Vom Wesen der Götter. Lateinisch - deutsch.
 3760816959, 9783760816951

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SAMMLUNG TUSCULUM

Wissenschaftliche Beratung: Karl Bayer, Manfred Fuhrmann, Fritz Graf Erik Hornung, Rainer Nickel

MARCUS TULLIUS

CICERO

VOM W E S E N DER GÖTTER Lateinisch-deutsch

Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann

ARTEMIS & WINKLER

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Cicero, Marcus Tullius: Vom Wesen der Götter / Μ. Tullius Cicero. Hrsg., übers, und kommentiert von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann. Zürich ; Düsseldorf: Artemis und Winkler, 1996 (Sammlung Tusculum) Einheitssachtt.: De natura deorum ISBN 3-7608-1695-9 N E : Gigon, Olof [Hrsg.]

Artemis & Winkler Verlag Zürich/Düsseldorf © 1996 Artemis Verlags A G , Zürich Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der photomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten. Satz: Jung Satzcentrum, Lahnau Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Printed in Germany

INHALT

TEXT UND

ÜBERSETZUNG

Liber primus · Erstes Buch

8

Liber secundus · Zweites Buch

98

Liber tertius · Drittes Buch

226

Fragmenta · Fragmente

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ANHANG

Kommentar zum ersten Buch Kommentar zum zweiten Buch Kommentar zum dritten Buch Einführung Namenverzeichnis Literaturhinweise Zur Ausgabe

311 443 533 583 596 605 608

DE N A T U R A D E O R U M LIBRI TRES

VOM WESEN DER G Ö T T E R IN DREI B Ü C H E R N

LIBER

PRIMUS

C u m multae res in philosophia nequaquam satis adhuc explicatae sint, turn perdifficilis, Brute, quod tu minime ignoras, et perobscura quaestio est de natura deorum, quae et ad cognitionem animi pulcherrima est et ad moderandam religionem necessaria. de qua tam variae sunt doctissimorum hominum tamque discrepantes sententiae, (ut) magno argumento esse debeat [causa] principium philosophiae ad h ( . . . ) scientiam, prudenterque Academici (videntur) a rebus incertis adsensionem cohibuisse. quid est enim temeritate turpius aut quid tam temerarium tamque indignum sapientis gravitate atque constantia quam aut falsum sentire aut quod non satis explorate perceptum sit et cognitum sine ulla dubitatione defendere? velut in hac quaestione plerique, quod maxime veri simile est et quo omnes fere duce natura venimus, deos esse dixerunt, dubitare se Protagoras, nullos esse omnino Diagoras Melius et Theodorus Cyrenaicus putaverunt. qui vero deos esse dixerunt tanta sunt in varietate et dissensione, ut eorum molestum sit enumerare sententias. nam et de figuris deorum et de locis atque sedibus et de actione vitae multa dicuntur, deque is summa philosophorum dissensione certatur; quod vero maxime rem causamque continet, utrum nihil agant nihil moliantur omni curatione et administratione rerum vacent, an contra ab iis et a principio omnia facta et constituta sint et ad infinitum tempus

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ERSTES B U C H

Wenn es auch viele Probleme in der Philosophie gibt, die bis heute noch nicht genügend geklärt sind, so ist doch die Frage nach dem Wesen der G ö t t e r ganz besonders schwierig und überaus dunkel, was dir, Brutus, selbstverständlich keineswegs unbekannt ist. Dabei handelt es sich um einen Gegenstand, der sowohl für unser geistiges Erkennen der vollkommenste ist wie auch unentbehrlich für den richtigen U m g a n g mit der Religion. D o c h sind darin die Meinungen der gelehrtesten Männer so verschieden und derart einander widersprechend, daß man mit starken Gründen (bezweifeln kann, es werde jemals möglich sein, die Wahrheit zu erkennen und) zu einer philosophischen Einsicht zu gelangen; so haben denn auch vernünftigerweise die Akademiker sich angesichts solcher Unsicherheit jeglicher Zustimmung enthalten. D e n n was ist schimpflicher als unüberlegtes Urteilen, und was ist unüberlegter und des Ernstes und der festen Haltung eines Weisen unwürdiger, als entweder Falsches zu glauben oder Dinge, die nicht genügend klar erfaßt und begriffen worden sind, ohne irgendein Zögern zu behaupten? So haben denn in unserer Frage die meisten erklärt (was das weitaus wahrscheinlichste ist und w o z u wir nahezu alle durch die N a t u r selber hingeführt werden), daß die G ö t t e r existieren. Protagoras allerdings sagte, er zweifle daran, und Diagoras von Melos und T h e o d o r a s von K y r e n e meinten, es gebe überhaupt keine Götter. Diejenigen nun, die annehmen, daß die G ö t t e r existieren, haben so verschiedene und entgegengesetzte Ansichten, daß es eine zu mühsame Aufgabe wäre, sie alle aufzuzählen. U b e r die Gestalten der Götter, über ihren Aufenthaltsort und Wohnsitz wie auch über ihre Lebensart wird alles mögliche behauptet, und es finden darüber unter den Philosophen die größten Auseinandersetzungen statt. Was schließlich den entscheidenden Punkt betrifft, ob nämlich die G ö t t e r nichts tun, nichts in Bewegung setzen, von jeder Besorgung und Verwaltung der Dinge frei sind, oder ob sie im G e genteil von Anfang an alles hergestellt und eingerichtet haben und auch

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LIBER

PRIMUS

regantur atque moveantur, in primis [quae] magna dissensio est, eaque nisi diiudicatur in summo errore necesse est homines atque in maximarum rerum ignoratione versari.

Sunt enim philosophi et fuerunt qui omnino nullam habere censerent rerum humanarum procurationem deos. quorum si vera sententia est, quae potest esse pietas quae sanctitas quae religio? haec enim omnia pure atque caste tribuenda deorum numini ita sunt, si animadvertuntur ab is et si est aliquid a deis inmortalibus hominum generi tributum; sin autem dei neque possunt nos iuvare nec volunt nec omnino curant nec quid agamus animadvertunt nec est quod ab is ad hominum vitam permanare possit, quid est quod ullos deis inmortalibus cultus honores preces adhibeamus? in specie autem fictae simulationis sicut reliquae virtutes item pietas inesse non potest; cum qua simul sanctitatem et religionem tolli necesse est, quibus sublatis perturbatio vitae sequitur et magna confusio; atque haut scio an pietate adversus deos sublata fides etiam et societas generis humani et una excellentissuma virtus iustitia tollatur. sunt autem alii philosophi, et hi quidem magni atque nobiles, qui deorum mente atque ratione omnem mundum administrari et regi censeant, neque vero id solum, sed etiam ab isdem hominum vitae consuli et provideri; nam et fruges et reliqua quae terra pariat et tempestates ac temporum varietates caelique mutationes, quibus omnia quae terra gignat maturata pubescant, a dis inmortalibus tribui generi humano putant, multaque quae dicentur in his libris colligunt, quae talia sunt ut ea ipsi dei inmortales ad usum hominum fabricati paene videantur.

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ERSTES

BUCH

in die unendliche Z u k u n f t hinein alles regieren u n d in B e w e g u n g halten, gerade darüber herrscht die größte Meinungsverschiedenheit. Wenn es in diesem Punkt zu keiner E n t s c h e i d u n g k o m m t , befinden sich die Menschen gezwungenermaßen in der schlimmsten Unsicherheit u n d in der U n k e n n t n i s über die wichtigsten Dinge. E s gibt nämlich Philosophen, und es gab sie schon früher, die überzeugt waren, daß sich die G ö t t e r überhaupt nicht u m die menschlichen Angelegenheiten kümmerten. Wenn deren Ansicht w a h r ist, wie verm ö g e n dann noch die F r ö m m i g k e i t , die Ehrfurcht, der Gottesdienst zu bestehen? All dies muß man in reiner u n d lauterer G e s i n n u n g den waltenden G ö t t e r n darbringen, sofern es von diesen beachtet wird und sofern es etwas gibt, w a s das Menschengeschlecht den unsterblichen G ö t tern verdankt. Wenn uns aber die G ö t t e r weder helfen können noch wollen u n d sich überhaupt nicht u m das k ü m m e r n u n d nicht das beachten, w a s wir tun, u n d es gar nichts gibt, w a s v o n ihnen bis z u m L e b e n der M e n s c h e n durchdringen kann, w a s hat es dann f ü r einen Sinn, den unsterblichen G ö t t e r n irgendwelche Kulte, E h r u n g e n und G e b e t e darzubringen? In der Gestalt einer bloßen Fiktion kann die F r ö m m i g k e i t ebensowenig bestehen wie die übrigen Tugenden. Mit ihr z u s a m m e n fallen aber notwendigerweise auch die E h r f u r c h t und der Gottesdienst, und w e n n sie beseitigt sind, gerät das L e b e n in die größte U n o r d n u n g und Verwirrung. Wenn die F r ö m m i g k e i t den G ö t t e r n gegenüber verschwunden ist, s o weiß ich nicht, o b damit nicht auch die Vertragstreue, die G e m e i n s c h a f t aller M e n s c h e n untereinander u n d schließlich die hervorragendste unter allen Tugenden, die Gerechtigkeit, aufgehoben sind. E s gibt jedoch andere Philosophen, u n d z w a r bedeutende u n d hoch angesehene, welche glauben, daß durch den G e i s t u n d die Vernunft der G ö t t e r die ganze Welt verwaltet und regiert werde. D a r ü b e r hinaus sind sie überzeugt, daß diese selben G ö t t e r sich auch u m das L e b e n der M e n schen k ü m m e r n und für es sorgen. Sie meinen, daß das K o r n u n d alles Ü b r i g e , w a s die E r d e hervorbringt, auch das Wetter u n d der Wechsel der Jahreszeiten und die Veränderungen am H i m m e l , durch welche alles, was der E r d e entsprießt, wächst und heranreift, d e m Menschengeschlecht v o n den G ö t t e r n zur V e r f ü g u n g gestellt werde; vieles derartige, was in den folgenden B ü c h e r n noch erwähnt werden wird, sammeln sie, so daß beinahe der E i n d r u c k entsteht, die unsterblichen G ö t t e r selbst hätten dies z u m G e b r a u c h der Menschen hergestellt.

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LIBER

PRIMUS

Contra quos Carneades ita multa disseruit, ut excitaret homines non socordes ad veri investigandi cupiditatem. res enim nulla est de qua tantopere non solum indocti sed etiam docti dissentiant; quorum opiniones cum tam variae sint tamque inter se dissidentes, alterum fieri profecto potest ut earum nulla, alterum certe non potest ut plus una vera sit.

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Q u a quidem in causa et benivolos obiurgatores placare et invidos vituperatores confutare possumus, ut alteros reprehendisse paeniteat, alteri didicisse se gaudeant; nam qui admonent amice docendi sunt, qui inimice insectantur repellendi. Multum autem fluxisse video de libris nostris, quos compluris brevi tempore edidimus, variumque sermonem partim admirantium unde hoc philosophandi nobis subito Studium extitisset, partim quid quaque de re certi haberemus scire cupientium; multis etiam sensi mirabile videri earn nobis potissimum probatam esse philosophiam, quae lucem eriperet et quasi noctem quandam rebus offunderet, desertaeque disciplinae et iam pridem relictae patrocinium necopinatum a nobis esse susceptum. N o s autem nec subito coepimus philosophari nec mediocrem a primo tempore aetatis in eo studio operam curamque consumpsimus, et cum minime videbamur tum maxime philosophabamur; quod et orationes declarant refertae philosophorum sententiis et doctissimorum hominum familiaritates, quibus semper domus nostra floruit, et principes illi Diodotus Philo Antiochus Posidonius, a quibus instituti sumus. et si omnia philosophiae praecepta referuntur ad vitam, arbitramur nos et publicis et privatis in rebus ea praestitisse quae ratio et doctrina praescripserit. sin autem quis requirit quae causa nos inpulerit ut haec tam sero litteris mandaremus, nihil est

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ERSTES

BUCH

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G e g e n diese P h i l o s o p h e n hat w i e d e r u m K a r n e a d e s so zahlreiche E i n w ä n d e v o r g e b r a c h t , d a ß er alle geistig n i c h t allzu trägen M e n s c h e n a n s p o r n t e , leidenschaftlich nach der W a h r h e i t zu f o r s c h e n . E s gibt n ä m lich keinen G e g e n s t a n d , ü b e r den nicht nur die U n g e b i l d e t e n , s o n d e r n auch die G e b i l d e t e n so entgegengesetzte M e i n u n g e n haben. D a aber deren M e i n u n g e n derart verschieden sind und einander so sehr w i d e r sprechen, k a n n es sicherlich zutreffen, d a ß keine v o n i h n e n w a h r ist, b e s t i m m t aber n i c h t dies, d a ß m e h r als eine w a h r sein k ö n n t e . I n d i e s e m Streitfall k ö n n e n w i r nun s o w o h l die w o h l w o l l e n d e n G e g n e r beruhigen als auch die neidischen K r i t i k e r w i d e r l e g e n derart, daß die einen es b e r e u e n , m i c h getadelt, die anderen aber sich freuen, etwas gelernt z u haben. D e n n diejenigen, die freundlich e r m a h n e n , m u ß man b e l e h r e n , diejenigen aber, die feindlich angreifen, soll m a n z u r ü c k weisen. I c h sehe aber, daß m e i n e B ü c h e r , die ich viele in k u r z e r Z e i t herausgegeben h a b e , zahlreiche und verschiedenartige R e a k t i o n e n h e r v o r g e rufen haben. D i e einen w u n d e r n sich, w o h e r bei m i r so p l ö t z l i c h dieses Interesse f ü r die P h i l o s o p h i e entstanden sei, die anderen aber m ö c h t e n erfahren, was ich in j e d e m P u n k t an s i c h e r e m W i s s e n zu bieten hätte. Viele e m p f a n d e n es, wie ich b e m e r k t e , auch als sonderbar, daß ich mich gerade d e r j e n i g e n P h i l o s o p h i e z u g e w a n d t h a b e , die uns alles L i c h t w e g n e h m e u n d sozusagen eine A r t v o n N a c h t ü b e r alle D i n g e ausgieße, und daß ich u n e r w a r t e t die Verteidigung einer s c h o n längst preisgegebenen und verlassenen P h i l o s o p h i e auf m i c h g e n o m m e n habe. I c h h a b e indessen w e d e r p l ö t z l i c h angefangen zu p h i l o s o p h i e r e n , n o c h habe ich v o n f r ü h e s t e r J u g e n d an diesem S t u d i u m etwa n u r mäßige M ü h e u n d Sorgfalt e n t g e g e n g e b r a c h t . V i e l m e h r b e f a ß t e ich m i c h gerade dann a m meisten mit der P h i l o s o p h i e , w e n n ich es am w e n i g s t e n zu tun schien. D i e s zeigen auch m e i n e R e d e n , die mit G e d a n k e n der P h i l o s o phen v o l l g e s t o p f t sind, w e i t e r h i n mein f r e u n d s c h a f t l i c h e r U m g a n g mit den gebildetsten M ä n n e r n , der m e i n H a u s i m m e r belebte, s o w i e j e n e Männer von höchster Autorität: Diodotos, Philon, Antiochos, Poseidonios, deren U n t e r r i c h t ich genossen habe. W e n n m a n alle G e b o t e der P h i l o s o p h i e auf das L e b e n b e z i e h e n m u ß , so glaube ich in der T a t , in ö f fentlichen w i e in privaten A n g e l e g e n h e i t e n das geleistet zu h a b e n , was m i r die V e r n u n f t u n d die L e h r e v o r s c h r i e b e n . W e n n aber einer fragt, was mich veranlaßt hat, dies erst so spät schriftlich niederzulegen, so ist

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LIBER

PRIMUS

quod expedire tam facile possimus. nam cum otio langueremus et is esset rei publicae status ut earn unius consilio atque cura gubernari necesse esset, primum ipsius rei publicae causa philosophiam nostris hominibus explicandam putavi, magni existimans interesse ad decus et ad laudem civitatis res tam gravis tamque praeclaras Latinis etiam litteris contineri. eoque me minus instituti mei paenitet, quod facile sentio quam multorum non modo discendi sed etiam scribendi studia commoverim. complures enim Graecis institutionibus eruditi ea quae didicerant cum civibus suis communicare non poterant, quod ilia quae a Graecis accepissent Latine dici posse diffiderent; quo in genere tantum profecisse videmur, ut a Graecis ne verborum quidem copia vinceremur. hortata etiam est ut me ad haec conferrem animi aegritudo fortunae magna et gravi commota iniuria; cuius si maiorem aliquam levationem reperire potuissem, non ad hanc potissimum confugissem. ea vero ipsa nulla ratione melius frui potui quam si me non modo ad legendos libros sed etiam ad totam philosophiam pertractandam dedissem. omnes autem eius partes atque omnia membra tum facillume noscuntur, cum totae quaestiones scribendo explicantur; est enim admirabilis quaedam continuatio seriesque rerum, ut alia ex alia nexa et omnes inter se aptae conligataeque videantur.

Q u i autem requirunt quid quaque de re ipsi sentiamus, curiosius id faciunt quam necesse est; non enim tam auctoritatis in disputando quam rationis momenta quaerenda sunt, quin etiam obest plerumque iis qui discere volunt auctoritas eorum qui se docere profitentur; desinunt enim suum iudicium adhibere, id habent ratum quod ab eo quem probant iudicatum vident. nec vero probare soleo id quod de Pythagoreis accepimus, quos ferunt, si quid adfirmarent in disputando, cum ex iis quaereretur quare

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BUCH

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nichts leichter zu erklären. D e n n als ich in der M u ß e zu erschlaffen drohte u n d der Staat sich in einer solchen L a g e befand, daß er notwendigerweise durch das Planen und die F ü r s o r g e eines Einzigen gelenkt werden mußte, da glaubte ich erstens gerade im Interesse des Staates die Philosophie unseren R ö m e r n vorführen z u müssen, u n d ich hielt es im Blick auf die E h r e und den R u h m des Staates für eine wichtige Sache, d a f ü r zu sorgen, daß s o ernste u n d bedeutende D i n g e auch in lateinischer Sprache vorhanden seien. Ich bedaure meinen E i n s a t z u m s o weniger, als ich leicht feststellen kann, wieviele Leute ich nicht nur z u m Lesen, sondern sogar z u m Schreiben angeregt habe. Manche, die den griechischen Unterricht genossen hatten, waren nicht in der L a g e , das, was sie gelernt hatten, ihren Mitbürgern mitzuteilen, weil sie nicht glaubten, daß das, was sie v o n den Griechen empfangen hatten, auf lateinisch gesagt werden könne. A u f diesem G e b i e t glaube ich meinerseits s o große Fortschritte gemacht zu haben, daß wir von den Griechen nun nicht einmal in der Fülle des A u s d r u c k s ü b e r b o t e n werden. A u ß e r d e m trieb mich ein seelischer Schmerz, hervorgerufen durch einen großen u n d schweren Schicksalsschlag, mich diesen D i n g e n zu w i d m e n . H ä t t e ich d a f ü r a n d e r s w o irgendeinen stärkeren Trost finden können, s o hätte ich sicher nicht hier meine Zuflucht gesucht. Diesen Trost konnte ich aber auf keine Weise besser wirken lassen als dadurch, daß ich mich nicht bloß daran machte, Bücher zu lesen, sondern überhaupt die gesamte Philosophie z u bearbeiten. D e n n alle ihre Teile und Glieder werden dann a m ehesten verstanden, w e n n man die gesamten Fragen im Schreiben klärt. E s besteht nämlich eine A r t v o n b e w u n d e r n s w e r t e m Z u s a m menhang u n d eine gegenseitige Verkettung aller Dinge, s o daß eines mit d e m anderen v e r k n ü p f t und alle untereinander z u s a m m e n p a s s e n d und z u s a m m e n g e b u n d e n zu sein scheinen. Diejenigen aber, die wissen möchten, w a s ich selber über jeden einzelnen P u n k t denke, sind neugieriger, als es sich schickt. Bei D i s k u s s i o nen muß man ja nicht s o sehr nach d e m G e w i c h t der Person als vielmehr nach den B e w e i s g r ü n d e n fragen. Meistens schadet denjenigen, die lernen wollen, s o g a r die Autorität derer, die z u lehren beanspruchen. Sie hören auf, sich ihr eigenes Urteil zu bilden, u n d halten nur das für richtig, v o n d e m sie sehen, daß es v o n demjenigen, den sie schätzen, anerkannt wird. S o pflege ich auch nicht zu billigen, w a s ich ü b e r die Pythagoreer gehört habe. D i e s e sollen, wenn sie in der D i s k u s s i o n einer T h e s e

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ita esset, respondere solitos 'ipse dixit'; ipse autem erat Pythagoras: tantum opinio praeiudicata poterat, ut etiam sine ratione valeret auctoritas. Q u i autem admirantur nos hanc potissimum disciplinam secutos, his quattuor Academicis libris satis responsum videtur. nec vero desertarum relictarumque rerum patrocinium suscepimus; non enim hominum interitu sententiae quoque occidunt, sed lucem auctoris fortasse desiderant. ut haec in philosophia ratio contra disserendi nullamque rem aperte iudicandi profecta a Socrate repetita ab Arcesila confirmata a Carneade usque ad nostram viguit aetatem; quam nunc prope modum orbam esse in ipsa Graecia intellego. quod non Academiae vitio sed tarditate hominum arbitror contigisse. nam si singulas disciplines percipere magnum est, quanto maius omnis; quod facere is necesse est quibus propositum est veri reperiendi causa et contra omnes philosophos et pro omnibus dicere. cuius rei tantae tamque difficilis facultatem consecutum esse me non profiteor, secutum esse prae me fero. nec tamen fieri potest ut qui hac ratione philosophentur hi nihil habeant quod sequantur. dictum est omnino de hac re alio loco diligentius, sed quia nimis indociles quidam tardique sunt admonendi videntur saepius. non enim sumus ii quibus nihil verum esse videatur, sed ii qui omnibus veris falsa quaedam adiuncta esse dicamus tanta similitudine ut in is nulla insit certa iudicandi et adsentiendi nota. ex quo exsistit et illud, multa esse probabilia, quae quamquam non perciperentur, tamen, quia visum quendam haberent insignem et inlustrem, his sapientis vita regeretur.

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z u s t i m m t e n , auf die F r a g e , w a r u m die T h e s e richtig sei, g e a n t w o r t e t haben: « E r selbst hat es gesagt.» - « E r selbst» w a r aber der M e i s t e r P y thagoras. So viel v e r m o c h t e die v o r g e f a ß t e M e i n u n g , daß seine A u t o r i t ä t auch o h n e alle B e w e i s g r ü n d e genügte. D e n j e n i g e n endlich, die sich w u n d e r n , daß ich m i c h gerade an diese Schule angeschlossen habe, denen glaube ich in den vier B ü c h e r n ( A c a d e m i c s h i n r e i c h e n d g e a n t w o r t e t zu h a b e n . I c h habe auch nicht die V e r teidigung einer preisgegebenen und verlassenen L e h r e ü b e r n o m m e n . M i t d e m T o d der M e n s c h e n gehen ja nicht auch ihre G e d a n k e n unter, s o n d e r n sie haben vielleicht n u r keinen ü b e r z e u g e n d e n Vertreter. So ist denn auch in der P h i l o s o p h i e die M e t h o d e , gegen alle T h e s e n zu diskutieren u n d ü b e r k e i n e S a c h e endgültig zu urteilen, v o n S o k r a t e s ausgegangen, v o n A r k e s i l a o s w i e d e r a u f g e n o m m e n , dann v o n K a r n e a d e s ausgebaut w o r d e n , u n d schließlich behielt sie ihre B e d e u t u n g bis in unsere Zeit. I c h w e i ß zwar, d a ß sie gerade j e t z t selbst in G r i e c h e n l a n d so z i e m l i c h verwaist ist, bin a b e r ü b e r z e u g t , daß m a n diese Lage nicht einem Versagen der A k a d e m i e , s o n d e r n der Schwerfälligkeit der L e u t e z u s c h r e i b e n m u ß . D e n n w e n n es s c h o n eine g r o ß e A u f g a b e ist, die L e h ren einer einzelnen Schule zu verstehen, wieviel g r ö ß e r ist sie dann für alle S c h u l e n ? D i e s müssen a b e r diejenigen auf sich n e h m e n , die sich v o r g e n o m m e n haben, s o w o h l gegen wie auch f ü r alle P h i l o s o p h e n zu disputieren, u m die W a h r h e i t z u finden. I c h selbst b e h a u p t e gewiß nicht, daß ich die F ä h i g k e i t zu e i n e m so g r o ß e n u n d schwierigen U n t e r n e h m e n erlangt habe; daß ich d a n a c h gestrebt habe, erkläre ich hingegen gerne. E s trifft j e d o c h auch nicht zu, daß diejenigen, die in dieser R i c h t u n g p h i l o s o p h i e r e n , nichts F e s t e s haben, d e m sie folgen. D o c h ü b e r diesen P u n k t h a b e ich allgemein an einer anderen Stelle ausführlicher und s o r g fältiger gehandelt. Allerdings scheinen einige, die allzu u n b e l e h r b a r und schwerfällig sind, m e h r f a c h einer B e l e h r u n g zu b e d ü r f e n . W i r g e h ö r e n nämlich n i c h t zu denen, f ü r die nichts w a h r z u sein scheint, s o n d e r n w i r erklären, d a ß allem W a h r e n auch etwas F a l s c h e s anhängt, und z w a r mit einer derartigen Ä h n l i c h k e i t , d a ß in diesen D i n g e n kein A n s a t z p u n k t für ein sicheres B e u r t e i l e n und Z u s t i m m e n zu finden ist. D a r a u s ergibt sich folgendes, daß vieles w a h r s c h e i n l i c h ist, das z w a r nicht w i r k lich begriffen w e r d e n k a n n , t r o t z d e m a b e r einen b e s o n d e r e n u n d m a r kanten E i n d r u c k m a c h t , so daß es das L e b e n des Weisen z u lenken vermag.

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LIBER

PRIMUS

Sed iam, ut omni me invidia liberem, ponam in medio sententias philosophorum de natura deorum. quo quidem loco convocandi omnes videntur, qui quae sit earum vera iudicent; tum demum mihi procax Academia videbitur, si aut consensent omnes aut erit inventus aliquis qui quid verum sit invenerit. itaque mihi libet exclamare ut in Synephebis:

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'pro deum, popularium omnium, (omnium) adulescentium clamo postulo obsecro oro ploro atque inploro fidem' non levissuma de re, ut queritur ille in civitate fieri facinora capitalia: 'ab amico amante argentum accipere meretrix non vult', sed ut adsint cognoscant animadvertant, quid de religione pietate sanctitate caerimoniis fide iure iurando, quid de templis delubris sacrificiisque sollemnisbus, quid de ipsis auspiciis, quibus nos praesumus, existimandum sit (haec enim omnia ad hanc de dis inmortalibus quaestionem referenda sunt): profecto eos ipsos, qui se aliquid certi habere arbitrantur, addubitare coget doctissimorum hominum de maxuma re tanta dissensio. Q u o d cum saepe alias tum maxime animadverti cum apud C . Cottam familiarem meum accurate sane et diligenter de dis inmortalibus disputatum est. nam cum feriis Latinis ad eum ipsius rogatu arcessituque venissem, offendi eum sedentem in exedra et cum C . Velleio senatore disputantem, ad quem tum Epicurei primas ex nostris hominibus deferebant. aderat etiam Q . Lucilius Balbus, qui tantos progressus habebat in Stoicis, ut cum excellentibus in eo genere Graecis compararetur. Tum ut me Cotta vidit 'Peroportune' inquit 'venis; oritur enim mihi magna de re altercatio cum Velleio, cui pro tuo studio non est alienum te interesse.'

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D o c h j e t z t will ich, u m m i c h v o n aller M i ß g u n s t z u befreien, die B e h a u p t u n g e n d e r P h i l o s o p h e n ü b e r das W e s e n der G ö t t e r zu W o r t k o m m e n lassen. D a scheint es allerdings richtig zu sein, alle j e n e z u s a m m e n zurufen, die den A n s p r u c h e r h e b e n , d a r ü b e r urteilen zu k ö n n e n , w e l c h e dieser B e h a u p t u n g e n der W a h r h e i t entspricht. D a n n erst wird m i r die A k a d e m i e als a n m a ß e n d erscheinen, w e n n e n t w e d e r alle derselben M e i nung sind o d e r sich tatsächlich einer finden läßt, der begriffen hat, was w a h r ist. S o m ö c h t e ich wie in den ausrufen: « B e i d e n G ö t t e r n des ganzen Volkes, den G ö t t e r n aller jungen Leute schreie, verlange, flehe, bitte, klage ich u n d rufe sie zu Z e u g e n an», nicht in einer völlig lächerlichen A n g e l e g e n h e i t , wie j e n e r j a m m e r t , es geschähen im Staat K a p i t a l v e r b r e c h e n : « V o n i h r e m L i e b h a b e r will die D i r n e kein G e l d a n n e h m e n » , s o n d e r n d a m i t sie h e r b e i k o m m e n , z u r K e n n t n i s n e h m e n und k o n s t a t i e ren, was m a n v o n den K u l t e n , der F r ö m m i g k e i t , der E h r f u r c h t , den religiösen Z e r e m o n i e n , d e n E i d s c h w ü r e n , d e n feierlichen V e r s p r e c h e n , was den T e m p e l n , H e i l i g t ü m e r n , feierlichen O p f e r n u n d auch v o n den A u s p i z i e n , denen ich selber v o r s t e h e , zu glauben hat. Alle diese P u n k t e müssen n ä m l i c h auf die F r a g e nach den G ö t t e r n b e z o g e n w e r d e n . D o c h die so gewaltigen M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n u n t e r den gelehrtesten M ä n n e r n in dieser w i c h t i g s t e n A n g e l e g e n h e i t z w i n g e n wahrhaftig selbst diejenigen zu zweifeln, die m e i n e n , etwas Sicheres zu wissen. D i e s habe ich auch s o n s t häufig b e m e r k t , ganz b e s o n d e r s aber damals, als bei m e i n e m F r e u n d e C . C o t t a eine überaus gründliche und sorgfältige D i s k u s s i o n ü b e r die G ö t t e r geführt w u r d e . A l s ich n ä m l i c h w ä h r e n d d e r F e r i a e L a t i n a e auf seine B i t t e u n d E i n l a d u n g hin zu i h m gek o m m e n war, traf ich ihn, w i e er in der H a l l e saß u n d mit d e m S e n a t o r C . Vellerns diskutierte, d e m damals die E p i k u r e e r den ersten P l a t z unter unsern R ö m e r n einräumten. A n w e s e n d w a r auch Q . L u c i l i u s B a i b u s , der sich u n t e r den S t o i k e r n bereits so sehr auszeichnete, daß er mit den in dieser R i c h t u n g h e r v o r r a g e n d e n G r i e c h e n verglichen w e r d e n k o n n t e . Als C o t t a mich e r b l i c k t e , sagte er: « D u k o m m s t gerade recht; w i r h a b e n n ä m l i c h , Velleius u n d ich, eine A u s e i n a n d e r s e t z u n g ü b e r eine sehr wichtige S a c h e b e g o n n e n , w e l c h e v o n d e i n e m Interesse her auch dir nicht f r e m d sein dürfte.»

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PRIMUS

'Atqui mihi quoque videor' inquam 'venisse, ut dicis, oportune. tres enim trium disciplinarum principes convenistis. M. enim Piso si adesset, nullius philosophiae, earum quidem quae in honore sunt, vacaret locus.'

Tum Cotta 'Si' inquit 'liber Antiochi nostri, qui ab eo nuper ad hunc Balbum missus est, vera loquitur, nihil est quod Pisonem familiarem tuum desideres; Antiocho enim Stoici cum Peripateticis re concinere videntur verbis discrepare; quo de libro Balbe velim scire quid sentias.'

'Egone' inquit ille, 'miror Antiochum hominem in primis acutum non vidisse interesse plurimum inter Stoicos, qui honesta a commodis non nomine sed genere toto diiungerent, et Peripateticos, qui honesta commiscerent cum commodis, ut ea inter se magnitudine et quasi gradibus non genere differrent. haec enim est non verborum parva sed rerum permagna dissensio. verum hoc alias; nunc quod coepimus, si videtur.'

'Mihi vero' inquit Cotta 'videtur. sed ut hie qui intervenit' me intuens 'ne ignoret quae res agatur, de natura agebamus deorum, quae cum mihi videretur perobscura, ut semper videri solet, Epicuri ex Velleio sciscitabar sententiam. quam ob rem' inquit 'Vellei, nisi molestum est, repete quae coeperas.' 'Repetam vero, quamquam non mihi sed tibi hie venit adiutor; ambo enim' inquit adridens 'ab eodem Philone nihil scire didicistis.' Tum ego: ' Q u i d didicerimus, Cotta viderit, tu autem nolo existimes me adiutorem huic venisse sed auditorem,

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BUCH

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« I n der Tat glaube auch ich», erwiderte ich, «daß ich, wie du sagst, im richtigen A u g e n b l i c k g e k o m m e n bin. Ihr habt euch nämlich als drei bedeutende Vertreter dreier philosophischer Schulen z u s a m m e n g e f u n den. Wäre auch noch M . Piso anwesend, s o wären alle philosophischen Richtungen zur Stelle, z u m mindesten diejenigen, die heute allgemein anerkannt sind.» D a z u bemerkte C o t t a : «Wenn das B u c h unseres F r e u n d e s Antiochos, welches er neulich unserem B a i b u s dediziert hat, die Wahrheit spricht, s o hast du keinen G r u n d , deinen F r e u n d Piso zu vermissen; denn für A n t i o c h o s scheinen die Stoiker mit den Peripatetikern in der Sache übereinzustimmen u n d nur in den Worten von ihnen abzuweichen. Allerdings möchte ich gerne wissen, Baibus, wie du über dieses B u c h denkst.» «Ich w u n d e r e mich», antwortete jener, «daß Antiochos, der d o c h ein äußerst scharfsinniger M a n n ist, nicht gesehen hat, daß ein radikaler G e gensatz besteht zwischen den Stoikern, die die Tugend nicht nur d e m N a m e n , sondern der ganzen G a t t u n g nach v o m N u t z e n trennten, u n d den Peripatetikern, die das Tugendgemäße mit d e m N ü t z l i c h e n in der Weise vermischten, daß sie zwischen ihnen einen Unterschied nur in der G r ö ß e u n d s o z u s a g e n nach G r a d e n , nicht aber der G a t t u n g nach, gelten ließen. D a handelt es sich nicht nur u m eine kleine D i f f e r e n z in der Wortwahl, sondern u m einen wesentlichen Streitpunkt in den Sachen selbst. D o c h darüber ein andermal. J e t z t wollen wir, w e n n es euch recht ist, mit d e m fortfahren, w a s wir begonnen haben.» « A u c h mir», sagte C o t t a , «scheint dies richtig. D o c h damit er, der etwas später k a m » , dabei blickte er mich an, «auch im Bild darüber ist, w o r ü b e r wir sprechen, s o m ö c h t e ich ihm sagen, daß wir über das Wesen der G ö t t e r diskutierten. D a mir dieses P r o b l e m , wie schon seit jeher, überaus dunkel zu sein scheint, habe ich Vellerns nach der M e i n u n g Epikurs in dieser Sache gefragt. D e s h a l b » , sagte er, « w e n n es dir nicht unangenehm ist, Velleius, wiederhole, was du bereits begonnen hast.» « D a s will ich gerne wiederholen, o b w o h l dieser hier gewiss nicht als ein H e l f e r f ü r mich, sondern f ü r dich g e k o m m e n ist; denn ihr beide», sagte er uns zulächelnd, «habt ja bei demselben Philon gelernt, nichts zu wissen.» D a r a u f sagte ich: «Was wir gelernt haben, d a f ü r wird C o t t a die Verantwortung tragen. Von dir aber will ich nicht, daß du mich als einen

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LIBER

PRIMUS

et quidem aecum, libero iudicio, nulla eius modi adstrictum necessitate, ut mihi velim nolim sit certa quaedam tuenda sententia.' Tum Vellerns fidenter sane, ut solent isti, nihil tarn verens quam ne dubitare aliqua de re videretur, tamquam m o d o ex deorum concilio et ex Epicuri intermundiis descendisset. 'Audite' inquit 'non futtilis commenticiasque sententias, non opificem aedificatoremque mundi Platonis de Timaeo deum, nec anum fatidicam Stoicorum P r o noeam, quam Latine licet Providentiam dicere, neque vero mundum ipsum animo et sensibus praeditum rutundum ardentem volubilem deum, portenta et miracula non disserentium philosophorum sed somniantium.

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Q u i b u s enim oculis animi intueri potuit vester Plato fabricam illam tanti operis, qua construi a deo atque aedificari m u n d u m facit; quae molitio quae ferramenta qui vectes quae machinae qui ministri tanti muneris fuerunt; quem ad m o d u m autem oboedire et parere voluntati architecti aer ignis aqua terra potuerunt; unde vero ortae illae quinque formae, ex quibus reliqua formantur, apte cadentes ad animum efficiendum pariendosque sensus ? longum est ad omnia, quae talia sunt ut optata magis quam inventa videantur; sed ilia palmaris, quod, qui non m o d o natum mundum introduxerit sed etiam manu paene factum, is eum dixerit fore sempiternum. hunc censes primis ut dicitur labris gustasse physiologiam id est naturae rationem, qui quicquam quod ortum sit putet aeternum esse posse? quae est enim coagmentatio non dissolubilis, aut quid est cuius principium aliquod sit nihil sit extremum? Pronoea vero si vestra est Lucili eadem, requiro quae paulo ante, ministros machinas omnem totius operis dissignationem

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ERSTES

BUCH

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H e l f e r f ü r diesen da verstehst, s o n d e r n als einen H ö r e r , u n d z w a r einen loyalen, der sich die F r e i h e i t des U r t e i l s v o r b e h ä l t u n d d u r c h keinen Z w a n g s o l c h e r A r t verpflichtet ist, u n t e r allen U m s t ä n d e n irgendeine b e s t i m m t e A n s i c h t zu verteidigen.» D a r a u f begann Vellerns h ö c h s t zuversichtlich, wie es j e n e L e u t e z u tun pflegen, und so, als o b er nichts so sehr zu f ü r c h t e n hätte, als in irgendeiner S a c h e den A n s c h e i n eines Z w e i f e l s z u e r w e c k e n , und z w a r ganz, als sei er s o e b e n aus einer G ö t t e r v e r s a m m l u n g u n d aus den Z w i s c h e n w e l t e n E p i k u r s herabgestiegen. « V e r n e h m e t » , sagte er, «keine erf u n d e n e n u n d phantastischen B e h a u p t u n g e n , nichts ü b e r den W e r k m e i ster und W e l t e r b a u e r P i a t o n s , den G o t t aus d e m , auch nichts ü b e r die weissagende A l t e , die P r o n o i a der Stoiker, die m a n lateinisch Providentia n e n n e n k a n n , und n o c h w e n i g e r etwas ü b e r eine Welt, die selber mit G e i s t u n d S i n n e n ausgestattet ist, einen runden, feurigen und b e w e g l i c h e n G o t t , was alles M o n s t r e n und P h a n t a s m e n v o n P h i l o s o phen sind, die nicht a r g u m e n t i e r e n , s o n d e r n t r ä u m e n . D e n n mit w e l c h e n A u g e n der Seele k o n n t e euer P i a t o n die W e r k stätte jenes so u n g e h e u r e n U n t e r n e h m e n s e r b l i c k e n , in w e l c h e r er die Welt d u r c h G o t t k o n s t r u i e r t u n d aufgebaut w e r d e n läßt? Was gab es da für Z u r ü s t u n g e n , W e r k z e u g e , H e b e l , M a s c h i n e n und w e l c h e G e h i l f e n , die an e i n e m so g r o ß e n W e r k e tätig w a r e n ? O d e r auf w e l c h e Weise k o n n t e n L u f t , Feuer, W a s s e r u n d E r d e d e m W i l l e n des A r c h i t e k t e n gefügig sein u n d g e h o r c h e n ? U n d w o h e r s t a m m e n gar j e n e f ü n f E l e m e n t e , aus d e n e n sich alles ü b r i g e gestaltet u n d die genau so passend g e f o r m t sind, u m die Seele herzustellen und die S i n n e s o r g a n e h e r v o r z u b r i n g e n ? M a n b r a u c h t e viel Z e i t , u m all das zu e r w ä h n e n , was e h e r wie ein W u n s c h g e b i l d e aussieht als d e r W i r k l i c h k e i t entspricht. D e n Siegespreis verdient allerdings derjenige, d e r b e h a u p t e t hat, daß die W e l t nicht nur entstanden, s o n d e r n b e i n a h e mit der H a n d fabriziert w o r d e n sei, und der gleichzeitig erklärt, eben diese Welt w e r d e ewig dauern. G l a u b s t du, daß ein solcher, wie m a n s o sagt, auch nur eine A h n u n g v o n d e r P h y siologie, also der L e h r e v o n der N a t u r m i t b e k o m m e n hat, der m e i n t , daß etwas, was entstanden ist, ewig dauern k ö n n e ? W o gibt es irgendeine Z u s a m m e n f ü g u n g , die sich nicht w i e d e r auflöst, o d e r w o gibt es ein D i n g , das z w a r einen A n f a n g , a b e r kein E n d e h a t ? W e n n a b e r eure P r o noia, Lucilius, dasselbe b e w i r k t , so frage ich, w i e s o e b e n s c h o n , n a c h den G e h i l f e n , M a s c h i n e n und der ganzen P l a n u n g und d e m A u f w a n d für das

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LIBER

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atque apparatum; sin alia est, cur mortalem fecerit mundum, non, quem ad modum Platonicus deus, sempiternum. Ab utroque autem sciscitor cur mundi aedificatores repente exstiterint, innumerabilia saecla dormierint; non enim si mundus nullus erat, saecla non erant (saecla nunc dico non ea quae dierum noctiumque numero annuis cursibus conficiuntur; nam fateor ea sine mundi conversione effici non potuisse; sed fuit quaedam ab infinito tempore aeternitas, quam nulla circumscriptio temporum metiebatur, spatio tamen qualis ea fuerit intellegi (qui) potest, quod ne in cogitationem quidem cadit ut fuerit tempus aliquod nullum cum tempus esset) - isto igitur tam inmenso spatio quaero Balbe cur Pronoea vestra cessaverit. laboremne fugiebat? at iste nec attingit deum nec erat ullus, cum omnes naturae numini divino, caelum ignes terrae maria, parerent. quid autem erat quod concupisceret deus mundum signis et luminibus tamquam aedilis ornare? si ut deus ipse melius habitaret, antea videlicet tempore infinito in tenebris tamquam in gurgustio habitaverat. post autem: varietatene eum delectari putamus, qua caelum et terras exornatas videmus? quae ista potest esse oblectatio deo? quae si esset, non ea tam diu carere potuisset. an haec, ut fere dicitis, hominum causa a deo constituta sunt? sapientiumne? propter paucos igitur tanta est rerum facta molitio. an stultorum? at primum causa non fuit cur de inprobis bene mereretur; deinde quid est adsecutus, cum omnes stulti sint sine dubio miserrimi, maxime quod stulti sunt (miserius enim stultitia quid possumus dicere), deinde quod ita multa sunt incommoda in vita, ut ea sapientes commodorum conpensatione leniant, stulti nec vitare venientia possint nec ferre praesentia.

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ganze Werk. Wenn die P r o n o i a jedoch anders zu verstehen ist, w a r u m hat sie dann die Welt vergänglich werden lassen u n d nicht wie der G o t t Piatons, ewig? A n beide aber muß ich die F r a g e stellen, w a r u m die E r b a u e r der Welt plötzlich tätig g e w o r d e n sind, nachdem sie unzählige Jahrhunderte hindurch geschlafen haben? Wenn es nämlich keine Welt gab, s o besagt dies nicht, daß es keine J a h r h u n d e r t e gab; w o b e i ich diesmal unter J a h r h u n derten nicht diejenigen verstehe, welche durch das A b z ä h l e n v o n Tagen und N ä c h t e n und den U m l a u f der J a h r e entstehen. Ich gebe zu, daß dies ohne die D r e h u n g des K o s m o s nicht hätte möglich werden können. D o c h es gab eine A r t von Ewigkeit seit unendlicher Zeit, welche zwar nicht durch u m g r e n z t e Zeitabschnitte meßbar war, deren D i m e n s i o n man aber d e n n o c h begreifen kann. D e n n es ist nicht einmal denkbar, daß eine Zeit gewesen wäre, in der es keine Zeit gab. So frage ich dich also, Baibus, w a r u m eure P r o n o i a in diesem so unmeßbaren Zeitraum untätig geblieben ist. Wollte sie die A n s t r e n g u n g vermeiden? A b e r w e d e r kennt die Gottheit etwas Anstrengendes, noch war überhaupt eine Anstrengung notwendig, wenn alle N a t u r e n , H i m m e l , Feuer, Länder, Meere von selbst d e m göttlichen Willen gehorchten. O d e r wie kann man sagen, daß die Gottheit den Wunsch hatte, wie ein Ädil den Weltraum mit Bildern u n d Lichtern zu s c h m ü c k e n ? G e s c h a h dies, u m G o t t selber ein w o h n licheres L e b e n z u verschaffen, so hat er o f f e n b a r vorher während unendlicher Zeit in der Dunkelheit und gewissermaßen in einer

finsteren

H ö h l e gewohnt. O d e r sollen wir annehmen, er freue sich an der bunten Vielfalt, mit der wir H i m m e l und E r d e geschmückt sehen? Was kann dies f ü r eine F r e u d e f ü r einen G o t t sein? Wäre es wirklich eine F r e u d e gewesen, dann hätte er sie gewiß nicht s o lange entbehren können. O d e r ist dies alles, wie ihr etwa zu sagen pflegt, der M e n s c h e n w e g e n von G o t t geschaffen w o r d e n ? E t w a den Weisen zuliebe? D a n n wäre ein s o riesiger A u f w a n d nur f ü r wenige getrieben w o r d e n . O d e r gar der Toren wegen? D a war erstens kein Anlaß, sich u m die schlechten Menschen verdient zu machen; und was hat er zweitens erreicht, wenn d o c h alle Toren sich zweifellos schon immer im größten Elend befinden, v o r allem gerade, weil sie Toren sind - denn was können wir Elenderes nennen als die Torheit? - u n d dann, weil es im L e b e n s o viele Widerwärtigkeiten gibt, die die Weisen mit ihren Vorzügen auszugleichen vermögen, die Toren dagegen sie weder, wenn sie zu k o m m e n drohen, vermeiden noch, w e n n sie eingetroffen sind, ertragen können.

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Q u i vero mundum ipsum animantem sapientemque esse dixerunt, nullo m o d o viderunt animi natura intellegentis in quam figuram cadere posset, de quo dicam equidem paulo post, nunc autem hactenus: admirabor eorum tarditatem qui animantem inmortalem et eundem beatum rutundum esse velint, quod ea forma neget ullam esse pulchriorem Plato: at mihi vel cylindri vel quadrati vel coni vel pyramidis videtur esse formosior. quae vero vita tribuitur isti rutundo deo? nempe ut ea celeritate contorqueatur cui par nulla ne cogitari quidem possit; in qua non video ubinam mens constans et vita beata possit insistere. quodque in nostro corpore si minima ex parte significetur molestum sit, cur hoc idem non habeatur molestum in deo? terra enim profecto, quoniam mundi pars est, pars est etiam dei; atqui terrae maxumas regiones inhabitabilis atque incultas videmus, quod pars earum adpulsu solis exarserit, pars obriguerit nive pruinaque longinquo solis abscessu; quae, si mundus est deus, quoniam mundi partes sunt, dei membra partim ardentia partim refrigerata ducenda sunt.

A t q u e haec quidem vestra, Lucili; qualia vero (...) est, ab ultimo repetam superiorum. Thales enim Milesius, qui primus de talibus rebus quaesivit, aquam dixit esse initium rerum, deum autem earn mentem quae ex aqua cuncta fingeret; si dei possunt esse sine sensu; et mentem cur aquae adiunxit, si ipsa mens constare potest vacans corpore? Anaximandri autem opinio est nativos esse deos longis intervallis orientis occidentisque, eosque innumerabilis esse mundos. sed nos deum nisi sempiternum intellegere quipossumus? post Anaximenes aera deum statuit, eumque gigni esseque inmensum et infinitum et semper in motu: quasi aut aer sine ulla forma deus esse possit, cum praesertim deum non m o d o aliqua sed pulcherrima specie

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Diejenigen aber, welche behauptet haben, die Welt selbst sei beseelt und weise, haben überhaupt nicht gesehen, in was für eine Gestalt eine vernunftbegabte Seele einzugehen vermag. Darüber werde ich ein wenig später noch reden; hier nur so viel: ich wundere ich über die Unüberlegtheit derer, die meinen, daß ein unsterbliches und überdies glückseliges Lebewesen kugelrund sein könne, bloß weil Piaton erklärt, daß es keine schönere Figur als die Kugel gebe. Mir jedenfalls kommt diejenige eines Zylinders, eines Quadrates, eines Kegels oder einer Pyramide schöner vor. Was für ein Leben schreibt man diesem runden Gotte zu? Eben, daß er sich mit einer derartigen Geschwindigkeit drehe, daß man sich eine ähnliche nicht einmal vorstellen kann. Da begreife ich nicht, wo in diesem Fall ein in sich beständiger Geist und ein glückseliges Leben überhaupt zu bestehen vermögen. Wie sollte ferner das, was an unserem Körper lästig ist, auch wenn es sich nur in einer Kleinigkeit bemerkbar macht, nicht auch von der Gottheit als lästig empfunden werden? Da ja die Erde ein Teil der Welt ist, ist sie unzweifelhaft auch ein Teil der Gottheit. N u n aber sehen wir, daß die weitesten Gebiete der Erde unbewohnbar und unbebaut sind, weil ein Teil von ihnen durch die Sonnenstrahlen verbrannt, ein anderer in Schnee und Eis und durch das lange Ausbleiben der Sonne erstarrt ist. Wenn aber nun die Welt Gott ist und dies Teile der Welt sind, so muß man annehmen, daß die Glieder der Gottheit teils glühend heiß, teils eiskalt sind. Dies sind also nun eure Ansichten, Lucilius. Wie aber die übrigen Lehren aussehen, das will ich nun darlegen, und zwar möchte ich gleich ganz von Anfang an beginnen. (1) Thaies von Milet, der sich als erster mit solchen Fragen beschäftigte, behauptete, das Wasser sei der Ursprung aller Dinge, Gott aber jener Geist, der aus dem Wasser alles gestalte. Doch wie können Götter ohne Empfindung existieren? Und wozu hat er den Geist dem Wasser beigefügt, wenn doch der Geist allein ohne Körper zu bestehen vermag? Die Meinung (2) Anaximanders ist, daß die Götter in langen Zeitabständen auf- und untergehen und daß sie selber unzählige Welten seien. Doch wie können wir einen Gott begreifen, der nicht ewig ist? Nach ihm hat (3) Anaximenes behauptet, daß die L u f t Gott sei und daß dieser Gott entstehe, unmeßbar und unbegrenzt und stets in Bewegung sei. Als ob Gott als Luft bestehen könnte ohne irgendeine Gestalt, vor allem da ihm ja nicht irgendeine Gestalt, sondern die allerschönste zugeschrieben werden muß; wie kann außer-

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deceat esse, aut non omne quod ortum sit mortalitas consequatur. inde Anaxagoras, qui accepit ab Anaximene disciplinam, primus omnium rerum discriptionem et motum mentis infinitae vi ac ratione dissignari et confici voluit. in quo non vidit neque motum sensu iunctum et [in] continentem infinito ullum esse posse, neque sensum omnino quo non tota natura pulsa sentiret. deinde si mentem istam quasi animal aliquod voluit esse, erit aliquid interius ex quo illud animal nominetur; quid autem interius mente: cingatur igitur corpore externo; quod quoniam non placet, aperta simplexque mens nulla re adiuncta, qua sentire possit, fugere intellegentiae nostrae vim et notionem videtur.

Crotoniates autem Alcmaeo, qui soli et lunae reliquisque sideribus animoque praeterea divinitatem dedit, non sensit sese mortalibus rebus inmortalitatem dare, nam Pythagoras, qui censuit animum esse per naturam rerum omnem intentum et commeantem, ex quo nostri animi carperentur, non vidit distractione humanorum animorum discerpi et lacerari deum, et cum miseri animi essent, quod plerisque contingeret, tum dei partem esse miseram, quod fieri non potest, cur autem quicquam ignoraret animus hominis, si esset deus? quo modo porro deus iste, si nihil esset nisi animus, aut infixus aut infusus esset in mundo? tum Xenophanes, qui mente adiuncta omne praeterea, quod esset infinitum, deum voluit esse, de ipsa mente item reprehendetur ut ceteri, de infinitate autem vehementius, in qua nihil neque sentiens neque coniunctum potest esse, nam Parmenides quidem commenticium quiddam: coronae similem efficit (στεφάνην appellat) continentem ardorum lucis orbem, qui cingit caelum, quem appellat deum; in quo neque figuram divinam neque sensum quisquam suspicari potest, multaque eiusdem (modi) monstra, quippe qui bellum qui dis-

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dem etwas entstanden sein, das nicht auch der Sterblichkeit verfallen ist. Danach hat (4) Anaxagoras, der die Lehre des Anaximenes übernommen hat, als erster gelehrt, daß Ordnung und Bewegung aller Dinge durch die Kraft und die Vernunft eines unbegrenzten Geistes entworfen und hergestellt werde. Dabei bemerkte er nicht, daß weder eine mit Empfindung verbundene und kontinuierliche Bewegung im Unbegrenzten möglich sei noch eine Empfindung überhaupt existieren könne, auf die nicht die ganze Natur mit Empfindung reagierte. Wenn er weiterhin diesen Geist als eine Art von Lebewesen verstehen wollte, so müßte es an ihm ein Innerliches geben, von dem her jener als Lebewesen bezeichnet werden könne. Es gibt aber nichts Innerlicheres als den Geist selber; er muß also von einem Körper umschlossen sein. Da er aber dies ablehnt, so bliebe nur der offene und einfache Geist ohne irgendeine Beigabe, die ihm die Empfindung ermöglichte, und dies geht offensichtlich über die Fähigkeit und das Begreifen unserer Vernunft hinaus. (5) Alkmeon aus Kroton, der der Sonne, dem Mond und den übrigen Gestirnen und außerdem der Seele Göttlichkeit zuschrieb, begriff nicht, daß er damit sterblichen Wesen Unsterblichkeit verlieh. Es folgt (6) Pythagoras, der glaubte, Gott sei als eine Seele durch die ganze Natur ausgespannt und fließe durch sie hindurch, und aus ihr würden unsere Seelen herausgegriffen, sah nicht ein, daß Gott durch die Lostrennung der menschlichen Seelen zerrissen und zerfleischt werde; und wenn unsere Seelen im Elend seien, was bei den meisten der Fall ist, dann sei auch ein Teil der Gottheit im Elend, was doch ausgeschlossen ist. Wie könnte überdies der menschliche Geist etwas nicht wissen, wenn er Gott wäre? Und wie könnte umgekehrt Gott, wenn er nichts anderes wäre als Seele, in die Welt eingebunden oder eingegossen sein? Der nächste ist (7) Xenophanes, der zum Geist hinzu alles Übrige, das unbegrenzt ist, für Gott hielt; was den Geist angeht, so trifft ihn derselbe Vorwurf wie die übrigen, ein schärferer aber, was die Unbegrenztheit angeht, da es in ihr nichts Empfindendes und nichts geben kann, was sich mit dem anderen verbinden ließe. (8) Parmenides wiederum ist etwas Phantastisches eingefallen. E r konstruiert einen Kreis, der einem Kranz ähnlich ist - er nennt ihn Stephane, der das Feuer des Lichtes in sich enthält; dieser umgürtet den Himmel, den er Gott nennt. Darunter kann sich allerdings niemand weder eine göttliche Gestalt noch ein empfindungsfähiges Wesen vorstellen. Weiterhin bezieht er viele derartige Plagen wie etwa

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cordiam qui cupiditatem ceteraque generis eiusdem ad deum revocet, quae vel morbo vel somno vel oblivione vel vetustate delentur; eademque de sideribus, quae reprehensa in alio iam in hoc omittantur. Empedocles autem multa alia peccans in deorum opinione turpissume labitur. quattuor enim naturas, ex quibus omnia constare censet, divinas esse vult; quas et nasci et extingui perspicuum est et sensu omni carere.

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Nec vero Protagoras, qui sese negat omnino de deis habere quod liqueat, sint non sint qualesve sint, quicquam videtur de natura deorum suspicari. quid Democritus, qui tum imagines eorumque circumitus in deorum numero refert, tum illam naturam quae imagines fundat ac mittat, tum sententiam intellegentiamque nostram, nonne in maximo errore versatur? cum idem omnino, quia nihil semper suo statu maneat, neget esse quicquam sempiternum, nonne deum omnino ita tollit, ut nullam opinionem eius reliquam faciat? quid aer, quo Diogenes Apolloniates utitur deo, quem sensum habere potest aut quam formam dei? Iam de Piatonis inconstantia longum est dicere, qui in Timaeo patrem huius mundi nominari neget posse, in Legum autem libris quid sit omnino deus anquiri oportere non censeat. quod vero sine corpore ullo deum vult esse (ut Graeci dicunt άσώματον), id quale esse possit intellegi non potest: careat enim sensu necesse est, careat etiam prudentia, careat voluptate; quae omnia una cum deorum notione conprehendimus. idem et in Timaeo dicit et in Legibus et mundum deum esse et caelum et astra et terram et animos et eos quos maiorum institutis accepimus. quae et per se sunt falsa perspicue et inter se vehementer repugnantia. atque etiam Xenophon paucioribus verbis eadem fere peccat; facit enim in his quae a Socrate dicta rettulit

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den Krieg oder die Zwietracht oder die Begierde und anderes dergleichen auf die Gottheit, was alles durch Krankheit, Schlaf, Vergessen oder Alter zugrunde geht. Dasselbe erzählt er von den Gestirnen; ich habe dies schon bei anderen zurückgewiesen und übergehe es darum bei ihm. Bei (9) Empedokles finden sich viele Irrtümer, die schlimmsten aber dort, w o er seine Ansicht von den Göttern vorträgt. E r behauptet nämlich, daß die vier Elemente, aus denen, wie er glaubt, alles entstehe, göttlich seien. Es ist jedoch evident, daß sie entstehen und auch verlöschen und jeglicher Empfindung entbehren. (10) Protagoras aber, der erklärt, er wisse überhaupt nichts Sicheres über die Götter, weder ob sie existieren oder nicht, noch wie sie beschaffen sind, scheint überhaupt nichts von der Natur der Götter geahnt zu haben. Wie steht es ( 1 1 ) mit Demokrit? Begeht er nicht die größten Irrtümer, wenn er bald Bilder und deren Umläufe unter die Zahl der Götter rechnet, bald vielmehr jene Natur, welche die Bilder verströmt und aussendet, bald unsere eigene Empfindung und Vernunft? Außerdem erklärt derselbe, es gebe nichts Dauerhaftes, da nichts ununterbrochen in seinem Zustand zu verharren vermag: er beseitigt die Gottheit so vollständig, daß er nicht die geringste Vorstellung von ihr mehr übrig läßt. Was ist mit der Luft, die (12) Diogenes von Apollonia als Gott bezeichnet? Welche Empfindung und welche Gestalt kann ein solcher Gott haben? Uber die Inkonsequenz (13) Piatons könnte man nun lange reden: im erklärt er, der Vater dieser Welt könne nicht benannt werden, in den Büchern der dagegen, man solle nicht danach forschen, was Gott überhaupt sei. Wenn er fordert, daß Gott völlig körperlos sein müsse - was die Griechen asomaton nennen - , so läßt sich nicht verstehen, wie dies möglich ist; denn ein solcher Gott muß notwendigerweise der Empfindung ermangeln, desgleichen der Klugheit, desgleichen der Lust. Doch dies alles gehört für uns zum Begriffe der Gottheit. Derselbe sagt im wie auch in den , daß die Welt Gott sei, ebenso der Himmel, die Gestirne, die Erde, die Seelen und auch diejenigen Götter, die uns die Tradition der Vorfahren überliefert hat. All dies ist in sich selbst offensichtlich verkehrt und außerdem voll von inneren Widersprüchen. So ziemlich dieselben Fehler begeht auch (14) Xenophon, nur mit weniger Worten. Denn in den Büchern, in denen er über die Lehren des Sokrates berichtet, läßt er Sokrates darlegen, man dürfe

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Socratem disputantem f o r m a m dei quaeri non oportere, eundemque et solem et animum deum dicere, et m o d o unum tum autem plures deos; quae sunt isdem in erratis fere quibus ea quae de Platone diximus. atque etiam Antisthenes in eo libro qui physicus inscribitur popularis deos m u k ö s , naturalem unum esse dicens tollit vim et naturam deorum. nec multo secus Speusippus Platonem avunculum subsequens et vim quandam dicens, qua omnia regantur, eamque animalem, evellere ex animis conatur cognitionem deorum. Aristotelesque in tertio de philosophia libro multa turbat a magistro suo Platone dissentiens; m o d o enim menti tribuit omnem divinitatem, m o d o mundum ipsum deum dicit esse, m o d o alium quendam praeficit mundo eique eas partis tribuit ut replicatione quadam mundi motum regat atque tueatur, tum caeli ardorem deum dicit esse non intellegens caelum mundi esse partem, quem alio loco ipse designarit deum. quo m o d o autem caeli divinus ille sensus in celeritate tanta conservari potest? ubi deinde illi tot dii, si numeramus etiam caelum deum? cum autem sine corpore idem vult esse deum, omni ilium sensu privat, etiam prudentia. quo p o r r o m o d o deus moveri carens corpore aut quo m o d o semper se movens esse quietus et beatus potest? nec vero eius condiscipulus Xenocrates in hoc genere prudentior est, cuius in libris qui sunt de natura deorum nulla species divina describitur; deos enim octo esse dicit, quinque eos qui in stellis vagis nominantur, unum qui ex omnibus sideribus quae infixa caelo sint ex dispersis quasi membris simplex sit putandus deus, septimum solem adiungit octavamque lunam; qui quo sensu beati esse possint intellegi non potest, ex eadem Platonis schola Ponticus Heraclides puerilibus fabulis refersit libros, et tarnen m o d o m u n d u m (deum) tum mentem divinam esse putat, errantibus etiam stellis divinitatem tribuit sensuque deum privat et eius f o r -

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nicht nach der Gestalt Gottes fragen; dennoch nennt auch er die Sonne und die Seele Gott und spricht bald von einem, bald von mehreren Göttern. Dies sind ziemlich dieselben Irrtümer, die wir schon bei Piaton hervorgehoben haben. Auch (15) Antisthenes hebt in dem Buch, das den Titel trägt, das Wesen und die Natur der Götter auf, wenn er sagt, der Volksmeinung nach gebe es viele Götter, der Natur nach aber nur einen einzigen. Wenig verschieden davon ist (16) Speusippos, der seinem Onkel Piaton nachfolgt und versucht, das Wissen von den Göttern aus den Seelen herauszureißen, indem er von irgendeiner Kraft redet, durch die alles gelenkt werde und die überdies beseelt sei. (17) Aristoteles bringt in seinem dritten Buch o d e r g e w i s s e r m a ß e n Blut> sein soll, vermag ich nicht zu verstehen. A u c h du nicht, Vellerns; du willst es nur nicht zugeben. D i e s e D i n g e , die E p i k u r wie im Halbschlaf dahergeredet hat, tragt ihr vor, als o b ihr sie nach D i k t a t zu rezitieren hättet; dabei rühmte er sich selbst, wie wir seinen Werken entnehmen können, er habe keinen Lehrer gehabt. Dies w ü r d e ich jedenfalls ihm gerne glauben, auch wenn er es nicht ausdrücklich verkünden w ü r d e , s o wie man d e m Besitzer eines schlechtgebauten H a u s e s glauben wird, wenn er damit prahlt, er habe keinen Architekten z u g e z o g e n . N i c h t s bei ihm riecht nach der A k a d e m i e , nichts nach d e m Lykeion, s o g a r nichts nach der Primarschule. E r hätte X e n o k r a t e s hören können - welch einen M a n n , ihr G ö t ter! - , u n d es gibt auch Leute, die behaupten, er habe ihn gehört. E r selbst bestreitet es; da glaube ich ihm mehr als irgendeinem anderen. E r berichtet, er habe in S a m o s einen gewissen Pamphilos gehört, einen H ö r e r Piatons (er lebte nämlich dort als junger M e n s c h mit d e m Vater und seinen Brüdern, da sein Vater N e o k l e s als Siedler dorthin g e k o m men war; d o c h da ihn sein Äckerlein nicht ausreichend zu ernähren vermochte, wie ich annehme, ist er Primarlehrer geworden), d o c h diesen Platoniker verachtet E p i k u r mit erstaunlicher Heftigkeit. So sehr hatte er A n g s t davor, den E i n d r u c k zu erwecken, er habe irgendwo irgend etwas gelernt. Bei d e m D e m o k r i t e e r N a u s i p h a n e s kann er allerdings gefaßt werden. E r bestreitet nicht, ihn gehört zu haben, verfolgt ihn aber mit allen möglichen B e s c h i m p f u n g e n . D o c h wenn er da die Lehren D e mokrits nicht kennengelernt hätte, was hat er dann überhaupt gelernt? Es gibt ja in der N a t u r p h i l o s o p h i e E p i k u r s nichts, w a s nicht von D e mokrit stammt. D e n n auch w e n n er einiges verändert hat, wie ich soeben erst v o n der A b w e i c h u n g der A t o m e gesprochen habe, s o lehrt er d o c h in den meisten Punkten dasselbe: über die A t o m e , das Leere, die Bilder, die Unbegrenztheit des R a u m e s , die Zahllosigkeit der Welten, deren

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locorum innumerabilitatemque mundorum, eorum ortus interims, omnia fere quibus naturae ratio continetur. N u n c istuc quasi corpus et quasi sanguinem quid intellegis? ego enim te scire ista melius quam me non fateor solum sed etiam facile patior; cum quidem semel dicta sunt, quid est quod Vellerns intellegere possit Cotta non possit? itaque corpus quid sit sanguis quid sit intellego, quasi corpus et quasi sanguis quid sit nullo prorsus m o d o intellego. neque tu me celas ut Pythagoras solebat alienos, nec consulto dicis occulte tamquam Heralitus, sed, quod inter nos liceat, ne tu quidem intellegis.

Illud video pugnare te, species ut quaedam sit deorum, quae nihil concreti habeat nihil solidi nihil expressi nihil eminentis, sitque pura levis perlucida. dicemus igitur idem quod in Venere Coa: corpus illud non est sed simile corporis, nec ille fusus et candore mixtus rubor sanguis est sed quaedam sanguinis similitudo; sic in Epicureo deo non rem sed similitudines esse rerum.

Fac id quod ne intellegi quidem potest mihi esse persuasum; cedo mihi istorum adumbratorum deorum liniamenta atque formas. non deest hoc loco copia rationum, quibus docere velitis humanas esse formas deorum; primum quod ita sit informatum anticipatum (que) mentibus nostris, ut homini, cum de deo cogitet, forma occurrat humana; deinde quod, quoniam rebus omnibus excellat natura divina, forma quoque esse pulcherrima debeat, nec esse humana ullam pulchriorem; tertiam rationem adfertis, quod nulla in alia figura domicilium mentis esse possit. Primum igitur quidque considera quale sit; arripere enim mihi videmini quasi vestro iure rem nullo modo probabilem.

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E n t s t e h e n und V e r g e h e n , u n d so z i e m l i c h alles, was in der N a t u r p h i l o sophie zur S p r a c h e k o m m t . N u n also, was verstehst du u n t e r e i n e m g e w i s s e r m a ß e n Körper» und g e w i s s e r m a ß e n Blut>? I c h gestehe dir gerne zu, daß du d a r ü b e r m e h r w e i ß t als ich, und g ö n n e dir dies W i s s e n auch mit V e r g n ü g e n . D o c h w e n n die S a c h e einmal f o r m u l i e r t ist, w o h e r k o m m t es, d a ß Vellerns sie begreifen k a n n , aber C o t t a n i c h t ? I c h verstehe v o l l k o m m e n , was ein K ö r p e r u n d was B l u t ist, d o c h was ein «gewissermaßen Körper> u n d ein «gewissermaßen Blut> sein sollen, v e r m a g ich auf k e i n e Weise zu begreifen. D a b e i verheimlichst du m i r nichts, w i e dies P y t h a g o r a s den F r e m den g e g e n ü b e r zu tun pflegte, und du sprichst auch nicht absichtlich d u n k e l , wie w e n n du H e r a k l i t wärest, s o n d e r n , u m es dir u n t e r uns offen zu sagen, du verstehst es e b e n selbst n i c h t . I c h sehe ein, daß du die T h e s e verteidigen willst, daß die G ö t t e r eine A r t v o n G e s t a l t h a b e n , die nichts K o n k r e t e s , nichts G r e i f b a r e s , nichts A u s g e f o r m t e s u n d H e r v o r t r e t e n d e s an sich hat, s o n d e r n rein und leicht und völlig durchsichtig ist. W i r w e r d e n also dasselbe sagen w i e bei der A p h r o d i t e v o n K o s : das ist kein K ö r p e r , s o n d e r n nur einem K ö r p e r ähnlich, u n d die aus rot und w e i ß g e m i s c h t e F a r b e ihrer H a u t hat nichts mit d e m B l u t zu tun, s o n d e r n ist n u r dem B l u t irgendwie ähnlich. So gibt es auch b e i m G o t t e E p i k u r s k e i n e W i r k l i c h k e i t , s o n d e r n n u r etwas der Wirklichkeit Ähnliches. N u n , n i m m einmal an, ich sei v o n d e m ü b e r z e u g t , was sich ü b e r haupt nicht begreifen läßt. B e s c h r e i b e m i r j e t z t die U m r i s s e u n d die G e stalten dieser schattenhaften G ö t t e r . A n d i e s e m P u n k t fehlt es e u c h nicht an einer M e n g e v o n A r g u m e n t e n , mit d e n e n ihr n a c h w e i s e n m ö c h t e t , daß die G e s t a l t der G ö t t e r eine m e n s c h l i c h e sei. F ü r s erste h a b e unser G e i s t die Vorstellung und den V o r b e g r i f f , daß d e m M e n s c h e n , w e n n er ü b e r G o t t n a c h d e n k t , eine m e n s c h l i c h e G e s t a l t einfällt; zweitens ist die N a t u r der G o t t h e i t in allen D i n g e n eine v o l l k o m m e n e , so d a ß sie auch d u r c h die s c h ö n s t e G e s t a l t ausgezeichnet sein m u ß , u n d eine s c h ö n e r e als die des M e n s c h e n gibt es nicht; als dritten G r u n d f ü h r t ihr an, daß der G e i s t in keiner anderen G e s t a l t seinen W o h n s i t z h a b e n kann. P r ü f e also nun zuerst j e d e n einzelnen G r u n d daraufhin, w e l c h e s G e w i c h t er h a b e n mag. I h r s c h e i n t m i r n ä m l i c h sozusagen aus eigener M a c h t v o l l k o m m e n h e i t eine T h e s e in A n s p r u c h z u n e h m e n , die in keiner Weise glaubhaft ist.

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(Primum) omnium quis tam caecus in contemplandis rebus umquam fuit, ut non videret species istas hominum conlatas in deos aut consilio quodam sapientium, quo facilius animos imperitorum ad deorum cultum a vitae pravitate converterent, aut superstitione, ut essent simulacra quae venerantes deos ipsos se adire crederent. auxerunt autem haec eadem poetae pictores opifices; erat enim non facile agentes aliquid et molientes deos in aliarum formarum imitatione servare. Accessit etiam ista opinio fortasse, quod homini homine pulchrius nihil videatur. sed tu hoc physice non vides, quam blanda conciliatrix et quasi sui sit lena natura? an putas ullam esse terra marique beluam quae non sui generis belua maxime delectetur? quod ni ita esset, cur non gestiret taurus equae contrectatione, equus vaccae? an tu aquilam aut leonem aut delphinum ullam anteferre censes figuram suae? quid igitur mirum si hoc eodem modo homini natura praescripsit, ut nihil pulchrius quam hominem putaret? (. ..) earn esse causam cur deos hominum similis putaremus: quid censes, si ratio esset in beluis, non suo quasque generi plurimum tributuras fuisse? at mehercule ego (dicam enim ut sentio) quamvis amem ipse me tamen non audeo dicere pulchriorem esse me quam ille fuerit taurus qui vexit Europam; non enim hoc loco de ingeniis aut de orationibus nostris sed de specie figuraque quaeritur. quod si fingere nobis et iungere formas velimus, qualis ille maritimus Triton pingitur, natantibus invehens beluis, (Nereidibus) adiunctis, humano corpore nolis esse, difficili in loco versor; est enim vis tanta naturae, ut homo nemo velit nisi hominis similis esse - et quidem formica formicae.

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Wer war erstens in der B e o b a c h t u n g der Wirklichkeit so blind, daß er nicht bemerkte, wie die Ü b e r t r a g u n g solcher Menschengestalten auf die G ö t t e r entweder auf eine bestimmte A b s i c h t weiser Männer zurückgeht, die damit hofften, die rohen G e m ü t e r leichter von der Wildheit ihres L e b e n s z u r Verehrung der G ö t t e r bekehren z u können, oder aber ein Werk des Aberglaubens ist, der sich Bilder schaffte, die die Leute verehrten in der Meinung, sie w ü r d e n dabei mit den G ö t t e r n selbst verkehren? G e f ö r d e r t w u r d e n diese D i n g e durch die Dichter, Maler, Bildhauer; denn es war nicht leicht, sich Götter, die etwas tun und ins Werk setzen, in irgendeiner anderen Gestalt vorzustellen und nachzubilden. Möglicherweise k a m dann auch die M e i n u n g dazu, daß der M e n s c h nichts f ü r schöner hält als den Menschen selber. A b e r siehst du N a t u r p h i l o s o p h nicht, wie schmeichlerisch sich die N a t u r selbst empfiehlt und s o z u s a g e n ihre eigene K u p p l e r i n ist? G l a u b s t du wirklich, es fände sich auf der E r d e oder im Meere irgendein wildes Tier, das nicht Tiere seinesgleichen am meisten bewundert? Wenn dies nicht s o wäre, w a r u m sollte dann nicht ein Stier eine Stute begehren oder ein H e n g s t eine K u h ? O d e r meinst du, daß der Adler, der L ö w e , der Delphin irgendeine andere Gestalt schöner fände als die seinige? W a r u m sollen wir uns dann darüber wundern, daß die N a t u r den M e n s c h e n demselben G e s e t z unterworfen hat, daß er nichts f ü r schöner hält als den Menschen, und daher k o m m e es, daß wir uns die G ö t t e r den M e n s c h e n ähnlich vorstellen? O d e r w a s denkst du: wenn die wilden Tiere Vernunft besäßen, w ü r d e nicht ein jedes seiner eigenen G a t t u n g weitaus den Vorzug geben? Ich selbst allerdings - ich will o f f e n sagen, wie ich es e m p f i n d e liebe mich z w a r selbst durchaus, wage aber d e n n o c h nicht zu behaupten, ich sei schöner als jener Stier, der E u r o p a dahintrug; wir reden ja jetzt nicht v o n den geistigen Vorzügen oder v o n unserer Sprachbegabung, sondern v o n der Gestalt u n d v o m A u s s e h e n . U n d w e n n wir uns gar etwas ausdenken u n d verschiedene F o r m e n kombinieren wollten, wie man etwa den Meeresgott Triton zu malen pflegt, der auf schwimmenden Tieren reitet und v o n N e r e i d e n u m g e b e n ist, so würden wir gar nicht wünschen, einen menschlichen K ö r p e r zu besitzen. Ich weiß, daß es sich u m ein heikles P r o b l e m handelt. D e n n die M a c h t der N a t u r ist s o groß, daß kein Mensch etwas anderes begehrt, als eben einem M e n schen ähnlich zu sein - d o c h auch die A m e i s e möchte der A m e i s e ähnlich sein.

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Sed tamen cuius hominis? quotus enim quisque formonsus est: Athenis cum essem, e gregibus epheborum vix singuli reperiebantur - video quid adriseris, sed ita tamen se res habet, deinde nobis, qui concedentibus philosophis antiquis adulescentulis delectamur, etiam vitia saepe iucunda sunt: "naevos in articulo pueri delectat Alcaeum"; at est corporis macula naevos; illi tamen hoc lumen videbatur. Q . Catulus, huius collegae et familiaris nostri pater, dilexit municipem tuum Roscium, in quem etiam illud est eius: "constiteram exorientem A u r o r a m forte salutans, cum subito a laeva Roscius exoritur. pace mihi liceat caelestes dicere vestra: mortalis visus pulchrior esse deo." huic deo pulchrior; at erat, sicuti hodie est, perversissimis oculis: quid refert, si hoc ipsum salsum illi et venustum videbatur? r e d e o a d d e o s . ecquos si non tam strabones at paetulos esse arbitramur, ecquos naevum habere, ecquos silos flaccos frontones capitones, quae sunt in nobis, an omnia emendata in illis ? detur id vobis; num etiam una est omnium facies? nam si plures, aliam esse alia pulchriorem necesse est, igitur aliquis non pulcherrimus deus; si una omnium facies est, florere in caelo Academiam necesse est: si enim nihil inter deum et deum differt, nulla est apud deos cognitio, nulla perceptio.

Q u i d si etiam Vellei falsum illud omnino est, nullam aliam nobis de deo cogitantibus speciem nisi hominis occurrere: tamenne ista tam absurda defendes? nobis fortasse sic occurrit ut dicis; a parvis enim Iovem Iunonem Minervam N e p t u n u m Vulcanum Apollinem reliquos deos ea facie novimus qua pictores fictoresque voluerunt, neque solum facie sed etiam ornatu aetate vestitu. at non

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U n d schließlich: Was f ü r einem Menschen möchte man ähnlich sein? Wie wenige sind wirklich schön. A l s ich in Athen war, fanden sich unter den Scharen der E p h e b e n k a u m einzelne - ich verstehe, weshalb du mich angelächelt hast, aber es ist wirklich so; u n d w e n n wir, gestützt auf die Autorität der alten Philosophen, uns mit K n a b e n vergnügen, s o finden wir oftmals auch körperliche Fehler reizvoll. Ein Muttermal ist z w a r ein Schönheitsfehler; d o c h er fand gerade dies prächtig. Q . C a tulus, der Vater unseres Kollegen u n d Freundes, war in deinen L a n d s mann R o s c i u s verliebt, auf den er auch f o l g e n d e Verse gedichtet hat: (intel-ligere). Denn in allen diesen Wörtern steckt dieselbe Bedeutung des Lesens ( l e g e r e ) wie bei (religiosus). So hat es sich ergeben, daß der Begriff des Abergläubischen (superstitiosus) einen Tadel enthält, der andere Begriff aber (religiosus) ein Lob. Ich denke jedoch, daß ich damit ausreichend dargelegt habe, daß die Götter existieren und von welcher Natur sie sind. D e r nächste Punkt ist zu zeigen, daß die Welt durch die Vorsehung der Götter verwaltet wird. Dies ist ein großes Kapitel, und deine Freunde, Cotta, haben ihre Angriffe gerade darauf konzentriert, und so wird denn auch meine ganze Auseinandersetzung euch betreffen. Denn ihr, Velleius, begreift zu wenig, wie jede einzelne These zu verstehen sei. Ihr lest ja nur eure eigenen Bücher, schätzt nur sie, und die übrigen verdammt ihr, ohne sie überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben. So hast du denn auch im gestrigen Gespräch behauptet, die Stoiker würden von der Pronoia, also der Vorsehung, wie von einem alten orakelnden Weibe reden. Du hast dich darum geirrt, weil du meinst, sie stellten sich die Vorsehung als eine besondere Gottheit vor, die die ganze Welt lenkt und regiert. In Wirklichkeit handelt es sich um eine abkürzende Redeweise in folgendem Sinne. Jemand mag erklären, daß der Staat der Athener durch den regiert werde und dabei den Zusatz weglassen, daß es sich um den Rat des Areopag handelt; so ist es auch hier: Wir sagen, daß die Welt durch die Vorsehung verwaltet werde, und da mußt du beachten, daß der Zusatz «Vorsehung der Götter> weggelassen wird. D u mußt also annehmen, daß die vollständige und vollkommene Formel die ist, daß die Welt durch die Vorsehung der Götter verwaltet werde. Also versucht nicht, den Witz, den euer Verein nicht besitzt, darauf zu verschwenden, uns lächerlich machen zu wollen; und, bei Hercules, wenn ihr auf mich hören wollt, so tut ihr besser daran, es gar nicht zu versuchen. Es schickt sich nicht, es ist euch nicht gegeben, ihr seid dazu gar nicht fähig. Dies ist natürlich nicht auf dich bezogen, der du in einzigartiger Weise durch unsere eigenen Traditionen und durch die Liebenswürdigkeit unserer Landsleute gebildet bist, sondern auf alle anderen unter euch, und vor allem auf ihn, der sich dergleichen ausgedacht hat, ein Mensch ohne Bildung, ohne Wissen, der alle anderen beschimpft, selbst aber weder Scharfsinn noch Autorität, noch Eleganz besitzt. Ich behaupte also, daß durch die Vorsehung der Götter die Welt und alle ihre Teile sowohl im Ursprung aufgebaut worden sind wie auch für

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administrari. eamque disputationem tris in partes nostri fere dividunt. quarum prima pars est quae ducitur ab ea ratione quae docet esse deos; quo concesso confitendum est eorum consilio m u n d u m administrari. secunda est autem quae docet omnes res subiectas esse naturae sentienti ab eaque omnia pulcherrume geri; quo constituto sequitur ab animantibus principiis earn esse generatam. tertius est locus qui ducitur ex admiratione rerum caelestium atque terrestrium. Primum igitur aut negandum est esse deos, quod et Democritus simulacra et Epicurus imagines inducens quodam pacto negat, aut qui deos esse concedant is fatendum est eos aliquid agere idque praeclarum; nihil est autem praeclarius mundi administratione; deorum igitur consilio administratur. quod si aliter est, aliquid profecto sit necesse est melius et maiore vi praeditum quam deus, quale id cumque est, sive inanima natura sive necessitas vi magna incitata haec pulcherrima opera efficiens quae videmus; non est igitur natura deorum praepotens neque excellens, si quidem ea subiecta est ei vel necessitati vel naturae, qua caelum maria terrae regantur. nihil est autem praestantius deo; ab eo igitur mundum necesse est regi; nulli igitur est naturae oboediens aut subiectus deus; omnem ergo regit ipse naturam. etenim si concedimus intellegentes esse deos, concedimus etiam providentes et rerum quidem maxumarum. ergo utrum ignorant quae res maxumae sint quoque eae m o d o tractandae et tuendae, an vim non habent qua tantas res sustineant et gerant? at et ignoratio rerum aliena naturae deorum est, et sustinendi muneris propter inbecillitatem difficultas minime cadit in maiestatem deorum. ex quo efficitur id quod volumus, deorum providentia mundum administrari.

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ZWEITES

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alle Zeit verwaltet w e r d e n . D i e s e n P u n k t teilen die U n s r i g e n ungefähr in drei A b s c h n i t t e . D e r erste ist u n m i t t e l b a r abgeleitet v o n d e m B e w e i s , mit d e m die E x i s t e n z der G ö t t e r b e g r ü n d e t wird; hat m a n dies angen o m m e n , so ergibt sich v o n selbst, d a ß d u r c h ihr P l a n e n die Welt verwaltet w i r d . A l s zweites w i r d dargelegt, d a ß alle D i n g e einer w a h r n e h m u n g s f ä h i g e n N a t u r u n t e r w o r f e n sind u n d v o n ihr auf das s c h ö n s t e gelenkt w e r d e n . Steht dies fest, so folgt daraus, d a ß j e n e N a t u r v o n b e seelten P r i n z i p i e n h e r v o r g e b r a c h t w o r d e n ist. D e r dritte P u n k t endlich b e s t e h t in d e r B e w u n d e r u n g der V o l l k o m m e n h e i t der h i m m l i s c h e n u n d irdischen D i n g e . Als erstes haben w i r nur die Wahl, e n t w e d e r die E x i s t e n z der G ö t t e r zu bestreiten, w i e dies s o w o h l D e m o k r i t mit seinen A b b i l d e r n w i e auch E p i k u r mit seinen B i l d e r n auf gewisse Weise tun, o d e r a b e r die E x i s t e n z der G ö t t e r a n z u n e h m e n u n d d a n n z u z u g e s t e h e n , daß sie irgendwie tätig sind, u n d z w a r auf die v o l l k o m m e n s t e Weise. E s gibt aber kein v o l l k o m meneres T u n als die V e r w a l t u n g der Welt. A l s o w i r d sie in der.Tat d u r c h die G ö t t e r verwaltet. Sollte sich dies anders verhalten, so m ü ß t e es n o t w e n d i g e r w e i s e etwas geben, was besser u n d mit g r ö ß e r e r K r a f t ausgestattet wäre als die G o t t h e i t . D i e s e s , m a g es nun sein, was es will, sei es eine u n b e s e e l t e N a t u r o d e r eine N o t w e n d i g k e i t , m ü ß t e , mit gewaltiger K r a f t angetrieben, dieses h e r r l i c h e W e r k zustande bringen, das w i r u m uns sehen. D a n n wäre also die N a t u r der G ö t t e r w e d e r ü b e r m ä c h t i g n o c h hervorragend, w e n n sie n ä m l i c h einer s o l c h e n N o t w e n d i g k e i t o d e r einer N a t u r , die H i m m e l , M e e r e und L ä n d e r regierte, u n t e r w o r f e n wäre. E s gibt indessen nichts H e r v o r r a g e n d e r e s als die G o t t h e i t . A l s o w i r d n o t w e n d i g e r w e i s e die W e l t v o n ihr regiert. A l s o ist G o t t k e i n e r N a t u r g e h o r s a m o d e r u n t e r w o r f e n ; v i e l m e h r regiert er die ganze N a t u r . W e n n wir überdies z u g e b e n , daß die G ö t t e r v e r n u n f t b e g a b t sind, gestehen w i r gleichzeitig zu, daß sie fürsorglich sind, u n d z w a r für die g r ö ß t e n D i n g e . Sollen w i r etwa a n n e h m e n , d a ß sie n i c h t wissen, w e l c h e s die g r ö ß t e n D i n g e sind und auf w e l c h e Weise sie verwaltet u n d b e w a h r t w e r d e n m ü s s e n , o d e r daß sie n i c h t genügend K r a f t h a b e n , so g r o ß e D i n g e auf sich zu n e h m e n und zu l e n k e n ? D o c h jede U n w i s s e n h e i t ist der N a t u r der G ö t t e r f r e m d , u n d daß die S c h w ä c h e es ihnen schwierig m a c h e n sollte, ihre A u f g a b e zu bewältigen, entspricht in k e i n e r Weise d e m R a n g der G ö t t e r . E s folgt daraus genau das, was w i r w o l l e n , n ä m l i c h d a ß die Welt d u r c h die V o r s e h u n g der G ö t t e r verwaltet wird.

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A t q u i necesse est cum sint di (si m o d o sunt, ut profecto sunt) animantis esse, nec solum animantes sed etiam rationis compotes inter seque quasi civili conciliatione et societate coniunctos, u n u m m u n d u m ut communem rem publicam atque urbem aliquam regentis. sequitur ut eadem sit in is quae humano in genere ratio, eadem Veritas utrobique sit eademque lex, quae est recti praeceptio pravique depulsio. ex quo intellegitur prudentiam quoque et mentem a deis ad homines pervenisse (ob eamque causam maiorum institutis Mens Fides Virtus Concordia consecratae et publice dedicatae sunt; quae qui convenit penes deos esse negare, cum eorum augusta et sancta simulacra veneremur: quod si inest in hominum genere mens fides virtus concordia, unde haec in terram nisi ab superis defluere potuerunt?), cumque sint in nobis consilium ratio prudentia, necesse est deos haec ipsa habere maiora, nec habere solum sed etiam his uti in maxumis et optumis rebus, nihil autem nec maius nec melius mundo; necesse est ergo eum deorum consilio et providentia administrari. postremo cum satis docuerimus hos esse deos, quorum insignem vim et inlustrem faciem videremus, solem dico et lunam et vagas stellas et inerrantes et caelum et m u n d u m ipsum et earum rerum vim quae inessent in omni mundo cum magno usu et commmoditate generis humani, efficitur omnia regi divina mente atque prudentia. A c de prima quidem parte satis dictum est.

Sequitur ut doceam omnia subiecta esse naturae, eaque ab ea pulcherrime geri. Sed quid sit ipsa natura explicandum est ante breviter, quo facilius id quod docere volumus intellegi possit. namque alii naturam esse censent vim quandam sine ratione cientem motus in corporibus necessarios, alii autem v i m participem rationis atque ordinis

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A u ß e r d e m ist es n o t w e n d i g , da die G ö t t e r existieren - w e n n sie existieren, was augenscheinlich der Fall ist - , daß sie beseelt sind, u n d z w a r nicht b l o ß beseelt, s o n d e r n auch v e r n u n f t b e g a b t und miteinander gegenseitig v e r b u n d e n in einer sozusagen p o l i t i s c h e n O r d n u n g u n d G e m e i n s c h a f t , derart, d a ß sie die eine Welt als ihren g e m e i n s a m e n Staat und ihre g e m e i n s a m e Stadt regieren. E s folgt, daß sie dieselbe V e r n u n f t besitzen wie das M e n s c h e n g e s c h l e c h t , daß hier w i e d o r t dieselbe W a h r h e i t gilt u n d dasselbe G e s e t z , das das G u t e v o r s c h r e i b t u n d das S c h l e c h t e verbietet. M a n w i r d daraus e n t n e h m e n , daß auch die K l u g h e i t und der G e i s t v o n den G ö t t e r n z u den M e n s c h e n gelangt sind - u n d aus eben diesem G r u n d e sind, w i e es unsere V o r f a h r e n eingerichtet h a b e n , M e n s , Fides, Virtus, C o n c o r d i a als G o t t h e i t e n verehrt, u n d es sind i h n e n staatliche T e m p e l geweiht w o r d e n . E s ist absurd z u leugnen, daß diese E i genschaften den G ö t t e r n z u k o m m e n , u n d gleichzeitig deren e r h a b e n e u n d heilige S t a n d b i l d e r zu verehren. W e n n es u n t e r den M e n s c h e n G e i s t , Vertragstreue, T u g e n d und E i n t r a c h t gibt, w o h e r k o n n t e dies auf die E r d e herabfließen w e n n n i c h t v o n den h ö h e r e n W e s e n ? - und da w i r ü b e r P l a n e n , V e r n u n f t u n d K l u g h e i t verfügen, m ü s s e n n o t w e n d i g e r weise die G ö t t e r diese E i g e n s c h a f t e n in n o c h h ö h e r e m M a ß besitzen, und nicht allein besitzen, s o n d e r n sie auch in den g r ö ß t e n u n d v o r z ü g lichsten D i n g e n betätigen. E s gibt aber nichts G r ö ß e r e s u n d nichts B e s seres als die Welt. A l s o w i r d sie n o t w e n d i g e r w e i s e d u r c h das P l a n e n und die V o r s e h u n g der G ö t t e r verwaltet. S c h l i e ß l i c h h a b e n w i r z u guter L e t z t dargelegt, daß e b e n dies G ö t t e r seien, deren w u n d e r b a r e K r a f t und strahlendes A n t l i t z w i r ü b e r uns e r b l i c k e n , die S o n n e n ä m l i c h , der M o n d , die Planeten u n d F i x s t e r n e , das H i m m e l s g e w ö l b e u n d die Welt selbst u n d die K r a f t j e n e r D i n g e , die sich in der ganzen Welt b e f i n d e n z u g r o ß e m N u t z e n u n d z u m Vorteil des M e n s c h e n g e s c h l e c h t e s ; so ergibt sich auch daraus, daß alles d u r c h eine g ö t t l i c h e V e r n u n f t und K l u g h e i t regiert wird. S o viel also zu u n s e r e m ersten A b s c h n i t t . A l s nächstes h a b e ich zu lehren, d a ß alles der N a t u r u n t e r w o r f e n ist und d u r c h sie auf das s c h ö n s t e gelenkt wird. D o c h zuerst m u ß ich in K ü r z e erläutern, was unter der N a t u r selbst z u verstehen ist, damit das, was w i r z u b e w e i s e n s u c h e n , leichter eingesehen w e r d e n kann. D i e einen nämlich n e n n e n N a t u r eine A r t v o n K r a f t , die o h n e V e r n u n f t in den K ö r p e r n die n o t w e n d i g e n B e w e g u n g e n in G a n g setzt, andere a b e r b e greifen sie als eine K r a f t , der V e r n u n f t u n d O r d n u n g z u k o m m e n u n d die

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tamquam via progredientem declarantemque quid cuiusque rei causa efficiat quid sequatur, cuius sollertiam nulla ars nulla manus nemo opifex consequi possit imitando; seminis enim vim esse tantam, ut id, quamquam sit perexiguum, tarnen, si inciderit in concipientem conpredentemque naturam nanctumque sit materiam qua ali augerique possit, ita fingat et efficiat in suo quidque genere, partim ut tantum m o d o per stirpes alantur suas, partim ut moveri etiam et sentire et appetere possint et ex sese similia sui gignere. Sunt autem qui omnia naturae nomine appellent, ut Epicurus qui ita dividit, omnium quae sint naturam esse "corpora et inane quaeque is accidant". sed nos cum dicimus natura constare administrarique mundum, non ita dicimus ut glaebam aut fragmentum lapidis aut aliquid eius modi nulla cohaerendi natura, sed ut arborem ut animal, in quibus nulla temeritas sed ordo apparet et artis quaedam similitudo.

Q u o d si ea quae a terra stirpibus continentur arte naturae vivunt et vigent, profecto ipsa terra eadem [vi] continetur arte naturae, quippe quae gravidata seminibus omnia pariat et fundat ex sese, stirpes amplexa alat et augeat ipsaque alatur vicissim a superis externisque naturis; eiusdemque exspirationibus et aer alitur et aether et omnia supera. ita si terra natura tenetur et viget, eadem ratio in reliquo mundo est; stirpes enim terrae inhaerent, animantes autem adspiratione aeris sustinentur; ipseque aer nobiscum videt nobiscum audit nobiscum sonat, nihil enim eorum sine eo fieri potest; quin etiam movetur nobiscum, quacumque enim imus qua movemur videtur quasi locum dare et cedere. quaeque in medium locum mundi, qui est infimus, et quae a medio in superum quaeque conversione rutunda circum medium feruntur, ea continentem mundi efficiunt

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gewissermaßen methodisch vorgeht u n d anzeigt, aus welcher U r s a c h e und zu welchem Z w e c k sie alles bewirkt; ihre Planmäßigkeit kann keine K u n s t , keine Geschicklichkeit, kein H a n d w e r k e r durch N a c h a h m u n g je erreichen. S o groß ist ja die K r a f t des Samens, daß er, s o w i n z i g er ist, dennoch, w e n n er in eine ihn aufnehmende u n d erfassende N a t u r eingeht u n d eine Materie vorfindet, durch die er sich ernähren u n d wachsen kann, alles in je seiner A r t heranbildet u n d gestaltet: entweder solches, das sich nur durch seine Wurzeln ernährt, oder anderes, das auch über B e w e g u n g , Wahrnehmung und Begehren verfügt u n d fähig ist, aus sich heraus Wesen zu erzeugen, die ihm ähnlich sind. E s gibt nun solche, die alles mit d e m N a m e n der bezeichnen, wie Epikur, der folgendermaßen aufteilt: - als ob wir ihn nicht als jemanden anhören sollen, der Griechisch spricht. So heißt es denn auch an einer anderen Stelle: D o c h wir wollen zu wichtigeren Dingen zurückkehren. Aus dem Äther also entstehen die zahllosen Flammen der Gestirne, allen voran die Sonne, die mit hellstem Licht alles erleuchtet und um ein vielfaches größer ist als die gesamte Erde. Darauf folgen die übrigen Gestirne, auch sie von ungeheurer Größe. D o c h alle diese vielen und großen Feuer bringen der Erde und den Dingen auf der Erde nicht nur keinen Schaden, sondern nützen so sehr, daß, wenn sie von ihrem O r t e entfernt würden, die Erde vielmehr in Brand geraten müßte durch die riesige Hitze, wenn nämlich das richtige Maß und die richtige Verteilung nicht mehr bestünden. Soll ich mich nun nicht darüber wundern, wenn es jemanden gibt, der überzeugt ist, daß es irgendwelche massiven und unteilbaren K ö r per gibt, die durch ihr eigenes Gewicht bewegt werden, und daß aus dem zufälligen Zusammenlaufen dieser Körper ein vollkommen geordneter und schöner Kosmos entstehe? Wer glaubt, daß dies jemals möglich war, von dem verstehe ich nicht, warum er nicht auch glaubt, wenn unzählige Exemplare der einundzwanzig Buchstaben aus Gold oder aus irgendeinem anderen Material zusammengeworfen und auf den Boden ausgeschüttet würden, dann entstünden die Annalen des Ennius, so daß man sie ohne weiteres lesen könnte. Ich weiß nicht, ob der Zufall dies auch nur für einen einzigen Vers zustande zu bringen vermöchte. Wie können nun diese Leute bei der Meinung bleiben, daß aus kleinen K ö r perchen, die weder Farbe noch irgendeine Qualität besitzen - was die

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ποιότητα Graeci vocant) non sensu praeditis sed concurrentibus temere atque casu mundum esse perfectum, vel innumerabiles potius in omni puncto temporis alios nasci alios interire: quod si mundum efficere potest concursus atomorum, cur porticum cur templum cur domum cur urbem non potest, quae sunt minus operosa; et multa quidem faciliora. certe ita temere de mundo effuttiunt, ut mihi quidem numquam hunc admirabilem caeli ornatum (qui locus est proxumus) suspexisse videantur. Praeclare ergo Aristoteles "Si essent" inquit "qui sub terra semper habitavissent bonis et inlustribus domiciliis, quae essent ornata signis atque picturis instructaque rebus his omnibus quibus abundant i qui beati putantur, nec tamen exissent umquam supra terram, accepissent autem fama et auditione esse quoddam numen et vim deorum, deinde aliquo tempore patefactis terrae faucibus ex illis abditis sedibus evadere in haec loca quae nos incolimus atque exire potuissent: cum repente terram et maria caelumque vidissent, nubium magnitudinem ventorumque vim cognovissent aspexissentque solem eiusque cum magnitudinem pulchritudinemque tum etiam efficientiam cognovissent, quod is diem efficeret toto caelo luce diffusa, cum autem terras nox opacasset turn caelum totum cernerent astris distinctum et ornatum lunaeque luminum varietatem tum crescentis tum senescentis, eorumque omnium ortus et occasus atque in omni aeternitate ratos inmutabilesque cursus - quae cum viderent, profecto et esse deos et haec tanta opera deorum esse arbitrarentur". atque haec quidem ille; nos autem tenebras cogitemus tantas quondam eruptione Aetnaeorum ignium finitimas regiones obscuravisse dicuntur, ut per biduum nemo hominem homo agnosceret, cum autem tertio die sol inluxisset tum ut revi-

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Griechen poiotes nennen

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noch auch mit Sinnesorganen ausgestattet

sind, sondern beliebig und zufällig zusammenlaufen, ein Kosmos habe entstehen können, oder vielmehr unzählige Welten, von denen in jedem einzelnen Zeitpunkt die einen geboren werden, die anderen zugrunde gehen? Wenn ein solches Zusammenlaufen von Atomen einen Kosmos herstellen kann, warum kann es nicht ebensogut eine Säulenhalle, einen Tempel, ein Haus oder eine Stadt schaffen, was doch weniger aufwendig und bedeutend leichter herzustellen ist? Jedenfalls schwatzen sie so unverantwortlich über den Kosmos daher, daß ich den Eindruck habe, sie hätten überhaupt noch nie die wunderbare Ausstattung des Himmels betrachtet. Doch dies ist unser nächster Punkt. Großartig erklärt Aristoteles: Soviel Aristoteles. Wir aber mögen an jene ungeheure Finsternis denken, die einstmals, wie man berichtet, durch den Ausbruch der Feuer des Ätna die benachbarte Region in ein derartiges Dunkel gehüllt hat, daß während zwei Tagen kein Mensch einen andern Menschen wahrzunehmen vermochte. Als aber am dritten Tag die Sonne wieder zu leuchten begann, so empfanden sie es, wie wenn sie wieder zum Leben zurück-

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xisse sibi viderentur: quod si hoc idem ex aeternis tenebris contingeret ut subito lucem aspiceremus, quaenam species caeli videretur? sed adsiduitate cotidiana et consuetudine oculorum adsuescunt animi, neque admirantur neque requirunt rationes earum rerum quas semper vident, p r o inde quasi novitas nos magis quam magnitudo rerum debeat ad exquirendas causas excitare. quis enim hunc hominem dixerit, qui, cum tam certos caeli motus tam ratos astrorum ordines tamque inter se omnia conexa et apta viderit, neget in his ullam inesse rationem eaque casu fieri dicat, quae quanto consilio gerantur nullo consilio adsequi possumus? an, cum machinatione quadam moveri aliquid videmus, ut sphaeram ut horas ut alia permulta, non dubitamus quin ilia opera sint rationis, cum autem impetum caeli cum admirabili celeritate moveri vertique videamus constantissime conficientem vicissitudines anniversarias cum summa salute et conservatione rerum omnium, dubitamus quin ea non solum ratione fiant sed etiam excellent! divinaque ratione?

Licet enim iam remota subtilitate disputandi oculis quodam m o d o contemplari pulchritudinem rerum earum quas divina providentia dicimus constitutas. A c principio terra universa cernatur, locata in media sede mundi, solida et globosa et undique ipsa in sese nutibus suis conglobata, vestita floribus herbis arboribus frugibus, q u o r u m omnium incredibilis multitudo insatiabili varietate distinguitur. adde hue f o n t u m gelidas perennitates, liquores perlucidos amnium, riparum vestitus viridissimos, speluncarum concavas altitudines, saxorum asperitates, inpendentium montium altitudines inmensitatesque

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gekehrt wären. Wenn uns nun dasselbe nach einem L e b e n in ewiger Finsternis geschähe, daß wir plötzlich das Licht erblickten, welchen Eind r u c k w ü r d e uns da die Gestalt des H i m m e l s machen? D o c h durch die tägliche Wiederkehr der Erscheinungen u n d die G e w ö h n u n g unserer A u g e n hat sich auch unser G e i s t gewöhnt und die Fähigkeit der Bew u n d e r u n g verloren; er verlangt nicht mehr die U r s a c h e der D i n g e kennenzulernen, die wir täglich sehen - als o b uns nur die U n g e w o h n h e i t d a z u a u f f o r d e r n könnte, die U r s a c h e n zu erforschen, u n d nicht vielmehr die G r ö ß e der Erscheinungen als solche. Wer wird denjenigen noch als Menschen bezeichnen, der z w a r die v o l l k o m m e n e regelmäßige B e w e g u n g des H i m m e l s , die festgesetzte O r d n u n g der Gestirne erblickt und gesehen hat, wie alles sich z u s a m m e n f ü g t und an einander angepaßt ist, und dabei d o c h leugnet, daß in diesen D i n g e n eine Vernunft waltet, und der erklärt, daß alles durch den Zufall zustande k o m m t , o b w o h l kein menschliches Planen fähig ist zu begreifen, mit welcher Planmäßigkeit alles abläuft. Wenn wir beobachten, wie durch eine technische Veranstaltung etwas in G a n g gebracht wird wie etwa jener H i m m e l s globus, wie die A n s a g e der Stunden u n d wie vieles andere, s o zweifeln wir nicht, daß es sich d a u m Leistungen der Vernunft handelt; w e n n wir dagegen sehen, wie der S c h w u n g des H i m m e l s mit unerhörter Schnelligkeit sich vollzieht u n d sich dreht u n d zwar so, daß er mit der größten Regelmäßigkeit die wechselnden Jahreszeiten zustande bringt u n d auf diese Weise alle D i n g e erhält und bewahrt, dann zweifeln wir noch daran, daß dies nicht bloß vernunftgemäß geschieht, sondern vielmehr durch eine einzigartige u n d göttliche Vernunft? D o c h wir wollen nun die wissenschaftliche D i s k u s s i o n hinter uns lassen u n d gewissermaßen mit den A u g e n die ganze Schönheit jener D i n g e betrachten, von denen wir behaupten, daß sie durch die göttliche Vorsehung z u s t a n d e g e k o m m e n sind. F ü r s erste wollen wir die gesamte E r d e überblicken, die sich im Mittelpunkt der Welt befindet, ein fester u n d kugelgestaltiger Körper, v o n allen Seiten her durch die Schwerkraft im Gleichgewicht erhalten, bekleidet mit Blumen, Gräsern, B ä u m e n , Feldfrüchten, die alle in unglaublicher M e n g e sich durch eine unerschöpfliche Vielfalt auszeichnen. N i m m d a z u die ununterbrochen fließenden kühlen Q u e l l e n , die durchsichtige Klarheit der Flüsse, die frisch grünende Bekleidung der Ufer, die runden G e w ö l b e der H ö h l e n , das rauhe Gestein, die hohen überhän-

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camporum; adde etiam reconditas auri argentique venas infinitamque vim marmoris. quae vero et quam varia genera bestiarum vel cicurum vel ferarum, qui volucrium lapsus atque cantus, qui pecudum pastus, quae vita silvestrium. quid iam de hominum genere dicam, qui quasi cultores terrae constituti non patiuntur earn nec inmanitate beluram efferari nec stirpium asperitate vastari, quorumque operibus agri insulae litoraque collucent distincta tectis et urbibus. quae si ut animis sic oculis videre possemus, nemo cunctam intuens terram de divina ratione dubitaret.

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A t vero quanta maris est pulchritudo, quae species universi, quae multitudo et varietas insularum, quae amoenitates orarum ac litorum, quot genera quamque disparia partim submersarum partim fluitantium et innantium beluarum partim ad saxa nativis testis inhaerentium. ipsum autem mare sic terram appetens litoribus eludit, ut una ex duabus naturis conflata videatur.

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Exin mari finitumus aer die et nocte distinguitur, isque tum fusus et extenuatus sublime fertur, tum autem concretus in nubes cogitur umoremque colligens terram auget imbribus, tum effluens hue et illuc ventos efficit. idem annuas frigorum et calorum facit varietates, idemque et volatus alitum sustinet et spiritu ductus alit et sustentat animantes.

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Restat ultimus et a domiciliis nostris altissimus omnia cingens et coercens caeli complexus, qui idem aether vocatur, extrema ora et determinatio mundi, inquo cum admirabilitate maxima igneae formae cursus ordinatos definiunt. e quibus sol, cuius magnitudine multis partibus terra superatur, circum earn ipsam volvitur, isque oriens et occidens diem noctemque conficit et m o d o accedens tum autem recedens binas in singulis annis reversiones ab extremo contrarias facit, quarum in intervallo tum quasi tristitia quadam contrahit terram tum vicissim laetificat ut

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genden F e l s e n und die u n e n d l i c h e n W e i t e n der Felder. D a z u k o m m e n die v e r b o r g e n e n A d e r n v o n G o l d und Silber u n d die u n b e g r e n z t e M a s s e des M a r m o r s . W i e viele u n d wie verschiedene G a t t u n g e n v o n T i e r e n gibt es, z a h m e wie wilde, das Fliegen u n d Singen der V ö g e l , die W e i d e n für das V i e h , die W ä l d e r f ü r die wilden T i e r e . Was soll ich endlich v o m G e s c h l e c h t d e r M e n s c h e n sagen, die g e w i s s e r m a ß e n mit der B e a r b e i tung d e r E r d e beauftragt, es n i c h t zulassen, daß diese e n t w e d e r d u r c h die M a s s e n der wilden T i e r e v e r k o m m e o d e r d u r c h das W u c h e r n d e r Pflanz e n versteppe. I h r e L e i s t u n g ist es, w e n n das L a n d , die Inseln und K ü sten in d e r Vielfalt ihrer H ä u s e r u n d Städte leuchten. K ö n n t e man dies nicht n u r m i t d e m G e i s t e , s o n d e r n auch mit den A u g e n ü b e r b l i c k e n , w ü r d e n i e m a n d , der die g a n z e E r d e b e t r a c h t e t , am W a l t e n d e r G ö t t e r zweifeln. W i e g r o ß ist weiterhin die S c h ö n h e i t des M e e r e s , die G e s t a l t des U n i versums, die b u n t e F ü l l e der Inseln, die L i e b l i c h k e i t der B u c h t e n und K ü s t e n ; w i e viele G a t t u n g e n gibt es v o n M e e r e s t i e r e n , die teils in der Wassertiefe hausen, teils an der O b e r f l ä c h e d a h i n s c h w i m m e n , teils auch mit den i h n e n a n g e b o r e n e n Schalen an d e n Felsen festhängen. D a s M e e r selbst strebt nach d e m L a n d e u n d spielt so u m die K ü s t e n , d a ß aus den zwei N a t u r e n eine einzige z u w e r d e n scheint. D e m M e e r b e n a c h b a r t ist sodann der L u f t r a u m , u n t e r s c h i e d e n in Tag u n d N a c h t . B a l d breitet die L u f t sich aus u n d steigt v e r d ü n n t in die H ö h e e m p o r , bald ballt sie sich z u s a m m e n u n d vereinigt sich zu W o l ken, s a m m e l t die F e u c h t i g k e i t u n d ernährt die E r d e d u r c h R e g e n , bald s t r ö m t sie hierhin u n d d o r t h i n und erzeugt W i n d e . Sie schafft auch den Wechsel v o n Kälte u n d W ä r m e i m Jahreslauf, gibt den V ö g e l n b e i m F l u g eine S t ü t z e u n d ernährt u n d erhält die L e b e w e s e n d u r c h die A t m u n g . A l s letzter, v o n u n s e r e n W o h n s i t z e n am weitesten e n t f e r n t und in der h ö c h s t e n H ö h e b l e i b t der U m k r e i s des H i m m e l s , der alles u m f a ß t und z u s a m m e n h ä l t , der Ä t h e r genannt wird, das äußerste E n d e und die G r e n z e d e r Welt, in dessen R a u m feurige G e s t a l t e n auf die w u n d e r b a r ste W e i s e ihre g e o r d n e t e n B a h n e n festhalten. U n t e r ihnen ist die S o n n e zu n e n n e n , die die E r d e u m ein vielfaches an G r ö ß e übertrifft und u m die E r d e selbst sich dreht. I h r A u f s t i e g u n d U n t e r g a n g schafft Tag und N a c h t , u n d d u r c h A n n ä h e r u n g und E n t f e r n u n g erzeugt sie jedes einzelne J a h r zwei U m d r e h u n g e n in entgegengesetzten R i c h t u n g e n . I n dem einen Z e i t r a u m zieht sie die E r d e w i e in D ü s t e r n i s z u s a m m e n , in

I

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LIBER

SECUNDUS

cum caelo hilarata videatur. luna autem, quae est, ut ostendunt mathematici, maior quam dimidia pars terrae, isdem spatiis vagatur quibus sol, sed tum congrediens cum sole tum degrediens et earn lucem quam a sole accepit mittit in terras et varias ipsa lucis mutationes habet, atque etiam tum subiecta atque opposita soli radios eius et lumen obscurat, tum ipsa incidens in umbram terrae, cum est e regione solis, interpositu interiectuque terrae repente deficit. isdemque spatiis eae stellae quas vagas dicimus circum terram feruntur eodemque modo oriuntur et occidunt, quarum motus tum incitantur tum retardantur, saepe etiam insistunt, quo spectaculo nihil potest admirabilius esse nihil pulchrius. sequitur stellarum inerrantium maxima multitudo, quarum ita descripta distinctio est, ut ex notarum figurarum similitudine nomina invenerint.'

103

104

A t q u e hoc loco me intuens 'Utar' inquit 'carminibus Arateis, quae a te admodum adulescentulo conversa ita me delectant quia Latina sunt, ut multa ex is memoria teneam. ergo, ut oculus adsidue videmus, sine ulla mutatione aut varietate "cetera labuntur celeri caelestia motu cum caeloque simul noctesque diesque feruntur", quorum contemplatione nullius expleri potest animus naturae constantiam videre cupientis. "extremusque adeo duplici de cardine vertex dicitur esse polus." Hunc circum Arctoe duae feruntur numquam occidentes. "ex is altera apud Graios Cynosura vocatur, altera dicitur esse Helice," cuius quidem clarissimas stellas totis noctibus cernimus, quas "nostri Septem soliti vocitare Triones";

105

ZWEITES

BUCH

!

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dem anderen heitert sie sie w i e d e r auf, so daß sie sich mit d e m ganzen H i m m e l z u s a m m e n z u erfreuen scheint. D e r M o n d w i e d e r u m , der, wie die M a t h e m a t i k e r lehren, g r ö ß e r ist als die H ä l f t e der E r d e , b e w e g t sich in d e n s e l b e n R ä u m e n w i e die S o n n e , geht aber bald mit ihr z u s a m m e n , bald t r e n n t er sich und entsendet das L i c h t , das er v o n der S o n n e e m p fangen hat, auf die E r d e weiter. Sein eigenes L i c h t durchläuft verschiedene V e r ä n d e r u n g e n . Z u w e i l e n tritt er v o r und gegen die S o n n e und u n terbricht ihre Strahlen u n d verdunkelt sie, bald gerät er selbst in den S c h a t t e n d e r E r d e , w e n n er d e r S o n n e in einer L i n i e gegenübersteht, und setzt d a n n d u r c h das D a z w i s c h e n t r e t e n d e r E r d e p l ö t z l i c h aus. W i e d e r u m in d e n s e l b e n R ä u m e n b e w e g e n sich die G e s t i r n e , die w i r P l a n e ten n e n n e n , u m die E r d e h e r u m und gehen auf dieselbe Weise auf u n d unter. I h r e B e w e g u n g e n v o l l z i e h e n sich bald schneller, bald langsamer, und z u w e i l e n bleiben sie sogar stehen. E s ist ein A n b l i c k , w i e er w u n d e r b a r e r u n d s c h ö n e r nicht sein k ö n n t e . E s f o l g t die riesigen M e n g e der F i x s t e r n e , deren U n t e r s c h i e d e d a d u r c h festgehalten w e r d e n , d a ß sie ihre N a m e n auf G r u n d der Ä h n l i c h k e i t mit b e k a n n t e n G e s t a l t e n erhalten haben.» A n dieser Stelle nun b l i c k t e er m i c h an u n d sagte: « N u n w e r d e ich das G e d i c h t des A r a t o s b e n u t z e n , das du, als du n o c h sehr j u n g warst, ins L a t e i n i s c h e ü b e r s e t z t hast und das m i r gerade d a r u m Vergnügen m a c h t , weil es lateinisch ist. S o w e i ß ich denn vieles daraus auswendig. S o sehen w i r dauernd v o r unseren A u g e n , d a ß o h n e jede V e r ä n d e r u n g und A b w e i c h u n g . K e i n e Seele eines M e n s c h e n , der die B e s t ä n d i g k e i t der N a t u r z u schauen verlangt, k a n n v o n der B e t r a c h t u n g dieser E n t s c h e i d u n g genug b e kommen.

U m ihn h e r u m b e w e g e n sich die beiden B ä r e n , die niemals u n t e r g e h e n und . D i e hellsten S t e r n e in dieser G r u p p e sehen w i r die ganze N a c h t , j e n e nämlich, .

176

LIBER

SECUNDUS

paribusque stellis similiter distinctis eundem caeli verticem lustrat parva Cynosura. "hac fidunt duce nocturna Phoenices in alto, sed prior ilia magis stellis distincta refulget et late prima confestim a nocte videtur. haex vero parva est, sed nautis usus in hac est; nam cursu interiore brevi convertitur orbe."

106

Et quo sit earum stellarum admirabilior aspectus, "has inter veluti rapido cum gurgite flumen torvus Draco serpit supter supraque revolvens sese conficiensque sinus e corpore flexos". eius cum totius est praeclara species {tum) in primis aspicienda est figura capitis atque ardor oculorum: "huic non una modo caput ornans Stella relucet, verum tempora sunt duplici fulgore notata e trucibusque oculis duo fervida lumina flagrant atque uno mentum radianti sidere lucet; opstipum caput a I 0 44~47)

v o n

Epikur, d o c h

w i c h t i g e r ist De finibus 2,102, w o v o n D e m o k r i t die R e d e ist, der mit sein e m G e i s t die z a h l l o s e n W e l t e n u n d d e n u n b e g r e n z t e n R a u m d u r c h w a n d e r t habe. M a n w i r d v e r m u t e n , d a ß D e m o k r i t selbst s c h o n die W a n d e r u n g des Geistes d u r c h das G r e n z e n l o s e geschildert hat (vgl. Piaton,

KOMMENTAR ZUM ERSTEN

BUCH

389

Theaitetos 173 Ε 2 - 1 7 4 A 1 > dazu das verzweifelte Bemühen des Aristoteles, die Begrenztheit des Raumes gegen Demokrit zu beweisen und die bekannte Pointe des Archytas bei Eudemos Frg. 65 Wehrli). In diesem Räume bewegt sich unaufhörlich eine zahllose Menge von Atomen (das griechische Wort, das De finibus 1,17 noch hatte erklären müssen, wird hier unbedenklich verwendet). Diese verflechten sich zu immer größeren Gruppen, und so entstehen all jene Gestalten, die der stoische und der platonische G o t t nur mit großem Aufwand verfertigen kann - es sei denn, daß die Elemente freiwillig dem Demiurgen gehorchen. Da haben wir in der Tat das automaton, von dem schon Demokrit etwa bei Aristoteles, Physik 196a 24-b 5, gesprochen hatte und das auch bei Epikur (Frg. 383, 394 Us. u. ö.) seine Rolle spielt. D o c h wie verhält sich dies zu der Natur, deren Wirken unmittelbar vorher beschrieben worden war? Locker angehängt folgen nun drei Punkte der Polemik gegen die Stoa. (1) Der den Kosmos verfertigende Demiurg verwandelt sich unversehens in einen grimmigen Herrn, der alles beaufsichtigt und den der Mensch nur noch fürchten kann. Die Gegenwart einer Gottheit, die auch die verborgene Untat aufzuspüren vermag (vgl. Xenophon, Memorabilien 1,1,19; 1>4>19i 4>4>2I)> wird verdrängt durch die geschäftige Rücksichtslosigkeit eines Herrn, der alles glaubt kontrollieren, sich in alles glaubt einmischen zu müssen. Der Gegner könnte geltend machen, daß der Gott des Glaubens nicht nur beaufsichtigt und bestraft, sondern auch anerkennt und belohnt. Doch dagegen dürfte wiederum angenommen werden, daß die bis zu ihren letzten Konsequenzen durchdachte spekulative Dreiheit der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart weit eher geeignet ist, den Menschen, der sich völlig ausgeliefert sieht, zu beunruhigen, als ihm Sicherheit zu verschaffen. Epikur ist da einmal mehr brutal realistisch und weiß auch, daß die Schrecknisse der Unterwelt den Menschen in der Regel weit lebhafter vor Augen stehen als das selige Leben im Kreise der Götter. Die Aufgeklärtheit, die in 1,86 oder in Tusculanae disputationes 1,48 zu Worte kommt, wirkt demgegenüber etwas literatenhaft. (2) Unvermittelt wird zur stoischen Heimarmene übergegangen und damit zu einer Lehre, die sich auf alten Glauben ebenso stützt wie auf rationale Theologie. D a ß sich vor allem, wenn nicht ausschließlich, ein-

39°

ANHANG

fältige alte Frauen an die Heimarmene halten, deutet schon Piaton, Gorgias 512 E, an (vgl. Phaidon 115 A), und dies wiederholt Cicero in 1,18; 2,73; De divinatione 2,19 u.ö. Doch gab es auch eine theologische Interpretation, deren interessantestes Dokument für uns der Traktat des Peripatetiker Alexander von Aphrodisias ist, der nicht nur eine stoische, sondern auch eine aristotelische Theorie über die Heimarmene kennt (ed. I. Bruns 1892). Die Stoa geht von der Etymologie aus, die heimarmene als heirmos aition versteht (bei Cicero causarum continuatio), also als die lückenlose Abfolge von Ursachen und Wirkungen durch alles vergangene, gegenwärtige und künftige Geschehen hindurch; dazu schon 1,40, später 3,14 und De divinatione 1,125-126. Wie sich eine solche Heimarmene zu dem gestrengen Herrn verhält, den wir ununterbrochen zu fürchten haben, bleibt freilich offen. (3) Es folgt die Mantik, die streng genommen nur dann einen Sinn hat, wenn die Zukunft nicht seit Ewigkeit festgelegt ist, sondern ein Spielraum verbleibt, in dem es für den Menschen wichtig sein kann zu erfahren, ob er diese oder jene der sich anbietenden Möglichkeiten ergreifen soll (vgl. Xenophon, Memorabilien 1,1,6-8). Daß unter den griechischen Philosophen nur Xenophanes und Epikur die Mantik radikal verworfen haben, konstatieren De divinatione 1,5 und Ps.-Galenos, Historia philosopha 105. Daß Epikur selber sich auf Xenophanes berufen hat, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Interessant sind die Darlegungen Senecas, Naturales quaestiones 5,39-53, aus denen deutlich hervorgeht, daß Heimarmene und Mantik nicht nebeneinander bestehen können. Äußerst summarisch ist das Urteil über alle, die sich berufsmäßig mit Mantik befassen. Fünf Namen werden aufgeführt, vermutlich als eine Antiklimax zu verstehen. Die ersten zwei repräsentieren hochangesehene römische Priesterkollegien. Bekannt ist, daß dem Kollegium der Haruspices nur Etrusker angehören durften (den Sinn dieser eigentümlichen Regelung kennen wir nicht). Wie schwierig ihre Stellung in Rom zuweilen war, beleuchtet die Geschichte in 2 , 1 0 - 1 1 , aber auch schon die giftige Bemerkung in 1,71. Dem Kollegium der Augures gehörte Cicero selbst seit dem Sommer 53 an, nachdem der Sitz des Triumvir P. Licinius Crassus durch dessen Tod im Partherkrieg frei geworden war. Zur Kooptation empfohlen hatten ihn Pompeius und Hortensius (Plutarchos, Cicero 36,1; Cicero, De legibus 2,31; Philippica 2,4; Epistulae ad famili-

KOMMENTAR ZUM ERSTEN

BUCH

391

ares 15,4,13). Vermutlich hat er bald danach eine nur noch in wenigen Fragmenten faßbare Schrift De auguriis publiziert. Anders als der Epikureer, den er hier sprechen läßt, hat er selbst diese Würde zweifellos ernst genommen und geschätzt. Hariolus scheint eine alte ironisierende Benennung des Haruspex zu sein, vates ist der Seher, der weder den Vogelflug noch die Leber des Opfertieres deutet, sondern der in der Verzückung weissagt, coniector endlich ist nach Quintiiianus, Institutio oratoria 3,6,30, und Augustinus, Contra academicos 1,7,19 (aus Cicero?), vorzugsweise der Traumdeuter. Mit welcher Begründung Epikur die Heimarmene wie die Mantik abgelehnt hat, erfahren wir nicht. Die Bemerkungen über die Heimarmene in Epistulae 3,133 und 134 führen nicht weiter, und von dem Buch Uber die Heimarmene, das Diogenes Laertius 10,28 verzeichnet, haben wir nur den Titel. Dasselbe gilt von den wenigen Texten über die Mantik, die Frg. 395 Us. gesammelt sind. Der Annahme einer Heimarmene widerspricht die Lehre von der (clinamen), also der ursprünglichen und ursachlos-beliebigen Abweichung eines einzigen Atoms vom senkrechten Fall aller Atome; es ist diese Abweichung allein, die das Entstehen beliebig vieler verschiedener Welten möglich macht. Gegen die Mantik wird er sowohl ihre Bindung an eine fürsorgliche Gottheit wie auch die Unsicherheit ihrer Methoden und Ergebnisse geltend gemacht haben. 56 Der Schluß faßt zusammen, was schon in 1,45 Mitte gesagt war. Epikur befreit den Menschen von der Angst, da die Götter gemäß Kyriai Doxai Nr. 1 nicht in die Menschenwelt störend eingreifen, und macht damit zugleich den Weg frei zu einer Kultfrömmigkeit ohne Hintergedanken. Das Stichwort libertas erinnert an Lucullus 7-9 und Definibus 1,14, und der letzte Satz nimmt passend den wichtigen Gedanken von 1,45 auf: Wir verehren die Götter, weil sie vollkommen sind (und nicht, weil wir mit ihnen in ein Geschäft eintreten möchten, wie es 1,3 skizzierte). Dies hat freilich Poseidonios nicht gehindert, in seiner Polemik Epikur des Atheismus zu bezichtigen (1,121-124). Der Sprechende entschuldigt seine Ausführlichkeit, etwas unmotiviert, da der Stoiker in Buch 2 rund viermal so lang sprechen wird. Was Epikur zu bieten hatte, war ein straff komponiertes System, dessen wesentliche Momente sich knapp darstellen ließen. Es wird sich zeigen, daß auch die Widerlegung 1,57-124 sich substanziell mit wenigen Punkten

392

ANHANG

begnügt; da hat sich Cicero veranlaßt gesehen, den etwas dünnen Text (teils des Karneades, teils des Poseidonios) durch mehrere Exkurse und Einschübe gründlich zu strecken. Römische Höflichkeit ist es, daß der Redner sofort zum Anhören des Gegners bereit ist und daß der Gegner gewissermaßen dankbar ist für das, was er gehört hat. J7 Daß nun Cotta sich zu Worte meldet, liegt einerseits an seiner Stellung als Hausherr, dann aber auch daran, daß von ihm als Akademiker eine nuancierte Stellungnahme erwartet werden durfte. Der Stoiker hätte sich mit dem summarischen Urteil begnügt, die Behauptungen des Epikureers seien oberflächlich, ungehörig und gottlos, womit in der Sache nichts gewonnen worden wäre. Auch der Akademiker hält die Thesen des Epikureers für unglaubwürdig; doch seine Ablehnung vermeidet jedes verletzende Wort. Sie wird überdies schon durch die Erklärung relativiert, daß er zwar die Lehre des Velleius für höchst anfechtbar halte, selbst aber nichts Besseres anzubieten in der Lage sei. Nicht ohne Umständlichkeit geht er nun aber nicht gleich auf die Sache, sondern zunächst auf die Person des Gegners ein. j8 Begonnen wird, wie es sich schickt, mit einem nachdrücklichen Lob des Velleius. Von Cicero zweifellos erfunden (videor!) ist das Lob, das Cotta von L. Licinius Crassus (der wohl selbst Epikureer war) über Velleius gehört zu haben behauptet. Daß die beiden befreundet waren, war Cicero vielleicht bekannt (es handelt sich ja um Verhältnisse, die über dreißig Jahre vor der Niederschrift des Dialogs bestanden haben müssen). Die Charakterisierung des Crassus scheint uns auszuschließen, daß es sich um den berühmten Redner handelt; ihn hätte Cicero schwerlich in so unbestimmten Wendungen eingeführt; es kann ein anderes Mitglied der gerade in jener Zeit weit verzweigten Gens der Licinii Crassi gemeint sein. Cotta ist angenehm überrascht, daß das Lob jenes Crassus (in Wirklichkeit ein Eigenlob Ciceros) so vollständig zutrifft. 59 Cotta steuert eine eigene Erinnerung bei. In der Zeit seiner Verbannung in Athen (91-82 v. Chr.) kann er sehr wohl Gelegenheit gehabt haben, nicht nur die Vorlesungen des Akademikers Philon zu hören (der noch bis etwa 86 v.Chr. die platonische Akademie leitete, ehe er sich vor dem Angriff des Mithridates auf Athen nach Rom in Sicherheit brachte), sondern auch diejenigen des Epikureers Zenon. Philon wird in einer seiner Schriften Zenon den koryphaios der Epikureer genannt haben (zum

KOMMENTAR ZUM ERSTEN Wort vgl. etwa Aristoteles, Politik schen Literatur kommt coryphaeus

BUCH

393

1277a 1 1 ) ; in der klassischen lateininur an dieser Stelle vor. D e r G e -

brauch des Wortes in späterer Zeit kann entweder von einem verlorenen Text Ciceros oder unmittelbar v o n Piaton, Theaitetos

173 C 7, ausgehen.

Zenon wird Cicero noch persönlich gekannt haben (vgl. De finibus 1 , 1 6 und Tusculanae disputationes

3,38). O d e r bezieht er sich faktisch auf ein

Buch Zenons, das die Vorlage f ü r 1 , 1 8 - 5 6 gewesen sein könnte? A n g e sichts der strengen Orthodoxie der Schule Epikurs kommt es auf diese Frage verhältnismäßig wenig an. D i e Bemerkung über Philon gehört zum Stil philosophischer Polemik: J e besser Zenon seine Sache vertreten hat, desto größer ist die Leistung Philons, einen solchen Gegner widerlegt zu haben. D a n n aber setzt die Kritik ein. Mag sich Vellerns in der F o r m noch so gepflegt geäußert haben, in der Sache ist das, was er dargeboten hat, reiner Unsinn. 60

D o c h sofort folgt, wie in 1,57, der beruhigende, relativierende

Nachsatz: Cotta selbst hat nichts Besseres anzubieten, vor allem in der Physik, zu deren System die Theologie gehört. Die Bemerkung hängt hintergründig mit der Tatsache zusammen, daß der Spielraum der freien Spekulation wie der Aporetik in den theoretischen Wissenschaften, wie der antiken Physik, viel größer w a r als derjenige in der Ethik, bei der durch die elementaren Vorbedingungen des menschlichen Zusammenlebens der Spekulation wie der Aporetik enge Grenzen gesetzt waren. D i e hübsch erzählte Geschichte v o n Simonides und dem K ö n i g Hieron v o n Syrakus ( 1 . Hälfte 5. Jh.) muß in einer Beziehung stehen zu Xenophons Hieron,

einem Dialog zwischen Hieron und Simonides; daß

sich da X e n o p h o n von einem älteren Werk hat anregen lassen, scheint sicher (vgl. Aristoteles, Rhetorik kennt Tertullian, Ad nationes

1391a 7-12).

2,2 und Apologeticum

Merkwürdigerweise 46, eine ähnliche

Geschichte von Thaies und K ö n i g Kroisos, was schwerlich ein bloßes Versehen Tertullians ist. 61

D a n n wird das scharfe Urteil wiederholt, doch wird liebens-

würdigerweise nicht der anwesende Vellerns, sondern E p i k u r apostrophiert. Die erste Frage ist die nach der Existenz der Götter. E p i k u r hatte auf das allen Menschen eigene vorweggenommene Wissen, dann auf den universalen Consensus verwiesen (43-44 A ) . Cotta geht zunächst auf

394

ANHANG

diese These überhaupt nicht ein, sondern beginnt mit einer psychologischen Verdächtigung, zu der Velleius nicht den geringsten A n l a ß geboten hatte: in der Öffentlichkeit sei es natürlich unschicklich, die Existenz der G ö t t e r zu bestreiten, doch in der Intimität eines Gesprächs unter Freunden könne man dies ohne Risiko tun. D a m i t wird insinuiert, der Epikureer habe sich nur darum so bestimmt für die Existenz der G ö t t e r ausgesprochen, um bei seinen Z u h ö r e r n keinen A n s t o ß zu erregen; für sich persönlich denke er vermutlich ganz anders. In ähnlicher Weise hatte De finibus 2,74-76 und 4,21-23 den Gegensatz zwischen der Haltung in der römischen Öffentlichkeit und den Ä u ß e r u n g e n im geschlossenen Kreis einer Schule herausgearbeitet. D e r Unterschied ist allerdings unübersehbar. D o r t hatten der Epikureer und der Stoiker Thesen vorgebracht, die sich z w a r theoretisch vertreten, aber in der Praxis nicht durchfechten lassen. H i e r wird angedeutet, der Epikureer habe aus Rücksicht auf das P u b l i k u m eine Lehre vorgetragen, an die er selbst nicht glaube. Dies war nach 1,123 die M e i n u n g des Poseidonios, für den die Erklärungen Epikurs nichts als ein Betrug waren. H i e r wird immerhin der A n g r i f f entschärft dadurch, daß C o t t a bemerkt, das Problem bestehe in gewisser Weise auch für ihn selbst. A l s Pontifex (und damit für die Öffentlichkeit) respektiert er streng die Traditionen der Kultreligion; als Privatmann kann er sich erlauben und als Philosoph ist er verpflichtet, die öffentlichen Meinungen beiseite zu schieben und nach der Wahrheit zu fragen. A u f der Ebene der Philosophie ist die Existenz der G ö t t e r kaum beweisbar. Damit gelangen wir in die N ä h e v o n 1,10 und 3,5-6. D e n n o c h bleibt es befremdlich, w i e unbekümmert der Redende über die gesamte Theologie Epikurs hinweggeht. 62-63

U m Velleius zu schonen, macht C o t t a sozusagen einen

Schritt zurück. Unter den Philosophen gibt es anerkanntermaßen kaum Atheisten, und auch C o t t a will sich nicht dem Verdacht aussetzen, er sei Atheist. Er will nur behaupten, daß die v o n Velleius angeführten Beweise für die Existenz der G ö t t e r nicht ausreichen. D i e epikureischepiOlepsis (1,43-44) diskutiert er nicht, sondern hält sich ausschließlich an den universalen Consensus, also eine geschichtliche These, die w i e alles Geschichtliche grundsätzlich anfechtbar ist. D r e i M o m e n t e sprechen gegen sie: (a) D e r Satz «alle V ö l k e r glauben an Götter» ist immer nur statistisch, nie aber absolut zutreffend. Es genügt eine A u s n a h m e , um ihn

KOMMENTAR

ZUM ERSTEN

BUCH

395

z u e n t k r ä f t e n , u n d die E t h n o l o g i e v e r z e i c h n e t solche A u s n a h m e n . C i cero hat hier w o h l die B e l e g e w e g g e l a s s e n . T h e o p h r a s t hat in seinem W e r k Über die Frömmigkeit

(Peri eusebeias)

das V o l k der A k r o t h o i t e n

e r w ä h n t , das an keine G ö t t e r glaubte u n d d a r u m bei einem E r d b e b e n u n t e r g i n g (Simplikios, Kommentar

zu Epiktets

Enchiridion

p. 9 5 D . ) ; v o n

anderen derartigen V ö l k e r n sprechen D i o d o r 3 , 1 - 4 1 (aus A g a t h a r c h i des) u n d P l u t a r c h o s , Moralia

1075 A . (b) Es gibt die s c h o n in 1,2 ge-

nannten reinen A t h e i s t e n . Z u ihnen w i r d hier P r o t a g o r a s gerechnet, d e n eine i m 4. Jh. v. C h r . entstandene, w e i t verbreitete E r f i n d u n g als A t h e i sten b e z e i c h n e t e , dessen B ü c h e r ö f f e n t l i c h in der V o l k s v e r s a m m l u n g z u A t h e n v e r b r a n n t w o r d e n seien u n d der selbst aus A t h e n v e r b a n n t w o r den sei; m ö g l i c h , d a ß die G e s c h i c h t e v o n H e r a k l e i d e s v o m P o n t o s (vgl. 1,34) in seinem D i a l o g Uber die Frömmigkeit

e r z ä h l t war. Piaton,

Menon

91 E, schließt sie aus, h u n d e r t Jahre später w i r d sie v o m H i s t o r i k e r Phil o c h o r o s (Fragmente der griechischen

Historiker

328 F 2 1 7 ) als b e k a n n t

v o r a u s g e s e t z t . G e s c h i c k t u n d b o s h a f t f o l g e r t C o t t a , es gäbe viel mehr solche A t h e i s t e n , w e n n nicht das E x e m p e l , das m a n an P r o t a g o r a s statuiert habe, sie a b g e s c h r e c k t hätte. D a taucht also die A n s i c h t w i e d e r auf, es sei besser, b e s t i m m t e p e r s ö n l i c h e U b e r z e u g u n g e n in d e r Ö f f e n t l i c h keit nicht laut w e r d e n z u lassen, (c) Es gibt die S c h u r k e n , die keine gew o r d e n w ä r e n , w e n n sie an G ö t t e r g e g l a u b t hätten, ein A r g u m e n t , dessen F r a g w ü r d i g k e i t an De

finibus

2,53 erinnert. Zitiert w e r d e n z w e i

Verse des L u c i l i u s ( 1 3 1 2 - 1 3 ed. M a r x ) , in d e n e n unter d e n Z e i t g e n o s s e n des D i c h t e r s v i e r ausgesuchte H a l u n k e n genannt w e r d e n : L . H o s t i l i u s T u b u l u s , P r a e t o r 142; vgl. De finibus 2,54 u. ö.; L . C o r n e l i u s L e n t u l u s L u p u s , K o n s u l 156, vgl. Servius z u r Aeneis C a r b o , K o n s u l 120, vgl. De legibus endlich einer, der Neptuni

filius

10,104

3,3 5, Epistulae



C . Papirius

ad familiares

9,21,3;

genannt w i r d , ein W i t z , d e r w a h r -

scheinlich darauf hindeutet, d a ß der G e m e i n t e einäugig w a r w i e der m y t h i s c h e B ö s e w i c h t P o l y p h e m , der S o h n P o s e i d o n s . 64

D e r C o n s e n s u s ist also nicht v o l l k o m m e n . W e n n C o t t a nicht in-

sistiert, so hängt dies am Interesse C i c e r o s daran, die P o s i t i o n E p i k u r s (die er ablehnt) u n d die L e h r e der Stoa (mit d e r er sympathisiert, w i e 1,4 zeigte) m ö g l i c h s t v o n e i n a n d e r z u trennen, o b s c h o n sie gerade in der Sache des C o n s e n s u s m i t e i n a n d e r ü b e r e i n s t i m m e n . Es soll auch nichts v o n d e m v o r w e g g e n o m m e n w e r d e n , w a s in B u c h 3 a u s f ü h r l i c h z u r Sprache k o m m e n w i r d .

396 65

ANHANG

Es ist ein griechischer Diskussionsstil, mit einem fulminanten

allgemeinen Angriff zu beginnen, dann eine erste Konzession anzuschließen, auf diese einen zweiten präziseren Angriff folgen zu lassen, der in eine zweite Konzession ausläuft, die den Raum frei gibt für einen dritten noch präziseren Angriff usw. So haben wir Konzessionen hier, dann 67 (concedam), dann 75 (cedo mihi), 90 (utvoletis),

103 (ut vultis).

Ist die Existenz der Götter auf Grund des Consensus aller Menschen im allgemeinen und der Philosophen im besondern zugestanden, so folgen drei besondere Probleme: Woraus bestehen die Götter? Welches ist ihr Wohnsitz? Welches ist ihr Wesen und ihre Lebensart? Die Möglichkeit, daß die Gottheit unkörperlich und damit auch allgegenwärtig ist, scheint von vornherein ausgeschlossen. Mit einem leichten Gedankensprung setzt die Behandlung des ersten Problems ein: Die Götter bestehen, wie die gesamte übrige Wirklichkeit, bei Epikur aus Atomen. So wird zunächst die Lehre von den Atomen und dem Leeren frontal angegriffen. Der Text ist lückenhaft, läßt sich aber anhand von Augustin, Epistulae

1 1 8 , 3 1 , einigermaßen ergänzen.

Die Polemik entspricht derjenigen des Aristoteles gegen Demokrit: Atome, also unteilbare Körper, kann es nicht geben, weil jeder Körper unbegrenzt teilbar ist und es reine Willkür wäre, die Teilbarkeit an einem bestimmten Punkt enden zu lassen. Das Leere kann es nicht geben, weil sonst die Wirklichkeit radikal diskontinuierlich würde; in Wahrheit ist alles von Körpern besetzt, die einander gegenseitig ausweichen (vgl. Lucullus 66

125). Cotta hat sich über den Atomismus kompromißlos dogmatisch

geäußert und ist sich nun bewußt, darin weiter gegangen zu sein, als er als aporetischer Akademiker hätte gehen dürfen. So zieht er sich mit leisem Spott über die Selbstsicherheit der Naturphilosophen auf seine probabilistische Position zurück. Uberraschend ist die Erwähnung des Leukippos; bei Cicero nur noch Lucullus 1 1 8 (aus Cicero wohl: Lactantius, Divinae

institutions

3,17,23). Daß Demokrit der Schüler des

Leukippos war, muß Cicero an einer uns verlorenen Stelle mit einiger Ausführlichkeit berichtet haben. Hier sollte wohl angedeutet werden, daß Epikur vollständig von Demokrit und dieser vollständig von Leukippos abhängig seien. Aufgezählt werden nun sieben Typen von Atomformen, für den Gegner nur ein skurriles Spiel, während es den Atomisten selbst darauf

KOMMENTAR ZUM ERSTEN

BUCH

397

ankam, den Gegensatz etwa zwischen der Massivität von Stein und Eisen und der Gelockertheit der Wolle einleuchtend zu erklären. Bestimmte Atomformen erlauben engste, fast unlösbare Verklammerungen, bei anderen bleibt es bei flüchtigen Verbindungen. Beides ergibt sich «von selbst» und ohne eine nachweisbare Notwendigkeit der Natur. Wie sich dieser kritische Hinblick auf eine planende Natur mit 1,53 verträgt, dürfen wir nicht fragen. Geschehen diese Dinge «von selbst», so ist kein Wissen von ihnen möglich, sondern nur ein Meinen, das sich auf die Autorität des Lehrers stützt. Eben dies wird Vellerns nun vorgehalten. Die Philosophie, der er folgt, hat nicht , sondern nur anzubieten. 67 Doch für Vellerns hängt an dieser Lehre sowohl die Eudaimonia wie auch die Wahrheit. Die Eudaimonia wird von Cotta mit der Bemerkung abgefertigt, sie bestehe bei den Menschen wie bei den Göttern Epikurs in der bloßen Untätigkeit. Der Vorwurf, der trotz De finibns 5,11 den aristotelischen Begriff der schole völlig ignoriert, war implicite schon in 1,2-4 enthalten und wird noch mehrfach wiederkehren. Zum Stichwort «Wahrheit» werden zwei Thesen Epikurs ironisch herausgegriffen. Die zweite nimmt auf, was schon 1,66 sagte: Aus den Atomen entstehen «von selbst» die vollkommensten Dinge ohne Lenkung durch die Natur und die planende Vernunft. Die erste These spricht von der unendlichen Anzahl entstehender und vergehender Welten. Sie gehört zu den interessantesten Stücken epikureischer Spekulation, auch wenn sie nirgends in ihrer Gesamtheit greifbar ist (vgl. Lucretius 2,1023-1174). Streng genommen ergibt sich die These fast zwingend aus der Erfahrung, daß wir kein einziges Stück Wirklichkeit im Bereich der Natur wie in demjenigen der Techne kennen, das nur in einem einzigen Exemplar vorhanden wäre; und wenn mehr als ein Exemplar angenommen werden müssen, so hindert nichts die Annahme zahlloser Exemplare. Mit dieser Perspektive muß sich schon Aristoteles, Über den Himmel A 9 (gegen Demokrit), auseinandersetzen. Hier seien vier Notizen Ciceros erwähnt: 2,48 und Lucullus 5 5 zeigen, daß in der Gestaltung der Welten alle Möglichkeiten offenstehen, von der totalen Verschiedenheit bis zur ununterscheidbaren Gleichheit zweier Welten. 2,94 teilt mit, daß zu jedem Zeitpunkt Welten untergehen und neue Welten entstehen. Unsere Stelle ergänzt dazu, daß sich in jedem einzelnen Falle das Entstehen und Vergehen «im Nu» (minimis temporum punctis) vollzieht. Eine neue

ANHANG

398

Welt ist p l ö t z l i c h da, u n d eine alte Welt hat sich p l ö t z l i c h aufgelöst. Es ist d e m n a c h nicht an ein langsames organisches W a c h s t u m gedacht, s o n dern an ein a u g e n b l i c k l i c h e s Z u s a m m e n s c h i e ß e n u n d Z e r f a l l e n v o n A t o m g r u p p e n (so a u c h L u c r e t i u s 1,1109). I n L u c r e t i u s

2,1105-1174

w i r d h i n g e g e n gerade u m g e k e h r t ein allmähliches H e r a n w a c h s e n u n d späteres V e r k ü m m e r n beschrieben. Sollen w i r f o l g e r n , d a ß a u c h da der für d e n A t o m i s m u s charakteristische B e g r i f f des apeiron

w i r k s a m ist?

D a w i r nicht w i s s e n k ö n n e n , w i e die D i n g e sich w i r k l i c h verhalten, so m u ß mit allen, auch d e n einander entgegengesetztesten M ö g l i c h k e i t e n gerechnet w e r d e n . D a s R ä s o n n e m e n t des G e g n e r s ist natürlich ironisch gemeint. Was der E p i k u r e e r selbst unter E u d a i m o n i a u n d W a h r h e i t versteht, k a n n m ü h e l o s aus 1,45 abgeleitet w e r d e n . E u d a i m o n i a ist die f r o m m e V e r e h r u n g des v o l l k o m m e n e n Wesens, u n d die W a h r h e i t ist, d a ß jenes v o l l k o m m e n e W e s e n z w a r in das L e b e n des M e n s c h e n niemals eingreift, aber genau jenes L e b e n f ü h r t , das d e m Weisen als P a r a d e i g m a v o r A u g e n steht. D i e E r k l ä r u n g C o t t a s ü b e r seine G r o ß z ü g i g k e i t geht mit 1,62 z u s a m m e n . E r hatte die A b s i c h t , b e s t i m m t e P u n k t e nicht z u b e h a n d e l n , w i l l aber n u n d o c h die gesamte L e h r e z u r D i s k u s s i o n stellen. 68

C o t t a läßt d e n A t o m i s m u s als s o l c h e n gelten, insistiert aber auf

der F o l g e r u n g , d a ß n u r die A t o m e als E r b e n des p a r m e n i d e i s c h e n S e i e n d e m e w i g , die G ö t t e r h i n g e g e n aus A t o m e n entstanden, also nicht e w i g sind. E p i k u r s K r i t i k an P i a t o n (1,20) w i r d g e g e n E p i k u r selbst gew e n d e t . D i e s b e r ü h r t in der Tat d e n gefährlichsten E i n w a n d g e g e n E p i kurs T h e o l o g i e : U n e n t s t a n d e n h e i t u n d U n v e r g ä n g l i c h k e i t k a n n nicht gleichzeitig d e n A t o m e n selbst u n d d e n aus A t o m e n b e s t e h e n d e n G ö t tern z u g e b i l l i g t w e r d e n . E p i k u r scheint die A p o r i e (die i h m z w e i f e l l o s klar w a r ) auf z w e i A r t e n ü b e r w u n d e n z u haben. D i e eine ist die in 1,49 s k i z z i e r t e Ü b e r l e g u n g , die (in aristotelischer T e r m i n o l o g i e ) der hyle der in u n a u f h ö r l i c h e m S t r o m e z u f l i e ß e n d e n u n d a b f l i e ß e n d e n A t o m e das k o n s t a n t e eidos gegenüberstellt, die seit E w i g k e i t bestehende, u n v e r ä n derliche K o n f i g u r a t i o n v o n A t o m e n , die die G o t t h e i t konstituiert. Z w e i t e n s w i r d , w a s hier ins Spiel k o m m t , v o n der V e r g ä n g l i c h k e i t aller w a h r n e h m b a r e n , d r e i d i m e n s i o n a l e n K ö r p e r die U n v e r g ä n g l i c h k e i t eines, w i e w i r es nennen d ü r f e n , z w e i d i m e n s i o n a l e n K ö r p e r s a b g e h o b e n (vgl. 1,75.98.123: liniamentAy w o h l p e r i g r a p h a i ; s c h o n 1,47). D i e G ö t t e r

K O M M E N T A R ZUM E R S T E N

BUCH

399

haben «so etwas wie einen Körper». Sie sind weder unkörperlich noch körperlich wie die uns in unserer Welt vertrauten wahrnehmbaren und berührbaren Körper. Vergleichbar ist am Menschen selber die Vernunft, die mit derselben Notwendigkeit als der vierte und vollkommenste Seelenteil sowohl körperlich wie auch in einer gewissen Weise unkörperlich ist (vgl. Lucretius 3 , 2 3 1 - 2 5 7 . 1 7 7 - 2 0 2 ) . D e r Gegner ist allerdings an diesen Voraussetzungen der Lehre nicht interessiert. E r begnügt sich mit der dogmatischen Feststellung, daß es eine solche Quasi-Körperlichkeit der Götter mit quasi corpus und quasi sanguis einfach nicht gibt. Wir unsererseits werden nicht übersehen, daß E p i k u r immer nur von corpus und sanguis überhaupt zu reden scheint; ohne K ö r p e r ist keine Gestaltetheit, ohne Blut keine Lebendigkeit möglich, und auf diese zwei Momente allein k o m m t es E p i k u r an. Von anderen Körperteilen und Organen spricht er nicht. 69

N u n wird ein polemischer E x k u r s eingeschaltet mit der Be-

hauptung, E p i k u r begründe unglaubwürdige Thesen mit solchen, die noch unglaubwürdiger sind. Die Frage ist zunächst, inwiefern dieser Vorwurf die Theologie Epikurs trifft. Daß die G ö t t e r Epikurs von körperlicher N a t u r sind, kann Cotta unmöglich als unglaubwürdig bezeichnen; denn auch die stoischen Götter sind Körper. Es muß also die Menschengestaltigkeit gemeint sein, die freilich erst v o n 1,76 an thematisiert wird. Unglaubhaft ist, daß die Götter eine menschliche Körperlichkeit besitzen, noch unglaubwürdiger, daß ihre Körperlichkeit keine echte dreidimensionale Körperlichkeit ist. Drei Beispiele unannehmbarer Argumentation Epikurs werden vorgeführt. Das erste Beispiel figurierte schon in .De finibus 1 , 1 8 - 1 9 und scheint später wieder in Defato

22-23 (Frg·

er

~

1 Us.). Jede der drei Stel-

len verteilt die Akzente etwas anders. H i e r wird die A b w e i c h u n g eines einzigen A t o m s v o m senkrechten Fall aller übrigen A t o m e damit begründet, daß nur so das menschliche Handeln die Freiheit des eph 'hemin bewahren kann und nicht der bloßen necessitas (ananke) ausgeliefert ist. Wichtig ist dabei die ausdrückliche Erklärung, Demokrit habe dieses clinamen, enklisis noch nicht gekannt; er scheint genau so unbefangen wie Aristoteles die heimarmene

in Rechnung gestellt zu haben. Sonderba-

rerweise wird an unserer Stelle z w a r Epikurs Begründung f ü r das eph 'hemin als turpe, also beschämend f ü r einen Philosophen, verworfen, ohne daß jedoch der Text präzisiert, w o r i n dieses turpe konkret besteht.

400

ANHANG

Die zwei anderen Texte heben es deutlich genug hervor: Die Abweichung des Atoms erfolgt ohne Ursache, und dabei gilt es als ausgemacht, daß ein ursachloses Geschehen unmöglich ist. Hat Cicero dieses Moment selber zu erwähnen nicht für nötig gehalten, oder ist eine Lücke im Text anzusetzen? Der Gesamtgedanke ist einfach: Als unglaubhaft gilt der senkrechte Fall der Atome, als noch unglaubhafter die ursachlose Abweichung des einen Atoms. 70 Das zweite Beispiel fand sich schon in Lucullus 97 und kehrt wieder in De fato 20-21.37 (Frg. 376 Us.). Das Problem ist einfach. Aus der logisch unanfechtbaren Disjunktion «Hermarchos wird morgen entweder leben oder nicht leben» folgert die Stoa eine ontologische Notwendigkeit und sieht darin einen Beweis für ihren Determinismus; denn es ist seit Ewigkeit vorherbestimmt, daß morgen das eine oder das andere eintreten wird. Um dieser Folgerung zu entgehen, erklärt Epikur, daß von einer ontologischen Notwendigkeit keine Rede sein könne. Ontologisch ist die Aussage «Hermarchos wird morgen leben oder nicht leben» weder wahr noch falsch. Erstaunlich ist, daß Cicero in Lucullus 97 die weise Vorsicht Epikurs lobt, dagegen an unserer Stelle und in De fato 37 Epikurs Erklärung als einfältig verwirft, und zwar ohne nähere Begründung dieses Urteils. Hängt der Widerspruch daran, daß Cicero verschiedenen Vorlagen folgt, oder eher daran, daß ihm (wie zuweilen auch dem Aristoteles) die Bedürfnisse einer wirkungsvollen Polemik zuweilen wichtiger sind als die Sache selbst? Die Absicht Epikurs ist im zweiten Beispiel dieselbe wie im ersten: mit allen Mitteln die stoische ananke und heimarmene zu bekämpfen. Das erste Beispiel ging die Naturphilosophie an, das zweite die Dialektik. Das dritte Beispiel ist etwas anders. Es handelt sich um das seit Parmenides diskutierte Problem der Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmungen. Für den Platoniker Arkesilaos sind alle Aussagen der Sinnesorgane unwahr; in der von der Körperlichkeit der Doxa beherrschten Erfahrungswelt gibt es keine Wahrheit. Die Stoa anerkennt nur eine Welt, und in dieser liefern die Sinne teils wahre, teils unwahre Aussagen. Epikur entscheidet radikal. Die Sinneswahrnehmungen sind die einzige und unanfechtbare Basis all unseres Wissens (vgl. Kyriai Doxai Nr. 24). Wäre nur ein einziger Sinneseindruck als solcher falsch, gäbe es keine

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN

BUCH

401

Wahrheit; die einzige Ausnahme würde genügen, um das G a n z e zu destruieren. In einer nicht zufällig ähnlichen Weise behauptet der Akademiker in Lucullus 84 mehrfach, es genüge ein einziger Fall, in dem zwei Eindrücke ununterscheidbar ähnlich wären, um die stoische Formel des «Begreifens» (katalepsis)

zu widerlegen.

Wir ergänzen, daß bei E p i k u r die sogenannten Sinnestäuschungen gerade keine Täuschungen der Sinne als solcher sind (dazu Aristoteles, Von der Seele 427b 1 1 - 1 2 u. ö.). Täuschungen entstehen nur, wenn der Wahrnehmende die variablen Randbedingungen, unter denen jedes Wahrnehmen sich vollzieht, nicht angemessen berücksichtigt; so der wohl im ganzen zuverlässige Bericht des Sextus (Epikur Frg. 247 Us.). E p i k u r teilt mit Arkesilaos den Vorzug einer klaren Position. Werden zwei Welten angesetzt wie im Piatonismus, herrscht hier uneingeschränkt der Irrtum, dort uneingeschränkt die Wahrheit. G i b t es nur die eine körperliche Welt, so müssen alle Aussagen der körperlichen Wahrnehmungsorgane über körperliche Gegenstände ausnahmslos wahr sein. Denn welche Instanz könnte einer solchen Wahrnehmung übergeordnet sein und sie beurteilen können? D i e Stoa hängt am Gegensatz zwischen dem Weisen, der alles begreift, und dem Toren, der nichts begreift. A l s o gibt es f ü r sie in der einen Welt sowohl unverwechselbar wahre wie auch verwechselbar falsche Eindrücke. Hatte nicht schon Piaton im Sophist den Irrtum als eine Verwechslung gedeutet, um damit einem gefahrvollen Denken des Nichtseienden den Weg zu versperren? Epikurs These erlaubt es dem M e n schen, sich zuverlässig in der Körperwelt zu orientieren, ohne einem unfruchtbaren Agnostizismus oder einer uferlosen Kasuistik zu verfallen. D e r Leser unserer Stelle fragt sich freilich vergeblich, welches hier die unglaubhafte These ist, die durch eine noch unglaubhaftere gestützt werden soll. Cicero wird das Beispiel herangezogen haben, ohne zu beachten, daß es mit der besonderen Absicht des Sprechenden nichts zu tun hat. D e r letzte Satz von 1,70 ist unheilbar zerstört, doch mehr als eine summarische Ablehnung der Meinungen Epikurs kann er kaum enthalten haben. 71

Wir kehren zur Körperlichkeit der Götter zurück. Alle Wirk-

lichkeit ist körperlich; dies ist die Uberzeugung der hellenistischen Phi-

402

ANHANG

losophie überhaupt. Die Frage ist, wie Körperlichkeit mit Unvergänglichkeit vereinbar sein kann. Von Epikurs Antwort war im Kommentar zu 1,68 die Rede. An unserer Stelle wird die These aufgegriffen, es seien zwei Arten von Körperlichkeit zu unterscheiden, die wahrnehmbare Dreidimensionalität und die im Prinzip nicht wahrnehmbare Zweidimensionalität. An dieser hängt die Folgerung, daß die Götter nur quasi corpus und quasi sanguis besitzen. Der Gegner hat dafür nur Spott übrig. Zitiert wird eine Äußerung des alten Cato (vgl. De divinatione 2,51), kein Apophthegma, sondern Zitat aus einer Rede (vgl. dazu Frg. 84 Male.). Erstaunlich ist, daß Cato es sich schon in der ersten Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. erlauben konnte, eine ehrwürdige Institution des römischen Staatskultes derart lächerlich zu machen. Hatte er Rückendeckung von griechischer Seite? Allerdings wird auch 2 , 1 0 - 1 1 zeigen, wie schwierig damals schon die Stellung der etruskischen Haruspices in Rom war; das hat nicht gehindert, daß das Kollegium der Haruspices noch bis tief in die Kaiserzeit hinein bestehen blieb und respektiert wurde. Unklar bleibt, was an dieser Lehre Epikurs lächerlich sein soll. Die Kritik begnügt sich mit der an sich legitimen Frage, was quasi corpus eigentlich bedeute. Eine Interpretation wird vorgeschlagen. Von quasi corpus könne man reden, wenn es sich um Nachbildungen eines lebendigen Körpers in totem Material handle, in Wachs oder in Ton. Epikur selbst meint sozusagen das Gegenteil: die Reduktion der massiven Dreidimensionalität auf eine flächenhafte Zweidimensionalität, so wie uns nach 1,46 die Gestalten der Götter im Wachen und Schlafen begegnen. Giftig wird ad hominem erklärt, auch Vellerns verstehe dies nicht, nur wolle er es nicht zugeben. Dies läuft auf eine advokatische Verdächtigung hinaus, die ihrer Natur nach weder zu beweisen noch zu widerlegen ist. 72 Nach 1,69-70 gelangen wir nun zu einem zweiten Exkurs, beginnend mit dem Gegensatz zwischen Epikur, der sich rühmte, keinen Lehrer gehabt zu haben (also ähnlich wie Sokrates autodidaktos zu sein), und den Schülern, die bloß wiederholen, was er gesagt hat. Den bösartigen Vergleich Epikurs mit dem Bewohner eines dilettantisch gebauten Hauses wird Cicero schon in seiner Vorlage gefunden haben.

KOMMENTAR ZUM ERSTEN BUCH

403

Es folgt ein Stück Biographie, konstruiert aus Äußerungen Epikurs, vermutlich aus seinem umfangreichen Sendschreiben An die Philosophen in Mytilene (Frg. 1 1 1 - 1 1 4 Us.). Jedenfalls fand sich da ein Bericht über seine Auseinandersetzungen mit dem Demokriteer Nausiphanes von Teos. Ebensowenig fehlte es an Polemik gegen die Lehre der Kyrenaiker. So liegt es nahe, auch die übrigen Informationen unseres Exkurses 1,72-73 auf denselben Brief zurückzuführen. Vom Gegner stammt allerdings die Behauptung, er habe zu Akademie und Lykeion nicht die geringste Beziehung gehabt; wenn dies heißen soll, er habe die Werke Piatons und des Aristoteles nicht gekannt, so ist dies mindestens zum Teil nachweisbar falsch. Mit der angeblichen Unkenntnis der pueriles disciplinae steht es etwas anders. Denn daß Epikur die enkyklios paideia verachtete, war nicht zu bestreiten. Man muß nur diese «Ungebildetheit», über die Cicero und andere mit Vorliebe ihre Bemerkungen gemacht haben, in den richtigen Zusammenhang rücken. Es ist «negativ» die Abwehr jener Enzyklopädik, die Demokrit, Aristoteles, aber auch der späte Piaton gepflegt haben, und «positiv» die Radikalisierung des sokratischen Postulates, daß nur dasjenige Wissen etwas tauge, das fähig sei, den Menschen der Eudaimonia näher zu bringen. Berichte, er habe den Platoniker Xenokrates gehört, hat Epikur als unzutreffend zurückgewiesen, wobei es offen bleibt, ob er bloß sagen will, er sei Xenokrates persönlich nie begegnet oder ob er sich auf bestimmte Lehrmeinungen des Xenokrates bezieht, die er ausdrücklich verwirft. Ciceros Lob des Xenokrates wirkt umgekehrt etwas übertrieben, wenn man seine überwiegend nüchtern doxographischen Informationen über ihn bedenkt; davon abgesehen hat Cicero mehrmals betont, daß er die Seelenlehre des Xenokrates vollständig ablehne (Frg. 199-201 Isn.-Par.). Dagegen hat Epikur in seiner Jugend auf Samos den Platoniker Pamphilos kennengelernt (da er 341 v. Chr. geboren ist, wird dies in das Jahrzehnt zwischen 331 und 321 v. Chr. fallen; dann war Pamphilos wohl noch ein persönlicher Schüler Piatons, wie dies auch die Epikur-Vita des Suidas berichtet, nächst Ariston von Keos (Frg. 32 Wehrli), die bisher einzige Stelle, an der der uns sonst völlig unbekannte Pamphilos noch erwähnt wird). Vergleichsweise ausführlich wird über die Umstände berichtet, die

404

ANHANG

dazu führten, daß Epikur selbst als Athener in Samos geboren wurde. Epikurs Vater Neokles muß zwischen 345 und 341 v. Chr., in der allerletzten Phase athenischer Großmachtpolitik den Auftrag erhalten haben, mit zweitausend anderen Kleruchen sich in Samos anzusiedeln, zweifellos um sich der politischen Loyalität der wichtigen Insel zu versichern (vgl. Strabon i 4 , i , i 8 ) . D i e ganze Familie siedelte um, Vater, Mutter und drei Söhne, unter denen Epikur der älteste gewesen sein dürfte (Epikuros, Chairedemos, Aristobulos); und zwar scheinen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern zeitlebens die engsten Beziehungen bestanden zu haben. O b das nur bei Cicero belegte Wort agripeta als Ubersetzung für klerouchos

von ihm selbst geschaffen oder von einem älteren Autor

(Cato?) übernommen ist, wissen wir nicht. Reich waren das damalige Athen und seine Kleruchen nicht mehr, und so mag es stimmen, daß sich der Vater Neokles mit Elementarunterricht als grammatodidaskalos

durchschlug, auch wenn diese Notiz

nur in polemischem Kontext auftaucht (hier und bei Diogenes Laertius 10,2-4). Vergleichbare Verdächtigungen, die das Vorleben eines Philosophen lächerlich oder suspekt machen sollen, sind vielfach verbreitet: Epikur selbst über Aristoteles (Athenaios, Deipnosophisten

354 A B ;

Aelianus, Varia historia 5,9; Diogenes Laertius 10,8) und über Phaidon von Elis (dazu wohl Diogenes Laertius 2,105). Cicero reduziert beides in 1,93 auf eine allgemeine Andeutung. Dabei ist es überwiegend wahrscheinlich, daß die Geschichten von den elenden Anfängen eines Phaidon, Aristoteles und Epikur (und anderer) auf Tatsachen beruhen, die von der allzeit geschäftigen Polemik nur leicht zurecht gerückt und in eine geeignete Atmosphäre eingebettet worden sind. 73

Als Lehrer treten Pamphilos und Nausiphanes in den Mittel-

punkt. Uber Pamphilos wissen wir, wie schon bemerkt, so gut wie nichts, haben also auch keine Ahnung, was Epikur an den Lehren dieses Platonikers so besonders verachtenswert fand; dies kann die Staatsphilosophie, die Seelenlehre oder die in der Akademie besonders hoch geschätzte Mathematik gewesen sein. Weit besser sind wir über Person und Lehre des Nausiphanes von Teos unterrichtet: Sammlung der Berichte in Fragmente der Vorsokratiker

Nr. 75. In der (ζ. T. nachträglichen) Kon-

struktion der Schuldiadochien wird er als Brücke zwischen Demokrit und Epikur benutzt (vergleichbar insofern dem Akademiker Polemon,

KOMMENTAR ZUM ERSTEN BUCH

405

dessen Leistung sich darin erschöpft, zwischen Xenokrates hier, Zenon und Arkesilaos dort eine Brücke zu bilden). Der Peripatetiker Ariston von Keos hat in einer polemischen Biographie erklärt, Epikurs Hauptschrift über das Wissen, der Kanon (die «Richtschnur» vgl. 1,43), sei vollständig aus einem Werk des Nausiphanes Tripous, der «Dreifuß», abgeschrieben (Frg. 32 Wehrli). Auszüge aus dem Werk des Nausiphanes scheinen in den rhetorischen Texten Philodems ans Licht gekommen zu sein. Doch eine spezifische Beziehung zu Epikur ist bisher nicht wahrzunehmen, ebensowenig eine solche zu Pyrrhon von Elis, dessen Jünger Nausiphanes nach Diogenes Laertius 9,64.69 gewesen sein soll. Dazu treten kurze Notizen bei Seneca, Epistulae ad Lucilium 88,43, u n d Clemens Alexandrinus, Stromateis 2,13,5. In welcher Absicht Nausiphanes den Anspruch erhob, Epikurs Lehrer gewesen zu sein, was dieser äußerst energisch bestritt, bleibt für uns undurchsichtig. Umgekehrt dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß Epikur nicht auf Nausiphanes angewiesen war, um sich der Philosophie Demokrits zuzuwenden und sie sich anzueignen. Daß vor allem Aristoteles, dann auch Theophrast sich ununterbrochen mit Demokrit auseinandersetzten, ist Epikur selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Dies hindert unseren Text nicht, in doppelter Weise gegen Epikur vorzugehen: Was Nausiphanes angeht, so bleibt es schockierend, daß Epikur den Mann einerseits als seinen Lehrer anerkennt, ihn aber andererseits mit den ärgsten Schimpfworten bedenkt. Was endlich das Verhältnis zu Demokrit betrifft, so braucht Cicero nur aufzunehmen, was er schon in De finibus 1,21 gesagt hatte. Originell epikureisch ist nach 1,69 nur die Lehre von der enklisis, dem clinamen. Doch Demokrit gehören (1) die Atome und das Leere, (2) die Bilder, durch die nach De finibus 1,21 nicht nur die Wahrnehmung, sondern sogar das Denken zustande kommt (vgl. 1,108), dann (3) das Unbegrenzte, ein konstitutives Moment in der Kosmologie Demokrits, vielleicht noch mehr als in derjenigen Epikurs; De finibus fügt bei, daß beide den Terminus technicus apeiria verwendet hätten. Aristoteles, Metaphysik 988a 28, zitiert ihn aus Anaxagoras, verwendet ihn aber selber äußerst selten (Bonitz 74a 13-17). Endlich ist demokritisch (4) die Lehre von den unzähligen Welten, die ununterbrochen entstehen und vergehen. Der letzte Satz macht ausdrücklich darauf aufmerksam, daß diese Abhängigkeit nur die Naturphilosophie betreffe, nicht die Ethik. Eine im Sinne Epikurs syste-

4o6

ANHANG

matische Ethik gibt es bei Demokrit nicht ( D e f i n i b u s 5,23.87-88 ist kein Ersatz dafür); und die Beziehung Epikurs zu den Kyrenaikern ist zum mindesten höchst undurchsichtig. Wir sehen nur, daß E p i k u r seinen Begriff der Lust nachdrücklich von demjenigen der Kyrenaiker unterschieden hat (Lucullus 1 3 1 ; De

finibus

1,23.39,

2

> 4 I - I I 4 ; dazu Frg.

450-453 Us.). Es dürfte seine besonderen G r ü n d e gehabt haben, warum die durchwegs nicht gerade zimperliche Polemik die Abhängigkeit Epikurs von Demokrit in der Regel weit schärfer herausgearbeitet hat als diejenige von Aristippos v o n Kyrene. Wie weit mag E p i k u r selbst daran interessiert gewesen sein, seine Beziehungen zur alten Sokratik mit einer gewissen Behutsamkeit zu behandeln? 74

Das Stichwort quasi corpus erscheint nach 1,68 und 1 , 7 1 hier

zum dritten Mal, doch abermals nur mit der Versicherung, es sei nicht zu verstehen, was E p i k u r damit gemeint habe. Wie schon in 1,71 wird insinuiert, Vellerns schäme sich bloß zuzugestehen, daß auch er dies nicht verstehe. U n d so wird ein dritter E x k u r s eingelegt. Verschiedene G r ü n d e können zur Unverständlichkeit eines Textes führen. Es gibt (a) die institutionalisierte Esoterik der Pythagoreer, dann (b) die systematisch durchgehaltene orakelhafte Dunkelheit eines Heraklit, der gar nicht wünscht, daß alle Leute ihn verstehen, endlich (c) die schlichte Unfähigkeit Epikurs, klar zu denken und zu reden. Vergleichbar ist die Liste De finibus

2 , 1 5 , w o wiederum neben E p i k u r Heraklit tritt (mit einem

bisher zu wenig beachteten, höchst eigentümlichen Zitat aus einer älteren römischen Komödie); dann kommt Piatons Timaios als das Beispiel einer Schwerverständlichkeit, weil die Sachen selbst, von denen die Rede ist, übermäßig schwer zu verstehen sind. D a liegen also im ganzen vier Fälle vor, zwei im Gegenstand begründet, den man entweder nur mit Mühe versteht, oder den nicht jedermann verstehen soll, und zwei v o m Verfasser her zu erklären, der entweder nicht klar schreiben will oder nicht klar schreiben kann. Das Urteil über E p i k u r ist geschichtlich gesehen sonderbar. Einesteils sind seine naturphilosophischen Untersuchungen schwer zu verstehen, weil er anders als v o r allem Piaton auf eine möglichst exakte wissenschaftliche Fachterminologie bedacht ist; andererseits wird der Fortgang unseres Werkes zeigen, daß Epikur mit wesentlich eindeutigeren und klarer umrissenen Begriffen arbeitet als die Stoa, die zuweilen mit einer stupenden Nonchalance verschiedene Begriffe etwa der Gottheit, der Welt, der N a t u r nebeneinander gelten

KOMMENTAR

ZUM ERSTEN

BUCH

407

u n d gegeneinander operieren läßt. Es ist unserer Ü b e r z e u g u n g nach diese m a n g e l n d e intellektuelle D i s z i p l i n i e r t h e i t der Stoa, die sich in der K a i s e r z e i t g e g e n die strenge S y s t e m a t i k des erneuerten P i a t o n i s m u s (gepanzert d u r c h das aristotelische O r g a n o n ) nicht hat

behaupten

können. 75

E i n e n Schritt w e i t e r gelangt d e r R e d e n d e mit der E r k l ä r u n g ,

E p i k u r meine ein b l o ß e s eidos (species) der G ö t t e r , ein «Bild», d e m jede dreidimensionale Materialität abgeht. V i e r B e g r i f f e n , die die massive D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t u m s c h r e i b e n , stehen drei B e g r i f f e n gegenüber, die die Z w e i d i m e n s i o n a l i t ä t charakterisieren: rein (katharon), d u r c h s i c h t i g (diaphanes).

fein

(lepton),

Es sind, n e b e n h e r b e m e r k t , dieselben B e g r i f f e ,

mit d e n e n der S t o i k e r d e n g ö t t l i c h e n Ä t h e r schildern w i r d : 2,30-31.42. D i e s ergibt eine K ö r p e r l i c h k e i t an der G r e n z e z u r

Körperlosigkeit.

H a t t e 1,71 an d e n U m r i ß einer G e s t a l t erinnert, d e r bei einer Statue d e r selbe ist w i e bei einem L e b e w e s e n , so w i r d hier die Z w e i d i m e n s i o n a l i t ä t der e p i k u r e i s c h e n G ö t t e r v e r g l i c h e n mit d e r j e n i g e n eines G e m ä l d e s . A n gespielt w i r d auf eines der b e r ü h m t e s t e n G e m ä l d e der A n t i k e , die aus d e m M e e r e aufsteigende A p h r o d i t e des A p e l l e s (etwa 360-300 v. Chr.). Es b e f a n d sich damals n o c h i m A s k l e p i e i o n in K o s ; z w i s c h e n 30 u n d 20 v. C h r . hat A u g u s t u s es nach R o m b r i n g e n lassen (Strabon 14,2,19). C i cero hat es w o h l k a u m selbst gesehen, o b s c h o n er es bei einem A u f e n t halt in K o s n o c h an seinem u r s p r ü n g l i c h e n S t a n d o r t hätte sehen k ö n n e n . H i e r ist v o n A p h r o d i t e in der Tat nur ein quasi corpus u n d ein quasi sanguis z u e r k e n n e n . W ä h r e n d j e d o c h das K u n s t w e r k n u r eine N a c h b i l d u n g der W i r k l i c h k e i t ist, sind die epikureischen G ö t t e r u m g e k e h r t i m h ö c h s t e n G r a d e real, w e i l sie, w i e die A t o m e selber, diejenige K ö r p e r lichkeit haben, die nur d e m D e n k e n z u g ä n g l i c h , u n e n t s t a n d e n u n d u n v e r g ä n g l i c h ist. M e h r w i l l C o t t a nicht sagen. E r w e i g e r t sich nach w i e v o r z u verstehen, k o n z e d i e r t aber die E x i s t e n z v o n G ö t t e r n , die lediglich w i e Schattenbilder (apeskiasmenoi)

u n d f l ä c h e n h a f t e U m r i s s e (perigraphai)

exi-

stieren. 76

Viel w i c h t i g e r ist d e m R e d n e r die T h e s e , die G ö t t e r hätten eine

m e n s c h e n ä h n l i c h e G e s t a l t , w i e dies quasi corpus u n d quasi sanguis s c h o n implicite v o r a u s s e t z t e . N u n w e r d e n die drei B e w e i s e E p i k u r s resümiert. 1. D i e G ö t t e r z e i g e n sich d e m M e n s c h e n i m m e r in Menschengestalt; so 1,46, w o b e i allerdings u n s e r e Stelle ( w i e d a n n 1,81) d e n o m i n ö s e n Z u -

4O8

ANHANG

satz macht cum de deo cogitet und damit dem Leser suggeriert, es handle sich gar nicht um wirkliche, sondern um bloß vermeintliche Begegnungen (der Stoiker in 2,6 beruft sich seinerseits unzweifelhaft auf wirkliche Epiphanien). 2. D a die Gottheit anerkanntermaßen körperlich ist, muß sie die schönste körperliche Gestalt besitzen, also die menschliche;

dazu

1,47-48 und nachher 1,77-80. 3. Die Körperlichkeit wird ergänzt durch die Geistigkeit (die ihrerseits körperlich/unkörperlich ist). Erfahrungsgemäß findet sich diese nur in einem menschlichen Körper, d. h. sie bedarf eines derartigen K ö r pers als Instrumentar, um tätig sein zu können; dazu 1,48 und 1,87-89. M a n wird den ersten Beweis einen reinen Erfahrungsbeweis nennen, während der zweite und dritte davon ausgehen, daß das, was den Menschen physisch und psychisch in begrenzter Weise auszeichnet, bei den Göttern auf optimale Weise vorhanden sein muß. D i e Widerlegung bemüht sich, möglichst wenig schulmäßig vorzugehen. 77

D i e Widerlegung des ersten Beweises macht sich die Sache allzu

leicht insofern, als der Akademiker hier wie später im Fall der Stoa ( 3 , 1 1 - 1 3 ) die Möglichkeit, daß die Gottheit sich tatsächlich den Menschen zeigt, von vornherein ausschließt. D e r Mensch stellt sich bloß vor, daß die Götter in Menschengestalt erscheinen, und so bleibt lediglich die psychologische Frage, wie es zu einer solchen Vorstellung kommen kann. A n g e f ü h r t werden drei Gründe: (a) Es ist das Kalkül weiser Männer, die glaubten, die Menschen nur dadurch in Zucht halten zu können, daß sie ihnen drohten, ihr gesamtes Tun werde von menschengestaltigen Göttern dauernd beaufsichtigt. Derartiges hatte schon im 5. J h . v. Chr. Kritias seinen Sisyphos auf der Bühne vortragen lassen (Fragmente der Vorsokratiker

8 8 B 2 5 ) . I n i , n 8 wird dies als eine der Formen des Athe-

ismus wieder erwähnt. (b) Wer sich verehrend und hilfesuchend an die Götter wendet, wird sich die Götter als menschenähnliche und dialogfähige Gestalten vorstellen, wie dies die Kultbilder in den Tempeln zeigen. Dies führt freilich zu dem immer wieder diskutierten Problem, wie die Relation der G o t t heit zu ihrem Kultbild zu begreifen sei. Repräsentiert das Kultbild bloß die Gottheit, oder ist sie im Kultbild selbst gegenwärtig?

KOMMENTAR ZUM ERSTEN BUCH

409

(c) Ein Planen und Handeln überhaupt können w i r uns nur bei menschengestaltigen Göttern vorstellen. D a f ü r werden mit leichter Geste Dichter, Maler und Bildhauer verantwortlich gemacht, obschon es sich um den theologisch relevantesten der drei G r ü n d e handelt. E r geht natürlich eng mit der bereits angeführten These zusammen, daß nach unserer Erfahrung die Vernunft auf den ihren Aktivitäten angepaßten menschlichen K ö r p e r angewiesen ist; und der Epikureer wird v o n 1,84 an darauf insistieren, daß man sich die Gestirne und den K o s m o s als planende und handelnde Wesen gar nicht vorstellen könne, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem v o m Menschen ein Planen und Handeln ausgesagt wird. Es gelingt so auch weder dem Akademiker noch dem Stoiker, dieses Argument überzeugend zu widerlegen. A u c h die Widerlegung des zweiten Beweises (die Gottheit hat die schönste, also die menschliche Gestalt) reduziert zunächst das Problem auf ein psychologisches: Jedes Tier wird seinesgleichen f ü r das schönste Wesen halten, eine These, die schon zu Beginn des 5. J h . v. Chr. X e n o phanes verfochten hatte (Fragmente

der Vorsokratiker

21 Β 1 5 - 1 6 ) .

H i e r wird sie bewiesen mit der anerkannten Tatsache, daß jedes Tier nur mit seinesgleichen einen sexuellen U m g a n g sucht. D i e Beispiele sind sorgfältig gewählt: zuerst zwei Haustiere, deren Verhalten wir beobachten können (Pferd, Rind), dann drei Wildtiere, je eines in der L u f t (Adler), auf der Erde ( L ö w e ) und im Wasser (Delphin) zu Hause. In allen drei Fällen handelt es sich überdies um ein Tier, das symbolisch-ikonographisch seinen besondern Rang hat. D e r Beweis selbst ist nicht unbedenklich insofern, als er die Relation zwischen G o t t und Mensch auf die gegenseitige sexuelle Attraktivität zu reduzieren scheint. A n entsprechenden Beispielen fehlt es nicht; doch sie befinden sich alle in der schwer durchschaubaren Randzone zwischen Kultreligion und «Mythos* der Dichter. 78

D a z u kommt, daß der Begriff der Schönheit als solcher keines-

wegs eindeutig ist. A u c h da hat schon das 5. J h . v. Chr. die Belege bereitgestellt. So kann bereits der allgemeine Satz, daß f ü r den Menschen der Mensch das schönste Wesen sei, bestritten werden. A u f einer ersten Stufe wird auf die Schönheit des Stieres, der Europa entführte, angespielt, auf einer zweiten nennt der Redner sogar Triton und die Nereiden, also Mischwesen aus schönen Menschen und schönen Tieren, die schöner sind als der bloße Mensch. Wir haben den Eindruck,

4io

ANHANG

d a ß in beiden Fällen an bildliche D a r s t e l l u n g e n gedacht ist, w i e sie im H e l l e n i s m u s ü b e r a u s beliebt w a r e n . D o c h C i c e r o ist sich b e w u ß t , in extravagante T h e s e n a b z u g l e i t e n , u n d so k e h r t er z u r einfachen F o r m e l z u r ü c k , d a ß in der R e g e l der M e n s c h w i e jedes T i e r seinesgleichen a m s c h ö n s t e n findet. A u s d r ü c k l i c h genannt w i r d die A m e i s e , die U n a n s e h n l i c h k e i t u n d eine g e w i s s e K l u g heit in sich vereinigt (vgl. 3,21). 79

B l e i b e n w i r b e i m M e n s c h e n , so ist die Feststellung g e r a d e z u

banal, d a ß die einen einen M e n s c h e n f ü r s c h ö n halten, der f ü r andere häßlich ist. D e r G e s c h m a c k ist verschieden. Eine p e r s ö n l i c h e R e m i n i s z e n z C o t t a s auf seinen A u f e n t h a l t in A t h e n (etwa z w i s c h e n 90 u n d 82 v. C h r . ; vgl. 1,59) macht d e n A n f a n g . Es ist m ü ß i g z u fragen, o b C i c e r o da p e r s ö n l i c h e E i n d r ü c k e auf C o t t a ü b e r tragen hat. Jedenfalls d o k u m e n t i e r t die A n s p i e l u n g auf Piatons

paidikos

eros m e h r d e n W u n s c h , einen b e s t i m m t e n griechischen Lebensstil nachz u a h m e n , als eine echte p e r s ö n l i c h e N e i g u n g (vgl. De republica Tusculanae

disputationes

4,4;

4,70). W i e die athenische E p h e b i e , eine an sich

alte Institution, die der p o l i t i s c h e n u n d k ö r p e r l i c h e n

Ertüchtigung

der j u n g e n M ä n n e r diente, i m 1. Jh. v. C h r . organisiert war, w i s s e n w i r kaum. Es f o l g t ein a n s p r u c h s v o l l e s Z i t a t (ein Vers?) ü b e r d e n alten L y r i k e r A l k a i o s (notiert z u F r g . 58 B g k . n e b e n Tusculanae H o r a t i u s , Carmina

disputationes

4,71 u n d

1 , 3 2 , 1 1 - 1 2 ) . Z u g r u n d e liegt ein G e d i c h t des A l k a i o s

selbst. H ü b s c h aktualisierend schließt sich das v o l l s t ä n d i g e Zitat eines E p i g r a m m s des Q . Lutatius C a t u l u s an, K o n s u l 102 v. C h r . u n d Vater des T i t e l h e l d e n des D i a l o g e s Catulus·,

diesen a p o s t r o p h i e r t C o t t a als d e n

« g e g e n w ä r t i g e n » C a t u l u s u n d als seinen K o l l e g e n u n d F r e u n d ; sie w a r e n d e m n a c h damals beide M i t g l i e d e r des K o l l e g i u m s der P o n t i f i c e s . D a s G e d i c h t selbst ist o f f e n s i c h t l i c h das W e r k eines D i l e t t a n t e n , der sich in hellenistischer M a n i e r versucht. A u r o r a - E o s taucht rechts v o m D i c h t e r auf, R o s c i u s v o n links, u n d die S c h ö n h e i t des R o s c i u s ü b e r t r i f f t diejenige der A u r o r a . Eine g e w i s s e P o i n t e ist es, d a ß R o s c i u s w i e Vellerns aus L a n u v i u m stammte u n d seinen V e r e h r e r C a t u l u s (der 87 V. C h r . z u m S e l b s t m o r d gez w u n g e n w u r d e ) lange ü b e r l e b t hat. C i c e r o hat ihn nicht n u r p e r s ö n l i c h gekannt, s o n d e r n ihn a u c h r u n d z e h n Jahre nach d e m s u p p o n i e r t e n

KOMMENTAR

ZUM ERSTEN

BUCH

4

D a t u m unseres D i a l o g e s in einem P r o z e ß verteidigt (Pro Q . Roscio

II

Co-

moedo). D a hat also C a t u l u s f ü r s c h ö n gehalten, w a s f ü r andere gerade ein M a k e l darstellte. 80

Es f o l g t s u m m a r i s c h eine R e i h e k ö r p e r l i c h e r E i g e n t ü m l i c h k e i -

ten, die die einen als s c h ö n , die anderen als h ä ß l i c h e m p f i n d e n . Ä u ß e r s t charakteristisch ist es, d a ß diese E i g e n t ü m l i c h k e i t e n ausnahmslos als C o g n o m i n a r ö m i s c h e r G e n t e s b e k a n n t o d e r w i e im Falle des naevus

zu

G e n t i l n a m e n ( N a e v i u s ) ü b e r h a u p t g e w o r d e n sind. Erinnert sei an P o m peius Strabo, A e l i u s Paetus, P o m p a e d i u s Silo, H o r a t i u s Flaccus, F o n teius C a p i t o usw. H i e r i n w e i c h t die r ö m i s c h e N a m e n g e b u n g nicht u n e r heblich v o n der griechischen ab. D i e s f ü h r t schließlich z u einer systematischen A l t e r n a t i v e . E n t w e d e r ist die S c h ö n h e i t der G ö t t e r verschieden, d a n n gibt es u n v e r m e i d l i c h s c h ö n e r e u n d w e n i g e r s c h ö n e G ö t t e r ; o d e r die G ö t t e r sind alle genau gleich s c h ö n , d a n n m u ß g e f o l g e r t w e r d e n , d a ß alle G ö t t e r mit allen anderen G ö t t e r n v e r w e c h s e l b a r sind u n d es v o n k e i n e m e i n z i g e n G o t t ein zuverlässiges, u n v e r w e c h s e l b a r e s W i s s e n g e b e n kann. 81

G r o b p o l e m i s c h geht C o t t a nach 1,77 ein z w e i t e s M a l auf das

epikureische A r g u m e n t ein, die G ö t t e r z e i g t e n sich d e n

Menschen

i m m e r in m e n s c h l i c h e r Gestalt; u n d w i e s c h o n in 1,76, w i r d die K l a u s e l nobis de deo cogitantibus

b e i g e f ü g t , die v o n v o r n h e r e i n insinuiert, d a ß

jene E r s c h e i n u n g e n gar nicht w i r k l i c h sind, s o n d e r n nur in unserer Phantasie stattfinden. D a n n k o m m t das z u m Z u g e , w a s w i r die B e w e i s t e c h n i k des K a r n e a des n e n n e n d ü r f e n . Eine allgemeine A u s s a g e w i r d systematisch auf k o n krete E i n z e l f ä l l e eingeengt, bis die reine A b s u r d i t ä t erreicht ist. W i r d e n k e n gar nicht « G o t t » ü b e r h a u p t , s o n d e r n i m m e r nur Iuppiter, I u n o u s w . mit allen ihren b e s o n d e r e n A t t r i b u t e n , w i e sie v o n d e n M a l e r n u n d B i l d hauern dargestellt w e r d e n . V o n diesen w a r s c h o n in 1,77 die R e d e g e w e sen, d o r t mit d e m H i n w e i s , d a ß m a n sich p l a n e n d e u n d h a n d e l n d e G ö t ter nur in M e n s c h e n g e s t a l t v o r z u s t e l l e n v e r m a g . H i e r w i r d anders argumentiert: die K ü n s t l e r g e b e n ihren G ö t t e r n ein b e s t i m m t e s A l t e r u n d statten sie mit K l e i d u n g u n d S c h m u c k aus; d a ß d a m i t uralte sinnvolle K u l t t r a d i t i o n e n u n d beliebige E r f i n d u n g e n spielerisch d u r c h e i n a n d e r g e w o r f e n w e r d e n , liegt auf der H a n d . D a n n verschiebt sich die A r g u m e n t a t i o n . G r i e c h e n u n d R ö m e r glau-

412

ANHANG

ben an Götter in Menschengestalt und errichten Tempel und Kultbilder, als ob dies selbstverständlich wäre, während umgekehrt die Barbaren gerade Tiere als Götter verehren. 82 Und zwar nehmen sie ihren Tierkult viel ernster als die Griechen und Römer ihren Kult der menschengestaltigen Götter. Cicero kennt offensichtlich Fälle von Plünderung von Tempeln und Raub von Kultstatuen, vor allem wohl aus den Punischen Kriegen, erwähnt aber nichts (man möchte wissen, wie sich die Kultreligion zu solchen Vorkommnissen stellte) und führt dagegen einige Stichworte aus dem ägyptischen Kulte an, auf den er 1,101 nochmals zu sprechen kommt. Da waren von Herodot an griechische Berichte reichlich zur Verfügung; und daß die Ptolemäer das Ihrige versucht haben, um für das griechische Publikum das Lächerliche und Anstößige des altägyptischen Tierkultes zu überspielen, glaubt man ζ. T. aus dem ersten Buch Diodors herauslesen zu können. Dem heiligen Stiere Apis wird nicht unelegant Iuno Sospita, die Stadtherrin von Lanuvium, der Heimatstadt des Velleius, gegenübergestellt. Cotta beschreibt das hochaltertümliche Kultbild. Eine Aitiologie der einzelnen Attribute, wie sie etwa Kallimachos gegeben hätte und wie sie sich wohl bei Varro fand, wenn die Beschreibung auf ihn zurückgeht (vgl. Varro, Antiquitates rerum humanarum et divinarum, Frg. 262 Card.), hat möglicherweise Cicero absichtlich weggelassen, weil es ihm ausschließlich auf die Absonderlichkeit dieses Kultbildes ankam, das Sospita (was der Name bedeutet, wußte wohl schon die Zeit Ciceros nicht mehr) in der Gestalt einer Kriegerin/Jägerin zeigte. Daß die Hera von Argos und die kapitolinische Iuno in Rom ganz anders dargestellt wurden, bzw. in der Hand der Maler und Bildhauer wohl schon früh alle ursprünglichen Kultattribute verlorengegangen waren, war bekannt. Dasselbe gilt vom afrikanischen Zeus Ammon und dem römischen Iuppiter Capitolinus. 83 Ohne Umschweife wird vorausgesetzt, daß auch der Philosoph, der die Götter für menschengestaltig hält, sich die Götter nur so vorzustellen vermag, wie es ihm seine jeweilige Tradition nahelegt. Auf dieser Tradition wird ausdrücklich abermals insistiert mit vier Beispielen, zwei über die Barttracht und zwei über die Augenfarbe. Als Pointe soll wohl der Hinweis auf Hephaistos wirken, den hinkenden Schmied, der gerade nicht schön ist. Der Text scheint anzudeu-

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN

BUCH

413

ten, daß Cotta/Cicero die Statue des Alkamenes (spätes 5. Jh. v. Chr.) in Athen selbst gesehen hat. Wir unsererseits werden uns darüber wundern, wie bedenkenlos gegen eine ernsthaft vertretbare theologische These das im Prinzip unverbindliche Spiel der Künstler ins Feld geführt wurde. Von echten Kultüberlieferungen ist da kaum mehr etwas erhalten, und wo etwas erhalten ist, wie im Falle der Sospita, findet es, schematisch gesagt, nur noch ein folkloristisches Interesse. 84 Unerwartet kommt hier ein neuer Gesichtspunkt zur Sprache, der nicht nur bisher nicht berührt wurde, sondern auch mit dem anstehenden Problem nichts zu schaffen hat. Gefragt wird nach den Namen der Götter. Entweder haben die Götter tatsächlich ihre Namen, oder es sind die Menschen, die ihnen die Namen geben; dabei hat jedoch jede Sprache ihre eigenen Namen für ihre Götter. Ein zweites Problem stellt sich ein, wenn wir annehmen, daß es (im Sinne von 1,50?) zahllose Götter gibt, also viel mehr Götter, als die menschliche Sprache Namen zur Verfügung hat. Dann gibt es also eine Menge Götter ohne Namen, was allerdings in dem einen Falle bedeutungslos ist, den 1,80 andeutete. Sind alle Götter an Schönheit einander gleich bzw. zum Verwechseln ähnlich, so ist es gar nicht nötig, daß jeder Gott seinen individuellen Namen hat. Interessant ist der Hinweis auf die Libri pontificii, von denen bekannt war, daß sie u. a. lange «Litaneien» enthielten, in denen Reihen von Göttern mit jeweils ihrem hochspezialisierten Aufgabenbereich aufgezählt waren. Varro muß diese Listen in seine Antiquitates aufgenommen und kommentiert haben, und daraus wiederum haben die christlichen Polemiker herausgegriffen, was ihren Zwecken diente (vgl. Varro, Antiquitates rerum humanarum et divinarum, Frg. 87-203 Card.). Der Sache nach ist das Problem der Götternamen von demjenigen ihrer Menschengestalt und Schönheit völlig unabhängig. Insofern wirkt der nun folgende gehässige Ausfall gegen Velleius reichlich unmotiviert. Doch der anschließende Satz kehrt abrupt zum Hauptthema zurück; er gehört in den Zusammenhang von 1,80. Wenn die Gestalten der Götter einander nicht verwechselbar ähnlich, sondern verschieden sind, kann man natürlich ironisch die Frage stellen, ob sie mehr mir gleichen oder dir. Dann endlich kommt der Epikureer selber zum Zuge mit der implikationenreichen Gegenfrage: Wenn Gott nicht menschengestaltig ist, welche Gestalt hat er dann? Die Stoa verweist auf Sonne, Mond und

ANHANG

4M

K o s m o s . W i e k a n n j e d o c h solchen W e s e n die E u d a i m o n i a u n d die Vern u n f t z u k o m m e n ? C i c e r o f o r m u l i e r t u n g e s c h i c k t . E r n i m m t die

hedone

v o r w e g , o b s c h o n erst in 1 , 1 1 0 - 1 1 4 dargelegt w i r d , d a ß f ü r E p i k u r die E u d a i m o n i a in der v o l l k o m m e n e n H e d o n e besteht; u n d w a s hier sapientia heißt, ist nichts anders als das, w a s in 1,76 u n d 1,87-89 ratio genannt w i r d . D i e s w i r d s o f o r t der A n l a ß z u einem vierten E x k u r s . D o g m a t i s c h hart konstatiert C o t t a , d a ß nur z w e i A u f f a s s u n g e n m ö g l i c h seien: D i e G ö t t e r sind e n t w e d e r menschengestaltig, w a s er w i d e r l e g t z u h a b e n behauptet, o d e r sie haben die G e s t a l t v o n S o n n e , M o n d und K o s m o s , w a s der E p i k u r e e r ablehnt. W e r beide A u f f a s s u n g e n a b w e i s t , d e m verbleibt nur n o c h der A t h e i s m u s . 85

So behandelt der E x k u r s die Frage, o b E p i k u r ein A t h e i s t sei

o d e r nicht. H i e r stehen z w e i T h e s e n einander diametral gegenüber. N a c h d e r einen ist er ein A t h e i s t , der nur z u feige war, sich ö f f e n t l i c h als solcher z u b e k e n n e n , so w i e e t w a in P i a t o n s Gorgias die G e g n e r des S o krates, G o r g i a s , P o l o s u n d Kallikles, sich der R e i h e nach g e s c h ä m t haben, ihre M e i n u n g bis z u m letzten z u vertreten (461 B , 474 C , 494 E). Es ist P o s e i d o n i o s , der nach 1,123 (Frg. 346 T h . ) E p i k u r so interpretiert hat. N a c h der e n t g e g e n g e s e t z t e n T h e s e ist E p i k u r g e r a d e z u abergläubisch f r o m m g e w e s e n . D i e s e r T h e s e schließt sich C o t t a an, u n d so d ü r fen w i r f o l g e r n , d a ß es d i e j e n i g e des K a r n e a d e s g e w e s e n ist. A k u t w i r d der G e g e n s a t z angesichts der M e h r d e u t i g k e i t des g r u n d legenden Satzes Kyriai Doxai

N r . 1. D a scheint E p i k u r die Frage o f f e n

z u lassen, o b es ein W e s e n , das E u d a i m o n i a u n d U n s t e r b l i c h k e i t besitzt, tatsächlich gibt, o d e r o b b l o ß mit dieser M ö g l i c h k e i t gerechnet w i r d ; dann w ü r d e der Satz n u r die E i g e n s c h a f t e n nennen, die ein solches Wesen h a b e n m ü ß t e , falls es existieren sollte. So h a b e n nach C i c e r o «einige», also P o s e i d o n i o s , den Satz verstanden. D e r R e d n e r v e r w i r f t diese Interpretation. E r behauptet vielmehr, E p i k u r e e r z u k e n n e n , die j e d e m G ö t t e r b i l d (das m u ß sigilla

meinen),

d e m sie b e g e g n e n , ihre V e r e h r u n g darbringen. A l s o b e r u h t die M e h r deutigkeit v o n Kyriai Doxai

N r . 1 nicht auf A b s i c h t (vergleichbar e t w a

mit der H a l t u n g des P r o t a g o r a s : 1,63), s o n d e r n auf der U n f ä h i g k e i t des Verfassers, sich klar a u s z u d r ü c k e n . 86

C i c e r o s V o r l a g e w i r d aus d e n S c h r i f t e n E p i k u r s w i e aus d e n j e -

nigen des M e t r o d o r o s B e l e g e f ü r die F r ö m m i g k e i t des einen w i e des an-

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN B U C H

41 5

deren beigebracht haben. Cicero hat sie gestrichen und begnügt sich mit dem allzu einfachen Hinweis, E p i k u r habe es als seine Hauptaufgabe betrachtet, den Menschen die Angst vor den Göttern und v o r dem Tod zu nehmen. In Wirklichkeit sind es nicht die Menschen, so erklärt Cotta, sondern nur E p i k u r selber, der diese Angst hat. D a wird polemisch genau so grob argumentiert wie in Definibus

2,53. D o r t wurde rundweg

bestritten, daß die Schurken jemals ein schlechtes Gewissen hätten, hier wird behauptet, der durchschnittliche Mensch fürchte weder die Götter noch den Tod; was, arg übertrieben, damit bewiesen wird, daß unzählige Menschen unter Todesgefahr sich als Straßenräuber betätigen oder skrupellos alle Heiligtümer plündern (wobei man sich, wie schon im K o m mentar zu 1,82, fragen wird, ob die Kultreligion, gerade in R o m , keine Maßnahmen vorgesehen hat, um solche Tempelschändungen zu verhindern und zu bestrafen). H i e r k o m m t es nur auf den grellen Kontrast z w i schen dem ängstlichen Aberglauben Epikurs und der Unbekümmertheit der anderen Menschen an. 87

Dies hindert freilich nicht daran, daß Cotta die Verdächtigung

des Poseidonios (non audes) noch einmal aufnimmt. Dann kehren wir zur entscheidenden Frage v o n 1,84 zurück: Wenn Gott keine Menschengestalt hat, welche Gestalt hat er dann? In 1,84 waren Sonne, M o n d und K o s m o s genannt, hier tritt sonderbarerweise eine mens aeterna

hinzu (Anspielung w o h l v o r allem auf Anaxagoras

1,26-27), a ' s o

Gottheit ohne jede körperliche Gestalt, eine These,

e ne

'

die jedenfalls f ü r die Stoa ebenso unannehmbar w a r wie f ü r Epikur. Sie wird demgemäß hier wie in 1,95 nicht weiter verfolgt. Ist sie der Rest einer ausführlichen Argumentation, die nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten einer körperlichen, sondern auch diejenige einer unkörperlichen Gottheit prüfte? Wir haben auch sonst Anzeichen dafür, daß Cicero den ganzen K o m p l e x übermäßig vereinfacht hat. D e r E i n w a n d des Epikureers greift auf 1,76 zurück. Wenn wir voraussetzen, daß Geist und Vernunft bei G o t t von gleicher A r t sind wie beim Menschen, so zeigt die Erfahrung, daß sie nur in einem menschlichen K ö r p e r zu finden sind, also auf einen solchen K ö r p e r als ihr Werkzeug angewiesen sind; wir haben schon erwähnt, daß dies die Lehre des Aristoteles war, Von der Seele 407b 1 3 - 2 6 . D i e Widerlegung reduziert dies befremdlich grob auf die Formel, der Epikureer habe die Vernunft in einem anderen als einem Menschenkörper «noch nie gesehen» und

4i6

ANHANG

unterstellt nun, er halte nur dies f ü r w i r k l i c h , w a s er p e r s ö n l i c h gesehen habe. D i e s gestattet die F o l g e r u n g , der E p i k u r e e r w i d e r s p r e c h e sich selbst, w e n n er lehre, es gebe a n d e r s w o Welten, die w i e die unsrige Sonne, M o n d u n d P l a n e t e n besäßen - W e l t e n , die er d o c h selbst nie gesehen hat. S o w i r d m a n d e n m e r k w ü r d i g schief f o r m u l i e r t e n T e x t w o h l verstehen müssen. D e n n die G e s t i r n e in unserer Welt u n d deren B e w e g u n g e n k ö n n e n w i r natürlich «sehen». Es m u ß sich also u m die G e s t i r n e in einer anderen Welt handeln, deren E x i s t e n z w i r a n n e h m e n , aber nicht b e o b achten k ö n n e n ; in 1,96 k o m m t dies w e s e n t l i c h klarer z u m A u s d r u c k . A l s E x k u r s w i r k t es, w e n n C i c e r o hier B e m e r k u n g e n ü b e r die B a h nen v o n S o n n e , M o n d u n d Planeten einschaltet. D i e p e r f e k t e R e g e l m ä ß i g k e i t d e r G e s t i r n b e w e g u n g e n (die E p i k u r bestritten hat) hat ihn i m m e r fasziniert. 88

E r n s t h a f t e r ist der H i n w e i s , d a ß m a n auch an G ö t t e r glaube, o b -

s c h o n m a n sie nicht sehe. E p i k u r k ö n n t e e r w i d e r n , d a ß uns i m m e r h i n A b b i l d e r der G ö t t e r b e g e g n e n , die w i r auf irgendeine Weise w a h r z u n e h m e n v e r m ö g e n (vgl. 1,46). D a n n biegt C o t t a ab in die g a n z allgemeine T h e s e , d a ß f ü r E p i k u r n u r das w i r k l i c h sei, w a s w i r p e r s ö n l i c h gesehen h a b e n o d e r sehen, eine T h e s e , mit d e r sich, w i e b e k a n n t , die H i s t o r i o g r a p h i e seit H e r o d o t a u s e i n a n d e r z u s e t z e n hatte: W i e w e i t sind Berichte zuverlässig ü b e r Ereignisse u n d Z u s t ä n d e , die w i r nicht selbst miterlebt haben? D i e F r a g e ist als s o l c h e w i c h t i g , o b s c h o n sie mit d e m besonderen Problem, wieweit menschliche Vernunft und menschlicher K ö r p e r n o t w e n d i g e r w e i s e aneinander g e b u n d e n sind, nicht das geringste z u tun hat. Es k o m m t ja hier nicht auf das b l o ß e B e o b a c h t e n einer Tatsache an, s o n d e r n auf die F r a g e nach d e m Sinn eines G e f ü g e s . B e g n ü g t m a n sich j e d o c h mit der p r i m i t i v e n F o r d e r u n g n a c h A u t o p sie aller W i r k l i c h k e i t , so w e r d e n die K o n s e q u e n z e n absurd: W e r mitten im L a n d e w o h n t , glaubt nicht, d a ß es das M e e r gibt, das er nie gesehen hat; w e r die a b g e l e g e n e w i n z i g e Insel S e r i p h o s b e w o h n t , w i r d nicht glauben, d a ß es L ö w e n , Panther u n d E l e f a n t e n gibt. W i e der N a m e Ser i p h o s zeigt, hat sich C i c e r o da eng an eine griechische V o r l a g e gehalten. D i e A b g e l e g e n h e i t u n d B e d e u t u n g s l o s i g k e i t v o n S e r i p h o s scheint die K o m ö d i e des 5. Jh. v. C h r . m e h r f a c h h e r v o r g e h o b e n z u h a b e n (Strabon 10,5,10; K r a t i n o s F r g . 205 ff.; A r i s t o p h a n e s F r g . 705; S c h o l . A r i s t o p h . A c h . 541, 542).

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN

BUCH

417

D e r Leser muß den Eindruck haben, es solle ein Eingehen auf die These Epikurs, die v o n der Sache her kaum zu widerlegen war (wenn man sich nicht auf die mens sempiterna,

also den autonomen nous des

Anaxagoras und des Aristoteles zurückzog), geradezu vermieden werden. 89

D e r Eindruck bestätigt sich an der mehr als summarischen Be-

handlung

des

epikureischen

Kettenschlusses:

Eudaimonia-Arete-

Logos-Mensch; die Eudaimonia gibt es nicht ohne Arete, diese nicht ohne den L o g o s und dieser nur in dem ihm angepaßten menschlichen Körper. D e r G e g n e r behauptet, daß die drei ersten Etappen dialektisch korrekt auseinander hervorgehen, zwischen der dritten und vierten Etappe jedoch ein Sprung stattfindet (der gerade beweist, daß E p i k u r von der Dialektik nichts versteht; vgl. Lucullus

97; De finibus 1,22 und

2,18). N i c h t recht klar wird die Behauptung, die These Epikurs sei auf einen solchen Kettenschluß nicht angewiesen. Bedenklicher ist, daß der dialektische Sprung zwar behauptet, aber nicht erläutert wird. Von einer Diskussion der Hauptthese, der L o g o s könne nur in einem menschlichen K ö r p e r existieren und sich entfalten, ist keine Rede; ebensowenig ist das epikureische Argument widerlegt, Sonne, M o n d und K o s m o s seien als körperliches Instrument f ü r eine nach Menschenart tätige Vernunft völlig ungeeignet. 90

Etwas unvermittelt folgt eine interessante Überlegung. E p i k u r

schließt gnoseologisch von der uns bekannten Menschengestalt auf die uns strenggenommen nicht bekannte Gestalt der Gottheit. Ontologisch ist natürlich die Relation umgekehrt. Zuerst ist die unvergängliche Gottheit da, und ihr ist der vergängliche Mensch nachgebildet. Aristotelisch gesprochen ist dies der Weg von dem «für uns» Bekannten zu dem «an sich» Bekannten; bei Aristoteles selbst mag man die Beziehung zwischen Techne und Physis vergleichen. Wir schließen von der uns vertrauten Aktivität der Techne auf die Aktivität der Physis; in Wirklichkeit ist die Physis das erste und die Techne bloß eine Nachahmung der Physis. Dann aber entsteht f ü r E p i k u r ein schwieriges Problem. Wie kann glaubhaft gemacht werden, daß durch eine zufällige und beliebige Verflechtung von A t o m e n eine Gestalt entsteht, die der Gestalt der Götter genau nachgebildet ist? Dies ist dramatisch zugespitzt die Frage, mit der die Stoiker E p i k u r unablässig bedrängt haben: Wie kann durch

4i8

ANHANG

den bloßen Zufall eine stabile und transparente Ordnung entstehen? U n d nun: Wie kann derart «von selbst» ein Lebewesen entstehen, das nicht allein an Gestalt den Göttern gleicht, sondern auch die einzigartige Fähigkeit besitzt, die Götter als Götter zu erkennen (vgl. 43-44)? 91

Als Alternative könnte die naheliegende H y p o t h e s e angeboten

werden, die Götter hätten den Menschen geschaffen, so wie dies im M y thos Prometheus getan haben soll. Diese Alternative wird hier nicht berührt. Wird damit E p i k u r stillschweigend zugestanden, daß die G ö t ter nicht handelnd in eine Welt eingreifen, die nicht die ihre ist? Was vorgetragen wird, ist die sonderbare Hypothese, es könnten «Samen der Götter» v o m Himmel auf die Erde heruntergefallen sein und die Menschen sich daraus gewissermaßen wie Pflanzen entwickelt haben. Dies wäre ein halbwegs zufälliges, jedenfalls v o n den Göttern nicht geplantes Ereignis. Echte Parallelen zu dieser Hypothese scheinen nicht vorhanden zu sein. Lucretius 2,991-995 sagt nicht ganz dasselbe, auch nicht Ovid, Metamorphosen De senectute vinatione

1 , 7 8 - 8 3 , ebensowenig C i c e r o selbst De legibus 77 und schließlich Tusculanae

disputationes

5,38; De

1,24; di-

1 , 1 1 0 ; 2,26, und in unserem Text die Bemerkung über Pytha-

goras 1,27. Umgekehrt wollen wir nicht ausschließen, daß (vorsichtig gesagt) ein dem platonischen Politikos-(Staatsmann)-Mythos

271 A - 2 7 2

Α und 272 Ε nahestehender Text einigen Einfluß ausgeübt hat. D i e Vorstellung als solche, die Menschen seien aus Samentropfen entstanden, die die Götter auf die Erde hätten fallen lassen, hat einen erstaunlich

archaischen

Charakter;

dazu

natürlich

Hesiodos,

Theogonie

176-198. F ü r E p i k u r kommt dergleichen nicht in Frage. E r kann sich, genau besehen, nur auf die Überlegungen stützen, die schon Empedokles (Fragmente

der Vorsokratiker

3 1 Β 5 7 - 6 1 ) geleitet hatten: Zuerst ver-

binden sich die Körperteile wahllos und beliebig, doch im L a u f e der Zeit sondern sich allmählich die lebensfähigen Kombinationen von denjenigen ab, die nicht lebensfähig sind, so daß eine automatische Selektion dessen zustande kommt, was zu dauern vermag. Ähnliches kann bei E p i kur vermutet werden. Steht eine hinreichend lange Zeitspanne zur Verfügung, so kann durch unzählige Kombinationen hindurch mit hoher Wahrscheinlichkeit schließlich die optimal lebenstüchtige Kombination

KOMMENTAR ZUM ERSTEN BUCH

419

entstehen, eben der Mensch, bei dem die an sich vergängliche A t o m komposition der unvergänglichen A t o m k o m p o s i t i o n der Götter so nahe wie möglich kommt. In diesem Sinn wäre damit Empedokles als Vorläufer Epikurs (und schon Demokrits?) anzuerkennen. D o c h hier bricht Cotta die Diskussion ab. Es hätte nun systematisch gezeigt werden müssen, daß der menschliche K ö r p e r so kunstvoll konstruiert ist, daß er nur das Werk einer Gottheit sein kann, und der epikureische Rekurs auf den Zufall nicht nur nichts erklärt, sondern lediglich den sich aufdrängenden Schluß v o m K u n s t w e r k auf den Künstler zu umgehen sucht. D a v o n will indessen Cicero an dieser Stelle nicht reden, weil dies alles der Beschreibung des Menschen durch den Stoiker ( 2 , 1 3 3 - 1 5 3 ) überlassen bleiben soll. So wiederholt Cotta nur, was er schon in 1,57 und 1,60 gesagt hat. Die Meinungen Epikurs sind leicht zu widerlegen, doch eine bessere Doktrin an deren Stelle anzubieten vermag er nicht. D a ist er der reine Aporetiker, der nicht nur (wie zuweilen v o n Sokrates behauptet wird) seine eigene Uberzeugung im dunkeln läßt, sondern überhaupt keine feste Uberzeugung zu besitzen scheint. 92

Überaus grob und mit einem flüchtigen Hinweis auf 1 , 2 5 - 4 2

wird die Frage nach der Menschengestalt der Götter wieder aufgenommen, reduziert auf die spöttische Bemerkung, ob man sich G o t t nicht ohne Hände und Füße vorstellen könne. Was daran beinahe schockiert, ist, daß hier und in der nachfolgenden Polemik Epikurs präzise Formel, Gott habe nur quasi corpus und quasi sanguis, auf die 1,75 in korrekter Weise Rücksicht genommen hatte, systematisch ignoriert wird. D e r Gegner supponiert, Epikur stelle sich die Götter wie dreidimensionale Menschen vor mit sämtlichen äußeren und inneren Organen, und es w a r natürlich einfach, diese Vorstellung lächerlich zu machen, v o r allem wenn man sich an die Methode des Karneades hielt, also v o m Ganzen bis zu den letzten Einzelheiten fortschritt und den epikureischen Göttern sämtliche Körperteile bis hinab zu den unansehnlichsten andichtete. D a n n lag es auch nahe, die Frage nach der Brauchbarkeit jedes einzelnen Teiles zu stellen und das aristotelische Prinzip, daß in der N a t u r alles seinen Z w e c k und seine A u f g a b e hat bzw. daß die N a t u r nichts Zweckloses schafft (ouden maten), bis zum äußersten zu strapazieren. F ü r die Gottheit sind die Körperglieder teils über-

420

ANHANG

flüssig, teils ermangeln sie völlig jener Schönheit, die doch die menschengestaltigen Götter auszeichnen soll. Es ist schwer zu begreifen, wie Ciceros Cotta sich auf eine derartige Polemik einlassen kann, die absichtlich oder unabsichtlich über die P o sition Epikurs einfach hinweggeht. Unbeachtet bleibt, was an ihr das Entscheidende ist (und w o die Schwäche der stoischen Theologie beginnt): Die Kultreligion kann ohne Mühe in die epikureische Theologie eingebaut werden, was v o n einer anderen Seite her bedeutet, daß die menschengestaltigen Götter uneingeschränkt dialog- und handlungsfähige Personen sind, während es höchst problematisch bleibt, in welchem Sinn Sonne, M o n d und K o s m o s als Personen bezeichnet werden können. Die epikureischen Götter haben keine Tugenden, weil sie ihrer im U m g a n g mit ihresgleichen genausowenig bedürfen wie die Götter des Aristoteles (Nikomacbische Ethik

1 1 7 8 b 7 - 2 2 ) . Wenn dagegen die

Stoa schon v o n Zenon an dem K o s m o s eine ethische Vollkommenheit zuschreibt, so fragt Karneades mit Recht, was dies heißen soll (vgl. 2,21 und 3,20-23). 93

Wir gelangen zu einem fünften Exkurs, der den zweiten E x k u r s

1 , 7 2 - 7 3 ergänzt. Die Antithese, daß E p i k u r selbst solchen Unsinn lehre und gleichzeitig alle anderen, die diesen Unsinn nicht lehren, auf das heftigste bekämpft, leitet über zu einer Klage über die Hemmungslosigkeit der Polemiken in der Schule Epikurs. In Ciceros Vorlage fanden sich zweifellos die Zitate, die dies belegen konnten. Cicero hat nur die Stichworte übriggelassen. Es wird ein Zufall sein, daß wir bisher von E p i k u r keinen Titel kennen, der sich ausdrücklich gegen Pythagoras, Piaton oder Empedokles wendet, und ebensowenig v o n Metrodoros. Von Hermarchos dagegen wissen wir, daß er gegen die Pythagoreer schrieb (Porphyrios, D e abstinentia 1,26), auch gegen Piaton und Aristoteles und (wenn die Uberlieferung zuverlässig ist) nicht weniger als 22 Bücher Uber

Empedokles

(Diogenes Laertius 10,25). Daß in den erhaltenen Biographien des P y thagoras und Piaton Spuren epikureischer Polemik enthalten sind, ist möglich, aber unbeweisbar. Andererseits können wir uns vorstellen, wie der auf einen wissenschaftlichen Stil des Philosophierens bedachte Epikur mit Sarkasmen über die anspruchsvoll hochpoetische Diktion des Empedokles geurteilt hat. Gegen Theophrast hat nach Plutarchos, Moralia

1 1 1 0 C D , Epikur

KOMMENTAR ZUM ERSTEN

BUCH

421

selbst in mindestens zwei Büchern geschrieben. Davon abzutrennen ist (gegen Usener) das Buch der Leontion gegen Theophrast, von dem Ciceros Vorlage selbst zugeben muß, daß es klug und gewandt abgefaßt sei. Bei Cicero gilt sie als Hetäre, und es ist bezeichnend für den Stil der Angriffe gegen Epikur, wie oft sie als reine Hure geschildert wird (Diogenes Laertius 10,4 und 23; Athenaios 588 B, Clemens Alexandrinus, Stromateis 2,13 8,6 u. a.); mag sein, daß dies alles auf Poseidonios zurückgeht. Eine Gegeninstanz ist wahrscheinlich Seneca De matrimonio bei Hieronymus, Adversus Iovinianum 1,48. Da wird zunächst berichtet, Leontion sei die Ehefrau Metrodors gewesen; wenn unmittelbar danach von der Empfehlung Epikurs die Rede ist, der Weise solle beim Eingehen einer Ehe sehr vorsichtig sein, da die Ehe wie der Reichtum, die Macht und die Gesundheit zu den Dingen gehört, die bald gut und nützlich, bald schlecht und schädlich sind, so liegt die Folgerung nahe, daß dergleichen Warnungen vor Ehe, Eros und Sexualität (dazu der viel zitierte Satz Diogenes Laertius 10,118; Clemens Alexandrinus, Paidagogos 2,98,2 u. a.) gerade der Gegenstand des Buches der Leontion gewesen sein könnte. Theophrast war in diesen Dingen nachsichtiger, als es Epikur und die Seinigen schätzen mochten. Im übrigen zeigt Plinius, Naturalis historia, praef. 29, wie anstößig man es fand, daß eine Frau sich an der philosophischen Diskussion zu beteiligen wagte. Epikur scheint da als einziger keine Vorurteile gehabt zu haben. Der Belebung dient sodann eine persönliche Erinnerung Cottas (Ciceros). Daß Cicero bei seinem Aufenthalt in Athen die beiden Leiter der Schule Epikurs persönlich kennengelernt hat, bemerkt De finibus 1,16. Demnach war Zenon reizbar und aggressiv, Phaidros liebenswürdig, wie die meisten Epikureer, aber doch zuweilen empfindlich. T. Albucius (Prätor um 105 v. Chr.) lebte jahrelang im Exil in Athen und wurde Epikureer, muß aber als streitsüchtig bekannt gewesen sein (vgl. De finibus ι ,9; Brutus 131 u. a.). Besonders erwähnt werden Epikurs Ausfälle gegen Aristoteles und Phaidon, in beiden Fällen nicht gegen die Lehre, sondern im Zusammenhang mit den anrüchigen Umständen, unter denen beide zur Philosophie gekommen sein sollen. Aristoteles bringt das Vermögen seines Vaters durch, wird «Pharmakopoles» und gerät schließlich in die Schule Piatons (Diogenes Laertius 10,8; Athenaios 354 AB; Aelianus, Varia historia 5,9). Was Phaidon angeht, so wird man die durch Gian-

422

ANHANG

nantoni ( P h a i d o n F r g . 1 - 3 ) z u s a m m e n g e s t e l l t e n Berichte auf E p i k u r z u r ü c k f ü h r e n dürfen. D a n a c h k a m der j u n g e P h a i d o n v o n Elis in athenische K r i e g s g e f a n g e n s c h a f t u n d w u r d e z u r P r o s t i t u t i o n g e z w u n g e n , bis i h m Sokrates b e g e g n e t e u n d dieser einen seiner reichen F r e u n d e bat, ihn l o s z u k a u f e n . D i e s w i r d g e n a u s o E r f i n d u n g sein w i e die G e s c h i c h t e v o n P r o t a g o r a s in u n s e r e m T e x t 1,63. W e n n Lactantius, Divinae 3,25,15, u n d H i e r o n y m u s , Commentarii

institHtiones

in Osee 1,1, auf C i c e r o z u r ü c k -

gehen, so k a n n C i c e r o die G e s c h i c h t e P h a i d o n s in einem der späteren B ü c h e r v o n De republica

o d e r im Hortensius

ausführlich e r z ä h l t haben

als einen B e l e g dafür, d a ß sogar in den erniedrigendsten L e b e n s l a g e n eine Z u g a n g z u r P h i l o s o p h i e o f f e n bleibt. I m Bericht ü b e r A r i s t o t e l e s v e r m i s c h t sich w o h l Tatsächliches mit E r f u n d e n e m . D i e B i o g r a p h i e des A r i s t o t e l e s lieferte die D a t e n , d a ß der Vater ein angesehener A r z t w a r (also selber s c h o n mit pharmaka

z u tun hatte) u n d f r ü h starb. W a s dann

A r i s t o t e l e s veranlaßte, angeblich mit 17 Jahren in die p l a t o n i s c h e A k a demie e i n z u t r e t e n u n d d o r t , w i e eine u n k o n t r o l l i e r b a r e T r a d i t i o n behauptet, nicht w e n i g e r als z w a n z i g Jahre z u v e r w e i l e n , w i s s e n w i r nicht. D a blieb einiger R a u m , u m die etwas d ü n n e U b e r l i e f e r u n g z u ergänzen. A u ß e r d e m ist z u b e d e n k e n , d a ß A r i s t o t e l e s in einigen seiner D i a l o g e selbst P r o t a g o n i s t w a r u n d gelegentlich ü b e r sich selbst, seine H e r k u n f t u n d seinen L e b e n s g a n g g e s p r o c h e n h a b e n w i r d . I m Falle P h a i d o n s h a b e n sich die H i s t o r i k e r mit der F r a g e gequält, u m w e l c h e n K r i e g , an d e m Elis u n d A t h e n als G e g n e r beteiligt w a r e n , es sich handeln kann. E r n s t h a f t k o m m t nur der K r i e g in Frage, ü b e r den X e n o p h o n , Hellenika

3,2,21-3, u n d D i o d o r

14,1 unter d e m Jahre

402/401 berichten. D o c h d a n n w ä r e P h a i d o n erst k u r z v o r d e m T o d des Sokrates ü b e r h a u p t frei g e w o r d e n . D a s G a n z e ist mit aller W a h r s c h e i n lichkeit eine E r f i n d u n g , im äußersten Fall angeregt d u r c h A n d e u t u n g e n P h a i d o n s selbst in einem seiner ( w e n i g gelesenen) D i a l o g e . N i c h t b e f r i e d i g e n d ist die Frage z u b e a n t w o r t e n , w a r u m E p i k u r gerade A r i s t o t e l e s u n d P h a i d o n u n d gerade auf diese Weise attackiert hat. D e n n P i a t o n hat er n a c h D i o g e n e s Laertius 10,8 n u r die Reisen nach Sizilien ( g e w i ß nicht als erster) v o r g e h a l t e n , u n d ü b e r

Xenokrates

k e n n e n w i r n u r seine B e m e r k u n g in 1,72, er habe ihn nie p e r s ö n l i c h kennengelernt. D i e B o s h e i t g e g e n A r i s t o t e l e s u n d d e n u n b e d e u t e n den P h a i d o n m u ß b e s t i m m t e G r ü n d e gehabt haben, die w i r nicht kennen.

KOMMENTAR Philosophische

ZUM ERSTEN

Meinungsverschiedenheiten

A n l a ß seiner (mindestens) drei B ü c h e r Gegen

BUCH müssen

Timokrates,

4^3 sodann

der

den Bruder

M e t r o d o r s , g e w e s e n sein. C i c e r o h e b t n u r das P e r s ö n l i c h e h e r v o r u n d bagatellisiert die Sache. D a ß M e t r o d o r o s selber seinen eigenen B r u d e r a n g e g r i f f e n hat, erfahren w i r in 1 , 1 1 3 ( d a z u P l u t a r c h o s , Moralia

1098

C D , u n d A t h e n a i o s 546EF). T i m o k r a t e s verließ die Schule u n d scheint sich später in einem B u c h Euphranta

m i t w i l d e n A n g r i f f e n auf E p i k u r

gerächt z u h a b e n ( D i o g e n e s Laertius 10,6-7). A u f w a s es bei dieser o f fensichtlich mit g r ö ß t e r E r b i t t e r u n g d u r c h g e f ü h r t e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g letzten E n d e s a n k a m , ist nicht m e h r z u erkennen. E i n Sonderfall ist E p i k u r s Verhältnis z u D e m o k r i t . D i e G e g n e r w a r fen i h m eine v o l l s t ä n d i g e A b h ä n g i g k e i t v o n D e m o k r i t vor. E r selbst distanzierte sich, s o w e i t er k o n n t e (1,29), w a s die G e g n e r als U n d a n k b a r keit verurteilten: De

finibus

1,21 u n d 4,13. D a ß E p i k u r die K r i t i k des

A r i s t o t e l e s an D e m o k r i t s A t o m i s m u s k a n n t e u n d b e r ü c k s i c h t i g t e , ließe sich zeigen; insofern w a r er jedenfalls selbständiger, als es seine G e g n e r wahrhaben wollten. V o n N a u s i p h a n e s w a r s c h o n in 1,73 die R e d e . A u c h da ist die p o l e mische Interessiertheit beider Seiten sichtbar. D i e G e g n e r insistieren e b e n s o auf E p i k u r s A b h ä n g i g k e i t , w i e er selbst auf seiner U n a b h ä n g i g keit. Vergleichbares k a n n e t w a ü b e r das Verhältnis des A n t i o c h o s v o n A s k a l o n z u r Stoa gesagt w e r d e n . Z u r ü c k z u d e m s c h o n e r w ä h n t e n Z e n o n : ü b e r ihn w i s s e n w i r einfach z u w e n i g . W i r k e n n e n k a u m Z e n o n s Z e i t g e n o s s e n in A t h e n in d e n Jahren v o r d e r E r o b e r u n g A t h e n s d u r c h Sulla am 1. M ä r z 86 v. C h r . , ein E r eignis, das f ü r alle P h i l o s o p h e n s c h u l e n katastrophale F o l g e n gehabt haben m u ß . S o k ö n n e n w i r w e d e r A p o l l o d o r o s identifizieren n o c h den v e r s t ü m m e l t e n N a m e n wiederherstellen, der auf ihn f o l g t . A u g e n s c h e i n l i c h f ü r r ö m i s c h e H ö r e r b e s t i m m t w a r die C h a r a k t e r i sierung des Sokrates als scurra Atticus

mit einem auch in der lateinischen

L i t e r a t u r selten belegten W o r t f ü r «Spaßmacher», « H a n s w u r s t » . Steckt e t w a eine A n s p i e l u n g auf eine r ö m i s c h e K o m ö d i e dahinter (vgl. das Zitat in De finibus 2,15 mit der A n s p i e l u n g auf H e r a k l i t ) ? D e r S p o t t n a m e Chrysippa

w i r d mit d e n B e m e r k u n g e n ü b e r die H e i -

m a r m e n e , an die nur die alten W e i b e r g l a u b e n , z u s a m m e n h ä n g e n , vgl. 1,18 u n d 55. 94

N o c h einmal w i r d an die Liste 1 , 2 5 - 4 1 erinnert. D e r V e r g l e i c h

ANHANG

424

des e h r w ü r d i g e n P h i l o s o p h e n k o l l e g i u m s mit d e m r ö m i s c h e n Senat geht z u s a m m e n mit einigen ä h n l i c h e n Stellen: Hortensias diputationes

F r g . 83;

Tusculanae

1,55.

D a n n k o m m t der A k a d e m i k e r z u W o r t . W e n n das alles falsch ist, w a s jene gelehrt haben, so bleibt n u r n o c h die endgültige A p o r i e ü b r i g , w a s s c h o n 1,5 als M ö g l i c h k e i t v o r a u s g e s e h e n hatte. D a b e i d e n k t C o t t a selbst d o g m a t i s c h g e n u g , u m n u n E p i k u r seinerseits v o r z u w e r f e n , seine L e h r e sei b l o ß e s A l t w e i b e r g e s c h w ä t z , w a s w i e d e r u m an der Frage der M e n s c h e n g e s t a l t der G ö t t e r d e m o n s t r i e r t w e r d e n soll. D o c h w i r d nur die K r i t i k v o n 1,92 w i e d e r h o l t , u n d w i r sind ein z w e i t e s M a l überrascht, mit w e l c h e r L e i c h t f e r t i g k e i t der G e g n e r ü b e r E p i k u r s V e r s i c h e r u n g , die G ö t t e r hätten nur quasi corpus u n d quasi sanguis, h i n w e g g e h t . W i r d dieser w e s e n t l i c h e V o r b e h a l t (der die R e d u k t i o n der K ö r p e r l i c h k e i t der G ö t t e r v o n d e r D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t auf die Z w e i d i m e n s i o n a l i t ä t in sich schließt) ignoriert, k o m m t es evidenterm a ß e n z u d e n absurdesten K o n s e q u e n z e n . 95

D i e e p i k u r e i s c h e n G ö t t e r haben, w i e

1,45 lehrte, nur

zwei

Privilegien, die E u d a i m o n i a u n d die U n s t e r b l i c h k e i t (also nicht die p r a k t i s c h - e t h i s c h e n T u g e n d e n ) , w o b e i unsere Stelle zeigt, d a ß C i c e r o n o c h kein lateinisches Ä q u i v a l e n t f ü r E u d a i m o n i a z u r V e r f ü g u n g hat; was die U r s a c h e ist, d a ß sich beatitudo

d u r c h g e s e t z t hat, w i s s e n w i r

nicht. D a n n w i r d die F r a g e v o n

1,87 w i e d e r h o l t , u n d

seltsamerweise

tritt w i e d e r u m neben S o n n e u n d K o s m o s eine mens aeterna,

ein V o r -

schlag, d e n kein Stoiker, s o n d e r n nur ein A r i s t o t e l i k e r m a c h e n k ö n n t e , der aber auch diesmal nicht ernsthaft in die D i s k u s s i o n

einbezogen

wird. 96

D e r E p i k u r e e r a n t w o r t e t w i e z u v o r nur auf die stoische T h e s e :

D e r S o n n e u n d d e m K o s m o s kann keine E u d a i m o n i e

zugesprochen

w e r d e n . K l a r e r als z u v o r repliziert der G e g n e r , die A n n a h m e , d a ß d e m einen K o s m o s die E u d a i m o n i e z u k o m m e , sei w e n i g e r spekulativ als die B e h a u p t u n g E p i k u r s , es g e b e eine u n b e g r e n z t e Z a h l v e r s c h i e d e n e r Welten. In b e i d e n Fällen k a n n man sich auf B e w e i s e b e r u f e n , u n d w a s nun f o l g t , ist ein sehr geschicktes R ä s o n n e m e n t des G e g n e r s . W e n n E p i k u r die G o t t h e i t v o m M e n s c h e n d a d u r c h abhebt, d a ß sie E u d a i m o n i e u n d U n s t e r b l i c h k e i t besitzt u n d i n s o f e r n v o m M e n s c h e n v e r s c h i e d e n ist, w a s hindert d a n n a n z u n e h m e n , d a ß sie auch ihrer geistigen u n d k ö r p e r l i c h e n

KOMMENTAR

ZUM

ERSTEN

BUCH

4*5

Beschaffenheit nach vom Menschen verschieden sein wird, also gerade nicht dieselbe Art von Körper hat wie der Mensch? Der Einwand wirkt überzeugend, scheitert aber wiederum an der (von Cicero vermutlich nicht ganz begriffenen) Alternative: Entweder ist es eine und dieselbe Vernunft mit der Gesamtheit ihrer theoretischen und praktischen Möglichkeiten, die den Göttern genauso eigentümlich ist wie den Menschen; dann aber müßte nachgewiesen werden, daß diese Vernunft entweder ohne jede Körperlichkeit existieren kann oder daß sie an den menschlichen Körper als ihren Sitz und ihr Instrumentar nicht gebunden ist, was darauf hinausläuft, daß sie in jeden beliebigen Körper einzugehen vermag; oder sie kann ihren Sitz in einem bestimmten, vom menschlichen völlig verschiedenen Körper nehmen, also in der Sonne, im Mond oder in einem hypostasierten Kosmos; dann wäre zu folgern, daß sie selber eine von der menschlichen Vernunft völlig verschiedene Vernunft ist; die Vernunft der Götter hätte dann mit derjenigen des Menschen genauso wenig gemeinsam wie der Körper der Götter mit dem Körper des Menschen. Dann müßten wir zugestehen, daß wir von der Vernunft der Götter nichts wissen und daß jeder Versuch, etwa das Licht und die Wärme, die von der Sonne ausgehen, als das Ergebnis eines Entschlusses der göttlichen Vernunft, den Menschen Gutes zu erweisen, darzustellen, in unverbindlicher Metaphorik versanden wird. Scharf formuliert sind das Wirken kosmischer Kräfte und die freie verantwortliche Entscheidung eines vernunftgemäßen personalen Wollens zwei miteinander inkommensurable Phänomene. Anders gesagt: Eudaimonia und Unsterblichkeit sind letzten Endes formale Qualifikationen, die von materialen Bestimmungen, wie dem Besitz einer theoretischen und praktischen Vernunft, unabhängig sind. Es ist unzulässig, wie es der Gegner Epikurs tut, vom einen auf das andere zu schließen. 97

Hier wird zu der etwas primitiven Argumentation von 1,87

zurückgegangen, als ob Epikur naiv behaupten wollte, was er selbst nicht gesehen habe, existiere nicht. Dabei ist, um dies zu wiederholen, die Frage nicht die, ob er jemals ein vernunftbegabtes Gestirn gesehen habe, sondern die ungleich wichtigere, ob die Vernunft, wie wir sie kennen, in jeden beliebigen Körper eingehen kann oder nicht. In 1,88 war von den Leuten von Seriphos die Rede, die nie einen Löwen, Panther oder Elefanten gesehen haben. Hier werden die Tiere

426

ANHANG

i m R o t e n M e e r e u n d in Indien e r w ä h n t , die k e i n e r v o n uns je gesehen hat. D i e E r w ä h n u n g des R o t e n M e e r e s d ü r f t e w i e d e r auf eine griechische V o r l a g e v e r w e i s e n . I m 2. Jh. v. C h r . hat A g a t h a r c h i d e s ein u m f a n g r e i c h e s W e r k Uber das Rote Meer v e r f a ß t (Fragmente

der griechischen

Histori-

ker N r . 86), das P o s e i d o n i o s b e n u t z t hat u n d das C i c e r o d u r c h V e r m i t t l u n g des P o s e i d o n i o s g e k a n n t h a b e n w i r d . U n v e r m i t t e l t angehängt w i r d ein weiteres P r o b l e m . E p i k u r hatte v o n der Ä h n l i c h k e i t z w i s c h e n G ö t t e r n u n d M e n s c h e n g e s p r o c h e n , w i e dies s c h o n H o m e r lange v o r i h m getan hatte. D e r G e g n e r b e g n ü g t sich damit, ein S c h e m a z u e n t w e r f e n , w o n a c h äußere Ä h n l i c h k e i t h ä u f i g mit innerer U n ä h n l i c h k e i t (Beispiel: H u n d - W o l f , M e n s c h - A f f e ) u n d e b e n s o äußere U n ä h n l i c h k e i t mit innerer Ä h n l i c h k e i t (Beispiel: M e n s c h - E l e fant) z u s a m m e n g e h e n k a n n . D a s s e l b e gilt auch unter M e n s c h e n , w o r a u s g e f o l g e r t w i r d , d a ß die b e h a u p t e t e Ä h n l i c h k e i t z w i s c h e n G ö t t e r n u n d M e n s c h e n nichts besagt. W i r w e r d e n freilich d e n V e r d a c h t nicht unterd r ü c k e n , d a ß E p i k u r selbst sich präziser geäußert hat. E r w i r d die M e n schen d e n G ö t t e r n ähnlich genannt haben s o w o h l an äußerer G e s t a l t w i e auch an innerer V e r n u n f t b e g a b t h e i t . 98

Es setzt w i e d e r ein K e t t e n s c h l u ß in der A r t des K a r n e a d e s ein.

W e n n die V e r n u n f t n u r in einem m e n s c h l i c h e n K ö r p e r ihren Sitz haben kann, so ist es m ö g l i c h , d e n B e g r i f f des K ö r p e r s u n b e g r e n z t a u s z u d i f f e renzieren; s o n d e r b a r ist es freilich, d a ß der R e d n e r selbst nicht w e i t g e n u g geht. E p i k u r w ü r d e s c h w e r l i c h bestreiten, d a ß der K ö r p e r , d e m die V e r n u n f t z u k o m m t , der K ö r p e r eines e r w a c h s e n e n , z u r A u f n a h m e der V e r n u n f t f ä h i g e n M e n s c h e n sein m u ß u n d ebenso, d a ß es ein aus Seele u n d K ö r p e r z u s a m m e n g e s e t z t e r sterblicher M e n s c h ist, d e n er meint. D i e e i n z i g e S c h w i e r i g k e i t ist, d a ß der m e n s c h l i c h e K ö r p e r sterblich ist, der göttliche nicht. D o c h da ist die T h e s e z u beachten, die C i c e r o andeutet, o h n e ihre F u n k t i o n i m K o n t e x t hinreichend klar z u m a c h e n . D e r K ö r p e r der G o t t h e i t ist d a r u m unsterblich, w e i l er z w e i d i m e n s i o n a l ist (liniamenta)

u n d nicht dreidimensional w i e der K ö r p e r des M e n -

schen. 99

N u n k o m m e n w i r n a c h 1,92 u n d 1,94-95

z u m

dritten M a l z u m

u n d i f f e r e n z i e r t e n B e g r i f f der K ö r p e r l i c h k e i t z u r ü c k , der das epikureische quasi corpus u n d quasi sanguis einfach ignoriert. D a n n ist es eine K l e i n i g k e i t , festzustellen, d a ß w e i t a u s die meisten G l i e d e r u n d O r g a n e , ü b e r die der M e n s c h e n k ö r p e r v e r f ü g t , f ü r die G ö t t e r ü b e r f l ü s s i g sind.

KOMMENTAR ZUM ERSTEN

BUCH

4^7

V o r allem alle jene O r g a n e , die f ü r d e n M e n s c h e n u n e n t b e h r l i c h sind, w e i l sie, s o l a n g e dies m ö g l i c h ist, sein L e b e n erhalten, h a b e n bei den G ö t t e r n , die p e r d e f i n i t i o n e m u n s t e r b l i c h sind, s c h l e c h t e r d i n g s keine A u f g a b e . E p i k u r w i r d allerdings g a r nicht d a m i t gerechnet h a b e n , daß die G ö t t e r O r g a n e s o l c h e r A r t besitzen. 100

A b r u p t w i r d z u d e r n ä c h s t e n F r a g e ü b e r g e g a n g e n , w a s die

G ö t t e r E p i k u r s leisten. I n d e r S t o a , ü b e r d e r e n T h e o l o g i e C o t t a mit S y m p a t h i e , aber auch einem a u s d r ü c k l i c h e n V o r b e h a l t berichtet, ist die L a g e e i n f a c h . U n s e r e Welt ist eine derart v o l l k o m m e n a u s g e w o g e n e K o n s t r u k t i o n , daß w i r g e z w u n g e n sind, ein h ö c h s t e s W e s e n a n z u n e h m e n , das dieses G a n z e hergestellt hat, in B e w e g u n g hält u n d lenkt. D i e s e L e h r e , auf die das z w e i t e B u c h a u s g i e b i g z u r ü c k k o m m e n w i r d , b e r u h t z u r H a u p t s a c h e auf z w e i V o r a u s s e t z u n g e n . D i e erste u n d w i c h t i g e r e ist eine k o s m o l o g i s c h e . B e s c h r i e b e n w i r d ausschließlich d e r g e o r d n e t e A u f b a u d e r Welt u n d d e r p e r f e k t e , u n v e r ä n d e r l i c h sich selbst g l e i c h b l e i b e n d e R h y t h m u s d e r J a h reszeiten. A u s g e k l a m m e r t sind d e m n a c h nicht n u r alle S t ö r u n g e n dieser O r d n u n g v o n d e r S o n n e n f i n s t e r n i s bis z u d e n E r d b e b e n , s o n d e r n a u c h d e r g e s a m t e B e r e i c h d e r G e s c h i c h t e d e r M e n s c h h e i t , in d e m keinerlei O r d n u n g w a h r z u n e h m e n ist. D o c h nur, w e i l die Welt als eine v o l l k o m m e n e g e s e h e n w i r d , gilt die z w e i t e V o r a u s s e t z u n g , die eine t h e o l o g i s c h e ist. D i e S t o a z ö g e r t nicht, e i n e m v o l l k o m m e n e n W e l t s c h ö p f e r eine v o l l k o m m e n e (also d o c h w o h l a u c h u n v e r g ä n g l i c h e ) Welt als sein W e r k z u z u o r d n e n . D a s P r o b l e m , das bei A r i s t o t e l e s w i e bei E p i k u r s o z u s a g e n z w i s c h e n d e n Z e i l e n g e g e n w ä r t i g ist, k e n n t die S t o a nicht: das P r o b l e m n ä m l i c h , w i e z w i s c h e n einer w e s e n h a f t v o l l k o m m e n e n G o t t h e i t u n d einer w e s e n h a f t u n v o l l k o m m e n e n Welt eine B e z i e h u n g ü b e r h a u p t b e stehen k a n n . D e n n das V o l l k o m m e n e verliert seine eigene V o l l k o m m e n heit, w e n n es sich auf d e n U m g a n g mit U n v o l l k o m m e n e m einläßt. S o bleibt d e r aristotelische w i e d e r e p i k u r e i s c h e G o t t g a n z bei sich selbst u n d hat mit d e r Welt nichts z u s c h a f f e n . Was hat E p i k u r d e r T ä t i g k e i t des s t o i s c h e n G o t t e s g e g e n ü b e r z u s t e l len? Was leistet d e r G o t t E p i k u r s ? V o n d e n V o r a u s s e t z u n g e n d e r e p i k u reischen T h e o l o g i e h e r ist n u r eine A n t w o r t m ö g l i c h . D a s e i n z i g e , w a s die e p i k u r e i s c h e n G ö t t e r tun, ist, sich d e n M e n s c h e n als G ö t t e r z u erk e n n e n z u g e b e n . Z w i s c h e n M e n s c h u n d G o t t g i b t es keine R e l a t i o n d e r P r a x i s , w o h l a b e r eine s o l c h e d e r T h e o r i a . D i e s m e i n t e s c h o n 1 , 4 3 - 4 5 ,

428

ANHANG

auch wenn dort das Wissen von den Göttern nicht auf die G ö t t e r selbst, sondern auf die «Natur» zurückgeführt wird. D e r G e g n e r repliziert ähnlich wie schon in 1 , 8 1 - 8 3 . Was w i r haben, ist gar nicht ein Wissen von der Gottheit überhaupt, sondern je nach der Kulttradition oder dem M y t h o s , die uns beeinflussen, bald dieses, bald jenes Bild einer Gottheit, des bärtigen Zeus-Iuppiter oder der gepanzerten Athena-Minerva. 101

N u n werden gegen E p i k u r die von ihm verachteten polloi (vgl.

1,43) ausgespielt. Sie sind in zwei konvergierenden Punkten die klügeren. Ihre Götter haben nicht nur Körperglieder, sondern benützen sie auch, und haben dazu die passenden Zutaten: Bogen und Pfeil f ü r A p o l lon, Lanze und Schild f ü r Athena, Dreizack f ü r Poseidon und den Blitz f ü r Zeus. Dies impliziert zweitens, daß sie nicht müßig, sondern praktisch tätig sind und den Menschen Nutzen verschaffen. Dabei wird geschickt auf den ägyptischen Tierkult zurückgegriffen, den schon 1,82 gerühmt hatte. D o r t gelten die Tiere als göttlich, gerade weil sie unbestrittenermaßen nützlich sind (was sich von den griechisch-römischen Kultgöttern so allgemein nicht behaupten läßt). Cicero hat eine ausführliche Beschreibung der Aktivitäten mehrerer ägyptischer Tiere v o r sich. E r greift den Ibis heraus und schildert dessen Aussehen und Leistung. E r vernichtet die aus L i b y e n eindringenden «fliegenden Schlangen», von denen schon Herodotos 2 , 7 5 - 7 6 erzählt hatte (etwas anders Aristoteles, Geschichte

der Tiere 490a 1 0 - 1 1 ) ; dazu Pomponius Mela

3,82; Solinus 32,33; Ammianus Marcellinus 2 2 , 1 5 - 2 6 und, höchst sonderbar, Isidoros, Etymologiae

12,4,29. Mehrere Berichte allerdings er-

setzen die volucris anguis einfach durch serpentes, so Plinius historia 10,75; Scholia in Iuvenalem

Naturalis

1 5 , 2 - 3 u. a.). U m welche Tiere es

sich zoologisch handelt, bleibt unklar; volucris

anguis wirkt wie eine

Kombination aus Heuschrecken und Schlangen. Dies w a r vielleicht schon jenen Autoren unglaubhaft, die es vorzogen, eindeutig v o n serpentes zu reden. Ahnliche Berichte über Ichneumon (vgl. Aristoteles, Geschichte Tiere6nz

der

1 5 - 2 0 ; D i o d o r o s 1 , 3 5 , 1 u.a.), K r o k o d i l (vgl. D i o d o r o s 1,89,2)

und Katze (Diodoros 1,87,4) hat Cicero vor sich, geht aber rasch über sie hinweg. Ihm genügt die prinzipielle Feststellung, daß die Barbaren, die ihre G ö t t e r als Wohltäter, euergetai, von der Gottheit haben als Epikur.

verehren, einen richtigeren Begriff

KOMMENTAR ZUM ERSTEN 102

BUCH

D e r Epikureer antwortet mit dem Hinweis auf Kyriai

Doxai

Nr. ι : G o t t ist nicht mit Geschäften belastet. Einmal mehr haben wir den Eindruck, daß der G e g n e r nicht verstehen will, was E p i k u r meint, nämlich die schole als die Abwesenheit jeder A r t von ascholia, wie Aristoteles in Nikomachische

Ethik

1 1 7 7 b 4 - 2 6 die Eudaimonia beschrieben

hatte. H i e r wird grob polemisch unterstellt, es sei nur die regungslose Trägheit gemeint; schon die geringste Bewegung würde die Eudaimonia des epikureischen Gottes stören. Spöttisch wird an Definibus

5,55 erin-

nert: selbst das faule K i n d hat das Bedürfnis, sich mit irgend etwas zu beschäftigen. Interessant ist der Schluß, sofern er impliziert, daß auch f ü r E p i k u r die Lebensart der Gottheit das verbindliche Modell f ü r die Lebensart des Weisen ist. D i e Stoa ihrerseits scheint sich eine Gottheit, die nicht demiurgisch aktiv ist, gar nicht vorstellen zu können; der Ausblick auf einen bios theoretikos

(von E p i k u r in abgewandelter F o r m , wie 1 , 1 1 1 - 1 1 4 zei-

gen wird, aufgenommen) ist ihr völlig fremd. 103

N u n wird (vgl. 1,65.67.75) konzediert, daß die Götter einen

menschenähnlichen K ö r p e r haben. Im Sinn von 1,2 und 1,65 wird daraufhin gefragt, welches der Sitz dieser Götter ist und worin ihre Eudaimonia besteht. A u f f a l l e n d pedantisch und beinahe exkursartig wird betont, daß alles Belebte und Unbelebte seinen bestimmten O r t (aristotelisch topos) hat. Dies gilt f ü r die vier Elemente ebenso wie f ü r die Tiere, von denen die einen auf dem Lande, die anderen im Wasser, andere sogar im Feuer leben. D i e Erwähnung der letzten ist eine Pointe; ob es tatsächlich Tiere gebe, die im Feuer leben, w a r eine in der griechischen Naturwissenschaft vieldiskutierte Frage. In 2,42 wird ausdrücklich erklärt, daß Aristoteles aus Gründen des Gleichgewichtes neben Tieren auf dem Lande, im Wasser und in der L u f t auch Tiere im Feuer angenommen habe. Dies muß auf einen Dialog zurückgehen, und dazu gehört auch Geschichte Tiere 552b 1 0 - 1 7 Plinius, Naturalis

un

d dementsprechend Antigonos, Mirabilia

historia

1 1 , 1 1 9 , schließlich Apuleius, De deo

der

84, und Socra-

tis 8. Vielfach werden diese Tiere mit dem Salamander identifiziert, doch in den angeführten Passagen handelt es sich um winzige Mücken, die in den H o c h ö f e n in Z y p e r n zu beobachten seien. Aristoteles muß darüber bestimmte Informationen gehabt haben, die seinem Bedürfnis nach S y stematik entgegenkamen.

ANHANG

430

Daß es daneben Stellen in den Pragmatien gibt, die die Existenz von Lebewesen im Feuer rundweg f ü r unmöglich erklären 382a 7; Zeugung

(Meteorologie

der Tiere 737a 1 - 5 u. a.), ist ein Problem f ü r sich, das

hier nicht zu erörtern ist; daß die Dialoge des Aristoteles zuweilen anderes gelehrt haben als seine Pragmatien, läßt sich auch sonst beobachten. 104

N u n wird ein Programm in vier Fragen entwickelt. ( 1 ) Wo

wohnt der Gott Epikurs? (2) Was veranlaßt ihn, seinen Wohnsitz zu verlassen, wenn er dies tut? (3) Wenn er dies tut, welches ist dann der G e genstand, der ihn in B e w e g u n g setzt, bzw. welches ist die seiner N a t u r angemessene Sache, die er erstrebt, d.h. nicht besitzt, aber besitzen möchte? (4) In welchem Sinn kommt ihm unter diesen Umständen E u daimonia und Unsterblichkeit zu? Diese Reihe ist sonderbar. D i e erste Frage liegt nahe, wird aber nirgends beantwortet; es bleibt ein Rätsel, warum die intermundia,

metakosmia

Epikurs niemals zur Sprache ge-

bracht werden. Ausführlich beantwortet wird nur die vierte Frage. Die Fragen (2) und (3) hingegen setzen zwingend voraus, daß der Epikureer auf den in 1 , 1 0 2 formulierten Vorwurf, der G o t t Epikurs verharre in bewegungsloser Untätigkeit, ausdrücklich geantwortet hat: eine menschenähnliche und mit Leben ausgestattete Gottheit hat selbstverständlich auch Bewegung, wie sie jedem Lebewesen zukommt. D o c h da stößt der Gegner nach und versteht unter B e w e g u n g genau das, was die Ethik als Bewegung definiert: das Streben nach einem agathon, das der Strebende nicht besitzt, aber als ein ihm angemessenes (naturae accomodatum

entspricht einem physei oikeion\ vgl. Lucullus

38)

vernunftgemäß begehrt. Es bedarf kaum eines Nachweises, zu welchem Widersinn die Übertragung dieses Begriffs v o n Bewegung auf die G o t t heit führt. Eudaimonia kann von einer Gottheit, deren Geschäft es ist, zu erstreben und zu begehren, was sie nicht besitzt, keinesfalls ausgesagt werden. Daß E p i k u r selbst gar nicht diese A r t von Bewegung meinte, sondern die einfache Ortsbewegung, wie sie zum geselligen U m g a n g der epikureischen Götter untereinander gehört, versteht sich von selbst. 105

In 1 0 5 - 1 1 0 A soll die Unsterblichkeit der epikureischen Götter

diskutiert werden, also, wie schon früher bemerkt, der exponierteste Teil der Theologie Epikurs; glaubhaft zu machen, daß die Götter als A t o m kompositionen gleich unentstanden und unvergänglich sind wie die A t o m e selbst, ist kein leichtes Unternehmen. Mit der Frage, welcher A r t

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN BUCH

43 I

die A t o m k o m p o s i t i o n e n sind, gelangen wir zu dem nächst 1,49 philosophisch wichtigsten und schwierigsten Abschnitt des ganzen Buches. Unser Text bezieht sich sofort und ausdrücklich auf 1,49. In Stichworten w e r d e n vier Thesen genannt. (1) G o t t ist nur dem D e n k e n , nicht der Wahrnehmung zugänglich (was auch für die A t o m e selbst gilt), (2) G o t t hat keine, w i e w i r es hier wieder nennen dürfen, dreidimensionale massive Körperlichkeit, was auch durch die Charakterisierung als quasi corpus und quasi sanguis angezeigt wird. (3) H i e r ist es abermals am z w e c k mäßigsten, aristotelisch zu formulieren. D e r hyle nach ist G o t t ununterbrochen ein anderer, sofern ununterbrochen neue, aber untereinander ähnliche A t o m e zufließen und ebenso viele ununterbrochen abfließen. Was dagegen konstant bleibt, ist das eidos. (4) D a schließlich unser D e n ken unverändert auf dieses Eidos, das selber unveränderlich ist, gerichtet ist, entsteht das Wissen v o n der E w i g k e i t und damit auch von der Eudaimonie der Götter. D i e Kritik ihrerseits geht wieder erstaunlich grob vor. Sie scheint den Gegensatz zwischen wahrnehmbaren und denkbaren Realitäten einerseits und beliebigen Phantasievorstellungen, an dem die klassische Philosophie festgehalten hatte, vollständig zu ignorieren. Eine bloß intelligible Gottheit ist (so behauptet der Gegner) v o n einem imaginären Kentauren, den es niemals gegeben hat, nicht zu unterscheiden. Wer die übrigen Philosophen sein können, die jede bloß gedachte, nicht w a h r g e n o m m e n e Wirklichkeit als bloßes P r o d u k t eines motus inanis (kenon kinemaf)

der Seele verwerfen, bleibt rätselhaft. Allerdings

wird das Problem zusätzlich kompliziert dadurch, daß das Problem der Erinnerungsbilder im besonderen und der Phantasievorstellungen im allgemeinen hereingezogen wird. 106

Ein Beispiel wird angeführt, das die Vermutung hinterläßt, so-

w o h l Epikur wie auch seine G e g n e r hätten es sich mit der Bewältigung des Problems z u leicht gemacht. D e r Text scheint z u meinen, daß C o t t a die Erinnerung an ein persönliches Erlebnis aus seiner frühesten Jugend aufgreift. Es handelt sich u m den dramatischen K o n f l i k t zwischen den beiden Volkstribunen Ti. Gracchus und M . Octavius im Jahre 133 v. Chr. Gracchus hat auf dem Kapitol eine heftige Rede gehalten und schließlich dem O c t a v i u s die Wahlurne w e g g e n o m m e n (dazu Plutarchos, Ti. Gracchus Livius, Epitoma

12,1-2, und

58). Dies waren reale Ereignisse, an die sich C o t t a fünf-

zig Jahre später erinnert. Wie k o m m t diese Erinnerung zustande? N a c h

432

ANHANG

Epikur erhalten sich am Ort des Geschehens Abbilder des Geschehens selbst, und wer sich an einen solchen Ort begibt, nimmt die Abbilder auf, eine These, die darum so primitiv anmutet, weil es ihr ausschließlich darauf ankommt, die Erinnerung als einen möglichst anschaulichen Vorgang zu interpretieren. Wenn der Gegner dies nochmals als einen motus inanis abfertigt, so übersieht er seinerseits, daß zwischen demjenigen, der sich an eine Sache erinnert, und der erinnerttn Sache selbst keine beliebige, sondern eine qualifizierte Beziehung besteht. Für Epikur liegt zwischen dem Menschen, der die Gottheit denkt, und der Gottheit, die ihm als eine denkbare begegnet und gegenwärtig ist, dieselbe Beziehung vor wie im Falle der Beziehung zwischen Cotta und Ti. Gracchus. Daß die gedachte Gottheit weniger wirklich ist als der erinnerte Ti. Gracchus, müßte erst bewiesen werden; und daß eine bloß gedachte Gottheit genau so unwirklich ist wie ein Kentaur, entspricht vermutlich der stoischen, aber sicher nicht der platonischen und aristotelischen Theologie. 107 Gewichtiger ist der Einwand, daß aus solchem Denken der Gottheit weder ihre Ewigkeit noch ihre Eudaimonie abgeleitet werden kann. Dies läuft freilich darauf hinaus, daß unter den Thesen Epikurs (s. Komm, zu 1,105 Nr. 3) von vornherein als undiskutabel abgelehnt wird. Läßt man es dagegen gelten, daß das Eidos der ununterbrochen aus Atomen sich neu konstituierenden Gottheit unveränderlich dasselbe bleibt, verschwindet das Problem. Denn dann ist die Gottheit als Eidos ewig, und weil sie ewig ist, also Schmerz und Tod nicht kennt, ist sie auch in der Eudaimonie. Doch nun wird zu einem Exkurs über die Lehre von den imagines (eidola), die Epikur von Demokrit übernommen hat, ausgeholt. Unter den «vielen», die schon Demokrit angegriffen haben, wird man vor allem Aristoteles zu verstehen haben, vielleicht auch Kleanthes (Diogenes Laertius 7,174) und Chrysippos. Mehrere Fälle werden unterschieden. (a) Bilder von geschichtlichen Gestalten der Vergangenheit, die aber anders als Ti. Gracchus und M. Octavius uns so ferne gerückt sind, daß wir nicht wissen können, wie sie tatsächlich ausgesehen haben; genannt werden drei sozusagen klassische Paare, zwei griechische Dichter, zwei römische Könige, zwei griechische Philosophen. b) Bilder von Gestalten, von denen wir wissen, daß sie niemals exi-

KOMMENTAR

ZUM ERSTEN

BUCH

433

stiert haben; Beispiel ist Orpheus, über den eine gelehrte Notiz aus einer unbekannten Schrift des Aristoteles beigebracht wird (vgl.

Fragmente

der Vorsokratiker Nr. 15). Diese beiden Fälle stellen von Epikur aus gesehen dasselbe Problem. Jede persönliche Erinnerung fällt weg, und dennoch ist die Vorstellung, die wir von Homer oder Orpheus haben, keine beliebige, sondern eine mehr oder weniger bestimmte, und zwar so, daß im Durchschnitt alle Menschen dieselbe Vorstellung von Homer oder von Orpheus haben. Die Aufgabe ist, diesen Sachverhalt zu erklären. 108

c) Von demselben Menschen können verschiedene Leute ver-

schiedene Vorstellungen haben. d) Dies kehrt zu (b) und zum schon angeführten Beispiel des Kentauren zurück. Es sind Vorstellungen von Wesen, die niemals existiert haben. e) Umgekehrt haben wir Vorstellungen von Menschen und Gegenden, die wirklich existieren, die wir aber selber nie gesehen haben, was zum Falle (a) zurückführt. f) Endlich ist es ebensogut möglich, daß wir Vorstellungen nach Belieben evozieren können, wie auch, daß sie uns im Schlaf begegnen, ohne daß wir sie evoziert haben. g) Außerdem arbeitet mit Bildern nicht nur die Wahrnehmung, sondern nach Epikur auch das Denken. Geschlossen wird mit einem schroff verwerfenden Urteil. Der Redner begnügt sich mit einer Art von Bestandsaufnahme, ohne auf das durch die verschiedenen Phänomene gestellte Problem selbst einzugehen. Schematisch könnte man formulieren: Die Stoa geht davon aus, daß zwischen einer Vorstellung und der vorgestellten Sache selbst niemals eine volle Übereinstimmung zustande kommt, was die allgemeine Feststellung erlaubt, daß sämtliche Vorstellungen letzten Endes beliebig seien. Epikur hält umgekehrt daran fest, daß es keine Vorstellung gibt, die nicht von einer gegebenen Wirklichkeit ausginge und nicht mit ihr verknüpft bleibt; in jeder Vorstellung ist, wie fragmentarisch auch immer, ein Stück Wirklichkeit enthalten, und es ist dieses Stück Wirklichkeit, das als Bild gegenwärtig bleibt, auch wenn die Wirklichkeit selbst, von der sich das Bild als Bild ablöste, längst nicht mehr gegenwärtig ist.

434 109

ANHANG

Der Eindruck der Ewigkeit entsteht dann, wenn der Zu- und

Abfluß ähnlicher Atome so rasch und so ununterbrochen erfolgt, daß die unbegrenzte Vielheit als Einheit begreifbar wird. Dies ist freilich eine spekulative These, die empirisch nicht verifiziert werden kann. Spekulativ ist auch die zweite These, die schon in 1,50 erwähnt war und nun zur Geltung gebracht wird. Es ist das Prinzip des Gleichgewichts zwischen Unsterblichem und Sterblichem, Erhaltendem (Zufließendem) und Zerstörendem (Abfließendem). Wir müssen wohl folgern, daß bei den Göttern das Erhaltende und das Zerstörende in ewigem Gleichgewicht bleiben, während bei den anderen Wesen, den Lebewesen insbesondere, bald das Erhaltende, bald das Zerstörende überwiegt. Doch mehr als Andeutungen gibt Cicero nicht, und Cotta beschränkt sich auf die Feststellung, daß damit der Gottesbegriff, den er meint, aber nicht formuliert, nicht erreicht wird. 110

Geschlossen wird mit einem Einwand, der die kurze Bemer-

kung von 1,90—91 wieder aufnimmt und verallgemeinert. Wie können aus dem Wirbel der Atome Wesen entstehen, die wie die Götter und Menschen bestimmte Gestalten und Farben haben und beseelt sind? Darauf kann Epikur nur antworten: einerseits, daß im Laufe der Zeit irgendwelche Atomkompositionen sich von selbst als dauerhaft erweisen, also bestimmte Gestalten werden können, und andererseits, daß Farbigkeit wie Beseeltheit zu den sekundären Qualitäten gehören, die den Atomen selbst nicht zukommen, aber aus bestimmten Kombinationen resultieren. Daß die Eudaimonie an die virtus gebunden ist, ist unbestritten, vorausgesetzt, man fasse diesen Begriff (wie das griechische arete) nicht als Tugend im ethischen Sinne, sondern, wie schon bemerkt, als reine Optimalität einer Verfassung und Leistung, wie dies Aristoteles,

Nikomachi-

sche Ethik 1098a 9 - 1 2 , umschrieben hat. Hier wird allerdings der Begriff ausschließlich auf Leistung und äußere Tätigkeit festgelegt, was einmal mehr zur Erklärung führt, die epikureischen Götter seien untätig, hätten also auch keine Eudaimonia. in

Immerhin scheint der Redner zu wissen, daß diese Widerle-

gung nicht ausreicht, und so wird nach der Lebensart, faktisch also nach der besondern Eudaimonia der Götter Epikurs gefragt. Diese Eudaimonia kann nur im dauernden und vollständigen Besitz der «Lust» bestehen, was wiederum Aristoteles nahekommt, für den die

KOMMENTAR ZUM ERSTEN

BUCH

435

hedone die Eudaimonie notwendigerweise begleitet (Nikomachische Ethik 10,3-5). Cotta trumpft auf mit dem in Definibus, Buch 1 und 2, entwickelten und diskutierten epikureischen Begriff der Hedone: Sie ist seelischer Natur, geht aber von den Empfindungen des Körpers aus und wirkt auf diese zurück. Dies kann für die Götter, die ein quasi-corpus besitzen, nur in beschränktem Umfang gelten. Dies hindert jedoch den Redner nicht, einmal mehr das vielzitierte Fragment (Frg. 67 Us.) aus Epikurs Uber das Lebensziel anzuführen, in welchem Epikur provokativ jede Art von Lust bis hinab zu den elementarsten biologischen Regungen annimmt, zum Teil jedenfalls, um nicht den Fehler des platonischen Kallikles (Gorgias 494 C-495 A) zu wiederholen; welche Epikureer umgekehrt versucht haben, den Satz Epikurs zu neutralisieren, wissen wir nicht. 1 1 2 Aufgegliedert wird die von Epikur gemeinte Lust in die jeweilige Lust eines jeden der fünf Sinne, und zu diesen gehören auch die Genüsse, in denen den Dichtern zufolge (Epiker und Tragiker) die olympischen Götter leben. Philosophisch relevant ist der allgemeine Schluß: Nun erinnert sich der Redner plötzlich daran, daß die Götter Epikurs nur ein quasi corpus besitzen, was impliziert, daß ihnen viele Formen der Lust, die der menschliche Körper erfahren kann, unzugänglich bleiben. Da gelangen wir in die Nähe des theologischen Problems, daß Gott, sofern er wesentlich Geist ist, über weniger Erfahrungen verfügen wird als der Mensch, der Geist und Körper ist (dazu etwa Seneca, Epistulae ad Lucilium 76,25). 11 j Nun scheint vorausgesetzt zu werden, daß der Epikureer bestimmte Arten der Lust zwar nicht verwirft, aber für belanglos erklärt; es ist diejenige Lust, die den Charakter eines bloß vorübergehenden Kitzels hat. Das Stichwort ist titillatio, griechisch gargalismos; vgl. besonders Plutarchos, Moralia 1129 B, und Athenaios 546 E, aber auch schon Piaton, Philebos 46 D, 47 A. Auf eine eigene Erinnerung Ciceros wird es zurückgehen, daß der Akademiker Philon von Larisa die Epikureer der Inkonsequenz bezichtigte, wenn sie gegen die Texte Epikurs und Metrodors versuchten, zwischen wesentlichen und unwesentlichen Arten der Lust zu unterscheiden; nach epikureischer Doktrin führen ausnahmslos alle Arten der Lust zur Eudaimonia; wer dies nicht anerkennt, und zwar bis zu den

43

6

ANHANG

äußersten Konsequenzen, verfällt genau dem Fehler des platonischen Kallikles, den Epikur ohne jeden Zweifel zu vermeiden suchte. Dabei hat der Redner offenbar nicht nur eine Erinnerung an Philon zur Verfügung, sondern auch eine Reihe von Textbelegen, die im Gespräch natürlich nicht vorgeführt werden. Dann wird präzisiert. Es handelt sich hier nicht darum, ob zwischen den einzelnen Arten der Lust Unterschiede bestehen (alia quaestio kann man als Hinweis auf die Behandlung in De finibus verstehen), sondern darum, daß den zweidimensionalen Göttern die Lust, die der dreidimensionale menschliche Körper empfindet, unzugänglich bleibt. 114 Der Epikureer zieht sich nun auf zwei unanfechtbare Formeln zurück. Die Gottheit ist frei von Schmerz, was mit Kyriai Doxai Nr. 3 zusammenstimmt, wonach die größte Lust mit der Beseitigung alles Schmerzenden erreicht ist, d. h., Lust ist nicht unbegrenzter Genuß, sondern der Zustand der endgültig gesättigten Ruhe. Der Gegner wendet ein, dies sei ein zu dürftiger Begriff von Eudaimonia; einen ähnlichen Einwand hatte schon De finibus 2,41 erhoben. Damit ist Epikurs eigene Intention doppelt verkannt. Er will einmal die begrenzte Lust (hedone) von der unbegrenzten Begierde (epithymia) so scharf als möglich unterscheiden, und dürfte zweitens darüber hinaus auch der Meinung gewesen sein, daß in einer von Grund auf unvollkommenen Welt, wie es die unsrige ist, mehr als die Ruhe der Schmerzlosigkeit gar nicht erreicht werden kann. Die zweite Formel ist, daß der epikureische Gott «ununterbrochen nichts anderes denkt als seine eigene Eudaimonie». Der Spott des Gegners kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir hier die epikureische Variante des aristotelischen «sich selbst denkenden Denkens» (Metaphysik 1074b 33-35) vor uns haben. Hier wie dort ist die Gottheit ganz bei sich selbst und in ihre eigene Vollkommenheit eingeschlossen. Bei Aristoteles ist diese Vollkommenheit die Theoria als Denken, bei Epikur ist sie der Besitz der vollkommenen Lust. Die anschließende Bemerkung freilich ignoriert völlig, was 1,49 und 1,105 dargelegt worden war. Es macht das Wesen der Gottheit aus, daß ihr ununterbrochen ebenso viele Atome zufließen wie von ihr abfließen derart, daß, wie wir sagten, das Eidos unveränderlich erhalten bleibt. Die doppelte Gefahr, daß der Zustrom der Atome Verwirrung schafft und

K O M M E N T A R ZUM E R S T E N

BUCH

437

daß mehr A t o m e abfließen als zufließen, besteht f ü r die Götter nach den Voraussetzungen Epikurs überhaupt nicht. 115

D e r Gegner hält damit die zwei entscheidenden Punkte f ü r be-

wiesen: D i e Götter Epikurs besitzen weder Ewigkeit noch Eudaimonie. Mit einem Buchzitat wird der nächste Abschnitt eröffnet, der sich nun auf die Stellung der Religion bei E p i k u r bezieht. Zitiert werden, wie wir glauben, zwei Werke, einmal ein Peri theon kai bosiotetos (also De sanctitate),

das bei Diogenes Laertius 10,27

un

d Plutarchos,

Moralin

1 1 0 2 C , genannt ist (Frg. 3 1 - 3 4 Us.), sodann ein Peri eusebeias (Über Gottesfurcht),

die

das möglicherweise eine Auseinandersetzung mit Theo-

phrasts einflußreichem gleichnamigem Werke enthielt (Diogenes Laertius 5,50). H i e r wird der Ton auffallend gehässig. E s soll einfach gezeigt werden, daß E p i k u r in Wahrheit ein reiner Atheist war, aber nicht wagte, dies öffentlich einzugestehen; die Ausführungen 1,85-86 scheinen vergessen zu sein. Ironisch konstatiert der Gegner, daß E p i k u r in den genannten Schriften eine geradezu altväterliche Religiosität zur Schau trage, während seine Argumentation keinen anderen Z w e c k habe als denjenigen, alle Religion zu zerstören. Von Ti. Coruncanius (Konsul 280 v. Chr.) und P. Mucius Scaevola (Konsul 1 3 3 v. Chr.) muß es schriftliche Äußerungen darüber gegeben haben, wie wichtig es f ü r das Gedeihen R o m s sei, den Staatskult sorgfältig zu pflegen (vgl. etwa 2,8). Beide waren Pontifices Maximi, darum passend von Cotta, der selber Pontifex war, angeführt. Z u m Vergleich mit Xerxes ist zu nennen De republica

3 , 1 4 und De legibus 2,26, w o frei-

lich die Tat des Xerxes, die Zerstörung der Tempel auf der Akropolis von Athen 480 v. Chr., radikal anders beurteilt wird als an unserer Stelle. Es folgt eine Wiederholung des bereits in 1,3 ausgesprochenen Vorwurfes. D i e G ö t t e r tun nichts und sorgen insbesondere nicht f ü r den Menschen. D a n n ist auch der Mensch nicht verpflichtet, sie zu verehren. Mit einer erstaunlichen Unbekümmertheit wird hier das Prinzip des do ut des verfochten. D i e Religion wird zum Geschäftsverkehr. 116

D e r Epikureer verweist demgegenüber auf sein in 1,45 ausge-

sprochenes Prinzip: Wir verehren das Vollkommene, weil es vollkommen ist, und nicht, weil es etwas f ü r uns leistet. D e r G e g n e r scheint dies überhaupt nicht verstehen zu wollen und bemerkt lediglich, ein Leben in der Untätigkeit und in der bloßen Lust habe nichts Vollkommenes an

43

8

ANHANG

sich - was folgerichtig auch zu einer Ablehnung des aristotelischen Begriffs der Eudairaonie führen müßte. Dann wird wiederholt, daß wir einem Cotta, der uns nichts gibt, nichts schuldig sind, was mit den Definitionen der pietas und der sanctitas begründet wird. Für pietas, eusebeia wird der klassische Begriff der Gerechtigkeit in Anspruch genommen, und zwar so, daß erstens eine Rechtsgemeinschaft zwischen Gott und Mensch gefordert wird (was potentiell schon in der alten griechischen Vorstellung, daß Zeus der König der Götter und Menschen sei, enthalten ist; vgl. etwa Aristoteles, Politik 1252b 24-27) und daß zweitens diese Rechtsgemeinschaft offenbar dem Prinzip der gleichen Rechte und Pflichten für die Partner gehorcht. Der Gedanke, daß die Relation zwischen Göttern und Menschen eine Relation unter ungleichen Partnern ist, scheint zu fehlen; anders Aristoteles,

Nikoma-

chische Ethik 1 1 5 8 b 3 5 - 1 1 5 9 3 5, 1164b 3-6. Die sanctitas, hosiotes gilt als die Wissenschaft vom richtigen U m gang der Menschen mit den Göttern. Hier wird geradezu zynisch bemerkt, w o wir von den Göttern nichts zu erwarten haben, kann uns auch die Frage nach dem richtigen Umgang mit ihnen gleichgültig sein. Der Schluß kehrt zum Anfang des Abschnittes zurück. Die Götter Epikurs haben nichts Vollkommenes an sich (worin eine solche Vollkommenheit zu bestehen hätte, erfahren wir nicht), also haben auch wir keinen Anlaß, sie um ihrer Vollkommenheit willen zu verehren. 117

Epikurs Anspruch, den Aberglauben zu überwinden, wird

neutralisiert durch die bösartige Erklärung, der sicherste Weg, von jedem Aberglauben frei zu werden, sei kein anderer als der Weg des Atheismus. So gelangen wir zu einem sechsten größeren Exkurs, der es mit der Geschichte des Atheismus zu tun hat. Zu Beginn der Liste stehen, wie zu erwarten, Diagoras und Theodoras an, halbwegs angeschlossen wird, wie schon in 1,2, Protagoras. Dies führt zu einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Aberglauben und Religion; eine zusätzliche und beinahe abenteuerlich komplizierte Unterscheidung (aus Varro?) wird später (2,71-72) nachgeliefert. 118

Atheistisch ist sodann die These, die Religion sei eine Erfin-

dung weiser Männer der Vorzeit, um die Menschen durch die Furcht vor den Göttern zu disziplinieren. Es ist dieselbe These, die in 1,77 Cotta

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN

BUCH

439

gegen die epikureische A n n a h m e menschengestaltiger Götter mobilisiert hatte. D e r Akademiker kann sich in gewisser Weise alles erlauben, also auch eine atheistische Position einzunehmen, wenn dies der Widerlegung der G e g n e r förderlich ist. Etwas überraschend ist aber auch, daß die Lehre des Prodikos von K e o s (Fragmente

der Vorsokratiker

N r . 84, bes. Β 5) atheistisch ge-

nannt wird, und zwar wegen seiner Behauptung, die Menschen hätten das, was ihnen besonders nützlich war, f ü r G ö t t e r erklärt; doch genau dasselbe w a r in 1 , 1 0 1 als ein Stück der ägyptischen Religion gelobt worden. 119

Daß Euhemeros v o n Messene mit seiner Hiera

(Fragmente

der griechischen

Historiker

Anagraphe

Nr. 63), die nachzuweisen

suchte, daß alle Götter nur vergöttlichte Menschen seien, in der Liste der großen Atheisten figuriert, verwundert nicht, obschon auch die Stoiker Persaios (1,38) und C h r y s i p p o s (1,39) bestimmte Götter auf vergöttlichte Menschen reduziert haben. In Wirklichkeit hat eben Euhemeros nur eine Möglichkeit systematisiert, mit der die Griechen seit jeher gerechnet hatten; und von daher wird es auch verständlich, daß der R ö m e r Ennius zu Beginn des 2. J h . v. Chr. nicht allein das Werk des Euhemeros ins Lateinische übersetzte, sondern auch, wie unsere Stelle andeutet, sich selbst zu dessen Anschauungen bekannte (secutus est). D o c h Ennius ist niemals des Atheismus verdächtigt worden. Anscheinend ist die Leistung des Euhemeros von verschiedenen Standpunkten her ganz verschieden beurteilt worden (dazu noch Kallimachos Frg. 1 9 1 , 1 0 - 1 1 Pf.). D i e größte Überraschung bringt der Schluß der Liste, der drei altehrwürdige Mysterienkulte nennt: Eleusis, Samothrake und Lemnos, Eleusis mit einem Zitat aus einer unbekannten Tragödie, Lemnos mit einem solchen aus der Tragödie Philoktetes

des Accius (Frg. 525/526

Ribb.). In allen drei Fällen muß der K u l t eine naturphilosophische U r a deutung erfahren haben, die die Götter auf unpersönliche Naturkräfte reduzierte, dabei vermutlich anstößige Einzelheiten des Kultes beseitigen konnte, dafür aber sich dem Verdacht auf Atheismus aussetzte. Spuren einer solchen Deutung finden sich bei Augustinus, De civitate

Dei

7,20 und 28, aus Varro. O d e r sollte Cicero hier durch Poseidonios beeinflußt sein (vgl. 1 , 1 2 3 ) ? 120

Es folgt ein E x k u r s über Demokrits Theologie, der 1,29 er-

ANHANG

44°

gänzt. Die Tendenz, Demokrit gegen Epikur auszuspielen, geht wohl auf Karneades zurück. Von Atheismus ist keine Rede, wohl aber von unglaubhaften und einander widersprechenden Thesen. Göttlich sind demnach (i) Bilder göttlicher Art, die sich im All vorfinden, (2) die Prinzipien des Geistes, also des nous, was von Anaxagoras herkommen dürfte, (3) Bilder, die Lebewesen sind und uns nützen oder schaden (dazu das sehr interessante und wichtige Zitat in: Fragmente der Vorsokratiker 68 Β 166), (4) riesige Bilder, die das All «von außen umgreifen» (exothen

periechousin).

Wie (1), (3) und (4), die alle die Lehre von den Bildern, eidola voraussetzen, miteinander koordiniert werden können, ist nicht zu erkennen. Es liegen eben auch nur knappste Stichworte vor. Summarisch wird behauptet, alle diese Theorien seien einfältig. Begründet wird dies nicht, doch ist unsere Stelle, soweit wir sehen, der älteste Text, der ausdrücklich Demokrits Heimatstadt Abdera als einen Sitz von Dummköpfen bezeichnet (eine Anspielung darauf ist später vielleicht 2,17). Sollte Demokrit selbst mit abfälligen Urteilen über seine Landsleute (vgl. Heraklit über die Ephesier in: Fragmente der

Vorsokra-

tiker 22 Β I 2 i ) der Ausgangspunkt gewesen sein? Daß man derartigen Bildern keinen Kult darbringen kann, ist klar. Doch wie weit gilt dies nicht auch von den kosmischen Gottheiten der Stoa? 121 riaiDoxai

Unvermittelt folgt eine Auseinandersetzung mit Epikurs KyNr. 1 (vgl. schon 1,85-86). Konstruiert wird ein Widerspruch

zwischen der Benennung Gottes als optima et praestantissuma

natura

(womit allerdings makarion und aphtharton mehr als ungenau wiedergegeben wird) und der Erklärung, es gebe bei Gott keine gratia,

bonitas

und beneficentia, was nun wiederum aus der Zweiheit des griechischen Textes Orgai und Charites die erste Hälfte unterschlägt, und in der zweiten Hälfte Charites deutlich mißversteht. Denn was Epikur bekämpft, ist nicht wesentlich verschieden von den Polemiken Piatons im Staat und in den Gesetzen·. Gott kennt weder blinden Zorn noch kann er durch Geschenke und Gefälligkeiten verführt werden. Daß Gott bei Epikur weder ethisch gut noch ethisch schlecht genannt werden kann, stimmt allerdings, doch gehört dies in einen andern Kontext; und wenn die Folgerung zutrifft, daß von einer Liebe der Götter zu den Menschen nicht gesprochen werden kann, so ist es andererseits absurd zu folgern,

K O M M E N T A R ZUM ERSTEN BUCH

44I

daß die Götter untereinander nicht genauso die Freundschaft pflegen wie es die epikureischen Weisen untereinander tun sollen. Etwas künstlich wird sodann gegen E p i k u r die stoische These ausgespielt, daß die Tugend den Menschen als solchen liebenswert macht, was besagt, daß alle Weisen untereinander Freunde sind, selbst wenn sie einander nicht kennen (Stoicorum veterum

fragmenta

3,635); dieser Schlußfolgerung

würde vermutlich Aristoteles kaum zustimmen (vgl. Ethik

Nikomachische

1 1 5 j b 3 4 - 1 5 5a 5), eher dagegen E p i k u r selbst.

122

Mißverstanden ist auch der Satz, Z o r n und Gefälligkeit zeigten

«Schwäche» an. Schwäche ist weder Freundschaft noch Wohlgesinntheit, sondern die Erregbarkeit durch Z o r n (von der unser Text bezeichnenderweise überhaupt nicht spricht) und die Beeinflußbarkeit durch Geschenke. D o c h das Mißverständnis erlaubt es, wieder auf De finibus zurückzugreifen, w o (gegen Epikur) die uneigennützige gegen die eigennützige Freundschaft gestellt wird (bes. 2,78-8 5). D o c h da wird der Gedanke des Redners zweideutig. Von der wahren Freundschaft wird gefordert, daß sie gratuita sei und an keinen Vorteil und keinen N u t z e n denke. Wie verhält sich dies zu der mehr als einmal vorgetragenen Erklärung, die Menschen hätten keinen Anlaß, die Götter zu verehren, wenn diese nicht f ü r sie sorgen und ihnen Wohltaten erweisen? Paradoxerweise ist die Haltung der uneigennützigen Freundschaft gerade diejenige Epikurs den Göttern gegenüber und nicht diejenige der Stoa, deren Religion aus Leistungen und Gegenleistungen besteht. Sollte da Cicero selbst unvorsichtigerweise Dinge aus der Ethik von De finibus eingemengt haben, ohne zu beachten, wie sehr er damit die theologische Position der Stoa, die er f ü r die sinnvollere hält, gefährdet? Dementsprechend wird der Schluß des Abschnittes absonderlich schief. Daß die Götter nichts bedürfen, ist eines, daß sie f ü r die Menschen sorgen, ist ein anderes; und nur, weil damit gerechnet wird, daß die G ö t t e r die Menschen erhören und sich um sie kümmern, also nur um des «Segens» willen, den man von den Göttern erwartet, haben die Veranstaltungen der Pontifices und A u gures einen Sinn. Mit uneigennütziger Freundschaft hat dies nichts zu tun. 123

N o c h einmal wird auf Epikurs Buch Peri hosiotetos (De sanc-

titate) verwiesen. U n d nun wird die Polemik grob und massiv. Wo die Götter nichts tun und sich v o r allem um die Menschen nicht sorgen, hat

44 2

ANHANG

der K u l t k e i n e n Sinn. M e h r n o c h : N u n läßt sich der R e d n e r in aller F o r m v o n P o s e i d o n i o s (Frg. 346 T h . ) bestätigen, d a ß E p i k u r in W a h r h e i t ein reiner A t h e i s t g e w e s e n sei u n d seine T h e o l o g i e nur d a z u diene, i h m v o r den A n g r i f f e n der L e u t e Sicherheit z u v e r s c h a f f e n . D i e L e h r e v o n der M e n s c h e n ä h n l i c h k e i t der z w e i d i m e n s i o n a l e n G ö t t e r (liniamenta),

die

d o c h z u v o r mit einiger E r n s t h a f t i g k e i t g e p r ü f t w o r d e n war, w i r d n u n s u m m a r i s c h v e r w o r f e n : dergleichen k ö n n e E p i k u r v e r n ü n f t i g e r w e i s e gar nicht behauptet haben, u n d s o w e i t er dies tut, geschieht es nur, u m seine w a h r e M e i n u n g , d e n A t h e i s m u s , z u v e r d e c k e n . 124

D e n S c h l u ß bildet einmal m e h r der H i n w e i s , d a ß uns ein G o t t ,

der die M e n s c h e n nicht liebt u n d f ü r sie sorgt, gleichgültig sein kann. N o c h einmal w i r d auf d e n W o r t l a u t v o n Kyriai Doxai

N r . 1 angespielt,

und n o c h einmal konstatieren w i r das nicht u n b e d e n k l i c h e K a l k ü l , das z w a r die Charites

als W o h l w o l l e n interpretiert, aber v o n d e n ihnen ge-

g e n ü b e r s t e h e n d e n Orgai

nicht das geringste sagt; der Leser soll nicht

darauf g e s t o ß e n w e r d e n , d a ß a u c h u n d gerade die Stoa eine G o t t h e i t , die der L e i d e n s c h a f t des Z o r n e s nachgibt, nicht a n n e h m e n kann. S o hinterläßt die gesamte P o l e m i k einen m e r k w ü r d i g z w i e s p ä l t i g e n E i n d r u c k . Es sind nur w e n i g e P u n k t e , die i m m e r w i e d e r z u r Sprache gebracht w e r d e n . C i c e r o hat sich alle M ü h e g e g e b e n , d e n eher m a g e r e n Text durch Exkurse anzureichern. A u f Einzelheiten der D o k t r i n Epikurs w i r d nur sparsam eingegangen, u n d die g a n z e R e d e h i n d u r c h läuft die S p a n n u n g z w i s c h e n einer brutal gehässigen P o l e m i k , die E p i k u r als A t h e i s t e n d i f f a m i e r t , u n d einer A n z a h l v o n kritischen, w o h l d u r c h d a c h t e n u n d i m g a n z e n m a ß v o l l e n A n g r i f f e n . D e r T e x t läßt eine saubere A b g r e n z u n g dieser b e i d e n G e s i c h t s p u n k t e nicht zu. D a ß die G e h ä s s i g keiten d e m P o s e i d o n i o s g e h ö r e n , ist sicher u n d hat seine K o n s e q u e n z e n f ü r unser Bild des P o s e i d o n i o s ü b e r h a u p t ; die kritische A u s e i n a n d e r s e t z u n g w i r d man im P r i n z i p d e m K a r n e a d e s z u s c h r e i b e n d ü r f e n , d o c h d a r ü b e r w i r d i m K o m m e n t a r z u B u c h 3 n o c h einiges z u sagen sein. D e r A k a d e m i k e r s y m p a t h i s i e r t mit der Stoa, o h n e eine k o h ä r e n t e eigene T h e o l o g i e z u e n t w i c k e l n . N u n w i r d der Leser erwarten, d a ß die Stoa selbst in u n u n t e r b r o c h e n e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit E p i k u r ihre eigene T h e o l o g i e a u f b a u t .

K O M M E N T A R ZUM Z W E I T E N B U C H

ι

Der Beginn zeigt Ciceros Kunst, Komplimente zu formulieren,

die zu nichts verpflichten, und zugleich unauffällig Kritik zu üben. Vellerns rühmt an Cotta die Einheit von akademischem Scharfsinn und stilistischer Gepflegtheit; dazu Tusculanae disputationes 2,9, w o sich Cicero daran erinnert, daß Philon, sein und Cottas Lehrer, die Gewohnheit gehabt habe, abwechselnd Rhetorik und Philosophie zu dozieren. Der Akademiker schätzt wie der Peripatetiker (gegen Epikur und die Stoa) die Tradition der Rhetorik; zum Gegensatz flumen - siccitas vgl. 2,20. Über die philosophischen Thesen Cottas sagt Velleius nichts. Der letzte Satz deutet allerdings kritisch an, daß Cotta eigentlich keinen Beitrag zu einer Diskussion im Freundeskreis geliefert, sondern eine Rede für die Öffentlichkeit gehalten habe (dazu 1,61). Es ist auch kein Zufall, daß das Wort «Rhetor» mit leicht peiorativem Beigeschmack zweimal verwendet wird (dazu Piaton, Gorgias 482 C). ζ

U m so entschiedener urteilt der Stoiker. Wenn er die falschen

Götter Epikurs den wahren Göttern der Stoa gegenüberstellt, glaubt man einen Prediger zu hören. Nicht ohne Aggressivität will er Cotta bei dem behaften, was dieser seinem Namen (die Aurelii gehören zu den alten traditionsbewußten Familien Roms), seinem Stand als Pontifex und der Philosophie schuldig sei. Bezeichnend ist, daß dieser Appell ad hominem (vgl. Lucullus 62; De finibus 2,74 u. a.) in 2,168 fast wörtlich wiederholt wird. Dazu tritt das harte Urteil, es sei gottlos, die Existenz der Götter zu bestreiten, selbst wenn man dies nur im Interesse der Diskussion (simulate) tue (lehrreich dazu De republica 3,8!). Hatte der Epikureer sich über die Exponiertheit seiner Lage keine Illusionen gemacht und nicht erwartet, daß die Freunde ihm zustimmen (1,18 und 1,56), so versucht der Stoiker rücksichtslos den Akademiker auf seine Seite zu ziehen. Man sieht, wie Cicero sich bemüht, die Redner mit individuellen Zügen auszustatten. So wird es auch klar, warum er gerade den Pontifex Cotta die Sache

ANHANG

444

der A k a d e m i e vertreten läßt. D i e a k a d e m i s c h e A p o r e t i k k a n n als A t h e ismus verstanden w e r d e n ( w i e diejenige des P r o t a g o r a s 1 , 1 1 7 ) . D a n n ist der einzige, d e r im G e s p r ä c h eine a k a d e m i s c h e , potentiell atheistische P o s i t i o n d u r c h s p i e l e n k a n n , o h n e sich d e m V e r d a c h t a u s z u s e t z e n , er sei tatsächlich A t h e i s t , der P o n t i f e x . Vielleicht ist s c h o n V a r r o , w i e f r ü h e r a n g e m e r k t , auf diese Weise v o r g e g a n g e n . In seinem D i a l o g Curio sive de cultu deorum

scheint er die s u b v e r s i v e n T h e s e n d e m P o n t i f e x Scaevola

in d e n M u n d gelegt z u h a b e n ( A u g u s t i n u s , De civitate

Dei 4,27). D e n n

v o n einem P o n t i f e x w i r d erwartet, d a ß er, w a s i m m e r seine p h i l o s o p h i schen S p e k u l a t i o n e n sein m ö g e n , den Institutionen des r ö m i s c h e n K u l tes treu bleibt. C o t t a z i e h t sich indessen auf seine in 1,57 u m s c h r i e b e n e P o s i t i o n z u r ü c k (dazu 3,5). E r behält sich vor, die stoische T h e o l o g i e g e n a u s o hart z u beurteilen w i e die epikureische. D e r S t o i k e r seinerseits b e t o n t z w e i m a l , E p i k u r sei so radikal w i d e r legt w o r d e n , d a ß er darauf v e r z i c h t e n k ö n n e , n o c h m a l s auf diese Irrlehre z u r ü c k z u k o m m e n . M a n darf f o l g e r n , d a ß der Text, d e n C i c e r o v o n hier an b e n u t z t , u r s p r ü n g l i c h b e w u ß t als eine K o n f r o n t a t i o n der stoischen W a h r h e i t mit d e n I r r t ü m e r n E p i k u r s angelegt war. N u n w i r d die P o l e m i k w e g g e l a s s e n . D o c h zahlreiche R e s t e der A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Epikur

sind

stehengeblieben.

Dies

gilt

nicht

nur f ü r

2,46-49.59.

73—74.76.93-94.162, s o n d e r n a u c h f ü r m a n c h e beiläufigen B e m e r k u n gen, die z u beachten sein w e r d e n . 3

B a i b u s verspricht h ö f l i c h (vgl. 1,56), er w o l l e sich k u r z fassen,

w a s er dahin präzisiert, er w o l l e nur einen Teil des stoischen P r o g r a m m s , u n d z w a r d e n k ü r z e r e n , vortragen. D o c h die F r e u n d e b e d r ä n g e n ihn, sind also d a f ü r v e r a n t w o r t l i c h , d a ß sein V o r t r a g viermal länger w i r d als derjenige des Vellerns. hat vier Teile: (1) E x i s t e n z der

Götter

(2,4-44), ( 2 ) W e s e n der G ö t t e r (2,45-72), (3) F ü r s o r g e d e r

D i e stoische T h e o l o g i e

Götter

f ü r die Welt ( 2 , 7 3 - 1 5 3 ) , (4) F ü r s o r g e der G ö t t e r f ü r die M e n s c h e n ( 2 , 1 5 4 - 1 6 7 ) . W i e (1) u n d (2) z u s a m m e n h ä n g e n , zeigt 2,13: In (1) ist mit einem C o n s e n s u s z u rechnen, in (2) mit einem Dissensus. S o n d e r b a r ist die S o n d e r u n g v o n (3) u n d (4). W i r w ü r d e n meinen, d a ß in der F ü r sorge f ü r die W e l t auch diejenige f ü r d e n M e n s c h e n , der ein Teil d e r Welt ist, I n b e g r i f f e n sein m ü ß t e . W e n n hier u n t e r s c h i e d e n w i r d , so mit R ü c k sicht auf ein S y s t e m , das (3), aber nicht (4) gelten ließ. D i e s e s S y s t e m ist

KOMMENTAR

ZUM ZWEITEN

BUCH

445

mit Sicherheit dasjenige des Peripatos g e w e s e n , das a u s d r ü c k l i c h die W e l t in einen supralunaren u n d einen s u b l u n a r e n R a u m teilte. D i e B i n d u n g an d e n jenseitigen U n b e w e g t e n B e w e g e r b e s t i m m t e die G e s a m t heit d e r e w i g g l e i c h m ä ß i g e n , streng mathematisierbaren K r e i s b e w e g u n gen aller G e s t i r n e bis hinab z u m M o n d . Diesseits des M o n d e s , also in der Welt des M e n s c h e n , herrschen teils die vier E l e m e n t e mit ihren beg r e n z t e n linearen B e w e g u n g e n , teils die quasipersonale M a c h t

der

N a t u r , die ein z w e c k g e r e c h t e s W e r d e n aller D i n g e anstrebt, o h n e es je g a n z v e r w i r k l i c h e n z u k ö n n e n , teils e n d l i c h das geschichtliche H a n d e l n des M e n s c h e n , das v o n der E i n w i r k u n g des U n b e w e g t e n

Bewegers

ü b e r h a u p t nicht mehr erfaßt w i r d . D e m g e m ä ß h a b e n P o l e m i k

und

D o x o g r a p h i e erklärt, f ü r A r i s t o t e l e s reiche die göttliche V o r s e h u n g nur hinab bis z u r Z o n e des M o n d e s , aber nicht ü b e r diese hinaus; der B e r e i c h des M e n s c h e n bleibe w i e bei E p i k u r g a n z sich selbst überlassen; eind r u c k s v o l l w a r die P o l e m i k des P l a t o n i k e r s A t t i k o s bei E u s e b i o s , Praeparatio

evangelica

1 5 , 5 , 3 - 1 4 . D a g e g e n w e n d e t sich das v o r l i e g e n d e

S c h e m a mit d e m expliziten A n s p r u c h , gegen d e n Peripatos a u c h in der M e n s c h e n w e l t eine v o n d e n G ö t t e r n v e r w a l t e t e O r d n u n g n a c h w e i s e n zu können. S o n d e r b a r ist n u n aber a u c h der V o r s c h l a g des Stoikers, er w o l l e nur die z w e i ersten P u n k t e b e h a n d e l n , d a g e g e n (3) u n d (4) als z u a u f w e n d i g f ü r diesmal beiseite lassen. D i e s w ü r d e b e d e u t e n , d a ß genau diejenige T h e s e nicht m e h r z u r Sprache k ä m e , die s c h o n in der V o r r e d e 1 , 2 - 4

un

d

dann in d e r R e d e C o t t a s u n e r m ü d l i c h g e g e n E p i k u r v o r g e b r a c h t w i r d , d a ß es n ä m l i c h z u m W e s e n der G ö t t e r g e h ö r t , als O r d n e r u n d L e n k e r der Welt tätig z u sein. W a r u m soll jetzt gerade d a v o n nicht m e h r die R e d e sein? Eine A n t w o r t darauf z u finden ist nicht leicht. D i e W e n d u n g , P u n k t (3) u n d (4) seien maiora, scheint b e s a g e n z u w o l l e n , d a ß hinsichtlich der z w e i ersten P u n k t e ein g e w i s s e r C o n s e n s u s unter d e n P h i l o s o p h e n s c h u l e n v e r h ä l t n i s m ä ß i g leicht z u erreichen sei (daß es G ö t t e r gibt, haben alle S c h u l e n a n g e n o m m e n u n d z u b e w e i s e n gesucht), w ä h r e n d z u m dritten P u n k t mit d e m entschiedenen W i d e r s t a n d E p i k u r s , z u m vierten mit d e m j e n i g e n des Peripatos gerechnet w e r d e n m u ß t e .

Da

m u ß t e die Stoa alle ihre K r ä f t e mobilisieren, u m sich d u r c h z u s e t z e n . C o t t a , der G a s t g e b e r , w e i s t darauf hin, d a ß man M u ß e habe ( w i r b e f i n d e n uns ja in d e n «Feriae Latinae»: 1,15) u n d d a ß das P r o b l e m selber w i c h t i g e r sei als die meisten sonstigen G e s c h ä f t e (zu negotiis

k a n n eine

44 6

ANHANG

präzisierende Bestimmung kaum gefehlt haben; der bloße Gegensatz otium - negotia ist allzu banal). 4

Der erste Hauptteil (2,4-44)

nachweisen, daß die Existenz

der Götter evident ist (weil sie in Wahrheit gerade nicht so evident ist wie diejenige der wahrnehmbaren Gegenstände oder des anderen Menschen). Die Ubereinstimmung mit Epikur geht sehr weit (1,43-45), doch Cicero tut sein möglichstes, damit sie nicht gar zu auffallend wird. I. Die Schönheit der supralunaren Welt macht den Schluß auf einen diese Welt lenkenden Geist zwingend. Einem Vers des Ennius gemäß erkennen alle Menschen im leuchtenden Äther den Gott Iuppiter. Der Vers hat allgemeinen Beifall gefunden, d.h. er stammt aus einer besonders erfolgreichen Tragödie des Ennius. In De natura deorum zitiert ihn Cicero außer an dieser Stelle nicht weniger als dreimal (2,64; 3,10; 3,40), doch nur Festus (p. 400, 1 7 - 2 0 ed. Lindsay) gibt an, daß er aus dem Thyestes des Ennius entnommen ist. Dies war in der Tat eine besonders berühmte Tragödie, gipfelnd in der Untat des Atreus, der die Söhne seines Bruders Thyestes tötet und sie dem Vater zum Mahl vorsetzt. Man mag sich vorstellen, daß der Vers zu der Warnung gehört, die der Chor im letzten Augenblick vor dem Verbrechen an Atreus richtete (Ennius Trag. Frg. 153 ed. Jocelyn; die Rekonstruktion der Tragödie durch Jocelyn ist denkbar unwahrscheinlich). Dabei nimmt der Sprecher bewußt unsystematisch sowohl das Argument des universalen Consensus wie auch dasjenige der wahrnehmbaren Gegenwart des Göttlichen wie auch endlich dasjenige der Allmacht Gottes vorweg. In Anlehnung an sprichwörtliche Wendungen (vgl. Aristoteles bei Stobaios 3,4,86) wird erklärt, die Existenz Gottes sei genauso evident wie diejenige der Sonne. 5

Epikur hatte in 1,43-4 5 den universalen Consensus räumlich ver-

standen («alle Völker stimmen überein»); hier liegt der Akzent auf der Zeitdauer. Der Grundsatz, daß Irrmeinungen daran zu erkennen seien, daß sie mit der Zeit verschwinden, während die Wahrheit sich mit der Zeit befestigt, könnte aristotelisch sein (vgl. Nikomachische

Ethik 1098b

1 1 - 1 2 ) . Ciceros Vorlage hat vielleicht mit Beispielen gezeigt, daß bei allen Völkern der Kult sich entwickelt hat, die Kultfeste immer reicher und sinnvoller, die Tempel immer größer wurden. An falschen und überwundenen Vorstellungen werden zwei Arten angeführt (a) der Glaube an Mischwesen aus Mensch und Tier (Kentauren) oder an Vermischungen verschiedener Tiere (Chimaira); die Griechen waren dem Orient ge-

KOMMENTAR

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BUCH

447

genüber stolz darauf, ihren Göttern mehr und mehr rein anthropomorphe Gestalten zugebilligt zu haben (wie sich dies mit dem Lob des Triton in 1,78 und der Nereiden, die Mischwesen sind, und auf der anderen Seite mit der Ablehnung der menschengestaltigen Götter Epikurs verträgt, soll man nicht fragen), (b) Dazu kommt der Glaube an die Schrecknisse der Unterwelt, wie sie nicht nur von Homer geschildert wurden. E r wird hier mit penetranter Verachtung abgelehnt. Nuanciert wird immerhin darin, das eine frühere Epoche ernsthaft an diese unheimlichen Dinge glaubte, während dies heute nur noch die alten Weiber tun. Das Problem ist freilich damit nicht erledigt, und dies von mehreren Seiten her. Fürs erste haben nicht nur die Mysterienkulte einen Ort der Seligkeit, an den zu gelangen die Mysten hoffen dürfen, von einem Ort der Unseligkeit abgetrennt, an den «die anderen» verbannt werden; und es ist das gute Recht jeder Werbung für die Mysterien, die beiden Orte anschaulich auszumalen. Doch was geschieht nun? Gilt nur der Ort der Verdammnis als eine Ausgeburt abergläubischer Phantasie, oder trifft das Verwerfungsurteil auch den Ort der Seligkeit? Falls, wie es den A n schein hat, nur die Unterweltsstrafen eliminiert werden, was geschieht dann zweitens mit den großen Verbrechern, denen das Glück bis zum Ende ihres Lebens treu geblieben ist? Grundsätzlich auf einen Ausgleich zwischen dem zu Tode gefolterten Gerechten und dem vom Volke umjubelten Ungerechten zu verzichten, hätte unabsehbare Konsequenzen. Epikur hat dies begriffen und hat so faktisch als erster den Begriff des «schlechten Gewissens» eingeführt als die Strafe, die den Ungerechten unter allen Umständen verfolgt und die er schon in diesem Leben niemals von sich abschütteln kann. Wer aber die epikureische Lösung, die Unterweltsqualen durch das schlechte Gewissen zu ersetzen, nicht mitmachen mochte, dem blieb kaum etwas anderes übrig, als wie Piaton und ζ. T. wohl auch Aristoteles (vgl. die Jenseitsmythen Plutarchs) auf die alten Bilder zurückzugreifen und die Toten ein Totengericht passieren zu lassen, das entscheidet, ob sie zur ewigen Seligkeit gelangen können oder ihre Schuld so lange im «Fegefeuer» abbüßen müssen, bis sie rein geworden sein werden, oder endlich, ob die Toten zu den unheilbaren Schurken gehören, die auf ewig in den Ort der Verdammnis abgeschoben werden. Wir brau-

44

ANHANG

8

chen die Belege aus Piaton hier nicht beizufügen. Es genügt festzustellen, daß w i r damit auf eine völlig absurde Frage stoßen: Wie verhält sich das, was Piaton etwa am Ende seines Staates und anderswo schildert, zu dem, was der Stoiker hier als gedankenloses Altweibergeschwätz abqualifiziert? E p i k u r hat als einziger eine klare Position. F ü r ihn gibt es weder ewige Seligkeit noch ewige Verdammnis, wohl aber die unerschütterliche Seelenruhe des Gerechten und die ewige Ruhelosigkeit des von quälenden Gedanken verfolgten Ungerechten (man sollte die beiden wenig beachteten Porträts bei Aristoteles Nikomachische

Ethik

1166a

i o - b 2 und 1 1 6 6 b 1 0 - 2 9 vergleichen. Sie kommen dem, was E p i k u r meint, erstaunlich nahe). U n k l a r bleibt die Position der Stoa, in deren N a m e n hier Baibus spricht. Zuverlässig bezeugt ist nur das eine, daß die Seelen der Weisen nach dem Tod weiterdauern und erst mit dem gesamten K o s m o s zusammen in einem göttlichen Feuer aufgehen, während diejenigen der Toren schon bald nach dem Tod vollständig untergehen; L o h n und Strafe ist also die längere oder kürzere Fortdauer als solche veterum fragmenta

(Stoicorum

2 , 8 0 9 - 8 1 1 ) . Die Seelen der Weisen leben «unterhalb

des Mondes» weiter (ebd., 2,812.814), doch eine Unterwelt scheint die alte Stoa nicht gelehrt zu haben; die wenigen Texte verraten überdies deutlich den Einfluß der Mythen Piatons und pflegen darum wohl mit Recht auf Poseidonios zurückgeführt zu werden (vgl. Frg. 400 ed. Theiler). Unsere Stelle schiebt die Unterweltsbilder der Dichter einfach ab, ohne sich um die Frage zu kümmern, inwiefern nach dem Tode das Schicksal der Toren von dem der Weisen abgetrennt

werden

müßte. 6

II. N u n wird locker der Beweis aus den Epiphanien der Götter

angehängt. A u s römischer Tradition werden zunächst zwei Fälle genannt, in denen Götter in Menschengestalt (vgl. 1,46!) erschienen sind. In die Urzeit der Republik führt die Schlacht am Regillussee zwischen R ö m e r n und Latinern, deren Datierung zwischen 499 und 496 v. Chr. schwankte (Livius 2 , 1 9 - 2 1 ) . Daß als A n f ü h r e r der Latiner ausdrücklich Octavius Mamilius aus Tusculum erwähnt wird, läßt vermuten, daß der Bericht letztlich aus Catos Origines

stammt (vgl. Frg. 25 P.). Postumius

feierte einen Triumph und weihte zum D a n k (wofür?) den drei Göttern

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BUCH

449

Ceres, Liber und Libera einen Tempel (Dionysios von Halikarnaß 6,17,2 und 6,94,3), worauf Cicero in 2,62 anspielt. Der zweite Fall gehört in das Jahr 168 v. Chr., bemerkenswert darum, weil ihm deutlich ein Senatsprotokoll zugrunde liegt. Die Abfolge ist charakteristisch: Vision des P. Vatinius mit genauer Angabe von Ort und Zeit, Meldung an den Senat; der Senat weigert sich, die Meldung zur Kenntnis zu nehmen und setzt Vatinius gefangen; dann offizieller Bericht des Kommandanten der röm. Truppen, Aemilius Paullus, der die Vision bestätigt; der Senat belohnt den Vatinius, dem die Götter leibhaftig erschienen waren. Das ist ein Beispiel einer sakralrechtlichen Ordnung, die sich gegen jede Leichtfertigkeit im Glauben oder Unglauben abzusichern sucht. In beiden Fällen sind es die Dioskuren, die erscheinen; nicht ausgeschlossen ist, daß das Senatsprotokoll auf den über dreihundert Jahre zurückliegenden Präzedenzfall am Regillussee verwiesen hat. Von den griechischen Beispielen, die Ciceros Vorlage geboten haben wird, ist eines Stehengeblieben. Der Sieg der süditalischen Lokrer am Flusse Sagra über die zahlenmäßig weit überlegenen Krotoniaten war berühmt, obschon wir weder über das Datum noch über die politischen Zusammenhänge Genaueres erfahren. Die Schlacht muß gegen Ende des 6. Jh.s v. Chr. stattgefunden haben, und der unerwartete Sieg konnte nur durch das Eingreifen der Götter erklärt werden, und zwar nennt Strabo 6,ι,ιο die Dioskuren als die helfenden Götter (vgl. noch Diodoros 8,42; Plinius, Naturalis historia 3,95; Iustinus 20,3,9; Zenobios, Paroem. Gr. 1,36). Cicero erwähnt sonderbarerweise nicht dies, sondern nur das Wunder, daß noch an demselben Tag die Nachricht vom Siege in Olympia bei den Teilnehmern an den olympischen Spielen bekannt wurde. Da ist also die Epiphanie auf eine Stimme reduziert. Dem entspricht die anschließende Notiz; der Faunus (bzw. die Fauni) der römischen Religion hat, soweit wir sehen, seine Gegenwart immer nur durch die Stimme zu erkennen gegeben (schon darum vom griechischen Pan völlig verschieden; vgl. De divinatione 1,101). Der Redner will sich nicht lange bei diesen Tatsachen aufhalten; sie sind ihm so evident, daß nur Torheit oder Gottlosigkeit sie bestreiten kann. Die Götter zeigen sich in Menschengestalt oder als Stimme; umgangen wird die Frage, welche Gestalt sie tatsächlich haben. 7 III. Ein heikler Punkt ist die Mantik, die ihrer Natur nach nicht notwendig von bestimmten Göttern ausgeht und an deren Existenz ge-

450

ANHANG

bunden ist. Nimmt man an, daß alles mit allem zusammenhängt, also auch die Gegenwart mit der Zukunft, so wird das Gegenwärtige Anzeichen des Künftigen enthalten. Es bedarf dann nur noch besonderer Begabung oder einer ausgebildeten Wissenschaft, um die Zeichen zu erkennen und deuten zu können. Erst 2,12 versteht die Mantik ausdrücklich als ein Verstehen des Willens der Götter. Die Beispiele sind denn auch von sehr verschiedener Art. Zuerst werden aus römischer Tradition vier Arten von Vorzeichen aufgezählt. Worin sie sich voneinander unterscheiden, erfahren wir nicht; Cicero setzt anscheinend voraus, daß seine Leser dies wissen. Es folgen fünf Seher, die man aus dem griechischen Mythos kennt. Cicero gibt hier nur einen Auszug aus der ausführlicheren Liste, die er für De divinatione 1,87-89 vorbereitet hat (vgl. schon De legibus 2,33). An beiden Stellen wagt er es, den griechischen Begriff des mantis mit dem lateinischen augur wiederzugeben, obschon ihm als Mitglied des Augurenkollegiums selbstverständlich klar gewesen sein muß, daß die beiden Begriffe ganz verschiedene Dinge bezeichnen. Die römische Zukunftserkundung hat immer einen technischwissenschaftlichen Charakter gehabt. Interessant ist die theoretische Überlegung: die Gestalten des Mythos sind anerkanntermaßen erfunden, aber die Erfindung wäre nicht möglich gewesen, wenn man nicht an die Mantik als die Sache selbst geglaubt hätte (anders De legibus 2,33: die Seher wurden berühmt, weil jedenfalls die vetustas an sie geglaubt hat). Es folgen drei spektakuläre römische Beispiele; in allen drei Fällen ist ein warnendes Vorzeichen mißachtet worden; von einer bestimmten Gottheit, die in bestimmter Absicht das Vorzeichen gesandt hätte, ist nicht die Rede. Die zwei ersten Fälle gehören zusammen in den Ersten Punischen Krieg. Die Schlacht von Drepanon 249 v. Chr. wurde zur Katastrophe für die Römer, weil die beiden Flottenkommandanten, die Konsuln P. Claudius Pulcher und L. Iunius Pullus sich über die warnenden Vorzeichen lustig gemacht hatten; De divinatione kommt dreimal (1,29; 2,71 und bes. 2,20) auf das Ereignis zurück. In De natura deorum ist das Material nicht nur dasselbe wie in De divinatione, sondern vermutlich auch dasselbe wie in dem fast völlig verlorenen De auguriis. Höchst charakteristisch ist, daß die griechischen Historiker Polybios 1,49-52 und Diodor 24,3-5 die Katastrophe zwar schildern, aber deren römische Interpretation als Strafe für die zynische Verachtung

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH

451

eines Vorzeichens nicht erwähnen; die in diesen D i n g e n sich äußernde römische Religiosität w a r den Griechen v o l l k o m m e n fremd. U m g e k e h r t wird man bei den beiden K o n s u l n fragen, ob es nicht gerade ihre griechische Bildung war, die sie zu Verächtern der römischen Kulttradition machte. A u c h daß Iunius Pullus die Schande nicht überleben mochte und Selbstmord beging, ist letzten Endes (wie der romantisch erfundene Selbstmord der Lucretia) griechischer, nicht römischer Stil. 8

D e m Jahre 217 v. Chr. gehört die Katastrophe des C . Flaminius

beim Trasimenischen See im Krieg gegen Hannibal an. N a c h römischer A u f f a s s u n g war auch sie die gerechte Strafe für die Mißachtung warnender Vorzeichen und die Mißachtung der G ö t t e r überhaupt. D e r empfindsame Historiker Coelius Antipater (Mitte 2. Jh. v. Chr.) scheint Flaminius durchgehend als einen frevelhaften «Theomachos» geschildert zu haben, der sich um keine Vorzeichen kümmerte (vgl. De 1,77-78; 2,21; 2,67; 2,71; dann Valerius M a x i m u s 1,1,5

un

divinatione

d I>6>6, sowie

Livius 21,62; 22,1; 22,3). P o l y b i o s 3,80-84 läßt abermals diesen römischen A s p e k t des Ereignisses völlig weg; doch w e n n C i c e r o ausdrücklich Coelius Antipater zitiert, so müssen wir folgern, daß auch bei den älteren römischen Berichterstattern ( C a t o hier, Ennius dort) nichts dieser A r t zu finden war. Etwas primitiv wirkt der Schluß: Wenn die Mißachtung der Vorzeichen dem römischen Reich schwere Niederlagen einbrachte, so m u ß dies umgekehrt bedeuten, daß die beispiellose M e h r u n g des Reiches jenen Feldherren verdankt wird, die sich f r o m m an die W i n k e der G ö t t e r hielten. Dies wiederum erlaubt die allgemeine Feststellung, daß die R ö m e r an Frömmigkeit überhaupt allen andern V ö l k e r n überlegen seien. In der Tat belegen dies in gewisser Weise die angeführten griechischen Historiker, die mit dieser Seite des römischen Wesens nichts anzufangen w u ß ten. V o n der die R ö m e r auszeichnenden Religiosität hören w i r auch sonst, bei C i c e r o vor allem in De baruspicum responsis 19; dann Valerius Maximus 1,1,8; Horatius, Carmina Apologeticum

3,6,5; Gellius 2,28,2; Tertullianus,

25 u. a. So konstatieren denn auch allgemein P o l y b i o s

6,56,6-7 und nach ihm Poseidonios (Frg. 81 ed. Theiler) die einzigartige Frömmigkeit der Römer. Sie dürfte noch in der Kaiserzeit ein Stück des römischen Sendungsbewußtseins gewesen sein. 9

Z u r Tradition des Augurenkollegiums gehört ohne Z w e i f e l die

ANHANG

452

hochaltertümliche Geschichte v o n A t t u s N a v i u s zur Zeit des dritten römischen Königs Tullus Hostilius. Sie wird hier derart k u r z resümiert, daß der Leser sogleich den ausführlichen Bericht in De

divinatione

1,31-37, auf den hier verwiesen sei, dazunehmen muß, um verstehen zu können, w o r u m es sich eigentlich handelt. Bemerkenswert ist freilich, daß C i c e r o hier Tullus Hostilius nennt, in De divinatione

aber Tarqui-

nius Priscus, und daß weiterhin v o n den z w e i Teilen der Erzählung (durch die Auguraldisziplin

findet

A t t u s N a v i u s die

wunderbare

Traube; ein W u n d e r bestätigt die hellseherische Fähigkeit des A t t u s N a vius) unser Text nur den ersten berücksichtigt, De divinatione

aber auch

die zweite Erzählung bringt, die als solche mit der Auguraldisziplin nichts zu tun hat. H a t sich C i c e r o da etwa an z w e i verschiedene Vorlagen gehalten? D a ß viele veteres scriptores v o n der Sache gesprochen haben, sagt De divinatione

1,31 ausdrücklich.

Unerwartet ist die Wendung des Gedankens, die nun folgt. Hatten wir bisher v o n der E n t w i c k l u n g der Religion durch die Jahrhunderte und v o n der einzigartigen Frömmigkeit der R ö m e r gehört, so wird nun der Zerfall der Auguraldisziplin beklagt; und z w a r wird die Schuld eindeutig der Gleichgültigkeit

der Nobilität zugeschoben, also jener

Römer, die nach H e r k u n f t und Stand vor allem verpflichtet wären, an der Tradition festzuhalten. M a n wird diese Polemik w e d e r v o n Ciceros Schrift De auguriis abtrennen dürfen (sie wirkt hier wie ein nachträglich eingelegtes Zitat) noch v o n De divinatione

1,28, w o auf eine ähnliche

A n k l a g e C a t o s verwiesen wird, ohne jeden Z w e i f e l aus einer seiner Reden, am ehesten natürlich aus seiner dünn, aber zureichend bezeugten Rede De auguribus (Frg. 220 Male.). D i e Nachlässigkeit betrifft vor allem die Vorschriften im Kriege (daß an den Kriegen die rei publicae salus hängt, ist eine Behauptung, die der E p o c h e C a t o s unzweifelhaft näher lag als derjenigen Ciceros), was mit drei Einzelheiten belegt wird: (a) Beim Uberschreiten eines Flusses m u ß ein entsprechendes A u g u r i u m eingeholt w e r d e n (dazu De

divinatione

1,77; F e s t u s p . 284,22-23 u n d p . 296,24-26 ed. Lindsay), (b) Was das Zeichen ex acuminibus

bedeutet, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. D i e

Parallelstellen sprechen v o n Feuererscheinungen, die sich an den Spitzen der L a n z e n ereignen können (vgl. etwa Livius 43,13,6; Tacitus, Annales 15,7; A r n o b i u s 2,67); die Schwierigkeit ist da nur die (längst konstatiert), daß solche physikalischen Phänomene unabhängig v o m guten oder

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN

BUCH

453

schlechten Willen der Menschen sich ereignen oder nicht. Nachlässigkeit ist in diesem Falle nur, sie zu ignorieren, wenn sie sich ereignet haben, (c) Hier werden zwei Vorschriften zusammengenommen. Die eine ist das durch ein Augurium veranlaßte feierliche Aufgebot der Männer zur Kampfbereitschaft (viros vocare), das andere das Recht des auf diese Weise zum Kampf aufgebotenen Mannes, unmittelbar vor einer Schlacht, deren Ausgang ungewiß ist, also voll bewaffnet (in procinctu) ein gültiges Testament zu errichten (dazu Gellius 15,27,3; Gaius 2,101; Paulus ex Fest. p. 96,28-29 ed. Lindsay). Dies alles ist jetzt verkommen. In merkwürdig schiefer Formulierung wird festgestellt, daß man heute Kriege beginnt, ohne Auspicia einzuholen und auf deren Aussage zu achten. De divinatione 2,76 wendet die Sache etwas anders: Heute wird ein Krieg eröffnet von Befehlshabern, die gar nicht berechtigt sind, überhaupt Auspicia einzuholen, Prokonsuln und Proprätoren. Das Ganze ist ein eindrucksvolles Beispiel für den strengen Formalismus, der im Prinzip die sakralen wie die profanen Institutionen Roms beherrschte und dem es nicht nur darauf ankam, daß etwas geschah, sondern darauf, daß es (wie in allen archaischen Kulturen) auf die richtige Weise geschah. In Athen haben diese Grundsätze wohl schon vor Beginn der uns faßbaren geschichtlichen Zeit ihre Bedeutung fast ganz verloren. 10 Wir kehren nach diesem Exkurs zur Frömmigkeit des alten Rom zurück, doch ist das unmittelbare Beweisziel, aus der Realität der Mantik auf die Realität der die Mantik anregenden Götter zu schließen, vergessen. Ein Paradestück altrömischer Frömmigkeit ist die Selbstaufopferung für die Res publica, die in der Familie der Decii hintereinander Vater, Sohn und Enkel vollzogen haben sollen (Konsuln 340, 312, 308, 297, 295, 279 v. Chr.). Dazu zunächst De divinatione 1,51 und äußerst charakteristisch in unserem Text 3,15 die Reduktion des religiösen Aktes auf ein einfaches psychologisches Kalkül. Der Akt selbst wird vielfach beschrieben, pompös bei Livius 8,9,4 ff. und 10,28,12 ff. (mit einer künstlich archaisierenden Formel), dann Seneca Epistulae ad Lucilium 6j, der andere als römisch, was trotz der N ä h e von Zeus kydistos

megistos

(Ilias 2 , 4 1 2 ) richtig ist. M a n wird nicht nur beachten, daß im Lateinischen die Wortgruppe maiores, maximus

einen anderen Gehalt hat als

die entsprechenden Wörter im Griechischen, sondern auch, daß unser Text selber optimus korrekt mit opes, ops (opimus der spolia opima) zusammenbringt. Iuppiter ist der, der «die Fülle» hat, was freilich durch die moralisierende Wiedergabe mit «der Wohltätigste» verdeckt wird.

49

ANHANG

8 65

W i r k e h r e n z u r N a t u r p h i l o s o p h i e z u r ü c k , u n d z w a r so, d a ß n u n

der R e i h e nach d e m o b e r s t e n Ä t h e r , der L u f t , d e m Wasser u n d der E r d e je eine göttliche P e r s o n z u g e o r d n e t w i r d . D e n Ä t h e r vertritt Iuppiter mit vier Belegen. D i e z w e i ersten sind aus E n n i u s , beide w o h l aus d e m Thyestes, d e r erste s c h o n in 2,4, u n d der z w e i t e s c h w e r deutbar, w e i l der Sinn v o n exsecrari u n k l a r bleibt. O f f e n b a r r u f t der S p r e c h e n d e d e n F l u c h des l e u c h t e n d e n G e s t i r n s auf einen B ö s e w i c h t herab. D e r dritte B e l e g steht w i e die Parallele De divinatione

2,42 i m Z u s a m m e n h a n g mit C i c e r o s De

auguriis: bei B l i t z u n d D o n n e r darf keine V o l k s v e r s a m m l u n g abgehalten w e r d e n . N o c h in C i c e r o s Z e i t hat man sich d e m n a c h an s o l c h e sehr alten V o r s c h r i f t e n der K u l t r e l i g i o n gehalten; der U n t e r s c h i e d z u den athenischen Verhältnissen in v e r g l e i c h b a r e r Z e i t ist flagrant. D e n S c h l u ß bildet ein Z i t a t aus einer nicht identifizierten T r a g ö d i e des Euripides (Frg. 941 N . ) . D i e U b e r s e t z u n g k a n n v o n C i c e r o selbst stammen. D i e V o r s t e l l u n g , daß der h ö c h s t e R a u m u n d O r t der G o t t h e i t z u k o m m t , ist uralt u n d w e i t verbreitet, w i e A r i s t o t e l e s , Über den Himmel

270b 6 - 7 , a u s d r ü c k l i c h

feststellt. 66

A n d e r s steht es mit d e m L u f t r a u m , der schematisch z w i s c h e n

F e u e r u n d Wasser e i n g e o r d n e t ist. D i e E t y m o l o g i e v o n H e r a als liegt nahe u n d scheint s c h o n bei E m p e d o k l e s (Fragmente

der

Vorsokra-

tiker 31 A 3 3 u n d Β 6) v o r a u s g e s e t z t z u sein. D a ß sie S c h w e s t e r u n d G a t tin des Z e u s ist, sagt Ilias 16,432; aus Vergil, Aeneis gern, d a ß u n s e r e Stelle soror et coniunx

1,46-47, darf man f o l -

ein Zitat aus E n n i u s ist. D i e la-

teinische E t y m o l o g i e f ü h r t ihren N a m e n w i e d e n j e n i g e n Iuppiters (2,64) auf iuvare

zurück.

Es f o l g t u n t e r B e r u f u n g auf die D r e i t e i l u n g der W e l t ( Z e u s die o b e r e , H a d e s die untere Welt u n d P o s e i d o n das M e e r ) bei H o m e r ,

Ilias

1 5 , 1 8 7 - 1 9 3 , N e p t u n u s als B e h e r r s c h e r des M e e r e s mit gelehrter E t y m o logie, allerdings reichlich gewalttätig: D i e W e i t e r b i l d u n g v o n P o r t u s z u P o r t u n u s (der nach V a r r o , De lingua Latina 6,19, in R o m einen T e m p e l u n d ein Fest, Portunalia, hat) ist erheblich einleuchtender als diejenige v o n nare z u N e p t u n u s , w a s 3,62 auch ironisch konstatiert. D e n n o c h ist es u n w a h r s c h e i n l i c h , d a ß C i c e r o diese E t y m o l o g i e selber g e s c h a f f e n hat; v o n V a r r o , De lingua Latina

5,72, s t a m m t sie freilich nicht. Ü b e r N e p -

tunus als K u l t g o t t h e i t w i s s e n wir, s o w e i t w i r sehen, n a h e z u nichts; es hat sich a u c h keine m o d e r n e E t y m o l o g i e des N a m e n s d u r c h g e s e t z t . D a die P h i l o s o p h i e keine U n t e r w e l t im Sinne H o m e r s u n d H e s i o d s a n n i m m t ,

KOMMENTAR

ZUM ZWEITEN

BUCH

499

wird hier der alte Unterweltsgott zum Gott der Erde. Benutzt werden zwei gleichermaßen falsche Etymologien. Denn weder hat Dis Pater (eine alte Nebenform zu Iuppiter) etwas mit dives zu tun, noch dürfte trotz Piatons Kratylos 403 Α der griechische Pluton so einfach mitploutos zusammenhängen. Pluton ist schwerlich der Gott, der schlichtweg «reich macht», doch hat die scheinbar sich aufdrängende Etymologie die ursprüngliche Bedeutung des Gottes vollständig untergehen lassen. Man könnte außerdem anmerken, daß die schöne Wendung, daß «alles in die Erde hinein vergeht und aus der Erde entsteht» keineswegs auf die Vorstellung von einer Erde, die «reich macht» hinführt. Cicero mag hier stark gekürzt oder verschiedene Dinge ungeschickt kombiniert haben. Interessant ist, daß Cicero die varronische Ableitung Proserpinas von proserpere, die er gekannt haben muß, stillschweigend ablehnt und sich an die griechische Persephone hält. Zum alten Mythos, daß Demeter überall vergebens ihre verschwundene Tochter sucht (ausführlich im homerischen Demeterhymnus), wird lediglich beigesteuert, daß Proserpina das in der Erde verborgene und unauffindbare Samenkorn repräsentiert. 67 Etwas unerwartet ist sodann von Ceres als der Mutter Proserpinas die Rede, obschon sie schon in 2,62 als Mutter von Liber und Libera vorgestellt worden war; dies ist eine ziemlich starke Inkonzinnität. Zwei Etymologien werden angeboten, die erste, Ceres von gerere, mit Sicherheit falsch, die zweite, Demeter von ge meter vielleicht richtig. Ceres ist eine altitalische Gottheit, doch welches ihr ursprünglicher Bereich war, erkennen wir nicht mehr (vgl. immerhin Plinius, Naturalis historia 18,12). Die römische Gottheit der Erde war die hier nicht erwähnte Tellus. Deutlich ist, wie das aus dem Hellenismus übernommene Spiel der Etymologien, dazu das Bedürfnis, die römischen Götter den griechischen anzugleichen, die genuin römischen Kulttraditionen verwirrt hat. Mit Mavors-Mars beginnt eine neue Liste von acht Gottheiten. Mars ist eine der wichtigsten und am weitesten verbreiteten altitalischen Gottheiten, von der die Marsi wie die Mamertini ihren Namen haben. Die Etymologie ist ebenso dürftig wie diejenige, die Varro gibt (De lingua Latina 5,73): quod maribus in hellopraeest. Noch schlimmer steht es mit Minerva, bei der Cicero bis zur Unverständlichkeit gekürzt hat. Firmicus Maternus, De errore profanarum religionum 17,3, wird recht haben

5oo

ANHANG

mit der Erklärung, daß beides sich auf den Krieg bezieht: Sie «mindert» die K r a f t der Feinde und «droht» ihnen. D e r wirklichen Bedeutung dieser Gottheit, die in mehreren italischen Städten seit ältester Zeit Stadtherrin und Stadtschützerin war, wird diese primitive Erklärung in keiner Weise gerecht. Anspruchsvoller ist die Behandlung der drei nächsten Gottheiten Ianus, Vesta und Penaten. Ianus ist eine rein römische Gottheit, und keine griechische Gottheit ist mit ihm vergleichbar, was interessante Folgerungen erlauben könnte. E r ist der G o t t des A n f a n g s , des Eingangs und der Durchgänge. Seine Bedeutung zeigt sich nicht nur im Kult, sondern auch in den profanen Begriffen, die Cicero nennt und deren Verbindung mit dem N a m e n des Gottes nie ganz vergessen wurde. Daß er G o t t des A n f a n g s ist, führte zur Annahme, daß er auch chronologisch der erste aller italischen G ö t ter gewesen sein müsse, und daraus, daß er der G o t t der Durchgänge ist, entnahm man (Cicero selbst?) die Etymologie ab

eundo.

Sein Gegenstück ist Vesta, die als Schützerin des Innersten des H a u ses rituell ebenso als letzte angerufen wird wie Ianus als Schützer der G r e n z e nach außen als erster. Ihr durch die Virgines Vestales besorgter Kult ist urrömisch (vgl. K . Latte, S. 208 ff.), und ob und wieweit eine Beziehung zur griechischen Hestia (die bei den Griechen, soweit w i r sehen, nie einen Staatskult hatte; vgl. dazu etwa Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube

der Hellenen,

Bd. 1, Berlin 1 9 3 1 , S. 15 5 ff.) besteht, ist sehr

zweifelhaft. 68

D e r ältesten römischen Religion gehören auch die D i penates

(poetisch, also bei Ennius auch Dipenetrales)

an, nicht nur wie Vesta die

Götter des Herdfeuers, sondern des Ganzen, w o r i n man zu Hause ist. Wie wichtig dem R ö m e r die Kontinuität des «Zuhause» war, zeigt die Geschichte des Aeneas, der eben diese Kontinuität mit allen Mitteln zu bewahren hat. A u c h da gibt es kein griechisches Gegenstück, und Cicero selbst kennt keine sichere Etymologie. Wir wissen auch nicht, wie sich die Wörter penus («Notvorrat an Nahrung»; vgl. Gellius 4 , 1 , 1 7 ) und penes, penitus, penetrare

zueinander verhalten.

Es folgt eine letzte G r u p p e von drei Göttern. A p o l l o n gehört zu den ältesten unter den Göttern, deren N a m e n und Kult die R ö m e r v o n den Griechen (einer benachbarten Griechenstadt?) übernommen haben. E r wird hier äußerst summarisch mit dem Sonnen-

K O M M E N T A R ZUM Z W E I T E N gott verglichen (schon Piaton, Kratylos

501

BUCH

405 D E ) , was zu einer primiti-

ven Ableitung des Sol v o n solus Anlaß gibt. N e b e n ihm steht bei den Griechen Artemis, die die R ö m e r mit der altitalischen Diana identifiziert haben; diese wurde damit zur Mondgöttin, was sie von Hause aus keineswegs ist. Etymologisch assoziiert wird Lucina, doch kennt Cicero selbst keine Diana Lucina, sondern nur eine Iuno Lucina, die den Frauen bei der Geburt beisteht. Umgekehrt verweist er auf eine griechische A r temis Phosphoros, die aber wiederum vergleichsweise selten und nie als Geburtshelferin bezeugt ist. Weiter springt er über zu einer Diana O m nivaga, die w i r sonst nicht kennen und die (polemisch gegen wen?) nicht etwa die umherschweifende Jägerin, sondern den M o n d als einen der sieben Planeten bezeichnen soll. Cicero hat da etwas planlos verschiedene Notizen aneinandergehängt. 69

Es folgt eine E t y m o l o g i e von Diana als Mondgöttin, und damit

wird sie nochmals Geburtshelferin, einfach weil die Perioden der Schwangerschaft nach Monaten berechnet werden. Wer Diana in den Staatskulten italischer Städte war, erfahren wir nicht. Hübsch ist der Schluß mit einer leicht ironisch kolorierten G e schichte, die der Historiker Timaios von Tauromenion (Fragmente der griechischen

Historiker

566 F 150) über die Geburt Alexanders d. Gr.

und den gleichzeitigen Brand des großen Artemistempels in Ephesos am 2 1 . Juli 356 v. Chr. überliefert hat. Überraschend folgt die letzte Gottheit dieser Reihe, Venus, ohne den geringsten Hinweis

auf ihr traditionelles griechisches

Gegenstück

Aphrodite. Es bleibt bei einer rein lateinischen Etymologie, die freilich über das Wesen der Gottheit nahezu nichts aussagt; dazu leider viel zu knapp eine Bemerkung über das Verhältnis von Venus zum Worte venustas. Ein Zusammenhang besteht ohne jeden Zweifel, doch da Cicero nicht präzisiert, was er unter Venus und was unter venustas

versteht,

so bleibt es unklar, warum er venustas lieber von Venus ableiten möchte als umgekehrt. Wir haben nur den bestimmten Eindruck, daß er, aus welchem G r u n d auch immer, diese Venus von der Dreiheit C u p i d o , Voluptas (Volupia) und Lubentina Venus, die er in 2,61 erwähnt hatte, vollständig abtrennen will. Wir unsererseits kennen den Bereich der altrömischen Venus sehr schlecht; nur daß sie nicht mit der griechischen (und vor allem hellenistischen) Aphrodite vermengt werden darf, steht fest.

502 70

ANHANG D a ß C i c e r o d e n g a n z e n A b s c h n i t t auffallend nachlässig k o m -

p o n i e r t hat, z e i g t der Einsatz. In 1,63 w a r v o n n a t u r p h i l o s o p h i s c h e n E r kenntnissen die R e d e g e w e s e n , die die D i c h t e r in e r f u n d e n e u n d absurde G e s c h i c h t e n u m g e s e t z t hatten. D i e s b e z o g sich u n z w e i f e l h a f t auf H e siods Theogonie,

d o c h die anschließende teils e t y m o l o g i s c h e , teils na-

t u r p h i l o s o p h i s c h e Interpretation der vier E l e m e n t e auf vier g r o ß e G ö t ter hin hat d a m i t nichts z u tun, e b e n s o w e n i g die mit M a v o r s einsetzende u n d mit V e n u s schließende Reihe. D a s scharfe U r t e i l in 2,70 k a n n nur H e s i o d gelten und ignoriert v ö l l i g alles andere. D i e P o l e m i k geht hier auch w e i t e r u n d k a n n sich nur auf H o m e r u n d H e s i o d b e z i e h e n , w i e dies s c h o n längst bei X e n o p h a n e s (Fragmente der Vorsokratiker

21 Β 13 ff.)

g e s c h e h e n war. W e n n b e h a u p t e t w i r d , man habe die S c h w ä c h e der M e n schen, v o r allem deren A n f ä l l i g k e i t f ü r L e i d e n s c h a f t e n , die die R u h e der Seele stören, auf die G ö t t e r übertragen, so k o m m t dies seltsamerweise E p i k u r , Kyriai Doxai

N r . 1, nahe. D a ß dabei die sehr alte u n d uns nur

n o c h ζ . T. verständliche T i t a n o m a c h i e u n d die u m g e k e h r t j u n g e G i g a n t o m a c h i e als K a m p f z w i s c h e n d e n M ä c h t e n des H i m m e l s u n d d e n M ä c h ten der E r d e eine w e s e n t l i c h e R o l l e spielt, ist klar. 71

D a n n w i r d w i e d e r i m Sinn v o n 2,66-67

v o n

d e n K u l t g ö t t e r n , die

die E l e m e n t e vertreten, g e s p r o c h e n , w e i t e r h i n in sehr allgemeinen W e n d u n g e n v o m w a h r e n G o t t e s d i e n s t (vgl. 1,45; d a ß z u r reinen G e s i n n u n g auch der G e b r a u c h der g e z i e m e n d e n G e b e t s f o r m e l n tritt, w i r d man w o h l r ö m i s c h nennen d ü r f e n ) , w o r a u f g r u n d s ä t z l i c h sinnvoll eine B e merkung über den Gegensatz v o n G l a u b e n und Aberglauben folgt. 72

W ä h r e n d indessen d e r griechische B e g r i f f der deisidaimonia

in

sich d u r c h s i c h t i g ist, hat e v i d e n t e r m a ß e n s c h o n die ciceronische Z e i t nicht m e h r g e w u ß t , w a s d e r lateinische B e g r i f f der superstitio

eigentlich

besagen w i l l . S o k o m m t es hier z u einer g e r a d e z u abenteuerlich e t y m o logisierenden D e u t u n g s o w o h l v o n superstitio

wie auch von

religio.

B e i d e D e u t u n g e n s t a m m e n w o h l v o n C i c e r o selbst; diejenige v o n superstitio

w i r d bei Lactanius, Divinae

institutiones

4,28,13, a u s d r ü c k l i c h

d u r c h eine andere, k a u m w e n i g e r u n b e f r i e d i g e n d e , ersetzt; bei scheint A u g u s t i n u s , Retractationes nen, eine v o n relegere

religio

1,13,9, z w e i Interpretationen z u k e n -

( C i c e r o ) u n d eine andere v o n religare.

sprüngliche Sinn scheint indessen auch hier w i e bei superstitio

D e r urvollstän-

dig in Vergessenheit geraten z u sein, u n d auch die m o d e r n e S p r a c h w i s senschaft hat keine ü b e r z e u g e n d e K l ä r u n g b r i n g e n k ö n n e n .

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH

503

Damit gelten die zwei ersten Punkte des Programms 2,3 als erledigt. 2,4-44 hatte die Existenz v o n Göttern bewiesen, 2 , 4 5 - 7 2 ihr besonderes Wesen aufgezeigt. Daß die beiden Punkte faktisch nicht voneinander getrennt werden können, wurde schon bemerkt. 73

Es folgt der dritte Punkt, die Lenkung der Welt durch die Pro-

videntia ( 2 , 7 3 - 1 5 3 ) , der umfangreichste darum, weil er eine bis ins einzelne gehende Beschreibung der Schönheit des von den Göttern verwalteten K o s m o s erlaubt. Dies führt freilich zu einem inneren Widerspruch, der zuweilen spürbar wird: Eine schlechthin vollkommene Welt ist notwendigerweise unvergänglich; die Stoa hat indessen gegen Aristoteles daran festgehalten, daß die Welt periodisch sich in Feuer auflöst und wieder aus dem Feuer sich entfaltet. Beides zu vereinigen w a r nicht einfach. Deutlich ist auch das taktische Problem, das sich dem Stoiker stellt. Daß unsere Welt viel zu unvollkommen ist, als daß man annehmen dürfte, sie sei von einer fürsorglichen Gottheit geschaffen und gelenkt, haben sowohl E p i k u r wie auch die aporetische Akademie des Karneades erklärt. D e r Akademiker jedoch will nicht als Bundesgenosse Epikurs gelten. U m diesen Eindruck zu vermeiden, wird zunächst sehr grob gegen E p i k u r polemisiert und der Akademiker als der einzig ernsthafte Gegner der Stoa dargestellt, was freilich nicht hindert, daß später der Stoiker immer wieder die Lehre Epikurs zu widerlegen bemüht ist. D e n Epikureern wird zunächst vorgeworfen, daß sie die Lehren der anderen entweder nicht kennen oder mißverstehen. Als Beispiel gilt die Bemerkung des Vellerns in 1 , 1 8 über die stoische Pronoia, ein merkwürdig schlecht gewähltes Beispiel, sofern philosophisch kaum etwas darauf ankommt, ob diese Pronoia als eine selbständige Gottheit (als was sie in der Stoa zweifellos oft beschrieben wurde) oder als eine bloße Qualifikation

der Götter überhaupt verstanden wird. D e r Begriff der anus

fatidica

(griechisch?) suggeriert das Bild v o n abergläubischen und A b e r -

glauben verbreitenden alten Weibern. Daß C i c e r o mit dem Verweis auf das Gespräch des vorangehenden Tages ein Versehen unterlaufen ist, ist längst gesehen. Die Frage bleibt offen, ob er ursprünglich beabsichtigt hat, das G a n z e auf drei Tage zu verteilen, einen Tag des Epikureers, einen zweiten des Stoikers und einen dritten des Akademikers. 74

Pedantisch wird der Fall der Pronoia verglichen mit demjenigen

der en Areio pago boule, w o man zuweilen nur von boule reden kann, ohne zu präzisieren. Das Beispiel ist evident griechisch und setzt ver-

ANHANG

5°4

mutlich voraus, daß der A r e o p a g als der älteste athenische Gerichtshof in Ciceros Zeit noch oder wieder existierte. Die römische Verwaltung hatte wohl ein Interesse daran, diese Institution als einen Faktor der politischen Stabilität in Athen zu schützen. Wiederum ist merkwürdig, wie wichtig der Stoiker diesen Punkt nimmt (arbitrato,

existumato)

und wie

rücksichtslos der Stoiker das Versehen des Vellerns zu einem Beispiel der epikureischen Unbildung hochstilisiert. D e r Protest steht f ü r unsere Begriffe in keinem Verhältnis zu der inkriminierten Sache. D e r R ö m e r ist allerdings liebenswürdig, und so erklärt er, die V o r w ü r f e gelten nicht dem Partner, sondern E p i k u r persönlich, der als ungebildet, grob und witzlos (vgl. 1,85) geschildert wird. Wir müssen natürlich, wie immer in diesen Fällen, vollständig vergessen, daß Ciceros bester Freund Atticus selber Epikureer war. 75

Die systematische Genauigkeit des Stoikers kommt wieder zum

A u s d r u c k (vgl. 2,3). fundamental sind drei Thesen: ( 1 ) A u s der Existenz und dem Wesen der Götter folgt, daß sie die Welt verwalten. (2) Alles ist der natura sentiens unterworfen und wird v o n ihr gelenkt. D a kommt also einephysis aisthetike(?)

ins Spiel, von der w i r weder hier noch spä-

ter (2,81-90) erfahren, in welchem Verhältnis sie zu den Göttern steht. Die beiden miteinander seit alters konkurrierenden Mächte, Gottheit und Natur, scheinen beziehungslos nebeneinander zu figurieren. Vollends unverständlich ist der Nachsatz, daß diese wahrnehmungs- und empfindungsfähige N a t u r durch «beseelte Prinzipien» (archai

empsy-

cboi) erzeugt sei. Es fehlt zudem jeder griechische Text, der erklären könnte, was diese archai physeos sind. Cicero hat einmal mehr maßlos gekürzt. (3) Die Vollkommenheit der Welt selbst beweist, daß sie von einer höheren Instanz regiert wird. Es sei hier schon angemerkt, wie charakteristisch es f ü r dieses Denken ist, daß sein Blick ausschließlich auf «die Natur», deren Ausgeglichenheit und Übersichtlichkeit, gerichtet ist und nicht auf die Welt des Menschen und der Geschichte, der eine solche Vollkommenheit durchaus abgeht. Abgehandelt werden die drei Thesen in 2,76-80, 8 1 - 9 0 und 9 1 - 1 5 3 . 76

Mit einer rigoros vereinfachenden Alternative wird begonnen:

Entweder gibt es keine Götter oder, wenn es Götter gibt, so ist ihr G e schäft notwendigerweise die Verwaltung der Welt. Von einer dritten Möglichkeit, daß die Götter existieren, sich aber um die Welt nicht kümmern, ist nicht die Rede.

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN

BUCH

5°5

Überraschend ist, daß einesteils Demokrit und Epikur voneinander unterschieden (Demokrit spricht von simulacra - homoiomata(?), Epikur von imagines - eidola), andernteils beide global als Atheisten bezeichnet werden, was uns in die Nähe der Polemik des Poseidonios (1,123-124) führt. Dann wird sozusagen umgekehrt argumentiert. Die Welt ist vollkommen, wird also verwaltet, und zwar entweder durch die Götter oder durch eine Instanz, die den Göttern noch überlegen ist. Dies könnten nur entweder eine unbeseelte Natur oder eine Notwendigkeit (ananke) sein. Das erste wird die Theorie des Peripatetikers Straton sein, den 1,3 5 zitierte und auf den 2,81 anspielt; der Begriff der Ananke wird häufig verwendet, aber fast nie expliziert. Es ist die in der Sache selbst beruhende innere Notwendigkeit, die nicht weiter erklärbar und ableitbar ist; ein in gewissem Sinne charakteristisch griechischer Begriff; die Dinge «sind, wie sie sind». 77 Die Widerlegung scheint einfach von der Definition der Gottheit auszugehen. Ist das an Macht umfassendste und an Rang höchste Wesen Gott, so ist es weder einer unbeseelten Natur noch einer Notwendigkeit nachgeordnet - womit allerdings die Frage nach seiner Relation zur beseelten Natur, die zuvor erwähnt wurde, nicht beantwortet ist. Sind die Götter beseelt, so sind sie vernunftbegabt (logikoi), und sind sie dies, so sind sie fürsorgend (pronoetikoi). Dazu die Alternativen: entweder wissen sie nicht, was «die größten Dinge» sind oder sie wissen es, können sie aber nicht bewältigen. Doch mit der Definition der Götter ist Unwissenheit und Schwäche unvereinbar. Diese Überlegung kommt einem Beweisgang Epikurs, den Lactantius, De ira Dei 13,19-21, wohl aus dem verlorenen Teil des dritten Buches von De natura deorum erhalten hat, bemerkenswert nahe. Es handelt sich um das Verhältnis Gottes zu den Übeln in der Welt, die die Stoa entweder ignoriert oder bagatellisiert: entweder (a) will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder (b) er kann es und will es nicht, oder (c) er kann es nicht und will es nicht, oder (d) er kann und will es; und wenn der Fall (d) zutrifft, der allein mit dem Begriff der Gottheit übereinstimmt, warum tut er es dann nicht? Die epikureische Schlußfolgerung (vgl. Sextus Empiricus, Grundzüge derPyrrhonischen Philosophie 3 , 1 0 - 1 1 ) ist, daß Gott und die Welt überhaupt nichts miteinander zu schaffen haben. Die Götter leben

50 6

ANHANG

in ihrer Vollkommenheit f ü r sich, und die Welten sind von selbst und ohne göttliches Eingreifen entstanden. D e m Beweisgang kann nur ausweichen, w e r entweder dem das G u t e wollenden G o t t einen Gegengott gegenüberstellt oder die Existenz und Relevanz des Übels bestreitet (wie dies in späterer Zeit der christliche Schriftsteller Irenaeus v o n L y o n , an die Stoa sich anlehnend, gegen die Gnosis getan hat). 78

M e r k w ü r d i g ist die nächste Folgerung: Wenn die G ö t t e r beseelt

und vernunftbegabt sind, haben sie auch untereinander eine politische Gemeinschaft (politike koinonia) und verwalten miteinander gemeinsam die Welt als ihre Polis. In sich notwendig ist diese Folgerung nicht. Ihre Absicht ist offenbar einesteils, gegen E p i k u r die politische Dimension in der Theologie zu verankern (bei Epikur selbst leben die Götter in einer strikt unpolitischen Geselligkeit), und andernteils, wie vor allem aus De legibus 1 , 2 1 - 2 3 hervorgeht, den Begriff eines f ü r Götter und Menschen gleichermaßen verbindlichen Gesetzes zu gewinnen (was wiederum als eine Exegese Heraklits, Fragmente

der Vorsokratiker

22 Β 1 1 4 , gelten

kann). 79

So werden G ö t t e r und Menschen einander so nahe wie möglich

gerückt. Gemeinsam ist ihnen die Vernunft und von dieser ausgehend der theoretische Begriff der Wahrheit und der praktische Begriff des G e setzes. D a außerdem die Götter den Menschen vorangehen (vgl. 1,90), ergibt es sich, daß der Mensch phronesis und nous von den Göttern empfangen hat. N i c h t ungeschickt wagt hier Cicero den Sprung zur römischen Kultrealität, von der schon 2,61 gesprochen hatte. Vier geistige Kräfte werden als Götter verehrt, weil sie Göttern und Menschen gemeinsam sind. Nicht leicht zu sagen ist freilich, wie w i r uns die Kultbilder von Mens, Fides, Virtus, Concordia vorzustellen haben. Es folgt der nächste Schritt. D i e Götter haben nicht mir phronesis und logos wie wir, sondern benutzen sie auch wie wir, allerdings so, daß sie das, was bei uns in unvollkommener Weise vorhanden ist, vollkommen besitzen

(vgl.

2,33-39)· 80

Das Feld der Betätigung der Götter ist also die ganze Welt. M a n

sieht, wie in der Alternative, daß G o t t und Mensch entweder radikal verschieden oder einander so ähnlich wie möglich sind, der zweite Fall konsequent durchgespielt wird. Damit ist der erste der in 2,7$ vorgesehenen Punkte erledigt. Z u r A b r u n d u n g wird noch einmal auf 2,39-44 verwie-

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH

507

sen, w o gelehrt wurde, die Götter seien nichts anderes als die sichtbaren Gestirne, der H i m m e l und die Welt selbst (die damit gleichzeitig Subjekt und Objekt der Vorsehung ist. D i e Stoa hat sich nie ganz entschieden, ob sie die Welt platonisierend als ein Werk der Gottheit oder aristotelisierend als die Gottheit selbst zu begreifen hatte). 81

D e r zweite Abschnitt ( 8 1 2 - 9 0 ) gilt zumeist als derjenige, in dem

der Einfluß des Poseidonios und seines biologisch-organologischen N a turbegriffes am stärksten hervortritt (Poseidonios Frg. 361 Th. mit Kommentar). Wir begnügen uns hier mit der Feststellung, daß der Z u sammenhang der Natur, die alles verwaltet, mit den Göttern, die alles verwalten, höchst undurchsichtig bleibt. Wir verstehen, daß bestimmte Philosophen den durch zahllose religiöse, kultische, theologische und mythologische Traditionen vorbelasteten Begriff der Gottheit meiden und ihn durch den neutral unverbindlichen Begriff der N a t u r ersetzen wollten. A b e r wie ist es zu verstehen, daß man beides nebeneinander bestehen läßt? Z w e i Naturbegriffe werden einander gegenübergestellt. D e r erste wurde schon 2,76 berührt als derjenige Stratons. E s ist der Begriff einer unpersönlich wirkenden K r a f t , auf den sich auch der Akademiker in Buch 3 berufen wird. D e r andere Begriff will in vollem U m f a n g denjenigen der Gottheit ersetzen; da haben wir eine vernunftbegabte Natur, die planmäßig vorgeht, die die Ursachen und Folgen aller Phänomene bedenkt und deren technisches Können unvergleichlich ist. Sie unterscheidet sich von der Gottheit nur dadurch, daß sie trotz ihrer Vernunftbegabtheit keine wirkliche dialogfähige Person ist und darum auch keinen Kult empfängt, letztlich eine Konstruktion, die zwischen Personalität und anonymer Dinglichkeit im Halbdunkel verbleibt. Mit einem Gedankensprung wird auf die Entwicklung hingewiesen, die v o m winzigen Samen zum ausgewachsenen B a u m oder Tier führt; mit einer solchen biologischen Entwicklung soll begreifbar gemacht werden, was man unter N a t u r zu verstehen hat. 82

D e m steht der andere, epikureische Naturbegriff gegenüber,

dessen Paradigma nicht die Entwicklung des Lebewesens ist, sondern die Reduzierbarkeit jedes beliebigen Körpers auf seine elementaren unvergänglichen Bestandteile, die Atome. Gegen sie macht der Stoiker mit Recht geltend, daß nicht nur die Teilbarkeit aller K ö r p e r zu beweisen ist, sondern auch zu zeigen wäre, wie aus den Teilen das kohärente Ganze

jo8

ANHANG

eines K ö r p e r s z u s t a n d e k o m m t . U n k l a r bleibt u m g e k e h r t , in w e l c h e m Verhältnis die organische E n t w i c k l u n g z u r technischen steht (die N a t u r als K ü n s t l e r i n , 83

Fabrikation

technites).

W e s e n t l i c h ist der Schritt v o n der Tatsache, d a ß die E r d e die

P f l a n z e n als L e b e w e s e n entstehen läßt u n d erhält u n d d a ß e b e n s o die Tiere u n d M e n s c h e n sich v o n der L u f t ernähren, z u der allgemeinen k o s m i s c h e n H y p o t h e s e , d a ß E r d e u n d L u f t selbst L e b e w e s e n sind. D i e E r d e w i r d ernährt v o n L u f t u n d Ä t h e r , u n d w a s v o n ihr als A u s d u n s t u n g (anatbymiasis)

aufsteigt, ernährt w i e d e r u m die L u f t u n d d e n Ä t h e r . S o

ist alles belebt, u n d gleichzeitig steht alles untereinander in W e c h s e l w i r k u n g . U n t e r s t ü t z t w i r d dies d u r c h die alte B e o b a c h t u n g , d a ß es die L u f t ist, die d e m A u g e das Sichtbare, d e m O h r das H ö r b a r e vermittelt. D a ß w i r überall v o n L u f t u m g e b e n sind, soll schließlich E p i k u r s B e h a u p t u n g , d a ß es ein Leeres gebe, w i d e r l e g e n . 84

D e r s e l b e n A b s i c h t dient a u c h der energische H i n w e i s auf die

K o n t i n u i t ä t (synecheia) drei

v o n allem mit allem in der Welt: K o n t i n u i t ä t der

Elementarbewegungen

(zentripetal,

z e n t r i f u g a l , kreisend)

und

K o n t i n u i t ä t i m A u s t a u s c h aller vier E l e m e n t e untereinander. D i e s läuft schließlich auf eine A u s d e u t u n g des heraklitischen Satzes hinaus, d a ß der W e g nach o b e n u n d nach unten derselbe sei (Fragmente der kratiker 85

Vorso-

22 Β 6o). N u r f l ü c h t i g w i r d die heikle Frage gestreift, o b der so v e r w a l t e t e

K o s m o s e w i g o d e r v e r g ä n g l i c h sei. D e r R e d n e r b e g n ü g t sich mit d e m N a c h w e i s , d a ß darauf nichts a n k o m m e ; d a ß die Welt v o n der N a t u r gelenkt w e r d e , bleibe i m einen w i e im anderen Fall bestehen. D a n n w i r d abermals z u m N a c h w e i s der G e o r d n e t h e i t d e r W e l t ausgeholt. Je z w e i Beispiele aus der T e c h n i k (sorgfältig geplanter A u f b a u eines H e e r e s , einer F l o t t e ) u n d aus d e r N a t u r ( O r g a n i s a t i o n

einer

P f l a n z e u n d eines Tieres) sollen d e n S c h l u ß erlauben, d a ß die Welt n o c h viel sorgfältiger organisiert ist als jedes P r o d u k t der T e c h n i k , u n d z w a r w i e d e r u m d u r c h die w a h r n e h m e n d e m p f i n d e n d e N a t u r . 86

W e s e n t l i c h ist der S c h l u ß v o m Teil auf das G a n z e , u n d z w a r u n -

b e d e n k l i c h mit d e m P a r a d i g m a , d a ß am M e n s c h e n die V o l l k o m m e n h e i t des O r g a n s der V e r a r b e i t u n g der N a h r u n g und des O r g a n s der F o r t p f l a n z u n g die V o l l k o m m e n h e i t des g a n z e n M e n s c h e n nach sich zieht. S o n d e r b a r exaltiert w i r d erklärt, f ü r alles einzelne, w a s die N a t u r v e r w a l t e , sei «die W e l t » g l e i c h z e i t i g E r z e u g e r , Vater u n d E r z i e h e r u n d

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH

509

Ernährer. Da wird deutlicher als irgendwo sonst eine Grundvoraussetzung der stoischen Theologie und Kosmologie sichtbar, die für uns kaum nachvollziehbare Hypostasierung des Kosmos zu einer planenden und handelnden Person. Die Personalität der homerischen Götter, die die frühe Philosophie so weit wie möglich durch unpersönliche Kräfte (das Warme, Kalte, Feuchte, Trockene usw.) hatte ersetzen wollen, kehrt hier wieder, als ob das Bedürfnis des Menschen, die übermenschlichen Dinge in den Kategorien der Person zu beschreiben, unüberwindbar wäre. Etwas unerwartet wehrt sich nun der Redner gegen den Verdacht, es könnte etwas an dieser Welt als unvollkommen getadelt werden. Davon war bisher nicht die Rede, doch daß Epikur anvisiert wird, ist klar. Die Erklärung des Stoikers ist bemerkenswert vorsichtig. Die Welt ist so vollkommen, «wie sie sein kann». 87 Dies wird in starker Verkürzung erläutert. Wer eine bessere Welt fordert, macht sie entweder nur schlechter oder fordert Unmögliches. Damit drängt sich die Frage auf, was der Konstruktion einer schlechthin vollkommenen Welt im Wege steht. Die Antwort wird im Bereich dessen zu suchen sein, was Lactantius, Divinae institutiones 2,8,10; 7,5,14, andeutet: Es ist das Material, das sich nicht vollständig durchformen läßt. Der unstoische Gegensatz von Geist und Materie muß fernbleiben. Dies hindert nicht die Annahme, daß die planende Natur im gegebenen Material nicht alles durchsetzen kann, was sie durchsetzen möchte (vgl. Aristoteles, Politik 1254b 27-34 u n d I 2 5 5 b 3-4)· Später allerdings wird die Materie geradezu zu der der Gottheit entgegenarbeitenden Kraft. So ist die Welt ebenso zweckmäßig wie schön eingerichtet, was entscheidend gegen Epikurs These spricht, die Welt sei beliebig und von selbst, als Ergebnis der Tyche und des Automaton entstanden. Neu eingesetzt wird mit einem Vergleich zwischen Natur und Techne. Wo die Techne plant, plant noch viel mehr die Natur. Drei Beispiele erläutern dies: (1) Wer eine Statue oder ein Gemälde sieht, schließt auf den Künstler, (2) wer in der Ferne ein Schiff fahren sieht, schließt auf die Lenkung durch einen Kapitän, (3) wer die Leistung einer Sonnenuhr oder einer Wasseruhr verfolgt, weiß, daß hier kein Zufall, sondern eine strenge Ordnung am Werk ist. Merkwürdigerweise wird dieser Hinweis auf die Sonnenuhr mit ihren astronomischen Implikationen nicht ausgenützt, sondern banal

5io

ANHANG

von der Technizität, die sich in allen drei Fällen zeigt, auf die Vernunftbegabtheit der Welt geschlossen, die damit zu einem absoluten Techniten wird. Die weiteren Konsequenzen, die sich aus der Interpretation der Welt als einer denkenden Person ergeben müßten, scheint der Stoiker nicht zu beachten. 88 Das folgende Gedankenexperiment strebt nach Anschaulichkeit, droht aber die Pointe zu verfehlen. Abstrakt formuliert: Wenn man einen mit größter Kunst konstruierten Himmelsglobus, an dem alle Gestirnbewegungen nachgebildet sind, zu Leuten brächte, die keine Ahnung davon hätten, wer dies fabriziert hat, so würden doch diese Barbaren selbstverständlicherweise folgern, daß hier ein vollkommen durchgeplantes Werk vorliege. Um so mehr müssen wir, die wir gebildet genug sind, um die unvergleichlich subtile Konstruktion der realen Welt begreifen zu können, folgern, daß auch da ein vollkommen geplantes Werk vorliegt; und um so unverständlicher ist es, daß die Epikureer gegen die evidenten Tatsachen darauf beharren, daß die Welt ein Ergebnis des Zufalls oder der bloßen Notwendigkeit sei. Die Einzelheiten sind beachtlich. Als Barbaren werden die Skythen (im äußersten N O der Oikumene) und die Britannier (im äußersten NW) genannt. Den Himmelsglobus hat Poseidonios konstruiert, und zwar vor kurzen (er mag ihn etwa zehn Jahre vor dem supponierten Datum des Dialoges seinen Freunden vorgeführt haben; vgl. dazu Frg. 361 und 95 Theiler). Poseidonios hat dabei zur Hauptsache die ältere Konstruktion des Archimedes nachgebildet, die auch De republica 1,21-22 meint. Daß er sich bei seinem langen Aufenthalt in Sizilien und Syrakus besonders mit dem Leben und den Leistungen des großen Mathematikers vertraut macht, ist eine naheliegende Vermutung; wir sind nach wie vor, ζ. T. gegen Theiler, der Meinung, daß Cicero alles, was er überhaupt von Archimedes weiß, von Poseidonios übernommen hat. Ebenso bleiben wir bei der Hypothese, Poseidonios habe dieser seiner Konstruktion selbst eine einführende und erklärende Schrift beigegeben. Da wird auch, was zu Poseidonios paßt, behauptet worden sein, die Geschichte der wissenschaftlichen Globuskontruktionen ließe sich bis auf den alten Thaies von Milet zurückverfolgen. Das Schlußergebnis ist klar; wenn wir die nachbildenden Leistungen des Archimedes und Poseidonios würdigen, so müssen wir um so mehr

K O M M E N T A R ZUM Z W E I T E N BUCH

JII

die Leistung der N a t u r bewundern, die zu diesen Konstruktionen das Original geschaffen hat. Ein knapper Exkurs sei hier erlaubt. Wenn das moderne Denken den Schluß von der kunstvollen Ausgewogenheit des sichtbaren K o s m o s auf einen unsichtbaren Planer, dem dies alles verdankt wird, nicht mehr annimmt, so besteht die Schwierigkeit weit weniger darin, daß uns die Welt, konkret unser Sonnensystem, in das die Erde eingegliedert ist, nicht mehr als derart perfekt ausgewogen erscheint wie der Stoa (eine gewisse Konstanz und Ausgeglichenheit der Verhältnisse wird man auch heute, zum mindesten f ü r die Spanne der letzten zehntausend Jahre, nicht bestreiten können). D i e Hauptschwierigkeit liegt anderswo. Die Antike hat f ü r die Welt ein Alter von fünf bis gegen zehntausend Jahren (nur selten mehr) angesetzt. Es versteht sich, daß eine so kurze Zeit f ü r eine langsame und kontinuierliche Entwicklung des Lebens «von der A m ö b e bis zum Menschen» keinen Platz verfügbar machen konnte; ohne eine beschleunigende Intervention einer energisch planenden N a t u r oder Gottheit konnte dies nicht zustande kommen. Die Moderne dagegen verfügt seit zweihundert Jahren über eine Reserve von vielen Millionen Jahren. Diese supponierten Zeiträume sind so ungeheuer, daß in ihnen eine äußerst bedächtige, Schritt f ü r Schritt vorgehende und mit dem Prinzip der auf jeder Stufe automatisch wirksamen Selektion des Lebensfähigen arbeitende Entwicklung mühelos untergebracht werden kann. Was in tausend Jahren unmöglich ist, kann in einer Million Jahre ohne weiteres möglich werden. 89

Vom Beispiel des Himmelsglobus gelangen wir zu einer dem rö-

mischen Leser bekannten Szene aus einer Tragödie des Accius, der Medea

oder den stofflich nahe verwandten Argonautae

(V. 3 9 1 - 4 0 2

Rib.). D e r Hirt hat noch nie ein Schiff gesehen und erblickt nun v o m Berg herab das schrecklich lärmende Ungetüm. Die Feinheiten der dichterischen Gestaltung haben wir hier nicht nachzuweisen. E s k o m m t hier nur auf die Situation und die Sache an. D e r Hirte meint zunächst, es sei ein unbekanntes Naturungeheuer, da sich da nähert. Wie er aber auf dem Schiff die jungen Leute sieht und ihren Gesang hört, begreift er, daß es sich um ein kunstvoll gebautes Menschenwerk handelt, das durch Menschen an B o r d in G a n g gehalten wird. 90

Genauso sollen auch die Philosophen, die der Anblick der Welt

zuerst verwirrt hat, dann schärfer hingeblickt und die vollkommen re-

ANHANG

gelmäßigen und unveränderlichen Bewegungen der Welt zur Kenntnis genommen haben, einsehen, daß diese Welt nicht bloß vernunftbegabte Bewohner, sondern auch einen überlegenen Lenker des Ganzen besitzt, der hier mit dem im Lateinischen noch wenig eingebürgerten Worte architectus ausgezeichnet wird. So viel zur Parallele zwischen dem Eindruck, den die Globuskonstruktion bei den Barbaren erweckte, und dem Eindruck, den das vorbeifahrende Schiff auf den einfachen Hirten vom Lande macht. Die Parallele ist freilich unvollkommen: Was den Hirten aufmerksam und beruhigt macht, ist nicht die Kunst, mit der das Schiff gebaut ist und in Gang gehalten wird, sondern die heitere Anwesenheit der jungen Männer auf dem Schiff. Dies genügt ihm, so daß er keinen Anlaß sieht, nach dem verantwortlich planenden Lenker des Schiffes zu fragen. Latente Polemik gegen Epikur lag schon bei der Beschreibung der Globuskonstruktion vor. Am Ende des Accius-Beispieles kehrt sie wieder. Die Gegner sind gar nicht fähig, die Schönheit der Welt ins Auge zu fassen. Der Begriff des admirabile, des thaumasion erschien schon zuweilen (2,51.56.7$), wird aber von da an immer wichtiger, und dies von vornherein in seiner ganzen Spielbreite. Denn zunächst gilt, daß das Alltägliche keine besondere Aufmerksamkeit erregt oder verdient: es sind die ungewöhnlichen Ereignisse, die das Denken in Bewegung bringen, eben die thaumasia. Der Begriff gleitet aber auch sehr früh ab zur Bezeichnung von Kuriositäten, die erstaunlich sind, ohne eine weitere systematische Bedeutung zu besitzen. Sie werden der Stoff der gebildeten Unterhaltungsliteratur, von den Mirabiles auscultationes, die zu Unrecht in der Schriftenmasse des Aristoteles figurieren, obschon sie allgemein peripatetischer Provenienz sind, bis hinab zu der Poikile historia (Varia historia) des Aelian, die, aus erstklassigen Quellen zusammengestellt, doch nur gebildete Unterhaltung ohne wissenschaftliche Ansprüche zu geben suchte. Dazu gehören auch Ciceros Admiranda, als Schrift nur dürftig bezeugt (Plinius, Naturalis historiae 31,12.51). Daß Querverbindungen zwischen dieser Schrift und den in 2,91-167 aufgehäuften Materialien bestanden haben müssen, daran besteht kein Zweifel. 91 Auf 2,84 folgt ein etwas ausführlicheres Bild des Kosmos im ganzen als Einleitung in den dritten der in 76 angezeigten Teile: Der Kosmos ist so vollkommen, daß die Annahme eines weisen Lenkers unausweichlich wird.

K O M M E N T A R ZUM ZWEITEN BUCH

513

D i e Erde ist umgeben v o n der L u f t , diese v o m Äther, w o z u mit einer leisen absichtlichen Pedanterie angemerkt wird, die L u f t (aer) sei ein griechisches, aber längst eingebürgertes Wort (war das genuin lateinische Wort spiritus}), der aither sei auch griechisch und müsse erst noch eingebürgert werden; dazu die N o t i z über einen kleinen Regiefehler des Tragikers Pacuvius aus dessen Chryses (V. 90 Rib.), den C i c e r o auch De oratore 3,167, Orator 155 und De divinatione

1,131 (vgl. Varro, De lin-

gua Latina 5,17) zitiert. 92

Im Ä t h e r sind die Gestirne z u Hause, alle weit größer als die

Erde, v o r allem die Sonne. D a ist es immerhin zu einer Schulfrage geworden, o b die Sonne größer sei als die Erde oder genau so groß, w i e sie sich uns zeigt, schon bei Aristoteles, Von der Seele 428b 3-4. Bekannt ist, daß Heraklit (Fragmente der Vorsokratiker

22 Β 3), dann Epikur gegen

alle Berechnungen der A s t r o n o m e n daran festhielten, daß die Sonne so groß sei, wie sie sich uns zeige. Stark v e r k ü r z t folgt die schon bei X e n o phon, Memorabilien

4,3,8 (vgl. Piaton, Philebos

26 A B ) , belegte ein-

drucksvolle These, daß ihre Distanz z u r Erde unveränderlich die für uns zweckmäßigste bleibt, so daß w i r weder an ihrer zu großen N ä h e verbrennen n o c h an ihrer z u großen Ferne erfrieren. Bei C i c e r o ist nur ein Teil der These Stehengeblieben. 93

Ausführlich und in drei Punkten wird gegen Epikur polemisiert:

(1) A u c h w e n n die A t o m b e w e g u n g bei Epikur keine ganz beliebige ist wie bei D e m o k r i t (der in dieser ganzen Polemik auffallend geschont wird; vgl. Fragmente

der Vorsokratiker

68 A 47), kann aus ihr u n m ö g -

lich ein geordneter K o s m o s entstehen. Ubersehen wird dabei, daß schon Empedokles mit seinem Prinzip der automatischen Selektion des Lebensfähigen (Fragmente der Vorsokratiker

31 Β 57-63) versucht hatte,

zwischen Beliebigkeit und Geordnetheit eine Brücke

herzustellen.

Berühmt ist das Beispiel der Buchstaben, das C i c e r o adaptiert und verk ü r z t hat (daß die Buchstaben aus G o l d sind, m u ß i r g e n d w o motiviert w o r d e n sein; H i e r o n y m u s , Epistulae

107,4,2, spricht in einer w o h l auch

aus C i c e r o entnommenen Parallelstelle v o n Buchstaben aus Buchsb a u m h o l z oder Elfenbein). O p e r i e r t wird mit dem alten lateinischen A l phabet v o n 21 Buchstaben (Quintiiianus, Institutio

oratoria 1,4,7)

un< ^

an die Stelle der homerischen Ilias hat C i c e r o die Annales des Ennius gesetzt; sie sind bis z u m Erscheinen v o n Vergils Aeneis unbestritten das klassische Epos R o m s gewesen.

514 94

ANHANG G e g e n E p i k u r w i r d (2) e i n g e w a n d t , d a ß seine A t o m e v o l l k o m -

m e n qualitätslos seien w i e das Seiende des Parmenides. Erst aus d e m Z u s a m m e n t r e f f e n b e s t i m m t e r A t o m t y p e n entstehen rätselhafterweise W a h r n e h m b a r k e i t u n d W a h r n e h m u n g . D e m o k r i t hatte s c h o n genau dasselbe gelehrt mit der K o n s e q u e n z , d a ß z w e i Stufen des Wissens z u u n t e r s c h e i d e n w ä r e n : D a s w a h r e u n d absolute W i s s e n v o n d e n A t o m e n u n d d e m L e e r e n u n d das variable u n d scheinhafte W i s s e n v o n d e n w a h r n e h m b a r e n P h ä n o m e n e n . E n d l i c h w i r d g e g e n E p i k u r (3) die A n n a h m e z a h l l o s e r W e l t e n ausgespielt, u n d z w a r v e r g e h e n in j e d e m A u g e n b l i c k existierende W e l t e n u n d entstehen neue Welten, w a s auf eine K o n s t a n z des G a n z e n bei u n e n d l i c h e r Variabilität des e i n z e l n e n hinausläuft (vgl. Μ*)· D i e s e m E n t s t e h e n u n d V e r g e h e n w i r d die eine e b e n s o u n v e r g ä n g l i che w i e v o l l k o m m e n e Welt gegenübergestellt; n u r implicite w i r d z u g e geben, d a ß diese V o l l k o m m e n h e i t ausschließlich i m supralunaren R a u m (caeli ornatus) u n d nicht auf d e r E r d e u n m i t t e l b a r evident z u m a c h e n ist. 95

H i e r fassen w i r in paradigmatischer Weise eine A b f o l g e v o n drei

Ü b e r l e g u n g e n . A n die S p i t z e m ü s s e n w i r P i a t o n s phantastisches u n d tiefsinniges H ö h l e n g l e i c h n i s (Staat

514 A - 5 1 7 A ) stellen. Es f o l g t das

hier a u f g e n o m m e n e u m f a n g r e i c h e Z i t a t aus einem v e r l o r e n e n D i a l o g des A r i s t o t e l e s , w o h l Uber die Philosophie,

das h a n d g r e i f l i c h d a z u b e s t i m m t

ist, P i a t o n s M y t h o s d u r c h eine realistischere E r z ä h l u n g u n d Piatons A u s b l i c k auf die Idee des G u t e n d u r c h den A n b l i c k der sichtbaren, aber göttlich v o l l k o m m e n e n u n d e w i g e n W e l t z u ersetzen. D i e M e n s c h e n , die aus einer technisch n o c h so prächtig ausgestatten unterirdischen B e h a u sung aufsteigen u n d z u m erstenmal die O b e r w e l t sehen, k ö n n e n gar nicht anders, als diese f ü r ein W e r k der G ö t t e r z u halten. 96

E s m u ß P o s e i d o n i o s g e w e s e n sein, der (Frg. 363 T h e i l e r ) n o c h

einen Schritt w e i t e r ging u n d die realistisch e r f u n d e n e Situation bei A r i stoteles d u r c h eine tatsächlich erlebte ersetzte. Es handelt sich u m einen katastrophalen A u s b r u c h des A e t n a i m Jahre 135 ( O r o s i u s 5,6,2) o d e r 122 ( O r o s i u s 5,13,3), ü b e r d e n sich P o s e i d o n i o s bei seinem B e s u c h in Sizilien e t w a z w i s c h e n 100 u n d 90 v. C h r . hatte berichten lassen. D a n n w i r d die Tatsache, d a ß die E p i k u r e e r die S c h ö n h e i t des K o s m o s z u w ü r d i g e n u n f ä h i g sind, mit d e r e t w a s banalen L e b e n s w e i s h e i t entschuldigt, d a ß der M e n s c h das G e w o h n t e f ü r selbstverständlich u n d uninteressant hält u n d n u r d e m U n g e w o h n t e n seine A u f m e r k s a m k e i t

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH

5I5

zuwendet; ein Beleg unter vielen ist Theophrast, Uber die Winde 59. P o seidonios selbst hatte g e w i ß nicht die A b s i c h t , den Epikureern in diesem Punkt sozusagen mildernde Umstände zuzubilligen (gegen Theiler). 97

Z u m A b s c h l u ß des ganzen Abschnittes wird teils nochmals auf

die perfekte O r d n u n g der Himmelserscheinungen hingewiesen, teils 2,88 resümiert: w e n n wir bei einer G l o b u s k o n s t r u k t i o n oder einer Sonnenuhr sofort an ihren Schöpfer denken, so m u ß genau dasselbe auch v o n der Beobachtung der kosmischen O r d n u n g gelten. V o n Interesse ist dabei, daß das Stichwort aus 2,56, auch ζ . T. 2,60, die

conservatio/soteria

aller Dinge aufgenommen wird. Es leitet z u m N a c h f o l g e n d e n über. 98

Etwas unerwartet ist die Erklärung, man wolle nun v o n der

strengen Beweisführung z u r g r o ß z ü g i g e n Beschreibung

übergehen.

D e n n v o n einer subtilitas disputandi ist bisher und vor allem v o n 2,91 an nirgends die Rede gewesen. A m ehesten könnte man einige Abschnitte in 2,20-5 8 so charakterisieren. H a b e n wir hier den Rest einer ganz anderen Disposition vor uns? Es folgt das L o b der Schönheit des K o s m o s , und C i c e r o kann nun zu dem reichen souveränen Stil übergehen, der ihm besonders liegt und z u sagt. Was er hervorheben will, ist vor allem die unendliche Vielfalt dessen, was es gibt, die varietas/poikilia,

dann auch, w i e für die Erhaltung

(salus/soteria) aller Lebewesen auf das zweckmäßigste gesorgt ist. Zunächst hat die Erde die geometrisch v o l l k o m m e n e F o r m der Kugel (vgl. 2,47-48 und 2,116); sie ist außerdem kompakt, was ein Zitat aus einer verlorenen Schrift Ciceros (Consolatio?)

in Scholia zu Lucanus

9,102 etwas präzisiert, offenbar in Polemik gegen den M y t h o s des platonischen Phaidon, der ein ganzes System unterirdischer H ö h l u n g e n annahm. Genannt werden Pflanzen, Gewässer, Gesteine, Felder und die in der Erdtiefe verborgenen Schätze. 99

Es folgen die Tiere, endlich die Menschen. Cultor gibt ein grie-

chisches Wort wieder (dioiketes ?), u m die ausgleichend verwaltende Leistung des Menschen zu charakterisieren. D o c h unklar bleibt, inwiefern gerade die zivilisatorische Tätigkeit des Menschen den Schluß auf eine göttliche Verwaltung der Welt nahelegt. M a n könnte auch umgekehrt argumentieren: O h n e die A r b e i t des Menschen w ü r d e n die wilden Tiere und der U r w a l d alles überwuchern, und nur der Mensch hat die Erde überhaupt b e w o h n b a r gemacht. Wäre die Menschheit auf das angewie-

5

i6

ANHANG

sen, w a s die N a t u r selbst liefert, w ä r e sie längst u n t e r g e g a n g e n , eine T h e s e , die in repräsentativer F o r m Piaton, Protagoras

320 C - 3 27 D , v o r -

trägt. 100

A n g e s c h l o s s e n w i r d die B e s c h r e i b u n g des M e e r e s teils in der

R e l a t i o n M e e r - L a n d , teils in der R e i h e der M e e r t i e r e in d e n drei G r u p p e n der untergetauchten, der sichtbar s c h w i m m e n d e n u n d d e r sichtbar fixierten. 101

A n der L u f t w e r d e n mehrere E i g e n t ü m l i c h k e i t e n unterschie-

den. Sie ist (a) der O r t v o n T a g u n d N a c h t , v o n H i t z e u n d K ä l t e , dann (b) das P a r a d i g m a der heraklitischen (Fragmente

der Vorsokratiker

22 Β

6ο) B e w e g u n g a u f w ä r t s u n d abwärts; als (c) b e w e g t e L u f t ist sie der W i n d , e n d l i c h (d) gestattet sie d e n V ö g e l n das Fliegen u n d allen beseelten L e b e w e s e n das A t m e n . Ü b e r ihr u n d als A b g r e n z u n g der W e l t (gegen w a s ?) b e f i n d e t sich der Ä t h e r als O r t der G e s t i r n e , v o n d e n e n n u n in 2 , 1 0 2 - 1 1 5 a u s f ü h r l i c h die R e d e ist. 102

Z u r G r ö ß e der S o n n e w i r d w i e d e r h o l t , w a s s c h o n 2,92 sagte.

D a ß d u r c h ihre B e w e g u n g e n T a g u n d N a c h t , S o m m e r u n d W i n t e r entstehen, ist allbekannt. A l s ein thaumasion

hätte a n g e f ü h r t w e r d e n m ü s -

sen, d a ß diese B e w e g u n g e n mit der g r ö ß t e n R e g e l m ä ß i g k e i t u n d m a t h e matischen P r ä z i s i o n ablaufen. 103

I m Falle des M o n d e s b e r u f t sich C i c e r o a u s d r ü c k l i c h auf die

M a t h e m a t i k e r , augenscheinlich u m die w e n i g b e k a n n t e T h e o r i e z u beg r ü n d e n , d a ß die G r ö ß e des M o n d e s etwas m e h r als die H ä l f t e der G r ö ß e der E r d e sei. B e z e u g t ist dies nur n o c h bei K l e o m e d e s 2,1, w a s z u r F o l g e r u n g z w i n g t , daß hier P o s e i d o n i o s v o r l i e g t (vgl. F r g . 291 Theiler). K u r z w e r d e n die B a h n e n des M o n d e s , seine A b h ä n g i g k e i t v o m S o n n e n licht s o w i e die E n t s t e h u n g v o n S o n n e n - u n d M o n d f i n s t e r n i s s e n (vgl. De divinatione

2 , 1 7 u n d De republica

1,25) berührt. D a sind w i r g a n z i m

griechischen Bereich. F ü r die r ö m i s c h e T r a d i t i o n sind n o c h in später Z e i t diese Finsternisse W i n k e der G ö t t e r , auf die s o w o h l der einzelne w i e auch der Staat z u achten haben. W o h l s c h o n seit d e m 2. Jh. v. C h r . laufen in R o m diese G e s i c h t s p u n k t e nebeneinander her. V o n d e n Planeten w i r d in so allgemeinen W e n d u n g e n g e s p r o c h e n , d a ß uns die E r k l ä r u n g ü b e r r a s c h t , gerade ihr A n b l i c k sei b e s o n d e r s bew u n d e r u n g s w ü r d i g . E r h e b l i c h genauer äußert ich 2,119, o b s c h o n d o r t C i c e r o erklärt, er habe sehr stark g e k ü r z t .

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH 104-114

517

Die Fixsterne erhalten eine besondere Behandlung. Ihre

N a m e n stellen mannigfache Beziehungen zu bekannten Dingen der N a t u r und des M y t h o s her. Sich in der Masse der Sternbilder auszukennen, w a r nicht nur zuweilen von praktischem Nutzen, sondern konnte auch ein Stück erlesenster Gelehrsamkeit sein. So ist es nicht erstaunlich, daß C i c e r o nach wenigen Zeilen den Stoiker ausgiebig aus seinem eigenen Sterngedicht, Aratea, zitieren läßt. U b e r dieses Gedicht (ed. J . Soubiran 1972) ist hier folgendes zu sagen. N o c h als sehr junger Mann, etwa um 89-88 v. Chr., also rund zehn Jahre vor dem supponierten D a t u m unseres Dialoges, hat Cicero es unternommen, das Sterngedicht des Aratos von Soloi aus der ersten H ä l f t e des 3. Jh.s v. Chr., ein charakteristisches Beispiel gelehrter hellenistischer Epik, ins Lateinische zu übersetzen. Ein persönliches Interesse an der Wissenschaft der Astronomie mag den Anstoß gegeben haben, dazu vielleicht ein Wink seines philosophischen Lehrers und Freundes Poseidonios, von dem ein Titel über die Astronomie bei Aratos und H o m e r bezeugt ist (Frg. 303 Theiler). Handschriftlich sind von Ciceros U b e r setzung 480 Verse überliefert, dazu treten 33 Zitate, von denen nicht weniger als 25 Selbstzitate Ciceros in De natura deorum sind. D e m ganz erhaltenen griechischen Gedicht des Aratos gegenüber erlaubt sich C i cero große Freiheiten in Kürzungen und Zusätzen. Was den lateinischen Stil angeht, so sei hier nur das eine hervorgehoben, daß Ciceros Gedicht wesentlich «moderner» wirkt als das rund dreißig Jahre später entstandene Gedicht des L u k r e z (Text, Übersetzung und Kommentar des griechischen Lehrgedichts des Aratos von M . Erren, München 1 9 7 1 , Tusculum). D e n ganzen K o m p l e x 2 , 1 0 5 - 1 1 4 sprachlich und sachlich im einzelnen durchzuinterpretieren, k o m m t hier nicht in Frage. Philosophisch bringt er nichts Neues. D e r Stoiker begnügt sich damit, zuweilen auf das wunderbare Schauspiel und die vollkommene Unveränderlichkeit der Sternkonstellationen hinzuweisen und auf die göttliche Planung, die dahintersteht. 115

D a n n wird die Polemik gegen E p i k u r aus 2,93-94

un

d 2,97

wieder aufgenommen. D i e Weltordnung kann nicht aus reinem Zufall oder (im Sinne v o n 2,81) durch eine vernunftlose Naturkraft entstanden sein. Wie bisher wird über die möglichen Erwägungen Epikurs einfach hinweggegangen: daß (a) die Ordnung der N a t u r nicht so vollkommen

5

i8

ANHANG

ist, w i e es die Stoa behauptet, die z u m e i s t n u r die R e g e l m ä ß i g k e i t e n im supralunaren R ä u m e i m A u g e hat, u n d d a ß (b) auch aus d e n A t o m b e w e g u n g e n eine O r d n u n g entstehen k a n n , sobald m a n das P r i n z i p annimmt, daß mehr oder weniger widerstandsfähige A t o m k o m p o s i t i o n e n u n t e r s c h i e d e n w e r d e n müssen; die einen dauern, die andern g e h e n sogleich z u g r u n d e . Viel wichtiger, als es d e n A n s c h e i n hat, ist die a b s c h l i e ß e n d e B e m e r k u n g . D i e Welt ist nicht nur nicht o h n e V e r n u n f t entstanden, sie k a n n auch o h n e eine e r k e n n e n d e V e r n u n f t nicht erkannt w e r d e n , w a s in die N ä h e des t h e o l o g i s c h e n Satzes f ü h r t , d a ß nur derjenige G o t t erkennt, der selbst am G ö t t l i c h e n einen A n t e i l hat (vgl. M a n i l i u s 2 , 1 1 5 - 1 1 6 ) . E s f o l g t eine allgemeine K o s m o l o g i e ( 2 , 1 1 5 - 1 1 9 ) , die zeigt, d a ß der K o s m o s d a r u m eine e w i g e D a u e r besitzt, w e i l alle seine Teile gleichm ä ß i g miteinander z u s a m m e n h ä n g e n , genauer: w e i l der K o s m o s eine K u g e l ist u n d alle P u n k t e auf der Peripherie g l e i c h m ä ß i g z u m M i t t e l p u n k t streben (etwas anders 2,84). D i e E l e m e n t a r k ö r p e r (maxima

cor-

pora) sind auf diese Weise z u s a m m e n g e b u n d e n d u r c h einen nous u n d logos, der alles d u r c h d r i n g t u n d v o n der Peripherie hier z u r M i t t e treibt. D e r griechische Text m u ß v o n einem desmo

synechesthai

gesprochen

haben. 116

D i e s e S t r u k t u r der K u g e l i g k e i t w i r k t sich aus bei der E r d e u n d

d e m M e e r , die k o n z e n t r i s c h z u m M i t t e l p u n k t der K u g e l streben. D i e s w i r d g e g e n die F a l l b e w e g u n g der e p i k u r e i s c h e n A t o m e , die aus d e m U n b e g r e n z t e n k o m m e n u n d s e n k r e c h t ins U n b e g r e n z t e s t ü r z e n , eingesetzt. 117

D a r a n schließt sich die L u f t , die s o w o h l vertikal n a c h o b e n

strebt w i e auch h o r i z o n t a l n a c h allen R i c h t u n g e n sich ergießt. B e i m A u f steigen in die H ö h e w i r d die als s o l c h e d u n s t i g e u n d kalte L u f t d ü n n e r u n d w ä r m e r (also, w i e sich s o g l e i c h z e i g t , d e m Ä t h e r ähnlich) u n d erhält so die W e s e n , die sie einatmen, am L e b e n . D e r Ä t h e r endlich f o l g t k o n t i n u i e r l i c h auf die L u f t u n d ist reinste W ä r m e . D i e l ü c k e n l o s e K o n t i n u i t ä t steht der d u r c h das L e e r e hergestellten D i s k o n t i n u i t ä t der e p i k u r e i s c h e n A t o m e gegenüber. D i e G e stirne ihrerseits sind w i e d e r u m k u g e l i g u n d o p t i m a l u n v e r l e t z l i c h (2,47). 118

D a sie F e u e r sind u n d gleichzeitig L e b e w e s e n , b e d ü r f e n sie der

N a h r u n g . D i e s e erhalten sie d u r c h die d o p p e l t e A u f d u n s t u n g

(anathy-

miasis), die v o n der E r d e u n d v o n d e n G e w ä s s e r n aufsteigt (vgl. 2,43). D i e s ist eine uralte, s c h o n f ü r H e r a k l i t b e z e u g t e V o r s t e l l u n g (Fragmente

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH der Vorsokratiker

519

22 A 11,12). Etwas unerwartet und wichtig ist aller-

dings, daß die ebenfalls schon Heraklit angehörende Lehre v o n der Komplementarität der beiden B e w e g u n g e n nach oben und nach unten {Fragmente der Vorsokratiker

22 Β 60; vgl. 2,84) auch im Bereich der G e -

stirne gelten soll. N i c h t nur steigt etwas als A u f d u n s t u n g v o n der Erde z u ihnen auf, sondern es fällt auch etwas v o n den Gestirnen herab zur Erde. D a wird freilich eine wesentliche M o d i f i k a t i o n möglich. Was herunterkommt, ist nicht genau gleich viel w i e das, was aufstieg. D e r Ä t h e r und die Gestirne verbrauchen mehr, als sie wieder abgeben. D a m i t hat sich die Stoa einen raffinierten A u s w e g eröffnet, um den Widerspruch zwischen der Vollkommenheit und der Vergänglichkeit der Welt einigermaßen zu überwinden. D i e Welt geht nicht an einem beliebigen Zerfall der O r d n u n g zugrunde, sondern daran, daß das Ä t h e r f e u e r allmählich alle A u f d u n s t u n g aufzehrt und nichts mehr zurückschickt, aus dem auf der Erde und in den Gewässern neue A u f d u n s t u n g sich bilden könnte. So verwandeln sich schließlich Erde, Wasser und L u f t vollständig in Feuer. D a s Feuer allerdings ist göttlich und unzerstörbar lebendig, so daß es aus sich selbst einen neuen K o s m o s hervorzubringen vermag. Dies bedeutet gegen E p i k u r nicht eine vollständige, sondern nur eine partielle Vergänglichkeit der Welt. Es ist die Lehre von der ekpyrosis, die in einer primitiveren Fassung (der Gedanke, daß die O i k u m e n e bald durch Wasser - Deukalion - , bald durch Feuer - Phaethon - , zugrunde gehe, ist alt) schon Heraklit vorgetragen haben m u ß (Fragmente der Vorsokratiker 21 A 10). D a z u k o m m t , daß Panaitios diese Lehre angezweifelt haben soll, wie unsere Stelle erklärt (Frg. 61 Str.). D e r Wortlaut ist sonderbar und noch unerklärt. D e n n Panaitios hat knapp z w e i Generationen v o r C i c e r o gelebt und genügend Bücher geschrieben, denen seine Meinung entnommen werden konnte. So bleibt es rätselhaft, als addubitare

dicebant

be-

sagen soll. Wer hat dies berichtet (Schüler oder Gegner?), und w a r u m gab es in dieser Sache nicht, wie in anderen Fällen (De divinatione Lucullus

1,6;

107), Ä u ß e r u n g e n v o n Panaitios, die Klarheit verschaffen

konnten? 119

N u n wird einiges über die Planeten nachgetragen, was in

2,103-104 nicht erwähnt w o r d e n war. H i e r handelt es sich nicht u m die Kontinuität, sondern um die H a r m o n i e der Planetenbahnen. In Stich-

520

ANHANG

Worten w e r d e n sie a u f g e f ü h r t :

Saturn-Iuppiter-Mars-Sonne-Merkur-

V e n u s - M o n d . Saturn ist d e r älteste, die S o n n e der alles b e h e r r s c h e n d e Planet. D i e Liste f a n d sich s c h o n in 2,52, u n d d o r t w a r auf M a c r o b i u s , Commentarii

in Ciceronis

somnium

1,19,1-2, zu verweisen, w o n a c h C i -

cero nicht mit Piaton, w o h l aber mit A r c h i m e d e s u n d «den C h a l d ä e r n » ü b e r e i n s t i m m t darin, d a ß die S o n n e unter d e n sieben Planeten d e n P l a t z in der M i t t e einnimmt. D e r H i n w e i s auf A r c h i m e d e s s t a m m t w i e in 2,88 v o n P o s e i d o n i o s . V o n diesem s t a m m t a u c h die Liste an dieser Stelle. A l s k o n k r e t e E i n z e l h e i t w i r d i m Sinne v o n 2,68-69 b e i g e g e b e n , d a ß der M o n d bei S c h w a n g e r s c h a f t e n u n d G e b u r t e n hilfreich z u sein pflege. M i t A s t r o l o g i e hat dies nicht das geringste z u tun. C i c e r o scheint die A s t r o l o g i e n o c h nicht z u k e n n e n , die erst z w e i G e n e r a t i o n e n später (nach d e m Z u s a m m e n b r u c h d e r letzten hellenistischen Staaten des O s t e n s ? ) nach R o m kam. Stark b e t o n t w i r d der o r g a n i s c h e Z u s a m m e n h a n g aller Teile der Welt. D i e A l l i t e r a t i o n v o n copulatio,

consentiens,

2,19. G e g e n E p i k u r w i r d die synecheia

coagmentatio

erinnert an

v o n allem einer der entscheiden-

den B e g r i f f e . 120

H i e r beginnt die spezielle T e l e o l o g i e v o n P f l a n z e n u n d T i e r e n

120—129. D i e N a t u r tut alles, w a s d e n P f l a n z e n N a h r u n g , G e d e i h e n u n d S c h u t z g e w ä h r e n kann. 121

Bei d e n Tieren ist f ü r das d a u e r h a f t e Weiterleben der G a t t u n g

gesorgt, w a s m a n einen charakteristisch aristotelischen G e s i c h t s p u n k t nennen k a n n (Zeugung

der Tiere 7 3 1 b 32-35; vgl. Politik

1252a 26-30).

A u c h die e i n z e l n e n Belege d ü r f t e n so gut w i e alle aus d e n b i o l o g i s c h e n Pragmatien des A r i s t o t e l e s stammen (vgl. 2,125). D a ß der A u t o r , d e m C i c e r o f o l g t , andere Texte des A r i s t o t e l e s z u r V e r f ü g u n g hatte, als w i r sie besitzen, darf man a n n e h m e n . W i r g e b e n nur die S t i c h w o r t e : (1) S c h u t z d u r c h d i c k e lederne H a u t , (2) S c h u t z d u r c h das Fell, (3) S c h u t z d u r c h Stacheln, (4) S c h u t z d u r c h F e d e r k l e i d , (5) S c h u t z d u r c h S c h u p p e n , (6) A b w e h r d u r c h H ö r n e r , (7) S c h u t z d u r c h F l ü g e l , die die Flucht ermöglichen. D e s g l e i c h e n hat die N a t u r reichliche N a h r u n g f ü r alle L e b e w e s e n bereitgestellt u n d die K ö r p e r der L e b e w e s e n so eingerichtet, w i e sie sich am z w e c k m ä ß i g s t e n die N a h r u n g aneignen k ö n n e n . G e n e r e l l gilt der aristotelische Satz, d a ß unter d e n inneren O r g a n e n keines ü b e r f l ü s s i g ist u n d keines f ü r das N o t w e n d i g e z u w e n i g ausgestattet. Es ist eine T e l e o -

KOMMENTAR

ZUM ZWEITEN

BUCH

521

logie der Natur, die nirgends zu wenig und nirgends zu viel leistet (eine Teleologie, die auch Epikur übernommen hat). 122

Generell haben alle Tiere die zwei Fähigkeiten, allgemein nach

der Nahrung zu streben und im besonderen bekömmliche und schädliche Nahrungsmittel zu unterscheiden. Dies ist stoische, aber keinesfalls ausschließlich stoische Teleologie. So folgen wieder Einzelheiten: (1) Die einen Tiere schreiten auf ihre Beute zu, die anderen schleichen sie an; (2) andere nähern sich im Fluge, andere im Schwimmen; (3) einige packen die Speise unmittelbar mit Maul und Zähnen, andere benutzen die Krallen, andere verwenden nur gerade die Zähne, wieder andere die Schnäbel. (4) Abermals andere saugen die Beute aus, pflücken sie hinweg; einige verschlingen, andere verzehren sie in Ruhe. 123

(5) Wieder andere sind so kleinwüchsig, daß sie die Nahrung

bequem vom Boden aufpicken können, höher gewachsene Tiere von den Gänsen bis zu den Kamelen sind auf die Länge und Beweglichkeit ihres Halses angewiesen. Da stellt der Elefant einen evidenten Sonderfall dar. (6) Besondere Fälle sind dort zu registrieren, w o eine Tierart der anderen zur Nahrung dient; jene Tiere überwältigen ihre Beute mit Kraft oder Schnelligkeit. Für sich besteht die Kunst der Spinne, die Beute in ihrem Netze einzufangen. Ein Sonderfall ist auch die Pina, eine Muschel, die mit einem winzigen Krebs eine Symbiose eingegangen ist. Dieses Tierchen signalisiert der Muschel, wenn ein interessantes Beutetier in Sicht ist. 124

Bei solchen Symbiosen bleibt das Problem, ob sie sich erst im

Laufe der Zeit herausgebildet haben oder ob die Natur die Dinge von Anfang an derart koordiniert hat. Dann werden Phänomene anderer Art registriert, so die ambivalente Lebeweise zwischen Wasser und Erde, die bestimmte Tiere pflegen. Mit der Nahrungssuche hat das Bedürfnis nach Schutz nur am Rande etwas zu tun. Dies sind vor allem Beispiele, die ein wichtiges aristotelisches Prinzip illustrieren, daß nämlich die Ubergänge zwischen Tieren und Pflanzen, dann auch zwischen Landtieren und Seetieren, keineswegs abrupt stattfinden, sondern in einzelnen Schritten allmählich sich ergeben. Wir werden schließlich nicht ganz vergessen, daß die Anthropologie des Aristoteles durchaus auch mit Menschen rechnet, die nahezu Tiere sind, und mit anderen, die die Brücke zur Gottheit zu schlagen vermögen; Sprünge

522

ANHANG

in d e n G e d a n k e n u n d d e n Sachen liebt er g e n a u s o w e n i g w i e die b l o ß e n P a r a d o x a . S o v e r s u c h t er jeden p a r a d o x e n B r u c h in eine o r g a n i s c h e k o n tinuierliche E n t w i c k l u n g u m z u f o r m e n . D o c h n u n z u r ü c k z u d e n Tieren. B e s t i m m t e T i e r e k o m m e n auf d e m Festland z u r Welt, streben aber, sobald sie d a z u f ä h i g sind, d e m Wasser als i h r e m natürlichen E l e m e n t z u . E i n drastisches Beispiel liefert der Fall, d a ß m a n d e n E n t e n H ü h n e r e i e r z u m A u s b r ü t e n anvertraut. D i e K l e i n e n h ä n g e n z u e r s t an ihren A d o p t i v m ü t t e r n , d o c h sobald sie W a s ser sehen, laufen sie d a v o n , u m z u ihrem natürlichen A u f e n t h a l t s o r t z u gelangen. E i n seltsamer Sonderfall ist s o d a n n der R a u b v o g e l Platalea, der auf d e m M e e r d e n anderen V ö g e l n ihre B e u t e abjagt; er verschlingt auch M u s c h e l n , läßt sie in s e i n e m M a g e n w a r m w e r d e n u n d sich ö f f n e n , erbricht sie dann u n d p i c k t das E ß b a r e heraus. M i t der f ü r s o r g e n d e n N a t u r h a b e n dergleichen skurrile G e w o h n h e i t e n k a u m etwas z u tun. 12 j

H e i m t ü c k i s c h ist a u c h die A r t , w i e sich b e s t i m m t e F r ö s c h e die

N a h r u n g v e r s c h a f f e n . Sie tarnen sich i m Sand nahe b e i m Wasser u n d ergreifen die Fische, die sich ihnen a h n u n g s l o s nähern. O f f e n e r K r i e g herrscht z w i s c h e n W e i h u n d R a b e n ; jeder z e r s t ö r t , w o er k a n n , die Eier des anderen, ein V o r g e h e n , das d e m Interesse der p l a n e n d e n N a t u r an der E r h a l t u n g der G a t t u n g diametral z u w i d e r l ä u f t . H a r m l o s ist das nächste, a u s d r ü c k l i c h auf A r i s t o t e l e s z u r ü c k g e f ü h r t e Beispiel, die k u n s t v o l l e u n d K r ä f t e sparende A n o r d n u n g der K r a n i c h s c h w ä r m e , w e n n sie i m H e r b s t ihren langen F l u g in w ä r m e r e L ä n d e r antreten. 126

W i r k o m m e n z u d e n einfachen N o t i z e n v o n 2,121

zurück,

M a ß n a h m e n , die die T i e r e z u i h r e m S e l b s t s c h u t z ergreifen. V o n der U m sicht bei der W a h l des Platzes f ü r die M a h l z e i t e n u n d erst recht des Schlafplatzes gelangen w i r z u d e n b e s o n d e r e n P h ä n o m e n e n , d e n e n die M e d i z i n erst v o r w e n i g e n J a h r h u n d e r t e n auf die S p u r g e k o m m e n ist: H u n d e heilen sich d u r c h E r b r e c h e n , d e r ä g y p t i s c h e Ibis d u r c h A b f ü h r e n ; die asiatischen P a n t h e r k e n n e n ein M e d i k a m e n t , das sie auch nach d e m G e n u ß v e r g i f t e t e n Fleisches, das ihnen als K ö d e r a n g e b o t e n w u r d e , am L e b e n erhält. V e r g l e i c h b a r e s w i r d berichtet v o n d e n w i l d e n Z i e g e n auf K r e t a . 127

E i n anderer Fall ist d e r j e n i g e d e r H i r s c h k ü h e , die v o r der G e -

b u r t mit d e m K r a u t Seselis eine innere R e i n i g u n g v o r n e h m e n .

KOMMENTAR

ZUM ZWEITEN

BUCH

523

D a n n k o m m e n w i r z u r A u s r ü s t u n g der Tiere mit W a f f e n z u r ü c k , v o n d e r s c h o n 2 , 1 2 1 g e s p r o c h e n hatte. C i c e r o hat o f f e n b a r v e r s u c h t , eine p e dantische A u f t e i l u n g der P h ä n o m e n e nach einzelnen Kapiteln zu verm e i d e n , G e l e h r s a m k e i t ist a n z u e r k e n n e n , darf a b e r n i c h t auf das N i v e a u eines s t u r e n S c h u l b u c h s a b s i n k e n . S o w i r d m a n sich h ü t e n , v o r s c h n e l l d i e Ü b e r s c h n e i d u n g e n u n d W i e d e r h o l u n g e n i m T e x t als W e c h s e l d e r Vorlage z u interpretieren. W i e d e r h a b e n w i r eine L i s t e : ( i ) H ö r n e r , (2) Z ä h n e , (3) hier eine L ü c k e i m T e x t : die S c h n e l l i g k e i t d e r F l u c h t c h a r a k t e r i s i e r t n i c h t d e n L ö w e n ; E r g ä n z u n g f r a g l i c h ; (4) F l u c h t , (5) S i c h - V e r s t e c k e n , (6) T a r n u n g , (7) S c h l a g , d e r b e t ä u b t , (8) G e s t a n k . E s folgen die M a ß n a h m e n z u r Erhaltung der jeweiligen A r t , w o f ü r hier die Providentia

deorum,

w e n i g s p ä t e r in 2,128 die provida

natura

in

A n s p r u c h g e n o m m e n w i r d . D i e z w e i B e g r i f f e k ö n n e n also b e l i e b i g m i t e i n a n d e r v e r t a u s c h t w e r d e n ; ein e r s t a u n l i c h e s B e i s p i e l , w i e u n s c h a r f t r o t z aller S y s t e m a t i k u n d D e f i n i t o r i k das s t o i s c h e D e n k e n ist. B e i d e n P f l a n z e n w e r d e n n u r die e ß b a r e n B e e r e n , in die d e r S a m e eing e s c h l o s s e n ist, e r w ä h n t . 128

B e i d e n T i e r e n k o m m t d e r R e i h e n a c h d i e Sexualität, d i e

F ü r s o r g e erst f ü r das u n g e b o r e n e , d a n n f ü r das n e u g e b o r e n e J u n g e z u r S p r a c h e . W i c h t i g ist d e r B e g r i f f d e r sine magistro autodidaktos

physis,

dux natura,

also der

d i e hier b e i m T i e r s e l b s t v e r s t ä n d l i c h w i r k t , b e i m

M e n s c h e n z u w e i l e n p o l e m i s c h gegen die A n s p r ü c h e

philosophischer

B i l d u n g u n d B e l e h r u n g e i n g e s e t z t w i r d ( e t w a H o r t e n s i u s F r g . 38 Str.). E i n g e s c h a l t e t w i r d ein altes B e i s p i e l t e l e o l o g i s c h e r O r g a n i s a t i o n : T i e r e mit v i e l e n J u n g e n h a b e n viele Z i t z e n , s o l c h e m i t w e n i g e n J u n g e n w e n i g e : v g l . A r i s t o t e l e s , Geschichte

der Tiere

500a 2 2 - 3 0 ; Teile

der Tiere

688

a - 3 2 - b 1. 129

Es

folgt

die

allgemeine

Fürsorge

für die

Nachkommen,

zunächst freilich mit z w e i G r u p p e n v o n A u s n a h m e n : Fische, sowie S c h i l d k r ö t e n u n d K r o k o d i l e ; d o c h a u c h d a ist d a f ü r g e s o r g t , d a ß sie nicht z u g r u n d e gehen. A u s f ü h r l i c h w i r d d e m g e g e n ü b e r die Sorge der H e n n e n f ü r ihre Jung e n b e s c h r i e b e n als M o d e l l d e r M ü t t e r l i c h k e i t . M a n darf hier f r a g e n , w o h e r das g a n z e v o n 2,120 an a u f g e z ä h l t e b o tanische und z o o l o g i s c h e Material zusammengestellt w u r d e . N e b e n Banalitäten, d i e j e d e r m a n n f e s t s t e l l e n k a n n , s t e h e n B e o b a c h t u n g e n , d i e

524

ANHANG

entweder nur in fernen Ländern, nicht in Griechenland und nicht in Italien, möglich waren oder die eine besondere Aufmerksamkeit erforderten. Weder der Autor, dem Cicero unmittelbar folgt, noch zuletzt Aristoteles und Theophrast haben alle diese Dinge persönlich gesammelt. In einzelnen Fällen (etwa Ägypten) gab es seit alter Zeit Spezialliteratur. In anderen Fällen mußte man sich wohl die relevanten Notizen aus den verschiedensten historischen, periegetischen, ethnographischen und naturwissenschaftlichen Werken exzerpieren, eine weitläufige Arbeit, von der wir annehmen werden, daß die Schulhäupter des Peripatos sie durch Sekretäre besorgen ließen. Doch müssen wir uns eingestehen, daß wir noch viel zu wenig wissen, wie die Massen des Beobachtungsmaterials in den biologischen Werken des Aristoteles, Theophrast und ihrer Erben eigentlich zusammengekommen sind. 130 Für sich steht die Gruppe jener Pflanzen und Tiere, die nach antiker Uberzeugung ganz auf die Fürsorge des Menschen angewiesen sind, um überhaupt überleben zu können. Der Gedanke, daß alle Haustiere und Hauspflanzen einmal Wildtiere und Wildpflanzen gewesen und erst sekundär durch den Menschen domestiziert worden sind, ist der Antike fremd. Damit ist ein Ubergang zum Menschen selbst hergestellt, und zwar ist es nützlich, gleich hier die zwei von Cicero unterschiedenen Gesichtspunkte herauszustreichen. Der eine ist der teleologische Aufbau des menschlichen Organismus selbst. Ihn finden wir schon in den berühmten Kapiteln Xenophons, Memorabilien 1,4 und 4,3; und Aristoteles, Physik 196a 24-b 5, scheint sagen zu wollen, daß Demokrit in der Kosmologie (gegen Anaxagoras) zwar das automaton und die Tyche regieren ließ, in der Physiologie von Pflanze, Tier und Mensch hingegen mit einer planenden Natur und einem nous rechnete. Allgemein dürfen wir vermuten, daß das durchlaufend teleologische Argumentieren im 5. Jh. gerade mit den Beobachtungen am menschlichen Organismus begonnen hat. Dies setzt sich fort bei Piaton und vor allem Aristoteles, und wenn sich Cicero seinerseits auf Poseidonios stützt, so ist dieser in dem Bereich jedenfalls nicht viel mehr als ein Vermittler älterer Lehren gewesen. Ganz anders steht es mit der These, die Welt und die Erde seien für den Menschen und zum Nutzen des Menschen so eingerichtet worden, wie sie sind. Diese These ist im Unterschied zur ersten im höchsten Grade anfechtbar und nicht erst von Epikur nachdrücklich be-

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN BUCH

J2J

stritten worden; denn die Welt ist für den Menschen nicht nur nützlich, sondern mindestens ebensosehr voll von Gefahren und Mühseligkeiten. An unserer Stelle betont der Stoiker, wie segensreich für den Menschen die Erde organisiert sei. Genannt werden die drei großen Ströme Nil, Euphrat und Indus, unter denen, wie schon Aristoteles, Meteorologie 350a 25-26, notiert, der Indus der größte ist. Sie alle machen das sie umgebende Land im höchsten Grade fruchtbar (Herodot 2,10-14; 1,193; Strabon 15,1,16. Ciceros Quelle wird Poseidonios' Über den Okeanos sein). 131 Zweimal betont hier Cicero, daß er auf das stärkste kürzt. Besonders förderlich für Pflanzen, Tiere und Menschen sind die Etesien, die Nordwinde, die im Sommer kühlend über den gesamten Raum des östlichen Mittelmeeres dahingehen und überdies die Seefahrt erleichtern. 132 Dann werden wiederum Gewässer und Berge genannt; auf die Bedeutung von Ebbe und Flut an der spanischen Atlantikküste (multum darf nicht gestrichen werden; denn gerade darauf kommt es an) hatte Poseidonios hingewiesen, Strabon 3,2,4 (Frg.17 Theiler). Es folgt die Gewinnung von Salz einerseits, von Heilkräutern andererseits, endlich die Periodisierung des Weltlaufes in Tag und Nacht. Was in 2,131 die benignitas naturae war, ist hier mens consiliumque divinum, auch da sind Gott und Natur beliebig auswechselbar. 133—139 Entstanden ist die Welt nur für die zoa logika, also Götter und Menschen, und so tritt nun die Physiologie des Menschen in den Mittelpunkt. Alles ist auf das beste eingerichtet sowohl für die Aufnahme der Speisen wie für die Atmung. Auf Fachausdrücke wird mehrfach hingewiesen: dentes genuini, aspera arteria (tracheia arteria), in 2,137portae iecoris (pylai hepatos), vena cava (phleps koile), in 2,13 8 ventriculus cordis (koilia kardias). Manche Feststellungen dieses ganzen Abschnitts setzen anatomische Kenntnisse voraus. Uber die Anatomie des toten menschlichen Körpers hatte schon Aristoteles ein umfangreiches Werk verfaßt, und in letzter Instanz wird dieses auch hier zugrunde liegen. Wie bewundernswert der gesamte Mechanismus ist, wird hervorgehoben; römische Dezenz verbietet es, auf die Organe, die die Ausscheidung besorgen, näher einzugehen. 140

Mit einem neuerlichen Verweis auf die Leistung der Natur

526

ANHANG

(bzw. der Götter) geht der Redner zu den höheren Eigenschaften des Menschen über. V o m aufrechten Gang, der die Betrachtung des H i m mels und damit die Erkenntnis der Gottheit ermöglicht, hatte schon X e nophon, Memorabilien

1,4,11, gesprochen, und dazu gehört auch die

E t y m o l o g i e v o n anthropos bei Piaton, Kratylos 399 C . Allerdings hat C i cero z w e i D i n g e durcheinander gebracht, den einen Gedanken, daß die wahre Heimat des Menschen nicht die Erde, sondern der H i m m e l sei, und den anderen, daß die Bestimmung des Menschen die Theoria der Dinge in der H ö h e sei (vgl. Tusculanae disputationes

1,69; Diogenes La-

ertius 2,10). A n das D e n k e n des Göttlichen schließt sich die Reihe der fünf Sinnesorgane an. Jedes dieser O r g a n e hat seinen teleologisch determinierten O r t . 141

Z u r N a s e vgl. X e n o p h o n , Gastmahl

5,6; z u r sinnvollen N a c h -

barschaft v o n A u g e , N a s e und M u n d X e n o p h o n , Memorabilien z u m Schmecken ebd. 1,4,5;

z u

1,4,6;

den Ausscheidungsorganen ebd. 1,4,6.

M a n sieht, w i e alt diese ganze Teleologie ist. Merkwürdigerweise ist kein Einfluß medizinischer Literatur im engeren Sinne wahrzunehmen. 142

N u n wird der z w e c k m ä ß i g e A u f b a u der Sinnesorgane im ein-

zelnen beschrieben, v o r allem die Funktion der A u g e n und die M a ß nahmen der N a t u r z u m Schutze der A u g e n . Wiederum steht teils X e n o phon, Memorabilien

1,4,6, teils Aristoteles, Geschichte

der Tiere 491b

20-21, Von der Seele 421b 28-29, Teile der Tiere 658b 14-18 u.a., im Hintergrund. 144

Stark hervorgehoben wird auch die z w e c k m ä ß i g e Einrichtung

des G e h ö r s und ganz knapp dann Nase und Z u n g e erwähnt. 145

Es wird abermals neu eingesetzt, u m die Leistungen der Sin-

nesorgane hervorzuheben. D a s A u g e urteilt über die Werke der Kunst (vgl. Lucullus

20), vermag aber auch physiognomisch v o m A u s d r u c k

eines Gesichtes auf den Charakter eines Menschen (vier Gegensatzpaare) zu schließen; vgl. De legibus 1,26; De officiis 1,102. A n älteren Belegen ist nur der dürftige Traktat über P h y s i o g n o m i k , der sich im Corpus Aristotelicum 146

erhalten hat, zu nennen.

Parallel dazu urteilt das O h r über die Werke der Vokal- und In-

strumentalmusik, und vermag wiederum in vier Gegensatzpaaren die Stimmen z u unterscheiden. D e n drei unteren Sinnesorganen sind systematisch drei Raffinements der K u l t u r zugeordnet: der Nase die Parfüms, der Z u n g e die Delikatessen, dem Tasten die Körperpflege.

K O M M E N T A R ZUM Z W E I T E N

BUCH

147 Daß Seele und Geist des Menschen einen göttlichen Ursprung haben (divina cum perfectum ist freilich sehr unbestimmt), gilt als evident. Ihre Leistungen sollen geschildert werden. Nicht völlig konsequent wünscht sich der Stoiker die rhetorische Kunst des Akademikers (vgl. 2,1 und 2,148), desselben Akademikers, dessen Aporetik er wenige Zeilen später ablehnt. Die Leistungen beginnen mit dem Begreifen (ennoia) und gehen über den Syllogismos und die Definition zur Episteme. Charakteristisch ist die Erklärung, daß die Episteme beim Menschen und bei Gott eine und dieselbe ist. 148 Zur Zweiteilung der Technai in unentbehrliche und selbstzweckliche vgl. 1,47.92; 2,87.150.160-161, dann Aristoteles, Metaphysik 981b 17-18; Nikomachische Ethik 114ib6. Die Kunst der Rede ist hier (wie oft) doppelsinnig gemeint: als Rhetorik und als die Fähigkeit der Kommunikation im Sprechen. Auf die traditionellen vier Affekte: Kummer und Heiterkeit, Angst und Begehren, wird angespielt. Dazu tritt der gesamte Bereich der gesetzlichen Ordnung (vgl. De oratore 1,33). 149 Geschickt kehrt Cicero vom kulturellen Bereich zu demjenigen der Physiologie zurück, den er in 2,145 verlassen hatte. Die Mechanik des Sprechens wird skizziert mit einem Vergleich, der wohl von Poseidonios stammt und den später Ambrosius, Hieronymus und Augustin von Cicero übernommen haben: die Zunge als Plektron, die Zähne als Saiten eines Saiteninstrumentes, die Nase als Tonverstärker. 150 Auf das Lob der Sprache folgt das Lob der Hand, vorbereitet bei Xenophon, Memorabilien 1,4,11, und schon Anaxagoras bei Aristoteles, Teile der Tiere 687a 7-12. Ihre Leistungen sind teils unentbehrlich, teils erfreuend (vgl. 2,148). Dem Ausblick auf die Entstehung der Kultur folgt derjenige auf die Nutzung der Pflanzen wie der Tiere für die Bedürfnisse des Menschen, in einer ersten Reihe von sechsmaligem nos. 151 Neben die Gewinnung der Metalle tritt die vielseitige Verwertung des Holzes. 1 $2 In einer weiteren Liste (neunmal nos und nostri) folgt die Beherrschung von Meer und Land, mündend in die allgemeine Erklärung, daß der Mensch die gegebene Natur durch eine zweite Natur ergänzt; anders Definibus 5,74. Es ist ein Zufall, daß wir an Belegen für die These, daß der Mensch durch seine Techne eine zweite Natur schafft, nur ge-

528

ANHANG

rade Demokrit (Fragmente der Vorsokratiker 68 Β 33) und den der Sophistenzeit angehörenden Dichter Euenos von Paros (Frg. 9 D) nennen können. 153 Die Leistung des Menschen in der Theoria beginnt sinnvoller - und bezeichnenderweise mit der Astronomie und der Fähigkeit, Sonnen· und Mondfinsternisse für alle Zukunft voraussagen zu können (beginnend mit Thaies für die Sonnenfinsternis vom 28. 5. 585 v. Chr. bei Herodotos 1,74), und deduziert daraus die Theologie und die Kette, die von der Frömmigkeit zur Gerechtigkeit, zu den übrigen Tugenden und zur Eudaimonia führt (vgl. 1,4). Sehr griechisch und vor allem epikureisch ist die Feststellung, daß die Eudaimonia der Menschen und der Götter dieselbe sei (in 2,147 w a r die Episteme dieselbe), da der Gegensatz von Sterblichkeit und Unsterblichkeit für die Eudaimonia irrelevant sei (vgl. De finibus 1,63; 2,40; besonders 2,88). Man darf sich fragen, ob ohne den griechischen Einfluß der Römer, für den die geschichtliche Kontinuität ein entscheidendes Gewicht besaß, gleich geurteilt hätte; es gab so etwas wie die Ideologie der Roma aeterna. Mit einem leichten Gedankensprung wird das Kapitel 2,91-153 abgeschlossen, und wieder tritt die Polemik gegen Epikur hervor. 154 Eigentümlich ist die Formulierung des Programms des letzten Kapitels (2,154-167). Sie setzt einerseits voraus, daß die Dinge für den bestimmt sind, der sie richtig zu benutzen weiß, andererseits, daß für den Menschen genau die Dinge (und nur sie) geschaffen sind, die er zu benutzen fähig ist; diese anthropozentrische Haltung ist schon bei Xenophon, Memorabilien 4,3,8, und sonderbar flüchtig bei Aristoteles, Politik 1256b 20-22, vorgezeichnet. Grandios wird wiederum mit der Gemeinschaft der Götter und Menschen begonnen. Die Welt ist zu ihrem gemeinsamen Nutzen geschaffen (vgl. 2,133). Sie ist nicht nur ihr gemeinsames Haus, sondern auch die eine Polis, in der sie beide unter demselben Gesetze leben (vgl. De republica 1,19; besonders De legibus 1,21-23; De finibus 3,64). Die Welt gehört beiden, so wie die Stadt Athen den Athenern gehört, ein Satz, der allerdings mit den Syllogismen Zenons in 2,21-22 nur mühsam zur Deckung gebracht werden kann. Doch die Stoa kümmert sich um keine Subtilitäten, und über die Frage, ob der Kosmos nun selbst Gott oder nur das Haus der Götter ist, gleitet sie einfach hinweg - mindestens in der Fassung Ciceros.

K O M M E N T A R ZUM ZWEITEN 155

BUCH

D i e Gestirne gehören nicht nur zur cohaerentia

5*9

(synecheia) des

K o s m o s (gegen Epikur), sondern sind v o r allem f ü r den Menschen sowohl der schönste Anblick wie auch der privilegierte Gegenstand seines Wissens (vgl. 2,153). Etwas gewalttätig wird aus der Tatsache, daß nur der Mensch das Wissen der Astronomie besitzt, gefolgert, daß auch die Gestirne f ü r den Menschen geschaffen sind. 156

D i e Pflanzen werden v o m Menschen kultiviert und sind darum

nur f ü r den Menschen bestimmt. 157

Dies führt wiederum zu der allgemeinen Formel, daß alle

Dinge dem gehören, der sie zu benutzen versteht und der sie faktisch benützt (vgl. X e n o p h o n Memorabilien

4,3,10). Dies kommt der anderen

Formel ganz nahe, daß der Weise allein alles besitzt, weil er allein alles richtig zu benützen vermag (De finibus 3,75; vorbereitet schon bei Piaton, Euthydemos 158

280 D E ) .

D a umgekehrt nur der Mensch sich an der Gestalt, dem D u f t

und dem Geschmack der Früchte zu erfreuen vermag, so ist auch dies ein Anzeichen, daß die N a t u r sie f ü r den Menschen bestimmt hat. A u f die Nutzbarkeit der Pflanzen folgt diejenige der Tiere; da werden selbstverständlich die Haustiere erwähnt, die ohne die Fürsorge des Menschen gar nicht lebensfähig seien (vgl. 2,130) und die schon darum die alleinige Bestimmung haben, dem Menschen zu dienen. 159

A u f die Schafe und H u n d e folgen die Rinder mit einem kurzen,

nicht näher markierten Zitat aus Ciceros Aratea

(entsprechend Aratos

1 2 9 - 1 3 2 ) , die schon in 2 , 1 0 4 - 1 1 4 reichlich verwendet worden waren. Das Zitat erinnert, nicht ganz der allgemeinen Intention des Kapitels entsprechend, daran, daß im Goldenen Zeitalter die Rinder ihrer N u t z barkeit wegen geschont wurden und erst das brutale Eiserne Zeitalter dazu überging, die Rinder zu schlachten und zu verzehren. Es schließen sich an Maultiere und Esel. 160

Radikal ist die Beurteilung des Schweines, nicht etwa seiner

Schmutzigkeit wegen, sondern weil seine Fleischmasse zu nichts anderem bestimmt sei als dazu, v o m Menschen verzehrt zu werden. Das B o n mot des C h r y s i p p o s (Stoicorum veterum fragmenta

2,723; bei Clemens

Alexandrinos, Stromateis

7,33,3, dem Kleanthes zugeschrieben, Stoi-

corum veterum fragmenta

1 , 5 1 6 ) wird schon in De finibus 5,38 notiert,

dann bei Varro, Res rusticae 2,4,10, und Plinius, Naturalis (aus Cicero?), erwähnt.

historia 8,107

ANHANG

53°

D e r H i n w e i s auf die F r u c h t b a r k e i t der R i n d e r ist m i t 2,128 z u v e r binden. A l s D e l i k a t e s s e n gelten Fische u n d V ö g e l . U n s e r e Stelle b e g n ü g t sich mit einer leise ironischen K r i t i k ; der S t a n d p u n k t der strengen Stoa, die dergleichen L u x u s v e r w a r f , w i r d in P l u t a r c h o s , Moralin

1014 C - F ,

erkennbar. W a r z u v o r gesagt, d a ß die Tiere, die o h n e die F ü r s o r g e des M e n s c h e n nicht ü b e r l e b e n k ö n n e n , eben d a r u m f ü r d e n M e n s c h e n b e s t i m m t sind (2,158), so w i r d n u n das A r g u m e n t a b g e w a n d e l t : D a n u r die M e n s c h e n eine T e c h n i k e n t w i c k e l t haben, u m Fische u n d V ö g e l z u f a n g e n , so sind eben d a r u m diese Tiere f ü r d e n M e n s c h e n b e s t i m m t . C i c e r o f ü g t i m m e r h i n eine A n m e r k u n g aus De auguriis

bei (vgl.

2,65). A u s d e m F l u g der V ö g e l k a n n die Z u k u n f t erschlossen w e r d e n , o d e r d a n n aus ihrer S t i m m e . D e r U n t e r s c h i e d v o n alites u n d oscines w i r d in De divinatione

1,120 angedeutet, bei Festus (p. 214 L i n d s . ) a u s d r ü c k -

lich f o r m u l i e r t : D i e oscines g e b e n L a u t e , die alites z e i g e n sich d u r c h ihren F l u g an; der R a b e u. a. g e b e n ein Z e i c h e n mit d e r S t i m m e , d e r A d l e r , der G e i e r u. a. mit der A r t des Fluges. 161

D i e w i l d e n T i e r e h a b e n mehrere k n a p p angedeutete B e s t i m -

m u n g e n : sie dienen z u r N a h r u n g , ihre Jagd ist eine V o r b e r e i t u n g auf den K r i e g s d i e n s t , sie k ö n n e n d o m e s t i z i e r t w e r d e n (Beispiel die Elefanten vgl. De republica

2,67), u n d m a n kann aus i h r e m K ö r p e r M e d i k a m e n t e

g e w i n n e n , w i e aus b e s t i m m t e n P f l a n z e n . M i t einem B l i c k auf die gesamte E r d o b e r f l ä c h e w i r d geschlossen. 162

D e r G e g e n s a t z d a z u ist natürlich die G e w i n n u n g des N u t z e n s

aus d e m , w a s in der T i e f e der E r d e v e r b o r g e n ist (vgl. 2,98). D a s A r g u m e n t ist dasselbe w i e in 2,15 3.15 4.15 5.15 6: W a s nur der M e n s c h z u ben u t z e n versteht, ist d a r u m auch f ü r d e n M e n s c h e n bestimmt; die spätere S p e z i f i z i e r u n g dieser R e g e l auf d e n G e g e n s a t z v o n « K u l t u r v ö l k e r n » u n d « N a t u r v ö l k e r n » liegt nahe. E i n heikler P u n k t ist die M a n t i k , die v o m A k a d e m i k e r w i e v o m E p i k u r e e r v e r w o r f e n w i r d (der S p o t t als eine M e t h o d e der E p i k u r e e r : De divinatione

2,39, d a z u Piaton, Gorgias

473 Ε u. ö.). D e r S t o i k e r hält, w i e

s c h o n in 2 , 7 - 1 2 , strikte an ihr fest, o h n e dies näher z u b e g r ü n d e n (vgl. De divinatione 163

1,9).

Sechs v e r s c h i e d e n e T y p e n v o n M a n t i k w e r d e n n a c h drei K a t e -

gorien klassifiziert: vis als spontane F ä h i g k e i t , ars als T e c h n i k der Z e i chendeutung

und

natura

als

zeichengebende

Erscheinungen,

hier

KOMMENTAR ZUM ZWEITEN

BUCH

531

Träume und Monstruositäten. Geschickt wird dem Zweifel begegnet: Das einzelne mag fraglich sein, das Ganze als System ist schwer zu widerlegen. 164-165 Der Mantik als der unmittelbarsten, aber auch erstaunlichsten Form der Fürsorge der Gottheit für den Menschen tritt das Walten der Gottheit in der Geschichte des Menschen gegenüber; und zwar wird hier unbedenklich der Sorites als Beweismethode eingesetzt: Wenn die Gottheit für die gesamte Menschheit sorgt, so sorgt sie auch für denjenigen Teil der Menschheit, der uns bekannt ist; wenn dies, dann auch für die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika; wenn dies, dann auch für die einzelnen Völker und Staaten; wenn dies, dann endlich auch für die einzelnen Menschen, vor allem solche, die sich hervorgetan haben. Es folgt eine umfangreiche Liste berühmter Römer (vgl. De republica 1,1 ff.): Drei Namen für den Pyrrhuskrieg, vier Namen für den Ersten und drei für den Zweiten Punischen Krieg, endlich drei Namen für die erste Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. und zwei Namen für die zweite Hälfte. Daß Cicero mit dieser Liste (die er dem Geschichtswerk seines Freundes Atticus entnommen haben kann) eine ähnliche griechische Liste ersetzt hat, ist klar. 166 Es wird kurz auf griechische Verhältnisse zurückgebogen, die Helden Homers, die unter dem Schutz bestimmter Götter stehen. Im Stichwort wird, wie schon in 2,6, auf die Epiphanien der Götter hingewiesen, dann 2,7-12 und 2,162 wieder aufgenommen, das Wirken der Gottheit in der Mantik, zugleich eine Art von Ankündigung von De divinatione. 167 Den Schluß bildet ein berühmtes Zitat aus Demokrit vgl. De divinatione 1,80; De oratore 2,194 und Tusculanae disputationes 1,64; Fragmente der Vorsokratiker 68 Β ιγ). Dazu die Widerlegung eines letzten Einwands. Aus dem Unglück, das zuweilen den einzelnen treffen kann, dürfen keine allgemeinen Schlüsse gezogen werden. Es folgt die grundsätzlich wichtige Regel, daß Gott so wenig wie ein Fürst (vgl. 3,86.90; De divinatione 1, ι·ι 8) oder das Gesetz sich um jede Einzelheit kümmert. Hier stoßen die beiden Prinzipien, daß Gott nicht kleinlich sein darf und daß Gott sich um schlechthin alles kümmert (vgl. Xenophon, Memorabilien 1,4,18), unmittelbar aufeinander. Dazu tritt von einer ganz andern Seite die These, daß dem Weisen

ANHANG

alles gut gerät, weil es ihm nur auf die Bewährung der Tugend und sonst auf nichts ankommt. Der Stoiker unterstreicht diskret, daß seine stoische These vollständig mit der autoritativen Äußerung des Sokrates (Piaton, Apologie 41D) übereinstimmt. 168 Den Schluß bildet passend die Wiederholung des persönlichen Appells an den Pontifex und Akademiker Cotta aus 2,2. Er ist verpflichtet, nicht bei der Aporie zu verweilen, sondern sich der Überzeugung des Stoikers anzuschließen. Ähnlich appelliert Quintus Cicero in De divinatione 1,22 u.a. an seinen Bruder Marcus und in Lucullus 62 Lucullus an denselben M. Cicero. Für antike Verhältnisse erstaunlich ist das harte Urteil des Stoikers sogar über den theoretischen Versuch, die Argumente für und gegen die Existenz der Gottheit zu prüfen. Die Existenz der Gottheit in Frage zu stellen, ist von vornherein gottlos. So hätte allerdings auch der Verfasser der platonischen Nomoi sprechen können (vgl. 885 B-887 A). Der Stoiker wird allerdings wie schon zuvor den Anspruch erhoben haben, getreu das Denken und insbesondere die Frömmigkeit des Sokrates selbst zu vertreten.

K O M M E N T A R ZUM D R I T T E N B U C H

Das Buch im ganzen versteht sich als eine aporetische Replik auf die breit angelegte Dogmatik des Stoikers. So ist es zweckmäßig, mit einer allgemeinen Ubersicht zu beginnen. N a c h der Einleitung wird (5-10) begonnen mit einem grundsätzlichen Abwägen der Ansprüche der geschichtlichen Tradition

(auctoritas)

und der philosophischen Beweisführung (ratio). Die erste bleibt unangetastet, die zweite steht zur Diskussion. 3,10-15 ist die Widerlegung von 2,4-12; 3,16-19 resümiert knapp die Beweisführung des Kleanthes aus 2,13-44, dann wird (20-23) die Reihe der Syllogismen Zenons verworfen. 3,23-24 wendet sich k u r z gegen die A n n a h m e der Gestirngötter 2,39-44, und 3,25-28 greift den Physis-Begriff von 2,16-19

an

· E'n

eindrucksvoll geschlossenes Stück ist 3,29-34 aus Karneades (parallel Sextus Empiricus, Gegen die Physiker 1,138-181); es folgt 3,3 5-37 gegen die Feuerlehre der Stoa (2,23-28.30-32.39-42), dann k o m m t (38-39) abermals Karneades zum Zuge (Sextus, Gegen die Physiker

1,152-177).

Damit gelten die stoischen Beweise f ü r die Existenz der Götter als erledigt ( 2 >4"44)· Es folgt die Auseinandersetzung mit den stoischen Vorstellungen vom Wesen der Götter (39-64): die Vielzahl der stoischen Götter (39-42.53-60). Dazwischen Argumentation mit dem Sorites gegen die Götter des Mythos (43-52 zu 2,62-69). Dies läuft weiter in 3,61-64. D a n n erfahren wir nach kurzer Textlücke, daß n u n die Punkte 1 und 2 des stoischen Programms von 2,3 erledigt sind und Punkt 3 (2,73-153) und 4 (2,153-167) in Angriff genommen werden sollen. D o c h in einer umfangreichen Textlücke ist die Behandlung von 3 und ein Teil von 4 untergegangen. Der Text setzt wieder ein 3,65-79 mit der These, die menschliche Vernunft habe ebenso viel Schaden wie N u t z e n gestiftet. Geschlossen wird mit der alten Frage, w a r u m die Tugend leiden muß und w a r u m die Götter nur Glück, niemals aber die Tugend zu geben vermögen (3,80-93).

ANHANG

534 ι

B a l b u s hatte C o t t a a u f g e f o r d e r t , seine A p o r e t i k als eine gottlose

H a l t u n g a u f z u g e b e n . C o t t a repliziert e b e n s o energisch w i e h ö f l i c h , seine E i n w ä n d e g e g e n die Stoa habe er s c h o n bereit. D o c h liege es i h m m e h r a m V e r s t e h e n als am W i d e r l e g e n ; darin steckt eine allgemeine K r i tik an der S c h w e r v e r s t ä n d l i c h k e i t der stoischen L e h r e ü b e r h a u p t . P s y c h o l o g i s c h b e d e n k l i c h ist, d a ß die a k a d e m i s c h e P o l e m i k gegen die Stoa z w a n g s l ä u f i g in eine u n e r w ü n s c h t e N a c h b a r s c h a f t z u r e p i k u r eischen P o l e m i k geraten m u ß . 2

A n s c h a u l i c h g e m a c h t w i r d diese L a g e d u r c h die B e m e r k u n g des

E p i k u r e e r s , er freue sich auf die a k a d e m i s c h e W i d e r l e g u n g d e r Stoa. 3

D i e s veranlaßt w i e d e r u m C o t t a , seine K r i t i k an E p i k u r ü b e r -

scharf v o n d e r j e n i g e n an d e r Stoa a b z u g r e n z e n . E i n i g e r m a ß e n g r o b n i m m t er d e n in 1,123 a u s g e s p r o c h e n e n u n d in 2,76 w i e d e r h o l t e n V e r d a c h t des P o s e i d o n i o s auf, E p i k u r s L e h r e sei ein versteckter A t h e i s m u s ; g r o b w i r d auch ein W i d e r s p r u c h insinuiert z w i schen der T h e s e , die e p i k u r e i s c h e n G ö t t e r k ü m m e r t e n sich nicht u m die Welt, seien also untätig, u n d der A n n a h m e , sie hätten einen menschlichen K ö r p e r u n d e n t s p r e c h e n d e K ö r p e r g l i e d e r , d o c h o h n e diese ihrer B e s t i m m u n g e n t s p r e c h e n d z u b e n u t z e n . K o r r e k t ist die Feststellung, die epikureische T h e o l o g i e b e g n ü g e sich damit, die G ö t t e r als unsterblich u n d g l ü c k s e l i g z u schildern, so Kyriai Doxai 4

N r . 1 u n d 1,45.

A n der stoischen T h e o l o g i e w i r d u m g e k e h r t ihre

Kohärenz

g e r ü h m t . D i e Stoa m u ß sich in der Tat g e r ü h m t haben, ein p e r f e k t geschlossenes S y s t e m z u besitzen (vgl. 1,9; Definibus

3,74; 4,53; 5,83), f ü r

uns etwas b e f r e m d l i c h , w e n n m a n b e d e n k t , w i e u n s o r g f ä l t i g die stoische D a r l e g u n g in B u c h 2 mit B e g r i f f e n w i e deus, natura,

mundus

umgeht.

A u s der D i s t a n z gesehen ist die systematische K o h ä r e n z bei E p i k u r erheblich g r ö ß e r als in der g e m e i n s t o i s c h e n D o k t r i n . C o t t a stellt n u r z u r W a h l , o b P u n k t g e g e n P u n k t o d e r S y s t e m g e g e n S y s t e m gestellt w e r d e n soll. B a l b u s e r w i d e r t , o h n e C o t t a s E r k l ä r u n g z u r K e n n t n i s z u n e h m e n , mit einer anderen A l t e r n a t i v e : W e n n C o t t a nach e i n z e l n e m f r a g e n w i l l , w i r d er e n t s p r e c h e n d a n t w o r t e n ; will er ihn b l o ß w i d e r l e g e n , so ist i h m beides recht. In der Tat holt C o t t a z u einer u m f a n g r e i c h e n R e d e aus, die das stoische S y s t e m i m g a n z e n in Frage stellt. D a m i t scheint er implicite z u z u g e b e n , d a ß sein Z i e l nicht ein besseres Verständnis, s o n d e r n die g l o b a l e W i d e r l e g u n g der stoischen P o s i t i o n ist. G a n z klar w i r d der Sinn dieses V o r g e s p r ä c h e s nicht. Sollen w i r sagen,

KOMMENTAR ZUM DRITTEN

BUCH

535

daß Ciceros römische Urbanität mit der Intransigenz, mit der der Grieche Karneades gegen die Stoa kämpfte, nicht recht zu versöhnen war? 5 An der Spitze steht das persönliche Problem, das Cotta zu bewältigen hatte. Es hat einen doppelten Aspekt. Anders als für die Athener Piatons kann für den Römer die Autorität des Gesprächspartners ein gewichtiger Faktor werden; und dazu kommt, daß nach Ciceros Arrangement ein römischer Pontifex die Kritik an der stoischen Theologie vorzutragen hat und damit in gewissem Sinne seiner eigenen Position den Boden entziehen muß. In einer weniger dramatischen, aber vergleichbaren Situation hatte sich Cicero selbst in Lucullus 61-63 gezeichnet. Die Antwort Cottas besteht in einer scharfen Distinktion zwischen der Tradition der römischen Religion, die eine unüberbietbare Autorität beanspruchen darf, und den rationalen Argumentationen der Philosophen. Programmatisch werden drei römische Pontifices Maximi, die die Autorität repräsentieren, drei stoischen Philosophen gegenübergestellt, die gerade keine Autorität besitzen, aber Beweisgründe anzubieten haben. In einer zweiten Antithese wird eine berühmte Rede, in der C. Laelius für das unveränderte Festhalten an den alten religiösen Institutionen Roms eingetreten war (die Fragmente in Oratorum Romanorum Fragmenta, Nr. 20, Frg.12 ff. ed. Malcovati), gegen die Stoa ausgespielt. Wie wichtig diese Institutionen sind, wird an ihrer formellen Aufgliederung deutlich gemacht. Das System wird skizziert: (1) Die sacra, deren Einrichtung jedenfalls schon vor Ennius dem König Numa zugeschrieben wurde (eine lehrreiche Beschreibung der Einzelheiten in Plutarchs Biographie des Numa). (2) Da die Gründung Roms bei Ennius selbst durch Vogelzeichen erfolgte, so wird Romulus der Begründer der auspicia und des Augurenkollegiums. (3) Erstaunlich und auch bezeichnend ist es, daß dazu auch zwei anerkanntermaßen nicht-römische Institutionen treten, griechisch die Orakel der Sibylle, etruskisch die Zukunftserkundung der Haruspices. Beide müssen schon im 4. Jh. v. Chr. unter Umständen, die wir nicht kennen (und die auch die Zeit Ciceros nicht mehr gekannt hat), von Rom rezipiert worden sein. Daß es ausländische Institutionen waren und blieben, hat man immer gewußt. Der Schluß erinnert an die vielfach wiederkehrende Uberzeugung des klassischen Rom, daß es die Gunst (placatio ein Sakralbegriff, vgl. De divinatione 2,36; De officiis 2,11; Plinius, Naturalis historia 8,182) der

ANHANG

536

Götter gewesen sei, die das Römische Reich so groß gemacht habe. A u c h in diesem Punkt hat R o m an Glaubensformen festgehalten, die dem geschichtlichen Athen des 5.-4. Jh.s v. Chr. längst verloren gegangen waren. 6

D e r Gegensatz ist klar: H i e r die geschichtliche Tradition und A u -

torität, dort die von der Geschichte im allgemeinen und von der Person des Redenden im besonderen unabhängigen Vernunftgründe. Damit ist eine K o n k u r r e n z zweier Prinzipien inauguriert, die in christlicher Zeit als K o n k u r r e n z zwischen Glaube und Einsicht immer wieder zur Diskussion gestellt worden ist. Wie weit da (bei Tertullian, Arnobius, Lactantius und Augustin) der Einfluß Ciceros reichte, ist eine noch offene Frage. Baibus glaubt seine G r ü n d e schon dargelegt zu haben. 7

Cotta präzisiert: D a v o n , daß Götter existieren, ist er überzeugt,

doch die Gründe, warum sie existieren, reichen nicht aus; es soll von der Fiktion ausgegangen werden, daß Cotta überhaupt nichts von Göttern wisse. 8

Begonnen wird mit einem weitreichenden methodischen Ein-

wand, genauer: gegen die Bemerkung des Baibus, er habe seine G r ü n d e schon dargelegt, wird gefragt, warum er so viele G r ü n d e angeboten und die Sache gleichzeitig als evident bezeichnet habe. Was evident ist, braucht nicht bewiesen zu werden, und was bewiesen werden muß, ist nicht evident. Elegant und nicht wirklich widerlegt ist der Hinweis des Baibus, w i r hätten ja auch zwei Augen, w o doch eines hätte genügen können. 9

Cotta beruft sich einerseits auf den Gegensatz zwischen Volks-

rede und philosophischer Diskussion (vgl. 1 , 6 1 ; De re publica

1 , 1 6 und

De officiis 2,35), womit freilich 1,6 nicht glatt zur Deckung zu bringen ist; denn dort rühmt C i c e r o gerade den philosophischen Charakter seiner Reden. Andererseits w i r f t er nicht ohne eine gewisse Brutalität dem Partner vor, dieser habe selber zur Evidenz seiner Thesen kein genügendes Vertrauen. 10-11

Mit 3 , 1 0 - 1 5 soll systematisch 2 , 4 - 1 2 widerlegt werden.

D e r erste Beweis w a r die elementare, durch das Zitat aus Ennius' Thyestes (Frg. 15 3 Jocelyn) gestützte Uberzeugung von der Göttlichkeit der Gestirnwelt. Ihn widerlegt die Tatsache, daß es darüber keinen C o n sensus gibt, weder zwischen Griechen und R ö m e r n (denn der kapitoli-

K O M M E N T A R ZUM DRITTEN

BUCH

537

nische Iuppiter ist kein Gestirngott) noch unter den griechischen Philosophen. D e r zweite Beweis ist, daß der Gottesglaube allgemein verbreitet ist und dauernd stärker wird, wogegen boshaft geltend gemacht wird, gerade der Stoiker, der die meisten Menschen als Toren verachtet, habe kein Recht, sich auf irgendeinen Consensus zu berufen. D e r dritte Beweis betraf die Epiphanie der Dioskuren. Dagegen wird nuanciert argumentiert: Einerseits beweist Homer, Ilias 3,243-244, daß sie Menschen waren, also unmöglich Hunderte v o n Jahren später dem Vatinius in Menschengestalt erscheinen konnten; da ist einmal vorausgesetzt, daß H o m e r nicht lange nach dem Troianischen Krieg lebte; C i ceros D a t u m f ü r Homer, De re publica

2 , 1 8 - 1 9 , entspricht, wie zu er-

warten, dem Datum Apollodors von Athen (Fragmente der Historiker

griechischen

244 F 63), d. h. rund 270 Jahre nach dem Falle Troias; beacht-

lich sodann die peiorative Verwendung seltener Fachausdrücke cantherii, calones; endlich der in vergleichbaren Fällen oft wiederholte G e danke, es sei sinnwidrig, daß die Epiphanie gerade einem beliebigen Menschen zuteil wurde - w o m i t verkannt wird, daß die Beliebigkeit gerade zum Wesen der Epiphanie gehört. 12

A u f der anderen Seite gilt, daß die Seelen der Dioskuren wie die-

jenigen anderer berühmter Männer unsterblich sind. Das Uberleben der Seele wird ebenso mit dogmatischer Sicherheit behauptet, wie das Wiederaufleben des Körpers bestritten wird. U r b a n konzediert Cotta, es müsse mindestens bewiesen werden, daß die K ö r p e r Wiederaufleben können. 13

Eine sonderbare Situation entsteht dadurch, daß sich der Stoi-

ker auf zwei urkundlich und damit verbindlich festgelegte Tatsachen beruft; der V o r w u r f , es handle sich um bloßes Gerede, kann sich ernsthaft nur auf die Geschichten um die Schlacht bei der Sagra beziehen. O b und wie es Cotta möglich war, auch die beiden römischen Beispiele zu entwerten, wissen wir nicht, da der Text hier eine L ü c k e von etwa 1 0 - 1 5 Zeilen hat. 14

Z u ergänzen ist: Das Vorauswissen künftiger Ereignisse hat nur

dann einen Sinn, wenn in der Z u k u n f t viele Möglichkeiten offenstehen, aber eine bestimmte Episteme es erlaubt, unter den Möglichkeiten diejenige prognostisch zu identifizieren, die tatsächlich eintreten wird; ist jedoch der Ablauf aller Ereignisse seit Ewigkeit festgelegt, so kann ein

ANHANG

53«

Wissen von diesem Ablauf, das selbst im Ablauf vorgesehen ist, nur lähmend wirken. Dazu kommt, daß ein technisch erreichbares Wissen von der Zukunft weder für noch gegen die Existenz der Götter etwas beweist. Dazu wird einerseits die stoische Definition des Fatum, Heimarmene (Stoicomm veterum fragmenta

2,912-927), gegeben, andererseits ange-

deutet, daß zwischen der Eingeweideschau der Haruspices, der Vogelschau der Augures, dem Losorakel von Praeneste und dem Vorauswissen künftiger Ereignisse kein sinnvoller Zusammenhang besteht. Als Pontifex beteuert Cotta seinen Glauben an diese Traditionen, als Philosoph bleibt er bei der Verpflichtung zu verstehen. Ein empfindlicher Widerspruch besteht freilich zwischen dem credo und dem Verdacht, daß die Mantik meistens lügt. Davon abgesehen dürfte der strenge Aporetiker weder das eine noch das andere sagen, da er per definitionem weder glaubt noch nicht glaubt. Daß Aporetik überhaupt niemals konsequent durchgehalten werden kann, ist ein anderes Problem. 1J

Gegen die traditionelle Parallelisierung medizinischer und man-

tischer Prognostik wird erstaunlich hart erklärt, in der Medizin bestehe ein sichtbarer und wissenschaftlich faßbarer Zusammenhang zwischen Diagnose und Therapie (dies ist gemeint), in der Mantik nicht. Ohne den Einfluß einer griechisch-skeptischen Haltung würde der Römer wohl nicht so kategorisch formulieren. 2,10 hatte die Selbstaufopferung der Decii genannt, ohne zu präzisieren, inwiefern sie die Existenz der Götter beweise (was doch die A b sicht von 2 , 4 - 1 2 war). Dies wird hier aufgenommen und interpretiert. Die Pointe ist aber auch da nicht die Existenz der Götter, sondern die Frage, in welchem Zusammenhang diese Tat mit dem Wohlwollen der Götter R o m gegenüber stehe. Daß die Tat stattfand, wird nicht bestritten. Doch sehr aufklärerisch wird ihr Erfolg nicht einem Eingreifen der Götter zugeschrieben, sondern ihrer psychologischen Wirkung auf das Heer. Es ist ein Gegenstück zur Zukunftserkundung. Wo diese stattfindet (so dürfen wir ergänzen), hat sie nichts mit Eingeweiden und Vögeln zu tun, sondern nur mit menschlicher Voraussicht; und wenn R o m dank den Decii siegreich war, so nicht, weil die Götter halfen, sondern weil das Beispiel die Legionen begeisterte. Die Ablehnung des Faunus ist so brutal, daß man sich fragen wird, ob wirklich der ehrwürdige altrömische Gott gemeint ist oder nicht eher der griechische Pan.

KOMMENTAR

16-18

ZUM DRITTEN

BUCH

539

Hier beginnt eine summarische Widerlegung der Argumente

des Kleanthes ( 2 , 1 3 - 1 5 ) , auf die diejenige des Chrysippos folgt (2,16) und des Zenon (2,20-22), oder vielmehr: Ausdrücklich widerlegt wird nur Kleanthes mit seinem Hinweis auf die erschreckenden Naturerscheinungen, die das Wirken der Götter bezeugen (2,14 mit der ausführlichen, mit römischem Material angereicherten Liste). Denn dieser Hinweis besagt nur, daß die Menschen solche Phänomene für ein Eingreifen der Götter halten, und nicht, daß dies tatsächlich ein solches Eingreifen ist. Darin liegt ein Stück Aufklärung, das bis in die Vorsokratik zurückreicht. Was an Argumenten des Kleanthes, Chrysippos und Zenon verbleibt, soll global dort behandelt werden, w o der Akademiker zeigen wird, daß die Welt nicht durch die Pronoia der Götter verwaltet wird. Dies geschah in der großen Lücke 3,65. Der Verlust wiegt insofern schwer, als es systematisch wichtig gewesen wäre zu verfolgen, wieweit es gelingen konnte, den Nachweis der Unvollkommenheit der Welt so vorzutragen, daß die Unabhängigkeit des Akademikers von entsprechenden epikureischen Thesen erhalten blieb. Retrospektiv ist dabei die Tatsache vielsagend, daß 1,52-54 augenscheinlich genau diesen Punkt, daß nämlich die Welt zu unvollkommen ist, als daß man eine Verwaltung durch die Götter annehmen dürfte, gänzlich ausklammert und sich auf die Position zurückzieht, die Eudaimonia der Götter sei nur als schole denkbar. Das ergänzende Urteil über den Zustand der Welt wollte Cicero wohl von vornherein der Polemik des Akademikers gegen die Stoa überlassen. Auf die spätere Darlegung verschoben wird auch einerseits die stoische Lehre vom kosmischen Feuer und andererseits diejenige von der Belebtheit der Welt und der Gestirne (2,29-44); das war freilich schon in 3 , 1 1 angedeutet worden und wird ζ. T. in 3,20-28 diskutiert; die Trennung der Frage nach der Existenz der Götter von derjenigen nach ihrem Wirken erweist sich auch hier als künstlich. 19

Cotta insistiert nach alledem darauf, daß keiner der stoischen

Beweise für die Existenz der Götter überzeugend ist. Er ist, wie schon 3,15 sagte, kein Atheist, sondern wartet auf bessere Beweise als diejenigen, die der Stoiker anbietet. Baibus antwortet gereizt, ohne daß ganz klar wird, was er meint. Richtig ist, daß 3,1 und 3,4 ein Frage- und Antwortspiel vorgesehen hatte, das dann nicht zustande kam, sondern durch

540

ANHANG

einen dogmatischen Vortrag ersetzt wurde. Dahinter steht natürlich die Spannung zwischen dem platonischen Vorbild, also eines im ganzen echten Dialogs, und der ganz anderen Situation des Spätlings und des R ö mers, w o es sich nicht mehr um Frage und A n t w o r t , sondern um die Konfrontation ausgebildeter Systeme handelt. Gewaltsam wirkt dagegen der V o r w u r f , Cotta habe allzu kurz über Divination und Fatum geurteilt ( 3 , 1 3 - 1 5 ) , ohne die ausführlichen Erläuterungen der Stoa zu diesem Punkte abzuwarten. Baibus gibt selbst zu, daß diese gesondert behandelt werden müssen, was f ü r den Leser ein Hinweis auf die nachfolgenden einschlägigen Schriften De Divinatione

und Defato

Ci-

ceros ist. So kann der Partner fordern, daß nur das diskutiert werde, was er im vorangehenden Buch faktisch gesagt hatte. 20

Von den vier in 3,6 (vgl. 2,3) aufgeführten Punkten gilt der erste

als erledigt. Es folgt der zweite, der, wie bemerkt, v o m ersten kaum abtrennbar ist: 3,20-28 zu 2,45-72. Angefochten wird zunächst der Syllogimos: (a) Gott ist das vollkommenste Wesen, (b) in der N a t u r ist das vollkommenste Wesen die Welt, (c) also ist die Welt Gott, also selbst ein Lebewesen. 21

Alles hängt an der Frage, was «vollkommen» heißt. D e r griechi-

sche Begriff ist zweifellos kratistos,

was vieldeutig das Stärkste, das

Beste, das Vorzüglichste meinen kann. D e r G e g n e r greift gerade diese Vieldeutigkeit an. Wenn Schönheit und Nützlichkeit, wie sie auch einem Gegenstand zukommen, darunter verstanden werden sollen, stimmt er zu. Wenn dies aber auf die personale Qualität der Weisheit geht, verweigert er die Zustimmung. «Die Welt» ist keine Person. Eine gegenständliche Vorzüglichkeit ist diskutierbar, eine personale Vollkommenheit nicht. Drastisch wird exemplifiziert: als Gegenstand ist R o m einzigartig, w o aber nach der Personalität gefragt wird, ist die geringste Ameise, die mit einer Seele ausgestattet ist (kühn wird ihr sogar Geist, Vernunft und Gedächtnis zugeschrieben, deduziert aus ihrer Fähigkeit der Staatenbildung), der Stadt R o m , die ein Gegenstand und kein Lebewesen ist, überlegen. 22

Zenons Syllogismos aus 2,20 variiert 3,20 und will beweisen, daß

die Welt vernunftbegabt, weil vollkommen ist. 23

D e r Einwand beruht wieder auf den unbegrenzten Möglichkei-

ten der Interpretation des Begriffs der Vollkommenheit. Ein anderer Syllogismos geht von dem Satz aus, daß alle Lebewesen

K O M M E N T A R ZUM DRITTEN

BUCH

541

(Pflanzen, Tiere) aus sich Lebewesen hervorbringen, die ihnen ähnlich sind. D i e Welt bringt vernunftbegabte Menschen hervor, ist also selber vernunftbegabt (2,22). Wiederum sind absurde Folgerungen möglich; außerdem wird schon vorausgesetzt, was zu beweisen war, daß nämlich die Welt ein Lebewesen ist. Ein weiteres Mal wird zugestanden, daß die Welt alle Vorzüge besitzen kann, die einem Gegenstande zukommen; doch die Personalität ist damit nicht bewiesen und ist ebensowenig beweisbar wie bei den G e stirnen. D a freilich kann der Stoiker, gestützt auf eine schon alte Tradition, geltend machen, daß alle regelmäßigen und geordneten Vorgänge (wie der Gestirnlauf) einen O r d n e r voraussetzen. 24

D a weicht der Akademiker aus, und sein Argument, dergleichen

Regelmäßigkeiten müßten nicht auf G o t t , sondern eher auf die N a t u r zurückgeführt werden, wirkt schwach. Vier Beispiele werden angeführt. Bekannt ist der Euripos bei Chalkis (Euböa) seit Aischylos, non 1 8 9 - 1 9 0 , und Piaton, Phaidon

Agamem-

90 C . Es folgt die Meerenge zwischen

Sizilien und dem Festlande (Strabon 1 , 3 , 1 1 - 1 2 ; Plinius, Naturalis ria 2,219); dann die Straße von Gibraltar mit Zitat aus Ennius

histoAnnales

(V. 302 Vah.; w o h l aus der Schilderung des Ubergangs Hannibals von A f r i k a nach Spanien im Zweiten Punischen Krieg): von der Regelmäßigkeit der dortigen Strömungen erfahren wir, soweit w i r sehen, sonst nichts. Etwas anderes sind die regelmäßigen Wechsel von E b b e und Flut an der spanischen und britannischen Atlantikküste, Plinius, Naturalis historia 2 , 2 1 7 . Sie waren im 4. J h . v. Chr. von Pytheas von Massalia, in ciceronischer Zeit v o n Poseidonios beobachtet worden. Ironisch werden die regelmäßig eintretenden Fieberanfälle bei bestimmten Krankheiten danebengestellt: Hippokrates, Von den

Krank-

heiten 1; ob der römische Kult der Febris damit etwas zu tun hat, wissen wir nicht. 2$

Dogmatisch erklärt Cotta, f ü r alle diese Dinge lasse sich eine A i -

tiologie finden. D a die Stoiker dies nicht können, flüchten sie sich in ihrer Hilflosigkeit zu einem Deus ex machina; denselben Vorwurf hatte in 1,53 der Epikureer gegen die Stoa erhoben. Sodann wird C h r y s i p p o s herangezogen; dabei soll es der A u f l o c k e rung dienen, daß leicht pedantisch die beiden Qualifikationen als versutus und callidus etymologisch erklärt werden. Es soll die These v o n 2,16

ANHANG aufgenommen werden, obschon der Wortlaut etwas abweicht (vgl. Stoicorum

veterum

fragmenta

2 , 1 0 1 1 ) . Das erste Argument geht von

C h r y s i p p s allgemeiner Voraussetzung aus, daß alles, was vorhanden ist, gemacht wurde, also das Werk eines Techniten ist; das ist im weiten Sinne eine sophistisch-sokratische Voraussetzung, die das organische Werden durch das technische Verfertigen ersetzt. Die Folgerung ist einfach: D a die Welt nicht v o m Menschen verfertigt wurde, muß sie von einer höheren Instanz, also von G o t t , verfertigt sein. 26

Sonderbarerweise wird aber nicht das Verfertigen in Frage ge-

stellt (oder steckt dies in der Antithese: N a t u r - Vernunft ?), sondern wie in 3,21 der Begriff des «Besseren» (kreitton),

der f ü r den Beweis irrele-

vant ist; denn daß der Mensch den K o s m o s nicht verfertigt hat, ist evident. Cicero hat da etwas ungeschickt vereinfacht. Das zweite Argument: N i m m t man keine Götter an als die dem M e n schen spezifisch übergeordnete Art von Lebewesen (vgl. 2 , 3 3 - 3 4 ) ,

so

wird der Mensch das vollkommenste Lebewesen, was absurd ist. Das Argument ist in 2,16 mit dem vorangehenden gekoppelt, aber der Sache nach autonom. Es könnte allerdings auch von E p i k u r beansprucht werd e n : D a d e r M e n s c h weiß, daß er weder die Unsterblichkeit noch die E u daimonia besitzt, wird er zwingend ein Wesen ansetzen, das hat, was er nicht hat (vgl. 3,3). D e r Stoiker freilich bringt sich in unüberwindbare Schwierigkeiten, wenn er unbesehen G o t t und Welt identifiziert. Ironisch, wie schon in 3 , 2 1 , wird erklärt, der Mensch habe Vernunft, was auch die berühmtesten Sterne nicht haben; dabei behält O r i o n seinen griechischen N a m e n , während der Hundsstern Sirius (wann?) latinisiert ist. Das dritte Argument: Wie ein Haus f ü r die Hausherren und nicht f ü r die Mäuse erbaut ist, so auch die Welt f ü r die Götter (und nicht f ü r den Menschen, vgl. 2,17). N u n folgt der Einwand, den wir beim ersten A r gument erwarten konnten: D i e Welt ist nicht von Göttern f ü r G ö t t e r erbaut und verfertigt worden, sondern durch die N a t u r so gestaltet. D e r Beweis wird in Aussicht gestellt, kann aber schwerlich in der L ü c k e 3,6 j , die ganz dem Nachweis der Unvollkommenheit der Welt gedient haben muß, gestanden haben. Es ist auch grundsätzlich befremdend, daß der Aporetiker sich so äußert. Eine von einer unpersönlichen N a t u r gestaltete Welt kann genauso vollkommen sein wie eine durch eine göttliche Person verfertigte, und beide Thesen sind gleichermaßen dogmatisch.

KOMMENTAR ZUM DRITTEN

BUCH

543

Man wird sich fragen, ob es Ciceros Vorlage oder C i c e r o selbst war, der den Akademiker derart aus seiner Rolle fallen ließ. 27

Das vierte Argument ist dasjenige X e n o p h o n s , vgl. 2,18. Die

Widerlegung verläuft wie in 3,23. Beseeltheit wie Vernunftbegabtheit kann nicht isoliert ausgesagt und von den Leistungen eines beseelten und vernünftigen Wesens abgetrennt werden. Hat also die Beseeltheit denselben Sinn wie beim Menschen, so impliziert sie (oben: die Fähigkeit des Lesens usw.) hier die Begabung zur Sprache und Musik. Drastisch wird gezeigt, wie absurd dies wirkt, wobei als absurd bezeichnenderweise auch die pythagoreische Lehre v o n der Sphärenharmonie gilt; vgl. Piaton, Staat 6ijü;

Kratylos 405 C ; Aristoteles, Über den Himmel

Cicero, De re publica

2,9, dann

6 , 1 8 - 1 9 . Geschichtlich gesehen scheint der späte

Hellenismus die Epoche zu sein, in der der Einfluß des Pythagoreertums auf ein M i n i m u m reduziert w a r (vgl. in unserem Text 1 , 1 0 . 7 4 . 1 0 7 ; 3,88). Dies hat sich erst v o m späten 2. J h . n. Chr. an geändert. Dogmatisch zusammenfassend wird nun nicht nur das Wirken der N a t u r gegen dasjenige einer Gottheit gestellt, sondern auch präzisiert, was unter «Natur» zu verstehen sei. Dies führt auf 2,57-58 und 2 , 8 1 - 8 2 zurück. D e r stoisch personalisierten Natur, die als Technite zur Fabrikation der Dinge schreitet (Diogenes Laertius 7,156; Aetios 1,7,33) wird die strikte unpersönliche N a t u r gegenübergestellt, die schon 2,81 erwähnt worden war und nach 1,35 der Lehre des Peripatetikers Straton (Frg. 33 W.) angehört. D i e Angst v o r den theologischen Konsequenzen, die die Einführung personaler Kategorien haben könnte, ist spürbar. Eine ausdrückliche Widerlegung des N a t u r b e g r i f f s Zenons muß in der Lücke 3,65 gestanden haben. 28

Daß die N a t u r in einem Zusammenhang von allem mit allem be-

steht (zur Formulierung vgl. 2,19), kann der Akademiker billigen, nicht aber, daß ein göttliches Pneuma notwendig sei, das den Zusammenhang herzustellen hätte. Ausdrücklich wird zustimmend der viel diskutierte stoische Begriff der sympatheia

(den C i c e r o ziemlich ungenau mit con-

sensus wiedergibt) zitiert, gleichzeitig aber epikurisierend erklärt, der Zusammenhang bestehe «von selbst» (automatos)

und nicht durch Ein-

griff der Götter. Dies ist eine f ü r den Akademiker sehr eigentümliche Position. Sie beharrt keineswegs darauf, daß der Mensch nichts wissen könne (dazu etwa Piaton, Apologie

19 B C , und etwas abweichend X e n o p h o n , Me-

544

morabilien

ANHANG

4,7,2-8), sondern verwirft lediglich eine personale Interpre-

tation der Welt und der N a t u r zugunsten einer Auffassung, die ausschließlich mit unpersönlichen Kräften rechnet. Diese Aporetik ist, scharf gesagt, nicht Agnostizismus, sondern Kampf gegen die Theologie. 29-34 29~34 i s t e i n geschlossener Block, der sich von der Umgebung deutlich abhebt und auf Karneades zurückgeführt wird. Parallel ist Sextus Empiricus, Gegen die Physiker 1,138-181. Welches Ciceros unmittelbare Vorlage war, wissen wir nicht. A m nächsten liegt die Vermutung, es sei Philon von Larisa, der nach 1,17 Lehrer sowohl Ciceros wie auch Cottas gewesen ist. D o c h w a r u m wird er in dem ganzen Buch nirgends erwähnt? Die Beweise folgen klar und knapp formuliert aufeinander: (1) Jeder Körper ist zerstörbar und vergänglich, also auch der Körper der Welt. (2) Jedes Lebewesen ist wirkend und leidend, und w e n n leidend, dann auch dem Tode ausgesetzt; dies gilt entsprechend für die Welt als Lebewesen. (3) Jedes Lebewesen ist leidend und jeder Körper teilbar; beides schließt die Unvergänglichkeit aus (man könnte beifügen, daß der Welt primär die Körperlichkeit, den Göttern primär die Lebendigkeit zukommt). (4) Wenn zugestanden wird, daß alles, was ist, veränderlich ist, so ist auch ausnahmslos jeder einzelne Körper veränderlich, also sterblich. D a scheint Heraklits Lehre, daß alles fließt (Piaton, Kratylos 402 A u. a.), im Hintergrund zu stehen. (5) Dies gilt ebenso von dem konkreten Nachweis, daß jedes der vier Elemente als solches vergänglich ist, und ebenso, daß die vier Elemente unaufhörlich ineinander übergehen, also jedes Element in das nächste hinein untergeht (s. dazu Heraklit, Fragmente der Vorsokratiker 22 Β }6 und 76). (6) Es gehört zur N a t u r jedes Lebewesens, Wahrnehmungen zu besitzen; wahrgenommen wird aber immer sowohl Angenehmes wie Schmerzhaftes. Was dem Schmerz ausgesetzt ist, ist auch dem Tode ausgesetzt. Dies Argument (das zeigt, wie gefährlich die Prädikation der Gottheit als Lebewesen ist, wenn wir Lebewesen das nennen, was in unserer Erfahrung ein solches ist) ist so wichtig, daß es in seine Teilaspekte zerlegt wird: (a) Was weder Lust noch Schmerz empfindet, ist kein Lebewesen; doch jedes Lebewesen empfindet dies, ist also vergänglich. Man wird merken, daß die Empfindungslosigkeit (apatheia), die die antike Philosophie als Ziel des Menschen zuweilen empfohlen hat, mit der Empfindungslosigkeit, die einem Lebewesen konstitutiv z u k o m m e n könnte, nichts zu tun hat. (b) Z u m

K O M M E N T A R ZUM D R I T T E N

BUCH

545

Wahrnehmen von Lust und Schmerz gehört untrennbar das Streben nach dem einen und das Meiden des anderen (Aristoteles, Von der Seele 414b i - 6 u. a.). Erstrebt wird das Naturgemäße, gemieden das N a t u r w i drige. Wenn aber ein Lebewesen durch das Naturwidrige gefährdet werden kann, so kann es auch am Naturwidrigen zugrunde gehen, (c) Dies wird dadurch bestätigt, daß ein U b e r m a ß vor allem an Kälte und Hitze anerkanntermaßen das Lebenwesen tötet (Aristoteles, Von der Seele 43 5b 7—19); und überall, w o ein Maß an E m p f i n d u n g vorhanden ist und die E m p f i n d u n g überhaupt, die zum Lebewesen gehört, kann es auch ein U b e r m a ß geben. (7) Jedes Lebewesen besteht aus mehreren der vier Elemente; denn daß es nur aus einem bestünde, wird ohne Angabe von G r ü n d e n ausgeschlossen. Dazu tritt die Beobachtung, die Aristoteles ausgebaut hat, daß jedes Element von N a t u r eine bestimmte Bewegung vollzieht: Feuer zentrifugal, Erde zentripetal, die anderen dazwischen. Im Lebewesen kämpfen also verschiedene Elementarbewegungen miteinander; diese können nur gewaltsam und auf kurze Zeit in einem Gleichgewicht gehalten werden. Die Antinomie zwischen einer Lehre, die jedem Element seine naturgemäße Bewegung und seinen oikeios topos (suus locus bei Cicero, vgl. Aristoteles, Uber den Himmel 276b 29; hH N u m a Pompilius

nach der Tradition der zweite römische König, Ge-

setzgeber besonders in sakralen Dingen Ops

1,107; 3>5·43

uralte römische Gottheit, vom 3. Jh. an mit der griechischen

Rhea identifiziert

2,61

Pacuvius zwischen Ennius und Accius der mittlere der drei klassischen römischen Tragiker um 130 v. Chr. 2,91; 3,48 Panaitios Erneuerer der stoischen Philosophie u m 150 v. Chr., einflußreich in R o m 2,118 Parmenides von Elea u m 460 v. Chr.; seine Ontologie hat alle spätere Philosophie entscheidend beeinflußt 1,28

6o2

ANHANG

Persaios Philon

S t o i k e r der ersten G e n e r a t i o n , u m 270 v. C h r . von Larisa

1,38

H a u p t der platonischen A k a d e m i e , floh 88 v. C h r .

v o r M i t h r i d a t e s nach R o m u n d hatte d o r t beträchtlichen E i n f l u ß , einer der L e h r e r C i c e r o s Piaton

1,6.17.59.113

g r ö ß t e r u n d einflußreichster griechischer P h i l o s o p h , 428-347

v. C h r . , G r ü n d e r der A k a d e m i e , L e h r e r des A r i s t o t e l e s 1,18.19.20.24.30.31.33.34.68.72.93.107; 2,32; 3,82 M. Porcius Cato

p o l i t i s c h w i e literarisch vielseitig tätiger r ö m i s c h e r

Staatsmann, 2 3 3 - 1 4 9 v. C h r . , in vielen D i n g e n C i c e r o s V o r b i l d 2,165; 3 ' 1 1 Poseidonios

von Apamea

u m 120-5 5 v. C h r . , ü b e r a u s e i n f l u ß r e i c h e r

Stoiker, v o r ü b e r g e h e n d a u c h L e h r e r C i c e r o s , Verfasser eines G e s c h i c h t s w e r k e s in der N a c h f o l g e des P o l y b i o s Prodikos

von Keos

d u r c h seine E t y m o l o g i e n Protagoras

von Abdera

1,118

u m 4 9 0 - 4 1 5 v. C h r . , b e k a n n t als Sophist,

Titelheld eines p l a t o n i s c h e n D i a l o g s Pythagoras

1,6.123; 2>88

u m 4 9 0 - 4 1 0 v. C h r . , Sophist, b e k a n n t v o r allem

von Samos

1,2.29.63.117

u m 570—500 v. C h r . , w i r k t e in Süditalien als

Stifter einer r e l i g i ö s - p h i l o s o p h i s c h e n G e m e i n d e 1,10.27.74.93.107; 3,27.88 P. Rutilius

Ruf us

K o n s u l 105 v. C h r . , geriet in K o n f l i k t e w e g e n seiner

streng p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s f ü h r u n g , lebte v o n 92 v.Chr. an in f r e i w i l l i g e r V e r b a n n u n g in Kleinasien, w o ihn C i c e r o b e s u c h t e 3,80.86 Ti. Sempronius

Gracchus

K o n s u l 177, 163

Ti. Sempronius

Gracchus

V o l k s t r i b u n 13 3 v. C h r . , B i o g r a p h i e v o n

Plutarch Simonides

1,106 u m 500-420 v. C h r . , neben P i n d a r d e r b e d e u t e n d s t e

griechische C h o r l y r i k e r Sokrates

2,10.165

1,60

4 7 0 - 3 9 9 v. C h r . , w e s e n t l i c h e r B e g r ü n d e r der p h i l o s o p h i -

schen E t h i k , A r c h e g e t der P h i l o s o p h e n s c h u l e n der S o k r a t i k e r 1 , 1 1 . 3 1 . 9 3 ; 2,18.167; 3> 2 7·^ 2 Speusippos

u m 4 1 0 - 3 3 9 v. C h r . , N e f f e P i a t o n s u n d sein N a c h f o l g e r in

der L e i t u n g der A k a d e m i e in A t h e n Stoiker

1,32

v o n Z e n o n v o n K i t i o n u m 300 v. C h r . g e g r ü n d e t e P h i l o s o -

603

NAMENVERZEICHNIS

phenschule; N a m e von einer Halle auf der Agora von Athen, w o sie in sokratischer Öffentlichkeit philosophierten Straton

passim

u m 287-269 v. Chr., H a u p t der Schule des Peripatos als

Nachfolger Theophrasts

um 210-159 v. Chr., Klassiker der römischen

P. Terentius Afer

2,60

Komödie

u m 620-5 5° v- Chr., Begründer der griechischen

Thaies von Milet

Naturphilosophie

1,25.91 um 300 v. Chr., Vertreter eines radikalen

Theodoros von Kyrene Atheismus Theophrastos

1,35

1,2.63.117 Schüler des Aristoteles und nach ihm H a u p t des Peri-

patos, 371-287 v. Chr., bedeutend vor allem als Naturforscher ι,35·93 Timaios von Tauromenien

um 370-289 v. Chr., bedeutendster Histo-

riker des griechischen Westens Timokrates 1

2,69

u m 300 v. Chr., Schüler, dann Gegner Epikurs

>93-113

Tyndaridai

Kastor und Polydeukes (Pollux), Söhne des Tyndareos, in

R o m frühzeitig als Halbgötter verehrt

2,6; 3,11.12.39

Ulixes frühzeitig latinisierter N a m e des homerischen Odysseus, dessen Abenteuer im Westen auch für R o m von Interesse waren 2,166; 3,41 Q. Varius Volkstribun 91 v. Chr. 3,81 P. Vatinius 168 v. Chr. erschienen ihm die zwei Tyndariden und offenbarten ihm den Sieg über Perse(u)s 2,6; 3,11.13 C. Vellerns

Senator, Freund des Redners Crassus, Epikureer, Ge-

sprächsteilnehmer Xenokrates

passim

nach Speusippos H a u p t der platonischen Akademie,

339-315 v. Chr.

1,34.72

Xenophznes vorsokratischer Philosoph und Dichter, 570-475 v. Chr. 1,28 Xenophon um 426-3 50 v. Chr., Politiker, Historiker und Sokratiker («Memorabilia») besonders in R o m viel gelesen 1,31; 2,18; 3,27

ANHANG

Zenon von Elea Schüler des Parmenides, um 490-420 v. Chr., von seinem schrecklichen Ende hat wohl der Historiker Timaios berichtet 3,82 Zenon Epikureer in Athen der Zeit Ciceros 1,59.93 Zenon von Kition um 334-263 v. Chr., Begründer der stoischen Philosophenschule, radikaler Ethiker und Logiker 1,36.37.38.70; 2,20.57.58.63; 3,5.18.22.23.25.27.63.77

LITERATURHINWEISE

Ausgaben und Übersetzungen M. Tullii Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Bd. 45: De natura deorum, edidit O. Piasberg, Leipzig: Teubner, 1917; 2. Aufl. post Ο. Piasberg edidit W. Ax, ebd. 1933; Nachdr. Stuttgart: Teubner, 1980. M. Tulli Ciceronis De natura deorum libri, edited by A. S. Pease, Cambridge (Mass.): Harvard University Press, Bd. 1: 1955; Bd. 2: ebd. 1958. Cicero: De natura deorum, Academica, with an english translation by Η. Rackham, London: Heinemann / Cambridge (Mass.): Harvard University Press, 1961. M. van den Bruwaene, Ciceron, De natura deorum, 3 Bde., Brüssel: Latomus, 1970-1981. M. Tullius Cicero, Vom Wesen der Götter, drei Bücher, lat./dt., herausgegeben, übersetzt und erläutert von W. Gerlach und K. Bayer, München: Heimeran, 1978; 3. Aufl. München/Zürich: Artemis Verlag, 1990. M. Tullius Cicero, De natura deorum / Über das Wesen der Götter, lat./dt., übersetzt und herausgegeben von U. Blank-Sangmeister, Stuttgart: Reclam, 1995. Sammelwerke Epicurea, hg. von H. Usener, Leipzig 1887. Die Fragmente der Vorsokratiker, griech./dt., hg. von W. Kranz, 3 Bde., Berlin 1903; 10. Aufl., hg. von H. Diels und W. Kranz, Berlin 1961. Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF), collegit ab H. v. Arnim, 4 Bde., Leipzig 1903-1924; Nachdr. Stuttgart 1964. Die Fragmente der griechischen Historiker, hg. von F. Jacoby, 3 Bde., Berlin/Leiden 1923-1958; Nachdr. Leiden 1954 ff.. Oratorum Romanorum Fragmenta, ed. H. Malcovati, 3 Bde., Turin 1930; 2. Aufl., ebd. 1955.

6o6

ANHANG

D i e Schule des A r i s t o t e l e s , F r a g m e n t e , hg. v o n F. Wehrli,

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P o s e i d o n i o s , D i e F r a g m e n t e , hg. v o n W. Theiler,

Berlin / N e w Y o r k

1982. M. Isnardi-Parente,

E p i c u r o opere, Turin, 2. A u f l . 1983.

Abhandlungen P. Boyance,

L e s p r e u v e s sto'iciennes de l'existence des d i e u x d'apres

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T l . I: V o n d e n A n f ä n g e n bis z u m A u s g a n g d e r R e p u b l i k ,

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D i e ursprungliche Gliederung v o n Ciceros D i a l o g «De

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G l a u b e der Hellenen, Bd. 1, Berlin

1931.

ZU DIESER A U S G A B E Mit dem vorliegenden Band wird die in dritter A u f l a g e 1990 erschienene A u s g a b e v o n Ciceros «Vom Wesen der Götter», herausgegeben v o n Wolfgang Gerlach und Karl Bayer, abgelöst. D o c h soll diese Umstellung in keiner Weise die Verdienste beider Gelehrter schmälern noch gar ihre Ubersetzungsleistung in Frage stellen. D e r Artemis Verlag hat sich entschieden, bei der N e u a u f l a g e die U b e r s e t z u n g und den K o m m e n t a r v o n O l o f G i g o n und Laila StraumeZ i m m e r m a n n zugrunde zu legen. Ü b e r s e t z u n g und K o m m e n t a r w u r den bereits 1989 verfaßt und können somit nicht den neuesten Stand der Forschung berücksichtigen. D e r Leser wird jedoch mehr als entschädigt durch einen Kommentarteil, der seinesgleichen sucht. Gebannt und fasziniert folgt man den Verknüpfungen und Verweisen eines der großen Fachgelehrten dieses Jahrhunderts, dessen souveräner philosophischer Geist die G r u n d z ü g e und Wesensmerkmale des antiken religionsphilosophischen D e n k e n s transparent zu machen versteht. 1996 hat Frau Straume-Zimmermann Text- und Kommentarteil noch einmal kritisch durchgesehen. D a s Literaturverzeichnis w u r d e für diese A u s g a b e neu erstellt.