war dabei mit seinem gleichaltrigen Buben, der hieß auch Franzi. Da haben wir zwei Kinder bald Freundschaft geschlossen und später manche Streiche angestellt. Die Grabentoni-Mutter war uns aber nicht böse. Im Herbst wur127

de sonntags in der Stube beim Nachbarn oft Woaz* geschält. Meine Familienangehörigen halfen auch bei der Woazschälerei*, was gegenseitig bei den Nachbarn üblich war. Franz und ich waren noch zu klein zum Helfen, und so spielten wir halt außer Haus. Aber Franzi hatte oft ganz tolle Ideen, wo ich natürlich sofort dabei war. Meine langjährige Freundin Lilli lernte ich auch so kennen: An einem Tag im Sommer arbeiteten meine Familienangehörigen in unserem Wald, der ganz an den Acker eines Nachbarn grenzte. Auch diese Leute arbeiteten an dem Tag auf dem Acker. Sie hatten ein liebes Mäderl gleichen Alters wie ich, und so hatten wir gleich eine Freude, am schattigen Waldrand zu spielen. Wir wurden richtige Freundinnen und warteten schon mit Sehnsucht darauf, dass wir wieder einmal miteinander spielen können. Meine Mami ging dann auch öfter zu diesen Nachbarn arbeiten. Da durfte ich schon öfter zur Freundin Lilli mitgehen, und wir sind heute, mit 73 Jahren, noch gute Freundinnen. Zurück zu den Erlebnissen zu Hause: Obwohl ich mich behütet fühlte, eine vollkommene Familie war es nicht; es fehlte der richtige Vater. Meine Mami war halt noch sehr jung und verließ mich oft mit ihrer Freundin, mit der sie zu Unterhaltungen ging, obwohl ich bittere Tränen weinte. Ab und zu kamen Großvater und seine Lebensgefährtin vom Kirchgang lange nicht heim. Er konnte Nanni einfach keinen ordentlichen Lohn geben, dafür kehrten beide in ein Gasthaus ein. Das wollte Nanni sehr gerne, und es wurde auch öfter über den Durst getrunken. Das tat Großvater, solange Großmutter noch lebte, überhaupt nicht, sonst hätten beide nie den kleinen Bauernhof kaufen können. Meine Cousine Anna erzählte mir, dass einmal an einem Sonntagnachmittag ein ganz gewaltiges Gewitter kam, als sie mit mir kleinem Mäderl alleine zu Hause war. Da hatte auch sie große Angst, das kann ich heute gut verstehen, denn sie 128

war erst zwölf oder dreizehn Jahre alt. Da ging sie schnell zur Nachbarin und fand mitsamt mir verständnisvollen Schutz. Die Grabentoni-Mutter hatte ich schon sehr lieb, und wir waren immer bei ihr willkommen. Denn damals waren oft zwei Nachbarn ein Haus, so sagte man, wenn viel gemeinsam gearbeitet wurde. Gott sei Dank wurde ich schon zu Hause gläubig erzogen. Es wurde ja alle Tage vor und nach dem Essen gebetet. Hauptsächlich erzählte mir Großvater vom Christkind sowie von der Gottesmutter, die Großvater sehr verehrte, und von Heiligen und Schutzengerln. Er konnte sehr gut erzählerisch mir den Glauben für mein ganzes Leben einprägen. Da Großvater nicht mehr so arbeiten konnte und Mami fest anpacken musste, hatte Großvater für mich mehr Zeit. Auch einige Gebete konnte ich schon vor Schuleintritt. Jeden Abend beteten er oder meine Cousine Anna mit mir das Schutzengelgebet. Da wir unseren Wald ganz in der Nähe hatten, gingen Großvater und ich oft Schwammerlsuchen – ach, war das schön! Ich fand zwar nicht viele Schwammerln, aber ich durfte die herrlichen Pilze, die Großvater fand, abbrocken und ins Körberl geben. So durchpirschten wir den Wald. Ich hatte schon als kleines Mäderl eine Freude an der Natur, so zeigte mir Großvater, welche Blätter zu welchen Baumarten gehörten, sowie die Nadelbaumarten. Im Wald gibt es sehr viel zu sehen und zu hören. Immer fragte ich: „Was ist das?“ Ein paar Vogelnesterln mit Eierchen im Astwerk eines kleinen Bäumchens entdeckte ich auch, aber Großvater war in diesem Fall sehr streng. Ich durfte nichts anfassen, um die kleinen Vogerln nicht bei der Brut zu stören. Mir machte halt das Abenteuer im Wald Freude, aber was die Pilze betraf, wurde damit unser Essen ein bisschen aufgebessert. Im Wald, da gab es aber auch die Habergeiß, die es auf Kinder abgesehen hatte. Obwohl der Wald ganz in der Nähe 129

meines Heimathauses war, traute ich mich nicht alleine in den Wald. So wurden oft Geisterwesen erfunden, um Kinder besser zum Folgen zu bringen. Zu mir wurde auch oft gesagt: „Geh ja nicht zu nahe an die Lacke!“ Bei fast jedem Bauern war in Hofnähe ein ausgegrabener Wasserbehälter, von wo das Wasser für das Vieh mit großen Eimern in den Stall getragen wurde, weil der Hofbrunnen oft nur für den Haushalt reichte. So eine Lacke war gefährlich, weil Kinder sehr neugierig sind und gern mit dem Wasser spielen. Also wurde der schiache* Wassermann erfunden, der ein Kind in die Lacke hineinzieht und ertränkt, wenn es zu nahe ans Wasser kommt. So habe ich einen weiten Bogen um die Lacke gemacht. Aber mit zwölf Jahren musste ich schon oft mit zwei Milchkannen Wasser von der etwas entfernten Lacke zum Stall tragen. Da hatte ich keine Angst mehr vorm Wasserlotter*. Dafür drückte das Tragholz schwer auf meine jungen Schultern – das war so ein längerer Holzbügel, an jedem Ende hing eine Kette mit einem Haken, an dem die Kannen aufgehängt wurden. Davon habe ich heute schräge Schultern und eine arg verbogene Wirbelsäule. Es war um die Zeit, als der Woaz, noch mit der Haue, von Unkraut befreit werden musste – wir sagten dazu Woazhauen*. Meine Cousine Anna hatte Sommerbefreiung* und ging schon öfter zu den Nachbarn tagwerken*, um etwas Geld zu verdienen. Da gab es auch für die Leute ein besseres Essen. Die Grabentoni-Mutter hat zu solchen Zeiten öfter ein Weißbrot mit Dörrzwetschken gebacken, und wenn ich mit meiner Cousine mitkam, habe ich zu meiner Freude auch oft ein großes Stück erhalten. So ein gutes Stückerl war nicht alltäglich, schon gar nicht bei mir zu Hause. Denn da hat meine Taufpatin gekocht, die hatte nicht reichlich zum Hernehmen, und leider konnte sie gar nicht gut kochen. Anna war wieder einmal in der Früh weg von zu Hause, mit der Haue über ihrer Schulter, also dachte ich, sie wäre 130

bei der Nachbarin, der Grabentoni-Mutter, arbeiten. Auf einmal bin ich fortgeschlichen, weil ich meinte: Wenn die Anna eh dort arbeitet, werde ich wieder so ein gutes Brot mit Dörrzwetschken bekommen. Aber als ich vom Nachbarhaus auf den nahe liegenden Acker spähte, war Anna nicht dabei; so getraute ich mich auch nicht alleine zum Acker. Und weil ich von zu Hause schon meinen Namen rufen hörte, bekam ich Angst, weil ich davongegangen war, ohne was zu sagen. Ich ging davon und versteckte mich hinter dem Haus. Mami ging zur Nachbarin, die mich vom Acker aus ja nicht gesehen hatte. Sofort gingen sie auf die Suche, und bald wurde ich gefunden. Ich war froh, dass ich gefunden wurde, denn selber traute ich mich nicht mehr aus dem Versteck. Da bekam ich ganz schön Schimpf*, und Großvater hat mir leicht den Hintern geprackt*, aber das war wirklich das erste und einzige Mal. Ich habe aber fürchterlich geschrien, weil mich das sehr kränkte, von meinem sonst so guten und liebevollen Großvater etwas hinten drauf zu bekommen. Aber ich ging nie mehr alleine weg und bekam noch oft ein solches Stückerl gutes Brot von der Grabentoni-Mutter. Auch von ihrem Zuckerstock* hat sie mir einige Male etwas abgehauen. Dieser Zucker war sehr süß. Sie hatte einen großen Vorrat an alten Zuckerstöcken; erst die Russen nahmen ihr alle weg. Ich lernte schon im Vorschulalter ein bisschen arbeiten. Beim Futteraufladen auf den Wagen, den die Ochsen zogen, kleine Schüberln* Futter tragen, wenn von den Erwachsenen nachgerecht wurde, sodass mit dem Handrechen weitergearbeitet werden konnte. Ansonsten war ich eh oft dort, wo ich nicht sein sollte, denn ich konnte schon sehr viel gebrauchen zum Spielen. Ich erinnere mich noch gut an einen Streich. Meine Mami hörte ich öfter sagen: „Immer Eigelbpulver anstatt Eier zum Kochen nehmen!“, weil fast jedes Ei verkauft wurde. Es war an 131

einem Sonntagnachmittag. Meine Mami war halt wieder mal mit ihrer Freundin fortgegangen, und Nanni, die Taufpatin, arbeitete im Garten. Großvater beschäftigte sich in der Hütte neben dem Wald. Da ich ein sehr temperamentvolles Mäderl war, wusste ich auch allein etwas mit mir anzufangen. Da fiel mir ein, dass Mami öfter wegen dem Eierpulver schimpfte. Ich nahm das Häferl*, in dem das gelbe Pulver aufbewahrt wurde, ging zum Wasserschaffl* und verrührte das ganze Eierpulver im Häferl mit Wasser, sodass ein gelber Brei entstand. Den verteilte ich auf meine Füße und Schenkel, dann rief ich laut: „Nanni, komm schnell, meine Fiaß bliadn so vül!“ (Meine Füße bluten so stark.) Sie kam vom Garten sehr schnell zu mir. Was war das für ein Schreck für Nanni – ihre ganze Eierfarbe auf meinen Füßen! Sie begann zu weinen und zu schreien: „Vater, Vater, komm schnell, schau, was die Mitzi angestellt hat!“ Sie war sehr zornig auf mich. Als Großvater kam und dieses Elend sah, konnte er einfach das Lachen nicht verhalten, weil ich so verschmiert war. Aber ein bisschen geschimpft hat er auch, wahrscheinlich um Nanni zu beruhigen. Ich dachte, jetzt werden wir gute Eier in die eh mageren Speisen bekommen anstatt diesem gelben Pulver. Aber es wurde wieder Pulver gekauft und nach Gebrauch für mich unerreichbar aufbewahrt. Erinnerungen an das Arbeiten meiner Vorfahren Da meine Familie wie auch einige Nachbarn noch keinen elektrischen Strom hatte, musste halt alles mit der Kraft der Hände bewältigt werden. Wenn das Getreidefeld goldbraun im Sonnenlicht mit schön krumm gebogenen Ähren dastand, war es Zeit, zu Sense und Sichel zu greifen. Großvater mähte mit der Sense an, und Mami und Nanni haben mit der Sichel Garben aufgehoben. Cousine Anna musste aus kleinen Strohschüberln „Bandl“ machen, auf die die Garben draufgelegt und damit ge132

bunden wurden. Das war eine mühevolle Arbeit bei drückender Hitze, aber jeder war froh, wenn es eine reiche Ernte gab. Gegen Abend wurden die Garben zusammengetragen und zu Döckeln* oder Manderln* aufgestellt, damit die Ähren ein paar Tage nachreifen konnten. Man brauchte halt immer ein bisschen Glück, also heiße Tage. Regentage verzögerten um ein paar Tage das Einfahren. War es dann so weit, so wurden schon zeitig die Manderln auf den Wagen aufgeladen, den die braven Tiere zogen. Je nach Größe wurden die einzelnen Garben in die Tenne hineingeschlichtet. Bei uns hatte nur eine Fuhre in der Tenne Platz. In der hinteren Ecke wurde der Sauschragen aufgestellt – das war ein Gestell, auf dem die Schweine, wenn sie geputzt waren, zerlegt wurden. Darauf wurde eine Steinplatte gelegt, die war sehr schwer beim Hinauflegen. Großvater zog ein langes Hemd an, das war die Dreschpfoad*. Er schlug dann die Garben mit der Seite, wo die Ähren dran waren, mit festem Schlag auf die Steinplatte. Da es noch dazu sehr schwül in der Tenne war, schwitzte Großvater so sehr, dass er ganz nass war und öfter schon nicht mehr konnte. Er hat mir schon damals sehr leidgetan. Mami und die zwei anderen Nannis klopften dann auf einer langen Bank, die auch nur zur Dreschzeit in die Tenne gestellt wurde, mit Dreschflegeln die letzten Körner aus den Garben heraus. Dann wurden die Garben in den Hof hinausgeschmissen. Früher spielte ich noch damit herum, aber nach ein paar Jahren musste ich schon mithelfen bei der Ernte: Bandl legen, Garben tragen usw. Auch im Stoppelacker ging ich ohne Schuhe. Das waren wir Kinder schon so gewöhnt. Ein paar „Stenglöcher“, kleine Verletzungen an den Füßen, gab es schon öfter, aber das war bald wieder gut. Waren die Körner alle ausgedroschen, kam das Stroh auf den Heuboden, bei uns auf den etwas entfernten Wagenhüttenboden. Aus der Tenne kamen der Sauschragen und die lange Bank wieder heraus. Dafür kam die Winde hinein, da 133

wurden die goldigen Körner mit dem Wind, der durch den händischen Antrieb entstand, vom „Am“* getrennt. Dann waren die Körner erst für die Mühle fertig. Das Am wurde als Einstreu für die Rinder verwendet. Im Herbst des Jahres 1936 musste ich schon bei der Kukuruzernte* auf dem Acker helfen. Die Stritzeln, die Maiskolben, in den Korb klauben helfen, das war nicht lustig, aber da gab es auch von Großvater keine Schonung. Am Abend musste ich eh früh ins Bett gehen. In der Stube war dann ein großer Berg Maiskolben zum Schälen, das wurde mit gegenseitiger Hilfe von den Nachbarn verrichtet. In der Früh lagen dann noch die „Woazflegen“* in der Stube. Da habe ich mich noch ein bisschen hineingewühlt, das war lustig. Bald wird es ernst mit der Schule Die Zeit blieb nicht stehen, und unsere alte Schwarzwälder Uhr im Stüberl zählte weiter die Stunden unseres bescheidenen Lebens. Also wurde schon oft vom Schulanfang mit mir gesprochen, was ich aber gar nicht gerne hörte. Ich wusste schon, Franzi und Lilli, meine Freunde, würden auch anfangen, in die Schule zu gehen. Das gab mir ein bisschen Trost. Damals kamen wir meist nur zu den Nachbarn, selten schon in die Kirche oder zum Einkaufen. Es fiel halt am Anfang schwer, ein paar Stunden von zu Hause wegzubleiben, von der Familie und von den Tieren, die ich schon sehr ins Herz geschlossen hatte. Wenn Mami die Rinder fütterte, stellte ich mich oft in ein Eckerl und schaute den Tieren beim Fressen zu. Ich kann mich noch gut erinnern, Großvater hatte einmal Futter in die Krippe gegeben. Er hatte meistens ein Säckchen mit Tabak hinten im Hosenriemen* hängen, da war die Kuh Litzi so schnell und zog das Tabakbeutelchen herunter und fraß es sofort weg. Großvater konnte gar nicht so schnell danach grei134

fen. Er war auf die Kuh sehr zornig, und ich habe viel gelacht. Mir hat das sehr gefallen. Da die Leute früher im Winter einander oft besuchten, wenn ein Nachbar Schnaps brannte, erinnere ich mich auch an ein Ereignis, als ich Großvater sogar das Leben gerettet habe. Schon am Nachmittag gingen Großvater und ich zur Familie meiner Freundin Lilli. Ich freute mich sehr über das Spielen mit Lilli, und Großvater trank fleißig Tee mit Schnaps. Wie es halt im Winter so ist, wenn es früh finster wird, übersah Großvater die Zeit, um noch bei Tageslicht heimzugehen. So gingen wir im Dunkeln weg, es war kein weiter Weg, aber es lag viel Schnee. Nur die zwei Spuren von den Fuhrschlitten waren gut begehbar. Da kam es mir sonderbar vor: Großvater hatte eine ganz andere Stimme. Ich habe ihn kaum verstanden, und er fiel so oft in den Schnee, dass ich glaubte, er wäre krank geworden. Immer zog ich an seiner Hand, so dass er mit Mühe wieder hochkam. Ich hatte große Sorge, dass Großvater im Schnee liegen bleibt. Wenn er alleine gewesen wäre, hätte er vielleicht im kalten Schnee erfrieren können. Zuhause angekommen, fiel er sofort ins Bett, und ich weinte, weil Großvater so krank war. Aber Mami und Cousine Anna lachten und sagten, er sei rauschig vom Schnaps. Ich konnte das noch nicht ganz verstehen, und so war es halt ein schreckliches Erlebnis. Aber vielleicht habe ich ihm mit sechs Jahren das Leben gerettet. Noch ein Ereignis hat mich sehr getroffen, so dass ich es auch nicht vergessen habe. Unsere einzige, liebe Milchkuh Litzi bekam geschwollene Vorderbeine. Trotz der Behandlung mit Hausmitteln wurde es zunehmend schlechter. Lehm wurde mit Apfelessig zu Brei gekocht, und die stark geschwollenen Vorderknie wurden damit täglich zweimal eingeschmiert und mit einem Jutefleck verbunden. Ich glaube, es war eine Gelenksentzündung. Das brave Tier hatte bestimmt starke Schmerzen, und so musste die Kuh, die mir, 135

als ich noch ein Baby war, schon ihre gute Milch zukommen ließ, verkauft werden, bevor sie nicht mehr aufstehen konnte. Wir hatten wohl noch zwei schöne junge Fuhrochsen im Stall, aber die gaben ja keine Milch. Es war an einem schönen Frühlingstag, da kam ein Mann von einem Fleischer, der die Kuh holen wollte. Aber sie konnte den Weg nach Groß St. Florian nicht mehr selber gehen, so musste Litzi, unsere brave Kuh, auf den Wagen geladen und von den Ochsen den letzten Weg zum Schlächter gezogen werden. Ich durfte auch schon mitgehen. Mami führte wie immer die Ochsen, Großvater und ich gingen sehr traurig hinterher. Es war schon später Nachmittag, die Sonne hinterließ noch ihre letzten Strahlen, und die Schatten von den Bäumen wurden schon lang, als wir beim Schlächter ankamen. Die Ochsen wurden vom Wagen losgespannt, und zwei Männer schoben den Wagen in ein großes Tor. Schon bald haben die Männer den Wagen wieder herausgeschoben, der Wagen war leer, und das große Tor schloss sich wieder. Großvater musste mich an sich drücken und trösten, weil ich um die Kuh, die ich so lieb hatte, Tränen vergoss. So musste ich halt schon jung erleben, wie sich im Leben ein großes Tor schloss und von dem, was man lieb hatte, nur noch eine schmerzliche Erinnerung zurückblieb. Heimzu saß mein Großvater auf dem leeren Wagen, und ich schlief auf seinem Schoß ein, trotz des sehr holprigen Plankenweges*. Eine gute Stunde brauchte so ein Rinderfuhrwerk von Groß St. Florian bis Lasselsdorf. Erst, als wir zu Hause angekommen waren, kam ich vom Schlaf auf. Mami musste noch die Ochsen füttern, es war schon finster. Ich ging dann schnell ins Bett. Es wurde ja wieder eine neue Kuh gekauft, aber die gefiel mir nicht so gut, weil sie nicht eine so schöne Farbe hatte wie Litzi. Litzi war eine echte Pinzgauer Kuh. Diese Rasse gefällt mir heute noch sehr gut wegen der herrlichen dunkelroten Farbe und ihrer Gutmütigkeit. 136

An einem frühen Sommertag, ziemlich am Morgen, zog mir Mami ein schöneres Kleidchen an und sagte: „Heute gehen wir nach Stainz, Schulsachen und Kleider kaufen“, also über fünf Kilometer Fußmarsch. Es war schon am frühen Vormittag sehr schwül, ich freute mich aber gar nicht an den schönen Kleiderln und Schulsachen. Ein kleines Rucksackerl, eine Tafel, aber die Federschachtel war sehr schön aus Holz gehobelt. Die gefiel mir ebenso wie die sechs kleinen Farbstifte, weil ich mich schon aufs Malen und Zeichnen freute, was ich für mein Alter schon gut konnte. Ich war sehr müde, als wir am Nachmittag heimkamen und Großvater sich mit mir über die paar schönen Sachen freuen wollte. Kurz bevor ich zur Schule kam, zog meine große Cousine Anna von zu Hause aus. Eines Morgens wurde mir gesagt, dass Anna von uns fortgezogen sei, zu einem Bauern als noch sehr junge Dirn. Ich habe sehr viel geweint nach meiner Anna, die ich sehr lieb hatte. Sie hatte ja auch viel für mich getan als Kindermädchen. Mir ging meine Cousine lange sehr ab, umso mehr freute ich mich immer, wenn sie uns besuchte. Ihr ging es bei den neuen Dienstleuten nicht gut, weil sie als junges Mädchen sehr viel arbeiten musste. Mami suchte dann einen besseren Arbeitsplatz im Nachbardorf, von wo uns Anna auch öfter besuchen konnte. Es war nur noch kurze Zeit bis zum Schulgehen. Unser Lehrerehepaar kam immer zirka 14 Tage vor Schulbeginn vom Urlaub nach Hause. Sie wohnten in unserem Dorfschulhaus. Wenn wir auf unserer höher gelegenen Wiese arbeiteten, konnten wir das Schulhaus sehen. Meine Mami sagte zu mir: „Die Fensterbalken der Schule sind schon offen, also sind der Lehrer und seine Frau schon zu Hause.“ Ich dachte: „Jetzt wird der Tag bald kommen, wo ich Schulbeginn haben werde“, und so war es. Am Tag vor meinem ersten Schultag im Jahr 1937 hieß es: „Morgen beginnst, in die Schule zu gehen!“ Nach einer regne137

rischen Nacht im September musste ich früher als sonst aufstehen. Mami half mir beim Waschen und Anziehen. Meine Mami sorgte immer dafür, dass ich ordentlich in die Schule kam. Das Essen ging nicht wie gewohnt, weil ein bisschen Aufregung und auch ein Unwille dabei waren, aber auch etwas Neugierde, weil ja Lilli und Franzi auch kommen würden. Ich war vorher keine paar Stunden von meinen Angehörigen weg gewesen. Großvater hatte Tränen in den Augen, als ich mit Mami fortging. An diesem jungen Tag hingen die Wolken vom nächtlichen Regen wie ein Trauerschleier vor unseren Augen. Da wir nur zirka zehn Minuten zum Dorfschulhaus hatten, ging es bald über zwei Brücken – erst ein kleines Bacherl und knapp vor dem Schulhaus ein größerer rauschender Bach. Dann machte Mami eine große Tür auf, es war die Tür zum beginnenden Ernst des Lebens. Im Schulzimmer – auch Klasse genannt – waren schon mehrere Kinder; es war nur eine einklassige Volksschule. Hier konnten die Kinder, die später nicht die Hauptschule besuchten, vom ersten Schuljahr bis zu ihrem Schulaustritt nach acht Jahren in einem Raum bleiben. Es waren lange Bänke, vorne kleinere, und nach hinten wurden die Bänke höher, wie halt die Kinder größer wurden. Meine Mami begrüßte den gut bekannten Dorflehrer, bei dem schon sie selbst noch drei Jahre gelernt hatte. Auch er begrüßte uns freundlich. Nach mir kamen dann auch Lilli und ihre Mama. Franzi saß schon in einer Bank. Da es eine Dorfschule war, kannte ich schon mehrere größere Kinder. Bald waren unsere Mütter weg, wir haben das ganz übersehen. Wir Mädchen saßen in den Bänken auf der Fensterseite und waren von den Buben auf der Ofenseite durch einen schmalen Durchgang getrennt. Der Lehrer ging oft den Gang nach hinten zu den einzelnen Bänken nachschauen und wieder zurück. Bald hat sich der Herr Lehrer mit uns Kleinen befasst. Wir mussten zu seinem Tisch nach vorne kommen, und uns 138

wurde einiges erklärt und gezeigt: die großen Tafeln, auf denen uns dann vorgeschrieben wurde. An den Wänden hingen Landkarten, die interessierten mich mehr als die großen Schreibtafeln; auch einen Kasten öffnete der Herr Lehrer, und er zeigte uns seine Geige und einige schöne Zeichnungen von Kindern, die schon vor einigen Jahren ausgetreten waren. Da wurden dann wirklich die schönsten aufbewahrt. Die Zeichnungen haben mir wohl am besten gefallen. Ich wusste damals nicht, dass Jahre nach meinem Schulabschluss auch von mir noch Zeichnungen im Kasten liegen würden. Oft sagten nach Jahren Kinder, die den Kasten wieder einmal ordnen mussten: „Ich habe von dir schöne Zeichnungen im Kasten gesehen“, was mir immer Freude machte. Bald war unser erster Schultag vorbei. Lilli und Franzi gingen ein Stück des Heimweges mit mir. Da schien die Sonne schon herrlich vom Himmel, und auch in meinen Gefühlen war es sonniger geworden, weil wir ja zu dritt waren und es für gleichaltrige Kinder, die sich noch dazu schon länger gut kannten, lustig war. Als ich zu Hause ankam, sagte ich schon, dass es mir ein bisschen gefallen hat. Am zweiten Tag ging ich schon mit meinem Rucksackerl am Buckel allein zur Schule. Ich traf auf dem Weg mit Lilli und Franzi zusammen, die beide etwas lieber zur Schule gingen als ich. Am zweiten Tag mussten wir auf unserer kleinen Tafel, die wir mitbrachten, unseren Bauernhof aufzeichnen. Das machte ich gerne, ich brauchte auch gar nicht lange und schaute dann zu meiner Freundin Lilli. Oh Schreck, die hatte fast noch nichts auf der Tafel und weinte. Der Lehrer schaute dann unsere Tafeln an, nahm meine Tafel, ging den Gang nach hinten und zeigte meine Zeichnung den Großen, weil die Zeichnung, wie er zu mir sagte, sehr schön gelungen war. Aber beim Zeichnen blieb es nicht. Die Hausaufgaben freuten uns alle nicht, auch musste ich früher ins Bett gehen, wo es doch lustig gewesen wäre, beim Woazschälen ein bisschen 139

länger dabei zu sein, weil auch Nachbarn am Abend zu dieser Arbeit kamen. Auch die anderen Schulanfänger mussten früh ins Bett. Die Zeit blieb nicht stehen, und die Weihnachtstage waren nicht mehr weit. Wir mussten in der Schule schon Weihnachtslieder singen, aber auch mit den Buchstaben und den Zahlen machten wir schon öfter Bekanntschaft. Unser Lehrer war ein strenger, aber einigermaßen gerechter Herr. Da bekamen die Buben auch ab und zu eine Watschn*, uns Mädchen zog er an den Haaren – ja, wir mussten noch sehr folgsam sein. Am letzten Schultag vor Weihnachten mussten wir Kleinen draußen in einem Vorraum warten, bis wir in die Klasse gerufen wurden. Da staunten wir mit großen Augen. Auf dem Lehrertisch stand ein hell erleuchteter Christbaum. Auch ­Süßigkeiten hingen auf dem Baum, und ein jeder bekam etwas davon. Mit dem Lied „Stille Nacht“ wurde unsere erste Weihnachtsfeier in der Schule von Lasselsdorf beendet. Lustig gingen wir nach Hause, um ja schnell alles daheim zu erzählen und mit Sehnsucht das Ankommen des Christkinds am Heiligen Abend im kleinen Stüberl zu erwarten. Der Krieg zeichnet sich ab Ich weiß nur noch, dass es gegen das Frühjahr hin war. Draußen war es schon dunkel. Meine Mami, die noch im Stall die Rinder fütterte, kam zur Tür herein und sagte zum Großvater: „Geht schauen, gegen Norden, Herbersdorf und Stainz zu, muss ein großes Feuer sein!“, weil eine breite Röte am Himmel zu sehen war. Ich hatte ein bisschen Angst, aber der Feuerschein blieb nicht nur über Herbersdorf stehen. Langsam wuchs über den ganzen Himmel ein blutroter Schein. Mein Großvater sagte mit Sorge: „Das bedeutet nichts Gutes, es ist eine Himmelserscheinung. Es wird ein Krieg kommen, wie es 140

die Muttergottes in Fatima den Hirtenkindern 1917 vorausgesagt hat.“ Also eine göttliche Vorwarnung. Ich fühlte, meine Familie hatte Angst. Großvater war sehr traurig, er sagte noch: „Es wird viel Blut fließen bei dem Krieg, der kommen wird!“ Er hatte wohl recht, denn es wurde ja schon wieder von den Leuten gesprochen, wegen der Nazis und dass es den Leuten in Deutschland so gut gehe. Bei uns waren die Zeiten nicht gut: viele Arbeitslose, oft kamen Bettler und Zigeuner ins Dorf. Meine Familie war arm, aber ein Glaserl Most oder eine Suppe, oder wenn Milch übrig war – diese Leute bekamen immer etwas ab. Öfter fuhren Scherenschleifer vorbei, die hatten meistens einen großen Hund vor ihren kleinen Wagen gespannt. Dieses Gespann hat mir sehr gut gefallen. Eine Zigeunerfamilie kam alle Jahre und blieb in unserer Futtertenne über Nacht. Es waren ganz liebe Leute, sie hießen Nacht und hatten auch einen kleinen weißen Spitzhund mit, der konnte schön Männchen machen, wenn er was zu fressen bekam. Der Hund hat sich gesetzt und mit den Pratzerln gebittet*. Auch Großvater konnte oft fast die Steuer nicht zahlen, weil er ja noch Schulden am Hof hatte. Meine Großeltern kauften den kleinen Hof 1911 und hatten auch nicht das ganze Geld, obwohl sie sehr fleißig und sparsam waren. Leider begann ja 1914 der Erste Weltkrieg. Ich weiß noch, wie einige Male ein Steuerexekutor kam und ein Schweinderl aufschrieb, das dann sehr bald verkauft wurde, um die Steuer zu zahlen. Großvater musste nach seiner Heimkehr vom Krieg einen sehr schönen, großen Acker und ein Wäldchen verkaufen, weil Großmutters Arzt und Begräbnis zu bezahlen waren. Im März marschierte Hitler mit seinem Regiment ein. Mein Großvater und sein Freund waren nicht begeistert. Großvater war ein alter Kaiserlicher, ein Monarchist. Ich kann mich noch erinnern, es war ein Freudenjubel und Geschrei, wie wenn der Herrgott auf Erden käme. Hitler wurde wie ein Sonnen141

könig gefeiert. Gerade dass nicht gejubelt wurde: „Führer, der Retter ist da!“ Für viele war Hitler ein Retter. Solche, die fest „Heil Hitler!“ geschrien haben, bekamen vom Staat oft viel Geld zum Tilgen ihrer Schulden. Aber dieses Geld war halt mit Blut beschmiert; mit dem Blut vieler Unschuldiger, nur weil sie Juden oder Zigeuner waren. Die Familie Nacht, die alle Jahre einmal bei uns übernachtete, kam dann auch nicht mehr. Ich kann mich noch gut erinnern, es war ein heißer Tag, und Mami nahm mich mit zu einer Kundgebung unter freiem Himmel. Ein größerer Bauer aus unserem Dorf, der schon lange ein Nazi war, schrie mit riesiger Freude nur lobende Worte für Hitler – bis zur Heiserkeit, weil er diese Versammlungen auch in allen Nachbardörfern abhielt. Aber hätte er damals schon gewusst, dass sein fescher Sohn in weiter Ferne sein junges Leben wegen diesem vielgeliebten, blutrünstigen Idioten Hitler verlieren musste, hätte er nicht so hoch zu ihm aufgeblickt. Ein großes Hitlerbild schaute in seiner Stube von der Wand herunter. Nach dem Tod seines Sohnes sah ich diesen Bauern dann öfter mit gesenktem Kopf, von Trauer gezeichnet, gehen. Wenn meine Mami für mich einen Krankenschein brauchte, musste sie den Schein bei diesem Bauern und Bürgermeister holen. Mein Vater war da schon im Krieg. Mami hatte jedes Mal Angst, einen Schein zu holen. Einmal war ich selber mit, als er zur Mami sagte, dass ich der Gemeinde zur Last falle. Wahrscheinlich musste für arme Kinder die Gemeinde den Arzt bezahlen. Mich schaute dieser Mann ganz wegwerfend an. Ich mochte ihn nicht, denn arme Menschen wurden in diesem Haus nur zum Arbeiten gebraucht. Das Jahr 1939 ging in die Weltgeschichte ein. Auf einmal wurde wahr, was schon lange vorher und heimlich viele Nicht-Nazis gesagt hatten. Der Krieg begann und breitete sich immer mehr aus. Wer ein Radio hatte – Volksempfänger 142

hießen diese einfachen Kasteln –, hörte Hitler und Goebbels immer vom Sieg brüllen. Die jungen Burschen wurden mit Propaganda aufgehetzt, so dass viele freiwillig und stolz die SA- und SS-Uniformen anzogen. Die Freude der Burschen wurde aber bald von grausamen Verwundungen und sinnlosem Sterben überschattet. Lebensmittel und Textilien wurden schon etwas weniger, Lebensmittel- und Kleiderkarten wurden eingeführt, mit denen die Leute nur das Notwendigste kaufen konnten. Der Schwarzhandel begann zu blühen. Auf Bahnhöfen wurden die prallgefüllten Taschen von Polizisten kontrolliert, Fleisch und Öl wurden beschlagnahmt, und es gab gewaltige Strafen. Die Stadtmenschen brachten fast ihre letzten Kleider zu den Bauern, um zusätzlich Lebensmittel zu bekommen. Das wurde Hamstern genannt. Auch die Schwester und ein Bruder von Mami kamen sehr oft. Beide waren in Graz wohnhaft. Wenn Mami selber nichts geben konnte, besorgte sie einiges bei den größeren Bauern im Dorf. Da war es wieder ein großer Vorteil, eine Landwirtschaft zu besitzen. Wir hatten es auch nicht gut, aber Hunger litten wir nicht. Im Jahr 1939 war auch mein Erstkommuniontag. Damals mussten wir in Religion noch viel lernen, denn es gab eine Prüfung. Als Lilli und ich die Prüfung zur heiligen Erstkommunion bestanden hatten, freuten wir uns beide sehr, dass wir Jesus in Gestalt eines Brotes empfangen durften. Wir wurden beide Gott sei Dank schon daheim, im zarten Kindesalter, gläubig erzogen, und es wurde sehr ernst genommen, was uns von Priestern im Religionsunterricht vorgetragen wurde. Für die erste heilige Kommunion bekam ich von meiner Tante Maria ein weißes Kleid geliehen, weil ihre Zwillingstöchter, meine lieben Cousinen Maria und Pepi, ein paar Jahre älter waren. An einem Frühsommertag ging ich mit Mami die vier Kilometer zur Kirche. Im Pfarrhof war dann Aufstellung, 143

von wo wir mit Musik einen sehr schönen Einzug hatten. Mit ernster und andächtiger Würde haben wir die erste Kommunion vom Priester empfangen. Nach dem Fest ging es wieder in den Pfarrhof, dort wurden wir in einem großen Saal mit Kakao und Kuchen bewirtet. Nachher gingen wir mit Christus im Herzen – wo wir ihn für unser ganzes Leben, in frohen und traurigen Stunden, behalten haben – und von unseren Müttern sicher begleitet nach Hause. Nach einem Abendgebet schlief ich müde, aber glücklich ein. Ich habe eine unerklärliche Vision Im Frühjahr 1940 war es, als ich an den Armen einen so argen Juckreiz bekam, dass ich mich bald blutig kratzte, und die Arme wurden eitrig und geschwollen. Der Juckreiz wurde mir in der Nacht fast unerträglich. Der Lehrer schickte mich von der Schule heim, als er meine Arme sah, die ich vor Schmerzen nicht mehr gebrauchen konnte. Mami ging mit mir dann zum Arzt. Ich glaube, der wusste zuerst auch nicht recht, was für eine Krankheit es war. Ich musste täglich die Arme in einer Lösung baden – es half nicht. Ich wurde schon ganz kraftlos und mager. Erst dann bekam Mami eine Salbe. Sie schmierte mein kleines Knochengestell ganz damit ein und wickelte mich für einige Zeit in ein Leintuch. Dann wurde ich im Wäschezuber in der Stube gebadet, und das ein paar Tage hindurch. Das hat sofort geholfen, denn der Arzt erkannte diese Krankheit, die ja schon einige hatten. Es war die Krätzmilbe, die unter der Haut richtige Gänge fraß. Solche Krankheiten brachten Soldaten bei Urlauben mit in die Heimat. Ich war schon so geschwächt, dass ich noch eine Lungenentzündung bekam. Meine Cousine Anna kam mich oft besuchen sowie die liebe Grabentoni-Mutter. Sie brachte mir Hollermarmelade* und ein Spielzeug, das ich oft auf ihrer 144

Fensterbank stehen sah, eine kleine, aus Holz geschnitzte Kuhherde. Ich freute mich sehr. Der Doktor Mitteregger schaffte an, ein Stück Rindfleisch zu kochen und mir die Suppe zu geben. Da war ich aber traurig, weil ich das Fleisch, von dem ich gerne ein paar Stückerln gehabt hätte, nicht bekommen durfte. Wieder war es Großvater, der sagte, ein paar kleine Stückerln könnte ich doch essen. Es glaubten so alle, dass ich diese Krankheit nicht überleben werde. Meine Cousine, die im Nachbarort im Dienst war, sagte später, dass sie täglich fürchtete, von der Kapelle Lasselsdorf bald die Sterbeglocke läuten zu hören. Sie hat oft geweint wegen mir, aber meine Namenspatronin, die Gottesmutter, hatte mit meinem Leben etwas anders vor. Es war gegen Abend, in der Stube war es schon etwas dumper*, ich schlief. Auf einmal, als ich schon am Aufwachen war, stand zirka eineinhalb Meter von der Stubentür eine schöne junge Frau. Sie hatte ein sehr schönes, blasses Gesicht, ein bodenlanges, blaues Kleid an und war von schlanker Gestalt. Irgendwie habe ich gar nicht mehr richtig geschlafen, war sozusagen in Trance. Sie schaute zu mir, ich rief ihr zu: „Mami, nimm mich mit!“ Mein Großvater saß neben mir im Bett. Er und Mami hörten mich rufen, sahen und hörten aber diese schöne Frau nicht sprechen. Sie sagte zu mir: „Dich hole ich noch lange nicht, du musst noch viel in deinem Leben tun“, und war auf einmal spurlos verschwunden. Ich war wirklich schon wach, konnte aber nur das „Mami, nimm mich mit!“ rufen. Sobald diese Erscheinung weg war, erzählte ich, was ich gesehen hatte. Zwei Mal ist mir diese Frau erschienen, am darauf folgenden Tag auch wieder. Ich weiß aber nicht mehr, ob sie das zweite Mal auch was zu mir sprach. Wer war diese Frau? War es die Gottesmutter, was ich annehme, oder war es mein Schutzengel, der mir diese Botschaft brachte, dass ich noch lange leben werde? 145

Nach diesen Erscheinungen hat sich mein schlechter Zustand erstaunlicherweise sehr schnell gebessert. Als ich dann wieder halbwegs gesund war, ging auch das Schulgehen wieder weiter. Das Schulgehen in der Kriegszeit wurde immer schwerer. Die Hefte hatten ein ganz schlechtes Papier, Farbstifte waren kaum mehr zu bekommen. Es kamen schon Kriegsgefangene zu den Bauern im Dorf, viele Engländer, Franzosen und dann die Ostarbeiter*. Junge Leute aus der Ukraine und aus Polen mussten Zwangsarbeit leisten. Zu unseren Nachbarn „Grabentoni“ kam ein zwanzigjähriges Mädchen, eine kleine Russin, die Juli. Sehr bald haben wir uns gut vertragen. Es war dann eine gute Freundschaft. Sie lernte sehr schwer unsere Sprache. Ich habe ihr viel geholfen, weil ich oft bei anderen Ukrainern etwas von ihrer Sprache gelernt und dann Juli von Ukrainisch-Russisch ins Deutsche übersetzt habe. Ich habe schon fast alles verstanden, was Ukrainer oder Polen gesprochen haben, aber am besten Russisch, denn Juli sprach Russisch. Aber der Krieg und das sinnlose Morden gingen immer weiter. Es mussten in der Nacht alle Fenster verdunkelt werden, sonst gab es Strafen. Da kamen öfter zwei ältere Männer mit schönen Abzeichen. Großvater hatte eh nicht viel Geld, aber ein bis zwei kaufte er immer. Ich hatte eine Freude damit. Es gab ganze Serien davon, angefangen von Wildtieren, Blumen, Schneemänner und so vieles mehr. Das Geld wurde für den Krieg verwendet. Mit roten Sammelbüchsen kam oft wer, und auch wir Kinder mussten sammeln gehen. Damit nicht genug: Die Bauern wurden gezwungen, Mais, Weizen, Erdäpfel und Rinder abzuliefern, und auch wir kleine Keuschler* blieben nicht ganz verschont. Das Getreide musste von den Zugtieren zum Bahnhof gefahren werden. Mami bekam dann noch einen Gutschein, damit sie das Hausdach mit Ziegeln decken lassen konnte. Wenn ein Gewitter kam, mussten meine Leute in der Stube ein paar Schaffeln 146

unterstellen, weil die alten Schindeln schon Regen durchließen. Es kam halt alles auf Gutscheine, die bei der Gemeinde zu haben waren. Ich musste schon viel arbeiten helfen, weil Großvaters Krankheit zunahm. So musste ich schon die Ochsen beim Anbauen auf dem Acker ordentlich führen. Das war aber gar nicht so einfach. Neue Ochsen ließ mein lieber Onkel Peter die Mami nicht kaufen, wegen zu großer Gefahr für mich. So verhalf er Mami zu einer sehr braven und starken Fahrkuh, und eine zweite kaufte Mami selber dazu. Es waren starke, große Tiere, mit denen ich sehr gut zurechtkam. Ich liebte diese Kühe. Sie waren mir so zugetan, dass ich am Wagen oben sitzen konnte und nur mit langen Zügeln wie bei den Pferden des Weges fuhr. Ich half auch schon mit zwölf Jahren füttern und musste oft Wasser für die Tiere von der Lacke holen. Das tat mir aber gar nicht gut, so jung und so schwer tragen, aber da kannte Mami keine Schonung. Da bei den Nazis auch kein lieber Gott mehr gebraucht wurde, kam zu unserem Bedauern kein Priester mehr in die Schule. 1940 durfte in den Ferien noch in der Kirche zur Firmung gelernt werden. Mich und Lilli begleitete ihre betagte liebe Großmutter zur Kirche nach Groß St. Florian, bis wir vorbereitet waren. Meine Firmpatin durfte ich selber wählen. Es war meine Cousine Anna, die ich bitten durfte. Sie nahm mich sofort an. Mein Firmungstag war der 29.9.1940. Den Tag und die Nacht vor der Firmung war viel Regen gefallen, also gab es Hochwasser. Wir gingen alle barfuß, Mami, Anna und ich, und es war kaum möglich, über die Wassergräben zu kommen. Der Bach trat übers Ufer, aber wir kamen doch rechtzeitig in der Kirche an. Noch hingen schwere Wolken am Himmel, ab und zu regnete es ein bisschen. Die Kirche war bis auf den letzten Platz voll, denn viele hatten das Gefühl, bei dieser Christenverfolgung die Kinder bald nicht mehr firmen zu dürfen. 147

Wir mussten uns in langen Reihen aufstellen, hinter jedem Kind die Paten, die dann beide Hände auf unsere Schultern hielten. Dann zog der hochwürdige Bischof von einem zum andern, ein Kreuzzeichen auf die Stirn und einen leichten Backenstreich. Als die Kirche aus war, gingen wir an den Standln vorbei, da kaufte mir meine Patin Anna ein schönes Gebetbuch und einen weißen Rosenkranz. Dann ging’s ins Gasthaus, aber es waren kaum noch Plätze zu kriegen. Mit Mühe fanden wir einen, und es gab noch Brathenderln, aber ich konnte fast nichts essen bei dem Rummel und war froh, als wir gingen. Meine Patin musste ihr Geld schwer und hart als Bauerndirn verdienen und gab doch einiges für mich aus. Tauf- oder Firmpate zu sein, war damals noch eine göttliche Ehre, damals ging es noch um den Segen Gottes und darum, dem Firmling beizustehen. Reiche Bauernkinder wurden mit den Pferdekaleschen und mit schönen neuen Kleiderln in die Kirche gefahren. Wir arme Kinder bekamen den gleichen Segen, auch wenn mein Kleid von meiner älteren Cousine war. Aber arm sein ist keine Schande. Ich war wieder gesund und reich an Leben, wie es mir die schöne Frau versprochen hatte. So neigte sich mein Firmungstag der Nacht zu und ich schlief müde, aber reich an der Gnade Gottes, ein. Der Krieg machte sich immer mehr bemerkbar. Nur die Nazibrüder protzten mit Hitler und seinen siegreichen Verbrechen. Ein Bauer hatte am Stubentisch, wo er den Herrensitz hatte, ein Hakenkreuz in die Tischplatte eingeschnitzt. Ein anderer hatte den Herrgott vom Tischwinkel genommen und irgendwo am Dachboden versteckt. Ein Mann hatte von einem Wegkreuz den Herrgott heruntergerissen und in den Graben neben dem Fuhrweg geschmissen. Aber der bekam etwas später die Strafe Gottes zu spüren – er bekam Knochenkrebs. Auch Meldungen kamen schon öfter: Der Ehemann, Sohn, Vater oder Angehörige sind den Heldentod für den Führer 148

gefallen. Von einem ganz blöden Nazi in unserem Dorf war der Sohn gefallen, und die Frau und Mutter durften gar nicht um ihren Sohn weinen, denn der Mann war stolz, seinen Sohn dem Führer geopfert zu haben. Wenn dieser Mann zu uns kam, mit Abzeichen oder mit der Sammelbüchse, hatte meine Familie einen Ekel. Er war einfach nicht zum Anschauen, ungepflegt und klapperdürr. Ein unpassendes Wort wäre genug gewesen, um ins KZ zu kommen. Erlebnisse in den Kriegsjahren Da wir auch am Nachmittag ein paar Stunden Schule hatten, konnten wir Kinder zum Mittagessen heimgehen, weil wir ja ohnehin nur zirka zehn bis fünfzehn Minuten Gehzeit hatten. Als ich einmal heimkam, saß am Tisch mein Cousin Hansi. Er war aber nicht so fröhlich wie sonst immer. Als wir mitsammen gegessen hatten, fiel mir auf, dass Hansi fast nichts gegessen hatte. Ich wollte wieder fortgehen zur Schule, da sagte Mami: „Gib Hansi ein Busserl, er muss in den Krieg ziehen!“ Und schon hat er geweint. Auch ich weinte noch fast den ganzen Weg zur Schule. Es war der erste Kuss, den ich einem Burschen gab, aber er war ja mein Cousin, und wir hatten oft miteinander gespielt. Obwohl Hansi einige Jahre älter war als ich und er mich auch öfter ein bisschen sekkierte, hatte ich ihn sehr gern und freute mich immer, wenn er zu uns auf Besuch kam. Es war aber ein Abschied für die Ewigkeit. Hansi schläft in weiter Ferne in ukrainischer Erde. Auch sein Bruder Fredi kam nicht mehr nach Hause. Zu Weihnachten durfte nicht einmal das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ gesungen wurden. Als Ersatz musste das Lied „Hohe Nacht der klaren Sterne“ gesungen werden, aber unser sehr gläubiger Lehrer hat uns einmal vor Weihnachten erlaubt, ganz leise „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Das Kreuz im Schulzimmer musste von der Wand 149

entfernt werden, so hatte die Glaubensunterdrückung zugenommen. Da die kriegstauglichen Männer alle schon im Krieg ­waren, bekamen die Bauern gefangene Engländer und Ostarbeiter. Überall waren Gefangene und Zwangsarbeiter so wie Juli. Wir Kinder hatten oft mit diesen jungen Leuten eine Gaudi, was ja auch nicht sein durfte, weil die Nazis sagten, es seien unsere Feinde. Aber wir waren mit einigen von ihnen Freunde. Ich hatte schon viel sprechen gelernt und eine richtige Freundschaft mit Juli geschlossen. Es kam aber auch vor – als ich erst begonnen hatte, die Sprache zu erlernen –, dass mir einer von den Ostarbeitern etwas sagte, ein Wort, das einen ganz anderen Sinn hatte, als ich zu verstehen glaubte. Aber ich kam bald dahinter, und so lachten wir beide, ich und Juli. Es musste ja viel mit den Nachbarn zusammen gearbeitet, also gegenseitig ausgeholfen werden; das war aber sehr lustig. Mein Großvater konnte halt auch nicht mehr so arbeiten. Es war für mich trotz der Arbeit ein geselliges Beisammensein mit den Nachbarn. Ich war immer schon gerne in Gesellschaft junger und auch erfahrener, alter Leute, denn die älteren Menschen wussten viel zu erzählen. Das interessierte mich oft sehr. Es war ein heißer Sommertag, es wird 1940 oder 1941 gewesen sein, als Großvater und ich wieder einmal in unserem Wald spazieren und Schwammerl suchen gingen. Da hat sich Großvater auf einen Baumstock gesetzt und zu mir gesagt, er sei schon krank, und wenn er einmal nicht mehr leben wird, so soll ich mich öfter, wenn ich an dieser Stelle vorbeikomme, an ihn erinnern. Ich begann herzzerreißend zu weinen. Da nahm mich mein Großvater und drückte mich an sein Herz. Auch ihm rannen die Tränen aus seinen gütigen Augen. Ich merkte damals im Wald noch gar nicht, dass Großvater krank sein sollte, nur schwere Arbeit hat ihn schon belastet. 150

Später, als wirklich nach einigen Jahren Großvater für immer ins kühle Grab schlafen gehen musste, bin ich oft an der Stelle im Wald gestanden, im Gedanken und Gebet bei ihm. Auch wenn ich einmal Kummer hatte, ging ich zu diesem für immer heiligen Platzerl im Wald. Die Bäume und der Wind, der die Blätter rauschen ließ, waren Zeugen längst vergangener Stunden. Meine Mami sagte einmal zu mir, ich müsse Großvater beim Hühnertragen nach Groß St. Florian begleiten, was ich gerne tat. Die fertig gemästeten Hühner mussten in einer Hühnerkraxe* zum Schlächter gebracht werden. Es war ein sehr heißer Sommertag. Zu Mittag nahm Großvater die Kraxe mit der für ihn schon viel zu schweren Last auf seinen ausgeschundenen Buckel, und so gingen wir halt den langen und für ihn mühevollen Weg. Wenn er zum Rasten die schwere Kraxe mit den Gogerln* absetzte, musste ich einige Male helfen, sie ihm auf die Schultern zu heben. Die Sonne heizte an diesem frühen Nachmittag ganz unbarmherzig auf uns herab. Hinter dem Rosenkogel und der Koralpe türmten sich schon drohend gewaltige weiße Wolkentürme auf. Ich hatte ein bisschen Angst. Großvater sagte: „Heute wird noch ein Wetter* kommen.“ Als wir schon bald an unser Ziel kamen, hörten wir leisen Donner aus der Ferne. Endlich konnte Großvater beim Hühnerschlächter seine Last ablegen und mit ein paar Mark den Heimweg antreten. Ein langer Weg war wieder zu gehen, durch Wiesen und Wald, ohne ein Haus am Weg. Immer näher kam das drohende Donnergrollen. Als wir in den Waldweg einbogen, brach ein fürchterliches Gewitter über uns los. Großvater stellte sich unter eine breite Fichte, und ich kuschelte mich angstvoll, aber beschützt ganz eng an ihn. Es dauerte nicht lange, und das gewaltige Gewitter war vorbei. Beide waren wir durchnässt. Mir hat das bei der Hitze sehr gut getan, weil sofort wieder die Sonne niederbrannte, 151

aber Großvater war halt schon alt und leidend. Nach kurzer Zeit war mein Sommerkleiderl ganz trocken. Barfuß gingen wir Kinder bis spät in den Herbst hinein. Auch in die Schule brauchten wir keine Schuhe, da haben wir unsere dreckigen Haxerln in dem Bach gewaschen, der ganz nahe vor dem Schulhaus vorbeirauschte. Auch in die Kirche gingen wir öfter barfuß. Da war am Marktanfang ein Haus, wo wir bei einem Brunnen die Füße waschen durften, auch ein alter Fetzen war zum Abtrocknen dort. Dann wurden die Schuhe angezogen, und nach der Kirche zogen wir sie wieder aus. Es war eh lustig, barfuß zu gehen, und die Eltern brauchten nicht so oft Schuhe kaufen; außerdem waren kaum Einkaufsmarken zu haben. Im Mai 1942 hat Mami geheiratet. Ich aber mochte diesen Mann gar nicht. Er stellte mir überhaupt keinen Vater dar. Er war nicht schön, so wie mein Vater, und hat sich immer sehr ungehobelt benommen. Er musste aber eh wieder einrücken. Ich hatte auch nach dem Krieg kein gutes Verhältnis zu diesem Mann, und auch Mami kam dann zur Einsicht, dass er nicht der Beste war. Die Tiere waren immer meine Freunde. Sie gaben mir viel Liebe zurück, weil sie auf mich hörten. Sie halfen uns ja beim Arbeiten, zogen den Pflug, Furche um Furche, oder schwere Erntefuhren heim. Beim Ackern musste ich schon als Kind oft die Ochsen und Kühe leiten. Oft habe ich die Leitkuh abgetätschelt und gestreichelt und der Mami das Saumehl* gefladert* und den Zugtieren zusätzlich gefüttert. Wir hatten keine mageren Rinder! Wenn ich, schon zwölf oder dreizehn Jahre alt, öfter nach Groß St. Florian oder zur Mühle fahren musste, um etwas zu holen, dann habe ich schon am Vortag das Zugzeug sowie die Kummete geputzt. Früher war man stolz auf ein gut aussehendes Gespann so wie heute auf einen neuen Traktor. Im Sommer bin ich schon um fünf Uhr in der Früh weggefahren, 152

weil sonst die Bremsen in Scharen gebissen und an den Tieren Blut gesaugt haben. Bei längerer Trockenheit hatten wir oft für die Tiere zu wenig Wasser. Das war dann auch meist meine alleinige Arbeit, mit der Kuh oder auch mit dem Ochsen Maxl in den Wald zu fahren und ein Fass voll Wasser aus einer Lacke im Wald zu holen. Da wurde mit dem Eimer das Wasser aus der Lacke geschöpft und damit das Fass mit zirka 300 Liter gefüllt. Da musste man schon einige Eimer Wasser schöpfen. Alle zwei Tage war das meine zusätzliche Nachmittagsbeschäftigung, während der Ochse Maxl oder die Kuh Susi sich ganz geduldig mit Wiederkäuen beschäftigten. Eigentlich machte ich diese Arbeit gerne, auch der Hund hat mich begleitet, aber für ein so junges Mädel, wie ich noch eines war, war es halt schon zu schwer, die vielen Eimer Wasser so hoch hinaufzuheben und oben ins Fass zu schütten. Auch Juli musste diese Arbeit machen, weil auch bei den Nachbarn im Sommer von der gleichen Waldquelle das Wasser für die Tiere geholt wurde. Ich musste sehr oft von der Schule daheimbleiben und arbeiten helfen. Da gaben die Bauern dem Lehrer ein Stück Selchfleisch oder sonstige Lebensmittel, und die Kinder konnten daheim helfen. Ans Lernen wurde nicht gedacht. Ab und zu habe ich auch gerne die Schule geschwänzt. Wenn zu Hause ein Schwein geschlachtet wurde oder ich mal ein Gedicht nicht gelernt hatte, wenn ich halt einfach keine Lust hatte, in die Schule zu gehen, dann machte ich das so: In der Früh habe ich gejammert: „Ich habe so viel Kopf- und Bauchweh!“ Großvater, der ja immer besorgt war, sagte dann: „Bleibst halt brav im Bett“, und er hatte eine Wundermedizin. Er kam mit einem Zuckerwürfel, der mit Melissengeist getränkt war. Das nahm ich sofort entgegen, da ein Würfel Zucker auch kein alltägliches Leckerchen war. 153

Die Schule hätte für mich um 8 Uhr begonnen, und so wurde ich meistens um 9 Uhr wieder kerngesund. Großvater war stolz auf seine Wundermedizin, weil ich so schnell wieder schmerzfrei war. So habe ich, was mir nachher leidtat, Großvater oft angeschwindelt. Meine Mami wollte es mir eh oft nicht recht glauben, aber Großvater hatte in dieser Sache das letzte Wort. Es war ein nebliger, kalter Vormittag. Mami und ich gingen der Grabentoni-Mutter helfen, unerlaubt eine Sau zu schlachten. Es wurde ja vorgeschrieben, wie viele Schweine geschlachtet werden und wie schwer diese Tiere sein mussten – oft viel zu wenig für den Eigenbedarf, und dann wurde halt auch noch einiges gebraucht, um Kleider einzutauschen. Also erzähle ich vom Schwarz-Sauabstechen. Juli, die kleine Russin, wurde mit irgendeinem Auftrag zu einem entlegenen Bauern geschickt, denn sie sollte ja nichts mitbekommen. Ich musste draußen im Hof immer Ausschau halten, ob nicht wer kommt. Ein anderer Nachbar hat das Tier im Saustall abgestochen, und in der Streuhütte wurde die Sau gebadet und enthaart. Dann trugen der Schlächter, Mami und die zwei Eheleute das gar nicht so kleine Schwein in ihr Schlafzimmer, wo das Zerteilen losging. Mir wurde sehr kalt bei diesem Herumstehen im Hof. Mami und ich gingen dann nach einer guten Bluttommerljause* heim, wurden aber auch zum Mittagessen eingeladen. Ein Schlachttag war für mich wie ein Festtag, weil es sonst nur sehr wenig Fleisch zum Essen gab. Ich esse aber besonders gerne Fleisch. Juli sagte dann später zu mir: „Ich nix blöd, Wugerl kaputt, ich nix sagen, gut essen!“ Wir lachten beide, denn alle glaubten, Juli würde nichts mitbekommen. Auch bei uns wurden Schweine schwarzgeschlachtet, und wehe, wenn wer erwischt wurde – da gab es harte Strafen, obwohl das Tier eh unser Eigentum war. So war halt die vielbejubelte Hitlerzeit. 154

Unser Lehrer musste einrücken, und so wurde unsere Dorfschule gesperrt. Nach einiger Zeit wurden wir Kinder in andere, sehr weit entfernte Schulen aufgeteilt. Einige mussten nach Groß St. Florian gehen, einige nach Rassach. Ich und Lilli und noch einige nach Mettersdorf, eineinhalb Stunden Fußweg. Also, mit der Sturmlaterne bei Dunkelheit durch ein Stück unseres Waldes bis zum Haus meiner Freundin Lilli, da war ich dann nicht mehr allein. Dann den langen Weg durch Wald und Felder. In dieser Schule gab es nach dem Unterricht noch Heimstunden*, die von einer unterqualifizierten jungen Lehrerin abgehalten wurden. Ich kam dann im Herbst schon fast wieder bei Dämmerung heim – ohne warmes Essen untertags. Es gab Läuse, es waren sehr viele Kinder in einer Klasse. Aus dem Lernen wurde oft eh nicht viel. Einige Male schwänzten wir die Schule und gingen ohne elterliches Wissen nach Groß St. Florian in die Kirche. Da gab es heimliche Religionsstunden. Schöne Lichtbilder von Heiligsprechungen wurden uns gezeigt und erklärt, denn in den Schulen durfte kein Religionsunterricht mehr stattfinden. Aber diese Priester waren sehr mutig, weil sie trotzdem unterrichteten. Meine Leute haben sich sehr geärgert, weil ich oft noch zur Heimstunde bleiben musste. So ging meine Mami zu dieser naziverrückten Lehrerin und sagte ihr ordentlich die Meinung: dass so etwas nicht geht, ein Kind mit so einem weiten Schulweg so lange in der Schule zu behalten, und dann noch für diese Hitler-Jungmädchen-Appelle. Es kam so weit, dass Mami der Lehrerin ein paar Watschen geben wollte. Das habe ich aber dann zu spüren bekommen: einen Sechser* im Zeugnis, also musste ich die Bank* wiederholen. Mami hat mich dann in eine andere Schule versetzt, nach Rassach. Da war es etwas besser. Dieser Lehrer sagte zu uns Kindern: „Wir machen eine Turnstunde, anstatt zur Kapelle zu gehen, zu diesen Pfaffen.“ Aber alles kommt halt, wie es 155

kommen muss – auch dieser Lehrer musste einrücken. Er hat dann an einige seiner Schüler Bittbriefe geschrieben, sie sollen für ihn beten, dass er glücklich und gesund wieder vom Krieg heimkommt. Wir bekamen dann wieder einen sehr guten Lehrer in unserer Dorfschule. Er war ein Jugoslawe, aber ein Mensch mit Herz. So hatte ich wieder mehr Zeit und war am Nachmittag schon zu Hause. Einmal war in der Schule eine Zeichenstunde angesagt. Der Herr Lehrer sagte: „Heute werden wir einen voll beladenen Heuwagen samt Zugtieren zeichnen.“ Der Herr Lehrer zeichnete fast jede Zeichnung auf der großen Tafel mit Kreide vor. Ich hatte dann relativ schnell in meinem Zeichenheft den Heuwagen mit zwei Ochsen davor fertig, denn das Zeichnen von Rindern war mein großes Können. Als ich dann einmal zur Tafel vorschaute, war der Heuwagen so einigermaßen fertig, aber oh Schreck: Die Ochsen waren jämmerliche Gestelle! Da habe ich laut aufgelacht, und schon flog die Kreide, die der Herr Lehrer in der Hand hatte, zu mir, und er rief mir zu: „So, und jetzt kommst heraus und machst du die Tiere!“ Ich ging sofort zur Tafel, löschte diese Gestalten weg, die Ochsen sein sollten, und sehr schnell waren fette Ochsen vor der Heufuhre. Am Nachmittag, als ich schon daheim war, sah ich den Lehrer von der Fuhrstraße auf unser Haus zukommen, und ich dachte: „Jetzt wird er sich bei der Mami wegen dem lauten Lachen beschweren.“ Das tat er auch, fügte aber hinzu, dass ich recht gehabt und die Tiere einfach viel besser als er gezeichnet hätte. Mami sollte mich in die Kunstgewerbeschule schicken, weil ich sehr gute Talente im Zeichnen bewiesen hätte. Das Zeichnen war auch meine große Freude. Doch darüber wurde gar nicht nachgedacht, sondern es hieß: „Die Arbeit gut lernen, dann kannst auch zu was kommen!“ Für ein Keuschlerdirndl* war das aber nicht leicht, denn die größeren Bauern verlangten von einer Braut und Schwiegertochter zu 156

zwei fleißigen Händen noch ein ansehnliches Hochzeitsgut dazu. Es sprach halt oft mehr das Geld und nicht das Herz, und Söhne und Töchter mussten sich fügen. Zu Weihnachten 1943 hatten wir nur mehr Kekse und Äpfel am Weihnachtsbaum. Ich habe ein paar Tage vor Weihnachten den schon kränklichen Großvater begleitet, als er das Christbäumchen aus unserem Wald holen ging. Leider war es der letzte Christbaum in seinem Leben. Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern. Lange suchte Großvater im Jungwald herum, denn es sollte ein schöner Baum sein, aber ja nicht von dort, wo ein Baum großen Platz zum Wachsen hatte. Er sagte oft zu mir, wenn wir bei kleinen Bäumchen standen: „Von diesen kleinen Bäumen wirst erst du einen Nutzen haben.“ Immer dachte Großvater für mich weit voraus. Weihnachten 1943 war kein Fest der Freude, und in der nächsten Zeit flogen nachts immer öfter amerikanische Bomber über uns nach Graz. Zuerst haben sie Lichtraketen abgeworfen, die Leute sagten „Christbäume“, damit die Stadt eine kurze Zeit erleuchtet war und die Flieger die Bomben gezielter abwerfen konnten. Beim Rückflug hatten wir immer Angst. Wenn die Flugzeuge beim Angriff auf Graz von der Fliegerabwehr vertrieben wurden, warfen sie die Bomben beim Rückflug ab. Ich weiß nur, einmal wurde ein Haus zerstört und ein schlafender Mann in seinem Bett getötet. Das war in unserem Nachbardorf Herbersdorf. Aber ich glaube, die Bombersoldaten hatten auch ein Herz, weil einige Bomben in den Wäldern – auch in unserer Nähe – abgeworfen wurden und nicht über einem Dorf. Es war an einem frühen Vormittag vor Pfingsten, als ein angeschossener Bomber abstürzte. Wir waren beim Woazhauen am Acker, da heulten, wie schon fast täglich, die Sirenen auf. Schon war das Brummen zu hören, das immer näher kam. Es waren mehrere Bomberstaffeln, die uns überflogen. 157

Dann donnerte die Fliegerabwehr mit gewaltiger Gegenwehr auf. Es donnerte ununterbrochen fort über der Stadt Graz. Viele Menschen mussten ihr Leben bei so einem Angriff sinnlos verlieren. Auf einmal hörten wir ein Flugzeug immer näher kommen, ein Auf- und Abheulen. Der Bomber drehte sich in Kreisen herunter, eine Tragseite war von der Flak, wie die Fliegerkanonen hießen, getroffen. Wir hatten schon Angst, der Flieger würde in unserer Nähe abstürzen, aber auf einmal ist er hinter dem Wald verschwunden. Ein lautes Krachen ging los, und eine riesige Rauchwolke stieg empor. Viele Leute rannten zur Absturzstelle, auch ich. Im Nachbardorf brannte, begleitet von explodierender Munition, auf einer Wiese der große Flieger aus. Keiner der Neugierigen dachte, was passieren würde, wenn noch Bomben an Bord wären und die in die Luft gingen. Am Pfingstmontag bin ich wieder mit Mami und einigen Bekannten zur Brandstätte schauen gegangen – es war das reinste Pfingstfest. Es wurde gesucht und gehämmert, weil einige Souvenirjäger Teile mit nach Hause nahmen. Alles hat nach verbranntem Öl gestunken. Oft klopften durchgebrannte Soldaten abends an der Tür und baten um etwas zu essen. Wir hatten selber nicht viel, aber Mami half immer solchen Bittstellern und gab ihnen etwas. Aber wehe, sie gerieten an ein Haus, wo siegeshungrige Nazis waren, dann ging es solchen Fahnenflüchtigen schlecht, und sie wurden sogar erschossen. Aber meine Familie erzählte niemandem davon, denn man machte sich strafbar, wenn man solchen Soldaten etwas zu essen gab. Immer ruhiger wurden aber auch die ehemals Siegessicheren, weil immer mehr Benachrichtigungen von schrecklich verbluteten Angehörigen entgegengenommen werden mussten. Es hieß dann, er sei für Volk und Führer den Heldentod gefallen. In Wirklichkeit haben sie grausam und sinnlos ihr junges Leben verloren. Meine Familie war den Nazis nicht gut gesonnen, aber es durfte nicht öffentlich darüber gesprochen werden. Im 158

Herzen begann ich als junges Mädchen diese Nazibrut arg zu hassen. Ich habe mich trotz des Verbotes mit den jungen Leuten aus dem Osten gut unterhalten. Der Schwarzhandel hatte trotz schwerer Strafen fast seinen Höhepunkt erreicht, aber er blühte halt auch mehr bei den großen Bauern, weil die mehr Fleisch und andere Lebensmittel zum Eintauschen hatten. Vieles konnte nur mehr gegen Lebensmittel eingetauscht werden. Wenn wir unser gutes Getreide in der Mühle umtauschten, bekamen wir Mehl für das Brotbacken zurück, das heute die Tiere kaum fressen würden. Dementsprechend bestand unser tägliches Brot aus gemahlenen Maiskolben und viel beigemischter Kleie, aber zumindest der Hunger wurde gestillt, was bei den Städtern leider nicht mehr der Fall war; sie hatten zum Eintauschen auch nicht mehr viel. Ich möchte eine solche Zeit nicht mehr erleben, auch meinen Mädels und Enkerln sollte so etwas nicht zustoßen. Krieg ist sinnloses Morden, möge Gott unser Land davor beschützen, sowie die ganze Welt! Mein unvergessliches Schicksalsjahr 1944 Ein neues Jahr begann mit Kälte und Schnee, der vom Himmel fiel und in weiter Ferne viele Gräber mit unschuldig weißer Pracht zudeckte. Ich war ja dreizehn Jahre alt, meine Jugendjahre begannen. Ich ging noch in die Schule, musste aber schon viel arbeiten, wie die Tiere füttern helfen, was ich gerne tat. Etwas machte mich aber sehr traurig: Großvater wurde immer kränklicher und klagte oft über Schmerzen. Obwohl er ärztliche Hilfe bekam – was damals halt noch an Medikamenten zu bekommen war –, war ihm damit nicht geholfen. Nur bekam ich es noch nicht so mit, weil mir Mami den Arztbefund verheimlichte und nicht sagte, wie schwer Großvater krank war. Er hatte Blasenkrebs, wurde aber, Gott sei Dank, durch einen Schlaganfall von seinem Leiden frühzeitig erlöst. 159

Oft sprachen die Erwachsenen davon, wie es den Soldaten in der russischen Kälte wohl gehe. Es ist kaum vorstellbar, was unsere Soldaten dort miterleben mussten. Immer häufiger wurden die Fliegerangriffe auf die Städte. In so schweren Zeiten rückten die Menschen immer mehr zusammen, waren hilfsbereit. In unserem Dorf war ein Bauer, der brauchte lange nicht zum Militär, weil er schon älter und außerdem auch Stierhalter war, also den Gemeindestier betreute. Aber wurde irgendwo eine Hilfe gebraucht – hauptsächlich, wenn im Rinderstall eine schwere Geburt bevorstand –, dann leistete dieser hilfsbereite Mann Tag und Nacht sofort unentgeltlich fachmännische Arbeit. Es sei ihm gedankt mit göttlichem ­Segen! Die alte Uhr zählte weiter in unserem kleinen Stüberl unsere bangen Stunden – wegen der Krankheit von Großvater und dem immer mehr spürbaren Kriegsgeschehen. Aber auch dieser Winter ging vorbei, und ein neuer Frühling kam in unser Tal. Ich musste wegen dem Anbauen der Schule einige Wochen fernbleiben, weil Großvater nicht mehr mit den Zugtieren am Acker arbeiten konnte. Den ganzen Tag die Zugtiere richtig zu führen, das war gar nicht so leicht. Wir hatten zwar zwei brave, starke Kühe, und ich konnte mit den Tieren gut umgehen, aber bis zum Abend war ich oft sehr müde. Oft habe ich der Mami einen Häfen* Saumehl gestibitzt und den braven Zugkühen als Belohnung in ihre Krippe gegeben. Musste ich aber mal zur Mühle fahren, dann bin ich immer auf dem Wagen gesessen, weil die Kühe mir auf Kommando gehorchten, ein langer Leitriemen nach hinten genügte. Unsere Zugtiere waren nicht mager oder ungepflegt. Auch das Zugzeug putzte ich öfter, so dass die Messingbeschläge glänzten. Das war schon ein bisschen mein Stolz, so ein Gespann zu fahren. Auch war ich keine Angstnatur, überhaupt was die Tiere betraf. Eine gewisse Härte waren wir schon gewöhnt. Immer das Kriegsgeschehen – man hörte nur vom grausamen Sterben im Krieg und die schon fast täglichen Überflüge der 160

Bomber nach Graz, von wo dann ein fernes Donnern hörbar war. Fast meine ganze Schulzeit verbrachte ich im Krieg. Schon näherte sich der Mai 1944. Weil mir schon alles zu klein wurde, hatte Mami einen Stoff für ein neues Kleid eingehamstert* und zu einer Schneiderin gebracht. Ich freute mich sehr, als mir diese Frau das Kleid anmaß! Der Weg heimwärts ging über einen Hügel und wieder ins Tal, über Wiesen und einen langen Waldweg, wo die Vogerln ihre Hochzeitslieder zwitscherten. Ach, wie schön war dieser Frühlingstag! Ich war ein junges Mädchen, und in meinem Herzen begann täglich mehr ein frohes Temperament zu erwachen. Nach einigen Tagen ging ich dann alleine den weiten Weg, um mein Kleid zu holen. Es war am frühen Nachmittag. Zuerst führte der Weg über einen langen Steg, unter dem ein Bach fröhlich dahinplätscherte, dann ging es etwas bergauf durch einen ganz einsamen, langen Waldweg. Ich hatte keine Angst, alleine zu gehen, das war ich schon gewohnt. Wir hatten auch zum Einkaufen sowie zur Kirche einen langen Waldweg. Die Sonne schickte schon warme Strahlen durch die hohen Baumkronen, der verträumte Waldsteig war weich mit Moos bedeckt, ein scheues Reh sprang auf und suchte das Weite – eine herrliche Einsamkeit! Und doch, der Wald lebte. Endlich gab es nach einem kalten Winter warme Sonne. Auch die Waldtiere spürten das Frühlingserwachen. Nach gut einer Stunde konnte ich mein neues Kleid entgegennehmen. Ich zahlte. Die liebe Frau, die schwer gehbehindert war, fragte noch, ob ich mich wohl traue, einen so langen Weg allein durch den dichten Wald zu gehen. Ich bejahte das und zahlte den Arbeitslohn. Mit einem anständigen „Pfiat Gott!“ verabschiedete ich mich und ging den gleichen Weg wieder heimzu. Die Sonne hatte durch die Bäume schon lange Schatten in den Wald gezaubert. Es war ja schon später Nachmittag geworden, als ich wieder über den schon etwas wackligen Steg über den rauschenden Bach ging und im Gedanken 161

mein neues Kleid meinem Großvater vorführte. Aber es kam ganz anders. Ein freudiger Tag endete sehr traurig. Als ich zu Hause ankam, sah ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Mami weinte und sagte dann zu mir, dass Großvater im Bett liege. Als sie ins Stüberl nach Großvater schauen wollte, lag er neben seinem Bett. Ein Schlaganfall hatte ihn ereilt. Ich war sehr erschrocken und ging sofort zu Großvater ins Stüberl. Für mich junges Mädchen war es ein elender Anblick: Der Mund war ganz verzogen, er konnte schlecht sprechen. Aber ich führte ihm mein Kleid dann vor. Er versuchte, mich gütig anzulächeln, und sagte (was wir nur schwer verstehen konnten): „Am Sonntag gehen wir zwei dann aus miteinander.“ Es kam nicht mehr dazu. Bald nachher kam der Doktor mit seinem Pferd angeritten. Es gab vom Doktor keine gute Nachricht: „Mit dem Vater steht es schlecht.“ Also wurde auch noch der Priester geholt. Zwei Nachbarinnen richteten alles her zum Versehen*. Großvater bekam die Letzte Ölung. Wir beteten mit dem Priester, auch Großvater faltete die Hände. Mami hat ihm geholfen, die Hände zu falten. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten; ich war mit ihm ein Herz und eine Seele. Mami verständigte ihre Geschwister. Tante Maria blieb auch in der Nacht bei uns und half, auf Großvater aufzupassen. Es ging ihm aber immer schlechter, er hat auch nichts mehr gegessen und konnte auch fast nichts mehr sprechen. Am 3. Mai, es war erst einige Stunden nach Mitternacht, weckte mich meine Mami – ich schlief in der Stube –, ich soll zu Großvater in das Stüberl kommen. Als ich schon aufgewacht war, sah ich einen Schatten von einem übergroßen Kopf auf der Wand neben mir. Der große Kopf war ohne Körper. Ich habe mich bei diesem übersinnlichen Erlebnis sehr geschreckt und sagte sofort zu Mami und Tante Maria, was ich auf der Wand sah, aber beide sahen gar nichts. Auf einmal war alles weg. Ich glaube, Großvater hatte Abschied genom162

men. Das Profil dieses Kopfes ohne Körper war ähnlich dem von Großvater, aber zirka dreimal größer. Ich ging ins Stüberl, wo meine Familie und auch die Grabentoni-Mutter anwesend waren. Großvater machte die letzten Atemzüge. Es wurde gebetet, und ein paar Sterbekerzen brannten. Ich konnte fast nicht beten vor lauter Weinen. Der Schreck von der Erscheinung machte mir sehr zu schaffen. Es schlossen sich Großvaters gütige Augen, und sein Herz hörte auf zu schlagen. Die Hände, die so viel Gutes für mich getan hatten, ruhten für ewig sich aus. In so jungen Jahren habe ich einen so lieben Menschen sterben gesehen. Möge Gott ihn für seine Liebestaten im Himmel belohnen! Ich danke ihm heute und solange ich lebe mit ewiger Liebe und Gebeten und hoffe fest, dass wir uns einmal in einer anderen Welt wiedersehen. Am Begräbnistag kam ein Bauer vom Dorf mit dem Sarg angefahren, von zwei sehr schönen Pferden gezogen. Zwei Männer legten Großvater in den Sarg und trugen ihn mit den Worten „Pfiat euch Gott, alle miteinander!“ hinaus. Als der Sarg und die Blumen auf den Wagen geladen waren, ging die letzte Reise den Weg entlang, den Großvater oft zur Kirche gegangen war. Alle Teilnehmer am Leichenzug begleiteten den Sarg, auf dem ganzen Weg wurde Rosenkranz gebetet, bis zur Kirche, wo die Totenmesse gehalten wurde. Auf dem Friedhof wurde der Sarg dann ins kühle Grab gesenkt. Schon lange deckt ihn und meine Mami sowie meine Taufpatin Anna die Heimaterde. In meinem Herzen sind alle nicht vergessen, solange ich lebe. Aber das Leben ging weiter, denn es lagen ja noch meine Jugendjahre vor mir. Die meiste Zeit konnte ich nicht mehr die Schule besuchen, musste immer nur arbeiten zu Hause. Auf das Lernen wurde von Mami nicht viel Wert gelegt. Sie sagte immer: „Lerne die Arbeit ordentlich!“ Ich bekam von Onkel Sepp eine steirische Ziehharmonika geschenkt. Ein alter Mann hatte für ein paar Lebensmittel jun163

gen Leuten spielen gelernt. Auch ich ging einige Male zu ihm hin und konnte schon ein bisschen spielen, aber Mami verbot es mir sehr bald: „Zu einem Dirndl gehören Schere und Näh­ nadel“, und so war meine Freude aus. Man hörte schon von Leuten, dass der Krieg nicht mehr lange anhalten werde, aber darüber durfte nicht öffentlich gesprochen werden. Immer mehr Bomber überflogen uns fast Tag und Nacht. Das Morden ging schrecklich weiter. Da haben wir am Land noch glücklicher sein können als die Leute in der Stadt. Auch hatten wir reichlich zu essen, so dass Mami auch für die Verwandten in Graz noch etwas übrig hatte. Es kam der Sommer 1944 mit wogenden Getreideäckern, und die Ernte rückte schon immer näher heran. Mami sagte: „In einigen Tagen wird der Bauwoaz* zum Schneiden.“ An einem frühen Vormittag Anfang Juli gingen wir, Mami und ich, zum Nachbarn Weizen ernten helfen. Wir waren wie eine große Familie mit den Nachbarn, weil ja sehr viel gemeinsam gearbeitet wurde, so auch an diesem sehr heißen Julitag. Mit zwei Sicheln in den Händen kamen wir auf dem Acker an. Der Weizen musste ja noch mit Sense und Sicheln geschnitten werden. Ein anderer Nachbar kam auch helfen. Er hatte einen jungen, feschen polnischen Zwangsarbeiter mit, den ich schon kannte, aber wir arbeiteten das erste Mal zusammen. Wir drei jungen Leute, Juli, Jan und ich, haben uns trotz Arbeit bei sengender Sonne sehr gut unterhalten. Es wurde aber mehr als Arbeit und Gaudi daraus, es war Liebe auf den ersten Blick. Da ich schon etwas von der russischen Sprache verstand, die auch Jan sprechen konnte, rief er mir immer verliebte Worte zu, was eh niemand außer Juli verstand, und Juli sagte auch kein Wort davon auf Deutsch, weil sie eh nicht viel erlernt hatte. Jan und ich versprachen uns, dass wir uns öfter treffen würden, was dann auch so war. Mami hatte wohl keine Ahnung, was in meinem jungen 164

Herzen aufgeflammt war. Als ich müde von der Arbeit schlafen gehen wollte, konnte ich nicht einschlafen. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Viele Sterne leuchteten am Himmel. Über dem Berg lag eine schwarze Wolke, aus der ein Wetterleuchten mit fernem Donner zu hören war. Aber auch in meinem noch sehr jungen Herzen war ein heller Stern erleuchtet. Der Stern hieß Jan, aber auch schwarze Wolken bauten sich bald über unsere Liebessterne auf. Das Schicksal meiner ersten und verbotenen Liebe nahm seinen Lauf. Da wir ja gegenseitig bei der Arbeit aushalfen, waren wir beide sehr bald wieder beisammen, aber keiner ahnte noch, was in uns vorging. Also kam der Tag, wo der Weizen gedroschen wurde. Der Bauer, bei dem Jan war, hatte schon elektrischen Strom, so hat Mami auch unseren Weizen dorthin gefahren wie die Grabentoni-Mutter auch. Als ich von einer Fuhre Stroh heruntersteigen wollte, hat Jan mich aufgefangen und zärtlich an sein Herz gedrückt. Leise sagte er zu mir: „De meu Luba“ (Du bist meine Liebe), und so mussten wir jetzt beisammen sein mit lieben Worten, und wenn es nur ein heimlicher Händedruck war. Mami fragte oft, was wir immer so sprachen, aber ich sagte ihr ganz was anderes. Wenn die Leute wegschauten, sagten mir seine Augen mehr als tausend Worte. Alles, was verboten ist, brennt heiß wie Feuer. Denn es war ja streng verboten, mit Fremdarbeitern guten Kontakt zu haben. Es gab Strafe bis zur Erschießung oder Gaskammer, aber Liebe kennt keine Grenzen. Da war ich wohl nicht die Einzige, die einen Gefangenen liebte. Da die Sommerarbeit weiterging, kam bald das zweite Mal Futterarbeiten*, oft bis in die Nacht hinein. So kam es, dass ich mit Jan, als es schon dunkel wurde, von einer weit entlegenen Wiese vom Nachbarn heimging. Eng umschlungen gingen wir einen langen Waldweg entlang – ich habe diesen Weg nie vergessen, wo ein jeder Schritt glücklich machte. Ich musste dann noch ein Stück des Weges bis zu unserem Haus 165

alleine gehen. Wir gaben uns beim Auseinandergehen den ersten Kuss. Danach drückte mich Jan bei jeder Gelegenheit ans Herz und küsste mich liebevoll. Viel Gelegenheit gab es beim Woazschälen, weil ich oft mit Juli zu dem Bauern, wo Jan war, helfen ging. Juli spielte dann die Geliebte von Jan. Beim Aus-dem-Haus-Gehen haben beide sich immer eingehängt, und ich ging halt so daneben her. Sobald wir außer Sicht waren, war Jan dann bei mir. Juli war eine schweigsame Freundin, aber leider, was wir halt oft bemerkten, gefiel Jan auch ihr sehr. Jan hat Juli auch sehr ehrsam behandelt. Wenn wir mit Juli und Mami beisammen waren, lachte Juli und sagte: „Dwoi Matschek“, was hieß: „Dein Bua“, aber das verstand außer mir niemand. Der Herbst 1944 war die Zeit, wo wir uns am öftesten alleine treffen konnten. Meistens ging Jan nach der Arbeit in der Nacht mit mir bis zu unserem Haus. Lange wussten nur die hohen Tannen und der helle Mond von unserer unsterblichen Liebe. Trotz von Herzen ehrlicher Liebe – zur Vollkommenheit kam es nicht. Jan war halt sehr anständig. Er sagte, mit 16 Jahren sei so etwas noch früh genug. Das schätze ich heute noch sehr an ihm. Aber einmal wurden wir in der Nacht miteinander ohne Juli gesehen, und sofort ging dieser gemeine Mensch es Mami erzählen. Dann gab es halt von Mami einen gewaltigen Druck. Auch mit Jan hat sie geschrien. Er sagte, er bleibe in Österreich, und wenn ich älter und der Krieg aus sei, werde er mich heiraten. Viel hat ihr Verbot nicht geholfen. Da mir nach Großvaters Tod keine Geborgenheit und Liebe zuteil wurde, war mir alles egal, denn die Liebe zu Jan brannte heiß. Hier hatte ich wieder einen Menschen, der mich an sein Herz drückte, so wie es einst Großvater tat. Mami ist es ja auch so ergangen, und sie glaubte, ehrliche Liebe und Geborgenheit bei meinem Vater zu finden. Aber leider, Vater hatte es nicht so ernst ge166

meint. Als Andenken von ihrem Alois kam ich unerwünscht zur Welt. Wäre es nicht zu einer gewaltsamen Trennung von Jan und mir gekommen, hätten wir bestimmt geheiratet, aber es kam halt anders. Oft konnten wir nur ein paar liebe, verstohlene Blicke tauschen. Trotz enormer Strenge konnte Mami die Liebe zu meinem feschen Jan nicht ganz in den Griff bekommen, weil wir mit ein paar Worten eine Verabredung treffen konnten, wo sie und auch die anderen Leute beim Arbeiten nichts verstanden. Da ich im Stüberl mit der alten Nanni schlief, stieg ich öfter beim Fenster raus, und wir waren beisammen für ein paar nächtliche Stunden. Über uns der Mond und die Sterne, aber Sonne in unseren jungen Herzen. Das war halt Liebe und Romantik zugleich, keine Disco wie heute, nein, ein einsames Platzerl unter Bäumen, und der Wind in den hohen Tannen sang uns das Lied von Liebe und Leid. Bei Tag mussten wir unauffällig nebeneinander arbeiten. Vom Hitler aus war Jan nur ein Zwangsarbeiter, also ein ungeachteter Mensch, aber unsere Herzen schlugen oft ganz nahe für uns beide. Liebe kennt keine Feinde und Grenzen. Jan war auch sehr gläubiger Katholik. Oft erzählte er mir von seiner Heimat und dass die Eltern oft mit ihm zur Ostsee gereist seien. Davon schwärmte er sehr. An seiner Mutter und seinen Schwestern hing er sehr. Wenn es wieder Frieden gab, wollte er auf jeden Fall seine Familie besuchen und mich mitnehmen, was ich auch gerne getan hätte. Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt. Als es Winter wurde, hatten wir nicht so oft die Möglichkeit, uns alleine zu treffen. In diesem Winter 1944/45 hörte man schon oft von geflüchteten Soldaten, die gegen Abend an der Tür klopften und um etwas zu essen baten, dass der Krieg dem Ende zugeht. Auch die Bombenangriffe auf Graz wurden ganz arg. Es war Anfang März, da musste ich mit den Kühen nach Groß 167

St. Florian fahren, die Koffer von Tante Resi abholen, denn sie flüchtete zu uns mit ein paar bekannten Eheleuten, weil es bei uns auf einem Einschichthof sicherer war. Sie half auch überall mit bei der Arbeit. Auf alten Matratzen am Stubenboden wurde geschlafen, aber viel sicherer, als in einem weichen Stadtbett, ja so war es eben. Der Bauer, der an seinem Herrenplatz bei Tisch ein Hakenkreuz eingeschnitzt hatte, hatte das inzwischen mit dem Hobel alles wieder weggehobelt. Das erzählte uns sein Ukrai­ ner Stefan, der herzlich gelacht hatte über des Herren Arbeit bei Tisch. Und der andere Nazibruder hatte das Hitlerbild, von dem Hitler mit sturer Miene herabschaute, wieder vom Herrgottswinkel abgenommen und den beurlaubten Herrgott vom Dachboden geholt und unschuldig ehrwürdig wieder auf den alten Platz hingestellt, wo Generationen schon das Kreuz angebetet hatten. Wo er wohl seinen geliebten Blutsverbrecher Hitler versteckt hat? Glücklich sind die Menschen, die Gott und Maria nicht verleugnen. Ich habe nie Menschen mögen, die über den Herrgott oder Maria schimpften oder sie verhöhnten. Ich danke meinem Großvater immer wieder, der mich christlich erzogen hat, und das mit viel Güte. Nur dadurch habe ich meinen Glauben treu im Herzen behalten, so wie auch Jan trotz Glaubensunterdrückung ein sehr gläubiger Katholik war, was mir an ihm gefiel, weil wirklich gläubige Menschen haben Liebe im Herzen, ob zu Mensch, Tier oder Natur. Mai 1945 – der Krieg ist aus Überall wurde schon gesprochen, dass der Krieg bald aus sein würde, die Russen seien nicht mehr weit weg. Aber was wird sein, wenn die Russen wirklich kommen? Wir alle hatten Sehnsucht nach Freiheit. Jan sagte zu mir, dass wir uns dann nicht mehr so geheim verstecken brauchten und unsere Liebe 168

öffentlich zeigen könnten. Da es noch keinen Fernseher gab, und nur ab und zu wer einen kleinen Radio hatte, erfuhren wir sehr wenig. Eines Vormittags kam eine ganze Kolonne Soldaten mit Pferden und Geschützen den Fahrweg vom Wald heraus. Sie zogen den Weg entlang, aber keiner kam zu uns ins Haus; es waren Bulgaren. Eine richtige Völkerwanderung begann. Flüchtlinge hatten sogar Rinder an Pferdewagen angebunden. Bald erfuhren wir, dass der Krieg aus und Hitler tot sei. Dann kamen auch die Russen. Wenn ihnen was gepasst hat, nahmen sie es mit. Aber wir hatten selber nicht viel und einiges auch versteckt. Einmal gegen Abend, ich war in der Stube, sind zwei Russen mit Pferden angeritten gekommen. Sie wollten unseren Hund erschießen, der eh an der Kette hing, aber viel bellte. Mami kam sofort und sagte zu mir: „Die wollen was, ich kann sie nicht verstehen.“ Ich als junges Mädchen ging hinaus, begrüßte beide. Sie stiegen sofort vom Pferd, gaben mir die Hand und wurden sehr freundlich. Sie wollten was trinken. Mami holte ein Glas Most. Da musste ich zuerst trinken. Ich konnte mich gut unterhalten. Einer war aus der Ukraine, ein ganz lieber Mensch. Sie hatten eine Freude, weil ich mit ihnen sprechen konnte. Sie fragten, wo es noch Hitlerbrüder gäbe. Ich sagte, die hätten sich alle irgendwo versteckt. Es ist sehr viel wert, eine Fremdsprache zu sprechen, und wenn’s bloß so viel ist, dass man sich gegenseitig ein bisschen verständigen kann. Mit einem Händedruck haben beide sich dann verabschiedet, und mit einem „Auf Wiedersehen“ waren sie auf ihren schönen Pferden weg. Alle Ostarbeiter wurden von den Russen aufgefordert, in ihre Heimat zu fahren. Juli nahm mit Tränen in den Augen und mit einem Kuss Abschied von uns. Einige haben sich versteckt, so wie Jan, aber auch er wurde gefunden und von 169

den Russen mitgenommen. Es gelang ihm und noch einem Freund, der auch in Österreich bleiben wollte, zu entkommen. Der Freund sagte mir, wo ich in der Nacht Jan treffen werde. Als ich wieder leise abhaute von daheim, hörte ich die Russen im Dorf schießen, aber ich hatte keine Angst. Die Liebe war stärker. Ein paar Stunden waren schnell vorbei. Wir waren beide sehr traurig, und wir versprachen uns, wenn Jan wirklich wieder weg muss, ein Leben lang immer schriftliche Lebenszeichen zu geben, was auch so geschah. Als Jan mich in unser Haus begleitete, war über uns ein Sternenhimmel. Nur der Mond leuchtete noch ein bisschen. Auf einmal sahen wir beide eine große, feuerrote Kugel, die ganz langsam hinter dem Berg versank. Jan sagte: „Das ist ein Abschiedszeichen, wir werden uns nicht mehr sehen.“ Er drückte mich noch wie immer an sein Herz, und der letzte Kuss in unserem Leben beendete unser Zusammensein. Jan sagte dann, er werde in Vollmondnächten Grüße mit dem Mond senden und an mich denken. Oft schaute ich in der Nacht zum Himmel, ob wohl Grüße für mich im vorüberziehenden Mond mitgebracht seien. Niemandem konnte ich den Kummer meines gebrochenen jungen Herzens zeigen, niemand hatte ein Verständnis, am wenigsten wohl meine Mami. Und so suchte ich halt das Platzerl im Wald auf, wo ich mit Großvater gesessen war, und weinte leise Tränen. Dieser Platz ist für mich heute noch heilig. Ich spürte immer einen kleinen Trost, vielleicht kam Hilfe vom Großvater aus dem Jenseits. Meine Kindheit und Jugend waren wie ein Regentag, an dem zwischendurch die Sonne scheint. Meine junge Liebe war wie eine zarte Rosenknospe, die im Aufblühen war und allzu schnell geknickt wurde, aber im Herzen ein Leben lang nicht verwelkte. Wir haben uns dann in Abständen immer Briefe und Karten geschrieben, bis zu seinem Tod in der von ihm so gelieb170

ten Ostsee im Jahr 1970. Auch da hatte ich einen Traum: Ich lag im Bett, und Jan saß neben mir und sagte zu mir: „Pfiati Gott, jetzt komme ich nicht mehr.“ Als ich erwachte, hatte ich das Gefühl, als wäre noch jemand im Zimmer, und mir war sehr weh ums Herz. Ich dachte, da ist was passiert – Jan nahm Abschied. Und so war es auch, wie ich dann brieflich aus Polen berichtet bekam. Ja, es gibt Wunder zwischen Himmel und Erde, die nie erforscht werden. Maria Zach verblieb – trotz Problemen mit dem alkoholkranken Mann ihrer Mutter – viele Jahre als landwirtschaftliche Arbeiterin auf dem elterlichen Hof und verdiente sich daneben im Taglohn bei Bauern in der Umgebung sowie zeitweise in einer Schneiderei und Textilfabrik in Stainz ein bisschen Geld. Seit 1946 lebte auch Rosi, die Tochter der Cousine, mit der Maria Zach aufgewachsen war, im Haus und wurde für sie zu einer jüngeren Ziehschwester. Zwischen 1951 und 1958 unterhielt Maria Zach eine längere Freundschaft mit einem Bauernsohn, die sich wieder zerschlug. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1969 erbte Maria Zach das Anwesen und heiratete noch im gleichen Jahr auf einen Bergbauernhof mit 30 Hektar Wirtschaftsfläche in Groß-Wöllmiß in der Nähe von Voitsberg in der Weststeiermark. Anfang der 1970er Jahre wurde Maria Zach Mutter zweier Töchter, außerdem zog sie sieben Ziehkinder auf. Die ältere Tochter lebt heute in dem Haus, in dem ihre Mutter aufgewachsen war, die jüngere hat den elterlichen Hof übernommen. Seit den 1990er Jahren werden auf Initiative von Maria Zach erwachsene Patienten der Landes­ nervenklinik „Sigmund Freud“ Graz in die Familie aufgenommen. Jan Pniak, ihren Geliebten (1924–1970), sah Maria Zach nie wieder, blieb aber mit ihm in Verbindung, auch nachdem er in Polen geheiratet hatte. Nach seinem Tod hielt dessen Witwe Stanisława Chrzanowska-Pniak den Kontakt weiter aufrecht. 171

„Ich habe mich dann regelrecht in ihn verliebt“ Mathilde Faschingleitner wurde am 16. Jänner 1931 im westlichen Niederösterreich als ­Mathilde (Hilda) Fellner geboren. Als uneheliches Kind wuchs sie zuerst auf dem Bauernhof der Großeltern und nach der Heirat ihrer Mutter als ältestes von drei Stiefgeschwistern auf einer unmittelbar benachbarten Kleinhäuslerwirtschaft auf. Da es der Autorin im ­Jugendalter schwerfiel, den aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Stiefvater zu akzeptieren, nahm sie früh einen Dienstplatz auf einem Bauernhof an. Der von Mathilde Faschingleitner ursprünglich handschriftlich verfasste Erinnerungstext wurde vom Halbbruder der Autorin, Leopold Hollensteiner, für eine Veröffentlichung aufbereitet. Das Buch erschien 2002 unter dem Titel „Im Sommerwind. Erinnerungen einer Bäuerin“ im Eigenverlag und ist mittlerweile vergriffen. In die vorliegende Edition wurde die Lebensgeschichte der Autorin bis zu ihrer Heirat am 3. Mai 1951 aufgenommen.

Kindheit und Schulzeit Ich bin im Jahre 1931 in Loitsbach bei Mank geboren. Loitsbach ist ein kleines Dorf in der Nähe von Melk in Niederösterreich. Die Bauernfamilie meiner Mutter war sehr kinderreich. Mutter hatte noch sechs Schwestern und drei Brüder. Insgesamt waren sie 17 Kinder, doch die anderen sind früh gestorben. Eine Tante ist im Jänner auf die Welt gekommen, 172

die andere im Dezember des gleichen Jahres. So war es halt damals. Nach Erzählungen musste sich meine Mutter bald den Wind um die Nase wehen lassen und in die Fremde gehen, weil es zu viele Mädchen im Haus gab. Sie kam in ein Wirtshaus nach Brunn bei Pöchlarn, da eine Schwester – Pepi, meine Lieblingstante – dort verheiratet war. Die hat ihr den Posten verschafft. Es soll ihr nicht schlecht gegangen sein, und gelernt hat sie auch viel. Für meine Mutter ist halt in einem Wirtshaus die Versuchung sehr groß gewesen, und auf einmal war ich unterwegs. Weil Mutter nicht im Wirtshaus bleiben konnte und auch nicht nach Hause durfte – schwanger, wie sie war –, kam sie zu einem Bauern nach Hürm, wo ich geboren wurde. Dann heiratete wieder eine Schwester von ihr, und Mutter musste nach Hause, weil ja die Wirtschaft ansehnlich war und wieder eine Arbeitskraft gebraucht wurde. Doch ich, das Kind, war nicht erwünscht, also wurde ich in Pflege nach Kilb gegeben. Nach einem Jahr haben meine Großmutter und meine Mutter mich zu sich geholt, aus welchem Grund, weiß ich bis heute nicht. Es wurde auch später nicht darüber gesprochen, wer der Vater sei, das gab es damals nicht, überhaupt bei meiner Mutter. Ich habe es ihr nie verziehen, dass sie – auch später, als ich schon erwachsen war – nie darüber geredet hat. Ich weiß nicht, wie alt ich war – waren es zwölf oder dreizehn Jahre –, da habe ich einen Brief gefunden, wo drinnen gestanden ist, dass der Kindesvater Josef Neulinger gestorben ist. Das war alles. Obwohl es schon so lange her ist, habe ich mir den Namen gemerkt. Ich habe immer darunter gelitten, dass ich nichts von meinem Vater wusste. Heute ist es mir egal. Mein Cousin, der Sepp, war auch ein Lediger; aber der wusste, wer sein Vater war, und ich glaube, er hat ihn auch gekannt. Seine Mutter hat ihn nicht heiraten dürfen, da die Familien verfeindet waren. Sepp sagte immer zu mir: „Mach 173

dir nichts draus – wir sind Kinder der Liebe, die anderen sind eh nur Tätigkeitsfratzen“, womit er seinen Bruder immer auf die Palme brachte. Zuerst haben wir, Mutter und ich, bei der Großmutter gelebt, auf einem schönen Bauernhof. Das Haus meiner Großmutter und meines Onkels war Inbegriff meines ganzen Seins. Mein erstes Erlebnis war eine große Stube, wo alle gebetet haben, und dann ist der Christbaum im Kerzenlicht erstrahlt. Das Haus meiner Großmutter und meines Onkels hatte eine große Küche, eine Kammer neben der Küche und auf der anderen Seite eine große Stube. Ging man die Stiege hinauf, so war wieder ein großes Vorhaus. Auf der linken Seite ein Zimmer mit vielen Kästen und ein Bild, das eine Marienweise spielte. Auf der rechten Seite war ein schönes Zimmer mit einem Bild von den Großeltern, einem gemütlichen Sofa und einem Bild mit einem blühenden Kirschbaum. Die Fenster, ihrer vier, hatten weiße, lange Vorhänge und bei einem dieser Fenster schaute ein Segenbaum* herein, der war so groß, dass er gar den ersten Stock überschattete. Diesen Baum gibt es heute nicht mehr. Er geht mir heute noch ab, wenn ich hinkomme. Dann hat meine Mutter geheiratet und ist mit ihrem Mann in das Häuschen oberbei* gezogen. Da sie mich als lediges Kind hatte, war die Auswahl nicht so groß, und sie hat einen Zimmermann aus dem Waldviertel geheiratet. Im Herbst darauf sind wir vom Haus meiner Großmutter dann den Berg* hinauf gezogen – zehn Minuten weiter weg, doch eine ganz andere Welt. Ich bekam dann drei Geschwister – eine Schwester und zwei Brüder – und musste mich um dieselben kümmern, da ja der Krieg kam und mein Stiefvater einrücken musste. Wenn ich so mit zehn Jahren von der Schule nach Hause kam, warteten schon die Windeln zum Waschen auf mich. Die Mutter musste auf dem Feld arbeiten. 174

Als Vater noch nicht eingerückt war, musste ich auch schon immer mit meinen Eltern in der Früh aufstehen und auf die Kinder aufpassen, wenn die Eltern in den Stall gingen, und dann ging es zur Schule. In die Schule musste ich von Zeit zu Zeit einen Sack Mehl mitnehmen – grad so viel, dass ich ihn tragen konnte – und ihn vorher zum WallnerBäck bringen. Der hat uns das Mehl gegen Brot umgetauscht. Da musste ich immer schauen, dass ich den Milchmann erwische, denn eine Stunde weit hätte ich das Mehl ja nicht schleppen können. Nach der Schule nahm ich das Brot mit nach Hause. Spielzeit hatte ich ganz wenig, denn mein Vater hielt von solchen Sachen nichts. Er war hart aufgezogen worden und gab das wieder weiter. Ich habe in meiner ganzen Kinderzeit keinen Schlitten besessen, und das kränkte mich sehr. Als Vater in den Krieg musste, hatten Mutter und ich viel Arbeit. Drei Kühe waren im Stall zu versorgen, ein paar Schweine und Hühner. Das Futter musste im Winter geschnitten werden. Heu und Stroh wurden nach dem Schneiden gemischt. Alles mit der Hand, es hat gleich ein paar Stunden gedauert. Das Wasser wurde in Holzbutten* vom Brunnen, der gut 20 Meter entfernt war, zu den Kühen gebracht. Ich war damals ja erst neun Jahre alt, das war schon eine Plage. Mutter hatte ja auch drei Kleinkinder zu versorgen. Ich weiß heute nicht mehr, wie die ganze Arbeit geschehen konnte – wir zwei alleine. Wenn meine Mutter in der Früh aufstand, um das Vieh zu füttern, musste auch ich raus. Vor der Schule musste ich mich zu meinen Geschwistern ins Bett legen, da sie nicht alleine schlafen wollten. Es war schon ein hartes Leben, trotzdem liebte ich auch bereits als Kind meine Arbeit. Ich war ein Kind der Liebe, wie man so schön sagt. Das hört sich schöner an, als es war, denn immer, wenn etwas schieflief, war ich der schuldige Teil, was oft ja gar nicht stimmte. Ich muss aber dazu sagen, dass ich nicht grad ein braves Mäderl war, früh auf mich allein gestellt. 175

Mutter hatte genug zu tun mit den Geschwistern und den Tieren, so ging ich meine eigenen Wege. Arbeiten war mir immer eine Freude und das Lesen mein Hobby. Meinen Ziehvater habe ich ja gar nicht so gut kennengelernt, da er bald in den Krieg ziehen musste und nur zum Urlaub nach Haus kam. Eine Zeitlang war meine Großmutter, die ich sehr mochte, als Aushilfe bei uns. Die hatte bei dem Wenigen, was sie hatte, immer etwas übrig für mich. Heute sehe ich noch den Kleiderstoff vor mir, den sie mir einmal mitbrachte, wunderschön mit rot gemusterten Bahnen. Doch sonst führte ich einen Kleinkrieg mit Mutter und Großmutter, denn ich war schon als Kind immer für Ordnung, und die beiden ließen alles herumstehen. Wenn ich von der Schule kam, wollte ich gleich zusammenräumen, das war das Erste für mich. Nicht so genau nahm ich es mit den Lebensmitteln, die kamen alle in ein altes Rohr neben dem Ofen, das nicht mehr benutzt wurde, und es wurde dann natürlich nichts gefunden. Mir war das gleich. Hauptsache, es war alles sauber. Später suchte Mutter, als Großmutter wieder fortging, um Hilfe an. Wir bekamen einen Franzosen, der musste im Schlössl von Kälberhart wohnen. Er hieß Albert und war ein sehr gebildeter Mann, er half uns auch fleißig bei der Arbeit, doch er fiel vom Kirschbaum, und aus war’s wieder mit der Hilfe. Die nächste Aushilfe, die wir bekamen, war Froisja, eine junge Frau aus Russland. Die war die Frau von einem Doktor und lernte uns Borschtsch kochen. Zwiebel anrösten, Fleisch in kleine Stücke schneiden, dazu Kümmel und geriebene rote Rüben, Salz und Kraut, auch verdünnter Essig gehörte dazu, das war aber auch alles. Sie saß oft auf einer Decke, weinte um ihr zweijähriges Mäderl, das sie zurücklassen musste, Lubatschka hieß sie, es tat mir so leid um sie. Immerzu meinte sie mit dem wenigen Deutsch, das sie konnte: „Froisja krank, nicht arbeiten können.“ Die Arbeit mussten wir dann selber 176

machen. Kann mich noch genau erinnern, Froisja auf der Decke, ich mit der Scheibtruhe, die mir viel zu schwer war, so eine große, hölzerne, mit Schweinemist voll, und Froisja zog die Nase hoch. Bitte, was soll eine Frau Doktor auf dem Misthaufen? Sie hatte auch schöne Kleider an und ein feines Benehmen. Also, wieder keine Arbeitskraft. Wenig später bekamen wir eine Frau aus dem Banat. Ihre Schwester war mit ihrer Familie bei meinem Onkel gleich unter uns. Die konnte die Arbeit, und es ging eine Weile weiter. Später zogen auch diese fort, und wir bekamen einen Mongolen* namens Juri, groß und wild anzusehen, doch sehr gutmütig und nett. Der tat die schwere Arbeit mit Leichtigkeit, es ging uns eine Weile ganz gut. Als man sah, dass es mit Juri so gut ging, nahm man ihn uns wieder weg, denn gute Arbeiter waren rar. Juri hat ja zum Fürchten ausgeschaut, da musste er zuerst wo auf Probe hin, und das war zu uns. Ja, so war das eben damals und ist heute, glaub ich, nicht viel anders. Jeder suchte seinen Vorteil. Doch Mutter hatte es dann satt, immer neue Leute ins Haus zu nehmen. „Musst halt von der Schule zu Hause bleiben“, sagte sie zu mir. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal ein halbes Jahr überhaupt nicht zur Schule ging, natürlich kam ich nicht mehr mit. Und mit zwölfeinhalb Jahren habe ich ganz aufgehört, in die Schule zu gehen. Mutter wurde vorgeladen, und sie sagte: „Ja, wenn ihr mir wen bringt zum Arbeiten, kann das Mädel wieder in die Schule gehen.“ Da ja die Leute nicht mehr zur Verfügung standen wie früher, konnte ich zu Hause bleiben. Wir hatten viel Arbeit. Immerhin waren wir fünf Personen, die alle was zu essen brauchten. Gut, wir hatten Eier, Milch und Hendln*, auch Körndl* hatten wir selber, also ging es uns besser als denen in der Stadt. Doch das Körndl musste in die Mühle gefahren werden, das Mehl dann beim Bäcker umgetauscht und das Brot nach Haus gebracht werden, da 177

wir keinen Backofen hatten. So viele Handgriffe, die heute die Maschine macht, mussten getan werden. Wenn ich da an das Waschen denke. Wenn man auch nicht so viel Kleidung hatte, so kam bei den fünf Leuten allerhand zusammen. Gewaschen wurde mit Bürsten und einer Waschrumpel. Da wir mit den Kühen die Feldarbeit nicht immer ausführen konnten – wir hatten drei Kühe, die jedoch oft trächtig waren –, so musste uns oft ein Grundnachbar aushelfen. Ich ging dann bei diesem Bauern ins Tagwerk*, meistens Dreschen, denn da wurden Leute gebraucht. Und doch war diese Zeit auch ganz schön. Ich ging viel zu meiner Großmutter und zum Onkel hinunter, da durfte ich beim Futterschneiden immer mit dem Göpel* fahren. Der Göpel hatte einen Holztram, und es wurde ein Pferd davorgespannt. Ich saß auf dem Tram*, und es ging langsam rundum. Auch auf einem weißroten Schimmel durfte ich manchmal reiten und mit ihm fahren. Mit zwölf Jahren fuhr ich schon mit zwei Kühen auf den Acker, um Futter, Kartoffeln oder Heu zu holen, und oft waren Nachbarskinder mit. Wir sind immer in die Prankl-Mühle zum Mahlen gefahren, das war auch meine Arbeit und hat mir großen Spaß gemacht. Meistens waren vier Säcke Körndl auf dem Wagen, und so bin ich mit den Kühen dahingefahren. Einmal passte ich zu wenig auf und kam vor dem Bahnübergang zum Stehen, da ich an die Warntafel angefahren war. Nun war ich schon erschrocken und wusste nicht, was zu tun wäre, denn ich hatte Angst, es käme ein Zug. Da kam zum Glück ein Radfahrer daher. Beim Näherkommen erkannte ich unseren Kaplan von der Schule. Er lachte nur dazu und hob mir den Wagen wieder auf die Straße, und mir fiel ein Stein vom Herzen. Bei der Mühle ging es schon fleißig zu, es waren schon eine Menge Gespanne da. Rechts fuhr man hinein in den großen Hof und in der Runde links heraus. Da ging es zu wie beim „ewigen Leben“. Es gab so viele Leute. Zwei Brü178

der, die in der Mühle arbeiteten, und ein Müllerjunge, Knechte und Mägde für die Wirtschaft, die auch dabei war. Schon als Kind las ich, was mir unterkam, wenn ich es auch noch nicht verstand. Brachte mir eine Schulfreundin einen Roman mit, so konnte man mich auf dem Heimweg von der Schule auf einem Sandhaufen kauern und lesen sehen. Meine Mutter freute das gar nicht sehr, denn wenn ich Kühe putzen musste, hatte ich bestimmt im Kleide das Buch versteckt. Und erst Vater, der ja nur für die Arbeit lebte, war erst recht dagegen. Durch das Lesen hatte ich eine starke Fantasie und dachte mir allerlei zusammen. Sagte meine Mutter eines Tages: „Eine Nachbarin hat Zwillinge bekommen, da gehen wir sie besuchen. Du darfst mitgehen, wenn du brav bist.“ Na, ich freute mich schon die ganze Woche, da wir ja am Sonntag gingen, und stellte mir unter Zwillingen allerlei schöne Sachen vor. Ich kann mich heute noch erinnern, wie enttäuscht ich war, als es zwei kleine Kinder waren, da hatten wir ja selbst drei davon zu Hause, und geweint haben sie auch noch. Meine größte Freude war alle Jahre der Ostergang zu meiner Taufgodl. Meine Godl*, eine hübsche, rundgesichtige, warmherzige Frau, tat alles ihren Gödenkindern* zu Gefallen. Sie hatte, glaube ich, ihrer zwanzig. Da gab es gute Speisen in Hülle und Fülle, vom Schnitzel angefangen bis zu den besten Bäckereien musste man sich durchessen. Wenn einem dann auch schlecht war, das machte uns nichts aus. Falls man Glück hatte, durfte man mit ihr in das Zimmer gehen, wo sie die Süßigkeiten aufbewahrte. Da ich immer eine Naschkatze war und bin, blieb mir das unvergessen. Es gab Schachteln mit kleinen Bäckereien, eine große Reiter* voll mit schön gedrechselten Schnürkrapfen* und Platten mit Torten mit Streusel und Zuckerln verziert. Das haben wir zu Hause nicht gehabt, denn mein Vater fand solche Sachen überflüssig, obwohl wir sonst genug zu essen hatten. 179

Ich hatte eine Tante auf dem Hof der Großmutter, die ich sehr mochte, aber ich war auch ein großer Hitzkopf, wollte mir nichts gefallen lassen, und so krachten wir halt öfter zusammen. Ich musste für uns die Milchkannen von der Straße holen, und beim Hinuntergehen klaubte ich mir ein Schürzl Birnen von meinem Onkel zusammen. Als ich am halben Weg war, kam meine Tante und griff jede Birne rechthaberisch an. Da packte mich der Zorn, und ich schmiss ihr alle vor die Füße. Sie sagte zu mir: „Du bist ein echter Fellner-Schädel.“ Doch das machte mir nichts aus. Am nächsten Tag hob sie mir wieder eine Schale Rahm auf, den ich so gerne mochte. Kriegsende – die Russen in Loitsbach Ich glaube, es war 1944. Ich wollte gerade die Kühe in den Stall führen, eine war schon drinnen. Auf einmal kamen Tiefflieger mit großem Getöse daher. Die zweite Kuh stand schon beim Türl, da sah ich die Flugzeuge abdrehen. Nur einer machte eine Schleife und kam wieder zurück. Das Flugzeug war riesengroß, ich blieb vor Schreck stehen, denn es flog so niedrig, und ich hatte ja noch keine Gelegenheit gehabt, so was zu sehen. Aber zum Glück hat es sich der Flugzeugführer anders überlegt. Vielleicht hat es sich nicht ausgezahlt – wegen der Kuh und einem Mädel. Einmal zu Pfingsten, in der Kriegszeit, musste ich etwas vom Garten holen. Überall hatte man eine schöne Sicht, da ein strahlend blauer Himmel war. Auf einmal das Gebrumm von Amis, wie es bei uns hieß. Eine ganze Staffel silberner Vögel zog hoch oben daher. Plötzlich kamen Jagdflugzeuge, und es fing eine Schießerei an. Auf einmal trudelte eine Maschine über den Wald hinweg, und eine Rauchsäule stieg auf. Ich rannte sofort dem Feuer nach und kam bis zu einer Höhe, wo man nach Seimetzbach sah. Da schaute ich hinunter. Es brannten zwei Häuser, Trimmel und Schellenbacher, doch 180

weiter traute ich mich nicht. Am Nachmittag gingen alle Leute hin anschauen, doch das wollte ich nicht. Es soll auch ein Neger* im Flugzeug gewesen sein. Bei uns hat jeder Nachbar einen Erdbunker gebaut, falls Bomben fallen sollten. Doch wenn ich heute zurückdenke, kommt mir vor, sie hätten gar nichts genützt. Ich bin nie hingegangen, sondern habe in allen drei Häusern eingeheizt und nach dem Rechten gesehen, Silberfäden* gesammelt, die immer vom Himmel fielen, und gewartet, bis das Gebrumme vorbei war. Es war schon gegen Ende der Kriegszeit. In der Nachbarschaft starb eine kleine Cousine von mir, und alle gingen am Abend zur Nachtwache, auch meine Mutter. Ich musste auf meine kleinen Geschwister aufpassen, und Mutter sagte zu mir: „In zwei Stunden bin ich wieder da.“ Es war eine mondhelle Nacht, und ich saß auf dem Fenster und wartete Stunde für Stunde, doch niemand kam. Auf einmal sah ich im Mondschein auf dem Hügel vom Fellner zum Bugl* hinauf Gestalten wie Geister gehen. Einen nach dem anderen. Ich konnte die Kinder nicht allein lassen, sonst hätte ich wohl nachgeschaut, was das war. Es war gruselig, aber ich war doch zu neugierig. Schlafengehen habe ich mich nicht getraut, und so bin ich bis zum Morgen am Fenster gesessen. Endlich, in der Früh, kam die Mutter. Folgendes war passiert: Als sie von der Nachtwache alle gemeinsam nach Hause gingen, sind Gefangene, die damals im selben Ort untergebracht waren, dahergekommen und haben sie in den Keller eingesperrt. Sie sind beim Fellner ins Haus eingebrochen und haben alles gestohlen, was ihnen gefallen hat. Das haben sie in große, weiße Leintücher gebunden und sind damit fort. Bei Nacht hat das alles recht gespenstisch ausgesehen. Sie haben den Leuten aufgeboten*, sich erst am Morgen zu befreien, sonst würde etwas passieren. So haben sich alle erst in der Früh herausgetraut. 181

So verging die Zeit, und es kam der Mai 1945, wo die Russen einmarschierten. Die Nacht davor marschierten nahe an unserem Haus Truppen zurück, denn in der Früh war alles zertreten. Um ein Uhr mittags hörten wir beim Bugl im Hof zwei Schüsse, auf der Straße fuhren Kolonnen, und pausenlos marschierten die Russen durch. Auf einmal kam eine Truppe auf das Haus meines Onkels zu, da es ja nahe an der Straße lag. Sie fingen zwei Pferde heraus, einen großen Leiterwagen und luden allerlei auf, auch das Rad vom Toni-Onkel, den ich sehr mochte. Er war noch im Krieg, und ich dachte, das muss ich ihm retten. Als die Russen wieder ins Haus gingen, sprang ich auf den Wagen und zerrte das Rad herab, versteckte es und dachte nicht daran, dass das gefährlich sein könnte. Die Russen haben es dann auch gesucht, doch auf mich kamen sie nicht. Denselben Tag sind sie auch bei Nacht gekommen und haben bei unserem Haus das Fenster eingeschlagen. Es war sehr ­schmal, doch sie sind durchgekommen. Mutter sagte zu mir: „Versteck dich geschwind irgendwo!“ Ich hatte mit meinen vierzehn Jahren keine Ahnung warum, aber ich befolgte es doch und rannte auf den Heuboden, ganz hinten wusste ich einen Platz. Und die Russen kamen richtig hinauf und stachen mit Gabeln das Heu durch, doch sie fanden mich Gott sei Dank nicht. Die nächsten Tage wurde wieder alles ein wenig stabil, denn beim Fellner und Bugl bekamen sie Einquartierung. Beim Bugl war die Kommandantur und beim Fellner die Küche, da mussten wir Kartoffeln schälen und in der Küche mithelfen, die Frauen und Kinder. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Der Koch füllte mir das Häferl halbvoll mit Zucker an und dann Kaffee drauf, das sollte ich trinken; es war mir viel zu süß. In einen großen Häfen gab er sieben Hühner, und das wurde gekocht. Die Suppe war so fett, dass man sie nicht essen konnte, da blieben wir lieber bei unserer Kost. Der Koch war ganz ein lieber Mensch, doch wenn man seine Kochkünste verschmähte, war er sehr gekränkt. 182

Beim Bugl war ein Offizier, der spielte immer mit dem Trichtergrammophon vom Fellner die schönsten Weisen, denn beide Häuser zusammen hatten eine Menge Schallplatten. Man kann sich vorstellen, die schöne Maienzeit, blauer Himmel, alles blühte und grünte, und den ganzen Tag das Gedudel von den Schallplatten. Die Leute gingen nicht aufs Feld, alle sagten: Wenn die Russen gehen, dann erst geht die Arbeit wieder los. Na, das hätte schön lange gedauert, aber damals wusste das niemand. Wir – die Frauen und Kinder und ich – gingen also alle Tage woanders hin schlafen, denn es kamen oft durchziehende Russen, und auch unseren war nicht zu trauen. So waren wir einmal da, einmal dort, immer auf Heu- oder Strohböden. Dann wurde es mir zu bunt. Ich hatte eine Tante, mit der redete ich mich zusammen, und wir blieben in ihrem Zimmer, obwohl im Vorhaus die Russen waren. Wir sperrten uns ins Zimmer ein und stellten Kastl und Tisch vor die Tür, gingen halt nur dann ins Zimmer, wenn keiner anwesend war. Doch man muss sagen, die ganzen vierzehn Tage, die sie noch da waren, hatten wir Ruhe. Auch das Grammophonspielen hatten sie mit der Zeit satt. Und damit sonst niemand damit spielte, musste ein Offiziersdiener, wir nannten ihn Putz, immer den Trichter wegnehmen. So sah man ihn, den Trichter im Arm, herumspazieren. Dieser Putz war, wenn ich mich heute erinnere, einer der freundlichsten Russen, die ich kennenlernte, immer hilfsbereit und freundlich. Er konnte auch schon ein bisschen Deutsch. Einen Tag, bevor die Russen von unserer Ortschaft abgezogen wurden, zeigte er mir eine silberne Uhr, die er beim Nachbarmädchen gestohlen hatte, und sagte dabei zu mir: „Du mit mir schlafen, ich dir dann Uhr geben.“ Es war sein wertvollster Besitz. Ich schüttelte den Kopf, und er sagte: „Du nicht wollen – nix machen. Ich immer wissen, wo du schlafen, aber anderen nix sagen.“ Und er zeigte mir das Zim183

mer, wo meine Tante und ich schliefen. Nächsten Tag waren sie allesamt weg. Nachdem die Russen von den Dörfern weg waren, fürchtete man sich noch eine Zeitlang, alleine zu gehen, da ja noch immer Gefangene umherzogen und Sonstige. Jugendjahre Meine Mutter und ich arbeiteten weiter, da ja der Vater noch in Gefangenschaft war. Wir waren nicht immer einer Meinung, denn ich war mit vierzehn Jahren auch schon „wer“, glaubte ich zumindest. Es war ein schöner Sonntag, und meine Mutter schickte mich in die Neustift – eine höher gelegene, von Wald umsäumte Rotte in der Gemeinde Hürm –, um von einer Bekannten etwas zu holen. Es war etwa eine halbe Stunde zu gehen, allein traute ich mich nicht, und so sagte ich es einem Schulfreund von mir. Er war etwas älter als ich und fürchtete sich vor Tod und Teufel nicht. Er war ein sehr hübscher, schwarzer Lockenkopf mit blauen Augen. Doch mir ist das gar nicht aufgefallen, da ich ihn ja schon immer kannte. Mit seiner tiefen, warmen Stimme und seinem Gehabe war er Hahn im Korb bei den Mädchen. Es war also für mich eine Ehre, dass er mitging. Als wir dann bei der Familie ankamen, war der gute Junge verschwunden. Er kam auch, als ich wieder ging, nicht zum Vorschein. Also machte ich mich allein auf den Heimweg. Ich fürchtete mich etwas, da der Weg durch den Wald ging. Ich wusste auch, warum er verschwunden war. In der Neustift gab es ein hübsches Mädchen, und mit dem musste er tändeln. Dass er auf mich ein wenig böse war, konnte ich verstehen, denn auf dem ganzen Hinweg wollte er einen Kuss von mir, und ich ließ ihn abblitzen, da er ja glaubte, alle Mädchen seien nur für ihn da. Als ich aus dem Wald heraußen war und 184

schon beim Scheiblauer vorbeiging, kam er mir nach mit einem großen Blumenstrauß, den er beim Scheiblauer gestohlen hatte, und entschuldigte sich damit, dass die Blumen eh über den Zaun gehangen seien. Da musste ich lachen, und der Friede war wieder hergestellt. Aber er konnte es nicht lassen. „Geh“, sagte er, „jetzt bin ich so weit mitgegangen, es muss doch eine Belohnung auch geben, was ist schon so ein Bussl”, und so ging es in einem fort. „Es sieht uns ja eh kein Mensch”, denn wir gingen ja durch Wiesen und Felder. Doch ich wollte nicht. Als wir dann zu seinem Elternhaus kamen, sagte er nochmals zu mir: „Na, was ist jetzt mit dem Trinkgeld?“ Und vor dem Tor bei seinen Eltern, wo alle Nachbarn zusehen hätten können, gab ich ihm den Kuss. Man sagt, der erste Kuss, der soll so schön sein, dass man ihn nie vergessen kann – und es scheint wirklich so zu sein, denn ich habe ihn nicht vergessen. Ich war wohl zu jung, dass etwas Ernstes daraus hätte werden können, und auch zu vorsichtig, denn je älter er wurde, desto mehr bekam er den Ruf eines Schürzenjägers. Ich kam von zu Hause weg, so verloren wir uns aus den Augen. Im Herbst, als sich die Russen mehr in die Städte zurückgezogen hatten, fing das Leben wieder an. Es wurde in den Bauernhäusern wieder getanzt, es gab Theater und allerlei Veranstaltungen. Ich durfte, obwohl ich erst 15 wurde, mitgehen, da ja mein Vater nicht zu Hause war. Mutter sagte: „Wenn dich wer mitnimmt, kannst du gehen.“ Es fand sich immer wer. Entweder holte mich eine Freundin ab, oder meine Cousins, die gar von Brunn bei Pöchlarn mit dem Rad herüberfuhren, nahmen mich mit. Ich wurde mit einem Wort ein rechtes „Fliagerl“, wie man bei uns so sagte. Doch es war eine so schöne Zeit, obwohl viel Arbeit war. Und wenn man abends auch fortging, so musste man am nächsten Tag recht fleißig sein, sonst bekam man gleich zu hören, wer das Lumpen* aushalte, der müsse die Arbeit auch genießen. Wir 185

mussten das Holz noch Scheit für Scheit mit der Zugsäge abschneiden, da vergaß man schon manchmal aufs Anziehen. Auch das Futterschneiden für drei Kühe war recht beschwerlich. Man mischte Heu und Stroh zusammen, dann wurde es in die Schneidmaschine gegeben. Vorne musste man umdrehen, eins bei der Gosse* stehen und einlegen. Es war alles sehr mühselig, doch wir wussten nichts anderes. Viel Futter wurde bei uns mit dem Schubkarren nach Hause geführt, da das Einspannen der Kühe auch Zeit brauchte. Na, und so kam der Fasching 1946. Es gab schon wieder Bälle in Mank, und mein Vetter Sepp kam auch herüber. Er hatte sich in unserer Gegend ein hübsches Mädchen angelacht, und mit dem wollte er gehen. Es war für mich recht zum Ärgern, denn ich wollte überall dabei sein, und zum Ball war ich doch zu jung, es wurde mir nicht erlaubt. Heute kann ich das ja verstehen, aber damals war ich wütend auf alle. Zu den anderen Unterhaltungen, bei Gric in Loitsdorf, ließ mich Mutter ja gehen, und es war dort sehr schön. Ich habe sehr viel getanzt, mich gut unterhalten und mit meinen 15 Jahren schon recht geflirtet. Es war eine schöne, harmlose Zeit. Gespielt haben dort die Bauern vom Dorf selbst. Es war Faschingdienstag, und es war „Faschingsmusi“ beim Gric. Meine Mutter sagte: „Gut, du darfst gehen, aber bleib bei deiner Freundin über Nacht und geh dann gleich in der Früh einäschern*, dass du mir ja nicht mit einem ‚Buam‘* nach Haus gehst.“ Es war eine lustige Nacht, und es ging ­alles ordentlich zu, doch in der Früh, als wir aufstanden, haben meine Freundin und ich gleich Fleischlaibchen verzehrt, denn das Tanzen hatte uns hungrig gemacht. Auf einmal fiel mir siedendheiß ein: Heute ist ja Aschermittwoch, ein strenger Fasttag, und ich hatte Fleisch gegessen! Ich hatte ja gar nicht daran gedacht. Dann ging ich doch zur Kirche, habe sie aber vorher umschlichen, denn ich traute mich nicht recht hinein. Ich glaubte auch, Gott würde gleich mit einem Donnerwetter 186

dreinfahren. Mutter erzählte ich es gar nicht. Na, da hätte es was gegeben! Aber vergessen hab ich es nie. Von Vater wussten wir in dieser Zeit nicht viel, nur dass er in Frankreich in Gefangenschaft war. Eines ist mir jedoch als Kind schon klar geworden, ich wollte selbst nie ein lediges Kind haben, denn da wurde man als Kleine schon abfällig behandelt. Mutter sagte oft zu mir: „Wegen deiner habe ich mir die Butter auf das Brot sparen müssen.“ Ihre Schwestern, die noch zu Hause waren, haben ihr den Fehltritt auch immer vorgehalten, ebenso Vater. Man kann das verstehen, ich war ja doch ein fremdes Kind für ihn, und er hatte ja selbst damals zwei Buben und ein Mädchen. Meine Schwester, acht Jahre jünger als ich, war, wenn er auf Urlaub kam, immer „die Liabi“, ich war halt „das Mensch*“. Dabei sehnte ich mich gerade in dieser Zeit so nach Zuneigung und Anerkennung. Sonst könnte ich über meinen Stiefvater nicht viel sagen. Wir hatten genug zu essen, und das war in der Kriegszeit nicht so selbstverständlich. Auch war er mit seinen Kindern sehr streng, als er vom Krieg nach Hause kam. Bei uns Mädchen war er recht dahinter, auch bei meiner Schwester. Am liebsten hätte er uns nach der Schule gleich verheiratet. Er war ja in seiner Jugend nach seiner Zimmermannslehre Rossknecht beim Jakob in Melk – ich glaube, das war ein Wirtshaus. Und was da alles getrieben wurde, das sollte es bei seinen Mädchen nicht geben. Das Lesen hielt Vater für ganz unnötig. Ich musste mich mit meinen Kalendern, Romanen und auch Büchern immer verstecken. Aber ich habe doch gelesen, habe immer geträumt von vielen Büchern, die ich lesen möchte. Mein erster großer Roman wurde von mir mit 14 Jahren verschlungen. Es war das Buch „Vom Winde verweht“. Wie ich dazu gekommen bin? Onkel Toni hatte sich mit seiner Braut am Simonsberg, das ist ein Ort zwischen Mank und Melk, ein Haus gekauft. Da gab es natürlich viel zu erledigen, so musste ich das Haus 187

hüten. Nach einer anstrengenden Arbeit mit Putzen und Zusammenräumen – das Wasser musste ich mir vom Ziehbrunnen holen –, fand ich dieses Buch. Das Häuserl hatte vorher Wienern gehört, und die hatten das Buch im Haus gelassen. Ich habe es mir ausgeliehen, es hat ja doch eine Weile gedauert, bis ich fertig war. Das erste Mal so ein Buch zu lesen, war doch für mich einmalig. Ich habe damals mit vierzehn Jahren vieles nicht verstanden, was wusste man schon von der weiten Welt. Ich hatte drei kleinere Geschwister, da musste ich die Bücher oder Hefte ja immer verstecken, da sie das ja nicht verstanden und mit den Büchern gespielt hätten. Beim Nachbarn im Dienst Die Zeit verging, es wurde wieder Frühling, und Mutter wartete alle Tage, dass der Vater bald käme. Er war immer noch in Gefangenschaft. Eines Tages ging ich beim Hintertürl hinaus und blickte zufällig auf die Straße, die man von dort übersehen konnte. Als ich dort einen Mann gehen sah, dessen Gang mir bekannt war, rannte ich gleich und sagte: „Ich glaube, Vater kommt.“ Mutter konnte es gar nicht fassen, aber es stimmte. Die Freude war groß, denn er war lange Zeit weg gewesen. Doch es dauerte nicht lange, und es wehte ein anderer Wind. Mutter und ich hatten uns zusammengerauft. Auf einmal sollten wir wieder ein Oberhaupt haben, das Befehle erteilte und diese Befehle auch ausgeführt haben wollte. Bei Mutter hatte ich mich schon manches Mal gedrückt, mich mit einem Buch wo versteckt und war halt nicht da. Das war jetzt vorbei. Ich hatte ja immer hart arbeiten müssen. Doch jetzt, mit dem Vater zu Hause – obwohl wir uns freuten, war es kein Auskommen mit mir. Das „Fortfliegen“ war ich gewöhnt. Sonntagnachmittags lesen und abends zu einer Tanzunterhaltung, das war alles gestrichen. Ich war jung und suchte nach einem Ausweg. Der bot sich, als unser Nachbar über 188

den Sommer ein Mädchen zur Aushilfe brauchte. Das war mir gerade recht – ein bissel Geld verdienen und den strengen Augen meines Vaters entkommen. Die Arbeit machte mir Freude, und mit der Tochter des Hauses, die ein paar Jahre älter war, vertrug ich mich auch. Wir hatten ja als Kinder schon gespielt miteinander. Ich half überall mit. Beim Gerstenmähen musste ich mich schon zusammennehmen, dass ich mitkam, denn ich mähte immer zu rund, und da kam man nicht weiter. Der Weizen wurde auch noch mit der Sense gemäht. Es waren meist drei Männer, die gemäht haben, sonst hätte man nichts weitergebracht. Denn die Joch* waren auch damals da, auch wenn nicht so viel Ertrag war. Man hatte halt ein paar Tagwerker und die Hausleute. Jeder Schnitter hatte eine „Aufheberin“ mit der Sichel, und wenn man Glück hatte, machte einem ein Kind das Bandl für die Garben, die man gleich binden musste. Es brauchte ja nur ein Wind gehen, und alles war verrüttelt*. Um vier Uhr nachmittags war Jausenzeit, das war auch schön. Man setzte sich unter einen Baum, aß und trank und es gab gutes „Seitenfleisch“*, Strudel und zum Schluss einen „Tried“* oder Mostpudding*. Ich kann nur eines sagen: Wo ich gearbeitet habe – und das war bei vielen –, war das Essen gut und reichlich. Nach der Jause hat man dann noch eine Stunde weitergeschnitten, dann wurden Bockerl* gemacht. Wenn viele Leute waren, ging das sehr schnell. Der Bauer hat sie zusammengebunden, es war seine Arbeit, sie mussten ja ein paar Tage zum Trocknen draußen stehen. Wenn da ein Gewitter oder Sturm kam, sollten sie ja stehen bleiben, auch der Regen musste abrinnen können. Wenn die Garben genug getrocknet waren, wurden die großen Leiterwagen hervorgeholt und man fuhr mit den Pferden aufs Feld. Es war der Stolz der „Fasserin“*, dass sie einen schönen „Schweif“* zusammenbrachte, wegen dem „Wiesbaum“. Das war ein runder Holzstamm, der wurde vorn und 189

hinten mit Seilen auf die Fuhre gebunden, denn sonst wäre ja alles von dem rumpelnden Wagen hinabgefallen. Drum hat man da sehr genau sein müssen. In unserer Nähe haben sie einmal einen Wiesbaum gebunden, er ist gebrochen und hat die Bäuerin, eine junge, hübsche Mutter von zwei Kleinkindern, getroffen, und sie war tot. Da gab es einen großen Jammer, aber das Leben ging weiter. Die Fuhren waren meist sehr hoch, man musste oft weit fahren, und während einer auf den Acker fuhr, mussten die anderen zu Hause abladen. Das „Fassen“* war viel Mühe. Wenn der Knecht oder Bauer die Garben heraufschmiss, wurde man ganz zerstochen, und die Pferde oder Ochsen waren wegen der Fliegen unruhig. Auch mir ist einmal ein „Schweif“ hinabgerutscht. Na, das war eine Schande! Alle haben mich gehänselt wegen dem „Bärenfleisch“*. Man hat früher so gesagt, wenn man umgeschmissen hat oder das Fuder Heu oder die Garben auseinandergegangen sind. Trotzdem war mir das „Fassen“ lieber als im Stadel beim Abladen zu helfen. Einer gab hinauf, ich musste die Garben zurückschmeißen, und die Bäuerin „jettete“*, das heißt, die Garben schön legen. Das war an und für sich eine Kunst. Erstens musste sie dabei viel Platz haben, sodass eine wie die andere Reihe aussah, als wären die Garben in Fischdosen geschlichtet. Und zweitens mussten sie beim Dreschen leicht herauszunehmen sein, sonst schimpften die „Außischmeißer“, das waren die, die die Garben auf die Dreschmaschine warfen, meistens waren es ihrer zwei. Abends musste ich im Stall mithelfen. Wasser vom Hof schöpfen für die Kühe, da ist es vom Brunnen über eine Rinne gleich in die Kuhbarn geronnen. Das war leichter als zu Hause. Es waren zwar nur drei Kühe, doch man glaubt nicht, was so eine Kuh saufen kann. Mit der Arbeit kam ich ganz gut zurecht. Spaß hatten wir auch miteinander, denn wenn man jung ist, ist man halt lustig. 190

In der Früh war das Frühstück immer schon auf dem Tisch, wenn wir mit der Stallarbeit fertig waren. Es gab alle Tage Stosuppe*, wer sie wollte, und für jeden eine große Schale Kaffee oder Milch mit Brot, so viel man wollte. Alles war recht schön und gut, Geld hatte ich auch ein wenig, ich bekam dreißig Schilling im Monat als Lohn und war damit zufrieden, vorher hatte ich ja überhaupt keines. Also musste ich meiner Mutter und mir gleich eine Reise vergönnen. Ich habe sie ihr zum Namenstag geschenkt. Wir sind mit dem Kerschner zur Rosenburg gefahren, es hat für alle beide 15 Schilling gekostet. Mutter hat es sehr gefreut, doch Vater hat mächtig mit mir geschimpft, er wollte, dass ich das Geld spare. Auch sonst waren Vater und ich, während ich beim Nachbarn aushalf, immer im Kriegszustand, denn ich war zu nahe. Man konnte von seinem Haus zum Nachbarn hinüberschreien und -sehen. Es drehte sich immer um das leidige Fortgehen. Ich wollte fort, und Vater wollte, dass ich zu Hause bliebe. Einmal, ich war schon angezogen, hatte ein schönes Dirndl an, und wir wollten gerade fortgehen. Die Tochter und der Sohn vom Nachbarn nahmen mich mit. Beim Trimmel in St. Haus gab es eine Tanzerei. Durch Zufall sah mich Vater aus der Haustür gehen, und es bedurfte meines Onkels, der Tante und einiger Wiener, die beim Onkel gewohnt haben, der Nachbarskinder und meiner Mutter, um ihn zu überreden, dass er mich mitgehen lässt. Man muss sich das vorstellen, ich hatte vorher alle Freiheiten gehabt. Ich bin mit zwölf Jahren schon in die Wachau gefahren, und das kam so: Auf einmal, zur Kirschenzeit, kam ein Telegramm: „Sofort nach Wösendorf 50 kommen“. Wir wussten nicht, wieso. Na, Mutter wollte und konnte nicht, sie fragte mich: „Traust du dich?“ Ich traute mich, weil ich neugierig war und abenteuerlustig. Ich fuhr mit dem Zug über St. Pölten, Paudorf, Krems mit der Donauuferbahn nach 191

­ ösendorf-Joching und fand auch bald das Haus, es war W wunderschön. Herunten waren Keller und Stallgebäude und die Stiege hinauf waren die Wohnräume. Eine anheimelnde Küche, lichte, luftige Zimmer und das Schönste: über die Terrasse hinaus ein großer Garten mit Blick zur Donau. Ich wurde herzlich willkommen geheißen, und das Rätsel löste sich ganz harmlos auf. Eine Tante, Schwester vom Vater, war mit dem Sohn einer Familie befreundet, die hatte sehr viele Kirschen. Daher gab die Tante ihm den Auftrag, uns welche zu schicken. Weil sie fürchteten, es würde zu lange dauern und die Kirschen würden faulen, schickten sie das Telegramm. Voll bepackt fuhr ich nach Hause, und so fingen die Wachaufahrten an. In der Marillenzeit war ich wieder unten. Ich fuhr mit dem Zug zweiter Klasse, da die dritte Klasse so überfüllt war und man nicht viel aufzahlen musste. So hatte ich meist ein Abteil für mich allein. In der Wachau machte ich mich gleich um zwei Jahre älter. Es sah doch anders aus, wenn ich fünfzehn wurde statt dreizehn. Es hat niemandem wehgetan, doch mir hat’s was gegeben. Ich habe zwei Jahre eine schöne Zeit verbracht mit dem Wachaufahren, immer wenn Früchte reif waren. Ich war gern gesehen dort, lag im Garten unter den Marillenbäumen und wartete, dass eine herunterfiel, da waren sie am besten. Und auch die Landschaft hatte es mir angetan, die Donau und ringsum die Berge, diese Rebenlandschaft war einmalig. Meistens musste ich einmal über Nacht bleiben, da es sich in einem Tag nicht ausging. Nachts hörte ich dann die Wellen der Donau, manches Mal ein Schiff. Es war alles so fremdartig und schön. Ich ging auch schon tanzen mit, da auch in Wösendorf junge Leute waren. Einer fragte mich einmal, aus welchem „Hieb“ ich sei. Später wusste ich, dass das Bezirk hieß. Man glaubte da unten, dass ich aus Wien sei. Als ich dann fünfzehn war, besuchte uns aus der Wachau dieser Bekannte und erkundigte sich nach mir. Nach meinen 192

Darstellungen musste ich ja schon siebzehn Jahre alt sein. Meine Mutter sagte: „Was willst du von ihr, die ist ja erst fünfzehn.“ Na, das war schon peinlich! Das Wachaufahren brachte für mich auch Abwechslung, denn was hatte man früher schon tun können? Der Weg zum Kino war weit und der Besuch einer Vorstellung selten. Es gab nur Arbeit und wieder Arbeit. Ich habe die Erinnerung, dass ich mit dreizehn Jahren um zwei Uhr früh aufstehen musste, um am Simonsberg die „Gstättn“, einen großen Anger, mähen zu helfen. Der Onkel, der Franzose Leon, ein Kriegsgefangener, und ich mussten die Arbeit so früh machen, denn am Tage wäre es zu heiß gewesen. Mutter konnte uns nicht helfen, sie musste die drei Kühe, ein paar Schweine und die drei Kinder versorgen; auch Hendln hatten wir. Als Vater dann zu Hause war, sind wir auch schon in der Früh losgezogen. Essen und Dengelhammer* samt Dengelstock* wurden mitgenommen, denn so ein Joch Wiese brauchte schon Zeit, bis man fertig war. Auch dreschen ging ich schon mit vierzehn Jahren, oft eine ganze Woche mit der Maschine von einem Haus zum anderen. Mutter konnte ja nicht wegen der Arbeit und der Kinder. In der Nachbarschaft ging man ja untereinander und half sich gegenseitig beim Dreschen. Ich kam sogar noch weiter, denn ein Bauer hatte bei uns geackert, und der wollte wieder, dass ich ihm dreschen half. Wenn man jung ist, dann macht einem ja das Staubschlucken nichts aus, und die dummen Reden von den Maschinisten habe ich mit vierzehn Jahren sowieso nicht verstanden. Es waren raue Kerle, aber alle gut zu leiden. Es ist mir auch keiner nahegetreten, wenn ich auch manchmal ganz schön frech zu ihnen war. Aber fluchen konnten sie, da hätte man schon was lernen können. Meistens waren es drei Maschinisten, die sich abgewechselt haben. Die Dreschmaschine und der Dampfkessel mussten ja immer in Ordnung sein, denn 193

wenn so eine Menge Leute zusammenkommt, dann muss alles klappen. Mir machte das Dreschengehen nichts aus, ich habe alles gemacht. Schwaben gebunden, das ist das leere Stroh, das beim Dreschen herunterkommt. Oder ich habe die Garben aufgeschnitten. Wir waren da immer zu zweit, eine links und eine rechts von den Maschinisten. Es war eine große Ehre, wenn ein Maschinist verlangt hat: „Zuwibeuteln musst heute du.“ Das hieß, die aufgeschnittenen Garben schön auflockern, damit sie richtig in die Hand des Maschinisten fielen. Wenn man das nicht richtig gemacht hat, konnte man von ihm alle Schimpfnamen hören, die es gab. Ich weiß noch genau, wie stolz ich war, wenn einer sagte: „Geh tu ein bissel einlassen, ich muss unten nachschauen, ob alles stimmt.“ Das war, wenn der andere Maschinist wegfuhr, um neue Arbeit aufzunehmen oder zu der Bäuerin um ein Glasl Tee ging. Denn Maschinisten und Körndlträger hatten Anspruch auf Tee unter der Zeit. Auch beim „Gsott“ war ich öfters, das hat mir aber nicht so gut gefallen, aber es musste sein. Das Gsott, das sind die Abfälle, die Hülsen vom Getreide und die Graden*. Das Gsott musste man mit dem Korb in eine Kammer tragen, oder, wenn keine Kammer da war, irgendwo hineinschaufeln. Hafer und Weizen gingen, aber bei Roggen und Gerste hat es gestochen, und gestaubt hat es halt immer. Weiters waren beim Dreschen noch zwei starke „Außischmeißer“ da, welche die Garben auf die Dreschmaschine werfen mussten, und zumindest ein Körndlträger. Wenn das Körndl weit getragen werden musste, waren es sogar zwei. Zwei Personen mussten Schwaben binden, das ist das leere Stroh, welches mit Strohbändern zusammengebunden wurde. Zusätzlich mussten zwei bis drei Personen das gebundene Stroh wegräumen, das war eine schwere Arbeit. Ja, dieses „Dampfdreschen“ war aber eine schöne Zeit. In der Früh, wenn es noch finster war, hat es schon gepfiffen, 194

die rote Glut hat geleuchtet, und es war ein Getöse mit dem Schwungrad, wenn es angefangen hat. Um sechs Uhr musste man schon dort sein, man bekam ein gutes Frühstück, und dann kam wieder ein Pfiff, da musste man draußen sein, sonst war der Maschinist ungehalten. Zur Jausenzeit gab es wieder einen Pfiff, auch mittags und abends. Ich bin gerade in die Zeit nach dem Krieg hineingekommen, da gab es so gutes Essen, dass man sich davon ausrasten hätte sollen. Vormittags Braten und Geselchtes oder Bratwürste, mittags Kalbsbraten oder Rindfleisch mit Knödel und Kren und zum Schluss Torte, guten Strudel und Bäckerei mit Tee. Abends wieder Geselchtes, Braten, Butter mit Honig und weißen Wecken. Einer übertraf den anderen, am Abend war man dann schon so müde, dass man ins Bett fiel. Doch wenn einer jung war, machte das nichts aus, am nächsten Tag ging es weiter. Die Maschinisten waren raue Burschen, machten ihre Scherze mit den Leuten, besonders mit den Mädchen, und hatten ein ordinäres Mundwerk. Vieles hab ich später erst verstanden, was sie sagten. Doch es hat sich zu mir jeder anständig benommen. Ich könnte mich über keinen beklagen. Wenn sie bei einem Bauern fertig waren, kam der nächste dran. Es wurde der Dampfkessel mit zwei Pferden abgeholt und auch die Dreschmaschine, denn der Bauer, dem das gehörte, fuhr auf Lohndrusch von Haus zu Haus und bezahlte auch die Maschinisten. So hatte ich mit vierzehn Jahren schon ein bewegtes Leben. Und da wollte mich Vater zu Hause festhalten. In diese Zeit – ich war fünfzehn –, fiel auch die Hochzeit vom Toni-Onkel. Ich musste als „Jungfrau“ gehen. Als „Junggeselle“ ging von der Braut ein Verwandter aus Seimetzbach. Ich freute mich schon sehr darauf. Vierzehn Tage vorher musste ich Schweinestall ausmisten. Ich hatte es sehr eilig dabei und stieg in einen Gabelzinken. Ich war acht Tage fürchterlich geschwollen. Doch ich hatte Glück. Zur Hochzeit war 195

ich ganz gesund, bekam ein weinrotes Seidenkleid, schwarze Schuhe und fühlte mich recht erwachsen. Abends kamen dann die „Nachigeher“* der Braut. Da war ein Mädchen dabei, so schön und lieblich, so stellte ich mir Schneewittchen vor. Sie hatte rote Wangen, ganz eine weiße Haut und kohlschwarzes Haar. Ich musste sie immer anschauen und vergaß ganz meine Pflichten als Jungfrau. Da musste man sich einen Jüngling zum Tanzen nehmen und dann an andere weitergeben. Aber die Hochzeit war im Hause meines Onkels Leopold, und da war es nicht so genau. In Schmidbach Und so kam der Spätherbst, und meine Zeit beim Nachbarn ging zu Ende. Ich wollte nicht mehr zurück, da mir die Oberherrschaft vom Vater gar nicht gefiel und ich was lernen wollte. Zunächst ging ich wieder vorläufig nach Haus. Aber Vater wollte mir nicht einmal Sonntagnachmittag freigeben, und immer wusste er Arbeit. Wenn schönes Wetter war, hängte er mir die drei Kühe mit Ketten zusammen, und ich musste mit ihnen auf die Weide gehen. Eine wollte da fressen, die andere dort, es war immer ein Durcheinander. Oder wenn es regnete, sollte ich flicken. Das war gar nicht nach meinem Sinn. Man konnte Vater deswegen keinen Vorwurf machen, er arbeitete selber Sonn- und Feiertag, grad zur Kirche nahm er sich vormittags Zeit. Er hatte es so gelernt, doch ich wollte raus. Eines Tages hörte ich, dass Frau Dangl in Kilb, von Beruf Schneidermeisterin, ein Lehrmädchen suchte. Ich fuhr gleich mit dem Zug hin und stellte mich vor. Sie war eine resolute, freundliche Frau und sagte zu mir: „Ich habe jetzt gerade recht viel Arbeit, kannst gleich dableiben.“ So war ich nun in Kilb. Es gefiel mir soweit gut, nur meine Hände schwitzten, und das sollte nicht sein. Ich bekam auch das Essen dort, es war gute Hausmannskost. Auch lernte ich dort meine ersten 196

Cremeschnitten kennen, die mir wie eine Götterspeise vorkamen, ich hatte vorher so etwas noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. So verging die Zeit, und Frau Dangl wollte mich mit einem Lehrvertrag anstellen, doch da kam der Haken. Sie hatte schon ein Lehrmädchen, und ein zweites durfte sie nicht einstellen, ich weiß heute nicht mehr, weshalb. Die Enttäuschung war groß, ich wollte doch so gerne was lernen. Schweren Herzens verließ ich meinen Lehrplatz. Diesmal ging ich zu Fuß von Kilb über Schmidbach und besuchte zugleich meinen Onkel und meine Tante, sie war Mutters Schwester. Sie luden mich zum Mittagessen ein, und ich erzählte ihnen mein Pech. Die beiden schauten sich an, und mein Onkel sagte: „Wenn du arbeiten kannst und willst, könnten wir dich sofort brauchen. Die drei Kinder sind noch klein, und Tante braucht eine Hilfe.“ Was sollte ich tun? Nichts lernen und als Hausgehilfin gehen, das war grade nicht mein Fall, doch nach Hause wollte ich auch nicht. Wer weiß, wann ich einen Lehrplatz bekam? So blieb ich dort. Es waren ja doch meine Verwandten, und mir ging es nicht schlecht bei ihnen. Der Onkel hatte eine Dorfschmiede, und es war immer was los dort. Morgens um sechs Uhr begann für mich der Tag. Meine erste Arbeit war, Feuer in der Schmiede zu machen, den Blasbalg ziehen und Kohle draufgeben. Das war aber eine Arbeit, die mir niemand schaffte*. Die Männer hatten zwar Freude daran, aber Tante schimpfte darüber, doch ich ließ mir da nichts sagen. Dann gab ich den Kühen Futter, auch den Schweinen, so begann das Tagwerk. Außer meinem Onkel war noch ein Sohn von seiner Schwester da. Er war schon ein älterer Junggeselle und wohnte auch im Haus. Er hatte sein Kammerl gleich neben der Schmiede und kam nur zum Essen ins Haus. Das Kammerl war nicht groß, und abends, wenn ihn seine Freunde besu197

chen kamen – deren hatte er viele, denn er richtete in seiner Freizeit Fahrräder und Motorradln her –, konnte man sich drinnen nicht rühren. Tante war nicht so streng, so durfte ich auch manches Mal hinübergehen, um diese Späße anzuhören. Schmidbach ist ein mittleres Dorf zwischen Kilb und Mank, eingebettet in Wiesen und Felder, ringsum einige Wälder, ein richtiges Bauerndorf mit Schmiede. Bis heute ist es so geblieben, nur der Schmiedehammer schweigt jetzt. Als ich dort war und wir aufs Feld gegangen sind, haben wir immer den Klang des Hammers gehört. Das war so schön, wie sich das heute niemand mehr vorstellen kann. Es klang so wie bei der Schmied-Polka. Bei der Arbeit musste ich überall mithelfen, auch beim Kochen. Es waren bei uns ganz schön viele Leute zum Essen, drei Kinder, meine Wenigkeit, Onkel und Tante und Leopold, so wurde der Neffe genannt. Auch hatten wir zwei Kühe, Schweine und Hendln. Das Futter holten wir mit einem kleinen Traktor nach Hause, den sie damals schon hatten, oder mit dem Schubkarren. Wenn ich mit dem Traktor fahren durfte, was selten genug vorkam, war das ein Freudentag für mich. Beim Holzspalten, was auch meine Arbeit war, lud ich so manchen honorigen Bauern, der grade mit den Pferden in der Schmiede war, ein, es auch einmal zu probieren, ob sie es könnten. So wurde mancher „Wedl“* von ihnen zerteilt, und Spaß hatte man auch noch dabei, denn früher hatte man es nicht so eilig. Manches Mal waren schon ein Paar Pferde da zum Beschlagen, so musste halt der Nächste, der kam, warten. Im Winter kamen sie mit den Pferden auch zum Stolleneinschrauben*, denn wenn es eisig war, ging’s nicht anders. Heute legt man halt den Traktorreifen Ketten an, und es hat sich. Heute redet man viel von der „guten, alten Zeit“, doch wer sie kennt, weiß, wie mühselig sie war. So ein Pferd hat nicht immer Gefallen gefunden am Beschlagen, und so mancher 198

Bauer ist beim „Aufhalten“ eines Pferdefußes geschmissen worden. Wenn es gar nicht anders ging, wurde das Pferd „aufgezogen“. Da gab es einen eigenen Stand dafür, doch das machte viel Arbeit, es wurde nur im Notfall angewendet. Bei uns in der Schmiede war immer was los. Sommer und Winter kamen die Bauern mit ihren Pferden, Wagen und alten Sachen zum Reparieren. Der Leopold hatte schon manchmal eine Wut. Man hörte ihn in der Schmiede schelten, dann flog eine alte Milchkanne zur Tür heraus, und gleich drauf kam er selber, oft mit den Worten „Heute ist es aber genug!“, und zog sich in seine Kammer zurück. Meine Tante und mein Onkel waren nicht so streng wie Vater. Ich durfte auch abends manchmal ausbleiben, und es war eigentlich meine schönste Jugendzeit dort. Das weiß man aber alles erst nachher, wenn es schon vorbei ist. An den Sonntagen musste ich – außer den Stallarbeiten und der Hilfe beim Kochen der Mahlzeiten – nicht arbeiten: Das war schon viel Freude für mich. Auch Feiertage hatten wir alle, das war nicht so selbstverständlich. Wenn ich zum Tanzen ging, begutachtete mich Tante vorher. Sie lieh mir öfters ihr Dirndl, das mir auch passte. Ich kann mich heute noch erinnern dran, wie es ausgesehen hat, schwarzer Grund mit weißen Sternen. Es hat mir so gut gepasst. Natürlich gab sie mir Ermahnungen mit, denn Mutter hatte zu ihr gesagt, falls ich ein Kind bekäme, dürfe ich nicht nach Hause, und sie hätte die Verantwortung dafür. So sagte die Tante einmal zu mir: „Na, wenn du wirklich ein Kind bekommst, so muss sich halt die Poldi umschauen* drum, und irgendwie wird’s schon gehen.“ Die Poldi, das war die Tochter vom Haus und selbst erst vier Jahre alt, da musste ich direkt lachen. Der Toni ging schon in die Schule, und Franzi war ungefähr zwei Jahre und das Nesthäkchen, ein rechter Lausbub. Wenn wir gebetet haben und das Essen ist auf dem Tisch gestanden, so ist er, wenn es was Gutes gab, auf die Bank geklettert und hat sich 199

den Teller vollgefüllt. Der Onkel war beim Beten immer sehr bei der Sache, doch da musste er auch lächeln. Mit Kindern konnte ich gut umgehen, so hatte ich sie sehr gerne. Poldi war als kleines Mäderl schon sehr ordentlich, legte mit vier Jahren ihre Kleider abends schön zusammen und hielt ihre Spielsachen immer in Ordnung. Franzi, der Lausbub, hat mir im Lauf der Zeit das Heiraten versprochen. Zur Gaudi aller sagte er eines Abends: „Hilda, wenn ich groß bin, heirate ich dich.“ Er war so ein putziger Knirps, man musste ihn gern haben. Toni war schon größer und recht ernst. Er hat überall schon mithelfen müssen. Da die Tante immer vom Kinderkriegen sprach, kriegte ich es auch mit der Angst zu tun, denn aufgeklärt war man zu dieser Zeit nicht, und ich war mir nicht sicher, ob ein Kuss auch schon so was auslösen könnte. Man hörte zwar allerlei, aber nur irgendwie, und fragen wollte ich auch nicht. So plagten mich immer die Zweifel. Ich wusste, dass der Leopold ein Heft hatte, wo allerhand drinnen stand. Doch das hielt er gut versteckt, und es war nicht zu finden. Ich musste einen Tag abwarten, wo er nicht zu Hause war. Es dauerte eine ganze Weile, bis es so weit war. Er musste nach Kirnberg, also schaute ich, dass ich mit der Arbeit vorankam. Und in einem unbemerkten Augenblick schlich ich mich in das Kammerl und durchsuchte alles. Fast hätte ich es schon aufgegeben, denn ich hatte ja nicht so viel Zeit, und die anderen durften es nicht merken. Auf einmal erblickte ich das Heft. Schnell geschnappt, alles in Ordnung bringen war das Nächste, Leopold durfte ja nichts merken. Ich brachte das Heft unbemerkt in mein Zimmer, und abends las ich es durch. Ich weiß bis heute nicht, wer es geschrieben hat, es war handgeschrieben, und alles habe ich damals nicht verstanden. Doch ich war jetzt im Bilde und wusste so ziemlich alles. Ich erinnere mich noch heute, wie ich schockiert im Bett saß. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, obwohl ich beim 200

Dreschengehen schon allerlei gesehen und gehört hatte. Am nächsten Tag passte ich einen Moment ab, und als die Luft rein war, kam das Heft wieder auf seinen Platz. Es hat nie jemand erfahren, was ich gemacht habe. Aber es war gut für mich, dass ich es gefunden habe, denn jetzt fühlte ich mich freier. Es war dann mein Entschluss, nur mit dem etwas zu haben, der mich heiraten würde. Ich habe es nie bereut, obwohl es mir manchmal schwer angekommen ist. Denn es hat zu meiner Zeit auch schon nette Burschen gegeben, die ihren Spaß wollten. Doch dafür war ich mir zu schade. Meine erste große Liebe In diese Zeit fiel meine erste große Liebe. Hätte ich sie bekommen, würde ich nicht mehr dran denken. Doch was man nicht bekommt, ist immer wertvoll. Da kam so ein Bauernjunge mit den Pferden zum Beschlagen. Ein paar Jahre älter als ich, groß, dunkelhaarig, schlank, gerade der Traum von mir. Wir kamen ins Gespräch, und es war Liebe auf den ersten Blick, von meiner Seite auf alle Fälle. Wir trafen uns sonntagnachmittags und auch beim Tanzen. Es war wohl die schönste Zeit meines Lebens, jung, verliebt, sorgenlos – was wollte ich mehr? Sonntags fuhren wir mit dem Rad kilometerweit in die Berge bei Kilb. Da machten wir Rast, wo es uns gefiel, küssten uns auf dem Waldboden und alberten herum. Doch das Schönste war und blieb, wir wussten genau, was wir taten. Es kam keinem in den Sinn, etwas Verbotenes zu tun, was wir nicht verantworten konnten. Er war 18 vorbei und ich 16. Ich hatte gleich die Grenzen gesteckt, als wir das erste Mal miteinander eine Radtour machten. Da fuhren wir durch einen Wald, und er sagte zu mir: „Machen wir da einen Spaziergang?“ Ich lachte und sagte dazu: „Nein, mein Lieber, ich kenne dich zu wenig, um mit dir da herumzustreifen.“ Er hat es akzeptiert und sich sogar darüber gefreut, dass ich ihn 201

nicht verführen wollte. So haben wir dann einen Anger gesucht. Auf einer Wiese sind wir dann gesessen, und es war so schön, dass ich es bis heute nicht vergessen habe. Später habe ich ihm vertraut und ihn sogar zu Hause besucht. Es kam so, dass er einmal bei meinem Kammerfenster draufgezahlt hat, weil ihn die Burschen von Schmidbach, die keinen Fremden ins Dorf ließen, mit Steinen vertrieben haben, wobei ihn einer am Kopf getroffen hat. Da schickte er mir Post*, dass ich ihn besuchen solle in seinem Elternhaus. Seine Eltern seien fort zu Besuch und ich solle am Sonntagnachmittag kommen, da er einen Verband um den Kopf habe und auch mit dem Rad nicht fahren könne. Heute würde das keinem ein Kopfzerbrechen machen, doch damals war eine andere Zeit. Ich fuhr klopfenden Herzens dorthin und war froh, dass mich fast niemand sah. Dort angekommen, war ich sehr erfreut, dass ihm nicht mehr passiert war, und wir besichtigten fröhlich sein Elternhaus. Es war ein sehr wohlhabendes Bauernhaus, damals schon mit einem Bad ausgestattet und sehr schönen Zimmern. Da ich immer schon gern gelesen habe, sah ich auf einem Kasten einen Jahrgang der St. PöltnerZeitung liegen, schon als Band gebunden, und ich wollte ihn anschauen. Ich stieg auf einen Sessel und ließ mich dann von ihm herunterheben wie ein Baby und war, wie man sagt, im siebenten Himmel. So verging der Nachmittag, bald war es zum Nachhausefahren, denn mit dem Rad war es ja doch eine halbe Stunde. Wir saßen in der Küche, auf einmal ging die Tür auf – ich war ganz gelähmt vor Schreck –, und der Großvater meines Freundes kam herein. Er wohnte einen Kilometer weiter weg, kam nur vorbei, wie er sagte. Doch mir war es genug, tagelang hatte ich noch einen Schock. Wir fuhren auch mitsammen zum Tanz, und es war immer schön mit ihm. Er war immer so zuvorkommend, höflich, gar nicht wie die anderen Jungen. Er konnte gut tanzen, und ich sah alles mit den Augen der Liebe. Doch seit ich sein Eltern202

haus gesehen hatte, wusste ich, dass es nicht gutgehen konnte. Seine Eltern waren dagegen. Er war ein properer* Bauernsohn und ich das Keuschlermädchen, das nichts hatte als sein bisschen Jugend. Auf einmal kam er nicht mehr. Ich wusste nicht, wie die Zeit verging mit meinem Liebeskummer, doch es heißt ja so schön: „Die Zeit heilt alle Wunden“. Und wenn ich mich auch lange kränkte, einmal kam der Tag, da ich mir sagte: „So geht das nicht weiter.“ Und ich wurde wieder fröhlich, unterhielt mich mit allen, war aber ein gebranntes Kind, das nichts mehr glaubte. Es kam auch immer ein Bauer aus der Kilber Gegend mit den Pferden, den mochte ich überhaupt nicht. Er war so um die vierzig herum, verheiratet, mit zwei Kindern, die er auch manchmal mitnahm. Ich könnte nicht sagen, was mir an ihm nicht gefiel, denn er belästigte mich nicht, hatte immer ein Scherzwort bereit. Doch wenn ich ihn sah, wich ich ihm aus. Es war ein Bauer aus Anzenbach. Eines Tages ging das Gerede, seine Frau wäre schwerkrank und zum Sterben. Es taten mir die Kinder sehr leid und auch der Mann. Beim Betengehen in Kilb sah ich ihn mit dem Rad fahren, da war seine Frau schon gestorben. Blass und mager sah er aus, nicht zum Erkennen. Da fragt man sich schon, muss so ein Leid sein? Vom Krieg verwundet nach Hause gekommen und dann mit zwei kleinen Kindern – sieben und neun Jahre alt – allein. So ging wieder ein Jahr vorüber. Wenn man jung ist, ist alles viel leichter. Man schüttelt alles ab, was einem nicht gefällt. Wir hatten einen Waggon Sand bekommen, der musste ausgeladen werden. So fuhren der Leopold und ich mit dem Traktor samt Wagen nach Mank, eine Weile ging alles flott voran. Doch beim dritten Mal ging beim Mittenhuber-Berg bei einem Traktorrad die Luft aus. Was machen? „Na“, sagte Leopold, „lauf zum Faschingleitner und sag, er soll kommen!“, 203

da der einer der Wenigen war, die einen Traktor besaßen. So lief ich halt der Straße nach und fand auch nach einigem Fragen das Haus. Der Bauer war gerade beim Kühemelken, denn zu dieser Zeit ging man auch mittags in den Stall. Sofort ließ er alles stehen und liegen und startete den Traktor. Ich musste aufsteigen, und wir fuhren zum Hoftor hinaus, wo ich ihm gleich um den Hals fiel, weil er so schnell fuhr. Im flotten Tempo ging es weiter mit dem Sandausladen. Abends waren wir alle müde von dem ungewohnten Schaufeln. Bei der Jause dann wurde ich sogar gelobt, dass ich fleißig wäre. Der Nachbar, der auch geholfen hatte, meinte zum Faschingleitner: „Das wäre eine Frau für dich, die kann arbeiten.“ Mein Onkel sagte: „Na, die wär dir wohl zu jung.“ Er lachte und erwiderte zum Scherz: „Das würde gerade passen, denn“, da meinte er mich, „sie wächst ja eh unter der Tuchent mit.“ Mir schmeckte das Essen nimmer wegen so viel blöder Rederei, und außerdem konnte ich ihn nicht leiden. Doch alle lachten mich aus. Wenn mir das wer gesagt hätte, dass er wirklich einmal mein Mann werden würde, den hätte ich wohl niedergerauft. In meiner neuen Heimat – ich werde Bäuerin Mit Arbeit und Spaß verging die Zeit, und es wurde wieder Herbst. Die Tante sagte zu mir: „Die Kinder sind schon größer, wir können dir nicht mehr zahlen als 50 Schilling im Monat, wenn du dir etwas findest, wo sie dir mehr zahlen, so sind wir nicht böse.“ Na, so ging ich halt auf Stellensuche, denn ich wollte mehr verdienen, es reichte ja vorn und hinten nicht. Unsere Nachbarin, die Lois, wollte mit mir zu unserem „Sandfuhrbauern“ gehen, mit dem sie gut bekannt war, da er notwendig jemanden brauchte und er mich schon in der Schmiede angesprochen hatte, ob ich nicht bei ihm anfangen wolle. Er versprach mir einen Monatslohn von 250 Schilling 204

– das war sehr viel Geld damals –, und ich dachte mir, ich könnte es versuchen, wenn ich ihn auch persönlich nicht mochte. Also gingen wir eines Abends über die Feldwege nach Anzenbach. Es gefiel mir auch ganz gut dort, und falls es mir nicht passte, konnte ich jederzeit wieder gehen. Ich bekam 100 Schilling Angabe, die mich auch sehr freuten und mit denen ich gleich vierzehn Tage später eine zweitägige Reise ins Salzburger Land machte, übrigens meine erste größere Reise mit dem Autobus. Acht Tage drauf nahm ich meinen Platz ein. Es ging alles ganz gut. Es gab zwar viel Arbeit, doch was machte mir schon die Arbeit aus? Es waren zwei Kinder da, ein Junge und ein Mädchen, ganz brave Kinder, wie sie halt so sind. Ich hatte nicht viel zu tun mit ihnen, denn es war ja eine Haushälterin da, ich war das Zweitmädchen, das alles tat, wozu man mich gerade brauchte. Eines Tages hatte Frieda, die Haushälterin, Streit mit dem Bauern. Beide wurden laut. Sie packte ihre Sachen und war fort. Ich stand beim Tor und weinte, weil ich einfach nicht wusste, wie es weitergehen sollte: der Haushalt, die Kinder, der Stall, alles rundum halt. Ich konnte zwar kochen, doch bei uns war es halt immer einfach zugegangen, wie sollte ich mich da verhalten? Man ist aber nicht umsonst jung, es gab ja so viel Arbeit, dass ich gar nicht Zeit hatte, darüber nachzudenken. Die Kocherei war schon ganz schön schwierig, denn es waren ja zwei Knechte auch da. Wir waren sechs Personen mit den zwei Kindern. Es allen recht zu machen, war kein Honiglecken. In dieser Zeit stellte sich heraus, dass mein Chef eigentlich ein netter Kerl war, meistens freundlich und hilfsbereit. Beim Brotbacken gab er mir auch Ratschläge, wie es seine Mutter getan habe, und da ich ja von der Tante das Brotmachen gelernt hatte, ging es doch so halbwegs. Aber zwischen Praxis und Theorie, musste ich bald merken, war ein großer Unterschied. Die Laibe wollten halt nicht so werden, 205

wie ich sie mir vorstellte, oder das „Ura“* – früher nahm man das immer zum Brotbacken, es war ein Fladen von der alten Brotmasse, den man immer bis zum nächsten Brotbacken aufhob – wollte nicht aufgehen. Später nahm ich nur mehr Germ zum Brotbacken. Die Kinder hingen sehr an mir, obwohl sie folgen mussten. Es gab ja so viel Arbeit, und die zwei mussten schon fleißig mithelfen, da das Haus sehr groß war und vernachlässigt, ich aber sehr ordnungsliebend. Daher gab es viel zu putzen, damit die Räume zur damaligen Zeit ganz gut in Ordnung kamen. Es gab sogar vom Küchenherd aus eine Zentralheizung, was damals nur in den Herrschaftshäusern bekannt war. An einen Sonntagnachmittag kann ich mich noch genau erinnern. Es fuhren an diesem Nachmittag alle mit dem Traktor – damals gab es bei uns noch kein Auto – nach Kettenreith, um auf der Spitzwiese eine Schiabfahrt zu sehen. Ich blieb zu Hause, heizte mir warm ein, legte mich auf den Diwan, der neben dem Heizkörper stand und fühlte mich recht wohl. Ich ging auch mit den anderen tanzen, wo halt was los war. Ich fuhr sogar mit dem Rad nach St. Georgen (Bründl) auf ein Waldfest und lebte wie die Maus im Haferstroh. Es war im Winter, und ich ging mit Bekannten ins Kino – ein sehr dramatischer Film. Beim Nachhauskommen rief mich der Bauer in seine Stube, um etwas für den nächsten Tag zu besprechen. Wir redeten auch über den Film. Ich jung, 19 Jahre, er 41 und erfahren. Ich noch gepackt vom Filmerlebnis, da ist es halt dann passiert. Na, wenn mir das wer gesagt hätte. Geredet haben die Leute sowieso schon ein halbes Jahr früher, jetzt war es wahr geworden. Nicht einmal meine Eltern haben eine Freude damit gehabt. Den großen Altersunterschied von 22 Jahren fürchteten sie. „Pass auf, in 15 Jahren ist er dir zu alt“, musste ich immer wieder hören. Obwohl sie nebenbei stolz waren, dass ich doch so einen großen Aufstieg hatte. 206

Also, da es schon mit uns so weit war, beschlossen wir, im Jahr drauf zu heiraten. Ich habe mich dann regelrecht in ihn verliebt. Dies fiel mir umso leichter, als er seine Fehler sorgfältig verbarg. Es waren ihrer ja nicht so viele, doch später machten sie mir schwer zu schaffen. Der gute Witz war dabei, dass ich bereits Monate vorher mit den Kindern zum Fotografen ging. Wir drei ließen uns „abnehmen“ – so sagte man zur damaligen Zeit zum Fotografieren –, und es wurde ein sehr gutes Foto. Der Fotograf hängte das Foto groß in den Schaukasten. Damals hatte ich nicht gewusst, dass wir heiraten würden. Natürlich, als es aufkam – die Wenigsten kannten mich ja –, wurden wir immer besichtigt. „Denn wer heiratet schon so eine Junge, nur ein Narr“, sagten alle und prophezeiten meinem Mann die schrecklichsten Sachen. Doch wir scherten uns keinen Deut drum, was die Leute sagten, gingen zum Pfarrer und zum Standesamt. Jetzt kamen auch seine Geschwister zum Vorschein, die die Heirat ja auch nicht wollten. Erstens, weil ich aus einem kleinen Häusl stammte, und zweitens wegen meiner Jugend. Eines Nachmittags, als die Knechte mit dem Bauern im Wald waren – mit dem Traktor fast eine Stunde weg –, war ich allein zu Hause. Da kam sein Bruder mit dem Motorrad gefahren, hinten oben seine Schwester, eine resolute Bäuerin. Sie fragten nach ihrem Bruder, doch dieser war im Wald. So gab ich ihnen eine Jause, wir unterhielten uns eine Weile, später kam dann noch der Fohringer-Nachbar hinzu, der sofort ahnte, was sie wollten, doch zu mir sagten sie kein Wort. Alle warteten auf den Bauern, auch der Fohringer Franz. Wie er später zu mir sagte, um Hans zu helfen, denn dieser sei mit 42 Jahren alt genug, um zu wissen, was er tue. Doch die Männer kamen viel später nach Hause, sodass den Geschwistern die Zeit zu lang war, um zu warten. Auch mussten sie zur Stallarbeit. Sie fuhren weg und haben sich nicht mehr gemeldet. 207

Zu den Bitttagen* sind wir zur Brautlehre und in die Kirche gegangen. Da hat ihn seine zweite Schwester vor der Kirche abgepasst und eine Stunde entführt. Die hat ihm so zugesetzt, dass er dann ganz blass war. Er hat auch nicht viel darüber gesprochen, doch alles eins war es ihm nicht. Nächsten Tag war ich beim Friseur gerade unter der Haube, und wer kommt herein? – meine zukünftige Schwägerin. Die Leute haben mich nicht gekannt, und da hat sie eine Frau gefragt – na, wie sie halt sind: „Morgen heiratet ja dein Bruder ...“ – „Ja“, hat sie voll Zorn gesagt, „er muss das junge Ding da heiraten, denn sie bekommt ja ein Kind von ihm.“ Bevor sie noch mehr sagen konnte, hat die Frau des Friseurs sie abgelenkt, denn sie kannte uns ja beide. Ich habe unter der Haube lachen müssen, denn das Kind kam erst drei Jahre später. Und am nächsten Tage wurde geheiratet, es war Christi Himmelfahrt, der 3. Mai. Heuer sind wir 40 Jahre verheiratet, und nichts ist eingetroffen, was die lieben Verwandten und Nachbarn vorhergesagt hatten. Doch nun zu unserer Hochzeit. Standesamtlich hatten wir schon eine Woche vorher geheiratet. Da sagte auch der Standesbeamte: „Wo ist die Braut? Das junge Dirndl kann es doch nicht sein, und außerdem bist du ja verheiratet“, meinte er zu meinem Mann. Doch dann ließ er sich überzeugen. Am Christi-Himmelfahrtstag fuhren wir mit dem Lesiak Sepp, einem netten Mechanikermeister aus Mank, und mit dem besten Freund meines Mannes, dem Zimola Sepp, nach Mariazell zur Hochzeit. Nur wir vier, sonst war niemand bei der Trauung. Da wusste der Pfarrer nicht, wer der Bräutigam war, denn alle drei stellten sich neben mich. In einem Gasthaus haben wir dann gut gegessen und sind wieder nach Hause gefahren. Zu Hause gab es dann wieder ein gutes Essen, wenn uns auch eine Nachbarin später erzählt hat, die Schnitzel seien, auf einem Brett zwar, aber auf dem Fußboden geklopft worden. Uns hat es doch geschmeckt. 208

Mathilde Faschingleitner berichtet in ihren schriftlichen Lebenserinnerungen weiters von der Aufbauarbeit der folgenden Jahre, in denen sie – nach Erwerb des Führerscheins – vor allem durch den Direktverkauf landwirtschaftlicher Produkte auf dem Markt in St. Pölten für einen Zuverdienst sorgte. In den Jahren 1954 bis 1960 wurde sie Mutter dreier Kinder, deren Lebenswege die Autorin kurz skizziert. Einen Stiefsohn verlor sie durch einen Unfall. Der plötzliche Tod ihres Mannes im Jahr 1992, nach 41 Jahren gemeinsamer Ehe, stellte eine weitere Zäsur in ihrem Leben dar. Die Autorin lebte bis vor kurzem auf dem Bauernhof; seit dem Frühjahr 2011 wohnt sie bei der Familie eines Sohnes in der Steiermark. Gegen Ende entwickeln sich Mathilde Faschingleitners Aufzeichnungen von einem geschlossenen Erinnerungstext hin zu tagebuchähnlichen Einträgen, in denen die Autorin einige besondere Erlebnisse erinnert und zugleich ihre Lebenssituation im Alter reflektiert. So wirft sie beispielsweise mit der folgenden Episode einen Blick zurück auf ihre Ehe: Wir betrieben ja eine Abmelkwirtschaft. Das ging so vor sich: Mein Mann kaufte die Kühe im Gebirge, da waren die noch nicht so teuer wie beim Händler. Das hat mein Mann schon in jungen Jahren getan, und auch sein Vater hatte es schon so gemacht. Wir fütterten gut, und die Kühe, die nicht trächtig wurden, bekam der Fleischhauer. Ganz selten fuhr ich auch mit, denn sein Gebiet, wo er die Kühe kaufte, erstreckte sich bis zum Ötscher hin. In Schlagerboden, Nestelberg, St. Anton und Puchenstuben hatte er überall bekannte Bauern, die ihn sehr mochten. Diese Orte waren wunderschön, viel Gebirge und Täler; es war eine Freude für mich, das alles zu sehen. Einmal war es wieder so weit, dass ich mir Zeit nahm zum Mitfahren. Es nahm viel Zeit in Anspruch, bis wir in das Gebirge kamen. Ich weiß heute nicht mehr den Namen der Ortschaft, wo wir hinfuhren, doch es ist mir die Erinnerung daran geblieben. Wir wurden dort freundlich begrüßt, in den 209

Stall geführt; und dann dauerte es schon eine Weile, bis der Handel zustande kam. Es wurde von allem Möglichen geredet, nur nicht von der Kuh. Schön langsam kam man dann zum Preis. Der Bauer wollte natürlich mehr, als mein Mann zu geben bereit war. Nach einiger Zeit wurde der Handel mit Handschlag und ein paar Hundertern Angabe besiegelt; dann ging es in die Küche zur Jause; das war so üblich nach dem Geschäft. Da gab es Geselchtes, Schafkäse, selbstgemachte Butter und gutes Bauernbrot. Als wir so gemütlich bei Tisch saßen, fragte mich die Bäuerin, ob ich wirklich seine Frau sei. Erstens, weil ich doch 22 Jahre jünger war als mein Mann, und zweitens, weil sie gar nicht glauben konnte, dass seine erste Frau gestorben war. Sie sagte zu mir, so eine nette Frau sei sie gewesen, und was sie für eine Krankheit gehabt hätte und so weiter. Ich zeigte ihr sogar meinen Führerschein, damit sie die Heirat glaubte. Als sie nicht aufhörte, sich zu wundern – wir waren immerhin schon zehn Jahre verheiratet –, wurde ich stutzig, dass sie sich noch so gut an die erste Frau meines Mannes erinnern konnte, und ich fragte, wann mein Mann mit ihr dagewesen sei. Da sagte sie in aller Ruhe: „Voriges Jahr.“ Jetzt war es an der Zeit, mich selbst zu wundern. Beim Heimfahren kam dann die Befragung. Mein Mann lachte nur dazu. Er und sein bester Freund, der Zimola Sepp, seien mit dessen Frau dort gewesen, und mein Mann habe sie als seine Frau ausgegeben. Ja, Lügen haben kurze Beine. Doch ich nahm ihm das nicht übel; die beiden machten öfter solche Späße. Wir hatten gegenseitiges Vertrauen, und das ist in der Ehe sehr wichtig. Außerdem sagte ich immer: „Was soll es, heimbringen kannst eh keine.“ Die Finanzen hatte ich auch über, und: „Ohne Geld ka Musi“. Darüber wurde immer viel gelacht. Später, als er schon älter war, habe ich selber die Kühe kau210

fen dürfen. Er wollte sehen, was ich von ihm gelernt hatte. Na, manchmal ist es schon daneben gegangen mit dem Gewichtschätzen, mit dem Hin- und Herhandeln; aber im Ganzen war er zufrieden mit mir. Es war eine schöne Zeit, dieses Kühekaufen-Fahren. Die Leute vom Gebirge, die sind sehr gastfreundlich und nehmen sich Zeit zum Reden. So ein Fest im Schlagerboden bei St. Anton, wo man den Ötscher zum Greifen nahe sieht, da ist schon was dran. Mitten im Grünen eine volkstümliche Musik, man trifft alte Bekannte, redet von früheren Zeiten und meint, es wäre alles besser gewesen. Stimmt aber gar nicht, es war nur mehr Zufriedenheit unter allen. Es wurde gemacht, was ging, das andere musste halt warten, oder man verzichtete auf etwas, das der andere hatte.

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„Und die Liebe, die kam nicht zu kurz!“

Maria Elisabeth Windisch wurde am 7. Mai 1932 als Maria Elisabeth Gölles in Markt Hartmannsdorf in der Oststeiermark geboren und wuchs in kleinbäuerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Wagnermeister, kehrte aus dem Zweiten Weltkrieg nicht zurück. Mit 15 Jahren begann sie auf dem kleinbäuerlichen Anwesen ihrer Großeltern zu arbeiten, die sie als Hoferbin einsetzen wollten. Durch ihre Mitarbeit bei der Landjugend lernte die Autorin 1952 Franz Windisch, einen Weinbauern, kennen, der seit seiner Heimkehr aus dem Krieg auch in der bäuerlichen Standesvertretung tätig war. Nach ihrer Heirat im Jahr 1953 bewirtschafteten die Eheleute gemeinsam den Bauernhof des Mannes im nahe gelegenen Herrnberg, auf dem Maria Elisabeth Windisch bis heute lebt. Ihr Mann starb am 28. November 2000. Maria Elisabeth Windisch schreibt seit vielen Jahren Tagebuch und hält darin Erlebnisse und Erinnerungen für die Familie fest. Einige Kurzgeschichten der Autorin wurden im steirischen Bauernkalender und in der Zeitschrift der Pfarrgemeinde abgedruckt. In den letzten Jahren hat die Autorin der „Dokumentation ­lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ zwei handschriftliche Manuskripte überlassen. Nach einem Schreibaufruf im Jahr 2007 brachte sie auf 42 Seiten ihre Lebensgeschichte zu Papier; ein Jahr darauf hielt sie in einem zweiten Text nochmals ausführlicher die Geschichte ihrer Ehe fest. Mit dem Ziel, die Lebensgeschichte der Autorin möglichst umfassend wiederzugeben, wurden ausgewählte Textpassagen aus beiden Manuskripten zu dem nachfolgenden Beitrag zusammengestellt. 212

Ich wurde mit einem Gewicht von 1000 Gramm am 7. Mai 1932 in Hartmannsdorf bei Gleisdorf geboren. Ich war eine Frühgeburt. Wie meine Mutter erzählte, entwickelte ich mich sehr gut und wurde ein kräftiges Kind. Ich war aber viel krank. In der Pubertät erst wurde ich ganz gesund. Ich war während der Kriegsjahre in der Schule, und nach dem Krieg gab es ganz schlechte Zeiten. Mein Vater war Wagnermeister, wie auch schon sein Vater und Großvater. Meine Mutter bewirtschaftete mit der Mutter meines Vaters eine kleine Landwirtschaft (eine Kuh und durchschnittlich drei Schweine). Mutter und Großmutter gingen auch zu den größeren Bauern ins Tagwerk*, wie es früher üblich war. Der Großvater starb, als ich elf Monate alt war. Er hatte sich ein Kriegsleiden im Ersten Weltkrieg zugezogen, das dann zum Tode führte. Ende Juli 1933 bekam ich ein Brüderchen, das leider mit sieben Wochen an einer Kinderkrankheit starb. Im April 1937 kam wieder ein Brüderchen, mit dem ich eine große Freude hatte. Das war ein wunderbares, lebendiges Spielzeug für mich. Ich war ja schon fünf Jahre alt. Leider kamen die Nazizeit und der Krieg. Der Wagnergeselle meines Vaters musste einrücken, die Wagnerarbeit ließ nach. Mein Vater wurde Gemeindesekretär und machte die anfallende Arbeit in der Wagnerei so nebenbei. Mein Vater war sehr intelligent, jung und ließ sich von den Nazis einfangen. Dass er SA-Führer wurde, war für ihn wahrscheinlich auch schmeichelhaft, denn er wollte ja sowieso von jung an einen anderen Beruf. Er war sehr groß, 190 Zentimeter, stattlich, hatte schönes, naturgelocktes schwarzes Haar und war ein Frauenschwarm. Die Männer waren rar während des Krieges, Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen machten ihm schöne Augen, und so wurde auch das starke Geschlecht schwach. Ich bekam am 8. März 1943 nochmals einen Bruder, aber nicht von meiner Mutter. Mein Vater musste im Juli 1942 einrücken, da war das Kind schon unterwegs. Meine Mutter wusste nichts davon. Der letz213

te Urlaub meines Vaters war im Mai 1943. Es wurde im Ort viel getratscht wegen des Kindes, mein Vater war sich im Klaren, dass er der Erzeuger war, aber meine Mutter war im Ungewissen. Meine Eltern waren beide bedrückt, aber es kam zu keiner Aussprache. Erst als Vater wieder eingerückt war, wurde es meiner Mutter erzählt, denn der Mann dieser Frau war zu dieser Zeit auch im Krieg und konnte somit auch nicht der Vater sein. Ich habe diesen Bruder erst im Jahr 1961 kennengelernt. Nach seinem letzten Urlaub kam mein Vater von Bregenz über Deutschland und Polen nach Russland. Meine Eltern haben sich viel geschrieben. Ich durfte davon viel lesen, doch nicht alles. Sein letzter Brief war wohl der schönste und ergreifendste. Dort schrieb er ein Gedicht, worin er all seine Schuld und Sünden, die Liebe zu seiner Familie und das Bitten und Flehen um Verzeihung eingeflochten hatte. Er wurde krank und starb am 26. Dezember 1943 in einem Lazarett an Typhus. Für uns brach eine Welt zusammen. Mein Vater war der einzige Sohn von Großmutter, seine Schwester war im Burgenland verheiratet. Ich habe noch Briefe meines Vaters aufbewahrt. Er war so zuversichtlich, dass er wieder heimkommen würde. In einem seiner Briefe bat er uns ganz verzweifelt, für ihn zu beten. Er war nämlich im Sommer 1943 beim Baden im Schwarzen Meer in einen Wasserstrudel geraten. In seinen Todesängsten hatte er da schon mit dem Leben abgeschlossen, und seine letzten Gedanken galten seiner Familie. Er hielt noch eine Hand aus dem Wasser und wurde bewusstlos. Ein Russe erwischte ihn an der Hand und zog ihn aus dem Wasser. Dies hielt er für ein göttliches Zeichen und eine Gnade. Er schrieb, er danke jeden Abend beim Nachtgebet für sein zweites Leben. Vater sah auch die Ausweglosigkeit des Krieges ein und musste schmerzlich zugeben, was für Verbrechen Hitler und seine „Getreuen“ angerichtet hatten. Mit dieser späten Einsicht war er aber nicht allein. 214

Ich bin so sehr an meinem Vater gehangen und konnte es nicht fassen, dass er nicht mehr heimkommen würde. Mir träumte sehr oft von ihm, jahrelang! Das Wunschdenken schürte meine Träume. Den schönsten und letzten Traum hatte ich im Jänner 1959. Mir träumte so deutlich von seiner Auferstehung, dass kein Zweifel blieb, dass er bei Gott Gnade gefunden hatte. Ich habe mich danach mit mehreren Priestern in Verbindung gesetzt, und jeder hat mir auf seine Weise bestätigt, dass mein Vater Erlösung gefunden habe. Seither hatte ich keinen Traum mehr von ihm. Meine Mutter war jung Witwe geworden. Nach dem Krieg interessierten sich mehrere Männer für die Wagnerei. Im Sommer 1946 zog dann ein Pächter ein und pachtete gleich meine Mutter mit. Er war tüchtig und fleißig und wollte meine Mutter heiraten. Bevor es dazu kam, wurde am 19. März 1950 ein kleines Bübchen geboren, für mich wieder ein Brüderchen. Ich war fast 18 Jahre alt und liebte den kleinen Kerl sofort. Zur Heirat meiner Mutter mit dem Pächter kam es nicht. Er fing an Karten zu spielen, es ging schon um hohe Summen, und dazu kam noch die Sauferei. Meine Mutter hatte kein leichtes Leben mehr und kündigte den Pachtvertrag auf. Es war wie ein Rosenkrieg. Der Pächter betrog sie zuerst mit anderen Frauen, dann behauptete er, sie habe Wagnerholz gestohlen und verkauft. Es kam zum Prozess, wo er dann alles verlor. Er musste wegziehen, doch meine Mutter hatte genug von Männern und blieb allein. Sie war damals erst über vierzig Jahre alt und sehr hübsch. Es hätten sich auch noch Männer für sie interessiert, doch sie widmete sich ganz dem kleinen Söhnchen, für den sie keinen einzigen Groschen von dessen Vater erhielt. Sie war immer sparsam und fleißig und zog den Kleinen mit ihrer kargen Witwenrente auf. Er ist ein tüchtiger Tischler und Familienvater geworden. Wir haben zueinander eine enge und herzliche Verbindung. 215

Ich habe leider nur die Volksschule besucht. Es war keine andere Schulbildung möglich während des Krieges, da höhere Schulen zu weit von uns weg waren. Das letzte Schuljahr blieb mir gut in Erinnerung. Im Ort war eine Klosterschule, die während des Krieges von den Nazis besetzt war. Die Klosterschwestern waren vertrieben worden, aber einige wohnten noch im Ort bei Bauern, doch in Zivil. Im letzten Schuljahr, also nach dem Krieg, durfte ich die Klosterschule besuchen. Ich ging gerne zur Schule, und wir lernten noch viel im letzten Jahr. Ich hatte den Wunsch, Lehrerin oder Kindergärtnerin zu werden, da ich schon immer gerne mit Kindern zu tun hatte. Ab meinem elften Lebensjahr ging ich fast jeden Nachmittag in den Kindergarten und half den damaligen Tanten bei der Betreuung der Kinder. Durch den Krieg, das dramatische Kriegsende und den Tod meines Vaters blieb mein Wunsch auf der Strecke. Da der Berufswunsch nicht zu erfüllen war, kam ich mit knapp 15 Jahren zu meinen Großeltern mütterlicherseits, die eine Landwirtschaft betrieben. Sie waren allein, da der Sohn – der Bruder meiner Mutter – mit 14 Jahren an einem Tumor gestorben war. Ich lernte sämtliche landwirtschaftlichen Arbeiten, fuhr mit den Zugtieren, ging mit Großvater in den Wald, um Holz zu schlägern. Wir arbeiteten mit Zugsäge und Axt. Wenn ich daran zurückdenke, schaudert es mich noch immer. Es gab damals keine so warme Kleidung und Schuhe wie heutzutage, und ich fror ständig. Ich muss nochmals zurückgreifen auf die Kriegsjahre. Es war alles rationiert, wir bekamen Lebensmittelkarten; mit den Marken, die da heruntergeschnitten wurden, konnte man einen gewissen Teil kaufen. Meine Mutter hatte gut vorgesorgt und zu Kriegsbeginn viel eingekauft, was haltbar war. Reis wurde trocken gelagert und hielt sehr lange, ein großer Sack Staubzucker war auf dem Dachboden in einem Kasten, einige Flaschen Rum im Keller, Kleiderstoffe und was noch alles, 216

weiß ich nicht mehr. Im Jahre 1944 wurden wir fast täglich von feindlichen Flugzeugen überflogen. Im Radio hörten wir schon die Vorwarnungen, doch Tiefflieger kamen oft so schnell daher. Wenn man das Brummen hörte, waren es viele, wenn der Schall schnell laut wurde, dann war es ein einzelner Tiefflieger. Von dort wurde mit Bordwaffen auf Passanten geschossen. Ein solches Erlebnis hatte ich mit meinem Bruder. Wir spielten auf der Nachbarwiese neben einem kleinen Sägewerk. Plötzlich hörten wir einen Flieger kommen. Ich nahm meinen Bruder an der Hand, und wir liefen in das Sägewerk, als auch schon heruntergeschossen wurde. Das Geschoss blieb beim Nachbarhaus im Vordach stecken, zehn Meter von uns entfernt. Es war ein Riesenschock für uns, und wir trauten uns lange nicht aus unserem Versteck. Wenn die Stadt Graz bombardiert wurde, nahmen wir eine leise Erschütterung wahr und hörten auch die Detonationen. Wir lebten nur mehr in Angst. Am Ostersonntag, am 1. April­ 1945, ließ der Pfarrer bei der Frühmesse vermelden, alle Frauen und Kinder müssten das Dorf verlassen. Wir waren in Panik. Auf einen großen Handwagen luden wir das Notwendigste, banden die Kühe los und verließen das Dorf. Zirka einen Kilometer vom Dorf entfernt fanden wir Unterschlupf bei einer jungen Bäuerin. Ihr Mann war im Krieg, die Schwiegereltern waren schon verstorben, und sie bewirtschaftete mit einer Magd, einem alten, buckligen Knecht und einer ­alten Tante die große Bauernwirtschaft. Sie hatte schon andere Flüchtlinge aufgenommen, nun kamen auch wir noch dazu, zehn Personen! Meine Mutter, Großmutter, ich und mein Bruder, meine verwitwete Tante aus dem Burgenland und ihre fünf Kinder. Außerdem fanden unsere Kuh und die drei Schweine, die wir nachholten, auch noch Platz in den Ställen. Wir schliefen in der großen Bauernstube auf Strohsäcken, dicht an dicht wie die Sardinen. Mutter oder Großmutter gingen abwechselnd täglich heim, um die Hühner zu füttern. 217

In dem Bauernhaus war unter den Flüchtlingen auch eine der vertriebenen Klosterschwestern, die wunderbare Geschichten zu erzählen wusste. Sie war eine bezaubernde, kleine Frau, zirka 150 Zentimeter groß, hatte ein ganz liebes Gesicht, und wir waren alle fasziniert von ihr. Trotz ihrer Körpergröße hatten alle Respekt vor ihr, ob Klein oder Groß. Jeden Nachmittag rief sie uns zusammen, und gemeinsam wurde jeden Tag der Rosenkranz gebetet. Wir waren ja viele Leute, 18 bis 20 Personen. Unser eigenes Haus war während der Flüchtlingszeit von Soldaten besetzt, von SS; sie haben aber nichts angestellt. Anfang Mai zogen schon viele Soldaten weg. Am 7. Mai, an meinem Geburtstag, wurden sämtliche Brücken rund um das Dorf gesprengt, Flussbrücken und die von den Schützengräben. Ich war gerade unterwegs von zu Hause zu unserem Zufluchtsort, als über mir die Trümmer der Brücken flogen. Ich weinte und lief, was ich konnte. Am nächsten Tag waren Mutter, mein Bruder und Großmutter zu Hause, als es im Radio hieß: „Der Krieg ist aus!“ Meine Angehörigen gingen zu einem Nachbarn und verfolgten den Einmarsch der Russen in unser Dorf. Meine Tante, ihre Kinder und ich waren hinter dem Dorf bei unserem Bauernhof. Es dämmerte und wurde finster, und wir standen alle vorm Haus. Wir hörten den Lärm der grölenden russischen Soldaten und das Geratter der Panzerfahrzeuge. Wir erlebten bange Stunden, es konnte niemand schlafen in der Nacht. Wir wussten nicht, ob wir unsere Angehörigen wiedersehen würden. Gott sei Dank wurden wir wieder vereint, unsere Familie hat wieder zusammengefunden. Nur unser geliebter Vater fehlte, der in Russland seine letzte Ruhe fand, mit 34 Jahren. Meine Mutter wusste nicht, wie es mit mir weitergehen sollte. Die Großeltern hatten eine Landwirtschaft und keinen Nachfolger. So kam ich dann im März 1947 zu den Groß­ eltern, es lag noch viel Schnee. Meine Mutter ließ mich mit 218

gemischten Gefühlen ziehen. Die Großmutter war nämlich sehr dominant, überstreng und duldete kein Widerwort. Auch Großvater musste kuschen. Es war aber noch ein Mädchen im Haus, es stammte aus Ungarn. Dessen Mutter lebte nicht mehr, und der Vater war mit seinen beiden Kindern weggegangen, da dort die Grenze zwischen Österreich und Ungarn gezogen wurde. Der Vater brachte seine beiden Kinder hier im Dorf unter, und er fand bei Gleisdorf als gelernter Schuster eine Arbeitsstelle. Das Mädchen hieß Resi, und ihr Bruder war schon ein kräftiger Bursch und bei einem Bauern als Knecht. Resi ging das letzte Jahr in die Schule. Meine Großeltern hatten sie aufgenommen, da sie schon etwas mithelfen konnte in der Landwirtschaft. Wegen Resi bin auch ich geblieben. Ich war Frechheiten nicht gewohnt, war eher etwas schüchtern und zurückgezogen. Doch Resi hatte ein freches Mundwerk und ließ sich nichts gefallen. Wenn Großmutter schimpfte, schnappte Resi schon zurück. Also war Resi das Gegenstück zu mir. Nachdem der Frühling einzog, gab es viel Arbeit. Wir mussten Mist aufladen, ich machte diese Arbeit das erste Mal. Die Äste mussten gehackt, zu Prügel gemacht und aufgestapelt werden, der Küchengarten brauchte Arbeit und und und. Ich lernte sämtliche Arbeiten, auch backen, melken, Weingartenarbeit und so weiter. Resi und ich waren daraufgekommen, dass wir beide gut singen konnten. Resi hatte die höhere Stimme, und ich sang die zweite. Wir lernten bei der Arbeit voneinander die Lieder, die wir kannten. Im Herbst beim Maisschälen (Woaz oheitn) kamen immer viele Leute zusammen, und Resi und ich sangen unsere Lieder. Wir sangen auch bei anderen Begebenheiten und wurden von den Dorfleuten die „Neudorfer Spatzen“ genannt. Neudorf war damals ein größeres Bauerndorf, und es waren viele junge Leute. Irgendjemand ergriff dann die Initiative, trommelte alle jungen Leute zusammen, und es wurde 219

eine Christenlehrschar gegründet. Ein Bursche und ein Mädchen waren dann unser Lehrmeister und die Lehrmeisterin, zwei oder drei Mal pro Woche kamen alle zusammen, es wurden kleine Büchlein verteilt – vom Pfarramt – darinnen waren Fragen und Antworten. Der Lehrmeister oder die Lehrmeisterin stellten die Fragen, und wir alle gaben gemeinsam darauf die Antworten. Einige Wochen darauf, an einem Sonntag, war das Fest der Christenlehre. Wir marschierten geschlossen zur Kapelle in unserem Ort, und der Herr Pfarrer kam von Ilz zu uns. Die ganze Dorfgemeinschaft war versammelt, die Jugend stand in Zweierreihen in der Mitte vor der Kapelle. Der Pfarrer hielt eine kurze Ansprache und begann dann mit den Fragen, die wir ebenso auswendig gelernt hatten wie die Antworten, die wir darauf gaben. Als die Feierlichkeit zu Ende war, marschierten wir wieder durch das Dorf zum Gasthaus. Es war das einzige im Dorf. Damals waren die Lebensmittel noch rationiert, es gab noch die Lebensmittelkarten, so hatten alle Mädchen kleine Mehlspeisen gemacht, damit etwas auf dem Tisch war. Getränke bekam man schon zu kaufen. Es war der 13. Juni 1948. Natürlich wurde zum Tanz aufgespielt. Ich konnte schon gut tanzen. Ich hatte nämlich als Kind bei unseren Nachbarn tanzen gelernt. Das waren zwei ältere Leute, die bei einem Bauern, der auch gleichzeitig ein Kaufmann war, im Dienst waren. Der Mann war mehr als ein Knecht, eher ein Verwalter. Die Tochter der beiden war im Geschäft Verkäuferin. Sie hatten beim Kaufmann bzw. beim Bauern eine eigene kleine Wohnung. Und sie hatten ein Grammophon! Da ich sehr musikalisch war (und bin), hatte ich die Tanzschritte gleich erlernt. Ich ging oft am Sonntag nachmittags zu diesen Nachbarn. Zu Hause hatten wir auch vor dem Krieg schon ein Radio, und wenn Musik erklang, drehte ich mich schon im Takt. Da war ich sechs Jahre alt. Bei unserer Lehrscharfeier waren auch von auswärts junge 220

Leute gekommen, es gab doch kaum andere Unterhaltungen. Da hatte es ein junger Mann auf mich abgesehen. Er tanzte ständig mit mir, und er lud mich ein, am nächsten Sonntag mit ihm ins Kino zu gehen. Ich sagte zu, da Resi und ich öfters sonntags ins Kino gingen. Der junge Mann gefiel mir ebenso wie ich ihm. Er war groß, kräftig, hatte naturgewelltes dunkelblondes Haar und sah sehr gut aus. Auch meinen Großeltern – die ebenfalls beim Fest waren – war er aufgefallen, es kannte ihn aber niemand. Das Kino war eigentlich eine billige Unterhaltung damals. Ich verdiente bei meinen Großeltern ja nichts, doch ab und zu bekam ich zwei bis drei Schilling, und eine Kinokarte kostete auch nicht mehr. Also, am nächsten Sonntag gingen Resi und ich am Nachmittag nach Ilz. Der junge Mann kam uns schon entgegen, war aber nicht begeistert, dass wir zu zweit waren. Am Sonntag zuvor hatten wir während des Tanzens natürlich geplaudert, und so wusste er, dass ich mit sechzehn Jahren noch nie einen Freund hatte. Ich war sowieso naiv und unaufgeklärt. Denn der junge Mann – er hieß Hans – stellte mir eine so fürchterliche, obszöne Frage, die ich nicht verstand. Hätte ich sie verstanden, hätte ich mich mit ihm gar nicht eingelassen. Doch so war ich auch schon aufgeregt. Das Licht im Kinosaal ging aus, und es kam zum ersten Kuss. Ich war selig und verliebt! Nach dem Kinobesuch begleitete uns Hans wieder ein Stück, und ich musste ihm mein Zimmerfenster ansagen, denn er wollte fensterln kommen. Wir waren dem Gasthaus, wo wir getanzt hatten, benachbart, es war nur eine Straße dazwischen. Und so kam Hans einige Male in der Woche, um mich vom Schlaf abzuhalten. Er war übrigens aus Ilz. Er war viele Jahre weggewesen, außerhalb von Graz, und hatte die Landwirtschaft gründlich erlernt. Er war tüchtig und fleißig, doch mit seinem Vater verstand er sich nicht besonders gut, da dieser ihm nichts gelten ließ. 221

Die Küsse, die wir durch die Fenstergitter tauschten, waren Hans zu wenig, und er lockte mich hinaus. Das war gar nicht so leicht. Mein Zimmer war neben der Küche, ich musste durch die Küche, durch das Vorhaus, vorbei an der Zimmertür der Großeltern und hinten bei der Saukuchl* durch die Hoftür, die mit einem großen, schweren Schlüssel abgesperrt war. Ich musste aufpassen, dass der Schlüssel nicht zu laute Geräusche machte. Dann am Stall vorbei und durch ein kleines Holztor. Nun konnten wir einander einmal richtig umarmen. Es war so schön, und ich war sehr verliebt. Doch Hans wurde zudringlich und wollte mehr. Als ich bemerkte, um was es ging, war ich so erschrocken, dass ich in Panik ­geriet, ihn abwehrte, mich verabschiedete und wieder im Haus verschwand. Ich ging nie mehr bei Nacht aus dem Haus. Als er wieder kam, sagte ich ihm am Fenster, dass so etwas nicht mehr vorkommen dürfe, ich war doch erst sechzehn Jahre alt. Hans versprach mir, er werde Rücksicht nehmen, und wir waren fast zwei Jahre so befreundet. Doch dann gingen mir die Augen auf! Er hatte leichte Mädchen für seine Gelüste, es waren ja viele zu haben, denn er war ein Bild von einem Mann. Er erzählte selbst, wie leicht die Mädchen zu haben seien. So wollte er das Verhältnis fortsetzen. Mich wollte er einmal heiraten, doch jetzt brauche er andere Mädchen für gewisse Stunden. Natürlich habe ich einen Schlussstrich ­gezogen unter meine erste Liebe. Es tat weh, doch es war gut so. Nun wurde ich vorsichtig. Ich hörte auch, wie diese Mädchen ausgerichtet und durch den Schmutz gezogen wurden. Zu denen wollte ich nicht gehören. In Ilz wurde im Winter von 1950 auf 1951 ein Fortbildungskurs abgehalten von der Bezirkskammer für Land- und Forstwirtschaft. Es ging von St. Martin aus, und es war ein Kurs für Mädchen in der Hauswirtschaft. Einmal in der Woche für drei Gruppen. Ich durfte diesen Kurs auch besuchen, mein 222

Tag war Montag. Wir lernten kochen, nähen – alles, was man so braucht. Ein Arzt sprach einmal im Monat, landwirtschaftlich wurde unterrichtet und theologisch ebenfalls. Im Jahre 1950 war schon die Landjugend gegründet, die Burschen waren schon aktiv. So sollte auch eine Mädchengruppe der Landjugend angehören. Ich wurde ins Rennen geschickt. Am 2. Februar 1951 war in Graz die Zusammenkunft der Landjugend, und ich war die erste Gruppenleiterin der Ortsgruppe Ilz. Der Obmann der Burschen war Adjunkt* auf der Gutsverwaltung Schloss Feistritz. Er hatte schon ein Motorrad und war somit flexibel. Er kam öfters zu uns ins Haus, wir besprachen die Landjugendarbeit und machten Pläne, was wir machen wollten. Wir machten Radausflüge, besuchten mit dem Bus die Grazer Messe, auch Wettbewerbe wurden abgehalten: mähen, melken und pflügen. Der Obmann und ich waren auch beim Ilzer Gesangsverein, und abends nach der Probe begleitete er mich immer heim. Da kam es vor, dass er mich einmal küsste. Er hatte damals seine Verlobung gelöst, die mit einer Arzttochter bestanden hatte. Ich war mir unsicher, wie ich mich verhalten sollte. Er war ja nicht von hier, er war aus der Obersteiermark. Er war fast zwölf Jahre älter als ich, doch ich kannte seine Absichten nicht. Es blieb nicht bei diesem einen Kuss, doch alles platonisch. Ich lernte ja viele junge Männer kennen, doch immer mit Vorsicht. Einmal war ich auf einem Weizenfeld beim Unkrautjäten. Damals war ich allein, es war Ende April. Da konnte man noch durch das Feld gehen, die jungen Halme richteten sich wieder auf. Ich musste Disteln, Wicken, Klatschmohn, Kornblumen im Anfangsstadium herausreißen, damit das Unkraut nicht überhandnahm. Ich war weit vom Dorf entfernt auf einem abgelegenen Feld. Da kam ein Reiter auf dem Feldweg dahergaloppiert, sprang vom Pferd und fragte mich, was ich da mache. Ich sagte ihm, dass ich Unkraut jäte. 223

Er war ein Deutscher und auf Schloss Kalsdorf auf Besuch, das erzählte er mir. Er war auch noch jung und wollte flirten. Als ich den Flirt beendete und sagte, ich müsse weitermachen, drückte er mich schnell an sich und küsste mich. Ich war überrumpelt und verdattert. Der junge Mann lachte, sagte, ich solle nicht böse sein, schwang sich wieder aufs Pferd und ritt lachend davon. So ähnliche Kleinigkeiten kamen öfters vor, doch ohne sexuelle Belästigung. Von der Landjugend aus veranstalteten wir auch den Landjugendball. Unser Obmann – er hieß Simon – kannte schon einige Volkstänze, wir hatten einen Burschen in der Gruppe, der sehr gut auf der Harmonika spielte. Wir lernten diese Tänze und machten Tanzeinlagen. Der Obmann und ich machten auch eine Woche lang einen Volkstanzkurs in St. Martin bei Graz, der Musikant war auch dabei. Daheim brachten wir die Tänze unseren anderen Mitgliedern bei, wir hatten somit eine Volkstanzgruppe. Beim Landjugendball 1951 hatten wir aus Buntpapier dunkelrote und rosarote kleine Herzen gemacht und mit Nummern versehen. Ich weiß es nicht mehr genau, waren es 50 oder 100 von jeder Farbe? Wer sich ein Herz kaufte – es war ja eine Geldeinnahme für die Landjugend – musste dann schauen, wer von der anderen Farbe die gleiche Nummer hatte, und mit dem oder derjenigen tanzen. Ich kaufte mir keines, doch ein Bursche unserer Gruppe gab mir ein rosa Herz, das für die Tänzerinnen bestimmt war, und sagte, das hätte ihm jemand gegeben und ich müsse mich anstellen zum Tanz. Wir stellten uns nach Nummern auf, und gegenüber standen die männlichen Tänzer. Ich wusste noch nicht, wer meine Nummer hatte. Als die Nummern aufgerufen wurden, kam ein junger Mann auf mich zu, lächelte, verbeugte sich und sagte, er sei mein Tänzer. Er hatte das zweite Herz gekauft und es mir übermitteln lassen, damit er mit mir tanzen konnte. Der junge Mann konnte so gut tanzen! Wir schwebten über die 224

Tanzfläche, es war herrlich. Natürlich tanzten wir mehrere Tänze miteinander. Meinen Großeltern – die überall mit dabei waren – war der junge Mann auch aufgefallen. Großmutter erkundigte sich sofort bei anderen Ballbesuchern, wer dieser junge Mann sei. Sie hatte es bald herausgefunden, ich dachte mir aber nichts dabei. Er hieß Willi Windisch und war aus Herrnberg, lustigerweise mein späterer Schwager. Doch damals kannte ich niemanden aus Herrnberg. Es gab noch mehrere junge Männer, die Interesse zeigten, doch ich war – wie gesagt – vorsichtig. Einer wollte als Ersatz ein Abenteuer, da seine Freundin gerade in der Schweiz war, ich hatte es früh genug erfahren. Ein anderer fand es nicht richtig, dass ich von der katholischen Jugend aus für einige Tage auf Exerzitien* war. Im Sommer 1951 kaufte ich mir nach dem Kirchgang ein Eis. In der Eisdiele waren viele Leute, und ein junger Mann, größer als die anderen, grüßte zu meiner Freundin herüber. Ich fragte meine Freundin, woher sie und dieser Mann sich kennen würden. Sie sagte, dass ihre Familie in seiner Nähe in Herrnberg einen Weingarten besäße, und somit kannte sie ihn. Also weiter nichts. Mir war er aber angenehm aufgefallen, er war groß, hatte dunkelblondes gewelltes Haar und war einfach „fesch“! Doch aus den Augen, aus dem Sinn … Im Herbst 1951 wurde das Lagerhaus in Ilz eröffnet und eingeweiht. Die Landjugend machte im Kellergeschoß eine Ausstellung. Die Burschen stellten Feldfrüchte und Obst aus, wir Mädchen hatten Handarbeiten, eingemachte Früchte und Marmeladen bei der Ausstellung. Nach dem Festakt waren wir, Simon und ich, zur Festtafel eingeladen. Nach dem Essen machten wir noch eine Tanzprobe im kleinen Raum neben dem Speisesaal, da wir auf dem Hauptplatz später noch Volkstänze aufführen wollten. Als wir nach der Probe die Treppe hinuntergingen, verließen gerade die letzten Ehrengäste den Speisesaal, und es war rundherum lautes Stimmen225

gewirr. Da hörte ich hinter mir eine Stimme heraus, die sagte: „Die da vorne mit dem Bürgerkleid gefällt mir.“ Da ich ein Bürgerkleid anhatte, schaute ich mich um. Ich sah in ein lächelndes, hübsches Männergesicht, in jenes, das mir im Sommer in der Eisdiele aufgefallen war. Ich war wie elektrisiert, hatte Herzklopfen und wusste nicht, wie ich die restlichen Stufen hinunterkommen sollte. Und wieder war und blieb er verschwunden. Ich erinnere mich, dass wir uns im Fasching auf ­einem Ball kurz getroffen haben. Er kam damals ziemlich spät, da er vorher auf einer anderen Unterhaltung war. Als wir heimgingen, meine Großeltern und ich, ging auch er heim. Er hatte sein Fahrrad bei sich und schob es ein Stück; er ging mit uns, bis sich die Wege trennten. Wir hatten ja nur einen Kilometer bis Neudorf, er aber musste einige Kilometer fahren und von dort zwei Kilometer den Berg hinauf. Herrnberg! Es gehörte zur Gemeinde Großwilfersdorf, doch mit der Pfarre nach Ilz. Im Frühjahr 1952 gab es ein Musikertreffen in Ilz, und junge Mädchen wurden eingeteilt zum Verkauf der Festabzeichen. Ich sah unter den vielen Leuten meinen Traummann und ging auf ihn zu. Er kaufte mir ein Abzeichen ab, wir wechselten einige Worte, doch ich musste weiter „Geschäfte“ machen. An einem Sonntag nach der Kirche trafen wir einander wieder auf dem Hauptplatz, wo wir wieder reden konnten. Da wussten wir voneinander schon den Namen und den Wohnort. Ich wusste, dass er Franz hieß und in Herrnberg zu Hause war. So kam dann der Sommer, und es gab ein Bezirkstreffen der Feuerwehren in Ilz, wo auch er mit seiner Einheit auftrat. Da meine Mutter auch gerade in Neudorf war, ging sie mit meinem kleinen Bruder und mit mir am Nachmittag nach Ilz, und wir schauten uns das an. Es war ein wunderschöner Sommertag, und die Gruppen einzelner Gemeindefeuerwehren marschierten auf. Mein 226

Traummann war auch dabei. Er machte nur einen kurzen Blick zur Seite, doch er hatte mich unter den Zusehern entdeckt. Als die Festlichkeit vorbei war, ging es zum Tanz. Meine Mutter und ich wollten gerade heimgehen, als er vor mir stand und mich fragte, ob ich zum Tanz mitkomme. Ich sah meine Mutter fragend an – obwohl ich schon zwanzig Jahre alt war –, und sie erlaubte mir, für kurze Zeit mitzugehen. Wir erfuhren in der kurzen Zeit so viel voneinander. Beim Tanzen erfuhr ich, dass seine Eltern nicht mehr lebten, er 29 Jahre alt sei und eine Frau fürs Leben suche. Er bewirtschaftete seinen Hof fast alleine, eine alte Tante führte ihm den Haushalt. Als wir drei Tänze getanzt hatten, stand meine Mutter an der Saaltüre und gab mir durch Zeichen zu verstehen, wir müssten nach Hause gehen. Der schöne Nachmittag war vorbei. Von der Landjugend wurde ich inzwischen zur Bezirksleiterin gewählt, ich war viel unterwegs mit dem Fahrrad. In unserer Gruppe machten wir einen Wettbewerb im Nudelmachen. In den anderen Ortsgruppen war ich bei der Jury, in unserer war ich selbst Teilnehmerin. Es wurde ja alles händisch gemacht. Ich hatte den Vorteil, dass ich zu Hause schon immer die Teigwaren machen musste. Es wurden Suppennudeln, Bandnudeln und Fleckerln gemacht. Der Teig wurde aus 20 Dekagramm Mehl, einem Ei und etwas Wasser gemacht. Es wurde auch theoretisch geprüft. Bei den Nudeln kam es auf Sauberkeit, Schnelligkeit und Feinheit an. Ich wurde Siegerin, und der Bericht davon kam in die Zeitung. Franz hatte die Nachricht gelesen, und sein Interesse an mir stieg. Er war damals Bezirkskammerrat bei der Bauernkammer. Im September 1952 veranstalteten wir von der Landjugend in den Weinbergen bei einem Gasthaus ein Weinlesekränzchen. Unsere Wirtschaftsberaterin und ich gingen zu Fuß hin. Auf diesem Weinlesefest waren auch die beiden Brüder Franz und Willi Windisch. Willi war der jüngere Bruder und in meinem Alter. Auf dem Fest ging es schon flott rum, denn 227

wir waren etwas später gekommen, da wir vorher noch in einem anderen Ort bei der „Nudelbewertung“ waren. Diese halbe Nacht bis 2 Uhr früh tanzten fast ausschließlich die beiden Brüder mit mir, es kam kaum ein anderer Bursche dazwischen. Natürlich gefiel es auch mir. Es gab aber noch kein Näherkommen. Die Wirtschaftsberaterin und ich gingen nach Hause, sie konnte bei uns schlafen. Am nächsten Morgen an der Milchsammelstelle war schon das Gespräch von den beiden Windisch-Brüdern und von mir im Gange, als ich dazukam. Es war nochmals eine lustige Unterhaltung. Mich wunderte nur, dass Großmutter es nicht erfahren hatte. Aber alle kannten diese strenge Frau und hüteten sich vor ihr. Sie ging nicht unter die Leute, und so erfuhr sie es auch nicht. Ich durfte da ja überall mitmachen, weil wir immer gemeinsam in Gruppen waren. Außerdem war sie stolz, dass ich die Funktion als Bezirks- und Ortsgruppenleiterin innehatte. Großmutter war eine intelligente Frau, sie war gelernte Schneiderin und arbeitete in der Landwirtschaft nicht viel mit. Es kamen aber viele Besucher zu uns. Zu Allerheiligen kamen Franz und ich einander etwas näher. Der Allerheiligentag war ein Samstag, so wäre der Allerseelentag auf den Sonntag gefallen. Aus kirchlicher Sicht wurde das anders gemacht, ich weiß nicht warum. So wurde am 2. November, am Sonntag, der Allerheiligentag gefeiert, und der Allerseelentag am 3. November. Auf dem großen Friedhof waren hunderte von Menschen, doch das Schicksal führte uns zusammen. Als die Feier auf dem Friedhof zu Ende war und die Leute den Friedhof verließen, trafen auch Franz und ich wieder aufeinander. Wir sahen einander und ließen uns nicht mehr aus den Augen. Wir gingen zusammen vom Friedhof weg und miteinander nach Ilz, und Franz lud mich auf ein Glas Wein ein. Er begleitete mich dann nach Hause zu den Großeltern, es war nur ein Kilometer Fußweg. Es wurde schon dämmerig, 228

als wir Richtung Neudorf gingen. Wir wussten beide, wie es um uns stand, doch Franz war etwas unbeholfen, so musste ich nachhelfen. An der Stelle, wo man weder von dort noch da gesehen werden konnte, sagte ich zu ihm, jetzt müsse er wohl umkehren. Da schlang er seine Arme um mich und küsste mich behutsam. In mir stieg ein Glücksgefühl hoch. Da es ohnehin schon fast finster war, begleitete mich Franz bis zum Haus. Großmutter wartete schon mit finsterem Gesicht vor der Haustür und sah, mit wem ich da nach Hause kam. Franz begrüßte sie noch – sie kannten einander doch vom Ball –, und er verabschiedete sich auch sogleich, denn er hatte noch weit nach Hause. Er wohnte sechs Kilometer weit weg. Als ich im Haus war, ging ein Donnerwetter auf mich nieder. Großmutter schrie mich an: Was mir einfalle! So spät noch mit „Mannsbildern herumzuschlapfen“! Ich solle dazuschauen, das Schweinefutter zu richten. Erstens war es erst etwas nach 17 Uhr, und zweitens war es nur ein Mann! Und ich war 20 Jahre alt. Doch ich durfte nichts sagen. Ich zog mich rasch um, ich musste noch die Rüben für die Schweine schneiden. Großvater arbeitete im Kuhstall. Großmutter wusste immer und überall etwas auszusetzen, und die berühmte Laus lief ihr ständig über die Leber. Franz und ich konnten einander selten sehen, ab und zu fuhr er mit dem Rad nach Ilz in die Kirche. Wir schrieben einander einige Male Briefe. Ich musste öfters nach Ilz zum Einkaufen, da konnte ich meine Post aufgeben. Franz gab seine Post dem Milchmann mit, der jeden Tag den Rahm von Herrnberg nach Großwilfersdorf lieferte. Mit dem Empfang der Post tat ich mir schon schwerer. Großmutter fing jede Post ab, und alles wurde von ihr zuerst gelesen. Sie riss die Briefe auf, egal, von wem oder an wen sie gerichtet waren. Wir griffen zu einer List. Ich hatte Verwandte im Dorf, und an diese schickte Franz seine Briefe im Doppelumschlag, so durfte ich 229

meine Post empfangen. Irgendwer von meinen Verwandten brachte mir den Brief dann heimlich. Wir machten das aber nicht oft. Zu dieser Zeit hatten wir auch wieder einen Kurs für die Hauswirtschaft. Wir hatten im Dorf bei einem Bauernhaus einen großen Raum zur Verfügung gestellt bekommen und brauchten nicht nach Ilz. Bei diesem Aufbaukurs lernten wir wieder Wirtschaftslehre, kochen, nähen etc. An einem solchen Kurstag war Großmutter wieder einmal mit dem falschen Fuß aufgestanden. Ich konnte ihr nichts recht machen, und sie schikanierte mich, wo sie nur konnte. Da ich ja nichts sagen durfte, schluckte ich alles und kam verweint zum Unterricht, der um acht Uhr begann. Als die Lehrerin meine verweinten Augen sah, fragte sie, was los sei. Ich brauchte nicht viel erzählen, denn die anderen Mädchen wussten Bescheid und erzählten es der Lehrerin. Diese fragte mich, ob ich denn dort bleiben müsse. Sie sagte, ich solle mich mit meiner Mutter besprechen. Sie borgte mir ihr Fahrrad, und ich fuhr nach Hartmannsdorf. Meine Mutter war erstaunt, dass ich vormittags auftauchte, noch dazu war es sehr kalt. Es war der 8. oder 9. Dezember, der erst später als Feiertag wieder eingeführt wurde. Er war ja während der Hitlerzeit abgeschafft worden. Mit meiner Mutter machte ich aus, dass sie mich in der Nacht mit einem Taxi abholt. Als ich wieder beim Kurs in der Schule war, sagte ich nichts von meinem Vorhaben. Der Unterricht dauerte bis zum Abend. Als ich zu Hause war, machte ich meine übliche Arbeit und ging zeitig zu Bett. Als alles ruhig war, stand ich auf, holte Säcke herein, die ich schon vorbereitet hatte, steckte meine Habseligkeiten hinein, schlich durchs Vorhaus hinaus in den Hof und beim kleinen Holztor hinaus. Hinter dem Haus verlief ein Feldweg zwischen uns und dem Nachbarn. Hinter dem Haus des Nachbarn war ein ausgetretener Wiesenweg. Meine Mutter war pünktlich mit dem 230

Taxi gekommen, und wir gingen hinten herum, da das Taxi weiter weg wartete. So, nun fuhr ich wieder „heim“. Ich war verzweifelt. Am nächsten Tag schrieb ich einen Brief an meinen geliebten Franz. Er musste ja wissen, wo ich jetzt war. Meine Mutter fuhr noch an diesem Tag nach Neudorf mit dem Rad und wollte mit ihren Eltern reden. Als sie dort war, fragten die Großeltern sofort, ob sie da die Hand im Spiel hätte. Meine Mutter sagte aber nicht, wie alles war, sie fragte nur, wie es weitergehen solle. Großmutter sagte, dass sie genau an diesem Tag vorgehabt hätten, mit mir zum Notar zu fahren und mir ihr Hab und Gut überschreiben zu lassen. (So ein Pech!) Als meine Mutter wieder zu Hause war, erzählte sie mir ihr Gespräch und sagte, dass Großmutter versprochen habe, nicht mehr so streng zu sein. Es hatte aber mit Strenge nichts zu tun. Ihr Verhalten war eher boshaft und demütigend. (Ich hoffe, sie verzeiht mir im Jenseits, dass ich ihre Boshaftigkeit hier preisgebe.) Da ich alles hinunterwürgte, bekam ich Minderwertigkeitskomplexe. Nun war ich wieder in meiner alten Heimat, ich grübelte, wie es weitergehen würde. Am nächsten Morgen ging ich bei der Haustüre hinaus, und Großvater stand plötzlich vor mir und sagte: „Da bin ich. Kommst wieder mit?“ Im ersten Moment sagte ich „Nein“, denn ich war derart erschrocken, dass mir die Knie schlotterten. Wir gingen ins Haus und redeten über unsere Lage. Großvater sagte noch, dass auch er sich viel gefallen lassen müsse, und meinte dazu: „Du kennst die Großmutter ja eh. Sie hat das so drinnen, sie hat aber auch ihre guten Seiten.“ Was auch stimmte. Als Großvater sagte, dass auch er sich viel gefallen lassen müsse, getraute ich mir zu sagen: „Ja, du bist aber mit ihr verheiratet!“ Das entlockte ihm ein kleines Lächeln. Ich hatte ihn außerdem sehr gern. Er war gutmütig, schimpfte nie mit mir, obwohl er eigentlich der Stiefgroßvater war. Meine Mutter 231

war ein uneheliches Kind. Er tat mir sehr leid. Er hatte die Strapazen auf sich genommen, die Kühe am Morgen versorgt und war zu Fuß nach Hartmannsdorf gegangen, zirka 13 Kilometer. Er konnte nicht Rad fahren. Er klopfte mich weich und überredete mich, dass ich wieder kommen solle. Ich versprach, noch vor Abend wieder in Neudorf zu sein. Er aß noch zu Mittag bei uns und konnte dann mit dem Postbus wenigstens bis Walkersdorf die halbe Strecke retour fahren. Eine direkte Verbindung nach Ilz gab es nicht (und gibt es bis heute nicht). Mit dem Rad fuhr ich eine Stunde, da man oft absteigen und schieben musste. Ich kam an, als es schon dunkel war. Ich fuhr hinter das Haus und ging hofseitig hinein. Ich musste doch erst meine „ausgeliehenen“ Säcke zurücklegen. Großmutter war gerade in der Saukuchl und richtete das Schweinefutter, als ich zur Türe hereinkam. Sie ließ alles liegen, nahm mich in die Arme, und so umschlungen weinten wir beide. Sie fragte dann, was sie denn so Böses getan hätte. Ich sagte, es sei immer dasselbe und das drücke mir auf der Seele. Großmutter versprach, sich zu ändern. Für wie lange? Als sie bemerkte, dass ich kein Gepäck bei mir hatte, weinte sie abermals und sagte, ich müsse meine Kleider und das Übrige schon wieder holen und dableiben. Ich sagte, ich würde am Samstagnachmittag wieder nach Hartmannsdorf fahren und am Sonntag wieder kommen. Fest versprochen! Ich hatte da noch einen Plan, der aufgehen musste. Am Samstag, den 13. Dezember, war wie üblich Großreinemachen angesagt. Nach dem Essen fing ich an zu putzen. Wir hatten überall Holzböden, die mit der Bürste gerieben werden mussten. Ich war etwas säumig, und Großmutter drängte, da sie wusste, dass ich noch mit dem Rad zur Mutter fahren wollte. Aber das war meine Absicht. Als es schon dunkelte, fuhr ich erst einmal bis Ilz. Ich kaufte mir eine Taschenlampe, besuchte noch kurz eine Tante – sie war Wirtschafterin 232

bei einem Kaufmann –, und fragte sie, ob ich bei ihr schlafen dürfe, wenn ich spät am Abend oder gar in der Nacht komme. Sie sagte zu. Sie war eigentlich eine Cousine meines Vaters, nie verheiratet und unsere Tante Lini, wie wir sie alle nannten. Doch nun begann erst mein richtiges Abenteuer. Es war schon finster, und Regenwolken verdunkelten alles noch mehr. Ich fuhr Richtung Fürstenfeld bis nach Hainfeld. Von dort geht es in Richtung Herrnberg. Da es schon zu regnen begonnen hatte und mir der Weg fremd war, konnte ich das Rad ohnehin nicht gebrauchen. Neben der Bundesstraße, links auf einer kleinen Anhöhe, stand ein Haus, wo ich die jungen Leute kannte. Ich ging hinein und fragte, ob ich mein Rad einstellen könne, da ich noch einen Weg vor mir hätte. Ich stellte das Rad unter das Dach und borgte mir einen Regenschirm aus. Von der Bundesstraße weg gab es jetzt nur mehr „Lehmstraße“. Links vom Lehmweg war ein schmaler Weg, der angeschottert war, da ging es noch einigermaßen. Dann kam das kleine Dorf Hainfeld, es liegt etwas erhöht, und die Straßen steigen an. Damals waren überall Lehmstraßen. Ich hielt mich instinktiv links, obwohl zwei Wege auseinandergingen. Nach ein paar Häusern war das Dorf auf dieser Seite zu Ende. Beim letzten Haus war das Hoftor offen, und es war Licht zu sehen. Ich ging hinein, um nach dem richtigen Weg zu fragen. Der Zufall wollte es, dass auch hier zwei Mädchen waren, die ich kannte. Sie sagten mir den Weg, und ich ging hinter dem Dorf bergwärts, zwischen Wiesen und Feldern, wo ein etwas ausgetretener Pfad halbwegs zu begehen war. Doch der Pfad nahm ein Ende, und ich musste auf die „Straße“. Hier war links und rechts Wald. Es regnete in einem fort. Der Weg war aufgeweicht, und es schnalzte bei jedem Schritt. Im Wald war auf der rechten Seite auch ein schmaler, angeschotterter Weg, doch ich kannte ja die Gegend nicht, so wusste ich nichts davon. Als ich endlich auf der Höhe angelangt und der Wald zu Ende war, befand ich mich in einem 233

Hohlweg. Links Gebüsch und Sträucher und rechts eine Wiesenböschung mit gespenstischen Weiden- und Wacholderstöcken. Es gab kein Ausweichen, ich musste 40 bis 50 Meter durch den Dreck. Dann sah ich rechts wieder auf einer kleinen Anhöhe einen Lichtschimmer. Ich ging darauf zu wie ein Nachtfalter und klopfte an. Zu meinem Glück machte mir ein Mann die Türe auf, den ich ebenfalls kannte. Das Haus, das er mit seiner Familie bewohnte, gehörte zum Gut Schloss Kalsdorf. Er arbeitete fast täglich auf dem Gut und betrieb hier mit seiner Frau eine Landwirtschaft. Auf dem Gut half auch ich öfters aus, wenn mehrere Leute gebraucht wurden, und so war mir dieser Mann bekannt. Er ging mit mir einige Meter und zeigte dann links auf den Berg, wo ein kleines Licht zu sehen war. Nass, dreckig, müde und doch wieder etwas ermutigt, überwand ich den letzten Hügel und stand vor dem Hoftor des Hauses Windisch. Ich blickte durch die Ritzen. Im Hof war Licht, und ich sah eine Frau beim Stall aus und ein gehen. Ich ging um das Haus herum. Auf der anderen Seite war auch ein Tor, doch da sah ich nichts. Ich ging wieder zurück, jetzt war es im Hof finster. Nun ging ich nach vorne zur Haustür, die natürlich versperrt war. Ein Hund bellte, und eine Frauenstimme sagte scharf: „Wer ist da?“ Als ich sagte, dass ich aus Neudorf sei und Franz sprechen möchte, lachte sie, sperrte auf und sagte, sie wisse schon, wer ich sei. Ich stellte mich ihr vor, sie war die Tante Anna. Der Hund umwedelte mich und freute sich, als ob er mich schon lange kennen würde. Wir, der Hund und ich, waren uns auf Anhieb sympathisch. Franz war natürlich nicht zu Hause. Er war bei einer Kammersitzung, die damals immer samstags abgehalten wurden. Ich sagte Tante Anna, dass ich Franz einen Brief geschrieben habe und jetzt nicht mehr alles stimme, was drinsteht. Darum wollte ich mit Franz reden. Tante Anna hatte sämtliche Post beim Radiogerät hingesteckt, darunter auch meinen Brief. Ich schrieb auf die Rück234

seite, dass ich wieder in Neudorf und „morgen“, Sonntag, in Hartmannsdorf anzutreffen sei. Ich musste mich wieder auf den Rückweg machen, es war schon spät. Ich ging wieder hinaus in die Finsternis und den Regen. Bergab ging es etwas leichter, doch starker Wind kam plötzlich dazu und peitschte mir eisigen Regen ins Gesicht. Der Schirm wurde mir fast aus der Hand gerissen. Der Weg war noch dazu sehr rutschig, ich musste höllisch aufpassen. Als ich den ausgetretenen Wiesenpfad wieder erreichte, war ich etwas erleichtert. Die ersten Häuser kamen in Sicht. Noch außerhalb des Ortes hörte ich plötzlich Schritte. Es kam mir jemand entgegen; ich hoffte inständigst, es möge Franz sein. Und er war es wirklich. Als ich schon ganz nahe war, leuchtete ich ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht. Ich musste mich ja vergewissern. Mein Gegenüber wurde zornig, riss mir die Lampe aus der Hand und leuchtete mir seinerseits ins Gesicht. Franz fiel aus allen (Regen-)Wolken und stand erschrocken vor mir. Ich erzählte ihm kurz, dass ich in seinem Haus war, was sich in Neudorf abgespielt hatte und von dem Brief. Er ging mit mir wieder zurück zur Bundesstraße zu dem Haus, wo ich mein Rad eingestellt hatte. Es hatte zu regnen aufgehört. Franz lieh sich ein Rad aus und begleitete mich nach Ilz. Unterwegs blieben wir einmal stehen, damit wir besser reden konnten. Es gab damals fast keinen Verkehr, wir standen am Rande der Bundesstraße. Ich fragte Franz unter anderem, ob er seine Landwirtschaft in Herrnberg nicht etwa verpachten und nach Neudorf ziehen könne. Oh Gott! Unvorstellbar! Niemals würde er aus Herrnberg weggehen. Er meinte dann ganz vorsichtig, vielleicht sei es besser, unsere Beziehung zu beenden. Wir hatten kein intimes Verhältnis, da sei es doch noch leichter. Ich würde ganz gewiss einen anderen Mann finden und er eine andere Frau. Der Boden unter meinen Füßen drohte zu schwanken. Ich war verzweifelt und weinte. Ich glaube, eine Liebe ohne 235

Tränen gibt es gar nicht. War es nicht die große Liebe, die ich erhoffte? Hatte ich mich in Franz getäuscht? Er war so rücksichtsvoll und zärtlich, noch dazu charakterfest, was mir gefiel. Doch nun? Wir fuhren dann wieder weiter bis Ilz. Dort sagte mir Franz, er würde am nächsten Tag nach Hartmannsdorf kommen und wir könnten alles besprechen. Ich sagte, er solle jetzt umkehren, ich wolle meine Tante wecken. Da er sah, wie verzweifelt ich war, wollte er mich zuerst nicht allein lassen. Er hatte Angst, dass ich mir etwas „antun“ könnte. Was sollte ich mir antun? Ich war gottesfürchtig und hatte Ehrfurcht vor dem Leben! Franz fuhr heim, und ich weckte Tante Lini. Es war schon sehr spät. Im Zimmer von Tante Lini war es angenehm warm und ich halb durchfroren. Das Bett war auch warm, und ich schlief schnell ein. In der Früh bewirtete sie mich noch mit einem guten Frühstück, und ich fuhr wieder mit dem Rad los. Gleich außerhalb von Ilz musste ich wieder schieben, über die Ilzleiten. Es fing wieder zu regnen an. Oben auf der Leiten steht eine Knappenkapelle. Dort stellte ich mich erst einmal unter. Aus Walkersdorf kamen die ersten Kirchgänger, die nach Ilz zur Kirche gingen. Alle gingen mit Laternen, denn es war noch finster. Auto hatte noch niemand. Manche Kirchgänger hoben ihre Laternen, als sie bemerkten, dass da bei der Kapelle jemand stand. Ich aber stand mit dem Rücken zur Straße. Da es nicht aufhörte zu regnen, musste ich wohl oder übel wieder weiterfahren. Damals gab es noch keinen Asphalt, die Straßen waren schotterig und unausgeglichen – bergauf, bergab und kurvenreich. Es wurde immer anstrengender. Ich hatte einen Mantel an, der sich mit Regenwasser vollgesogen hatte und schwitzte fürchterlich. Als ich bei meiner Mutter ankam, war es bereits Tag. Ich wusch mich rasch ab und schlüpfte ins Bett. Am Nachmittag kam dann wirklich Franz. Wir besprachen sehr viel, und meine Mutter meinte, es würde alles gut werden, sie wolle uns helfen. Franz und ich fuhren gemeinsam 236

wieder Ilz zu. Es war kalt geworden, und die kleinen Regenpfützen auf der Straße waren gefroren. Da hieß es aufpassen. Als wir wieder unsere Räder schieben mussten, hatten wir Zeit zum Reden. Franz sagte, dass er über alles nachgedacht habe und zu dem Entschluss gekommen sei, ich wäre für ihn die Richtige. Er hatte bemerkt, dass ich für ihn starke Gefühle hatte und kein verspieltes Mädchen sei. Er konnte es sich nicht verzeihen, dass er am Vortag von einer Trennung gesprochen hatte. Wir standen dann lange eng umschlungen und weinten beide. Franz war auch weich und verletzlich, und ich fand es gut, dass auch ein Mann weinen kann. So stärkten wir unsere Liebe und vertrauten einander. Liebe kann unendliche Hürden überwinden. Nach Ilz trennten sich wieder unsere Wege. Franz fuhr über die Bundesstraße heimwärts und ich Richtung Neudorf. Es war schon finster. Bei den Großeltern hatte inzwischen ein Verwandter geplaudert und mein Liebesverhältnis aufgedeckt. Großmutter fragte mich am nächsten Tag, was da laufe. Ich gab zu, dass Franz und ich einander liebten. Sie sagte nicht viel dazu, musste diese Situation wohl akzeptieren. Von meiner Odyssee hat sie nie erfahren. Es blieb mein Geheimnis. Franz durfte sogar ins Haus kommen und wurde angenommen. Ich durfte in diesem Fasching sogar mit ihm allein auf einen Ball gehen! Das erste Mal, dass die Großeltern nicht dabei waren. Sie hatten herausgefunden, dass Franz einen guten und festen Charakter hatte. Das hat mir eben auch an ihm gefallen. Er war zärtlich und kein Draufgänger. Er war im Krieg gewesen, wo er scheußliche Dinge erlebt hatte und dadurch traumatisiert war. Drei Jahre Gefangenschaft. Zu Hause, im Jahr 1946, keine Aussichten, wie alles aufgebaut werden sollte. Er war in amerikanischer Gefangenschaft, wo er schon etwas Luxus gesehen hatte. Daheim die Armut, die Mutter starb noch im selben Jahr mit 49 Jahren, die Zukunft trostlos. Doch überall ging es weiter. 237

Als Franz fragte, ob er mich heiraten dürfe, war guter Rat teuer. Meine Mutter versprach, bei größeren Arbeiten zu kommen und zu helfen, und wir wollten es ebenso einteilen. Wir hatten halt nur das Fahrrad und waren fünf Kilometer weit weg. Na ja, die Hochzeit war am 2. Juni 1953. (Am gleichen Tag wurde auch Königin Elizabeth II. von England gekrönt.) Es war damals so üblich, man musste morgens in die Kirche gehen, zur Beichte und Kommunion. Franz kam schon in aller Frühe, und wir fuhren mit den Rädern nach Ilz. Vorher hatten mich noch die Dorfburschen mit Böllerschüssen schon um vier Uhr früh geweckt. Ein Bläserduo spielte einige schöne Weisen vor meinem Fenster. Darunter das Lied: „Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr!“ Das trieb mir Tränen in die Augen. Als Franz und ich nach Ilz zur Kirche fuhren, war es ein herrlicher, sonniger Tag. Nach der Kirche gingen wir zum Friseur, Franz ließ sich die Haare schneiden und ich mir meine waschen und zu einer schönen Frisur formen. Ich habe naturgewelltes Haar, so brauchte ich nicht viel. Beide fuhren wir wieder heim. Die Hochzeitsköchin war schon am Werken, zwei Mädchen halfen aus. Die Torten, Mehlspeisen und Bäckereien hatten wir schon vorher gemacht. Gegen Mittag verdunkelte sich der Himmel, es zogen Regenwolken auf, und es begann zu regnen. Während des Mittagessens, bei dem ich keinen Bissen ­hinunterbrachte, fing es an zu schütten. Ich ging dann in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Meine Firmpatin half mir dabei. Der Regen ließ ab und zu nach. Wir hatten einen Bus ­bestellt für die Hochzeitsgesellschaft – etwas über 30 Personen –, und das war gut so. Bei Schönwetter wäre es auch schön gewesen, zu Fuß nach Ilz zu gehen; es ist ja nur ein Kilometer. Die Schießer, die auch verköstigt wurden, gingen wieder in ihr Zelt, und als der Bräutigam mit seinem Trau238

zeugen per Jeep angefahren kam, ließen sie wieder einige Böller los. Trotz des Regens war das ganze Dorf versammelt. Vorm Haus waren ein kleiner Vorgarten, der Obstgarten und dann die Straße. Dort wartete der Bus. Die Landjugend war da, ein Mädchen sagte ein Gedicht auf. Vor der Abfahrt kamen noch die Schießer, und einer sagte ebenfalls ein Gedicht auf. Die Burschen waren etwas angeheitert, so stolperte der Sprecher schon über die Sätze hinweg, sodass es ein Gelächter gab. Wir waren zuerst beim Standesamt und fuhren dann zur Kirche. Die Kirche war beleuchtet vom Kerzenschein, und die Orgel spielte zum Einmarsch. Das war damals gar nicht üblich, wenn es nicht bestellt war. Das Orgelspiel und die Beleuchtung hatten der Kaplan und der Organist angeordnet. Ich war bei der Katholischen Jugend sehr beliebt und spielte im Laientheater jeweils die Hauptrollen, das war meine Leidenschaft. Vor der Kirche wurden wir von der Katholischen Jugend empfangen, und ein Mädchen sagte ebenfalls ein Gedicht auf. Die Trauung hielt unser Kaplan. Er hielt eine wunderbare Ansprache, die alle berührte. Franz hatte keine Eltern mehr, und bei mir fehlte der Vater. Als wir aus der Kirche kamen, hatte es aufgehört zu regnen – eigentlich schon nach dem Standesamt. Wir ließen noch Gruppenfotos machen und dann ein Foto von uns zwei. Ein Gasthaus in Ilz wurde noch aufgesucht für einen Umtrunk, dann fuhren wir nach Neudorf, wo uns schon ein köstliches Essen erwartete. Die Tafel war im Schlafzimmer der Großeltern aufgebaut. Die Möbel waren derweil in der Tenne verstaut. Bei den alten Häusern war damals überall wenig Platz, getanzt wurde auch nicht. Wir unterhielten uns trotzdem sehr gut. Der Kaplan, den wir auch eingeladen hatten, hatte seine Gitarre mitgebracht, wir hatten gute Sänger unter den Gästen, und es wurden viele und schöne Lieder gesungen. 239

Am nächsten Tag brachte ich meinen Brautstrauß auf den Friedhof zum Grab, in dem meine Urgroßeltern und der Bruder meiner Mutter begraben waren. Es war so Brauch. Dann kam Franz von zu Hause und half das Schlafzimmer wieder einzuräumen. Gegen Abend fuhr er wieder heim, es waren ja die Tiere zu versorgen. Am nächsten Tag war Fronleichnam, ein Feiertag. Franz kam, und wir gingen zu Fuß nach Ilz zur Kirche. Das war ein neues Gefühl als frischgebackenes Ehepaar! Als wir heimkamen, ging ich wie üblich in mein Zimmer, um das Sonntagskleid auszuziehen. Franz kam nach, und ich stand gerade nur mit dem Unterkleid bekleidet da. Er hatte mich doch noch nie so gesehen! Er nahm mich zart an den Schultern und drückte mich an sich. Mir wurde heiß, und ich fühlte ein Glücksgefühl hochsteigen. Ich war Frau! Nach dem Essen fing es an zu regnen und immer mehr, so dass Franz am Abend nicht heimfahren konnte. War das von Gott gewollt? Franz war jetzt über 30 Jahre alt, hatte eine Frau und musste noch immer allein schlafen. Also blieb er an diesem Abend bzw. in dieser Nacht das erste Mal bei mir. Wer glaubt das heute noch? Das Ansehen von Franz war bei Großmutter mächtig gestiegen, da er so anständig war. Wir hatten das Vertrauen der Großeltern auch nie missbraucht, wenn Franz abends für ein paar Stunden bei mir war. Es war ja nicht zu oft. Er hatte viel Arbeit, die Zeit war knapp und der Weg mit dem Rad beschwerlich. Am Sonntag darauf – wir hatten einen Lastwagen bestellt – luden wir die neuen Schlafzimmermöbel beim Tischler auf, die die Großeltern hatten machen lassen. Meine Mutter hatte für Matratzen und Bettzeug gesorgt. Ich hatte mir keine Aussteuer erarbeiten können, da ich ja nichts verdiente. Ich hatte über sechs Jahre bei den Großeltern um Gotteslohn gearbeitet und kam mit leeren Händen in meine neue Heimat. Hier im Hause 240

fehlte es an Hausrat und Bettwäsche, außerdem waren sechs Geschwister zum Auszahlen. An landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen fehlte es ebenso. Damals gab es auch keinen Traktor, den hatten nur größere Bauern vereinzelt. Hier in meinem neuen Heimatort fuhren die größeren Bauern mit Ochsengespann, wir mit Kühen. Die Gegend ist sehr hügelig, und ich musste mich erst anpassen, da ich vom Tal, von der Ebene kam. Die ersten zwei Wochen regnete es fast immer, mit kurzen Unterbrechungen. Die Hackfrüchte vergrasten fürchterlich. Wir hatten große Mühe, alles zu bewältigen, da auch das Heu erst eingebracht werden musste. Zur damaligen Zeit wurde auch vielseitig angebaut, von jeder Frucht etwas. Mein Gatte hatte im Jahre 1939/40 die Weinbauschule Silberberg absolviert und betrieb zu Hause nun eine kleine Rebschule. Alles Handarbeit! Auch ein kleiner Weingarten war dabei. Wir bauten zwei Silobehälter, kauften eine Häckselmaschine, bezahlten die Geschwister aus, alles auf Schulden. Wir schufteten und rackerten oft bis in die späte Nacht. Tante Anna blieb noch gut zwei Jahre bei uns, dann ging sie zu einer Cousine nach Graz als Gesellschaftsdame. Ein knappes Jahr nach unserer Hochzeit kam unser erster Sohn zur Welt. 56 Zentimeter lang, 4100 Gramm schwer. Da ich eine Frühgeburt war, hatte ich Angst, dass ich die Kinder nicht austragen könne. Doch alle kamen gesund und kräftig zur Welt. Beim ersten ging ich zu meiner Mutter nach Hartmannsdorf, da Hebamme und Arzt im Ort waren. Ich fuhr mit dem Postbus von Spitzhart – bis dorthin drei Kilometer Fußmarsch – bis Hartmannsdorf. Es war Samstag, der 15. Mai 1954, der Geburtstermin war am 18. Mai. Und genau an diesem Tag bekam ich um halb sieben Uhr früh die Wehen, und am Nachmittag um 16.15 Uhr machte Franzi den ersten Schrei. Meine Mutter war am Morgen gerade unterwegs zur Hebamme, um zu schauen, ob sie zu Hause sei. Als 241

gegen Mittag die Wehen stärker wurden, ging meine Mutter abermals zur Hebamme, doch nun war sie bei einer anderen Wöchnerin zur Nachbetreuung, und meine Mutter musste sie von dort holen. Als die Hebamme dann endlich bei mir war, hatte ich schon sehr starke Wehen. Der Nachbar meiner Mutter hatte ein Motorrad, er holte Franz. Als er kam, konnte er seinen Sohn schon in die Arme nehmen. Franz weinte vor Rührung. Die Hebamme sagte: „Solche Männer mag ich, denn sie sind auch zu den Frauen gut.“ Der Arzt musste geholt werden. Ich hatte einen Einriss, der musste genäht werden. Natürlich ohne örtliche Betäubung, so was gab es bei den Hausärzten noch nicht. Am 5. Mai 1956 kam der zweite Sohn zur Welt. Es war Samstag. Wir hatten an diesem Tag Erdäpfel gesetzt. Der kleine Franzi schlief, und Franz und ich werkten mit den Kühen oben am Hang hinter dem Haus. Eine schräge Lage; ich musste die Kühe führen, das war eine Schwerarbeit. Die Kühe wollten lieber bergab gehen, ich musste mich ständig dagegenstemmen, damit sie auf der Höhe blieben – und das in meinem Zustand! Franz führte den Pflug, wobei jeweils zwei Furchen entstanden. Dann stellte Franz die Kühe in den Stall, ich begann Erdäpfel zu legen, und Franz häufelte die belegten Furchen wieder zu. Ich hatte einen schweren Henkelkorb auf einem Arm und legte mit der anderen Hand die Erdäpfel ein. Wenn man sich das vorstellt: die weiche Erde, der schwere Korb, auf dem Berg, mit einem Kind im Bauch. Am Abend, bevor wir ganz fertig wurden, durchfuhr mich ein stechender Schmerz, die Wehen setzten ein. Ich rief meinem Mann zu: „Ich kann nicht mehr.“ Wir gingen ins Haus, der kleine Sohn war schon wach und hatte Hunger. Ich holte Franzi aus dem Bettchen und gab ihm was zu essen. Dann ging ich mich waschen. Franz fuhr mit dem Rad ins Tal nach Hainfeld, wo es schon ein Ortstelefon gab, und verständigte die Hebamme in Ilz. Ich machte inzwischen noch eine Bis242

kuitroulade fertig, die ich am Morgen gebacken hatte. Franz wartete in Hainfeld auf die Hebamme, wo sie das Auto stehen lassen musste; wir hatten noch keine Straße. Sie wusste auch nicht, wo sie hinmusste. Es wurde dann schon dunkel, als beide kamen. Ich hatte schon Presswehen und ging ins Bett. Plötzlich hörten die Wehen auf. Die Hebamme sagte, dass ihr das öfters unterkomme, da die Frauen sich während der ganzen Woche so sehr verausgabten bei der Arbeit und dann keine Kraft mehr hätten. Nach ein paar Stunden setzten die Wehen wieder ein. Das Kind kam um 23.30  Uhr, es war wieder ein Bub, 55 Zentimeter lang und 4400 Gramm schwer. Er hatte die Nabelschnur um den Hals, und die Hebamme musste flink sein, um ihn zu befreien. Ich war wieder eingerissen, und Franz musste noch einmal aufs Rad, um den Arzt zu holen. Der Arzt kam mit dem Motorrad, und ich wurde abermals genäht. Die Hebamme machte dann Kakao für sich und den Arzt, auch für Franz, sie tranken und aßen die Mehlspeise dazu. Der Arzt fuhr heim, die Hebamme wartete noch die gewisse Zeit ab und begab sich auch heimwärts. Sie kam jeden Tag, um mich zu betreuen. Auch meine Mutter kam am nächsten Tag und übernahm den Haushalt. Damals musste man eine Woche im Bett bleiben. Doch die Hebammen mussten Fortbildungsschulungen machen, und da kam man darauf, dass das lange Liegen schlecht ist. Ich war bei den anderen drei Geburten viel schneller wieder aktiv, da ich jeweils am nächsten Tag aufstand. Bei der dritten Geburt, es war ein Mädchen, war Franz vorher krank, er hatte die Grippe. Die beiden Buben waren auch etwas krank, blieben aber nicht im Bett. Ich hatte so viel ­Arbeit, dass ich die Schwangerschaft gar nicht bemerkte. Kühe, Schweine, Hühner, Hund und Katzen, Kinder und den kranken Mann – die ganze Arbeit im hochschwangeren Zustand. Ein Nachbar half mir täglich das Silofutter aus dem 243

Silo zu holen, die andere Arbeit gehörte mir allein. Täglich über die Leiter auf den Heuboden, die Burgunder* mit der handbetriebenen Rübenmaschine zerkleinern, Wasser tragen für die Tiere – wir hatten noch keine Wasserleitung. Und zu alledem kalbte eine Kuh in der Nacht. Ich schlief so fest und hörte nichts. Mein Mann weckte mich, ich ging in den Stall, und die brave Kuh hatte alles alleine erledigt. Das Kalb lag schon da. Ich zog das Kalb nach vorne, und die Mutterkuh schleckte ihr Kind hingebungsvoll ab. Dann legte ich das Kalb in die Box und ich mich noch für zwei Stunden ins Bett. Nun war noch mehr Arbeit. Diese Kuh gab täglich über dreißig Liter Milch, und ich musste mit der Hand melken. Natürlich auch die anderen Kühe. Endlich kam mein Mann wieder aus dem Bett. Wohl noch etwas klapprig, aber es musste gehen. Denn bei mir setzten um vier Uhr früh, am 30. Jänner, die Wehen ein. Ich stand auf, heizte den Zimmerofen ein, überzog die Betten und machte das Frühstück. Mein Mann machte wieder die Stallarbeit, und die beiden Buben wurden wach. Meine Wehen vergingen wieder, doch gegen Mittag waren sie wieder da. Um 12 Uhr fuhr mein Mann wieder in den Ort, um die Hebamme zu verständigen. Er kam gleich heim, alle außer mir aßen zu Mittag, ich machte noch den Abwasch und zog mich aus. Ich wusch mich und schaute sehnsüchtig zum Fenster hinaus, ob die Hebamme schon käme. Dazu muss ich noch sagen, dass alle anderen Frauen ringsum damals schon ins Krankenhaus gingen zum Entbinden. Ich habe alle Kinder daheim geboren. Wir hatten noch immer keine Straße. Ich war erleichtert, als ich die Hebamme zu Fuß heraufkommen sah. Sie hatte gerade noch so viel Zeit, um die Instrumente zu sterilisieren, dann kam auch schon das Kind. Am 30. Jänner 1958 um 14.45 Uhr wurde die erste Tochter geboren. Alles gut gegangen und gesund. 244

Zwei Jahre darauf kam das vierte Kind, wieder ein Junge! Im Februar war es so weit. An einem Montag machte ich vier Sorten kleine Mehlspeisen und legte sie in Blechdosen, für den Fall, dass … Und genau in der Nacht, gegen Morgen, setzten die Wehen ein. Wieder Routine: Gatte zum Telefon, Hebamme kam – inzwischen hatten wir eine Straße –, und um zehn Uhr morgens kam das Kind, am 16. Februar 1960. Am 8.  Oktober 1962 wieder eine Tochter. Ich wünschte mir vier Kinder, fünf sind es geworden. Franz war immer dabei und litt mit mir, wenn ich in den Wehen lag. Obwohl das fünfte Kind vom Gewicht her das leichteste war (3300 Gramm), war es die schwerste Geburt. Den ganzen Sonntagabend hatte ich schon starke Wehen, aber erst um drei Uhr früh war es so weit. Das Kind war zerdrückt und hatte viele Blutergüsse, die sich später dann auflösten, doch war wieder alles gut gegangen, und ich blieb an diesem Tag im Bett. Ich war zu sehr erschöpft. Am übernächsten Tag war wieder ein Arbeitstag. Dazu wäre noch etwas zu sagen. Heutzutage gibt es verschiedene Verhütungsmittel, die es zu unserer Zeit nicht gab. Ich war 42 Jahre alt, als ich das Wort „Kondom“ hörte. Für mich ein Fremdwort, und ich fragte meine Kinder, was das sei. Meine ersten Söhne, 20 und 18 Jahre alt, lächelten verschämt zur Seite, mein Mann klärte mich auf. Als wir heirateten, besprach ich mich mit meinem Hausarzt, denn ich war total unerfahren. Der Hausarzt klärte mich auf über die empfängnisfreien Tage und die Tage, wo man schwanger werden kann. Eine gesunde Frau kann sich darauf verlassen. Es gibt Abweichungen, es kann eine Krankheit, eine starke Verkühlung oder sonst etwas dazwischen kommen, dann kann sich der Eisprung verschieben und die Rechnung geht daneben. Es ist aber die natürlichste und gesündeste Verhütung. 245

Nun habe ich viel über meine Geburten geschrieben, aber die Arbeit musste auch gemacht werden. Bei fünf Kindern gab es viel zu nähen. Die Strümpfe und Socken mussten gestopft, zerrissene Kleider und Hosen genäht und ausgebessert werden. Die Wäsche musste ich oft am Abend waschen; zuerst einmal jedes Stück einzeln einseifen und ribbeln, dann die weiße Wäsche mit einem 25-Liter-Häfen* und Lauge auf den Herd stellen und zum Kochen bringen. Wenn die Wäsche ausgekocht war, kam sie wieder in den Bottich, und etwas abgekühlt wurde sie abermals herausgeribbelt. Die nicht mehr ganz heiße Lauge kam dann über die Buntwäsche, diese wurde auch nochmals herausgewaschen, dann ging es ans Schwemmen. Ich hatte immer große Töpfe mit Wasser auf dem Herd, damit ich beim ersten und zweiten Schwemmen warmes Wasser hatte. Beim dritten Mal wurde kalt geschwemmt. Die Wasserleitung bekamen wir 1961 nach dem vierten Kind. Das war schon eine Erleichterung. Eine Waschmaschine bekam ich erst, als das fünfte Kind zehn Jahre alt war. Im Winter war alles leichter von der Zeiteinteilung her. Im Sommer und Herbst kam es öfters vor, dass ich die Nächte durcharbeiten musste. Am Abend fing ich an zu waschen, und während die Wäsche auf dem Herd stand, machte ich den Brotteig. Während der Teig gehen musste, konnte ich die Wäsche fertig waschen, dann den Backofen einheizen, die Brotlaibe ausformen, und während die Laibe aufgingen, konnte ich die Wäsche aufhängen, denn es wurde draußen hell. Dann war es Zeit, den Backofen auszuwaschen und die Brotlaibe einzuschießen. Nun wartete die Stallarbeit, die Kinder mussten geweckt werden für die Schule und so weiter. Auch Näharbeiten machte ich nachts und sonntags. Ich machte für die Kinder fast alles, bis auf die Hosen für die Buben. Urlaub kannten wir keinen. Ich beneidete auch niemand darum, das galt eben nur für andere. Wir hatten ein schönes Fa246

milienleben, ich hatte immer einen braven und treuen Mann, was will man mehr! Franz wurde 1960 und 1965 zum Bürgermeister gewählt. 1968 wurden die Gemeinden zusammengelegt, die Katas­ tralgemeinde gehört seitdem zu Großwilfersdorf. Franz ist als letzter Bürgermeister von Herrnberg in die Geschichte eingegangen. Es war eher eine undankbare Funktion. Wir wohnten abseits, er war viel unterwegs. 1961 kaufte er ein Moped, damit war er leichter unterwegs. Wir kamen nirgends hin, außer sonntags in die Kirche. Franz war beim Kameradschaftsbund, da machte er schon mit. Er war aber ein Familienmensch und war auch sonntags zu Hause, kein Wirtshausgeher. Und die Liebe? Die kam nicht zu kurz! Wir hatten Achtung und Respekt voreinander. Es fiel nie ein garstiges Wort, das einem hinterher leidtun könnte. Franz sagte oft: „Wenn ich dich nicht hätte!“ Oder er drückte mich rasch an sich und gab mir einen Kuss. Manchmal beobachtete er mich heimlich, und wenn ich hinschaute, sagte er: „Du bist unmöglich!“ Das waren seine Liebeserklärungen. Er war sehr eifersüchtig, was nicht notwendig gewesen wäre. Denn meine Liebe zu ihm war ebenso groß wie die seine zu mir. Wir blieben von Schicksalsschlägen nicht verschont. Es gab Hagelschläge und Stürme, die die ganze Ernte vernichteten, Frost, der alles abfrieren und keine Ernte erwarten ließ. Wir hatten auf Weinbau und Buschenschank umgestellt, und die Reben sind empfindlich. Als mein fünftes Kind im siebenten Lebensjahr war, musste ich mich einer Unterleibsoperation unterziehen. Ich hatte einen Tumor in der Gebärmutter, und diese musste mir zur Gänze samt einem Eileiter entfernt werden. Ich war genau 37 Jahre alt und musste drei Wochen im Krankenhaus verbringen. Zu Hause herrschte Chaos! Das kann man sich vorstellen. Es war Mai, draußen viel Arbeit, vier schulpflichtige Kinder, das fünfte war im Oktober sieben Jahre alt und fing 247

erst zum Schulgehen an. Aber genug für den Vater, der das Ganze fast nicht überschauen konnte. Der älteste Sohn ging in der Bezirksstadt in die Handelsschule und kam jeden Tag und berichtete von zu Hause. Alle anderen besuchten mich sonntags, sie mussten mit dem Postauto fahren, wir hatten ja kein Auto. Die elfjährige Tochter schrieb während meines Spitalaufenthaltes ein Tagebuch. Ich habe es heute noch aufbewahrt. Es ist köstlich zu lesen. Am meisten kam vor: „… vergessen, die Haustüre zuzusperren“; „… vergessen, die Uhr aufzuziehen“; „Vati hat vergessen, die Kinder zu wecken“. Die Kinder mussten zwei Kilometer zu Fuß zur Postbushaltestelle gehen, um zur Schule zu fahren. Damals fuhr noch kein Schulbus. Im Tagebuch stand auch, was jeden Tag gekocht oder auch nicht gekocht wurde und dass der Hund nichts fresse, da er um mich trauere und und und. Es war zum Lachen und Weinen. Gott sei Dank ging auch diese Zeit vorbei, und ich konnte nach genau drei Wochen nach Hause gehen. Irgendwer hatte damals schon einen PKW, und ich wurde damit abgeholt. Der Hund lag vor dem Haus und begrüßte mich als Erster. Das war ein Freudengebell und -geheul, und er wich nicht mehr von meiner Seite. Das jüngste meiner Kinder war mitgekommen zum Abholen, die anderen waren in der Schule. Mein Gatte nahm mich in die Arme, schluchzte und weinte vor Erleichterung und Freude. Der Alltag war wieder da. Bevor ich mich setzte, richtete ich einen großen Bottich Lauge und weichte eine große Menge Wäsche ein. Nach drei Wochen fehlte es schon an allen Ecken und Enden. Das Waschen von Socken und Strümpfen hatte ich den Kindern noch vor meinem Spitalsaufenthalt gezeigt. Das wurde auch gemacht, nur, zerrissene Dinge blieben liegen. Der ältere Sohn hatte mit seinen 15 Jahren sogar seine Hemden gewaschen und gebügelt, tadellos. Dann machte ich das Mittagessen. Nach und nach kamen die Kinder nach Hause 248

und freuten sich, dass Mutti wieder werkte. Am Nachmittag legte ich mich für eine Stunde ins Bett, ich war noch geschwächt und sehr matt. Der Hund legte sich auf den Bettvorleger und bewachte mich. Nun war die Wäsche zu waschen. Am Abend das übliche Herauswaschen, am nächsten Morgen fertig waschen, dann das Kochen. Am Nachmittag ging ich auf das Feld, um die Krautpflanzen auszusetzen. Vorbereitung zum Brotbacken, und am nächsten Tag wurde Brot gebacken. Der Hausgarten war vergrast und rief um Hilfe, so wie die Felder, die mit der Haue bearbeitet werden mussten. Es gab also keine Schonzeit für mich. Die Arbeit ging weiter wie üblich. Im Jahre 1970 schlug das Schicksal wieder zu. Die Kinder waren auf dem Weg zur Schule, die Kleinste ging noch in die Volksschule, der jüngste Sohn und die ältere Tochter in die Hauptschule, der zweite Sohn in den Polytechnischen Lehrgang und der ältere Sohn das letzte Jahr in die Handelsschule. Der zehneinhalbjährige Sohn und die zwölfeinhalbjährige Tochter waren schon bei der Haltestelle, sie mussten über die Straße auf die andere Seite. Der Sohn war schon drüben, die Tochter wartete noch auf ihren Bruder, unseren zweiten Sohn, der mit dem Fahrrad fuhr. Er war meistens knapp dran und legte das Rad gleich in den Straßengraben. Damit er das nicht machen musste, wartete seine Schwester und nahm ihm das Rad ab, um es auf die gegenüberliegende Seite zu schieben und in den Radständer zu stellen, wo auch andere Kinder ihre Räder einstellten. An dieser Haltestelle, die keine Ausweichmöglichkeiten hatte, kreuzten sich zwei Busse, die auf der Fahrbahn stehen blieben. Die eine Fahrbahn war lang und gerade, der Bus stand schon, als von der anderen Seite der zweite Bus in Sicht kam. Die Tochter wollte das Rad gerade vor dem Bus über die Straße schieben, als ein PKW hervorschoss, das Rad und das Mädchen erfasste und es zwanzig Meter durch die Luft schleuderte. Der PKW-Lenker gab an, er 249

habe den zweiten Bus kommen sehen und wollte noch schnell am stehenden Bus vorbeifahren, damit er nicht warten müsse. Der Sohn, der in das Polytechnikum fuhr, war gerade eingestiegen und hatte dem Chauffeur seine Karte gegeben, als er den Aufprall hörte. Er sah seine Schwester liegen, konnte aber nicht erkennen, wer es war. Auf der anderen Seite warteten zirka 15 bis 20 Kinder auf den anderen Bus, darunter der jüngere Sohn, der durch den Schock so gelähmt war und einstieg, aber mit dem Gedanken, dass seine Schwester ja auch einsteigen müsse und nicht da liegen bleiben könne. Er sah, wie sich ihr Körper aufbäumte und die Augen sich drehten. Erst in der Schule ließ der Schock nach, er erfasste die Situation und brach seelisch und körperlich zusammen. Der Schulwart brachte ihn dann nach Hause. Ich brauchte auch lange, bis ich die Lage erfasste, und war wie ausgetrocknet. Es kam momentan keine Träne. Mein Mann setzte sich sofort auf sein Moped und fuhr ins Krankenhaus. Die Tochter war aus der Bewusstlosigkeit soeben erwacht und erkannte den Vater. Sie konnte aber nicht sprechen. Es sah fast aussichtslos aus. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung, Abschürfungen am Kopf und im Gesicht, Zähne waren locker, eine Hüfte und die Kreuzgegend waren abgehäutet, beide Beine gebrochen, Ober- und Unterschenkel; bei einem Fuß auch noch eine Zersplitterung des Fußgelenkes. Sie wurde operiert, und ihre Beine wurden aufgehängt. Sie war vier Monate im Krankenhaus. Ich kam erst am nächsten Tag zu ihr, wir weinten beide. Ihre Haare hatte noch niemand gekämmt. Sie hatte schönes naturgewelltes Haar und zwei Zöpfe. Ich machte mich an die Arbeit, ganz vorsichtig einmal die eine Seite und dann die andere. Sie konnte den Kopf nur langsam drehen. Von da an wurde sie vom Pflegepersonal gekämmt. Ich sprach noch mit den Ärzten, diese gaben mir Zuversicht. Aber im Nachhinein haben sie mir gesagt, dass wenig Hoffnung bestanden habe. 250

Durch die vielen Brüche bestand die Gefahr einer Fettembolie. Dank der Ärzte, der guten Pflege und meiner unzähligen Gebete zur heiligen Maria überstand das Mädchen das Ganze, und wir durften sie im Februar 1971 heimholen. Sie musste wieder gehen lernen, langsam und mühsam. Wir hatten noch kein Bad, doch eine große Blechbadewanne. Darin richtete ich jeden zweiten Tag ein Kamillenbad und machte mit ihr Unterwasserübungen. Als sie schon wieder etwas gehen konnte, war das Frühjahr da, und sie probierte es mit dem Rad. Als es gelang, fuhr sie jeden Tag ein bisschen mehr. Am 1. Mai wurde in der Nachbargemeinde ein kleines Freibad eröffnet, da fuhr sie dann bei Schönwetter jeden Tag mit dem Rad hin, in Begleitung ihres Bruders. Von da an wurde es jeden Tag sichtbar besser. Im Herbst musste sie nochmals das Schuljahr wiederholen, da sie ja nur einen Monat Unterricht gehabt hatte. Sie schloss die Hauptschule mit Auszeichnung ab, machte dann die Schwesternschule und wurde Diplomkrankenschwester. Wie ging es mit uns weiter? Wir hausten in einem alten Haus mit zwei Zimmern und einer Küche. Bei sieben Personen ziemlich eng! Die Kinder schliefen alle fünf in einem Zimmer, unser Schlafzimmer war auch vollgerammelt. Wo die Kinder schliefen, waren drei Kästen und fünf Betten, in unserem Zimmer zwei Betten, zwei Kleiderkästen und ein großer, breiter Wäschekasten. Jedes Kind hatte sein Fach und die Kleiderabteilung und musste selbst Ordnung halten, sonst wäre ein Durcheinander entstanden. Da alles zu eng wurde, begannen wir im Jahre 1973 mit dem Bau eines neuen Hauses, was wieder Schulden bedeutete. Wir begannen im September mit dem Erdaushub und bauten den Keller heraus, der schon höchst notwendig war. Durch die Vergrößerung der Weingärten wurde die Ernte auch größer. Mein Mann und ich schufteten oft bis Mitternacht, und tagsüber hatten wir die Feldernte zu bewältigen. 251

Im Jahr 1975 wurde der Rohbau erst fertig. Wir konnten ja keine Leute zur Hilfe aufnehmen, denn wir hätten sie ja nicht bezahlen können. Mein Gatte hat das ganze Haus selbst aufgebaut, vom ersten bis zum letzten Ziegel: Keller, Erdgeschoß und ein Stockwerk. Wer gerade Zeit hatte, half beim Mörtelmachen oder Ziegelzureichen, sonst arbeitete er allein. Beim Betonieren der drei Decken hatten wir Helfer, und beim Dachstuhl waren Fachleute dabei. Beim Innenputz waren auch Maurer hier, und allmählich wurde das Erdgeschoß so weit fertig, dass wir einziehen konnten. Inzwischen war ich aber auch wieder für sechs Wochen im Krankenhaus: Blinddarm, Eierstockzyste und Gallenblase. Die ältere Tochter war gerade in Karenz und war wenigstens für den Haushalt da. Im Jahr 1985 hatten wir wieder einen Tiefschlag. Am 13. Juli holte mich meine Tochter Roswitha zum Babysitten ab. Die Schwester ihres Mannes machte Hochzeit, da blieb ich über Nacht bei den Kindern. Am Sonntagmorgen fragte mich meine Tochter, ob ich noch zur Kirche gehen möchte, die ganz in der Nähe war. Erst wollte ich, doch dann wollte ich unbedingt nach Hause. Irgendwas drängte mich. Also fuhr mich meine Tochter nach Hause. Als wir zwischen Neudorf und Hainfeld fuhren, kam uns Siegfried – der Sohn, der hier im Haus ist – entgegen. Meine Tochter hatte ihn erkannt. Ich sagte dann: „Da muss etwas passiert sein!“, denn um diese Zeit waren unsere Leute üblicherweise in Ilz bei der Spätmesse. Ich hatte darum ein mulmiges Gefühl. Meine Tochter Roswitha lenkte in einen Feldweg, Siegfried hatte uns auch erkannt und hatte gewendet. Ich war schon ausgestiegen, als mein Sohn auf mich zukam. Als er bei uns war und ich ihn fragte, ob etwas passiert sei, rief er tränenüberströmt: „Vati hat einen Schlaganfall!“ In mir war eine Leere, ich konnte es nicht sofort fassen. In dem Moment kam auch schon der Rettungswagen mit meinem Mann. Siegfried war vorausgefahren und wollte mich holen. 252

Ich stieg ganz apathisch ins Rettungsauto und setzte mich zu Franz. So saß ich neben ihm und streichelte seine Hände. Er sah mich ganz fremd an. Er lag auf der Tragbahre. Er erbrach immer wieder Gallenfluss. Ich wischte ihn jedes Mal ab. Endlich kamen wir in Graz an. Er wurde in die Schlaganfallstation eingeliefert. Als er versorgt war, musste ich zum Arzt, der mich befragte, wann seine Eltern gestorben waren, wegen Krankheiten, und viele andere Fragen. Franz konnte nicht sprechen, sein Sprachzentrum war gestört. Er hatte nur an einer Hand eine leichte Lähmung. Er konnte am nächsten Tag aufstehen, er konnte selbst essen, doch er wollte sprechen und brachte kein Wort heraus. Am nächsten Tag fuhren Siegfried und ich wieder zu ihm. Er kannte uns, doch er konnte sich nicht verständigen. Er hatte keine Lähmungen und konnte gehen. Ich konnte jeden Tag mit jemandem mitfahren und ihn besuchen. Er erkannte uns alle, war aber verzweifelt, weil er sich nicht verständigen konnte. Ich hatte zu Hause viel Arbeit. Der Sohn ging arbeiten, ebenso die Schwiegertochter. Die Enkelkinder waren zu betreuen, ein und vier Jahre alt, und im Weingarten war viel Grünarbeit zu machen, es war die ärgste Wachstumszeit. Nach drei Wochen riet mir ein Arzt, meinen Mann heimzunehmen. Der Arzt sagte, sie könnten nichts mehr bei ihm machen und sie hätten festgestellt, dass er an Heimweh leide. Er wolle auch keine Sprachtherapie machen. Doch sein Herz sei sehr, sehr schwach. Er dürfe nicht schwer arbeiten. Also nahmen wir ihn mit. Wir fuhren mit ihm heim; als wir an unseren Feldern vorbei kamen, machte ich ihn aufmerksam, wo wir schon abgeerntet hatten und wo noch was zu tun sei. Franz nickte dazu nur ganz teilnahmslos. Am nächsten Tag nahm er die Sense und wollte im Weingarten die Reihen ausmähen. Ich musste reden, reden und abermals reden, dass er das unterlassen müsse, da sein Herz zu schwach war. Er wollte es lange nicht begreifen, doch hörte er dann auf mich. Mit 253

dem Spaten, der Schaufel, der Sense durfte er nicht arbeiten. Ich musste immer hinterher sein, um ihn davon abzubringen. Wir hatten im Weingarten ja viel Grünarbeit zu machen, wo er sich nicht anstrengen musste. Diese Arbeit machte er mit mir täglich, da kannte er sich aus. Mit der Zeit konnte er sich immer besser verständigen, und genau nach neun Monaten begann er zu fragen: was eigentlich mit ihm passiert sei, warum er so lange nicht sprechen konnte, wann wir im vergangenen Jahr diese und jene Arbeit gemacht hätten und wie lange er im Krankenhaus gewesen sei. Er las dann täglich die Zeitung, konnte wieder rechnen und war im Weinverkauf tätig. Er hatte eine schöne Schrift gehabt, doch mit dem Schreiben brachte er nichts mehr weiter. Doch das war nicht so wichtig. Die Liebe zwischen uns blühte neu auf, wir waren wieder zufrieden. Im Frühjahr 1987 bekam Franz Fieber, wir wussten nicht, woher. Nach ein paar Tagen sagte er, er habe Schmerzen an der Schläfe. Dort war eine Ader angeschwollen und ganz hart. Wir mussten ihn ins Landeskrankenhaus Graz bringen. Der harte Pfropfen an der Schläfe wurde operiert, er bekam herzstärkende Mittel und Blutverdünnung. Die Ärztin sagte mir, dass ein schwerer Herzklappenfehler vorläge und das Herz sehr schwach und arg vergrößert sei. Eine Operation war ausgeschlossen. Doch wurde mir gesagt, bei Schonung könne er damit alt werden. Er war zu dieser Zeit genau 64 Jahre alt. Als er nach drei Wochen heimkam, war er ziemlich teilnahmslos. Er mochte nichts tun, seine Schläfe schmerzte noch, er bekam Depressionen, hatte keinen Appetit und blieb im Bett. Er war 180 Zentimeter groß und magerte ab auf 56 Kilogramm. Da er immer ein sehr gläubiger Mensch und Christ war, ließ ich am 6.  Mai unseren Pfarrer kommen mit der Krankenölung und Kommunion. Nach der heiligen Handlung tranken der Pfarrer und Franz ein kleines Glas Wein. Als 254

wir allein waren, nahm Franz meine Hand und fragte: „Wie wird es mit euch nun weitergehen?“ Ich wusste darauf keine Antwort. Am nächsten Tag, 7. Mai, war mein Geburtstag. Ich war 55 Jahre alt. Franz wurde immer schwächer, ich wusste nicht mehr, was ich machen konnte, um ihm zu helfen. Am 2. Juni war unser Hochzeitstag. Für diesen Tag hatte unser Sohn Franzi in unserer Pfarrkirche ein heiliges Amt* bestellt. Er wollte mich in der Früh abholen und danach wieder heimbringen. Mein Mann sagte, da wolle er auch mitfahren. Ich wollte ihm abraten, da er dafür früh aufstehen müsse, doch er bestand darauf. So half ich ihm anziehen. Er klapperte, weil es kalt war und er so mager, doch er fuhr mit. Der Pfarrer und der Altpfarrer staunten nicht schlecht, als sie ihn sahen. Vor der Kirche begrüßten uns die beiden Pfarrer, und wir hatten noch ein kurzes Gespräch. Als wir heimkamen, aß mein Mann noch etwas Wärmendes und legte sich glücklich ins Bett. Unsere Gebete wurden erhört, von da an ging es aufwärts. Franz stand wieder jeden Tag auf, aß bei Tisch, ging mit mir wieder in den Weingarten, und wir arbeiteten zusammen. Er nahm an Gewicht wieder zu und wurde kräftiger. Wir hatten gewonnen. Die Jahre zogen dahin. Durch die Sorgen um meinen Mann und die viele Arbeit vergaß ich auf mich. Ich kam in die Wechseljahre, genau in der Zeit, wo Franz so viel Zuwendung brauchte. Ich war zwar mit 37 Jahren operiert worden – die Gebärmutter wurde entfernt –, doch die Eierstöcke funktionierten bis zum 55. Lebensjahr. Ich bekam schweres Gelenksrheuma. Im Oktober bekam ich geschwollene Knie, die schauten aus wie zwei Fußbälle. Ich konnte kaum gehen. Am 17. Oktober war ich noch im Stall. Als ich wieder ins Haus gehen wollte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz, ich stand da und konnte keinen Schritt gehen. Mein Gatte hörte meinen Schrei und wollte mir helfen, dabei war er selbst 255

noch geschwächt. Jetzt standen wir zwei Maroden* da wie ein paar Komikfiguren – zum Lachen, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Einer meiner Söhne kam gerade beim Hoftor herein, so schleppten sie mich ins Haus und setzten mich auf die Bank. Da verspürte ich keine Schmerzen mehr. Als ich aufstand und einen Schritt machen wollte, sackte ich zusammen. Der Sohn holte die Sackrodel, dort luden sie mich auf, und er fuhr mit mir ins Schlafzimmer. Er kippte mich – ohne Waschen – ins Bett, und so blieb ich liegen. Ich musste aber einmal auf die Toilette. Mühsam kroch ich aus dem Bett, und auf allen Vieren schleppte ich mich ins Klo. Langsam wieder zurück und am nächsten Tag zum Arzt. Ich bekam Injektionen, und anfangs wurde es leichter. Nach ein paar Wochen waren die Fußfesseln so geschwollen, dass ich in keinen Hausschuh kam. Immer wieder zum Arzt. Im Jänner war ich für zwei Wochen im Krankenhaus, dort bekam ich jeden Tag ins Kreuz eine Injektion. Doch das Übel war damit nicht gelöst. Ab Feber fuhr ich nach Graz zu einem Arzt, der mich so halbwegs wieder auf die Beine brachte. Ich konnte wieder fast alles arbeiten, nur im Weingarten ging es nicht mehr, da ich nicht richtig stehen konnte. Ich habe seit November 1997 im rechten Bein ein künstliches Kniegelenk, und beim linken habe ich schon fünf Spritzenkuren hinter mir. Die Knie sind bis heute immer geschwollen, und sie schmerzen auch. Aber mit den Schmerzen lebe ich nun schon über zwanzig Jahre, darf aber keine Schmerzmittel nehmen, da mein Magen nicht mittut. Insgesamt habe ich 24 Operationen hinter mir, große und kleine. Doch ich lebe noch. Gegen Ende der 90er Jahre wurde Franz eigenartig, was mir nicht sofort auffiel. Am Abend blieb er oft lange auf und saß vorm Fernseher, wo gar nichts Besonderes lief. Er wurde immer ernster, und einmal sagte er zu mir: „Ich kann nicht mehr lachen!“ Ich sagte darauf: „Das habe ich schon be256

merkt.“ Wir waren jedes Jahr ein paarmal bei Ausflügen mitgefahren, mit den Senioren, der Feuerwehr, dem Bauernbund oder anderen Organisationen. Er war überall interessiert, amüsierte sich gerne, und bei der Heimfahrt hielten wir uns immer bei den Händen, wie Verliebte es tun. Auch früher, als wir noch jung waren, kam ich oft mit Schmäh*, wenn er irgendwo Zweifel hatte. Ich sang ihn an mit Liedern wie „… es is net ’s erste Mal und wird ganz bestimmt das letzte Mal net sein, dass i a Busserl von dir krieg, bei einer Musi und beim Wein“ oder „Ich bin verliebt in den eigenen Mann“. Solche und ähnliche Melodien und Lieder gibt es genug. Ich brachte ihn immer zum Lachen, und die Sorgen nahmen nicht überhand. Unsere Liebe lebte. Wie gesagt, er wurde eigenartig. Berührungen waren ihm zuwider, er lebte seine eigene Welt. Er machte wohl noch Weingartenarbeiten und andere Kleinigkeiten. Doch keine Liebkosung, keine lieben Worte, ich wusste nicht, was mit ihm los war. Er ließ sich oft zum Arzt fahren, wenn er auch keinen brauchte. Im Jahre 1999 starb meine Mutter, die ich hier pflegte. Als sie starb, sah mein Gatte nur kurz zur Türe herein und ging wieder teilnahmslos weg; sonst war er immer an allem interessiert gewesen. Auch beim Begräbnis blieb er ungerührt. Er hatte meine Mutter auch sehr gerne gehabt, darum kam es mir irgendwie komisch vor. Am 2. Juli 2000 fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Um halb 10 Uhr nachts machte er eine Mineralwasserflasche auf, goss das Wasser in den Ausguss, und als ich ihn fragte, was er da mache, sagte er: „Ich brauche eine leere Flasche, damit ich Wasser einfüllen kann.“ So, nun wusste ich Bescheid. Oh mein Gott! Von da an wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Er litt unter Wahnvorstellungen, hatte panische Angst vor Wespen und setzte sich täglich auf die Kellerstiege. Er atmete schwer, fing an, die 257

Badewanne als WC zu benützen. Wir mussten das Bad absperren. Er wurde stur und aggressiv. Er riss die Klobrille herunter, und nach ein paar Tagen sagte er, ich solle den Bürgermeister verständigen, der müsse das Klo reparieren. Mit bloßen Händen riss er den Lichtschalter aus der Mauer. Das ging das ganze Jahr so dahin. Inzwischen war er im Krankenhaus, und es wurden ihm neue Medikamente verschrieben. Ein Arzt meinte, wir sollten Franz in eine Psychiatrie zur Behandlung geben. Doch das war nichts für ihn oder uns. Ich kannte ihn zu gut. Er würde Heimweh bekommen unter fremden Leuten, von uns könnte ja nicht jeden Tag wer auf Besuch kommen. Also ließen wir das sein. Die Demenz griff um sich. Als Franz wieder zu Hause war, musste ich ihn noch intensiver betreuen. In der Nacht geisterte er herum, wollte nochmals Tabletten. Ich musste alles wegsperren. Eines Morgens nahm er ein gebügeltes Hemd aus dem Kasten, dann noch eins, warf alles auf den Boden, die Unterwäsche hat er auseinandergenommen und wieder in den Kasten gestopft. Ich musste ständig hinterherräumen. Meine Nerven spannten sich, ich wurde gefordert Tag und Nacht. Ich durfte ihn keine Minute allein lassen. Einmal stand er vor der Steckdose, er ging nicht weg, er drückte, drückte und drückte, ich weiß nicht, was er damit bezweckte. Dann kam es so weit, dass er Windeln tragen musste. Wenn ich nicht aufpasste, zog er die Windel zur Seite, und das Malheur war geschehen. Er hatte gute Knochen, konnte noch stramm gehen, doch er war schon sehr mager, er aß sehr wenig. Einmal fuhr mich die Schwiegertochter zum Zahnarzt, und als ich wieder heimkam, war Franz schon sehr verzweifelt, weil er mich nicht gefunden hatte. Als er mich sah, drückte er sein Gesicht an meines und fing an, mich abzuschlecken. Er brachte keine Worte heraus, nur ein Gemurmel, und schleckte immer gleich mein Gesicht, wie ein einsamer Hund, 258

der auf seinen Herrn gewartet hat. Ich drückte ihn auch an mich und streichelte ihn. Er wich nicht mehr von meiner Seite. Später deutete er auf das Kruzifix und sagte: „Wir müssen aufgeben.“ Ich wusste nicht, was er meinte, vielleicht den Lebenskampf? Er verlangte wieder geistlichen Beistand, und ich sagte unserem Pfarrer Bescheid. Am 30. August bekam er die Krankensalbung und die Kommunion. Von da an kam der Pfarrer alle zwei Wochen. Wir beteten gemeinsam, Franz konnte nicht mehr mitbeten, er lebte hinüber in eine andere Welt. Wenn mehrere Besucher auf einmal da waren, lebte er auf. Dann ging er wieder ins Klo und pflückte Papier in die Muschel. Als die Weinlese war, wollte er unbedingt helfen und schleppte ein paar Kübel mit Trauben zum Haus, wo er zusammenbrach. Der Weingarten und der Keller waren sein Leben. Was in seinem Kopf wohl vorging? Eines Nachts hörte ich Geschirr scheppern. Ich stand auf, und Franz war dabei, Geschirr auf den Tisch zu stellen. Er hatte kein Licht gemacht und arbeitete im Dunkeln. Ich machte Licht, und als ich fragte, was er da mache, gab er zur Antwort: „Anrichten, wir müssen essen!“ Es war halb ein Uhr in der Nacht. Eine Stunde später hörte ich wieder etwas, und als ich nachschaute, hatte er beim Elektroherd alle Platten eingeschaltet. Ich durfte Franz keine Sekunde mehr aus den Augen lassen; meine Familie hier im Hause unterstützte mich sehr, doch es musste auch die übrige Arbeit verrichtet werden. Franz zeigte immer wieder aufs Kreuz, er bekreuzigte sich mehrmals, und ich musste mit ihm beten. Er war rastlos, ging ständig aus und ein, der Appetit versagte, oder er aß so hastig, dass er wieder erbrach. Er nahm immer mehr ab. Am Abend ging er zeitig zu Bett, stand wieder auf und brach vorm Bett wieder zusammen. Ich musste immer um Hilfe rufen, damit mir jemand half, ihn ins Bett zu legen. So ging das monatelang dahin. Ab und zu sprach er wieder vernünftig, sodass man fast wieder Hoffnung hatte. 259

Mitte Oktober hatte er noch 51 Kilogramm, es ging bergab. Das Zuschauenmüssen, wie ein so kräftiger und intelligenter Mensch geistig und körperlich ständig weniger wird, lösten in mir Liebe und Mitleid, aber auch Wut und Verzweiflung aus. Ich war so gestresst, hatte dauernd Kopfschmerzen und starkes Nasenbluten. Ende Oktober wurde er sehr gebrechlich. Er fing an, gebückt und mit schlurfenden Schritten zu gehen. Er war aber friedlich, ließ sich waschen und pflegen. Ich bandagierte ihm täglich die Beine, und er blieb sitzen, wo ich ihn hinsetzte. Durch sein krankes Herz hatte er Wasser in den Beinen, und die Beine wurden ganz offen. Am 2. November saßen wir vorm Fernseher, er schaute gerne, obwohl er nichts mitbekam, da nahm ich seine Hand und sagte zu ihm: „Heute vor 48 Jahren tauschten wir den ersten Kuss!“ Er sah mich nur an, doch es war keine Reaktion da. Früher hatte er selbst immer daran gedacht. Mir wurde ganz traurig zumute. Sein Gewicht war auf 42 Kilogramm heruntergekommen. Alles aufzuzählen, was Franz angestellt hat, würde den Rahmen sprengen. Mitte November wurde ich wach und bemerkte, dass Franz aus dem Bett verschwunden war. Ich stand auf, alles war beleuchtet, und Franz wollte soeben die Haustüre aufsperren. Ich fragte, was er da mache, da sagte er: „Der Reisinger-Franz war da“ (ein sieben oder acht Jahre zuvor verstorbener Freund). Als ich fragte, was dieser gewollt habe, antwortete Franz: „Ich habe gesagt, ich kann noch nicht mitgehen!“ Dieses „noch“ betonte er deutlich. Von da an redete er immer wieder vom Onkel Karl, der 30 Jahre zuvor gestorben war. Seine Mutter hatte zehn Geschwister, und dieser Onkel war sein Lieblingsonkel gewesen. Immer wieder der Onkel Karl, und ständig holte er einen Anzug aus dem Kleiderkasten und sagte zu mir: „Schau her!“ Das ging so zwei Wochen dahin. Das langsame Sterben 260

war grauenhaft anzusehen. Es war alles verlorene Zeit. Am 27. November hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: „Franz ist heute besonders unruhig, spricht ständig vom Onkel Karl und vom lieben Gott!“ Am 28. November blieb er im Bett und aß nichts. Ich saß an seinem Bett und schrieb in meinem Tagebuch. Am Vormittag wollte er einmal aufstehen. Ich fragte, wo er hinwolle, da sagte er: „Zu Onkel Karl.“ Als ich sagte, dass dieser momentan nicht da sei, legte er sich wieder hin. Dann machte er mit seiner Hand eine weit ausholende Handbewegung, schaute ganz verklärt zur Zimmerdecke und sagte: „Der Himmelvater!“, dann schlief er wieder ein. Um 13 Uhr hatte er wieder sehr viel Schleim im Rachen, den er schwer abhusten konnte, und ich musste diesen jedes Mal mit dem Taschentuch aus dem Mund herausholen. Diesmal war helles Blut dabei. Ich rief unseren Hausarzt an und sagte ihm das. Der Arzt kam sofort, brachte neue Herzmedikamente mit und sagte, Blut sei immer schon dabei gewesen, darum wäre der Schleim so braun gewesen. Diesmal war es frisches Blut, das aus der Lunge kam. Ich hatte an diesem Tag das Gefühl, dass Franz den Tag nicht überleben würde. Doch als der Arzt die neuen Tabletten mitbrachte, hatte auch ich wieder Hoffnung. Ich zerdrückte eine davon und flößte sie mit Himbeersaft meinem Mann ein. Als der Arzt weg war, stand mein Mann am Nachmittag plötzlich auf, nahm seine Überhose und wollte sie anziehen, was er schon lange nicht mehr alleine konnte. Ich musste ihn ja schon monatelang an- und ausziehen, so half ich ihm auch jetzt dabei. Dann schlurfte er rastlos ein und aus, aus und ein. Mein Sohn und die Schwiegertochter waren gerade in der Küche und machten eine Kaffeepause. Ich war nebenan und schrieb. Plötzlich kam mein Sohn herein und trug seinen Vater auf den Armen wie ein Kind. Er sagte, Vati habe sich auf seinen Platz gesetzt, wo er immer zu Mittag aß. Plötzlich sei er 261

nach vorne gesunken und wäre fast eingeschlafen. Der Sohn setzte den Vater auf einen Sessel ab und wollte wieder gehen. Ich hielt ihn zurück und bat ihn mir zu helfen, Vati auszuziehen. Unterhalb hatte Franz den Pyjama an. Dann trug der Sohn seinen Vater ins Bett und ging abermals weg. Als ich Franz gleichrichten wollte, sah ich, dass er so schwer Atem schöpfte. Ich rief abermals Siegfried, auch die Schwiegertochter kam, und mit Franz ging es zu Ende. Ich hielt ihn in meinen Armen, legte als letzte Liebkosung meine Wange an die seine, streichelte ihn, und so konnte er hinübergehen. Ich schloss ihm sanft seine guten, treuen Augen. Es kamen mir noch keine Tränen. Wir verständigten den Arzt, der wieder schnell kam und kopfschüttelnd sagte, er habe sich nicht gedacht, dass es an diesem Tag zu Ende gehen würde. Die Kinder wurden benachrichtigt; alle Kinder, Schwiegerkinder und auch einige von den Enkelkindern kamen, und wir saßen bis 23 Uhr beisammen. So konnten alle Abschied nehmen. Sie liebten doch alle den Vater! Als alle fort waren, deckte ich das Gesicht von Franz mit einem Tüchlein zu, legte mich in mein Bett, griff nach seinen Händen und sagte: „So, mein geliebter Mann, nun haben wir die letzte Nacht miteinander!“ Ich schlief wohl ein, hatte aber einen ganz seichten Schlaf und stand mit Kopfschmerzen auf. Am nächsten Tag waren die üblichen Wege zu erledigen, um 11 Uhr kam die Bestattung und richtete Franz für seine letzte Reise her. Er bekam den Anzug, den er immer aus dem Kasten genommen hatte. Die Männer gingen dann hinaus, damit wir uns verabschieden konnten. Ich legte mein Gesicht nochmals zu ihm, Siegfried weinte, und langsam kamen auch mir die erlösenden Tränen. Das Begräbnis war sehr feierlich, viele, viele Menschen waren da, Abordnungen von diversen Ämtern und Vereinen, und als das Lied vom guten Kameraden erklang, zwang es 262

mich fast in die Knie. Nun ruht der Leichnam des geliebten Mannes schon das achte Jahr auf dem Friedhof, doch seine Seele erwartet mich im Jenseits. Ich bin Gott dankbar, dass ich einen so wunderbaren Menschen kennenlernen durfte und siebenundvierzigeinhalb Jahre Glück und Leid mit ihm zusammen getragen habe; und eine außergewöhnliche Liebe, die mich heute noch überleben lässt, da ich seine Nähe noch immer verspüre. Ich bin nicht einsam, ich habe meine dankbaren Kinder, Schwieger- und Enkelkinder und fünf Urenkel. Alle kümmern sich um mich. Ich danke Gott!

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1. Karoline Kohn als Jüngste (rechts außen) mit Eltern und Geschwistern (um 1935)

2–3. Karoline und Gottlieb Kohn (1960er Jahre); oben: bei der Gartenarbeit auf dem eigenen Grundstück in Urschendorf, Niederösterreich; unten: mit Sohn Gerhard

4. Ilse Winter als Kleinkind (1920)

5. Ilse Winter mit ihren Eltern und Bruder Herbert (Mitte 1920er Jahre)

6. Ilse Winter mit Mutter und Partner Leo auf der Hohen Warte in Wien-Döbling (1937)

7. Ilse Winter mit ihrer Mutter in Wien (Mitte 1930er Jahre)

1945

1937

1941

1942

8–11. Porträts von Ilse und Leo Winter

12. Ilse Winter mit ihrer Mutter am Aufgang zu ihrem Wohnhaus in London (1942)

13. Ilse Winter (rechts außen) im Kreis österreichischer Flüchtlinge in Croydon, London (Anfang der 1940er Jahre)

14–15. Ilse und Leo Winter, Hochzeit in Rio de Janeiro (1946)

16. Gertrud Kantor als Kleinkind (1923)

17. Gertrud Kantor mit Bruder und Eltern (um 1928)

18. Gertrud Kantor mit ihrem Bruder bei der Firmung in der altkatholischen Kirche (1936)

19. Gertrud Kantor beim Reichsarbeitsdienst (1942)

20. Gertrud Kantor als Luftwaffenhelferin (1943)

21. Maria Zachs Großvater mit seiner Lebensgefährtin (1930er Jahre)

22. Maria Zach als Vierzehnjährige (1945)

23. Maria Zachs Jugendfreund Jan Pniak mit Ehefrau (1950er Jahre)

24. Mathilde Faschingleitner mit den Kindern ihres späteren Ehemannes (1950)

25. Mathilde Faschingleitner (um 1950)

26. Mathilde und Johann Faschingleitner (in der Bildmitte) mit Trauzeugen am Tag ihrer Hochzeit in Mariazell (1951)

27. Mathilde Faschingleitner und ihr Mann (rechts) beim Viehhandel im Ötschergebiet, Niederösterreich (1980er Jahre)

28. Maria Elisabeth Windisch als Kleinkind (1933)

29. Maria Elisabeth Windisch mit ihren Eltern (1936)

30. Maria Elisabeth Windischs Großmutter (1950er Jahre)

31. Maria Elisabeth Windisch (2. von rechts) als Bezirksleiterin der Landjugend bei einer Weinverkostung anlässlich der Eröffnung eines Lagerhauses in Ilz, Steiermark (1952)

32. Maria Elisabeth und Franz Windisch kurz vor ihrer Hochzeit (1953)

33. Franz und Maria Elisabeth Windisch mit ihren Kindern (1963)

Toni Distelberger

Von der Liebesgeschichte in der Lebensgeschichte Die in diesem Band vorgestellten sechs Lebensgeschichten wurden nicht zufällig nach den Geburtsjahren der Verfasserinnen gereiht. In einer Zeit so rascher politischer und gesellschaftlicher Veränderungen wie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden allein durch den Zeitpunkt der Geburt schon wesentliche Voraussetzungen für den weiteren Lebensweg geschaffen. Gerade die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der 1930er und 1940er Jahre waren in besonderer Weise von den Eingriffen diktatorischer Regime in ihr persönliches Leben betroffen. Ob man zwei Jahre früher oder später mit ständestaatlichen Institutionen, mit den nationalsozialistischen Rassebestimmungen oder mit der Rekrutierung für Kriegs- oder Kriegshilfsdienste konfrontiert war, war vielfach von existenzieller, jedenfalls aber von prägender Bedeutung für die weitere Lebensgeschichte dieser jungen Menschen.1 Dementsprechend fanden die sechs Erzählerinnen auch für ihre persönlichen „Liebesgeschichten“ Voraussetzungen vor, die je nach Geburtsjahrgang höchst unterschiedlich waren. Für Karoline Kohn und Ilse Winter begannen die Beziehungen zu ihren Partnern unter zwar ökonomisch schwierigen, aber ansonsten ganz unproblematischen Voraussetzungen. Erst der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1

Vgl. Gert Dressel / Günter Müller: Neun Lebensbilder – eine Generation? In: Gert Dressel / Günter Müller (Hg.): Geboren 1916. Neun Lebensbilder einer Generation. (= Damit es nicht verlorengeht …, 38). Wien, Köln, Weimar 1996, S. 371–433.

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im Jahr 1938 ließ aus normalen Liebesbeziehungen unerwünschte Verbindungen werden. Für zwei weitere Frauen, Gertrud Kantor und Maria Zach, brachten die Lebensumstände zur Zeit des Krieges die Entscheidung für eine Liebe mit sich, die damalige Konventionen der Partnerwahl sprengte. Kindheit und Jugend von Mathilde Faschingleitner und Maria Elisabeth Windisch fielen mit der Kriegszeit zusammen, erst in den Jahren danach gingen sie eine Liebesbeziehung ein. Möglich wäre es aber auch, andere Beziehungen zwischen den Texten herzustellen: So könnte man der Erzählperspektive von Gertrud Kantor, die den Krieg auf der Seite der deutschen Wehrmacht mitmachte, den Blickwinkel von Ilse Winter gegenüberstellen, die den Zweiten Weltkrieg im englischen Exil erlebte. Besonders bei den Geschichten von Gertrud Kantor und Maria Zach war es mir wichtig, ihre Liebesbeziehungen nicht aus dem autobiographischen Kontext herauszutrennen, auch wenn sie vom gesamten Umfang der Texte nur einen kleinen Teil ausmachen. Diese zwei Autorinnen haben ihre Geschichten so angelegt, dass die jeweilige Liebesbeziehung am Ende steht. Aus dieser Positionierung lässt sich die Liebesbeziehung als „logische Konsequenz“ der vorhergehenden Ereignisse verstehen. Um die Erzählung von Maria Zach über ihre Liebe zu Jan Pniak, dem polnischen Zwangsarbeiter, in den letzten Kriegsjahren verstehen zu können, wird dem Leser oder der Leserin Geduld für die gesamte Kindheitsgeschichte des unehelich geborenen Mädchens auf einer Kleinlandwirtschaft in der Weststeiermark abverlangt. Was es für Gertrud Kantor bedeutete, als ehemalige Luftwaffenhelferin unmittelbar nach Kriegsende einen amerikanischen Soldaten zu lieben, versteht man dann besser, wenn man ihren Bericht über ihr (Über-)Leben­ im Krieg gelesen hat. Die Erlebnisse von Maria Zach und Gertrud Kantor laufen nicht nur zeitlich weitgehend parallel ab. Sie haben auch gemeinsam, dass bei266

de jungen Frauen – aus damaliger Sicht – einen „Feind“ zu lieben wagten. Vom nationalsozialistischen Regime verbotene Beziehungen von einheimischen Frauen zu Zwangsarbeitern konnten, wenn sie den Machthabern zur Kenntnis gebracht wurden, schwer geahndet werden, in der Regel durch die – sogar öffentliche – Exekution des Mannes und Einweisung der Frau in Gefängnis oder KZ.2 Die Historikerin Gabriella Hauch konnte belegen, dass lynchjustizartige Bestrafungsaktionen der Frauen, die einer verbotenen Beziehung zu Zwangsarbeitern beschuldigt wurden, unter tätiger Mitwirkung offizieller Stellen praktiziert wurden.3 Die oft erschwerte Arbeitssituation auf den Bauernhöfen mit fremden Arbeitskräften und die Position der Frauen, die in der Abwesenheit ihrer Männer den landwirtschaftlichen Betrieb führten, zu den männlichen oder weiblichen Zwangsarbeitern wird in der Lebensgeschichte von Mathilde Faschingleitner angesprochen. Mit ähnlichen Problemen musste sich eine Oberösterreicherin auseinandersetzen, die durch ihre Heirat 1943 als Zwanzigjährige auf einem Bauernhof in Kremsmünster Bäuerin geworden war und über diese Zeit in ihren Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1983 berichtete.4 2 Ela Hornung / Ernst Langthaler / Sabine Schweitzer: Zwangsarbeit in der Landwirtschaft in Niederösterreich und dem nördlichen Burgenland (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkomission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, 26/3). Wien, München 2004, S. 347–360. 3 Gabriella Hauch: „... das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt“. Verbotener Geschlechtsverkehr mit „Anderen“ während des Nationalsozialismus. In: Gabriella Hauch (Hg.): Frauen im Reichsgau Oberdonau. Geschlechtsspezifische Bruchlinien im Nationalsozialismus (= Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus, 5). Linz 2006, S. 245–270. 4 Thea Schachl: Manuskript in der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Universität Wien, hier zitiert nach: Gabriella Hauch: „Deutsche Landfrauen“ – zwischen Angeboten und Zumutungen: Reichsnährstand – Tätigkeitsprofile – Landwirtschaftsschulen – Reichserbhofgesetz. In: Hauch (Hg.), Frauen im Reichsgau Oberdonau, S. 147–190, hier S. 164.

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Die Beziehungen von Österreicherinnen zu Besatzungssoldaten waren dann zwar nicht mehr vom Gesetz verboten, wurden aber doch von der Gesellschaft verurteilt. Sogenannte „Russenliebchen“ und „Amibräute“ waren teilweise inoffiziellen Bestrafungen durch Burschenschaften oder anderen Formen gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt.5 Die Salzburger Historikerin Ingrid Bauer hat es verstanden, sich in die Motivlage jener jungen Frauen zu versetzen, die Beziehungen zu amerikanischen Besatzungssoldaten aufnahmen.6 Sie benennt es als „individuelle Versuche bzw. weibliche Strategien, die Defizite, Verzichte, Verluste und Überforderungen der Nachkriegsjahre umzukehren und wieder Fuß zu fassen im Chaos der Nachkriegszeit, psychisch, weltanschaulich und materiell.“7 Ihre Interviewpartnerin Irmgard W. (Jahrgang 1930) beschrieb das Faszinierende der amerikanischen Erscheinungsweise: „Sie haben etwas Leichtes, Fröhliches gehabt, schon vom Gang her. Sie haben auch andere Schuhe gehabt als unsere Soldaten, viel leichtere. Ja, sie haben etwas Heiteres und eine gewisse Naivität ausgestrahlt – im Gegensatz zur Schwere unserer Leute. Die sind gerade aus dem Krieg zurückge5



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Stefan Eminger: Kindheit und Jugend in der „Umbruchszeit“. Alltagserfahrungen, Überlebensstrategien und Handlungsspielräume von Heranwachsenden 1943 bis 1948. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N.F. 72–74, 2010 (Anton Eggendorfer zum 70. Geburtstag), S. 73–92, hier S. 89–91. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Frauen, die für ihre Liebesbeziehung zu „Feinden“ stigmatisiert und lynchartig bestraft wurden, findet sich Grundlegendes bei: Martina Gugglberger: Den Feind lieben. Geschorene Frauen in Frankreich 1944–1945. In: Ingrid Bauer u. a. (Hg.): Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen (= L’Homme Schriften, 10). Wien, Köln, Weimar 2005, S. 362–375. Ingrid Bauer: Die „Ami-Braut“ – Platzhalterin für das Abgespaltene? Zur (De-) Konstruktion eines Stereotyps der österreichischen Nachkriegsgeschichte 1945–1955. In: L’Homme 7/1, 1996, S. 107–121; Ingrid Bauer: Welcome Ami Go Home. Die amerikanische Besatzung in Salzburg 1945–1955. Erinnerungslandschaften aus einem Oral-History-Projekt. Salzburg 1988. Ingrid Bauer: Die „Ami-Braut“, S. 108; Ingrid Bauer: Welcome Ami Go Home, S. 100.

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kommen, abgemagert, fertig. Und die anderen waren – trotzdem sie Militär waren – bubenhaft.“8 Maria Zach hatte unmittelbar, bevor sie sich als junge Frau in einen polnischen Zwangsarbeiter verliebte, den Verlust einer geliebten Bezugsperson zu verkraften.9 Die Bedeutung des Großvaters in der Erzählung von Maria Zach erkennt man nicht nur daran, um wie viel öfter sie gemeinsame Erlebnisse erwähnt – etwa im Vergleich zu solchen mit ihrer Mutter –, sondern auch an der emotionalen Bedeutung dieser gemeinsamen Aktivitäten. Alle diese Erlebnisse mit dem Großvater sind erkennbar der Gefühlsebene verhaftet. Der Großvater wird von seiner Enkelin als beschützende Instanz – und damit als starke Person – wahrgenommen; das Mädchen will lange nicht wahrhaben, das er auch schon von seinem nahenden Tod gezeichnet ist. Anlässlich des Todes ihres Großvaters im Frühjahr 1944 widerfährt Maria Zach neuerlich das Erlebnis einer sogenannten „Schlafparalyse“, wie sie es bereits einige Jahre davor, als sie an einer Lungenentzündung erkrankt war, zweimal erlebt hatte.10 8

Ingrid Bauer: Die „Ami-Braut“, 110; Ingrid Bauer: Welcome Ami Go Home, S. 98. Doch nicht nur mit amerikanischen Besatzungssoldaten gingen Österreicherinnen freiwillig Beziehungen ein, auch zu sowjetischen Soldaten wurden solche geknüpft. Vgl. Barbara Stelzl-Marx: Freier und Befreite. Zum Beziehungsgeflecht zwischen sowjetischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen. In: Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx (Hg.): Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband, 4). Graz, Wien, München 2005, S. 421–447. 9 Verein für erzählte Lebensgeschichte (Hg.): „Ich weiß über die Liebe gar nicht viel ...“, S. 17: Der 1899 geborenen Waldviertlerin Maria Hahn erging es ähnlich: „Richtige Liebe habe ich auch durch meine Eltern erfahren, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war. Aber im vierer Jahr [1904] ist meine Mutter schon gestorben, und da bin ich dann zu fremden Leuten gekommen. Da war es aus mit der Liebe. Ich hab mich so gesehnt nach Wärme und Geborgenheit, dass mich auch jemand gestreichelt hätt. Erst als ich meinen Mann kennengelernt hab, hab ich das wieder erlebt.“ 10 David. J. Hufford: The Terror That Comes in the Night: An Experience-cen-

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Die gesamte Kindheitsgeschichte von Maria Zach besteht – von Streichen abgesehen – im Wesentlichen aus Erlebnissen des Kindes zusammen mit seinen Bezugspersonen. Das erste Ereignis, bei dem die heranwachsende junge Frau als selbstbestimmte Akteurin auftritt, ist unmittelbar vor dem Tod des Großvaters angesiedelt: Der Weg zur Schneiderin, die ihr ein Kleid schneidert, führt die Erzählerin im Frühjahr 1944 eine weite Strecke durch den Wald: „Ich war ein junges Mädchen, und in meinem Herzen begann täglich mehr ein frohes Temperament zu erwachen“, schickt sie voraus, ihr Erwachsenwerden und ihre neue Souveränität beschreibend. Es ist für die erzählerische Intention der Autorin wichtig, dass sie sich an die Frage der Schneiderin erinnert, „ob ich mich wohl traue, einen so langen Weg allein durch den dichten Wald zu gehen“. Maria Zach kennzeichnet damit den Wendepunkt ihrer Entwicklung vom Kind zur jungen Frau. Die Logik des Entwicklungsromanes führt den Helden bzw. hier die Heldin von der kleinen Welt der Kindheit in die große Welt der



tered Study of Supernatural Assault Traditions (= Publications of the American Folklore Society New Series, 7). Philadelphia 19922, S. 246. „Die Schlafparalyse beschreibt einen häufig beängstigenden Zustand der bewussten Lähmung, der vorwiegend kurz vor dem Einschlafen oder dem endgültigen Erwachen auftreten kann. In dieser Phase kann die Person weder sprechen noch sich bewegen, der Körper ist wie gelähmt. Allerdings ist sich die Person ihres Zustandes während einer Schlafparalyse durchaus bewusst. Zusätzlich treten in diesem Stadium Phänomene auf, dass etwas gesehen oder gehört wird, das nicht wirklich da ist. Diese Halluzinationen führen zu albtraumähnlichen Zuständen. Diese Sinnestäuschungen treten in vielfältigen Varianten auf, beispielsweise hat man das Gefühl zu schweben, den Eindruck eines elektrischen Kribbelns am ganzen Körper, man hört laut summende Töne, sieht grelle Lichtblitze oder sogar Gestalten, die in der Nähe des Bettes schweben. Auch wenn die Zeitspanne derartiger Sinneseindrücke meist nicht länger als ein paar Sekunden umfasst, hinterlässt sie dennoch einen bleibenden Eindruck bei den Betroffenen. Diese bemühen sich, ihre Erfahrungen in eine für sie greifbare, verständliche Deutung ihrer Wahrnehmungen umzuformen.“ (Sina Kühnel / Hans J. Markowitsch: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg 2009, S. 100.)

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Erwachsenen. Der Horizont wird weiter, die Autonomie größer. Gertrud Kantors Weg vom Reichsarbeitsdienst über Kriegshilfsdienst zur Luftwaffenhelferin ist dagegen von einer immer stärkeren Vereinzelung geprägt. Nicht zu mehr Selbstverantwortung und erweiterten Handlungsspielräumen führen Gertrud Kantor diese Erfahrungen, sondern zu Situationen, in denen die Erzählerin immer stärker der „Logik des Krieges“ exponiert ist. Immer weniger kann sich die Autorin als selbstbestimmte Frau verstehen. Die Beziehung zum amerikanischen Sergeanten kulminiert, als er sie nach Frankreich mitnimmt, wieder in einer Situation der sozialen Isolation. In dem fremden Land unterhält sie zuerst keine anderen sozialen Kontakte als zu ihrem Partner, sie ist materiell ausschließlich auf ihn angewiesen, sie hält sich illegal im Land auf, und ihr gesamter sozialer und rechtlicher Status ist äußerst prekär. Sie hat sich ganz ausgeliefert. Erst das Zerbrechen der Beziehung löst sie aus der durch die äußeren Lebensumstände bedingten Stagnation ihrer Persönlichkeitsentwicklung, öffnet den Horizont und erweitert allmählich ihren Aktionsradius. Auch diese Geschichte lässt sich als Entwicklungsroman lesen, wenngleich als die Geschichte einer verzögerten und wenig linearen Entwicklung. Karoline Kohn beschreibt eingehend die Schwierigkeiten einer Heirat zwischen Angehörigen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften im autoritären Ständestaat. Die Möglichkeit, die Ehe ausschließlich am Standesamt zu schließen, bestand erst ab 1938. Bis dahin galten für die verschiedenen Glaubensrichtungen spezifische Eherechte.11 Welche bürokra11 Edith Saurer: Vorwort. In: Christa Hämmerle / Li Gerhalter (Hg.): Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938 bis 1946 (= L´Homme Archiv, 2). Köln, Weimar, Wien 2010, S. IX. Edith Saurer: Verbotene Vermischungen. „Rassenschande“, Liebe und Wiedergutmachung. In: Ingrid Bauer u. a. (Hg.): Liebe und Widerstand, S. 341–361, hier 342.

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tischen Hürden mussten die katholische Karoline Hikade und der jüdische Gottlieb Kohn im Jahr 1935 überwinden, damit sie vor Gott und den Menschen in den Bund der Ehe eintreten konnten? Zuerst schlägt der männliche Partner vor, in Wien auf dem Standesamt zu heiraten. Auf dem Wiener Standesamt wird dieses Anliegen aber an den Nachweis einer „Heiratsverweigerung“ des zuständigen Pfarrers geknüpft. Das Standesamt erklärt sich für Eheschließungen im Ständestaat nur dann als zuständig, wenn der Pfarrer der Heimatpfarre sich weigert, das Paar zu trauen, weil nicht beide Brautleute Mitglieder der katholischen Kirche sind.12 Der Pfarrer wählt aber einen anderen Weg und schickt die beiden in das Erzbischöfliche Palais in Wien. Dort sollten sie um einen „Dispens“ einkommen, der ihnen auch gewährt wird. Damit hat sich der Pfarrer abgesichert. Die beiden Liebenden können sich in seiner Kanzlei als Ehepaar eintragen lassen. Der Pfarrer übernimmt die Rolle des Standesbeamten. Es ist weder eine rein katholische, noch ist es eine richtige zivile Trauung, und es hat gleichzeitig von allem etwas. Der katholische Priester bekommt im Ständestaat die paradoxe Funktion übertragen, eine zivile Ehe zu schließen. 12 Mit dem Ehepatent von Joseph II. von 1783 übernahm der Staat die grundsätzliche Ehehoheit, wenngleich die Durchführung des Trauungsaktes katholischer Brautleute katholischen Pfarrern übertragen wurde, die als vom Staat Beauftragte tätig waren. Das Ehegesetz von 1868, mit dem die eherechtlichen Bestimmungen des Konkordates von 1855 außer Kraft gesetzt wurden, gestattete eine „Notzivilehe“, falls die Kirche ihre Mitwirkung versagte. Da laut § 64 ABGB von 1868 bei interkonfessionellen Paaren ein Ehehindernis bestand, konnte sich der Priester weigern, eine solche Trauung vorzunehmen, bot aber gleichzeitig damit dem Paar die Möglichkeit, eine „Notzivilehe“ einzugehen und damit das kanonische Eherecht zu umgehen. (Ulrike Harmat: Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938 (= Ius Commune, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 121). Frankfurt am Main 1999, S. 8, 11–12.)

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Karoline Kohn wird nach dem März 1938 vor die Wahl zwischen ihrem Mann und ihrer Herkunftsfamilie gestellt. Der psychische Druck, den ihre Geschwister und Eltern auf sie ausüben, kommt auch in den sparsamen Sätzen der Autorin deutlich zum Ausdruck. Sehr vehement vertreten ihre Angehörigen die ideologischen Konzepte des nationalsozialistischen Regimes. Karoline Kohn weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie ihren Mann mit ihrer Verweigerung einer Scheidung vor der Deportation in ein Vernichtungslager retten wird.13 Das zweite Paar, dessen Beziehung interkonfessionell ist, Leo Winter und Ilse Bauer, lernt sich 1935 kennen. Bald denken sie ernsthaft daran zu heiraten. Nicht nur die materielle Lage der verarmten Bürgertochter und des Arbeitslosen hinderten sie daran, sich zu verheiraten, bis es nach dem „Anschluss“ von 1938 dafür zu spät ist. Die Autorin spricht es zuerst nicht direkt aus, aber die Brüder des Partners haben schon vor 1938 „Kenntnis von bevorstehenden politischen Ereignissen“. Wegen illegaler nationalsozialistischer Betätigung sitzen sie Strafen im Anhaltelager des Ständestaates in Wöllersdorf ab. Nach dem März 1938 lebt das Paar in Furcht vor den Nationalsozialisten in der Familie. Ilse Bauer glaubt, dass die Brüder ihres Partners sie für seine Distanz zum neuen Regime verantwortlich machen. Die Autorin legt in ihrer Erzählung eine erstaunliche Zurückhaltung an den Tag, wenn es darum geht, die Vorzüge ihres Partners hervorzuheben, mit dem sie nach den Jahren der vorläufigen Trennung noch bis zum seinem Tod verheiratet war: „Er war niemals grob zu mir, oder irgendwie aggressiv, wie viele seiner Freunde zu 13 Christa Hämmerle: Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946). In: Christa Hämmerle / Li Gerhalter (Hg.): Apokalyptische Jahre. S. 1–60, hier S. 28–29. Edith Saurer: Verbotene Vermischungen, S. 347: „Die Mischehen gaben den jüdischen Partnern nicht Schutz vor Verfolgung, wohl aber vor Vernichtung.“

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ihren Mädchen. [...] Leo kleidete sich stets gut [...].Er wirkte sehr attraktiv, und wann immer wir uns trafen, spürte ich ein warmes Gefühl des Glücks, das mich überkam, sobald seine schlanke Gestalt auftauchte und er mich in die Arme nahm.“ Die Wienerin neigt überhaupt nicht zur retrospektiven Idealisierung ihrer Liebe. Diese beiden Liebenden scheinen sich niemals dessen sicher zu sein, dass sie alle Schwierigkeiten überwinden werden. Mehrmals sind sie knapp davor, sich von der Verzweiflung überwältigen zu lassen. Auf dem Höhepunkt des Bombenkrieges gegen die englischen Städte denkt Ilse Bauer an Selbstmord im Fall einer Invasion der Deuschen in England. Und doch meldet sich gerade in solchen Situationen bei den beiden ein verzweifelter Trotz: „Und gerade da überraschte er mich eines Tages mit ein paar goldenen Eheringen, wie sie auch Verlobte damals schon vor der Eheschließung trugen. Es war eine innige Geste der Treue in einer ausweglosen Situation, und ich bewahrte sie wie auch das Foto von ihm, das ihn in seiner ganzen jugendlichen Ausstrahlung und eigentlichen Gesinnung zeigt, bis heute auf.“ Leos Kleidungsgewohnheiten sind für Ilse Winter der Code für Nonkonformität: „Er hatte Mut zur Mode und trug auch mal ein rosa Hemd – was überhaupt nicht üblich war –, und seine Anzüge, Schuhe und Hüte waren von bester Qualität. [...] Es war nicht nur meinetwegen, dass ihm dies alles zuwider war. Er hasste den Militarismus, die Gewalt und die Gräuel! Er wollte nicht mitmachen und blind gehorchen. Er konnte keine Versammlungen leiden, bei denen wüste Parolen ausgegeben wurden. Er wollte nicht eingeteilt und Blockwart werden. All das war ihm in der Seele zuwider.“ Leo Winter schafft es, vor der Einstellung der zivilen Schifffahrt noch nach Brasilien zu gelangen, seine Partnerin er- und überlebte den Krieg in England. Die Autorin lässt ihre Konversion zum Katholizismus als Versuch erkennen, die 274

große räumliche Distanz zu ihrem Geliebten durch einen rituellen Akt zumindest auf symbolische Weise zu überwinden. An den Übertritt zum Katholizismus schließt sich eine Fernheirat an, weil Brasilien unverheiratete Frauen nicht einreisen lässt. Aber an eine Vereinigung des Ehepaares ist vor Ende des Krieges ohnedies nicht zu denken. Gertrud Kantor verbringt die Zeit des Krieges beim Reichsarbeitsdienst, dienstverpflichtet in einer Waffenfabrik sowie als Luftwaffenhelferin in der Normandie und in Schlesien. Unabhängig voneinander und im jeweils spezifischen Kontext beschreiben Ela Hornung wie Karin Berger gleichermaßen die militärische Maschinerie, in die Frauen wie Gertrud Kantor gerieten.14 Gertrud Kantor war von folgender Regelung betroffen­: „Im Juli 1941 wurde zusätzlich zur RAD [Reichs­arbeits­ dienst]-Pflicht der sechsmonatige Kriegshilfsdienst [KHD] eingeführt, der im Anschluss an den RAD geleistet werden musste. [...] Die spätere Entwicklung des KHD zeigt, dass mit zunehmendem Arbeitskräftemangel in der Rüstungsindustrie das Arbeitskräftepotential der Mädchen stärker in den Produktionsbereich verlagert wurde. Das vorindustriell geprägte Bild des deutschen Mädchens, das für die Arbeit in der Hausund Landwirtschaft erzogen werden sollte, wurde nur so lange in die Realität umgesetzt, als man für eine Steigerung der Rüstungsproduktion auf ihre Arbeitskraft nicht mehr verzichten wollte.“15 Aus diesem Kriegshilfsdienst wurden 150.000 junge Frauen direkt in den Militärdienst übernommen, aufgeteilt auf Luftwaffe (Luftnachrichtengruppe) und zur Abwehr von Luftangriffen (Flak). 14 Ela Hornung: Warten und Heimkehren. Eine Ehe während und nach dem Zweiten Weltkrieg (= Kultur als Praxis, 6). Wien 2005, S. 22–27; Karin Berger: Zwischen Eintopf und Fließband. Frauenarbeit und Frauenbild im Faschismus. Österreich 1938–1945. Wien 1984, S. 63–100. 15 Karin Berger: Zwischen Eintopf und Fließband, S. 65.

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Schwerkrank gelingt Gertrud Kantor die Heimkehr nach Wien, bevor die Rote Armee ihren letzten Stationierungsort in Oberschlesien einnimmt. Im von den Amerikanern besetzten Zell am See beginnt die junge Frau, deren Jugend sich auf den Appellplätzen des „Dritten Reiches“ abgespielt hat, eine Liebesbeziehung, die sie bis nach Frankreich führt. Ausgehend von oberösterreichischen Quellen hat die Historikerin Christina Altenstraßer die Wirklichkeit des „Reichsarbeitsdienstes“ und den Weg jener Jahrgänge beleuchtet, deren Dienstpflicht nicht mehr zu enden schien, weil die weibliche Arbeitsverpflichtung vom reproduktiven Bereich hin zum Einsatz in der Kriegswirtschaft und Waffenproduktion ausgerichtet wurde: „Im Winter 1942/43 erfolgte die Verlagerung des ‚Kriegshilfsdienstes‘ auf die Kriegsproduktion und Ende 1943 kam es erstmals zu einem Einsatz der ‚Arbeitsmaiden‘ bei der Luftwaffe und ab 1944 verstärkt bei Flakbatterien. Nicht selten wurden dabei die ‚Arbeitsmaiden‘, die durch die Ableistung des Kriegshilfsdienstes bereits Erfahrungen in der Rüstungsproduktion, bei Wehrmachtsdienststellen, bei der Luftwaffe oder auch in Lazaretten gesammelt hatten, ‚auf unbestimmte Zeit notdienstverpflichtet‘.“16 Die um 1930 geborenen Frauen haben das Kriegsende fast noch als Kinder erlebt. Ihre Jugend fällt mit der Befreiung von den Zwängen eines Kriegsalltages zusammen, in dem alles den verbrecherischen Zielen des nationalsozialistischen Regimes untergeordnet war. In den Jahren nach Kriegsende kehrten jene Väter heim, die in der Zeit ihrer Abwesenheit von der Familie ihre Kinder nicht durch das Leben begleiten konnten. Nach ihrer Rückkehr sind sie oft traumatisiert von Kriegsgeschehen oder Gefangenschaft und finden schwer den Anschluss an die

16 Christina Altenstraßer: Zwischen Ideologie und ökonomischer Notwendigkeit. Der „Reichsarbeitsdienst für die weibliche Jugend“. In: Gabriella Hauch (Hg.): Frauen im Reichsgau Oberdonau, S. 107–129, hier 121.

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Entwicklung ihrer Kinder. Die herangewachsenen Kinder litten unter dem Vater, der ihnen fremd geworden war. Mathilde Faschingleitner beschreibt ihre Probleme, sich mit dem heimgekehrten Stiefvater und dessen Regime zu arrangieren. Das Selbstbewusstsein der Frauen, auch der heranwachsenden Mädchen, vertrug sich nicht mit dem Anspruch des Vaters auf die Vormachtstellung in der Familie. Der Historiker Stefan Eminger rekonstruierte für Niederösterreich die Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen, für die das Kriegsende eine geringere Zäsur darstellte als für die Erwachsenen.17 In den Kriegsjahren hatten die Kinder und Jugendlichen, soweit sie bei ihren Familie bleiben konnten, gelernt, Verantwortung zu übernehmen und eigenständige Entscheidungen zu treffen. Den Zeitgenossen waren diese „frühreifen“, illusionslosen, pragmatischen Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit irgendwie unheimlich. Denn es waren Kinder, die erst wieder unter die Kontrolle der Schule, der Eltern und der Gesellschaft gebracht werden mussten. Die Mütter hatten gelernt, sich mit ihren selbstbewussten Kindern zu arrangieren. Der erlebte und erworbene Autonomieraum der Halbwüchsigen kollidierte mit dem Autoritätsanspruch des heimgekehrten (Stief-)Vaters. Durch die Traumata des Krieges, der Gefangenschaft, die Demütigung der militärischen Niederlage und den Verlust von politischen Heilserwartungen waren die Männer (und Väter) schwer in ihrem Selbstbewusstsein getroffen. In der Nachkriegsgesellschaft war niemand an ihren Erlebnissen und Erfahrungen interessiert. Umso wichtiger war ihnen, dass zumindest im Familienkreis ihr Machtanspruch respektiert wurde. In der kleinen Welt der Familie der Nachkriegszeit sollte jene persönliche Autorität restauriert werden, die an der Komplexität der disparaten Abläufe in der großen Welt gescheitert war. 17 Vgl. Stefan Eminger: Kindheit und Jugend in der „Umbruchszeit“.

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Mathilde Faschingleitner erinnert sich auch an die eigenartige Stimmung der ersten Friedenstage im Mai 1945, als viele Menschen das Gefühl hatten, aus der Zeit gefallen zu sein: „Man kann sich vorstellen, die schöne Maienzeit, blauer Himmel, alles blühte und grünte, und den ganzen Tag das Gedudel von den Schallplatten. Die Leute gingen nicht aufs Feld, alle sagten, wenn die Russen gehen, dann erst gehe die Arbeit wieder los.“ Die „Katakomben-Situation“ der kirchlichen Jugendarbeit während des „Dritten Reiches“ wird von Maria Zach anschaulich geschildert. Nach 1945 erlebte die Generation der Kriegskinder aus bäuerlichem Milieu die Möglichkeit, sich offen für die Kirche zu engagieren, als Ausdruck der neuen Freiheit. Obwohl die wirtschaftliche Erholung noch Jahre auf sich warten ließ, standen für die Jugendlichen auf dem Land die unmittelbaren Nachkriegsjahre unter dem Zeichen einer Aufbruchsstimmung.18 Mathilde Faschingleitner beschreibt 18 Karl Hochgatterer, Jahrgang 1932, langjähriger Diözesanjugendführer der Katholischen Jugend, seit 1959 Hauptschullehrer, beschreibt eindrucksvoll die Vehemenz, mit der die bäuerliche Jugend in der Nachkriegszeit zu kirchlichem Engagement bereit war. Der Schwung erlahmte ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als das Zweite Vatikanische Konzil die Strukturen der Kirche für das Laienengagement öffnete. (Karl Hochgatterer: Glaube, Bildung, Volk. In: Mostviertel. Bauernland im Wandel. Ein Heimatbuch, S. 32–40. Amstetten 1986.); Ingeborg Schödl, Jahrgang 1934, führt dazu aus: „Die Begeisterung der Jugend war in dieser Zeit auf einem Höhepunkt, der später nicht mehr erreicht werden konnte. [...] Gesungen und marschiert wurde in diesen Anfangsjahren der KJ viel und mit großer Begeisterung. [...] Es war eine Jugend, die sich von der kirchlichen Prachtentfaltung, von den feierlichen Choralämtern, von der Liturgie der hohen Kirchenfeste angesprochen fühlte. Die mit Begeisterung die anstrengende Nachtwache am Heiligen Grab übernahm und für die der Besuch der heiligen Messe oder einer Andacht, selbst wenn diese täglich oder in den frühen Morgenstunden stattfand, eine Selbstverständlichkeit bedeutete. Auch einer gewissen „Bergmystik“ waren diese Burschen und Mädchen verfallen. Wandern und Bergsteigen in der Gemeinschaft, das Erlebnis eines Jugendlagers, eine Andacht beim Gipfelkreuz, eine Bergmesse bei Sonnenaufgang gehören zu Erinnerungen, die so manche damalige Aktivisten heute noch als einmalige und nicht zu missende Erlebnisse ihrer Jugendzeit bezeichnen.“

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die wiedergewonnene Lust der jungen Leute am Leben, an der Begegnung, am Gesellschaftsleben und an der eigenen Jugend. Nicht nur die bäuerliche Jugend engagierte sich auf vielfältige Weise in Vereinen und kirchlichen Jugendorganisationen. Aus den Geschichten meiner Mutter (Jahrgang 1931) ist mir die Euphorie der jungen Frauen auf dem Land in der Nachkriegszeit vertraut. Es sind Erzählungen, aus denen nicht nur eine unbändige Lebenslust, sondern auch Gefühle der persönlichen Zuversicht und des Vertrauens in die eigene Kraft sprechen. Das Selbstbewusstsein bezogen diese jungen Frauen aus dem Stellenwert ihrer Arbeitsleistung. In den Kriegsjahren hatten sie noch als Kinder oder Jugendliche in der Landwirtschaft männliche Arbeitsbereiche übernehmen und ausfüllen müssen. In der Weststeiermark erlebte Maria Zach die kleinbäuerliche Arbeitsweise als solidarisch. „Wir waren wie eine große Familie mit den Nachbarn, weil ja sehr viel gemeinsam gearbeitet wurde“, resümiert sie die Arbeitsorganisation der steirischen Kleinbauern. Maria Zach schloss Bekannt- und Freundschaften mit anderen jungen Menschen, die wie sie in der Landwirtschaft arbeiteten; so wurde die ukrainische Zwangsarbeiterin Juli auf dem Nachbarhof ihr eine gute Freundin, und so begegnete sie auch ihrer ersten Liebe. Maria Zach erlernte eine lingua franca von Polnisch-Ukrainisch-Russisch, in der sich die Zwangsarbeiter aus den osteuropäischen Ländern unterhielten. Auch die 1924 in der Oststeiermark geborene Josefa Paul erzählt in ihrer Lebensgeschichte, wie sie sich die Sprache von russischen Zwangsarbeitern aneignete. Zuerst in einem Gasthaus, in dem Zwangsarbeiter aus einem Bergwerk zu Mittag verköstigt wurden, später arbeitete Josefa Paul in einem Hotel im niederösterreichischen Wechselgebiet, (Ingeborg Schödl: Vom Aufbruch in die Krise. Die Kirche in Österreich ab 1945, Innsbruck, Wien 2011, S. 26–27.)

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wo sie mit einer Russin das Zimmer teilte, mit der sie Freundschaft schloss.19 Auch Mathilde Faschingleitner, die wie Maria Zach als uneheliche Tochter auf einer Kleinlandwirtschaft aufwuchs, beschreibt die sinn- und identitätsstiftende Erfahrung eines sozialen Raumes, der sich aus der gegenseitigen Unterstützung der kleinen Bauern mit Arbeitskräften ergab. In der bäuerlichen Gesellschaft war der Konsum hochwertiger Speisen häufig an die jahreszeitlichen Arbeitsspitzen gebunden und Ausdruck der Wertschätzung der individuellen Arbeitsleistung: „In der Nachbarschaft ging man ja untereinander und half sich gegenseitig beim Dreschen. Ich kam sogar noch weiter, denn ein Bauer hatte bei uns geackert, und der wollte wieder, dass ich ihm dreschen half. [...] Ich kann nur eines sagen: Wo ich gearbeitet habe – und das war bei vielen –, war das Essen gut und reichlich. [...] Ich bin gerade in die Zeit nach dem Krieg hineingekommen, da gab es so gutes Essen, dass man sich davon ausrasten hätte sollen.“ Die Erfahrung, dass der Arbeitseinsatz bei den Nachbarn auf diese Weise honoriert wurde, bestärkte das Selbstbewusstsein der heranwachsenden Mädchen. Mathilde Faschingleitner, die von Quantität und Qualität der Mahlzeiten schwärmt, die ihr als Erntehelferin vorgesetzt wurden, hatte sich als Kind von ihrer Mutter den Satz anhören müssen: „Wegen deiner habe ich mir die Butter auf das Brot sparen müssen.“

19 Josefa Paul: Frag nicht nach dem Warum. Horitschon, Wien, München 2006, S. 105, 111, 121, 170–174, 179–184, 193. Auf der Seite 193 berichtet die Autorin von ihrer russischen Freundin: „Tief unglücklich dagegen war die Maria, sie bekam ein Baby. Im Neunkirchner Krankenhaus wurde es ihr genommen. Was sollte eine russische Zwangsarbeiterin mit einem Kind? Sie war darüber sehr traurig und weinte sich nachts in den Schlaf. Nach drei Tagen stand sie wie eh und je von sechs Uhr morgens bis spät abends bei der Abwasch. In den ersten Tagen war sie kaum ansprechbar.“

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Der hohe symbolische Stellenwert von Mahlzeiten und Speisen in der traditionellen bäuerlichen Gesellschaft äußerte sich in zahlreichen Regeln. Eine davon war, dass bei den Mahlzeiten Kinder nie vor den Erwachsenen von den Speisen nehmen durften. Diese Regeln war allen bewusst, wenn auch unterschiedlich tolerant mit deren Verletzung umgegangen wurde, wie Mathilde Faschingleitner erzählt: „Franzi war etwas bei zwei Jahren und das Nesthäkchen, ein rechter Lausbub. Wenn wir gebetet haben und das Essen ist auf dem Tisch gestanden, so ist er, wenn es was Gutes gab, auf die Bank geklettert und hat sich den Teller vollgefüllt. Der Onkel war beim Beten immer sehr bei der Sache, doch da musste er auch lächeln.“ Wirtschaftliche Aufbauleistung und Kinder füllten das Familienleben der Frauen im bäuerlichen Bereich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren aus. Das Erarbeiten der eigenen Existenz ging einher mit dem gesamtgesellschaftlichen Aufschwung. Und dann kündigten sich schon die Jahre des Baby­ booms an, mit denen die Zeit der Not und Entbehrung ein Ende fand. Ungeachtet romantischer Vorstellungen verbanden die Menschen mit dem Begriff der Liebe damals ganz prosaische Ziele. Es ging auch darum, das Leben in Sicherheit und Berechenbarkeit zu verbringen. Nicht zuletzt war den Frauen daran gelegen, gemeinsam mit einem Partner die existenziellen Nöte der Kriegs- oder Nachkriegszeit zu bewältigen. Ilse Winter, die sich Ende der Dreißigerjahre mit dem Gedanken trug zu heiraten, arbeitete, nachdem sie eine Anstellung in einem Büro gefunden hat, an ihrer Aussteuer. Ihre bürgerlichen Moralvorstellungen lassen sie nicht in Betracht ziehen, schon vor der Hochzeit mit ihrem Partner auch eine sexuelle Beziehung einzugehen. Nach der Hochzeit von Karoline und Gottlieb Kohn im Jahr 1935 verfügte das frischgebackene Ehepaar über keinen gemeinsamen Haushalt. Erst, 281

als nach einem halben Jahr ein Kind zur Welt kommt und Karoline Kohn bei Semperit in Wimpassing entlassen wird, organisiert die Schwester des Bräutigams ein Zimmer in Wien. Die Probleme der Schaffung eines gemeinsamen Wohnraumes nach der Hochzeit kamen auch in den Gesprächskreisen Waldviertler Frauen zur Sprache.20 Der oftmals rasche Familienzuwachs erforderte häufig den Wechsel von Wohnung bzw. Wohnort. Je nach Bedarf wurde nach Wohnraum gesucht, der für das familiäre Budget leistbar war. Karoline und Gottlieb Kohn waren damals nicht die Einzigen, die als junges Ehepaar noch zumindest einige Monate bei den Eltern wohnen mussten. Im bäuerlichen Bereich waren bis in die Nachkriegszeit Besitz- und Standesdenken auch von jüngeren Menschen noch so sehr internalisiert, dass es gar keiner Intervention von elterlicher oder anderer Seite bedurfte, um Beziehungen zwischen sozial allzu unterschiedlich situierten Partnern scheitern zu lassen.21 Auch Mathilde Faschingleitner ist sich dieser Vorbehalte bewusst: „Doch seit ich sein Elternhaus gesehen hatte, wusste ich, dass es nicht gutgehen konnte. Seine Eltern waren dagegen. Er war ein properer Bauernsohn und ich das Keuschlermädchen, das nichts hatte als sein bisschen Jugend. Auf einmal kam er nicht mehr.“ Nach dem Krieg kann der steirische Bauer Franz Windisch seiner Partnerin Maria Elisabeth einen eigenen Hof bieten, der dem Paar zur Heimstatt 20 Verein für erzählte Lebensgeschichte (Hg.): „Ich weiß über die Liebe gar nicht viel ...“, S. 39–40. 21 Maria Mesner: Vom Anfang und vom Ende. Beziehungsleben und Heiratssachen. In: Oliver Kühschelm u. a. (Hg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Band 3: Kultur. Wien, Köln, Weimar 2008, S. 461–498, hier S. 469–470; Vgl. Verein für erzählte Lebensgeschichte (Hg.): „Ich weiß über die Liebe gar nicht viel ...“, S. 16: Maria Hahn: „Ich hätt schon heiraten können in eine Wirtschaft hinein. Aber ich hab mir gedacht: ‚Ich kann nicht mit leeren Händen kommen, das kann nicht gut gehen.‘ Ich war ja nur ein Dienstmädchen, ich hab ja kein Geld gehabt. Das ganze Geld ist ja über Nacht verfallen.“

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werden wird. Trotzdem bedarf es noch einiger Dinge für die Hausstandsgründung. Die Möblierung eines gemeinsamen Schlafzimmers ist neben der Ausstattung mit Bettwäsche symbolischer und pragmatischer Indikator für den offiziellen Charakter der Eheschließung. Wie begegneten sich die späteren Liebespartner? Wie wurden sie aufeinander aufmerksam? Die schwarzen Locken des Gottlieb Kohn, die über den Zaun hinausragen, sind das Zeichen für die beobachtende Annäherung. In diesem Fall erkennt die Frau daran das abwartende Interesse des Mannes. Auch Maria Elisabeth Windisch und ihr zukünftiger Mann begegneten sich in ihrem Umfeld wiederholt und kamen sich dabei näher. Die wahrgenommene männliche Aufmerksamkeit initialisierte erst das „Verliebtsein“ der Frau. Auch Ilse Bauer registrierte den männlichen Blick. Als sie und Leo Winter sich begegnen, wird aber nicht einer vom anderen beobachtet und begutachtet, gibt es keine typische Rollenverteilung einer männlich aktiven Beobachtung und weiblichen passiven Zurschaustellung. Auch die Beziehung zwischen Maria Zach und Jan Pniak, die sich beim gemeinsamen Getreideschnitt kennenlernen, greift nicht auf etablierte Muster männlicher Aktivität und weiblicher Passivität zurück. Eine extreme Variante einer Beziehung, in der die Initiative vom Mann ausgeht, schildert Gertrud Kantor. Sie wird in einer schwierigen sozialen Situation zum Objekt der männlichen Begierde. Im militärischen Bereich besteht eine eindeutige Geschlechterhierarchie, wodurch es Frauen schwer fällt, unwillkommene Avancen zu verhindern. Mathilde Faschingleitner geht als einzige Autorin explizit auf die Situation ein, in der sie mit dem Mann eine intime Beziehung eingeht, den sie daraufhin heiraten wird: „Es war im Winter, und ich ging mit Bekannten ins Kino, ein sehr dramatischer Film. Beim Nachhauskommen rief mich der Bauer in seine Stube, um etwas für den nächsten Tag zu besprechen. 283

Wir redeten auch über den Film. Ich jung, 19 Jahre, er 41 und erfahren. Ich noch gepackt vom Filmerlebnis, da ist es halt dann passiert. Na, wenn mir das wer gesagt hätte.“ Der Nachsatz „Na, wenn mir das wer gesagt hätte“ bezieht sich darauf, dass diese Situation von der Autorin nicht eingeplant war. Mathilde Faschingleitner unterstreicht vielleicht diese „Absichtslosigkeit“, mit der sie die Beziehung eingegangen ist, um sich nachträglich gegen ihre Schwägerinnen und Schwager zu verwahren. Die Geschwister des Mannes hatten Einwände gegen die Heirat ihres Bruders mit einer Dienstmagd, die dazu noch zwanzig Jahre jünger ist. Die traditionelle männliche Rolle sah vor, eine fixe Beziehung durch regelmäßige Besuche bei der Geliebten zu pflegen. Bis in die Dreißigerjahre mussten insbesondere im bäuerlichen Milieu heiratswillige Paare oft jahrelang auf die Hochzeit warten, und diese über die Jahre hinweg gepflogenen Besuche strukturierten den Alltag in dieser Zeit. Maria Elisabeth Windisch variiert dieses üblicherweise Männern vorbehaltene Erzählmotiv. Mit bemerkenswerter Genauigkeit erinnert sich die Autorin an das Datum ihrer nächtlichen und spätherbstlichen Wanderung von Neufeld über Ilz nach Herrnberg: Es war Samstag, der 13. Dezember 1952, als Maria Elisabeth sich nach der Tagesarbeit vom Haus ihrer Großmutter in Neudorf mit dem Fahrrad auf den Weg machte. Als sie vor dem Hof ihres Geliebten steht, findet sie zwar Aufnahme, aber nicht die Person, die zu treffen sie gekommen war. Erst auf dem Rückweg begegnet sie ihrem Franz in der Dunkelheit. Er begleitet sie zurück bis zur Bundesstraße und weiter bis nach Ilz. Auf dem gemeinsamen Weg durch die Nacht besprechen sie ihre Zukunft und versprechen sich einander. Vielleicht fällt erst am nächsten Morgen bei einer Kapelle zwischen Ilz und Hartmannsdorf, wo die junge Frau rastet, als schon die ersten Kirchgänger nach Ilz unterwegs sind, die endgültige Entscheidung für das Leben in Herrn284

berg an der Seite ihres Mannes. Da es wieder zu regnen begonnen hat und das spätherbstliche Tageslicht auf sich warten lässt, stellt sich die Erzählerin bei der Kapelle unter, ohne sich den Passanten zu erkennen zu geben. Dahinter steht vielleicht das Bedürfnis, bei der Kapelle die dramatischen Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekapitulieren. Die Beschreibung dieser anstrengenden Nacht nimmt in der Erzählung von Maria Elisabeth Windisch einen zentralen Stellenwert ein. Ihre Lebensgeschichte hat hier ihren dramaturgischen Wendepunkt, an dem sich nicht nur entscheidet, ob sie Franz heiraten wird, sondern auch, wo sie ihr weiteres Leben verbringen wird. Maria Elisabeth Windisch schätzt an ihrem Mann besonders dessen Fähigkeit, Emotionen zu zeigen, doch auch sein Äußeres. Dass er seine Gefühle auszudrücken imstande ist, auch zu weinen vermag, hebt sie mehrmals hervor. Windisch beschreibt ungewöhnlich offenherzig das Gefühl des Begehrtwerdens und verbindet es mit einem neuen Selbstwertgefühl nach ihrer Heirat: „Als wir heimkamen, ging ich wie üblich in mein Zimmer, um das Sonntagskleid auszuziehen. Franz kam nach, und ich stand gerade nur mit dem Unterkleid bekleidet da. Er hatte mich doch noch nie so gesehen! Er nahm mich zart an den Schultern und drückte mich an sich. Mir wurde heiß, und ich fühlte ein Glücksgefühl hochsteigen. Ich war Frau!“ Liebe ist widersprüchlich. Obwohl die Liebe den Anspruch stellt, unbedingt zur Geltung kommen zu müssen, ist sie in der Praxis zu jedem Kompromiss bereit. Auf der einen Seite ist der Anspruch der Liebe radikal, und auf der anderen geht sie jeden Vergleich ein. Wie die Texte in diesem Buch zeigen, verficht die Liebe ihr Ideal nicht bedingungslos. Mit ihrer Dringlichkeit ist die Liebe auf einem jungen Zweig der Geschichte gewachsen. Es ist die Kultur der bürgerlichen Empfindsamkeit des 19. Jahrhunderts, die die romantische Liebe zur Norm erhoben hat. Das Bürgertum erhob das eigene Be285

dürfnis nach Subjektivität zum Maßstab eines neuen Menschenschlages, an dem es alle übrigen Gruppen und Klassen maß. In der Liebe erlebt sich der Mensch als einzigartiges und einmaliges Gefühlswesen. Die Liebe gehört zu den Torheiten, für die sich niemand schämen muss. Wenn also auch die Liebe, wie es die feministische Historikerin Caroline Arni formuliert, ihre „Ambivalenzen“ hat, weil „historisch mit patriarchalen Imaginationen und Realitäten ebenso sehr verbunden wie mit den vielgestaltigen Versprechen von Gleichheit“, so markieren diese Worte gleichzeitig eine neue Zuwendung der Geschichtswissenschaft zum Thema der Liebe.22 Die Vorstellung einer stabilen Beziehung ist für die Autorinnen in diesem Buch fast immer mit einer Ehe verbunden.23 Grundsätzlich strebten Frauen eine gesellschaftliche und staatliche Autorisierung ihrer Beziehungen an. Der Wunsch nach Familiengründung und der Anspruch, Liebe zu erfahren, wurden von den Menschen des 20. Jahrhunderts umfassend miteinander verknüpft. Nichts erschien den Angehörigen der in diesem Buch vertretenen Geburtsjahrgänge zwischen 1916 und 1932 selbstverständlicher. Tatsächlich ist die Familie als universelles Modell, auf dessen Umsetzung jeder und jede ein Anrecht hat, geschichtlich ein junges Phänomen. Die Notzeiten in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts und der darauffolgende Krieg haben den Wunsch der Menschen nach Gründung einer Familie nur zurückgehalten. Einerseits wurde der individuelle Anspruch auf Familiengründung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer 22 Zitiert nach: Ingrid Bauer / Christa Hämmerle / Gabriella Hauch: Liebe widerständig erforschen – eine Einleitung. In: Ingrid Bauer u. a. (Hg.): Liebe und Widerstand, S. 9–35, hier S. 10. 23 Auch Maria Mesner attestiert den lebensgeschichtlichen Quellen diese Tendenz: Vom Anfang und vom Ende, S. 467: „Die lebensgeschichtlichen Quellen bestätigen diesen Eindruck. Heirat und Kind(er) blieben das Ziel, obwohl nicht immer klar war, ob es die Betroffenen auch erreichen würden können.“

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entschiedener, andererseits standen dem die äußeren Hindernisse der politischen und ökonomischen Situation entgegen. Auch die im Zweiten Weltkrieg oft rasch geschlossenen „Kriegsehen“ änderten nichts am allgemeinen Rückstau. „Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Lebensform „Familie“ in den mitteleuropäischen Gesellschaften, deren materieller Lebensstandard niedriger als in den USA war, für (fast) alle Bevölkerungsgruppen realisierbar. Eine „Familie“ gründen zu können, wurde daher von vielen Menschen als „sozialgeschichtliche Errungenschaft“ begriffen. Nicht das Familienmodell an sich, sondern die Tatsache, dass es für die große Mehrheit der Bevölkerung vom Ideal zur greif-, häufig auch tatsächlich lebbaren Realität geworden war, ist gesellschaftlich eine Innovation.“24 Maria Mesner nähert sich damit einer Antwort auf die Frage, „warum sich die ‚Familie’ als Lebensmodell in den 1950er und 1960er Jahren auf so allgemeine und nahezu alle Bevölkerungsgruppen und -schichten erfassende Weise durchsetzte.“ Jahrhundertelang waren Ehe- bzw. Familienstand ein privilegierter Status, den zu erreichen an den Nachweis der materiellen Voraussetzungen für die Gründung eines Haushaltes bzw. ökonomisches Unternehmertum gebunden war. Das Recht von Menschen mit einer lohnabhängigen Existenzform und insbesondere des Gesindes auf Familiengründung wurde langfristig von Obrigkeiten in Frage gestellt, bis überall die offizielle Zustimmung („Ehekonsens“) der Grundherrschaft und später der Gemeindeverwaltung zur Eheschließung im Laufe des 19. Jahrhunderts obsolet wurde. Die Obrigkeiten verhielten sich zum Anliegen der ländlichen Unterschichten, Familien gründen zu können, in unterschiedlichem Maße

24 Maria Mesner: Mutterliebe und/oder feministischer Widerstand? Zur normativen Aufladung von Frauen-Feiertagen. In: Ingrid Bauer u. a. (Hg.): Liebe und Widerstand, S. 156–171, hier S. 164–165.

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ablehnend, im Merkantilismus des 18. Jahrhunderts auch gewogener25, aber im Allgemeinen restriktiv. Ihren offiziellen Charakter hatten diese Hindernisse zwar schon im 19. Jahrhundert verloren, ihre Auswirkungen auf Heiratsquote und -alter waren aber noch bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zu spüren. Je schwieriger es sich darstellte, eine Familie zu gründen, desto später wurde geheiratet, und desto größer war der Anteil jener, die ledig blieben (im Jahr 1880 noch 40 % der Gesamtbevölkerung).26 Zwischen „european marriage pattern“27 und „Babyboom“ ordnete sich die Beziehungsrealität der Generationen vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst mit dem Ende der wirtschaftlichen Not in der Nachkriegszeit wurde es möglich, das Versprechen des bürgerlichen Eheideals allgemein einzulösen. 25 Michael Mitterauer: Lebensformen und Lebensverhältnisse ländlicher Unterschichten. In: Herbert Matis (Hg.): Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Berlin 1981, S. 315–338, hier 323–326. 26 Maria Mesner: Vom Anfang und vom Ende, S. 467. 27 Zur Herkunft des Begriffes siehe: Michael Mitterauer: Familie und Arbeitsteilung. Historischvergleichende Studien. Wien, Köln, Weimar 1992, S. 319-320: „In seinem Artikel ‚European marriage patterns in perspective‘ wies John Hajnal 1965 darauf hin, dass das hohe Heiratsalter der Männer und vor allem der Frauen, das sich in West- und Mitteleuropa findet, im interkulturellen Vergleich eine Ausnahme darstellt. [...] Peter Laslett stellte fest, dass die Dauer des Gesindedienstes mit der Höhe des Heiratsalters in Zusammenhang steht. Gesindedienst ist grundsätzlich eine transitorische Phase, die mit der Heirat abgeschlossen wird. Diesem transitorischen Charakter entsprechend bezeichnet Laslett das Gesinde westlichen Typs als ‚life-cycle-servants‘.“ Weitere Überblickswerke der historischen Familienforschung, in denen historische Entwicklungen, die in diesem Nachwort nur angeschnitten werden, nachzulesen sind: Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt am Main 1974. Michael Mitterauer / Reinhard Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. Zum Strukturwandel der Familie. München 1977. Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1982. Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt am Main 1987. Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause / Michael Mitterauer: Geschichte der Familie. Stuttgart 2003.

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Glossar Adjunkt – einem Beamten – hier einer Gutsverwaltung – beigeordneter Gehilfe bzw. Beamter im niederen Dienst Am – Spreu, Spelzen Amt (heiliges Amt) – hier: katholische Messe, die entweder dem Gebet für ein verstorbenes Gemeindemitglied oder Menschen gewidmet ist, die der Fürbitte bedürfen, wie Kranke, Rekonvaleszente usw.; eine solche Messe ist zumeist mit der Geldspende eines Stifters/einer Stifterin verbunden. Arbeitsmaiden, auch: Maiden – Mädchen oder junge Frauen, die in der Zeit des Zweiten Weltkrieges im „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) im Einsatz waren aufgeboten, von: aufbieten – auftragen, befehlen Austrian Aid – vermutlich: Austrian Self-Aid (Österreichische Selbsthilfe); eine im April 1938 von Angehörigen der Kommunistischen Partei Österreichs in London gegründete, vorwiegend karitativ tätige Einrichtung, die sich darum bemühte, Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Österreich grundlegende Hilfestellungen, v. a. im Bereich der Arbeits-, Informations- und Wohnungsvermittlung, durch bereits ansässige Landleute zukommen zu lassen; später wirkte Austrian Self-Aid als Teilorganisation des 1939 gegründeten Austrian Centre weiter. baked beans on toast – traditioneller Bestandteil des englischen Frühstücks, gekochte Bohnen in Tomatensauce auf Toastbrot bald – hier: fast, beinahe Bank (wiederholen) – in einklassigen Volksschulen bestand eine altersmäßige Gliederung nach Sitzbänken; wurde der nötige Schulerfolg für den Aufstieg in die nächsthöhere 289

Abteilung nicht erbracht, mussten die betreffenden Schüler/innen in derselben Bank „sitzenbleiben“. Bärenfleisch – Missgeschick, im Besonderen das Umfallen einer Heufuhre; auch: Bärenbraten Bauwoaz – steirisch für: Weizen, im Unterschied zu: Woaz = Mais Bauwoaz-Schneiden – Weizenernte, Schnitt Bediente(r) – Bedienstete/r, Diener/in Berg – hier: Hügel, Anhöhe; im alltäglichen Sprachgebrauch des vergleichsweise flachen Alpenvorlandes wird jede Steigung und Erhöhung als „Berg“ bezeichnet. Bettauer, Hugo – österreichischer Schriftsteller (1872–1925), der als Journalist in Berlin, München, Hamburg und ab 1910 in Wien tätig war; Verfasser zahlreicher Romane, darunter am bekanntesten „Die Stadt ohne Juden“ (1922); ab 1924 auch Herausgeber der Zeitschrift „Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“ (später „Bettauers Wochenschrift“). Er starb am 26. März 1925 an den Folgen eines Schussattentates; angebliches Motiv für die Tat, die von der NSDAP gutgeheißen wurde, war Bettauers Eintreten für ein liberales Eherecht. Bitttage – an den drei Tagen vor dem katholischen Fest Christi Himmelfahrt wird bei Prozessionen durch die Felder um den Segen Gottes für die kommende Ernte gebeten Bluttommerl – Speise aus frischem Schweinsblut, Milch und Mehl, im Backrohr resch und braun gebacken Bockerl – in Pyramidenform zum Trocknen aufgestellte und zusammengebundene Getreidegarben Bua(m) – hier: Bursche, unverheirateter junger Mann Bugl – hier: Vulgo- bzw. Hausname eines Bauernhofes; allgemein auch: Bezeichnung für eine kleine Hügelkuppe. Burgunder – Futterrüben Chamberlain – Neville Chamberlain (1869–1940), britischer Premierminister von 1937 bis 1940; Vertreter einer „Ap290

peasementpolitik“ (Beschwichtigungspolitik) der Westmächte England und Frankreich gegenüber der außenpolitischen Aggression des Deutschen Reiches. dienstverpflichtet – Bezeichnung für die Zwangsmobilisierung bzw. -bereitstellung von Arbeitskräften gemäß den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft im Dritten Reich; während anfangs nur jüngere, unverheiratete Frauen zu kriegswichtigen Diensten verpflichtet wurden, wurden mit Fortdauer des Krieges und nach Maßgabe ihrer konkreten familiären Versorgungspflichten auch ältere, verheiratete Frauen herangezogen. Dispens – Ausnahmebewilligung, amtliche Befreiung von einem Gebot oder Verbot; hier: vom Bischof erteilte kirchenrechtliche Befreiung von einem Ehehindernis Döckeln, von: Docke (Puppe) – zum Trocknen der Körner aufgestellte Getreidegarben; auch: Manderln dengeln – ausklopfen des Sensenblattes; beim Dengeln wird mit einem speziellen Hammer, dem Dengelhammer, die Schneide des Sensenblattes auf einem Dengelstock – d. h. auf einem in ein Sitzgestell eingelassenen kleinen Amboss – kalt geschmiedet. dog fight – englische Bezeichnung für einen Luftzweikampf zweier Kampfflugzeuge im Zweiten Weltkrieg. Wie Hunde, die einander umkreisen, versuchten die Piloten, sich durch gewagte Flugmanöver mit ihren Maschinen in den Nacken des feindlichen Flugzeuges zu setzen. Dreschpfoad, von: Pfaid – grobes, weites Hemd, v. a. für Arbeitszwecke, hier eigens für die besonders staubige Arbeit des Getreidedruschs verwendet dumper – dämmerig effort, auch: war effort – englisch für: Anstrengung, Bemühungen; hier: Beitrag der Flüchtlinge, die in England Aufnahme gefunden hatten, zu den Kriegsanstrengungen Großbritanniens. 291

einäschern (gehen) – an der Morgenmesse am Aschermittwoch, dem ersten Tag der Fastenzeit, teilnehmen; während dieser Messe zeichnet der Priester den Gläubigen als Symbol der Bußbereitschaft und Umkehr mit Asche ein Kreuz auf die Stirn. eingehamstert – im Schleichhandel bzw. auf dem Schwarzmarkt erworben. Auf sogenannten Hamsterfahrten aufs Land boten Stadtbewohner, hauptsächlich Frauen, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auf Bauernhöfen Textilien, Schmuck und andere Wertgegenstände im Tausch gegen Nahrungsmittel an. Durch die Zuteilungen auf den Lebensmittel- und Bekleidungskarten wurden die Grundbedürfnisse nicht gedeckt, Güter des täglichen Lebens mussten auch von Landbewohnern im illegalen Tauschhandel erworben werden. Elektrische – Straßenbahn Exerzitien – meist mehrtägige, ursprünglich sogar mehrwöchige, geistliche Übungen zur Vertiefung des persönlichen Glaubenslebens, die in der katholischen Kirche für Laien unter Anleitung eines theologisch geschulten Begleiters angeboten werden Fassen, Fasserin – beim Aufladen von gemähtem Gras oder Getreide muss dieses von einer Person auf dem Wagen zu einer stabilen Fuhre angeordnet bzw. „gefasst“ werden fish and chips – beliebtes englisches Gericht aus frittierten Fischfilets in Backteig und frittierten Kartoffelstäbchen firewatching – englische Bezeichnung für die Feuerwacht auf den Dächern englischer Städte zur Zeit der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg Fotzerl(n) – Maul, Mund, Lefzen Futterarbeiten – jede Form der Beschaffung von Gras oder anderen Futterpflanzen für das Vieh; hier: Heu machen Gasring – Gasringbrenner bzw. gasbetriebener Ringbrenner, heute als Gaskocher für den Campingbetrieb in Verwendung 292

gebittet, von: bitten – dialektale Partizipform für: gebeten, insbesondere in Verbindung mit einer Geste des Bittens gefladert, von: fladern – stehlen, stibitzen geprackt (Hintern), von: pracken – schlagen, das Hinterteil versohlen Gödenkinder – Patenkinder Godl – Tauf- oder Firmpatin Gogerln – Hühner Gosse – Bezeichnung für ein aus Holz gezimmertes Trichtergestell für unterschiedliche Verwendungszwecke von der Imkerei bis zur Mühle; hier: trichterförmiger Einzug der Futterschneidemaschine Göpel – Antriebsvorrichtung, die von einem im Kreis gehenden Zugtier (Pferd oder Ochse) betrieben wird. Ein waagrechter Balken wird von den Zugtieren in Drehbewegung versetzt; dieser ist mit einer senkrechten Achse verbunden, die unten in einem Lager und oben in einer Schwungscheibe mit weiteren Zahnrädern zur „Übersetzung“ eingelassen ist. Ein Transmissionsriemen, der auf dieser Scheibe aufgelegt ist, überträgt die Bewegungsenergie der Tiere dorthin, wo ein Antrieb benötigt wird. Graden – Getreidegrannen, Spelzen Häfen – irdener Topf, Gefäß; hier: großer Blecheimer oder eiserner, emaillierter Kochtopf Häferl – Verkleinerungsform von: Häfen, ursprünglich für ein kleines Gefäß aus gebranntem Ton; hier vermutlich: kleiner Topf; Häferl steht heute in der österreichischen Umgangsprache für Henkeltasse, meist aus Porzellan oder Steingut. Heimatschein – Bestätigung der Zugehörigkeit zur Heimatgemeinde des Geburtsortes, verbunden mit dem Recht auf Empfang von sozialen Unterstützungsleistungen, die gleichzeitig von jeder anderen Gemeinde verweigert werden konnten. Menschen ohne festen Wohnsitz, Bettlern 293

und Prostituierten drohte daher, wenn sie aufgegriffen wurden, die Verschickung in die Heimatgemeinde. Heimstunden – hier: regelmäßige Treffen der nationalsozialistischen Kinder- und Jugendorganisationen Hendln – Hühner Hollermarmelade – Marmelade bzw. Konfitüre aus Holunderbeeren; hier: die aus roten Holunderbeeren hergestellte „Hollersuissn“ bzw. Holundersalse, der eine vielseitige Heilwirkung zugeschrieben wird. honeymoon – englisch für: Flitterwochen Holzbutte – gebundenes Holzgefäß Home Office – Bezeichnung für das britische Innenministerium Horst-Wessel-Lied – Kampflied der nationalsozialistischen SA seit Ende der Zwanzigerjahre; Horst Wessel (1907– 1930), der Verfasser des Liedtextes, war SA-Sturmführer, wurde bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Kommunisten getötet und von der NS-Propaganda fortan als Märtyrer der Bewegung verklärt. Das Lied wurde Parteihymne der NSDAP und meist im Anschluss an das „Deutschlandlied“ gesungen. Hosenriemen – Gürtel Hühnerkraxe – Tragegestell zum Transport von Hühnern inn – englisch für: Gasthaus, Wirtshaus Jett, Jettperlen – Gagat; schwarz glänzender Schmuckstein fossilen Ursprungs (versteinerte Kohle) jetten – Strohgarben in der Scheune schlichten; auch: jedan Joch – hier: traditionelles österreichisches Flächenmaß; 1 Joch = 5700 Quadratmeter Keusche – kleines, oft baufälliges altes Häuschen, das von Taglöhnern oder Kleinbauern bewohnt wird Keuschler – Bewohner einer Keusche Keuschlerdirndl – Mädchen, das in einer Keusche bzw. in einer Keuschlerfamilie aufwächst, das heißt, einer ärmeren ländlichen Bevölkerungsschicht angehört 294

Kleimsack – Sack, in dem Kleie aufbewahrt wird Körndl – Getreide Kuckuck – akustisches Vorwarnsignal im Radio für Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs Kukuruz – Mais Laubhüttenfest – siebentägiges jüdisches Erntedankfest im September oder Oktober, mit dem auch des Auszugs der Israeliten aus Ägypten gedacht wird; hebräisch: Sukkot lumpen – ausgehen, an Unterhaltungen teilnehmen, in Gesellschaft gehen Maginot-Linie – nach dem französischen Politiker André Maginot (1877–1932) benanntes aufwändiges Verteidigungssystem aus einer Vielzahl eigenständiger Bunker und Befestigungsanlagen, das von Frankreich zwischen 1930 und 1940 an seinen Ostgrenzen zu Deutschland und Italien errichtet wurde, aber den Angriff der deutschen Wehrmacht im Jahr 1940 nicht aufhalten konnte Maiden – siehe: Arbeitsmaiden Manderln – Gebilde aus Getreidegarben, die zum Trocknen aufgestellt wurden; im Unterschied zu Bockerln (siehe dort) wurden bei Kornmanderln die Getreidegarben auf einen Pfahl gespießt. Ein in den Boden geschlagener „Schieberstecken“ wurde von einem „Fuß“ aus Garben gestützt, die von zwei Seiten angelehnt und miteinander verflochten wurden. Von oben fädelte man dann eine Garbe nach der anderen auf, so dass rundherum einmal die Ähren und einmal das untere Garbenende zu sehen war. Maquis – auch: Maquisards; Bezeichnung für die nationalfranzösische und linke Untergrundbewegung zur Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg; nach dem dichten mediterranen Buschwald (frz. le maquis, dt. Macchia), dem wichtigsten Rückzugsort der Partisanen der „Résistance“. Marode – Kranke 295

Mensch, das – Mädchen, junge Frau (fallweise auch abschätzig gebraucht) Mongole(n) – Aufgrund ihrer charakteristischen äußeren Erscheinung, insbesondere ihrer Gesichtszüge, wurden Kriegsgefangene oder Angehörige der sowjetischen Besatzungsmacht mit Herkunft aus den mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion umgangssprachlich verbreitet und unrichtigerweise als „Mongolen“ bezeichnet. Mostpudding – gugelhupfförmiger Kuchen in heißem, süßem Apfelwein (Most) Nachigeher – Teilnehmer/innen an Hochzeitsfeierlichkeiten, die nicht persönlich eingeladen wurden und erst zum Tanz am Abend kommen Nazi-Aufstand – auch als Juliputsch bezeichneter Umsturzversuch österreichischer Nationalsozialisten gegen die ständestaatliche Regierung am 25. Juli 1934, bei dem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß von SS-Männern ermordet wurde; insgesamt wurden bei den bewaffneten Auseinandersetzungen in mehreren Bundesländern rund 200 Menschen getötet. In Lasselsdorf, dem weststeirischen Herkunftsort von Maria Zach, wurden der ehemalige Nationalrat und Besitzer des Wippl-Gutes, Florian Graf, und ein Knecht schwer verletzt. Neger – hier: afroamerikanischer Soldat, allgemein „Farbiger“ oder „Dunkelhäutiger“ November (der furchtbare November) – Novemberpogrome 1938, Reichskristallnacht. Das antisemitische Programm des Nationalsozialismus radikalisierte sich nach dem „Anschluss“ Österreichs. Partei und Staat beschlossen, die Enteignung und Vertreibung der von ihnen als jüdisch klassifizierten Bürger verstärkt mit terroristischen Mitteln voranzutreiben. Zwischen dem 7. und 13. November 1938 wurden im Deutschen Reich etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben, 1400 Synagogen und 296

andere Einrichtungen der jüdischen Gemeinden sowie tausende Geschäfte und Wohnungen geplündert, zerstört und in Brand gesteckt. Höhepunkt des Pogroms war die Nacht vom 9. auf den 10. November; in Österreich begannen die konzertierten Ausschreitungen erst am 10. November, verliefen aber vergleichsweise heftig. nostrifizieren – Verfahren zur offiziellen Anrechnung von Abschlüssen oder Prüfungen, die in einem fremden Bildungssystem absolviert wurden; Voraussetzung zum Führen von Berufsbezeichnungen (hier: Dr. med.) in einem anderen Land als jenem, in dem sie erworben wurden oberbei – oberhalb, über Ostarbeiter – zeitgenössische Bezeichnung für die während des Zweiten Weltkrieges in der Landwirtschaft und in der Rüstungsindustrie eingesetzten Zwangsarbeiter aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten Osteuropas Papst-Visum – Der Vatikan unterstützte seit der Zwischenkriegszeit Katholiken, die aus unterschiedlichen Gründen über Italien nach Übersee emigrierten. Der Priester und Vatikanmitarbeiter Ferdinando Baldelli (1886–1963) hatte schon 1922 ein römisches Komitee für Migranten gegründet, das 1930 in der „Opera Nazionale Assistenza Religiosa Morale Operai“ aufging. In der Nachkriegszeit profitierten auch Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher, die sich strafrechtlicher Verfolgung durch Flucht entzogen, von der 1944 gegründeten Einrichtung „Pontificia Commissione Assistenza Profughi“ unter der damaligen Leitung von Unter-Staatsekretär Giovanni Battista Montini, dem späteren Erzbischof von Mailand und Papst Paul VI. (1963– 1978). permit – Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung für ausländische Arbeitskräfte in England; 1938/39 für zahlreiche Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich die einzige Mög297

lichkeit, um nach England zu gelangen. Weibliche Flüchtlinge erreichten am ehesten über ein domestic permit, eine Arbeitserlaubnis als Hausgehilfin in privaten Haushalten, die Aufenthaltserlaubnis in Großbritannien. Plankenweg – Fahrweg, der durch das Einlegen von Holzplanken oder -pfosten in die tief ausgefahrenen Spurrillen befestigt wurde Post (schicken) – hier: per Boten eine Nachricht mündlich übermitteln proper – hier: wohlhabend, gut situiert proxy, by proxy – englisch für: Stellvertretung; stellvertretend, im Auftrag von; einer Person wird stellvertretend für eine abwesende Person die Autorität zum Abschließen von Rechtsgeschäften erteilt. Bei einer Heirat by proxy wird ein abwesender Heiratspartner durch einen juristischen Stellvertreter mit symbolischer Vollmacht ersetzt. Reichsarbeitsdienst (RAD) – ab Oktober 1939 wurde der für junge Männer im Dritten Reich schon seit 1935 bestehende vormilitärische Arbeitsdienst auch für Mädchen und unverheiratete junge Frauen zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr eingeführt, wodurch vor allem die zum Kriegsdienst eingezogenen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ersetzt werden sollten; ab Juli 1941 wurde die Arbeitsdienstpflicht für junge Frauen um einen zusätzlichen sechsmonatigen Kriegshilfsdienst erweitert. Reiter – großes Sieb mit Holzrahmen mit einem Durchmesser zwischen 50 und 100 Zentimetern, entsprechend der Griffweite beider Arme Saukuchl – Wirtschaftsraum zur Zubereitung des Schweinefutters Saumehl – Bezeichnung für die minderwertigste Mehlsorte, die üblicherweise nur als Tierfutter Verwendung fand. Die besseren Mehlsorten waren Semmelmehl, Brotmehl und Kernmehl (für Knödel). 298

schaffen – anschaffen, befehlen schiach – hässlich, furchterregend Schimpf (bekommen) – Schelte; ausgescholten werden Schmäh – hier: Witz, Ironie, auch: Irreführung, Trick Schnürkrapfen – traditionelles, spiralförmig gewickeltes Schmalzgebäck schoppen – stopfen; hier: mästen von Hühnern durch erzwungene Nahrungsaufnahme Schüberl – Häufchen; Verkleinerungsform von: Schober Schüsselkorb – Tellerbord Schweif – Um einen Leiterwagen mit Getreidegarben stabil zu beladen, wurde eine besondere Technik, die Lagen versetzt anzuordnen, angewendet; dabei kragte die oberste Lage an Getreidegarben an der Rückseite über und wurde durch eine massive Holzstange, den sogenannten Wiesbaum, niedergehalten. Dieser überstehende Teil der Ladung wurde „Schweif“ genannt. Sechser – schlechteste Schulnote im deutschen sechsstufigen Bewertungssystem, das in der Zeit von 1938 bis 1945 auch in österreichischen Schulen gültig war Segenbaum – Sadebaum; Strauch aus der Gattung der Wacholdergewächse (juniperus sabina), auch: Stink-Wacholder Seitenfleisch – Speck- oder Bratenfleisch vom Schwein Silberfäden – Aluminiumstreifen, die im Zweiten Weltkrieg von den alliierten Bombergeschwadern abgeworfen wurden, um ihre Ortung durch bodengestützte Luftaufklärung mittels Radar zu erschweren Sommerbefreiung – Ab der siebenten Schulstufe, also etwa ab dem zwölften Lebensjahr der Kinder, bestand in Österreich (bis 1962) im Zeitraum zwischen Ostern und Allerheiligen die Möglichkeit der Freistellung vom Schulunterricht, wenn Kinder von ihren Eltern in besonders arbeitsintensiven Zeiten für die Mithilfe bei landwirtschaftlichen Arbeiten gebraucht wurden. 299

Sparherd (gesetzter Sparherd) – Im Unterschied zum gewöhnlichen Sparherd, der ein transportabler Küchenherd ist, wird ein gesetzter Sparherd aus Schamotte und Ziegel gemauert und mit gusseiserner Herdplatte, Wasserschiff und Backrohr versehen; die moderne Bezeichnung für einen gesetzten Sparherd ist Aufsatzherd. Steinhof, Am Steinhof – Auf dem Gelände der bereits seit 1907 bestehenden „Heil- und Pflegeanstalt ‚Am Steinhof‘“ in Wien wurden in den Jahren 1940 bis 1945 Kinder ermordet, die von Ärzten als „geisteskrank“ oder „behindert“ eingestuft wurden. War die Ermordung zuerst nur bei Neugeborenen und Kleinkindern vorgesehen, wurde später die Altersgrenze auf 17 Jahre hinaufgesetzt. Erwachsene Patienten wurden in die Vernichtungsanstalt Hartheim bei Linz deportiert. 1940 wurde die Einrichtung „Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt ‚Am Spiegelgrund‘“, ab 1942 „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien ‚Am Spiegelgrund‘“ und ab 1943 „Wiener städtische Nervenklinik für Kinder“ genannt. Steuerunbedenklichkeit – Eine vom Finanzamt ausgestellte Bestätigung, dass alle Steuerschulden beglichen sind, war ab dem Jahr 1938 eine der Voraussetzungen für die „Auswanderung“ von Menschen v. a. jüdischer Herkunft aus dem nationalsozialistischen Österreich; im Grunde war damit ein möglichst vollständiger Vermögensentzug beabsichtigt. Für das Ansuchen bei der Steueradministration des Wohnbezirkes wurden eine Bestätigung der Bezirkshauptmannschaft des Wohnbezirkes, eine Bestätigung des Zentral-Taxamtes Wien III, Vordere Zollamtsstraße, und eine Bestätigung der Magistratsabteilung II im Wiener Rathaus benötigt. Stolleneinschrauben – Befestigen von kleinen, zylinderförmigen Aufsätzen auf Hufeisen, die den Pferden bei schlechten Bodenverhältnissen, insbesondere im Winter, mehr Halt geben sollen 300

Stosuppe – Suppe aus Mehl, Milch und Rahm. Sto(h) ist ein alter Begriff für geronnene Milch. Strand – eigentlich: The Strand; Straße in London zwischen Trafalgar Square und Fleet Street Tagwerk, tagwerken – in Taglohn gehen, als Tagelöhner bzw. Tagelöhnerin arbeiten Tram – waagrecht angebrachter Balken, hier: als Teil der Antriebsvorrichtung eines Göpels Tried – mit heißem, süßem Apfelwein (Most) übergossene zwiebackähnlich gebähte Gebäckschnitten bzw. geschnittene Semmeln in Most umschauen (sich umschauen um) – sich kümmern, für etwas Sorge tragen; hier: Kinder versorgen, beaufsichtigen Ura – Sauerteig, Dampfl; Teigrest vom letzten Backen verrüttelt – hier: verwirrt, durcheinander, in Unordnung gebracht versehen – Spende der Kranken- und Sterbesakramente durch einen katholischen Priester V2 – abgekürzt für: Vergeltungswaffe 2; ab September 1944 wurden englische und belgische Städte mit dieser Raketenwaffe bombardiert, die seit 1942 in der Heeresversuchs­anstalt Peenemünde getestet worden war. Bei verschiedenen Angriffen wurden insgesamt 8 000 Menschen getötet; in Zusammenhang mit der Herstellung der Raketen kamen etwa 12 000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ums Leben. Wasserlotter – Wassermann, Nöck Wasserschaffl – hier: rundes Auffanggefäß neben dem hauseigenen Brunnen Watschn – Ohrfeige Wedl – knorriger, astreicher, schwer spaltbarer Holzklotz Westend – Londoner Theaterviertel Wetter – hier: Gewitter, Unwetter wild (sein) – hier: jemandem böse sein 301

Winterfenster – Doppelfensterkonstruktion mit zwei Paar Fensterflügeln, von denen eines (die Winterfenster) nur in der kalten Jahreszeit zwecks besserer Wärmedämmung eingesetzt wird; auch: Kasten- oder Innenvorsatzfenster Woaz – steirisch für: Mais Woazflegen, auch: Woazlaschi – Deckblätter des Maiskolbens, auch: Woazfedern, Lieschen Woazhauen – das Unkraut zwischen den noch jungen Maispflanzen jäten Woazschälen, Woazschälerei – Entfernen der Blätter, die den Maiskolben umschließen; eine Arbeit, die von benachbarten Haushalten gemeinschaftlich erledigt wurde, somit ein geselliges Ereignis. Wöllersdorf – Ort am nördlichen Stadtrand von Wiener Neustadt, in dem 1933 auf dem Gelände einer seit 1922 leer gestandenen Munitionsfabrik ein sogenanntes „Anhaltelager“ für politische Gegner des autoritären österreichischen Ständestaates errichtet wurde. Von Oktober 1933 bis April 1938 waren sowohl Sozialdemokraten und Kommunisten als auch Nationalsozialisten interniert; der Höchststand an Gefangenen wurde infolge der bewaffneten politischen Auseinandersetzungen im Jahr 1934 mit mehr als 5 000 erreicht. Zerberus – dämonischer Hund, der in der griechischen Mythologie den Eingang zu Unterwelt bewacht Zockel – einfaches Schuhwerk, bestehend aus einer Holzsohle, die mit Leder überwölbt ist Zuckerstock – Zucker wurde früher nicht in Säcken bzw. Packungen abgefüllt, sondern war als kegelförmiges und massives Zuckerstück erhältlich, das in blauem Papier eingeschlagen war. Bei Bedarf wurden kleine Stücke abgeschlagen.

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„Damit es nicht verloren geht ...“ ist ein Leitmotiv vieler Menschen, die sich im fortgeschrittenen Alter verstärkt mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigen und selbst Erlebtes in der einen oder anderen Form zu dokumentieren versuchen. Daran orientiert sich der Titel dieser Buchreihe, die seit 1983 besteht und vom Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ herausgegeben wird. Persönliche Erinnerungstexte bieten vielfältige Einblicke in vergangene Lebens-, Arbeits- und Beziehungsverhältnisse und können das Verständnis für historischen Wandel sowie für unterschiedliche Denkweisen und Traditionen erweitern. Über den privaten Familienkreis hinaus haben solche Lebensaufzeichnungen in den letzten Jahrzehnten in vielen gesellschaftlichen Bereichen als sozial-, kultur- und zeitgeschichtliche Dokumente Aufmerksamkeit gefunden. Aus diesem Grund wurde am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ eingerichtet, ein Textarchiv, in dem schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art (Autobiographien, kürzere Erinnerungstexte, Tagebücher, Familiengeschichten, Chroniken usw.) gesammelt, wissenschaftlich genutzt und für fachlich Interessierte bereitgestellt werden. Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, Beiträge zu dieser Textsammlung zu leisten, indem sie eigene lebensgeschichtliche Texte oder überlieferte Aufzeichnungen von Vorfahren zur Verfügung stellen oder uns auf entsprechende Materialien in Privatbesitz aufmerksam machen. Ebenso freuen uns über Kontakte zu schreibfreudigen Menschen, die sich durch das Motto der Buchreihe angesprochen fühlen. Kontaktadresse: Institut für Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Wien „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien (z. H. Mag. Günter Müller) Tel. +43 (0)1/4277-41306 E-Mail: [email protected] http://lebensgeschichten.univie.ac.at http://www.MenschenSchreibenGeschichte.at 303

Bildnachweis Alle Fotos stammen aus dem Privatbesitz der Autorinnen und ihrer Angehörigen bzw. aus der Fotosammlung der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ an der Universität Wien Titelbild Susanne Hauser und ihr Mann Hans auf der Hochzeitsreise (1938). Vgl. die Jugenderzählung von Susi Hauser im Band 44 dieser Buchreihe: Hannes Stekl (Hg.), „Höhere Töchter“ und „Söhne aus gutem Haus“. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik, Wien-KölnWeimar 1999, S. 244–270. Bild auf der der Rückseite des Buches Maria Elisabeth und Franz Windisch – im Hintergrund ihr erstes Enkelkind – bei der Feier der Silbernen Hochzeit (1978)

Damit es nicht verloren geht … Ausführliche Informationen zu allen bisher erschienenen Bänden der Schriftenreihe sind auf der Website des Böhlau-Verlags zu finden: http://www.boehlau-verlag.com/Damit_es_nicht_verlorengeht_.htm

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