Von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter: Typische psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen [1 ed.] 9783896444523, 9783896734525

Es ist an der Zeit, psychische Störungen stärker generations- und damit auch fachübergreifend zu erforschen und neue Beh

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Von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter: Typische psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen [1 ed.]
 9783896444523, 9783896734525

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H

Peter Hartwich ♦ Arnd Barocka (Hrsg.)

Von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter Typische psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen

Mit Beiträgen von: P. Hartwich, S. Klauck, S. Laufer, C. Lotzenius, B. Meyenburg, S. Oddo, A. Poustka, F. Poustka, C. Schindlmayr, S. Schlegel, B. Schneider, D. Seehuber, A. Stirn, A. Thiel, S. Völker, P. Wagner, T. Wetterling, L. Wöckel

Verlag Wissenschaft & Praxis

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Printed in Germany

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Einleitung - Der Blick zurück in die Kindheit Der in die Kindheit gerichtete Rückblick hat für jeden Menschen eine ei­ gentümlich gespannte Gefühlsqualität. Hier wurden die Merkmale seiner Identität gebildet, war er fremden, eher zufälligen Einflüssen ausgesetzt, auf die er dann aber seinem Wesen gemäß, das heißt nicht zufällig reagierte. Dazu kommt, dass der Mensch sich seit seiner Kindheit entwickelt hat. Heute ist er ein anderer und doch noch derselbe - eine verwirrende Situa­ tion und eine Fundgrube für Dichter. So ist es kein Wunder, dass manche von der Kindheit fasziniert sind, mindestens genauso viele aber die Erinne­ rung daran lieber vermeiden.

In den Biografien psychisch Kranker ist diese Spannung ebenfalls zu be­ obachten. Hinzu kommen die charakteristischen Verlaufsmerkmale der je­ weiligen Krankheit, die zudem immer auf die gerade erreichte Entwick­ lungsstufe des Kindes oder Jugendlichen zu beziehen sind. Der Rückblick ist also in diesen Fällen noch einmal schwieriger und erfordert ein hohes Maß an Sachkenntnis. Zugleich ist er lohnend. Nicht ohne Grund ist die Frage nach dem Anfang der Störung und die Rekonstruktion der Anfangsbedingungen eine zentrale Frage jeder ärztlichen Anamnese. Dieser Rückblick in die Kindheit des psy­ chisch Kranken ist das Thema des vorliegenden Buches. Dabei gingen wir von zwei bekannten Tatsachen aus: Für das Kindes- und Jugendalter typische psychische Erkrankungen wie Autismus und ADHS enden nicht mit dem Übergang ins Erwachsenenalter, sondern treten, viel­ leicht mit einem gewandelten Erscheinungsbild und gewandelten Komor­ biditäten, auch bei Erwachsenen auf.

Typische Krankheitsbilder des Erwachsenenalters wie Schizophrenie oder Alkoholabhängigkeit dagegen sind anders zu beurteilen und haben einen anderen - meist gravierenden - Verlauf, wenn sie in der Kindheit beginnen.

Autismus und ADHS sind in dem Sinne „neue" Erkrankungen, dass sie erst in den letzten Jahrzehnten in den Blickpunkt der medizinischen Öffentlich­ keit gerückt sind. Zwar stammen die Publikationen Kanners und Aspergers aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, doch dauerte es noch bis in die 80iger Jahre, bis das wissenschaftliche und therapeutische Interesse sich diesen Erkrankungsbildern vermehrt zuwandte. Noch länger brauchte es, bis die Erwachsenenpsychiater sich bereit fanden, diese Diagnosen bei ih­ ren Patienten zu stellen. Auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches gibt es nicht wenige Kollegen, die hier sehr zurückhaltend sind und

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Einleitung - Der Blick zurück in die Kindheit

von „Modediagnosen" sprechen. Wenn man aber bei Kindern eine Präva­ lenz von 3% für das ADHS findet und zugleich eine Syndromremission von ca. 60% beschreibt (Seehuber), müssen doch bei Erwachsenen noch große Zahlen von Betroffenen zu finden sein. Eine ähnliche Situation besteht beim Autismus mit einer Gesamtprävalenz von 0,6% bei Kindern, von de­ nen nur ungefähr 50 % eine halbwegs günstige Entwicklung nehmen (Poustka et al.).

Die Tatsache, dass immer wieder neue psychiatrische Erkrankungen auftau­ chen, während andere, wie die Schizophrenie in verschiedenen Kulturen und Zeitaltern relativ konstant zu sein scheinen, spricht im ersten Fall für soziokulturelle Einflüsse. Ein häufig hierfür angeführtes Beispiel ist die Ano­ rexia nervosa. Das Krankheitsbild der Anorexia nervosa, das seit der Erstbe­ schreibung von R. Morton 1689 angeblich in ständiger Zunahme begriffen sein soll, mit einem Schwerpunkt bei höheren sozialen Schichten und zivi­ lisatorisch „weiterentwickelten" Gesellschaften der westlichen Welt. Noch ungeklärt ist die Frage, ob die Zunahme möglicherweise nur eine relative ist. Das würde bedeuten, dass die Akzeptanz vonseiten der Gesellschaft zugenommen hat, die Magersucht als eine ernst zu nehmende Erkrankung, deren Behandlung heute keinen Makel mehr bedeutet, anzusehen. Bei prä­ pubertären Kindern haben die behandelten Fälle seit den 50iger Jahren ste­ tig zugenommen. Gerade in diesem Alter sind Früherkennung und Therapie besonders wichtig (Wöckel). Eine ähnliche Situation haben wir beim selbst­ verletzenden Verhalten, das sich meist zwischen dem 12. und 14. Lebens­ jahr entwickelt (Stirn et al.), das heißt auch hier werden die Weichen für eine günstige oder ungünstige Prognose früh gestellt.

Beim Alkoholismus - und anderen Suchterkrankungen zum Beispiel der Nikotinsucht - ist der frühe Beginn Marker eines ungünstigen Verlaufstyps (Wetterling). Eigenartig ist die Situation bei der Transsexualität. Hier werden nur vereinzelt kindliche Patienten vorgestellt, während die erwachsenen Transsexuellen (in Deutschland etwa 3000-6000 Personen) retrospektiv häufig über geschlechtsatypisches Verhalten und Wünsche berichten (Mey­ enburg und Schneider). Wir haben es also mit drei Beziehungsmustern zwischen kindlichem und erwachsenem Störbild zu tun:

Einleitung - Der Blick zurück in die Kindheit

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1)

die Störung beginnt im Kindesalter und setzt sich bei einem erhebli­ chen Teil der Patienten ins Erwachsenenalter fort - mit entwicklungs­ bedingten pathoplastischen Veränderungen und neu hinzugetretenen Komorbiditäten

2)

die Störung unterliegt starken soziokulturellen Einflüssen und tritt mit Zunahme dieser Einflüsse immer früher bei Jugendlichen und auch Kindern auf

3)

die Störung ist bereits in der Kindheit angelegt, tritt aber erst nach einer längeren Latenzphase im Jugend- oder Erwachsenenalter auf; der frühe Beginn spricht dabei für eine hohe Prozessaktivität und damit schlech­ te Prognose der Erkrankung.

Es lohnt sich deshalb, die ursprünglich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie beschriebenen „neuen" Krankheitsbilder zu kennen. Ebenso lohnt es sich, die frühen Einflüsse aus Kindheit und Jugend auf schon länger etablierte psychiatrische Erkrankungen zu verstehen. Wir wünschen den Lesern die­ ses Buches, dass der Blick zurück auf die Kindheit des psychisch Kranken ihre Tätigkeit in Klinik und Praxis bereichert. Hierzu sollen auch die Kasuis­ tiken (Schlegel et al.) und der Beitrag über Supervisionsgruppen (Völker und Hartwich) dienen.

Arnd Barocka und Peter Hartwich

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Inhalt Autoren..................................................................................................................................10 Fritz Poustka, Sabine Klauck, Annemarie Poustka Autistische Störungen....................................................................................................... 13

Lars Wöckel Essstörungen im Kindes- und Jugendalter................................................................. 45

Aglaja Stirn, Sylvia Oddo, Aylin Thiel, Sebastian Laufer Selbstverletzendes Verhalten.........................................................................................57

Dietmar Seehuber ADHS bei Kindern und Erwachsenen........................................................................69

Tilmann Wetterling Suchterkrankungen in verschiedenen Altersstufen.............................................. 81 Bernd Meyenburg Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter..........................99

Barbara Schneider Geschlechtsidentitätsstörungen im Erwachsenenalter....................................... 105

Siegfried Völker, Peter Hartwich Beitrag einer psychodynamisch arbeitenden Supervisionsgruppe für die psychiatrisch-psychotherapeutische Weiterbildung............................ 115

Peter Wagner, Christoph Schindlmayr, Claus Lotzenius, Sabine Schlegel Einzelfalldarstellung vom Jugend- bis zum Erwachsenenalter........................ 121

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Autoren Barocka, Arnd, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie I, Klinik Hohe Mark, Friedländer Str. 2, 61440 Oberursel Hartwich, Peter, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psy­ chotherapie-Psychosomatik, Städtische Kliniken, Gotenstr. 6-8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Klauck, Sabine, Priv. Doz., Dr. rer. biol. hum., Dipl.-biol., Deutsches Krebs­ forschungszentrum, Abteilung Molekulare Genomanalyse, Im Neuenheimer Feld 580, 69120 Heidelberg Laufer, Sebastian, Kontaktadresse über Frau Dr. Stirn

Lotzenius, Claus, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, MarkusKrankenhaus, Wilhelm-Epstein-Str. 2, 60431 Frankfurt am Main Meyenburg, Bernd, Dr. med., Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Institutsambulanz, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschordenstr. 50, 60590 Frankfurt am Main Oddo, Sylvia, Dipl.-Psychologin, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Poustka, Annemarie, Prof. Dr. phil., Deutsches Krebsforschungszentrum, Abteilung Molekulare Genomanalyse, Im Neuenheimer Feld 580, 69120 Heidelberg Poustka, Fritz, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psy­ chotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der J.W.-GoetheUniversität Frankfurt am Main, Deutschordenstr. 50, 60590 Frankfurt am Main

Schindlmayr, Christoph, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie, Schwarzwald­ weg 16, 65760 Eschborn/Ts.

Schlegel, Sabine, Prof. Dr. med., Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psy­ chotherapie und Psychosomatik. Markus-Krankenhaus, WilhelmEpstein-Str. 2, 60431 Frankfurt am Main

Autoren

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Schneider, Barbara, Priv. Doz. Dr. med., Oberärztin der Klinik für Psychiat­ rie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-GoetheUniversität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Seehuber, Dietmar, Dr. med., Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie 2, So­ zialpsychiatrie und Suchtmedizin, Klinik Hohe Mark, Friedländer Str. 2, 61440 Oberursel Stirn, Aglaja, Priv. Doz. Dr. med., Leiterin Psychosomatik, Klinik für Psy­ chiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main

Thiel, Aylin, Dipl.-Psychologin, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der J.W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt am Main Völker, Siegfried, Dr. med., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse, Uhlandstr. 58, 60314 Frankfurt am Main

Wagner, Peter, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Leiten­ der Oberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psycho­ somatik, Markus-Krankenhaus, Wilhelm-Epstein-Str. 2, 60431 Frank­ furt am Main Wetterling, Tilman, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Vivantes Klinikum Hellersdorf, Myskowitzer Str. 45, 12621 Berlin Wöckel, Lars, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychothe­ rapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der J.W.-GoetheUniversität Frankfurt am Main, Deutschordenstr. 50, 60590 Frankfurt am Main

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Fritz Poustka, Sabine Klauck, Annemarie Poustka

Autistische Störungen Autistische Störungen wurden als „Autistische Störungen des affektiven Kontakts" erstmals von dem aus dem damals österreichischen Galizien gebürtigen amerikanischen Psychiater Leo Kanner (1896- 1981, oberes Bild) 1943 und von dem Wiener Pädiater Hans Asperger (1906- 1980) („Die autistischen Psychopathen im Kindesalter") 1944 beschrieben. Die Schriften von Asperger, die sich auf diese Störung ohne wesentliche Sprachentwicklungsverzögerung bezieht, wurden erst durch die englischsprachigen Zitate ab den 80er Jahren (Lorna Wing, 1981) der breiteren Forschungsgemeinde bekannt und stellen seitdem ein Synonym dar für die „Entdeckung", dass eine bedeutsame Anzahl von Patienten mit Autismus nicht geistig behindert ist, aber durch dieselben tief greifenden Entwicklungs­ defizite gekennzeichnet ist. Der Terminus „High Function­ ing Autism" (HFA), der ebenfalls auf die Beobachtung von L. Wing zurück­ geht, nämlich, dass es Kinder gibt, die autistisch sind, aber zunächst einen schweren Sprachrückstand aufweisen, dann aber eine formal gute Sprache entwickeln, hat nicht in die Klassifikation Eingang gefunden. Heute spricht man von schwerwiegenden autistischen Störungen als „Autismus Spektrum Störungen (ASS) und nimmt dabei Bezug auf die altbekannte Regel, dass Syndrome in dem Schweregrad und der Ausprägung einzelner Symptome immer variieren, wobei ASS insoweit definiert sind, dass sie durch eine be­ handlungsbedürftige, lebenslang bestehende schwere soziale Kommunika­ tionsstörung charakterisiert sind und durch den Mangel von komplexen, sozial bedeutsamen Verständigungsmöglichkeiten.

Diagnostik Autistische Störungen sind gekennzeichnet durch erhebliche Auffälligkeiten in der sozial angemessenen Kommunikation und Interaktion mit anderen. Bedeutsam sind die Schwierigkeiten von Menschen mit Autismus, die Emo­ tionen und vor allem subtiles, durch Körperhaltung, Mimik oder Gestik ver­ mitteltes, Ausdrucksverhalten nach deren sozialer Bedeutung zu erkennen

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

und sich entsprechend darauf einzustellen. Dies bezieht sich auch auf an­ dere Sinnesqualitäten wie die der Intonation oder einer (oft verminderten) Schmerzempfindung. Im Einzelnen werden nach den großen Klassifikati­ onssystemen (ICD-10/DSM-IV) folgende drei Störungsbereiche unterschie­ den (Poustka et al., 2007):

Die qualitativen Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion Dies betrifft ein gestörtes non-verbales Verhalten (monotone Mimik, Gestik, Tonfall), seltene Blickkontakte und weitere interaktiv normalerweise häufig eingesetzte Verhaltensweisen wie soziales Lächeln, subtiles, interaktions­ begleitendes Minenspiel sowie mimischer Ausdruck von Gefühlen.

Dementsprechend ist die Beziehung zu Gleichaltrigen stark beeinträchtigt. Kinder mit Autismus zeigen durchgehend kaum Interesse an anderen Kin­ dern und an Phantasiespielen mit Gleichaltrigen, es fehlen weitgehend die Reaktionen auf Annäherungsversuche anderer und sie sind unfähig, Freundschaften einzugehen (und leiden unter ihrer Isolation). Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit oder Freude mit anderen zu teilen, ist eben­ so beeinträchtigt. Schon als Kleinkinder ist das Unvermögen auffällig, ande­ re nicht auf Dinge lenken zu können, die vom Kind selbst gerade beachtet werden, so dass es nicht gelingt (oder dies auch offensichtlich nicht ange­ strebt wird) andere daran zu interessieren; etwas später während der Ent­ wicklung ist es auch nicht möglich, mit anderen gemeinsame Interessen oder/und in einem Dialog Gemeinsamkeiten herzustellen.

Als Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit werden die unangemes­ sene Annäherungsversuche in sozialen Situationen bezeichnet; sie können kaum trösten; andere Personen scheinen mitunter wie Gegenstände benutzt zu werden. Die qualitativen Auffälligkeiten der Kommunikation (und Sprache) Es bestehen gravierende Probleme eine Konversation zu beginnen und auf­ recht zu erhalten, die Sprache ist oft repetitiv und stereotyp, der Mangel an Fähigkeit zum abwechslungsreichen, imaginären und imitativen Spielen ist eklatant wie auch die Schwierigkeit andere Leute, Situationen zu verstehen, weil deren Emotionen nicht abgelesen werden können (vor allem nicht schwierig zu erkennende) und sich eine Bild oder eine Vorstellung über sie zu machen.

Autistische Störungen

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Etwa ein Drittel der Kinder entwickelt keine oder nur eine unverständliche Sprache und es kommt zu keiner Kompensation der mangelnden Sprachfä­ higkeiten durch Mimik oder Gestik. Bei den unter Vierjährigen (entspre­ chend dem Entwicklungsalter) fällt der Mangel am spontanen Imitieren der Handlungen anderer auf, sie entwickeln kaum phantasievolles (Symbol-) Spielen. Deutlich sind Probleme eine Konversation zu beginnen und auf­ recht zu erhalten, es herrscht häufig ein stereotypes, repetitives oder idiosynkratisches sprachliches Äußerungsvermögen vor. Bei erheblichen Sprachverzögerungen kommt es zu neologische Wortbildungen, es besteht viel länger als bei normal entwickelten Kindern eine Vertauschung der Per­ sonalpronomina und eine verzögerte Echolalie. Ein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation entwickelt sich auch bei gut Be­ gabten selten. Das begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten

Charakteristisch ist das abnormale Festhalten an bestimmten Themen mit einem Haften an nicht-funktionalen Routinen und Ritualen, ferner repetiti­ ve, stereotype motorische Manierismen, das abnorme Festhalten an Details statt am Ganzen und mitunter ein starkes abnormes Interesse an sensori­ schen Eindrücken. Diese Verhaltensmuster zeigen ausgedehnte Beschäftigungen mit stereoty­ pen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen, ein zwanghaftes Festhalten an nicht-funktionalen Handlungen oder Ritualen und oft extrem ängstliche oder beunruhigte Reaktion bei Unterbrechen die­ ser Handlung. Die stereotype und repetitive motorische Manierismen sind Drehen oder Flackern der Finger vor den Augen, Schaukeln, Auf- und Ab­ hüpfen. Die Beschäftigung mit nicht-funktionellen Elementen von Gegen­ ständen zeigt sich durch ein ungewöhnliches Interesse an sensorischen Teilaspekten wie am Anblick, am Berühren, an Geräuschen, am Ge­ schmack oder Geruch von Dingen oder Menschen. Dabei kommen sowohl sensorische Abnormalitäten im Sinne einer Hypo- oder Hypersenisitivität vor.

Der Beginn dieser tief greifenden Störung liegt vor dem Ende des dritten Lebensjahres (vor dem 36. Lebensmonat). Ein späterer Beginn ist häufig ei­ ne Phänokopie autistischer Symptomatik auf der Grundlage anderer (neuro­ logischer) Erkrankungen.

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

Es sollte aber klar sein, dass die einzelnen Phänomene in der Allgemeinbe­ völkerung wahrscheinlich normal verteilt sind. Man spricht von einer autis­ tischen Störung erst, wenn diese Symptomatik zusammen vorkommt und mit einer intensiven Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit im Alltag und bei Anforderungen einhergeht. Wie bei allen Syndromen ist die Variation in der Vorkommenshäufigkeit von Einzelsymptomen auch bei einem eindeutig diagnostizierten Autismus hoch. Dies veranschaulicht die Häufigkeitsangaben der von uns in Frankfurt untersuchten Personen mit Autismus. Einige der Variationen sind unter dem Gesichtspunkt der Komorbidität unterschiedlichen Ausmaßes von geistiger Behinderung und einer Sprachentwicklungsverzögerung verständlich, ande­ re sind nicht dadurch beeinflusst.

Die folgenden Tabellen zeigen, dass (anhand eines Teiles der bisher in Frankfurt untersuchten ca. 550 Personen mit einer autistischen Störung) die einzelnen Symptome eines Symptombereiches sehr unterschiedlich ausge­ prägt sein können, obwohl die Kriterien in diesen Fällen für ein Vollbild des Autismus erfüllt wurden. Außerdem muss man die doch häufige Ko­ morbidität (besonders des hyperaktiven Verhaltens) mit anderen Störungen immer auch beachten, da sie die Kommunikationsfähigkeit und die Interak­ tion immer noch weiter beeinträchtigen.

Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion

4%

vage Auffälligkeit 12%

definitive Auffälligkeit 16%

extreme Auffälligkeit 69%

4%

12%

34%

50%

8%

23%

47%

22%

12% 19%

21% 21%

26% 35%

41% 25%

16%

32%

35%

17%

36%

18%

15

31%

unauffällig Trost spenden (4-5) Interesse an anderen Kindern (4-5) Bedürfnis Vergnügen zu teilen (4-5) Soziales Lächeln (4-5) Direkter Blickkontakt (4-5) Angemessenheit des Gesichtsausdrucks (4-5) Benutzung des Körpers anderer zur Kommuni­ kation (jemals)

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Autistische Störungen

Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation

unauffällig Phantasievolles Spiel (4-5) Gestik (4-5) Spontane Imitation (4-5) Nicken (4-5) Auf etwas zeigen (4-5)

4% 4% 8% 16% 16%

vage Auffälligkeit 8% 13% 15% 9% 21%

definitive Auffälligkeit 20% 31% 10% 74% 13%

extreme Auffälligkeit 68% 52% 67% 1% 50%

Tab. 1 - 2: Unterschiedliche Häufigkeiten einzelner Symptome innerhalb verschiedener Symptombereiche bei eindeutigen autistischen Störungen. Die Darstellungen beziehen sich auf ein N = 255 (320 untersuchte Individuen mit Verdacht auf Autismus aus 268 Fa­ milien, davon 65 nur autistische Züge/FRAX, andere Diagnose oder unauffällig; (Mittel 13,8 Jahre, SD 8,1), diese letzte derartige Auswertung stammt aus dem Jahre 2003.

Qualitative Auffälligkeiten der Sprache

(Nur für zum Zeitpunkt der Untersuchung sprechende PBN, N = 168) vage extreme definitive unauffällig Auffälligkeit Auffälligkeit Auffälligkeit Stereotype Lautäußerungen 9% 19% 63% 9% und verzögerte Echolai ie (jemals) Umkehr von Personalpro­ 25% 31% 28% 16% nomina (jemals) Unpassende Fragen oder 25% 41% 1% 33% Feststellungen Neologismen, ideosynkra37% 49% 15% 0% tische Sprache (jemals) Tab. 3: Auffälligkeiten der Sprache

Komorbidität auf Achse I des MAS der ICD-10

unau a ig

vage Auffälligkeit

definitive Auffälligkeit

extreme Auffälligkeit

Hyperaktivität (jemals)

24%

33%

37%

6%

Ängste* (jemals)

24%

39%

22%

3%

Autoaggression (jemals)

41%

42%

16%

1%

‘ungewöhnlich angstfrei: 12 Tab. 4: Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen

Poustka* Klauck ♦ Poustka

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Repetitives, restriktives und stereotypes Verhalten

unauffällig

vage Auffälligkeit

definitive Auffälligkeit

extreme Auffälligkeit

25%

19%

34%

22%

26%

24%

19%

31%

32% 58%

22% 19%

35% 17%

11% 6%

31%

57%

12%

0%

Hand- und Fingermanie­ rismen (jemals) Repetitiver Gebrauch von Objekten oder Interesse an Details von Objekten (je­ mals) Zwänge/Rituale (jemals) Spezial interessen (jemals) Ungewöhnliches sensori­ sches Interesse (jemals)

Tab. 5: Symptomvariation im Bereich repetitiven und stereotypen Verhaltens.

Prevalence of Autistic Disorder bi-

Prevalence of Autistic Disorder Over Time in 34 Surveys1

50«

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

Year of Publication

4Data f’-orr references 1-34. Median prevalence rate was 8.7 per 10,000 (’‘arge, 0.7 to 46.4). The mean 95% CI was 12.0 (range, 0.3 to 115.9). ’he prevalence rates showed a statistically sTgr ficant (p < .01) correlation with both sample size and publ cation year.

Fombonne. 2005 Abb. 1: Anstieg der Vorkommenshäufigkeit in den Untersuchungen seit den 60er Jahren

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Autistische Störungen

Prävalenz In einer Übersicht von E. Fombonne von 2005 (Abb. 1) werden folgende Häufigkeitsdaten angegeben:

Autistische Störungen

Asperger Syndrom Tiefgreifende Entwicklungsstörung, nicht näher bezeichnet Desintegrative Psychose

Alle autistischen Störungen

13,0 pro 10,000 2,6 pro 10,000

20,8 pro 10,000 0,2 pro 10,000

36,6 pro 10,000

In zwei Bevölkerungsuntersuchungen in Mittelengland haben Chakrabarti und Fombonne (2001, 2005) Prävalenzraten unter Vorschulkinder (Alter: 3 - 5 Jahre) unter allen autistischen Störungen von 0,6% angegeben, wobei zwei Untersuchungen verschiedener Geburtsjahrgänge (1992 - 1995 bzw. 1996 - 1998) praktisch identische Häufigkeiten zeigten (Tab. 6):

Tab. 6: Prävalenz in Mittelengland in zwei unterschiedlichen Geburtskohorten

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

Dies zeigt, dass bei verschiedenen Messungen an unterschiedlichen Popu­ lationen von Kindern (beide im Alter von 3 - 5 Jahren untersucht in dersel­ ben Region und unter Verwendung derselben Messinstrumente) die glei­ chen Prävalenzdaten aufgefunden wurden. Bei einer Hochrechnung würde das bedeuten, dass in den Vereinigten Staaten für die Bevölkerung bis zum Alter von 20 Jahren bei konservativer Schätzung 284.000 Betroffene zu er­ warten sind (35/10.000), die wahrscheinlichere Häufigkeit liegt bei 486.000 (60/10.000).

Die vor einem Jahr veröffentlichte Studie von Baird et al. (Lancet, 2006) gab in einer ebenfalls sehr sorgfältigen Untersuchung mit vergleichbaren Erhe­ bungsinstrumenten eine Prävalenz von 1% bei Autismus-Spektrum-Stö­ rungen an.

Warum es seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart zu einer derart bedeutsamen Erhöhung der Prävalenzzahlen von 4-5/10.000 der Kinderkohorten zu Häufigkeitsangaben von rund 1% gekommen ist, lässt sich am ehesten durch zwei wesentliche Veränderung erklären: Zum einen ist der Kenntnisstand durch die Jetzt verfügbaren Untersuchungsin­ strumente unter Schlüsselpersonen und durch die sichere Klassifikation gut geeignet, um autistische Störungen präziser zu erfassen. Wie schon ein­ gangs beschrieben, hat der Einfluss der Schriften Aspergers erst in den 80er Jahren dazu geführt, gut Begabte mit ASS aufzufinden. Zuvor waren in den Angaben zur Vorkommenshäufigkeit etwa % der Betroffenen auch als geis­ tig behindert beschrieben worden, nun sind es in neueren epidemiologi­ schen Untersuchungen etwa 25 - 50%. Andere Erklärungsmodelle, wie eine Erhöhung der Vorkommenshäufigkeit autistischer Störung („wahre Zunah­ me" in der Bevölkerung etwa durch Impfung mit quecksilberhaltigen Impf­ stoffen gegen Röteln, Mumps und Masern) konnten in mehreren epidemio­ logischen Studien im Vergleich vor und nach Einführung dieses Impfstoffs nicht bestätigt werden: siehe Diskussion in Poustka et al., 2003. Prognose und Autismus im Erwachsenenalter Die besser intellektuell begabten Kinder und Erwachsenen mit einer autisti­ schen Störung sind früher bei einem fehlenden intellektuellen Defizit schlicht übersehen worden. Die Unterschiede in der Prognose jenseits des Kleinkindesalter ist aber von der intellektuellen Leistungsfähigkeit weniger beeinflusst als durch die Ausprägung der Kernsymptomatik. Sie bleibt daher für das Asperger Syndrom bis in das Erwachsenenalter vergleichbar ungüns­ tig, auch im Vergleich mit jenen von Kanner beschriebenen autistischen Störungen in Bezug auf eine Verselbständigung oder der Veränderung der

Autistische Störungen

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lebenslang bestehen bleibenden autismusspezifischen Psychopathologie (Howlin et al., 2004). In diese prospektiven Untersuchung von Howlin et al. wurden siebenjähri­ ge Kinder mit Autismus mit einem IQ < 50 im Mittel 29 Jahr später nach­ untersucht (Bereich der Nachuntersuchungszeit von 21 -48 Jahre). Dabei waren in Bezug auf eine einigermaßen geglückte (aber nicht vollständige) Verselbständigung 12% als sehr gut eingeschätzt worden, 10% als gut, 19% als halbwegs angepasst, aber 46% als schlecht und 12% als sehr schlecht. Die besser Begabten mit einem Asperger Syndrom unterschieden sich nicht in Bezug auf die Prognose. Deutlich schlechter war die Prognose, wenn häufige motorische Stereotypien vorkamen; die Prognose war desto besser je häufiger imitatives Verhalten in der frühen Kindheit vorkam und auch das „soziale Zeigen" gut möglich war (Vergewissern, ob beim Zeigen auf etwas die Bezugsperson auch genau dorthin schaut und Interesse zeigt). Klassifikationsinstrumente Screeninginstrumente können den Verdacht für das Vorliegen von ASS er­ härten, sollten aber eine genaue Untersuchung mit den größeren Untersu­ chungsinstrumenten nicht ersetzen, einerseits um sicher zu gehen, dass die Diagnose auch nach Einschätzung des klinisch versierten Untersuchers stimmig ist und auch, um zu einer breiteren Kenntnis der Schwere in den einzelnen Bereichen besseren Aufschluss zu gewinnen. Dies ist auch wich­ tig für die Behandlung, weil dadurch besondere Schwerpunkte und ange­ passte Hilfen definiert und den Angehörigen auch besser veranschaulicht werden können. Der Screening-Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK) (Bölte & Poustka, 2005) basiert auf dem Social Communication Questionnaire (SCQ; Rutter et al., 2001) und wurde für deutsche Verhält­ nisse validiert.

Testtheoretisch für deutsche Verhältnisse überprüft wurden auch das Eltern­ interview über das (autistische) Verhalten des Kindes (verschiedener Alters­ stufen) und das für die Einschätzung des aktuellen Verhaltens des Kindes anwendbare Beobachtungsinstrument:



Das Diagnostisches Interview für Autismus-Revidiert (ADI-R) (Poustka et al., 1996; Bölte et al., 2006) und die

Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS) (Rühl, Bölte, Schmötzer, Poustka, 2003). Diese Instrumente gelten derzeit als der „Golden Standard" der AutismusDiagnostik. Insbesondere das Interview und das ADOS bedürfen einige kli•

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

nische Kenntnisse über ASS und einiger Übungen. Entsprechende Kurse bietet in Zusammenarbeit mit dem Verlag die Frankfurter Kinder- und Ju­ gendpsychiatrische Klinik mehrmals im Jahr an. Das ADI-R ist ein standardisiertes, semistrukturiertes Elterninterview mit vorgegebenen Kodierungen zu den (etwa 40) Kernsymptomen und häufigen mit dem Autismus zusammen auftretenden, nicht obligaten weiteren Symp­ tomen. Das ADOS, welches sich ja auf die Untersuchung des Kindes direkt bezieht, gibt es in 4 Module: einem vorsprachlichen, einem für Kinder, die in Sätzen sprechen können, für Kinder und Jugendlichen, die fließend spre­ chen und für ältere Jugendliche und Erwachsene (mit direkten InterviewEinschüben). In den ersteren Modulen dominieren einfache Spiele mit ho­ hem Aufforderungscharakter, die auch zur Imitation und gegenseitiger In­ teraktion mit dem Untersucher animieren, um zu einer umfassenden Ein­ schätzung über die Art der sozialen Einschränkungen gelangen zu können. Über weitere Untersuchungsinstrumente informiert der Leitfaden über autis­ tische Störungen (Poustka, Bölte, Schmötzer, Feineis-Mathews, 2003).

Ursachenforschung Genetik Autismus ist eine nicht seltene und genetisch heterogene Krankheit mit ei­ ner Heridität von über 90%. Dafür sprechen die klassischen Untersuchun­ gen der formalen Genetik wie Untersuchungen an Zwillingen und in Fami­ lien. Bei Zwillingen muss ein sehr deutlicher Unterschied in der Häufigkeit gefunden werden, dass beide Zwillinge an Autismus leiden: Diese Überein­ stimmung muss bei eineiigen Zwillingen (MZ) sehr viel häufiger vorkom­ men als bei zweieiigen (DZ), da erstere 100% der Gene gemeinsam haben und zweieiige im Durchschnitt nur 50%. Beim Autismus sind diese Unter­ schiede bedeutsam: Eineiige Zwillinge zeigen eine höhere Übereinstim­ mung als zweieiige (8 - 9fach höher, je nach Schweregrad, Le Couteur et al., 1996). Das Risiko für Geschwister, an Autismus zu erkranken, ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das ca. 50-fache erhöht (Bolton et al., 1994). Diese Befunde weisen auf eine sehr hohe Erblichkeit hin, die einen Einfluss aus der Umwelt außerordentlich gering erscheinen lässt. Al­ lerdings ist von vorneherein die Entdeckung der für den Autismus verant­ wortlichen Gene nicht sehr einfach einzuschätzen gewesen. Schon der Umstand, dass zweitgradige Verwandte kein erhöhtes Risiko zeigen, an Au­ tismus zu erkranken, bedeutet, dass mehrere Gene, die Zusammenwirken

Autistische Störungen

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müssen, an der Erkrankung ursächlich beteiligt sind. Solche komplexen Er­ krankungen mendeln nicht, weil diese Gesetzlichkeiten nur für ein Gen zu­ trifft, nicht aber für mehrere Gene, die wahrscheinlich am menschlichen Genom weit auseinander liegen. Weiter ist anzunehmen, dass diese Gene Zusammenwirken (was Epistase genannt wird), aber jedes einzelne am Au­ tismus beteiligte Gen nur mit einem geringen Effekt. Wahrscheinlich ist ein Geschehen, das epistatische Interaktionen zwischen mindestens 3 bis 4 Genen einschließt (Pickles et al., 1995), obgleich bis zu 15 Gene oder mehr beteiligt sein können (Risch et al., 1999). Nach einigen Studien kommt auch ein gewisses Ausmaß einer sehr „dünnen" Symptomatik, der kein Krankheitswert zukommt oder nur während der früheren Entwicklung als Kind eine gewisse Rolle spielte bei erstgradigen Verwandten vor und ist als milde Abweichung im neuropsychologischen Sinn erfassbar (Bolton et al., 1994; Bailey et al., 1998; Hughes et al., 1997; Baron-Cohen & Hammer, 1997, Happe et al., 2001). Auf deutliche Störungen bezogen, fehlt aber ein Hinweis auf Stammbäume über Generationen oder wenigstens eine Gene­ ration hinweg: Derzeit sind weitere Erkrankungen in Familien, in denen ei­ ne Person einen Autismus hat, nur unter Geschwister bekannt (3 - 6% der Geschwister). Gleichzeitig scheint die familiäre „Belastung" auch Erwach­ sener in Familien mit einem zweiten oder mehreren Kindern mit Autismus (sog. Multiinzidenzfamilien) höher zu sein als in Familien mit nur einem betroffenen Kind (Piven et al., 1997, 1999), was für eine gewisse familiäre, genetische Disposition spricht. Diese Untersuchungen sind die Voraussetzung, um molekulargenetische Untersuchungen durchführen zu können. Sie können als Untersuchungen von Kandidatengenen, Koppelungsuntersuchungen, Assoziationsstudien, Genomscreening durchgeführt werden.

Untersuchungen von Kandidatengenen wurden wegen der entsprechenden Bedeutung des Serotonins beim Autismus (siehe Poustka, 2007) in Genen, die mit dem serotonergen System in Zusammenhang stehen, untersucht, und auch in anderen Regionen. Untersuchungen im mit unserer Klinik in der Autismusforschung kollaborierenden Labor in der Abt. Molekulare Ge­ nomanalyse (Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg), brachten aber keine eindeutigen Ergebnisse (Klauck et al. 1997, Klauck 2006)

Koppelungs-(„linkage")studien sind zum Unterschied zu Assoziationsstu­ dien aus bestimmten Gründen einfacher durchzuführen, weil sie keine Vorannahmen genetischer Vererbungen benötigen. Lediglich eine sichere Diagnose ist notwendig. Sie werden häufig in der Untersuchung des gesam­ ten Genoms mit Hilfe von an Autismus erkrankten Geschwisterpaaren

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

durchgeführt. Dabei wird geprüft, inwieweit bei Geschwistern ein Allel (un­ terschiedlich Ausgestaltung eines Gens am selben Genort, Mutation) über­ zufällig häufig gemeinsam vorkommt. Da bei Geschwistern etwa 50% der Gene identisch sind und, wenn beide erkrankt sind, die die Krankheit ver­ ursachenden Gene in diesen identischen Genen liegen müssen, bei vielen Geschwistern aber immer etwas andere Gene identisch sind, können so bestimmte Genorte eher identifiziert werden (siehe auch Übersicht in Poustka, et al., 2003). Diese Vorgangsweise wird bei der Untersuchung des gesamten menschlichen Genoms (auf allen Genorten auf allen Chromoso­ men) in Form eines sog. Screenings oder Genomscannings durchgeführt. In allen Fällen müssen gut untersuchte Probanden bzw. Familien mit einem oder mehreren Kindern mit Autismus gefunden werden und die geneti­ schen Materialien (DNA aus dem Blut) gewonnen werden. Ergebnisse von insgesamt 11 unabhängigen genomweiten Kopplungsanalysen und vier Folge-Studien an Patientenkollektiven mit Autismus-Spektrum-Störungen. Die vertikalen Balken kennzeichnen die Bereiche mit signifikanten (rot) oder suggestiven (grün, blau) statistischen Ergebnissen. MLS, maximum multipoint Iod score. Klauck et al. 2006

Abb. 2: Kopplungsanalysen; gezeigt werden Regionen am Genom, in denen Gene, die beim Autismus eine Rolle spielen können, aufgefunden werden könnten.

Die molekulargenetischen DNA-Proben der Familien mit einem oder meh­ reren von einer autistischen Störung betroffenen Familienmitgliedern wur­ den zur Durchführung von genomweiten Kopplungsanalysen und Assozia­ tionsstudien mit zielgenauen polymorphen Markern in verschiedenen Ge­ nombereichen untersucht mit dem Ziel, einen Genort mit einem mutierten Gen (Kandidatengen) aufzufinden, in der Hoffnung, damit eine Beteiligung

Autistische Störungen

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am Entstehen des Autismus zu entdecken (Klauck et al., 2007). Die Einbin­ dung der deutschen Arbeitsgruppen in das „International Molecular Genetic Study of Autism Consortium" (IMGSAC) (www.well. ox.ac.uk/~maestrin/iat.html) ermöglichte uns die Beteiligung an mehreren Genome Screens mit DNA-Proben von inzwischen mehr als 300 Familien mit betroffenen Geschwisterpaaren, die unter anderem Genomregionen auf Chromosom 2q, 7q, 16p und 17q in Zusammenhang mit Autismus identifizierten (Klauck et al., 2007). Im aus verschiedenen großen „Genome Screens" - s. Abb. 2 wurden an verschiedenen internationalen Patientenkollektiven auf fast allen Chromosomen des menschlichen Genoms sowohl signifikante wie sugges­ tive positive Kopplungen zu DNA-Markern gefunden. Insbesondere in den Regionen der Chromosomen 2, 3, 7, 16 und 17 wurden in mehreren Stu­ dien auffällig wurden (Abb. 2). Inzwischen haben sich alle größeren Kollaborationen weltweit in einem Konsortien zusammengefunden (Autism Genome Project (AGP) Konsorti­ ums (http://autismgenome.org/)), so auch unsere deutschen Arbeitsgruppen. Damit wurde auch eine sehr aufwendige Koppelungsuntersuchung an 1200 Geschwisterpaar-Familien durchgeführt, was zur Identifikation eines weite­ ren interessanten Genombereich auf Chromosom 11 p12 - p13 führte, der ein Gen für ein Glutamattransporter-Protein enthält (Klauck et al., 2006). Außerdem wurden gleichzeitig mehr als 200 auffällige „Copy number vari­ ations" (CNVs - sehr große, individuell unterschiedliche Genombereiche, die anfällig für Mutationen sind) identifiziert, die weiter analysiert werden (Autism Genome Project Consortium, 2007).

Verminderte Konnektivität zwischen Hirnteilen und Synapsenbildung Konnektivität

In bildgebenden Verfahren wird nicht nur die die Hypofunktion u.a. fronta­ ler und temporaler Hirnteile beschrieben, sondern auch das unterschiedli­ che Wachstum des Gehirns beim Autismus. So kommt es zur sprunghaften Zunahme des Kopfumfangs von normal (oder geringer) auf das 84. Perzentil um das erste Lebensjahr (Courchesne et al., 2003); das Gehirnwachstum ist wahrscheinlich früher, schneller und substanzieller bei den stärker betrof­ fenen Kindern (Courchesne et al., 2001). Im 2.-4. Lebensjahr kommt es zur stärksten Vergrößerung des Volumens der grauen und weißen Substanz in den frontalen and temporalen Lobuli (Carper et al., 2002). Ab dem 5.12. Lebensjahr ist das Gehirn beim Autismus gegenüber normalen Gehir­ nen nicht mehr vergrößert.

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

In MRT-Studien (Querschnitt) ist die weiße Substanz exzessiv in 2. - 3. Le­ bensjahr, danach abnormal reduziert; dies zeigt auch eine abnormale und reduzierte zerebral axonale Konnektion (Courchesne et al., 2001). Es wur­ den sowohl eine Volumenreduktion des Corpus Callosum (Hardan et al., 2000, Piven et al., 1999) als auch reduzierte interregionale Verbindungen in PET-Untersuchungen aufgefunden (funktionell beeinträchtigte Interaktio­ nen zwischen frontalen/parietalen Regionen und dem Neostriatum und Thalamus, Regionen, die der gerichteten Aufmerksamkeit dienen) (Horwitz et al., 1988). Dies und anderes sprechen für eine funktionell beeinträchtigte Interaktion zwischen frontalen und parietalen Regionen und dem Neostria­ tum und Thalamus, Regionen, die der gerichteten Aufmerksamkeit dienen (Horwitz et al., 1988). Daraus kann auf Zusammenhänge von reduzierter weißer Substanz und re­ duzierter funktionale Konnektivtät geschlossen werden sowie in der Konse­ quenz auf eine reduzierte funktionale Integration (Schultz et al., 2000).

Die Hypothese der Störung der Konnektivität im Gehirn von Betroffenen gewinnt bei der ASS als eine wesentliche Ursache immer mehr Bedeutung. Dies wiederum passt sehr gut zur Annahme einer Störung der Bildung von Synapsen und Dendriten.

Synapsenbildung und Dendritenfestigkeit Insbesondere im limbischen System (Hippocampus, Amygdala und Hypo­ thalamus u.a.) zeigen molekulargenetische und morphologische Untersu­ chungen von Patienten mit Autismus, dass es vor allem im Hippocampus zu verminderter Bildung von dendritischen Fortsätzen und damit zu weni­ ger Verschaltungen von Neuronen kommt. Die Basis dafür könnte in der Funktionsstörung von Genen liegen, die an der Synaptogenese von glutamatergen, d.h. erregenden Synapsen beteiligt sind. Dies betrifft Mutationen beim Mutismus in den Neuroligin-Genen NLGN3 und NLGN4X (Jamain et al., 2003), den Verlust des Gens Neurexin 1 (NRXN1) durch Copy Number Variants in zwei Familien (vom AGP Consortium identifiziert), (Klauck et al., 2006), Mutationen im Gen SHANK3 (SH3 and multiple ankyrin repeat domain 3) in drei Familien (Durand und Kollegen 2007). Durch diese Muta­ tionen werden Funktionen bei der Ausbildung von prä- und postsynapti­ schen Strukturen betroffen, da sie maßgeblich an der Synaptogenese von glutamatergen Synapsen beteiligt sind (Abb. 3). Klauck et al., 2006 konnten in zwei Familien mit Autismus zwei unterschiedliche Mutationen im ribosomalen Protein L10 (RPL10) identifizieren, die über eine verminderte

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Autistische Störungen

Translationsrate die Ausbildung von postsynaptischen Dendritenfortsätzen während der Gehirnentwicklung in bestimmten Arealen beeinträchtigen könnte und so zu verminderten Neuronenverschaltungen führt. Diese Hypothese in Bezug auf die Beeinträchtigung der Synaptogenese wird in Zellkultursystemen und in Tiermodellen weiter verfolgt werden.

Autismus

Kontrolle

SHANK3

Syo«pO»ch«r

Vessel Gtuümat

Ribosom

NeuroJig in

RPL10

XZ

Funkbonsvtörung durch Mutation

Abb. 3: Modell zur Erklärung genetischer Ursachen des Autismus bei der Synaptogenese von glutamatergen Synapsen. Mutationen in den gekennzeichneten Genprodukten wur­ den jeweils in wenigen Patienten bzw. Familien mit Autismus gefunden. Aus Klauck et al., 2007

Spiegelneuronen

Bestimmte Neuronen im Gehirn ("Spiegelneuronen") besitzen die Fähigkeit, elektrische Aktivitäten in Nerven zu übertragen, alleine dadurch, dass be­ stimmte Handlungen von einem anderen Menschen ausgeführt werden, also allein durch die Beobachtung einer bestimmten Handlung bei jemand anderem. Fogassi et al. (2005) fanden Spiegelneuronen in der Hirnrinde des unteren Teils im Scheitel lappen beim Affen. Diese wurden unterschiedlich stark erregt, wenn die Affen Bewegungen anderer beobachteten: einmal beim Schnappen nach etwas Essbarem, das in eine Schale gelegt wurde, und ein anderes Mal beim Schnappen nach etwas Essbarem, das aber dann zum Mund geführt wurde. Beim Beobachter wurden die Neuronen stärker erregt, wenn derselben Handlung (Schnappen) das Hinführen zum Mund

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

folgte. Die Neuronen reagierten also auf verschiedene Intentionen unter­ schiedlich: die Absicht des Beobachteten wurden vom Beobachter durch die Spiegelneuronen erkannt, bevor die Handlung des Beobachteten zu Ende geführt wurde.

Experimente, die mit autistischen Personen durchgeführt wurden, zeigen auf, dass wahrscheinlich Defekte der Spiegelneuronen beim Autismus eine Rolle spielen können (Villalobos et al., 2005). Acht männliche Personen mit Autismus und acht Kontrollpersonen wurden mit Hilfe bildgebender Verfahren untersucht. Die Versuchsanordnung war folgende: Die Ver­ suchspersonen beobachteten auf einem Bildschirm eine Hand. Jedes Mal wenn ein Finger dieser Hand mit einem blauen Punkt markiert wurde, soll­ te die Versuchspersonen mit dem gleichen Finger ihrer Hand eine Taste drücken. Wie erwartet zeigten sich bei den Versuchspersonen mit Autismus bedeutsam mehr Probleme, diese Handlungen richtig auszuführen, als bei den Kontrollpersonen. Im Gehirn war ein Mangel an Synchronisierung zwi­ schen den visuellen Bereichen im rückwärtigen Teil des Gehirns (Sehrinde) und dem unteren Teil der Stirnhirnrinde zu erkennen, die mit der Planung von Handlungen zu tun hat; zum Teil bestanden diese Schwierigkeiten dar­ in, dass Spiegelneuronen bei den autistischen Personen nicht aktiviert wur­ den im Unterschied zu den Kontrollpersonen. Dies bedeutet, dass bei die­ ser Versuchsanordnung und den verwendeten Testaufgaben mindestens die langen Verbindungen zwischen den Spiegelneuronen und der Sehrinde be­ einträchtigt erscheinen. Dies kann auch beim Autismus mit zu analogen Schwierigkeiten führen, einfache Handlungen imitieren zu können, aber auch mit anderen Defiziten etwa beim so wesentlichen Imitationslernen beim Spracherwerb.

Dapretto et al. (2005) untersuchten ebenfalls Spiegelneuronen bei gut be­ gabten Kindern mit Autismus und Kontrollkinder. Unter dem MRT imitier­ ten und beobachteten sie die unterschiedliche emotionale Gesichtmimik. Die Kinder mit Autismus zeigten keine Aktivierung der Spiegelneuronen im inferior frontal Gyrus (pars opercularis) und zwar linear zum Schweregrad der autistischen Störung. Vielleicht gibt es in Zukunft Hinweise für weit mehr Spiegelneuronen für verschiedene Wahrnehmungsleistungen, die beim Autismus mit typischen Dysfunktionen dieser Störung in Zusammenhang stehen und weiter mit der verminderten Konnektivität sowie mit einer gestörten Synaptogenese. Dazu sind allerdings noch ausgedehnte Untersuchungen und grundlegende For­ schungen notwendig.

Autistische Störungen

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Sinnvolle Behandlungen Ziel therapeutischer Überlegungen bei ASS liegt auf der Verbesserung der Interaktionsfähigkeit und der Kommunikation, einem möglichst hohen Grad einer Verselbständigung und die Förderung sprachlicher Fähigkeiten. Wei­ tere Ziele sind der Abbau überschüssigen, störenden Verhaltens wie (Auto-)Aggressionen, Hyperaktivität und Rituale und Zwänge, die einen Zugang zum Kind im Alltag und therapeutischen Arbeiten behindern. Mit dem eigenen Kind nicht oder nicht ausreichend kommunizieren zu können, stellt eine derartige hohe Belastung für die Eltern dar, dass alle An­ gebote einer raschen, oft verlockend dargestellten - dramatisch den Zu­ stand verbessernden - oder gar einer heilenden Behandlung gerne aufge­ nommen werden. Oft kommt es dann zu gerade lawinenartigen Anschwel­ len derartiger Angebote, die dann wieder vom Markt verschwinden (Poustka et al., 2003).

Zu den entbehrlichen Maßnahmen gehören z.B. das Hörtraining nach To­ matis, das Skotopische Sensitivitätstraining, die Haltetherapie, die gestützte Kommunikation (Facilitated Communication - es gibt derzeit über 100 me­ thodisch gut geprüfte Untersuchungen dieser Methode mit deutlich negati­ ver Bewertung), ferner Tiefenpsychologische Therapien, Sekretin, Megado­ sen Vitamin B und auch die Delphintherapie (außer man möchte einen schönen, teuren Urlaub mit einem autistischen Kind genießen) um nur ei­ nige zu nennen. Sie verfügen über keine Evaluierung oder wenn, dann ka­ men diese zu negativen Ergebnissen (Poustka et al., 2003).

Dagegen gibt es eine respektable Liste von effektiven oder sinnvolle Thera­ pieansätze im Bereich der Verhaltenstherapie (VT) und psychoedukativer Behandlungen. Im Prinzip gibt es keine kausale Therapie, auch wenn das hin und wieder gerade in manchen unseriösen Angeboten in verführerischer Art angepriesen wird. Da ASS eine lebenslange Störung ist, sind Therapien immer langfristig ausgerichtet oder müssen immer wieder aufgefrischt und zumindest mit fortgesetzter Beratung verbunden werden. Jede Therapie er­ fordert nach genauer Diagnostik je nach Schweregrad der Ausprägung in den oben genannten Symptombereichen entsprechende Programmschritte. Da von ASS Betroffene in der Regel therapeutische Fortschritte in einem bestimmten Setting (ambulant oder tagesstationär) nicht ohne weiteres auf andere Situation übertragen können, müssen Angehörige mit einbezogen werden, auch wegen der erforderlichen Entlastung der Familie. Herausragend sind dabei die am besten evaluierten Therapieprogramme wie ABA (Applied Behavior Analysis, Shaping, Instruktionssysteme

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

(TEACCH) „social skills groups" Theory of Mind - Trainingsprogramme, ggf. Logopädie, begleitende Psychopharmaka (auch mit Stimulantien, Neu­ roleptika, SSRI (Poustka & Poustka, 2007, s. Tab. 7)) sowie ggf. Kranken­ gymnastik mit eingeschränkter Empfehlung als Begleitbehandlung Musik­ therapie und Sport-Reittherapie (besonders bei leichteren Koordinations­ problemen). Kernsymptome des Autismus

Keine Medikation wirksam

Hyperaktivität und Konzentrations­ mangel

Stimulantien (Retardform)

Impulsivität, Aggressionen

Neuroleptika (Risperidone; Aripiprazol)

Zwänge, Ängste, Ritualisierungen

SSRI

Stimmungsschwankungen, Aggressionen

Stimmungsstabilisatoren: Valproat­ säure, Lamotrigin, Lithium

Anfallsleiden (in ca. 20% bei ASS)

Antiepileptika

Tab. 7: Zielsymptome und Stoffklassen

Allerdings gibt es keine Überprüfungen der VT in mehr flexiblen und „un­ konventionellen" Settings. Beispiele neuerer Therapieprogramme

Zwei Beispiele für derartige Bemühungen sollen im Folgenden kurz aufge­ führt werden. Frühförderung

Magiati, Charman und Howlin (2007) stellten die äußerst intensive (und teure) ABA VT von Lovaas (EIBI. Early Intensive Behavioural Interventions) einem Programm gegenüber, das in Gemeindeeinrichtungen, weit weniger aufwändig, implementiert worden waren. 44 Kinder im Alter von 23-53 Monate wurden im EIBI Programm zu Hause behandelt (28 Kinder) oder in sog „autism-specific nursery schools, also in Kindergärten mit speziellen Programmen für Kinder mit ASS; (N = 16)" und der Effekt nach 2 Jahren verglichen.

Autistische Störungen

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Die wesentlichsten Merkmale der Behandlung waren folgende: EIBI Programm

• Alle Kinder erhielten ein 1:1 Training zu Hause. • Für alle Familien wurde ein individuelles Lerntechnik-Verfahren einge­ führt (Lovaas, 2002), 2 Familien wurden später mit einem 'Verbal Be­ haviour' Training vertraut gemacht (Sundberg & Michael, 2001).

• Die meisten Familien (N = 27) nahmen anfangs an einem Workshop von 1 - 3 Tagen teil. • 14 Familien beschäftigten einen Berater und einen Supervisor, 7 hatten einen Supervisor, 3 einen Berater and 2 einen erfahrenen Therapeuten. • Der Berater kam monatlich in die Familie (3 Familien), jeden 2.-4. Monat (9 Familien) oder jeden 5. - 6. Monat (5 Familien); 24 Familien erhielten eine wöchentliche oder 14tägige Supervision. • 20 Familien erhielten Supervision/Beratung von anerkannten ABA Or­ ganisationen aus UK, Norwegen oder USA; die restlichen EIBI Famili­ en wurden von unabhängigen Supervisoren angeleitet. • 8 Familien wechselten wenigstens einmal ihre ABA Organisation oder den Supervisor/Berater. • Meist waren die Therapeuten Psychologiestudenten oder Graduierte oder solche für Sonderpädagogik. Im Durchschnitt arbeiteten 9 Thera­ peuten mit jeder Familie (Bereich von 3-18). • In 23 Familien wurde wenigstens ein Elternteil als Therapeut angeleitet. Spezielle Kindergärten:

• Die Kindergartenkinder wurden zum Zeitpunkt 1 (T1) aus 10 unter­ schiedlichen Kindergärten in die Studie mit eingeschlossen: 7 aus Au­ tismus-spezifischen Kindergärten in einem getrennten Setting. • 3 Autismus-spezifische Einheiten (1 innerhalb einer Regelschule; 2 in­ nerhalb einer normalen Sonderschule).

• Alle Schulen beschrieben ihre edukativen Vorgehensweisen als eklek­ tisch, was die Struktur, sichtbare Kennzeichen, individualisierendes Unterrichten und die enge Zusammenarbeit mit den Eltern betrifft. • Die hauptsächlich angewandten Programme waren: TEACCH basie­ rende Verfahren (Schopler, 1997); PECS (Bondy & Frost, 1994); Maka-

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

ton (Grove & Walker, 1990 - dabei werden Handzeichen und Grafik­ symbole verwendet, um die zwischenmenschliche Kommunikation zu entwickeln) und SPELL (Verschiedene Anleitungen der National Au­ tism Society - NAS, 2001); • Außerdem wurden auch noch andere Entwicklungs- und Verhaltens­ methoden angewandt.

• Das Schüler-Lehrer Verhältnis lag zwischen 1:1 bis 3:1. • Im Schnitt wurden 6 Stunden pro Woche ein 1:1 Unterricht auf diese Weise durchgeführt (der Bereich schwankte zwischen 90 Minuten bis 20 - 25 Stunden pro Woche). Insgesamt lag der Aufwand im EIBI Trainingsprogramm wesentlich höher als im Kindergarten-/Schulprogramm (EIBI Durchschnitt =3,415 Stunden, SD = 444; Kindergarten Durchschnitt = 2,266 Stunden, SD = 533; t = -7.54, p < .001).

Das Ergebnis in Bezug auf kognitive Fähigkeiten, sprachliche Entwicklung, Spielverhalten, adaptive Verhaltensfertigkeiten und nach Schweregrad autis­ tischer Symptomatik waren nicht unterschiedlich nach den zwei Jahren. Lediglich in den mit dem Vineland Adaptive Behavior Scale gemessenen „Tägliche Lebensfertigkeiten" waren die EIBI Kinder etwas besser (allerdings waren die im EIBI Programm aufgenommenen Kinder schon anfangs in ih­ ren intellektuellen Fähigkeiten deutlich höher gewesen). Die interindividu­ elle Schwankungsbreite war sehr breit, auch was die Verbesserung der au­ tistischen Kernsymptomatik betraf. Die Autoren um Prof. P. Howlin (Howlin et al., 2007) hatten auch eine kri­ tische, kontrollierte Studie mit Kindern in einem ähnlichen Schulsetting durchgeführt. Ziel war die Wirksamkeit eines Pictogrammlernens mit Hilfe des PEC-Systems (Pictures Exchange Communication System) zu überprü­ fen. Sie fanden deutliche Erfolge, dass Kinder im täglichen Umgang dieses System anwenden lernten, diese Anwendung verminderte sich aber wieder, wenn die Aktivitäten endeten. Außerdem kam es zu keiner Verbesserung anderer kommunikativer Fertigkeiten.

Diese Bemühungen aus einer großen Reihe anderer zeigen, wie mühsam, aber durchaus erfolgreich und differenziert sich solche gezielten Evaluatio­ nen auf diesem Gebiet darstellen, sich aber auch, dank einer detaillierten Beschreibung „exportieren" und damit lehren lassen.

Autistische Störungen

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Gruppentherapie für gut begabte Kinder und Jugendliche mit ASS Ausgehend von der „Theory of Mind" haben wir in Frankfurt ein Compu­ terprogramm entwickelt, mit dessen Hilfe das „Gesichterlesen" ermöglicht werden soll (Frankfurter Training des Erkennens des fazialen Affekts (FEFA), Feineis-Matthews S., Bölte S., Poustka F. 2002; Bölte, Feineis, Poustka, 2001; Bölte & Poustka 2003).

Die „Theory of Mind" ToM ist ein Sammelbegriff für ein weitreichendes Spektrum mentaler Fähigkeiten, die für einen erfolgreichen Ablauf sozialer Interaktionen von Relevanz sind. Es werden darunter allgemein Kognitio­ nen verstanden, die es einer Person ermöglichen, fremdes und eigenes Verhalten und Erleben (z.B. Absichten, Vorstellungen, Ideen, Gefühle, Ge­ danken, Wünsche) zu erkennen, zu verstehen, zu erklären, vorherzusagen und zu kommunizieren. Diese Theorie ist eine dominierende (neuro-) psychologische Theorie des Autismus. Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigt Defizite im „mind-reading" bei autistischen Störungen („mindblindness"). Kinder mit Autismus zeigen bereits früh keine Präferenz für „Menschliches" (z.B. Stimmen versus Geräusche oder andere akustische Stimuli) und das Erkennen von emotionalem Ausdrucksvermögen ist beim Autismus stark reduziert. Es gibt auch zahlreiche Untersuchungen mit Hilfe des MRT (Magnetresonanztomografie), dass eine mindere Aktivierung im rechten Temporallappen (Gyrus fusiforme) bei der Aufgabenstellung Emoti­ onen von Gesichtern zu erkennen zeigt (Hubl et al., 2003); auch nach er­ folgreichen Training mit Hilfe der FEFA lässt sich dieser Mangel nicht sozu­ sagen biologisch kompensieren (Bölte et al., 2006), wie beide Arbeiten aus unserer Klinik zeigen. Zum anderen wurde ein manualisiertes, strukturiertes GruppentherapieProgramm entwickelt, in dem das FEFA-Programm ebenfalls integriert wur­ de (Herbrecht und Poustka, 2007; Herbrecht et al., im Druck).

Die Gruppenzusammensetzung besteht aus 5 - 6 Kindern und Jugendlichen mit autistischer Störung (meist mehr Jungen als Mädchen), Altersspanne: 12 - 15 Jahre, IQ > 85. Zwei Therapeuten sind während der Gruppenstunde jeweils anwesend, die sich im Verlauf eines Zyklus abwechseln. Die Rah­ menbedingungen sind: Wöchentliche Treffen, Dauer 1,5 Stunden, Grup­ penzyklus von 5 Therapiestunden. Eine Elterngesprächsrunde findet am En­ de eines Zyklus statt.

Hypothesen waren, gestützt auf vorhandene Publikationen, dass dieses Training in Gruppen die sozialen Fertigkeiten verbessert und die klinische Kernsymptomatik des Autismus deutlich verbessert wird. Dies sollte durch

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

die Kinder und Jugendlichen selbst als Gruppenmitglieder so eingeschätzt werden können (in- und außerhalb der Gruppe), aber auch durch die Ein­ schätzung von Eltern, Lehrer und unabhängigen Experten. Design zur Pilot-Evaluation der Autismus-Gruppentherapie: Statusdiagnostik

Einschlusskriterien: ADI-R, ADOS, Raven/PPVT: Autismus-Spektrum-Störung (F84.X), IQ >70 Gruppen

Experimentalgruppe (N = 6/7)(ohne früheres Training: Kinder) Kontrollgruppe 1 (N - 7/8)(gemischte Gruppe; Probanden mit und ohne früheres Trai­ ning: Jugendliche) Kontrollgruppe 2 (N = 4)(mit früherem Training: Jugendliche) Prozessdiagnostik

Messzeitpunkt 1 (sofort nach Herbstferien) Checkliste zur Beurteilung von Gruppenfertigkeiten (CBG)(Trainer über Teilnehmer)

Soziale Kompetenzskala (SKS)(Eltern über Teilnehmer) Fragebogen zur Erfassung des Gruppenverhaltens (FEG)(Lehrer über Teilnehmer)

Eltern-Kurzinterview zur Erfassung autistischen Verhaltens (~PIA-mini)

ICD-10 Checkliste DCL-Autismus GAF (ICD-10, Achse VI)

Beobachtungsskala prosozialen Verhaltens (Gruppenevaluation)("Eingangrunde", video­ gestützt) Messzeitpunkt 2

Checkliste zur Beurteilung von Gruppenfertigkeiten (CBG)(Trainer über Teilnehmer)

Soziale Kompetenzskala (SKS)(Eltern über Teilnehmer)

Fragebogen zur Erfassung des Gruppenverhaltens (FEG)(Lehrer über Teilnehmer) Messzeitpunkt 3 Checkliste zur Beurteilung von Gruppenfertigkeiten (CBG)(Trainer über Teilnehmer)

Soziale Kompetenzskala (SKS)(Eltern über Teilnehmer)

Fragebogen zur Erfassung des Gruppenverhaltens (FEG)(Lehrer über Teilnehmer)

Messzeitpunkt 4, nach Beendigung Checkliste zur Beurteilung von Gruppenfertigkeiten (CBG)(Trainer über Teilnehmer) Soziale Kompetenzskala (SKS)(Eltern über Teilnehmer)

Fragebogen zur Erfassung des Gruppenverhaltens (FEG)(Lehrer über Teilnehmer)

Eltern-Kurzinterview zur Erfassung autistischen Verhaltens (- PIA-mini)

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ICD-10 Checkliste DCL-Autismus

CAF (ICD-10, Achse VI) Beobachtungsskala prosozialen Verhaltens (Gruppenevaluation) Messzeitpunkt 5 (Katamnese, nach 3 - 4 Monaten)

Checkliste zur Beurteilung von Gruppenfertigkeiten (CBG)(Trainer über Teilnehmer) Soziale Kompetenzskala (SKS)(Eltern über Teilnehmer)

Fragebogen zur Erfassung des Gruppenverhaltens (FEG)(Lehrer über Teilnehmer)

Eltern-Kurzinterview zur Erfassung autistischen Verhaltens (~PIA-mini) ICD-10 Checkliste DCL-Autismus

GAF (ICD-10, Achse VI)

Beobachtungsskala prosozialen Verhaltens (Gruppenevaluation)

Gruppentraining, Übersicht über die Inhalte:

Allgemeine Prinzipien I: Gleichbleibender Ablauf, Wechsel zwischen The­ orie und Praxis, Festlegung von Regeln für die Gruppe, Schwierigkeitsgrad der Themen u. Rollenspiele steigt sukzessive an. Allgemeine Prinzipien II: Feedback durch die Gruppenleiter und auch der Teilnehmer Wünsche/Themenvorschläge für die darauf folgende Stunde bzw. den nächsten Zyklus letzte Stunde: Zusammenfassung des Themen­ blocks. Therapiebausteine Blitzlicht: „Wie es mir heute geht ...{"/Gesichter erken­ nen (FEFA)/Themenzentrierte Gruppengespräche (übliche)/Kinder-Gruppenspiele, Rollenspiele, Gruppenaktivitäten, Hausaufgaben/Abschluss-Blitzlicht.

Therapiebaustein Spiele: Interaktionsspiel zum Aufwärmen (z.B. „Zublin­ zeln" „Obstkorb" „Was hat sich verändert?", ferner Kettenfangen, Schatzsu­ che, Kontaktspiel. Therapiebaustein: FEFA („Gesichter erkennen")/Training zur Erkennung der Grundemotionen zunächst anhand der Gesichter, später anhand von Au­ genpaaren. Einer der Teilnehmer übernimmt die Diskussionsleitung - Dis­ kussion in der Runde. Therapiebaustein Gesprächsthemen: Beispiele sind: Was bedeutet Freund­ schaft? Wie verabrede ich mich? Wie kläre ich einen Streit? Ferner: Hobbys vorstellen/Soziale Regeln in verschiedenen Situationen/Einsatz und Bedeu­ tung von Körpersprache.

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Poustka* Klauck ♦ Poustka

Therapiebaustein Gesprächsthemen (Beispiele): Was tun andere, das mich ärgert? Angemessenes Begrüßen und Verabschieden; Rückfragen; unpas­ sende Fragen; Häufigkeit der telefonischen Kontakte. Therapiebaustein Rollenspiel: Definition der Situation; Rollenverteilung; Spielphase Austausch und Feedback; Vermittlung von „Einsicht"; Einüben alternativen Verhaltens. Spielphase wiederholen!

Therapiebaustein Hausaufgaben: Training zur Selbst- und Fremdwahrneh­ mung: Erlebte Situationen beschreiben/Zugehörige Gefühle (Grundemotio­ nen) identifizieren und beschreiben/Übung der Kontaktaufnahme: Jeman­ den anrufen, sich verabreden. Therapiebaustein Gruppenaktivität: Eisessen, Spaziergang, Museum, Ein­ käufen gehen.

Ziel ist es, eine gute Akzeptanz der Teilnehmer zu erhalten, positive Rück­ meldung von den Probanden und Zunahme an Interaktion zwischen den Teilnehmern mit merklicher Verhaltensverbesserung, besserer Verbalisati­ ons- und Kontaktfähigkeit und eine durch die Eltern eingeschätzte Verbes­ serung des Verhaltens zu Hause mit Verständnis zum Perspektive-Wechsel, Entstehen von Kontakten untereinander, also außerhalb der Gruppe. Prob­ lematische Aspekte sind die Fähigkeit zur Mitarbeit in der Gruppe, die durch die autismusspezifische Symptomatik teilweise erheblich beeinträch­ tigt ist. Außerdem ist auch in dieser Beziehung mit einer Inhomogenität der Gruppe hinsichtlich des Funktionsniveaus zu rechnen. Daher kann es so­ wohl zu einer Unter- wie auch Überforderung einzelner Gruppenmitglieder kommen. Eine übende Wiederholung (Boostersessions) ist in hohem Maß nötig, auch wegen der schwierigen Generalisierung in Situationen des täg­ lichen Lebens außerhalb der Gruppe. Ergebnisse:

Die Teilnehmer zeigten ein breites Spektrum von Verbesserungen auf den angewandten Skalen. Die Effektstärken (Cohen's f) reichten von .33 bis 1.49. Regressionsmodelle veranschaulichten einen positiven Effekt auf Kognition, sprachliche Fähigkeiten und soziale Fertigkeiten. Trotz einiger Begrenzungen zeigt sich damit das manualisierte Vorgehen („KONTAKT") als wirkungsvoll, um soziale Fertigkeiten für Kinder und Jugendliche mit ASS zu fördern und die autismusspezifische Psychopathologie zu vermin­ dern und zwar nicht nur während des Gruppengeschehens, sondern eben auch im Alltag in der Familie und in der Schule, sowie bei der Anbahnung von Kontakten (Herbrecht und Poustka 2007, Herbrecht, Bölte und Poustka, 2007; Herbrecht et al., im Druck).

Autistische Störungen

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Konklusion Autismus ist eine lebenslang bestehende Störung, die vor allem einen sozial befriedigenden Kontakt stark beeinträchtigt. Die Beschreibung der Symp­ tomatik ist eine der klarsten in der Psychopathologie überhaupt, es gibt ei­ nen international akzeptierten Standard der Diagnostik.

Mittlerweile sind deutliche Anzeichen der Grundlage der Störung in der Hirnpathologie zu erkennen mit herabgesetzter Konnektivität, dem weitge­ henden Fehlen von Spiegelneuronen und Hinweisen für eine gestörte Sy­ naptogenese. Von den neuropsychologischen Theorien bildet die Theory of Mind u.a. ein grundlegendes Verständnis, wie auch in zielführenden The­ rapien geholfen werden kann, indem man die erfassten, spezifischen Defi­ zite versucht zu vermindern. Auch wenn dies nicht zu einer Heilung führt, wird doch ein hohes Maß einer Verselbständigung in vielen Fällen erreicht. Es wäre dringend anzuraten, dass diese Fülle von Erkenntnissen auch in die Psychiatrie verstärkt Eingang finden, damit auch vermehrt Erwachsene mit einer Autimsus-Spektrum-Störung (ASS) kompetenten Zugang zu oft not­ wendigen Kriseninterventionen wie auch länger dauernder Betreuung und Beratung finden.

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Lars Wöckel

Essstörungen im Kindes- und Jugendalter Die Symptomatik der Essstörungen ist schon seit dem Altertum bekannt. Zunächst ist die Anorexia nervosa als Störungsbild beschrieben worden. Dass der Fokus lange Zeit nur auf der Anorexie lag, hatte mehrere Gründe. Zum einen sind die Nahrungsrestriktion und der Zustand der Mangelernäh­ rung sehr offensichtlich. Weiterhin ist die Prognose der Erkrankung mit ei­ ner relativ hohen Mortalitätsrate sehr ungünstig. Letztlich stehen Angehöri­ ge, Therapeuten und Institutionen dem Problem Essstörung oftmals hilflos gegenüber. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Bulimie erstmals als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben. Die Binge-EatingStörung ist im DSM IV als Vorschlag für eine neue Kategorie einer Essstö­ rung mit Episoden von Essanfällen und begleitendem KontrollVerlust enthal­ ten und wird voraussichtlich als neue Kategorie im ICD-11 übernommen werden. Für die diagnostischen Kriterien der einzelnen Störungen verweise ich auf die einschlägige Literatur (ICD-10, DSM IV). Eine differenzierte Be­ schreibung u.a. der Leitsymptome, der störungsspezifischen Diagnostik und der Interventionen für Kinder und Jugendliche findet sich in den Leitlinien der Gesellschaft (Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 2007).

Epidemiologie Typischerweise manifestieren sich die Essstörungen während der Adoles­ zenz oder im frühen Erwachsenenalter. Seltener liegt der Beginn der Ano­ rexie oder der Bulimie vor der Pubertät, wenngleich die präpubertäre Ano­ rexie häufiger ist, als altersäquivalente bulimische Essstörungen. Im Gegen­ satz dazu, kann das Auftreten einer Binge-Eating-Störung bereits im Vor­ schulalter beobachtet werden. Im nordamerikanischen und europäischen Raum ist seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts eine kontinuierliche Zunahme der Inzidenz der Anorexie in der Gruppe adoleszenter Jugendli­ cher und junger erwachsener Frauen zu beobachten (von 20/100 000 auf über 50/100 000 Personen) (Übersicht Herpertz-Dahlmann et al., 2005). Auch bei den präpubertären anorektischen Jugendlichen findet sich seit den

46

WÖCKEL

50er Jahren eine stetige Zunahme der Inzidenz. Die Prävalenz adoleszenter Schulmädchen wird mit 0,5% angegeben und die Prävalenz junger Frauen liegt, je nach Studie, zwischen 0,2 bis 0,9%. Bei der Bulimie liegen die Be­ rechnungen für die Prävalenz zwischen 0,2 bis 0,5% für adoleszente und bis zu 4,5% für junge Frauen. Allerdings ist die Dunkelziffer für die Buli­ mie, wegen der oftmals versteckten Symptomatik, vermutlich höher. Für die Binge-Eating-Störung ist die Studienlage noch gering. Die Inzidenz wird bei Frauen auf 1,8 bis 4,6 geschätzt. Angaben zu Jugendlichen fehlen noch. Einen Orientierungspunkt bietet die Inzidenz der Adipositas bei jungen Frauen, die zwischen 5 bis 10% liegt. Die Häufigkeit des Binge-Eating liegt sicherlich niedriger als die Prävalenz der Adipositas.

Für das Verständnis zur Entstehung von Essstörungen ist es wichtig, epide­ miologische Daten zu Auffälligkeiten beim Essverhalten und bei kognitiven Einstellungen zur Nahrungsaufnahme zu erfassen, ohne dass die Kriterien für eine Essstörung bereits erfüllt wären. Befragt nach restriktivem Essverhal­ ten, Ess- und Brechanfällen, dem Durchführen von Diäten und Verhaltens­ weisen, die auf das Körperbild bezogen sind, gaben in den Studien von Hill et al. (1994) und Schur et al. (2000) bereits 30 bis 50% der befragten ge­ sunden Neunjährigen an, weniger wiegen zu wollen und 15 bis 20% hat­ ten bereits schon mindestens einmal versucht, an Gewicht zu verlieren. In der Untersuchung von Rodriguez et al. (2001) wiesen ca. 46% der normal­ gewichtigen Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren Veränderungen im Essverhalten auf. Nach der Studie von Neumark-Sztainer & Hannan (2000), in der über 6700 Jugendliche der Klassenstufen 5 bis 12 befragt wurden, berichteten ca. 4% der Jungen und 9% der Mädchen über täglich auftreten­ de Ess- und Brechanfälle.

Geschlechtsunterschiede Die Essstörungen treten bei Frauen bzw. Mädchen allgemein häufiger auf, als bei Männern bzw. Jungen. Je nach Fragestellung finden sich jedoch be­ trächtliche Unterschiede. Bei der Anorexie wird das Verhältnis zwischen Frauen und Männern mit 10:1 angegeben. Wenn die Kriterien der ICD-10 bzw. des DSM IV für die Anorexie nicht voll erfüllt sind, sondern auch aty­ pische anorektische Varianten miteinbezogen werden, ändert sich das Ver­ hältnis von Frauen zu Männern auf 2:1. Ein deutlicher Unterschied ist au­ ßerdem mit dem Beginn der Anorexie vor und nach der Pubertät festzustel­ len. Das Verhältnis Mädchen zu Jungen beträgt 2,3:1 präpubertär und 19:1 postpubertär. Insgesamt ist die Variabilität der Prävalenzraten für männliche

Essstörungen im Kindes- und Jugendalter

47

Jugendliche sehr hoch. Eine ähnliche Situation findet sich bei der Bulimie. Das Verhältnis Frauen zu Männern beträgt 7:1 bis 10:1. Werden atypische Formen der Bulimie miteinbezogen, ändert sich das Verhältnis wiederum zu Ungunsten der Männer auf 2,9:1 (Frauen: Männer). Für die Binge-EatingStörung beträgt das Verhältnis Frauen zu Männern 3:2. In einer epidemio­ logischen Studie von Johnson et al. (2001) an Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren wurden bei keinem Studienteilnehmer die vollen Kriterien des Binge-Eating erfüllt. Allerdings wurde das Auftreten von Essanfällen bei Mädchen im Vergleich zu Jungen im Verhältnis von 2:1 beobachtet. Eine Übersicht findet sich bei Muise et al. (2003). Geschlechtsunterschiede finden sich bei dem Beginn der Erkrankungen (siehe Abb. 1). Das Alter der Erstmanifestation für die Anorexie bei Jungen bzw. Männern reicht von der Präpubertät bis in die zweite Hälfte des drit­ ten Lebensjahrzehnts. Allerdings wird von mehreren Untersuchern be­ schrieben, was sich auch mit eigenen Beobachtungen deckt, dass anorekti­ sche Jungen im Vergleich zu Mädchen relativ spät eine Behandlung auf­ nehmen. Auch ist die Behandlungsbereitschaft geringer. Möglicherweise liegt das an einer geringeren Akzeptanz dieses Störungsbildes für das männ­ liche Geschlecht oder auch an einer Fehleinschätzung durch die Eltern und aufgesuchter Institutionen. Bei den bulimischen Essstörungen beginnt die typische Erstmanifestation bei den Männern erst nach dem Erkrankungsgip­ fel der weiblichen Jugendlichen am Ende des zweiten und im dritten Le­ bensjahrzehnt.

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WÖCKEL

Erkrankungsbeginn

Alter (Jahre)

30 29 -

Bulimie Anorexie

28 -

27 26 25 -24 -

23 22 21

-

20— 19 18 ~ 17 16 -

15 --

o ■



14 ~ 13 ~ 12 -

11 -

10 — 9 8 6 5 --

Abb. 1: Zeitspanne für das Auftreten der Ersterkrankung der Anorexie (durchgezogene Li­ nien) und der Bulimie (gepunktete Linien) bei Jungen/Männern (linke Seite) und Mädchen/ Frauen (rechte Seite).

Männlich versus weiblich Was macht den Unterschied aus? Grundsätzlich ist die klinische Symptomatik der Anorexie, der Bulimie und der Binge-Eating-Störung zwischen Männern und Frauen sehr ähnlich. Un­ terschiede zeigen sich in der Anwendung aktiver Maßnahmen zur Ge­ wichtsreduktion. Bei Männern ist seltener ein Missbrauch von Laxantien bzw. Abführmitteln zu beobachten. Hingegen fallen anorektische Männer bzw. männliche Jugendliche häufiger durch körperliche Hyperaktivität bzw. exzessive körperliche Betätigung auf. Bulimische Männer erleben Ess­ anfälle als weniger belastend, weshalb kontrollierende Maßnahmen zur Regulation des Essverhaltens bei ihnen weniger ausgeprägt sind als bei weiblichen Bulimikerinnen. Der erste Häufigkeitsgipfel ist für die Anorexie eng an die Pubertät ge­ knüpft. Da in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung zu beobachten ist, dass der Beginn der Pubertät immer früher einsetzt, hat sich auch das Alter der Erstmanifestation der Anorexie bei Mädchen nach vorne verschoben, so

Essstörungen im Kindes-

und Jugendalter

49

dass immer häufiger der Beginn zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr liegt. Die später einsetzende Pubertät bei den Jungen wird auch für den späteren Beginn der Anorexie beim männlichen Geschlecht als Erklärung herangezogen. Die Hormone der gonadotropen Achse sind bei männlichen anorektischen Patienten während der Phase der Unterernährung gleicher­ maßen vermindert wie bei weiblichen anorektischen Patientinnnen. Zusätz­ lich ist das Testosteron deutlich vermindert.

Weil gesunde Mädchen während der Adoleszenz im Vergleich zu Jungen einen höheren Körperfettanteil ausbilden und gleichzeitig über einen nied­ rigeren Grundumsatz verfügen, ist die Dynamik von Änderungen des Kör­ pergewichts und der Körperproportionen ganz verschieden von gleichaltri­ gen Jungen. Die Ausbildung des Körperfettanteils sistiert bei den Jungen noch während der Adoleszenz oder bildet sich sogar zurück. Bei den Mäd­ chen hingegen nimmt dieser Anteil kontinuierlich zu. Der Körperfettanteil bei 16-jährigen Mädchen beträgt bis zu 27% des gesamten Körpergewichts und erklärt die Unzufriedenheit mit der Figur und dem Gewicht gerade während der Zeit um die Pubertät herum. Über 50% der weiblichen Ju­ gendlichen wünschen sich schmalere Hüften, Oberschenkel oder eine schmalere Taille. Hieraus leiten sich für Mädchen und junge Frauen Kogni­ tionen bezüglich selektiver Nahrungsmittelwünsche und ein restriktives Essverhalten ab (Castro & Goldstein, 1995), woraus sich eine höhere Prä­ disposition für die Entwicklung von Diätverhalten und daraus von Ess- und Brechanfällen ergibt. Eine weitere geschlechtsspezifische Beobachtung betrifft die sexuelle Ent­ wicklung. Den Ergebnissen einiger - jedoch nicht aller - Untersucher zu­ folge, ist die Prävalenz für eine homosexuelle Entwicklung bei Männern mit Essstörungen erhöht. Je nach Autor schwanken die Angaben zwischen 25% bis 42% für die Anzahl der Männer, die homo- oder bisexuelle Kontakte haben (Carlat et al., 1997; Herzog et al., 1984). Frauen mit Essstörungen weisen hingegen keine erhöhte Rate für Homosexualität auf.

Ätiologie und Risikofaktoren Nach Fichter (2005 & 2006) sind drei Faktorencluster für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Essstörungen von Bedeutung. Es handelt sich um soziokulturelle, persönliche und biologische Faktoren. Zu den erst ge­ nannten Faktoren gehören u. a. das über öffentliche Medien, die Familie und Peers vermittelte Schlankheits- und Fitnessideal, kulturelle Gewohnhei­ ten und Vorstellungen, häufiges Diätverhalten in der Familie und der Be-

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troffenen selbst, ein niedriges Selbstwertgefühl, Perfektionismus und zwanghafte Züge (bei der Anorexie), Angsterkrankungen der Betroffenen, Übergewicht während der Kindheit (vor allem bei der Bulimie), eine früh einsetzende Menarche und familiäre Faktoren (bestimmte Verhaltensweisen der Eltern, wie z.B. überbehütendes und ängstliches Verhalten von Eltern anorektischer Jugendlicher, Essstörungen, Depressionen, Angsterkrankun­ gen und Substanzmittelmissbrauch bei Familienangehörigen) (Fairburn & Harrison, 2003; Halmi, 2005). Risikofaktoren, die besonders bei Männern für die Entstehung von Essstörungen eine Rolle spielen, sind ein prämorbi­ des Übergewicht, das Betreiben von Sport bzw. übermäßiger körperlicher Betätigung und eine Alkoholkrankheit bei einem Elternteil während der Kindheit des Jungen.

Zum biologischen Faktorencluster zählen zum einen die genetischen Be­ funde. Für Essstörungen konnte eine hohe Konkordanzrate monozygoter Zwillinge festgestellt werden. Assoziationsstudien weisen einen Zusam­ menhang zwischen dem Serotonin-Rezeptorgen (5-HT2a) (Gorwood et al., 2003) und dem Östrogenrezeptor ß-Gen mit der Anorexie bzw. bei letzte­ rem Gen auch mit der Bulimie auf. Zum anderen gibt es zahlreiche Neu­ rotransmitter, Hormone und Peptide, die das homöostatische Netzwerk von Hunger und Sättigung regulieren (siehe Abb. 2). Ein Missverhältnis in die­ sem Regulationssystem kann das Auftreten von Essanfällen oder Diätphasen begünstigen und aufrecht erhalten (Wöckel & Schmidt, 2002). Schließlich sind noch die starvationsbedingten Folgen zu nennen - die somatischen Veränderungen, die erst infolge der Unterernährung entstehen und zu lang­ fristigen schwerwiegenden Komplikationen einer Anorexie führen können. Dazu gehören kardiale Störungen, Erkrankungen abdominaler Organe, die Pseudoatrophie des Gehirns und die Osteoporose. Die beiden letztgenann­ ten Komplikationen stellen für Jugendliche eine besondere Gefahr dar. Das Gehirn ist erst mit Beginn des Erwachsenenalters ausgereift. Eine Mangeler­ nährung während der Adoleszenz führt zum Membranumbau von Nervenund Gliazellen. Während der Pubertät wird ungefähr die Hälfte der Kno­ chenmasse gebildet. Wenn diese Phase von einer Anorexie begleitet wird, besteht die Gefahr der Ausbildung einer dauerhaft reduzierten Knochen­ dichte.

Essstörungen im Kindes- und Jugendalter

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Abb. 2: Vereinfachtes Schema des Regulationskreises zur Nahrungsaufnahme. Hunger und Sättigung werden durch die im ZNS gebildeten Faktoren Neuropeptid Y und Seroto­ nin gesteuert. Durch periphere Hormone und andere Mediatoren, wie z.B. Leptin, Insulin, Kortikosteroide und Zytokine, findet eine Kontrolle des ZNS über einen FeedbackMechanismus statt. Hemmende Einflüsse sind schwarz und aktivierende Einflüsse sind weiß gekennzeichnet. Die Abbildung wurde modifiziert nach Wöckel & Schmidt (2002).

Therapie Obwohl das Interesse an dem Störungsbild Anorexie recht hoch ist, gibt es nur verhältnismäßig wenige evidenzbasierte Psychotherapiestudien zu die­ sem Störungsbild (Fichter 2005 & 2006). Bei Jugendlichen ist im Vergleich zu Erwachsenen die Datenlage deutlich schlechter. Insgesamt zeigt sich, dass fokal psychoanalytische, kognitiv analytische, verhaltenstherapeutische, kognitiv verhaltenstherapeutische und familienorientierte Verfahren wirk­ sam sind und sich in ihrer Wirksamkeit voneinander nicht wesentlich un­ terscheiden. Für jugendliche Magersüchtige wurde ein Wirksamkeitsnach­ weis in familienorientierten Verfahren erbracht. Anders stellt sich die Situa­ tion bei der Bulimie und dem Binge-Eating dar. Hier liegen mehr evaluierte Studien vor. Besonders gut dokumentiert sind die Wirksamkeitsnachweise für die kognitive Verhaltenstherapie und die interpersonale Therapie.

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WÖCKEL

Zusätzlich zu den psychotherapeutischen Verfahren stehen die Ernährungs­ beratung und die Gewichtsrestitution mit einer Normalisierung des Essver­ haltens im Vordergrund. Zu Beginn der Therapie werden Zielvereinbarun­ gen getroffen. Dazu zählen u.a. das Erreichen eines altersentsprechenden Body Mass Index (BMI) zwischen 18 bis 19 kg/m2 und eine durchschnittli­ che wöchentliche Gewichtszunahme, beispielsweise von 700 gr./Woche (Herpertz-Dahlmann et al., 2005). Die Behandlung wird von einem Kontin­ genzmanagement begleitet. Neben einer ausführlichen Ernährungsanamne­ se mit dem Erstellen so genannter „schwarzer" Listen für problematische Nahrungsmittel, Essprotokollen, angeleitetem Einkäufen von Nahrungsmit­ teln und selbstständigem Kochen gehört hierzu auch die Bearbeitung ver­ zerrter Einstellungen und Überzeugungen. Begleitet wird die Therapie von körperbezogenen Verfahren, mit dem Ziel, eine Verbesserung der Körper­ wahrnehmung und -akzeptanz zu erreichen. In einer „Haltephase" im An­ schluss an die Gewichtsrestitution, stehen zunehmend Fragen zur Rückfall­ prophylaxe im Vordergrund (Jacobi et al., 1996). Eine spezifische medikamentöse Therapie zur Behandlung der Anorexie gibt es nicht. In einer Studie von Kaye et al. (2001) wird für Fluoxetin eine Verringerung des Rückfallrisikos nach Erreichen eines normalen Gewichts beschrieben. Als pathogenetischer Mechanismus wird die Wirkung auf das serotonerge System angenommen. Der Effekt der SSRI auf die HungerSättigungsregulation wird allerdings erfolgreich bei der Behandlung der Bu­ limie eingesetzt. In mehreren Studien konnte für Fluoxetin eine signifikante Reduktion der Häufigkeit von Ess- und Brechanfällen bei bulimischen Pati­ entinnen gezeigt werden. Etwa 30% der Patientinnen profitieren bereits von einer alleinigen pharmakologischen Behandlung. Für Patienten mit Ess­ oder Brechanfällen wurden in mehreren Studien auch positive Effekte bei der Behandlung mit dem Antikonvulsivum Topiramat beschrieben. Topira­ mat hat neben seiner antikonvulsiven Wirkung auch einen Effekt auf das Hunger-/Sättigungssystem und erhöht den Grundumsatz, so dass die Ein­ nahme des Medikamentes oftmals von einem Gewichtsverlust begleitet wird.

Essstörungen im Kindes- und Jugendalter

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Ausblick Essstörungen sind in den letzten Jahrzehnten immer häufiger in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, da einerseits eine stetige Zunahme der Inzi­ denz zu beobachten ist und andererseits der Verlauf bei einem Teil der Be­ troffenen sehr ungünstig ist. Die Störungsbilder aus dem Spektrum der Ess­ störungen beginnen typischerweise während der Adoleszenz oder im frü­ hen Erwachsenenalter. Altersentsprechend sind Ansprüche, Bedürfnisse und Fragestellungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen voneinander ganz verschieden, so dass Therapeuten, Kliniken, Jugendämter und andere Ein­ richtungen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen und Ansichten dem Problem begegnen. Da in der besonders vulnerablen Entwicklungsphase vor und nach der Pubertät Essstörungen nachhaltige und schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen nach sich ziehen können, nimmt die im therapeutischen Gesamtkonzept eingebettete Gewichtsrestitution einen sehr hohen Stellenwert in der Behandlung ein. Für Kinder und Jugendliche bedeutet das zwangsläufig auch die Einbeziehung des sozialen Umfelds in der Regel der Familie. Das ist notwendig, um einerseits eine Generalisie­ rung gewonnener neuer Fähigkeiten der Betroffenen in der Familie zu er­ möglichen und andererseits Kompetenzen und Ressourcen der Familie zu stärken bzw. Erwartungen, Ansprüche und Befürchtungen in einen adäqua­ ten Kontext zu stellen. Weitere wichtige Faktoren, die das Risiko einer Chronifizierung reduzieren, sind die frühzeitige Diagnose und Intervention (Rome et al., 2003).

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Wöckel

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Essstörungen

im

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Aglaja Stirn, Sylvia Oddo, Aylin Thiel, Sebastian Laufer

Selbstverletzendes Verhalten 1. Einführung Selbstverletzendes Verhalten ist im deutschen Sprachraum auch bekannt als Autoaggression oder Selbstverletzung, im Englischen werden zahlreiche Begriffe synonym verwendet, so z.B. ,self-injourious behavior', ,selfinflicted injuries,',self-harming behavior' und ,self-cutting'. Unter Selbstverletzendem Verhalten wird die bewusste Herbeiführung von Verletzungen am eigenen Körper, in der Regel ohne bewusste Suizidabsicht verstanden. Zu den häufigsten Methoden der Selbstverletzung zählen: Sich schneiden, schlagen, verbrennen an leicht erreichbaren Körperteilen wie Armen, Beinen oder Brust. Abbildung 1 stellt ein paar Beispiele für Selbst­ verletzungen dar.

Abb. 1: Beispiele für Selbstverletzendes Verhalten (Internetquelle)

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Stirn ♦ Oddo ♦ Thiel ♦ Laufer

Neben der bewussten Herbeiführung der Verletzungen, ist ein wiederholtes und rituelles Vorgehen charakteristisch. Die Patienten zeigen außerdem ei­ ne Unfähigkeit, den Impuls zur Selbstverletzung im Moment des Wunsches nach Selbstverletzung zu unterdrücken. Selbstverletzendes Verhalten muss mindestens fünf Mal in Folge aufgetreten sein, um als pathologisch zu gel­ ten. Die Patienten spüren während der Durchführung ihrer Selbstverletzun­ gen häufig keinen Schmerz.

Das Selbstverletzende Verhalten stellt ein Symptom der BorderlinePersönlichkeitsstörung (DSM IV) dar. Es tritt bei Patienten mit diesem Stö­ rungsbild am häufigsten auf. Darüber hinaus zeigt sich Selbstverletzendes Verhalten auch im Rahmen anderer psychischer Erkrankungen wie Essstö­ rungen oder dissoziativen Störungen oder aber ohne primäre psychische Störungen. Das Suizidrisiko bei Patienten, die sich selbst verletzen, ist zwar einerseits höher, andererseits gibt es deutliche Unterschiede zwischen Selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität (vgl. Abschnitt 2. Klassifika­ tion). Ein Indiz für den Schweregrad des Selbstverletzenden Verhaltens bil­ det die eigene Identitätsannahme als „Selbstverletzer".

2. Klassifikation Die derzeit umfassendste Klassifikation des Selbstverletzenden Verhaltens haben Simeon & Favazza (2001) vorgenommen. Die Autoren unterteilen in stereotypes-, primäres-, zwanghaftes- und impulsives Selbstverletzendes Verhalten.

Das stereotype Selbstverletzende Verhalten ist durch einen starren, sich rhythmisch wiederholenden Ablauf gekennzeichnet und tritt vorwiegend im Rahmen von tief greifenden Entwicklungsstörungen wie z.B. geistiger Behinderung oder Autismus auf. Beißen, kratzen, Augen-, Nase-, Ohren­ bohren und Kopfschlagen stellen mögliche Formen dar. Unter primärem (major) Selbstverletzendem Verhalten verstehen Simeon & Favazza (2001) eine einmalige, destruktive Episode, die lebensbedrohlich ist und zur Verstümmelung führen kann (Selbstkastration, Selbstamputati­ on). Diese Art der Selbstverletzung tritt häufig im Rahmen von Psychosen oder Intoxikationen auf und unterscheidet sich im Schweregrad deutlich von dem stereotypen Selbstverletzenden Verhalten. Zwanghaftes Selbstverletzendes Verhalten stellt eine Störung der Impuls­ kontrolle dar. Es unterliegt ebenso wie das stereotype Selbstverletzende Verhalten einem sich wiederholenden Ablauf, wird jedoch im Unterschied

Selbstverletzendes Verhalten

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rituell und häufig mehrmals täglich ausgeführt. Methoden sind vor allem kratzen, Haare ziehen und Nägel kauen. Schließlich unterscheiden die Autoren in impulsives Selbstverletzendes Verhalten, welches zwar ebenfalls regelmäßig wiederholt auftreten kann, aber auch episodisch. In der Regel handelt es sich um nicht lebensbedroh­ liche Formen der Selbstverletzung wie sich schneiden, ritzen, verbrennen oder schlagen. Es dient der Affektregulation und dem Spannungsabbau und tritt vor allem im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen oder Dissoziations­ syndromen auf. Diese Form der Selbstverletzung kann sich jedoch auch ohne primäre Diagnose entwickeln. Der vorliegende Text stützt sich auf die häufigste Ausprägung, das impulsive Selbstverletzende Verhalten. Zur Diagnosestellung ist es von Bedeutung, das Selbstverletzende Verhalten im Rahmen von psychischen Störungen zunächst von geistigen Behinde­ rungen und Entwicklungsstörungen (Autismus, Lesch-Nyhan Syndrom, RettSyndrom) abzugrenzen. Außerdem ist es wichtig, das Selbstverletzende Verhalten von den artifiziellen Störungen abzugrenzen: Unterschiede lie­ gen in der Psychodynamik, den Motiven und therapeutischen Implikatio­ nen beider Erkrankungen. Eine letzte Abgrenzung sollte zwischen Suizidali­ tät und Selbstverletzendem Verhalten getroffen werden. Einerseits besteht eine hohe Komorbidität zwischen Suizidalität und Selbstverletzendem Ver­ halten: Etwa 50 Prozent aller Selbstverletzer sind suizidal und 28 bis 41 Prozent aller Selbstverletzenden Patienten weisen Suizidgedanken auf. Bei beiden Patientengruppen wird eine Serotonin-Unterfunktion vermutet, die mit dem impulsiven Verhalten der Patienten in Zusammenhang stehen könnte. Andererseits gibt es dennoch große Unterschiede, wie Tabelle 1 verdeutlicht.

Merkmal

Suizidalität

Selbstverletzendes Verhalten

Absicht

Leben beenden

Sich besser fühlen; Verringern von Stress, Anspannung, Leiden

Mortalität

Hoch

Gering

Chronizität

Selten

Wiederholt; chronisch (10-15 Jahre)

Methoden

Eine ausgewählte Methode

Mehrere Methoden

Prävalenz

100/100.000 Suizidversuche pro Jahr; 10/100.000 Tode pro Jahr

400 - 1.400/100.000 pro Jahr

Kognitionen

Tod, Suizidgedanken

Selbstverletzung

Tab. 1: Unterschiede zwischen Suizidalität und Selbstverletzendem Verhalten (modifiziert nach Muehlenkamp, 2005)

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Stirn ♦ Oddo ♦ Thiel ♦ Laufer

Wie Tabelle 1 illustriert, unterscheiden sich Suizidalität und Selbstverlet­ zendes Verhalten sowohl in der Absicht, der Mortalität, Chronizität, den Methoden sowie in der Prävalenzrate und den Kognitionen (Muehlenkamp 2005).

3. Komorbiditäten Selbstverletzendes Verhalten weist Komorbiditäten mit zahlreichen psychi­ schen Erkrankungen auf: Der stärkste Zusammenhang von Selbstverletzen­ dem Verhalten besteht mit der Borderline Persönlichkeitsstörung. Zum ei­ nen ist Selbstverletzendes Verhalten ein Symptom der Borderline Persön­ lichkeitsstörung (DSM IV), zum anderen erfolgten die bisherigen wissen­ schaftlichen Studien überwiegend mit Borderline Patienten. Daher ist diese Komorbidität besonders gut belegt. In einer Studie fanden Clarkin, Widiger, Frances, Hurt & Gilmore (1983), dass 75 Prozent der Patienten mit einer Borderline Störung auch Selbstverletzendes Verhalten praktizierten. Gute empirische Belege existieren ebenfalls für die Assoziation von Selbstverlet­ zung mit traumatischen Erlebnissen v.a. sexueller und körperlicher Abusus. Darüber hinaus besteht eine hohe Komorbidität mit Essstörungen: Ca. 5060 Prozent aller Selbstverletzenden Patienten leiden oder haben schon einmal an einer Essstörung in der Vorgeschichte gelitten. Weitere Zusammenhänge finden sich mit dissoziativen Störungen, Impuls­ kontrollstörungen (z.B. Kleptomanie, Pyromanie), Depression, Suchtstörun­ gen (v.a. Alkohol, Medikamentenabusus) und Zwangssyndromen. Selbstver­ letzendes Verhalten kann, wie oben erwähnt, auch isoliert von anderen psychischen Erkrankungen auftreten; nicht zuletzt deshalb wird um die Po­ sition als eigenständiges Syndrombild debattiert.

4. Epidemiologie und Verlauf Bisherige epidemiologische Daten weisen eine hohe Varianz und Hetero­ genität auf. Für den deutschen Sprachraum existieren nahezu keine Befun­ de; ebenso fehlen Langzeitstudien. Es wird nach bisheriger Befundlage ge­ schätzt, dass in der Gesamtpopulation ungefähr 750/100.000 betroffen sind, unter den 18 bis 35-Jährigen steigt die Anzahl auf ca. 1800/100.000. In Bezug auf klinische Populationen variieren die Angaben zwischen 4,3und 20 Prozent, bei jugendlichen stationären Patienten sind sogar bis zu 40 Prozent betroffen. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass Frauen

Selbstverletzendes Verhalten

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zwei bis fünf Mal häufiger betroffen sind, wobei jedoch zu beachten ist, dass es bis dato vergleichsweise wenige Studien mit Männern gibt. Durch die hohe Anzahl an Studien zur Selbstverletzung mit Borderline Patienten kann die bessere Befundlage und erhöhte Prävalenz bei Frauen erklärt wer­ den, da diese Persönlichkeitsstörung bei Frauen häufiger auftritt als bei Männern.

Die Symptomatik des Selbstverletzenden Verhaltens entwickelt sich zwi­ schen dem 12. und 14. Lebensjahr und nur sehr selten vor Beginn der Pu­ bertät. Zwischen dem 18. und dem 24. Lebensjahr ist das Auftreten am stärksten ausgeprägt und hält oftmals zwischen 10 und 15 Jahren an. Es wird davon ausgegangen, dass bestimmte Schlüsselerlebnisse, wie bei­ spielsweise Misserfolg, Versagensgefühle, Verlust, Isolation und Druckemp­ finden das Selbstverletzende Verhalten erstmalig auslösen. Jeder Patient weist ein individuelles Muster auf. Unterschiede können in Art, Dauer und psychischer Funktion entstehen. Allen gemeinsam ist jedoch der repetitive Charakter.

5. Psychische Funktion/Motive Mittels Verletzung des eigenen Körpers gelingt es den Patienten, eine kurz­ fristige Affektregulation herzustellen. Sie können dadurch ihren inneren Schmerz lindern, ihre Wut zum Ausdruck bringen und fühlen sich zunächst erleichtert. Gefühle der Einsamkeit, des „Nicht geliebt Werdens", der Ab­ lehnung und des Verlassenwerdens werden erträglicher. Häufig sehen die Patienten das Selbstverletzende Verhalten auch als Selbstbestrafung an (z.B. nach Missbrauch oder Ehebruch der Eltern). Des Weiteren können steigen­ de Anspannung, Ärger, Angst, stressvolle Situationen, Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle Auslöser für Selbstverletzendes Verhalten sein. Charak­ teristisch ist das Misslingen, diese Gefühlszustände zu kontrollieren. Au­ ßerdem kann es der Unterbrechung von Dissoziationen und spezifischer Depersonalisation dienen. Kurzfristig betrachtet, vermittelt das Selbstverlet­ zende Verhalten den Patienten eine positive Wirkung, die vor allem in der Erleichterung vom inneren Schmerz, der Anspannung und des inneren Drucks zu finden ist. Durch die positive Wirkung entstehen der Wunsch nach Aufrechterhaltung und der Drang nach erneutem Selbstverletzendem Verhalten. Je länger das Selbstverletzende Verhalten jedoch anhält, desto mehr ergeben sich auch negative Konsequenzen und somit zusätzlich nega­ tive Gefühle für den Patienten: Die negative Reaktion des Umfeldes und die anhaltenden Gefühle des Versagens sowie Scham, Abhängigkeit von

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Stirn ♦ Oddo ♦ Thiel ♦ Laufer

Selbstverletzendem Verhalten und die Narbenbildung machen den Patien­ ten die negativen Konsequenzen seines Handelns deutlich. Diese negativen Folgen erwecken wiederum verstärkt den Wunsch nach Befreiung der un­ angenehmen Konsequenzen und provozieren verstärkt Selbstverletzendes Verhalten. Aus dieser Kette psychischer Funktionen wird ersichtlich, dass sich die Patienten häufig in einem Teufelskreislauf bewegen.

6. Risikofaktoren und Ätiologie Prädiktoren für Selbstverletzendes Verhalten stellen frühe, traumatische Er­ lebnisse wie körperlicher und sexueller Abusus dar, aber auch eine schwerwiegende Operation oder physische Krankheit in der Kindheit. An­ dererseits scheinen auch Eigenschaften wie beispielsweise die Unzufrie­ denheit mit dem eigenen Körper, und Perfektionismus prädestinierend zu sein. Eine psychische Erkrankungen als Komorbidität begünstigt in vielen Fällen das Auftreten der Selbstverletzung (Borderline Persönlichkeit, Disso­ ziative Symptomatik u.a.). Auch die soziale Situation darf nicht außer Acht gelassen werden. Zu der Wirkung soziodemographischer Variablen gibt es noch nicht ausreichend Studien, um einen Zusammenhang klar beweisen zu können, es wurde jedoch bei Jugendlichen ein Zusammenhang zwi­ schen Deprivation und Selbstverletzendem Verhalten gefunden (Ayton, Rasool & Cottrell 2003). Weiterhin wird eine psychische Erkrankung in der Familie (v.a. Alkoholabhängigkeit und Depression) als möglicher Prädiktor für Selbstverletzendes Verhalten gesehen. Neben psychischen Faktoren spielen auch biologische Faktoren eine be­ deutende Rolle. Eine Serotonin Unterfunktion, sowie eine Störung des Opi­ oid Systems, welche zu einem geringen Schmerzempfinden führt, können das Selbstverletzende Verhalten erklären. Die Störung des Opioid Systems führt dazu, dass das Opiod System zwar zunächst durch Selbstverletzendes Verhalten stimuliert wird und zu einer kurzfristigen positiven Stimmung führt. Mit der Zeit treten jedoch Habituationseffekte auf, welche wiederholt Selbstverletzendes Verhalten erfordern. Die Genese der Selbstverletzung ist multifaktoriell, viele der genannten Faktoren liegen bei den Patienten kom­ biniert vor. An dieser Stelle sollen drei Modelle dargestellt werden, die Selbstverletzendes Verhalten zu erklären versuchen:

Dem Traumabezogenem Modell zu Folge leiden die Patienten unter einer Traumatisierung. Die sich entwickelnden Schamgefühle führen zu einer Selbstablehnung und -bestrafung. Die Funktion von Selbstverletzendem Verhalten wird in diesem Fall als multiple angesehen, so wird Selbstverlet­

Selbstverletzendes Verhalten

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zendes Verhalten von den Patienten beispielsweise zur Induktion ange­ nehmer Gefühle oder zum Spannungsabbau angewendet. Empirische Be­ weise liegen vor allem im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch vor. Probleme des Modells stellen diejenigen Selbstverletzenden Patienten ohne eine traumatische Ätiologie dar. Die bisherige Befundlage stützt sich zudem vorwiegend auf klinische Populationen, in denen ein hoher Anteil an trau­ matisierten Patienten inbegriffen ist. Hier besteht die Frage der Generalisierbarkeit auf nicht-klinische Populationen. Das Dissoziations- Modell erklärt Selbstverletzendes Verhalten dadurch, dass die Aufmerksamkeit des Patienten auf eine körperliche Empfindung gelenkt wird und dissoziative Zustände so einerseits aktiv beendet werden können. Hierdurch wird vor allem eine Reduktion der Depersonalisierung und Realitätsentfernung bewirkt. Der dissoziative Zustand wird aber ande­ rerseits als eine Art „Schutzzustand" wahrgenommen, welcher die Schmerzempfindung vermindert und Selbstverletzendes Verhalten somit erleichtert. Eine unsichere Mutter-Kind-Bindung kann neben anderen Vul­ nerabilitätsfaktoren ebenfalls von Bedeutung sein. Probleme weist dieses Modell in Bezug auf dissoziative Patienten auf, die nicht unter Selbstverlet­ zendem Verhalten leiden. Außerdem ist die Dissoziation häufig mit einer Traumatisierung verbunden, was eine Vermischung dieses Modells mit dem Traumabezogenen Erklärungsansatz notwendig macht. Die Abbildung 2 veranschaulicht die Integration beider Modelle (nach Petermann & Winkel 2005).

Abb. 2: Kombination des Traumabezogenen und dissoziativen Erklärungsmodells für Selbstverletzendes Verhalten (modifiziert nach Petermann & Winkel (2005)).

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Stirn ♦ Oddo ♦ Thiel ♦ Laufer

Wie Abbildung 2 darstellt, entstehen durch eine biologische Vulnerabilität und traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit zur Bewältigung dissoziati­ ve Reaktionen. Diese wiederum spalten negative Erinnerungen und Gefüh­ le vom Bewusstsein ab, um nicht emotional überwältigt zu werden. Um die Dissoziationen zu reduzieren, wird Selbstverletzendes Verhalten durchge­ führt. Der Nachteil dieses kombinierten Modells liegt darin, dass Selbstver­ letzendes Verhalten nicht immer Folge von Dissoziation ist und andere psychosoziale Faktoren (wie z.B. akute Belastung durch Misserfolg oder Verlusterlebnisse) nicht beachtet werden.

Des Weiteren existiert das so genannte Affektregulatorische Modell, das Selbstverletzendes Verhalten als Mittel zur Affektregulation versteht. Die Affektregulation mittels Selbstverletzendem Verhalten geschieht vor allem bei intensiven emotionalen Zuständen der realen oder subjektiv wahrge­ nommenen Ablehnung, des Verlassenwerdens sowie vor dem absehbaren Ende einer Beziehung. Die Affektregulation kann auch mit traumatischen Erlebnissen Zusammenhängen, was eine Vermischung dieser beiden Mo­ delle bewirkt.

Zusammenfassend ist zu vermerken, dass keines der drei genannten Model­ le die zahlreichen Facetten von Selbstverletzendem Verhalten erfasst. Der Grund dafür liegt vor allem in der unklaren Definition und den mangeln­ den Forschungserkenntnissen. Es gibt jedoch eine Tendenz zu integrativen Modellen.

7. Neurobiologie Nach den Erkenntnissen der bisher einzigen funktionellen Bildgebungsstudie von Schmahl et al. (2006) spielen beim Selbstverletzendem Verhalten neuronale Strukturen eine Rolle, die allgemein für die Emotionsregulation, die kognitive Kontrolle der Emotionen und impulsives Verhalten verant­ wortlich sind. Der orbitofrontale Kortex, das Cingulum, die Insula sowie die Amygdala sind von Bedeutung.

8. Diagnostik und Therapie Zur Diagnose von Selbstverletzendem Verhalten wird der von Alexander (1999) entwickelte, 30 Items umfassende „ Self-Injury-Questionnaire" (SIQ) verwendet. Dieser Selbstbefragungsfragebogen für Erwachsene erfasst die Frequenz, Art und Funktion von Selbstverletzendem Verhalten und die As-

Selbstverletzendes Verhalten

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soziation mit einem Kindheitstrauma. Er enthält vier Subskalen: Körpermo­ difikation, indirekte Selbstverletzung, fehlende Selbstversorgung und offene Selbstverletzung. Das offene, impulsive Selbstverletzende Verhalten im ei­ gentlichen Sinne wird lediglich auf der letztgenannten Skala erfasst. Ein zweiter Fragebogen zur Diagnose von Selbstverletzendem Verhalten wurde 1998 von Sansone, Wiederman & Sansone (1998). Der ,Self-Harm Inventory' umfasst 22 Items und erfasst verschiedene Selbstverletzungsvari­ anten. Eine hohe Anzahl an Zustimmung entspricht hier einer starken Aus­ prägung des Selbstverletzenden Verhaltens. Der Fragebogen dient dem Screening der Borderline Persönlichkeitsstörung. Einen Nachteil des Frage­ bogens stellen sieben Items dar, deren Fragestellung sich nicht auf Selbst­ verletzendes Verhalten beziehen. Das Selbstverletzungsinventar wird vor allem bei Jugendlichen eingesetzt. Durch die wenig standardisierten Instrumente, ist zur vollständigen Diagno­ se eine klinische Beobachtung wichtig. Im Rahmen einer Funktionellen Verhaltensanalyse ist die Beziehung zwischen Umwelt und Auftreten des Selbstverletzendes Verhaltens zu untersuchen. Bei der Behandlung von Selbstverletzendem Verhalten liegt die Aufgabe vorerst darin, die primäre Störung, sollte diese vorhanden sein (z.B. Borderline PersönlichkeitsStörung, Posttraumatische Belastungsstörung etc.), zu behandeln. Die Ziele einer psychotherapeutischen Behandlung bestehen darin, alternative Bewäl­ tigungsstrategien für belastende Situationen zu vermitteln und die aufkom­ menden Impulse kontrollieren zu lernen. Begleitend soll ein positives Selbstbild geschaffen werden und die Akzeptanz der eigenen Gefühle. Es liegen viel versprechende Befunde vor allem in Bezug auf die Verhaltens­ therapie vor. Nach einem Review von Gerson & Stanley (2002) zeigt die Verhaltenstherapie zunehmend positive Effekte, während die Pharmakothe­ rapie weiterhin widersprüchlich bleibt.

In einem Review von 27 Studien (N = 86) konnten Symons, Thompson & Realmuto (2004) die Effektivität von Naltrexon (Opioidantagonist) belegen: Allgemein zeigten 80 Prozent der Patienten eine Besserung des Selbstver­ letzenden Verhaltens, 47 Prozent hatten eine Reduktion von Selbstverlet­ zendem Verhalten um mindestens 50 Prozent und die Effekte waren bei Männern größer als bei Frauen. Eine Studie von Mace, Blum, Sierp, Dela­ ney & Mauk (2001), die Haloperidol (Antipsychotikum) mit verhaltensthe­ rapeutischen Maßnahmen vergleicht, weist einen höheren Erfolg des psy­ chotherapeutischen Settings auf. Während 83 Prozent der Patienten positiv auf die Verhaltenstherapie reagierten, zeigte sich ein positiver Effekt auf Ha­ loperidol bei lediglich 25 Prozent. Aus den bisherigen Untersuchungen

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Stirn ♦ Oddo ♦ Thiel ♦ Laufer

geht hervor, dass psychotherapeutische Behandlungen einen größeren Er­ folg versprechen als eine Pharmakotherapie. Dennoch ist in vielen Fällen eine begleitende medikamentöse Therapie indiziert.

Zusammenfassung Selbstverletzendes Verhalten tritt in psychiatrischen und nicht klinischen Populationen auf. Es liegen eine Vielzahl von Ursachen und Auslösern zu Grunde (Trauma, psychische, komorbide Störungen, biologische Gründe etc.). Das Selbstverletzende Verhalten weist zwar eine besonders hohe Komorbidität mit der Borderline Persönlichkeitsstörung auf, jedoch beste­ hen auch Unterschiede oder die Selbstverletzung tritt isoliert auf. Bisher existiert kein empirisch fundiertes Abgrenzungskriterium, so dass das Selbstverletzende Verhalten nicht als eigenständiges Syndrombild im ICD10 oder DSM IV verankert ist. Dies liegt vor allem an einer noch wenig ausgeprägten empirisch fundierten Erforschung des Selbstverletzenden Ver­ haltens. Die meisten Studien wurden mit Borderline Patienten durchge­ führt, was wenig Aussagen über Gender Effekte und Zusammenhänge mit anderen psychischen Erkrankungen zulässt. Bis dato ist auch die Ätiologie noch weitestgehend unerforscht. Auch die begriffliche Heterogenität und die daraus folgende unklare Definition des Selbstverletzenden Verhaltens erschweren eine eindeutige Diagnose. Epidemiologische Studien sind in Deutschland kaum vorhanden. Auch auf dem Gebiet der bildgebenden Stu­ dien liegen bisher wenige Erkenntnisse vor. All diese Gründe erschweren eine Betrachtung des Selbstverletzenden Verhaltens als separates klinisches Syndrom.

Selbstverletzendes Verhalten

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Dietmar Seehuber

ADHS bei Kindern und Erwachsenen Über Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) wird seit einigen Jahren in der Fachöffentlichkeit deutlich häufiger publiziert und in den Medien wesentlich mehr berichtet. Spricht man mit Eltern schulpflich­ tiger Kinder und mit Lehrern, scheinen diese überwiegend mit dem Begriff vertraut zu sein und ihn zumindest als abgekürztes Schlagwort zu kennen. Die inflationäre Verwendung diagnostischer Begrifflichkeiten schafft jedoch eher Unklarheiten und Unschärfen. Fragt man nämlich im Einzelnen nach, was unter ADHS verstanden wird, dann werden sehr unterschiedliche De­ finitionen verwendet. Da gibt es vielfältige Meinungen, aus einer gewissen Hilflosigkeit entstandenes Halbwissen oder auch alte Mythen, die sich hart­ näckig immer weiter verbreiten. So gibt es selbst unter Fachkollegen Vor­ stellungen, ADHS sei eine reine Modediagnose, im Grunde den „erfunde­ nen Krankheiten" zuzuordnen. Andere gehen mit dem Etikett „Diagnose statt Verständnis" in diese Debatte. In vielen Publikationen geht es um die Bedeutung von Umgebungsfaktoren und deren Gewichtung. ADHS sei ein Kulturprodukt, das Ergebnis unserer unruhigen überstimulierenden Lebens­ bedingungen. Auch die Meinungen über therapeutische Vorgehensweisen erscheinen stellenweise ausgesprochen polarisiert. Unter der Überschrift „Therapie statt Medikalisierung" wird suggeriert, dass es ein Entweder-oder der Behandlungsoptionen gibt und die sog. „Medikalisierung" eben etwas anderes als Therapie darstellt. Die Sorge vieler Eltern, ihre Kinder würden mit Medikamenten nur ruhig gestellt, aber nicht behandelt, wird durch sol­ che Äußerungen verstärkt. Die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion über ADHS wird hitzig und mit einer Schärfe geführt, die nicht immer dazu beiträgt, Rationalität und Evidenzbasierung zu etablieren. Darum jedoch soll es in diesem Bei­ trag gehen: zum einen den aktuellen Wissensstand zu referieren; zum an­ deren aber auch mit Erfahrungen aus der Praxis zu einer verbesserten Pragmatik beizutragen. Schwerpunkt wird dabei die Frage sein, wie die Di­ agnose bei Erwachsenen gestellt wird.

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Seehuber

Was ist ADHS? Unter ADHS wird ein Störungsmuster verstanden, das typischerweise früh in der Entwicklung auftritt und häufig entweder bis ins Erwachsenenalter persistiert oder zur Entstehung von komorbiden Störungen führt, die zu er­ heblichen Belastungen und Einschränkungen der Lebensqualität führen.

Ein kleiner Ausschnitt aus einem Erstinterview mit einem 35-jährigen Pati­ enten mag dies kurz illustrieren: „Soweit ich mich erinnern kann bin ich mein ganzes Leben lang angeeckt. In der Schule gab es Ärger mit den Leh­ rern, zuhause kamen meine Eltern mit mir nicht zurecht, mit anderen Kin­ dern habe ich Unsinn gemacht oder mich geprügelt. Irgendetwas mit mir war immer anders als bei den anderen. Ich habe heute noch das Gefühl nicht richtig zu ticken." Einschlusskriterien • Unaufmerksamkeit: mindestens 6 Monate lang mindestens 6 von 9 Merkmalen • Überaktivität: mindestens 6 Monate lang mindestens 3 von 5 Merkmalen • Impulsivität: mindestens 6 Monate lang 1 von 4 Merkmalen

• Symptome nicht im Einklang mit dem Entwicklungsstand Zeitkriterium

• Beginn vor dem 6. Lebensjahr

• Symptomausprägung: in mehr als einer Situation auftretend • Deutliches Leiden und Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder berufli­

chen Funktionsfähigkeit Ausschlusskriterien

• tiefgreifende Entwicklungsstörung, Manie, Depression, Angststörung Abb. 1: Diagnostische Kriterien nach ICD-W:

Zu den definitorischen Kriterien nach ICD-10 (Abbildung 1) gehört neben dem frühen Beginn von Auffälligkeiten (meistens vor dem sechsten Lebens­ jahr) die Tatsache, dass die Symptomatik nicht im Einklang steht mit dem Entwicklungsstand, der zu erwarten wäre. Dies bedeutet, dass die charakte­ ristischen Symptome motorische Überaktivität, Unaufmerksamkeit und Im­ pulsivität entwicklungsbezogen betrachtet werden müssen. In den For­ schungskriterien der ICD-10 sind diese definiert und quantifizierbar. Sie bilden im Gesamt, d.h. bei gleichzeitigem Auftreten ein typisches Stö­ rungsmuster, das früher auch als Hyperkinetisches Syndrom bezeichnet wurde. Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Einzelsymptome, wie z.B. Aufmerksamkeitsstörungen nicht spezifisch sind, sondern bei allen

ADHS bei Kindern

und

Erwachsenen

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Kindern und im Zusammenhang mit verschiedenen Störungsbildern und Belastungsfaktoren auftreten können. Dies bedeutet, dass nicht das Einzel­ symptom als ausschlaggebend zu sehen ist, sondern das komplexe Stö­ rungsmuster in der Gesamtschau der Entwicklung und Lebensbewältigung. Viele Eltern kommen in die Sprechstunde, nachdem sie in der Populärlitera­ tur Beschreibungen über Kinder mit ADHS gelesen haben („In diesem Buch habe ich mein Kind genau wiedererkannt"). Da Unruhe, Konzentrationsstö­ rungen und auch impulsives ungesteuertes Verhalten bei Kindern generell auch als Entwicklungsphänomen auftreten, kann im Grunde jede Mutter ihr Kind in solchen Symptombeschreibungen wiederfinden. Daher besteht ein hoher definitorischer Klärungsbedarf: spezifisch sind keinesfalls die einzel­ nen Phänomene, sondern ein Störungsmuster, das früh beginnt, nicht mit der zu erwartenden Entwicklung im Einklang ist, sich durch das Leben hin­ durchzieht und nicht mit anderen psychischen Störungen besser erklärt werden kann. Die Abklärung erfolgt daher zwingend im Rahmen einer um­ fassenden diagnostischen Vorgehensweise, die sich an den Kriterien orien­ tiert und andere Störungsbilder ausschließt. Dabei werden Prävalenzzahlen von 3 - 7% im Kindesalter gefunden(1). In der amerikanischen Klassifikation (DSM-IV) werden neben der Beschrei­ bung der Kriterien Subtypisierungen vorgenommen. So wird ein unauf­ merksamer Subtyp beschrieben, bei dem Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität nicht vorkommen müssen. Die Prävalenzzahlen sind daher hö­ her, wenn der Maßstab des DSM-IV angewendet wird. Weiterhin wird in den letzten Jahren zunehmend der Umgang mit dem Zeitkriterium disku­ tiert, da bei erwachsenen Patienten in der Retrospektive der Beginn von Störungen gelegentlich schwer festzulegen ist. An einem frühen Beginn in der Vorschul- oder Grundschulzeit bleibt jedoch festzuhalten.

ADHS bedeutet für die Kinder und deren Familien ein erhebliches Leiden mit einer Beeinträchtigung sozialer und kognitiver Funktionen. Etwas plaka­ tiv könnte man ADHS als „Angriff im Mittelpunkt der Entwicklung" be­ zeichnen, d.h. in einer Lebensphase, in der vielfältige Entwicklungsaufga­ ben zu bewältigen sind, tritt ein Störungsmuster auf, das nicht übersehbar ist, zu Konflikten führt, die Selbstwertentwicklung beeinträchtigt und zur prägenden Grundlage der weiteren Identitätsbildung wird.

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Seehuber

Wie entsteht ADHS? Mittlerweile liegen unüberschaubar viele Daten aus dem Bereich der Gene­ tik, Neurobiologie, Neuroanatomie, Neurophysiologie, Neuropsychologie und der psychosozialen Forschung vor. Nach dem heutigen Kenntnisstand (1) können diese Einzelbefunde, die jeweils einer spezifischen fokussieren­ den Betrachtung entspringen, zu folgendem konzeptionellen Modell zu­ sammengefügt werden: In der Entstehung von ADHS sind genetische Fakto­ ren in hohem Maße beteiligt. Es handelt sich um die polygene Vererbung einer Disposition, die durch neurobiologische und neurophysiologische Prozesse zu einer Störung der Selbststeuerung und Impulshemmung führt. Dadurch entstehen die typischen Symptome, die zwangsläufig zu Interakti­ onsproblemen führen. Die weitere Entwicklung wird auch im Bezug auf die hirnorganische Reifung und Lernprozesse nachhaltig gestört und im Sinne eines Teufelskreises unterhalten. Umgebungsfaktoren tragen zur Verschär­ fung bei, vor allem, wenn Kinder mit Anforderungen konfrontiert werden, die sie nicht erfüllen können. Z.B. führt die Anforderung, eine Schulstunde still zu sitzen, sich zu konzentrieren und „bei der Sache zu bleiben" dazu, dass Kinder mit ADHS zwangsläufig an ihre Grenzen kommen. Auch die Situation in einer Schulklasse mit vielen wahrzunehmenden Sinneseindrücken führt angesichts der Reizoffenheit und Unfähigkeit zum Fokussieren zwangsläufig zu einer Verstärkung von Auffälligkeiten im Verhalten. In diesem Grundkonzept zum Verständnis von ADHS spielen alle bekann­ ten Einflussgrößen eine Rolle. Das Ziel weiterer Forschung wird sein, so­ wohl Einzelbefunde zu spezifizieren, als auch deren komplexe Interaktion untereinander zu beschreiben. Nach wie vor sind viele Fragen offen, z.B. nach der Spezifität genetischer Befunde, der Gen-Umweltinteraktion und der Bedeutung psychosozialer Faktoren für die Verlaufsdynamik. Neuere neurobiologische Befunde (2) lassen eine Netzwerkstörung zwischen dem dopaminergen vorderen Aufmerksamkeitssystem im Frontallappen und dem noradrenergen hinteren Aufmerksamkeitssystem im Parieatallappen vermu­ ten.

Zusammenfassend lässt sich zur Entstehung von ADHS festhalten, dass vor dem Hintergrund einer genetischen Disposition neurobiologische Funkti­ onsstörungen auftreten, die am besten als Störung von Steuerung und Hemmung zu bezeichnen sind. Diese können klinisch als Beeinträchtigung der Verhaltenssteuerung und der Ausrichtung der Aufmerksamkeit gesehen werden. Entwicklungsbedingungen und Beziehungen werden dadurch nachhaltig verschlechtert, was den Verlauf kompliziert.

ADHS bei Kindern und Erwachsenen

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Wie gestaltet sich der Langzeitverlauf? Die Vorstellung, ADHS könne sich auswachsen, die früher häufig vertreten wurde, ist unsinnig und mittlerweile widerlegt. Aus den vorliegenden Langzeitstudien, die durch aktuelle Daten bestätigt werden, lässt sich davon ausgehen, dass es prognostisch gesehen zwei unterscheidbare Verlauftypen gibt (3): zum einen ein Verlauf mit früh einsetzender Aggressivität und Auf­ fälligkeiten häufig bereits ins Kindergartenalter zurückgehend, der auch im Längsschnitt mit gewalttätigen Auseinandersetzungen, Zerstörungen und dissozialen Tendenzen chronifiziert und eine ungünstige Entwicklung vor­ zeichnet. Zum anderen gibt es einen Verlaufstyp, der keine früh einsetzen­ de Aggressionsdynamik zeigt und prognostisch wesentlich günstiger zu werten ist. Da Aggressivität eines der stabilsten Verhaltensmuster im Längs­ schnitt ist, sind hier frühzeitige Interventionen besonders wichtig.

Betrachtet man den Verlauf von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter, so wurde bereits auf den frühen Beginn im Kindergarten- oder Grundschulalter hingewiesen. Daraus resultiert eine Beeinträchtigung des Lernens und der funktionellen Adaptation an entwicklungstypische Aufgaben wie kognitive Entwicklung, Pflege von Kontakten mit Gleichaltrigen, Ablösung und Auto­ nomie, Emotionsregulation und Alltagsorganisation. Die pubertäre Entwick­ lung wird dadurch erheblich verschärft und nicht selten zu einer eskalie­ renden Zerreißprobe. Komplizierend kommt hinzu, dass bereits bei Kin­ dern und Jugendlichen in hohem Maße komorbide Störungen wie Verhal­ tensauffälligkeiten, emotionale Störungen, Teilleistungsstörungen oder TicStörungen auftreten. Aus der Sicht des Erwachsenen-Psychiaters, der zu­ meist mit Adoleszenten oder erwachsenen Menschen beschäftigt ist, stellt sich die Frage, welche Restsymptomatik der ADHS noch feststellbar ist. Hier gilt die klinische Erfahrung, dass Unruhe weniger von außen beob­ achtbar ist, sondern eher im Inneren („Ich hab' ständig den Kopf voll") nachwirkt. Aufmerksamkeitsstörungen dagegen werden häufig auch von Erwachsenen beklagt und lassen sich als stabiles Merkmal bis in die Kind­ heit zurückverfolgen. Hier gibt es auch subklinische Beeinträchtigungen, die erkannt werden sollten. Eine weitere verlaufsbestimmende Einflussgrö­ ße sind erwachsenentypische Komorbiditäten wie Suchterkrankungen, Borderlinestörungen, Persönlichkeitsstörungen und affektive Störungen. Die Häufigkeit komorbider Störungen bei Erwachsenen wird in aktuellen Publikationen (4) mit 65 -89% angegeben, d.h. die Mehrheit der Erwach­ senen mit einer ADHS leiden an zumindest einer anderen psychischen Stö­ rung. Dabei kommen vor allem Substanzabhängigkeiten und Verhaltens­

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Seehuber

Süchte, aber auch Angststörungen, affektive Störungen und Persönlichkeits­ störungen vor. Bemerkenswert ist, dass 75% erhebliche Schlafstörungen aufweisen, ein Befund, der auch bei Kindern mit ADHS gefunden wird und die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt. Daten aus unterschiedlichen epidemiologischen Studien deuten darauf hin, dass bei etwa 60% der Patienten eine Syndromremission stattfinden, d.h. bei etwa 40% lassen sich die typischen Symptome im Vollbild nachweisen. Bei etwa 20-30% findet man darüber hinaus eine Symptomremission, d.h., dass umgekehrt bei 70 - 80% noch Einzelsymptome, zumeist aus dem Bereich der Aufmerksamkeitsstörungen vorliegen. Betrachtet man alltagsre­ levante Beeinträchtigungen, so ist leider nur von einer adaptiven Remission von 10 auszugehen, d.h. 90% der Patienten sind durch das Störungsmuster an sich oder dessen nachhaltigen Auswirkungen in ihrer Lebensgestaltung beeinträchtigt. Dazu gehören schlechtere Schulabschlüsse, häufige Arbeits­ platzwechsel, kompliziertere Partnerbeziehungen etc.

Wie wird die Diagnose bei Erwachsenen gestellt? Eine Schwierigkeit in der Diagnostik von Erwachsenen besteht darin, dass meistens eine lange Leidensgeschichte besteht, deren früher Beginn nur un­ scharf erinnert und dokumentiert ist. Es kann daher nicht häufig genug dar­ auf hingewiesen werden, dass die Diagnose ADHS im Kindesalter gestellt werden sollte, d.h. im Zusammenhang mit dem Auftreten von Auffälligkei­ ten. Das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Diagnosestellung, die im Sinne der multiaxialen Klassifikation differenziert und leitliniengetreu erfolgen sollte. Dazu gehört vor allem auch eine testpsychologische Diagnostik, um das Intelligenzniveau festzustellen und etwaige Teilleistungsstörungen nicht zu übersehen. Die ausführliche Entwicklungsanamnese von der Schwanger­ schaft ab ist ebenso unverzichtbar wie eine eingehende Familienanamnese, die nicht selten unerkannte Störungen oder Schwierigkeiten bei den Eltern aufzeigt.

Die Diagnosestellung bei Erwachsenen, bei denen im Kindesalter keine ADHS festgestellt wurde, gestaltet sich komplizierter. Nach übereinstim­ mender Expertenmeinung (5) handelt es sich um eine klinische Diagnose, die zu stellen ein hohes Maß an Erfahrung benötigt, im günstigsten Fall auch eigene Erfahrungswerte mit ADHS-Kindern. Keinesfalls ist ADHS bei Erwachsenen mit einem Test einfach zu diagnostizieren, wie dies nicht sel­ ten von Kollegen erwartet wird. Stattdessen handelt es sich um eine zeit­

ADHS bei Kindern

und

Erwachsenen

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aufwändige diagnostische Beziehung, in der es um eine umfassende Ge­ winnung sowohl von quantitativen als auch von qualitativen Informationen handelt. Dieser Prozess lässt sich nach klinischer Erfahrung in vier Schritte (Abbildung 2) unterteilen: Im ersten Gespräch, das den Charakter eines Erstinterviews hat, geht es darum zu verstehen, welche Schwierigkeiten und Problembereiche sich in der jetzt aktuellen Lebenssituation abbilden. Es geht also weniger um das Abfragen von Symptomen, sondern um die konkreten Konsequenzen im Lebensumfeld. Dabei werden sehr rasch Konflikte und Störungen am Ar­ beitsplatz beschrieben, heftige Beziehungsschwierigkeiten und Familien­ probleme, unstete Beschäftigungsverhältnisse, schlechte Anpassungsfähig­ keit an neue Anforderungen, aber auch allgemeine Erschöpfung und Über­ forderung in der Lebensgestaltung insgesamt. In diesem ersten Schritt geht es also darum, ein möglichst lebendiges Bild des Patienten in seinem jetzi­ gen Lebensumfeld zu zeichnen und zu verstehen, was ihn dazu bewegt hat, mit der Frage ADHS zum Gespräch zu kommen. Dabei wird nicht sel­ ten berichtet, dass der Partner dies vermutet oder eigene Recherchen im Internet mit Selbstbeurteilungen bereits durchgeführt wurden. Der Analyse der aktuellen Lebenssituation schließt sich die Konkretisierung der Kern­ symptomatik im Erwachsenenalltag an. Die gezielten Fragen des Untersu­ chers richten sich dann nach der Konzentrationsfähigkeit, der Impuls- und Handlungssteuerung und der inneren Unruhe, die nicht selten an Handund Fußbewegungen oder hektischer Gestik und Sprache sichtbar wird. Die Kernsymptome der ADHS sind im Erwachsenenalter schwerer zu identifi­ zieren, da häufig bereits Vermeidungsstrategien aufgebaut wurden und Hilfsmöglichkeiten eingesetzt werden. Allgemein lässt sich sagen, dass der Alltag des Erwachsenen sich wesentlich besser dazu eignet, der Symptoma­ tik „zu entkommen" und diese in subklinisch erträglichem Maße zu adap­ tieren als bei Kindern, die in der Schulsituation zwangsläufig mit ihrem De­ fizit konfrontiert werden. Erwachsene dagegen können vermeiden, ins The­ ater oder ins Kino zu gehen und machen dagegen mehr Sport; oder sie fin­ den einen Partner oder Mitarbeiter, dem sie organisatorische Aufgaben de­ legieren können, sodass ihr eigener chaotischer Handlungsstil nach außen hin nicht erkennbar wird. Ähnliche Muster gibt es häufig und sind im struk­ turierten Gespräch zu erfassen. Auch das Entdecken einer komorbiden Stö­ rung erscheint in diesem ersten Schritt vorrangig, da sich hier differenzial­ therapeutische Fragestellungen ergeben, die rasch erfasst werden sollten. Der Erstkontakt kann dann abgeschlossen werden mit dem Ausfüllen einer Kriterien-Checkliste, z.B. der ADHD-Selbstbeurteilung (6).

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Seehuber

1. Schritt:

Welche Schwierigkeiten und Problembereiche bilden sich in der aktuellen Lebenssituation ab ? Konkretisierung der Kernsymptomatik im Erwachsenenalltag ? Kriterien-Checkliste (ADHD-SB) Liegt eine komorbide Störung vor ? •

2. Schritt:

ADHS- Kernsymptomatik im Grundschulalter (qualitativ) ? Fremdanamnese ? Alte Schulzeugnisse ? Entwicklungsanamnese ? Checkliste (WURS) • 3. Schritt:

Übergänge in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen ? Adaptationswege ? Seelische Verarbeitung ? • 4. Schritt:

Gibt es eine seelische Störung die die Symptomatik besser erklären kann? Abb. 2: Wie wird die Diagnose bei Erwachsenen gestellt?

Im zweiten Schritt der Diagnosestellung geht es um eine explorierende anamnestische Befragung mit dem Ziel, ein plastisches und lebendiges Bild von der Kindheitsentwicklung des Patienten zu gewinnen. Hier geht es vor allem um die Erhebung qualitativer Daten, d.h. eine Beschreibung von Verhalten, Erleben und kognitiver Leistung. Man lässt sich genau schildern, welche Erinnerungen an die Grundschulzeit, möglicherweise auch an die Kindergartenzeit bestehen. Kam es dort zu Schwierigkeiten, wurde geklagt und ermahnt, wie waren die schulischen Leistungen, wie war das Verhält­ nis zu den Lehrern, wurde damals zu einer Therapie geraten? Hat der Pati­ ent im Kindesalter gerne und viel gelesen oder nicht, wie war dabei die Konzentrationsspanne? Wurde beim Spielen eher ruhig gespielt oder eher getobt? Gingen häufig Gegenstände zu Bruch oder gab es Unfälle? Wie war der Kontakt zu Gleichaltrigen, gab es häufig Konflikte, Streitereien, Abson­ derungen oder eine gute Integration in den Freundeskreis? Mit solchen und ähnlichen Fragen gilt es, den Lebensraum und die Lebenswelt des Kindes von damals zur Darstellung zu bringen mit dem Ziel, Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, ob ein Steuerungsdefizit vorgelegen hat und ob dieses sich im kindlichen Lebensraum störend abgebildet hat. Hilfreich in dieser Situa­ tion kann es auch sein, die ADHS-Kernsymptomatik mit Hilfe der ICD-10Forschungskriterien abzufragen, die speziell für das Kindesalter ausgearbei­ tet sind. Diese Fragen werden allerdings sehr unterschiedlich genau beant-

ADHS bei Kindern und Erwachsenen

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wollet, da die Antworten an die Erinnerung gebunden sind. Deswegen reicht eine rein quantitative Symptomerhebung entlang der Kernsymptome nicht aus, sondern ist zu erweitern um die Subjektivität des Erlebens und der Erinnerung. Zur Objektivierung wird der Patient aufgefordert, soweit möglich, alte Schulzeugnisse oder Schulberichte mitzubringen. Falls mög­ lich und gewünscht, kann die Fremdanamnese ergänzend eingeholt wer­ den. Dabei sollte eine ausführliche Entwicklungsanamnese der Schwanger­ schaft und frühen Kindheit erhoben werden. Wichtig sind dabei prä- und perinatale Risikofaktoren (Nikotin-, Alkohol- und Koffeingenuss, Stress und Angst, niedriges Geburtsgewicht), ferner Hinweise auf erworbene Hirnfunk­ tionsstörungen und ungünstige instabile Familienbedingungen. Das frühe Auftreten aggressiver Verhaltensauffälligkeiten sollte gezielt erfragt werden. Dieser zweite Schritt der Diagnostik kann abgeschlossen werden mit dem Ausfüllen einer Checkliste (Wender-Utah-Rating-Scale), die die spezifische Symptomatik im Kindesalter abfragt. Im nächsten Schritt der Diagnostik geht es um die Übergänge in der Ent­ wicklung vom Kind zum Erwachsenen. Es wurde bereits darauf hingewie­ sen, dass sich die Kernsymptomatik häufig insofern verändert, als die typi­ sche kindliche Unruhe abnimmt zugunsten einer subtileren Hyperaktivität. Diese äußert sich eher in Bewegungen der Hände und Füße, unruhigem Hin- und Herrutschen auf dem Stuhl, hektisch unruhigem Sprachfluss etc. Patienten berichten häufig über „Unruhe und Chaos im Kopf", d.h. einen drängenden gleichsam hyperaktiven Gedankenfluss, der unstet und wenig zielgerichtet ist. Die kindliche Unruhe sieht man bei der Untersuchung nicht mehr, kann aber die internalisierte Unruhe des Erwachsenen bei ge­ nauer Exploration und Beobachtung erkennen. Ferner ist interessant zu wis­ sen, welche Wege der Adaptation und Verarbeitung in der Entwicklung ge­ funden wurden. Wurde beispielsweise ein impulsives Muster aufrechterhal­ ten und kamen Selbstverletzungen oder Substanzkonsum zur Spannungs­ linderung und Erleichterung hinzu, so ist der diagnostische Grenzbereich zur Borderlinestörung rasch erkennbar. Externalisierende Verhaltensmuster sind insofern leichter erkennbar, als die Konsequenzen wie Konflikte, Ar­ beitsplatzabbrüche, Unfälle, delinquentes Verhalten etc. nicht ohne weite­ res zu verschweigen sind. In der Anamneseerhebung sollte strukturiert da­ nach gefragt werden. Internalisierende Muster wie Vermeidung und Rück­ zug sind dagegen zunächst schwieriger erkennbar und sollten aktiv exploriert werden. Welche Situationen werden vermieden, welche Strategien wurden dafür gefunden, wie werden Bezugspersonen wie Eltern oder Part­ ner eingespannt, wie gelang die Berufsfindung in Bezug auf das Steue­ rungsdefizit und wie gelang oder misslang es die Balance zwischen Anfor­

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Seehuber

derungen und eigenen Möglichkeiten herzustellen? In diesem Abschnitt der Diagnostik geht es somit eher um die Frage, in wieweit sich die typischen Symptommuster verfestigt haben und welche Nischen gefunden wurden sich dennoch zu behaupten. Weiter geht es darum, welches kognitive Kon­ zept für das Störungsmuster und die Reaktionen der Umwelt gefunden wurden und wie dieses das Selbstbild prägt. Eltern, die mit ihren Kindern in die Sprechstunde kommen, erkennen nicht selten rückblickend selbst ihre eigenen Schulschwierigkeiten in einem neuen Licht und sind dann biswei­ len erstaunt oder auch entlastet zu hören, dass es doch nicht alles ihre ei­ gene Schuld und ihr Versagen war. Vor allem bei Patienten mit internalisie­ renden Mustern treten solche Attributionen häufig auf und prägen Versagens- und Insuffizienzerwartungen. Gerade hier setzen therapeutische Interventionsmöglichkeiten an mit dem Ziel, funktionalere Selbstkonzepte zu entwickeln und sich mit seiner eigenen Entwicklung zu versöhnen. In dieser Betrachtung erscheint es günstig, den Patienten mit seiner Sympto­ matik nicht nur als Symptomträger zu sehen, sondern als einen Menschen mit Lebendigkeit, Impulsivität, Assoziationsfähigkeit und Fantasie, der durchaus unter bestimmten Bedingungen in der Lage sein sollte, zu einer gelingenden Lebensbewältigung zu kommen. Eine Erklärung zu haben hilft dann dabei, Ressourcen gewinnbringend entwickeln zu können. Insofern sind gelegentlich auch Beratungen ohne längerfristige Behandlung sinnvoll und entlastend. Leider ist der Verlauf von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen durch eine enorme Vielfalt von Komplikationen und Komorbiditäten ge­ kennzeichnet. Diese werden im letzten Schritt der Diagnostik eruiert. Hier ist zum einen die Frage zu stellen, ob es eine seelische Störung gibt, die die Symptomatik besser erklären kann. Dabei spielen vor allem depressive Stö­ rungen, Erschöpfungszustände, Persönlichkeitsstörungen oder auch bipola­ re Störungen eine Rolle. Andererseits ist die Frage zu stellen, in wieweit komorbide Störungen, die sich auf die ADHS sekundär komplizierend auf­ gesetzt haben, vorliegen. So gibt es häufig Suchtpatienten mit früh begin­ nendem Suchtverlauf, bei denen eine ADHS zunächst nicht erkennbar ist, da der Kreislauf der Substanzabhängigkeit vordergründig behandlungsbe­ dürftig ist. Bei näherer Betrachtung erkennt man dann impulsive Verhal­ tensmuster in der Kindheit und Jugend, die zu unüberlegtem, ungesteuer­ tem Konsum führten. Da dies bei einigen Patienten auch ein erfolgreicher Selbstbehandlungsversuch ist, tritt die Abhängigkeitsentwicklung besonders rapide ein. Auch unter Borderline-Patienten werden sehr häufig Symptome und Vorgeschichte einer ADHS gefunden, die differenzialdiagnostische Ab­ grenzung ist besonders schwierig und aufwändig.

ADHS

bei

Kindern

und

Erwachsenen

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Ist man diese vier Schritte durchgegangen, können die gewonnenen Infor­ mationen zu einem lebendigen Bild der Entwicklung zusammengefügt werden. Jetzt sollte eine klinische Diagnose gestellt werden können, die bei entsprechender Erfahrung solide fundiert ist. Neuropsychologische Testver­ fahren können zur weiteren Erkenntnis beitragen. Sie bieten sich als ergän­ zende Instrumente an, die den Querschnitt der Aufmerksamkeitssteuerung quantifizierbar machen. Zur weiteren Persönlichkeitsdiagnostik können die etablierten Fragebogen-Instrumente benutzt werden. Weitere Apparative Untersuchungen bleiben eher der Forschung vorbehalten und haben für das klinische Prozedere keine Bedeutung.

Welche Behandlungsstrategien haben sich bewährt? Im Kindesalter wird ein multimodaler Behandlungsansatz empfohlen und durchgeführt, wobei eine störungsspezifische Psychotherapie, umfeldbezo­ gene Interventionen (Eltern, Kindergarten, Schule) und ggf. eine medika­ mentöse Behandlung (mit Stimulanzien oder noradrenergen Antidepressiva) kombiniert werden (1). Die Behandlungsplanung erfolgt individuell in Ab­ hängigkeit vom Ausprägungsgrad und der Relevanz der Symptome sowie der psychischen und sozialen Beeinträchtigung. Eine ausschließlich medi­ kamentöse Behandlung erscheint nicht suffizient und der Schwere der Stö­ rung angemessen. Behandlungen sind langfristig angelegt und berücksichti­ gen Entwicklungsphasen.

Bei Erwachsenen ist nach einer entsprechenden Diagnostik und Beratung festzustellen, ob die ADHS-Symptomatik oder eher die Komorbidität vor­ rangig im Behandlungsfokus sein sollte. Eine Standardbehandlung für ADHS bei Erwachsenen gibt es nicht, da die Patienten mit sehr unterschied­ lichen Fragestellungen und Schwierigkeiten in die Sprechstunde kommen. Manchen Patienten reicht es völlig aus, nach einer Diagnostik beraten zu werden und verstanden zu haben, was mit ihnen früher los war. Bei ande­ ren ist zunächst eine suchtspezifische oder z.B. borderlinespezifische Be­ handlung nach den gängigen Grundsätzen zu empfehlen. Störungsspezifi­ sche gruppentherapeutische Angebote (7) werden derzeit evaluiert. Sind Selbstwertkonflikte im Problemfokus, bietet sich eine tiefenpsychologische Psychotherapie an. Eine medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien oder noradrenergen Antidepressiva ist zwar nicht zugelassen, aber nach neuen Erkenntnissen sehr wirksam und kann vor allem bei Schwierigkeiten in der Verhaltens- und Aufmerksamkeitssteuerung zu erstaunlichen Veränderun­ gen führen, die dann weitere Interventionen ermöglichen. Für viele Patien-

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Seehuber

ten sind ein Coaching und eine Beratung bei Lebensproblemen ausrei­ chend, auch sollten großzügig die Partner einbezogen werden, da diese einen erheblichen Teil der Last zu tragen haben. Für viele Eltern und auch für erwachsene Patienten ist ein Engagement in Selbsthilfegruppen empfeh­ lenswert, um Informations- und Schulungsangebote wahrzunehmen und sich aktiv gesellschaftlich zu engagieren.

ADHS, eine überwiegend persistierende Störung des Kindesalters mit Übergängen ins Erwachsenenalter stellt zusammenfassend eine erhebliche Bürde in der Entwicklung dar. Insofern sollte es adäquate Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten geben, die „im Mittelpunkt der Entwicklung" ansetzen und eine Freisetzung aktivierbarer Ressourcen ermöglichen. Eine seriöse Praxis der Diagnostik zu beschreiben und damit zu einem besseren Verständnis beizutragen ist das Anliegen dieses Beitrags.

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Tilmann Wetterling

Suchterkrankungen in verschiedenen Altersstufen Einleitung Suchterkrankungen zählen in Deutschland zu den häufigsten chronischen Erkrankungen (DHS, 2006). Bei den stoffgebundenen Suchtkrankheiten handelt sich grundsätzlich um durch einen von außen zugeführten Stoff in­ duzierte dosisabhängige Wirkung auf das seelische Befinden (Psyche). Als psychoaktive Substanzen (landläufig auch Suchtstoffe genannt) werden eine Reihe von Substanzen bezeichnet. Die Weltgesundheitsbehörde hat in der ICD-10 eine Unterteilung der psychoaktiven Substanzen vorgenommen (s. Tabelle 1) (Dilling et al., 2005). Über die Zahl der Suchtkranken in Deutschland, d.h. derjenigen, die diese Substanzen in riskantem Ausmaß oder im Sinne eines Missbrauchs bzw. einer Abhängigkeit konsumieren, gibt es nur Schätzungen aufgrund von Repräsentativbefragungen (Tabelle 2).

• F10 Störungen durch Alkohol • F11

Störungen durch Opioide

• F12

Störungen durch Cannabinoide

• F13

Störungen durch Sedativa oder Hypnotika

• F14 Störungen durch Kokain • F15

Störungen durch andere Stimulantien (z.B. Ecstacy)

einschließlich Koffein • F16 Störungen durch Halluzinogene (z.B. LSD) • F17 Störungen durch Tabak • F18 Störungen durch flüchtige Lösungsmittel

• F19 Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychoaktiver Substanzen

Tab.1: Klassifizierung psychoaktiver Substanzen nach ICD-10

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Wetterling

Substanz

Missbrauch

Abhängigkeit

Alkohol

1.700.000

1.700.000

140.000

240.000

380.000

175.000

175.000

Medikamente

1.900.000

1.900.000

Tabak

4.300.000

Cannabis

and. Illegale

insgesamt

3.400.000

4.300.000

Quelle: Schätzungen des IFT(2OO5). Veröffentlicht auf den DHS-Webseiten Tab. 2: Häufigkeit der Abhängigkeit oder des Missbrauchs psychoaktiver Substanzen in Deutschland (nach Hoch rech ungen)

Suchterkrankungen werden vor allem als ein Problem der Altersgruppe der 18 - 65-Jährigen angesehen. In Zusammenhang mit der allgemein gestiege­ nen Lebenserwartung stellt sich aber die Frage, ob und in welchem Umfang auch bei älteren Menschen mit Suchtproblemen zu rechnen ist. Das Konsumverhalten von psychoaktiven Substanzen in Deutschland ist in den letzten 30 Jahren durch einen geringfügigen Rückgang der Alkohol­ trinkmenge pro Kopf und einen erheblichen Anstieg der Konsumenten von illegalen Drogen gekennzeichnet. Unter Konsumenten illegaler Drogen sind deutliche Trends weg von mehr sedierenden Opiaten hin zu den mehr aufputschenden ,Life-style'-Drogen wie Amphetaminen und insbesondere zu Designerdrogen wie Ecstasy zu verzeichnen. Auch die Anzahl der Kon­ sumenten von Cannabis ist in den letzten 30 Jahren deutlich gestiegen (Kraus et al., 2005).

1. Diagnostik Eine allgemeingültige Definition und damit die Diagnose einer Substanzab­ hängigkeit und eines Substanzmissbrauchs sind schwierig, denn es gibt kein allgemein akzeptiertes Konzept für eine Sucht bzw. seine Ausprägungsfor­ men. Dies gilt besonders für ältere Menschen. Die Grenze, wann z.B. ein erhöhter und ein schädlicher Alkohol- oder Benzodiazepingebrauch vor­ liegt, ist insbesondere im Alter besonders schwer festzulegen. Die Schwie­ rigkeiten, Suchtprobleme bei älteren Menschen zu erkennen, haben zu ei­ ner Diskussion über die geeigneten diagnostischen Kriterien bzw. Instru­ mente im Alter geführt (Fink et al., 1996). Allgemein werden die diagnosti-

Suchterkrankungen in verschiedenen Altersstufen

83

sehen Kriterien der ICD-10 (s. Tabelle 3, Dilling et al., 2005) oder des DSM-IV (Saß et al., 2000) als 'Goldstandard' zur Erfassung einer Substanz­ abhängigkeit im Alter angesehen. Aber diese Kriterien sind nicht identisch und bisher nicht auf ihre Anwendbarkeit bei älteren Menschen untersucht worden (Fink et al., 1996). Eine Untersuchung bei Alkoholkranken zeigte, dass bei annähernd gleicher Trinkmenge die Zahl der erfüllten ICD-10 Kri­ terien für eine Abhängigkeit mit dem Alter abnahm (Wetterling et al., 2003, Abb. 1). Der Grund hierfür ist wahrscheinlich, dass die ICD-10 Kriterien für eine Substanzabhängigkeit, insbesondere die Kriterien 4 bis 6, bei älteren Menschen schwer zu überprüfen sind. So kommt es aufgrund der veränder­ ten metabolischen Bedingungen im Alter oft zu einer negativen ,Toleranz', d.h. vergleichbare substanzassoziierte Effekte treten schon bei geringeren Mengen der psychoaktiven Substanz, z.B. Alkohol auf als bei Jüngeren.

Die Diagnose Abhängigkeit soll nur gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien vorhanden waren:

1.

ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Substanzen oder Alkohol zu konsumieren (’Craving’)

2.

verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums.

3.

ein körperliches Entzugssyndrom

4.

Nachweis einer Toleranz (Um den gleichen vom Konsumenten erwünschten Effekt zu erreichen, werden deutlich erhöhte Substanzmengen benötigt)

5.

fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums

6.

anhaltender Substanz- oder Alkoholkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen.

Tab. 3: Diagnostische Kriterien für eine Substanzabhängigkeit (nach ICD-10, etwas verkürzt)

84

Wetterling

N = 322, BMFT-Studie Wetterling et al., 1999

Abb. 1: Erfüllte ICD-10 Kriterien bei Alkoholkranken in Abhängigkeit vom Alter (bei an­ nähernd gleicher Trinkmenge)

2. Epidemiologische Daten Auf Grund der oben beschriebenen Schwierigkeiten in der Diagnostik sind die ermittelten Prävalenzzahlen für Substanzabhängigkeit bzw. Missbrauch, insbesondere bei älteren Menschen abhängig von den verwendeten Krite­ rien bzw. Instrumenten zur Identifizierung und Erfassung. Bisher gibt es nur wenige deutsche Studien zur Häufigkeit von Suchterkrankungen in ver­ schiedenen Altersstufen (Augustin et al., 2005a + b, Dilling et al., 1984, Fichter, 1990, Kraus et al., 2005a+ b, Meyer et al., 2000).

a. Tabak Der Anteil der Tabakraucher in Deutschland ist in der Altersgruppe der 18-20-Jährigen am höchsten (über 40%) und nimmt dann kontinuierlich mit dem Alter ab, während der Anteil der Ex-Raucher steigt (auf etwa ein Drittel in der Altersgruppe der 50 - 59-Jährigen). Etwa 40% der Bevölkerung rauchen nie (Augustin et al., 2005a).

Suchterkrankungen

in verschiedenen

Altersstufen

85

b. Alkohol Die für Deutschland verfügbaren Daten zum Alkoholkonsum zeigen bis zur Altersgruppe der 50- 59-Jährigen eine Zunahme derjenigen, die einen risi­ kohaften Alkoholkonsum betreiben (30 - 60g AlkoholÄTag bei Männern und 20-40g bei Frauen) (Augustin et al., 2005). Nach einer Repräsentativbefra­ gung ist bei 1,3 Millionen Deutschen zwischen 59 und 69 Jahren mit ei­ nem zumindest riskanten Alkoholkonsum zu rechnen (Kraus et al., 1998). Die wenigen aus Deutschland vorliegenden epidemiologischen Daten zei­ gen, dass die Zahl der Alkoholabhängigen im Alter von etwa 6% der 18-60Jährigen auf etwa 1% der über 60-Jährigen und 0,5% bei über 69-Jährigen abnimmt (Kraus et al., 2005a, Dilling et al., 1984; Fichter, 1990; Heimchen et al., 1996; Wetterling et al., 2002). Der Rückgang des Anteils Alkoholab­ hängiger unter älteren Menschen wird vor allem auf die deutlich vermin­ derte Lebenserwartung von Alkoholabhängigen zurückgeführt, denn diese weisen häufig frühzeitig schwerwiegende körperliche Folgeerkrankungen auf (z.B. Wetterling et al., 1999). c. Medikamente

Epidemiologische Studien zur Medikamentenabhängigkeit in Abhängigkeit in verschiedenen Altersstufen fehlen in Deutschland weitgehend. In einer repräsentativen Befragung wurde ein problematischer Medikamenten­ gebrauch bei 4,3% der Befragten ermittelt (Augustin et al., 2005b). In Ge­ gensatz zu dem allgemeinen Trend, der einen Rückgang des Anteils der Suchtkranken mit dem Alter zeigt, nimmt die Zahl der Medikamentenab­ hängigen, vor allem der Benzodiazepinabhängigen, im Alter zu (Wetterling et al., 2002). In der Berliner Altersstudie wurde bei 0,5% der über 69-Jähri­ gen eine Medikamentenabhängigkeitdiagnostiziert (Heimchen et al., 1996).

d. Illegale Drogen

Zu der Zahl und der Altersverteilung der Abhängigen von illegalen Drogen gibt es naturgemäß nur Schätzungen bzw. Daten aus Repräsentativbefra­ gungen (Kraus et al., 2005b). Sie zeigen, dass nach einem Gipfel im 3. Le­ bensjahrzehnt deutlich abnimmt. Die weitaus am häufigsten konsumierte illegale Droge ist Cannabis. In den jüngeren Bevölkerungsgruppen haben über 40% Erfahrungen mit Cannabis. Seltener werden Amphetamine, Ecsta­ sy und Kokain konsumiert (Kraus et al., 2005b).

86

Wetterling

3. Besonderheiten der Suchtentwicklung/Risikofaktoren Bevölkerungsbasierte Studien zeigen, dass das Alter, in dem bestimmte psychoaktive Substanzen erstmalig konsumiert werden, unterschiedlich ist (Kraus et aL, 2005b). Meist ist die ,Einstiegsdroge' Tabak oder Alkohol. Grund hierfür ist wahrscheinlich die ubiquitäre Erreichbarkeit von Alkohol und Tabak sowie das Vorbild der diese Substanzen konsumierenden Eltern. (,Einstiegsalter')

Nikotin

13,6 Jahre

Alkohol

14,5 Jahre

Cannabis

16,7 Jahre

Quelle: Bundeszentrale gesundheitliche Aufklärung,2001

Tab. 4 ; Alter bei Erstkonsum verschiedener psychoaktiver Substanzen

Illegale Stoffstoffe, v.a. Cannabis werden erst später konsumiert. Vergleiche der letzten 30 Jahre zeigen, dass das Erstkonsumalter für Cannabis nur ge­ ringfügig abgenommen hat, aber die Zahl der Konsumenten erheblich zu­ genommen (Kraus et al., 2005b). Zur Verbreitung von Cannabis hat neben der zunehmend leichten Erreichbarkeit auch der häufige Gebrauch in be­ stimmten Gruppen Jugendlicher beigetragen.

Zur Entwicklung einer Substanzabhängigkeit können eine Vielzahl von Fak­ toren beitragen. Sie sind am besten für die Alkoholabhängigkeit untersucht (s. Wetterling et al., 1997):

• Familiäre (genetische) Belastung • Psychiatrische Erkrankung (besonders Angst-, depressive oder Persön­ lichkeitsstörungen),

• Persönlichkeitseigenschaften

• 'Sozialer Stress' (z.B. familiäre Spannungen, aber auch Langeweile, Einsamkeit) • Leichte Erreichbarkeit des Suchtstoffes, auch 'verführende Umgebung' ('Saufmilieu')

Diese Faktoren sind v.a. für Alkoholkranke mit einem frühen Beginn ihrer Alkoholabhängigkeit untersucht worden. Inwieweit einige der oben ge­

87

Suchterkrankungen in verschiedenen Altersstufen

nannten Faktoren altersabhängig sind, ist bisher kaum untersucht worden. Es ist aber auch vorgeschlagen worden, Alkoholkranke mit einem frühen Beginn einer Abhängigkeit von denen mit einem späteren Beginn zu diffe­ renzieren. Bisher ist kaum untersucht worden, inwieweit eine solche Unter­ scheidung sinnvoll ist (s. Wetterling et al., 2003). In der Literatur sind be­ sonders die Alkoholkranken mit einem frühen Beginn (vor dem 25. Lebens­ jahr) auf spezifische Merkmale in ihrer Suchtentwicklung untersucht wor­ den. Diese Untersuchungen waren auch der Hintergrund für eine Typolo­ gie von Alkoholkranken (Babor et al., 1992, Cloninger et al., 1981, 1987). Die Unterteilung von Cloninger et al., 1981, 1987 basiert im Wesentlichen auf genetische Studien und neurochemischen Überlegungen (Tabelle 5).

Merkmal/Eigenschaft

Typ 1

Typ ll

Erbliche Belastung

niedrig

hoch

Beginn der Abhängigkeit

spät (> 25.LJ)

früh (< 25.LJ)

Geschlecht

beide

nur Männer

Verlauf

eher

ungünstig

,Reward dependence' (Belohnungsabhängigkeit)

hoch

niedrig

hoch

niedrig

niedrig

hoch

noradrenerges System

,Harm avoidance' (Schadensvermeidung)

serotonerges System 'Sensation seeking'

Tab. 5.: Typologie nach Cloninger et al.,1981

Für Alkoholkranke mit einer späten Ausbildung (late onset') eines abhängi­ gen Trinkverhaltens liegen erst wenige entsprechende Studien vor (s. Wet­ terling et al., 2003). Strittig ist u.a. das Alter, ab dem von einem späten Be­ ginn gesprochen werden kann (45, 50 oder gar erst 60 Jahre). Je nach der Festlegung dieses Alter nimmt der Anteil der ,Spätbeginner' unter den älte­ ren Alkoholkranken deutlich ab. In den meisten Studien wird bei einem Beginn des abhängigen Alkoholkonsums nach dem 45. Lebensjahr von ei­

88

Wetterling

nem späten Beginn (late onset) gesprochen. Der Anteil der Spätbeginner (> 45. Lebensjahr) unter älteren Alkoholabhängigen (> 60 Jahre) wird sehr unterschiedlich angegeben (Finlayson et al., 1988; Wetterling et al., 2003). Zu der Frage, ob sich die Alkoholabhängigen mit einem frühen Beginn sich von denen mit einem späten Beginn unterscheiden, liegen bisher erst weni­ ge Untersuchungen vor (z.B. Finlayson et al., 1988; Watson et al., 1997; Wetterling et al., 2003): ’Late onset' Alkoholkranke zeigen im Vergleich zu 'early onsetern':

• einen niedrigeren Anteil an Alkoholkranken in Familie • eine niedrige Anzahl von Trinktagen • eine geringe Trinkmenge pro Trinktag

• eine kleinere Anzahl von Entgiftungsbehandlungen • geringe Anzahl von erfüllten ICD-10 Kriterien • geringere Anzahl von somatischen und psychosozialen Komplikationen • weniger Kontakte mit anderen Alkoholkranken • geringeren Anteil an Rauchern Ein später Beginn der Alkoholabhängigkeit ist seltener assoziiert mit einer psychiatrischen Begleiterkrankung (Finlayson et al., 1988; Wetterling et al., 2003). Auch sind Persönlichkeitsstörungen wenig häufiger (Watson et al., 1997). Altersspezifische Faktoren wie Berentung, Tod naher Angehörigen und schwere körperliche Erkrankungen haben einen Einfluss auf die Aus­ bildung einer Alkoholabhängigkeit in fortgeschrittenem Alter. So wurden Berentung und schwere Erkrankungen von ,late onseter' 2,5-3mal häufiger angegeben als von ,early onsetern' (Finlayson et al., 1988).

Für andere psychoaktive Substanzen fehlen entsprechende Untersuchungen weitgehend, da allgemein davon ausgegangen wird, dass diese vorwiegend in den jüngeren Altersgruppen bis etwa bis zum 40. Lebensjahr konsumiert werden.

Suchterkrankungen in

verschiedenen

Altersstufen

89

4. Besonderheiten des Konsumverhaltens a. Tabak Die Repräsentativbefragungen zeigen, dass der Anteil der Raucher in der Altersgruppe der 18 - 24-Jährigen am höchsten ist (etwa 40%) und kontinu­ ierlich mit dem Alter sinkt. Umgekehrt nimmt der Anteil der Ex-Raucher auf etwa ein Drittel unter den 50 - 59-Jährigen zu. Der Anteil der Menschen, die angaben, nie geraucht zu haben, beträgt in Deutschland etwa 38% (Au­ gustin et al., 2005a).

b. Alkohol Die meisten epidemiologischen Studien zeigen eine Abnahme des Alko­ holkonsums mit zunehmendem Alter (Liberto et al. 1992). Als wesentliche Gründe für eine Verringerung wurden gesundheitliche Probleme sowie weniger soziale ,Trinkanlässe' angegeben. Die epidemiologischen Daten aus Deutschland zeigen einen eher bis zum 59. Lebensjahr ansteigenden Alkoholkonsum.

c. Medikamente Der Gebrauch von Medikamenten allgemein zeigt eine starke Altersabhän­ gigkeit. Über 60% aller Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, werden in Deutschland von Menschen über 65 Jahre eingenommen. Auch die (oft iatrogene) Benzodiazepinabhängigkeit tritt im Alter gehäuft auf (Wolter, 2006).

d. Illegale Drogen Illegale Drogen werden ganz überwiegend von jüngeren Menschen unter 30 Jahren konsumiert. Aber einige behalten ihren Konsum bis ins höhere Lebensalter bei (vor allem Cannabis- und Opiatabhängige), sofern sie keine körperlichen Folgeerkrankungen erleiden. Oft leben diese Personen in ei­ nem spezifischen Milieu.

90

Wetterling

5. Komplikationen des Substanzkonsums Der Konsum psychoaktiver Substanzen kann vielfältige Effekte bei dem Konsumenten bewirken. Grundsätzlich zu unterscheiden sind: Akuteffekte und Intoxikationserscheinungen sowie Effekte bei längeren Konsum. Dabei ist der Übergang von Akuteffekten zu Intoxikationserscheinungen fließend. Sie sind im Allgemeinen bei Jugendlichen und älteren Menschen aufgrund der verminderten Kompensationsmöglichkeiten ausgeprägter. Die Akutef­ fekte sind in der Regel die vom Konsumenten angestrebten Effekte wie Sti­ mulierung, psychische Effekte wie gesteigertes Selbstwertgefühl, Bewusst­ seinsveränderung und auch Sedierung. Bei Süchtigen spielt das Vermeiden von Entzugserscheinungen durch erneuten Konsum eine wesentliche Rolle für die Aufrechterhaltung des Substanzgebrauchs.

Da als gesichert angesehen werden kann, dass die Zahl und auch die Schwere der vielfältigen durch erhöhten Substanzkonsum induzierten Er­ krankungen mit der Dauer der Abhängigkeit und damit konsumierten Ge­ samtmenge zunehmen, ist zu erwarten, dass ältere Suchtkranke, insbeson­ dere die mit einem frühen Beginn und damit einer langen Abhängigkeits­ dauer gehäuft unter Folgeerkrankungen leiden. Dabei sind neuropsychiatri­ sche und bei vor allem bei Tabak-, Alkohol- und Opiatkonsum somatische Störungen zu berücksichtigen. Neuropsychiatrische Störungen

a. Tabak

Neuropsychiatrische Störungen treten nur als eine indirekte Folge des Ta­ bakkonsums auf, nämlich durch zerebrovaskuläre Störungen, die durch Tabak-induzierten Gefäßveränderungen bedingt sind.

b. Alkohol Aufgrund der wenigen vorliegenden Ergebnisse epidemiologischer Studien ist davon auszugehen, dass der Prozentsatz der alkoholbedingten neuro­ psychiatrischen Komplikationen (insbesondere Delir, amnestisches Syn­ drom und Demenz) mit dem Alter deutlich ansteigt (Wetterling et al., 2002). Ein Grund für das gehäufte Auftreten von Entzugsdelirien sind wahr­ scheinlich die häufig gleichzeitig bestehenden schweren körperlichen Er­ krankungen, denn diese beeinflussen insbesondere die Schwere der Alko­ holentzugssymptomatik erheblich (Wojnar et al., 1996). Bei älteren Perso­

Suchterkrankungen in verschiedenen Altersstufen

91

nen ohne schwerwiegende körperlichen Erkrankungen ist Delirhäufigkeit nur geringfügig erhöht (Wetterling et al., 2001). Auch vorbestehende kogni­ tive Störungen fördern die Ausbildung von deliranten Zuständen im Entzug. Die Inzidenz eines Alkoholentzugsdelirs in einer norddeutschen Großstadt wurde auf 7/100.000 > 65-Jährige/Jahr und die Prävalenz eines KorsakoffSyndroms auf 80/100.000 > 65-Jährige geschätzt (Wetterling et al., 2002). Ob eine Demenz nur durch erhöhten Alkoholkonsum verursacht werden kann, ist in der Literatur umstritten (s. Wetterling, 2000). Allerdings gehen die bei älteren Alkoholkranken nachweisbaren Störungen oft über reine Gedächtnisstörungen hinaus. Häufig anzutreffen sind Veränderungen der Persönlichkeit sowie hochgradige Orientierungsstörungen.

Abb. 2: Komplikationen bei Alkoholkranken in Abhängigkeit vom Alter (bei annähernd gleicher Trinkmenge)

c. Medikamente Benzodiazepine können in höherer Dosierung in jedem Alter zu Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen führen. Bei chronischen Benzodiaze­ pingebrauch treten gehäuft kognitive Störungen auf (Barker et al., 2004a), die auch nach Entzug zum Teil persistieren (Barker et al., 2004b).

92

Wetterling

d. Illegale Drogen

Cannabis, Stimulanzen sowie Kokain bewirken bei akutem Konsum Störun­ gen in der Kognition (Informationsverarbeitung) (Lundqvist, 2005). Auch bei chronischem Konsum von illegalen Drogen kommt es vor allem zu kog­ nitiven Störungen. Körperliche Folgeschäden a. Tabak In einer WHO-Studie (Lopez et al., 1998) über die gesundheitsökomonisch bedeutsamsten Erkrankungen steht die Nikotinabhängigkeit bzw. das Rau­ chen an erster Stelle, da Tabakrauchen ein wesentlicher Risikofaktor für ei­ ne Reihe von häufigen Erkrankungen ist. Hier sind vor allem zu nennen: alle Formen von Gefäßerkrankungen (Herz- und Hirninfarkt), Lungener­ krankungen und Karzinomen.

b. Alkohol Schwere Organschäden sind häufiger bei älteren Alkoholkranken anzutref­ fen, denn die Zahl und Schwere der körperlichen Beeinträchtigungen ist u.a. abhängig von der Trinkdauer (Wetterling et al., 1999). Bei älteren Al­ koholkranken kommt es neben den auch bei jüngeren oft festzustellenden Folgeerkrankungen wie Leberschädigungen und Polyneuropathie auch ge­ häuft zu einer Kardiomyopathie.

c. Medikamente

Körperliche Spätschäden bei chronischen Benzodiazepingebrauch sind nicht bekannt. Im Alter kommt es aber aufgrund der muskelrelaxierenden Wirkung und Sedierung gehäuft zu Stürzen mit Oberschenkelhalsbrüchen (s. Wolter, 2006).

d. illegale Drogen Die körperlichen Folgeschäden bei illegalen Drogen sind je nach Substanz unterschiedlich: bei Cannabis kommt es vor allem zu Erkrankungen der oberen Luftwege ähnlich denen beim Tabakrauchen (Iversen, 2005). Bei Ecstasy und Stimulantien sind vor allem kognitive Störungen beobachtet worden (Gouzoulis-Mayfrank et al., 2002, Lundqvist, 2005). Bei Opiatab­

Suchterkrankungen in verschiedenen Altersstufen

93

hängigen sind indirekte Folgen wie Spritzenabzesse und durch den Nadel­ gebrauch übertragene Erkrankungen, vor allem AIDS, häufig. Generell ist festzustellen, dass eine Substanzabhängigkeit sehr häufig zu psychosozialen Konflikten bis hin zur Delinquenz führt. Dabei ist eine deutliche Altersabhängigkeit festzustellen. Besonders Menschen unter 40 Jahren mit einer Substanzabhängigkeit fallen im sozialen Umfeld vielfältig auf. Dazu trägt sicherlich auch die hohe Zahl von Suchtkranken mit psychi­ atrischer Komorbidität bei. Eine Reihe von epidemiologischen Untersu­ chungen zeigen, dass die psychiatrische Komorbidität, insbesondere mit Persönlichkeits- und affektiven sowie neurotischen Störungen, bei Sucht­ kranken sehr hoch ist (Schneider et al.)

6. Therapie Bisher sind erst wenige Studien, die Effekte des Lebensalters der Therapie­ ansätze bei älteren Suchtkranken untersucht haben, veröffentlicht worden. Die Daten der in Krankenhäuser behandelten Suchtkranken (Wetterling et al., 2002; Abb. 3) zeigen bei den illegalen Drogen einen Gipfel in der Al­ tersgruppe 20- 30 Jahre, bei Alkohol einen Gipfel in der Altersgruppe der 40 - 50-Jährigen und bei Medikamenten einen Anstieg bis in höhere Alters­ gruppen.

Alter

Stichprobe: 9370 Aufnahmen in die Psychiatrische Klinik der Med. Uni Klinik 1990-1998 Abb. 3: Anteil der Suchtkranken unter stationären psychiatrischen Patienten

94

Wetterling

a. Alkohol

Bisher gibt es nur wenige Studien über Alkoholentzug in verschiedenen Al­ terstufen (s. Wetterling et al., 2000). Die Studien kommen zu unterschiedli­ chen Ergebnissen. Sie zeigen, dass bei älteren Patienten ein leicht erhöhtes Risiko eines schweren Entzuges besteht, insbesondere ein erhöhtes Risiko an Entzugskomplikationen. Ergebnisse von Entwöhnungstherapien bei älte­ ren Alkoholabhängigen sind bisher kaum publiziert worden. In den weni­ gen publizierten Therapiestudien wurde bei älteren im Vergleich zu jünge­ ren Alkoholabhängigen meist eine kontinuierlichere Beteiligung an den Therapien und auch etwas bessere Therapieergebnisse beobachtet (z.B. Oslin et al., 2003). Einige Fachkliniken in Deutschland haben spezielle Pro­ gramme für verschiedene Altersgruppen, z.B. jüngere oder ältere Alkohol­ abhängige erarbeitet.

b. Medikamente Zum Entzug von Medikamenten, insbesondere Benzodiazepinen, sind bis­ her wenige Studien veröffentlicht worden, die altersspezifische Aspekte be­ rücksichtigen. Bei älteren Menschen sind lange Entzugbehandlungen not­ wendig (Wolter, 2006). c. illegale Drogen

Die Entwöhnungsbehandlung von Drogenabhängigen ist vor allem auf jun­ ge und sehr junge Menschen ausgerichtet, um ihnen einen Ausstieg aus ih­ rer Sucht zu ermöglichen, während ältere Drogenabhängige, insbesondere Opiatabhängige oft nur noch zu einer Substitution zu motivieren sind. Auch der Wechsel zu legalen Suchtstoffen wie Alkohol und Benzodiazepi­ nen ist bei älteren Drogenabhängigen häufig zu beobachten.

Diskussion Da Suchterkrankungen in Deutschland ein großes gesundheitsökonomi­ sches Problem darstellen, sind für primär und sekundär präventive Maß­ nahmen mögliche Einflussfaktoren für eine Suchtentwicklung zu untersu­ chen. Dabei wurden in der Vergangenheit vor allem Aspekte betrachtet, die sich mit der Suchtentwicklung bei jungen Menschen beschäftigen. Da aber davon auszugehen ist, dass mögliche Folgeschäden mit der Dauer des Kon­ sums steigen, ist auch die Frage der Beibehaltung des Konsums psychoakti­

Suchterkrankungen

in verschiedenen

Altersstufen

95

ver Substanzen bis ins höhere Lebensalter von zunehmender Bedeutung. Denn auf Grund der allgemein gestiegenen Lebenserwartung in Deutsch­ land ist zu erwarten, dass eine zunehmende Zahl von älteren Menschen eine Suchtproblematik hat. Es ist davon auszugehen, dass bei älteren Men­ schen die Häufigkeit der substanzbedingten neuropsychiatrischen Kompli­ kationen und auch der körperlichen Folgeerkrankungen steigt. Da diese die Endstrecke einer meist sehr langen Abhängigkeitsentwicklung darstellen, müssen die therapeutischen Bemühungen darauf gerichtet sein, bei Sub­ stanzabhängigen, die meist seit dem frühen Erwachsenalter abhängig sind, möglichst frühzeitig zu ,entwöhnen'.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass altersspezifische Aspekte des Kon­ sums psychoaktiver Substanzen bisher wenig untersucht worden sind und daher ein noch erheblicher Forschungsbedarf besteht.

96

Wetterling

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Bernd Meyenburg

Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter Geschlechtsidentitätsstörungen des Kindes- und Jugendalters sind durch ein anhaltendes und starkes Unbehagen und Leiden im eigenen biologischen Geschlecht charakterisiert. Sie gehen einher mit dem Wunsch oder der Be­ teuerung, dem anderen Geschlecht anzugehören und entsprechend leben zu wollen und können bis zum Wunsch nach gegengeschlechtlicher hor­ moneller Behandlung und nach operativer Geschlechtsumwandlung führen. Die zwei diagnostischen Hauptkriterien sind in Anlehnung an DSM-IV: (A) der dringliche und anhaltende Wunsch dem anderen Geschlecht anzuge­ hören und (B) das andauernde Unbehagen über das eigene Geschlecht. Nur wenn beide diagnostischen Hauptkriterien erfüllt sind, ist die Diagnose Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter (nach DSM-IV: 302.6; nach ICD-10: F64.2) zu stellen. DSM-IV ermöglicht die Diagnose einer Ge­ schlechtsidentitätsstörung in der Adoleszenz (302.85), während nach ICD-10 ab der Pubertät die Diagnose Transsexualismus (64.0) zu stellen ist, diese Diagnosestellung ist bei jüngeren Patienten oft unbefriedigend.

Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind schizophrene und wahnhafte Störungen, die allerdings selten gesehen werden. Bekannt ist der vom S. Freud geschilderte „Fall Schreber": Hier litt ein erwachsener Mann an der Wahnvorstellung, dass weibliche Nerven seinen Körper durchwachsen, er verhielt sich in der Folge weiblich. Aufgrund der vorhandenen formalen und inhaltlichen Denkstörungen sind psychotische Störungen unschwer abzugrenzen. Intersexuelle Störungen stellen im eigentlichen Sinne keine Differenzialdi­ agnose dar, eine intersexuelle Störung kann prinzipiell komorbid vorliegen und stellt keine Kontraindikation für eine entsprechende Behandlung der Identitätsproblematik dar.

Differenzialdiagnostisch bedeutsamer sind im Kindes- und Jugendalter se­ xuelle Reifungskrisen und eine ich-dystone Sexualorientierung, bei der die

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Meyenburg

betroffenen Jugendlichen in der Regel eine homosexuelle Orientierung als nicht akzeptabel erleben und stark ablehnen.

Assoziierte Psychopathologie Häufiger bei Jungen anzutreffen sind internalisierende Auffälligkeiten wie Trennungsängste und andere emotionale Störungen des Kindesalters, im Jugendalter anzutreffen sind depressive Störungen bis hin zu Suizidversu­ chen. Insbesondere bei weiblichen Jugendlichen ist nicht selten übertrieben „macho"-haftes hypermaskulines Verhalten bis hin zu schweren Auffällig­ keiten des Sozialverhaltens anzutreffen.

Diagnostik Wegführend ist ein eingehendes Interview von Eltern bzw. Bezugspersonen und den Kindern/Jugendlichen. Gefragt werden sollte nach Beginn ge­ schlechtsatypischen Verhaltens, da nach klinischen Erfahrungen die Prog­ nose oftmals bei primär geschlechtsatypisch auffälligen Kindern gänzlich anders zu sehen ist als bei solchen, bei denen sich geschlechtsatypisches Verhalten und Interessen erst nach einer mehr oder weniger längeren Phase geschlechtstypischem Verhaltens zeigen. Gefragt werden sollte nach Inte­ resse an Kleidung, Schmuck, Kosmetik und insbesondere Haaren/Frisuren des anderen Geschlechts, nach Häufigkeit des so genannten cross-dressings (Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts), nach bevorzugten Spielen und Spielzeugen, bevorzugten Sportarten. Eine besondere Rolle spielen bei uns Puppen und Fußballspiel; Puppenspiel bei Jungen ist ein ungewöhnli­ ches Phänomen, Fußballspiel bei Mädchen allerdings weniger auffällig. Weiter erfragt werden Interesse an Tanzen, Singen, Ballett, weiter dem Körpererleben und nach Geschlecht und Alter von Spielkameraden.

Jugendliche Patienten sollten nach Wünschen und Vorstellungen befragt werden, wie sie dem anderen Geschlecht anzugehören denken, nach dem Körpererleben, wie sie in der Öffentlichkeit auftreten. Gefragt werden sollte auch nach dem Führen eines Vornamens des gewünschten Geschlechts.

Prävalenz Die Zahl geschlechtsidentitätsgestörter Kinder und Jugendlicher ist recht klein, von vielen erfahrenen Klinikern wird berichtet, solche Patienten nie­

Geschlechtsidentitätsstörungen

im

Kindes-

und Jugendalter

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mals gesehen zu haben. Die Gesamtzahl klinisch vorgestellter Kinder und Jugendlicher liegt bei wenigen hundert. Dem gegenüber steht die Zahl von 3000 bis 6000 erwachsenen transsexuellen Männern und Frauen in Deutschland, die den Antrag nach legaler Namens- und Personenstandsän­ derung machen. Auch zeigen retrospektive Untersuchungen erwachsener homosexueller Männer, dass in 67% über geschlechtsatypisches Verhalten in der Kindheit und in 35% über geschlechtsatypische Wünsche in der Kindheit berichtet wird. Bei der hohen Zahl erwachsener homosexueller Männer müssten somit solche Kinder eigentlich viel häufiger auffällig wer­ den. Auch Untersuchungen an gesunden Kindern mit der Child-BehaviourChecklist CBCL zeigen deutlich höhere Zahlen. Das Item „verhält sich wie zum anderen Geschlecht zugehörig" beantworten in einer Klinikpopulation die Eltern für 8 bis 9-jährige Jungen in 9,5% positiv (Kontrollen 2,7%), bei Mädchen 14,5% (Kontrollen 11,0%). Die Frage „wünscht, dem anderen Geschlecht anzugehören" beantworten Eltern von 8 - 9-jährigen Jungen ei­ ner Klinikpopulation in 5,1% positiv (Kontrollen 0,0%), bei Mädchen 8,3% (Kontrollen 2,7%).

Ursachen Die Ergebnisse der genetischen und hirnorganischen Forschung sind bis­ lang nicht schlüssig. Es gibt keine Hinweise auf eine familiäre Häufung von Geschlechtsidentitätsstörungen, nur vereinzelte Berichte liegen vor über Konkordanz bei Zwillingen. Bei männlichen Zwillingen wird über eine er­ höhte Konkordanz für Homosexualität berichtet, nicht für weibliche. Es lie­ ßen sich keine hirnorganischen Abweichungen finden. Ebenso zeigten durchgeführte Chromosomenanalysen und Hormonbestimmungen allesamt Normalbefunde. Die biologische Forschung konzentriert sich gegenwärtig auf die Wirkung pränataler Sexualhormone. Entsprechende Hypothesen wurden von Tier­ versuchen abgeleitet, in denen durch pränatale Testosterongabe bei trächti­ gen Meerschweinchen bei weiblichen Neugeborenen männliches Sexual­ verhalten gefunden wurde. Beim Menschen gibt es einige „experiments of nature", beispielsweise das deutlich jungenhaftere Verhalten von pränatal androgenisierten AGS-Mädchen, umgekehrt bei chromosomal männlichen Kindern mit einem Androgen-Insensibitätssyndrom eine meist eindeutig weibliche Identität. Die Ergebnisse der psychologischen Forschung lassen sich in Kürze auf vier Haupthypothesen zusammenfassen:

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Meyenburg

R. Stoller, kalifornischer Psychoanalytiker, entwarf in Zusammenarbeit mit R. Greenson ein konfliktfreies Prägungsmodell, eine weibliche Identität sollte sich bei Jungen durch eine „blissfull symbiosis" ausbilden, in der die Mutter eine besonders enge Bindung an das als besonders schön erlebte Kind entwickelt. Dagegen spricht die klinisch beobachtbare oft konflikthafte Mutter-Kind-Beziehung geschlechtsidentitätsgestörter männlicher Patienten. Stoller äußert allerdings selbst, dass hiervon nur eine kleine Untergruppe später erwachsener Transsexueller betroffen ist. Von R. Greenson wird der Fall eines Jungen beschrieben, der im Grunde durch Modelllernen in einer eher verhaltenstherapeutisch anmutenden Behandlung über mehrere Jahre hinweg zu seiner männlichen Identität zurückfand. Der Titel dieser Fallbe­ schreibung lautet entsprechend „Disidentifying from mother". Eine reine Lerntheorie wird von R. Green vertreten, wonach Mütter aktiv feminines Verhalten und Interessen ihrer Söhne verstärken. Auch dieses widerspricht vielfältiger klinischer Beobachtung und Erfahrung.

I. Bloch und andere Autoren beschreiben eine Traumatheorie, die Flucht aus der biologischen Geschlechtsrolle wird von ihnen als Abwehr massiver Trennungs- und Vernichtungsängste verstanden. Dem entsprechend liegen auch bei uns klinische Erfahrungen vor.

Wir sehen den Wunsch nach Geschlechtswechsel als eine neurotische Ab­ wehrbildung bei frühen Störungen der Mutter-Kind-Beziehung. Insbesonde­ re die von S. Coates und E. Person beschriebene „emotional abwesende Mutter" ist häufig zu finden, sie führt bei den betroffenen Jungen zu einer verstärkten Anklammerung bis hin zu Verschmelzungswünschen.

Therapie Es liegen vielfältige Therapieberichte über betroffene Kinder und Jugendli­ che vor, die nach zum Teil kurzen Therapien zu ihrer biologischen Ge­ schlechtsrolle zurückfanden. Eine Therapie ist in jedem Fall indiziert bei sekundärem Auftreten einer Identitätsproblematik nach vorausgehendem geschlechtstypischem Verhalten. Der gegenwärtige Stand ist nach allen vor­ liegenden Leitlinien auch bei primär betroffenen Patienten eine initial min­ destens einjährige psychotherapeutische Behandlung, idealerweise auf tie­ fenpsychologischer Basis. Der Erfolg einer solchen Behandlung ist insbe­ sondere bei den primär Betroffenen Patienten empirisch nicht verifiziert. Die hohe Persistenzrate bei den primär betroffenen Patienten lässt daran denken, dass hier offenbar biologische Faktoren in wesentlich stärkerem

Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes-

und Jugendalter

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Maße wirksam sind als bei den sekundär betroffenen Patienten. Die Patien­ ten sollten nach mindestens einjähriger Therapie und mindestens einjähri­ gem so genannten Alltagstest erneut einen Fachmann vorgestellt werden, um dann die Entscheidung über den Beginn einer Hormonbehandlung zu fällen. Gegengeschlechtliche Hormone werden gegenwärtig in der Regel ab dem 16. Lebensjahr verabreicht. Bei jüngeren Patienten kann vorausgehend in Ausnahmefällen bei sehr klaren Verläufen eine maximal zweijährige pu­ bertätshemmende Behandlung mit GnRH-Analoga oder Antiandrogenen vorausgehen. Aufgrund der medizinischen Folgen bei Langzeitbehandlun­ gen (insbesondere Osteoporose) muss aber dann auf die Gabe von gegen­ geschlechtlichen Hormonen umgestellt werden, falls der Wunsch nach Ge­ schlechtsumwandlung weiterhin besteht. Chirurgische genitalkorrigierende Eingriffe sollten erst nach Erreichen der Volljährigkeit begonnen werden. Bei den betroffenen biologisch weiblichen Patienten steht im Vordergrund als erster Schritt die Mastektomie, bei den männlichen Patienten die Vagi­ nalplastik.

Rechtliche Aspekte Ohne Altersgrenze kann gegenwärtig nach §1 des Transsexuellengesetzes (TSG) beim zuständigen Amtsgericht der Antrag auf Vornamensänderung gestellt werden. Das Amtsgericht benennt zwei Gutachter, akzeptiert aber in der Regel Namensvorschläge fachlich kompetenter Gutachter. Die Per­ sonenstandsänderung kann erst nach den operativen Schritten erfolgen, so­ bald eine Fortpflanzungsfähigkeit im biologischen Geschlecht nicht mehr gegeben ist. Vom Gutachter ist in beiden Fällen eine Aussage darüber zu treffen, ob der Wunsch dem anderen Geschlecht anzugehören unumkehr­ bar ist und ob er seit mindestens drei Jahren durchgehend besteht.

Spezialisierte Zentren für die Behandlung geschlechtsidentitätsgestörter Kinder- und Jugendlicher bestehen zur Zeit nur an den Universitäten Frank­ furt und Berlin (Virchow Klinikum), bei beiden in den Kliniken für Kinderund Jugendpsychiatrie. Bei älteren Jugendlichen an der Volljährigkeitsgren­ ze und jungen Erwachsenen ist eine Begutachtung und Behandlung der Pa­ tienten auch an den wenigen Abteilungen für Sexualwissenschaft an den Universitäten Frankfurt, Hamburg und Berlin möglich, ferner durch Ärzte und Psychologen mit sexualmedizinischer Zusatzausbildung.

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Barbara Schneider

Geschlechtsidentitätsstörungen im Erwachsenenalter Geschlechtsidentitätsstörungen wurden in der modernen Medizin seit An­ fang des 19. Jahrhunderts unter verschiedenen Begriffen und mit einer Zu­ ordnung zu unterschiedlichen Krankheitseinheiten beschrieben. Der Begriff Transsexualität wurde erstmals 1923 von Hirschfeld benutzt, wurde aber erst in den 60er Jahren des vergangen Jahrhunderts üblich. Aus der Ge­ schichte sind mehrere Transsexuelle bekannt, z.B. der französische Diplo­ mat Charles-Genevieve-Louis-Auguste-Andre-Thimothee d'Eon de Beau­ mont (1728 bis 1810), der ab 1763 zeitweise als Frau lebte.

1. Begriffsbestimmung Der Begriff Geschlechtsidentität beschreibt die Empfindung, sich als Mann bzw. als Frau zu fühlen. Bei Menschen, die unter Geschlechtsidentitätsstö­ rungen leiden, fehlt die Übereinstimmung zwischen Geschlechtsidentität und biologischen Geschlecht. Die klinisch bedeutsamste Form ist die Transsexualität, die persistierende und vollständige psychische Identifizie­ rung mit dem Gegengeschlecht. Daneben gibt es vorübergehende Ge­ schlechtsidentitätsstörungen in der Kindheit oder Jugend oder im Rahmen anderer psychischer Störungen, zum Beispiel bei Schizophrenen sowie den Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen.

Nach ICD-10 ist Transsexualität (F64.0) wie folgt definiert:

• Wunsch, als Angehöriger des anderen anatomischen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit dem Gefühl des Unbehagens oder der Nichtzugehörigkeit zum eigenen Geschlecht einher. • Wunsch nach hormoneller und chirurgischer Behandlung, um den ei­ genen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich an­ zugleichen. • Transsexualismus besteht seit mindestens 2 Jahren. • Nicht Ausdruck einer anderen psychischen Störung.

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Schneider

• Geht nicht mit intersexuellen, genetischen oder geschlechts-chromosomalen Anomalien einher. Der Transvestitismus (ICD-10 F64.1) unter Beibehaltung beider Ge­ schlechtsrollen ist durch folgende Kriterien definiert: • Tragen gegengeschlechtlicher Kleidung (cross-dressing), um zeitweilig die Erfahrung der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht zu erleben.

• Wunsch nach langfristiger Geschlechtsumwandlung oder chirurgischer Korrektur besteht nicht. Diese Störung ist dadurch vom fetischistischen Transvestitismus zu unterscheiden, dass das Umkleiden nicht von se­ xueller Erregung begleitet ist. • Ausschluss: fetischistischer Transvestitismus (F65.1).

Der „Primäre Transsexualismus", d.h. Fortsetzung einer bereits in der Kind­ heit oder frühen Adoleszenz beginnenden Geschlechtsidentitätsstörung (10-25%) wird vom „Sekundären Transsexualismus" unterschieden, bei dem offenere Anzeichen eines Zugehörigkeitsgefühls zum anderen Ge­ schlecht später und gradueller auftreten, zumeist erst im frühen bis mittle­ ren Erwachsenenalter (75 -90%). Während Frau-zu-Mann Transsexuelle (FM-TS) meist „homosexuell" orientiert sind, sind Mann-zu-Frau Transsexu­ elle (MF-TS) zu je 35% heterosexuell und homosexuell und zu je 15% au­ tomonosexuell oder bisexuell.

2. Epidemiologie Die Angaben zur Häufigkeit der Transsexualität sind uneinheitlich. Wahr­ scheinlich liegt die Prävalenz bei MF-TS bei 1:40000 und bei FM-TS bei 1:100000. Während eine Vielzahl älterer Studien ein Überwiegen von MFTS gegenüber FM-TS fanden, sprechen neuere Untersuchungen jedoch für eine Verschiebung in Richtung Gleichverteilung zwischen Männern und Frauen (Garrels et al., 2000). Tabelle 1 zeigt die Häufigkeit von T ranssexualismus in verschiedenen Ländern.

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Geschlechtsidentitätsstörungen im Erwachsenenalter

Autoren (Jahr)

Land

Prävalenz auf

Sex-Ratio

100000 Einwohner

M-F TS

F-M TS

Walinder (1967)

Schweden

2,7

1,0

2,8:1

Hoenig & Kenna (1974)

England/Wales

3,0

0,9

3,3:1

Ross et al. (1981)

Australien

4,2

0,7

6,1:1

Eklund et al. (1988)

Niederlande

5,6

1,9

2,9:1

Tsoi (1988)

Singapur

35,0

12,0

3,0:1

Osburg & Weitze (1993)

BRD (alt)

2,4

1,0

2,3:1

Bakker et al. (1993)

Niederlande

8,4

3,3

2,5:1

Tab. 1: Prävalenz von Transsexualismus

3. Therapie Über Jahre wurden bezüglich der körperlichen Behandlung von Identitäts­ störungen in der wissenschaftlichen Literatur kontroverse Standpunkte ver­ treten. Ursprünglich sahen Psychoanalytiker im transsexuellen sowie im transvestitischen Wunsch vorwiegend Abwehr von Trieb-, auch Kastrations­ ängsten, Narzissmus und Probleme unrealistischer Mutteridentifikationen. Inzwischen hat sich international ein Vorgehen bewährt, das einer über Jah­ re dauernden Kette von therapeutischen Maßnahmen entspricht, an deren Ende die Transformationsoperation stehen kann. Hierfür wurden in ver­ schiedenen Ländern, auch in Deutschland (Becker et al., 1997), Therapie­ richtlinien (standards of care) entwickelt. Eine internationale Vergleichsstu­ die zeigte, dass sich die meisten Zentren an den Behandlungsstandards der Harry-Benjamin-International-Gender-Dysphoria-Association orientieren, sie aber in der Praxis eher konservativ anwenden (Petersen u. Dickey 1995).

Deshalb wurden die folgenden ’’Standards der Behandlung und Begutach­ tung von Transsexuellen" von einer von der Deutschen Gesellschaft für Se­ xualforschung einberufenen Expertenkommission erarbeitet (Becker et al., 1997); sie umfassen Diagnostik und Differentialdiagnostik, psychotherapeu­ tischen Begleitung, Indikationsstellung zur somatischen Behandlung und somatische Behandlung sowie die Begutachtung nach dem Transsexuellen­ gesetz. Diese sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.

108

Schneider

3.1. Diagnostisches Vorgehen Das diagnostische Vorgehen soll die biographische Anamnese mit den Schwerpunkten Geschlechtsidentitätsentwicklung, psychosexuelle Entwick­ lung und gegenwärtige Lebenssituation, die körperliche Untersuchung: (gy­ näkologischer bzw. andrologischer/urologischer sowie endokrinologischer Befund) sowie eine klinisch-psychiatrische/psychologische Diagnostik (psy­ chopathologische Auffälligkeiten: vorausgegangen, reaktiv, gleichzeitig be­ stehend) umfassen (Becker et al., 1997). Bei einer breiten klinisch-psychiatrischen/psychologischen Diagnostik sollte untersucht und beurteilt werden:

• Strukturniveau der Persönlichkeit und deren Defizite • Psychosoziales Funktionsniveau • Neurotische Dispositionen bzw. Konflikte • Abhängigkeiten/Süchte • Suizidalität, selbstschädigendes Verhalten • Paraphilien/Perversionen

• Psychotische Erkrankungen • Hirnorganische Störungen

• Minderbegabung

Differentialdiagnostisch müssen Unbehagen, Schwierigkeiten oder NichtKonformität mit den gängigen Geschlechtsrollenerwartungen, partielle/ passagere Störungen der Geschlechtsidentität, Transvestitismus, fetischisti­ scher Transvestitismus, Schwierigkeiten mit der geschlechtlichen Identität, die aus der Ablehnung einer homosexuellen Orientierung resultieren, Psy­ chosen und schwere Persönlichkeitsstörungen in Erwägung gezogen wer­ den (Becker et al., 1997). 3.2. Psychotherapie/psychotherapeutische Begleitung Die psychotherapeutische Begleitung muss vor Einleitung organmedizini­ scher Maßnahmen stehen und zumindest folgende Fragen klären (Becker et al., 1997):

• Innere Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts und seiner individuellen Ausgestaltung

• Lebbarkeit der gewünschten Geschlechtsrolle

Geschlechtsidentitätsstörungen

im

Kindes- und Jugendalter

109

• Realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen somatischer Behandlungen Im Weiteren dient Psychotherapie auch als Verlaufsdiagnostik: Entweder versöhnt sich der Patient mit seinem biologischen Geschlecht, richtet sich irgendwo zwischen den Geschlechtern ein - ohne somatische Behandlung oder nur mit Hormonbehandlung und/oder Epilation - oder er geht den transsexuellen Weg mitallen medizinischen und juristischen Möglichkeiten.

3.3. Alltagstest Der nächste Schritt ist der so genannte Alltagstest, das heißt der Betroffene lebt 24 Stunden in der angestrebten Geschlechtsrolle (Becker et al., 1997). Dabei sollen Mimik und Gestik, Art sich zu kleiden und eventuell zu schminken und das soziale Verhalten des angestrebten Geschlechts erprobt werden. Es sollen die Reaktionen auf den Geschlechtswechsel erlebt wer­ den und geübt werden, mit den Reaktionen der Umwelt auf Geschlechts­ wechsel umzugehen.

In der psychotherapeutischen Begleitung des Alltagstests können die Selbstwahrnehmung im Zusammenhang mit der Wahrnehmung durch an­ dere, Beziehungen zur Herkunftsfamilie, gegenwärtige und vergangene Liebesbeziehungen sowie bestehende Konflikte zwischen dem Wunsch nach Eindeutigkeit und der Ambiguität der Geschlechtsidentität bearbeitet werden. 3.4. Indikation zu somatischen Therapiemaßnahmen und somatische Therapiemaßnahmen:

3.4.1. Hormonbehandlung Sowohl für die Hormonbehandlung als auch für die Indikationen zur Hor­ monbehandlung wurden Standards entwickelt (Becker et al., 1997).

Standards der Indikation zur Hormonbehandlung: • Der Therapeut kennt den Patienten in der Regel mindestens seit einem Jahr.

• Der Patient befindet sich seit mindestens einem Jahr im Alltagstest. • Der Therapeut hat die diagnostischen Kriterien überprüft. • Bei dem Patienten sind die drei genannten Kriterien der Psychotherapie (die innere Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts und

110

Schneider

seiner individuellen Ausgestaltung, die Lebbarkeit der gewünschten Geschlechtsrolle und die realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen somatischer Behandlungen) gegeben. Dass die Standards der Indikation zur Hormonbehandlung eingehalten werden, ist unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung einer Hor­ monbehandlung, da die Auswirkungen der Hormonbehandlung zum Teil irreversibel sind. Die Durchführung der Hormonbehandlung muss durch einen endokrinologisch erfahrenen Arzt erfolgen. Vor Beginn der Behand­ lung muss eine körperliche Untersuchung mit Befunddokumentation erfol­ gen und eventuelle Kontraindikationen abgeklärt werden. Durch einen en­ dokrinologisch erfahrenen Arzt muss die psychische und die dauerhafte körperliche Verträglichkeit der hormonellen Behandlung überprüft werden.

Ziele der Hormonbehandlung:

Ziele der Hormonbehandlung sind bei MF-TS weibliche Merkmale zu er­ reichen, wie weibliche FettVerteilung, weiche Haut, Gynäkomastie, Ho­ denatrophie, Reduktion von Libido, Erektion, Ejakulation (Futterweit 2001). Oft sind Hormonbehandlungen bei Männern mit Nachlassen der psychi­ schen Spannkraft und Depressivität verbunden (Futterweit 2001). Verab­ reicht werden z.B. 100//g Ethinyl-Estradiol/die, Medroxyprogesteronacetat 5-10mg/die und gegebenenfalls Antiandrogene (Futterweit 2001). Bei FM-TS soll die Hormontherapie eine männliche Haarverteilung (Kör­ perbehaarung, Glatzenneigung, Bartwuchs), Zunahme der Muskelmasse, Stimmbruch, Amenorrhoe, verstärkte psychische Spannkraft, vermehrte Ag­ gressivität und Steigerung des sexuellen Interesses bewirken (Futterweit 2001). Medikamentös verordnet man z.B. Testosteronester 250-400 mg/ 2 - 3-wöchentlich (Futterweit 2001). 3.4.2. Transformationsoperation

Auch für die Transformationsoperation als auch zu den Indikationen der Transformationsoperation wurden Standards entwickelt (Becker et al., 1997). Standards zur Indikation zur Transformationsoperation: • Der Therapeut kennt den Patienten in der Regel mindestens seit ein­ einhalb Jahren.

• Der Patient befindet sich seit mindestens eineinhalb Jahren im Alltagstest. • Der Patient wird seit mindestens einem halben Jahr hormonell behandelt.

Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes-

und Jugendalter

111

Die Indikationsstellung zu einer Transformationsoperation muss in Form einer gutachterlichen Stellungnahme durch einen qualifizierten Therapeu­ ten erfolgen. Die gutachterliche Stellungnahme muss folgende Punkte beinhalten (Becker et al., 1997):

• Die Diagnose Transsexualität muss im Behandlungsverlauf bestätigt worden sein, d. h. es muss ein stabiles Identitätsgefühl im anderen Ge­ schlecht und eine dauerhafte Übernahme der anderen Geschlechtsrol­ le vorhanden sein. • Der Patient soll im Erscheinungsbild, Verhalten, Erleben und Persön­ lichkeit charakterisiert werden. • Die biographische Anamnese soll mit Schwerpunkt auf dem individu­ ellen Gesamtverlauf der transsexuellen Entwicklung und den ihn be­ einflussenden Faktoren in den wesentlichen Aspekten dargestellt wer­ den (ggf. unter Einbeziehung fremdanamnestischer Informationen).

• Der Verlauf im Behandlungszeitraum (mit Angabe von Behandlungs­ dauer und -frequenz) soll unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse aus dem so genannten Alltagstest dargestellt werden: Beginn des Alltags­ tests, Vornamensänderung nach dem TSG beantragt oder schon erfolgt, Veränderungen im Befinden und psychischem Gleichgewicht, Sicher­ heit in der Geschlechtsrolle, Sexualität, Beziehungen zu Partnern, Fa­ milie, Freunden, Arbeitsfähigkeit und Akzeptanz am Arbeitsplatz. • Die körperlichen Gegebenheiten für das Leben in der anderen Ge­ schlechtsrolle sollen geschildert werden. Angegeben werden soll, wie sich die Hormonbehandlung körperlich und psychisch ausgewirkt hat, wie der Patienten die körperlichen Veränderungen bewertete und ggf. wie der Patient mit möglichen negativen Reaktionen der Umwelt auf sein Äußeres oder sein Verhalten umzugehen vermag. • Es soll beschrieben werden, ob sich der Patient realistisch mit der Operation und möglichen unerwünschten Folgen auseinandergesetzt hat, welche spezifischen Erwartungen an das Operationsergebnis im Vordergrund stehen (z.B. Aussehen, Funktion, Sexualität) und ob der Wunsch nach weiteren operativen Eingriffen besteht.

• Es soll erklärt werden, warum der Patient ohne Operation auf Dauer unter einem größeren Leidensdruck stehen würde.

112

Schneider

• Es soll eine Prognose gestellt werden, wie sich die Transformations­ operation auf die soziale Integration, die Beziehungsfähigkeit, Arbeits­ fähigkeit und Selbständigkeit wahrscheinlich auswirken wird. Die Transformationsoperation von Frau-zu-Mann hat folgende Ziele (Eicher 1992):

1. Brustplastik 2. Kolpohysterektomie mit Exstirpation der Adnexe 3. Geschlechtsangleichende Operationen am äußeren Genitale, durch: - Rollhautlappenpenoid - Phalloplastik aus geradem Bauchmuskel und Leistenhautlappen - Phalloplastik mit Unterarmtransplantat

Die Transformationsoperation von Mann-zu-Frau hat folgende Ziele (Eicher 1992): 1. Amputation von Penisschaft und Scrotum 2. Invertierung der Penishaut -» Bildung einer Neovagina 3. Schaffung einer weiblichen Harnröhrenmündung und Formung der Schamlippen aus dem Scrotum Weitere mögliche Operationsziele sind die Formung einer empfindungsfä­ higen Klitoris, Brustvergrößerung bei Ausbleiben der Gynäkomastie, Opera­ tion im Bereich der Stimme und Verkleinerung des Adamsapfels sowie Ein­ griffe wie Nasenplastiken und Facelifting.

3.5. Begutachtung nach dem Transsexuellengesetz

Die Begutachtung nach §1 TSG dient der Vornamensänderung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die transsexuelle „Prägung" nicht verhaltensbiolo­ gisch zu verstehen ist, sondern als schrittweise und mehrfaktorielle Entwick­ lung der Transsexualität, die rekonstruierend bewertet werden muss. Der mindestens dreijährige „Zwang" bedeutet die Unmöglichkeit, sich mit dem Geburtsgeschlecht zu versöhnen und die anhaltende innere Gewissheit, dem anderen Geschlecht anzugehören. Die „hohe Wahrscheinlichkeit" der Unveränderbarkeit des Zughörigkeitsempfindens zum anderen Geschlecht bezieht sich auf den derzeitigen medizinischen Wissenstand. In der Begutachtung nach §8 TSG (Personenstandsänderung) muss geklärt werden, ob die Kriterien nach §1 vorliegen, eine dauerhafte Unfruchtbar­ keit gegeben ist und eine deutliche Annäherung an das körperliche Er­ scheinungsbild des anderen Geschlechts erfolgt ist. Vom Transsexuellengesetz sind folgende Fragen nicht geregelt:

Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes-und Jugendalter

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• Ärztliche Behandlung und Krankenkassen • Ehe und Scheidung: Personenstandsänderung erst nach Scheidung möglich • Neuausstellung von Zeugnissen: Neuausstellung erfolgt als „Zweit­ schrift" oder „Ersatzausfertigung" • Arbeitsplatz • Wehrpflicht

4. Verlauf und Prognose nach der Transformationsoperation Die Ergebnisse der geschlechtskorrigierenden Transformationsoperationen wurden zunächst, etwa bis Mitte der 70er Jahre, summarisch recht positiv beurteilt. Die meisten untersuchten Patienten wurden postoperativ als psy­ chisch und sozial stabil eingeschätzt. Spätere Untersuchungen zeigten aber den begrenzten therapeutischen Erfolg der Operation. Die Resultate der inzwischen zahlreichen katamnestischen Untersuchungen Transsexueller nach einer Transformationsoperation wurden von Pfäfflin und Junge (1992) zusammengefasst. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Behandlung, die den gesamten Prozess der Geschlechtsumwand­ lung umfasst, wirkt (Evidenzgrad C). Aus Sicht der Patienten erbringe die Behandlung eine Linderung von Leiden und eine Zunahme subjektiver Zu­ friedenheit, die sich in verschiedenen Lebensbereichen (Partnerschaft, Se­ xualität, Beruf) niederschlägt. Prognostisch ungünstige Faktoren im Hinblick auf das Outcome von ge­ schlechtsumgewandelten Transsexuellen sind (Pfäfflin und Junge 1992):

• Instabile Persönlichkeit, Kriminalität • Unzulängliche Unterstützung durch Familie/soziales Umfeld • Unzureichendes Vermögen, sich bei Problemen selbst zu stabilisieren

• Ungünstiger Körperbau im Hinblick auf die neue Geschlechtsrolle • Gynäphile Orientierung bei MF-TS • Ausgeprägtes sexuelles Interesse bzw. zufriedenstellende Sexualität im biologischen Geschlecht • Fortgeschrittenes Alter zum Zeitpunkt des Ersuchens der medizini­ schen Geschlechtsumwandlung

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Schneider

• Abbruch einer begonnenen Hormonbehandlung/nicht abgestimmte Hormoneinnahme • Abgeleisteter Militärdienst

Literatur Becker S, Bosinski HAG, Clement U, Eicher W, Goerlich TM, Hartmen U, Kockott G, Langer D, Preuss WF, Schmidt G, Springer A, Wille R. Standards der Behand­ lung und Begutachtung von Transsexuellen. Z Sexualforsch 1997; 10: 147-156 Bakker A, van Kesteren PJM, Gooren LJG, Bezemer PD. The Prevalence of Transsexual­ ism in the Netherlands. Acta Psychiatr Scand 1993; 87: 237-238 Eicher W. Transsexualismus, Möglichkeiten und Grenzen der Geschlechtsumwandlung, 2. Auflage, Stuttgart, Jena, New York; G. Fischer Verlag 1992

Eklund PLE, Gooren LJG, Bezemer PD. Prevalence of Transsexualism in the Nether­ lands. Br J Psychiatry 1988; 152: 638-640 Futterweit W. Hormontherapie bei Transsexualismus münd mögliche Komplikationen der Langzeitbehandlung. Z Sexualforsch 2001; 14: 113-129

Garrels L, Kockott G, Michael N, et al. Sex ratio of transsexuals in Germany: the devel­ opment over three decades. Acta Psychiatr Scand 2000; 102: 445-448 Hoenig J, Kenna JC. The Nosological Position of Transsexualism. Arch Sex Behav 1974; 3: 273-287 Osburg S, Weitze C. Betrachtungen über zehn Jahre Transsexuellengesetz. Recht und Psychiatrie 1993; 11: 94-107

Peterson ME, Dickey R. Surgical sex reassignment: a comparative study of international centers. Arch Sex Behav 1995; 24:135-156

Pfäfflin F, Junge A. Geschlechtsumwandlung - Abhandlungen zur Transsexualität. Schat­ tauer Verlag Stuttgart 1992

Ross MW, Walinder J, Lundström B, Thuwe I. Corss-cultural approaches to transsexual­ ism. A comparison between Sweden and Australia. Acta Psychiatr Scand 1981; 63: 75-82 Tsoi WF. The prevalence of Transsexualism in Singapore. Acta Psychiatr Scand 1988; 78: 501-504

Walinder J. Transsexualism: A study of forty-three cases. Akademiecförlaget, Göteborg/Schweden 1967

115

Siegfried Völker, Peter Hartwich

Beitrag einer psychodynamisch arbeitenden Supervisionsgruppe für die psychiatrisch­ psychotherapeutische Weiterbildung Supervisionsgruppen bilden eine eigene Erfahrungsgeschichte aus, die sich auch in Struktur und Dynamik der Gruppe Ausdruck verschafft. Nach der letztjährigen Tagung setzten sieben Teilnehmer mit den beiden Gruppenlei­ tern die fallbezogene Arbeit in weiteren drei Sitzungen im Verlauf des Jah­ res 2006 fort. Diese Kollegen stellten einen Kern der Gruppe, die sich zum diesjährigen Symposium zusammenfand, und hatten implizit eine informell organisierende Funktion für das kommunikative Geschehen der Gruppe. Wie üblich für Gruppen, welche nicht nur punktuell zusammenkommen, können solche Repräsentanten der Kontinuität eine Fermentfunktion für die Prozesse der größeren Gruppe bekommen. Dabei ist auf die Gefahr der möglichen Okkupation des Prozesses durch die „Alten" zu achten und die dadurch möglichen Ausschlussbewegungen gegenüber den „Neuen". Bei gelungenen Gruppenprozessen in der Supervision ist die Arbeit mit dem Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen bereits geläufiger und neu hinzugekommene Teilnehmer können in das Geschehen besser mit hinein­ genommen werden. Die Integration auch weniger erfahrener Kollegen kann auf diese Weise erfolgen. Dies ermöglicht ihnen im günstigen Fall, sich ra­ scher einbringen zu können und exemplarisch den Zugang zu dieser Form der Fallarbeit zu finden. Sich wiederholende Problemkonstellationen in der therapeutischen Interaktion mit Psychosekranken werden so eher sichtbar. Damit können psychodynamisch arbeitende Supervisionsgruppen einen wichtigen Stellenwert in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Weiter­ bildung bekommen. Dieses bezieht sich auch auf Erstbegegnungen mit ei­ nem Psychose-Kranken, indem das Verständnis der Psychodynamik der Be­ ziehungskonstellation erfahren werden kann. Somit besteht der Weiterbil­ dungsaspekt nicht nur in laufenden psychodynamisch fundierten Thera­ pien, sondern auch für das psychodynamische Beziehungsgeflecht im Um­ gang mit Psychose-Kranken überhaupt.

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Völker ♦ Hartwich

Die Gruppe Die Mitglieder der Gruppe waren psychiatrisch arbeitende Ärzte, Psycholo­ gen und psychotherapeutisch tätige Ärzte, die entweder in Kliniken oder niedergelassen in einer Praxis arbeiten. Praktische Erfahrung mit psychose­ kranken Menschen war bei allen Teilnehmern, wenn auch in unterschiedli­ chem Umfang, vorhanden. Der Lern- und Erfahrungseffekt ist bei „Anfän­ gern" ebenfalls als hoch einzustufen.

Der Fall Eine noch in psychiatrisch-psychotherapeutische Weiterbildung befindliche Kollegin, die zur Zeit angestellt in einer nervenärztlichen Praxis arbeitet, stellte den Behandlungsfall eines jüngeren Mannes vor, der seit zehn Jahren an einer Schizophrenie erkrankt ist. Nach Umzug in den Praxisort wurde er zum ersten Mal von der Kollegin gesehen. Sie beschrieb einen großen und kräftigen Mann („nicht dick") in Turnschuhen mit mittelblonden kurzen Haaren, der nach Zigarettenrauch roch. Gegenüber der ihn begleitenden Mutter wirkte er forsch, „ausfällig" und abwehrend, wohingegen die Mutter klein und zierlich wirkte. Aus dem Erstgespräch nahm die Kollegin mit, der Patient sei unruhig und aggressiv, was die Mutter mitgeteilt habe. Er leide unter Erlebnissen, Hexen schickten Strahlen in seinen Körper, und er müsse sich ständig bewegen, um diese abwehren zu können, auch in der Unter­ suchungssituation. Eine neuroleptische Vorbehandlung besteht schon län­ ger. Der Vater ist bereits vor einigen Jahren gestorben. Der Patient hat län­ gere Zeit mit der Mutter zusammengelebt und wohnt jetzt alleine. Er formu­ liert als seinen Entwicklungswunsch in der zweiten Hälfte seines dritten Le­ bensjahrzehnts das Abitur nachholen zu wollen, was in deutlicher Diskre­ panz zu seiner sozialen Behinderung durch die Erkrankung steht. Zur Fami­ lienanamnese ist noch bekannt, dass ein Onkel des Patienten sich suizidierte. Dies berichtete der Patient mit der Mitteilung, er habe „das vorausgese­ hen". In einem zweiten Gespräch, das die Kollegin mit dem Patienten al­ leine führte, wirkte dieser etwas selbständiger. Was der Kollegin aber als emotionaler Nachhall blieb, war ein Überforderungsgefühl. Sie erlebte sich durch sein vieles Reden vom Patienten vereinnahmt.

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Verlauf und Gruppenprozess Nur zögerlich hatte die Kollegin die Bereitschaft zur Falldarstellung in der Gruppe formuliert und zu verstehen gegeben, dass sie nicht genügend vor­ bereitet sei. Zwar laste der Behandlungauftrag auf ihr, aber sie sei bereit, ihren Fall hintanzustellen und die Wichtigkeit anderer Fälle anzuerkennen, falls solche von anderen Teilnehmern zur Sprache gebracht würden. Durch die widersprüchliche Weise, in welcher sie ihr Interesse einbrachte, löste sie Neugier und Ermutigungsversuche durch die anderen Gruppenmitglie­ der aus und fand einen Einstieg. Auffällig war in der Darstellung der Kolle­ gin die Diskrepanz zwischen den relativ spärlichen Informationen zum Fall und andererseits ihrer Mitteilung, sie habe sich vom vielen Reden in der ersten Begegnung eingenommen und überfordert gefühlt. Hier erfuhr sie rege Resonanz durch die Gruppe. Zuerst wurden verschiedene Fragen zur Anamnese gestellt, so als ob diese Fragen die Erinnerung wecken könnten. Damit einhergehend wurde die Notwendigkeit zur Präsentation vollständi­ ger Patientendaten relativiert und so der Kollegin Unterstützung von mehre­ ren gegeben. Dabei wurde auch von den Leitern betont, dass möglichst er­ lebnisnahe Formulierung des Interaktionsgeschehens in der Arzt-PatientenBeziehung dem Erkennen der unbewussten Übertragungs-Gegenüber­ tragungs-Dynamik förderlicher ist als angestrengtes Erinnern, das zu viel willentliche Lenkung des Denkens erfordert und somit wichtige assoziative Wege verstellen kann.

Die Kollegin war in diesem Austauschprozess in der Gruppe angekommen, trotz weiter bestehender Blockade in ihrer Erinnerung. Die Hemmung be­ züglich der Erinnerung der Einzelheiten produzierte dann vorübergehend Ratlosigkeit. Hier erging dann von Seiten der Gruppenleiter die Aufforde­ rung, den Versuch zu unternehmen, sich in die halluzinatorische Erlebnis­ welt des Patienten einzufühlen. Der Versuch, sich dem Beeinflussungserle­ ben des Patienten empathisch zu nähern, brachte die Gefühle von unheim­ licher Angst und Schreck in den Vorstellungsbildern der Teilnehmer hervor. Die probeweise Identifikation machte tiefe Angst vor Verlust der Steuerung in Annäherung erlebbar, wobei betont werden konnte, dass in der Gruppe, im Gegensatz zum Patienten, aber die Realitätsbindung erhalten blieb. Teil­ nehmer äußerten spontan ihre Wünsche nach Distanzierung zu einem sol­ chen verfolgenden Beobachtungs- und leiblichem Beeinflussungserleben. Mit dieser probeweisen Identifikation (Gegenidentifikation, BENEDETTI) wurde solchermaßen die unbewusst ablaufende Abwehr erlebnisfähig in der Gruppe, die die Annäherung an eine solche Angst nicht aufkommen lassen will, sondern rationale Kontrolle verstärkt. Diese emotionale Dyna­

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mik wurde insbesondere von den erfahreneren Teilnehmern als Spiegelung der Arzt-Patienten-Situation der Kollegin zur Verfügung gestellt. Dann wur­ den Bezüge des Wahnerlebens zu infantilem Imaginieren herausgearbeitet, das zum Inhalt hat: Die Mutter weiß alles, was ich fühle und denke. Ein solches magisches Erleben wird auch häufig von Kindern verbalisiert, ist aber auch bei so genannten „primitiven" Kulturen vorhanden. Die zugehö­ rigen Selbst- und Objektbilder von Grandiosität und Angst vor Überwälti­ gung und Selbstverlust wurden auch von den erfahreneren Teilnehmern in Worte gefasst. Diese Konnotation war in mehreren Teilnehmern präsent und deren Mitteilung schaffte eine zunehmend dichtere Arbeitsatmosphäre in der Gruppe. Sie machte eine Annäherung an das innere Mutterbild des Patienten möglich. So entstand ein Zugang zu einem pathogen wirksamen zweiten Bild der von der Untersucherin äußerlich zierlich erlebten Mutter, welche in der Erstbegegnung eher als Opfer des unbeholfen aggressiven Sohnes gewirkt hatte: Das Bild einer übermächtig steuernden und verein­ nahmenden Mutter, die alles durchdringen kann. Insbesondere konnten Bezüge zu dem Krankheitserlebnis der von Hexen ausgehenden Strahlen verstanden werden. Die äußerlich schwach erscheinende Mutter hat im Er­ leben auf der inneren Bühne des Patienten eine große Macht und kann in sein Denken eindringen. Die wahnhafte Verarbeitung des Beziehungserle­ bens durch den Patienten in der Wahrnehmung von Hexen ausgesandter Strahlung trägt diesem übermächtigen Mutterobjekt Rechnung. Das Beobachter-lch befindet sich beim Patienten nicht mehr im mitmenschlichen Be­ zug, der ja Nähe und Übereinkunft mit der bedrohlichen Mutter bedeutet, sondern ist von Angst um die Grenzen seines Selbst und psychotischer Ab­ wehr dieser Angst in der halluzinatorischen Symptombildung bestimmt. Auch sein wenig realitätsgerechter Wunsch nach schulischer Weiterbildung hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung, durch eine solche Entwick­ lung Stärkung und Distanz gegenüber dem überwältigend erlebten Mutter­ objekt schaffen zu können. Die Wahrnehmung der vortragenden Kollegin, zugleich vom Patienten eingenommen worden zu sein und dabei wider­ sprüchlich wenig zu wissen, bringt diesen Zwiespalt im Objektbezug als Gegenübertragungsgeschehen zum Ausdruck. Die Gefahr emotionaler Überwältigung durch das Beziehungsgeschehen mit dem Patienten hatte selektive Verarbeitung der Informationen durch die Kollegin hervorgerufen. Die von ihr unangenehm erlebte Forschheit des Patienten wurde als Dis­ tanzierungsversuch gegenüber der angsterzeugenden symbiotischen Mutter verstehbar, welche die Autonomie des Patienten bedroht. Sozusagen spie­ gelbildlich hatte die Kollegin unmittelbar distanzierende Affekte gegenüber dem Patienten erlebt in der Identifikation mit der schwach erlebten Mutter.

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In der Arbeit an diesem Beziehungsbild fand die Gruppe zu Kohärenz, die auch der Kollegin einen Raum schaffte, ihre erlebten Mängel und Konflikte offener zur Sprache zu bringen. So erinnerte sie jetzt, dass sie sich von dem Thema der Suizidalität blockiert erlebt hatte, zumal sie schon einmal einen schizophrenen Patienten ärztlich betreut hatte, der sich suizidierte. Die Schilderung des Patienten, dass er den Suizid eines Onkels „vorhergese­ hen" hatte, ließ in der Untersucherin Sorge aufkommen, inwieweit der Pa­ tient selbst zu einer solchen Handlung neige. Aktuell bestand keine mani­ feste Suizidgefährdung, aber die Aufmerksamkeit war geweckt und hatte auch vorbewusste Ängste bei der Kollegin hervorgerufen. Der „großartigen" vom Patienten formulierten Vorhersehbarkeit der Suizidhandlung des On­ kels stand bei der Kollegin das Erlebnis von „Ungenügen" in einer vorange­ gangenen Behandungssituation gegenüber. In der Verbalisierung dieser Zu­ sammenhänge konnte eine Amplifizierung des Bildes der Arzt-PatientenBeziehung in der Supervision geschaffen werden. Dabei erfuhr sie vielfälti­ ge Unterstützung im Spiegel der anderen Kolleginnen und Kollegen, die Verständnis zum Ausdruck brachten aufgrund eigener solcher Erfahrungen und dadurch bedingter Furcht und Vorsicht. Damit wurde aber auch das Überforderungserleben noch einmal stärker wiederbelebt im Gruppenpro­ zess. Als Folge formulierte die vortragende Kollegin Selbstzweifel bezüglich der Behandlung des Patienten. Sie war hin und her bewegt zwischen ärztli­ cher Herausforderung und Befürchtungen, dem Patienten nicht genügen zu können, und stellte an die Gruppe die Frage, inwieweit eine psychiatrische Sprechstundenbehandlung dem Patienten hilfreich werden könne, oder ob er vielleicht doch eher einer spezifischen Psychotherapie bedürfe. Überein­ stimmend formulierten die erfahrenen Teilnehmer daraufhin, dass es sich aktuell um eine psychiatrische Basisversorgung handele, die aber sehr wohl auch ein psychotherapeutisches Wissen beinhalten solle. Das anfänglich von ihr zum Ausdruck gebrachte Erleben von Mangel in der Behandlungs­ beziehung, das zuerst als Hemmung erschien, wurde jetzt als Ambivalenz deutlich, die eine Entsprechung zu dieser Grundstörung des Patienten dar­ stellt. Der Patient hatte in der Behandlerin gegensätzliche Wünsche indu­ ziert von einerseits großartiger Therapieanstrengung und andererseits Be­ endigung der Verantwortung für einen solchen schweren Fall, indem er ab­ gegeben werden kann. In der unbewussten Dynamik der Arzt-PatientenBeziehung hat eine Identifikation der Kollegin mit dem vom Patienten so­ wohl gesuchten mächtigen Mutterobjekt stattgefunden, als auch der gegen­ sätzlichen Tendenz zur Zerstörung der Bindung im autistischen Rückzug, der Schutz vor der befürchteten Verletzung der Selbstgrenzen ermöglichen soll.

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Bereits in der Phase der Erstbegegnung ist somit der basale Konflikt des psychosekranken Menschen in der Beziehung wirksam: Die überlebens­ notwendige Nähe zu einem zentral wichtigen Objekt wird zugleich auf­ grund der bisherigen Sozialisationserfahrung, welche strukturell im Selbst verankert ist, zu einem gefährlichen Unterfangen für das Selbst, das sich vom Objekt bedroht erlebt, verlassen und zerstört werden zu können. Pa­ radox wird solchermaßen die Ärztin in der Übertragung zu einer gefährli­ chen Person transformiert, deren Nähe gesucht wird um der Hilfe Willen und zugleich gefürchtet, weil sie die Selbstgrenzen und die Kohärenz des Patienten zu gefährden scheint. Das viele Reden des Patienten hat hier eine beziehungsregulierende Bedeutung: Es schafft Abstand und verhindert die für ihn unerträglich erscheinende emotionale Nähe. Wie soll man in einer solchen Beziehungskonstellation als Therapeutin/Therapeut sowohl den Schutz vor der Intrusion durch Strahlen gewähr­ leisten, als auch dem Patienten Wege zu einer Entwicklung aus der Krank­ heit ermöglichen und ihm Vertrauen und Sicherheit für seine Selbstgrenzen und Identitätsentwicklung vermitteln? Das ist die Aufgabe für eine auf län­ gere Zeit, nämlich Jahre, angelegte Behandlungsbeziehung auf psychody­ namischer Grundlage in der Psychosenbehandlung.

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Peter Wagner, Christoph Schindlmayr, Claus Lotzenius, Sabine Schlegel

Einzelfalldarstellung vom Jugendbis zum Erwachsenenalter Psychische Erkrankungen mit frühem Beginn und ersten Auffälligkeiten während der Kindheit und Jugendzeit sind nicht selten und im klinischen Alltag der Erwachsenenpsychiatrie häufig eine besondere Herausforderung. Ziel des Workshops im Rahmen des Frankfurter Psychiatriesymposions 2006 war daher, die besonderen Verbindungen zwischen den Störungsbil­ dern der Kinder- und Jugendzeit und den psychischen Erkrankungen des Erwachsenenalters anhand konkreter Fallbeispiele herauszuarbeiten und darüber das Verständnis der Verläufe zu vertiefen.

Aus den Krankengeschichten der Klinik wurden Kasuistiken vorgestellt, die im Anschluss an die Präsentation jeweils mit dem Auditorium diskutiert wurden.

Fall 1: Herr B., zum Zeitpunkt der Ersthospitalisierung in unserer Klinik 24 Jahre alt. Wir berichten über einen aktuell in unserer Institutsambulanz behandelten Patienten und seinen ca. 6 l^-jährigen, in unserer Klinik kontinuierlich ver­ folgten Erkrankungsverlauf. Im Bemühen um eine chronologische Darstel­ lung des frühen Erkrankungsverlaufes stützen wir uns auf fremdanamnesti­ sche Angaben der Eltern des Patienten. A. Erkrankungsverlauf in der Kindheit und im Jugendalter

Geboren als 2. Kind (1 Schwester, + 3 J.) in der Geschwisterreihe seien Geburt und statomotorische Entwicklung unauffällig verlaufen. Der frühe Spracherwerb sei zeitgerecht erfolgt, jedoch habe das Kleinkind nach dem Lernen erster Wörter „lange keine neuen Wörter hinzugelernt". Es habe sich häufig trotzig verhalten, oft geschrieen und teilweise auch langandau­ ernde Wutanfälle gehabt. Weiter habe der Junge später nie viel gesprochen. Das Verhalten in Kindergarten und Grundschule sei unauffällig gewesen. Nach Einschulung mit 6 Jahren und 4 Grundschuljahren habe der Junge das Gymnasium besucht. Die Schulleistungen dort seien durchschnittlich ge­

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wesen. Der Junge sei „immer faul" gewesen. Er habe, unter Mitschülern be­ liebt, viele Freunde gehabt. Die Mutter, 56 Jahre und Hausfrau, ist engste Bezugsperson, der Vater - aktuell 54 Jahre alt - arbeitet als Architekt. Die Eltern des Jungen hatten sich getrennt, als dieser 11 Jahre alt war. Er habe mit seiner Schwester weiter bei seiner Mutter gelebt. Der Vater, der in eine andere Stadt in der Region gezogen sei, habe den Jungen jeweils am Wo­ chenende gesehen. Die 7. und die 10. Gymnasialklasse habe er wiederho­ len müssen. Nach der Wiederholung der 10. Klasse sei er nicht mehr zur Schule gegangen, was von seinen Eltern mit Problemen in der Pubertät be­ gründet wurde. Kein Schulabschluss. Nachdem er im Alter von 17 Jahren zusammen mit Freunden in der U-Bahn durch eine Gruppe Jugendlicher überfallen und dabei mit einem Messer bedroht worden sei, habe er sich sehr in sich zurückgezogen. Er habe die Wohnung kaum noch verlassen und zuhause ohne Struktur in den Tag hinein gelebt, dabei viel Zeit mit Computerspielen verbracht. Dieses Verhalten wird von der Mutter des Pat. nachträglich als bedingt durch Angst vor erneuten Überfällen gedeutet. Ihr gegenüber habe er auch Ängste angedeutet, er könne „für schwul" gehalten werden. Er habe sich offensichtlich aber auch verfolgt gefühlt.

Familienanamnestisch wird über eine Zwangserkrankung bei der Schwester und über eine Psychose bei einem Cousin des Patienten berichtet. B. Erkrankungsverlauf im Erwachsenenalter

Eine Erstvorstellung des Patienten in unserer Klinik im Jahre 2003 erfolgte auf Veranlassung der Eltern, da ihr Sohn zunehmend aggressiv geworden sei; er sei im Streit mit seiner Mutter ihr und auch der Schwester gegenüber tätlich geworden. Er habe gedroht, verschiedenen Leuten „in die Fresse zu hauen". Nach Auszug dort und Einzug beim Vater sei es aber auch mit die­ sem zu heftigem Streit gekommen. Weiter habe er häufig Cannabis konsu­ miert, daneben auch viele Zigaretten geraucht.

Psychopathologisch präsentierte sich der Patient im Kontakt misstrauisch, im Rapport dissimulierend, wenig konkret, knapp und stockend. Affektiv wirkte er nivelliert, teils ratlos, teils dysphorisch-reizbar bei psychomotori­ scher Unruhe und reduziertem zielgerichteten Antrieb. Im formalen Den­ ken verarmt, inhaltlich nach Verhaltensbeobachtung Verdacht auf Beziehungs- und Verfolgungsideen und Wahrnehmungsstörungen, deren Exis­ tenz aber vom Patient bestritten werden. Fremdanamnestisch mitgeteilte Fremdaggressivität. Eine kognitive Testung ergab im Mehrfachwahl-Wort­ schatz-Test (MWT-A) mit 26 Punkten einen errechneten IQ von 98 und im Zahlen-Verbindungstest (ZVT) mit 62 Sekunden Bearbeitungszeit einen IQ

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von 103, somit ergab sich in beiden Tests ein durchschnittliches Leistungs­ niveau für die Bereiche Wissen bzw. Informationsverarbeitung.

Diagnostisch bestand nach Ausschluss einer organischen Genese der Ver­ dacht auf eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Im Verlaufe des viermonatigen stationären und anschließenden dreiwöchigen Aufent­ haltes in der Tagesklinik ergaben sich unter antipsychotischer (Olanzapin, Amisulprid, Risperidon, schließlich Perazin und Quetiapin) und antidepres­ siver Behandlung (Venlafaxin) lediglich marginale Besserungen: Weiter im­ ponierten Negativsymptome, die durch emotionale Verflachung, Anhedonie, sozialen Rückzug und Störungen im Sozialverhalten geprägt waren. Einmalig kam es zu einem unvermittelten fremdaggressiven Übergriff ge­ genüber einem Jogger im Park, höchstwahrscheinlich unter dem Eindruck psychotischen Erlebens.

Schließlich erklärte sich der Patient aber zu einer stationären psychiatri­ schen Rehabilitationsbehandlung bereit, die einige Monate später gegen Ende des Jahres 2003 in Karlsbad-Langensteinbach durchgeführt wurde, al­ lerdings bei unzureichender Motivation und dissozialem Verhalten des Pa­ tienten nach 4 Wochen abgebrochen wurde. Der Verdacht auf eine Psy­ chose aus dem schizophrenen Formenkreis wurde bestätigt, differentialdia­ gnostisch wurde eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und dissozialen Zügen erwogen. Der Patient äußerte, auf einer Privatschule das Abitur nachholen zu wollen. Ärztlicherseits wurden hingegen soziothe­ rapeutische Maßnahmen empfohlen, zu denen sich der Patient im weiteren ambulanten Verlauf nicht bereit finden konnte. Zu einer erneuten psychiatrisch stationären Aufnahme kam es ca. ein hal­ bes Jahr später, zunächst auf freiwilliger Basis, in der Universitätsklinik Frankfurt. Von dort wurde der Patient nach Angriff auf seinen Vater (Wür­ gen) nach wenigen Tagen gemäß §10 HFEG geschlossen untergebracht und anschließend unter der Diagnose einer bekannten Psychose mit Impulskon­ trollstörung und aggressiven Durchbrüchen in unsere Klinik verlegt. Nach kurzfristigem stationären Aufenthalt wurde der Patient, der zu einer Fortset­ zung der stationären Behandlung nicht bereit war, bei Fehlen weiterer Kri­ terien für eine längere Unterbringung und unter Aufrechterhaltung einer freiwilligen Behandlungsoption in unsere Tagesklinik aufgenommen. Psy­ chopathologisch präsentierte sich der Patient zu diesem Zeitpunkt im Rap­ port wenig erreichbar, autistisch und einsilbig. Teils war er verweigernd, affektiv nivelliert bis reizbar, in seinem Konzentrationsvermögen und in der Aufmerksamkeit stark reduziert, im formalen Denken einförmig und lang­ sam, wieder paranoides Erleben oder Halluzinationen negierend. Er war

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kaum motivierbar, am tagesklinischen Therapieprogramm teilzunehmen und beklagte eine innere Unruhe und körperlich empfundene Schwäche. All­ mählich wirkte der Herr B. unter dem Einfluss der antipsychotischen Medi­ kation (Clozapin bis 325 mg/die) im Kontaktverhalten etwas zugänglicher.

Nach ambulantem Kontaktaufbau über unsere Institutsambulanz konnte im Laufe der Zeit eine tragfähige therapeutische Beziehung (über den Zeitraum ca. 1 Jahres einmal wöchentliche Ambulanzkontakte) aufgebaut werden und die Behandlungseinsicht graduell gefördert werden. In mehrfachen Familiengesprächen gelang es, bei den Eltern des Patienten ein verbessertes Krankheitsverständnis sowie eine bessere Krankheitsakzep­ tanz zu etablieren. Das Verhältnis des Patienten zu den Eltern - der Patient wohnte jedoch zunächst weiter bei seinen Großeltern in einem anderen Stadtteil als die Mutter - hatte sich entspannt. Eine Vorsorgevollmacht wur­ de über die Mutter eingerichtet. Die ambulante antipsychotische Behand­ lung bestand in Clozapin (Dosierung unter Spiegelkontrollen). Es kam zu keinen weiteren fremdaggressiven Übergriffen. Im Längsschnitt eines Jahres imponierte weiter eine erhebliche Negativsymptomatik. Nach einer inter­ kurrenten stationären somatischen Behandlung (wegen einer Refluxösopha­ gitis) brach der Patient den hiesigen Behandlungskontakt ab. Die Eltern, trotz der berichteten Fortschritte in der Behandlung ihres Sohnes zwischen­ zeitlich eine zunehmend resignative Haltung einnehmend, sahen keine wirksame Möglichkeit, ihn zur Wiederaufnahme der Behandlung zu moti­ vieren. Während eines erneuten, dritten stationären Aufenthaltes, der schließlich einige Monate später auf freiwilliger Basis in unserer Klinik erfolgte, konnte allmählich eine deutliche Besserung des psychopathologischen Bildes unter der Kombinationsbehandlung von Clozapin mit Amisulprid (jeweils in Do­ sierungen von 400 mg/die) erzielt werden. Erst im Rahmen dieser stationä­ ren Behandlung konzidierte der Patient psychotische Symptome wie Stim­ menhören, Ich-Erlebensstörungen und paranoide Ideen, welche er zuvor stets negiert hatte. Die produktiv psychotische Symptomatik remittierte im Weiteren vollständig. Im Rahmen der stationären wie anschließenden ta­ gesklinischen Behandlung gelang es nun, ein tragfähiges Rehabilitations­ konzept mit dem Patienten zu etablieren. Der Patient nahm erste Reha­ werkstatt-Besuche von der Klinik aus wahr und fand sich überraschend gut in diese neuen Gegebenheiten ein.

Im Laufe der weiteren ambulanten Behandlung (unter gleicher Medikation) erschien Herr B. affektiv deutlich besser moduliert, im Kontakt- und Ge­ sprächsverhalten offener und angemessener bei besserer Aufmerksamkeits­

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leistung. Unter kontinuierlicher Rehabilitation lassen sich weitere Perspek­ tiven (wie beispielsweise eine Lehrausbildung) nun entwickeln.

C. Zur Besonderheit des Verlaufs: Warum wurde diese Kasuistik präsentiert?

Zusammenfassend handelt es sich um einen fremdanamnestisch retrospek­ tiv sowie hier im Rahmen der ca. 6 1/2-jährigen Behandlung prospektiv ver­ folgten Fall mit einem schleichend-progressiven Erkrankungsverlauf und wahrscheinlicher Erstmanifestation in der Adoleszenz. Als Trigger für die Manifestation der Erkrankung ist ein vom Patienten traumatisch erlebtes Er­ eignis (Überfall) mit nachfolgender Entwicklung einer zunächst angstbeton­ ten Symptomatik, ähnlich einer posttraumatischen Belastungsstörung, zu diskutieren. Auch wurden anschließende psychotische Prodromalsympto­ me berichtet. Bei einer anzunehmenden biologisch-genetischen Prädisposi­ tion (Cousin mit psychotischer Störung, Schwester mit Zwangsstörung, Ver­ haltenssauffälligkeiten des Patienten in der frühen Kindheit) und ungünsti­ gen Entwicklungsbedingungen im Kindes- und Jugendalter (Trennung der Eltern) entwickelte Herr B. eine psychotische Störung mit überwiegender Negativsymptomatik, die nach einem biographisch einschneidenden Erle­ ben (Überfall) manifest wurde. Retrospektiv ist hierbei hervorzuheben, dass sich die Differentialdiagnose anhand der unspezifischen frühen Symptome bei diesem Patienten beson­ ders schwierig gestaltete: Anfangs erschien eine Differenzierung zwischen Persönlichkeitsanteilen, Entwicklungsrückständen im Sinne einer Reifungs­ krise und den Krankheitszeichen einer psychotischen Störung kaum mög­ lich, im Längsschnitt erhärtete sich jedoch der Verdacht einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis.

Trotz des initial nur schwer beeinflussbar wirkenden Krankheitsgeschehens, was zudem noch durch die familiäre Situation kompliziert wurde, lässt sich im langfristigen Verlauf unter beharrlicher therapeutischer Intervention eine beträchtliche Verbesserung der Gesamtsituation des Patienten feststellen.

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Fall 2: Herr E., zum Zeitpunkt der Ersthospitalisierung in unserer Klinik 24 Jahre alt. Die Krankengeschichte dieses Patienten enthält detaillierte Berichte aus kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung, so dass Angaben für das Lebensalter von 8 Jahren, für den Zeitraum vom 13. bis zum 15. Lebensjahr und das 24. Lebensjahr vorliegen. Wörtliche Zitate aus den erhaltenen Be­ handlungsberichten sind durch Anführungszeiten kenntlich gemacht. A. Erkrankungsverlauf in der Kindheit und im Jugendalter

Der Junge wurde mit Verhaltensauffälligkeiten erstmals im Alter von 8 Jah­ ren ambulant in psychiatrischer Behandlung vorgestellt. Zur Vorgeschichte wird berichtet, dass er zunächst im Haushalt seiner Eltern lebte, aber bereits vor dem 4. Lebensjahr weitestgehend von der Großmutter mütterlicherseits betreut werden musste, da die Eltern mit der Betreuung des Kindes und sei­ nes zwei Jahre jüngeren Bruders überfordert waren.

Familienanamnestisch bestand eine Alkoholabhängigkeit beim Vater und nicht näher bezeichnete psychische Auffälligkeiten bei der Mutter. Über Geburtskomplikationen oder Störungen der frühkindlichen Entwicklung finden sich in den vorliegenden Unterlagen keine Angaben. Nachdem die Großmutter sich ebenfalls durch die Erziehung des Jungen überfordert zeigte, musste er vom 4. bis zum 8. Lebensjahr zum größten Teil in Heimen betreut werden, bis er - im Rahmen des Aufenthalts in einer heilpädagogischen Einrichtung - erstmals in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Frankfurt am Main ambulant vorge­ stellt wurde. Dort sah man die „mögliche Entwicklung einer Gilles-de-laTourette Erkrankung" und stellte die Diagnose einer „Retardation der Grobund Feinmotorik ..., bei nicht altersentsprechender Grundaktivität im EEG mit Hinweisen auf eine neuro-psychologische Funktionsstörung."

Im Anschluss an den vierjährigen Aufenthalt in der heilpädagogischen Ein­ richtung gelang eine Vermittlung in eine Pflegefamilie. Alsbald „zeigte er sich als ein äußerst zerstörerisches Kind. So sorgte er dafür, dass die Waschküche mit Lehmwasser überschwemmt wurde, ..., das WC wurde mit Zeitungspapier verstopft, Schmelzkäse in Teppichboden und Sofa ..., Eier in Teppichboden einmassiert. Massenweise Gläser zertrümmert, Scher­ ben auf der Wiese zerstreut, Blumenzwiebeln ... im Garten ausgebaggert. Der Apfelbaum wurde ausgerissen, wichtige Familiendokumente nahm (er) an sich und zerriss sie. Die Pflegemutter wurde mehrfach massiv bedroht,

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der Schäferhund ... sadistisch angegangen, Autos ... mit Pflastersteinen be­ worfen ..." Nachdem die Situation für die Pflegefamilie unerträglich geworden war er­ folgte im 13. Lebensjahr die stationäre Aufnahme in einer Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie.

Dort zeigte sich folgender Befund: Bei Unsicherheit in Körperbeherrschung deutliche psychomotorische Unruhe („zappelig"), sehr ablenkbar bei guter und schneller Auffassung, aber wenig Ausdauer, impulsiv. Deutlich wurden Versagensängste bei geringem Selbstwertgefühl, daneben aber Größen­ phantasien und die Imitation Erwachsener in Kleidung und Verhalten bis hin zu altersinadäquatem Verwenden von Fachwörtern. Auffällig waren ein Grunztic und erhebliche Einschränkungen in der persönlichen Hygiene.

Am Ende des zwei Jahre dauernden stationären Aufenthalts wurde der 15jährige Junge mit folgendem Befund entlassen: Gute Kontakt-, schlechte Bindungsfähigkeit. Er habe keine Probleme, auf andere zuzugehen, er pfle­ ge „Kontakt, aber keine Freundschaften, ... schauspielerisch aufgesetzt ... (gebe) er sich dort, wo man ihn nicht kennt und einschätzen kann." Auffäl­ lig blieb ein deutliches Kontrollbedürfnis über andere, z.B. indem er Schlüssel sammelte und entwendete. Einerseits zeige er eine zwanghafte Ordentlichkeit (in seinem Zimmer), andererseits eine „chaotische" Impulsi­ vität, indem er sich an keine Regel halte und sich auf eine „egozentrische Weitsicht" einschieße. Problematisch blieb bis zum Ende des Aufenthalts eine Kopplung von Frustration an Aggression, die zumeist heimlich (in Form von Zerstörungen und Beschmutzungen) ausgeführt wurden.

Die Entlassdiagnose lautete: Frühkindliches exogenes Psychosyndrom mit motorischer Beeinträchtigung, Konzentrationsstörung, psychosozialer Re­ tardierung um ca. drei Jahre, Grunztic, aggressiv - depressives Verhalten auf dem Hintergrund kindlicher emotionaler Deprivation mit häufigem Be­ zugspersonenwechsel bei durchschnittlicher Intelligenz. B. Erkrankungsverlauf im Erwachsenenalter

Wir sahen den Patienten neun Jahre später zu insgesamt fünf stationären Aufenthalten in einem Zeitraum von 12 Monaten. Anlass waren jeweils Fremdgefährdungen oder suizidale Krisen - teilweise unter (Alkohol) intoxikation - mit kurzer Behandlungsdauer von ein bis drei Tagen. Letztmalig wurde der Patient aufgenommen, nachdem er einen Bekannten gezielt und mit Waffengewalt (Schlagstock und Messer) bedroht hatte. Grund sei eine vor Tagen abhanden gekommene Geldbörse gewesen, die

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der Bekannte möglicherweise habe. Die hinzu gerufene Polizei konnte ihn nur unter erheblichem Personalaufgebot und Zwangsmassnahmen von dem Haus des Bekannten entfernen und in die Klinik bringen.

Innerhalb der psychiatrischen Notaufnahme schaltete er sein Verhalten ab­ rupt um, war „eloquent und freundlich zugewandt", machte jedoch ver­ schiedene Äußerungen, die einer „Mischung aus devoter Unterordnung und Drohung" zuzuordnen waren. Zwischenanamnestisch bestand seit Entlassung aus der Kinder- und Jugend­ psychiatrie im 15. Lebensjahr eine weitere psychosoziale Betreuung, unter­ brochen durch mehrere Krankenhausaufenthalte, deren Abschlussberichte mangels Einverständnis des Patienten nicht verfügbar waren. Immerhin war es ihm nach seinen Angaben möglich, eine Ausbildung zum Visagist zu ab­ solvieren und diese abzuschließen. Er berichtete weiterhin, in homosexuel­ len Kreisen seiner sexuellen Ausrichtung entsprechend als Callboy zu arbei­ ten. Er sei derzeit arbeitslos, beschäftige sich „teilweise mit dem Sammeln von Uniformen und schilderte zunehmend begeistert seine Wünsche mit seinen „Kollegen" von der Polizei bei einer Demonstration aufzutreten ...".

Wann immer die Gelegenheit sich biete nehme er „Benzodiazepine, Barbi­ turate, Opiate und Opioide", weiterhin sporadisch Kokain und Cannabis, bislang kein Heroin. Psychopathologisch war er am Folgetag der aktuellen Aufnahme wach, all­ seits orientiert, im Kontakt gewinnend, zugewandt, manipulativ, indem er beispielsweise nach dem Eindruck des Untersuchers Antworten gezielt verweigerte. Psychomotorisch war er ruhig, fast gelassen, zielgerichtet. Af­ fektiv wirkte er leicht erbost über seine Fixierung, zeigte ein rasches Wech­ seln zwischen Auftrumpfen und einem rückzügigen Verhalten, teilweise lächelnd. Der Gedankengang war geordnet, die Auffassung und Aufmerk­ samkeit gut bei fehlenden Konzentrationsstörungen. Es fanden sich keine Hinweise für Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Erlebnis-Störungen. Fra­ gen zur akuten Suizidalität wurden verneint. Nachdem der Patient mit Ablauf der polizeilichen Unterbringung die stati­ onäre Behandlung abbrechen wollte und das zuständige Amtsgericht dem Antrag nach Verlängerung nicht entsprach, musste er gegen ärztlichen Rat entlassen werden. Er verabschiedete sich zuletzt mit „der drohend vorge­ brachten Frage, ob eine der Krankenschwestern bei der Fixierung anwesend gewesen sei."

Danach verlor sich die Spur des Patienten. Eine weitere Aufnahme fand in unserer Klinik nicht statt, ebenso wenig erhielten wir zu irgendeinem Zeit-

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punkt eine Anfrage nach Behandlungsberichten. Mehrere Monate nach der letzten Entlassung wurde uns jedoch von dritter Seite berichtet, dass sich Herr E. durch Sturz aus großer Höhe suizidiert habe. Aus den genannten Umständen müssen wir davon ausgehen, dass diese Information authen­ tisch war, ohne dass uns weitere Details bekannt geworden wären.

Diagnostisch gingen wir von einer gemischten Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und dissozialen Anteilen sowie einer Polytoxikomanie aus. C. Zur Besonderheit des Verlaufs: Warum wurde diese Kasuistik präsentiert? Zum einen markiert diese Kasuistik in dem hier präsentierten Spannungs­ bogen möglicher Verläufe zwischen der Kinder- und Jugendzeit und der Erwachsenenwelt eine sehr ungünstige Entwicklung. Bei schwierigen Aus­ gangskonstellationen waren im Verlauf erhebliche psychosoziale Hilfen mobilisiert worden und durchaus beachtliche Leistungen in der Sozialisati­ on (wie abgeschlossene Ausbildung) erreicht worden. Dennoch brachen möglicherweise durch Wegfall günstig strukturierender Bedingungen Muster der Impulskontrollstörung, unter anderem im Substanzgebrauch, durch, ohne dass diese im Erwachsenenalter noch wesentlich therapeutisch beeinflusst werden konnten. Offen bleibt die Frage, ob diese Veränderbarkeit eventuell im Rahmen eines längeren stationären Aufenthaltes gegeben gewesen wäre. Offen bleibt auch wegen der zu kurzen Beobachtungsdauer, ob neben den gestellten Diagnosen noch die einer Aufmerksamkeitsdefi­ zitsstörung im Erwachsenenalter zu ergänzen wäre. Zum anderen illustriert dieser Fall unseres Erachtens gut eine Äquivalenz verschiedener psychopathologischer Auffälligkeiten im Kindes- und Ju­ gendalter auf der einen und im Erwachsenenalter auf der anderen Seite. Es erscheint bei näherer Betrachtung frappierend, wie sehr sich Merkmale ge­ rade der dissozialen Störung bei Herrn E. in ihrer Ausprägung bis in die Kindheit und Jugendzeit zurückverfolgen lassen. Im Folgenden sollen nach den ICD-10 Forschungskriterien (B - Kriterium) für die Persönlichkeitsstörung vom dissozialen Typ diese Symptomäquiva­ lenzen herausgearbeitet werden:

7. Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer

Hierzu sei verwiesen auf die zitierten Zerstörungen des Jungen in seiner Pflegefamilie, einschließlich des Quälens von Tieren. Der erwachsene Pati­ ent spielt in den kurzen therapeutischen Kontakt in manipulativer Weise

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mit der Angst anderer. Zur Illustration kann diesbezüglich noch eine Episo­ de eines weiteren Aufenthalts berichtet werden: Seinerzeit hatte Herr E. zu­ nächst suizidale Absichten vorgebracht, diese später gegenüber der Polizei mit der Begründung zurückgenommen, dass „das Drohen mit der Suizidali­ tät nur ein Trick gewesen sei, um in die Psychiatrie zu kommen." Hier for­ derte er Benzodiazepine, lehnte weitere Maßnahmen ab, verlangte die Ent­ lassung „beschimpfte die Dienstärztin und ... zog gezielt und die Grenzen genau überlegend eine Kanüle aus seiner Kleidung, ritzte oberflächlich sein Gesicht und nahm mit der Kanüle in der Hand eine bedrohliche Haltung ein." 2. Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen

Bereits in den Berichten der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird auf die auf­ fallende Diskrepanz zwischen Ordentlichkeit im persönlichen Bereich und der „chaotischen" Missachtung der Regeln abgehoben, die sich dann später im Erwachsenenalter wie beschrieben in delinquentem Verhalten fortsetzt. 3. Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen

Zum Entlasszeitpunkt aus der zweijährigen kinder- und jugendpsychiatri­ schen Therapie wird ihm eine „gute Kontakt- aber schlechte Bindungsfähig­ keit" attestiert. Neun Jahre später berichtet Herr E. über seine Aktivität als Callboy mit sexueller Promiskuität. Berichte über Beziehung oder Freund­ schaft fehlen. 4. Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten

Auch hier kann auf den Entlasszeitpunkt aus der zweijährigen kinder- und jugendpsychiatrischen Therapie verwiesen werden, in dem die Kopplung von Zurückweisung oder Nicht-Erfüllung einer Forderung an Zerstörung oder Beschmutzung beschrieben wird. Als Erwachsener kommt es immer wieder zu aggressivem Verhalten nach Nichterfüllung seiner Wünsche und Forderungen. 5. Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfah­ rung, insbesondere Bestrafung zu lernen

Dieses Kriterium lässt sich aufgrund des überdauernden Störungsmusters, dessen Ausprägung im Rahmen der Sozialisation ständig negative Sanktio­ nen nach sich zog, sowohl für die Kinder- und Jugendzeit als auch für das Erwachsenenalter belegen.

Einzelfalldarstellung vom Jugend-

bis zum

Erwachsenenalter

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6. Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Realisierun­ gen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind.

Der Entlassbericht der Kinder- und Jugendpsychiatrie enthält den diesbe­ züglich interessanten Hinweis, dass der Junge „außerordentlich chaotisch agiere, indem er sich an keine Regeln mehr halte, sich auf seine egozentri­ sche Weitsicht einschieße, von der aus er alles andere interpretiere." Im Erwachsenenalter beschreibt er sich immer wieder als Opfer, das aus einer Nlotsituation heraus handeln musste, wenn er beispielsweise eine vor Tagen abhanden gekommene Geldbörse als Ursache für die oben beschriebene Gewalteskalation mit Bedrohung unter Waffengewalt nennt. Diese an der Kasuistik nachgezeichneten Verbindungen zwischen einem Störungsbild der Kinder- und Jugendzeit und des Erwachsenenalters finden eine empirische Entsprechung in einer Arbeit von Helgoland et al., (2005). Darin wurden 130 Patienten 28 Jahre (!) nach kinder- und jugendspsychiatrischer Hospitalisation nachuntersucht. Kinder und Jugendliche mit Stö­ rungen des Sozialverhaltens oder verwandten Störungen hatten zwar im Erwachsenenalter kein global erhöhtes Risiko der Entwicklung einer Persön­ lichkeitsstörung, innerhalb der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen hinge­ gen einen deutlich höheren Anteil am Cluster B, d. h. an narzisstischen, emotional instabilen und dissozialen Störungen. Die vorgestellte Fallvignette illustriert dieses Untersuchungsergebnis.

Literatur Helgoland M I, Kjelsberg E, Torgersen S. Continuities between emotional and disruptive behavior disorders in adolescence and personality disorders in adulthood. Am J Psychiatry 2005; 162: 1941-1947