Vom »Volkskörper« zum Individuum. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus [1. ed.] 9783835352018, 9783835348752

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Vom »Volkskörper« zum Individuum. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nach dem Nationalsozialismus [1. ed.]
 9783835352018, 9783835348752

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung: Gesundheit als Hypothek (Lutz Kreller)
I. Vorgeschichte(n): Wurzeln des BMGes (Lutz Kreller)
1. Gesundheit und Verwaltung vor 1945
Besonderheiten: Die Anfänge der Gesundheitsverwaltung im Deutschen Reich
Der Erste Weltkrieg als Zäsur: Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik
Entgrenzung und Polykratie: Gesundheit und Medizin als Ideologien im NS-Staat
2. Das verspätete Ministerium
Zusammenbruchsgesellschaft: Die Gesundheitsbürokratien der westlichen Besatzungszonen
Kein Bundesressort 1949: Die Gesundheitsabteilung im Bundesministerium des Innern
Das BMGes 1961: Gesundheit als neue Priorität?
II. Einstellungspraxis und Rekrutierungsmuster: Maßstäbe der Personalpolitik (Lutz Kreller/Franziska Kuschel)
1. Leitendes Personal
Erfahrene Beamte: Alter – Geschlecht – Professionen
Lebenswege und Netzwerke: Der Faktor NS-Vergangenheit
Abteilungskulturen und generationeller Wechsel: Von den 1960er zu den 1970er Jahren
2. Staatssekretäre
Walter Bargatzky: Von der Sicherheit zur Gesundheit
Ludwig von Manger-Koenig: Der erste Mediziner
3. Ministerinnen
Elisabeth Schwarzhaupt: Christdemokratin ohne Rückhalt
Käte Strobel: Sozialdemokratischer Wandel
Katharina Focke: Routiniertes Management
III. Gesundheitspolitik: Prägungen und Brüche (Lutz Kreller)
1. »Bestallung« vs. »Approbation«: Wortgefechte um den ärztlichen Beruf
Die Reichsärzteordnung 1935: Vom freien Arzt zum Staatsdiener
Kompromiss und Kontinuität: Die Bestallungsordnung von 1953
Mehr als Wortklauberei: Der Konflikt zwischen Bund, Ländern und ärztlichen Verbänden um die »Approbation« in den 1960er Jahren
2. Sterilisation: Unbewältigte Vergangenheit und utopische Vision
Josef Stralau: NS-Rassenhygieniker im öffentlichen Gesundheitsdienst des »Dritten Reiches«
Oberhausener Radikalität: Stralau und die Extreme der NS-Gesundheitspolitik
Die Legalität von Unrecht: Josef Stralau und die Nichtentschädigung der NS-Zwangssterilisierten in der frühen Bundesrepublik
Bonner Eugenik: Stralaus Initiativen für ein Sterilisationsgesetz in den 1960er Jahren
Eugenik am Ende, Opfer verdrängt: Die 1960er Jahre und ihre langfristigen Folgen
3. Krebs: Zum Umgang mit einer Volkskrankheit
Deutschland an der Weltspitze: Die Entwicklung der Krebsforschung ab 1900
Krebs im »Dritten Reich«: Der Nationalsozialismus als Zäsur der deutschen Krebsforschung
Angst und Tabu: Der bundesdeutsche Umgang mit dem Krebs in den 1950er Jahren
Wandlungsprozesse: Das BMGes und der Krebs bis Anfang der 1970er Jahre
4. Nikotin: Das Gift der Freiheit
»Der Führer raucht nicht!«: Tabak als geduldetes Tabu zwischen 1933 und 1945
Gesundheitsprävention der 1950er und 1960er Jahre: Von der »Freiheit des Rauchers«
Bremsklotz: Das BMGes und die Tabaklobby bis Anfang der 1970er Jahre
5. Sauber und gesund: Luftreinhaltung und Lebensmittelsicherheit
Die Anfänge des Umweltschutzes auf Bundesebene: Das BMGes und die Luftreinhaltung im Wandel der 1960er Jahre
Skandale und Zusatzstoffe: Lebensmittelsicherheit als Verbraucherschutz
Das BMGes und die Lernprozesse in der Gesundheitspolitik nach 1945. Eine Bilanz (Lutz Kreller/Franziska Kuschel)
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Personenregister
Dank

Citation preview

Lutz Kreller | Franziska Kuschel Vom »Volkskörper« zum Individuum

Lutz Kreller | Franziska Kuschel

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Gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und der Raleway Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf © SG -Image unter Verwendung der Fotografie: Käte Strobel, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, bei der Vorstellung einer neuen Kampagne für mehr Bewegung, Anfang der 1970er Jahre Fotograf: Horstmüller; Süddeutsche Zeitung Photo, Bild-ID 00612961 Lithografie: SchwabSantechnik, Göttingen ISBN (Print): 978-3-8353-5201-8 ISBN (E-Book, pdf ): 978-3-8353-4875-2

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šŅųčåŸÏĘĜÏĘƋåŠĹš×œƚųDŽåĬĹÚåŸBMG 埊XƚƋDŽUųåĬĬåųš 1. Gesundheit und Verwaltung vor 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Besonderheiten: Die Anfänge der Gesundheitsverwaltung im Deutschen Reich 21 | Der Erste Weltkrieg als Zäsur: Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik 28 | Entgrenzung und Polykratie: Gesundheit und Medizin als Ideologien im NS-Staat 35

2. Das verspätete Ministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Zusammenbruchsgesellschaft: Die Gesundheitsbürokratien der westlichen Besatzungszonen 45 | Kein Bundesressort 1949: Die Gesundheitsabteilung im Bundesministerium des Innern 52 | Das BMGes 1961: Gesundheit als neue Priorität? 59

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ÚåųƤ{åųŸŅűĬŞŅĬĜƋĜĩŠXƚƋDŽUųåĬĬåųÈ8ų±ĹDŽĜŸĩ±UƚŸÏĘåĬš 1. Leitendes Personal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Erfahrene Beamte: Alter – Geschlecht – Professionen 71 | Lebenswege und Netzwerke: Der Faktor NS -Vergangenheit 83 | Abteilungskulturen und generationeller Wechsel: Von den 1960er zu den 1970er Jahren 96

2. Staatssekretäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Walter Bargatzky: Von der Sicherheit zur Gesundheit 105 | Manger-Koenig: Der erste Mediziner 117

Ludwig von

3. Ministerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Elisabeth Schwarzhaupt: Christdemokratin ohne Rückhalt 124 | Käte Strobel: Sozialdemokratischer Wandel 136 | Katharina Focke: Routiniertes Management 147

FFFţ :åŸƚĹÚĘåĜƋŸŞŅĬĜƋĜĩ×{ų·čƚĹčåĹƚĹÚųƟÏĘå

ŠXƚƋDŽUųåĬĬåųš 1. »Bestallung« vs. »Approbation« : Wortgefechte um den ärztlichen Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Die Reichsärzteordnung 1935: Vom freien Arzt zum Staatsdiener 160 | Kompromiss und Kontinuität: Die Bestallungsordnung von 1953 166 | Mehr als Wortklauberei: Der Konflikt zwischen Bund, Ländern und ärztlichen Verbänden um die »Approbation« in den 1960er Jahren 170

2. Sterilisation : Unbewältigte Vergangenheit und YXSTMWGLIc:MWMSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Josef Stralau: NS -Rassenhygieniker im öffentlichen Gesundheitsdienst des »Dritten Reiches« 178 | Oberhausener Radikalität: Stralau und die Extreme der NS -Gesundheitspolitik 188 | Die Legalität von Unrecht: Josef Stralau und die Nichtentschädigung der NS -Zwangssterilisierten in der frühen Bundesrepublik 200 | Bonner Eugenik: Stralaus Initiativen für ein Sterilisationsgesetz in den 1960er Jahren 213 | Eugenik am Ende, Opfer verdrängt: Die 1960er Jahre und ihre langfristigen Folgen 224

3. Krebs : Zum Umgang mit einer Volkskrankheit . . . . . . . . . . 233 Deutschland an der Weltspitze: Die Entwicklung der Krebsforschung ab 1900 235 | Krebs im »Dritten Reich«: Der Nationalsozialismus als Zäsur der deutschen Krebsforschung 245 | Angst und Tabu: Der bundesdeutsche Umgang mit dem Krebs in den 1950er Jahren 252 | Wandlungsprozesse: Das BMGes und der Krebs bis Anfang der 1970er Jahre 260

3MOSXMR)EW,MJXHIV+VIMLIMX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 »Der Führer raucht nicht!«: Tabak als geduldetes Tabu zwischen 1933 und 1945 271 | Gesundheitsprävention der 1950er und 1960er Jahre: Von der »Freiheit des Rauchers« 280 | Bremsklotz: Das BMGes und die Tabaklobby Anfang der 1970er Jahre 292

5. Sauber und gesund : Luftreinhaltung und Lebensmittelsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Die Anfänge des Umweltschutzes auf Bundesebene: Das BMGes und die Luftreinhaltung im Wandel der 1960er Jahre 302 | Skandale und Zusatzstoffe: Lebensmittelsicherheit als Verbraucherschutz 308

Das BMG åŸƚĹÚÚĜåXåųĹŞųŅDŽ域åĜĹÚåų:åŸƚĹÚĘåĜƋŸŞŅĬĜƋĜĩ űÏĘŎĿĉĂţ)ĜĹåĜĬ±ĹDŽŠXƚƋDŽUųåĬĬåųÈ8ų±ĹDŽĜŸĩ±UƚŸÏĘåĬš . . . . . 315 &FOÇV^YRKWZIV^IMGLRMWƱ329`Ʋ6YIPPIRYRH1MXIVEXYV ZIV^IMGLRMWƱ332`Ʋ&FFMPHYRKWREGL[IMWƱ362`Ʋ5IVWSRIR VIKMWXIVƱ364c`Ʋ)EROƱ367

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»Homo sacra res homini« – Der Mensch muss dem Menschen heilig sein.1 Mitte des ersten Jahrhunderts formulierte der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca mit dieser Sentenz kategorische Imperative des Humanismus und der Medizin zugleich. Zwischen 1933 und 1945 wurden sie vom nationalsozialistischen Deutschland systematisch in ihr Gegenteil gewendet. Der Nationalsozialismus basierte auf einer inhumanen Ideologie und verfolgte antisemitische, rassistische, antiliberale, antidemokratische und aggressive Ziele. Elementarer Bestandteil des antihumanistischen Credos des Nationalsozialismus war ein »Drängen auf Lösungen«, wie es Ulrich Herbert betont und etwa auch Hannah Arendt in ihrer Analyse der »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« Anfang der 1950er Jahre formuliert.2 Auch zeitgenössisch wurde die ideologieimmanente »Dynamik« des NS -Regimes antizipiert. Der Nationalsozialismus tituliere sich nicht nur nominell als »Bewegung«, sondern er verstehe sich wortwörtlich als ein »Aufbruch«, charakterisiert durch permanenten Kampf, ein Anpacken ohne Zögern: »Man will nicht skeptisch sein, nicht wägend liberal sein, will nicht willensschwach sein wie die vorangegangene Epoche; will nicht die Dinge auf sich wirken lassen, sondern selbst auf die Dinge wirken«, so Victor Klemperer in seiner Darstellung über die Sprache des »Dritten Reiches« in den 1930er Jahren.3 Die seit 1921 unter Führung Adolf Hitlers stehende Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wollte ihre rassistisch-biologistischen Dogmen wahrmachen. Im Zentrum aller NS -Logiken standen der Kampf der angeblichen menschlichen »Rassen« um Vorherrschaft und Macht sowie eine der »arisch-deutschen Rasse« zugeschriebene Suprematie. Das politische Konzept des Nationalsozialismus basierte elementar auf Deutungen von der »Höher-« und der »Minderwertigkeit« des Menschen.4 Daraus abgeleitet wurde ein »Aktionsprogramm«: Die Juden waren der »Rassenfeind« der Deutschen schlechthin und mussten »eliminiert« werden; Liberalismus, 1 2 3 4

Vgl. Nickel, Epistulae, 95:33, S. 316. Vgl. Herbert, Rassismus, Zit. S. 29; ders., Traditionen; Arendt, Elemente. Vgl. Klemperer, Notizbuch, S. 303. Vgl. insgesamt ebd., S. 302 – 316. Vgl. u. a. Henke, Medizin; Eckart, Medizin; Longerich, Politik; Wehler, Nationalsozialismus; Herbert, Rassismus; ders., Traditionen; Arendt, Elemente.

EINLEITUNG

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Pluralismus, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus waren – im NS -Jargon – krankheitserregende »Bazillen« und Bestandteile »jüdischer Verschwörungen« gegen die Deutschen – die »abzutöten« und »auszurotten« waren.5 Konsequent alles, was eine vermeintliche körperlich-biologische und »rassische« Degeneration des deutschen Volkes zur Konsequenz hatte, wurde vom Nationalsozialismus stigmatisiert, selektiert und schließlich rücksichtslos bekämpft. Die körperliche Konstitution eines Menschen, Gebrechen und Krankheit blieben im »Dritten Reich« nicht länger Privatangelegenheiten, sondern wurden Themen von staatspolitischer Relevanz ersten Ranges.6 Aufgeworfen war damit zugleich die Frage, wie es Staat und Gesellschaft mit denen halten sollten, die gleichsam als pathologisch galten. Was bedeutete eine rassistisch-biologistische Weltsicht als politisches Aktionsprogramm für die, die nicht den Standard der als »rassenstark« und »gesund« definierten Norm erreichten? Wie sozial, mitmenschlich und tolerant konnte man ihnen gegenüber sein, wenn der Maßstab allen Handelns nur das Primat einer »rassischen Überlegenheit« des deutschen Volkes kannte und die individuelle Persönlichkeit in einem abstrakten »Volkskörper« aufging? Das heißt, die Rechte eines Menschen sich daran bemaßen, wie gesund und damit wie wertvoll er für das ideologisch definierte »Volksganze« war.7 Auf Senecas »Homo sacra res homini« antwortete Adolf Hitler in »Mein Kampf« bereits in den 1920er Jahren ultimativ radikal: Der »wohlkonservierte Abschaum unseres Volkskörpers« – mit dem die politische Opposition sowie die als »rassisch minderwertig« abqualifizierten Menschen gemeint waren –,8 müsse vom zukünftigen »völkischen Staat« der Nationalsozialisten »ohne Rücksicht auf Verständnis oder Unverständnis, Billigung oder Mißbilligung« bekämpft werden: »Darin liegt ein, wenn auch langsamer natürlicher Regenerationsprozeß begründet, der rassische Vergiftungen allmählich wieder ausscheidet, solange noch ein Grundstock rassisch reiner Elemente vorhanden ist und eine weitere Bastardierung nicht mehr stattfindet«, so Hitlers vulgär-rassistische pseudowissenschaftliche nationalsozialistische Weltanschauung.9

5 Vgl. u. a. Wehler, Nationalsozialismus; Herbert, Rassismus; ders., Traditionen; Arendt, Elemente; Wistrich, Hitler; ders., Apocalypse. Zur NS -Terminologie vgl. auch Schlosser, Sprache. 6 Vgl. u. a. Henke, Medizin; Eckart, Medizin. 7 Vgl. u. a. Süß, »Volkskörper«; Eckart, Medizin; Schwartz, Biopolitik; Zankl, Vererbungslehre; Müller-Hill, Selektion; Klee, »Euthanasie«. 8 Vgl. Hartmann / Vordermayer / Plöckinger / Töppel, Hitler, S. 1317. 9 Vgl. ebd., S. 1025, 1031, 1035. 8

EINLEITUNG

Dass diese rassistisch-biologistische Ideologie keine bloße Rhetorik war, sondern im gesundheitspolitischen Alltag während des »Dritten Reiches« zu Konsequenzen führte, veranschaulicht ein Beispiel aus dem Jahr 1938: Ein seinerzeit im rheinländischen Oberhausen tätiger Amtsarzt verdichtete die rassistisch-utilitaristische Quintessenz des Nationalsozialismus zu einem eigenen Ausdruck – der zugleich Grundlage seines exekutiven Handelns wurde: Die »volksbiologische Brauchbarkeit« einer begutachteten Person könne nur als »gering bezeichnet« werden, daher sei ihre Zwangssterilisation durchzuführen.10 Bei diesem Amtsarzt handelte es sich um Josef Stralau, von 1961 bis 1971 Leiter der Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums, zuständig für die Humanmedizin und die pharmazeutischen Angelegenheiten.11 Mehr als einmal im Verlauf seiner Karriere für das Amt des Staatssekretärs gehandelt, wenn nicht gar mit Ambitionen auf den Ministerposten,12 war Josef Stralau die graue Eminenz des Bonner Gesundheitsressorts. Bestens politisch wie fachlich vernetzt, war er tatsächlich Autoritätsperson vom Rang eines »Ersten Medizinalbeamten des Bundes«, wie Ministerin Käte Strobel im Januar 1971 anlässlich der Verabschiedung Stralaus in den Ruhestand betonte.13 Besaß Stralaus Überzeugung von 1938, dass Menschen nach ihrer »volksbiologischen Brauchbarkeit« zu klassifizieren waren, noch in den 1960er Jahren Bedeutung für sein Handeln im Bundesgesundheitsministerium? Tradierten sich gesundheitspolitische Vorstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus? Durchlief Stralaus Theorem der »volksbiologischen Brauchbarkeit« Anpassungs- oder Lernprozesse in der bundesdeutschen Demokratie? Mit anderen Worten: Wie bemessen sich Konsequenz und Bedeutung der Hypothek der nationalsozialistischen »Gesundheitspolitik« im Falle Stralaus ganz konkret? Nicht zuletzt bleibt aber auch zu fragen: Welche Konsequenzen hatten Stralaus Überzeugungen für seine Tätigkeit als Amtsarzt im öffentlichen Gesundheitsdienst des »Dritten Reiches«? Diese Fragen zeigen die plötzlich real werdende Relevanz scheinbar vergangener, historischer Entwicklungen – allen voran in der Gesundheitspolitik der Bundesrepublik. Diese Studie, die erstmals systematisch die Geschichte des 1961 gegründeten bundesdeutschen Gesundheitsressorts – des Bundesministeriums für Gesundheitswesen (BMGes) – bis Mitte der 10 Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 630, Antrag auf Unfruchtbarmachung, Juni 1938. 11 Zur Funktion Stralaus vgl. die Personalunterlagen in: BA rch, PERS 101 /79535. 12 Vgl. die Grundsatzvermerke des BKA mts Anfang der 1960er Jahre in: BA rch, B 136 /4705, sowie die Stellungnahme Stralaus gegenüber dem Generaldirektor des schwedischen Gesundheitsministeriums im März 1964 in: BA rch, B 142 /3614, Schreiben des BMGes an das schwedische Gesundheitsministerium, 11. 3. 1964. 13 Vgl. AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 60, Sprechzettel, 27. 1. 1971. EINLEITUNG

9

1970er Jahre untersucht,14 stellt derlei Fragen in den Mittelpunkt einer historischen Analyse. Die Bedeutung des BMGes in den 1960er und 1970er Jahren soll umfassend in den Blick genommen werden: Inwieweit prägten gesundheitspolitische Traditionen aus der Zeit des Nationalsozialismus – aber auch aus der Zeit vor 1933 – die Arbeit des Ministeriums? Wie setzte sich das neue Bonner Gesundheitsressort mit diesen Traditionen auseinander? Welche sachpolitischen Folgen hatte die Personalpolitik des Ministeriums? Welche Neuausrichtung der bundesdeutschen Gesundheitspolitik ist zu beobachten? Und welche Faktoren bestimmten den Entwicklungsprozess einer Gesundheitspolitik unter den Bedingungen der liberal-parlamentarischen Demokratie? Hierauf adäquat zu antworten, ist nur dann möglich, wenn man darum weiß, was »Gesundheit« nach 1945 zu einer ungeheuer großen Hypothek werden ließ. Die Bilanz der vom Nationalsozialismus nach 1933 in Deutschland implementierten »Gesundheitspolitik«, die auf rassistisch motivierter, obsessiver Selektion und medizinischem Töten fußte, war angesichts ihrer Inhumanität in der Geschichte der Medizin präzedenzlos: Im Zuge des NS Krankenmordprogrammes – der »Euthanasie« – wurden mehr als 300.000 geistig oder körperlich behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene ermordet; weitere Tausende Menschen wurden als Kriegsgefangene und KZ -Inhaftierte Opfer von als medizinische Wissenschaft bemäntelten »Experimenten«. Gesundheitlich versehrt und oftmals zeitlebens traumatisiert blieben die zwischen 300.000 und 400.000 Personen, die zwangsweise sterilisiert worden waren, zuzüglich der Opfer, die infolge des medizinischen Eingriffs der Unfruchtbarmachung starben. Hinzu kommt die unbekannte Zahl der Fälle, in denen ungeborenes menschliches Leben während der Schwangerschaft getötet worden war.15 Die historische NS -Forschung hat seit Ende der 1980er Jahre überzeugend dargelegt, dass eine radikal rassistisch-biologistische Deutung des Politischen und Sozialen ab 1933 keine Erfindung Hitlers war, sondern vielmehr Ergebnis eines im 19. Jahrhundert begonnenen Prozesses »wissenschaftlicher Entmenschlichung«.16 Selektions- und Evolutionstheorie – als Kernbestandteile des Sozialdarwinismus und der Idee einer Auswahl 14 In einer vergleichbaren Studie erforscht aktuell Sophie Friedl am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin die Arbeit des bayerischen öffentlichen Gesundheitswesens nach 1945, vgl. www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/gesundheitauf-dem-weg-in-die-demokratie-politik-personal-praegungen-des-oeffentlichengesundheitswesens-in-bayern-nach-dem-nationalsozialismus (31. 8. 2021). Zur Publikation vgl. dies., Demokratie. Zur jüngsten Untersuchung des DDR-Gesundheitsministeriums vgl. Braun, Medizin. 15 Vgl. Henke, Entmenschlichung, S. 9, 15, 24. 16 Zum Zit. vgl. ebd., S. 10 f. 10

EINLEITUNG

des Stärkeren durch steten Kampf ums Überleben – verfestigten sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu naturwissenschaftlichen Theoremen, die auf politische wie soziale Fragen übertragen wurden. Eine zunehmend biologistische Deutung politisch-sozialer Herausforderungen führte um die Jahrhundertwende in allen modernen Gesellschaften der damaligen Zeit zur Herausbildung eines mehr oder weniger stark ausgeprägten biologischen Paradigmas.17 Und so hatten westlich-demokratische Staaten auch lange vor 1933 begonnen, Gesetze auszuarbeiten, um die Weitergabe von Erbkrankheiten durch Sterilisierung von Personen zu verhindern. Die Eugenik, als Wissenschaft von der »guten Vererbung«, war insofern bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem Bestandteil öffentlicher Gesundheitspolitik geworden.18 Die Forschung hat detailliert die Metamorphosen (Michael Schwartz) des biopolitischen Diskurses der 1920er Jahre in Deutschland herausgearbeitet und die Vielfältigkeit der eugenischen Positionen in den diversen gesellschaftlichen und politischen Milieus der Weimarer Republik konturiert – von der Sozialdemokratie bis hin zu den Kirchen.19 Dabei wurde deutlich: Es gab keinen Entwicklungsdeterminismus. Die eugenische Vererbungslehre des 19. Jahrhunderts führte nicht zwangsläufig hin zur NS -Rassenhygiene, als einer rassistisch radikalisierten eugenischen Prämisse, vermengt mit grob versimpelnden und auf den Menschen übertragenen sozialdarwinistischen Konzepten eines Überlebenskampfes des Stärkeren gegen die Schwächeren.20 Charakteristisch war vielmehr die »Einbettung der NS -Rassenhygiene in einen umfassenden Kontext biopolitischer Normalisierungsstrategien« in den westeuropäischen Gesellschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts.21 Das heißt: Eugenik und nationalsozialistische Rassenhygiene waren insofern zwei Seiten einer Medaille, als der seit der Jahrhundertwende verstärkte Prozess der Biologisierung des Politischen und 17 Vgl. u. a. Schwartz, Wissen; ders., Eugenik; ders., Biopolitik; Eckart, Medizin; Zankl, Vererbungslehre; Müller-Hill, Selektion; Harms, Biologismus; Dickinson, Biopolitics. Vgl. ebs. Henke, Entmenschlichung, S. 13 f. 18 Vgl. u. a. Schwartz, Eugenik; Kesper-Biermann, Vorgeschichte; Roelcke, Sonderweg. 19 Die Beschreibung der Metamorphosen in: Schwartz, Wissen. Vgl. insgesamt ebs. ders., Eugenik; ders., Biopolitik; ders., Sozialistische Eugenik; Zankl, Vererbungslehre; Harms, Biologismus; Dickinson, Biopolitics; Eckart, Feld; Schmuhl, Zwangssterilisation. 20 Vgl. hierzu die Schmuhl-Schwartz-Kontroverse: Schmuhl, Rassenhygiene; ders., Sterilisation; ders., Eugenik; Schwartz, Rassenhygiene; ders., Euthanasie-Debatten; ders., Eugenik. Vgl. ebs. u. a. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 22 – 29; Roelcke, Sonderweg; Zankl, Vererbungslehre; Dickinson, Biopolitics; Benzenhöfer, Genese. Zur NS -»Euthanasie« vgl. insbes. Klee, »Euthanasie«. 21 Vgl. Schwartz, Wissen, S. 169. Widerlegt sind damit zugleich frühere Forschungsarbeiten der 1980er Jahre, die eine solche Einbettung u. Differenzierung nicht berücksichtigten. Vgl. u. a. Proctor, Hygiene. EINLEITUNG

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des Sozialen dazu geführt hatte, utilitaristisch zu kategorisieren. Menschen wurden als »höher-« oder als »minderwertig« betrachtet, »wertvolles« von »unwertem« und »defektem« Leben unterschieden.22 Ganz entscheidend war hierbei, mit Blick auf die deutsche Entwicklung, die katalysatorische Wirkung des Ersten Weltkrieges. Er markierte – so konnte die Forschung zeigen – mit Blick auf die 1918 /19 entstandene Weimarer Republik nicht nur eine politische Zäsur im Sinne der militärischen deutschen Niederlage und des damit in Verbindung stehenden Endes der Monarchie, sondern er entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem Fluchtpunkt medizinisch-gesundheitspolitischer Radikalisierungsprozesse. Krieg und Gewalt hatten den gesellschaftlichen Umgang mit ethischen Grenzfragen verändert und etwa auch Debatten über den Wert menschlichen Lebens radikal utilitaristisch aufgeladen. Angesichts der Erfahrung des Krieges verstärkte sich in den 1920er Jahren die Ende des 19. Jahrhunderts, im Rahmen der Darwin’schen Evolutionstheorie und der damit verbundenen Disziplin der »Eugenik«, begonnene Biologisierung des Politischen.23 Besonders radikal formten sich während der Weimarer Republik zwei vorangegangene Debatten aus: einerseits die nach dem »Gnadentod« bzw. der »Euthanasie«, als einen intendiert durch Ärzte gesetzten Endpunkt unheilbar kranken menschlichen Lebens, und andererseits die nach einer eugenisch-sozialdarwinistisch motivierten Aufforderung an den Staat, eugenische Bevölkerungspolitik zu betreiben und neues »krankes« menschliches Leben durch Unfruchtbarmachungen der »Erbanlagenträger« zu verhindern.24 »Euthanasie«- und Eugenik-Diskurs verliefen Anfang des 20. Jahrhunderts getrennt voneinander. Gemein war ihnen lediglich die ausgehend von den Kriegserfahrungen 1914 /18 enorme Zuspitzung ihrer Inhalte im Verlauf der Weimarer Republik bis 1932 /33.25 22 Vgl. hierzu Schwartz, Wissen; ders., Metamorphosen; Dörner, Nationalsozialismus; Zmarzlik, Sozialdarwinismus; Baader / Schultz, Medizin; Klee, Medizin; Müller-Hill, Selektion; Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse; Merkel, Tod; Eckart, Feld; Hirschinger, Rassenhygiene. Vgl. ebs. Nowak, Sterilisation; Wecker, Normalität; Peter, Einbruch; Schmuhl, Krankenmord; Bock, Zwangssterilisation, S. 21 – 76, sowie insgesamt den Bd. v. Henke, Medizin. 23 Vgl. u. a. Müller-Hill, Selektion; Schwartz, Biopolitik; ders., »Euthanasie«-Debatten; Harms, Biologismus; Dickinson, Biopolitics. 24 Vgl. Schwartz, Eugenik; ders., Rassenhygiene; ders., »Euthanasie«-Debatten; Baader / Schultz, Medizin; Klee, Medizin; Müller-Hill, Selektion; Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse; Merkel, Tod; Eckart, Feld; Hirschinger, Rassenhygiene; Nowak, Sterilisation; Wecker, Normalität; Peter, Einbruch; Schmuhl, Krankenmord, sowie insgesamt den Bd. v. Henke, Medizin. 25 Vgl. u. a. die Schmuhl-Schwartz-Kontroverse: Schwartz, Rassenhygiene; ders., Eugenik; Schmuhl, Eugenik; ders., »Euthanasie«. 12

EINLEITUNG

In den gesundheitspolitischen Debatten der 1920er Jahre wurden aber wichtige ethisch-moralische Grenzen durch die rechtsstaatlich-parlamentarischen Prinzipien der Weimarer Republik gesichert. Dies gilt für die Frage nach einem »Recht auf den Tod« und für die Freiwilligkeit, als Basis einer möglichen staatlich organisierten Sterilisationspraxis. Nichtsdestotrotz: Auch wenn »Euthanasie«- und Eugenik-Debatten in den 1920er Jahren nicht unmittelbar miteinander verschränkt wurden und politisch wie gesellschaftlich Minderheitenthemen blieben, war eben ihr jeweiliger – angesichts der Weltwirtschaftskrise 1929 /31 verstärkter – Radikalisierungsprozess Voraussetzung der allmählichen Amalgamierung von »Verhütung« und »Vernichtung« des »unwerten Lebens« zu einem inhumanen gesundheitspolitischen Konzept.26 Salonfähig und zu einem Bestandteil staatlichen Handelns wiederum wurde eine utilitaristisch-rassistische Gesundheitspolitik in Deutschland erst mit Antritt der NSDAP-Reichsregierung unter Kanzler Adolf Hitler Ende Januar 1933. Der Beginn des »Dritten Reiches« führte – so konnte die Forschung zeigen – zu einer maximalen Entgrenzung von Tabus und zu einer Beseitigung wichtiger Barrieren, sowohl juristischer als auch gesellschaftlich-moralischer wie medizinethischer Art. Der Nationalsozialismus markierte in diesem Sinne eine fundamentale Zäsur in Bezug auf die vorangegangenen Auseinandersetzungen um die »gute Vererbung« und den Umgang mit denen, deren Krankheit vermeintlich dazu geführt hatte, dass ihr Leben »allen Wert« für die Gesellschaft verloren hatte. Der Antritt Hitlers wirkte als Signal der Selbstermächtigung für die, die radikalste und bis dahin politisch wie gesellschaftlich nicht akzeptierte Minderheitenpositionen vertreten hatten. Aber erst in Verbindung mit den vonseiten der NSDAP-Regierung gesetzlich geregelten rassenhygienischen Maßnahmen begann ein systematischer und gravierender Erosionsprozess, der – verstärkt durch den Kriegsbeginn 1939 – Menschenleben unter medizinischgesundheitspolitischer Prämisse ausschließlich nach dem »Wert« für die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie ausgegebenen Ziele bemaß. »Behandelt«, »sonderbehandelt« oder »desinfiziert« – nationalsozialistische Synonyme für medizinischen Mord – wurden die Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllten und als »Ballastexistenzen«, »idiotische« oder »unnütze Esser« galten.27

26 Vgl. u. a. Schwartz, »Euthanasie«-Debatten; ders., Eugenik; ders., Biopolitik; Harms, Biologismus; Dickinson, Biopolitics; Eckart, Feld; Schmuhl, »Euthanasie«; Nowak, Sterilisation. 27 Vgl. u. a. Klee, »Euthanasie«; Aas, Kranken; Dörner, Nationalsozialismus; Jonas, Dienste; Allen, Ideology; Teppe, Massenmord. Zur Sprache des NS vgl. auch Schlosser, Sprache; Weber, Krebs. EINLEITUNG

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Die Dimensionen ärztlicher Beteiligung und Unterstützung planmäßigen Krankenmordes auf Grundlage rassistisch-utilitaristischer Ideologeme während des »Dritten Reiches« charakterisierten Alexander Mitscherlich und Fred Mielke 1947 als »Medizin ohne Menschlichkeit« und als ein »Diktat der Menschenverachtung«.28 Ihre damalige Berichterstattung über den in Nürnberg abgehaltenen sogenannten Ärzteprozess, zur Verurteilung hoher Verantwortlicher des NS -Krankenmordprogrammes und von »Experimenten« an Kriegsgefangenen und KZ -Inhaftierten, führte der westdeutschen Öffentlichkeit Schuld und Täterschaft von Medizinern im NS -Regime vor Augen.29 Auch in den 1950er und 1960er Jahren warfen Prozesse gegen »Euthanasie«-Ärzte Schlaglichter auf die Hypothek des Themas »Gesundheit«.30 Nichtsdestotrotz ruhten in der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre die systematische Untersuchung und historische Darstellung des generellen Agierens von Ärzten während des »Dritten Reiches« sowie ihrer Beteiligung an NS -Krankenmordprogrammen. Auch eine hierüber breit geführte gesellschaftliche Debatte fehlte.31 Erst in den 1990er Jahren – und vor allem in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten – entstanden zahlreiche wichtige Studien über die Rolle des öffentlichen Gesundheitswesens während des NS -Regimes,32 über die bürokratisch durchgeführte »Euthanasie« von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen,33 über die Typologie von Täterschaften,34 oder auch über die Bedeutung der in den »Krankenmordprogrammen« gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die Massentötung von Menschen für die Anfang der

28 Vgl. Mitscherlich / Mielke, Diktat; dies., Medizin. 29 Vgl. Dörner / Ebbinghaus, Vernichten; Weindling, Gerechtigkeit; Dörner / Linne, Ärzteprozess. 30 Vgl. u. a. Langer, Euthanasie-Prozesse; Godau-Schüttke, Heyde / Sawade-Affäre; Institut für Juristische Zeitgeschichte Hagen, »Euthanasie«. 31 Zu den diesbezüglich ersten Arbeiten der 1980er Jahre vgl. u. a. Baader / Schultz, Medizin; Kudlien, Ärzte; Orth, Transportkinder; Bock, Zwangssterilisation; Finzen, Dienstweg; Lifton, Doctors; Proctor, Hygiene; Noakes, Philipp Bouhler; Gernold, Gesundheitspropaganda; Teppe, Massenmord; Ärztekammer Berlin, Wert. 32 Vgl. Christians, Amtsgewalt; Vossen, Gesundheitsämter; ders., Erfassen; ders., Umsetzung; Schleiermacher, Gesundheitssicherung; Nitschke, »Erbpolizei«; Hüntelmann / Vossen / Czech, Gesundheit; Schmiedebach, Medizin. 33 Vgl. Klee, »Euthanasie«; Burleigh, Tod; Hinz-Wessels / Fuchs / Hohendorf / Rotzoll, Abwicklung; Hohendorf / Rotzoll / Fuchs / Hinz-Wessels / Richter, Opfer; Süß, Krankenmord; Teppe, Massenmord; Topp, »Reichsauschuß«; Lilienthal, T4-Aktion; Orth, Transportkinder; Beddies / Hübener, Kinder; Beddies, Kinder; Benzhöfer / Oelschläger / Schulze / Šimůnek, »Kinder- und Jugendlicheneuthanasie«; Benzhöfer, Fall; Kinast, Kindermord; Kaelber / Reiter, Kindermord. 34 Vgl. Berger, Experten; Mallmann / Paul, Karrieren; Lilienthal, Personal; Klee, Vergasungsärzte. 14

EINLEITUNG

1940er Jahre begonnene Schoah, als »Endlösung der Judenfrage«.35 Erforscht wurden zudem medizinisch-gesundheitspolitische Institutionen und deren Handeln während des »Dritten Reiches«, etwa das der Berliner Charité,36 das verschiedener medizinischer Fakultäten,37 das des Deutschen Roten Kreuzes38 oder auch das des Robert Koch-Instituts.39 Vor allem auch das medizinische Fachgebiet der Psychiatrie stand im Mittelpunkt historischer Darstellungen, war es doch der inhuman-entgrenzte Umgang mit geistig behinderten Menschen und psychisch Kranken nach 1933, der einen wesentlichen Kernbestandteil der eliminierenden »Gesundheitspolitik« des Nationalsozialismus ausmachte.40 Ausgehend von diesen Forschungen entstand ein umfangreiches Wissen über exekutiv-bürokratische Strukturen des Krankenmordes sowie über Bedingungen, Voraussetzungen und Wirkungen der Radikalisierung der Medizin nach 1933. Frühzeitig benannt wurden durch die historische Forschung dabei auch die großen personellen Kontinuitäten innerhalb der Ärzteschaft, anfänglich verstanden als eine Dokumentation ungebrochener Karrieren von Medizinern nach 1945 – trotz politischer Unterstützung der NSDAP und ihrer rassenhygienischen Gesundheitspolitik.41 Dieser biografische Zugang der Bestimmung von »NS -Belastung« differenzierte sich methodisch innerhalb der gesamten NS -Forschung in den letzten Jahren erheblich aus. Heute gilt, dass die »NS -Belastung« einer Person auch weit jenseits der nominellen NSDAP-Mitgliedschaft liegen kann und sich die Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie und die Bereitschaft zu ihrer Umsetzung auf vielfältige Weise analysieren lassen.42 Diese biografische Analyse und die strukturell-sachpolitische Forschung in Bezug auf die Geschichte der Medizin und die Gesundheitspolitik während des »Dritten Reiches« verzahnten sich in den zurückliegenden Jahren vermehrt mit dem Ziel, die Wirkung mentaler Kontinuitäten zu 35 Vgl. Friedlander, Weg; ders., Euthanasie; Scharnetzky, Konnex; Berger, Experten; Krakowski, Todeslager; Lilienthal, Personal; Klee, Vergasungsärzte; Kogon / Langbein / Rückerl, Massentötung. Zur Schoah vgl. insgesamt Hilberg, Vernichtung; Bajohr / Löw, Holocaust; Benz, Holocaust; Aly / Gruner / Heim, Verfolgung. 36 Vgl. Schleiermacher / Schagen, Charité. 37 Vgl. u. a. Grün/ Hofer / Leven, Medizin; Forsbach, Fakultät; Beddies, Traditionsbruch. 38 Vgl. Morgenbrod, Kreuz. 39 Vgl. Hinz-Wessels, Robert Koch-Institut. Vgl. ebs. die Studie zum »Apothekenalltag« während des »Dritten Reiches«: Schlick, Apotheken. 40 Vgl. u. a. Falk, Geschichte; Faulstich, Irrenfürsorge; Beyer, Kontinuitäten; Cranach/Siemen, Psychiatrie; Mundt/Hohendorf/Rotzoll, Forschung; Beddies/Hübener, Kinder; Hamann / Asbek, Vernunft; Jasper, Maximilian de Crinis; Behrens, Vernichtung. 41 Vgl. Klee, Was sie taten; ders., Medizin. 42 Vgl. insbes. die Problematisierung des »Belastungsbegriffes« bei: Bösch / Wirsching, Hüter. EINLEITUNG

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analysieren. Die zeitliche Eingrenzung einer Prägekraft und Traditionsverhaftung mit Blick auf medizinische Themen wurde dabei nicht nur auf die Jahre zwischen 1933 und 1945 verengt, sondern weiter gefasst. Es wurde vor allem mit Blick auf die Sozialhygiene, »Public Health« und die psychiatrische Disziplin danach gefragt, welche Traditionsstränge inhaltlicher Art die Arbeit der Fächer nach 1945 bestimmten – verstanden als Analyse der NS -spezifischen, aber auch der im Kaiserreich und der in der Weimarer Republik herausgebildeten Prägungen.43 Jüngst wurde dies mit Blick auf die psychiatrischen Fachgesellschaften erstmals in einem deutsch-deutsch vergleichenden Kontext thematisiert.44 Der Vergleich, verstanden als methodischer Zugriff, um wechselseitige Bezugnahmen oder auch Abgrenzungen mithilfe einer Gegenüberstellung unterschiedlicher Prämissen und Inhalte von Gesundheitspolitik auszumachen, bietet einen wesentlichen Erkenntnisgewinn für die Beschreibung und die Analyse von Medizin und Gesundheitspolitik im 20. Jahrhundert.45 Ulrike Lindner etwa stellte die Nachkriegsgesundheitspolitiken der Bundesrepublik und Großbritanniens gegenüber – jeweils historisierend eingebettet in die nationalen Besonderheiten von Gesundheitspolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.46 Dagmar Ellerbrock wiederum präsentierte Ergebnisse zur Neugestaltung der westdeutschen öffentlichen Gesundheitspolitik ausgehend von einer Beschreibung ihrer Anfänge nach 1945 in der amerikanischen Besatzungszone. Sie rückte dabei die wechselseitige Verzahnung von deutschen Prägungen und mentalen Kontinuitäten mit originär amerikanischen Vorstellungen in den Mittelpunkt – allen voran die US -Prämisse von »Public Health« als einer vom Staat wahrzunehmenden Aufgabe öffentlicher Gesundheitspolitik, die universelle Grundrechte ohne Ansehen der Person garantiere.47 Ellerbrock konnte – wie auch Sabine Schleiermacher hinsichtlich der Sozialhygiene nach 1945 in den westdeutschen Besatzungszonen – das Spannungsverhältnis zwischen erstrebter personeller Entnazifizierung und gleichzeitiger Implementierung einer »demokratisierten« neuen öffentlichen Gesundheitspolitik aufzeigen: Die starke personelle Kontinuität von Medizinern, die maßgeblich durch gesundheitspolitische Prämissen des »Dritten Reiches« geprägt waren, behinderte im westdeutschen Staat über 43 Vgl. Schleiermacher, Traditionen; Schagen / Schleiermacher, Sozialmedizin; Fangerau / Topp / Schepker, Kinder- und Jugendpsychiatrie; Wolters / Beyer / Lohff, Abweichung. 44 Vgl. Dörre, NS -»Euthanasie«. Explizit deutsch-deutsche Bezüge thematisiert ferner eine Studie zum urologischen Fach nach 1945 /49, vgl. Halling / Moll / Fangerau, Urologie. 45 Vgl. methodisch-theoretisch hierzu Thießen, Gesellschaften. 46 Vgl. Lindner, Gesundheitspolitik. 47 Vgl. Ellerbrock, Democracy; dies., Gesundheit. 16

EINLEITUNG

Jahre hinweg eine demokratisch-ideelle Neuausrichtung im Verständnis von öffentlicher Gesundheitspolitik.48 Diese insgesamt stärker auf die Frage zugespitzten Untersuchungen, welchen sachpolitischen Niederschlag die personellen Kontinuitäten nach 1945 im Bereich der Gesundheitspolitik hatten, gehören nichtsdestotrotz nach wie vor zu »Pionierarbeiten« innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Die vorliegende Arbeit knüpft methodisch an die beschriebenen neueren Studien an und möchte die bisherigen Erkenntnisse substanziell ausbauen. Näher untersucht werden zunächst die Biografien der leitenden Beamtinnen und Beamten des BMGes, also die Lebensläufe derjenigen, die im Untersuchungszeitraum mindestens eine leitende Funktion auf Referatsebene ausübten. Präsentiert werden hierbei in Kapitel II verschiedene personalpolitische Kriterien respektive deren Relevanz für die Personalpolitik des BMGes, etwa das der Bildung / Professionalisierung des Spitzenpersonals des Ministeriums vor 1945 oder Genderaspekte allgemein, nicht zuletzt aber auch das einer Mitgliedschaft in NS -Organisationen und der NSDAP.49 Ausgehend von exemplarischen biografischen Vertiefungen werden in Kapitel II und III Karrierestationen und Tätigkeiten von Personen hinsichtlich ihres im Kaiserreich, der Weimarer Republik und während des »Dritten Reiches« herausgebildeten Selbstverständnisses und ihrer gesundheitspolitischen Prägungen analysiert. Dabei wird auch die Frage von Schuld und Mittäterschaft aufgrund einer Beteiligung an rassistischen Praktiken der NS -Politik dargestellt. Vertiefend untersucht werden zudem in Kapitel III zentrale Politikfelder der bundesdeutschen Gesundheitspolitik in den 1960er und 1970er Jahren: die Reform des ärztlichen Standes- und Zulassungswesens, die 48 Vgl. Ellerbrock, Democracy; Schleiermacher, Traditionen. 49 In Bezug auf den ministeriellen Umgang mit den vormaligen Karrieren des Personals im NS u. die Analyse der personalpolitischen Kriterien des BMGes kann diese Arbeit auf Ergebnisse u. Methoden einschlägiger Untersuchungen zu bundesdeutschen Behörden in den 1950er u. 1960er Jahren aufbauen, insbes. Bösch / Wirsching, Hüter; Görtemaker / Safferling, Akte; Goschler / Wala, Bundesamt; Conze / Frei / Zimmermann, Amt; Rass, Sozialprofil; Wolf, Entstehung; Danker / Lehmann-Himmel, Landespolitik, sowie die Beiträge des »German Yearbook of Contemporary History« 2021 zum Thema »After Nazism: Relaunching Careers in Germany and Austria«. Vgl. ebs. insgesamt Mentel / Weise, Behörden, sowie u. a. die laufenden Forschungen des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin zum BKA mt, www.ifz-muenchen. de/aktuelles/themen/bundeskanzleramt (6. 9. 2021), zur Neugründung diverser Landesministerien in Bayern, www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/demokratische-kultur-und-ns-vergangenheit (6. 9. 2021), zum BVerfG, www.ifz-muenchen. de/forschung/ea/forschung/das-bundesverfassungsgericht-nach-dem-nationalsozialismus sowie zur Bundesbank, www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/von-derreichsbank-zur-bundesbank (6. 9. 2021). EINLEITUNG

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Initiativen des BMGes für ein neues Gesetz zur freiwilligen, eugenisch indizierten Sterilisation, die Politik des Ministeriums zur Bekämpfung von Krebs sowie die Haltung des bundesdeutschen Gesundheitsressorts mit Blick auf die Themen Nikotin und Rauchen. Darüber hinaus werden gesundheitspolitische Aspekte des Umwelt- und Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit untersucht. Ziel ist es, die jeweiligen Entscheidungs- und Diskussionsprozesse des BMGes zu historisieren und zu analysieren, das heißt sachpolitische Kontinuitäten und Brüche zur Zeit des Nationalsozialismus – aber auch zur Zeit vor 1933 – herauszuarbeiten und damit zugleich Bedingungsfaktoren und Ursachen eines Lernprozesses von Gesundheitspolitik in der Demokratie zu identifizieren und zu beschreiben. Damit möchte diese Studie einen innovativen Beitrag für eine »Zeitgeschichte der Gesundheit« (Malte Thießen) leisten.50 Denn auf einzigartige Weise geht »Gesundheit« alle und jeden an: Sie tangiert Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen. Wissenschaftliche Grundlage der vorliegenden Arbeit sind die Befunde eines ausgiebigen Quellenstudiums. So konnte zunächst eine Vielzahl an Personalakten ausfindig gemacht, ausgewertet und schließlich auch mit Unterstützung des Bundesgesundheitsministeriums und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ins Bundesarchiv überführt werden. Diese Akten sind nun erstmals der Forschung zugänglich. Im Bundesarchiv Berlin wurde zudem eine Vielzahl an relevanten Beständen der NSDAP und ihrer Gliederungen, Akten verschiedener Reichsministerien sowie die Bestände des ehemaligen »Berlin Document Center« eingesehen. Im Bundesarchiv Koblenz erstreckte sich die Aktenrecherche auf gut ein Dutzend ministerielle Einzelbestände. Hinzu kam die Auswertung von Wehrmachtspersonalunterlagen im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg sowie eine Sichtung relevanter Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Zudem konnten in verschiedenen Landesarchiven Entnazifizierungsakten, Unterlagen juristischer Strafverfolgung nach 1945 sowie Sach- und auch Personalakten ausgewertet werden. Darüber hinaus wurden systematisch die Nachlässe wichtiger Personen, etwa die der Bundesgesundheitsministerinnen Elisabeth Schwarzhaupt, Käte Strobel und Katharina Focke, im Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung bzw. im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung eingesehen. In diversen Stadtarchiven wurden Gesundheitsakten aus der Zeit vor 1945 und detailliert zudem auch erstmals ein Bestand an Krankenakten einer katholischen Fürsorgeanstalt aus Oberhausen, heute im Besitz des Koblenzer Klosters Arenberg, untersucht. Ebenfalls eingesehen wurden

50 Vgl. insgesamt Thießen, Zeiten. 18

EINLEITUNG

Unterlagen des Parlamentsarchivs des Deutschen Bundestags, insbesondere des Wiedergutmachungs- und des Gesundheitsausschusses. Gestützt auf eine breite Quellenbasis ist die vorliegende Arbeit in der Lage, sachpolitische Traditionsverhaftungen deutscher Gesundheitspolitik in der Arbeit des BMGes detailliert aufzuzeigen und Fragen nach personellen und sachpolitischen »Kontinuitäten« und »Brüchen« zur Zeit des Nationalsozialismus differenziert zu beleuchten. Dies heißt vor allem aber auch, die Arbeit des BMGes vor dem Hintergrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik zu beschreiben. Dass es eine überholte Vorstellung ist, dass das Bonner BMGes in den 1960er und frühen 1970er Jahren eine gegenüber den Landesgesundheitsministerien und -behörden »machtlose« neue Einrichtung war, zählt dabei zu einer der vielen neuen Erkenntnisse dieser Studie.

EINLEITUNG

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Gesundheit und Verwaltung vor 1945

»The first cry of pain through the primitive jungle was the first call for a physician«, so der amerikanische Medizinhistoriker Victor Robinson zu Beginn seines 1931 erschienenen Buches »The Story of Medicine«.1 Robinson verwies mit dem Satz pointiert darauf, dass Gesundheit bzw. vice versa Krankheit seit jeher den Entwicklungsgang der Zivilisation bestimmten. Von den Anfängen der ersten menschlichen Gemeinschaften, über die Antike, das Römische Reich bis zum Mittelalter: immer war die politisch verfasste und organisierte Einheit von Menschen konfrontiert mit gesundheitlichen Herausforderungen. Es galt Epidemien abzuwehren, mit Krankheiten umzugehen und Strategien zu suchen, um deren Heilung oder zumindest Linderung zu ermöglichen.2 Besonderheiten : Die Anfänge der Ɛ åžƣĻÚĚåЃžƽåŹƾ±ĮƒƣĻďƭĞķƭƐ%åƣƒžÏĚåĻƭåĞÏĚ :

Gesundheitspolitik zu betreiben und zu organisieren zählte seit der Herausbildung des modernen Staates in Europa Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer seiner Kernaufgaben – wobei sich das Verständnis davon, was als Gesundheitspolitik galt, stark wandelte.3 Die Entwicklung der deutschen Nationalstaatlichkeit war Ursache einer charakteristischen Besonderheit. Während beispielsweise in Großbritannien und Frankreich gesamtstaatliche Gesundheitsbürokratien entstanden,4 etablierten sich die Strukturen der deutschen Medizinalverwaltung nicht zuallererst auf Ebene des Zentralstaates – der sich erst 1871 endgültig herausgebildet hatte –, sondern in den noch nicht vereinten deutschen Teilstaaten. Die bei 1 Vgl. Robinson, Story, S. 1. 2 Vgl. Sigerist, Civilization. Vgl. insgesamt ebs. Bynum, History; Eckart, Geschichte; Brockliss / Jones, World. 3 Vgl. u. a. Bynum, History, S. 44 – 71; Mackenbach, History, S. 69 – 99; Jacyna, Medicine, S. 11 – 96; Bynum Rise, S. 111 – 228. Vgl. insgesamt ebs. Ruckstuhl / Ryter, Aufbau; Thießen, Gesundheit. 4 Vgl. Brockliss / Jones, World; Wear, Health. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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der Beschreibung der deutschen Gesundheitsverwaltung stets prominent hervortretende föderale Struktur und die Dichotomie zwischen zentralen und dezentralen Akteuren – also das »Spannungsdreieck zwischen Bund, Ländern und Gemeinden« – wurzelten folglich in historisch bedingten Besonderheiten der Entstehung des deutschen Nationalstaates im 19. Jahrhundert.5 So war es beispielsweise keine Reichsregierung, sondern das Königreich Bayern, das 1808 mit dem »Organischen Edikt über das Medicinalwesen« einen »Obermedicinalausschuß« schuf. Ihm gehörten Ärzte, Tierärzte, Juristen, medizinische Hochschullehrer und Pharmazeuten an. Seine Aufgabe war es, beratend an der Ausarbeitung von Vorschriften, Verordnungen und Gesetzen, die das Gesundheitswesen betrafen, mitzuwirken.6 Ebenfalls 1808 entstand in Preußen eine eigene Medizinalabteilung im Innenministerium sowie ein dieser Abteilung angegliedertes Sachverständigengremium: die »Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen«.7 Auch hier bestand die Aufgabe dieser neuen bürokratischen Struktur in der gesundheitspolitischen Beratung vor Erlass neuer Verordnungen bzw. Ausarbeitung von Gesetzen. Außerdem sollte die medizinische Ausbildung stärker vereinheitlicht und gemeinsame Prüfungsrichtlinien als Qualitätsstandards etabliert werden. Der starke Fokus auf letzterem Aspekt führte bereits 1817 zur Überweisung der Deputation in die Verantwortung des Kultusministeriums.8 Generell waren die meisten der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen deutschen Gesundheitsbürokratien entweder dem Innen- oder dem Erziehungsministerium zugeordnet, bedingt durch die erstrebte Reformierung und stärkere Verwissenschaftlichung der akademischen medizinischen Ausbildung und die klassische Aufgabe der »MedicinalPolicey«.9 Der polizeilich definierte Zugriff im Verständnis des Staates von Gesundheitspolitik war den notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten und den zeitgenössisch grassierenden Choleraund Typhusepidemien geschuldet.10 Bei der Herausbildung der Verwaltungsstrukturen des Medizinalwesens im 19. Jahrhundert gilt zudem: Es waren vor allem zwei parallel ablaufende Veränderungsprozesse, die deren Entwicklung wesentlich 5 6 7 8 9 10

Vgl. u. a. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 36 – 57. Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 55. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. ebd. Vgl. u. a. Hardy, Ärzte, S. 37 – 62; Kuschel, Gesundheit, S. 311 f. Vgl. u. a. Hardy, Ärzte, S. 63 – 88; Mackenbach, History, S. 41 – 46, 69 – 82, 92 – 98; Bynum, History, S. 63 – 68; Flügel, Geschichte, S. 31 – 49, 59 f. Zu Cholera u. Seuchen in Europa vgl. insgesamt Thießen, Europa; Vasold, Grippe.

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VORGESCHICHTE(N)

beeinflussten – einerseits die Verwissenschaftlichung der Medizin, und andererseits das sich rapide wandelnde ärztliche Selbstverständnis gegenüber Politik und Öffentlichkeit.11 Beides bedingte einander. Die angestrebte Professionalisierung und Vereinheitlichung des Arztberufes war Basis der von Ärzten praktizierten Berufsausübung und des von ihnen ausgebildeten Selbstverständnisses. Arzt zu sein bedeutete keineswegs länger allein als Medizinalbeamter zu arbeiten, sondern mehr und mehr auch frei zu praktizieren. Die Patientenbetreuung niedergelassener Ärzte – und eine damit einhergehende machtvolle Stellung der freien Ärzteschaft – waren nicht zuletzt Resultate der bis Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten Kranken- und Sozialversicherungssysteme.12 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden Ärzte zu einem politischen Akteur. Antrieb der im Kontext des Vormärz und der Revolution von 1848 formierten »Medizinalreformbewegung« war etwa ihr Einsatz für eine Neuausrichtung der öffentlichen Gesundheitspolitik. Ärzte formulierten die Erkenntnis, dass soziale und politisch bedingte Missstände Ursachen von gesundheitlichen Problemen waren. Verelendung und Armut wurden als Auslöser von Epidemien und von weiteren negativen gesundheitlichen Erscheinungen erkannt, allen voran auch vom Berliner Arzt Rudolf Virchow, der einer der Wortführer der Medizinalreformbewegung wurde.13 Diese stärkere Politisierung des Verständnisses vom öffentlichen Gesundheitswesen führte wiederum zu einer Akzentverschiebung auf Ebene der behördlichen medizinalen Verwaltung. Fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung forderten ab Mitte des 19. Jahrhunderts nach einer Erweiterung der Gesundheitspolitik. Als neue Aufgaben wurden Fragen der Hygiene immer drängender. Die Hygiene – eine der bedeutendsten naturwissenschaftlich-medizinischen Leitdisziplinen des 19. Jahrhunderts – prägte etwa die Entstehung der öffentlichen »Bau-Hygiene« sowie die Anwendung erster Standards der Lebensmittelkontrolle.14 Der Auf bau einer sanitären städtischen Infrastruktur und eines umfassenden Kanalisationssystems, die Zuführung von sauberem Trinkwasser, eine Kontrolle von Lebensmitteln, wie Milch, Fleisch und Fisch, und eine an die Öffentlichkeit adressierte Aufklärung 11 Vgl. Huerkamp, Aufstieg; Hardy, Ärzte; Kater, Professionalization. Vgl. ebs. Bynum, History, S. 55 – 71; ders., Rise, S. 229 – 240; Mackenbach, History, S. 69 – 82. 12 Vgl. u. a. Vogt, Selbstverwaltung, S. 63 – 65; Huerkamp, Aufstieg, S. 167 – 199, 256; Flügel, Geschichte, S. 129 – 139. 13 Vgl. Hardy, Ärzte, S. 107 – 120; Flügel, Geschichte, S. 81 – 105; Vogt, Selbstverwaltung, S. 64 f.; Kater, Professionalization, S. 678 – 682; Bynum, History, S. 63 – 68; ders., Rise, S. 203 – 240; Jacyna, Medicine, S. 81 – 96; Mackenbach, History, S. 97 f. Zu Virchow vgl. ebs. David, Rudolf Virchow; Andree, Rudolf Virchow. 14 Vgl. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 28 – 35; Hardy, Ärzte, S. 91 – 145, 373; Bynum, History, S. 68 – 72; Mackenbach, History, S. 93 – 101. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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über Gesundheitsgefahren entwickelten sich ausgehend vom Aufstieg der Wissenschaftsdisziplin »Hygiene« und der medizinalen Reformbewegung ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu Kerninhalten öffentlicher Gesundheitspolitik. Entsprechend organisatorisch angepasst und in ihren Kompetenzen erweitert wurden die etablierten Verwaltungsstrukturen in den deutschen Teilstaaten.15 Mit Gründung des Norddeutschen Bundes 1867, der unter preußischer Führung stand und alle deutschen Teilstaaten nördlich der Main-Linie umfasste, war der neue Gesamtstaat für die »Medicinal-« und »Veterinär-Policey« zuständig; hingegen blieben allgemeine Aufgaben des Medizinal- und Gesundheitswesens Ländersache. Dies führte erstmals im nationalstaatlichen Kontext zu der »kuriosen Konstellation«, dass die Zentralinstanz des Bundes zwar über Kompetenzen zur Abwehr von Seuchen verfügte, aber keine eigenen Behörden und Organe besaß, die diese Aufgaben hätten überwachen und durchsetzen können. Es existierte auf Reichsebene zunächst keine, einem Ministerium angegliederte Abteilung für das Gesundheitswesen oder gar ein eigenes »Reichsgesundheitsministerium«.16 Im Norddeutschen Bund – und praktisch auch später ab 1871 in dem aus ihm hervorgegangenen Deutschen Reich – basierte die Umsetzung der Gesundheitspolitik des Bundes bzw. Reiches auf den in den Ländern gewachsenen Verwaltungsstrukturen. Das heißt zugleich: Bundesstaaten blieben zentrale Akteure bei der Implementierung und Gestaltung gesundheitspolitischer Themen.17 Nach Reichsgründung 1871 formulierte wiederum die Ärzteschaft den drängenden Appell, endlich eine Zentralbehörde für die öffentliche Gesundheitspflege zu schaffen. Mit dem »Kaiserlichen Gesundheitsamt« (KGA) entstand diese erste zentrale Institution 1876 in Berlin.18 Das KGA war eine dem Reichskanzleramt und nach dessen Umbenennung 1879 in »Reichsamt des Innern« (RdI) eine dem RdI zugeordnete Einrichtung.19 Sie beriet in allen Fragen des Medizinal- und Veterinär-Polizeiwesens, war also für die Themen des öffentlichen Gesundheitswesens zuständig, die einzelne Bundesstaaten allein nicht lösen konnten. Primärer Arbeitsschwerpunkt des KGA blieb zunächst die reichsweit einheitlich organisierte Bekämpfung von Epidemien und Tierseuchen.20 15 Vgl. ebd., S. 69 – 102; Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 28 – 35; Hardy, Ärzte, S. 91 – 145. 16 Vgl. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 45; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 19 f. 17 Vgl. ebd.; Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 45; Hardy, Ärzte, S. 188 – 197. 18 Vgl. insgesamt die Darstellung bei Hüntelmann, Gesundheitspolitik, sowie Saretzki, Reichsgesundheitsrat. Vgl. ebs. Hardy, Ärzte, S. 183 – 186. 19 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 19 – 21. Zum Reichsamt des Innern vgl. Günther / Kreller, Vorgeschichte, S. 27 f. 20 Vgl. Hardy, Ärzte, S. 198 – 217. 24

VORGESCHICHTE(N)

Abb. 1 : Das Gebäude des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in Berlin, 1907.

Seit 1879 existierte, gleichsam als fachliches Aufsichtsorgan des KGA , mit der Abteilung III im Reichsamt des Innern erstmals auf Ministeriumsebene eine Struktureinheit für das Gesundheits-, das Veterinär- und das Apothekenwesen.21 Gemeinsam bildeten diese Abteilung und das KGA den institutionellen Nukleus der Gesundheitsverwaltung des Reiches – die jedoch essenziell auf eine Kooperation mit den Gesundheitsbehörden der Bundesstaaten angewiesen blieb. Die verwaltungsmäßige Konstruktion zentraler Instanzen der Gesundheitspolitik, bei fehlendem strukturellem Unterbau bzw. eines mangelnden zentralen Durchgriffs auf Länderebene, führte von Beginn an zu einem Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz zwischen dem RdI sowie dem Kaiserlichen Gesundheitsamt und den Gesundheitsbehörden der Bundesstaaten.22 Das heißt: Im Wilhelminischen Kaiserreich waren die Medizinalverwaltung und die Ausführung der Medizinalgesetzgebung Aufgaben der Länder. Die dort errichteten Gesundheitsbürokratien waren stark heterogen. Es waren nicht nur unterschiedliche Ministerien federführend für den Bereich »Gesundheit« verantwortlich, sondern auch die Organisationsstrukturen reichten von Abteilungen bis hin zu reinen Beratungsgremien, wie etwa 21 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 20. 22 Vgl. u. a. Hüntelmann, Kooperation; Schneider, Medizinalstatistik. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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»Gesundheitsräten«.23 Charakteristisch waren bereits in den frühen Jahren des Kaiserreiches ein »prekäres Verhältnis« zwischen Zentralbehörde und den Ländern sowie ein föderales System, das bestimmt wurde von »Konflikten und Reibereien« um die Ausformulierung und Durchsetzung gesundheitspolitischer Inhalte.24 Zugleich verzeichnete das Kaiserliche Gesundheitsamt – ohne dass seine formalen Kompetenzen in vergleichbarer Weise normativ ausgeweitet worden wären – einen permanenten Machtzuwachs im Sinn eines Anstiegs der ihm nominell übertragenen Aufgaben. Aus der anfänglich in einer Berliner Mietswohnung untergebrachten Einrichtung war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Behörde geworden, die, neben dem Seuchen- und Tierseuchenschutz, auch für die Lebensmittelhygiene und Kontrolle von Fleisch und Milch, die Bauhygiene, die Trinkwasserkontrolle und neue Forschungsbereiche, etwa die Bakteriologie, zuständig war. Hinzu kam die Aufgabe der öffentlichen »Volksbelehrung« über gesundheitspolitische Themen sowie eine Zuständigkeit für das ärztliche Prüfungswesen, um Kriterien einer einheitlichen Ausbildung sicherzustellen.25 Das KGA betrieb um 1900 an mehreren Standorten in der Reichshauptstadt Laboratorien und verfügte zudem in Berlin-Dahlem über Abteilungen für veterinärmedizinische und für biologische Forschung.26 Kernbestandteil des KGA war und blieb darüber hinaus die Entwicklung und Führung einer reichsweiten Medizinalstatistik. Gerade die Statistik war im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Instrument öffentlicher Gesundheitspolitik geworden, erlaubte sie doch exakte Analysen des Infektionsgeschehens und eine genaue Erfassung von Krankheitsfällen sowie Rückschlüsse über deren spezifische regionale Häufung. Statistische Daten generierten folglich wichtiges gesundheitspolitisches Wissen, das wiederum als Basis exekutiver Maßnahmen des Staates diente, etwa bei der Epidemiebekämpfung.27 Der einerseits deutliche Zuwachs an Aufgaben, bei andererseits unverändert »geringer Ausstattung mit Kompetenzen oder nur mit allernotwendigsten Machtbefugnissen« gegenüber Reichs- und vor allem Länderbehörden charakterisierte die ambivalent-paradoxe machtpolitische Stellung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes und der Gesundheitsabtei23 Vgl. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 58 – 89, 2016; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 20 – 57; Hardy, Ärzte, S. 191 – 217. 24 Vgl. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 213. 25 Vgl. Hardy, Ärzte, S. 218 – 235, 243 – 272, 273 – 344; Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 216, 225 – 250; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 21 – 23. 26 Vgl. ebd.; Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 216, 225 – 250. 27 Vgl. u. a. Bynum, History, S. 68 – 72. Zur Entwicklung der Medizinalstatistik vgl. Lee / Schneider, Medizinalstatistik; Schneider, Medizinalstatistik. 26

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Abb. 2 : Feldlazarette in Hamburg während einer Choleraepidemie, 1892.

lung des RdI innerhalb der frühen deutschen Gesundheitsbürokratie.28 Nach Reichsgründung 1871 hatte zunächst – aus der Überzeugung heraus, Cholera- und Typhusepidemien nur durch zentrale Koordination auf Reichsebene wirksam bekämpfen zu können – ein Prozess eingesetzt, um zentrale gesundheitspolitische Verwaltungsstrukturen zu etablieren. Kennzeichnend hierbei war und blieb die konkurrierende Auseinandersetzung zwischen (neuen) Instanzen des Reiches und (existenten) Länderbehörden. Dies bedingte einen stetig fortgesetzten Klärungs- und Streitprozess über gesundheitspolitische Kompetenzen und deren Exekution.29 Zudem galt, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gesundheitspolitik im deutschen nationalstaatlichen Kontext ein Querschnittsthema war. Mit ihren heterogenen Aufgaben fiel sie in die Zuständigkeit verschiedener Ressorts – und zwar auf Ebene des Reiches wie der Länder. Diese Komplexität von »Gesundheitspolitik« verstärkte sich zudem mit Aufkommen der Sozial- und Krankenversicherungssysteme, die notwendigerweise ein Teil von Gesundheitspolitik waren, aber thematisch im Verantwortungsbereich verschiedener Ressorts lagen.30 28 Vgl. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 89. 29 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 19 – 25; Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 58 – 89, 208 – 250. 30 Vgl. u. a. Süß, »Volkskörper«, S. 44 – 52. Vgl. insgesamt ebs. Tennstedt, Geschichte. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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Die Pluralität gesundheitspolitischer Akteure, eine stark ausgebildete föderalistische Struktur und eine gleichzeitig immer weiter anwachsende inhaltliche Ausdifferenzierung der Medizin, all das zeichnete die Situation beim Betreiben von Gesundheitspolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland aus. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 waren erstmals im nationalstaatlichen Kontext grundlegende Strukturen einer Gesundheitsbürokratie entstanden und hatten sich verwaltungstechnische Mechanismen im Austausch zwischen Reich und Ländern etabliert. Enorm gewachsen war das Spektrum der als gesundheitspolitisch relevant erkannten Themen. Dies war auch Resultat des seit Ende des 19. Jahrhunderts neu gewonnenen medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens, wobei vor allem Bakteriologie und Zellbiologie die Medizin und die öffentliche Gesundheitspolitik nachgerade revolutionierten.31 Der Erste Weltkrieg als Zäsur : :åžƣĻÚĚåЃžŤŇĮЃĞīƐĞĻƭÚåŹƭƐœåĞķ±ŹåŹƭƐåŤƣÆĮĞī

Das Ende der Monarchie und der Beginn der parlamentarisch-liberalen Ordnung der Weimarer Republik veränderten 1918/19 das Verständnis von öffentlicher Gesundheitspolitik grundlegend. Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde im August 1919 erstmals gesundheitspolitischen Inhalten ein Verfassungsrang eingeräumt.32 So erklärte es der neue republikanische Staat gemäß Artikel 119 zur Aufgabe von »Staat und Gemeinden«, für die Gesunderhaltung von Familien, die Fürsorge kinderreicher Familien und den Schutz sowie die Fürsorge von Müttern einzutreten.33 Darüber hinaus hatte der Staat »zur Erhaltung der Gesundheit« aller Menschen ein »umfassendes Versicherungswesen« zu schaffen und insbesondere auch die Gesunderhaltung der Jugend und deren Fürsorge zu fördern.34 Explizit festgelegt wurde durch die Weimarer Reichsverfassung die organisatorische Zuständigkeit für die Gesundheitspolitik: Sie war keine alleinige Reichssache, sondern fiel in die konkurrierende Gesetzgebung zwischen Reich und Ländern.35 Entschieden worden war damit zugleich der Streit um eine mögliche neue Zentralbehörde: das Reichsgesundheitsministerium.

31 Vgl. u. a. Bynum, History, S. 73 – 82; ders., Rise, S. 121 – 135; Mackenbach, History, S. 97 f. 32 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 34 – 36. 33 Vgl. RGBl. 1919, Nr. 152, Art. 119, Verfassung des Deutschen Reichs, 14. 8. 1919, S. 1406. 34 Vgl. ebd., Art. 122 u. 161, Verfassung des Deutschen Reichs, 14. 8. 1919, S. 1406, 1414. 35 Vgl. ebd., Art. 7, Verfassung des Deutschen Reichs, 14. 8. 1919, S. 1384. 28

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Die Einführung eben jenes neuen Ressorts hatte unmittelbar nach Kriegsende die 1917 entstandene linkssozialistische Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) gefordert, allen voran der ihr angehörende Arzt Julius Moses.36 Moses blieb in den 1920er Jahren – ab 1922 wieder Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) – entschiedener Verfechter des »Reichsgesundheitsministeriums«.37 Ein solch neues Ressort wurde im Verlauf der 1920er Jahre vonseiten der Reichsregierung jedoch stets abgelehnt, entweder aus finanziellen Gründen oder mit Verweis auf »verfassungsrechtliche Argumente«.38 Noch 1922 begründet der sozialdemokratische Reichsinnenminister Adolf Köster sein Votum gegen einen entsprechenden Vorstoß von Moses mit einer in der Weimarer Verfassung zwischen Reich und Ländern festgeschriebenen Kompetenzverteilung in der Gesundheitspolitik.39 Eine notwendige Verfassungsänderung kam, auch bedingt durch innerparteiliche Kontroversen in der SPD, während der Weimarer Republik nicht zustande. Zu groß schien die organisatorisch-bürokratische Hürde, gewachsene institutionelle Strukturen der Länder (gegen deren Willen) auflösen und damit zugleich exekutive Reichskompetenzen neu schaffen zu müssen. Allein dies war jedoch zwingende Voraussetzung eines wirkungsvollen Reichsgesundheitsministeriums.40 Vor allem während der frühen politischen Krisenjahre der jungen Demokratie erschien eine so weitreichende innenpolitische Reform unmöglich.41 Auch in der Weimarer Republik basierte die Umsetzung öffentlicher Gesundheitspolitik auf der behördlichen Infrastruktur der Länder. Die Gesundheitsbürokratie auf Reichs- wie Länderebene überdauerte die politische Neuausrichtung von 1918 /19 weitgehend unverändert – abgesehen von einer Umbenennung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in »Reichsgesundheitsamt« (RGA) und der Gründung des »Reichsministeriums des Innern« (RMI). Letzteres war nun mit der Abteilung II: »Volksgesundheit, Wohlfahrtspflege, Deutschtum und Fremdenwesen« verantwortlich für die aufseiten des Reiches betriebene Gesundheitspolitik. Bis 1933 wurde die Abteilung vom Verwaltungsjuristen Bruno Dammann geführt.42 Das Krankenversicherungswesen war im neu gegründeten Reichsarbeitsminis36 Vgl. Nemitz, Bemühungen, S. 424 – 427; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 29 – 34. Zu Moses vgl. ebs. Hahn, Revolution. Zur USPD vgl. Winkler, Revolution, S. 494 – 496. Vgl. insgesamt ebs. Kupfer / Rother, Weg; Zarusky, Sozialdemokraten. 37 Vgl. Nemitz, Bemühungen, S. 424 – 429. 38 Vgl. ebd., Zit. S. 429. 39 Vgl. ebd., S. 429. 40 Vgl. ebd., S. 424 – 431. 41 Zu den politischen Krisen der frühen Weimarer Republik vgl. insgesamt Wirsching, Republik; Winkler, Revolution. 42 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 37 f. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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terium angesiedelt, das heißt: Gesundheitspolitische Kompetenzen blieben auf Reichsebene auf verschiedene Ressorts verteilt.43 Hatte vor 1918 – wie Thomas Saretzki zutreffend betont – »das Reich von dem ihm in der Verfassung von 1871 zustehenden Recht der gesetzgeberischen Gestaltung der Medizinal- und Veterinärpolizei wenig Gebrauch gemacht«, so änderte sich die Intensität der in Berlin zentral ergriffenen legislativen Initiativen nach 1919 deutlich.44 Die Weimarer Demokratie verschrieb sich einem neuen Konzept von Gesundheitspolitik. In deren Mittelpunkt stand die Sozialhygiene, die sich in den 1920er Jahren von einer »Außenseiterwissenschaft zur Leitwissenschaft« der Weimarer Gesundheitspolitik entwickelte.45 Sozialhygienische Ziele bestanden in einer stärkeren Fürsorge und Prävention bei gesundheitspolitischen Themen. Sozio-politische Rahmenbedingungen wurden als Faktoren von Gesundheitspolitik definiert.46 Wie sozial der Staat das Gemeinwesen organsierte, wie er über Gesundheitsgefahren aufklärte, wie er Armut vorbeugte, Fürsorge für Schwache und Hilfsbedürftige leistete und die medizinischen Fortschritte zum Wohle der Gesellschaft sozial gerecht zugänglich werden ließ: All diese Fragen standen im Zentrum der durch Sozialdemokratie und gleichermaßen die bürgerlich-liberalen Parteien geprägten republikanischen Weimarer Gesundheitspolitik. Zu ihren wichtigsten Prämissen zählte die verbesserte Für- und Vorsorge, ein gesundheitspolitisch akzentuierter Arbeitsschutz, die Aufklärung über gesundheitspolitische Gefahren und die Förderung der medizinischen Forschung.47 Obwohl oftmals stark zwischen den politischen Lagern und Parteien umstritten und verzögert umgesetzt, zumal in Umfang und Wirkung durch akute finanzielle Krisen beschränkt, formierte der Weimarer Staat innerhalb weniger Jahre eine von Fürsorge und Vorsorge geprägte öffentliche Gesundheitspolitik, die den Einzelnen zu Eigenverantwortung aufrief bzw. ihn dazu befähigen wollte, Gesundheitsrisiken begegnen zu können. Kompetenz- und Konkurrenzkonflikte in der Gesundheitspolitik zwischen Reich und Ländern nahmen in den 1920er Jahren zwar nicht ab, doch der republikanische Staat war bis 1928 /29 trotz politischer und wirtschaftlicher Krisen imstande, ein attraktives Umfeld für medizinische Spitzenforschung 43 44 45 46

Vgl. u. a. Lindner, S. 33 – 35; Süß, »Volkskörper«, S. 51 – 53. Zum Zit. vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 25. Vgl. Fehlmann, Entwicklung, S. 69 – 80. Vgl. u. a. Mackenbach, History, S. 91 – 101; Heinzelmann, Sozialhygiene, S. 107 – 322. Vgl. ebs. Ankele, Verhütung; Moser, Zukunft. 47 Zu den Themengebieten vgl. u. a. Fehlmann, Entwicklung; Mommsen, Sozialpolitik; Peukert, Grenzen; Hauschildt, Trinkerfürsorge; Stöckel, Säuglingsfürsorge; Weinert, Körper; Ankele, Verhütung. Vgl. ebs. Mackenbach, History, S. 91 – 101. 30

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zu schaffen und wichtige sozial- und gesundheitspolitische Neuerungen einzuführen.48 Hingegen nicht reformiert und strukturell neu aufgestellt wurde die Gesundheitsbürokratie von Reich und Ländern. Initiativen, etwa zur Gründung eines Reichsgesundheitsministeriums oder Pläne zum Durchgriff zentraler Instanzen bis auf Gemeindeebene, blieben in den 1920er Jahren ergebnislos.49 Jenseits rein bürokratisch-institutioneller Aspekte zeichnete sich die Weimarer Gesundheitspolitik durch zwei markante Entwicklungen aus, die jeweils grundsätzliche Bedeutung für den Fortgang der deutschen Gesundheitspolitik besaßen. Ein erster charakteristischer Befund ist ihre starke Polarisierung; eine Gleichzeitigkeit diametraler Extreme. Oder anders gewendet: eine radikale Pluralität. Bereits beim Blick auf die Medizingeschichte im 18. und 19. Jahrhundert zeigt sich das Phänomen des »Medical Pluralism«. Deutlich wird etwa nicht allein eine große Vielfalt sich einander widersprechender medizinischer Theorien, sondern die Koexistenz einer immer spezieller und komplexer werdenden medizinischen Wissenschaft auf der einen, mit einer öffentlich agierenden medizinischen Laienbewegung auf der anderen Seite.50 Beide – Wissenschaft und Laienbewegung – differenzierten sich aus und institutionalisierten sich. Mäßigung und Reinlichkeit, spirituelle Naturverbundenheit und Vegetarismus waren beispielsweise seit dem 18. Jahrhundert die Inhalte nichtschulmedizinischer Lehren. Die Fragen von Gesundheit und Krankheit wurden hier mit einem Lebenskonzept verknüpft – also Ursachen von Krankheit jenseits wissenschaftlicher Erkenntnisse definiert. »Medical Pluralism« bedeutete damit stets auch, dass wissenschaftlich generierte Ergebnisse über Faktoren von Krankheit unter Zugzwang gerieten, ihren Mehrwert gegenüber naturheilkundlichen Methoden legitimieren zu müssen.51 Dass Gegensätze zwischen akademisch-wissenschaftlicher Medizin und den Laienbewegungen auch in der Weimarer Republik existierten, war mithin nicht verwunderlich. Besonders war jedoch das Spektrum der im politisch liberalen Kontext von Weimar ausdifferenzierten pluralistischen 48 Vgl. Mackenbach, History, S. 91 – 101. Vgl. insgesamt ebs. Fehlmann, Entwicklung; Mommsen, Sozialpolitik; Peukert, Grenzen; Hauschildt, Trinkerfürsorge; Stöckel, Säuglingsfürsorge; Weinert, Körper; Ankele, Verhütung. Vgl. auch die Ausführung zur Krebsforschung in Kap. III.3. in diesem Bd. 49 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 26 – 29; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 57. 50 Vgl. u. a. Stollberg, Plurality, S. 141 – 149; Baubérot, Pluralism, S. 127 – 139; Hardy, Ärzte, S. 48; Brockliss / Jones, World, S. 411 – 670, 730 – 782. Vgl. ebs. Baubérot, Histoire, sowie insgesamt ebs. Jütte, Pluralism. 51 Vgl. Hardy, Ärzte, S. 54 – 61; Hau, Experten, S. 124 – 137; Leitzmann, Vegetarismus, S. 32 – 36. Vgl. ebs. die Ergebnisse bei Baubérot, Histoire, sowie Jütte, Pluralism; ders., Geschichte. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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Vielfalt an (Selbst-)Verständnissen über »Gesundheitspolitik«. Die Spanne zwischen den Extremen spiegelt sich in einem scharfen Kontrast wider: hier die Mitte der 1920er Jahre erstmals in Deutschland am Berliner Krebsforschungsinstitut in vitro betriebene zellbiologische Grundlagenforschung;52 dort der zeitgleich in der Weimarer Republik erlebte Aufstieg der Wunderheiler und eines »Wunderglaubens der Patienten in Bezug auf Krankheit und Gesundheit im Speziellen«.53 Anders formuliert: Das liberale gesellschaftlich-politische Klima von »Weimar« führte zu einer Blütephase der nichtschuldmedizinischen Bewegungen bzw. der von ihnen institutionalisierten Sparten einer alternativen Gesundheitspolitik – und brachte gleichzeitig bahnbrechende Ergebnisse weltweit einmaliger medizinischer Spitzenforschung hervor.54 Ein weiterer charakteristischer Befund bezieht sich ebenfalls auf die Herausbildung von Extremen: Aussagekräftigstes Dokument einer Radikalisierung der seit Anfang des 20. Jahrhunderts virulenten »Euthanasie«Debatte während der Weimarer Republik war – wie von der historischen Forschung benannt – die sogenannte Denkschrift zweier zeitgenössisch renommierter akademischer Persönlichkeiten. 1922 erschien »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form«, verfasst vom Arzt Alfred Hoche sowie dem Strafrechtler Karl Binding.55 Darin gefordert wurde die Straffreiheit für medizinisches Töten von nicht heilund therapierbaren Menschen, suggestiv begründet mithilfe pekuniärer und politischer Argumente: Staat und Gesellschaft müssten angesichts der gravierenden Menschenverluste und wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkrieges beginnen, den Wert eines (unheilbar kranken) Menschenlebens utilitaristisch zu bemessen. »Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?« lautete die rhetorische Kernfrage der Schrift.56 Alfred Hoche hatte seine Beweggründe, die ihn diese Frage 1922 mit »Ja« beantworten ließen, bereits im November 1918 öffentlich vorgetragen. Fünf Tage vor Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Compiègne am 11. November 1918, der den Ersten Weltkrieg an der Westfront beendete und mit dem Deutschland faktisch seine Niederlage gegenüber 52 Vgl. Schneck, Frau, S. 174 – 177; Atzl / Helms, Geschichte, S. 43 f. 53 Vgl. Körner, Wunderheiler, d. Zit. S. 12. Vgl. insgesamt ebs. Dörter, Naturheilbewegung. 54 Vgl. Hau, Experten, S. 124 – 137. Vgl. ebs. insgesamt Körner, Wunderheiler; Dörter, Naturheilbewegung. 55 Vgl. Binding / Hoche, Freigabe. Zur Forschung vgl. ebs. u. a. Schwartz, »Euthanasie«Debatten; Henke, Entmenschlichung, S. 17 f. 56 Vgl. Binding / Hoche, Freigabe, S. 27. 32

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Abb. 3 : Ein Kurgast unterzieht sich im Kurbad »Lunapark« in Berlin einer Schwitzkur, 1928.

Frankreich und den westlichen Alliierten erklärte, thematisierte Hoche in einem »Kriegsvortrag« die fundamental gewandelte Einstellung zum Tod, nachdem Hunderttausende gesunde Männer – »unsere Jugend und reife Männerkraft«, so Hoche, vom Krieg »weggemäht« worden waren.57 Das Massensterben – so sein Fazit – habe zu einer grundsätzlichen Wertverschiebung bei der Betrachtung des Lebens geführt.58 Ein Vergleich beider Schriften Hoches – der von 1918 und der von 1922 – zeigt, wie rasch sich, ausgehend von nihilistisch gedeuteten Konsequenzen des Ersten Weltkrieges, gesundheitspolitische Positionen radikalisierten. Denn noch 1918 hatte der Mediziner Alfred Hoche, anders als in der Schrift über die »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« vier Jahre später, ausdrücklich erklärt, ein Arzt dürfe Leben nicht bewusst verkürzen.59 Dass nun 1922 das Leben eines Menschen – in Friedenszeiten – vom »Wert« seiner Existenz »für die Gesellschaft« abhängen sollte, war Ausdruck Hoches persönlicher Radikalisierung, die zugleich par excellence für eine Entwicklung während der Weimarer Republik stand. Fluchtpunkt blieb 57 Vgl. Hoche, Sterben, S. 1. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. ebd., S. 17. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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stets die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges, die vermeintlich zum Handeln zwang.60 Gemäß der Weimarer Rassenhygiene, als rassistischer Form der Eugenik, konnte weder eine ungebremste Fortpflanzung von eugenisch-erblich als »minderwertig« klassifizierten Personen länger erwünscht sein noch der finanzielle Unterhalt für geistig behinderte, bettlägerige und dauerhaft pflegebedürftige Menschen. Beides barg angeblich eine langfristige Gefahr für die »rassische« Substanz der Deutschen.61 Es war jedoch – wie die historische Forschung zu Recht betont – keine deutsche Besonderheit, dass in den 1920er Jahren öffentlich darüber diskutiert wurde, ob sich der Staat den Unterhalt für geistig und körperlich Behinderte weiter leisten konnte. Eine zunehmend inhumane Radikalisierung der Debatte darüber, ob ein Staat die »Schar« biologisch »Minderwertiger« versorgen sollte, war ein durchaus auch in anderen westlich-demokratischen Gesellschaften, etwa denen Skandinaviens, auszumachendes Phänomen.62 Außerdem gilt: Rassenhygieniker waren in den 1920er Jahren in Deutschland in der Minderheit. In der Weimarer Republik war bereits die Forderung nach einer staatlich betriebenen Eugenikpolitik, im Sinne der gesetzlichen Legalisierung der Unfruchtbarmachung aus erbgesundheitlichen Gründen, weder politisch mehrheitsfähig noch in der Breite gesellschaftlich akzeptiert – wenngleich es Anfang der 1930er Jahre in Preußen konkrete Entwürfe für ein Gesetz zur freiwilligen eugenisch indizierten Sterilisation gab.63 Der biopolitische bzw. eugenische Diskurs während der Weimarer Republik war stark pluralistisch geprägt und blieb insgesamt gemäßigt. Eine Freiwilligkeit von Betroffenen zu entsprechenden eugenischen Maßnahmen stand nie ernsthaft infrage.64 Eine »Euthanasie« – als von Ärzten intendiert gesetzten Endpunkt menschlichen Lebens – war gleichfalls nicht mehrheitsfähig. Ärzte durften auch in der Weimarer Republik Schmerzen lindern und Sterbeprozesse palliativ begleiten. Weder Ärzte, Politiker noch Gesellschaft waren aber in ihrer Mehrheit bereit zu entscheiden, ab welchem Augenblick ein menschliches Leben seinen »Wert« verloren hatte und deshalb zu »euthanasieren« war. Zumal es stets im Rechtsstaat ein juristisch ungelöstes Problem blieb, wer über eine »Euthanasie« entschied, wenn eine Person 60 Vgl. u. a. Schwartz, »Euthanasie«-Debatten; Henke, Entmenschlichung; Weiss, Bewegung. 61 Vgl. u. a. ebd.; Peter, Einbruch; Harms, Biologismus; Müller-Hill, Wissenschaft. 62 Vgl. u. a. Barow, Platz; Kühl, Internationale; Kesper-Biermann, Vorgeschichte; Schwartz, Eugenik; Roelcke, Sonderweg. 63 Vgl. u. a. Benzenhöfer, Genese, S. 1012 – 1018. 64 Vgl. Schwartz, Wissen; ders., Eugenik; ders., Biopolitik; ders., Sozialistische Eugenik; Harms, Biologismus; Dickinson, Biopolitics; Eckart, Feld; Benzenhöfer, Genese. 34

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geistig oder körperlich nicht imstande war, ihre Meinung dazu frei und klar zu artikulieren.65 Und doch gilt: Die krisenhafte Zuspitzung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme während der Weimarer Republik ließ den Eugenikdiskurs und die Frage nach der »Euthanasie« zunehmend radikaler werden, mit der Konsequenz steigender gesellschaftlicher Akzeptanz für extreme biologistische Postulate und einer wachsenden Breitenwirkung der »Euthanasie«-Debatte im Verlauf der 1920er Jahre, inklusive ihrer semantischen Verfestigung zu einer »entmenschlichenden Begrifflichkeit«.66 Entgrenzung und Polykratie : Gesundheit und aåÚĞǍĞĻƐ±ĮžƐFÚåŇĮŇďĞåĻƐĞķƐNS-Staat

Der deutsche Staat machte nach Antritt der Regierung von Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ab Januar 1933 gesundheitspolitische Utopien wahr. Ethisch-moralische und juristischrechtsstaatliche Grenzen wurden umgedeutet, außer Kraft gesetzt und ausgehebelt. Im Zuge eines Machtdurchsetzungsprozesses schuf das »Dritte Reich« Anfang der 1930er Jahre neue bürokratisch-institutionelle wie ideelle Grundlagen der öffentlichen Gesundheitspolitik. Ziel war die Umsetzung einer rassistisch-biologistischen Doktrin, der zufolge Menschen »höher-« und »minderwertig« waren, und nur das »Rassenstarke« und »Gesunde« Rechte gegenüber Staat und Mitmenschen besaß.67 Gemäß dem Nationalsozialismus waren »Reinigung« und »Stärkung« des deutschen »Volkskörpers« Ziele und oberste Grundsätze aller politischen Entscheidungen. Totalitaristisch umgewertet wurden damit die vor 1933 gültigen fundamentalen Grundsätze medizinischer Ethik und rechtsstaatlicher Ordnung.68 Ab dem Zeitpunkt der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Ende Januar 1933 etablierte das NS -Regime binnen weniger Monate eine Diktatur. Neben der Ausschaltung der politischen Opposition sowie der Verfolgung und Inhaftierung politischer Gegner basierte der Prozess der nationalsozialistischen Machtsicherung im Frühjahr 1933 im staatsrechtlichen Sinne auf drei Säulen: der »Reichstagsbrandverordnung«, dem »Ermächtigungsgesetz« und der »Gleichschaltung der Länder«. Faktisch aufgehoben worden war damit, neben einer föderalen Kontrolle politischer Macht, auch 65 Vgl. Große-Vehne, Tötung. 66 Vgl. Henke, Entmenschlichung, S. 17 f. 67 Vgl. ebd.; Herbert, Rassismus; Harms, Biologismus; Dickinson, Biopolitics; Eckart, Feld; Schmuhl, »Euthanasie«; Klee, »Euthanasie«. 68 Vgl. u. a. Henke, Entmenschlichung, S. 24 – 29. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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Abb. 4 : Titelbild der vom »Rassenpolitischen Amt« der NSDAP herausgegebenen Monatszeitschrift »Neues Volk«, 1934.

die gesetzgebende Funktion des Reichstages.69 Gemäß des im April 1933 erlassenen »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« war ein Beamter zudem nur dann weiter zu beschäftigen, wenn er nach seiner »bisherigen politischen Betätigung« die Gewähr dafür bot »rückhaltlos für den nationalen Staat ein[zu]treten«.70 Auf Grundlage dieses Gesetzes wurden Tausende politisch missliebige Beamte vom NS -Regime aus dem Staatsdienst verdrängt.71 Für die Entwicklung der Gesundheitspolitik nach Übernahme der Regierungsgewalt seitens der NSDAP markierte dieser Diktaturdurchsetzungsprozess in mehrerer Hinsicht eine fundamentale Zäsur: Zunächst deshalb, weil das Regime unter den speziellen Konstellationen des Ermächtigungsgesetzes unmittelbar im Frühjahr 1933 damit begann, zentrale ideologische Inhalte der NS -Propaganda hinsichtlich einer neuen »Gesundheitspolitik« normativ zu regeln – und zwar im Rahmen von Kabinettsbeschlüssen. So sah das im Juli 1933 verabschiedete »Gesetz zur Verhütung erbranken 69 Vgl. insgesamt u. a. Turner, Weg; Bracher / Schulz / Sauer, Machtergreifung; Broszat, Machtergreifung. 70 So § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, in: RGBl. I, 1933, Nr. 34, 7. 4. 1933, S. 175. 71 Vgl. u. a. Mommsen, Beamtentum, S. 55 – 61; Mühl-Benninghaus, Beamtentum, S. 65 f. 36

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Nachwuchses« (GzVeN) eine Zwangssterilisation von Menschen vor, die an einer – im Sinne der NSDAP definierten – »Erbkrankheit« litten, etwa »Schizophrenie«, Epilepsie, Blindheit, Taubheit, schwerem Alkoholismus oder »manisch-depressivem Irresein«.72 Mit dem GzVeN war erstmals in Deutschland die Unfruchtbarmachung von Personen gegen deren Willen ein zentraler Bestandteil öffentlicher Gesundheitspolitik geworden, basierend auf radikal rassenhygienischen und keinen gemäßigten eugenischen Prämissen.73 Eine Zäsur für die deutsche Gesundheitspolitik markiert der Amtsantritt Hitlers als Reichskanzler aber nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell. Denn exekutiert werden sollte das GzVeN durch einen völlig neuen bürokratischen Unterbau. Mit dem »Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« (GVG) beschloss das Reichskabinett unter Hitlers Leitung im Sommer 1934 eine grundsätzliche Reform der seit dem Norddeutschen Bund bestehenden verwaltungsmäßigen Ordnung des Gesundheitswesens. Als neue Instanz wurden auf Landkreis- und Stadtkreisebene Gesundheitsämter unter Leitung eines Amtsarztes gebildet.74 Deren Aufgabe bestand in der »Durchführung der ärztlichen Aufgaben der Gesundheitspolizei, der Erb- und Rassenpflege einschließlich der Eheberatung, der gesundheitlichen Volksbelehrung, der Schulgesundheitspflege, der Mütter- und Kinderberatung, der Fürsorge für Tuberkulöse für Geschlechtskranke, körperlich behinderte, Sieche und Süchtige«.75 Sichergestellt worden war damit die unmittelbare politische Ausführung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik, das heißt ein Durchgriff bis hinunter auf Gemeindeebene. GVG und GzVeN bedingten einander. Ohne eine im Sinne des NS -Regimes unmittelbare Kontrolle der Gesundheitsverwaltung wären die inhaltliche Ausführung des Zwangssterilisationsgesetzes sowie die staatlicherseits organisierte und kontrollierte »Erb- und Rassenpflege« unmöglich gewesen. Innerhalb gut eines Jahres schuf Hitlers Regierung nicht nur eine sachpolitisch völlig neu ausgerichtete deutsche Gesundheitspolitik, die sich an der »Rassenreinheit« des »Blutes« und der Bekämpfung des politisch-ideologisch definierten »Kranken« und

72 Vgl. RGBl. I, 1933, Nr. 86, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14. 7. 1933, S. 529 f. 73 Zum GzVeN vgl. u. a. insgesamt Ley, Zwangssterilisation; Bock, Zwangssterilisation; Doetz, Alltag; Päfflin, Zwangssterilisation. 74 Vgl. u. a. Christians, Amtsgewalt; Vossen, Gesundheitsämter; ders., Erfassen; ders., Umsetzung. Zum GVG vgl. RGBl. I, 1934, Nr. 71, Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens, 3. 7. 1934, S. 531 f. 75 Vgl. ebd., § 3 Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens, 3. 7. 1934, S. 531. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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»Schwachen« orientierte, sondern auch die notwendigen bürokratischen Strukturen für deren Umsetzung.76 Alfons Labisch und Florian Tennstedt haben bereits Mitte der 1980er Jahre präzise dargelegte, weshalb das GVG in keiner Tradition mit während der Weimarer Republik diskutierten Reformen der Gesundheitsverwaltung und des öffentlichen Gesundheitswesens stand, sondern vielmehr originäres »Werk« des NS -Regimes und des neu an die Spitze der Gesundheitsverwaltung des Reichsinnenministeriums gelangten Arthur Gütt war.77 Dabei zeigte gerade die Genese des GVG die durchaus vorhandene Opposition von Ländern, Oberbürgermeistern und Ärztevertretern gegen eine zentralistische Organisation des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Dieser Widerspruch wurde jedoch nicht von der prinzipiellen Ablehnung rassistischer Inhalte angetrieben, sondern war vielmehr motiviert durch die Angst vor einem machtpolitischen Kompetenzverlust. Eine bereits 1933 von Gütt geplante Gesetzesinitiative zur »Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« scheiterte am Widerstand Preußens. Erst nach der »Vereinigung« des Preußischen Ministerium des Innern und des Reichsinnenministeriums im Frühjahr 1934 war der Weg für das Gesetz frei geworden.78 Letztlich verabschiedet werden konnte es allerdings nur nachdem Hitler auch auf die vonseiten kommunaler Vertreter vorgebrachten Bedenken reagiert hatte. Städtetag und einzelne Oberbürgermeister lehnten die ursprünglich von GVG geplante obligatorische Besetzung der neuen Gesundheitsämter mit einem Staatsbeamten ab, vor allem weil damit die kommunale Mitsprache bei der Gesundheitspolitik drohte verloren zu gehen und die zu erwartenden Kosten sehr hoch gewesen wären.79 Aufgrund dieser Kritik wurden nunmehr durch das GVG verschiedene verwaltungsmäßige Konstruktionen berücksichtigt: das staatliche Gesundheitsamt sowie das kommunale Gesundheitsamt, jeweils besetzt mit einem staatlichen Amtsarzt, und das kommunale Gesundheitsamt, besetzt mit einem kommunalen Amtsarzt.80 Politisch waren alle diese Varianten insofern einerlei, als die NSDAP ihre Macht über die Umsetzung der neuen rassistisch-biologistisch definierten Gesundheitspolitik nach 1933 in jedem Fall unmittelbar ausübte. Denn seit Januar 1933 trat in Deutschland neben die staatlich organisierte 76 Vgl. insgesamt u. a. Ley, Zwangssterilisation; Doetz, Alltag; Päfflin, Zwangssterilisation. Vgl. ebs. u. a. Christians, Amtsgewalt; Vossen, Gesundheitsämter; ders., Erfassen; ders., Umsetzung. 77 Vgl. Labisch / Tennstedt, Gesetz. 78 Vgl. ebd., S. 291 – 297. 79 Vgl. ebd. 80 Vgl. ebd., S. 298. Zu den Gesundheitsämtern im NS vgl. insbes. Vossen, Gesundheitsämter; ders., Erfassen; ders., Umsetzung. 38

VORGESCHICHTE(N)

Abb. 5 : Der »Stellvertreter des Führers«, Rudolf Heß (2. v. r.) und HIVc~7IMGLW®V^XIJÇLVIVn,IVLEVH;EKRIV ZVMR3ÇVRFIVK

Gesundheitsbürokratie die Parteistruktur der NSDAP – als das zentrale Element der Gesundheitsverwaltung. Der Dualismus zwischen Partei und Staat zeichnet das Verwaltungshandeln des NS -Staates prinzipiell aus und hatte vor allem auch mit Blick auf die Gesundheitspolitik wichtige Konsequenzen.81 Das Gesundheitswesen der NSDAP war stark ausdifferenziert. Neben dem 1929 gegründeten »Nationalsozialistischen Ärztebund« – der nach 1933 zu einem »Transmissionsriemen der Gleichschaltung« im Bereich des Gesundheitswesens und der Beseitigung der klassischen ärztlichen Selbstverwaltung zugunsten einer »Reichsärztekammer« avancierte,82 war vor allem auch das 1934 gebildete »Hauptamt für Volksgesundheit« von zentraler Bedeutung. Es gehörte der innerparteilichen Verwaltung des »Stabes des Stellvertreters des Führers« unter Leitung von Rudolf Heß an

81 Vgl. insbes. Süß, »Volkskörper«. Zur Beschreibung des Dualismus generell vgl. insbes. Broszat, Staat; Diel-Thiele, Partei; Mommsen, Beamtentum; Kuller, Verwaltung, sowie die Ergebnisse des Bandes Reichardt / Seibel, Staat. 82 Vgl. Rüther, Standeswesen, S. 164 f.; Süß, »Volkskörper«, S. 53 f. Zum ärztlichen Standeswesen u. der »Reichsärztekammer« vgl. ebs. die Darstellung in Kap. III.1. in diesem Bd. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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und wurde von Gerhard Wagner geführt.83 Gesundheitspolitisch aktiv waren darüber hinaus aber auch Parteigliederungen der NSDAP, wie die SS, die SA , die HJ, der BDM, die NSV oder die DAF – inklusive praktisch aller Parteidienststellen bis auf Kreisebene. Sie alle exekutierten die Grundsätze einer auf Selektion beruhenden rassistisch-biologistischen öffentlichen Gesundheitspolitik ab dem Kindesalter.84 Während das staatliche Gesundheitswesen, so das Urteil von Winfried Süß, »nach der nationalsozialistischen Machteroberung ganz im Zeichen der Kompetenzzentralisierung und organisatorischen Verdichtung stand, prägten Kompetenzdiversifizierung und organisatorischer Wildwuchs« die gesundheitspolitischen Organisationen der NSDAP.85 Letztlich entstanden im Verlauf der 1930er Jahre die für den NS -Staat charakteristischen polykratischen Hierarchien. Das heißt: Eine Vielzahl von Ämtern, Stellen, Beauftragten und Stäben waren im Auftrag der NSDAP parallel mit staatlichen Stellen, wie Ministerien, Gesundheitsabteilungen und Gesundheitsämtern, tätig. Kompetenzkonflikte und Machtkämpfe innerhalb dieser bürokratischen Strukturen von Reich und Partei waren die Konsequenz. Mit einer – im Ergebnis von der Forschung beschriebenen – Mobilisierungsdynamik im Sinne der NS -Ideologie.86 Die Wirkung dieses polykratischen Geflechts zeigt sich exemplarisch anhand eines wichtigen Machtkampfes, nämlich dem um die bürokratische und inhaltliche Leitung des NS -Krankenmordprogrammes. Im Zentrum standen drei Akteure: Das Reichsinnenministerium, in Person von Minister Wilhelm Frick und Arthur Gütt, Leiter der RMI-Gesundheitsabteilung; der »Stab des Stellvertreters des Führers« der NSDAP inklusive der Hauptabteilung für Volksgesundheit – also Rudolf Heß und der »Reichsärzteführer« Gerhard Wagner; und schließlich die für die historische Beschreibung der NS -»Gesundheitspolitik«, respektive ihrer antihumanistischen Praxis, dritte wichtige Behörde: die »Kanzlei des Führers« (KdF) unter Leitung von Philipp Bouhler. Eigentlich oblag der KdF lediglich die verwaltungsmäßige Organisation in Sachen des Gnadenrechts, das Hitler als deutsches Staatsoberhaupt seit Sommer 1934 ausübte, nachdem das Amt des Reichskanzlers mit dem des 83 Vgl. Süß, »Volkskörper«, S. 55 f. Zum »Stab« vgl. insgesamt ebs. Longerich, Stellvertreter. 84 Vgl. Süß, »Volkskörper«, S. 53 – 75. Zur Parteistruktur u. deren Agieren vgl. insgesamt ebs. Longerich, Stellvertreter; Diehl-Thiele, Partei. 85 Vgl. Süß, »Volkskörper«, S. 55. 86 Vgl. Kuller, Verwaltung; Reichardt / Seibel, Radikalität. Zur Polykratie, als einem dem NS inhärenten systemischen Merkmal vgl. insbes. Broszat, Staat; Neumann, Behemoth; Deutsch, Cracks; Reichardt / Seibel, Radikalität; Frei, Führerstaat; Rebentisch, Führerstaat; Thamer, Monokratie-Polykratie. 40

VORGESCHICHTE(N)

Reichspräsidenten »vereinigt« worden war.87 1938 war die KdF jedoch durch Hitlers Beschluss sprichwörtlich lachender Dritter eines zwischen RMI und der Parteiführung ausgetragenen Konfliktes um die zwangsweise durchgeführte Sterilisation von NSDAP-Mitgliedern. Für den »Stab des Stellvertreters des Führers« stand fest, dass angesichts krasser Fehlentscheidungen von Reichsstellen und Gesundheitsämtern bei der Durchführung des GzVeN – die dazu geführt hatten, dass »verdiente« NSDAP-Kämpfer zwangsweise unfruchtbar gemacht worden waren – die exekutive Hoheit über das Gesetz nicht länger ausschließlich bei staatlichen Instanzen liegen konnte. Gerhard Wagner forderte daher von Hitler, ihn zum »Generalbevollmächtigten« in Sachen der Durchführung des Sterilisationsgesetzes zu ernennen.88 Der »Führer« der NSDAP und Reichskanzler lehnt dies jedoch ab, weil es dem von Hitler unterzeichneten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses widersprochen hätte, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – über die bereits erfolgte Beteiligung innerhalb des Begutachtungsverfahrens von »Erbgesundheitsgerichten« hinaus – für die Umsetzung des GzVeN verantwortlich zu machen.89 Hitler entschied 1938 aber auch nicht zugunsten des RMI, sondern der Kdf. Nicht das Reichsministerium des Innern – das heißt Frick und Gütt – und nicht der »Stab des Stellvertreters des Führers« der NSDAP – also Heß und Wagner – wurden von ihm beauftragt, strittige Fälle der Sterilisation »bewährter Kämpfer« der NSDAP letztinstanzlich zu entscheiden, sondern Philipp Bouhler und die »Kanzlei des Führers«. Laut Hitlers Weisung war im Sommer 1938 von der KdF ein »Reichsausschuss für Erbgesundheitsfragen« einzurichten. Er sollte, ausgehend von der Zuständigkeit der Kdf für eingehende Bitt- und Gnadengesuche an Hitler, in Abstimmung mit dem Innenministerium und Gerhard Wagner, vorgebrachte Beschwerden überprüfen.90 Diese Beauftragung Bouhlers bedeutete 1938 einen ungemeinen Zuwachs an Macht und Prestige für die seit 1934 existierende »Kanzlei des Führers der NSDAP«, die bis dahin ein Schattendasein innerhalb des Regimes gefristet hatte. Entscheidend für Hitlers Weisung war letztlich der Einfluss Heinrich Himmlers und die Rolle der SS, die sich gegen Frick durchsetzen wollten und auch Heß und Wagner eine Niederlage beizubringen suchten.91 87 Vgl. RGBl. I, 1934, Nr. 89, Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches, 1. 8. 1934, S. 747. 88 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, NS 10 /31, sowie u. a. Päfflin, Zwangssterilisation, S. 35 – 41. 89 Vgl. ebd., S. 37 f. 90 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, NS 10 /31, sowie u. a. Päfflin, Zwangssterilisation, S. 35 – 38. 91 Vgl. ebd. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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Für die historische Bewertung dieser Vorgänge sind die Ränkekämpfe und Intrigen während der Auseinandersetzung jedoch weniger entscheidend als ein prinzipieller Aspekt. Und zwar, dass der in der KdF im Sommer 1938 entstandene »Reichsausschuss für Erbgesundheitsfragen« zum bürokratischen Kern der ab Herbst 1939 planmäßig und mit großer verwaltungstechnischer Akribie in Gang gesetzten Tötung behinderter Kinder und Erwachsener wurde.92 Die Mitte 1938 ausgetragene Kontroverse um die Zwangssterilisation von NSDAP-Mitgliedern zeigt: Das bürokratische Instrument des gut zwölf Monate später begonnenen Krankenmordprogrammes ging nicht auf einen schon seit Jahren für diesen Zweck ersonnenen Entwurf zurück, sondern entstand im Zuge alltäglicher, regulärer Macht- und Kompetenzkonflikte, ausgefochten zwischen Partei und Staat, innerhalb der Staatsverwaltung und nicht zuletzt in der NSDAP und ihren Organisationen.93 Der deutsche Angriffskrieg gegen Polen und mit ihm der Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 veränderten die bürokratischen Strukturen der NS -Gesundheitspolitik. Anhaltende Kriegsdauer führten bereits Anfang der 1940er Jahre zu eklatanten Missständen im militärischen und im zivilen Gesundheitsbereich.94 Auf Weisung Hitlers entstand in der Folge mit dem Posten des »Persönlichen Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen«, später umbenannt zum »General- und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen«, das »bedeutendste Gravitationszentrum« innerhalb der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur der Gesundheitspolitik.95 Besetzt wurde der Posten von Adolf Hitler mit seinem »Begleitarzt«, dem Chirurgen Karl Brandt.96 Brandt war seit 1939 die Schlüsselfigur des planmäßig-bürokratisch betriebenen Krankenmordprogrammes.97 Der Posten eines »General- und Reichskommissars für das Sanitätsund Gesundheitswesen« entsprach einer nach Kriegsbeginn 1939 vielfach verwaltungstechnisch eingeführten Neuerung. Um Dysfunktionalität der von Partei und Staat getragenen Verwaltung zu beheben, schuf Hitler stabsähnliche Konstruktionen, die formal weder der NSDAP noch dem Staat unterstanden, sondern noch unmittelbarer ihm allein. Die Brandt’sche Sonderverwaltung für das zivile und militärische Gesundheitswesen ver92 Vgl. ebd., S. 36 – 38. Zum Mordprogramm insgesamt vgl. u. a. Klee, »Euthanasie«; Burleigh, Tod; Hinz-Wessels / Fuchs / Hohendorf / Rotzoll, Abwicklung; Hohendorf / Rotzoll / Fuchs / Hinz-Wessels / Richter, Opfer; Süß, Krankenmord; Teppe, Massenmord; Topp, »Reichsauschuß«; Lilienthal, T4-Aktion. 93 Vgl. Päfflin, Zwangssterilisation, S. 35 – 38. 94 Vgl. Süß, »Volkskörper«, S. 181 – 212. 95 Vgl. Süß, Aufstieg, S. 197. Vgl. ebs. ders., »Volkskörper«, S. 82 – 92. 96 Vgl. u. a. ebd., S. 76 – 94; ders., Aufstieg. Zur Person Brandts vgl. ebs. Schmidt, Karl Brandt. 97 Vgl. u. a. ebd., S. 117 – 174; Lilienthal, T4-Aktion. 42

VORGESCHICHTE(N)

Abb. 6 : )MIWSKIRERRXI,EWOEQQIVHIV~-IMPYRH5ǼIKIERWXEPXn Sonnenstein bei Pirna, aufgenommen 1995. Die Einrichtung war eine von reichsweit sechs Tötungsanstalten des zwischen 1939 und 1945 planmäßig betriebenen nationalsozialistischen Krankenmordprogrammes.

körperte insofern den »Typus personalisierter Sektorenherrschaft« bzw. eines »Führerimmediaten Sonderbeauftragten«.98 Die Bewertung der spezifisch polykratisch strukturierten NS -Gesundheitsbürokratie fällt amivalent aus. Einerseits war ihr eine NS -systemimmanente Dynamik zu eigen, die aus Kompetenz- und Machtkonflikten verschiedenster Instanzen um die beste Erfüllung der vom »Führer« und Reichskanzler Adolf Hitler formulierten Aufträge resultierte. Andererseits führten die permanente Mobilisierung und der ständige Wettbewerb zu Effizienzverlusten und schadeten geordneten Verwaltungsabläufen.99 Die NS -Polykratie arbeitete hinsichtlich des bürokratischen Ablaufes des Krankenmordprogrammes aber wiederum außerordentlich effizient und im Sinne des Regimes auch effektiv; zudem waren auch während 98 Vgl. Süß, Aufstieg, S. 199. Vgl. insgesamt ebs. Rebentisch, Führerstaat. 99 Zur Gesundheitsverwaltung vgl. insgesamt Süß, »Volkskörper«. Zur Bewertung der NS -Verwaltung generell vgl. Kuller, Verwaltung; Reichardt / Seibel, Radikalität. GESUNDHEIT UND VERWALTUNG VOR 1945

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des Krieges – trotz Versorgungsengpässen mit Medikamenten und einer flächendeckenden Zerstörung medizinischer Infrastruktur – die Gesundheitsämter auf lokaler Ebene über weite Strecken in der Lage, einen völligen Kollaps des Gesundheitswesens zu verhindern.100 Das heißt: Die polykratische Dynamisierung und Mobilisierung entfaltete durchaus eine markante Effizienz im Sinne des Regimes – gerade weil dezentrale Initiativen stabilisierten und antrieben. »Staatliche Behörden, Stadtverwaltungen und Parteiinstanzen bemühten sich auf lokaler Ebene, die erheblichen Reibungsverluste und Zumutungen, die durch die polykratische Herrschaftsstruktur und das Diktat kriegswichtiger Prioritäten entstanden, auszugleichen, ja durch vermehrte Anstrengungen gleichsam überzukompensieren.«101 Auch mit Blick auf die Gesundheitsverwaltung des »Dritten Reiches« konnte die neuere Forschung zeigen,102 dass die »wechselseitige Dynamisierung zwischen der lokalen und der zentralen Ebene«, so Sabine Mecking und Andreas Wirsching, »die Wurzel der nationalsozialistischen Kraftentfaltung« darstellte.103 Die mit Blick auf das »Dritte Reich« beschriebene charakteristische Widersprüchlichkeit einer zwischen Innovationspotenzialen und Verbrechertum changierenden Gesundheitspolitik, lässt sich nicht zuletzt auch daran ablesen, dass Normalität und Kriminalität dasselbe wurden: Die NS -Gesundheitsverwaltung gewährleistete zur gleichen Zeit, mit gleichen bürokratischen Mitteln und denselben Personen, das Funktionieren eines Krankenmordprogramms und regulierte parallel die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung – in beiden Fällen beinahe reibungslos bis zum Schluss.104

100 Vgl. Süß, »Volkskörper«. 101 Vgl. Mecking/ Wirsching, Stadtverwaltung, S. 18 f. Zur »lokalen Gesundheitspolitik« vgl. insbes. Christians, Amtsgewalt; Vossen, Erfassen; ders., Umsetzung. 102 Vgl. insbes. ebd.; ders., Erfassen; Christians, Amtsgewalt. 103 Vgl. Mecking / Wirsching, Stadtverwaltung, S. 19. Vgl. insgesamt ebs. Gotto, Stabilisierung; ders., Kommunalpolitik. 104 Vgl. Süß, »Volkskörper«, S. 181 – 369, 405 – 416; ders., Aufstieg, S. 223. 44

VORGESCHICHTE(N)

2. Das verspätete Ministerium

Die Verheerungen des Zweiten Weltkrieges konfrontierten die Menschen 1945 in Europa mit gravierenden Gesundheitsgefahren. Infektionskrankheiten, Unterernährung, Wohnungsnot und eine extrem gestiegene Binnenbewegung der Bevölkerung stellten die staatlichen Gesundheitsbehörden bzw. militärischen Besatzungsverwaltungen in weiten Teilen des Kontinents vor außergewöhnlich große Herausforderungen.1 Gesundheit war bei Kriegsende ein ubiquitäres Thema. Es betraf nicht zuletzt auch dadurch ganz unmittelbar jeden, weil die durch Krieg und Gewalt den Hunderttausenden Invaliden und Versehrten äußerlich entstandenen körperlichen Makel für jedermann sichtbar wurden; eine Präsenz, die die gesellschaftliche Perzeption von Maskulinität langfristig veränderte.2

¬ƣž±ķķåĻÆŹƣÏĚžďåžåĮĮžÏ̱üƒƐ×Ɛ%ĞåƐ:åžƣĻÚĚåЃžÆƨŹŇīŹ±ƒĞåĻƐ ÚåŹƭƐƾ垃ĮĞÏĚåĻƭåž±ƒǍƣĻďžǍŇĻåĻ

In Deutschland, das die Verantwortung für den Krieg trug, waren dessen humanitäre Folgen besonders stark spürbar. Millionen hatten ihre Wohnungen und Häuser verloren, lebten provisorisch unter schlechten hygienischen Bedingungen; hatten ihre Heimat verlassen, waren vertrieben worden und mit wenigen Habseligkeiten Flüchtlinge im eigenen Land.3 Die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kleidung und den alltäglichen Gütern war völlig unterbrochen, die medizinische und die allgemeine öffentliche Infrastruktur erheblich zerstört, Ärzte und medizinisches Personal fehlten; waren vielmals in Kriegsgefangenschaft, gefallen oder galten als vermisst.4 Nach Hitlers Selbstmord Ende April 1945 hatten Reichsregierung und Wehrmacht bis zur vollständigen militärischen Niederlage weitergekämpft. Erst Anfang Mai 1945, angesichts der Besetzung des deutschen Staatsgebietes inklusive Berlins durch alliierte Streitkräfte, erklärten sie die »bedingungslose Kapitulation« und beendeten den Krieg. Mit der »Berliner Erklärung« vom 5. Juni 1945 übernahmen die vier Siegermächte – die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – die »oberste 1 Vgl. u. a. Lindner, Umgang. 2 Vgl. Gotto / Seefried, Männern; Dinçkal, Remaskulinisierung; Schleiermacher, Restauration. 3 Vgl. u. a. Kielmansegg, Land, S. 7 – 13. 4 Vgl. u. a. ebd. DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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Abb. 7 : Straßenszene in Berlin nach Kriegsende, Mai 1945.

Regierungsgewalt« in Deutschland. Gut acht Wochen später wurde das deutsche Gebiet, ohne die Territorien östlich der Oder und der Neiße, gemäß den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz in vier Besatzungszonen geteilt und in Berlin separat ein Vier-Mächte-Status implementiert.5 Auf alliierter Seite hatten die Planungen für die Zeit nach dem Sieg über Hitler-Deutschland bereits Anfang der 1940er Jahre begonnen, konkretisierst worden waren sie seit 1944.6 Mit Blick auf die West-Alliierten bleibt zu bilanzieren: Die Gesundheitspolitik zählte lange Zeit nicht zu den besonders ausführlich vorbereiteten Schwerpunkten innerhalb der Besatzungskonzeption. In London etwa wurde noch im Februar 1945 die Beteiligung von »Gesundheits-Offizieren« an den militärischen Planungsvorbereitungen zurückgewiesen.7 Generell waren »Public Health Branches« überhaupt erst ab Sommer 1944 organisatorisch zu einem Teil der entworfenen Besatzungspolitik aufseiten der Briten und Amerikaner avanciert. Geeignetes Personal für diese Aufgabe zu requirieren erwies sich in London wie in Washington gleichermaßen als ein Problem.8 Hinsichtlich der französischen Planungen für die Zeit nach dem Sieg über Deutschland fielen die konkreten Überlegungen zur Gesundheitspolitik 5 6 7 8 46

Vgl. u. a. ebd., S. 7 – 13, 16 – 30. Vgl. u. a. Reinisch, Perils, S. 19 – 58. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 32 – 34; Ellerbrock, Democracy, S. 80 – 87. VORGESCHICHTE(N)

noch rudimentärer aus als im Falle der britischen und amerikanischen Strategien, allein deshalb, weil die Rolle Frankreichs als Besatzungsmacht erst 1945 definitiv feststand.9 Grundsätzlich war die Gesundheitspolitik für die West-Alliierten im Sommer 1945 immer Bestandteil der militärischen, nicht primär der zivilen Planungen des Besatzungsregimes. Konzeptionen wurden folglich an einem Ziel ausgerichtet: dem Schutz der alliierten Truppen. Es sollten mögliche Epidemien innerhalb der deutschen Zivilbevölkerung rasch unter Kontrolle gebracht werden, um größere Infektionsausbrüche aufseiten der Besatzungsstreitkräfte zu verhindern. Andernfalls drohte Gefahr für die politische Aufrechterhaltung der Besatzungsordnung.10 In London gingen Verantwortliche dabei im Frühjahr 1945 davon aus, dass die gesundheitspolitischen Herausforderungen mit Blick auf das Besatzungsregime in Deutschland mit denen vergleichbar waren, die man bereits seit Sommer 1944 gemeinsam mit amerikanischen und kanadischen Truppen während der Befreiung Frankreichs bewältigt hatte.11 Ab Sommer 1945 wurde jedoch vor allem amerikanischen Stellen rasch deutlich, dass die für Deutschland zu entwickelnden gesundheitspolitischen Strategien ganz andere Voraussetzungen zu beachten hatten. Tatsächlich war die medizinische Infrastruktur, vor allem Krankenhäuser, stärker zerstört als etwa im befreiten Frankreich bzw. machte sich das Fehlen von Ärzten gravierender bemerkbar; zudem waren die sanitären und hygienischen Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung und der Millionen im Land umherwandernden Flüchtlinge, entlassenen ehemaligen KZ -Internierten sowie der vormaligen politischen Gefangenen des NS -Regimes deutlich schlechter als erwartet. Auch die Unterbringung der Kriegsgefangenen musste verstärkt gesundheitspolitische Aspekte mitbedenken, um Krankheits- und Epidemieausbrüche zu verhindern.12 Washington erkannte ausgehend von dieser prekären gesundheitspolitischen Lage 1945 schnell, dass deren Stabilisierung Grundvoraussetzung für den angestrebten besatzungspolitischen Erfolg war – wie Dagmar Ellerbrock prägnant herausgearbeitet hat.13 Die historische Bewertung der Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 könne sich mit Blick auf die Gesundheitspolitik der westlichen Zonen – so Ellerbrock – nicht auf eine Beschreibung reiner Mangelwirtschaft und der Beseitigung akuter epidemischer Gefahren sowie gesundheitlicher Risiken beschränken. Vielmehr sei der »Bezug zwischen Gesundheit 9 10 11 12 13

Vgl. Reinisch, Perils, S. 255 – 288. Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 94 – 100. Vgl. Reinisch, Perils, S. 40. Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 94 – 115. Vgl. ebd.; dies., Gesundheit.

DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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und Politik nicht nur facettenreich, sondern ein zentraler politischer Handlungsmaßstab« gewesen.14 Dabei, so Ellerbrock, »spiegelte die amerikanische Überzeugung, dass die Welt am Demokratiemodell made in USA genesen sollte, das missionarische Selbstbild der Besatzer wider und reflektierte außerdem die tiefe amerikanische Überzeugung, dass eine gesunde Demokratie Voraussetzung für Wohlstand und Wohlergehen der Menschen sei.«15 Zunächst bestand die amerikanische »Gesundheitspolitik«, wie bei allen drei West-Alliierten, aus akuter Krisenpolitik, verstanden als Bemühung, hygienische Missstände zu beseitigen, der Bevölkerung Lebensmittel bereitzustellen, die Gefahr drohender Epidemieausbrüche zu verringern und grassierende Geschlechts- und Infektionskrankheiten zu bekämpfen, vor allem die Tuberkulose.16 Und auch in der amerikanischen Besatzungszone waren das Gesundheitsamt und mit ihm der Amtsarzt bürokratisches Rückgrat des öffentlichen Gesundheitswesens – denn das NS -Gesetz zur »Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« von 1934 blieb 1945 in Kraft. Gesundheitsämter und Amtsärzte – als eine Mitte der 1930er Jahre auf kommunaler Ebene neu geschaffene Gesundheitsverwaltung – waren insofern Ausgangspunkte für den Aufbau des öffentlichen Gesundheitswesens in den westdeutschen Besatzungszonen.17 Gerade die kommunale Struktur der Gesundheitsämter erfüllte die Maßgabe des von alliierter Seite formulierten Ziels einer »Dezentralisierung« der neu aufzubauenden deutschen Verwaltung. Die Gesundheitsämter wurden zu wichtigen Akteuren der vonseiten der Besatzungsmächte eingeforderten und vorgegebenen gesundheitspolitischen Maßnahmen, administrierten und kontrollierten sie im Auftrag der Militärverwaltung und berieten zugleich die Alliierten. Gesundheitsämter stiegen in der Folge nach 1945 rasch zu machtpolitisch wichtigen Zentren auf, mit der Konsequenz, dass Amtsärzte den Bürgermeistern ebenbürtig, ihnen oftmals aber sogar weit überlegen waren, ging es um den direkten Zugang zu alliierten Befehlshabern und damit um Mitsprache und Macht.18 Im Hinblick auf das von Ellerbrock beschriebene amerikanische Konzept der »Healing Democracy« war jedoch neben der akuten und krisenhaft 14 Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 445. 15 Vgl. ebd., S. 445 f. 16 Vgl. u. a. Lindner, Gesundheitspolitik, S. 153 – 184; Ellerbrock, Democracy, S. 106 – 118, 324 – 435. In der britischen Besatzungszone orientierten sich die Vorstellungen zum Aufbau der Gesundheitsbürokratie stark am zentralen britischen »National Health Service«. Gegen eine vom Alliierten Kontrollrat erwogene Einführung einer Einheitsversicherung protestierten letztlich erfolgreich die westdeutschen Ärzte u. Ärzteverbände, vgl. insgesamt: Lindner, Gesundheitspolitik, S. 83 – 85. 17 Vgl. u. a. Ellerbrock, Democracy, S. 118 – 122; dies., Gesundheit, S. 324 f. 18 Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 102 – 125. 48

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betriebenen Gesundheitspolitik eine ideell-mentale Komponente ganz entscheidend – nämlich der von Washington eingeforderte grundsätzliche Wechsel im Verständnis von öffentlicher Gesundheitspolitik als einer Kernaufgabe des Staates: »Public Health endeavors to implant in the German civil government full recognition that the highest attainable standard of health is a fundamental right of every human, without political, economic or social distinction.«19 Mit dieser Formulierung verfasste die amerikanische Militärverwaltung 1945 den zentralen Lehrsatz der Neuorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens in den westlichen Besatzungszonen – verstanden als Konzept der Reimplementierung eines rechtsstaatlich und humanistisch fundierten Verständnisses von Medizin und Gesundheit nach den als Wissenschaft camouflierten Medizinverbrechen des »Dritten Reiches« und einer obsessiv betriebenen rassistisch-biologistischen Selektion und »Vernichtung« des angeblich kranken »minderwertigen« Lebens.20 Die Erfolge des erstrebten radikalen mentalen Bruches mit den NS Prämissen der öffentlichen Gesundheitspolitik stellten sich indes nur allmählich ein. Wandlungsprozesse im Selbstverständnis von staatlicher Gesundheitspolitik, als einer vor allem auch in der Sozialhygiene wurzelnden Rückbesinnung auf Schwerpunkte der Prävention und Fürsorge, blieben eine Jahrzehnte währende Aufgabe und wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem von personellen Kontinuitäten aus der Zeit vor 1945 konterkariert.21 Gerade auch der Umgang mit den Opfern der NS -Zwangssterilisationen zeigt, wie beständig extreme eugenische Paradigmen zunächst blieben. Bereits unmittelbar nach Kriegende 1945 verfestigte sich, auch aufseiten der amerikanischen Verwaltung, die Überzeugung, dass das Zwangssterilisationsgesetz des »Dritten Reiches« nicht als NS -originäres und rassistisches Unrecht anzusehen sei – eben weil es auch in den Vereinigten Staaten seit den 1920er Jahren Sterilisationsgesetze gegeben hatte. Diese Fehlinterpretation basierte aufseiten Washingtons primär auf der Verwechslung von eugenischer Politik in westlichen Demokratien mit einer in der NS -Diktatur betriebenen Rassenhygiene.22 Entscheidend für eine Fehldeutung der NS -Zwangssterilisationspraxis war aber auch, dass ehemalige Verantwortliche der nationalsozialistischen »Erbgesundheitspolitik« nach 1945 als Gesundheitspraktiker tätig blieben und auch über Entschädigungszahlungen und den Umgang mit den Zwangssterilisierten 19 Vgl. Direktive der amerikanischen Militärverwaltung, Mai 1945, zit. n. Ellerbrock, Gesundheitspolitik, S. 314, Fn. 7. 20 Vgl. ebd., S. 313 – 324. 21 Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 134 – 199; Schleiermacher, Traditionen, S. 272 – 282. 22 Vgl. u. a. Westermann, Leid, S. 81 – 88; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 40 – 97; Surmann, NS -Unrecht, S. 198 – 204; Christians, Amtsgewalt, S. 314 – 328. DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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entschieden. Ein Unrechtsbewusstsein gegenüber den Hunderttausenden Opfern fehlte zeitgenössisch bei ihnen und in der Breite der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.23 Das heißt: Die von alliierter Seite 1945 formulierten Zielen der »Demokratisierung«, der »Dezentralisierung« und der »Entnazifizierung« Deutschlands standen konzeptionell – betrachtet man die amerikanischen Ansätze zur erfolgreichen Umsetzung einer neuen Gesundheitspolitik – in enger, ja paradoxer Verbindung. Die Widersprüchlichkeiten zwischen den alliierten Konzepten der »Demokratisierung« und dem der »Entnazifizierung« werden dabei ganz offenkundig deutlich: Eine zunächst noch 1945 /46 rigide und schematisch durchgesetzte Entlassung von Gesundheitspersonal, das durch eine NSDAP-Mitgliedschaft »belastet« war, gefährdete rasch das politische Ziel, zu einer signifikanten Verbesserung der Gesundheitslage zu gelangen. Realpolitischer Pragmatismus veränderte daher den »Entnazifizierungsprozess«, da vor allem Ärzte als Fachkräfte fehlten. Begünstigt wurde diese Entwicklung vor allem auch dadurch, dass beide Seiten – sowohl Deutsche als auch alliierte Verantwortliche – affin für die Argumentationsfigur des »unpolitischen Mediziners« waren.24 Die während des »Dritten Reiches« begangenen Medizinverbrechen, die zeitgenössisch erst partiell, auch hinsichtlich ihrer kriminellen bürokratischen Dimension, bekannt waren, galten als Ausnahmen, zumeist begangen von der SS. Die Täter waren 1947 für ihre inhumanen Menschenexperimente an KZ -Inhaftierten sowie Kriegsgefangenen und für ihre Beteiligung am NS -Krankenmordprogramm im »Nürnberger Ärzteprozess« zur Rechenschaft gezogen worden.25 Angesichts der dringend notwendigen Suche nach ärztlichem Personal war in gewisser Weise das Nürnberger Verfahren ein Endpunkt der »Entnazifizierung« der Ärzteschaft in den Westzonen Deutschlands, galten doch die Täter als bestraft und das übrige Personal somit als »unpolitische Mitläufer«.26 Die amerikanische Militärverwaltung antizipierte das Spannungsverhältnis zwischen angestrebter politischer »Demokratisierung« und pragmatisch betriebener »Entnazifizierung«. Dagmar Ellerbrock zeigt auf, dass für die Gesundheitspolitik nicht gilt, dass mit wachsender Distanz zum Kriegsende »die Deutschen vom Feind zum Freund avancierten.«27 23 Vgl. u. a. Neppert, Kontinuität; dies., NS -Zwangssterilisierten; Surmann, NS Unrecht; Tümmers, Anerkennungskämpfe; Herrmann / Braun, Gesetz. 24 Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 134 – 170. 25 Vgl. Mitscherlich / Mielke, Diktat; Weindling, Gerechtigkeit. 26 Vgl. Gerst, Neuaufbau, S. 206 f.; Ellerbrock, Democracy, S. 134 – 142. Vgl. insgesamt ebs. Dörner / Ebbinghaus, Vernichten; Weindling, Gerechtigkeit. Zur vonseiten der Sowjetunion pragmatisch betriebenen »Entnazifizierung« der Ärzteschaft vgl. u. a. Dörre, NS -»Euthanasie«, S. 116 – 124. 27 Vgl. Ellerbrock, Democracy, S. 449 f. 50

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Abb. 8 : Karl Brandt (Bildmitte stehend), Hitlers ehemaliger »Begleitarzt«, »General- und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen« und Mitverantwortlicher des NS-Krankenmordprogrammes als Angeklagter während des Nürnberger Ärzteprozesses, 1947.

Vielmehr gehörte das öffentliche Gesundheitswesen – im Gegensatz zu anderen bürokratischen Sparten – zu der am längsten unmittelbar unter Kontrolle der Alliierten stehenden deutschen Verwaltung. Und eine sich Ende der 1940er Jahre einstellende Unzufriedenheit aufseiten der US Militärs mit der Arbeit deutscher Gesundheitsstellen erklärt sich vor allem durch die zeitgenössisch noch als viel zu gering bewerteten Fortschritte beim »mentalen« (Wieder-)Aufbau des öffentlichen Gesundheitswesens – ausgerichtet am Grundsatz, dass der Staat mit Gesundheitspolitik ein universelles Menschenrecht schützte und keine Verfügungsgewalt über den Körper seiner Bürger besaß.28 Eingebettet in sichernde Strukturen alliierter Kontrolle schien aber auch 1948 /49 der langfristige Erfolg eines politischen Wandlungsprozesses hin zum amerikanischen Verständnis von »Public Health« in Deutschland möglich.29 Nachdem 1945 /46 erste deutsche Länder nebst Regierungen in den westlichen Besatzungszonen neu entstanden waren – mit eigenen ministeriellen Gesundheitsbürokratien unter Verwaltungsverantwortung 28 Vgl. ebd., S. 171 – 199, 445 – 450. 29 Vgl. ebd., S. 171 – 199, 450 – 454. DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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der Militärregierungen –, forcierte die 1947 einsetzende Zuspitzung der Konfrontation zwischen den West-Alliierten und der Sowjetunion die definitive Auflösung der ehemaligen »Anti-Hitler-Koalition« und den Beginn des »Kalten Krieges«.30 Politisch-strukturell führte der krisenhafte Konfrontationsprozess zwischen Ost- und West-Alliierten im Januar 1947 zur Gründung der sogenannten Bizone, dem Zusammenschluss der amerikanischen und britischen Besatzungszone. Erweitert um die französische Militärverwaltung, entstand schließlich im April 1949 die Trizone, als erster überregionaler Zusammenschluss westdeutscher Gebiete seit 1945 – aber noch ohne exekutive Organe.31 Zum verwaltungsmäßigen Koordinierungsorgan einer bi- bzw. trizonalen Gesundheitspolitik entwickelte sich die ursprünglich nur in der britischen Besatzungszone auf Initiative deutscher Stellen gegründete »Arbeitsgemeinschaft Leitender Ministerialbeamter« (AGLMB). Die Arbeitsgemeinschaft glich einer rein informativ und regelmäßig zusammentretenden Runde von Verantwortlichen der Gesundheitsverwaltungen der Länder sowie von Vertretern der zentralen Gesundheitsstellen der Militärverwaltungen. Das heißt: Die AGLMB diente als Debattenforum, war Ort des Erfahrungsaustausches und der offiziösen Abstimmung gesundheitspolitischer Maßnahmen im überregionalen Kontext.32

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Im November 1949 zog der Vertreter des nordrhein-westfälischen Gesundheitswesens auf einer Sitzung der AGLMB erbittert und enttäuscht Resümee. Wenige Monate nach Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages und der bereits Ende Mai 1949 erfolgten Verkündung des Grundgesetzes – als Eckdaten der Gründung der Bundesrepublik Deutschland – stand fest,33 dass der neue westdeutsche Staat weder eine zentral geführte Gesundheitspolitik betreiben noch über ein »Bundesgesundheitsministerium« verfügen würde. Vor der AGLMB erklärte Nordrhein-Westfalen im Herbst 1949, die »Arbeitsgemeinschaft, die erst auf zonaler, bizonaler und schließlich trizonaler Grundlage entstanden« sei, habe »stets als Fernziel das Bundes30 Vgl. Stöver, Krieg, S. 40 – 105; Kielmansegg, Land, S. 32 – 45. Vgl. ebs. insgesamt Loth, Ost-West-Konflikt. 31 Vgl. u. a. insgesamt Stolleis, Besatzungsherrschaft, sowie Günther / Kreller, Vorgeschichte, S. 38 – 41. 32 Vgl. u. a. Woelk, Gesundheit, S. 412 – 415. 33 Zur Gründung der Bundesrepublik vgl. u. a. Kielmansegg, Land, S. 80 – 129; Wengst, Staatsaufbau. 52

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ministerium für Gesundheitswesen« angestrebt; zudem sei es ihr um die »Vereinheitlichung der Gesundheitsgesetzgebung in der Bundesinstanz« gegangen.34 »Durch das Bonner Grundgesetz sei jedoch weder das eine noch das andere Ziel erreicht worden. […] Nur die Koordination«, so hieß es weiter, »habe als Aufgabe der AGLMB« aber immerhin »gerettet« werden können.35 Diese Aussagen dokumentieren einen durchaus überraschenden Befund: Gerade die Gesundheitsexperten der Länder erachteten es im Herbst 1949 auf der ersten Sitzung der AGLMB nach Gründung der Bundesrepublik als ein großes Manko des neuen westdeutschen Staates, weder über eine alleinige Bundeskompetenz in Bezug auf die Gesundheitspolitik noch über ein »Bundesministerium für Gesundheitswesen« zu verfügen. Tatsächlich jedoch war diese mit Verve und großer Vehemenz artikulierte Haltung missverständlich und ambigue. Denn die Länderverantwortlichen des Gesundheitswesens – vor allem die in der AGLMB versammelten Minister und Senatoren für Gesundheit der westlichen Besatzungszonen und West-Berlins – waren seit 1948 /49 tief zerstritten gewesen hinsichtlich der Fragen, welche gesundheitspolitischen Kompetenzen der im Entstehen begriffene »Bund« haben sollte und ob ein »Bundesministerium für Gesundheitswesen« zu schaffen war. Auch wenn vonseiten der Länder ab Herbst 1949 oftmals der Parlamentarische Rat – als die verfassungsgebende Versammlung des Grundgesetzes der Bundesrepublik – für die falsche Entscheidung gegen ein BMGes verantwortlich gemacht wurde,36 basierte sie tatsächlich nicht zuletzt auf der Haltung der Gesundheitsexperten der Länder hinsichtlich des Zuschnitts der Bundesgesundheitsverwaltung. Während der Arbeit des Parlamentarischen Rates hatte die AGLMB mehrere Initiativen ergriffen, um Forderungen und Empfehlungen zur Bundesgesundheitspolitik zu formulieren, die wiederum auf die Entscheidungen im Parlamentarischen Rat ausstrahlen sollten – und zwar anfänglich verstanden als Votum zugunsten des »starken« Bundes. Begründet wurde dies sowohl mit den akuten epidemischen Bedrohungslagen, die nach zentraler Handlungskompetenz verlangten, als auch mit juristischen Überlegungen. Denn um die Konfusion bezüglich einer Weitergeltung der zwischen 1933 und 1945 erlassenen Gesundheitsgesetze zu beheben, sollte die Bundesinstanz – nach dem anfänglichen Willen der AGLMB – umfassend mit Verfügungsgewalt hinsichtlich der Gesundheitspolitik ausgestattet werden.37 Die Ländervertreter erachteten es 1948 /49 nicht zuletzt 34 35 36 37

Vgl. BA rch, B 142 /703, Protokoll der Tagung der AGLMB, November 1949. Vgl. ebd. Vgl. Woelk, Gesundheit, S. 401 – 403. Vgl. ebd., S. 407 f.

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auch deshalb als notwendig, ein neues Bundesgesundheitsministerium zu etablieren, weil damit zugleich eine außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik hätte erreicht werden können. Die Partizipation des Bundes an einer internationalen Gesundheitspolitik sollte die Isolation des neuen westdeutschen Staates durchbrechen, das heißt mithelfen, die Hypothek der NS -Medizinverbrechen abzubauen.38 Nach einer lang ausgetragenen Kontroverse war es jedoch im Januar 1949 mehrheitlich vonseiten der AGLMB entschieden worden, gegenüber dem Parlamentarischen Rat nicht auf die Gründung eines »Bundesministeriums für Gesundheitswesen« zu drängen und auch dafür zu plädieren, den Katalog der gesundheitspolitischen Bundeskompetenzen schmal zu halten. Durchgesetzt hatten sich damit die Gesundheitsbeamten auf Länderebene, die für eine Beibehaltung der seit 1945 entstandenen und sich aus ihrer Sicht bewährten Gesundheitsbürokratie eintraten. Es sollte bei der Länderverantwortung für wichtige gesundheitspolitische Themen bleiben, ebenso bei der auf Ebene von Gesundheitsämtern und Landkreisen ruhenden Verantwortung für die Exekution der Gesundheitspolitik. Dieses Votum der Länder beeinflusste die späteren im Grundgesetz definierten Bund-Länder-Kompetenzen wesentlich mit, denn die Arbeit des Parlamentarischen Rates an den verfassungsmäßigen Festlegungen einer Bundesgesundheitspolitik war durch die Haltung des koordinierenden Gesundheitsgremiums der AGLMB beeinflusst.39 Die Koordinaten der bundesdeutschen Gesundheitspolitik legte das Grundgesetz am 23. Mai 1949 fest. Es orientierte sich diesbezüglich stark an der Weimarer Verfassung, hob sich aber auch in einem wesentlichen Punkt dezidiert von ihr ab. Zunächst reinstitutionalisierte das Grundgesetz gemäß Artikel 74 eine bereits in den 1920er Jahren festgelegte sogenannte konkurrierende Gesetzgebung in der Gesundheitspolitik. Demzufolge oblag es Bund und Ländern, gemeinsam legislativ »Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren, [für] die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen […], den Verkehr mit Arzneien, Heil- und Betäubungsmitteln und Giften« zu ergreifen; zudem war die Lebensmittelhygiene, als wichtiger Bestandteil der Verbraucherschutzpolitik, ein Aufgabengebiet der konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern.40 Das heißt: Das Bonner Grundgesetz definierte keine einzige gesundheitspolitische Aufgabe als eine dezidiert allein dem Bund obliegende Kompetenz. Und anders als die Weimarer Reichsverfassung bezeichnete es auch nicht 38 Vgl. ebd., S. 409. 39 Vgl. ebd., S. 415 – 418. 40 Vgl. BGBl. I, 1949, Nr. 1, Art. 74 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 23. 5. 1949, S. 9. 54

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den Bereich der Fürsorge, etwa Schwangeren-, Jugend- oder Säuglingsfürsorge, als einen Bestandteil der konkurrierenden Gesetzgebung.41 In letzter Konsequenz zog das Grundgesetz dem Bund damit die engsten verfassungsmäßigen Grenzen bei der Betreibung von Gesundheitspolitik seit dem Norddeutschen Bund bzw. der Reichsverfassung von 1871.42 Bereits der Ausdruck der »konkurrierenden Gesetzgebung« verwies auf ein wesentliches Grundprinzip des grundgesetzlichen Staatsrechtsverständnisses: Im freien Wettbewerb sollte um die besten Lösungen für politische Aufgaben gerungen werden. Die Konkurrenz von Bund- und Länderbehörden sollte nach dem Willen des Parlamentarischen Rates Inhalte, Ziele und Lösungsstrategien der bundesdeutschen Gesundheitspolitik entwerfen, wechselseitige Koordination, Abstimmung und Wettbewerb sollten diesen Aushandlungsprozesse prägen.43 Offen ließ das Grundgesetz, wie genau die Bundesgesundheitsbürokratie organisiert und strukturiert werden sollte, ob es also eines Bonner Gesundheitsministeriums bedurfte. Am 21. Mai 1949 – drei Tage vor Inkrafttreten des Grundgesetzes – präsentierte eine eigens von den Gesundheitsministern und -senatoren der Länder eingesetzte Kommission die »Celler Beschlüsse«. Sie enthielten die inhaltlichen wie bürokratischen Eckpunkte einer westdeutschen Gesundheitspolitik. Die Ergebnisse konterkarierten vorangegangene Standpunkte der AGLMB und auch die vom Parlamentarischen Rat formulierten Koordinaten – wiesen zugleich aber den Weg in Richtung der künftigen Bundesgesundheitsverwaltung.44 So dehnten die Celler Kommissionsbeschlüsse die Bundeskompetenzen in der Gesundheitspolitik auf sieben Zuständigkeiten aus: Maßnahmen zum Infektions- und Seuchenschutz bei Mensch und Tier, die Zulassung zum ärztlichen Beruf, die Regelung des Arzneimittelwesens inklusive der Zulassung neuer Präparate, die Lebensmittelüberwachung und -hygiene, die Schädlingsbekämpfung zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier, eine Mitwirkung bei jeder Gesetzgebung mit gesundheitspolitischem Bezug sowie die »Internationalen Beziehungen« auf dem Gebiet des Gesundheitswesens.45 Mit anderen Worten: Die von der AGLMB eingesetzte Kommission forderte – anders als die Arbeitsgemeinschaft selbst und die kurz darauf vom Grundgesetz festgelegten Zuständigkeiten – eine machtvolle Bundeskompetenz in der Gesundheitspolitik. Die »Celler Beschlüsse« wollten die gesundheitspolitischen Aufgaben der Länder auf 41 42 43 44 45

Vgl. Woelk, Gesundheit, S. 399 f. Vgl. ebd., S. 398 – 400. Vgl. u. a. ebd., S. 405 – 426. Vgl. ebd., S. 419 – 424. Vgl. ebd., S. 417 – 420.

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Abb. 9 : Der Gebäudekomplex des Bundesministeriums des Innern an der heutigen Graurheindorfer Straße in Bonn, 1965.

die Für- und Vorsorge fokussieren, das heißt stärker an sozialpolitischen wie sozialhygienischen Schwerpunkten ausrichten.46 Hauptgegenstand der »Celler Beschlüsse« war nicht zuletzt die Forderung, eine im neuen Innenministerium des Bundes angesiedelte Hauptabteilung mit der Führung der zentralen Gesundheitspolitik zu betrauen. Ganz detailliert sahen die Kommissionsbeschlüsse auch vor, diese »Hauptabteilung für Gesundheitswesen« des Innenministeriums in insgesamt fünf Arbeitsbereiche zu gliedern, drei humanmedizinische bzw. pharmazeutische, eine veterinärmedizinische und eine juristische Abteilung. Nur Letztgenannte sollte nicht von einem Mediziner geführt werden, wogegen wiederum Pharmazeuten entschieden protestierten.47 Mit dem Plädoyer gegen ein Bundesgesundheitsministerium und für eine Zuständigkeit des künftigen Innenministeriums war mit den »Celler Beschlüssen« auf Ebene der Länder eine wichtige Entscheidung getroffen worden: Durchgesetzt hatte sich dort eine konservative Fraktion von Experten, die »Gesundheit« nicht in einem weiten Kontext von Sozialpolitik begriff und es folglich explizit ablehnte, die »Gesundheitshauptabteilung« einem Bundessozial- bzw. Bundesarbeitsressort anzuvertrauen.48 Allein 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd., S. 420. 48 Vgl. ebd., S. 427 – 430; ders./Halling, Gründung, S. 85. 56

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dieser Konflikt um das Verständnis von Gesundheitspolitik motivierte die Entscheidung zugunsten des Innenministeriums als verantwortlichem Ressort des Bundes für das Gesundheitswesen 1949 – was gleichzeitig eine formale Kontinuität begründete. War doch »Gesundheit« im gesamtstaatlichen deutschen Kontext seit 1879 stets dem Innenministerium als Zuständigkeitsbereich angeschlossen worden.49 Die im Herbst 1949 eingerichtete Bundesgesundheitsverwaltung folgte Maßgaben der »Celler Beschlüsse« insofern, als mit der Abteilung IV im neuen Bundesministerium des Innern (BMI) eine Struktureinheit für das Gesundheits-, das Arzneimittel- und das Veterinärwesen gebildet wurde. Unter Leitung des Arztes Franz Redeker entstanden insgesamt sieben Referate: Arbeitseinheiten für übergreifende Fragen des Gesundheitswesens, für Hygiene, für Fürsorge, für das Apotheken- und Arzneimittelwesen, für Lebensmittelhygiene, für Veterinärmedizin und für Rechts- und Verwaltungsfragen des Gesundheitswesens.50 Gemeinsam mit dem 1952 gebildeten Bundesgesundheitsamt (BGA) bildeten BMI-Abteilung IV und BGA fortan das bürokratische Gerüst der frühen bundesrepublikanischen Gesundheitspolitik.51 Formal ähnelte dieser verwaltungstechnisch-administrative Zuschnitt der im Kaiserreich etablierten Struktur.52 Ergebnis der durch die Länder respektive die AGLMB und ihre eingesetzte Expertenkommission geprägten Entscheidungsprozesse hin zu einem Grundgesetz – und damit der verfassungsmäßigen Rahmung der Gesundheitspolitik und -bürokratie des neuen westdeutschen Staates ohne Bundesgesundheitsministerium – war folglich 1949 eine stark bewahrende Tendenz. Sie ließ sich auf verschiedene Ursachen und diverse Akteure zurückführen: Die Länder waren nicht bereit, ihre seit 1945 entstandenen Handlungsspielräume und Kompetenzen auf gesundheitspolitischem Gebiet aufzugeben; als stark widersprüchlich und Kontrovers wurden vom Parlamentarischen Rat die Auseinandersetzung um ein »Bundesministerium für Gesundheitswesen« wahrgenommen, das zumal mit durchgreifenden Rechten auf Kosten der etablierten Länderkompetenzen hätte ausgestattet werden müssen, um eine wirkungsvolle Gesundheitspolitik zentral betreiben zu können. Nicht zuletzt kam hinzu: Auch die amerikanische Prämisse der »Dezentralisierung« wirkte sich 1949 hemmend auf etwaige Planungen für eine strukturell grundsätzlich neu und zentralistisch ausgerichtete Bundesgesundheitspolitik – mit einem eigenen Bundesgesundheitsministerium – aus. Entscheidend war zudem, dass seit dem 19. Jahrhundert Epidemien die 49 Vgl. Kuschel, Gesundheit, S. 311 – 313; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 20. 50 Vgl. Woelk, Gesundheit, S. 434. 51 Vgl. Kuchel, Gesundheit, S. 308 f.; BGBl. I, 1952, Nr. 9, Gesetz über die Errichtung eines Bundesgesundheitsamtes, 27. 2. 1952, S. 121. 52 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 20. DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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stärksten Katalysatoren von organisatorischen Zentralisierungsprozessen der öffentlichen Gesundheitspolitik waren – Infektionskrankheiten aber Anfang der 1950er Jahre keine öffentlich massiv wahrgenommene Bedrohung mehr darstellten und insofern ein Bundesgesundheitsministerium auch deshalb 1949 /50 als überflüssig erschien.53 Zwei Herausforderungen prägten die Arbeit der BMI-Gesundheitsabteilung in den Anfangsjahren am stärksten: die Suche nach geeignetem Personal und die mit den Ländern und anderen Bundesministerien sowie -behörden ausgetragenen Konkurrenzkämpfe.54 Besonders die bereits in den frühen 1950er Jahren auszumachende Tendenz der Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums, die vom Grundgesetz dem Bund zugesprochene Regelungskompetenz von gesundheitspolitischen Aufgaben gegenüber den Ländern maximal auszulegen, führte zu zahlreichen Konflikten, mitunter auch zu grundsätzlichem Dissens über eine beanspruchte Kompetenz des Bundes, etwa beim »Jugendzahnpflegegesetz« als einem Bereich der von Ländern betriebenen gesundheitspolitischen Fürsorge.55 Das Fehlen eines »Bundesgesundheitsministeriums« wurde im Verlauf der 1950er Jahre vonseiten ärztlicher Standesvertretungen und Berufsverbände moniert.56 Und auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit befand Mitte der 1950er Jahre mehrheitlich in einer repräsentativen Umfrage, dass ein solches Ministerium am meisten fehle; über 80 Prozent der befragten Personen erklärten, ein separates Ressort für Gesundheit sei auf Bundesebene »dringend notwendig«.57 Während andere europäische Staaten wie Italien und die Niederlande Anfang der 1950er Jahre Gesundheitsministerien etablierten und etwa Finnland, Großbritannien und Frankreich ein solches Ressort bereits seit den 1920er Jahren besaßen, stand in der Bundesrepublik auch die nachträgliche Gründung eines BMGes im Verlauf der 1950er Jahre nicht zur Debatte. Zu stark war die Opposition der freien Ärzteschaft gegen befürchtete zentralistische Konzentrationen auf Ebene des Bundes und zu groß blieb die politische Abgrenzungsnotwendigkeit gegenüber dem Ost-Berliner SED -Regime mitsamt seinem

53 Vgl. insgesamt Woelk, Gesundheit, S. 398 – 430; ders./Halling, Gründung, S. 84 – 86; Kuschel, Gesundheit, S. 307 – 313; Linder, Umgang; dies., Gesundheitsprobleme. Vgl. insgesamt ebs. Omran, Transition. 54 Vgl. insgesamt Woelk, Gesundheit, S. 431 – 442. Zur BMI-Gesundheitsabteilung vgl. ebs. Richter, Seilschaften. 55 Zur Kontroverse um die Jugendschulzahnpflege seit den 1950er Jahren vgl. u. a. Woelk, Gesundheit, S. 486 – 495. 56 Vgl. Deutscher Bundestag, DS 1 /848, Petition des Verbandes der Ärzte Deutschlands, 17. 4. 1950; Kuschel, Gesundheit, S. 309. 57 Vgl. Kuschel, Gesundheit, S. 309 f.; Noelle/Neumann, Jahrbuch 1947 – 1955, S. 183. 58

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zentralistischen Gesundheitswesen.58 Gerade der Faktor einer wieder neu erstarkten dominanten »freien Ärzteschaft« prägte die Entwicklung und den Zuschnitt der bundesdeutschen Gesundheitsbürokratie maßgeblich bereits unmittelbar in den 1950er Jahren.59 Das BMG es 1961 : Gesundheit als neue Priorität ?

»Angesichts der großen Bedeutung, die die Erhaltung der Gesundheit für den einzelnen und für unser Volk hat, hat sich die Bundesregierung entschlossen, ein Bundesministerium für Gesundheitswesen einzurichten«, so die Begründung zur Etablierung eines Bundesgesundheitsressorts von Bundeskanzler Konrad Adenauer in der Regierungserklärung am 29. November 1961.60 Ursachen und Hintergründe, die letztlich Anfang der 1960er Jahre zur Gründung des BMGes führten, waren weitaus komplexer und vielschichtiger, als es der kursorische Verweis Adenauers im Winter 1961 erscheinen ließ. Vor allem aber war die Entscheidung zugunsten des Bundesgesundheitsressorts imminent politisch motiviert gewesen und dies aus verschiedenen Gründen. Politisch war das von Bundeskanzler Adenauer im Zuge der Koalitionsbildung 1961 erteilte Votum, nunmehr ein neues »Bundesministerium für Gesundheitswesen« zu schaffen, zunächst deshalb, weil das Thema »Gesundheit« Anfang der 1960er Jahre Gegenstand einer zwischen SPD und den beiden Unionsparteien – der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) und der Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU) – scharf ausgetragenen parteipolitisch gefärbten Kontroverse wurde. Während die Sozialdemokratische Partei seit Ende der 1950er Jahre programmatisch detailliert auf gesundheitspolitische Herausforderungen einging, etwa Konzepte aufstellte zur Bekämpfung der sogenannten Zivilisationskrankheiten, wie Diabetes, Krebs und Herz-Kreislauf-Beschwerden, und auch für ein Bundesgesundheitsministerium stritt, verfügten die Unionsparteien zunächst über kein vergleichbar umfassendes gesundheitspolitisches Profil. 1959 waren es nicht die Parteien der Bonner Regierungskoalition, sondern die sozialdemokratische Opposition, die erstmals Leitsätze für die »Gesundheitssicherung in unserer Zeit« präsentierte. Wesentlich gestützt auf sozialhygienische Prämissen der vonseiten der SPD während der Weimarer 58 Vgl. Kuschel, Gesundheit, S. 309 f. Zum Gesundheitswesen der DDR u. dem OstBerliner Gesundheitsministerium vgl. u. a. Wahl, Gesundheit; Steger / Schochow, Traumatisierung; Braun, Medizin. 59 Vgl. u. a. Lindner, Gesundheitspolitik, S. 82 – 90. 60 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 4. WP, 5. Sitzung, 29. 11. 1961, S. 24 (Hervorhebung im Original). DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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Republik mitgeprägten Gesundheitspolitik, forderte die bundesdeutsche Sozialdemokratie darin neue Ansätze der Für- und Vorsorgepolitik im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens.61 Im Bundestagswahlkampf 1961 waren die Themen Gesundheit und ein »Bundesgesundheitsministerium« inhaltlich markant präsent und die »Volksgesundheit« avancierte aufgrund der seitens der SPD und der Freien Demokratischen Partei (FDP) vorgebrachten Forderungen zu einem Wahlkampfschlager. Ähnlich wie die Sozialdemokratie setzten sich auch die Liberalen für eine politische Aufwertung des Themas »Gesundheit« auf Bundesebene ein, forderten aber ausdrücklich kein neues Bundesgesundheitsministerium. Vielmehr sollte aus Sicht der Freien Demokraten die bestehende Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums um verbraucher- und umweltschutzpolitische Themen vergrößert und anschließend dem Bundesfamilienministerium unterstellt werden.62 Innerhalb der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag wiederum gingen die Meinungen über ein »Bundesgesundheitsministerium« weit auseinander, wobei bis Sommer 1961 aber eine knappe Mehrheit der Fraktion durchaus offen für eine solche Neugründung war. Abgeordnete der CDU / CSU nahmen eine thematische Defensive ihrer Parteien angesichts einer von FDP und SPD zur Bundestagswahl forcierten Auseinandersetzung mit der »Gesundheit« wahr.63 Namhafte Gesundheitsexperten der CDU befürchteten bereits im Frühjahr 1961 einen drohenden Nachteil angesichts einer detaillierten Hervorhebung gesundheitspolitischer Inhalte seitens der SPD – wobei von ihnen stets auf eine drohende Gefahr der planwirtschaftlichen Sozialisierung der Medizin nach dem Vorbild der SED verwiesen wurde, wenn es um jene Konzepte der Sozialdemokratie ging. So informierte Ende Mai 1961 Kai-Uwe von Hassel, seinerzeit Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und Vorsitzender des dortigen CDU-Landesverbandes, Konrad Adenauer vertraulich über die erboste Zuschrift von Franz Klose.64 Klose, approbierter Mediziner und 1887 geboren, war nach 1945 wesentlich am Auf bau der Gesundheitsverwaltung in Schleswig-Holstein beteiligt gewesen, 1952 wurde er erster Präsident des Bundesgesundheitsamtes und stand 1953 /54 als Nachfolger von Franz Redeker an der Spitze der BMI-Gesundheitsabteilung.65 Klose hatte von Hassel Anfang Mai 1961 wissen lassen, »daß in weiten Kreisen nicht nur des ärztlichen Berufsstandes, sondern auch der Bevöl61 62 63 64

Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Gesundheitssicherung. Vgl. Woelk, Gesundheit, S. 445 – 447. Vgl. ebd., S. 446 f. Vgl. BA rch, B 136 /5243, Schreiben von Kai-Uwe von Hassel an Konrad Adenauer, 12. 5. 1961. 65 Vgl. u. a. Stürzbecher, Klose, Franz, S. 123; Richter, Seilschaften, S. 548 f. 60

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kerung ein großes Befremden« darüber festzustellen sei, dass im soeben beschlossenen Wahlprogramm der CDU – im Gegensatz zur SPD – »kein Hinweis auf die ›Volksgesundheit‹ enthalten« sei.66 »Ich wundere mich darüber ganz besonders«, so Franz Klose weiter, »weil der gesundheitspolitische Ausschuß der CDU sich in seiner Sitzung im April 1961 in seiner Mehrheit für die Einrichtung eines Bundesgesundheitsministeriums ausgesprochen hat.«67 Klose hob damit auf den im Frühjahr 1961 vonseiten der christdemokratischen Partei erstmals einberufenen gesundheitspolitischen »Expertenrat« ab, der – explizit unter Verweis auf die Aktivitäten der Sozialdemokratie – das gesundheitspolitische Profil der CDU konturieren wollte, auch mithilfe der Forderung nach einem BMGes. Im Wahlprogramm der Unionsparteien zur Bundestagswahl 1961 fehlten indes ein ausgeprägtes gesundheitspolitisches Profil und die explizite Zusage nach Gründung eines Gesundheitsministeriums auf Bundesebene.68 Franz Klose spekulierte gegenüber von von Hassel daher, dieses Fehlen sei auf eine Intrige zurückzuführen. Denn immerhin sei die Vorsitzende des CDU-Gesundheitsausschusses mit der Forderung nach einem Bundesgesundheitsministerium überstimmt worden. Sie hintertreibe innerparteilich nach wie vor das Mehrheitsvotum und agiere diesbezüglich als Anwältin derer, die eine starke freie Ärzteschaft und ein auf diverse Ministerien verteilte Zuständigkeit für die Gesundheitspolitik forderten.69 Kai-Uwe von Hassel leitete die Zuschrift Kloses Ende Mai 1961 an Konrad Adenauer mit dem Kommentar weiter, Klose sei »altes CDU-Mitglied« und »entrüstet über das fehlende Bekenntnis zur Volksgesundheit und damit zur Gründung eines Bundesgesundheitsministeriums«, wie vom Expertenrat der CDU im Frühjahr 1961 gefordert – auch als Mittel zur wahlstrategischen Abwehr entsprechender Programmatiken der SPD.70 Adenauer lag der Vorgang Mitte Juni 1961 vor, ohne dass in den Akten seine Reaktion gegenüber von von Hassel oder Klose festgehalten wurde.71 Die Frage nach Gründung eines Bundesgesundheitsministeriums ruhte zunächst politisch aufseiten Adenauers und der CDU-Führung bis über den Termin der Bundestagswahl im Herbst 1961 hinaus. Während ein erst neu etabliertes christdemokratisches Parteigremien – nämlich der 66 Vgl. BA rch, B 136 /5243, Abschrift des Briefes von Franz Klose an Kai-Uwe von Hassel, 5. 5. 1961. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /5243. 69 Vgl. BA rch, B 136 /5243, Abschrift des Briefes von Franz Klose an Kai-Uwe von Hassel, 5. 5. 1961. 70 Vgl. BA rch, B 136 /5243, Schreiben von Kai-Uwe von Hassel an Konrad Adenauer, 12. 5. 1961. 71 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /5243. DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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von Franz Klose benannte Expertenausschuss für Gesundheit – auf eine stärkere Betonung gesundheitspolitischer Themen gedrungen und auch zur Schaffung eines entsprechenden Ressorts auf Bundesebene geraten hatte, war die Spitze der Partei um Konrad Adenauer in beiden Fällen zurückhaltend.72 Ursächlich war hierfür auch, dass insbesondere die CSU eine Kompetenzausweitung des Bundes für gesundheitspolitische Themen ablehnte und damit auch ein BMGes. Vielmehr sollten, nach Vorbild des in München geschaffenen »Landesgesundheitsrates«, Gesundheitsexperten von Bund und Ländern gemeinsam mit Wissenschaftlern zu Beratungen zusammenkommen. Das heißt: Bayern schlug eine formelle Aufwertung der existenten AGLMB vor, anstelle eines vom Bund unterhaltenen Gesundheitsministeriums mit entsprechenden (von den Ländern abzugebenden) Kompetenzen.73 Dass Mitte November 1961 von Bundeskanzler Adenauer in einer Regierungserklärung offiziell vor dem Bundestag verkündet wurde, es werde künftig ein Bundesministerium für Gesundheitswesen in Bonn geben, war Ergebnis einer speziellen machtpolitischen Konstellation: Denn Konrad Adenauer sah sich nach erfolgter Bundestagswahl und eigentlich abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen mit den Freien Demokraten erheblichen innerparteilichen Widerständen gegenüber. Aber dies weniger aus dem Grund, dass Adenauer weiterhin von einem Bundesgesundheitsministerium Abstand nahm und ein solches Ressort gerade nicht Thema der Koalitionsgespräche gewesen war. Ausschlaggebend für die spätere Gründung des BMGes waren vielmehr die machtpolitischen Forderungen der führenden Frauen in der CDU. Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl im Sommer 1957 hatte Adenauer gegenüber Journalisten erklärt, eine Ministerin innerhalb der neuen Bundesregierung berücksichtigen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt war der Name von Luise Rehling gefallen.74 Zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen von CDU / CSU und FDP konnten im Herbst 1957 zwar neue Gesichter am Kabinettstisch präsentiert werden, doch – wie »Die Welt« treffend resümierte – waren erneut lediglich »Männer um Konrad Adenauer« versammelt.75 Auf den Protest der christdemokratischen, prominenten Sozialpolitikerin Helene Weber, zugleich Vorsitzenden des Frauenausschusses der CDU, die Adenauer an sein Versprechen zur Beteiligung einer Frau im Kabinett erinnerte, erhielt sie zur Antwort, Bundeskanzler Adenauer glaube zwar, 72 73 74 75

Vgl. Woelk, Gesundheit, S. 450. Vgl. ebd., S. 450 f. Vgl. Gespräch Nr. 22, 26. 9. 1957, in: Morsey / Schwarz, Teegespräche, S. 236. Vgl. Georg Schröder: Neue Männer um Konrad Adenauer, in: Die Welt, 17. 9. 1957, S. 3.

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Abb. 10: Elisabeth Schwarzhaupt legt vor dem Deutschen Bundestag ihren Amtseid als Bundesministerin für das Gesundheitswesen ab, Bonn, 14. 11. 1961.

»daß es wünschenswert sei, wenn Frauen aktiv am politischen Leben« teilnähmen und auch in Parlamenten und Regierungen mitarbeiten würden. Aber zu seinem Bedauern, so Adenauer, sei es ihm »auch diesmal nicht möglich [gewesen], bei der Bildung der Bundesregierung eine Frau für ein Ministeramt vorzusehen«.76 Nachdem auch die Koalitionsgespräche 1961 abgeschlossen und erneut keine Ministerin berücksichtigt worden war, entschieden führende weibliche Mitglieder der Unionsfraktion, Konrad Adenauer ultimativ auf die Berücksichtigung einer Frau im Bundeskabinett zu drängen. Ihr konkreter Personalvorschlag gegenüber dem Bundeskanzler bezog sich auf die Juristin Elisabeth Schwarzhaupt, die erst wenige Jahre Mitglied der CDU war, aber sich nichtsdestotrotz als christdemokratische Parlamentarierin in Bonn profiliert hatte.77 Auch wenn das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« die »Personalie Schwarzhaupt« 1961 chauvinistisch-diffamierend kommentierte, indem 76 Vgl. ACDP, 01-048-002 /3, Schreiben Konrad Adenauers an Helene Weber, 20. 12. 1957. 77 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f.; Bösch, Macht, S. 240 f.; Körner, Männer-Republik, S. 42 – 46. Vgl. ebs. Holz, Tradition, sowie Schwarzhaupts Kommentar in: BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. Vertiefend zu Elisabeth Schwarzhaupt vgl. zudem u. a. Salentin, Elisabeth Schwarzhaupt; Drummer / Zwilling, Elisabeth Schwarzhaupt; Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, sowie Kap. II.3. in diesem Bd. DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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man vom neuen Bonner Gesundheitsressort als einer »Verlegenheitsbehörde« zur »Befriedigung der Frauenwünsche« sprach,78 war die Ernennung Schwarzhaupts zur ersten Bundesministerin ein großer Erfolg für die Beharrlichkeit der Frauen in den christdemokratischen Parteien.79 Und dennoch: Ihre Berufung war zugleich Resultat eines Kalküls aufseiten von Bundeskanzler Adenauer. Im Kern war sein Taktieren mit der Personalie Schwarzhaupt der Außendarstellung geschuldet. Während die CDU seit 1949 überproportional stark von Frauen gewählt wurde, blieben die Posten in Parteigremien und auch die von Christdemokraten wahrgenommenen Ministerämter reine Männerdomänen.80 Die Wünsche der Frauen innerhalb der Unionsparteien nach mehr Partizipation und Berücksichtigung bei der Postenvergabe konnten 1961 nicht länger ignoriert werden; zudem galt es, die Vorteile gegenüber der (weiblichen) Wählerschaft zu wahren und parteipolitisch Boden gutzumachen gegenüber einer die Emanzipation der Frau prominent artikulierenden Sozialdemokratischen Partei.81 Um im Herbst 1961 durch die Berufung Schwarzhaupts in ein Ministeramt einen koalitionspolitischen Eklat zu vermeiden, separierte Bundeskanzler Adenauer schließlich das Ressort »Gesundheit«. Schwarzhaupts Posten wurde neu geschaffen, um keinen Mann verdrängen zu müssen, etwa indem demonstrativ ein amtierender Minister hätte für Schwarzhaupt zurücktreten müssen.82 Damit hatten letztlich zwei, im Grund unabhängig voneinander ablaufende politische Entwicklungen Anteil an der Gründung eines BMGes: Einerseits die inhaltlich-thematische Kontroverse innerhalb der CDU / CSU um ein Bundesgesundheitsministerium bzw. das – wie der Fall Klose zeigt – auch gegenüber Adenauer vorgebrachte Drängen führender Gesundheitsexperten der Partei nach Schaffung eines solchen Ressorts bzw. nach einer stärkeren gesundheitspolitischen Profilierung. Andererseits war die seit langer Zeit von den weiblichen Führungskräften der CDU vorgetragene Forderung nach Mitbestimmung und Partizipation entscheidend. Historisch betrachtet war es in diesem Sinne unzutreffend, als Beamte des Bundesministeriums für Gesundheitswesen 1968 in einem Buch zur Geschichte ihres Hauses feststellten, die Entscheidung zugunsten eines BMG es sei 1961 keine »wahlpolitische oder der Koalitionsarithmetik 78 Vgl. Der Spiegel: Bis zur Bahre, in: Der Spiegel, 48 /1961. 79 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f.; Bösch, Macht, S. 240 f.; Körner, Männer-Republik, S. 42 – 46. Vgl. ebs. Salentin, Elisabeth Schwarzhaupt; Drummer / Zwilling, Elisabeth Schwarzhaupt; Ille, Elisabeth Schwarzhaupt. 80 Vgl. Bösch, Macht, S. 240 f. Vgl. auch Körner, Männer-Republik, S. 41 – 48. 81 Vgl. Bösch, Macht, S. 240 – 242. Vgl. insgesamt ebs. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 82 Vgl. Bösch, Macht, S. 242. Vgl. ebs. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 64

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entsprungene Augenblicksentscheidung« gewesen.83 Zugleich wäre es aber ebenso falsch, allein machtpolitisches Taktieren und keinen gesundheitspolitischen Bezug als maßgebliches Kriterium der Entscheidung zur Gründung des Bundesgesundheitsressorts zu identifizieren. Denn spätestens seit Ende der 1950er Jahre hatte sich in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und vor allem politisch aufseiten der SPD die Erkenntnis immer weiter durchgesetzt, dass eine neue zentral geführte Bundesgesundheitspolitik notwendig wurde – vor allem verstanden als Reaktion auf einen dringend sanierungsbedürftigen Zustand der Gesundheitsinfrastruktur in der Bundesrepublik, konkret vor allem der Krankenhäuser, und als Antwort auf drängende, umweltbedingte Gesundheitsgefahren.84 Vor allem Letzteres erklärt die Auswahl der in der Regierungserklärung vom 29. November 1961 als »vordringliche« Aufgaben des BMGes betonten Arbeitsschwerpunkte: nämlich Fragen der Reinhaltung des Wassers und der Luft.85 Für die praktische Arbeit des Ministeriums bis Anfang der 1970er Jahre traf dies jedoch nur bedingt zu. Denn allein die formale Organisationsstruktur des Hauses machte 1961 deutlich, dass es sich vor allem auf humanmedizinische und pharmazeutische Fragestellungen fokussierte. Durch Erlass des Bundeskanzlers wurde im Januar 1962 detailliert geregelt, welche Arbeitseinheiten anderer Bundesministerien und -behörden in den Geschäftsbereich des neuen BMGes wechseln mussten. So bildete die vormalige Gesundheitsabteilung des BMI – als neue BMGesAbteilung I – den verwaltungsmäßigen Kern des Bundesministeriums für Gesundheitswesen. Ihre Tätigkeitsschwerpunkte waren alle Fragen der Humanmedizin, des Arzneimittel- und Apothekenwesens sowie der Veterinärmedizin. Die Abteilung I bestand aus zwei Unterabteilungen mit jeweils 17 Referaten.86 Innerministeriell existierte daneben eine drei Referate zählende Zentralabteilung sowie die neue Abteilung II des Bundesministeriums für Gesundheitswesen, zuständig für die Wasserwirtschaft, die Reinhaltung der Luft und die Lärmbekämpfung. Deutlich kleiner als Abteilung I, gliederte sie sich in insgesamt zehn Referate.87 Die Leitung des Ministeriums oblag 83 Vgl. Attenberger / Eiden-Jaegers, Bundesministerium, S. 12. 84 Vgl. u. a. Woelk, Gesundheit, S. 455 f. 85 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 4. WP, 5. Sitzung, 29. 11. 1961, S. 24. 86 Vgl. die Geschäftsverteilungspläne in: BA rch, B 142 /5082, sowie Woelk, Gesundheit, S. 460 f. 87 Vgl. die Geschäftsverteilungspläne in: BA rch, B 142 /5082, sowie Woelk, Gesundheit, S. 461. Seit 1964, mit der Ausgliederung des Lebensmittelwesens u. der Veterinärmedizin aus BMG es-Abteilung I u. Bildung einer eigenständigen Abteilung II, waren umweltpolitische Fragen in Abteilung III angesiedelt. 1969 wechselte die DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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Abb. 11 : Organisationsplan des BMGes, 1962.

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anfänglich allein der Ministerin, unterstützt von einem Arbeitsstab.88 Der Posten des Staatssekretärs wurde erste Monate nach Gründung des BMGes besetzt, als der personalpolitische Streit zwischen Bundeskanzleramt und Ärzteschaft mit Ministerin Schwarzhaupt beendet war.89 Die Handlungsfähigkeit des neuen BMGes wurde anfangs erheblich eingeschränkt, und zwar insofern, als die eigenen inhaltlichen Kompetenzen erst in mitunter langwierigen Verhandlungen mit anderen Bundesministerien und vor allem mit Ländergesundheitsbehörden abzustecken waren. Bis Mitte der 1960er Jahre blieb das Ministerium mit veritablen Zuständigkeits- und Kompetenzkonflikten konfrontiert, allen voran hinsichtlich der Länder, mit denen das BMGes um Einfluss und Macht bei der Gestaltung von Gesundheitspolitik rang. Darüber hinaus behinderte in der Anfangszeit vor allem aber auch der stark heterogene innere Verwaltungsauf bau die Arbeit des Ministeriums. Aus gut einem Dutzend Bundesministerien und -behörden waren Mitarbeiter in das neue BMGes gewechselt. Nicht nur sie, sondern das gesamte Haus musste seinen »Platz im ministeriellen und föderalen Gefüge« der Bundesrepublik erst finden.90 Und dennoch gilt: Das Bundesministerium für Gesundheitswesen war nach seiner Gründung 1961 keineswegs so macht- und kompetenzlos wie von der zumeist älteren historischen Forschung oftmals behauptet. Gerade in den Anfangsjahren betonte eben dies auch gern Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt, um damit öffentliche Kritik an der Arbeit des BMGes unter Hinweis auf eine primäre Verantwortung der Länder für die Gesundheitspolitik abzumildern.91 Die sachpolitische Praxis des Ministeriums in den 1960er Jahren zeigt indes: Das neue Bonner Gesundheitsressort scheute vor strategischen gesundheitspolitischen Aufgaben nicht zurück, entwickelte etwa – trotz fehlender grundgesetzlicher Basis – gemeinsam mit dem Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf zur freiwilligen, eugenisch indizierten Sterilisation;92 stritt mit Landesärztekammern, Ärzteverbänden und Ländern nicht nur um den Begriff der »Bestallung« anstelle der Approbation,93 sondern vor allem auch um eine Bundeskom-

88 89 90 91 92 93

Abteilung III aus dem Bundesgesundheits- in das BMI u. firmierte dort als Abteilung U [Umwelt]. Vgl. die Geschäftsverteilungspläne in: BA rch, B 142 /5082, sowie Woelk, Gesundheit, S. 460. Zur Kontroverse vgl. Kap. II.1. u. Kap. II.2. in diesem Bd. sowie insgesamt ebs. Kuschel, Gesundheit, S. 312, 319 f. Vgl. insges. ebd., das Zit. S. 316. Zur diesbezüglichen Argumentation des BMGes vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2993. Zur Forschung vgl. u. a. Woelk, Gesundheit, S. 462 – 464. Vgl. Kap. III.2. in diesem Bd. Vgl. Kap. III.1. in diesem Bd.

DAS VERSPÄTETE MINISTERIUM

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petenz für die generelle Zulassung von Fachärzten.94 Auch hinsichtlich der Krebsbekämpfung und der Anti-Raucherpolitik war das BMGes in den 1960er Jahren sehr aktiv und bestrebt, die vom Grundgesetz vorgegebenen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen maximal zugunsten des Bundes auszulegen.95 Fragen des Verbraucherschutzes standen indes erst ab Anfang der 1970er Jahre verstärkt im Fokus des Ressorts.

94 Zur Kontroverse um den Facharzt, verstanden als Weiterbildung oder als Bestandteil der ärztlichen Ausbildung bzw. Berufszulassung, vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /12987; BA rch, B 189 /12990; BA rch, B 136 /5222, sowie BVerfGE 33, Nr. 10, 9. 5. 1972, S. 125 – 171. 95 Vgl. Kap. III.3. u. Kap. III.4. in diesem Bd. 68

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Leitendes Personal

Mit Gründung des BMGes wechselte im Herbst 1961 Personal aus sieben Ressorts seinen Arbeitsplatz. Die neue oberste Bundesbehörde der Gesundheitspolitik wurde im personalpolitischen Sinn zum Schmelztiegel der ministeriellen Exekutive Bonns. Unter Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt fanden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ganzer Abteilungen, von Referaten oder Arbeitsgruppen des Bundesministeriums des Innern, des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, des Bundesministeriums der Justiz sowie der Ressorts für Arbeit und Sozialordnung, für Atomenergie, für Verkehr und schließlich auch für Wirtschaft zusammen. Darüber hinaus rekrutierte sich das Gründungspersonal des BMGes 1961 auch aus anderen Institutionen, etwa dem Bundesgesundheitsamt, dem Bundespresseamt oder der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Das Ministerium stand damit Anfang der 1960er Jahre vor der personalpolitischen Aufgabe, einen – betrachtet vor dem Hintergrund der vielfältigen beruflichen Tätigkeiten seit 1949 und den disparaten Professionen – sehr heterogenen Personalbestand arbeitsfähig machen zu müssen. Die Hausspitze des Gesundheitsressorts war in der Anfangszeit nicht nur mit der Herausforderung konfrontiert, sich rasch inhaltlich-thematisch gegenüber der Öffentlichkeit und innerhalb des Gefüges der ministeriellen Arbeit auf Bundesebene sowie im Zusammenspiel mit den Ländern verorten zu müssen. Sie musste vielmehr auch eine neue hausinterne Identität des Gesundheitsministeriums entwickeln. Zugleich war die Führung des BMGes gefordert, eine Vielzahl offener Stellen zu besetzen. Gerade in der konstituierenden Phase während der ersten drei bis fünf Jahre nach der Gründung 1961 übernahmen Abteilungs- und Referatsleiter vielfach Doppelfunktionen. Etwa war Josef Stralau, Leiter der für humanmedizinische und pharmazeutische Angelegenheiten zuständigen Abteilung I, auch für die Zentralabteilung des Gesundheitsministeriums verantwortlich.1 Damit zählte Stralau – der bis 1 Vgl. BA rch, PERS 101 /79535, Vermerk, 9. 8. 1963. LEITENDES PERSONAL

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zur Ernennung eines Staatssekretärs 1963 ranghöchster Beamter des BMGes war – zu einem der wichtigsten Entscheider über die personalpolitische Ausrichtung des neuen Bonner Ressorts.2 Wie Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt in einem Personalvermerk festhielt, war es Stralaus Führung und seinem organisatorischen Geschick »zu verdanken, daß das Ministerium trotz der Schwierigkeiten, die die Neuorganisation bot, nach 14 Monaten eine arbeitsfähige Einheit darstellte« und das notwendige »Personal erfolgreich rekrutiert« werden konnte.3 Das Problem vakanter Stellen bzw. des Personalmangels blieb bis mindestens Mitte der 1960er Jahre akut. Und so musste etwa auch Josef Stralau noch im Jahr 1964 neben seiner Tätigkeit als Leiter der Abteilung I und der Zentralabteilung die ihm unterstehende Unterabteilung I A führen.4 Stralaus Person war gerade in der Anfangszeit des BMGes auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil er, als vormaliger Leiter der Gesundheitsabteilung des BMI, die an oberster Stelle der Bundesexekutive im Bereich »Gesundheit« herrschenden personellen Engpässe am besten kannte – und zum Teil mitverantwortete.5 Ministerin Schwarzhaupt benannte diese personalpolitischen Defizite im Frühjahr 1963 in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundeskanzleramt sehr direkt. Die Personalnot im Gesundheitsministerium sei, so die Ministerin, Folge einer von der alten Gesundheitsabteilung des BMI vernachlässigten Rekrutierungs- und Einstellungspolitik, die nicht zuletzt auch haushälterischen Restriktionen geschuldet gewesen sei.6 Offen kritisierte Schwarzhaupt zudem eine aus ihrer Sicht unzureichende Eignung mancher der übernommenen Beamten. So weiche das »Leistungsniveau der einzelnen Referate […] stärker als üblich« voneinander ab; es fehle – so Schwarzhaupt weiter – an »einem breiten Durchschnitt«.7 Das von der Bundesgesundheitsministerin 1963 gegenüber dem Kanzleramt gezogene Fazit lautete, es gebe im BMGes »außerordentlich tüchtige und außerordentlich schwache Beamte. Die Tüchtigen haben zu wenige Hilfsreferenten, die Schwachen zu wichtige Aufgaben.«8

2 3 4 5 6

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, PERS 101 /79535, Vermerk, 18. 6. 1964. Vgl. BA rch, PERS 101 /79535, Vermerk, 9. 8. 1963. Vgl. BA rch, B 136 /4705, Bericht über die Lage des Bundesministeriums für Gesundheitswesen, März 1963. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. ebd. 70

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

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Das Leitungspersonal des Bundesgesundheitsministeriums, das heißt alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab Referatsleiterebene, umfasste im Untersuchungszeitraum zwischen 1961 und Mitte der 1970er Jahre 111 Personen. Mit Blick auf die altersmäßige Zusammensetzung dieser Gruppe ist zu konstatieren, dass bei Gründung des Ministeriums das Personal aus der Alterskohorte 1900 bis 1915 dominierte. Noch 1964 lag der Anteil dieser Jahrgänge innerhalb des gesamten Personalbestandes des BMGes bei 75 Prozent. Erst Anfang der 1970er Jahre wurde diese »Gründergeneration« als stärkste Altersgruppe abgelöst. Der insgesamt in der ministeriellen Exekutive auf Bundesebene zu beobachtende generationelle Wechsel ab Mitte der 1960er Jahre bedeutet auch im Falle des Bundesgesundheitsministeriums, dass nun jüngere Alterskohorten konstant an Bedeutung gewannen.9 Das leitende BMGes-Personal war im Jahr 1964 durchschnittlich 53,5 Jahre alt; 1968 lag der Wert bei gut 50 Jahren. Für 1972 errechnet sich ein Durchschnittsalter von 51,2 Jahren, jedoch ist die Datengrundlage der Ermittlung in diesem Fall unvollständig.10 Während 1964 noch die 56- bis 60-Jährigen die größte Gruppe innerhalb der Mitarbeiterschaft ausmachten, erfolgt etwa ab 1968 eine Trendumkehr: 1972 waren die 41- bis 45-Jährigen am stärksten vertreten, gefolgt von der Gruppe der 46- bis 50-Jährigen. Zu beobachten ist im Verlauf der 1960er Jahre folglich, dass bei den Jüngeren die Gruppe der zwischen 1915 und 1926 Geborenen schneller anwuchs als die der ab 1926 Geborenen. Das heißt: Der personalpolitische Fokus des BMGes lag bei Neueinstellungen zunächst nicht auf einer Rekrutierung jüngerer Jahrgänge. Für eine vertiefende statistische Auswertung wurden drei Alterskohorten gebildet, um unterschiedliche Prägungen in der Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus, der alliierten Verwaltung zwischen 1945 und 1949 und anschließend in der Bundesrepublik bzw. in der DDR zu erfassen: Die Gruppe »1900 bis 1915« hatte ihre Kindheit zumindest teilweise während des Ersten Weltkrieges verbracht und erreichte zu Beginn des »Dritten Reiches« das Erwachsenenalter. Die Kohorte »1916 bis 1925« erfasst diejenigen, die während der NS -Zeit das Erwachsenenalter erreicht hatten und noch alt genug waren, um in die NSDAP eintreten zu 9 Zu generationellen Veränderungen im Bereich der Personalstruktur von Bundesministerien vgl. insbes. die Ergebnisse zum BMI: Stange, Bundesministerium, S. 55 – 121. 10 Von insgesamt sieben namentlich bekannten Angestellten konnte kein Alter ermittelt werden; 1972 ist von knapp zehn Prozent des leitenden Personals kein Alter bekannt. Es ist davon auszugehen, dass unter diesen zehn Prozent vor allem die jüngste Alterskohorte vertreten ist. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 12 : Altersstrukturen im BMG IWIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

Abb. 13 : :IVPEYJHIV0SLSVXIRIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

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MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

können. Die Gruppe der nach 1926 Geborenen beschreibt diejenigen, die ihre Kindheit zumindest teilweise in der NS -Zeit verbracht hatten, aber bei Kriegsende 1945 noch nicht volljährig gewesen waren. Eine Alterskohorte »vor 1900« ist personalpolitisch quasi zu vernachlässigen, da lediglich zwei Personen des Leitungspersonals vor 1900 geboren wurden und sie bereits in den Anfangsjahren des Ministeriums ihr Rentenalter erreichten und 1964 ausschieden. Die Studie orientiert sich mit dieser personalpolitischen Modellierung an den von der neueren Forschung vorgeschlagenen Typisierungen, um generationelle Erfahrungen zu erfassen und Einstellungsprozesse nach 1945/49 zu analysieren.11 Die wichtigsten personalpolitischen Bewertungskategorien sind die im Folgenden dargestellte Bedeutung von Frauen innerhalb des Ministeriums, die Frage nach Professionen und die NS -Biografie bzw. der nach 1945 /49 herausgebildete Umgang mit als »belastend« oder »nicht belastend« erkannten Parametern.

Abb. 14: *RX[MGOPYRKHIV&PXIVWWXVYOXYVIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO F. Kuschel).

Ein in personalpolitischer Hinsicht für das BMGes markantes Merkmal war stets die prominente Rolle von Frauen an der Spitze des Hauses. Bis 11 Zur Forschung vgl. insbes. die personalpolitischen Analysen zum BMI: Stange, Bundesministerium, S. 55 – 121; Palm / Stange, Vergangenheiten, S. 122 – 181. LEITENDES PERSONAL

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zur Wiedervereinigung 1990 war das Bundesministerium für Gesundheitswesen bzw. seit 1969 »Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit«, seit 1986 zudem um die Belange der Frauen ergänzt, fast durchweg von Frauen geführt. Neben der ersten Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt stehen die Namen Käte Strobel, Katharina Focke, Antje Huber, Anke Fuchs, Rita Süssmuth und Ursula Lehr. Mit Heiner Geißler leitete vor 1990 nur ein Mann das Ministerium von 1982 bis 1985. Insbesondere die Personalie der ersten Frau an der Spitze des neuen Bundesministeriums für Gesundheitswesen – Christdemokratin Elisabeth Schwarzhaupt – war stark parteipolitisch konnotiert. Die Wünsche der Frauen innerhalb der Unionsparteien nach mehr Partizipation und Berücksichtigung bei der Postenvergabe konnten nicht länger ignoriert werden; zudem galt es, die Vorteile gegenüber der (weiblichen) Wählerschaft zu wahren und parteipolitisch Boden gutzumachen gegenüber einer die Emanzipation der Frau prominent artikulierenden Sozialdemokratischen Partei.12 Adenauers Entscheidung, das Ressort Gesundheit einer Frau zuzuweisen, war gleichzeitig stark von tradierten Zuschreibungen geprägt. Für den Bundeskanzler galt die Definition, dass Gesundheit ein Bereich der Fürsorge sei, der wiederum als Arbeitsbereich von Frauen verstanden wurde. Fürsorge, Vorsorge, aber auch das neue Feld des Verbraucherschutzes waren »weiche« Themen, zu deren Gestaltung Frauen vermeintlich prädestiniert waren. Das Justizressort, das Elisabeth Schwarzhaupt aufgrund ihrer juristischen Qualifikation und einschlägigen Erfahrungen im Justizdienst nicht nur gern übernommen hätte, sondern formal auch zu führen imstande gewesen wäre,13 galt demgegenüber als Bestandteil eines »harten« Politikfeldes. Es war daher nur von einem Mann zu führen, der mit genügender Strenge und Durchsetzungsvermögen handelte.14 Adenauer brachte dieses Rollenverständnis mit einer Replik markant auf den Punkt: Auf den Vorschlag der christdemokratischen Bundestagsabgeordneten Emmi Welter, das Amt des Justizministers Elisabeth Schwarzhaupt anzuvertrauen, antwortete Adenauer: »Wissen’se, Frau Welter, dat jeht nich. Da drüben in der Deutschen Demokratischen Republik haben’se die Hilde Benjamin; da können wir hier nich eine Frau als Gegenüber brauchen; gerade so ich meine, daß hier die Justiz strenger werden muß.«15 Adenauers Bemerkung verweist zwar auf eine primär deutsch-deutsche Dimension der 12 Vgl. Bösch, Macht, S. 240 – 242. Vgl. insgesamt ebs. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 13 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 14 Vgl. Körner, Männer-Republik, S. 41 – 48. 15 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f. Vgl. u. a. auch Woelk/Halling, Gründung, S. 87. Zur Berufung Benjamins vgl. u. a. Wentker, Justiz, S. 527 – 572; Wagner, Hilde Benjamin. 74

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Entscheidung zur Besetzung der Spitze des Bundesjustizministeriums; Frauen als Justizministerinnen im ost- und gleichzeitig im westdeutschen Staat waren für Bundeskanzler Adenauer aus Gründen der Nichtanerkennung der DDR und der notwendigen Abgrenzung gegenüber dem SED-Regime unmöglich. Eine Berufung Schwarzhaupts zur Bundesjustizministerin war für ihn aber eben auch aus prinzipiellen Gründen nicht adäquat, im Sinne des Maßstabes der »Strenge«, da das Justizressort für Adenauer nach einer »harten« männlichen Führung verlangte.16 Auch wenn bis 1990 fast ausschließlich Frauen an der Spitze des Bonner Gesundheitsressorts standen, ist dieser Umstand kein generelles Indiz für eine starke weibliche Repräsentanz in den Leitungsfunktionen des BMGes. Bei der statistischen Ermittlung der insgesamt von Frauen wahrgenommenen Führungspositionen muss differenziert werden. Eine Studie von Scholz, Strobel und Veit, die das Leitungspersonal statistisch quer durch alle Bundesministerien analysiert, zeigte 2018 auf, dass im Gesundheitsressort mit einem Frauenanteil von 29 Prozent deutlich überproportional viele Beamtinnen in leitenden Positionen beschäftigt waren.17 Die Studie berücksichtigte ausschließlich Funktionen ab der Stelle einer Abteilungsleiterin aufwärts und untersuchte die Personalentwicklung im Zeitraum zwischen 1961 und 2018. Mit Blick auf den Zeitraum dieser Untersuchung, der von 1961 bis Mitte der 1970er Jahre reicht, lässt sich ein Anteil von 25 Prozent Frauen mit Blick auf die 16 Stellen an der Spitze von Abteilungen, dem Staatssekretärsposten und dem Ministeramt ermitteln. Statistisch liegt dieser Wert nahe an den Ergebnissen von Scholz, Strobel und Veit.18 Um jedoch die geschlechterspezifische Zusammensetzung der Leitungspositionen im BMGes adäquat historisch zu verorten, ist es unumgänglich, auch die Referatsleiterebene und die Verweildauer von Frauen in den jeweiligen Ämtern zu berücksichtigen, etwa in der Position als Abteilungsleiterin. Das Bild, das sich in diesem Falle zeichnet und Einblick in die Ministeriumsstruktur gibt, ist ein anderes. Über den gesamten Untersuchungszeitraum bis Anfang der 1970er Jahre waren zwölf Frauen im Ministerium in Führungspositionen tätig: Neben den drei Ministerinnen, eine Abteilungsleiterin sowie acht Referatsleiterinnen. Der durchschnittliche Frauenanteil unter den leitenden Beamtinnen und Beamten lag damit bei elf Prozent. Während 1962 nur eine Frau als Referatsleiterin (neben der Ministerin) tätig war und die Quote anfangs deutlich unter zehn Prozent lag, stieg der Anteil der Frauen in 16 Vgl. ebs. Körner, Männer-Republik, S. 41 – 43. 17 Vgl. Scholz / Strobel / Veit, Forschungsprojekt. 18 Neben den drei Ministerinnen leitete zwischenzeitlich eine Frau eine Abteilung. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 15 : Geschlechterverteilung 1962 – 1973, eigene Auswertung

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Leitungspositionen mit Beginn der Amtszeit der Sozialdemokratin Käte Strobel und während der sozialliberalen Koalition von fünf Prozent 1968 auf 12 Prozent im Jahr 1970. 1968 übernahm mit Helga Merkel erstmals eine Frau die Leitung einer Abteilung im BMGes. Merkel, eine Diplomvolkswirtin, zählte bis zu ihrem Eintritt ins Gesundheitsressort zu einer der damals prominentesten deutschen Verbraucherlobbyistinnen. Kontrovers diskutiert und kritisch kommentiert wurde in der Presse der Wechsel der vormaligen Interessenvertreterin der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände in die Bonner Ministerialbürokratie.19 Die 1968 44 Jahre alte Merkel war ob ihrer Vita eine klassische Quereinsteigerin und stand im BMGes der Abteilung »Lebensmittelwesen und Veterinärmedizin« vor. Ihre Lauf bahn unterschied sich von der ihrer Kolleginnen (und auch der ihrer Kollegen) im Ministerium signifikant, galt doch in der übergroßen Mehrzahl, dass das Personal des BMGes seine Karriere entlang der Beamtenlauf bahn vollzog und nie in der Wirtschaft oder in privaten Verbänden tätig gewesen war. Mit Helga Merkel begann Ende der 1960er Jahre zudem ein Generationenwechsel, der sich noch stärker Anfang der 1970er Jahre abzeichnete. Mit Blick auf das BMGes bleibt darüber hinaus hervorzuheben, dass mit Maria Daelen nur eine Ärztin während des Untersuchungszeitraums im Ministerium arbeitete.20 Daelen, Jahrgang 1903, war zunächst bei Gründung des BMGes neben Ministerin Schwarzhaupt die einzige Frau 19 Vgl. Ingborg Zaunitzer-Haase: Abschied von der Lobby, in: Die ZEIT, 13. 9. 1968. 20 Zum Lebensbild Daelens vgl. Richter, Maria Daelen. 76

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

in einer Leitungsposition. Wenige Monate später trat mit Felicitas Tauche eine dritte Frau eine leitende Funktion im BMGes an. Tauche, Jahrgang 1907, hatte wie Daelen bis 1961 im BMI gearbeitet und dort als Hilfsreferentin begonnen. Diese Stelle hatte sie 1950 durch Fürsprache des personalpolitisch sehr umtriebigen und einflussreichen Staatssekretärs Hans Ritter von Lex erhalten.21 Die Juristin Tauche war, wie auch ein Wiedergutmachungsbescheid des BMI von 1956 bestätigt, in der Zeit des Nationalsozialismus wegen ihres Geschlechts als Richterin entlassen worden und hatte zwischen 1935 und 1950 als Rechtsanwältin gearbeitet.22 Mit ihrer juristischen Erfahrung und aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit im BMI konnte sie im Sommer 1963 schließlich im BMGes die Referatsleitung »Rechtsfragen der Getränke und Bedarfsgegenstände« übernehmen und wurde damit neben Daelen zweite Referatsleiterin im Gesundheitsministerium. Während vor allem die Arbeit von Ministerin Schwarzhaupt öffentlich diskutiert wurde,23 blieb die Tätigkeit der Referatsleiterinnen auch innerministeriell bis Ende der 1960er Jahre unterbelichtet. Generell waren – wie dies bereits auch die Grafiken veranschaulichen – Frauen in leitenden Funktionen ab Referatsebene aufwärts auch im Bundesgesundheitsministerium bis Anfang der 1970er Jahre Ausnahmeerscheinungen. Insgesamt war die Beamtenschaft im Gesundheitsressort männlich dominiert. Diese Dominanz hatte es mit anderen Ministerialverwaltungen gemein, ebenso wie mit den gesellschaftlichen und politischen Eliten der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre.24 So waren etwa im Bundesinnenministerium Leitungsfunktionen in ihrer großen Mehrheit von Beamten besetzt. Bis 1969 gab es dort lediglich neun Frauen in Führungsfunktionen, wobei im BMI mit Dorothea Karsten bis Ende der 1950er Jahre lediglich eine Frau auf der Leitungsebene tätig wurde.25 Auch im BMGes stellte die Übernahme einer leitenden Funktion durch Frauen in den 1960er Jahren die Ausnahme dar. Ihre geringe Zahl und auch die noch fehlende Selbstverständlichkeit ihres beruflichen Agierens machten es den Beamtinnen schwer, sich Anerkennung zu verschaffen. Wenn Frauen den Karriereschritt gingen und etwa die Leitung eines Referats antraten, waren die Beamtinnen in der Mehrzahl ledig und kinderlos. Nur 21 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 101 /79536. Zur Biografie von von Lex vgl. Stange, Hans Ritter von Lex; dies., Bundesministerium, S. 61 – 65. 22 Vgl. BA rch, PERS 101 /79537, Schreiben des BMG es an die Geschäftsstelle des Bundespersonalausschusses im BMI, 8. 9. 1965. 23 Vgl. die Darstellung in Kap. II.3. in diesem Bd. 24 Vgl. insgesamt u. a. Körner, Männer-Republik. 25 Angestelltenpositionen waren im BMI hingegen mehrheitlich von Frauen besetzt: 64  im gehobenen u. 83  im mittleren sowie im einfachen Dienst. Vgl. Palm / Stange, Vergangenheiten, S. 134 – 144. LEITENDES PERSONAL

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zwei Referatsleiterinnen waren verheiratet und hatten ein bzw. zwei Kinder. Die Ausnahme blieb der Quereinstieg, wie der Helga Merkels 1968, der eine politische Entscheidung zur Stärkung der Verbraucherschutzpolitik im BMGes darstellte.26 Der personalpolitische »Normalfall« war demgegenüber eine reguläre beamtenrechtliche Laufbahn im höheren Dienst, wobei für die Einstellung Fürsprecher auf der Ebene des Staatssekretärs von großer Hilfe waren, wie das Beispiel von Tauche gezeigt hat. Wie es Maria Daelen 1959 – noch in ihrer Zeit in der Gesundheitsabteilung im BMI – beschrieb, erfolgte die Anerkennung ihrer Arbeit innerministeriell erst schrittweise, wofür Daelen ihr Frausein als Ursache erkannte.27 Gerade das Beispiel Daelens zeigt aber auch, dass, allen gesellschaftlichen Ressentiments zur beruflichen Rolle der Frau in den 1950er und 1960er Jahren zum Trotz, eine bisweilen schillernde Figur, die keinem typischen Beamtenbild zu entsprechen schien, erfolgreich als Beamtin Karriere machen konnte.28 Zusammenfassend ist hinsichtlich der Rolle von Frauen im BMGes festzuhalten: Trotz einer in Form der Ministerinnen-Ämter nicht zuletzt auch gegenüber der Öffentlichkeit markanten Betonung weiblicher Führungsstärke und eines Anstiegs der Frauenquote bis Anfang der 1970er Jahre blieb das Bonner Gesundheitsressort im Untersuchungszeitraum eine von Männern dominierte Ministerialverwaltung. Dieser Befund wird umso deutlicher, blickt man auf einzelne Bereiche des BMGes. So war etwa in der Abteilung III (Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft und Lärmbekämpfung) keine einzige Frau in einer Leitungsposition beschäftigt. Erst Ende der 1960er Jahre erweiterte sich der Kreis weiblicher Führungskräfte auf Ebene der Referate. Der Blick auf die Professionen von Frauen im Ministerium zeigt zudem: Während mit Daelen im Untersuchungszeitraum nur eine Medizinerin im BMGes arbeitete, waren Juristinnen wie Marilene Schleicher, Jutta Peters, Ursula Pietsch, Marie-Luise Schneider und Marianne Loos vornehmlich in den Abteilungen I (Humanmedizin und Pharmazie) und II (Lebensmittel- und Veterinärwesen) mit der Klärung von Rechtsfragen betraut. Darüber hinaus fand sich unter den Beamtinnen des BMGes die Lebensmittelchemikerin Rosemarie Neussel sowie die bereits erwähnte Diplomvolkswirtin und Quereinsteigerin Helga Merkel.

26 Vgl. die Darstellung in Kap. III.5. in diesem Bd. 27 Vgl. Richter, Maria Daelen, S. 135. 28 Vgl. insgesamt das Porträt Daelens bei: Richter, Maria Daelen. Zur Politisierung der Beamten vgl. Schwanke / Ebinger, Politisierung, S. 228 – 249. 78

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Die Vielzahl an Juristinnen innerhalb der sehr kleinen Gruppe weiblicher Führungskräfte überrascht nicht. In der deutschen Ministerialverwaltung gab es ein historisch gewachsenes Juristenmonopol.29 Gerade innerhalb eines von medizinischen Fachfragen dominierten Gesundheitsressorts war jedoch die personelle Vorherrschaft von Juristen bereits im Wilhelminischen Kaiserreich und auch in der Weimarer Republik Gegenstand öffentlicher Kontroversen gewesen.30 Die Mediziner standen dabei dem Rechtsgelehrten und klassischen »Verwaltungsbeamten« misstrauisch gegenüber. Zu Beginn der 1920er Jahre verlangte die Ärzteschaft, unterstützt durch die 1917 entstandene Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) und später auch die Mehrheitssozialdemokratie, nach einem – durchaus allein in der männlichen Form gebraucht – »Fachmann an der Spitze« eines neuen Reichsgesundheitsministeriums.31 Dieser Experte könne nur ein Arzt sein. »Ein Jurist und Verwaltungsbeamter ist nach meiner Überzeugung gar nicht in der Lage, auf diesem […] Gebiete der Volksgesundheit irgendwie eine Initiative aus eigenem Antrieb heraus zu ergreifen«, so der seinerzeit noch zur USPD gehörende Reichstagsabgeordnete und Arzt Julius Moses im März 1921.32 Auch nach Gründung des Bundesministeriums für Gesundheitswesen 1961 war die Besetzung der höchsten Leitungspositionen des Hauses mit Juristen umstritten, wie die Suche nach dem ersten Staatssekretär des Gesundheitsressorts zeigt. Im Kern brachten Mediziner damals die gleichen Argumente für eine mit Ärzten besetzte Führung des neuen BMGes vor, wie sie auch in den 1920er Jahren artikuliert worden waren: Einem nur rechtswissenschaftlich gebildeten Akademiker wurde die Eignung zur Führung einer Gesundheitsbehörde aufgrund fehlender fachlicher Kompetenz abgesprochen.33 Kritisch kommentierte die Tageszeitung »Die Welt« 1963 die Berufung des Juristen Walter Bargatzky zum ersten Staatssekretär des BMGes in einem Leitartikel und stellte plakativ fest, über dem Türeingang des neuen Gesundheitsministeriums prangere offenkundig in großen Buchstaben der Hinweis, Ärzten sei der Zutritt verboten.34 29 Vgl. hierzu insbes. auch die Ergebnisse der Studie zum BMI: Palm / Stange, Vergangenheiten, S. 122 – 181. 30 Vgl. Kuschel, Gesundheit, S. 312; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 14 f., 20 f. 31 Vgl. Reichstag, Protokolle, 1. LP 1920 /1922, 86. Sitzung, 16. 3. 1921, S. 3033. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Kuschel, Gesundheit, S. 312, 319 f. Zur Kontroverse um die Besetzung des StSPostens vgl. ebs. die Darstellung in Kap. II.2. in diesem Bd. 34 Dies berichtete die DDR-Zeitung »Neue Zeit«, die die Kontroverse um die Besetzung wiederum für die eigene Kampagne gegen die bundesdeutsche Gesundheitspolitik zu nutzen gedachte. Vgl. »Mythos« und »Sachfremdheit«, in: Neue Zeit, 15. 2. 1963. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 16 : Verteilung von Professionen in der Abteilung I anhand der StrukturTP®RIYRH5IVWSREPEOXIRIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

Vordergründig suggerierte der Widerstand der Ärzteschaft gegen die Berufung eines Juristen zum Staatssekretär im BMGes, dass Mediziner im Bonner Gesundheitsressort unterrepräsentiert waren. Eine statistische Auswertung des Personalbestandes zeigt aber das Gegenteil: Mediziner stellten bei Ministeriumsgründung 1961 zunächst die größte Gruppe unter den leitenden Beamten. Im Jahr 1963 war im Bundesministerium für Gesundheitswesen gut ein Drittel aller Stellen ab der Funktion eines Referatsleiters aufwärts mit Ärzten besetzt; in der Abteilung I, zuständig für Humanmedizin und Pharmazie, lag die Quote – wenig überraschend – bei über 70 Prozent; auch in den Folgejahren dominierten hier Mediziner in Leitungspositionen. Der Anteil der Juristen innerhalb des Personalbestandes des Bundesministeriums für Gesundheitswesen betrug bei dessen Gründung hingegen nur rund 18 Prozent. Die Quote stieg bereits 1962 auf etwa ein Drittel und blieb im Verlauf des Untersuchungszeitraumes annähernd gleich groß. In der Abteilung I stieg der Anteil der Juristen bis Ende der 1960er Jahre von anfänglich 13 auf 22 Prozent. Erst Anfang der 1970er Jahre sank der Anteil approbierten Personals in der für humanmedizinische und pharmazeutische Angelegenheiten zuständigen Abteilung deutlich. Mit Blick auf das Gesamtministerium bedeutete dies, dass innerhalb des Leitungspersonals die Gruppe der Mediziner und die der Juristen jeweils gut 43 Prozent ausmachte. Von einem Juristenmonopol konnte folglich mit Blick auf 80

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

   

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Abb. 17 : Verteilung der Professionen zwischen 1962 und 1973 anhand der XVYOXYVTP®RIYRH5IVWSREPEOXIRIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

das BMGes – im Gegensatz zu anderen Bundesministerien – sowohl 1961 als auch Mitte der 1970er Jahre nicht die Rede sein.35 Bedingt durch die vielfältigen fachspezifischen Aufgabenstellungen des Hauses und die notwendigen naturwissenschaftlich-medizinischen Qualifikationen blieb die professionelle Zusammensetzung des BMGesPersonalbestandes sehr heterogen. Die Auswertung der absoluten Zahlen im Untersuchungszeitraum verdeutlicht, dass Experten unter dem Leitungspersonal des Gesundheitsministeriums eine starke Stellung innehatten. Neben (Fach-)Ärzten gehörten hierzu aufgrund der dem Ministerium neu zugewiesenen Kompetenzen auch Ingenieure (neun Prozent), Veterinärmediziner (sieben Prozent), Chemiker (sechs Prozent) und Pharmazeuten (vier Prozent). Auch der Anteil »sonstiger Berufe« war mit 14 Prozent relativ hoch. Hierzu zählten etwa Politologen, Journalisten oder Volkswirtinnen. Auffällig ist zudem die hohe Quote an promovierten Beamtinnen und Beamten im BMGes. Unter den Frauen konnte bei rund 38 Prozent ein Doktortitel ermittelt werden; bei den Männern bei gut 63 Prozent. Insgesamt waren demnach gut zwei Drittel der leitenden Beamtinnen und Beamten des Ministeriums promoviert.

35 Vgl. etwa die Ermittlungen zum BMI in: Palm / Stange, Vergangenheiten, S. 122 f. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 18: Verteilung der Professionen anhand der Strukturpläne und PersonalEOXIRMQ/ELVREGL&FXIMPYRKIRIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

Vorbehalte aufseiten von Medizinern riefen im BMGes aber nicht nur personalpolitische Entscheidungen zugunsten von Juristen hervor, beispielsweise im Fall der Ernennung Walter Bargatzkys zum ersten Staatssekretär.36 Auch innerhalb der Ärzteschaft waren Personalien umstritten und Gegenstand von Kritik. Dies veranschaulicht etwa der Nachfolger Bargatzkys 1966. Der Beginn der Großen Koalition bedingte zugleich einen Wechsel an der Spitze des Bundesgesundheitsministeriums, und es war fortan nicht mehr CDU-, sondern SPD-geführt. Mit der neuen Ministerin Käte Strobel wurde erstmals nicht nur eine Nichtakademikerin mit der Leitung des Gesundheitsressorts betraut, sondern sie berief mit Ludwig von Manger-Koenig wiederum erstmals einen Arzt zum Staatssekretär im BMGes. Obwohl nun ein Mediziner den Juristen Bargatzky abgelöst hatte und neben der gelernten Buchhalterin Strobel an der Spitze des BMGes stand, war dessen Person umstritten.37 Von Manger-Koenig, Jahrgang 1919, seit 1951 Mitglied der SPD und im hessischen Gesundheitsministerium langjährig als Leiter der Abteilung »Öffentliches Gesundheitswesen« tätig, polarisierte innerhalb der ärztlichen Zunft. Aus Sicht der niedergelassenen Mediziner galt er als Vorkämpfer einer zentralistisch-sozialistischen Medizin. Die Standesvertreter der freien Ärzteschaft beschworen daher, ausgehend von der Berufung von Manger-Koenigs zum Staatssekretär im BMGes, die Gefahr herauf, dass die neue sozialdemokratische Ministeriumsspitze in der Bundesrepublik einen »Staatsgesundheitsdienst« nach DDR-Vorbild errichten werde.38 Die Kritik an der Personalie von Manger-Koenig war folglich weniger von NS 36 Zur Biografie Bargatzkys vgl. die Darstellung in Kap. II.2. in diesem Bd. 37 Zu den Biografien von Strobel u. von Manger-Koenig vgl. die Darstellung in Kap. II.2. u. II.3. in diesem Bd. 38 Vgl. Ein Arzt verärgert die Ärzte, in: Süddeutsche Zeitung, 13. 12. 1968. Vgl. auch Woelk, Gesundheit, S. 458. 82

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

spezifischen Belastungsmomenten als vielmehr von der antizipierten Gefahr einer von der SPD vorangetriebenen kollektivierten »Planwirtschaft der Medizin« motiviert. Mit anderen Worten: Nicht die von Leitungskräften des BMGes zwischen 1933 und 1945 absolvierten Karrierestationen waren Mitte der 1960er Jahre Gegenstand des Interesses der freien Ärzteschaft. Skandalisierungspotenzial besaß zeitgenössisch vielmehr eine unter Ärzten virulente Angst vor einer »sozialistischen«, antiliberalen und antiindividualistischen Gesundheitspolitik der SPD.39 XåÆåĻžƾåďåƐƣĻÚƐcåƒǍƾåŹīåƐ×Ɛ%åŹƐ8±īƒŇŹƐNS-Vergangenheit

Die späte Gründung des BMGes im Jahr 1961 hatte signifikanten Einfluss auf die noch Anfang der 1950er Jahre für den personalpolitischen Neuaufbau von Bundesbehörden relevante Prämisse der »Entnazifizierung«. Im Gegensatz zu anderen Bonner Ministerialverwaltungen, etwa dem Innenministerium, dem Auswärtigen Amt oder auch dem Bundeskanzleramt, rekrutierte das Gesundheitsressort sein Personal nicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern gut zwölf Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes und in einer Phase politischer wie wirtschaftlicher Stabilität der bundesdeutschen Demokratie. Beinahe ungebrochen groß geblieben war bis Anfang der 1960er Jahre der für die junge westdeutsche Republik charakteristische gesellschaftliche wie politische Grundkonsens des Beschweigens von Schuld aufgrund der NS -Vergangenheit – der erstmals substanziell im Zuge des Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann im Sommer 1961 aufgebrochen wurde. Mit Eichmann stand der im Grunde bis heute hochrangigste Verantwortliche für die nationalsozialistische Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden zwischen 1933 und 1945 vor Gericht. Die ausgehend vom Prozess erzeugte Öffentlichkeit zwang auch in der Bundesrepublik zu einer Thematisierung der Schoah als einem deutschen Menschheitsverbrechen. Damit setzte der Eichmann-Prozess einen wesentlichen Impuls für einen Wandel im Umgang der (West-)Deutschen mit der NS -Vergangenheit.40 Bei Gründung des Bundesministeriums für Gesundheitswesen im November 1961 war der Eichmann-Prozess indes nicht mehr als ein tagesaktuelles Ereignis, das formal mit der gegen Eichmann Mitte Dezember 1961 ausgesprochenen Todesstrafe endete. Konkrete Auswirkungen auf das BMGes, im Sinne einer kritisch-differenzierten Bewertung von 39 Vgl. die Darstellung über Ministerin Käte Strobel in Kap. II.3. in diesem Bd. 40 Vgl. Krause, Öffentlichkeit; ders., Eichmann-Prozeß; Keilbach, Epoche; Große, Eichmann-Prozeß; Matthäus, Eichmann-Prozeß. Vgl. ebs. Arendt, Eichmann. LEITENDES PERSONAL

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NS -Biografien vor 1945, hatten Verfahren und Urteilsspruch noch nicht.

Gleiches gilt auch für die im Wesentlichen ausgebliebenen umfassenden personalpolitischen Konsequenzen ausgehend von den in den 1950er Jahren betriebenen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den NS -Verbrechen in der Medizin. Auch wenn seit dem Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 und einer Vielzahl Ende der 1940er Jahre abgehaltener Prozesse zum NS -Krankenmord die verbrecherischen Dimensionen der nationalsozialistischen Ideologisierung der Medizin deutlich geworden waren, folgte hierauf in der Bundesrepublik keine breite gesellschaftliche oder politische Auseinandersetzung mit diesem Unrecht und den begangenen medizinethischen Grenzüberschreitungen.41 Viele Prozesse endeten in den 1950er und 1960er Jahren mit geringen Strafen oder Freisprüchen. Zudem gerieten ganze Opfergruppen, wie etwa die Zwangssterilisierten, zeitgenössisch völlig aus dem Blick der Öffentlichkeit, galt das ihnen zugefügte Unrecht noch bis in die 1980er Jahre als nicht originär rassistisch-nationalsozialistisch.42 Das heißt: Die Definitionskriterien von »Täterschaft« und von »Opferschaft« in Bezug auf die biologistische Obsession des »Dritten Reiches« und seine ideologisch legitimierte lebensvernichtende Medizin waren bei Gründung des BMGes 1961 noch viel zu unscharf; ganz zu schweigen davon, dass sie unseren heutigen Standards entsprachen, die auf Jahrzehnte währender historischer Forschung basieren. Denn die Erkenntnis, dass Ärzte sich nach 1933 als Täter schuldig gemacht hatten und die Medizin während des NS -Regimes kein unpolitisches und auf die Gesundheit wie Fürsorge des Menschen im humanistischen Sinne gerichtetes Metier gewesen war, wurde erst infolge eines sehr zögerlichen Reflexionsprozesses ab den 1970er Jahren allmählich zu einem Bestandteil des demokratischen gesellschaftlichen Grundkonsenses der Bundesrepublik. Bereits in der Auf bauphase der Gesundheitsabteilung im Bundesministerium des Innern Anfang der 1950er Jahre bzw. im 1952 gegründeten Bundesgesundheitsamt setzten die leitenden Beamten ihre Karrieren aus der NS -Zeit zumeist ungebrochen fort.43 Es überrascht insofern nicht, dass bei 41 Zu den Prozessen vgl. insgesamt u. a. Klee, Medizin; ders., Auschwitz; Dörner / Ebbinghaus, Vernichten; Mitscherlich / Mielke, Diktat; Dörner / Linne, Ärzteprozess. 42 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten; dies., Kontinuität; Tümmers, Anerkennungskämpfe; Loewy / Winter, NS -Euthanasie; Langer, Euthanasie-Prozesse. Vgl. ebs. die Darstellung in Kap. III.2. in diesem Bd. 43 Exemplarisch für die personalpolitischen Kontinuitäten bundesdeutscher Gesundheitspolitiker zwischen NS -Zeit und der Bundesrepublik der 1950er Jahre stehen die Biografien der Mediziner Franz Redeker, Wilhelm Hagen und Franz Klose. Die vorliegende Studie untersucht im Folgenden jedoch allein das Personal, das seit 1961 im BMGes tätig war. Zu den genannten Biografien vgl. Lindner, Gesundheitspolitik, bes. S. 43–46, sowie Richter, Seilschaften. 84

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Einstellung bzw. Übernahme von Personal durch das BMGes Anfang der 1960er Jahre eine kritische Beurteilung von Karrieren vor 1945 praktisch ausblieb. Gleichwohl war anlässlich von Ernennungen oder Beförderungen in den 1960er Jahren die NS -Vergangenheit des Personals präsent und eine vormalige Mitgliedschaft in der NSDAP oder die Zugehörigkeit zu einer ihrer Organisationen wurde registriert und vermerkt. So lauteten etwa Kommentare der Personalabteilung, Mitarbeiter seien »Offizier der Waffen-SS« gewesen oder hätten der NSDAP bereits vor 1933 angehört.44 Trotz der Tatsache, dass eine Person mit ihrem Entschluss zum Beitritt in die NSDAP vor Antritt der Reichsregierung unter Adolf Hitler im Frühjahr 1933 deutlich gemacht hatte, dass für ihre Parteimitgliedschaft weniger opportunistische Motive verantwortlich waren als vielmehr eine Übereinstimmung mit den politischen Zielen der NSDAP, erklärte die Personalabteilung des BMGes, solche Karrieren bzw. Beamtenlaufbahnen seien als »durchaus normal zu bezeichnen«.45 Weder eine bekannte Mitgliedschaft in der NSDAP noch die Hintergründe der Zugehörigkeit zur Waffen-SS wurden weitergehend historisch-kritisch hinterfragt. Überdies wurde Anfang der 1960er Jahre personalpolitisch vom BMGes in Bezug auf eine Thematisierung der NS -Biografie von Mitarbeitern in zahlreichen Fällen darauf verwiesen, dass die Vergangenheiten des Personals bereits in den 1950er Jahren intensiv überprüft worden seien, entweder von Stellen auf Länderebene oder durch Bundesministerien. Da auch seinerzeit keine Einwände gegen Beamtinnen und Beamte erhoben worden wären, bestehe nun in den 1960er Jahren keine Notwendigkeit für neuerliche Überprüfungen und übertriebene Skepsis.46 Auch diese einer Rechtfertigungsstrategie ähnelnde Bewertung muss als Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen wie politischen Grundüberzeugung der frühen 1960er Jahre verstanden werden. Ihr zufolge war die NS -Vergangenheit nicht fortwährend neu zu thematisieren.47 Wie die an der Personalie von Manger-Koenig artikulierte Kritik zeigt, besaßen noch 1968/69 bei Personalfragen zeitgenössische Wahrnehmungen der vermeintlichen »Gefahr von links« größere Relevanz als die NS-Karriere Einzelner im Ministerium – etwa die des vormaligen NS -Rassenhygienikers im öffentlichen Gesundheitsdienst des »Dritten Reiches« und seit 1961 amtie44 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 106 /114605. 45 Vgl. BA rch, B 106 /114605, Ernennungsvorschlag, 1964. Die Person war der NSDAP im Mai 1928 beigetreten u. Träger des »Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP«, vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 6 /179361. 46 Vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 106 /114605. 47 Vgl. hierzu insbes. die Ergebnisse der BMI-Studie: Bösch / Wirsching, Hüter, sowie die Beiträge des »German Yearbook of Contemporary History« 2021 zum Thema »After Nazism: Relaunching Careers in Germany and Austria«. Vgl. ebs. Wolfrum, Demokratie, S. 169 – 186, 272 – 282. LEITENDES PERSONAL

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renden Leiters der Abteilung I des BMGes: Josef Stralau. Stralaus 1961 beigebrachte Zeugnisse aus der Zeit vor 1945 attestierten ihm ein überzeugter und im Sinne der NS-Ideologie erfolgreicher sowie umtriebiger Rassenhygieniker gewesen zu sein. Als eine »NS -Belastung« wurden derartige Selbstangaben und Beurteilungen aber Anfang der 1960er Jahre noch nicht verstanden und infolgedessen auch personalpolitisch nicht hinterfragt – weder durch das BMGes noch von weiten Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft.48 Für die Personalpolitik des BMGes waren Anfang der 1960er Jahre vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in immer stärkerem Maße die biografischen Details relevant, die die deutsch-deutsche Teilung berührten: Einige der späteren Mitarbeiter des Bonner Gesundheitsministeriums (in den meisten Fällen Ärzte) waren Ende der 1950er Jahre aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen. Ihre Zugehörigkeit zum ostdeutschen Gewerkschaftsbund oder eine vormalige Mitgliedschaft in der liberaldemokratischen »Blockpartei« des SED -Staates wurden obligatorisch als sicherheitsrelevantes Kriterium eingestuft.49 Nicht ähnlich kritisch wurde demgegenüber – so zeigt das Beispiel Josef Stralaus und dessen amtsärztliche Karriere während des »Dritten Reiches« – die Rolle des öffentlichen Gesundheitsdienstes als Schrittmacher der rassenhygienischen Dogmen des NS -Regimes beurteilt. Für eine solche, die tagespolitischen Belange akzentuierende, aber die historischen »Belastungen« vernachlässigende, Personalpolitik des BMGes waren weder allein fehlendes historisches Wissen noch das Motiv des bewussten Beschweigens oder Verdrängens der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit verantwortlich. Vielmehr war sie Konsequenz realpolitischer Umstände. Die Blockkonfrontation zwischen Ost und West behinderte auch im BMGes eine kritische Reflexion der NS -Vergangenheiten des Personals und trug maßgeblich dazu bei, dass die größere Gefahr einer möglichen antidemokratischen Illoyalität innerhalb der Beamtenschaft nicht in einer ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit zur SA , sondern einer Verbindung zur DDR erkannt wurde.50 Dass das Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit wiederum tatsächlich sehr aktiv in der Bundesrepublik arbeitete, um erkannte »NS -belastete« und im Dienst des BMGes stehende Personen ob ihrer Vergangenheit zu erpressen und zur »Mitarbeit« als Spion zu verpflichten, zeigt der Fall Fedde-Woywode: Wolfdiether Fedde-Woywode, Jahrgang 1912, war Chemiker und vor 1945 beim Heereswaffenamt angestellt. Er hatte von 48 Vgl. die Unterlagen u. Zeugnisse in: BA rch, PERS 101/79532; BA rch, PERS 101/79534; BA rch, PERS 101 /79535. Zu Stralaus Person u. dessen Karriere ab 1945 vgl. die Darstellung in Kap. III.2. in diesem Bd. 49 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 106 /114605. 50 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse zum BMI: Kuschel / Rigoll, Verwaltung. 86

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

1930 bis 1937 an der Technischen Hochschule Danzig und später an der Technischen Hochschule Berlin Chemie studiert. Nach seinem Diplomabschluss folgte 1939 die Promotion zum Dr.-Ing. an der TH Berlin.51 Seit 1939 war Fedde-Woywode wissenschaftlicher Mitarbeiter in den »Heeresgasschutzlaboratorien« in Berlin-Spandau und seit April 1940 Hilfsreferent in der Abteilung »Kampfstoffabwehr« des Heereswaffenamts. Dort stieg er, unterbrochen durch verschiedene Kriegseinsätze ab 1939, schließlich bis 1944 zum stellvertretenden Leiter des Referates Entwicklung auf.52 Fedde-Woywode schwieg nach 1945 über seine Tätigkeit als Chemiker des Heereswaffenamts; auch dann noch, als Anfang der 1960er Jahre erste Presseartikel über die Kampfstoffforschung während der NS -Zeit erschienen.53 Seine in den Personalunterlagen beigebrachten Zeugnisse lassen den Schluss zu, dass sich Fedde-Woywode im Heereswaffenamt schwerpunktmäßig mit der Erforschung chemischer Munition sowie mit der Entwicklung von Kampfgasen auseinandersetzte. Wie Historiker aufzeigen konnten, war es in beiden Fällen gängige Praxis, entsprechende Tests nach 1939 mithilfe von Kriegsgefangenen und KZ -Inhaftierten durchzuführen – die in den meisten Fällen zu deren Tod führten.54 Ob Wolfdiether Fedde-Woywode an derartigen Versuchen mitgewirkt oder sie befohlen hat, kann mangels fehlender Quellen nicht abschließend beurteilt werden. Sicher ist jedoch, dass er eine leitende Funktion innerhalb der chemischen »Sonderforschung« des Heereswaffenamts inne hatte und ob dieser Position zumindest um verbrecherische Praktiken wissen musste. 1951 wurde Wolfdiether Fedde-Woywode auf Empfehlung eines früheren Kollegen aus dem Heereswaffenamt in der Gesundheitsabteilung des BMI als Lebensmittelchemiker angestellt.55 1961 wechselte er in gleicher Funktion in das neue BMGes. Wenig später wurde das MfS in Ost-Berlin auf die Personalie aufmerksam. Aufgrund weitergehender Aufklärung zum Kontext seiner Tätigkeit im Heereswaffenamt vor 1945 und einer entdeckten »operativ relevanten« Studentenverbindung Fedde-Woywodes in Danzig entschied das MfS schließlich, ihn in der Bundesrepublik zu observieren. Das Ziel war es, Wolfdiether Fedde-Woywode mit den aus Sicht des MfS kompromittierenden Erkenntnissen zu konfrontieren und seine »inoffizielle Mitarbeit« zu erpressen.56 51 Vgl. die Angaben in: BA rch, B 189 /26941. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Hoimar von Ditfurth: Die lautlose Vernichtung. Über der Kampfstoff-Forschung liegt Schweigen, in: Die ZEIT, 16. 2. 1962. 54 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /26941; Fischer, Apparat, S. 149; Eichholtz, Krieg, S. 175; Klee, Auschwitz, S. 270. 55 Vgl. BA rch, B 189 /26941, Vermerk, 10. 4. 1951. 56 Vgl. BStU, MfS, Kartei F 22; BStU, MfS, Hle, HA VIII, 556 /70, Bd. 1. LEITENDES PERSONAL

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Durch eigene Aufklärung westdeutscher Dienste scheint die beabsichtigte »Anwerbung« des MfS im Falle Fedde-Woywodes fehlgeschlagen zu sein. Die Episode verweist nichtsdestotrotz eindrücklich auf die besonderen Konfliktlinien der deutsch-deutschen Teilungsrealität während des Kalten Krieges. Zum Bestandteil der jährlich wiederkehrenden Urlaubsroutine zählte daher etwa auch das im Sommer den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern per Hausmitteilung vom Sicherheitsreferenten des BMGes eindrücklich in Erinnerung gerufene Gebot, dass »Reisen in und durch den kommunistischen Machtbereich der Genehmigung durch den Sicherheitsreferenten« bedurften.57 Das Beispiel Fedde-Woywodes zeigt aber auch, dass der Faktor »NS Belastung« eine Größe jenseits der nominellen NSDAP-Mitgliedschaft ist. Denn Wolfdiether Fedde-Woywode war nie Angehöriger der Partei Hitlers.58 Gleichwohl bezeugt seine Tätigkeit im Dienst des Heereswaffenamts vor 1945, dass Fedde-Woywode nicht in kritischer Distanz zum Nationalsozialismus stand. Vonseiten des BMGes wurde seine berufliche Funktion vor 1945 nie kritisch reflektiert und er wurde auch nie nach seiner diesbezüglichen Rolle gefragt. Fedde-Woywode galt – wie Josef Stralau – als ein unpolitischer Experte, dessen Tätigkeit vor 1945 per se nichts mit verbrecherischen Praktiken des Nationalsozialismus gemein haben konnte. Ein dritter Fall eines scheinbar unpolitischen technischen Experten konturiert eine weitere Facette des komplexen und multidimensionalen »Belastungsbegriffes«: Die Causa Walther Kumpf. Auch Kumpfs Karrierestationen in der NS -Zeit wurden von der Personalabteilung des BMGes nicht kritisch hinterfragt. Allein dessen fachliche Expertise war für die neue Verwendung im Gesundheitsministerium von Interesse. Kumpf, Jahrgang 1899, leitete die Unterabteilung für Wasserwirtschaft, die Anfang 1962 vom Bundesatomministerium ins BMGes gewechselt war.59 Der studierte Bauingenieur hatte in den 1920er und 1930er Jahren zunächst im Ruhrverband Essen und später als Kreisbaurat gearbeitet. Im Sommer 1939 wurde er zum »Generalinspektor« für das deutsche Straßenwesen abgeordnet und war in der Slowakei tätig.60 57 Vgl. die Hausmitteilungen in: BA rch, B 142 /2865. 58 Entsprechende Selbstangaben konnten nicht ermittelt werden, ebenso wenig eine Erfassung Fedde-Woywodes in den im Bundesarchiv vorhandenen NSDAP-Karteien. 59 Zum Bundesatomministerium vgl. das Projekt von Thomas Raithel u. Niels Weise: »NS -Belastung im bundesdeutschen Atom- bzw. Forschungsministerium 1955 – 1972«, www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/ns-belastungen-im-bundesdeutschenatom-bzw-forschungsministerium-1955-1972 (10. 5. 2021), sowie die Publikation: Raithel / Weise, Zukunft. 60 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, N 1772 /1. 88

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Ab 1939 arbeitete Walther Kumpf für die sogenannte Organisation Todt (OT),61 die im Auftrag der Wehrmacht kriegswichtige Bauvorhaben durchführte und hierbei Kriegsgefangene und KZ -Internierte als Zwangsarbeiter einsetzte.62 Innerhalb der OT machte Kumpf rasch Karriere und nahm für die »Organisation Todt« an den Feldzügen in Polen und Frankreich teil. Ab Sommer 1941 war er an der Ostfront eingesetzt. Bis 1944 war Kumpf in der OT zum Einsatzgruppenleiter aufgestiegen und damit in einer herausgehobenen Führungsfunktion tätig.63 Als Nachfolger des gefallenen Chefs der OT-Einsatzgruppe »Russland-Süd«, Walter Brugmann,64 fungierte Kumpf bis Februar 1945 als Leiter der nach Brugmann benannten OT-Einheit in den besetzten Teilen der Sowjetunion. Ab Sommer 1944 verantwortete er für die OT auch den gesamten Bereich des vom Deutschen Reich besetzten Polens, das sogenannte Generalgouvernement.65 Walther Kumpf war im Juli 1944 von Albert Speer persönlich mit der Leitung der Einsatzgruppe »Brugmann« betraut worden. Speer war nach dem Tod Fritz Todts 1942 »Reichsminister für Bewaffnung und Munition« sowie »Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen« und »Generalinspektor für Wasser und Energie« geworden und stand damit auch der OT formal vor.66 Zugleich hatte Speer Kumpf als »Bevollmächtigten für die Bauwirtschaft im Generalgouvernement« eingesetzt und ihm die Verfügungs- und Weisungsrechte gegenüber der Technischen Verwaltung des Generalgouvernements übertragen.67 Letzteres führte zu einem veritablen Konflikt innerhalb des NS -Regimes: Speers Maßnahme zielte darauf ab, die OT-Einsatzgruppe »Brugmann« und das formal der Militärverwaltung des Generalgouvernements zugehörige »Technische Zentralamt« zusammenzuführen. Hans Frank, Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, widersetzte sich Speers Order und lehnte eine Ablösung des ihm unterstehenden amtierenden Leiters des Technischen Zentralamtes ab. Gegenüber Speer teilte Frank in einem Schreiben Ende Juli 1944 mit, dass personelle Veränderungen »in diesem 61 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 101 /81409. 62 Zur OT vgl. u. a. Gogl, Foundations; Lemmes, Arbeiten. Vgl. ebs. das Projekt Christian Packheisers: »Die ›Organisation Todt‹: Bau von Infrastruktur für Krieg und Völkermord«, www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/die-organisationtodt-bau-von-infrastruktur-fuer-krieg-und-voelkermord (12. 5. 2021). 63 Zu Kumpfs Karrierestationen vgl. die Unterlagen in: BA rch, N 1772 /1. Zur Zuständigkeit für das Generalgouvernement vgl. BA rch, R 50 I /Ec 6190 N, Mitteilung des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion, 19. 7. 1944. 64 Walter Brugmann war Architekt u. 1934 Bauleiter des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg, später u. a. Chef des Baustabs von Albert Speer. Vgl. Klee, Kulturlexikon, S. 84 f. 65 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, N 1772 /1. 66 Zu Albert Speer vgl. Brechtken, Speer, hier S. 157. 67 Vgl. BA rch, R 50 I /103, Vermerk Speers, 19. 7. 1944. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 19 : Pressebericht der »Krakauer Zeitung« zur Amtseinführung von Walter Kumpf (links) als »Leiter des Technischen Zentralamtes der Verwaltung des Generalgouvernements« durch »Generalgouverneur« Hans Frank, 16. 8. 1944.

Augenblick völlig undurchführbar« seien und er den bereits entlassenen Leiter wieder zwangsweise in sein Amt eingesetzt habe.68 Frank monierte zudem, dass Speers Vorgehen von einer völligen »Verständnislosigkeit für die wirkliche Lage« im Generalgouvernement zeuge und unterrichtete gleichlautend zudem den Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers.69 Franks Anschuldigungen provozierten einen Affront. Nachdem Speer Hitler von den »Geschehnissen« unterrichtet hatte, entschied der »Führer« persönlich, dass Frank sich zu beugen habe und Speers Weisung Folge leisten müsse.70 Walther Kumpf wurde schließlich im August 1944 auch als Leiter des Technischen Zentralamtes Krakau von Generalgouverneur Hans Frank in sein Amt eingeführt.71 Kurz vor Kriegsende wurde Kumpf am 27. April 1945 schließlich stellvertretender Leiter der OT Einsatzgruppe »Hansa« und übernahm noch im Mai 1945 auf Anordnung Speers deren Führung.72 Nach Kriegsende wurde Kumpf für die britische Militärregierung im Angestelltenverhältnis als »Wissensträger für die Abwicklung der ehem. OT« tätig.73 Im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens war seine eigene Rolle innerhalb der »Organisation Todt« jedoch kein Thema. Entlassung drohte ihm vielmehr aufgrund seiner politischen Ämter in der NSDAP. So war Kumpf nicht nur nominell am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten, sondern hatte zwischen 1934 und 1938 als »Block-« und später als »Zellenleiter« der Partei fungiert.74 68 69 70 71

Vgl. Präg / Jacobmeyer, Diensttagebuch, S. 888. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, R 3 /1572, Schreiben Albert Speers an Hans Frank, 29. 7. 1944. Vgl. BA rch, R 2 /5094, »Neuer Leiter des Technischen Zentralamtes«, in: Krakauer Zeitung, 16. 8. 1944. 72 Vgl. BA rch, R 3 /1637, OT-Dienstbuch, Anordnung Speers, Mai 1945. 73 Vgl. BA rch, N 1772 /1, Schreiben Walther Kumpfs an Muethling, 11. 8. 1946. 74 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 101 /81411, sowie BA rch, N 1772 /1, Schreiben Walther Kumpfs an Muethling, 11. 8. 1946. 90

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Im Angesicht der möglichen Entlassung und in der Hoffnung auf einen weiteren »Persilschein« hatte Kumpf 1946 einem früheren Arbeitskollegen brieflich mitgeteilt, dass er im Winter 1932 /33 der NSDAP »noch völlig ablehnend« gegenübergestanden habe, sich dann aber »unmittelbar vor Schließung der Tore der Partei« im Frühjahr 1933 doch um eine Aufnahme bemüht hätte.75 Kumpf gab zudem an, dass die »Arbeitsbeschaffungsaktion« und »Instandsetzung zweitrangiger Straßen und Wege« seitens des NS-Regimes ihm die »positiven Seiten« der »Bewegung« Hitlers vor Augen geführt hätten; hiervon ausgehend habe er begonnen, sich »für die Dinge einzusetzen«.76 Seine politischen Leitungsämter innerhalb der NSDAP charakterisierte Kumpf rückblickend als »Pflicht für einen seiner Aufgaben dem Vaterland bewussten Manne«.77 Er sei, so schreibt Kumpf 1946, noch immer überzeugt, durch diese Tätigkeit die »Verhältnisse […] harmloser gestaltet« zu haben.78 Walther Kumpf gelang es, dank eines Schreibens seines früheren Kollegen Ende der 1940er Jahre, eine Entlassung zu verhindern. Dies ermöglichte ihm, zunächst auf Länderebene in Hamburg seinen Karriereweg als Experte für Wasserwirtschaft fortzusetzen, der ihn schließlich – über das Bundeswirtschafts- und Bundesatomministerium – bis in das BMGes führte.79 Als »Ministers Wasserspezialist«80 vonseiten des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« noch vor seinem Wechsel ins Gesundheitsministerium tituliert, arbeitete Kumpf als Gruppen- und Unterabteilungsleiter für Wasserwirtschaft an herausgehobener Stelle der Bundesexekutive. Seine frühere Karriere innerhalb der OT beschwieg er, wie auch Personalstellen ihn darüber nicht befragten. Ob Kumpfs Vita in der NS -Zeit dafür verantwortlich war, dass nach seinem Tod im Nachruf des Gesundheitsministeriums die Formulierung »vorbildliche Berufserfahrung« handschriftlich in »große Berufserfahrung« geändert wurde, ist nicht bekannt.81 Sicher ist indes, dass die »Organisation Todt« vor 1945 systematisch Hunderttausende Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter für ihre »Projekte« einsetzte und Walther Kumpf hierüber allein aufgrund seiner herausgehobenen Stellung im Bilde gewesen sein muss.82 Ganz besonders informiert war Kumpf über den inhuman-brutalen Umgang der OT mit ihren Opfern im besetzten Osten, vor allem im »Generalgouvernement«. Kumpf wusste um deren von Unterernährung und krankheitsbedingtem Siechtum ge75 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. BA rch, N 1772 /1, Schreiben Walther Kumpfs an Muethling, 11. 8. 1946. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Zu den Stationen vgl. BA rch, PERS 101 /81409, Lebenslauf, 3. 4. 1973, Bl. 49. Vgl. Der Spiegel: Alarm in der Leitung, in: Der Spiegel, 47 /1959. Vgl. den Nachruf in: BA rch, PERS 101 /81409. Zum Einsatz von Zwangsarbeitern durch die OT vgl. u. a. Gogl, Foundations; Lemmes, Arbeiten.

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prägtes Leid.83 Seine überlieferten Kriegstagebücher präsentieren – neben technischen Skizzen von Befestigungsbauten und für den Transport der Wehrmacht errichteten Brücken – die »angeforderten« Baumaterialien. Spiegeln die Skizzen Kumpfs technisches Geschick und seine Expertise als Ingenieur, belegen die festgehalten Kürzel von den »Kgf.« als »Material« eine ungebrochene und unreflektierte Ebene von Schuld als Täter gegenüber seinen Opfern: den Kriegsgefangenen. Menschen stehen in Kumpfs Feldtagebüchern gleichwertig neben Rohstoffen wie Holz und Stahl. Kriegsverbrechen und inhumane Konsequenzen einer menschenverachtenden Ideologie werden von Walther Kumpf damit negiert. Eine solche von Kumpf präsentierte Sicht zeigt zweierlei: Täterschaft bedeutete mit Blick auf den Nationalsozialismus nicht nur das Erschießen oder Vergasen unschuldiger Menschen. Auch ein scheinbar unpolitischer Experte und Ingenieur für Wasserwirtschaft war Stütze des NS -Regimes und profitierte von dessen Politik. Als technischer Fachmann verdankte Kumpf dem »Dritten Reich« nicht nur eine rasche und steile Karriere, sondern er war bereit, die in der Logik des Systems notwendigen Konsequenzen in jeder Hinsicht zu akzeptieren und umzusetzen – auch wenn es sich hierbei um den vielfach mit Mord und Totschlag einhergehenden Einsatz von Kriegsgefangenen durch die OT handelte. Die in Kumpfs Nachlass überlieferten Kriegstagebücher zeichnen das Bild eines während des »Dritten Reiches« unpolitischen, neutralen Fachmannes, der zugleich systemstabilisierender Teil eines verbrecherischen Regimes war – und von dessen Rahmenbedingungen profitierte: Erst der Einsatz Tausender »Kgf.« unter inhumanen und rechtswidrigen Zuständen sicherte den Erfolg der Vorhaben der OT. Auch der Experte Kumpf hatte sich – wie die neuere Forschung mit Blick auf Ingenieure zeigt – nach 1933 als ein unverzichtbarer Dienstleister gegenüber den neuen Machthabern inszeniert und in der Folge das NS -Regime stabilisiert und von ihm profitiert.84 Kumpfs Fall verdeutlicht aber auch, dass sich die Kategorie »Täterschaft« nicht in einem prominenten »Marker« von NSDAP-Zugehörigkeit, ausgeübten Parteiämtern oder erhaltenen Parteiauszeichnungen manifestiert, sondern in der beruflichen wie fachlichen Haltung und dem Tätigwerden vor 1945. Kumpfs Biografie als Ingenieur ähnelt in dieser Hinsicht der des Amtsarztes Josef Stralau während des »Dritten Reiches«.85 Die »NS Belastung« muss folglich stark differenziert und nie schematisch analysiert

83 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, N 1772 /4, sowie BA rch, N 1772 /5. 84 Vgl. die Ergebnisse zum Umgang mit NS -Belastungen von Experten von zwei bundesdeutschen Abwasserverbänden: Balz / Kirchberg, Grenzen. 85 Zur Biografie Stralaus vgl. Kap. III.2. in diesem Bd. 92

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werden; sie umfasst viele, stets individuelle Komponenten.86 Dies schließt eine historisch-kritische Problematisierung von Mitgliedschaften in der NSDAP oder die Zugehörigkeit zur SS, SA oder anderen Parteigliederungen als zentralen Bestandteil der Analyse von »NS -Belastung« ausdrücklich ein. Differenziert betrachtet, etwa im Sinne der Bewertung des Alters zum Zeitpunkt des Parteieintritts, einer übernommenen Funktion oder des gezeigten innerparteilichen Engagements, lassen sich persönliche Haltungen identifizieren und die nicht gewählten Alternativen konturieren – aber eine »Belastung« sollte eben nicht, wie das Beispiels Kumpfs zeigt, allein und ausschließlich auf dem Faktor »NSDAP-Mitgliedschaft« basieren. In diesem Sinne muss jede Statistik von Quoten ehemaliger NSDAPMitglieder, SA- oder SS -Angehöriger innerhalb des Personalbestandes des BMGes eingebettet werden in eine historisch-kritische Analyse – soweit Quellen hierfür vorhanden sind. Etwas weniger als die Hälfte (45,63 Prozent) der leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BMGes gehörte ehemals der NSDAP an, mit Ausnahme einer Frau hatten sich nur Männer der Partei Hitlers angeschlossen. Eine Person war der NSDAP in den 1920er Jahren beigetreten, 14 Personen im Jahre 1933. Teilt man die NSDAPMitglieder anhand der Eintrittsdaten 1933, 1934 bis 1938 (Vorkriegsjahre) und ab 1939 (Kriegsjahre), ergibt sich eine ungefähre Gleichverteilung. Die Mehrheit der ehemaligen Mitglieder der NSDAP hatte keine Ämter innerhalb der Partei ausgeübt; wenn Funktionen wahrgenommen worden waren, so handelte es sich zumeist um die Rolle eines NSDAP-Block- oder -Zellenleiters.

Abb. 20 : Ehemalige Mitgliedschaften des leitenden BMG es-Personals in NS 4VKERMWEXMSRIRIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

86 Vgl. hierzu insbes. Bösch / Wirsching, Männer; Palm / Stange, Vergangenheiten; Stange, Bundesministerium; Kuschel / Rigoll, Verwaltung. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 21 : BMG IWIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

17 Prozent des BMGes-Personals hatten der SA angehört und drei Angestellte (rund drei Prozent) der SS. Etwa 25 Prozent des leitenden Personals des BMGes war vor 1945 zudem in anderen NS -Organisationen aktiv gewesen, zumeist der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, aber auch in fachspezifischen Gremien wie dem NS -Rechtswahrerbund.87 Für rund ein Viertel des späteren Leitungspersonals des BMGes (24,27 Prozent) lässt sich, ausgehend von den Personalakten und verfügbaren Quellen, keine Mitgliedschaft in NS -Organisationen nachweisen. Betrachtet man diese Zahlen im Verlauf, so zeigt sich, dass im Jahr 1962 68 Prozent der Mitarbeiter ehemals der NSDAP angehört hatten; 1970 waren es demgegenüber 43 Prozent. Diese Entwicklung, mit einem Höchststand ehemaliger NSDAP-Mitglieder Anfang der 1960er Jahre und dem folgenden Rückgang, entsprach der in anderen Bundesministerien, wie etwa dem BMI.88 Ein genauer Blick für die Jahre 1969 /70 zeigt, dass sich Verschiebungen bei den »Belastungsgraden« zwischen dem BMI und dem BMGes auch durch Umstrukturierungen angesichts des Regierungswechsels 1969 unmittelbar in den Statistiken niederschlugen. So sank mit dem Übergang der Abteilung Sozialwesen aus dem BMI ins BMGes bzw. seit 1969 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (BMJFG) der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder im BMI auf 34 Prozent, während er im BMJFG im Jahr 1970 mit 43 Prozent zehn Prozentpunkte höher lag. 87 Zum NS -Rechtswahrerbund vgl. Sunnus, NS -Rechtswahrerbund. 88 Vgl. Palm / Stange, Vergangenheiten. 94

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 22 : Vergleich der Quoten ehemaliger NSDAP-Mitglieder BMI und BMG es., BMI XYHMIWS[MIIMKIRI&YW[IVXYRK ,VEǻO+0YWGLIP

Sechs Personen der Abteilung Sozialwesen waren durch Mitgliedschaften »belastet«: fünf hatten der NSDAP (83 Prozent), vier der SA (67 Prozent) und drei anderen NS -Organisationen (50 Prozent) angehört. Markant, aber anhand verfügbarer Quellen bislang nicht weiter aufzuklären, sind die zahlreichen während des Zweiten Weltkrieges von späteren Angehörigen des BMGes ausgeübten Tätigkeiten in den besetzten Ostgebieten. So waren neben Kumpf sechs hochrangige Beamte des Bundesgesundheitsministeriums zwischen 1939 und 1945 im Auftrag deutscher militärischer Verwaltungen bzw. von Reichsdienststellen in Łódź, Krakau, Kattowitz oder Böhmen-Mähren im Einsatz.89 Von der historischen Forschung zwischenzeitlich genauer untersucht, waren die jeweiligen Einrichtungen an der Durchführung inhumaner Experimente involviert oder sie unterstützten mittel- oder unmittelbar den rassischen Vernichtungskrieg im Osten.90 Weitergehend aufzuklären bleibt indes die exakte jeweilige Rolle der späteren BMGes-Beamten während dieser Zeit.

89 Vgl. u. a. das Beispiel Josef Daniels: Klee, Medizin, S. 321; Lindner, Gesundheitspolitik, S. 45; Richter, Seilschaften, S. 567. 90 Vgl. u. a. das Beispiel der Fleckfieber- u. Virusforschung des Oberkommandos des Heeres in Krakau: Werther, Fleckfieberforschung. LEITENDES PERSONAL

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Das Bundesgesundheitsministerium sei ein »von Anbeginn zerklüftetes Haus« gewesen, so urteilte rückblickend der erste Staatssekretär Walter Bargatzky gegenüber Elisabeth Schwarzhaupt im Jahr 1976.91 In der Tat erwies es sich in der alltäglichen Verwaltungsarbeit nach Neukonstituierung des Ministeriums als eine Herausforderung, dass das Ressort in ganz verschiedene Fachgebiete gegliedert worden war, zuständig für Humanmedizin und Pharmazie, das Veterinärwesen, den Verbraucherschutz sowie die Umweltthemen »Wasser, Luft und Lärm«. Diese Herausforderungen – die Bargatzky mit »zerklüftet« umschrieb – zeigten sich auf mehreren Ebenen. Zunächst existierte das BMGes bereits rein technisch nicht als »ein Haus« an einem einzigen Dienstort, sondern es war zeitweilig auf sechs Liegenschaften im Bonn, Bad Godesberg und Königswinter verteilt.92 Die Zusammensetzung aus ganz verschiedenen Fachdisziplinen bedingte nicht nur abstrakt eine stark heterogene Mitarbeiterschaft, bestehend aus diversen Berufsgruppen, die gemeinsam für dasselbe Ministerium arbeiteten. Sondern die Beamtinnen und Beamten in den Abteilungen – immer zuständig für sehr spezielle Aufgaben – pflegten auch in der Praxis ein jeweils eigenes Selbstverständnis. Eine gemeinsame Hausidentität zu entwickeln war letztlich ein längerer Prozess, der sich bis weit in die 1970er Jahre hinein erstreckte – nicht zuletzt, da 1969 das BMGes mit den Bereichen Jugend und Familie zum Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zusammengelegt wurde. Dieser im Bundesgesundheitsressort zu beobachtende Rückzug auf einen stark abteilungs- bzw. fachspezifisch definierten Korpsgeist von Ärzten, Pharmazeuten, Veterinärmedizinern, Ingenieuren und Chemikern wurde wesentlich durch die Aufteilung auf die verschiedenen Standorte begünstigt. Fragen von Nähe und Ferne zu einer Ministerin bzw. Minister und der obersten Leitungsebene eines Ressorts sind per se wichtig. Gerade für Verwaltungen und die ihnen eigentümlichen Prozessabläufe bleiben die Raumverteilung und die Standortfrage konstitutive Elemente von Kommunikation und Hierarchie – und sind damit elementar für ihr Funktionieren.93 Nach der Gründung des Bundesministeriums für Gesundheitswesen war es zunächst provisorisch im Bonner BMI, in der 91 Vgl. BA rch, N 1177 /42, Schreiben Walter Bargatzkys an Elisabeth Schwarzhaupt, 4. 1. 1976. 92 Vgl. BA rch, B 142 /2861, Hausmitteilung 17 /63, 14. 6. 1963. 93 Zu Aspekten der »Verwaltungskultur« vgl. Seibel, Verwaltung. Vgl. ebs. mit Blick auf die Innenressorts in Bonn u. Ost-Berlin: Günther / Kreller / Richter / Stange / Palm, Kommunikation. Vgl. ebs. Günther, Verfassung. 96

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 23 : Neubaukomplex des BMG es-Hauptsitzes in der Deutschherrenstraße 87, Bad Godesberg, 2. 3. 1966.

heutigen Graurheindorfer Straße 198, untergebracht. Da dort besonders in der Anfangszeit eine große Raumknappheit herrschte, waren die Konflikte mit dem Innenressort unvermeidlich und zahlreich.94 Bundesinnenminister Hermann Höcherl sah sich schon ein Jahr nach Etablierung des Gesundheitsressorts zu einer ersten Intervention genötigt und mahnte auf einer Abteilungsleiterbesprechung im BMI nachdrücklich an, rasch einen Kompromiss im Streit um die Raumverteilung zu finden, da er beide Behörden enorm belaste.95 Erst mit dem Neubau eines modernen Bürokomplexes in der Bad Godesberger Deutschherrenstraße Anfang der 1960er Jahre und dem Umzug des BMGes 1964 dorthin entspannte sich die Konfrontation mit dem BMI. Das Bundesministerium für Gesundheitswesen nahm nun dort seinen Hauptsitz. Den neu errichteten Gebäudetrakt bezogen 1964 neben der Ministerin und der Staatssekretärsebene auch die Abteilung I unter Leitung Josef Stralaus, zuständig für Humanmedizin und Pharmazie. Die Nähe zur Ministerin und der Leitungsspitze versprach vor allem dieser Abteilung privilegierten Machtzugang und erleichterte es vermeintlich, Gehör zu finden. Wie jedoch 94 Vgl. Kuschel, Gesundheit, S. 322 f. 95 Vgl. BA rch, N 1407 /141, Abteilungsleiterbesprechung, 12. 2. 1962. LEITENDES PERSONAL

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der zwischen Stralau, Bargatzky und Schwarzhaupt 1964/65 eskalierende Streit in der Frage eines neuen eugenisch indizierten Sterilisationsgesetzes zeigt, konnte die Abteilung Humanmedizin nicht automatisch einen strategischen »Vorteil durch Nähe« geltend machen.96 Dennoch war die Entscheidung, die Abteilung Humanmedizin und Pharmazie gemeinsam mit der Ministerin am Hauptsitz des BMGes anzusiedeln, mehr als reine Symbolik oder einer Beliebigkeit geschuldet. Sie drückte eine bewusste Schwerpunktsetzung aus und sollte auch nach außen ein Selbstverständnis der ministeriellen Arbeit vermittelten. Kommuniziert wurde: Der Fokus des BMGes liegt auf den klassischen Gesundheitsthemen Medizin und Pharmazie. Während Abteilung I wenige Büros entfernt von der Ministeriumsspitze residierte, verbesserte sich die Situation der »Auslagerung« nach dem Ministeriumsneubau für andere Abteilungen des BMGes nicht. Im Gegenteil: 1968 zog Abteilung II vom gemeinsam mit Abteilung III geteilten Sitz in der Bonner Michaelstraße aus. Fortan waren alle drei Abteilungen des Bundesgesundheitsministeriums räumlich in zum Teil weit voneinander entfernten Bereichen der damaligen Bundeshauptstadt separiert.97 Während Ende der 1960er Jahre die Ministerin mit der Abteilung Humanmedizin und Pharmazie weiterhin im Hauptgebäude arbeitete, waren die Abteilung III »Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft und Lärmbekämpfung« im Haus Michaelstraße und die Abteilung II »Lebensmittelwesen und Veterinärmedizin« im Haus in der Karl-Finkelnburg-Straße untergebracht. Letztere, neue Adresse in Bad Godesberg war nach Carl Maria Ferdinand Finkelnburg benannt, einem deutschen Mediziner und Hygieniker des 19. Jahrhunderts. Die Abteilung sei dort, wie die Wochenzeitung »Die ZEIT« 1968 spitz formulierte, in einer »hochherrschaftlichen Villa im Stil der Jahrhundertwende […] in einer parkähnlichen Anlage« untergebracht.98 Die dortige Leiterin Helga Merkel, als Quereinsteigerin 1968 neu ins Ministerium gelangt, porträtierte »Die ZEIT« als »First Lady der Karl-Finkelnburg-Straße«.99 Damit hob man zeitgenössisch auf zwei Besonderheiten ab: Einerseits die erstmals von einer Frau wahrgenommene Leitungsfunktion einer Abteilung des BMGes, andererseits die prominent eigenständige Stellung des im Grunde »normalen« Abteilungsbereiches des Ministeriums. Merkel und ihr Personal residierten nicht nur fernab des BMGes, sondern genossen in der öffentlichen Wahrnehmung auch ein spürbares Maß an Autonomie. 96 Zum Konflikt vgl. Kap. III.2. in diesem Bd. 97 Vgl. Gesundheitspolitik aus erster Hand verbunden mit Wassernachrichten Nr. 5, 19. 2. 1968, hg. v. BMGes, S. 2. 98 Vgl. Ingeborg Zaunitzer-Haase: Abschied von der Lobby, in: Die ZEIT, 13. 9. 1968. 99 Vgl. ebd. 98

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Die Konfliktlinien innerministerieller Kontroversen und Kämpfe um Macht, Geltung und Einfluss verliefen – wie die Suche nach dem ersten Staatssekretär zeigt – stets entlang fachdisziplinärer Grenzen; das heißt, Berufsgruppen versuchten ihren Einfluss auf den Ressortzuschnitt geltend zu machen.100 Auch das Beispiel der Abteilung II, zuständig für Lebensmittelsicherheit, verdeutlicht dies: Die Frage, welche Bereiche durch die Bildung von eigenständigen Abteilungen im BMGes besonderes Gewicht erhalten sollten, war lange Zeit strittig und ungelöst. Der Aspekt betraf vor allem jene Organisationsstrukturen, die das neue eigenständige Gesundheitsressort aus dem BMI übernommen hatte, also primär die Bereiche Humanmedizin und Pharmazie, Veterinärwesen und letztlich vor allem auch das Aufgabenfeld der Lebensmittelsicherheit.101 Es war 1949 durch einen Kabinettsbeschluss dem BMI zugewiesen worden. Die Entscheidung wurde flankiert von einer zwischen Bundeslandwirtschaftsminister Wilhelm Niklas und BMI-Staatssekretär Hans Ritter von Lex getroffenen Übereinkunft, dass die konkrete Kompetenzabgrenzung in Sachen Lebensmittelwesen einvernehmlich geklärt werde.102 Die Bereiche Humanmedizin und Veterinärwesen waren in den 1950er Jahren im BMI zunächst in einer gemeinsamen Struktureinheit zusammengefasst worden, wobei das Schwergewicht auf der Unterabteilung Humanmedizin lag. Interessengruppen, wie etwa die Deutsche Tierärzteschaft, votierten frühzeitig für eine Separierung des Veterinärwesens, die letztlich auch durchgesetzt werden konnte.103 Zu Beginn der 1960er Jahre sah angesichts des Neuaufbaus des Gesundheitsressorts nun auch das Leitungspersonal im Lebensmittelbereich die Chance gekommen, strukturelle Veränderungen in die Wege zu leiten. Der zuständige Referent Werner Gabel, ein Chemiker, der zuvor im BMI tätig gewesen war, übte 1962 harsche Kritik an der nunmehr »12jährigen unfruchtbaren Tiefstapelei« und mangelnden organisatorischen Sichtbarkeit seines Fachgebietes, das bis dahin lediglich in einem Referat zusammengefasst worden war. Aus Sicht Gabels drohte sich diese strukturelle Misere im neuen Gesundheitsressort fortzusetzen.104 Gabel forderte daher vehement die Aufwertung des Lebensmittelwesens zu einer selbstständigen Abteilung. Andernfalls sah er die Gefahr, dass andere innerministerielle Konkurrenten »irreversible Organisationsentwicklungen« auf Kosten seines

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Zur StS-Suche vgl. die Darstellung in Kap. II.1. u. II.2. in diesem Bd. Vgl. auch Kuschel, Gesundheit, S. 322 – 325. Vgl. BA rch, B 142 /5082, Vermerk, 4. 9. 1961, Bl. 3 – 5. Vgl. ebd. Vgl. BArch, B 142 /5082, Vermerk, 6. 2. 1962, Bl. 47 f.

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Bereiches durchsetzten: »Was wir jetzt nicht erreichen, erreichen wir nie mehr«, so Gabels Mahnung im Februar 1962.105 Dieses Votum zeigte, dass die Frontstellung bei innerministeriellen Organisationsfragen zwischen den Expertengruppen im neuen Gesundheitsministerium nicht nur Ärzte und Juristen betraf, sondern auch Chemiker, Veterinärmediziner und Ingenieure. Die Vehemenz der Forderung seitens der Chemiker führte letztlich zum Erfolg: Mit Abteilung II erhielt das BMGes gut ein Jahr nach seiner Gründung eine selbstständige Organisationseinheit, die sich fortan der Lebensmittelhygiene, der gesundheitlichen Ernährungsberatung und dem gesundheitlichen Verbraucherschutz widmete. Das Ringen der Chemiker um eine eigene Abteilung oder die Interventionen der Ärzte gegen einen Juristen als BMGes-Staatssekretär: Beide Fälle demonstrieren wie seit 1949 gewachsene Expertenkulturen und Selbstverständnisse – die in das neue Gesundheitsministerium übergingen – dessen strukturelle Entwicklung beeinflussten bzw. Handlungsfähigkeit und Identität zu beeinflussen suchten. Dabei bleibt es ein durchaus markanter Befund, dass sich die im BMGes tätigen Expertengruppen viele Jahre vor Gründung des Gesundheitsministeriums in ihren damaligen Struktureinheiten zu gleichsam verschworenen Gemeinschaften entwickelt und eine eigene Identität herausgebildet hatten, die sie zunächst tradierten und die Eingang in die Arbeit des BMGes fanden. In den einzelnen jeweiligen Fachabteilungen bestanden Netzwerke und Bekanntschaften, die teils weit in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückreichten. Etwa war der ehemalige Chemiker des Heereswaffenamtes, Wolfdiether Fedde-Woywode, Anfang der 1950er Jahre durch die Empfehlung seines früheren Kollegen und damaligen Referatsleiters im BMI, Werner Gabel, ins Bonner Innenministerium gelangt.106 Sowohl Gabel als auch Fedde-Woywode arbeiteten seit 1961 im BMGes. Besonders ausgeprägt waren Netzwerkstrukturen, persönliche Bekanntschaften und elitäre Selbstverständnisse im Falle der Gesundheitsabteilung des BMI. Es handelte sich hier um Personen, die sich oftmals persönlich seit den 1920er Jahren kannten und ob der Weitläufigkeit der entstandenen Kontakte zu anderen Bundesinstanzen und den Gesundheitsbereichen der Länder deutlich von den übrigen späteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gesundheitsministeriums unterschieden.107 Die »Gruppe Wasser« des BMGes wiederum hatte vor der Zugehörigkeit zum BMGes viermal das Ressort gewechselt und bis 1961 unter anderem dem Bundeswirtschaftsministerium und schließlich auch dem Bundesministerium für Atomfragen 105 Vgl. ebd. 106 Vgl. BA rch, B 189 /26941, Vermerk, 10. 4. 1951. 107 Vgl. vertiefend: Richter, Seilschaften. 100

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unterstanden. Eine so häufig wechselnde Ressortzugehhörigkeit begünstigte die Herausbildung eines eng an das eigentliche Metier der Experten angelehnten Selbstverständnisses und stand der Kultivierung einer demgegenüber stärkeren ministeriellen Amtsidentität des BMGes im Wege.108 Bleibt zu bilanzieren: Das Bundesgesundheitsministerium der 1960er Jahre erschien strukturell weniger wie ein Ministerium, sondern wie drei Häuser, separiert entlang der fachlichen Grenzen seiner großen Abteilungen samt ihren Spezialisten. Ein tatsächlich gemeinsamer ministerieller Korpsgeist des Gesundheitsressorts entwickelte sich in den 1970er Jahren. Er kristallisierte sich nach einer strukturellen wie inhaltlichen Findungsphase heraus und war Ergebnis der mehrjährigen gemeinsamen sachlichen Arbeit des Hauses, etwa hinsichtlich der versuchten Normierung eines neuen eugenisch indizierten Sterilisationsgesetzes, der Auseinandersetzung mit der Krebskrankheit, der Positionierung beim Thema Nikotinprävention oder auch im Zuge einer seit Mitte der 1960er Jahre stetig gewachsenen öffentlichen Beachtung des Umwelt- und Verbraucherschutzes.109 Alle intern in den 1960er Jahren geführten Kontroversen hinsichtlich dieser Themen und die Interaktion des Ministeriums mit Fachgesellschaften, anderen Ressorts, dem Deutschen Bundestag und vor allem auch der Öffentlichkeit speisten einen Findungsprozess des Personals hinsichtlich ihres Amts- und Selbstverständnisses als Angehörige des Gesundheitsministeriums. Lernprozesse wiederum waren es, die Organisationsabläufe und strukturelle Verwaltungstechniken des BMGes seit den 1960er Jahren prägten. Gerade das auf mehrere Standorte verteilte Ministerium war mit einer Vielzahl und in der Form unbekannten formalen Missständen konfrontiert. »Zum, ich glaube, nun vierten Male bitte ich, allen zerstreuten Dienststellen des Hauses durch Hausmitteilung bekanntzugeben, wann und wo der Kurierwagen jeweils abfährt und bis wann und wo die Post zu sammeln ist, die er mitnehmen soll«, so der Leiter der Abteilung II des BMGes spürbar ungehalten im Sommer 1962 gegenüber dem Zentralreferat des Ministeriums.110 Allein der für Ministerien, die in einem Gebäude residierten, üblicherweise banale Akt – nämlich der interne Umlauf von Akten – erwies sich, wie die Episode zeigt, für das stark dezentral organisierte BMGes als eine erhebliche Schwierigkeit. Die permanente Suche nach verbesserten Prozessen interner Arbeitsorganisation war daher ständige Konstante der Entwicklung des Gesundheitsressorts in den 1960er und 1970er Jahren. 108 Vgl. ebs. die Wertung eines Vermerkes des BKA mts im März 1963 in: BA rch, B 136 /4705. 109 Zu den sachpolitischen Schwerpunkten vgl. insgesamt die Darstellung in Kap. III in diesem Bd. 110 Vgl. BA rch, B 142 /2868, Schreiben Abt. II an Ref. Z 3, 29. 8. 1962, Bl. 77. LEITENDES PERSONAL

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Abb. 24 :4ǽ^MIPPIW5SVXV®XZSR'YRHIWKIWYRHLIMXWQMRMWXIVMR*PMWEFIXL Schwarzhaupt beim Studium der Akten einer Umlaufmappe, Bonn, 15. 4. 1965.

Ein ganz wesentliches Moment für den in mehrfacher Hinsicht ab den 1970er Jahren festzustellenden Entwicklungssprung hin zu einer herausgebildeten kollektiven Ministeriumsidentität war der generationelle Wechsel und die Ablösung der Gründergeneration des BMGes ab Ende der 1960er Jahre. Hatte es den »Mitarbeitern der ersten Stunde« oblegen, wie es Elisabeth Schwarzhaupt 1977 rückblickend formulierte,111 Grundsätzliches in den Abläufen und Arbeitsprozessen dieses neuen, sehr heterogenen Ressorts zu entwickeln, so fanden die verschiedenen Berufsgruppen erst bei der zweiten Generation der Beamtenschaft des Gesundheitsministeriums zusammen und verstanden sich selbst als Belegschaft ein und desselben Hauses. Innerministerielle Reflexionsprozesse hinsichtlich der Hypotheken des »Dritten Reiches« waren weder bei der ersten noch der zweiten Generation des Personals auszumachen.

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Vgl. BA rch, N 1177 /42, Schreiben Elisabeth Schwarzhaupts an Walter Bargatzky, 29. 8. 1977. MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

2. Staatssekretäre

Die von Konrad Adenauer nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU / CSU und FDP 1961 getroffene Entscheidung zugunsten eines separaten Bundesministeriums für Gesundheitswesen brachte die parteipolitisch festgelegte Arithmetik der Ministerposten ins Wanken. Denn nunmehr existierte nicht nur ein weiteres Bundesressort, sondern die CDU reklamierte auch dessen Leitungsposten. Die Freien Demokraten erhoben daraufhin ihrerseits Anspruch auf die Besetzung des Staatssekretärspostens im neuen BMGes.1 Zu diesen politischen Kontroversen um die Postenverteilung traten rasch fachliche, da vor allem auch die Besetzung des Amtes des Staatssekretärs, der höchster Beamter der Behörde war, eine für die fachliche Arbeit des Gesundheitsministeriums wichtige Bedeutung besaß. Entsprechend frühzeitig rangen zwei Expertengruppen um Einfluss: Juristen und Mediziner. Nachdem bereits mit der Berufung Elisabeth Schwarzhaupts die Ministeriumsleitung 1961 an eine promovierte Juristin vergeben worden war, berührte die Besetzung des Amtes des Staatssekretärs das Selbstverständnis der Ärzteschaft um so stärker und war für sie nicht rein symbolischer Natur. Die Konflikte zwischen Ärzteschaft, Verbänden, Schwarzhaupt, der FDP und der politischen Leitung im Bonner Kanzleramt waren letztlich dafür verantwortlich, dass sich die Ernennung einer geeigneten Persönlichkeit für dieses Amt mehr als ein Jahr lang verzögerte und die neue Ministerin ob ihres Widerstandes gegen personalpolitische Wünsche des Bundeskanzlers bei Konrad Adenauer »in Ungnade fiel« und dessen Zorn auf sich zog.2 Die Bundesärztekammer (BÄK) hatte gleich nach Ressortgründung im November 1961 in einem Schreiben an Bundeskanzler Konrad Adenauer ihre Forderung nach einem Mediziner mit konkreten und aus ihrer Sicht geeigneten Personalvorschlägen untermauert, und zuallererst den vormaligen Leiter der Gesundheitsabteilung im BMI und neuen Leiter der Abteilung I des BMGes Josef Stralau vorgeschlagen.3 Zudem brachte die BÄK zwei weitere prominente Mediziner ins Gespräch: Klaus Dehler, Mitglied des Bayrischen Landtags und Neffe des Bundestagsvizepräsidenten Thomas Dehler, sowie Rolf Schlögell, Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen 1 Zu den Absprachen in Zuge der Koalitionsverhandlungen vgl. Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 49 – 51; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 269. 2 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 269; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 3 Vgl. BA rch, B 136 /4705, Schreiben der BÄK an Bundeskanzler Adenauer, 9. 12. 1961. STAATSSEKRETÄRE

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Bundesvereinigung.4 Die Freien Demokraten schlugen ihrerseits zunächst den gesundheitspolitischen Sprecher der Berliner FDP vor, den Arzt Gerhart Habenicht. Auch Franz Klose, der Präsident der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, früherer Präsident des Bundesgesundheitsamts und ehemaliger Leiter der Gesundheitsabteilung im BMI, brachte 1962 gegenüber dem Bundeskanzleramt weitere Mediziner als Kandidaten ins Spiel.5 Die neue Ministerin – Dr. jur. Elisabeth Schwarzhaupt – befand hingegen, dass es zwar gut sei, wenn der Staatssekretär Arzt wäre. Eine solche berufsspezifische Qualifikation sei jedoch keine zwingende Voraussetzung für das Amt, da »seine Aufgabe […] nicht eine ärztliche« sei.6 Entsprechend lehnte die Ministerin einige ärztliche Kandidaten wegen fehlender Verwaltungserfahrung ab; andere verzichteten von selbst.7 Mit Walter Bargatzky wurde schließlich ein Jurist und Experte für den Bereich der »Öffentlichen Sicherheit« ins Amt des BMGes-Staatssekretärs berufen. Damit endete nach Vermittlung des Chefs des Bundeskanzleramts, Hans Globke, eine zwischen Elisabeth Schwarzhaupt und Konrad Adenauer zunehmend eskalierte Auseinandersetzung in dieser Personalfrage, nachdem die Ministerin vehement den von der FDP vorgeschlagenen Mediziner abgelehnt und dies wiederum zu einer ernstzunehmenden Verstimmung innerhalb der Regierungskoalition geführt hatte.8 Schwarzhaupt hielt den Juristen Bargatzky als Verwaltungsexperten grundsätzlich für eine ideale Besetzung, um die vielfältigen Probleme dieser erst im Entstehen begriffenen obersten Gesundheitsbehörde des Bundes anzugehen.9 Auch waren gesundheitspolizeiliche Fragen der Gefahrenabwehr traditionell Aufgaben der Gesundheitsverwaltung gewesen und Bargatzky, als Experte für die Innere Sicherheit, war mit ihnen vertraut. Dennoch stieß seine Berufung unter Medizinern auf harsche Kritik – auch ministeriumsintern. Der unterlegene Kandidat und Leiter der Abteilung I des BMGes, Josef Stralau, resümierte den Ausgang der Debatte um die Besetzung des Staatssekretärspostens mit einem Juristen im März 1964 merklich erbittert. Dem Generaldirektor des schwedischen Gesundheitsministeriums gab Stralau nicht nur zu verstehen, dass er als Arzt eine juristische Doppelspitze des BMGes für inopportun hielt, sondern drückte auch die Hoffnung auf eine baldige Änderung des misslichen 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. BA rch, B 136 /4705, Schreiben Franz Kloses an Kanzleramtsminister Hans Globke, 14. 12. 1962. 6 Vgl. BA rch, B 145 I F/146, Fiche 126, Elisabeth Schwarzhaupt auf einer Pressekonferenz, 27. 9. 1962. 7 Vgl. Woelk, Aspekte, S. 456; Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 51. Vgl. ebs. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 8 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 9 Vgl. ebd. 104

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Zustandes aus. Er schrieb, das Ministerium werde »z. Z.« von einer »Frau Dr. jur. Elisabeth Schwarzhaupt als Politikerin« geführt.10 Stralau betonte daraufhin nochmals dezidiert die als Interimslösung zu verstehende Besetzung des Ministeramtes mit einem bzw. einer Juristin. Im Übrigen, so Stralau weiter, handele es sich auch bei Schwarzhaupts »Stellvertreter, StS Bargatzky« um einen Juristen. Aber, so Stralau: »Die derzeitige Besetzung der leitenden Stellungen des Hauses mit Nichtärzten schließt nicht aus, daß zu einem späteren Zeitpunkt einmal eine oder beide dieser Stellen mit Ärzten besetzt werden.«11 Abteilungsleiter Stralau stimmte in seiner Kritik mit den Vertretern der medizinischen Fachgesellschaften überein, die in einem Nichtmediziner als Staatssekretär eine »nicht gerechtfertigte Kränkung und Zurückstellung« erblickten, wie die Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege das Bundeskanzleramt Anfang Januar 1963 wissen ließ.12 Heinz Reuter, Präsident der Akademie für Staatsmedizin in Düsseldorf, brachte es mit Blick auf die Weltgesundheitsorganisation, in der sämtliche leitenden Stellen mit Ärzten besetzt seien, nochmals deutlicher auf den Punkt. Angesichts der Personalentscheidung im BMGes 1964 fragte er öffentlich, warum von der Politik »unter 80.000 Ärzten in der Bundesrepublik kein einziger Arzt als geeignet angesehen werde, den Posten eines Gesundheitsministers oder eines Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium zu bekleiden?«13

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Am Nachmittag des 7. Januar 1963 bestätigte Adolf Michaelis, Pressereferent des BMGes, vor der Bundespressekonferenz die Meldung vom Morgen: Nach einer mehr als einjährigen Blockade hatten Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt und Bundeskanzler Adenauer einen Kompromiss bei der Suche nach einem Staatssekretär gefunden und sich auf die Berufung Walter Bargatzkys verständigt. Der erste Zuruf aus den Reihen der anwesenden Journalisten: »Von der Sicherheit zur Gesundheit« brachte die Personalie auf den Punkt.14 10 Zum Zit. vgl. BA rch, B 142 /3614, Schreiben des BMGes an das schwedische Gesundheitsministerium, 11. 3. 1964. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. BA rch, B 136 /4705, Schreiben der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege an das BMGes, 4. 1. 1963. 13 Zit. n.: Woelk, Aspekte, S. 457. Zum Einfluss medizinischer Experten in der internationalen Gesundheitspolitik, so auch in den Gremien der WHO, vgl. Zimmer, Welt, insbes. S. 183 – 197. 14 Vgl. BA rch, B 145 I F/149, Protokoll der Pressekonferenz, 7. 1. 1963. STAATSSEKRETÄRE

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Abb. 25 : Walter Bargatzky, Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheitswesen, 1963.

Bargatzky, bisher Ministerialdirigent im Bundesinnenministerium, hatte die dortige Abteilung Öffentliche Sicherheit bzw. die Abteilung Ziviler Bevölkerungsschutz geleitet. Sein Name war mit Fragen der Inneren Sicherheit, dem Bundesgrenzschutz und dem zivilen Bevölkerungsschutz eng verbunden. Auch der berufliche Werdegang vor 1945 und der bis zum Eintritt ins BMI waren mit dem Thema Sicherheit verknüpft gewesen.15 Fragt man, was den promovierten Juristen Walter Bargatzky zuallererst für den neuen Posten im Gesundheitsressort qualifizierte, so war es seine langjährige Verwaltungserfahrung. Sie garantierte, aus Sicht von Ministerin Schwarzhaupt, dass er die Verwaltung des Bundesgesundheitsministeriums rasch »in die Hand« bekam und es »zu leiten« vermochte.16 Auch rückblickend bewertete Schwarzhaupt die Entscheidung zugunsten Bargatzkys positiv und attestierte ihm, er habe beim organisatorischen und personellen Aufbau des Ministeriums eine »tadellose Leistung« vollbracht.17 Bargatzkys Berufung entsprach zudem durchaus den polizeilichen Logiken des staatlichen Gesundheitswesens mit ihren Traditionen in der »Medizinalpolizei« und dem Fokus auf der Gefahrenabwehr.18 15 Vgl. u. a. Kuschel / Rigoll, Verwaltung, S. 364; Rigoll, Kampf, S. 476; Diebel, Ausnahmezustand, S. 505 f. 16 Vgl. BA rch, B 145 I F/146, Fiche 126, Ministerin Schwarzhaupt auf der Pressekonferenz, 27. 9. 1962, sowie Schwarzhaupts Kommentar in: BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 17 Vgl. BA rch, N 1177 /1, Schreiben Elisabeth Schwarzhaupts an Victoria Steinbiss, 13. 12. 1966. 18 Vgl. Lenhard-Schramm, Land, S. 88 – 100; Weidner, Profession, S. 213 – 217. 106

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Walter Bargatzky, geboren 1910 in Baden-Baden, zählte zu jenen »Männern des Wiederaufbaus«19, die nach Kriegsende 1945 das Vertrauen der West-Alliierten gewannen, mit wichtigen Ämtern betraut wurden und die die Verwaltungsarbeit in der jungen Bundesrepublik prägten. Die Zuschreibung, für den Wiederaufbau in besonderer Weise geeignet zu sein, hatte sich Bargatzky zunächst in der Zeit von Mai bis September 1945 erworben, als er im sogenannten Camp 71 unter Arrest stand. Das Internierungslager 71 in Ludwigsburg-Grünbühl war im Mai 1945 von den US -Amerikanern in einem ehemaligen Barackenlager für französische Kriegsgefangene errichtet worden.20 Curtis G. Ward, Offizier der US -Streitkräfte im Internierungslager 71, hatte im Falle Bargatzkys 1945 vermerkt, er gehöre »jener seltenen Gruppe von Deutschen an, die dank ihrer geistigen Fähigkeiten und ihrer weiten kosmopolitischen Gesichtspunkte sehr gut geeignet sind, Regierungsbeamter für den Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands zu werden«.21 Bargatzkys Werdegang vor 1945 stand zu keinem Zeitpunkt seiner weiteren Verwendung in der Nachkriegszeit entgegen. Nach einem Rechtsstudium in Heidelberg und Berlin absolvierte er 1932 bis 1935 den juristischen Vorbereitungsdienst, zunächst bei der Polizeidirektion Baden-Baden, ab 1933 bei der Staatsanwaltschaft Freiburg im Breisgau und nach 1934 beim Amtsgericht Baden-Baden sowie bei einem Rechtsanwalt in der Stadt. Zwischen 1935 und 1937 war Bargatzky als Gerichtsassessor am Oberlandesgericht Karlsruhe tätig, bevor er 1937 in das Berliner Reichsministerium der Justiz wechselte. 1937 wurde Bargatzky Mitglied der NSDAP und fungierte kurzzeitig als Blockleiter der Partei, von 1933 bis 1937 war er Angehöriger der SA .22 Nachdem er zum Kriegsdienst einberufen worden war, wurde Bargatzky aus dem Reichsjustizministerium im Juli 1940 nach Frankreich abkommandiert. Als Mitarbeiter im Verwaltungsstab beim Militärbefehlshaber in Paris war er in der »Gruppe Justiz« tätig.23 Wenige Wochen nach seiner Ankunft hatte Bargatzky am 26. August 1940 einen Vermerk mit dem Titel 19 Der Begriff wird hier typologisch genutzt, um jene Gruppe von Personen zu beschreiben, die in der Gründungszeit nach 1945 /49 eine prägende Rolle spielten. Vgl. Palm / Stange, Vergangenheiten. Der Ausdruck war aber auch ein bereits zeitgenössisch 1945 verwendeter Begriff, vgl. etwa die Bildmappe mit Zeichnungen des Malers Ferry Ahrlé mit Porträts führender Kommunalpolitiker der sowjetisch besetzten Zone unter dem Titel: Männer des Wiederaufbaus, vgl. Magistrat der Stadt Berlin, Männer. 20 Vgl. BA rch, PERS 101 /88855, Fragebogen, o. D., ca. 1945. Zum Camp 71 vgl. u. a. Müller, Internierungslager, S. 171 – 195. 21 Vgl. BA rch, PERS 101 /88855, Fragebogen, o. D., ca. 1945. 22 Vgl. ebd.; BA rch, R 9361-IX KARTEI, 1410721. 23 Vgl. die Angaben in: BA rch, PERS 101 /88855. STAATSSEKRETÄRE

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»Die Behandlung von Juden im besetzten Gebiet« verfasst. Wie andere Juristen im Nationalsozialismus auch, hatte er bestehende Gesetze, in diesem Fall die Haager Landkriegsordnung (HLKO), für die Argumentation zugunsten der Vertreibung und Entrechtung von Juden herangezogen. In seinem Vermerk hieß es: »Da alle gegen Juden als solche und nur gegen Juden ergriffenen Maßnahmen praktisch sich nicht nur gegen eine rassische, sondern auch konfessionelle Gruppe richten, sind sie nach Art. 46 HLKO insoweit zulässig, als sie mit dem Gebot der Sicherheit begründet werden.«24 Bargatzky erklärte im Weiteren die »antideutsche Gesinnung der Juden und die daraus entspringende Gefahr für die Besatzungsangehörigen« zu einem Sicherheitsrisiko und führte dies als Argument für die »Ausweisung« der Juden an.25 Zu seiner Arbeit in der Pariser Militärverwaltung äußerte sich Bargatzky mehrfach nach Kriegsende, so etwa in einem Ermittlungsverfahren 1966. In seinem Büro im Bundesgesundheitsministerium von Kölner Ermittlern aufgesucht, war Bargatzky als Zeuge gemäß des gefertigten Protokolls auch zur »großen Judenrazzia im Juli 1942« in Paris befragt worden. Seinerzeit waren an zwei Tagen etwa 13.000 Juden verhaftet und anschließend deportiert worden. Der Vermerk der Staatsanwaltschaft Köln hielt fest: »Der Zeuge konnte sich nicht erinnern.«26 Trotz Bargatzkys Erinnerungslücken steht der Befund fest, dass seine Tätigkeit in Paris antisemitische Verfolgungsmaßnahmen rechtlich legitimierte und er damit der Entrechtung, Ausweisung, Deportation und in letzter Konsequenz Ermordung jüdischer Menschen Vorschub leistete. Jedoch war es Bargatzky gelungen, sich nach 1945 in den Unterstützerkreis des 20. Juli zu rücken und seine Nähe zum militärischen Widerstand gegen Hitler glaubhaft zu machen, auch wenn er nach dem 20. Juli 1944 in seiner Stellung in Paris verblieben war.27 Walter Bargatzky war in der frühen Bundesrepublik ein gefragter Zeitzeuge, der Auskunft über das »Dritte Reich« gab. So wurde er in den 1950er Jahren für das »Institut für Besatzungsfragen« über den Kunstraub im besetzten Frankreich interviewt. Das Institut, das sich bis zu seiner Auflösung 1960 mit Forschungen zur deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs beschäftigte, sammelte Erinnerungen all jener, die dabei eine aktive Rolle gespielt hatten. Über den Kunstraub im besetzten Frankreich hatte Walter Bargatzky nach eigenen Angaben im Januar 1945 in Süddeutschland bereits einen Bericht verfasst, den späteren sogenannten Bargatzky-Bericht, der 24 Vgl. BA rch, B 141 /88307, Vermerk, 26. 8. 1940. Vgl. ebs. Lambauer, Antisemitismus, S. 249 u. den dortigen Hinweis auf den Vermerk. 25 Vgl. BA rch, B 141 /88307, Vermerk, 26. 8. 1940. Vgl. ebs. Kuschel / Rigoll, Verwaltung, S. 294. 26 Vgl. BA rch, B 141 /88307, Vermerk, 16. 6. 1966. 27 Vgl. Kuschel / Rigoll, Verwaltung, S. 294; Lambauer, Antisemitismus, S. 200. 108

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die Dienststelle des Militärbefehlshabers in Frankreichs entlasten und eine Abgrenzung der Arbeit der Gruppe »Kunstschutz« vom Kunstraub durch den Einsatzstab Rosenstab belegen sollte.28 In jedem Fall war Bargatzky sehr daran gelegen, seine Sicht auf die deutsche Besatzung in Frankreich darzustellen und versicherte, das »Institut bei seinen Arbeiten in jeder nur denkbaren Weise zu unterstützen«.29 Beispielhaft fasste eine solche »Zeitzeugenmeinung« Erich Behr zusammen, ehemaliger Verantwortlicher der militärischen Besatzung des polnischen »Generalgouvernements« ab 1939. Er dankte dem Institut für sein Interview und resümiert zynischahistorisch: »Wir waren zwar auch ›Besatzer‹, aber solche mit Herz«; eine Formulierung, die auch Walter Bargatzky unterschrieben hätte.30 Noch in seinen 1987 veröffentlichten Erinnerungen tradierte Bargatzky ein Schuld und Verbrechen von Wehrmacht und NS -Regime verharmlosendes Narrativ. Nichtsdestotrotz wurde das Werk unter dem Titel »Hotel Majestic« – vormals Sitz des Stabes der deutschen Militärverwaltung in Frankreich – lange Zeit unkritisch als Quelle für die Zeit der 1940er Jahre gelesen und nicht adäquat analysiert, auch nicht von der historischen Forschung. Erst Bernhard Brunner beleuchtete das Thema 2004 differenziert und wies Bargatzkys Bestreben nach, den geschichtsrevisionistischen Mythos von der »Trennung in unschuldige Wehrmacht« und »schuldige« SS -Einheiten aufrechtzuerhalten.31 Wie auch Brunner betont, verstand es Bargatzky nach 1945 /49, sich als der »gute Deutsche« darzustellen, der die französische Kunst und Kultur schätzte und fern aller Verbrechen des NS -Regimes stand. Diese Selbstinszenierung Bargatzkys kommt in einer anekdotenhaften Episode par excellence zum Ausdruck, die sich in seinen Erinnerungen findet: Als Ende August 1944 alliierte Truppen Paris befreiten, war der Militärstab bereits auf dem Rückzug. Gleichwohl ließ es sich Bargatzky nicht nehmen, auf dem Weg zum Rhein einen Umweg nach Reims zu fahren, um aus der dortigen Kellerei »Veuve Clicquot« eine Kiste Champagner zu besorgen – für die Bargatzky angeblich regulär bezahlte und auch einen Transportschein der Wehrmacht erhielt. Anschließend setzte der Konvoi – einem Urlaubsausflug gleich – seine Fahrt bei herrlichem Wetter in »offenen Militärfahrzeugen« fort, weshalb ein nasses Stück Stoff um die Champagnerflaschen gewickelt werden musste, um sie im Fahrtwind zu kühlen.32 28 Zum »Bargatzky-Bericht« vgl. Treue, Kunstraub, S. 285 – 337, mit einer Dokumentation des Berichts. 29 Vgl. BA rch, B 120 /568, Vermerk, 26. 7. 1954. 30 Vgl. BA rch, B 120 /568, Behr an Tobler, 12. 8. 1955. 31 Vgl. Brunner, Frankreich-Komplex, S. 379 – 382, Zit. S. 381. 32 Vgl. Bargatzky, Hotel, S. 158. STAATSSEKRETÄRE

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Die ausführliche Schilderung der grotesken Szene, mit der Bargatzky seine Erinnerungen enden lässt, unterfüttert die Deutung von der Banalität der deutschen Besatzung in Frankreich, einer militärischen Fremdherrschaft, bei der angeblich die Deutschen – zumindest jene wie Bargatzky – anständig geblieben waren und ordnungsgemäß gehandelt hatten. Kampf, Tod, Deportation und Verbrechen fehlten in Bargatzkys Episoden, wie auch der gesamte militärische Kontext von Zweitem Weltkrieg, Besatzung und Rückzug nur schemenhaft erkennbar war. Dies half, eine scheinbar »zivile« Funktion der Militärverwaltung zu suggerieren. In Bargatzkys Erinnerungen findet sich mithin genau jene Beschreibung, die Konrad Adenauer mit dem Kriterium der »Anständigkeit« umrissen hatte.33 Die 1987 veröffentlichten Erinnerungen im Buch »Hotel Majestic« stellten den Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Biografiekonstruktion dar, die Walter Bargatzky bereits kurz nach Kriegsende begonnen hatte, als er sich als »Mann des Wiederaufbaus« inszenierte und Gedanken über die Zukunft Deutschlands verfasste. Seine erste diesbezügliche Schrift »Schöpferischer Friede« erschien 1946.34 Darin beschwor Bargatzky das Ende der Nation und die Vision eines größeren Staatenbundes, dem sich Deutschland anschließen solle: »Daher sollten wir allen Ernstes die Möglichkeit ins Auge fassen, eines Tages dem weiteren Verband irgendeines der Siegesstaaten, des britischen Empire etwa, der Vereinigten Staaten oder des französischen Reiches anzugehören.«35 Dabei verstand es Bargatzky, sich nicht nur auf die Seite der westalliierten Siegermächte zu schlagen, sondern auch sein altes Netzwerk aus der Zeit der Pariser Militärverwaltung innerhalb der bundesdeutschen Politik zu nutzen und auszubauen. So gab es seit den 1950er Jahren regelmäßig Zusammenkünfte der ehemaligen Mitarbeiter der Pariser Militärverwaltung.36 Bargatzky traf sich etwa nach eigener Aussage häufig mit Elmar Michel, dem ehemaligen Chef der Abteilung Wirtschaft der Militärverwaltung.37 Als Michel 1953 der Prozess in Frankreich wegen wirtschaftlicher Ausplünderung drohte, meldete sich Bargatzky zu Wort. Gegenüber Bundesjustizminister Thomas Dehler erklärte er: »Eine öffentliche Schuldfeststellung würde somit nicht nur das Ansehen des früheren Reichsressorts, sondern auch der ihm angehörenden Beamtenschaft in Mitleidenschaft ziehen, ein großer Teil

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Vgl. Brunner, Frankreich-Komplex, S. 254. Vgl. Bargatzky, Friede. Vgl. ebd., S. 42. Zum Netzwerk ehemaliger Mitarbeiter der Pariser Militärverwaltung vgl. Brunner, Frankreich-Komplex, S. 255. Vgl. auch Meyer, Täter, S. 124, 392. 37 Vgl. BA rch, B 120 /257, Vermerk, 26. 7. 1954. 110

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dieser Beamten aber befindet sich heute im Dienst der Bundesregierung.«38 Die »Solidargemeinschaft des ›Majestic‹« (Bernhard Brunner) hielt und Michel wurde in Abwesenheit freigesprochen.39 Zwei Jahre nach »Schöpferischer Friede« folgte 1948 Bargatzkys Schrift »Smuts«, mit der er sich für die Mitarbeit in höheren Ämtern eines kommenden westdeutschen Staates empfahl. »Smuts« hatte Bargatzky zunächst als Rede vor der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn am 6. Februar 1948 gehalten und über den »Sieg eines Besiegten« sinniert.40 Er plädierte dafür, den »Weg mit dem Sieger, wenn er gleichen Geistes ist«, zu gehen, und dies nicht als Schmach, sondern als »Zeugnis der Würde« zu begreifen.41 Bargatzky führte dieses Plädoyer am Beispiel Jan Christiaan Smuts’ aus, der britischer Feldmarschall und von 1919 bis 1924 bzw. 1939 bis 1948 Premierminister der »Südafrikanischen Union« gewesen war. Smuts hatte in dieser Eigenschaft Gesetze zur verstärkten Rassentrennung und Diskriminierung Schwarzer erlassen.42 Doch Bargatzky lobte ihn hinlänglich dafür, die »Einheit der Weißen« gefördert und den »geringeren Rang der Farbigen« erkannt zu haben.43 Für Bargatzky lag in diesen zwei Maximen – »Einheit der Weißen und der geringere Rang der Farbigen« – der Schlüssel zum Erfolg des Projektes einer europäischen Union, mit dem er sich bereits in seiner Schrift von 1946 befasst hatte. Auch damals hatte er sich gefragt: »Wo ist unser Gefühl für den Unterschied der weißen und der farbigen Völker geblieben, für den Aufstand der gelben Rasse, für den Todesschatten, den das östliche Asien auf Europa warf ?«44 Zwei Jahre später beschwor Bargatzky in »Smuts« die »kontinentale Verwandtschaft« der Europäer, die höher stehe als die eigene Nationalität und die in der Abgrenzung zum Fremden bewusst werde.45 Diese Verwandtschaft habe man sträflich vergessen, da die »Festlandseuropäer, zumal wir Deutsche, […] den fremden Erdteilen zu fern gestanden [hätten], um in ihr haßerfülltes Antlitz zu sehen«.46 Smuts’ Beispiel erinnere die weißen Europäer, so Bargatzky, an die »natürliche Standesordnung der

38 Vgl. BA rch, B 305 /337, Bargatzky an Dehler, 3. 2. 1953, Zit. b. Brunner, FrankreichKomplex, S. 112. Vgl. ebs. Kuschel / Rigoll, Broschürenkrieg, S. 364. 39 Vgl. Brunner, Frankreich-Komplex, S. 111 – 114, Zit. S. 254. 40 So der Untertitel bei: Bargatzky, Smuts. 41 Vgl. ebd., S. 37. 42 Vgl. u. a. Lentin / Sharp, Smuts. 43 Vgl. Bargatzky, Smuts, S. 31. 44 Vgl. Bargatzky, Friede, S. 37. 45 Vgl. Bargatzky, Smuts, S. 31. 46 Vgl. ebd. STAATSSEKRETÄRE

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Menschheit«; »dieser Ruf [sei] niemals so dringend gewesen wie heute, vor den heranbrausenden Wogen der asiatischen Welt«.47 Bargatzkys Traktat konstruierte 1948 eine rassische Minder- bzw. Höherwertigkeit von Menschen und forderte einen europäisch gewendeten Nationalismus, der das weiße Europa vor allem Fremden schütze. Bargatzky macht in »Smuts« einen Akteur zum Maßstab politischen Handelns, der maßgeblich das Apartheidregime Südafrikas vorangetrieben hatte. Aus Sicht Bargatzkys mahnte das Beispiel Smuts, sich gegen die »heranbrausenden Wogen der asiatischen Welt« zu wappnen. Die offen rassistischen Ausführungen waren jedoch salonfähig. Sie waren – gewendet nunmehr auf die »Einheit der Weißen« mit dem Ziel einer europäischen Einigung – zugleich anschlussfähig an eine Politik, die nur drei Jahre zuvor mit der bedingungslosen Kapitulation endete. Bargatzky selbst hätte vermutlich bestritten in der Tradition der rassistischen Weltanschauung der NS -Ideologie zu stehen, die aber wiederum ihren Ausgang in der »Rassenlehre« nahm. Menschengruppen als höher- und minderwertig zu klassifizieren, hatte eine lange Tradition.48 Aber selbst im Angesicht der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus blieb die Behauptung von der Ungleichwertigkeit der Menschen nicht nur in den Köpfen bestehen, sondern sie war 1948 sagbar und fand auch Zuspruch – nicht zuletzt, weil Bargatzky einen Weg aufzeigte, wie mit der Niederlage umzugehen war. Bargatzky hatte »Smuts« gleich nach dem Erscheinen des Buches an Herbert Blankenhorn gesandt, der bis 1945 im Auswärtigen Amt und ab 1946 als Sekretär des Zonenbeirats der britischen Besatzungszone tätig war; 1949 wurde er Persönlicher Referent von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Blankenhorn bedankte sich bei Bargatzky nach der Lektüre von »Smuts« und antwortete ihm, das Buch sei »für uns Deutsche in der heutigen Lage eine rechte Herzerfrischung«, es zeige »mit großer Anschaulichkeit die Kräfte, die aus der Niederlage zur Neugestaltung des Lebens wachsen können«.49 Blankenhorn wünschte dem Buch weitgehende Verbreitung. Vermutlich wurde es auch von Konrad Adenauer rezipiert. Zumindest kündigte Blankenhorn Bargatzky an, er werde es Adenauer auf dessen bevorstehende Reise in die Schweiz mitgeben und vermutete, auch Adenauer werde die Lektüre »eine besondere Freude machen«.50 Bemerkenswert ist, dass Blankenhorn Bargatzky in eben jenem Brief seine Sorgen mitteilte, kein geeignetes Personal für die nach Abschluss 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. u. a. Müller-Hill, Selektion; Baader / Schultz, Medizin; Klee, Medizin; Schwartz, Metamorphosen; Dörner, Nationalsozialismus; Zmarzlik, Sozialdarwinismus. Vgl. ebs. die Darstellung in Kap. III.2. in diesem Bd. 49 Vgl. BA rch, N 1351 /236, Blankenhorn an Bargatzky, 6. 10. 1948. 50 Vgl. ebd. 112

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der Arbeit des Parlamentarischen Rates anstehenden neuen staatlichen Aufgaben zu finden. Die Last liege auf der »ältesten Generation« der 50bis 70-Jährigen, denn die »mittlere Generation« falle aus – entweder seien Angehörige dieser Alterskohorte »auf den Schlachtfeldern verblutet oder politisch belastet«.51 Den damals 38-Jährigen Bargatzky rechnete Blankenhorn offenkundig nicht zu den politisch Belasteten, sondern schloss seinen Brief mit der Aufforderung, sich über personalpolitische Fragen bald einmal zu unterhalten.52 Walter Bargatzky hatte mit seinem Werben um Anstellung im Bundesdienst Erfolg. 1950 wurde er im Bundesinnenministerium tätig, wo er schließlich rasch zum Leiter der Abteilung für »Öffentliche Sicherheit« bzw. für »Zivilen Bevölkerungsschutz« aufstieg.53 Als sich Bargatzky ein Jahr nach Eintritt ins BMI öffentlich in einem Leserbrief in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) zu den Vorzügen der Monarchie als Staatsform äußerte,54 zog dies zwar keine disziplinarrechtlichen Konsequenzen nach sich, jedoch stand Bargatzky fortan bei Adenauer »unter Bewährung«.55 Gegenüber der Öffentlichkeit verlegte sich Walter Bargatzky als Autor folgerichtig auf unverfänglichere Themen: 1952 erschien »Mein Pudel Katja« – Bargatzkys Liebeserklärung an seinen Hund.56 Misstrauen erweckte Walter Bargatzky ob seiner Biografie dennoch – außerhalb der Bonner Ministerialverwaltung. 1957 wurde Bargatzkys Vergangenheit im Herausgebergremium der FAZ thematisiert. Geschäftsführer Werner Hoffmann hatte dem Gründer der FAZ und langjährigem Herausgeber Erich Welter »sehr, sehr streng vertraulich« über Bargatzky und über das von ihm verfasste »inkriminierende Buch« berichtet: »Schöpferischer Friede«.57 Welter berichtete wiederum in einem Brief an den Mitherausgeber Hans Baumgarten, was er von Hoffmann über den Werdegang Bargatzkys erfahren hatte: Dieser sei in der Rechtsabteilung des Militärbefehlshabers in Paris tätig gewesen und hätte Akten dieser Zeit den Amerikanern übergeben. Dafür habe er einen »wunderbaren Persilschein« erhalten, woraufhin er »Polizeipräsident von Frankreichs Gnaden in Freiburg« geworden sei.58 Über seinen Wechsel ins Bundesinnenministerium befand man: »[D]er leider nicht übertrieben kluge Herr 51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch Stange, Bundesministerium, S. 55. Vgl. BA rch, N 1351 /236, Blankenhorn an Bargatzky, 6. 10. 1948. Vgl. Rigoll, Kampf, S. 481 f. Vgl. Walter Bargatzky: Wieder Monarchie, in: FAZ , 24. 8. 1951, S. 5. Vgl. Diebel, Ausnahmezustand, S. 521. Vgl. Bargatzky, Pudel. Vgl. BA rch, N 1314 /293, Welter an Baumgarten, 28. 8. 1957. Vgl. ebd. Zu Welter vgl. Siering, Zeitung, S. 44 f.; Schildt, Medien-Intellektuelle, S. 147 f.

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Abb. 26 : Titelblatt des Buches »Mein Pudel Katja« von Walter Bargatzky, 1952.

Lehr [Bundesinnenminister Robert Lehr] nahm ihn zu sich«, und im BMI sei Bargatzky anschließend »verschiedene Stufen heraufgerutscht«.59 Welter schloss seinen Brief an Baumgarten mit der Bemerkung, das Werk »Schöpferischer Friede« sei ein Buch, »in dem sich dieser Mann vor den Siegermächten geradezu im Staube wälzt« und bat Baumgarten, »der Sache nachzugehen«.60 Gerade die 1946 von Bargatzky formulierte Absage an einen deutschen Nationalstaat hatte Unmut geweckt.61 Ebenso kann ein Grund für das Misstrauen in Bargatzkys Nähe zu den West-Alliierten im Selbstverständnis der FAZ -Gründer gesehen werden: Sie hatten sich mit ihrer neuen Zeitung als »Gegenentwurf zur Lizenzpresse« verstanden.62 Bargatzkys Karriere nach 1945 – vom Polizeidirektor von Baden-Baden und Direktor der Verwaltungsgerichte Baden-Baden und Freiburg ins BMI und schließlich zum Staatssekretär im BMGes – schadete weder das Unken im Herausgebergremium der FAZ , er habe sich »vor den Siegermächten geradezu im Staube [ge-]wälzt«, noch die Irritationen über den Leserbrief mit Einlassungen zur Monarchie; ebenso wenig Bargatzkys offen rassistische Auslassungen über die Minderwertigkeit Farbiger. Schließlich schadeten auch Angriffe der DDR-Propaganda seiner Karriere nicht. Dass Bargatzky 59 60 61 62 114

Vgl. BA rch, N 1314 /293, Welter an Baumgarten, 28. 8. 1957. Vgl. ebd. Vgl. die angestrichenen Passagen im Anhang des Schreibens in: BA rch, N 1314 /293. Vgl. Schildt, Medien-Intellektuelle, S. 148. MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

zum Ziel dieser wurde, ist nicht überraschend. In zahlreichen Kampagnen versuchte die SED -Führung zweierlei zu beweisen: Zum einen sollte der bundesdeutsche Staatsapparat als von »Nazis« durchsetzt präsentiert werden, zum anderen waren die Angriffe auch immer eine Selbstvergewisserung des »antifaschistischen Staates«. Bargatzky gehörte in den Augen der SED -Führung zu »Globkes braunem Schattenkabinett«, wie es im Untertitel einer Broschüre über die Staatssekretäre der Bundesministerien hieß.63 Darin wurde Bargatzky als »Nazi-Ideologe« bezeichnet, dem die SED Propagandisten fälschlicherweise vorhielten, vor 1945 im Reichsinnenministerium tätig gewesen zu sein, wobei sie zugleich seinen Ernennungsvorschlag des Reichsjustizministeriums als Faksimile abgedruckt hatten.64 Die Ausführungen zu Bargatzky zielten vor allem auf seine Tätigkeit als Leiter der Abteilung für zivilen Bevölkerungsschutz im BMI ab und schlossen mit der Feststellung, dass er »ein Feind des Humanismus und des Friedens, ein Gesinnungsschnüffler und Notstandspraktiker« sei, der im BMGes »nicht auf diesen Posten« gehöre.65 Auch im DDR-»Braunbuch« von 1968 fand Walter Bargatzky Erwähnung.66 Walter Bargatzky muss ob seiner Vita vor und nach 1945 als eine stark ambivalente Persönlichkeit eingeschätzt werden, gilt es, sein Handeln als Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium unter Elisabeth Schwarzhaupt zwischen 1963 und 1966 zu bewerten. Als technischer Verwaltungsexperte war er der Juristin Schwarzhaupt persönlich sympathischer als ein von ihr – mangels fachlicher Eignung – abgelehnter Mediziner.67 Die Ministerin wollte einen »erfahrenen Bürokraten« um die vielfältigen Schwierigkeiten bei der Neukonstituierung des BMGes bewältigen zu können; medizinische Fachkenntnisse waren für die Lösung der organisatorisch-strukturellen Herausforderungen sowie Probleme einer Kompetenzabgrenzung und inhaltlich-sachlichen Verortung des Ressorts aus Sicht Schwarzhaupts weder erforderlich noch erfolgversprechend.68 Dass zwei Personen mit grundverschiedenen NS -Biografien – hier Bargatzky als Teil der antisemitischen Verfolgung in Frankreich ab 1940, dort Schwarzhaupt, nach 1933 beruflich diskriminiert und Verlobte eines emi63 64 65 66

Vgl. Ausschuss für deutsche Einheit, Notstands-Exekutive. Vgl. ebd., S. 43 – 46, Zit. S. 45. Vgl. ebs. Kuschel / Rigoll, Broschürenkrieg, S. 364. Vgl. Ausschuss für deutsche Einheit, Notstands-Exekutive, S. 46. Vgl. Nationalrat, Braunbuch (1968), S. 466. Vgl. ebs. Kuschel /Rigoll, Broschürenkrieg, S. 364. 67 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f. 68 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. STAATSSEKRETÄRE

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grierten jüdischen Arztes –69 ab 1963 so eng und vertrauensvoll erfolgreich zusammenarbeiteten, wie Schwarzhaupt mehrfach selbst bezeugt,70 bleibt ein zunächst paradoxer Befund. Nachvollziehbarer wird er allein dann, unterstellt man eine Schwarzhaupt durch Bargatzkys Arbeit und Mithilfe tatsächlich zuteilgewordene Entlastung – bei einer von der Ministerin als »zutiefst undankbaren« und »konfliktbehafteten Aufgabe«: nämlich dem Aufbau eines neuen Gesundheitsministeriums.71 Durchaus widersprüchlich mutet – vor dem Hintergrund der 1946 bzw. 1948 von Bargatzky verfassten rassistisch-nationalistischen Traktate – dessen Plädoyer im Jahr 1965 zugunsten einer den NS -Zwangssterilisierten zu gewährenden Entschädigung an. Eine Position, die weder innerhalb des BMGes mehrheitsfähig war noch der zeitgenössischen Gesellschaftsauffassung entsprach.72 Auch wenn diese Haltung keinen signifikanten Einfluss auf eine tatsächliche Entschädigungspraxis hatte, fungierte Walter Bargatzky offenkundig auch und gerade im innerministeriellen Streit mit Abteilungsleiter Josef Stralau 1964 /65 als Gegenpol und Bremser bei der Neufassung eines eugenisch indizierten Sterilisationsgesetzes. Er erschwerte es Stralau, die in der Tradition der Rassenhygiene stehenden Entwürfe innerhalb des BMGes durchzusetzen.73 Ob das Motiv hinter diesem Agieren politisches Taktieren oder eine moralische Überzeugung war, bleibt mangels Quellenbelegen unklar. Mit dem Wechsel an der Spitze des BMGes 1966 endete Bargatzkys Dienstzeit und er bat am 1. Dezember 1966 die soeben vereidigte neue sozialdemokratische Ministerin Käte Strobel um seine Versetzung in den Ruhestand.74 Strobel besetzte das Amt des Staatssekretärs mit Ludwig von Manger-Koenig. Im Gegensatz zu Bargatzky war dieser nicht nur Mitglied der SPD, sondern Arzt und im hessischen Landesdienst erfolgreicher Gesundheitspolitiker gewesen.

69 Zur Biografie Schwarzhaupts vgl. u. a. Drummer / Zwilling, Elisabeth Schwarzhaupt; Marquardt, Politik, S. 143 – 178; Metzler, Schwarzhaupt, Elisabeth, S. 27 f.; Schwarzhaupt, Lebensbericht; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. Vgl. ebs. die Darstellung in Kap. II.3. in diesem Bd. 70 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 71 Zur Position Schwarzhaupts vgl. ebd.; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f., sowie die Darstellung in Kap. II.3. in diesem Bd. 72 Zur Position Bargatzkys vgl. BA rch, B 189 /738, Vermerk, 29. 1. 1965. Zum Kontext insgesamt vgl. die Darstellung in Kap. III.2. in diesem Bd. 73 Zu den Kontroversen vgl. die Darstellung in Kap. III.2. in diesem Bd. 74 Vgl. BA rch, N 1177 /23, Schreiben Walter Bargatzkys an Käte Strobel, 1. 12. 1966. 116

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Ludwig von Manger-Koenig : Der erste Mediziner

»Man muß dazu noch wissen, daß dieses Gesundheitsministerium unter CDU-Leitung zwei Juristen hatte, und zwar waren Frau Ministerin Schwarzhaupt und der damalige Staatssekretär Bargatzky Juristen. Es war immer kritisiert worden, daß in der Leitung kein Mediziner ist. Ich war mir klar darüber, daß ich als Staatssekretär einen Mediziner berufe, und das ist dann auch geschehen.«75 So kommentierte Käte Strobel, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, in einem Interview 1970 rückblickend eine zentrale personelle Entscheidung: Die zu Beginn des Jahres 1967 erfolgte Ernennung Ludwig von Manger-Koenigs zum Staatssekretär im BMGes. Dieser Personalwechsel im Amt des Staatssekretärs, von Walter Bargatzky hin zu von Manger-Koenig, war aus zwei Gründen hoch politisch und wurde öffentlich ausführlich kommentiert. Zum einen stand die Parteizugehörigkeit des neuen Staatssekretärs zur Sozialdemokratie im Mittelpunkt der Kritik, unterstellten Vertreter der freien Ärzteschaft von Manger-Koenig die Absicht, einen bundesdeutschen »Staatsgesundheitsdienst« nach Vorbild der DDR errichten zu wollen.76 Besondere Aufmerksamkeit erregte die Personalie aber auch deshalb, weil erstmals seit Gründung des Bonner Gesundheitsressorts 1961 ein Mediziner eine Leitungsfunktion an der Spitze des Hauses ausübte. Beendet war damit eine lange, bereits in der Weimarer Republik grundsätzlich geführte Debatte darüber, ob ein so spezielles Ressort, wie das für Gesundheit, überhaupt von »Verwaltungsexperten« wie Juristen geführt werden könne, oder ob diese Aufgabe nicht vielmehr zwingend nur Ärzten übertragen werden müsse.77 Dass es 1967 mit Käte Strobel eine sozialdemokratische Ministerin war, die demonstrativ einen Mediziner in der obersten Leitungsebene des Bundesgesundheitsministeriums installierte, stand in einer gewissen Tradition mit der schon in den 1920er Jahren vonseiten der USPD klar artikulierten Forderung, ein Reichsgesundheitsministerium könne qua Zuständigkeit nur von einem Mediziner adäquat geführt werden.78 Mit von Manger-Koenig berief Käte Strobel Ende der 1970er Jahre einen ausgewiesenen Experten der seit 1949 entwickelten öffentlichen bundesdeutschen Gesundheitspolitik zum Staatssekretär des BMGes: Ludwig Koenig 75 Vgl. BA rch, B 189 /3024, Sendemanuskript des WDR , 27. 4. 1970, Bl. 258. 76 Vgl. Ein Arzt verärgert die Ärzte, in: Süddeutsche Zeitung, 13. 12. 1968. Vgl. auch Woelk, Gesundheit, S. 458. 77 Vgl. u. a. Kuschel, Gesundheit, S. 319 f. Vgl. ebs. Reichstag, Protokolle, 1. LP 1920 /1922, 86. Sitzung, 16. 3. 1921, S. 3033. 78 Vgl. Reichstag, Protokolle, 1. LP 1920 /1922, 86. Sitzung, 16. 3. 1921, S. 3033; Kuschel, Gesundheit, S. 319 f. STAATSSEKRETÄRE

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Abb. 27 : Ludwig von Manger-Koenig, Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, 1972.

wurde 1919 in Koblenz geboren, wo sein Vater als Staatsanwalt tätig war.79 Nachdem seine Mutter, die dem katholischen Koblenzer Adelsgeschlecht von Manger entstammte, 1927 durch Adoption ihren ursprünglichen Namen wiederannehmen konnte, wechselte die Familie ihren Nachnamen von Koenig zu von Manger-Koenig.80 Ludwig von Manger-Koenig wuchs gemeinsam mit seinen beiden Brüdern zunächst in Koblenz und ab 1933 im westfälischen Hagen auf, wo sein Vater am Landgericht tätig war.81 Nach bestandener Abiturprüfung leistete er ab 1937 zunächst Arbeits- und Wehrdienst und studierte ab 1940 in Marburg Humanmedizin. Bis 1945 durch verschiedene Kriegseinsätze unterbrochen, legte von Manger-Koenig dort auch 1947 sein Staatsexamen ab. 1948 wurde er an der Universität Marburg mit einem Thema über die ärztliche Schweigepflicht promoviert. Sein 1946 begonnenes rechtswissenschaftliches Studium beendete Ludwig von Manger-Koenig 1949.82 Nach bestandener medizinischer Staatsexamensprüfung absolvierte von Manger-Koenig zunächst in Marburg die für die Approbation geforderte 79 Vgl. u. a. die biografischen Angaben in: BA rch, PERS 101 /81443, sowie unter www. ehrenbreitstein.de/dahl/personen/manger (1. 7. 2021). 80 Vgl. die Angaben unter: www.ehrenbreitstein.de/dahl/personen/manger (1. 7. 2021). 81 Vgl. die Angaben in: BA rch, PERS 101 /81443, sowie unter: www.ehrenbreitstein. de/dahl/personen/manger (1. 7. 2021). 82 Vgl. die Angaben in: BA rch, PERS 101 /81443. 118

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sogenannte Pflichtassistentenzeit. An der Universitätsklinik war er anfänglich der Chirurgie und später der Universitätsfrauenklinik zugeordnet.83 Als Kliniker trat der Arzt von Manger-Koenig aber nur kurze Zeit in Erscheinung. Bereits unmittelbar nach seiner Approbation wechselte Ludwig von Manger-Koenig 1950 in den hessischen Landesdienst und übernahm zunächst als Referent und später als Abteilungsleiter die Zuständigkeit für die Krankenhausangelegenheiten sowie den Bereich des »Öffentlichen Gesundheitswesens« im Innen- bzw. Sozialministerium von Hessen.84 Von Manger-Koenig profilierte sich in den 1950er Jahren inmitten einer veritablen politischen wie epidemiologischen Ausnahmesituation bundesweit im Kontext der geplanten Impfung gegen die Kinderlähmung (Poliomyelitis) als Krisenmanager und routinierter Gesundheitspolitiker: Herausgefordert durch eine Anfang der 1950er Jahre fortwährend auftretende Häufung von Polioinfektionen und bedrängt durch eine aggressive Kampagne der DDR , mit der das Ost-Berliner Regime versuchte, den in Washington und Moskau gemeinsam entwickelten und im sowjetischen Einflussbereich zugelassenen Polioimpfstoff als politische Waffe innerhalb des Ost-West-Konfliktes und im Kampf gegen die Bonner »Alleinvertretungsanmaßung« propagandistisch zu instrumentalisieren, waren Bundesund Landesregierung dringend auf amerikanische Impfstoffe und Erfolge in der westlichen Impfstoffforschung angewiesen.85 Wie »eine Bombe«, so von Manger-Koenig in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«, sei daher auch im Frühjahr 1955 die Meldung eingeschlagen, dass in den Vereinigten Staaten Kinder durch den in den USA entwickelten Impfstoff mit aktiven Polioviren infiziert worden waren und schwer erkrankten.86 Damit stand die bundesdeutsche Poliopolitik 1955 – nicht zuletzt in Anbetracht des sowjet-sozialistischen Vorsprungs – vor einem gravierenden medizinischen Problem, denn es fehlte ein wirksamer und sicherer Impfstoff. Zudem war die Auslieferung eines in den Marburger Behring-Werken entwickelten Polioimpfstoffes fast zeitgleich mit der Meldung schwerwiegender Zwischenfälle in den USA gestoppt worden, nachdem es in einem Hamburger Kontrolllabor nach Verabreichung des Impfstoffes im Tierversuch zu ungeklärten Krankheitsfällen gekommen war.87 83 Vgl. die Angaben in: ebd. 84 Vgl. die Angaben in: ebd. 85 Zur deutsch-deutschen Konfrontation im Hinblick auf Polio vgl. insgesamt Lindner, Umgang, S. 124 – 129; dies., Gesundheitspolitik, S. 236 – 257; Thießen, Gesellschaft, S. 218 f. Vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /54. 86 Vgl. das Interview mit Ludwig von Manger-Koenig: Der Spiegel, Kinderlähmung – impfen oder nicht?, in: Der Spiegel, 17 /1957. 87 Vgl. Lindner, Gesundheitspolitik, S. 241, sowie das Interview mit Ludwig von Manger-Koenig: Der Spiegel, Kinderlähmung – impfen oder nicht?, in: Der Spiegel, 17 /1957. STAATSSEKRETÄRE

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Von Manger-Koenig war während dieser gesundheitspolitischen Krise für die – neben dem Bundesgesundheitsamt und der Gesundheitsabteilung des BMI – dritte maßgebliche staatliche Stelle tätig, die im Grunde sogar die eigentlich zentrale war: das hessische Innen- und Sozialministerium.88 Denn aufgrund der im Land Hessen liegenden Behring-Werke hatte das Ressort nicht nur die Erlaubnis zur Produktion des Impfstoffes erteilt, der bereits ausgeliefert war, aber im Tierversuch zu ungeklärten Krankheitsfällen geführt hatte, sondern von jenem Ministerium waren auch die gesamten Prüfungsvorschriften für das Poliopräparat ausgearbeitet und erlassen worden.89 Diese Krise rund um den westdeutschen wie amerikanischen Polioimpfstoff Mitte der 1950er Jahre – beide Vakzine beruhten im Wesentlichen auf identischen Wirkmechanismen – ließ einen bereits im Kontext der von Hessen erteilten Erlaubnis zur Impfstoffproduktion zwischen dem BGA sowie dem Robert Koch-Institut (RKI) einerseits und der Landesregierung sowie den Marburger Behring-Werken andererseits eskalierten Konflikt wiederaufleben. Im Kern ging es dabei um die Frage, inwiefern private Wirtschaftsunternehmen staatliche Gesundheitspolitik dominieren durften – und welche Grenzen der Einflussnahme gelten mussten. Dass der leitende Medizinalbeamte des hessischen Innenministeriums Hans von Behring, der zugleich als Vorstand der Behring-Werke fungierte, im November 1954 die amtliche Erlaubnis zur Produktion des westdeutschen Polioimpfstoffes erteilt hatte, war auf Bundesebene und vor allem seitens des BGA sowie des RKI harsch kritisiert worden.90 Der öffentliche Druck und die Verunsicherung im Zusammenhang mit der Frage, ob der westdeutsche und der amerikanische Polioimpfstoff sicher waren, wuchsen Mitte der 1950er Jahre stetig an, wobei es nun zunehmend Ludwig von Manger-Koenig war – 1955 zum Leiter der Abteilung für Öffentliches Gesundheitswesen im hessischen Innen- bzw. Sozialministerium ernannt –, der sich der Kritik öffentlich stellte und um Vertrauen für die Impfstoffe warb.91 Tatsächlich entwickelte das Land Hessen bis Anfang der 1960er Jahre nicht nur eine besonders rege und umfassende Kampagne zur Erhöhung der Impfbereitschaft und Aufklärung der Bevölkerung über mögliche Impfrisiken bezüglich Polio,92 sondern von Manger-Koenig war 88 Vgl. Lindner, Gesundheitspolitik, S. 241; Thießen, Gesellschaft, S. 210 – 212. 89 Vgl. das Interview mit Ludwig von Manger-Koenig: Der Spiegel, Kinderlähmung – impfen oder nicht?, in: Der Spiegel, 17 /1957. 90 Vgl. Thießen, Gesellschaft, S. 268 – 272. Zur Auseinandersetzung mit dem BGA vgl. auch die Aussagen Ludwig von Manger-Koenigs im Interview mit dem »Spiegel«: Der Spiegel, Kinderlähmung – impfen oder nicht?, in: Der Spiegel, 17 /1957. 91 Vgl. u. a. ebd. 92 Vgl. Thießen, Gesellschaft, S. 210 – 212. 120

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Abb. 28 : BMG es-Staatssekretär Ludwig von MangerKoenig (Bildmitte) während der Sitzung des Bundeskabinetts, Bonn, 18. 10. 1967.

am Ausgang der Polioimpfstoffkrise Ende der 1960er Jahre im hessischen Landesdienst zu einem der führenden Medizinalbeamten aufgestiegen. Zudem profilierte er sich ab 1963 als Professor für Sozialhygiene an der Universität Frankfurt a. M. und ab 1964 an der Freien Universität Berlin.93 Als Staatssekretär im Bonner Gesundheitsressort wirkte von MangerKoenig vor allem auf zwei Arbeitsgebieten: der Reform der Krankenhausfinanzierung und dem Ausbau einer transnationalen Gesundheitspolitik durch die Foren der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bzw. der stärkeren Integration und Verzahnung der bundesdeutschen Gesundheitspolitik in sich globalisierende Entwicklungszusammenhänge. Von Manger-Koenig zählte innerhalb des BMGes zu den wichtigsten Beratern und Unterstützern der von Ministerin Käte Strobel zu Beginn ihrer Amtszeit auf die Agenda des Bundesgesundheitsministeriums gesetzten umfassenden Reform der Krankenhausfinanzierung. Die letztlich in langen Verhandlungen mit den Ländern erreichte neue strukturelle Grundlage 93 Vgl. die Angaben im Nachruf auf Ludwig von Manger-Koenig in: Sozialer Fortschritt, 32 (1983), S. 142, sowie in: BA rch, PERS 101 /81443. STAATSSEKRETÄRE

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für die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser der Bundesrepublik mithilfe des Krankenhauspflegegesetzes war Ende der 1960er Jahre eine zentrale innenpolitische Reformmaßnahme der sozialliberalen Regierung.94 Von Manger-Koenig hatte die Bemühungen aufgrund seiner bereits in Hessen in den 1950er Jahren auf diesem Gebiet gesammelten Erfahrungen und detailreichen Fachkenntnisse engagiert und routiniert begleitet und koordiniert. Er war für Strobel diesbezüglich ein unverzichtbarer Experte gewesen.95 Bereits seit 1967 war Gesundheitsstaatssekretär von Manger-Koenig vor allem aber auch in die Kooperation und Arbeit der Bundesrepublik mit der WHO involviert. Dem Aus- bzw. Auf bau einer transnationalen Gesundheitspolitik galt hierbei sein besonderes Augenmerk.96 Jenseits der fachlich-politischen Fortschritte und prägenden Wirkung von MangerKoenigs auf diesem Gebiet geriet ab Anfang der 1970er Jahre und vor allem nach Ausscheiden aus dem Amt des Staatssekretärs 1973 seine Beratungstätigkeit für das BMJFG als Sachverständiger bzw. »medizinischer Sonderberater« der Bundesrepublik bei der WHO in die Kritik.97 Die Debatte rund um die von Manger-Koenig zugesprochene Höhe der Vergütung drängte die Frage nach der Wirkung seiner Arbeit in den Hintergrund, die zweifelsohne in vielen Bereichen Grundlagen und Standards für die internationale Einbindung und das Agieren der Bundesrepublik im globalen Gesundheitskontext definierte und mit prägte. Immerhin war Ludwig von Manger-Koenig für mehr als zehn Jahre im Auftrag der Bundesregierung in Genf als Experte im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation tätig. Eine wichtige und bislang nicht hinreichend untersuchte Phase der transnationalen bundesdeutschen Gesundheitspolitik am Ende des Kalten Krieges – mit der WHO als Zentrum und Schnittmenge und der sich zwischen West- und Ost-Block in den 1970er und 1980er Jahren veränderten Kooperation im Gesundheitsbereich.98 94 Zur Reform u. der koordinierenden Rolle von von Manger-Koenig vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /3959. Zur Reform u. den Kontroversen vgl. auch: BA rch, B 136 /5251, Schreiben Käte Strobels an Bundeskanzler Kiesinger, 30. 3. 1967; BA rch, B 136 /5251, Protokoll der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrates, 19. 6. 1968; BA rch, B 136 /5251, Kabinettsbeschluss zur Grundgesetzänderung, März 1968; AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 58, Ansprache Käte Strobels vor der Vollversammlung des BGR , 8. 1. 1972. 95 Zur Rolle von Manger-Koenigs vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /3959. 96 Vgl. Manger-Koenig, Gesundheitspolitik. 97 Vgl. u. a. Der Spiegel: Pfründe geschaffen, in: Der Spiegel, 32 /1973, S. 28. Zu den Verträgen vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 101 /81445 u. BA rch, PERS 101 /81446. 98 Zur transnationalen bundesdeutschen Gesundheitspolitik im Allgemeinen u. dem Plädoyer zur Ausweitung der diesbezüglichen Forschung vgl. Thießen, Gesellschaften, S. 124 – 141. 122

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3. Ministerinnen

Die Berufung von Elisabeth Schwarzhaupt zur ersten Bundesministerin und zugleich ersten Frau an der Spitze des Bonner Gesundheitsressorts war 1961 alles andere als selbstverständlich. Als Helene Weber und andere Frauen der CDU / CSU-Bundestagsfraktion im Zuge der Koalitionsverhandlungen zwischen den beiden Unionsparteien und der FDP 1961 Bundeskanzler Konrad Adenauer an sein Versprechen aus früheren Jahren erinnerten, eine Frau an den Kabinettstisch holen zu wollen, ist die Reaktion von Adenauer kolportiert: »Was sollen wir mit einer Frau im Kabinett? Dann können wir nicht mehr so offen reden.«1 Konrad Adenauer hatte bereits bei der Kabinettsbildung 1957 die Hoffnung genährt, einer Frau die Leitung eines Ministeriums übertragen zu wollen.2 Vier Jahre später schienen die Koalitionsverhandlungen auf dasselbe Ergebnis hinauszulaufen: Nach Abschluss aller Gespräche 1961 hatte Adenauer erneut keine Frau als Ministerin berücksichtigt.3 Anders als vier Jahre zuvor setzte nun jedoch innerhalb der Unionsparteien unter den prominentesten weiblichen Mitgliedern energischer Protest ein und formierte sich Widerstand gegen diese aus ihrer Sicht politische Fehlentscheidung Adenauers. Noch bevor endgültig die Koalitionsverhandlungen für beendet erklärt wurden, sammelte sich eine Gruppe von CDU-Politikerinnen um Helene Weber am Bonner Dienstsitz des Kanzlers, dem Palais Schaumburg, und blockierte demonstrativ den Sitzungssaal, in dem Adenauer und die Freien Demokraten verhandelten. Nach Stunden des Wartens und Taktierens wurde letztlich eine Delegation zu Adenauer vorgelassen. Sie erreichte die definitive Zusage des Bundeskanzlers, dass eine Frau dem neuen Kabinett angehören werde. Von Helene Weber war im Gespräch mit Adenauer die damalige CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Elisabeth Schwarzhaupt, als erste Bundesministerin vorgeschlagen und vom Bundeskanzler informell bestätigt worden, mit einer Zuständigkeit für das erst noch zu bildende Gesundheitsressort.4

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Zit. n.: Der Spiegel: Bis zur Bahre, in: Der Spiegel, 48 /1961. Vgl. Bösch, Macht, S. 240 – 242. Vgl. Körner, Männer-Republik, S. 44 – 47. Vgl. ebd.; Woelk / Halling, Gründung, S. 87 f.; Drummer / Zwilling, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 91; Ille, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 36 f.; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f.

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Abb. 29 : Altbundeskanzler Konrad Adenauer im Gespräch mit Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt, Bonn, 9. 8. 1965.

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Die von Helene Weber und Konrad Adenauer Auserkorene war weder im Vorfeld von CDU-Frauen gefragt worden, ob sie ein Amt als Ministerin antreten wolle, noch war Schwarzhaupt begeistert, das neue BMGes zu führen.5 Ganz im Gegenteil: Schwarzhaupts pointiertes Urteil lautete rückblickend 1983: »Der Gedanke, ein neues Ministerium zu übernehmen, mit umstrittenen Zuständigkeiten, mit Aufgaben, in die ich mich erst einarbeiten mußte, reizte mich wenig, aber ich hatte keine Wahl. Wenn ich absagte, war es wieder mit einer Frau im Kabinett aus, und ich hätte dafür die Verantwortung getragen. Das konnte ich den Frauen nicht antun, diese Möglichkeit zu einem kleinen Schritt vorwärts in ihrer Beteiligung an führenden politischen Aufgaben auszuschlagen. Also übernahm ich ein Ministerium, das es noch nicht gab, in dem Bewußtsein, eine von meinen Kolleginnen schwer erkämpfte Alibifrau zu sein.«6 Schwarzhaupt empfand das ihr zugefallene Amt 1961 als große Bürde, wie sie nachträglich auch in einem Interview im September 1985, wenige Monate vor ihrem Tod, offen eingestand. Zu groß waren die potenziellen 5 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 266 f. 6 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 267. 124

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Konflikte mit anderen Ministerien um die Abgrenzung der Kompetenzen des neuen BMGes, zu »undankbar« die Aufgabe, dieses neue Ressort aus dem »Nichts« auf bauen zu müssen.7 Motive ihres Entschlusses, erste Ministerin in einem Bundeskabinett werden zu wollen, waren weder ein Interesse an Gesundheitspolitik noch – und dies ist nicht minder bemerkenswert – parteipolitische Überlegungen. Schwarzhaupt empfand die Aufgabe vielmehr als emanzipatorische Verpflichtung und zwar gegenüber allen Frauen, gleich welcher Partei.8 Von der Öffentlichkeit unbemerkt, verband die promovierte Juristin Elisabeth Schwarzhaupt eine persönlich tragische und ihr Leben prägende Beziehung zum sachlichen Gegenstand des von ihr nun ab Herbst 1961 geführten Ressorts: War Schwarzhaupt doch bis 1939 über gut zehn Jahre hinweg mit einem jüdischen Arzt verlobt gewesen, der 1933 in die Schweiz emigrieren musste. Als bei Kriegsbeginn 1939 die Fortsetzung ihres im Geheimen aufrechterhaltenen Privatlebens unmöglich wurde, ihre vorangegangenen Versuche, Arbeit und Auskommen in der Schweiz zu finden, endgültig gescheitert waren und ihr Verlobter in die Vereinigten Staaten ausreisen musste, löste Elisabeth Schwarzhaupt die Verlobung – verwand diesen persönlichen Verlust aber zeitlebens nie und blieb allein und kinderlos.9 Das »Dritte Reich« hatte Elisabeth Schwarzhaupt aber nicht nur in dieser Hinsicht geprägt, sondern auch ganz unmittelbar beruflich zurückgeworfen, war sie doch aufgrund ihres Geschlechts 1934 von den Nationalsozialisten aus dem höheren Justizdienst entfernt worden.10 Schwarzhaupt blickte bei Amtsantritt im BMGes 1961 mithin auf eine vielfach bewegte Biografie zurück: Elisabeth Emma Sophie Schwarzhaupt wurde im Januar 1901 in der Freien Reichsstadt Frankfurt a. M. geboren. Sie war das erste Kind des damaligen Schulrates und späteren preußischen Landtagsabgeordneten der Deutschen Volkspartei Wilhelm Schwarzhaupt und seiner Frau Frieda, Spross einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie.11 »Man lebte und dachte demokratischer als im Norden und Osten des damaligen Deutschlands. Die Grenzen zwischen Bürgern und Arbeitern, Christen und Juden, Reichen und Armen waren durchlässiger als anderswo«, so Elisabeth Schwarzhaupts 7 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 36 – 46; Marquardt, Politik, S. 153 – 156. Vgl. ebs. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 10 Vgl. u. a. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 36 f.; BA rch, B 198, Ton078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 11 Vgl. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 19 – 22; Marquardt, Politik, S. 143 – 147; Metzler, Schwarzhaupt, Elisabeth, S. 27. Vgl. ebs. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 241 – 243. MINISTERINNEN

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rückblickendes Urteil über die in Frankfurt erlebte Kindheit, wo sie mit ihrem 1903 geborenen Bruder und ihren Eltern aufwuchs.12 In ihren autobiografischen Werken macht sie keinen Hehl daraus, Teil einer konservativ-bürgerlichen, gut situierten Familie gewesen zu sein, deren politische Einstellung Schwarzhaupt mit »national, liberal und kaisertreu« charakterisiert.13 Mit »liberal« meint Elisabeth Schwarzhaupt vor allem die in ihrem Elternhaus erlebte Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen und sozial Schwächeren sowie eine religiöse Toleranz gegenüber dem Judentum. Besonders prägend für Schwarzhaupt war zugleich das seitens ihrer Tante mütterlicherseits gezeigte Engagement in der frühen Frauenbewegung.14 Koordinate ihrer Erziehung war darüber hinaus der christliche Glaube, der den Lebensweg der Protestantin Schwarzhaupt entscheidend beeinflusste.15 Elisabeth Schwarzhaupt legte 1920 in Frankfurt ihr Abitur ab und absolvierte anschließend auf Drängen ihres Vaters die Prüfung zur Lehrbefähigung. Ein sofortiges Studium der Germanistik und Philosophie lehnten ihre Eltern ab. Schwarzhaupts Wunsch, »Journalistin« zu werden, erachteten sie als »brotlose Kunst« und bestanden zunächst auf einer soliden beruflichen Basis.16 1921 beschloss Schwarzhaupt Rechtswissenschaften zu studieren, um Richterin zu werden; »mein Vater«, so Schwarzhaupt in ihrem Lebensbericht, »stimmte zu, obgleich damals Frauen noch nicht zum Richteramt zugelassen wurden; aber er verließ sich darauf, daß dies bald kommen würde, und daß Juristinnen auch in der Verwaltung in den kommenden Jahren Chancen hätten.«17 Gerade die 1920er Jahre der Weimarer Republik erlebte Elisabeth Schwarzhaupt als Phase eines enorm großen emanzipatorischen Fortschritts. Die eingeleitete Zeitenwende bedeutete auch, dass Frauen beruflich innerhalb des Justizdienstes in höheren Positionen tätig werden konnten. Diese Erfahrungen standen den eher ernüchternden und enttäuschenden Erlebnissen der 1960er Jahre der Bundesrepublik gegenüber, so Schwarzhaupts Fazit in einem Interview 1985.18 Anfang der 1920er Jahre schien es einer Frau möglich zu sein, das Amt einer Jugend- oder Vormundschaftsrichterin zu übernehmen. Und Elisabeth 12 Vgl. ebd., S. 241. 13 Vgl. ebd., S. 241 f. 14 Vgl. Marquardt, Politik, S. 143 – 147; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 19 – 22; Vgl. ebs. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 241 f. 15 Vgl. Marquardt, Politik, S. 143 – 148; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 20 f. 16 Vgl. ebd., S. 23 – 29; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 244 f.; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 17 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 244 f. 18 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 126

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Schwarzhaupt bereitete sich intensiv auf diese Aufgabe vor. Nach Ablegung des ersten juristischen Staatsexamens begann sie ihr Referendariat am Kammergericht Berlin.19 Sie hatte bereits während des Studiums, aus dem Bedürfnis heraus, »Menschen und Leben anderer sozialer Schichten« kennenzulernen und sich damit für das Richteramt zu qualifizieren, ehrenamtlich an verschiedenen Rechtsschutzstellen gearbeitet. Hier beriet Schwarzhaupt Frauen in familien-, zivil- oder strafrechtlichen Belangen und war unmittelbar mit einer oftmals gewalttätigen und Frauenrechte missachtenden Lebenswirklichkeit konfrontiert, die ihr ausgehend von ihrer eigenen Sozialisation völlig fremd war.20 Schwarzhaupts in dieser Tätigkeit gezeigtes »frühes Engagement für die Rechte der Frauen« prägte ihre Arbeit als Parlamentarierin der CDU in den 1950er Jahren und auch ihr Amtsverständnis als Bundesministerin für Gesundheit, das sie – obwohl hierfür sachlich nicht zuständig – selbst auf den simplen Nenner brachte, »Klagemauer und Gesprächspartner der Frauen« gewesen zu sein, vor allem mit Blick auf den 1961 beginnenden Contergan-Skandal.21 Das Engagement zugunsten der Frauenrechte war es auch, das Schwarzhaupt Ende der 1920er Jahre zur Gegnerin des Nationalsozialismus werden ließ. Die von der NSDAP verbreitete »plumpe Propaganda«, mitsamt einer »empörenden« Zurückweisung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie einer klischeebehafteten weiblichen Rollenzuschreibung brachten – so Elisabeth Schwarzhaupt – die von ihr 1932 verfasste Schrift »Was hat die deutsche Frau vom Nationalsozialismus zu erwarten?« hervor.22 Darin äußerte sich Schwarzhaupt dezidiert kritisch gegenüber den von der NSDAP als vermeintliche »Errungenschaft« propagierten ideologischen Ideale zur Rolle der Frau im neuen deutschen Staat, insbesondere der von der Partei Hitlers vorgebrachten Meinung, Frauen dürften weder in Politik noch Justiz oder der Wirtschaft eine herausgehobene Funktion bekleiden oder gar über Männer richten und entscheiden.23 Durchaus mutig trat Elisabeth Schwarzhaupt Anfang der 1930er Jahre NS -Propagandisten entgegen und scheute auch vor einer direkten Kon19 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 245 f.; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 30 f. 20 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 245 f.; Marquardt, Politik, S. 149 – 151. 21 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 267 – 274; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 75 – 87; Marquardt, Politik, S. 162 – 178. Zum Contergan-Skandal vgl. Mecking, Gesundheitsabteilung, S. 117 – 134; Lenhard-Schramm, ConterganSkandal; ders., Land. Vgl. ebs. Crumbach, Sprechen. 22 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. Vgl. ebs. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 33 – 35; Marquardt, Politik, S. 152 f. Zur Schrift vgl. Schwarzhaupt, Frau. 23 Vgl. Schwarzhaupt, Frau, S. 1 – 22. MINISTERINNEN

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frontation mit ihnen nicht zurück. So vertrat sie 1932 ihre emanzipatorisch-feministischen Thesen auf zwei NSDAP-Veranstaltungen, auf denen sie – von SA-Trupps inszeniert – demonstrativ »niedergeschrien« wurde und letztlich jeweils unter Protest gegen diese Debattenkultur den Saal verließ.24 Obwohl nicht Mitglied der Partei, war Schwarzhaupt hierbei als Vertreterin der Deutschen Volkspartei (DVP) in Erscheinung getreten, der Partei ihres Vaters. Vonseiten der DVP hatte sie auch einen aus mehreren Männern bestehenden Begleitschutz erhalten, als sie sich vor den NSDAP-Mitgliedern äußerte.25 Der Antritt der Reichsregierung von Kanzler Adolf Hitler setzte für Elisabeth Schwarzhaupt Ende Januar 1933 eine tiefe berufliche wie private Zäsur: Sie verlor nicht nur ihre berufliche Anstellung im höheren Justizdienst Preußens und die Aussicht, Richterin zu werden, da das NS -Regime Frauen den Zutritt in dieses Amt kategorisch verwehrte, sondern auch ihr Privatleben geriet aus den Fugen. Ihr zukünftiger Ehemann, mit dem sie seit den 1920er Jahren verlobt war, musste aufgrund seines jüdischen Glaubens das Land verlassen und emigrierte in die Schweiz.26 Ohne Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft in Deutschland und entlassen aus dem Justizdienst, schreibt Schwarzhaupt über das Jahr 1933: »In diesem ersten Jahr des Dritten Reichs waren innerhalb kurzer Zeit meine persönlichen und meine beruflichen Hoffnungen zerschlagen und unsere Familie zu einem sehr eingeschränkten Lebenszuschnitt gezwungen.«27 Zur Heirat kam es letztlich nie, und Schwarzhaupt musste resigniert ob der politisch provozierten Umstände 1939 die Verlobung lösen; blieb in Deutschland, während ihr langjähriger Partner in die USA auswanderte.28 Beruflich hatte sie 1936 /37 – nach abgeschlossener juristischer Promotion 1935 – in Berlin Anstellung im Rahmen der evangelischen Kirche gefunden und übte eine rechtsberatende Tätigkeit für die Kirchenkanzlei aus. 1939 war Schwarzhaupt als erste Frau zur Konsistorialrätin und 1944 zur Oberkonsistorialrätin ernannt worden, stand während der Zeit des »Dritten Reiches« der »Bekennenden Kirche« nahe.29 Nach Kriegsende 1945 blieb Elisabeth Schwarzhaupt für die evangelische Kirche tätig und wurde 1947 in dem von Pastor Martin Niemöller verant24 25 26 27 28

Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. Vgl. ebd. Vgl. u. a. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 36 – 46. Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 248. Vgl. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 36 – 46; BA rch, B 198, Ton078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 248. 29 Vgl. Metzler, Schwarzhaupt, Elisabeth, S. 27 f.; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 51 – 59. 128

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worteten »Kirchlichen Außenamt« juristische Referentin.30 Einen Beitritt zur CDU schloss Schwarzhaupt lange Zeit aus. Zu unvereinbar mit dem christlichen Glauben erschien ihr das christliche Bekenntnis einer säkularen Instanz wie einer Partei.31 1952 wurde Schwarzhaupt von CDU-Politiker Hermann Ehlers, dem damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags, zur Mitarbeit im Bonner Parlament für die CDU aufgefordert; Schwarzhaupt kannte Ehlers von der gemeinsamen Arbeit im Verfassungsausschuss der Evangelischen Kirche Deutschlands.32 Er habe ihr, so Schwarzhaupt, die Arbeit im Parlament »als sinnvoll, lebendig und fruchtbar« dargestellt und darauf verwiesen, dass man besonders Juristinnen benötige; wichtig sei zudem, das »politische Feld nicht allein den katholischen Freunden« zu überlassen.33 Ausschlaggebendes Motiv für den letztlich von Schwarzhaupt vollzogenen Parteieintritt in die CDU und ihre Kandidatur zur Bundestagswahl 1953 war jedoch die stagnierende Gesetzgebung zur Aufwertung der Frauenrechte.34 Auch die von Schwarzhaupt in der Schärfe nicht geteilte Kritik der evangelischen Kirche an den Prämissen der damaligen Außen- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung begünstigte möglicherweise Schwarzhaupts Entschluss zum Wechsel in die Politik.35 Als Parlamentarierin und Mitglied des Rechtsausschusses des Bundestags setzte sich Elisabeth Schwarzhaupt ab der 1953 beginnenden 2. Legislaturperiode energisch für die Reform des Bürgerlichen-, Familien- und Eherechts ein.36 Ganz besonders prominent in Erscheinung trat sie mit Blick auf die Einführung der »Zugewinngemeinschaft« sowie die Änderung des Paragrafen 48 des Ehegesetzes, der ursprünglich vorsah, dass Männer nach drei Jahren Getrenntlebens ohne Rücksicht auf ein Verschulden der Frau geschieden werden konnten.37 Bei der Bundestagswahl 1957 errang Schwarzhaupt ein Direktmandat in ihrem Wiesbadener Wahlkreis und wurde im Anschluss zur stellvertretenden Vorsitzenden der CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag gewählt.38 Als »frauenpolitische Abweichlerin« hatte sich Schwarzhaupt in den 1950er 30 Vgl. Metzler, Schwarzhaupt, Elisabeth, S. 28; Drummer /Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 67 – 69. 31 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 32 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 257; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 33 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 257. 34 Vgl. ebd., S. 258 f.; BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. Vgl. ebs. insgesamt: Holz, Tradition, S. 139 – 225. 35 Vgl. Metzler, Schwarzhaupt, Elisabeth, S. 28. 36 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 260 – 265; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 80 – 88; Holz, Tradition, S. 139 – 225. 37 Vgl. Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 263 f.; Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 80 – 88. 38 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. MINISTERINNEN

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Jahren innerhalb der Unionsfraktion des Bundestags profiliert und vielmals auch Position gegen Konrad Adenauer bezogen.39 Das Verhältnis beider zueinander war lange vor dem Amtsantritt Elisabeth Schwarzhaupts als Bundesgesundheitsministerin betont kühl gewesen. Und die Reserviertheit stieg nach 1961 auf beiden Seiten an, als Schwarzhaupt offen gegen die Wünsche Adenauers opponierte, etwa in der Frage der Personalie des ersten BMGes-Staatssekretärs.40 Provokativ hatte Adenauer Schwarzhaupt in der ersten gemeinsamen Kabinettssitzung 1961 auch als »Mann« angesprochen und wissen lassen, sie sei im Kreise der Minister »auch ein Herr«.41 Nicht minder despektierlich zu verstehen war Adenauers öffentlich wiederholte Anrede der seinerzeit über 60 Jahre alten promovierten Juristin in der Deminutivform als »Fräulein Schwarzhaupt«.42 Trotz aller verbalen und protokollarischen Herabsetzungen und Zurückweisungen, die Elisabeth Schwarzhaupt als Ministerin etwa auch dadurch erfuhr, auf den offiziellen Bildern der Bundeskabinette nach ihrem Besuch des Bundespräsidenten 1961 und 1965 verdeckt und im Hintergrund zu erscheinen, war ihre Person der Mehrheit der Bundesbürgerinnen und -bürger bei Amtsantritt bekannt. Gut 54 Prozent der Befragten gaben Anfang der 1960er Jahre in einer repräsentativen Meinungsumfrage an, Schwarzhaupt als Politikerin zu kennen und über sie näher informiert zu sein.43 Bis Mitte der 1960er Jahre konnte Schwarzhaupt ihren Bekanntheitsgrad noch steigern und war in Umfragen nur sehr wenigen Personen gänzlich unbekannt.44 Hatten im Dezember 1961 bereits 19 Prozent eine »gute Meinung« von der neuen Gesundheitsministerin,45 steigerte sich dieser Wert konstant. Im Mai 1963 hatten 35 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger ein positives Bild von ihr; im Dezember 1963 gut 45 Prozent.46 Gegen Ende ihrer Amtszeit im April 1966 lag der Wert weiterhin bei 43 Prozent. Damit war Elisabeth Schwarzhaupt im Vergleich zu ihren männlichen Kabinettskollegen während ihrer Amtszeit stets überdurchschnittlich bekannt und beliebt.47 Doch selbstverständlich war ihre Person nicht, und die Genderfrage war im Arbeitsalltag der Ministerin omnipräsent. Bereits die Anrede des neuen 39 Vgl. Marquardt, Politik, S. 162 f.; Körner, Männer-Republik, S. 44 – 48. 40 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985; Schwarzhaupt, Lebensbericht, S. 269. 41 Vgl. Drummer / Zwillinge, Elisabeth Schwarzhaupt, S. 93 f.; Körner, Männer-Republik, S. 47. 42 Vgl. Körner, Männer-Republik, S. 48 f. 43 Vgl. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1958 – 1964, S. 316. 44 Vgl. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1965 – 1967, S. 239. 45 Vgl. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1958 – 1964, S. 316. 46 Vgl. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1965 – 1967, S. 239. 47 Vgl. ebd., S. 230 – 240. 130

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»Ministers« wurde nicht nur innerhalb des Kabinetts selbst, sondern auch öffentlich zum Politikum. In der ARD -Tagesschau 1961 gefragt, wie sie angesprochen werden wolle, »Frau Minister« oder »Frau Ministerin«, entgegnete Schwarzhaupt: Frau Ministerin, denn sie sei ja eine Frau.48 Doch offiziell blieb die neue Bundesministerin Schwarzhaupt »Bundesminister«, wie auch die Vielzahl der Schreiben in der männlichen Form belegen – adressiert an den »Herrn Bundesminister für Gesundheitswesen«.49 Bei ihrem ersten Auftritt vor der Bundespressekonferenz am 20. Dezember 1961 adressierte Schwarzhaupt das Thema selbst. Sie bedankte sich eingangs für die »freundliche und überwiegend wohlwollende Aufmerksamkeit«, die ihr »als die einzige Frau im Kabinett« zuteil geworden sei.50 Zugleich äußerte sie den Wunsch, dass sich dies »so bald wie möglich legt, nämlich daß ich selbstverständlich angenommen werde als jemand, der mit den Männern im Kabinett zusammenarbeitet und insofern gar keine besondere Aufmerksamkeit mehr braucht«.51 Vielmehr hoffte sie auf das Wohlwollen gegenüber der Arbeit im Bereich der Gesundheitspolitik, gleichwohl mit dem Hinweis: »Denn hier haben wir Frauen zu beweisen, daß diese selbstverständliche Mitarbeit, um die wir uns bemühen, gelingt und ihren Sinn hat.«52 Die Frage des Geschlechts wurde somit nicht nur von außen an Schwarzhaupt herangetragen – sei es in Form des Kabinettstitels oder vonseiten der Öffentlichkeit –, sondern die erste Ministerin nahm hierzu wiederholt selbst Stellung. »Als Frau habe ich oft in einem Kreis von Männern das Gefühl, man spreche eine Fremdsprache, eine Sprache, die ich gelernt habe, die ich verstehe und spreche, aber eben nicht ganz meine eigene ist«, so Schwarzhaupt 1982 in einem Interview.53 Während sie »unter Frauen […] das ›Gefühl des Fremdseins‹ nicht« habe, sei dies ein ihr vertrautes Gefühl mit Blick auf die von Männern dominierte Bundesrepublik der 1960er Jahre.54 Bisweilen kritisch wurden bei öffentlichen Auftritten der Ministerin gerade Äußerlichkeiten registriert und bewertet – anders als im Falle von Männern, wo derartige Berichterstattungen nicht stattfanden. So wusste das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im Frühjahr 1962 – mit passendem Bild – zu berichten, dass die Ministerin zur Besichtigung der Abwasser48 Vgl. dazu auch die Darstellung bei Körner, Männer-Republik, S. 46 f. 49 Vgl. z. B. BA rch, B 142 /1890, Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung an Herrn Bundesminister für Gesundheitswesen, 9. 1. 1963, Bl. 4. 50 Vgl. BA rch, B 145 I F/140, Schwarzhaupt vor der Bundespressekonferenz, 20. 12. 1961. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. BA rch, N 1177 /60, Interview, 1982. 54 Vgl. ebd. MINISTERINNEN

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Abb. 30 : Die Mitglieder der Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer (1. Reihe rechts) nach Erhalt ihrer Ernennungsurkunden durch Bundespräsident Heinrich Lübke (1. Reihe Mitte). Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt steht als einziges weibliches Kabinettsmitglied in der letzten Reihe, Bonn, 14. 11. 1961.

Abb. 31 : Die Mitglieder der Bundesregierung unter Kanzler Ludwig Erhard (1. Reihe 2. v. r.) werden von Bundespräsident Heinrich Lübke (1. Reihe 2. v. l.) IQTJERKIR'YRHIWKIWYRHLIMXWQMRMWXIVMR*PMWEFIXLGL[EV^LEYTXPIX^XI Reihe 2. v. r., Bonn, 26. 10. 1965.

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MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 32 : Bericht des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« über den Arbeitsbesuch von Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt in West-Berlin, 14. 3. 1962.

anlagen West-Berlins im Pelzmantel und Krokodilledertasche erschienen sei und sich von zwei Männern habe aus der »Berliner Unterwelt« helfen lassen müssen.55 Auf dem Höhepunkt der Pressekampagne im Zuge des Skandals um das Medikament Contergan, durch dessen Einnahme Frauen während der Schwangerschaft Totgeburten erlitten bzw. körperlich geschädigte 55 Vgl. Elisabeth Schwarzhaupt, in: Der Spiegel, 11 /1962, S. 89. MINISTERINNEN

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und fehlgebildete Kinder zur Welt brachten,56 titelte die »Bild-Zeitung«: »Nicht Hüte, sondern Hilfe!«57 Das Boulevardblatt monierte, anstatt sich um die Opfer des Arzneimittelskandals zu kümmern, reise Schwarzhaupt von Kongress zu Kongress und eröffne die Foren »jedesmal mit einem anderen Hut«.58 Diese persönliche Attacke auf die Ministerin, die sich aus Sicht der »Bild-Zeitung« bei der Hilfe für contergangeschädigte Kinder zu defensiv verhielt, anstatt sie zur Chefsache zu erklären, verband politische Kritik mit Fragen des äußerlichen Auftretens und des Kleidungsstils – eine Kritik, die nur Frauen in der Politik betraf. Während der Kampagne wurden von Schwarzhaupt in erster Linie symbolische Gesten und Aktionen gefordert – und der Druck der Öffentlichkeit bewirkte eine Kurskorrektur. Schwarzhaupts prominentestes Engagement für ein gesundheitspolitisches Thema während ihrer Amtszeit fokussierte sich im Folgenden auf die Abmilderung der Folgen des Contergan-Skandals – und dies, obwohl das BMGes formal nicht zuständig war. Die öffentliche Erwartungshaltung, staatlicherseits endlich Maßnahmen zu ergreifen, hatte sich im Zuge des Skandals nicht auf die Länderebene gerichtet, sondern auf das erst kurz zuvor neu gegründete Gesundheitsressort und hier vor allem auf die neue Ministerin. Nach einer anfänglich defensiven Haltung des BMGes – etwa Verweisen auf ein als ausreichend befundenes Arzneimittelgesetz und die Nichtzuständigkeit des Bundes –, hatte Schwarzhaupt angesichts der scharfen Kritik, die im Sommer 1962 ihren Höhepunkt erreichte, ihre Mitarbeiter gebeten, mögliche Maßnahmen des Bundes zu eruieren. Während der Leiter der Abteilung I Josef Stralau in Verkennung der öffentlichen Stimmung es im Sommer 1962 weiterhin als Vorteil einschätzte, wenn der Bund nicht selbst initiativ in Erscheinung träte, sah sich das BMGes nichtdestotrotz gezwungen, seine Kommunikationsstrategie anzupassen.59 56 Das Medikament war seit Oktober 1957 auf dem Markt erhältlich. Ursächlich für die Missbildungen war der Wirkstoff Thalidomid. Das öffentliche Bekanntwerden dieser während der Schwangerschaft schädigenden Wirkung des Medikamentes »Contergan« erfolgte wenige Wochen vor Gründung des BMGes, das dementsprechend auch im eigentlichen Zulassungsverfahren für »Contergan« nicht involviert gewesen war, das seinerzeit nur allein in Verantwortung des Herstellers gelegen hatte. Zum Contergan-Skandal u. seinen Folgen vgl. u. a. Großbölting / LenhardSchramm, Contergan; Mecking, Gesundheitsabteilung, S. 117 – 134; Lenhard-Schramm, Contergan-Skandal; ders., Land. 57 Vgl. Nicht Hüte, sondern Hilfe!, in: Bild, 22. 8. 1962. 58 Vgl. Steinmetz, Politisierung, S. 218 (hier auch das Zit.). Vgl. auch Lenhard-Schramm, Lifestyle-Medikament, S. 249. 59 Vgl. Lenhard-Schramm, Land, S. 406 f., 437-440, 451 f.; Steinmetz, Politisierung, bes. S. 222-225. Vgl. zum öffentlichen Diskurs um Contergan ebs. Crumbach, Sprechen. 134

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Im Vordergrund standen fortan Fragen der medizinischen Versorgung und soziale Hilfsmaßnahmen – auch in Abstimmung mit den Ländern sowie Vertretern des Bundesinnenministeriums und des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Schwarzhaupt hatte erkannt, dass auf »föderative Befindlichkeiten« und eine »Nichtzuständigkeit« sich schwerlich dauerhaft verweisen ließ – so Schwarzhaupt auch rückblickend 1985 –, wenn Hunderte Mütter sie als Ministerin für das Gesundheitswesen kontaktierten.60 Zumindest mit emotionaler Teilhabe und schließlich einer auf Bundesebene angestoßenen Reform des Arzneimittelrechts wollte Schwarzhaupt gegensteuern.61 Contergan und die Förderung politischer Partizipation von Frauen – ironischerweise beides Themen außerhalb der engeren Zuständigkeit ihres Ressorts – waren die von Elisabeth Schwarzhaupt vorangetriebenen und von ihr mit innerer Überzeugung mitgestalteten politischen Handlungsfelder als Bundesministerin für das Gesundheitswesen. Ohne einen innerfraktionell breiten Rückhalt in den Unionsparteien CDU / CSU, Adenauers Wohlwollen und ein ausgeprägtes Interesse für gesundheitspolitische Themen, konzentrierte sich Elisabeth Schwarzhaupt als Ministerin primär auf den sachlich-organisatorischen Aufbau des Ressorts. Sie verließ sich als Juristin auf die Expertise ihrer jeweils medizinisch-naturwissenschaftlich oder technisch ausgebildeten Abteilungsleiter, um Entscheidungen zu treffen. Dies bedingte zugleich eine in der Auf bauzeit des Ministeriums große Autonomie für deren Agieren.62 Auch wenn Schwarzhaupt 1985 selbst konzediert, dass das Ministeramt stets politisch sei und weniger nach enger fachlicher Qualifikation verlange als vielmehr nach einer Entscheidungs-, Führungs-,Verwaltungs- und Repräsentationsfunktion, spricht sie sich selbst die Befähigung ab, Politikerin zu ein: »In der Politik geht es um Macht und die Durchsetzung von Macht; Machtpolitikerin wollte ich nie sein und konnte es nicht werden.«63 Tatsächlich oblag die politische Profilierung des Gesundheitsressorts nicht Schwarzhaupt, sondern ihrer Nachfolgerin, der langjährig parteipolitisch sozialisierten Sozialdemokratin Käte Strobel; während es – historisch betrachtet – Schwarzhaupts Verdienst war, die politische Partizipation von Frauen innerhalb der Unionsparteien prominent eingefordert und mit durchgesetzt zu haben.

60 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 61 Während zunächst mit Gesetzesnovellen Verbesserungen angestrebt wurden, wurde mit dem Arzneimittelgesetz von 1976 eine gänzlich neue Rechtsgrundlage geschaffen. 62 Vgl. BA rch, B 198, Ton-078, Zeitzeugenbefragung Elisabeth Schwarzhaupt, 13. 9. 1985. 63 Vgl. ebd. MINISTERINNEN

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Argwöhnisch blickten die Beamtinnen und Beamten des BMGes im Dezember 1966 auf ihre neue Ministerin, denn mit Käte Strobel stand erstmals eine Nichtakademikerin an der Spitze des Bonner Gesundheitsressorts. Entsprechend groß war ministeriumsintern die Skepsis gegenüber der weder juristisch noch medizinisch vorgebildeten Strobel und ihrer fachlichen Fähigkeit zur Führung des Hauses, das mit Elisabeth Schwarzhaupt seit 1961 zwar von keiner Ärztin, aber immerhin promovierten Juristin geleitet worden war. Diese ausgeprägte Reserviertheit der Mitarbeiterschaft des Gesundheitsministeriums kann durchaus symptomatisch für das politische Klima der Bundesrepublik bei Antritt der Großen Koalition 1966 verstanden werden: Mit Käte Strobel, die im Zuge der unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger gebildeten Bundesregierung als erste Sozialdemokratin einen Ministerposten auf Bundesebene bekleidete, spiegelte sich ein gesamtgesellschaftlicher politischer Zeitenwandel en miniature im BMGes – der sich ganz unmittelbar auch biografisch ablesen lässt. Die aus einer fränkischen Handwerkerfamilie stammende Strobel war politisch in den 1920er Jahren zunächst in der außerhalb der Mehrheitssozialdemokratie stehenden linkssozialistischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) sozialisiert worden.64 1907 als fünftes Kind eines Schuhmachers und einer Köchin geboren, prägte Käte Strobel – deren Geburtsname Katharina Elsa Müller lautete – schon in frühester Kindheit das sozialistische und progewerkschaftliche politische Engagement ihrer Eltern.65 Sie wuchs in der im Süden Nürnbergs 1908 neu etablierten »Gartenstadt« auf, ein Bezirk der in der Tradition der Gartenstadt-Bewegung stand.66 Neben dem genossenschaftlichen Prinzip des Gemeineigentums an Grund und Boden wurde vor allem eine naturnahe und natürliche Architektur der Siedlungshäuser betont, mit dem

64 Eine wissenschaftliche Biografie Strobels steht aus. Kurze Porträts ihrer Person bieten Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f.; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021); Marquardt, Politik, S. 215 – 252; Zwanzig / Weikert / Vogel, Nürnberg, S. 72 – 79; Panzer / Plößl / Oelwein, Töchter, S. 271 – 274. Vgl. ebs. das von einer Schulklasse anhand des Nachlasses Strobels im AdsD erarbeitete u. 191 Seiten umfassende Lebensbild: Reuß, Käddala. 65 Vgl. Marquardt, Politik, S. 217 – 224; Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f.; Zwanzig / Weikert / Vogel, Nürnberg, S. 72 f.; Panzer / Plößl / Oelwein, Töchter, S. 271 f.; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennernueberlassen (2. 4. 2021). 66 Vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f.; Zwanzig / Weikert / Vogel, Nürnberg, S. 72 f.; Panzer / Plößl / Oelwein, Töchter, S. 271 f. 136

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 33 : Die Mitglieder der Bundesregierung unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (1. Reihe, 4. v. r.) nach Erhalt der Ernennungsurkunden durch Bundespräsident Heinrich Lübke (1. Reihe, 5. v. r.). Bundesgesundheitsministerin 0®XIXVSFIP7IMLIZP'SRR

Garten als integralem Bestandteil eines Lebens- und Wohnkonzeptes, das der psychischen wie physischen Gesundheit des Menschen dienen sollte.67 Bereits der Entschluss Käte Müllers Eltern, sich im Gartenstadt-Viertel niederzulassen, kann als Ausdruck ihrer stark eigensinnigen Haltung gegenüber der politischen Ordnung des Wilhelminischen Kaiserreiches verstanden werden. Sowohl Vater als auch Mutter Müllers – beide 1878 geboren – waren politisch für die im Kaiserreich anfänglich verbotene und verfolgte, später tolerierte Sozialdemokratische Partei Deutschlands aktiv; Müllers Vater langjährig als Nürnberger Stadtrat.68 Käte Müller wuchs als Tochter eines Handwerkers nicht in ärmlichen, aber auch keineswegs in finanziell übermäßig gut situierten Verhältnissen auf. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 begann sie die Volksschule. Möglich war ihr aufgrund eines gesicherten finanziellen wie sozialen Status der 67 Vgl. insgesamt: Grassnitzer / Städtler-Ley, Gartenstadt; Neitzke / Wolf, Bauen; Hartmann, Gartenstadtbewegung. 68 Vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f.; Marquardt, Politik, S. 217 – 220; Zwanzig / Weikert / Vogel, Nürnberg, S. 72 f.; Panzer / Plößl / Oelwein, Töchter, S. 271 f. Zur SPD im Kaiserreich vgl. Ritter, Arbeiterbewegung; Ritter / Tenfelde, Arbeiter, insbes. S. 679 – 780; Wachenheim, Arbeiterbewegung, insbes. S. 136 – 276, 285 – 351, 423 – 602. Zur Sozialdemokratie in Bayern bis 1914 vgl. Niehuss, Stellung. MINISTERINNEN

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Eltern ein mehrjähriger Besuch der Handelsschule ab 1921.69 1923 – auf dem Höhepunkt der politischen Krise zu Beginn der Weimarer Republik und fundamentalen wirtschafts- wie finanzpolitischen Verwerfungen im Zuge der Inflation – fand Käte Müller schließlich als Buchhalterin eine erste Anstellung beim Nürnberger Obst- und Gartenbauverband.70 1921, im Alter von 14 Jahren, beantragten Käte Müllers Eltern für ihre Tochter die Mitgliedschaft in der Arbeiterjugend der USPD. Die Partei war 1917 infolge der Kontroverse innerhalb der Sozialdemokratie um die Tolerierung bzw. Unterstützung der Wilhelminischen Kriegspolitik als Abspaltung von der Mehrheitssozialdemokratie entstanden und forderte, anders als die SPD, einen dezidiert pazifistischen, stark linkssozialistischen und in Teilen prokommunistischen Politikwechsel.71 1919 entstand aus einer neuerlichen Abspaltung der sogenannten Spartakus-Gruppe von der USPD die Kommunistische Partei Deutschlands.72 Politisch wie programmatisch aufgrund dieser kommunistischen Parteineugründung geschwächt, fusionierte die USPD 1922 wieder mit der Mehrheitssozialdemokratie.73 Auch wenn Käte Müller als 18-Jährige 1925 Mitglied der SPD wurde, blieb die anfängliche Erfahrung in der USPD prägend für ihr linkssozialistisches Bekenntnis, das sie zeitlebens beibehielt.74 Schwerpunkte ihrer politischen Arbeit waren in den 1920er Jahren Themen der sozialistischen Jugend- und Erziehungsbewegung, aber auch der Sozialhygiene und verbesserten Lebensbedingungen der Menschen im städtischen Umfeld.75 In der sozialdemokratischen Jugendorganisation »Kinderfreunde« lernte Käte Müller Mitte der 1920er Jahre ihren späteren Ehemann kennen, den gelernten Schriftsetzer und Sozialdemokraten Hans Strobel. Beide heirateten 1928 in Nürnberg.76 Nach Antritt der Reichsregierung unter Kanzler Adolf Hitler im Januar 1933 beteiligten sich Hans und Käte Strobel widerständig. Trotz drohender Repression durch das NS -Regime infolge eines im Sommer 1933 reichsweit vollzogenen Verbotes der SPD, waren sie weiterhin aktiv in der politischen Arbeit zugunsten der Sozialdemokratie und verbreiteten etwa Schriften der exilierten deutschen 69 Vgl. Marquardt, Politik, S. 218 – 220; Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f. 70 Vgl. ebd. Zur Weimarer Republik u. dem Krisenjahr 1923 vgl. insgesamt Wirsching, Republik. Vgl. ebs. Winkler, Weimar, S. 186 – 284. 71 Zur USPD vgl. insgesamt Braune / Hesselbarth / Müller, Sozialdemokratie; Walter, Arbeiterbewegung. Vgl. ebs. Winkler, Revolution, S. 494 – 496. 72 Vgl. insgesamt u. a. Zarusky, Sozialdemokraten; Ritter, Arbeiterbewegung; Lübbe, Kommunismus; Winkler, Revolution. 73 Vgl. ebd., S. 494 – 496. 74 Vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f.; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/ kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). 75 Vgl. Marquardt, Politik, S. 220 – 224. 76 Vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f. 138

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SPD -Führung. 1934 wurde Hans Strobel aufgrund dieser Tätigkeit wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« verurteilt und anschließend für drei Jahre im Konzentrationslager Dachau interniert; ab 1943 wurde er zwangsweise zum Kriegsdienst in einem Strafbataillon eingezogen und kehrte 1946 aus der Kriegsgefangenschaft nach Nürnberg zu seiner Frau Käte und ihren beiden 1938 bzw. 1941 geborenen Töchtern zurück.77 Die während des »Dritten Reiches« erfahrene Repression und Verfolgung prägten ab 1945 /49 Käte Strobels Engagement zugunsten des parlamentarisch-demokratischen Wiederaufbaus – und auch ihr starkes proeuropäisches Bekenntnis.78 Käte Strobel war Sozialdemokratin »der ersten Stunde« und praktisch seit Ende des Zweiten Weltkriegs als Parlamentarierin für die wieder legal arbeitende Sozialdemokratie in den drei westlichen Besatzungszonen aktiv.79 1949 wurde sie im Nürnberger Wahlkreis zum Mitglied des ersten Deutschen Bundestags gewählt und blieb bis 1972 als eine der wenigen Frauen Abgeordnete des Bonner Parlaments.80 Der Anfang der 1950er Jahre im Zuge des europäischen Einigungsprozesses und Gründung der Montanunion etablierten neuen parlamentarischen Körperschaft – bis 1957 »Gemeinsame Versammlung«, ab 1962 »Europäisches Parlament« genannt – gehörte Strobel seit 1958 an. Sie war damit nach Etablierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 an herausgehobener Stelle in den damaligen Machtzentren der EWG zwischen Brüssel, Paris, Bonn und Straßburg tätig und forcierte den europäischen Integrationsprozess mit. Sie erlebte und gestalte die vorangetriebene »Europäisierung wider Willen« bundesdeutscher Politikfelder, allen voran hinsichtlich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Schwerpunkte ihrer Arbeit waren.81 Von 1962 bis 1964 war Käte Strobel stellvertretende Vorsitzende des Europäischen Parlaments und bis 1966 Vorsitzende der dortigen sozialistischen Fraktion.82 Auch innerhalb der SPD bekleidete sie nicht nur Ämter im Vorstand der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, sondern war auch auf Bundes- wie bayerischer Landesebene in die höchsten Führungsgremien der Partei aufgestiegen: Von 1958 bis 1973 war Strobel Mitglied 77 Vgl. ebd.; Marquardt, Politik, S. 225 – 228; Reuß, Käddala, S. 71 – 92. 78 Vgl. Marquardt, Politik, S. 228 – 230; Zwanzig / Weikert / Vogel, Nürnberg, S. 72 – 79; Panzer / Plößl / Oelwein, Töchter, S. 271 – 274; Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f. 79 Vgl. Marquardt, Politik, S. 228 f.; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/ kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). 80 Vgl. Marquardt, Politik, S. 231 – 241. 81 Zum Zit. vgl. Patel, Europäisierung. Zur Tätigkeit Strobels vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f. Zu den damaligen Integrationsschritten des europäischen Einigungsprozesses vgl. insgesamt u. a. Loth, Einigung. 82 Vgl. Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politikallein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021); Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f. MINISTERINNEN

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des SPD -Parteivorstandes und von 1966 bis 1971 zugleich Angehörige des Parteipräsidiums.83 Mit anderen Worten: Bei Amtsantritt als Bundesministerin für das Gesundheitswesen im Dezember 1966 – wenige Monate vor ihrem 60. Geburtstag – zählte Käte Strobel zu den innerhalb der SPD parteipolitisch renommiertesten und europapolitisch versiertesten Personen. Gerade während ihrer Tätigkeit auf europäischer Ebene hatte sie sich stets, auch ohne absolviertes Studium der Rechtswissenschaft, als fachkompetente Politikerin profiliert, die die erst festzulegenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments innerhalb des Machtgefüges von Europäischer Kommission und nationalen Regierungen inhaltlich vehement und rhetorisch gewandt verteidigte und auszubauen suchte.84 Ihre Nominierung für ein Ministeramt innerhalb der Großen Koalition überraschte im Herbst 1966 insofern nicht. Dies galt auch deshalb, weil Strobel bereits im Bundestagswahlkampf 1960 /61 dem Beratergremium des damaligen SPD -Kanzlerkandidaten und Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, angehört hatte und seinerzeit Mitglied einer potenziell von der SPD -geführten oder unter ihrer Beteiligung formierten Bundesregierung war.85 Auch wenn Strobel 1966 dezidiert zur Führung eines originär europapolitisch tätigen Bonner Ressorts prädestiniert gewesen wäre (das aufgrund fehlender Fortschritte im europäischen Integrationsprozess indes in weiter Ferne lag), qualifizierte ihr seit frühester politischer Arbeit an geschärfter Fürsorgebegriff, basierend auf Chancengleichheit und sozialer Teilhabe, Strobel als Gesundheitsministerin. Für Käte Strobel war das Themenfeld »Gesundheit«, als gesamtgesellschaftlich zu garantierender Bereich staatlichen Handels, ganz wesentlicher Teil einer sozialhygienischen Politik. Es verlangte stets nach einer Förderung von Familien, einer Thematisierung von Geschlechterfragen und einer Teilhabegerechtigkeit des Einzelnen.86 Die Anfänge des Verbraucherschutzes, als einem Element gesundheitspoli-

83 Vgl. ebd.; Marquardt, Politik, S. 231 – 252; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/ artikel/kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). 84 Vgl. die Auseinandersetzung mit der europäischen Kommission in: BA rch, N 1266, Ton-294, Diskussion zwischen Kommissionspräsident Walter Hallstein, der Vorsitzenden der Sozialistischen Fraktion des europäischen Parlaments, Käte Strobel, sowie dem Vorsitzenden des Energieausschusses des europäischen Parlaments, Fritz Burgbacher, über die wirtschaftspolitische und soziale europäische Integration, Straßburg, 27. 9. 1964. 85 Vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f. 86 Vgl. Marquardt, Politik, S. 231 – 239, 242 – 246. Vgl. ebs. die in diversen Reden von Strobel formulierten programmatischen Eckpunkte zur Gesundheitspolitik in: AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 32, 52, 58, 60 u. 61. 140

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 34: Käte Strobel (Bildmitte), Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion des Europäischen Parlaments, im Gespräch mit Parlamentariern, Straßburg, 1965.

tischer Konzeption, waren Strobel seit ihren parlamentarischen Tätigkeiten auf europäischer Ebene vertraut und von ihr vorangetrieben worden.87 Im klassischen Sinne einer sozialdemokratisch definierten Gesundheitspolitik galt für Strobel die Prämisse von der »persönlichen Freiheit des Einzelnen«, die zugleich »soziale Verantwortung« implizierte und damit eine »grundlegende Voraussetzung für die Entfaltung der Persönlichkeit« in der demokratischen Gesellschaft wurde.88 »Gesundheitspolitik« war nach Strobel nicht nur eine vom Staat dem Bürger zu garantierende Chance, seine Gesundheit zu erhalten und wiederzuerlangen, sondern ein »unabdingbarer Teil der Gesellschaftspolitik: Sie fördert die wirtschaftliche und die moralische Kraft des Gemeinwesens und das Glück des Bürgers. Gesundheitspolitik ist also ein notwendiger und unerläßlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft«, so das Urteil des von Käte Strobel entworfenen Gesundheitsberichtes im Jahr 1970.89

87 Vgl. Marquardt, Politik, S. 231 – 235; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). 88 Vgl. AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 60, Begrüßungsansprache auf der 78. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 9. 4. 1972. 89 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Gesundheitsbericht 1970, Bl. 506. Vgl. ebs. Marquardt, Politik, S. 217 – 224, 242 – 246; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/ kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). MINISTERINNEN

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Mit derlei unverkennbar parteiprogrammatisch im Sinne der Sozialdemokratie konnotierten Aussagen überschritt Strobel in den Augen zeitgenössischer Kritiker Grenzen: Der Verwurf, die SPD und ihre sozialdemokratische Ministerin betrieben eine auf die »Sozialisierung« von Medizin und des Gesundheitswesens ausgerichtete Politik, war ein vor allem zu Beginn der Amtszeit Strobels von Vertretern der freien Ärzteschaft vielfach formulierter Angriff auf das von einer SPD -Politikerin geführte Gesundheitsressort.90 Noch 1972, bei Ausscheiden aus dem Amt, war für Käte Strobel das »Mißtrauen der Ärzte gegenüber den Sozialdemokraten« eine der größten Ursachen für zahlreiche Blockaden innerhalb des notwendigen Reformprozesses des bundesdeutschen Gesundheitssystems.91 Signifikantestes Beispiel eines solchen, von Strobel vorgenommenen reformierenden Eingriffs in die Gesundheitsbürokratie der Bundesrepublik war der Umbau des Systems der Krankenhausfinanzierung zwischen 1967 und 1972, der gegen Widerstände einer vermeintlichen »Sozialisierungstendenz« der SPD, vor allem aber auch gegen die von Länderregierungen dem Bund beharrlich versagte Ausweitung seiner gesundheitspolitischen Kompetenzen letztlich doch erreicht werden konnte. Von Käte Strobel war eine dringend notwendige Neukonzeption der Finanzierung der Krankenhäuser unmittelbar nach Amtsantritt auf die Agenda der neuen Bundesregierung gesetzt worden – und zwar als Bestandteil einer gesundheitspolitischen Gesamtreform des Grundgesetzes.92 Für Käte Strobel galt es, 1967 mit den Bundesländern völlig neue »Aufgaben und Möglichkeiten des kooperativen Föderalismus« auszuhandeln, das heißt dem Bund weitreichendere Befugnisse bei der Krankenhausfinanzierung, der Gesundheitsvor- und -fürsorge sowie dem Bereich der »Umwelthygiene« einzuräumen und zudem auch Träger eines neuen Forschungsinstituts »für Volks- und Zivilisationskrankheiten« zu werden.93 Mit Letzterem wollte Strobel die drei gravierendsten Gesundheitsprobleme der westdeutschen Gesellschaft – Krebs, Diabetes sowie Herz-KreislaufErkrankungen – mithilfe unmittelbarer Bundeskompetenz gezielter bekämpfen.94 Einen so weitreichenden Umbau des Grundgesetzes und damit einhergehenden nominellen Machtverlust der Länder für gesundheitspolitische

90 Vgl. die Unterlagen in: AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 61. 91 Vgl. AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 61, Schreiben Käte Strobels an Horst Hagenlocher, 13. 12. 1972. 92 Vgl. Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politikallein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021); Marquardt, Politik, S. 242 f. 93 Vgl. BA rch, B 136/5251, Schreiben Käte Strobels an Bundeskanzler Kiesinger, 30. 3. 1967. 94 Vgl. ebd. 142

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Themen lehnte Bayern kategorisch ab.95 Strobels Entwurf fand aber auch innerhalb der Bundesregierung keine Mehrheit. Allen voran Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß wandte sich gegen die Vorschläge Strobels.96 Mehrheitsfähig war im Bonner Kabinett allein die angestrebte Neufassung der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhausversorgung, denn 1968 datierte – so der Kabinettsvermerk – die infrastrukturelle Substanz der Krankenhäuser in der Bundesrepublik zu über 50 Prozent auf das Baujahr vor 1920 und war infolgedessen in einem dringend sanierungsbedürftigen Zustand.97 Auch die Länder stimmten letztlich einer dem Bund ermöglichten substanziellen Finanzierung und wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser mithilfe des Krankenhauspflegegesetzes zu, sie lehnten jedoch strukturelle Kompetenzverluste ab, etwa mit Blick auf eine Sicherung des Baues, der Erneuerung und der Betriebsfähigkeit von Krankenanstalten.98 Für Strobel war letztlich aber auch der errungene Kompromiss bei der Krankenhausfinanzierung ein zentraler politischer Erfolg. In ihrer letzten Ansprache als Ministerin vor der Vollversammlung des Bundesgesundheitsrates im Januar 1972 erklärte sie die vom Bund und den Ländern neugefasste Regelung »in aller Bescheidenheit und mit einem gewissen Stolz« zum »wichtigsten innenpolitischen Reformgesetz« der 1960er Jahre.99 Als eine in der Sache beharrliche, zugleich aber auch kompromissfähige, vor allem aber inhaltlich detailbewanderte und fachlich versierte Gesundheitsexpertin erwies sich Strobel bei den Verhandlungen zur Reform der Krankenhausfinanzierung – und nicht zuletzt zur Überraschung ihrer Kritiker auch als durchsetzungsfähige Politikerin, die vielerlei Erfahrungen des politisch-diplomatischen Ringens um Kompromisse bei schwierigen sozialpolitischen Themen auf europäischer Ebene hatte anwenden können.100 Als überaus reformierend und gesellschaftliche Erneuerungsprozesse anstoßend trat Strobel auch öffentlichkeitswirksam in verschiedenen gesundheitspolitischen Kampagnen in Erscheinung – und hob sich damit deutlich von ihrer Amtsvorgängerin Elisabeth Schwarzhaupt ab. Schwarzhaupt war keine Verfechterin einer didaktisch-informativen und durch 95 Vgl. BA rch, B 136/5251, Protokoll der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrates, 19. 6. 1968. 96 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Memorandum des Bundeskanzleramts, 5. 4. 1967. 97 Vgl. Vgl. BA rch, B 136/5251, Kabinettsbeschluss zur Grundgesetzänderung, März 1968. 98 Vgl. AdsD, NL Käte Strobel, Ordner 58, Ansprache Käte Strobels vor der Vollversammlung des BGR , 8. 1. 1972. 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /5251. Vgl. ebs. Kramer, Käte Strobel, www. vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). MINISTERINNEN

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Presse und Fernsehen vermittelten Gesundheitserziehung gewesen. Demgegenüber initiierte Strobel zahlreiche an die Bevölkerung gerichtete Aufrufe für eine gesunde und bewegungsreiche Lebensführung. Geschuldet war jener Impetus durchaus auch zwei von Strobel in der politischen Arbeit seit den 1920er Jahren geschärften Überzeugungen: Dem erzieherischdidaktischen Auftrag des Politikers sowie seiner Vorbildfunktion und der unbedingt wissenschaftsbasierten Informierung des Einzelnen als Grundlage selbstbestimmter Entscheidungsfindung. Der Zugang zu gesicherten wissenschaftlichen Informationen über gesundheitspolitische, sexuelle oder sozialhygienische Aspekte musste für jedermann, ohne Rücksicht auf die soziale Stellung der Person, möglich sein. Informiert zu sein über Gesundheitsgefahren war für Strobel Bürgerpflicht, verlässlich zu informieren Maxime des Staates und beides zugleich Voraussetzung demokratischer Gesundheitspolitik.101 Ihren wichtigsten Impuls zur gesellschaftlichen Reformierung von gesundheitspolitischen Themen gab Strobel mit ihrem Engagement für eine unverstellte und faktenbasierte Sexualaufklärung. Käte Strobel begriff dies zugleich als entscheidendes Element hin zu einer stärkeren Berücksichtigung von Geschlechter- und Emanzipationsfragen – die für sie Bestandteile staatlicher Gesundheitspolitik waren. Mit neuen Zugängen der Sexualaufklärung wollte Strobel auch Frauen- und Familienrechte gesellschaftlich prominenter in den Fokus rücken und tabuisierte oder stigmatisierte Klischees in diesen Bereichen auf brechen, wobei Strobel Frauenrechte stets als Mütterrechte begriff und während ihrer Amtszeit auch zahlreiche neue Vor- und Fürsorgeprogramme für Mütter auf den Weg brachte.102 Während die beiden wichtigsten von Strobel initiierten Projekte einer neuen, programmatisch modernisierten gesellschaftlichen Sexualaufklärung – ein völlig neu konzipierter und rein an wissenschaftlich-biologischen Fakten orientierter »Sexualkunde-Atlas« sowie der Aufklärungsfilm »Helga. Vom Werden menschlichen Lebens« – innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft auf breite, positive Resonanz und große Zustimmung stießen, warf die politische Opposition der Bundesgesundheitsministerin eine stillose, gegen Anstand und gute Sitten verstoßende, nicht jugendfreie und schlicht voyeuristische Provokation vor.103

101 Vgl. Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/kaete-strobel-wollte-politikallein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). 102 Vgl. ebd. 103 Vgl. Laukötter, Sex, S. 323 – 342; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/ kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). Vgl. ebs. Der Spiegel: So einfach, in: Der Spiegel, 40 /1969; Der Spiegel: Durchs Nadelöhr, in: 144

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 35 : Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel bei der Präsentation des »Sexualkunde-Atlas«, Bonn, 1969.

Trotz aller politischen Kritik erlaubten Strobels Impulse zur Modernisierung der Gesundheitsaufklärung Ende der 1960er Jahre ein Schritthalten der staatlichen Exekutive mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen hinsichtlich des Umganges mit Sexualität seit Anfang der 1960er Jahre: weg von der »hygienischen Volksbelehrung« hin zu einer »Modernität der Wissensvermittlung«.104 Wichtige Weichen stellten zudem Käte Strobels Orientierung an einer stärker akzentuierten Familien- und Mütterpolitik sowie die Hinwendung zu Fragen der Gleichbehandlung und Gleichstellung – die sie besonders vehement aus der Erfahrung heraus verfocht, als Frau und Mutter im politischen Alltag stets einer verschwindend kleinen Minderheit anzugehören.105 Auch innerhalb der programmatisch seit den 1920er Jahren stark für Frauenrechte und Geschlechtergleichheit eintre-

Der Spiegel, 20 /1971; Christoph Gunkel: Wo geht’s hier bitte zum Koitus, in: Der Spiegel, 25 /2019. 104 Vgl. Sammer, Menschen, S. 431 – 442. Vgl. ebs. Laukötter, Sex, S. 323 – 342. 105 Vgl. Kuller, Strobel, Käte, S. 583 f.; Kramer, Käte Strobel, www.vorwaerts.de/artikel/ kaete-strobel-wollte-politik-allein-maennern-ueberlassen (2. 4. 2021). MINISTERINNEN

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tenden Sozialdemokratie war Käte Strobel noch Ende der 1960er Jahre ob ihres Geschlechts eine Ausnahmeerscheinung.106 Gleichwohl entsprach ihre Biografie prototypisch dem zeitgenössischen Muster einer parteipolitisch in der SPD erfolgreichen Frau: Strobel war im Kaiserreich geboren und sozialisiert worden, entstammte einfachen Verhältnissen, besaß keine akademische Bildung, war während des »Dritten Reiches« Repression und Verfolgung ausgesetzt gewesen und hatte ab 1945 /49 als Sozialdemokratin »der ersten Stunde« für die SPD in Parlamenten gearbeitet.107 Erst Anfang der 1970er Jahre vollzog sich innerhalb der sozialdemokratischen Partei ein personalpolitischer Wandel hinsichtlich der weiblichen Mitglieder. Frauen in Führungspositionen charakterisierten fortan biografisch zum einen ihre bürgerliche Sozialisation während der Weimarer Republik und zum anderen die erfahrene akademische Bildung.108 Exemplarisch für jenen von der historischen Forschung beschriebenen Befund kann der Ministerinnenwechsel von Käte Strobel hin zu Dr. phil. Katharina Focke 1972 an der Spitze des Gesundheitsressorts gelten. Idealtypisch erkennbar werden beim Blick auf Strobels Wirken als Bundesgesundheitsministerin während ihrer gut sechsjährigen Amtszeit auch Attribute, mit denen die historische Forschung die Zeit der Großen Koalition beschreibt. Jenes 1966 von Kurt Georg Kiesinger geführte Kabinett polarisierte auf vielfältige Weise: Einerseits war es ein hochkarätig besetztes Expertengremium mit großer politischer Erfahrung und Sachverstand; andererseits prallten mit den Koalitionären aus CDU / CSU und SPD aber nicht nur parteiprogrammatisch scharfe Gegensätze aufeinander, sondern kreuzten sich während des »Dritten Reiches« diametral verschieden verlaufene Biografien. Plakativ wurde jenes Spektrum zumeist auch zeitgenössisch mit der Gegenüberstellung von Kurt Georg Kiesinger, dem ehemaligen NSDAP-Mitglied, und Herbert Wehner pointiert, dem in den 1920er Jahren aktiven Funktionär der KPD.109 Das Überbrücken von politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der konservativsozialdemokratischen Koalition erwies sich letztlich als dynamisierend für die politische Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie. Gerade die stark gegensätzlich wirkenden Programme beider Koalitionsparteien vitalisierten lange Zeit stagnierende politische Bereiche.110 Auch Strobel setzte als Ministerin wichtige Reformimpulse und konnte das Bundesgesundheitsministerium respektive die von diesem zu verantwor106 107 108 109 110

Vgl. Schönhoven, Wendejahre, S. 514 – 518. Vgl. ebd., S. 518 f. Vgl. ebd., S. 519. Vgl. ebd., S. 76 f. Vgl. u. a. Wolfrum, Demokratie, S. 227 – 326. Vgl. insgesamt ebs. Schönhoven, Wendejahre.

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tenden Themen erstmals umfassend inhaltlich profilieren – entgegen der landläufigen Erwartung zu Beginn ihrer Amtszeit und einer gemutmaßten fachlichen Überforderung an der Spitze der Behörde. Ecken, Kanten und Konturen verlieh Strobel dem Bereich »Gesundheit« nicht nur innerhalb des Bundeskabinetts, sondern sie ließ ihn vor allem auch mit Blick auf die bundesdeutsche Gesellschaft deutlich sichtbarer werden. Mit Gespür für die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und die sich in den 1960er Jahren veränderten Bedürfnisse und individuellen Schwerpunktsetzungen in einzelnen Lebensbereichen fokussierte Strobel die Arbeit des BMGes bzw. des ab 1969 in Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit umbenannten Ressorts auf die Themen Gesundheitsaufklärung, föderalistische Strukturreform der Gesundheitsbürokratie und Verbraucherschutz. Getragen von einer breiten politischen Unterstützung seitens der SPD und basierend auf einer gefestigten innerparteilichen Stellung, entfaltete Käte Strobels Politik eine tatsächlich modernisierende und reformierende Wirkung im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren.

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»Nach dem Kanzleramt bin ich damals unsanft in einem normalen Verwaltungsalltag im Ministerium erwacht«, so das rückblickend-nüchterne Urteil Katharina Fockes über ihren Wechsel vom Kanzleramt an die Spitze des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit im Dezember 1972.111 Mit Focke übernahm als Nachfolgerin Käte Strobels die zweite Sozialdemokratin und insgesamt dritte Frau seit 1961 die Leitung des seit 1969 um die Belange der Jugend und die der Familien erweiterten Bonner Gesundheitsressorts. Wie bereits die Christdemokratin Elisabeth Schwarzhaupt so war auch die Sozialdemokratin Katharina Focke promoviert. Allein das Merkmal der akademischen Bildung der ab Winter 1972 amtierenden Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit steht paradigmatisch für einen Anfang der 1960er Jahre begonnenen personalpolitischen Erneuerungsprozess und Generationswechsel innerhalb der weiblichen SPD -Führung: Focke, 1922 geboren, war – im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Strobel – bürgerlich sozialisiert worden und hatte in den 1940er und 1950er Jahren ein volkswirtschaftliches bzw. später politikwissenschaftliches Universitätsstudium

111

Vgl. Focke, Bundeskanzler, S. 108.

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absolviert.112 Anders als Strobel war sie 1945 /49 keine »Sozialdemokratin der ersten Stunde«, sondern stieß erst 1964 zur SPD.113 Aber auch ohne langjährig Parteiarbeit in der Nachkriegs-SPD der Bundesrepublik geleistet zu haben, war Focke rasch nach ihrem Eintritt in die Sozialdemokratische Partei als »Senkrechtstarterin« in den engsten Beraterkreis des damaligen SPD -Vorsitzenden Willy Brandt aufgerückt.114 Bei Antritt des ersten Kabinetts Brandt 1969 wurde die Düsseldorfer Landtagsabgeordnete Parlamentarische Staatssekretärin im Bonner Kanzleramt und gehörte dort gemeinsam mit Kanzleramtsminister Horst Ehmke und Staatssekretär Egon Bahr dem um Willy Brandt geschlossenen »Triumvirat« an.115 Aufmerksamkeit hatte in den 1960er Jahren innerhalb der SPD-Führung vor allem Fockes in Nordrhein-Westfalen sehr engagiert und bürgernah geführter Wahlkampf gefunden. 1966 war Focke mit ihrem Einzug in das Düsseldorfer Landesparlament ein innerhalb der Bundes- wie nordrheinwestfälischen Landes-SPD als unmöglich erachteter Erfolg gelungen.116 Als charakteristisches Merkmal ihres Politikstils blieben, neben Fockes persönlichem Engagement, besonders ihr entschieden proeuropäisches Plädoyer in Erinnerung – das Anklang und Zustimmung nicht nur innerhalb der SPD, sondern auch bei der Wählerschaft gefunden hatte.117 Im Auftrag Willy Brandts konzipierte und koordinierte Katharina Focke ab 1969 im Bundeskanzleramt die Westeuropapolitik der sozialliberalen Regierung. Sie verantwortete damit das diplomatisch-strategisch wichtige Pendant zu der von Egon Bahr entworfenen »Neuen Ostpolitik«.118 Als dezidiert proeuropäische Politikerin hatte sich Katharina Focke seit Ende des Zweiten Weltkrieges profiliert. Maßgeblich geprägt wurde sie durch ihren Vater Ernst Friedlaender.119 Friedlaender, der Anfang der 1930er Jahre als Vertreter eines deutschen Unternehmens in den Vereinigten Staaten tätig gewesen war, entschied sich bereits vor 1933, angesichts einer sich in Deutschland zuspitzenden politischen Krise am Ende der 112 113 114 115 116 117 118 119

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Vgl. Weigert, Katharina Focke, S. 97 f. Zum generationellen Wechsel insgesamt vgl. Schönhoven, Wendejahre, S. 519. Vgl. Focke, Bundeskanzler, S. 105 f.; dies., Faden, S. 107 – 113. Zum Zit. vgl. Müller / Walter, Eminenzen, S. 90. Vgl. insgesamt Focke, Bundeskanzler, S. 105 f.; dies., Faden, S. 107 – 113; Brandt, Begegnungen, S. 303. Vgl. Focke, Bundeskanzler, S. 105 – 109. Zum Zit. vgl. Müller / Walter, Eminenzen, S. 89. Vgl. Weigert, Katharina Focke, S. 97 f. Vgl. ebd., S. 97 – 99; Focke, Faden, S. 107 – 110. Vgl. Focke, Bundeskanzler, S. 105 – 109. Vgl. insgesamt ebs. u. a. Creuzberger, Westintegration, S. 85 – 134. Zur »Neuen Ostpolitik« vgl. u. a. Schmidt, Wurzeln; ders., Ost- und Deutschlandpolitik; Winkler, Geschichte, S. 568 – 588. Vgl. Friedlaender / Focke, Europa; Focke, Faden, S. 107 – 119; dies., Europa; dies., Freundschaft; dies., Jean Monet. Vgl. ebs. Weigert, Katharina Focke, S. 97 – 99. MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 36 : Bundespräsident Gustav Heinemann (1. Reihe, Mitte) empfängt Bundeskanzler Willy Brandt (1. Reihe links) und die Mitglieder seines Kabinetts zur Überreichung der Ernennungsurkunden. Katharina Focke, 'YRHIWQMRMWXIVMRJÇV/YKIRH+EQMPMIYRH,IWYRHLIMX7IMLIZV Bonn, 15. 12. 1972.

Weimarer Republik, zur Emigration. 1931 zog die Familie zunächst in die Schweiz und später in das Fürstentum Liechtenstein. Während seine Frau dort als Ärztin praktizierte, trat Friedlaender bis Kriegsende 1945 vor allem publizistisch in Erscheinung und entwarf die Idee einer »Westeuropäischen Gemeinschaft«, die sich nicht allein durch die Ablehnung des Nationalismus, sondern vor allem durch die Supranationalität ihrer politischen Entscheidungsstrukturen auszeichnete.120 Nach 1945 avancierte Ernst Friedlaender zu einem der prominentesten und einflussreichsten bundesrepublikanischen Intellektuellen, der vehement für eine westeuropäische Integration stritt.121 Zwischen 1946 und 1950 fungierte er als stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung »Die ZEIT«.122 Anschließend amtierte er von 1954 bis 1957 als Präsident der westdeutschen »Europa-Union«, ein 1949 von Eugen Kogon initiierter Zusammenschluss, der sich im Zuge des 1948 von Winston Churchill ein-

120 Vgl. Focke, Faden, S. 107 – 109; Friedlaender, Wesen. 121 Vgl. u. a. Focke, Vater; Frei / Friedlaender, Ernst Friedlaender; Friedlaender, Wesen. 122 Vgl. Friedlaender, Leitartikel; Frei / Friedlaender, Ernst Friedlaender. MINISTERINNEN

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berufenen »Europa-Kongresses« gründete und auf die gesellschaftliche und politische Mobilisierung des europäischen Einigungsgedankens abzielte.123 Katharina Focke selbst war nicht nur seit ihrer Jugendzeit stark von den liberal-proeuropäischen Ideen ihres Vaters geprägt worden, sondern begleitete auch dessen journalistisch-publizistische Tätigkeit nach 1945 als seine Assistentin eng mit.124 Die Bekanntheit Friedlaenders ließ Focke rasch in persönlichen Kontakt mit zahlreichen zeitgenössisch wichtigen Protagonisten des europäischen Einigungsprozesses Westeuropas treten, vor allem Jean Monnet wurde ein enger Vertrauter.125 Die 1952 mit der »Montan-Union« und deren »Supranationaler Behörde« initiierte Integration Westeuropas war für Focke nicht nur ein zeitgenössisches Erlebnis, sondern wurde politische Leitidee und zugleich eigener Forschungsgegenstand. 1954 wurde Katharina Focke mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit über »Das Wesen des Übernationalen« promoviert. In ihrer Arbeit analysierte sie die supranationalen Komponenten des europäischen Einigungsmechanismus, ausgehend von den drei seinerzeit maßgeblichen Projekten bzw. europapolitischen Ideen: der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft einerseits und der Europäischen Politischen Gemeinschaft andererseits.126 Ebenfalls 1954 heiratete sie Ernst Focke, den damaligen Generalsekretär des »Deutschen Rates der Europäischen Bewegung«.127 Die gemeinsam mit ihrem Mann zivilgesellschaftlich geleistete proeuropäische Arbeit war fortan Lebensinhalt Katharina Fockes, die nach dem Tod Ernst Fockes 1961 Geschäftsführerin des »Bildungswerkes Europäische Politik« in Köln wurde. Eine Funktion, die sie erst 1969 mit ihrem Wechsel ins Bonner Kanzleramt aufgab.128 Waren die Biografien der bürgerlich-akademisch sozialisierten und erst spät zur SPD gestoßenen Katharina Focke und die der proletarischautodidaktisch geprägten und frühzeitig in der Sozialdemokratie aktiven Käte Strobel sehr verschieden, einte beide Frauen nicht nur ihre gefestigte parteipolitische Stellung, sondern auch die starke thematische Orientierung an der Frauen- und Familienförderung sowie am Verbraucherschutz während ihrer Zeit als Ministerin des BMJFG. 123 Vgl. die Darstellung der Europa-Union unter: www.europa-union.de/ueber-uns/ geschichte (2. 6. 2021). 124 Vgl. Focke, Faden, S. 107 – 109; dies., Freundschaft, S. 200 f. 125 Vgl. den Beitrag Fockes während der »Table ronde« in: Bossuat / Wilkens, Jean Monnet, S. 469 – 471. Vgl. ebs. Focke, Faden, S. 111 f. 126 Vgl. ebd., S. 107 f.; Weigert, Katharina Focke, S. 97. 127 Vgl. ebd., S. 97 f.; Focke, Faden, S. 107 – 109. 128 Vgl. Weigert, Katharina Focke, S. 97 f. 150

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Abb. 37 : Katharina Focke, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeskanzleramt (rechts), während eines Pressetermins von Bundeskanzler Willy Brandt nach seiner Rückkehr aus Moskau, Bonn, 13. 8. 1970.

Dass für Focke der Wechsel ins Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1972 zwar formal eine Beförderung darstellte, bei ihr aber zunächst auf wenig Gegenliebe stieß, daraus machte sie späterhin keinen Hehl. Als zu ideal hatte Katharina Focke ihre Tätigkeit als Beraterin Willy Brandts für die Außen- und Europapolitik empfunden, als dass eine neue Position diese Erfahrungen hätte übertreffen können.129 Als in den Koalitionsverhandlungen 1972 das Auswärtige Amt (AA) darauf bestand, die Funktion des im Bundeskanzleramt für Europapolitik zuständigen Staatssekretärs in das eigene Ministerium zu integrieren, entschied sich Focke gegen den Wechsel ins AA und für die Übernahme eines Ministeramtes im BMJFG.130 Fockes Leitungsstil als Ministerin war von großem Engagement und der Bemühung geprägt, die von ihrer Vorgängerin gesetzten inhaltlichen Schwerpunkte und thematischen Profilierungen fortzusetzen und zu vertiefen, wobei ein starker Fokus weiterhin auf der Familienpolitik lag. So zählte es insgesamt zu den wesentlichen Ergebnissen der Amtszeit Fockes, eine umfassende Reform des Familienrechts und die Zahlung von Kin129 Vgl. insgesamt Focke, Bundeskanzler. 130 Vgl. Focke, Faden, S. 113. MINISTERINNEN

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Abb. 38 : Katharina Focke, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (oben rechts) besucht eine Einrichtung, die der Betreuung von Kindern lediger Mütter dient, 26. 9. 1975.

dergeld ab dem ersten Kind eingeführt zu haben. Vor allem Ersteres war zwar stark von sozialdemokratischen Prämissen geprägt,131 stand zugleich aber auch in einer bereits von Elisabeth Schwarzhaupt als erster Ministerin des BMGes begründeten »Tradition«, dass das Gesundheitsressort die Emanzipation sowie die Rechte von Frauen zu stärken habe. Darüber hinaus ebnete Katharina Focke als Ministerin den Weg zur Klärung eines vor allem zwischen SPD und CDU / CSU politisierten Streitthemas: der Kinderbetreuung durch Tagesmütter. Das von der Sozialdemokratie vorangetriebene Projekt, »nicht außerhäuslich erwerbstätigen« Müttern zu erlauben, neben ihrem eigenen Kind auch bis zu drei weitere zu betreuen – und zwar im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses –, stieß aufseiten der christdemokratischen Opposition auf Widerspruch.132 Von Focke Anfang des Jahres 1974 als »Modellprojekt« angestoßen, zielte die Einführung von »Tagesmüttern« darauf ab, bundesweit eine Betreuung für rund 800.000 Kinder von 700.000 berufstätigen 131 Vgl. u. a. Vogel, Stellung. 132 Zum Zit. vgl. die Stellungnahme Fockes als BMJFG in: SPD -Pressedienst: Projekt »Tagesmütter«, 29. 1. 1974. Zur Kontroverse insgesamt vgl. Deutsch-Heil/ Malchow, Tagesmütter; Blüml, Modellprojekt. 152

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Müttern zu ermöglichen, wie Focke zum Start des Vorhabens erläuterte.133 Es sei verfehlt, so die Ministerin weiter, die »Tagesmutter mal im konservativen Heimchen-am-Herd-Stil, mal im fortschrittlichsten Women’sLib-Gewand« zu persiflieren. Es bedürfe keiner politisch »ideologisierten Diskussion«, sondern einer raschen Lösung für das ernste Problem der fehlenden pädagogisch adäquaten Kinderbetreuung.134 Gerade die Sicherung einer qualifizierten fachlich-pädagogischen Betreuung blieb Hauptkritikpunkt am Konzept der »Tagesmütter«, das zwar nach Auslaufen der Modellstudien Ende der 1970er Jahre keinen umfassenden Durchbruch hinsichtlich des Problems fehlender Betreuungsplätze geschaffen hatte, aber dennoch die Notwendigkeit und zugleich die Möglichkeiten einer pluralistisch organisierten Kinderpädagogik jenseits rein staatlicher Strukturen aufzeigen konnte.135 Fockes intime Kenntnis des europäischen Gestaltungsrahmens, der die politischen Entscheidungen der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren durch Richtlinien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zunehmend beeinflusste, schlug sich auch in der unter ihrer ministeriellen Ägide verfolgten Reform des Arzneimittelrechts nieder.136 Im Nachgang des »Contergan-Skandals« war es eine politische Notwendigkeit geworden, das pharmakologische Zulassungswesen sicherer und transparenter zu gestalten – während zugleich europäische Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden mussten. Letzteres verlangte mitunter, europäische Vorgaben in Einklang zu bringen mit den in der Bundesrepublik ab den 1960er Jahren besonders sensiblen Themen der Sicherheit und Transparenz.137 Routiniert und inhaltlich versiert koordinierte Focke als Ministerin die Abstimmungsprozesse und Arbeiten am Entwurf des geplanten neuen Gesetzes zur Reform des Arzneimittelrechts, wobei ihr Bemühen stets darauf gerichtet blieb, ein Regelwerk zu schaffen, das die Grundlagen sowohl für ein einheitliches europäisches Arzneimittelrecht als auch den gemeinsamen europäischen Arzneimittelmarkt legte.138 133 134 135 136

Vgl. SPD -Pressedienst: Projekt »Tagesmütter«, 29. 1. 1974. Vgl. ebd. Vgl. Blüml, Modellprojekt; Deutsch-Heil / Malchow, Tagesmütter. Zur Bedeutung der EWG -Rechtsangleichung vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /10517 u. B 189 /10518. 137 Zur Reform u. der Befassung von Ministerin Focke vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189/10427; BA rch, B 189/10428; BA rch, B 189/10429. Vgl. insgesamt ebs. BMJFG, Reform, sowie die Stellungnahme Fockes als BMJFG in: SPD -Pressedienst: Besserer Schutz der Gesundheit: Reform des Arzneimittelrechts gibt dem Bürger mehr Sicherheit, 18. 7. 1974. Zum Contergan-Skandal u. seinen Folgen vgl. u. a. Großbölting / Lenhard-Schramm, Contergan; Mecking, Gesundheitsabteilung, S. 117 – 134; Lenhard-Schramm, Contergan. 138 Zur koordinierenden Rolle der Ministerin vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189/10427, BA rch, B 189 /10428 u. BA rch, B 189 /10429, vgl. ebs. die Stellungnahme Fockes MINISTERINNEN

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Der weitere Ausbau eines zeitgemäßen Verbraucherschutzes war ein dritter wesentlicher Arbeitsschwerpunkt Fockes als Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit. Neben einer umfassend fortgesetzten Kampagnenarbeit zur Aufklärung der Bevölkerung über Gesundheitsgefahren oder der informativen Begleitung in Alltagsfragen des Konsums bzw. der Gesundheit, war es nicht zuletzt die vormals passionierte Zigarettenraucherin Katharina Focke, die sich als Ministerin den Tabakkonsum abgewöhnte, weitere Einschränkungen im Bereich der Raucherwerbung durchsetzte und erstmals auch grundlegende Standards zum Schutz der Nichtraucher formulierte.139 Während die nach außen gerichteten politisch-inhaltlichen Themen Fockes die reformierend-modernisierenden Impulse Strobels im Bereich der Gesundheits- und Familienpolitik sowie des Verbraucherschutzes aufgriffen und die diesbezügliche Profilierung des BMJFG gegenüber der Öffentlichkeit und den anderen Bundesressorts weiter voranbrachte, erfuhr das Agieren Fockes als Ministerin die größten Rückschläge hinsichtlich einer versuchten Reform interner Verwaltungsabläufe. Focke, die von den im Bundeskanzleramt unter Horst Ehmke eingeführten neuen Arbeitsprozessen der »vernetzten horizontalen Zusammenarbeit« begeistert war, das heißt den Bemühungen, die Abstimmung zwischen Referaten unterschiedlicher Abteilungen zu vereinfachen, um damit dynamische Synergien zu erzeugen, scheiterte mit ihrem Versuch, einen solchen neuen Arbeitsstil im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zu implementieren.140 Zu wenig flexibel und zu reserviert gegenüber neuen Impulsen war nach Darstellung Fockes das Ressort, als dass es eine solche Reform hätte umsetzen können.141 Mit anderen Worten: Als zu intellektuell weitläufig und entrückt von praktischen Erfordernissen wurde – paradoxerweise im Widerspruch zu einer in der Bevölkerung gerade als bürgernah und pragmatisch geltenden Persönlichkeit – Katharina Focke als Ministerin von Teilen der Beamtenschaft des BMJFG beurteilt. Zumindest partiell galt dies auch für den ab Dezember 1974 amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt. So ließ Schmidt seine sozialdemokratische Ministerin im Sommer 1975 wissen, als BMJFG in: SPD -Pressedienst: Besserer Schutz der Gesundheit: Reform des Arzneimittelrechts gibt dem Bürger mehr Sicherheit, 18. 7. 1974. 139 Zu partiell verschärften Politik des Ministeriums hinsichtlich der Zigarettenwerbung u. dem erweiterten Nichtraucherschutz des BMJFG unter Focke vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /36250 u. BA rch, B 310 /251. Vgl. ebs. den Nachruf des BMG u. des Bundesfamilienministeriums zum Tod Katharina Fockes 2016: www. bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2016 /3-quartal-2016/ katharina-focke.html (15. 5. 2021). 140 Vgl. Focke, Bundeskanzler, S. 108. 141 Vgl. ebd. 154

MAßSTÄBE DER PERSONALPOLITIK

Abb. 39 : Katharina Focke, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, 1973.

eine von ihrem Ressort mit einer Auflage von 2.000 Stück für insgesamt 5.000 DM neu herausgegebene Broschüre zur »therapeutischen Bedeutung des Reitens« werde nicht nur die berechtigte Kritik provozieren, damit Steuergelder verschwendet zu haben, sondern erörtere ein Thema, das »von peripherer Bedeutung« sei.142 Er – so Schmidt weiter – glaube dies feststellen zu müssen und versicherte zugleich, dass ihn kein »plebejischer Instinkt gegen das Reiten« einnehme, »wenngleich das Reiten, vom Standpunkt eines sozialdemokratischen Kanzlers, nicht oder noch nicht als ein wirklicher Volkssport erscheint«.143 Eloquent konterte Focke eingangs in ihrer Antwort rhetorisch an den Kanzler gerichtet: »Welches sind Gutachten von Bedeutung, welches die von peripherer Bedeutung? Und wer bestimmt darüber?«144 Es sei, so die Ministerin weiter, Aufgabe ihres Ressorts, »gesundheitliche Rehabilitationsmaßnahmen zu erforschen« und sich um die Belange und Rechte von Menschen mit Behinderungen zu bemühen. »Dies mag«, so Focke, 142 Vgl. AdsD, 1/KFAA000049, Schreiben von Bundeskanzler Helmut Schmidt an Ministerin Katharina Focke, 20. 6. 1975. 143 Vgl. ebd. 144 Dieses u. die folgenden Zit. in: AdsD, 1/KFAA000049, Schreiben von Ministerin Katharina Focke an Bundeskanzler Helmut Schmidt, 5. 7. 1975. MINISTERINNEN

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Abb. 40 : Katharina Focke, MdEP, während der Bundesdelegiertenkonferenz der SPD zur Europawahl 1989, Bonn, 4.1 1. 1988.

»alles sehr peripher klingen für jemand, der nicht tagtäglich mit Problemen Behinderter konfrontiert wird. Aber für Katharina Focke, die sich laut Auftrag vor allem um die Probleme besonders benachteiligter Gruppen zu kümmern hat, ist es weniger peripher als für den Bundeskanzler.« Focke schloss ihren Brief an Schmidt mit dem Versprechen, keine neuen Broschüren zur Bedeutung des »therapeutischen Segelns« in Auftrag geben zu wollen, wies die Kritik des Bundeskanzlers, der ihr eine Abgehobenheit und eine Elfenbeinturm-Mentalität attestierte, sprachlich gewandt, doch in der Sache entschieden zurück.145 Die Episode zum »therapeutischen Reiten« hilft, einerseits Fockes Persönlichkeit, und andererseits ihre im politischen Kontext von außen wahrgenommenen Eigenheiten zu illustrieren: Focke war eine durchaus eigensinnige Frau, die ihre Überzeugungen und Standpunkte rhetorisch versiert und intelligent zu vertreten imstande war. Im Ministeramt fühlte sie sich gleichwohl nie politisch zuhause – wie Focke auch selbst nachträglich eingestand. Zu groß waren die Sachzwänge einer ministeriellen Verwaltungsroutine und zu eng die der modern und unkonventionell

145 Vgl. ebd. 156

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denkenden Ministerin verbleibenden Gestaltungsspielräume.146 Focke lehnte die Fortsetzung des Ministeramtes nach vier Jahren an der Spitze des BMJFG 1976 ab und konzentrierte sich innerhalb ihres Bundestagsmandates auf entwicklungs- und europapolitische Themen. 1979 zählte sie zu den ersten direkt gewählten Mitgliedern des Europäischen Parlaments und schied erst 1989 aus diesem aus. Innerhalb der SPD zählte sie während dieser Zeit zur prominentesten und profiliertesten Europapolitikerin der Partei.147 Charakteristisch für Focke blieb eine Ambivalenz: Obwohl sie bereits in den 1960er Jahren während des nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampfes und ihrer Zeit als Abgeordnete demonstriert hatte, dass sie durchaus Politikerin war, die Themen und Positionen bürgernah vertrat und keineswegs entrückt von der Realität auch Streitgesprächen nicht auswich,148 blieb die Wahrnehmung ihrer Person im politischen Alltag des BMJFG oder innerhalb des Kabinetts – wie das Urteil Schmidts zeigt – dominiert von der ihr zugeschriebenen Rolle als Intellektuelle. Nichtsdestotrotz markierte Focke an der Spitze des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit den generationellen Wechsel von den 1960er zu den 1970er Jahren. Sie stand vor allem aber auch für den neuen Typus der sozialdemokratischen »Führungsfrau«: um 1920 geboren und bürgerlich-akademisch sozialisiert. Mit Antje Huber übernahm im Dezember 1976 die vierte Frau und dritte Sozialdemokratin das für Gesundheit zuständige Bundesressort – die biografisch dem »Typus Focke« entsprach.

146 Vgl. Focke, Faden, S. 113. 147 Vgl. ebd., S. 113 – 119. 148 Vgl. Weigert, Katharina Focke, S. 98 – 101. MINISTERINNEN

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»Bestallung« vs. »Approbation« : Wortgefechte um den ärztlichen Beruf

In der deutschen Verwaltungssprache war das Wort »Bestallung« lange vor 1933 gebräuchlich. Es beschrieb die Übernahme eines herausgehobenen, vor allem politischen oder juristischen, staatlichen Amtes. So war es etwa in Preußen seit dem 17. Jahrhundert üblich, von einer Bestallung zu sprechen, wenn Personen beispielsweise zum Hofmarschall oder Amtshauptmann, zum Amtsrichter, Regierungspräsidenten oder Ministerpräsidenten ernannt worden waren. Das Wort meinte den Zeitpunkt, an dem ein Posten in der Staatsverwaltung bzw. im Auftrag des Staates angetreten wurde. Eine »Bestallung« implizierte zwingend, dass jemand ein auf Gehorsam und Pflichterfüllung gegenüber dem Staat beruhendes Dienst- und Treueverhältnis eingegangen war. In diesem Sinne hielt eine »Bestallungsurkunde« einerseits den formalen Akt der Amtseinsetzung fest, sie dokumentierte andererseits zugleich ein Untergebenenverhältnis.1 1869 war erstmals vom Norddeutschen Bund in einem nationalstaatlichen Kontext der Ausdruck »Approbation« im Zusammenhang mit der staatlicherseits erteilten »besonderen Genehmigung« zur Ausübung des ärztlichen Berufes gebraucht worden.2 Diese einem akademisch ausgebildeten staatsexaminierten Mediziner erteilte Zulassung, den Arztberuf eigenverantwortlich praktizieren zu können, wurde mit dem lateinischen Verb »approbo« umschrieben – das zu Deutsch »zustimmen«, »als wahr anerkennen«, »genehmigen« bedeutet.3 Der Beruf des Arztes galt 1869 als ein Gewerbe. Folglich wurden die Voraussetzungen der Approbation in der Gewerbeordnung festgeschrieben.4 Die Besonderheit der »Approbati1 Vgl. u. a. Hattenhauer, Geschichte, insbes. S. 62 – 72, 223 – 248, sowie die Unterlagen in: GStA PK , I. HA Rep. 78 a, Nr. 9. 2 Vgl. BGBl. des Norddeutschen Bundes, 1869, Nr. 26, Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21. 6. 1869, S. 245 – 282, insbes. § 29. Vgl. ebs. Moser, Ärzte, S. 21 f. 3 Vgl. Hau, Wörterbuch, S. 63. Vgl. ebs. Moser, Ärzte, S. 15 f. 4 Vgl. BGBl. des Norddeutschen Bundes, 1869, Nr. 26, Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21. 6. 1869, S. 245 – 282, insbes. § 29. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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on« bzw. des medizinischen Gewerbes wurde dabei bereits zeitgenössisch betont – und zwar indem ein eigenes Wort gebraucht wurde: Die »Approbation« rangierte innerhalb der Gewerbeordnung neben den Begriffen »Konzession« und »Bestallung«.5 Dezidiert auf den ärztlichen Beruf bezogen, betonte das Wort »Approbation« damit seit 1869 den besonderen, eigenständigen Charakter des Arztberufes innerhalb der Gewerbeordnung und des staatlichen Gemeinwesens. Und als »Approbation« wurde – zurückgehend auf die Bedeutung des Verbes »approbo« – allein die vom Staat, aufgrund nachgewiesener fachlicher Befähigung des Mediziners, erteilte Genehmigung zur Ausübung des ärztlichen Berufes bezeichnet.6 Die »Approbation« war damit seit 1869 eine von Staats wegen ausgesprochene Zulassung bzw. Genehmigung. Sie war ein Verwaltungsakt, der nach Erfüllung aller fachlichen Voraussetzungen erfolgte, damit der Arztberuf ausgeübt werden konnte. Sie begründete aber kein Dienst-, Treue- oder Untergebenenverhältnis des approbierten Arztes gegenüber dem Staat. Auch wenn es eine hoheitliche Aufgabe war, die Genehmigung zum ärztlichen Beruf zu erteilen, leitete sich daraus weder eine besondere politische Verpflichtung für das Selbstverständnis des Arztes ab noch wurde von ihm eine bestimmte ideologische Haltung eingefordert. Allein bindend für ihn blieben standesethische Prinzipien, die auf Hippokrates zurückgingen und nur zwei Prämissen kannten: Wohl und Gesundheit des Kranken.7

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Es war insofern nur konsequent und ideologieimmanent logisch, dass der nationalsozialistische Staat die Erwartungshaltung gegenüber der Ärzteschaft und deren eingeforderte Pflicht zur Umsetzung einer rassistischbiologistischen Doktrin im Dezember 1935 mit einem simplen Wortwechsel auf den Punkt brachte: Fortan hieß der Akt einer staatlichen Zulassung zum ärztlichen Beruf nicht mehr »Approbation«, sondern »Bestallung«.8 Dass Mediziner während des »Dritten Reiches« nicht länger »approbiert«, sondern »bestallt« wurden, kam einem gravierenden standesethischen wie politischen Paradigmenwechsel gleich. Denn der Staat befand formal nicht länger allein über die reine Erfüllung aller Voraussetzungen zur Zulassung eines ausgebildeten Mediziners zum Beruf des Arztes, sondern er verband die von ihm zu erteilende Genehmi5 6 7 8

Vgl. ebd., Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21. 6. 1869, S. 245 – 282. Vgl. Moser, Ärzte, S. 15 f.; Huerkamp, Aufstieg, S. 256. Vgl. ebd.; Moser, Ärzte, S. 15 f., 21 f. Vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 137, § 3 Reichsärzteordnung, 13. 12. 1935, S. 1433.

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gung mit einem Auftrag: Der NS -Staat formulierte politische Erwartungen und Bedingungen mit Blick auf das zukünftige ärztliche Handeln. Ein Arzt galt nicht länger als eine Person, der aufgrund ihrer dokumentierten fachlichen Leistungen genehmigt worden war, die Heilkunde selbstständig und eigenverantwortlich frei auszuüben. Wenn es sich – im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie – bei der Medizin um ein herausgehobenes Feld staatlicher Politik zur Stärkung und Bewahrung der »rassischen« Überlegenheit des deutschen Volkes handelte, das vom »Dritten Reich« gemäß seiner rassistischen Ideologie kontrolliert und organisiert werden musste, dann konnte auch der Arzt seinen Beruf nur so verstehen wie jeder andere hohe Beamte der Staatsverwaltung: nämlich als einen Bestandteil von Staatspolitik, dessen höchste Werte Treue und Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität waren.9 Die »Reichsärzteordnung« (RÄO) vom 13. Dezember 1935 markierte in diesem Sinne eine Zäsur.10 Der Beruf des Arztes war vom NS -Regime spätestens mit ihrer Verkündung vollständig im Sinne der Doktrin des Nationalsozialismus politisiert worden, denn die RÄO führte die »Bestallung« als Voraussetzung zur Ausübung des Arztberufes ein.11 Der Wortwechsel von »Approbation« hin zu »Bestallung« war Ende des Jahres 1935 – vordergründig nur ein semantischer Unterschied – Ausdruck einer radikal neuen Weltanschauung über Sinn und Zweck ärztlichen Handelns. Er bedeutete de facto eine der gesamten Ärzteschaft (nicht nur den Amtsärzten) auferlegte Pflicht, als Mediziner staatsdienend und in unmittelbarer Abhängigkeit vom Staat tätig zu werden. Die »Bestallungsurkunde« des Arztes stand damit in einem scharfen Kontrast zur traditionellen Approbationsurkunde. Zwar hatte der Staat bereits im Norddeutschen Bund über die Zulassung zum ärztlichen Beruf entschieden. Doch ein kollektives Dienst- und Treueverhältnis aller deutschen Ärzte gegenüber der Regierung wurde erst 1935 durch das nationalsozialistische Regime eingeführt. Der politische Zugriff auf den Arztberuf wurde in der Reichsärzteordnung unverhohlen formuliert: So schuf die RÄO nicht nur erstmals eine zentrale »Reichsärztekammer« als Körperschaft des öffentlichen Rechts, die – expressis verbis – unter »Staatsaufsicht« und Kontrolle des Reichsinnenministeriums stand, jeden Arzt zur Mitgliedschaft zwang und als »Vertretung« der gesamten »deutschen Ärzteschaft« auf die »Erhaltung 9 Zur politischen Rolle des Arztes im NS vgl. Kudlien, Ärzte; Kater, Doctors; Lifton, Doctors. Vgl. insgesamt ebs. die Dokumente bei Conti, Reden. 10 Zur RÄO vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 137, Reichsärzteordnung, 13. 12. 1935, S. 1433 – 1444. Vgl. ebs. Hafeneger / Velke / Frings, Geschichte, S. 143 f.; Vogt, Selbstverwaltung, S. 59 f. 11 Vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 137, § 3 Reichsärzteordnung, 13. 12. 1935, S. 1433. Zur RÄO vgl. ebs. Rüther, Standeswesen, S. 173 – 176. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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und Hebung der Gesundheit, des Erbgutes und der Rasse des deutschen Volkes« hinarbeiten sollte.12 Die RÄO setzte darüber hinaus die rassistischantisemitischen Bestimmungen zur »nationalen« Zuverlässigkeit und »deutschblütigen« Abstammung von Medizinern durch – die erfüllt sein mussten, um den Arztberuf im »Dritten Reich« ausüben zu dürfen.13 Nicht zuletzt etablierte die Reichsärzteordnung schließlich aber auch eine völlig neue Stellung der ärztlichen Berufsgerichtsbarkeit. Anders als seit 1869 in der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes festgelegt, konnte einem Arzt ab 1935 die Erlaubnis zur Berufsausübung nicht länger allein vom Staat wieder entzogen werden, wenn sich seine vorgelegten fachlichen Nachweise über die erfolgreich absolvierte Ausbildung nachträglich als falsch erwiesen hatten.14 Denn die RÄO übertrug es auch den ärztlichen Berufsgerichten, darüber zu entscheiden, ob eine »Bestallung« zu versagen oder rückwirkend wieder zu entziehen war – und zwar dann, wenn Personen durch »berufsgerichtliches Urteil für unwürdig« befunden worden waren, den ärztlichen Beruf ausüben zu können.15 Sowohl die Reichsärztekammer als auch die ärztlichen Berufsgerichte sicherten einen politischen Zugriff der NSDAP auf die Arbeit der Ärzteschaft – der von der Mehrheit der Mediziner begrüßt wurde. Die Zustimmung von Ärzten zur Programmatik des Nationalsozialismus war – wie die historische Forschung zeigen konnte – ausgesprochen groß.16 Die institutionell-strukturelle Kontrolle und gezielte Politisierung des medizinischen Metiers seitens der NSDAP in Form der RÄO und RÄK waren aber nicht zuletzt auch Instrumente zur Disziplinierung. Sie erlaubten Willkürmaßnahmen gegen Unliebsame und potenziell diejenigen, die sich in ihrer Arbeit mit Kranken weniger den rassistisch-politischen Prämissen der NS -Ideologie als vielmehr den traditionellen standesethischen Prinzipien verbunden fühlten.17 Mithilfe der RÄK und der neuen Rolle der Berufsgerichtsbarkeit, als einem Instrument zur Versagung bzw. zum Entzug der Erlaubnis der ärztlichen Berufsausübung, hatte die NSDAP ab Dezember 1935 einen umfassenden Kontrollmechanismus über die Ärzteschaft etabliert.18 12 Vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 137, §§ 19 – 50, 80 – 92 Reichsärzteordnung, 13. 12. 1935, S. 1435 – 1439, 1443 f. Vgl. ebs. Rüther, Standeswesen, S. 173 f. 13 Vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 137, §§ 1 – 5 Reichsärzteordnung, 13. 12. 1935, S. 1433 f. Vgl. ebs. Rüther, Standeswesen, S. 173 – 176. 14 Vgl. BGBl. des Norddeutschen Bundes, 1869, Nr. 26, § 53 Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21. 6. 1869, S. 258. 15 Vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 137, §§ 2, 5 Reichsärzteordnung, 13. 12. 1935, S. 1433 f. 16 Vgl. u. a. Kudlien, Ärzte; Kater, Doctors; Lifton, Doctors. Vgl. ebs. Rüther, Standeswesen, S. 166 f. 17 Zum Widerstand von Ärzten gegen das NS -Regime vgl. Kudlien, Widerstand. 18 Vgl. u. a. Moser, Ärzte, S. 9 f. 162

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Durch zwei legislative Maßnahmen sicherte das NS -Regime im Sommer 1939 – kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges – die politische Kontrolle über die »Bestallung« und damit den Arztberuf in Deutschland endgültig ab: Am 17. Juli 1939 übertrug das NS -Regime seine rassistischantisemitischen Grundüberzeugungen zunächst mithilfe der »Fünften Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsärzteordnung« auf die medizinische Ausbildung.19 Als »Bestallungsordnung für Ärzte« im Untertitel benannt, umriss sie detailliert die neuen fachlichen Kriterien des Prüfungswesens und die rassenhygienischen inhaltlichen Schwerpunkte des medizinischen Studiums – und damit die Leitlinien und formalen Bedingungen einer Zulassung zum ärztlichen Beruf – einheitlich im Sinne des NS -Regimes. Damit waren der erstrebte Umbau der ärztlichen Ausbildung und die inhaltlich-standespolitische Festschreibung der neuen Rolle des Arztes im »Dritten Reich« formal abgeschlossen. Ganz entscheidend war nicht zuletzt der »Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts in der Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Tierärzte und Apotheker«.20 Auf dem »Berghof« bei Berchtesgaden am 15. August 1939 von Hitler unterzeichnet, war der Wortlaut des Textes sehr knapp und doch von wesentlicher Bedeutung: Adolf Hitler erklärte, er persönlich entscheide ab sofort über die »Niederschlagung von Verfahren, die bei den ärztlichen, tierärztlichen und Apotheker-Berufsgerichten bereits anhängig sind«; außerdem besitze er das Recht, »die Aufhebung von Urteilen« zu veranlassen, »in denen festgestellt ist, daß der verurteilte Arzt […] unwürdig ist, den ärztlichen Beruf auszuüben«.21 Dieser »Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts in der Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Tierärzte und Apotheker« wurde am 26. August 1939 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht.22 Auch wenn er somit alles andere als geheim blieb, hat er bis dato weder Eingang in die Debatte der historischen Forschung gefunden noch ist er der breiten Öffentlichkeit bekannt. Er bedeutete im Grunde nichts anderes, als dass Adolf Hitler im August 1939 formal zum obersten Arzt der Deutschen geworden war. Denn Hitler persönlich konnte in Berufsgerichtsverfahren eingreifen und – gemäß der neuen Rolle dieser Instanzen bei der Entscheidung über die »Bestallung« im Sinne der RÄO – über die »Würdigkeit« und »Unwürdigkeit« bei der Berufsausübung von Ärzten 19 Vgl. RGBl. I, 1939, Nr. 130, Fünfte Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsärzteordnung (Bestallungsordnung für Ärzte), 17. 7. 1939, S. 1273 – 1289. 20 Vgl. RGBl. I, 1939, Nr. 146, Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts in der Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Tierärzte und Apotheker, 15. 8. 1939, S. 1447. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. ebd. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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entscheiden. Damit besaß Hitler persönlich die formal weitreichendste Kontrolle über jeden in Deutschland tätigen Arzt. Der Erlass stand im August 1939 in einem besonderen historisch zu verortenden Kontext: Nachweislich hatte sich Adolf Hitler zeitgleich Mitte August 1939 von der Reichskanzlei auf dem »Berghof« über den Fortgang der geplanten Strafrechtsreform informieren lassen.23 Das Ziel dieser langjährig betriebenen Reform bestand unter anderem auch darin, eine legale Basis für die Tötung von als »unheilbar erkrankten«, »erbkranken« oder geistig wie körperlich als »minderwertig« definierten Menschen zu schaffen.24 Hitler und dem NS -Regime ging es darum, ein Gesetz zur sogenannten »Euthanasie« herbeizuführen, wobei im Sommer 1939 feststand, dass dies juristisch vonseiten des Reichsjustizministeriums weiterhin als schwierig bzw. gar als unmöglich angesehen wurde.25 Wie von der historischen Forschung zur NS -»Euthanasie« betont, war es Hitler bewusst, dass ein Gesetz zum Krankenmord in Kriegszeiten in Deutschland sowie im Ausland unerwünschte negative öffentliche Resonanz hervorrufen musste; gleichzeitig war es aber im Sinne der NS -Ideologie zwingend notwendig, gerade im Kriegsfall »unnütze Esser« und »Balastexistenzen« zu eliminieren, um wertvolle Ressourcen zu sparen.26 Vor dem Hintergrund der von Hitler formal mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 autorisierten planmäßig und geheim organisierten Ermordung behinderter erwachsener Menschen und Kinder in Deutschland – der sogrannten NS -»Euthanasie« –, gewinnt der bislang unbeachtet gebliebene »Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts in der Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Tierärzte und Apotheker« vom 15. August 1939 eine besondere historische Bedeutung. Denn angesichts der Tatsache einer zeitgleichen Unterrichtung Hitlers zur Strafrechtsreform scheint zwei Wochen vor Beginn des deutschen Angriffs auf Polen auf dem »Berghof« vom »Führer« eine Entscheidung in Sachen der beabsichtigten Legalisierung der »Euthanasie« herbeigeführt worden zu sein. Und zwar entschied Hitler sich gegen die Option einer Strafrechtsnovelle und für die Lösung der Frage des »Euthanasie«Gesetzes im Rahmen des »Führerstaates«: In Verbindung mit der auf den 1. September 1939 datierten Ermächtigung von Karl Brandt und Philipp Bouhler durch Hitler, Ärzten das Recht einzuräumen, bei »aussichtsloser 23 Vgl. BA rch, R 96 I /2, Schreiben des Reichsministers der Justiz an die Kanzlei des Führers, 11. 8. 1939. 24 Vgl. insgesamt Große-Vehne, Tötung, S. 101 – 122; Merkel, Eugenik. Vgl. ebs. die NS -Argumentation in: Kerrl, Tötung. 25 Vgl. Große-Vehne, Tötung, S. 121 f. 26 Vgl. insgesamt Klee, »Euthanasie«; Burleigh, Tod; Schwartz, »Euthanasie«-Debatten; Schmuhl, »Euthanasie«; Teppe, Massenmord. 164

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Prognose« eines Krankheitsfalles, den »Gnadentod« zu gewähren, stellt der »Führer-Erlaß« vom 15. August 1939 das nie verkündete und dennoch im Rahmen des »Maßnahmenstaates« erlassene »Gesetz zur Vernichtung des lebensunwerten Lebens« dar. Denn jeder am Krankenmord beteiligte Arzt im Deutschen Reich wusste seit öffentlicher Verkündung des Erlasses Hitlers zur Berufsgerichtsbarkeit Ende August 1939, dass seine – im »Dritten Reich« eben nie de jure strafrechtlich legalisierte – Tötung kranker Menschen den persönlichen Schutz des »Führers« genoss, und er daher keinerlei Konsequenzen aus möglicherweise angestrengten Berufsgerichtsverfahren hätte erwarten müssen, wenn er sich an der – politisch gewollten, dennoch illegalen – Praxis des Krankenmordes beteiligte. Umgekehrt erzeugte der Führer-Erlass vom 15. August 1939 innerhalb der Ärzteschaft einen veritablen Konformitätsdruck: Denn jeder Arzt, der vom späteren Krankenmord erfuhr und hätte dagegen im Zuge der Berufungsgerichte vorgehen wollen, musste wissen, dass es sich um ein von der NS -Ideologie seit Jahrzehnten breit propagiertes Aktionsprogramm handelte – das der »Führer« der NSDAP im Rahmen seines Rechtes zur Niederschlagung von Verfahren vor ärztlichen Berufsgerichten zu schützen imstande war. Exemplarisch zeigt das Beispiel des Führer-Erlasses zur Berufsgerichtsbarkeit die charakteristische Aushebelung der Gewaltenteilung durch das NS -Regime sowie die Spezifika der erstmals von Ernst Fraenkel und Franz Neumann beschriebenen »Doppelstruktur« des NS -Staates, im Sinne eines Zusammenspiels aus »Normen-« und »Maßnahmenstaat«.27 Hitlers persönliche Verfügung über die ärztliche Berufsgerichtsbarkeit und damit über die »Bestallung« der Ärzte – das heißt seine Hoheit über die Ausübung des ärztlichen Berufes – demonstriert den politischen Zugriff des »Dritten Reiches« auf den Bereich der Medizin, der 1935 expressis verbis durch den Wortwechsel von »Approbation« hin zu »Bestallung« auf den Punkt gebracht worden war. Der Sinn ärztlichen Handelns konnte unter dem NS -Regime nicht länger in der Individualmedizin und in der Hilfe für den Einzelnen bestehen. Er ergab sich vielmehr aus der kollektivistischen Ideologie des »Volkskörpers«.28 Die Gesundheit des Einzelnen hatte sich dem Staatswohl unterzuordnen, und sie hatte nur einem zu dienen: dem »Führer« und Reichskanzler Adolf Hitler.29 Nicht der freie, »approbierte« 27 Vgl. Fraenkel, Doppelstaat; Neumann, Behemoth; Roberts, House. Vgl. ebs. Broszat, Staat; Diehl-Thiele, Partei; Rebentisch, Führerstaat; Reichardt / Seibel, Staat. 28 Vgl. Süß, »Volkskörper«. Vgl. ebs. insgesamt Henke, Medizin; Frei, Medizin; Eckart, Medizin; Baader / Schultz, Medizin. 29 Vgl. Conti, Reden. Zur Forschung vgl. u. a. insgesamt die Beiträge in: Henke, Medizin, sowie Burleigh, Tod; Harms, Biologismus; Eckart, Medizin; Baader/Schultz, Medizin. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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Arzt, sondern ein staatsdienender, »bestallter« Mediziner konnte diesen Erwartungen gerecht werden. Auch in dieser Hinsicht signalisierte der Wortwechsel von »Approbation« hin zu »Bestallung« 1935 die fundamentale Ablösung alter Prinzipien der individuell ausgerichteten Medizin, die im »Dritten Reich« staatspolitische Aufgaben vorzubereiten und umzusetzen hatte. Gefolgschaft, nicht Patientenwohl, war der Mittelpunkt des ärztlichen Berufes. Insofern verweist der mit der Reichsärzteordnung vollzogene Wortwechsel hin zu »Bestallung« auch auf die Prozesshaftigkeit einer nach 1933 vollzogenen Radikalisierung. Er besaß für den ab 1939 unter freiwilliger ärztlicher Beteiligung praktizierten planmäßigen Krankenmord insofern Bedeutung, als er ein Element einer in den Jahren zuvor begonnenen allmählichen Erosion medizinethischer Grundfeste und eines traditionellen Selbstverständnisses des Arztberufes war.

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mit Übernahme der höchsten Regierungsgewalt in Deutschland durch die vier alliierten Siegermächte im Sommer 1945 wurde die Reichsärzteordnung von 1935 teilweise außer Kraft gesetzt. Nichtig waren alle völkisch-rassistischen und antisemitischen Bestimmungen über die Zulassung von Medizinern zum Arztberuf; aufgelöst worden war die Reichsärztekammer. Während eine zentrale Nachfolgeinstanz zur RÄK fehlte, war seit 1945 /46 in den drei westlichen Besatzungszonen auf Länderebene das Kammerwesen der Ärzte neu entstanden.30 1947 hatten sich die Landesärztekammern freiwillig zu einer »Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Ärztekammern« zusammengeschlossen, die zwar auf Bundesebene tätig war, aber nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts.31 Offen war bei Gründung der Bundesrepublik 1949 nicht allein die Bedeutung, die sich aus jener föderalistischen Besonderheit des Kammerwesens ergab, sondern auch die Tragweite der formellen Weitergeltung der RÄO als Bundesrecht. Darüber hinaus war die Frage von Belang, wie es sich mit der fortbestehenden »Bestallungsordnung für Ärzte« von 1939 verhielt, die auch 1949 noch aktuelle Grundlage der medizinischen 30 Vgl. u. a. Hafeneger / Velke / Frings, Geschichte, S. 268 – 422; Vogt, Selbstverwaltung, S. 38 – 96, 123 – 178; Gerst, Neuaufbau, S. 195 – 203. 31 Die »Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Ärztekammern« wurde 1955 in »Bundesärztekammer« umbenannt, wobei diese gleichfalls ein nichtrechtsfähiger Verein blieb. Vgl. Hafeneger / Velke / Frings, Geschichte, S. 316 – 321; Vogt, Selbstverwaltung, S. 228 – 231; Gerst, Neuaufbau, S. 200 – 203. 166

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Ausbildung war. Ferner war unklar, welche Implikationen sich aus der im Grundgesetz festgelegten konkurrierenden Gesetzgebung von Bund und Ländern für die »Zulassung zum ärztlichen Beruf« ergaben.32 Nach Meinung der seinerzeit für die Gesundheitspolitik der Bundesrepublik zuständigen Abteilung IV des Bundesministeriums des Innern stand es 1950 fest, dass es eine »Bundeskompetenz« auf dem Gebiet des Ärztekammerwesens gebe, weil dieses seit 1935 gemäß RÄO eine alleinige Reichszuständigkeit gewesen sei.33 Dass der Bund – mit anderen Worten – allein über die Zulassung zum ärztlichen Beruf befinden könne, war nach Darstellung der BMI-Gesundheitsabteilung 1950 keine Petitesse, sondern »eine Frage von entscheidender Bedeutung für das deutsche Medizinalwesen und damit auch für die kulturelle Gestaltung der deutschen Lebensform«.34 Vonseiten der Länder wurde eine vom Bund rückwirkend – und im Widerspruch zur grundgesetzlich verankerten konkurrierenden Gesetzgebung – durchgesetzte Hegemonie im ärztlichen Kammerwesen abgelehnt. Die Landesärztekammern waren nicht bereit, ihre Hoheit und Selbstständigkeit durch eine Zwangsmitgliedschaft in einer »Bundesärztekammer« (BÄK) als Körperschaft des öffentlichen Rechts und Rechtsnachfolgerin der RÄK aufzugeben.35 Dieser Konflikt um die BÄK, der primär die Frage nach der Zulassung zum ärztlichen Beruf berührte, sollte nach dem Willen der Gesundheitsabteilung des BMI Anfang der 1950er Jahre durch Verabschiedung einer umfassenden Gesetzesnovelle gelöst werden: dem neuen »Ärztegesetz«, das unter anderem die »Bundesärztekammer« als Anstalt des öffentlichen Rechts vorsah.36 Entscheidend war bei jenen frühen Gesetzentwürfen der Abteilung IV des BMI – die dezidiert die fortgeltende RÄO sowie die NS »Bestallungsordnung« von 1939 außer Kraft setzen wollten – eine demonstrative Rückkehr zum Wort »Approbation« anstelle der »Bestallung« sowie die Rücknahme der den Berufsgerichten der Ärzte seit 1935 ermöglichten Hoheit über das Erteilen der Approbation bzw. der »Bestallung«. Die im Berufsgerichtsverfahren festgestellte »Unwürdigkeit« zur Ausübung des ärztlichen Berufes sollte Anfang der 1950er Jahre nach dem Willen der Abteilung IV des BMI nicht länger ein Versagungsgrund der Ausübung

32 Vgl. BGBl. I, 1949, Nr. 1, Art. 74 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 23. 5. 1949, S. 9. 33 Vgl. BA rch, B 142 /787, Vermerk, 6. 6. 1950. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /787, sowie die Darstellung in: Hafeneger / Velke / Frings, Geschichte; Vogt, Selbstverwaltung; Gerst, Neuaufbau. 36 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /787. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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des ärztlichen Berufes sein.37 Damit entschied sich die Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums unter seinem damaligen Leiter Franz Redeker zunächst für einen bemerkenswert deutlichen Bruch mit der RÄO von 1935 und der Bestallungsordnung von 1939, das heißt für eine Rückkehr zu wesentlichen Grundfesten des ärztlichen Zulassungswesens aus der Zeit vor 1933.38 Neu war die Initiative gleichwohl nicht. Bereits der Länderrat der amerikanischen Besatzungszone hatte im Sommer 1948 die Ausarbeitung einer neuen »Approbationsordnung« angestrengt und demonstrativ mit der »Bestallung« gebrochen.39 Während des von Redekers Abteilung vorangetriebenen Gesetzgebungsvorhabens eines »Ärztegesetzes« kam es im Herbst 1952 innerhalb der Abteilung IV des BMI zu einem veritablen Eklat. Gemäß Redekers Beschwerde gegenüber BMI-Staatssekretär Hans Ritter von Lex, mit der Redeker gleichzeitig bat, eine bereits von von Lex vollzogene Unterschrift des Gesetzentwurfes zurückzunehmen, war es ohne sein Wissen während einer eintägigen dienstlichen Abwesenheit im Ministerium zu signifikanten Änderungen gekommen.40 Diese Änderungen hatte, so Redeker gegenüber von von Lex, ein Referent der Abteilung zu verantworten, der auf Drängen verschiedener medizinischer Hochschulprofessoren gehandelt habe.41 Die eigenmächtig vom Referenten vorgenommenen Änderungen am »Ärztegesetz« waren laut Aussage Redekers so gravierend, dass sie seinen Rücktritt als Abteilungsleiter zur Folge gehabt hätten, wären sie unentdeckt geblieben.42 So seien – entgegen der ursprünglich von Redeker gebilligten Entwurfsfassung des Gesetzes – verschiedene »nationalsozialistische Gewaltbestimmungen« der Reichsärzteordnung »handschriftlich« im Text wieder »fixiert« worden.43 Unter anderem sei die Bestimmung wieder eingefügt worden, dass eine im Berufsgerichtsverfahren festgestellte Unwürdigkeit ein Versagensgrund der Approbation sei, wobei es nun wieder »Bestallung« hätte heißen sollen.44 Auch seien, so Redeker weiter, verschiedene Verschärfungen zum Prüfungswesen eingefügt worden, die aber mit »traditionellen« Gepflogenheiten der Revision unvereinbar seien – und 37 Vgl. die Gesetzentwürfe in: BA rch, B 142 /787. 38 Zur Person Redekers u. der BMI-Gesundheitsabteilung vgl. u. a. Schagen / Schleiermacher, Sozialhygiene, Eintrag: Franz Redeker; Richter, Seilschaften. 39 Vgl. BA rch, Z 1 /1163, Kommissionsprotokolle, Approbationsordnung für Ärzte, 9. 7. 1948. 40 Vgl. BA rch, B 142 /3779, Schreiben Redekers an von Lex, 2. 9. 1952; BA rch, B 142/3779, Schreiben Redekers an von Lex, 13. 11. 1952. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. ebd. 168

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von ihm daher gleichfalls zurückgenommen worden wären.45 Die Episode der versuchten Gesetzestextänderung seitens der Referentenebene der BMI-Gesundheitsabteilung illustriert eindrücklich, wie groß 1952 ministeriumsintern und offenbar auch -extern der Widerstand gegen als zu weitgehend empfundene Brüche mit der vor 1945 implementierten Gesetzgebung zur »Bestallung« von Ärzten war. Dass die umfassende Novelle des »Ärztegesetzes«, mit der die Bestallungsordnung von 1939 und die RÄO von 1935 ersetzt werden sollte, letztlich scheiterte, war dem zwischen Bund und Ländern ungelöst gebliebenen Konflikt um eine Bundesärztekammer und deren Kompetenz sowie Stellung gegenüber den Landesärztekammern geschuldet. War damit für das BMI der Weg verbaut, im Zuge des »Ärztegesetzes« eine umfassende Neuregelung des ärztlichen Zulassungs- und Prüfungswesens zu erreichen, wurde dort 1952 /53 stattdessen die »Bestallungsordnung« entworfen, die die noch verbliebenen gültigen Bestimmungen der »Fünften Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichärzteordnung (Bestallungsordnung für Ärzte)« von 1939 aufheben sollte.46 Anders als noch im »Ärztegesetz« 1952 geplant, war hier vonseiten der Abteilung IV des BMI demonstrativ wieder von »Bestallung« anstatt »Approbation« die Rede.47 Die letztlich im September 1953 verabschiedete ärztliche »Bestallungsordnung« für die Bundesrepublik orientierte sich inhaltlich-strukturell stark an der Vorlage von 1939, freilich ohne rassistisch-antisemitische Bestimmungen.48 Wesentlichster Änderungspunkt der medizinischen Ausbildung durch vorklinisches und klinisches Studium war die Anfang der 1950er Jahre neu eingeführte zweijährige »Medizinalassistentenzeit«,49 die eine vormals Ende der 1930er Jahre eingeführte einjährige »Pflichtassistentenzeit« ersetzen sollte.50 Ziel war es, durch die neue 24 monatige Praxiszeit für Mediziner nach Ablegung der ärztlichen Prüfung eine bessere Vorbereitung auf den klinischen Alltag bzw. die fachärztliche Weiterbildung zu erreichen. Wie bereits durch entsprechende Verordnungen der 1930er Jahre geregelt, blieb die Absolvierung der »Medizinalassistentenzeit« Vor45 Vgl. ebd. 46 Zur VO vgl. RGBl. I, 1939, Nr. 130, Fünfte Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsärzteordnung (Bestallungsordnung für Ärzte), 17. 7. 1939, S. 1273 – 1289. 47 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /787. 48 Vgl. BGBl. I, 1953, Nr. 60, Bestallungsordnung für Ärzte, 15. 9. 1953, S. 1334 – 1353; RGBl. I, 1939, Nr. 130, Fünfte Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsärzteordnung (Bestallungsordnung für Ärzte), 17. 7. 1939, S. 1273 – 1289. 49 Vgl. BGBl. I, 1953, Nr. 60, §§ 63 – 67 Bestallungsordnung für Ärzte, 15. 9. 1953, S. 1343 f. 50 Vgl. RGBl. I, 1939, Nr. 130, §§ 77 – 79 Fünfte Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsärzteordnung (Bestallungsordnung für Ärzte), 17. 7. 1939, S. 1288. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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aussetzung einer »Bestallung« zum Arzt, also der staatlichen Genehmigung zur selbstverantwortlichen Berufsausübung.51 Tatsächlich war die mit der »Bestallungsordnung« 1953 vollzogene Abkehr von der im Zuge des »Ärztegesetzes« noch 1952 geplanten Verwendung des Wortes »Approbation« ein wichtiges formales Detail. Erst das Scheitern der von Franz Redekers BMI-Gesundheitsabteilung vorgesehenen Gesamtreform des Standesvertretungswesens sowie der ärztlichen Ausbildung führte zum Rückgriff bzw. der Beibehaltung eines an sich nicht im Bereich der Medizin traditionell verwendeten Begriffes. Eine bemerkenswerterweise von Redeker ursprünglich Anfang der 1950er Jahre selbst initiierte Idee, durch die »Approbation« eine Brücke zum traditionellen Arztverständnis aus der Zeit vor 1933 zu schlagen, wurde im Zuge der tagespolitischen Kontroverse zwischen Bund und Ländern um die Rolle des Ärztekammerwesens zunächst zurückgestellt. Das Scheitern des »Ärztegesetzes« bedingte 1953 die Verabschiedung eines zwischen Bund und Ländern erreichten Minimalkonsenses: Die Bestallungsordnung sollte erkannte Defizite der Ausbildung zukünftiger Ärzte beheben – und stellte sich zugleich in die Tradition des Begriffes »Bestallung«, ohne dass eine Debatte über die Bedeutung jenes erst 1935 im Bereich der Medizin eingeführten Wortes für das Selbstverständnis von Ärzten und ihrer Rolle gegenüber Gesellschaft und Staat angestoßen wurde. Und dies, obwohl ursprünglich der Wille zur bewussten Rückbesinnung auf die »Approbation« ein Wunsch des BMI gewesen war.

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Der weiter schwelende Konflikt zwischen Bund und Ländern um das Ärztekammerwesen bzw. die Rolle und Funktion einer »Bundesärztekammer« als Anstalt des öffentlichen Rechts, blockierte auch Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre die weiterhin erstrebte Neufassung einer »Bundesärzteordnung«. Erst nachdem im Frühjahr 1960 das Bundesjustizministerium (BMJ) grundsätzlich festgestellt hatte, dass eine »Reichsärztekammer als Funktionsträgerin der Reichsärzteordnung« nicht mehr existiere und eine »Funktionsnachfolge auf Bundesebene« nicht in Betracht komme, da der »Bund mangels Kompetenz das Standesrecht der Ärzte zu regeln auch keine Standesvertretung schaffen« könne,52 fügte sich die seit September 1957 von Josef Stralau geführte Gesundheitsabteilung 51 Vgl. BGBl. I, 1953, Nr. 60, § 67 Bestallungsordnung für Ärzte, 15. 9. 1953, S. 1347. 52 Vgl. BA rch, B 142 /3775, Vermerk, 20. 2. 1960. 170

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des BMI. Unter Stralau war dort vehement das Gegenteil behauptet worden.53 Durch jenen Entscheid des BMJ, der für die BMI-Abteilung IV eine deutliche Niederlage in der Auseinandersetzung mit den Ländern und eine Zurechtweisung innerhalb der Bundesregierung bedeutete, entspannte sich der Konflikt um die Bundesärztekammer als Anstalt des öffentlichen Rechts: Die Länder erklärten ihre prinzipielle Bereitschaft, eine solche Instanz anzuerkennen und ihr freiwillig – ohne Aufgabe von Souveränität – beitreten zu wollen.54 Während nun die Institution der BÄK 1960 innerhalb des Gesetzgebungsprozesses einer »Bundesärzteordnung« – als angestrebter bundeseinheitlicher Normierung der Regelung einer Zulassung zum ärztlichen Beruf – kein Hindernis mehr darstellte, kristallisierte sich ein neuer entscheidender Streitpunkt zwischen dem BMI und den ärztlichen Berufsverbänden immer deutlicher heraus: Der Konflikt um das Wort »Approbation«. Im August 1960 erklärten die Vertreter der Bundesärztekammer, der Arbeitsgemeinschaft fachärztlicher Berufsverbände, des Hartmannbundes und des Berufsverbandes der Zahnärzte in einer Sitzung mit dem BMI gegenüber Josef Stralau und einem seiner Referenten unmissverständlich, sie »wünschten die Wiedereinführung des alten Begriffes ›Approbation‹«.55 Begründet wurde »dieser Wunsch« damit, »daß diese Bezeichnung bis zum Jahr 1935 üblich gewesen sei und auch heute noch im Kassenarztrecht verwendet werde. Außerdem sei sie auch in anderen Ländern (z. B. Frankreich und Belgien) gebräuchlich«.56 Darüber hinaus erinnerte der Vertreter des Berufsverbandes der Zahnärzte daran, dass bereits in der zuvor mit Stralaus Abteilung geführten Debatte um das Wort »Bestallung« im neu gefassten »Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde« erbittert gestritten worden sei. Und letztlich hätte sich Stralau mit der Streichung des Wortes »Approbation« aus dem Gesetzentwurf eigenmächtig über den ausdrücklichen Willen des Verbandes hinweggesetzt.57 Auf die Argumente der Berufsverbände für die Wiedereinführung der »Approbation«, die sie unter Verweis auf die jahrzehntealte medizingeschichtliche Tradition aus der Zeit vor 1933 vorbrachten, entgegnete der Referent Stralaus in der Sitzung, dass der erst 1935 eingeführte BestallungsBegriff »beizubehalten sei, da er seit längerer Zeit verwendet worden [wäre] und sich inzwischen eingebürgert« habe; »seine Verwendung« in

53 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /3775. 54 Vgl. u. a. Hafeneger / Velke / Frings, Geschichte, S. 268 – 422; Vogt, Selbstverwaltung, S. 38 – 96, 123 – 178; Gerst, Neuaufbau, S. 195 – 203. 55 Vgl. BA rch, B 142 /3775, Protokoll der Sitzung v. 10. 8. 1960. 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. ebd. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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der geplanten Neufassung einer Bundesärzteordnung sei »im Sinne einer Kontinuität« erwünscht.58 Bereits am 15. Januar 1960 hatten die größten medizinischen Berufsverbände der Bundesrepublik Stralau und das BMI eindringlich aufgefordert, für die Zulassung zum ärztlichen Beruf die Bezeichnung »Approbation« anstelle des Wortes »Bestallung« zu verwenden – eben weil es sich bei diesem Wort um eine Ausdrucksweise von langer medizingeschichtlicher Tradition handele und nicht um eine erste 1935 im »Dritten Reich« eingeführte Bezeichnung.59 Obwohl die Bundesärztekammer, der Hartmannbund, der Verband niedergelassener Ärzte, der Marburger Bund, der Verband der Deutschen Tierärzteschaft, der Bundesverband der deutschen Zahnärzte, der Westdeutsche medizinische Fakultätentag und die Arbeitsgemeinschaft der fachärztlichen Berufsverbände wieder von »Approbation« sprechen wollten und das Sitzungsprotokoll vom 15. Januar 1960 auch festhielt, dass sich »die Mehrheit der Anwesenden für das Wort ›Approbation‹« ausgesprochen habe, überging Josef Stralaus Abteilung das Votum.60 Im Gesetzentwurf des BMI zur Bundesärzteordnung vom Februar 1960 hieß es weiterhin »Bestallung«.61 Vonseiten des Bundestagsausschusses für Gesundheit wurde letztlich, auf Vorlage Stralaus, endgültig im Juni 1961 entschieden, dass es in der ersten »Bundesärzteordnung« nicht Approbation, sondern Bestallung hieß.62 Stralau hatte sich damit 1960 /61 gegen beides durchgesetzt: Er hatte entgegen der ursprünglich von der BMI-Gesundheitsabteilung 1952 vorgesehenen Wortwahl »Approbation« im »Ärztegesetz« gehandelt und gegen den Willen der ärztlichen Berufsverbände entschieden. Damit wurde für die Bezeichnung der bundesweit einheitlichen Regelung der ärztlichen Berufszulassung an die Tradition der »Bestallungsordnung« und der RÄO von 1935 /39 angeknüpft. Die aussagekräftige Kontroverse um das Wort »Approbation« in einer »Bundesärzteordnung« hatte vorerst im Oktober 1961 zu einer Entscheidung geführt – wenige Tage vor Gründung des Bundesministeriums für Gesundheitswesen und dem Wechsel Stralaus und der beteiligten Referenten in das neue Bonner Gesundheitsressort. Die Vehemenz und Ausdauer, mit der Josef Stralaus BMI-Abteilung sich gegen den Wunsch der ärztlichen Berufsverbände, der Länder und der standesrechtlichen Vertreter der Ärzteschaft nach der »Approbation« zur Wehr gesetzt hatte, lässt 58 59 60 61 62

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Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 142 /3775, Niederschrift der Besprechung, 15. 1. 1960. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 142 /3775, Entwurf der Bundesärzteordnung, Februar 1960. Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /3775 u. BA rch, B 142 /3776, sowie BGBl. I, 1961, Nr. 82, Bundesärzteordnung, 2. 10. 1961, S. 1857 – 1859. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

erkennen, dass es sich bei diesem Streitpunkt um mehr als reine Symbolik oder bloße Semantik handelte. Während Ärzteschaft und Berufsverbände mit ihrer Forderung nach der »Approbation« durchaus artikulierten, den Wortwechsel als grundsätzliche Reflexion über die Rolle und Aufgabe des Arztes im Staat zu verstehen und mit einer erst im »Dritten Reich« begonnenen »Tradition« der »Bestallung« brechen zu wollen, fehlte ein ebensolcher kritischer Reflexionsprozess und Wille aufseiten Stralaus und der Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums. Als neuer zuständiger Abteilungsleiter für humanmedizinische und pharmazeutische Angelegenheiten des BMGes war Josef Stralau ab November 1961 zuständig für die auf Bundesseite wahrgenommenen Aufgaben bei der Zulassung zum ärztlichen Beruf. Während mit der BÄO 1961 die Kontroverse um die Approbation vorerst entschieden schien, konzentrierte sich die neue Abteilung I des BMGes hinsichtlich der »Bestallung« von Ärzten vor allem auf die Begründung der Forderung nach Zulassung von Fachärzten durch den Bund, das heißt einer Novelle der Bestallungsordnung von 1953.63 Die Länder und ärztlichen Berufsverbände lehnten eine solche Bundeskompetenz über die Facharztzulassung ab und argumentierten, eine fachärztliche Qualifikation sei eine Weiterbildung, also eine im Anschluss an eine erfolgte Berufszulassung erfolgte Spezialisierung, die parallel zum selbstständig ausgeübten Arztberuf stattfinde. Demgegenüber argumentierte Stralaus Abteilung des BMGes, der Facharzt bedürfe einer Ausbildung, nicht der Weiterbildung, und seine Zulassung falle damit in die konkurrierende Gesetzgebung gemäß Artikel 74 des Grundgesetzes.64 Der Streit um die Facharztzulassung wurde offiziell erst im Mai 1972 durch das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Argumentation der Länder entschieden, das heißt der Facharzt wurde als eine berufliche Weiterbildung nach abgeschlossener medizinischer Ausbildung definiert.65 Das Gericht begründete seinen Entscheid zur Regelung des Facharztwesens, basierend auf einer Zulassung seitens der Satzungen der Landesärztekammern, ausdrücklich mit einer seit dem 19. Jahrhundert »gewachsenen Struktur der standespolitischen Selbstverwaltung der Ärzteschaft«.66 Damit widersprachen die Karlsruher Verfassungsrichter dem seitens des BMGes unter Josef Stralau stets scharf artikulierten Anspruch, mit eben überkommenen Traditionen des Facharztwesens brechen zu wollen.67

63 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /12987. 64 Vgl. die Unterlagen in: ebd.; BA rch, B 189 /12990; BA rch, B 136 /5222. 65 Vgl. BVerfGE 33, Nr. 10, 9. 5. 1972, S. 125 – 171. Vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /5222. 66 Vgl. BVerfGE 33, Nr. 10, 9. 5. 1972, S. 127 f. 67 Zur Argumentation des BMGes vgl. u. a. BA rch, B 142 /3775 u. BA rch, B 136 /5222. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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Nicht durch Josef Stralau initiiert, sondern gegen den Willen der Abteilung I wurde letztlich von Gesundheitsstaatssekretär Ludwig von MangerKoenig im Herbst 1968 ein konfliktträchtiges Kapitel der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte mit Blick auf die ärztliche Berufszulassung abgeschlossen: Er überstellte am 15. November 1968 dem Bundeskanzleramt den Gesetzentwurf zur Änderung der BÄO zur Beratung im Kabinett. Einziger Zweck der neuen Ergänzung war es, das Wort »Bestallung« durch die Bezeichnung »Approbation« zu ersetzen.68 Zur Begründung verwies von Manger-Koenig auf einen »Wunsch« des Bundestagsausschusses für Gesundheit, der bereits im Dezember 1967 bei der Gesetzgebung zu einer neuen »Bundes-Apothekerverordnung« die »Bestallung« durch »Approbation« ersetzt hatte und 1968 darauf drang, diese im pharmazeutischen Bereich vollzogene Änderung auf den Arztberuf zu übertragen.69 Ende August 1969 wurde die nunmehr um die »Approbation« ergänzte neue Bundesärzteordnung veröffentlicht;70 Ende Oktober 1970 folgte die Bekanntgabe des nun wieder als »Approbationsordnung« bezeichneten Regelwerkes des Prüfungswesens der medizinischen Ausbildung.71 Die Wiedereinführung der »Approbation« – als Ausdruck für die ärztliche Berufszulassung seitens des Staates – fand 1969/70 historisch betrachtet nicht nur zufällig beinahe genau 100 Jahre nach der ursprünglichen Einführung des Wortes im Rahmen der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes statt,72 sondern sie war auch Ergebnis eines breiten gesellschaftlichen Veränderungsprozesses der 1960er Jahre in der Bundesrepublik. Genauer gesagt: Sie war Resultat der von jenen gesellschaftlich angestoßenen Veränderungsprozessen und Reformforderungen erzeugten Resonanz in der Politik. Dass das BMGes der Formulierung »Approbation« 1968 /69 zustimmte, sich das seit 1959 /60 artikulierte Votum der Berufsverbände politisch durchsetzte und der Widerstand von Josef Stralaus Abteilung gebrochen wurde, zeigt eben jenes Durchschlagen von zivilgesellschaftlichen Forderungen nach mehr Partizipation auf den Bereich der Politik.

68 Zum Gesetzentwurf vgl. BA rch, B 136 /5222, Schreiben des BMGes an den Chef des Bundeskanzleramts, 15. 11. 1968, sowie BGBl. I, 1969, Nr. 89, Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung, 23. 8. 1969, S. 1509 – 1512. 69 Vgl. BA rch, B 136 /5222, Schreiben des BMGes an den Chef des Bundeskanzleramts, 15. 11. 1968; PA-BTag, Protokoll der 47. Sitzung des Ausschusses für Gesundheitswesen, 14. 12. 1967. 70 Vgl. BGBl. I, 1969, Nr. 89, Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung, 28. 8. 1969, S. 1509 – 1512. 71 Vgl. BGBl. I, 1970, Nr. 98, Approbationsordnung für Ärzte, 28. 10. 1970, S. 1458 – 1478. 72 BGBl. des Norddeutschen Bundes, 1869, Nr. 26, Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21. 6. 1869, S. 245 – 282, insbes. § 29. 174

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Die berufsständige Forderung nach der Bezeichnung »Approbation« konnte vonseiten des Gesundheitsministeriums Ende der 1960er Jahre nicht länger ignoriert werden. Der Ausdruck »Bestallung« erschien immer mehr als ein semantischer Anachronismus, der im Kontext einer vor allem von Fachverbänden und medizinischen Fakultäten geforderten grundlegenden Reform der ärztlichen Ausbildung nun endlich abgeschafft werden sollte. Das BMGes sah sich mit Blick auf die geforderte Novellierung der Ärzteausbildung einer außerordentlich kritischen Öffentlichkeit gegenüber. Präzedenslos war der Umfang des von medizinischen Fachverbänden, privaten Ärzten, Lehrstühlen und Studierenden der Medizin an das Bonner Gesundheitsressort adressierten Forderungskatalogs. Die klar formulierten Erwartungen gegenüber dem ministeriellen Handeln betonten dabei stets einen Zwang zur zeitgemäßen Modernisierung der ärztlichen Ausbildung.73 Als eine Bezeichnung, die seit Ende der 1950er Jahre durch ärztliche Fachverbände und die Länder eingefordert worden war – eben weil der Begriff »Approbation« Rekurs nahm auf traditionelle und medizinethische Besonderheiten des Arztberufes aus der Zeit vor 1933 –, hätte die Tilgung des Ausdrucks »Bestallung« aus dem Vokabular des ärztlichen Standeswesens Anfang der 1970er Jahre zugleich die Chance für eine kritische Selbstreflexion innerhalb der Ärzteschaft über die Medizin während des »Dritten Reiches« geboten. Debatten über Schuld und Verantwortung waren aber zunächst kein Ergebnis der Wiedereinführung des Begriffes »Approbation«, wohl aber hatten die seit den 1950er Jahren von der Ärzteschaft vorgetragenen Argumente für dieses Wort stets die klassischen medizingeschichtlichen Traditionen betont und eine erst im NS -begründete Wortneuschöpfung konsequent abgelehnt. Dabei war immer auch – zumindest indirekt – die Frage nach der besonderen Rolle des Arztes im Staat aufgeworfen worden. Insofern war der zwischen Ärzteschaft und BMI / BMGes ausgetragene Streit um die Worte »Approbation« und »Bestallung« keineswegs banal. Er brachte vielmehr eine frühe Form von standesethischer Selbstreflexion auf den Punkt und war damit Voraussetzung einer ab den 1980er Jahren kritisch geführten Debatte um die Medizinverbrechen während des »Dritten Reiches« und die damit einhergehende Schuld von Ärzten.

73 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /3795 u. BA rch, B 142 /3796. »BESTALLUNG« VS. »APPROBATION«

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2. Sterilisation : Unbewältigte Vergangenheit YRHcYXSTMWGLI:MWMSR

Ihre »volksbiologische Brauchbarkeit« müsse als »gering bezeichnet« werden. So lautete im Juni 1938 das Fazit eines Untersuchungsberichtes des Gesundheitsamtes Oberhausen im Rheinland mit Blick auf ein damals 17 Jahre altes Mädchen.1 Basierend auf diesem Urteil und vor dem Hintergrund der diagnostizierten Erbkrankheit des »angeborenen Schwachsinns« wurde die Zwangssterilisation der jungen Frau beantragt und wenig später auch durchgeführt.2 Die amtsärztliche Begutachtung und die anschließende Formulierung der Untersuchungsergebnisse zählten seinerzeit zu den ersten Tätigkeiten des neu an das Gesundheitsamt nach Oberhausen gelangten Arztes Josef Stralau. Stralau sollte für gut 20 Jahre in Oberhausen bleiben und dort zunächst als stellvertretender und schließlich ab 1947 als Amtsarzt arbeiten.3 Im September 1957 übernahm er die Leitung der Gesundheitsabteilung des Bundesministeriums des Innern. Er stand damit an der Spitze der damaligen bundesdeutschen Gesundheitsverwaltung.4 Seit Gründung des BMGes verantwortete Stralau bis zu seinem freiwilligen und vorzeitigen Ausscheiden aus dem Dienst im Januar 1971 die für die Gesundheitspolitik maßgebliche Abteilung I – zuständig für Humanmedizin, das Arzneimittelund das Apothekenwesen. Stralaus Bedeutung für die Formierung und Formulierung der bundesdeutschen Gesundheitspolitik der 1950er und 1960er Jahre kann kaum überschätzt werden.5 Und doch sind seine Person und sein Wirken bislang völlig unbekannt geblieben. Gleiches gilt für den vordergründig paradoxen Zusammenhang zwischen zwei diametral verschiedenen Debatten der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft: Der Normierung der freiwilligen Unfruchtbarmachung einerseits, und andererseits den von NS -Zwangssterilisierten gegenüber der Bundesregierung vorgetragenen Forderungen nach finanzieller und nach moralischer Wiedergutmachung für ihr während des »Dritten Reiches« erlittenes Unrecht. Zwar liegen zu beiden Aspekten

1 Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 630, Antrag auf Unfruchtbarmachung, Juni 1938. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. StA Oberhausen, Amtliche Mitteilungen, Nr. 102, 24. 9. 1947. 4 Zu dieser u. den folgenden beruflichen Stationen vgl. die Personalunterlagen in: BA rch, PERS 101 /79535. 5 Vgl. u. a. die Darstellung in Kap. III.1., III.2., III.3. u. III.4. in diesem Bd. 176

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Abb. 41 : Porträt von Josef Stralau im Personalbogen des BMI, 1957.

Forschungsarbeiten vor, insbesondere zu Letzterem auch sehr umfangreiche.6 Die wechselseitige Bezugnahme beider Diskurse aufeinander ist jedoch bislang nicht systematisch in den Blick genommen worden.7 Bemerkenswerterweise fanden beide Debatten aber nicht nur parallel statt, sondern sie waren miteinander verschränkt: In den 1960er Jahren wurden aufseiten der Bundesregierung und ihrer wissenschaftlichen Experten Sterilisationsinitiativen mit dem Argument vorangetrieben, die Anerkennung eines Unrechtscharakters der NS -Praxis mache alle Versuche zunichte, ein notwendiges neues Gesetz zur eugenisch indizierten Sterilisation auszuarbeiten und in Kraft zu setzen.8 Eine andernfalls »er6 Zur Entschädigungsfrage der Zwangssterilisierten vgl. u. a. Westermann, Leid; Tümmers, Anerkennungskämpfe; Neppert, Kontinuität; dies., NS -Zwangssterilisierten; Surmann, NS -Unrecht; Herrmann / Braun, Gesetz. Vgl. ebs. die Arbeiten, die die Gesetzesinitiativen der eugenischen Sterilisation in den 1950er u. 1960er Jahren nachzeichnen, ohne besondere Berücksichtigung des BMGes: Zielke, Sterilisation; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 162 – 170. 7 Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 211, benennt die Bezugnahme kursorisch; Zielke, Sterilisation, stellt Wiedergutmachungs- u. Sterilisationsdebatte ohne deren wechselseitige Bezugnahme aufeinander dar. 8 Vgl. die diesbezügliche Debatte zwischen BMF u. BMG es in: BA rch, B 189 /738, sowie die gutachterliche Stellungnahme externer Experten der BReg vor dem Wiedergutmachungsausschuss des BTages in: PA-BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, S. 11, 31. Vgl. hierzu ebs. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 211. STERILISATION

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hebliche Verzögerung der gesetzlichen Regelung der Frage der freiwilligen Unfruchtbarmachung« befürchtete im Frühjahr 1965 auch und gerade der Protagonist der angestrebten Neuformulierung des Sterilisationsgesetzes: Josef Stralau.9 Vergangenheit und Zukunft griffen in den bundesdeutschen Sterilisationsdebatten der 1960er Jahre auf komplexe Weise ineinander. Und im Mittelpunkt beider Diskurse, dem nach Anerkennung historischer Schuld und dem nach Normierung einer eugenischen Vision, stand das Bundesgesundheitsministerium in Person des Ministerialdirektors der Abteilung I: Josef Stralau. Die Traditionsstränge seiner sachlichen Grundüberzeugungen in der Frage einer bundesdeutschen Regulierung eugenischer Maßnahmen reichten weit zurück. Umso interessanter ist es, anhand der Biografie und des Wirkens Stralaus nach Brüchen und nach Kontinuitäten sowie nach Wandlungs- und nach Lernprozessen zu fragen – und nach ihren Grenzen.

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Die amtsärztliche Beurteilung der Erbgesundheit der Bevölkerung war seit 1934 /35 im Deutschen Reich eine Routineaufgabe des neu formierten öffentlichen Gesundheitsdienstes. Mit dem »Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens«, das im April 1935 in Kraft getreten war,10 wurde der noch fehlende organisatorische Unterbau geschaffen, um nunmehr mithilfe einer staatlichen Gesundheitsbürokratie die rassenideologischen Prämissen der NSDAP durchzusetzen.11 Neben der Verfolgung und Ausschaltung der politischen Opposition, der Abschaffung der Pressefreiheit und der Erosion der Grundrechte, zählte es im Frühjahr 1933 zu einer der ersten Maßnahmen der Reichsregierung unter Kanzler Adolf Hitler, eine über Jahrzehnte ideologisch geformte und propagierte rassistischbiologistische Staatsdoktrin wahr werden zu lassen.12 Für die Gesundheitspolitik in Deutschland markierte das Jahr 1933 insofern eine fundamentale Zäsur, als der Nationalsozialismus zu einer 9 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 5. 4. 1965. 10 Vgl. RGBl. I, 1934, Nr. 71, Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens, 3. 7. 1934, S. 581 f. 11 Vgl. hierzu grundsätzlich u. a. Christians, Amtsgewalt; Vossen, Umsetzung; ders., Erfassen; ders., Gesundheitsämter; Schleiermacher, Gesundheitssicherung; Nitschke, Erbpolizei; Doetz, Alltag. 12 Vgl. insbes. Henke, Entmenschlichung, S. 9 – 29; Frei, Einleitung, S. 8 – 15; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 29 – 32. 178

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Abb. 42 : Schautafel einer Ausstellung zur NS -Rassenhygiene, 1934.

Entgrenzung führte und vorangegangene Tabus obsolet wurden. Bis dahin Unmögliches, das auch parlamentarisch nicht mehrheitsfähig gewesen war, wurde nun gesetzlich verankert.13 Mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) hatte Hitler im Juli 1933 seinen Mitte der 1920er Jahre formulierten rassistischen Lehrsatz in Deutschland zur allgemeingültigen Norm erhoben: »Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit.«14 Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mitsamt seiner zwangsweisen Unfruchtbarmachung war kein Sterilisationsgesetz der Weimarer Republik, sondern ein rassistisch-biologistisches Radikalkonzept eines rassistisch-biologistischen Unrechtssystems, und ein Instrument zur

13 Vgl. insgesamt Henke, Medizin; Peter, Einbruch; Harms, Biologismus; Müller-Hill, Wissenschaft; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 29 – 32. 14 Vgl. Hartmann / Vordermayer / Plöckinger / Töppel, Hitler, S. 671. Zum GzVeN vgl. RGBl. I, 1933, Nr. 86, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14. 7. 1933, S. 529 – 531. STERILISATION

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Bekämpfung politisch Missliebiger.15 Im Sinne der NS -Ideologie zielte das GzVeN darauf ab, den »Lebens- und Erbstrom« zu reinigen und eine behauptete degenerative »Fäulnis« in der biologischen Substanz der Deutschen zu stoppen,16 um damit den »Volkstod« zu verhindern und langfristig eine angebliche rassische Überlegenheit zu sichern.17 Zu diesem Zweck war es zulässig, diejenigen Personen zwangsweise unfruchtbar zu machen, die an neun zur Erbkrankheit erklärten »Defekten« litten: Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, Epilepsie, Huntington’scher Chorea, Blindheit, Taubheit, körperlichen Missbildungen und schwerem Alkoholismus.18 Basierend auf dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens fiel dem mit diesem Gesetz neu geschaffenen öffentlichen Gesundheitsdienst die Schlüsselfunktion bei der Implementierung des GzVeN zu. Denn die Amtsärzte der neuen Gesundheitsämter waren berufen, alle Fälle von angeblicher Erbkrankheit zu erfassen, entsprechende Personen zu begutachten und die Anträge für deren Sterilisation zu stellen bzw. eine solche Unfruchtbarmachung auch gegen den Willen der Betroffenen durchzusetzen.19 Entschieden wurden die Fälle formal vor eigens eingerichteten Erbgesundheitsgerichten unter Kontrolle der NSDAP und einer Beteiligung von Ärzten als Sonderrichter.20 Der beamtete Arzt der öffentlichen Gesundheitsverwaltung war damit im »Dritten Reich« an einer – im Sinne der biologistisch-rassistischen NS Ideologie – herausgehobenen Position tätig. Er war weder nur Beamter noch allein Arzt, sondern im Sinne des Nationalsozialismus der maßgebliche medizinische Garant und zugleich politische Antreiber einer sogenannten rassischen Reinigung und Erneuerung des deutschen Volkes.21 Er sollte eine »zielbewusste Erb- und Rassenpflege [be]treiben und damit der Gefahr […] der Volksverderbnis durch Überwuchern der Minderwertigen« vorbeugen, wie es der »Reichsärzteführer« der NSDAP, Gerhard Wagner, 15 Vgl. Henke, Entmenschlichung; Ley, Zwangssterilisation; Doetz, Alltag; Päfflin, Zwangssterilisation. 16 Vgl. u. a. Gütt, Ausmerze, S. 104 – 119; Volksgesundheitswacht, 1933, Nr. 3, S. 3. 17 Vgl. Gütt / Rüdin / Ruttke, Gesetz, S. 5 – 49; Conti, Reden, S. 56 f.; Gütt, Ausmerze, S. 104 – 119. 18 Vgl. RGBl. I, 1933, Nr. 86, § 1 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14. 7. 1933, S. 529. Zu den v. Nationalsozialismus definierten »Erbkrankheiten« vgl. u. a. Rost, Mißbrauch. 19 Vgl. u. a. Christians, Amtsgewalt; Schleiermacher, Gesundheitssicherung; Vossen, Umsetzung; ders., Erfassen; ders., Gesundheitsämter; Nitschke, Erbpolizei; Doetz, Alltag. 20 Vgl. u. a. Hinz-Wessels, NS -Erbgesundheitsgerichte. 21 Zur Rolle des Arztes im öffentlichen Gesundheitsdienst vgl. u. a. Christians, Amtsgewalt; Schleiermacher, Gesundheitssicherung; Vossen, Umsetzung; ders., Erfassen; ders., Gesundheitsämter; Doetz, Alltag; Nitschke, Erbpolizei. 180

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in einer Rede zum Thema »Stellung und Aufgaben des beamteten Arztes im neuen Reich« 1935 formulierte.22 Die Persönlichkeitsrechte und die Würde des Einzelnen sowie dessen körperliche Selbstbestimmung widersprachen den NS -Idealen der Gesundheitspolitik und wurden ebenso rigoros und rasch außer Kraft gesetzt wie die ärztliche Schweigepflicht als Basis des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient.23 Ab 1934 /35 war in Deutschland nicht nur die zwangsweise durchgeführte Sterilisation ärztliche Praxis, sondern auch ohne Wissen und ohne Zustimmung des vermeintlichen Delinquenten wurde dessen angebliche Erbkrankheit gemeldet, damit Amtsärzte rassenhygienisch gegensteuern konnten.24 Der öffentliche Gesundheitsdienst des NS -Staates hatte geradezu die Pflicht, medizinethische Grundgesetze zu verletzen und gegen den Willen der Betroffenen in intimste private Bereiche einzugreifen, um einem angeblich über dem Recht des Individuums stehenden »Volksinteresse« zu dienen.25 Der Amtsarzt des NS -Staates musste, wie Hitler erklärte, »als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des Einzelnen als nichts erscheinen und sich zu beugen haben.«26 Als Josef Stralau sich im Februar 1937 zum Eintritt in den öffentlichen Gesundheitsdienst entschloss, war dies mithin – historisch bewertet – eine bewusste Entscheidung für eine völlig neuartige staatlich-exekutive Aufgabe von herausragender ideologischer Bedeutung im Sinne des NS -Regimes. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Stralau als klinischer Arzt in einem katholischen Orden zur Fürsorge und Pflege Kranker gewirkt: 1908 in Trier in einem bürgerlichen Elternhaus geboren, studierte Josef Stralau während der Weimarer Republik in Bonn Humanmedizin.27 1930 bestand er sein Physikum, legte 1934 sein Staatsexamen ab und wurde 1935 mit einer Arbeit über die Diagnostik von Schlaganfällen zum Doktor der Medizin promoviert; seine Approbation erfolgte noch im selben Jahr.28 Unmittelbar nach der bestandenen medizinischen Abschlussprüfung trat der Katholik Stralau 1934 in Dortmund eine Stelle im Brüderkran22 Vgl. Conti, Reden, S. 56. 23 Vgl. Vossen, Umsetzung, S. 100 – 105; Ley, Zwangssterilisation, S. 67 – 99; Bock, Sterilisationspolitik, S. 85 – 99; Schmuhl, Zwangssterilisation, S. 201 – 209. 24 Vgl. Ley, Zwangssterilisation, S. 67 – 99; Bock, Sterilisationspolitik, S. 85 – 99; Vossen, Umsetzung, S. 100 – 105; Schmuhl, Zwangssterilisation, S. 201 – 209; Christians, Amtsgewalt, S. 161 – 183. 25 Vgl. u. a. Ley, Zwangssterilisation, S. 67 – 99; Christians, Amtsgewalt, S. 161 – 183. 26 Vgl. Hartmann / Vordermayer / Plöckinger / Töppel, Hitler, S. 1031. 27 Vgl. die Angaben in: BA rch, PERS 101 /79533. 28 Vgl. die Angaben in: ebd., sowie BA rch, PERS 101 /79535. STERILISATION

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kenhaus an.29 Diese vom katholischen Männerorden der »Barmherzigen Brüder« Anfang des 20. Jahrhunderts zur Krankenpflege und medizinischen Versorgung der Bevölkerung gegründete Einrichtung war die dritte große Klinik in Dortmund. Sie eröffnete bereits 1907 als erstes deutsches Krankenhaus eine Abteilung für Urologie und besaß mit der klinischen Begründung dieses Fachgebietes reichsweit eine besondere Bedeutung.30 Im Dortmunder Brüderkrankenhaus war Josef Stralau in der »Klinik für Innere Medizin und Nervenleiden« tätig und stieg dort rasch zum Stationsleiter auf. Dem Arzt Josef Stralau wurden erstklassische fachliche Fähigkeiten im klinischen Alltag attestiert.31 Die Distanz zum Nationalsozialismus und seinen erb- und rassenhygienischen Prämissen war bei Stralau gering ausgeprägt, trotz seines katholischen Glaubens. Freiwillig schloss er sich noch während seines Medizinstudiums 1933 im Alter von 25 Jahren der Sturmabteilung (SA) der NSDAP an.32 Als »Sanitätsscharführer« versah Josef Stralau zunächst in einer Dortmunder SA-Gruppe seinen Dienst und kümmerte sich um die medizinische Betreuung der Angehörigen dieses Straßenkampftrupps der NSDAP, der – auch nach Regierungsantritt Hitlers – gegen Oppositionelle und Regimegegner vorging. Vor allem jüdische Bürgerinnen und Bürger waren dabei den Angriffen der SA und ihrer berüchtigten Brutalität ausgesetzt.33 Stralau blieb auch nach der von Hitler initiierten Entmachtung und teilweisen Ermordung der SA-Führung im Jahr 1934 freiwillig Mitglied der Sturmabteilung der NSDAP und stieg zum »Sturmbannarzt« auf.34 Er war damit medizinischer Verantwortlicher eines paramilitärischen nationalsozialistischen Verbandes, bestehend aus drei bis vier »Stürmen« mit insgesamt zwischen 250 und 400 Mann; vergleichbar mit der Größe eines Bataillons des Heeres und dem Rang eines Majors bzw. Oberstabsarztes.35 29 Vgl. BA rch, PERS 101/79534, Zeugnis des Brüderkrankenhauses Dortmund, 10. 11. 1936. Zum katholischen Glaubensbekenntnis Stralaus vgl. die Angaben in: BA rch, PERS 101 /79533, sowie die Empfehlungen seiner Auskunftspersonen ebd. 30 Zur ersten deutschen Fachabteilung für Urologie u. deren Bedeutung vgl. u. a. 110 Jahre Urologie im Klinikum Dortmund, www.klinikumdo.de/kliniken-zentren/ kliniken-abteilungen-m-z/urologie/wirueberuns/110-jahre-urologie (30. 11. 2020). Vgl. ebs. Moll / Hallin, Lehrstühle, S. 103. 31 Vgl. BA rch, PERS 101/79534, Zeugnis des Brüderkrankenhauses Dortmund, 10. 11. 1936. 32 Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007 /53812, Personalakte Stralau, Fragebogen 1938. 33 Zu den Angaben Stralaus vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007 /53812, Personalakte Stralau, Fragebogen 1938. Zur Rolle der SA vgl. Siemens, Sturmabteilung, S. 255 – 324. 34 Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007/53812, Personalakte Stralau, Fragebogen 1938. Zur Entmachtung der SA-Führung vgl. u. a. Siemens, Sturmabteilung, S. 225 – 245. 35 Einem von Stralau 1946 im Zuge der Entnazifizierung angegebenen Austritt aus der SA im November 1934 widerspricht seiner im Jahr 1938 in Oberhausen abgegebene 182

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Trotz der – wie im Abschlusszeugnis des Dortmunder Brüderkrankenhauses zum Ausdruck gebrachten – sehr vielversprechenden beruflichen Perspektiven in einem expandierenden klinischen Umfeld, entschied sich Josef Stralau 1937 für einen Wechsel.36 Aus dem klinischen Arzt im katholischen Krankenhaus der Barmherzigen Brüder sollte der politische Medizinalbeamte des NS -Staates werden: Im Februar 1937 wurde Josef Stralau von der Stadt Dortmund zum Hilfsarzt berufen.37 Stralau war nicht bereits im öffentlichen Gesundheitsdienst beschäftigt als der Nationalsozialismus auch dort seine radikalen erb- und rassenpolitischen Doktrinen implementierte. Er wollte vielmehr erst Amtsarzt werden, nachdem die NSDAP die Handlungsprämissen dieser überaus speziellen medizinischen Richtung völlig neu definiert hatte. Mit anderen Worten: Josef Stralau trat 1937 trotz der unter den Bedingungen des »Dritten Reiches« radikal rassistisch ideologisierten und politisierten öffentlichen Gesundheitsverwaltung in diesen Bereich ein und votierte gegen eine vom katholischen Glauben bestimmte ärztliche Tätigkeit.38 Sein freiwilliger und bewusster Entschluss verdeutlicht mithin eine Zustimmung zu den im Nationalsozialismus neu entstandenen Rahmenbedingungen des medizinischen Handelns im öffentlichen Gesundheitsdienst und dessen Zielrichtung. Ebenfalls 1937 beantragte Stralau die Aufnahme in die NSDAP.39 Dass Josef Stralau den öffentlichen Gesundheitsdienst als Instrument zur Umsetzung nationalsozialistischer Dogmen der »Erb- und -Rassenpolitik« verstand, dokumentiert sein Arbeitszeugnis der Stadt Dortmund. Es benennt den Aufgabenbereich der »Erb- und Rassenpflege« als maßgebliches Tätigkeitsfeld Stralaus innerhalb der Dortmunder Gesundheitsverwaltung und bescheinigt ihm hervorragende fachliche Leistungen, ein »sicheres und

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Erklärung zum aktiven Dienst in der Oberhausener SA-Standarte 144 im Rang des »Sturmbannarztes«. Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007 /53812, Personalakte Stralau, Fragebogen 1938; LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1015 /3178, Fragebogen, 7. 4. 1946. Vgl. BA rch, PERS 101/79534, Zeugnis des Brüderkrankenhauses Dortmund, 10. 11. 1936. Zur Phase der Expansion u. Modernisierung des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder vgl. die Unterlagen in: LA NRW, Abt. Westfalen, K 101, Regierung Arnsberg, Akte 13321. Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007 /53812, Personalakte Stralau, Fragebogen 1938. Inwiefern Stralaus Wechselentscheidung durch die 1936 /38 v. NS -Regime initiierte Kampagne gegen das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Dortmund beeinflusst wurde, die letztlich zur staatlichen Übernahme der Einrichtung führte, war anhand der Quellen nicht zu ergründen. Zur Kampagne vgl. die Unterlagen in: LA NRW, Abt. Westfalen, K 101, Regierung Arnsberg, Akte 13321 u. LA NRW, Abt. Westfalen, K 101, Regierung Arnsberg, Akte 13322. Vgl. BA rch, R 9361-IX KARTEI / 43420928.

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gewandetes« Vorgehen bei Begutachtungen und ein tadelloses politisches Auftreten im Sinne des Nationalsozialismus.40 Wann und wo Josef Stralau den damaligen langjährigen Leiter des Oberhausener Gesundheitsamtes, Erich Schröder, kennenlernte, ist nicht bekannt. Möglicherweise während dienstlicher Kontakte noch während Stralaus Dortmunder Amtszeit, eventuell aber auch erst im Kontext der amtsärztlichen Prüfung im Frühjahr 1938.41 Fest steht indes, dass Stralau auf Schröders Initiative hin im Mai 1938 an das Oberhausener Gesundheitsamt wechselte – und dass beide Männer rasch eine enge Freundschaft verband.42 Als Erich Schröder 1942 nach Berlin wechselte, war es seinem energischen Drängen geschuldet, dass Josef Stralau schließlich zum neuen Leiter des Oberhausener Gesundheitsamtes berufen wurde.43 Wie Johannes Vossen in seiner Regionalstudie zur Arbeit von NS Gesundheitsämtern aufzeigt, zählte die Oberhausener Einrichtung zu den radikaleren Umsetzern der NS -Erb- und -Rassenpolitik. Vossen stützt dieses Urteil auf den Vergleich der beantragten Sterilisationsmaßnahmen innerhalb des Regierungsbezirkes Düsseldorf.44 Die Auswertung von Erbgesundheitsakten im Oberhausener Stadtarchiv während der Amtszeit Stralaus ab 1938 stützt diesen Befund. Die Akten vermitteln das Bild einer im Sinne der NS -Ideologie akribisch und exakt arbeitenden Gesundheitsbehörde, die Ablehnungsbescheide beantragter Sterilisationen durch Erbgesundheitsgerichte in jedem Fall zu verhindern suchte und daher besonders ausführlich begutachtete.45 Stralau exponierte sich in Oberhausen praktisch mit Dienstbeginn und in der Funktion des stellvertretenden Amtsarztes als ein umtriebiger Beamter. Dies belegt etwa sein Handeln in der Eheberatung gemäß dem »Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes«, das heißt der den Gesundheitsämtern seit 1935 obliegenden Pflicht zur Ausstellung von »Ehetauglichkeitszeugnissen«.46 Die Begutachtung der erbbiologischen »Tauglichkeit« von Personen zur Heirat wurde von Josef Stralau beflissentlich 40 Vgl. BA rch, PERS 101 /79534, Zeugnis der Stadt Dortmund, 15. 5. 1938. 41 Zur Prüfung Stralaus vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 101 /79532. Zur Person Schröders vgl. Schagen / Schleiermacher, Sozialhygiene, Eintrag: Erich Schröder. 42 Vgl. die Unterlagen in: StA Oberhausen, Bd. 12, Nr. 1047, Personalakte Schröder, Erich; LA NRW, Abt. Rheinland, BR 2225 /1500, Personalakte Stralau, Josef; LA NRW, Abt. Rheinland, BR 007 /53812, sowie Stralau, Professor, S. 221 f. 43 Zur Rolle Schröders in der Nachfolgeregelung vgl. StA Oberhausen, Bd. 12, Nr. 1047, Personalakte Schröder, Erich, sowie LA NRW, Abt. Rheinland, BR 2225 /1500, Personalakte Stralau, Josef. 44 Vgl. Vossen, Gesundheitsämter, S. 417 – 424. 45 Vgl. etwa die Unterlagen in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 566. 46 Zum Gesetz vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 114, Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz), 18. 10. 1935, S. 1246; RGBl. I, 1935, Nr. 135, Erste Verordnung zur Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes, 29. 11. 1935, S. 1419. 184

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im Sinne der NS -Ideologie durchgeführt.47 Dabei verfügte er – gemäß der NS -Gesetzgebung zur Ehetauglichkeit – mehrfach Eheverbote aus sogenannten erbbiologischen Gründen.48 Seine in den Gutachtertexten formulierte Sprache, geprägt von Neologismen und einer Übernahme gängiger rassistischer Topoi, lässt eine starke Identifikation mit den Prämissen der nationalsozialistischen Erb- und Rassenpolitik erkennen.49 Wenn es Josef Stralau geboten schien, konnte er für die vermeintlich richtige Sache auch unorthodox vorgehen. Etwa attestierte er 1940 einer 32-Jährigen amtsärztlich »landläufige Dummheit bei familiärer Schwachsinnsbelastung«, verfügte als »Maßnahme« gegen sie eine »Kinderbeschränkung« und votierte gegen die »Eheschließung auch mit einem gleichsinnig Belasteten«.50 Beide »Maßnahmen« Stralaus waren willkürliche Selbstermächtigungen ohne jede gesetzliche Fundierung, denn weder das GzVeN noch das NS -Gesetz über die »Ehegesundheit« und ihre Durchführungsbestimmungen sahen ein amtsärztliches Einschreiten gegen »landläufig Dumme« vor, auch nicht bei »familiärer Schwachsinnsbelastung«.51 Die stichprobenartig in 50 Krankenakten ermittelten gut ein Dutzend Fälle, in denen Josef Stralau eine Zwangssterilisation beantragte – die auch stets durchgeführt wurde – verdeutlicht darüber hinaus, wie vorbehaltlos er in Oberhausen im Sinne der NS -Gesundheitspolitik agierte.52 Mehrheitlich

47 48

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52

Zur Praxis der Gesundheitsämter vgl. Vossen, Gesundheitsämter, S. 325 – 356; Christians, Amtsgewalt, S. 152 – 160. Vgl. u. a. die Fälle in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1151, Akten 8 – 25. Vgl. u. a. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1140-44, Untersuchungsbogen, 21. 12. 1939, sowie die Fälle in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 551151, Akten 8 – 25. Zum entsprechenden Gesetz vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 135, Erste Verordnung zur Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes, 29. 11. 1935, S. 1419 – 1427. Vgl. u. a. die StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1145, Vorgang Akte 10, Juni 1938; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 44, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 5. 1. 1944; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 874, Untersuchungsbogen, 27. 11. 1943. Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1140-41, Untersuchungsbogen, 2. 2. 1940. Vgl. RGBl. I, 1933, Nr. 86, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14. 7. 1933, S. 529 – 531; RGBl. I, 1935, Nr. 114, Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz), 18. 10. 1935, S. 1246; RGBl. I, 1935, Nr. 135, Erste Verordnung zur Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes, 29. 11. 1935, S. 1419 – 1421. Vgl. die Fälle in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1145-25, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 15. 4. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 874, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 30. 10. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 873, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 17. 5. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-674-23, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 24. 1. 1939; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 3. 8. 1942; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 872, Antrag auf Unfruchtbar-

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185 https://doi.org/10.5771/9783835348752

Abb. 43 : Erfassungsbögen zur Ermittlung der rassenhygienischen »Erbgesundheit« Neugeborener, 1938.

wurden durch die von Stralau initiierten Unfruchtbarmachungen Frauen zwangsweise sterilisiert, wobei sie durchschnittlich 28 Jahre alt waren. Mit Ausnahme der durch Stralau diagnostizierten – nicht als Erbkrankheit gemäß GzVeN definierten – »angeborenen endogenen Schwerhörigkeit« beriefen sich die übrigen Sterilisationsanträge auf die »Erbkrankheit« des »angeborenen Schwachsinns«.53 machung, 1. 3. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 18, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 14. 8. 1939; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 25, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 21. 2. 1940; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 44, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 5. 1. 1944; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 53, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 27. 5. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 630, Antrag auf Unfruchtbarmachung, Juni 1938. 53 Vgl. die Fälle in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1145-25, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 15. 4. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 874, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 30. 10. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 873, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 17. 5. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-674-23, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 24. 1. 1939; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 186

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In mindestens zwei Fällen wurde durch Josef Stralau die Sterilisation Schwangerer in die Wege geleitet und letztlich auch in einem Fall vollzogen – ein seit 1935 gesetzlich geregelter Eingriff, der gleichbedeutend mit der Tötung des ungeborenen Kindes bis zum Ende des sechsten Schwangerschaftsmonats war.54 Bei der vollzogenen Sterilisation einer der beiden Schwangeren und der Tötung ihres Kindes im vierten Schwangerschaftsmonat ist Stralaus Begutachtungsbericht allein insofern bemerkenswert als von ihm die Eingriffsindikation »angeborener Schwachsinn« mit folgender Aufzählung begründet wurde: Die Frau sei die Schwester eines anderen von Stralau begutachteten Sterilisationsfalles, ihr Vater sei ein schlechter Schüler gewesen, sie habe noch sechs Geschwister, von denen zwei sterilisiert worden seien und sie selbst sei im »allgemeinen Verhalten unfreundlich«.55 Der »Intelligenzprüfungsbogen«, mit dem Stralau die Frau bei Verdacht auf »angeborenen Schwachsinn« offiziell zu untersuchen hatte, enthält unter anderem die folgenden Fragen und Antworten: »Wann kocht Wasser? Wenn es heiß genug ist. […] Wozu spart man? Um später weiterzukommen. […] Aus was wird Glas gemacht? Aus Soda und Sand.«56 Diese schlagfertigen und keineswegs falschen Antworten der amtsärztlich untersuchten Frau zeigen, dass Josef Stralau ihrem sozialen Umfeld und seinen persönlichen Ressentiments gegenüber der »im allgemeinen Auftreten« als »unfreundlich« empfundenen Person höheres Gewicht beimaß als den ermittelten Ergebnissen des »Intelligenzprüfungsbogens«. Denn diese hätten einen Sterilisationsantrag aufgrund »angeborenen Schwachsinns« oder die Tötung ihres ungeborenen Kindes nicht gerechtfertigt. Dieses willkürliche und von Subjektivität geprägte Handeln Stralaus war kein Einzelfall. Wie die Forschung aufzeigen konnte, waren Sterilisationsentscheidungen von Amtsärzten in großer Zahl beeinflusst bzw. motiviert von Stigmatisierung,

3. 8. 1942; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 872, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 1. 3. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 18, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 14. 8. 1939; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 25, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 21. 2. 1940; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 44, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 5. 1. 1944; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 53, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 27. 5. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 630, Antrag auf Unfruchtbarmachung, Juni 1938. 54 Zu den Fällen vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 873, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 17. 5. 1943; StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 551145-10, Vorgang Juni 1938. Zur Änderung des GzVeN u. der eugenisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechung vgl. RGBl. I, 1935, Nr. 65, Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 25. 6. 1935, S. 773. 55 Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 873, Antrag auf Unfruchtbarmachung, 17. 5. 1943. 56 Vgl. ebd. STERILISATION

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rassistischen Vorurteilen und einem Sanktionierungsdrang gegenüber als negativ konnotiert geltenden sozialen Verhaltensweisen.57

kÆåŹĚ±ƣžåĻåŹƐ±ÚĞī±ĮЃ·ƒƐ×Ɛ„ƒŹ±Į±ƣƐƣĻÚƐ ÚĞåƭƐ)DŽƒŹåķåƭÚåŹƭƐNS- Gesundheitspolitik

Bemerkenswert sind die von Stralau initiierten Sterilisationen von Schwangeren aber auch aus einem weiteren Grund: Denn Josef Stralau war – gemäß eigener Angaben und der nach 1945 beigebrachten Stellungnahmen namhafter Persönlichkeiten der karitativen Wohlfahrtspflege – ein gläubiger Katholik.58 Die Katholische Kirche lehnte jeden medizinischen Eingriff zur Tötung von Leben prinzipiell ab und hatte es nach Inkrafttreten des GzVeN allen katholischen Fürsorgeträgern und dort tätigen Ärzten untersagt, an der Sterilisationspraxis oder Schwangerschaftsunterbrechung mitzuwirken.59 Innerhalb der beiden deutschen christlichen Kirchen war die Legitimität eugenischer Maßnahmen gleichwohl seit den 1920er Jahren lebhaft und kontrovers diskutiert worden.60 Es galt jedoch auch nach 1933, dass außerhalb einer kleinen pro-eugenischen Richtung (vornehmlich aus dem Kreis der karitativen Fürsorge) die eugenisch indizierte Unfruchtbarmachung von der Katholischen Kirche abgelehnt wurde. Kategorisch ausgeschlossen war ihre Zustimmung mit Blick auf die Tötung ungeborener Kinder – ganz gleich, ob sie im Sinne des Nationalsozialismus als unbrauchbar und »defekt« galten oder nicht.61 Der Katholik Josef Stralau musste folglich Stellung beziehen und sich positionieren. Seine amtsärztlichen Entscheidungen dokumentieren, dass er einen möglichen persönlichen Gewissenskonflikt zugunsten der NS Ideologie entschied. Als Amtsarzt votierte er bei der Sterilisation im Allgemeinen und bei der Frage nach der Tötung gezeugten Lebens im 57 Vgl. Vossen, Erfassen, S. 92 f.; Braß, Rassismus, S. 29 – 33. 58 Vgl. die Angaben Stralaus in: BA rch, PERS 101 /79533 u. BA rch, PERS 101 /79534. Stellungnahmen zugunsten Stralaus verfassten 1954 u. a. die CDU-Sozialpolitikerin Helene Weber u. der Prälat Alois Eckert, seinerzeit Präsident des Deutschen Caritasverbandes. Vgl. BA rch, PERS 101 /79533. 59 Vgl. Nowak, Euthanasie, S. 111 – 119; Richter, Katholizismus, S. 367 – 417; HinzWessels, Haltung, S. 169 – 172. 60 Vgl. insgesamt Schwartz, Milieus, S. 403 – 447; Nowak, »Euthanasie«, S. 106 – 119, 126 – 129; Richter, Katholizismus, S. 367 – 417; Dietrich, Eugenics, S. 575 – 587; HinzWessels, Haltung, S. 173 – 182. 61 Zur pro-eugenischen Haltung der deutschen Katholiken seit den 1920er Jahren vgl. u. a. Muckermann, Wesen; ders., Eugenik; Mayer, Unfruchtbarmachung. Vgl. auch die NS -propagandistische Schrift von Stroothenke, Erbpflege, S. 110. Zur diesbezüglichen Forschung vgl. u. a. Nowak, Euthanasie; Richter, Katholizismus; Schwartz, »Euthanasie«-Debatten. 188

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Besonderen ausschließlich im Sinne einer politischen Ideologie. Die von Stralau im Oberhausener Gesundheitsamt praktizierte nationalsozialistische Gesundheitspolitik wurde weder von katholischer Moral noch von klassischen Werten der ärztlichen Ethik begrenzt. Befreit von privaten Ressentiments, setzte Stralau vielmehr beides im Sinne der nationalsozialistischen Lehre durch: eine präventive Verhütung erbkranken Nachwuchses und die Schwangerschaftsunterbrechung als Maßnahme zur Beendigung existenten »erbkranken« und »unwerten« Lebens. Diese pro-nazistische Radikalität zeichnete den Katholiken Josef Stralau aus. Seine Haltung gegenüber der erb- und rassenpolitisch begründeten Forderung nach einer Tötung »defekten« menschlichen Lebens – als notwendiger Maßnahme zur Reinigung des »Volkskörpers« – lässt sich gleichwohl nicht nur anhand seiner verfügten Schwangerschaftsunterbrechungen beurteilen. Erkennbar wird sie vielmehr auch, wenn Stralaus Position mit Blick auf das Oberhausener katholische Fürsorgeheim »St. Vincenzhaus« betrachtet wird. Die Involvierung der städtischen Gesundheitsverwaltung in diesen Fall konturiert eine Facette katholischer Radikalität zur Unterstützung der nationalsozialistischen Rassenhygiene. Dies ist für die historische Verortung Josef Stralaus insofern relevant, als sich auch beim St. Vincenzhaus zeigt, dass für ihn – ohne als Arzt oder Katholik dagegen Widerspruch zu erheben – die Tötung bestehenden »minderwertigen« Lebens als eine staatlicherseits anerkannte Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Gesundheit galt. Seit 1928 war das vormalige katholische Waisenhaus St. Vincenz eine private Heil- und Pflegeanstalt »für schwachsinnige, erziehungsfähige, aber nicht bildungsfähige Pfleglinge beider Geschlechter im Alter von 2 bis 20 Jahren«.62 Bis zum Zeitpunkt der Auflösung des St. Vincenzhauses 1942 zählte es durchschnittlich 260 Betten und war damit vergleichsweise groß.63 Ärztlich betreut wurden die Kinder der Einrichtung ehrenamtlich seit den 1920er Jahren vom langjährig in Oberhausen tätigen Internisten Anton Gockel und seinem Schwiegersohn, dem Chirurgen Heinrich Nau, beides bekennende Katholiken.64 Gemäß der vom St. Vincenzhaus geführten Statistik beliefen sich die Sterbefälle in den Jahren 1928 auf null, 1929 auf vier, 1930 sowie 1931 auf 62 Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007 /54535, Konzession des Regierungspräsidiums Düsseldorf, 14. 10. 1930. 63 Vgl. Archiv Kloster Arenberg, Chronik Oberhausen; Archiv Kloster Arenberg, Jahresberichte 1930 – 1939. 64 Zu den Personen vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007/54535; H. K.: 50 Jahre Arzt, in: Der neue Tag, 10. 4. 1936, S. 1; StA Oberhausen, Standesamt, Urkunde der Eheschließung 20 aus 1930; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 1148 aus 1964. STERILISATION

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Abb. 44 : Das Oberhausener St. Vincenzhaus, Postkartenaufnahme EYWcHIRcIV/ELVIR

jeweils zwei und 1932 auf vier. Während folglich in den fünf Jahren zwischen 1928 und 1932 insgesamt zwölf Kinder im St. Vincenzhaus starben, ist für die Jahre 1933 /34 der Tod von 26 Kindern festgehalten – ein massiver Anstieg der jährlichen Sterbefälle im Vergleich zur Zeit vor Regierungsantritt Adolf Hitlers und der NSDAP im Reich. Zwischen Frühjahr 1933 und Winter 1941/42, als die Einrichtung zugunsten eines Wehrmachtslazarettes aufgelöst wurde, starben im St. Vincenzhaus laut hauseigener Dokumentation 150 Kinder; statistisch eine ab 1933 im Vergleich zur Weimarer Republik um mehr als 600 Prozent erhöhte Anzahl der jährlichen Sterbefälle.65 Das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen bilanzierte 1989 im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Dortmund in Sachen des St. Vincenzhauses und von sieben angezeigten ungeklärten Todesfällen in den Jahren 1939 /40: »Die Feststellungen ergaben, daß noch eine weit größere Anzahl behinderter Kinder (sowie einiger Erwachsener) im Jahre 1941, sowie in den Jahren 1939 und 1940, im Vincenzhaus verstorben ist. Beim Standesamt Oberhausen sind jedoch nicht alle Sterbefälle erfasst, keine Sterbefälle sind zum Zeitpunkt der Räumung des Hauses im Januar und Februar 1942 erfasst. Der letzte Transport behinderter Kinder fand nach Feststellung der Priorin des Vincenzhauses am 8. 3. 1942 statt. Das 65 Vgl. die Ermittlungsergebnisse der StA Dortmund 1989 in: LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13084. 190

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Schicksal der verlegten Kinder ist nicht bekannt.«66 In einem weiteren Vermerk des LKA heißt es zum Umstand, dass lediglich zwei Drittel aller Krankenakten verstorbener Kinder des St. Vincenzhauses bei Durchsuchungen auffindbar waren, es müsse »davon ausgegangen werden«, dass die fehlenden Akten in den 1940er Jahren »gezielt beseitigt worden« seien, »weil sie – wohl im Gegensatz zu den vorgefundenen Krankengeschichten – belastende Hinweise darauf enthielten, daß der Tod der Patienten bewußt herbeigeführt worden« sei.67 Basierend auf einem – aber bereits zum damaligen Zeitpunkt kritisch hinterfragten – unvollständigen historischen Wissen um die planmäßige Ermordung behinderter Kinder während des »Dritten Reiches« und getragen von der Vorstellung, dass allein Angehörige der SS die Täter des NS -Regimes waren, stellte die Staatsanwaltschaft Dortmund ihre Ermittlungen im Sommer 1990 ein – und damit auch das Verfahren gegen den Beschuldigten Josef Stralau.68 Man habe in den überlieferten Krankenakten keine Hinweise auf systematisches Töten gefunden und müsse davon ausgehen, dass die Tötungen, die offenkundig aber stattgefunden hätten, verschleiert worden seien, bis hin zur Vernichtung der Akten. Zudem seien diese Tötungen auch nicht von den beiden regulären Medizinern des St. Vincenzhauses begangen worden, sondern von »auswärtigen Ärzten« des Reichssicherheitshauptamtes der SS. Konkrete Tatbeteiligte seien entweder nicht mehr am Leben oder hätten nicht ermittelt werden können.69 Vor dem Hintergrund des heutigen historischen Wissens um den Nationalsozialismus und die Ermordung behinderter Menschen im »Dritten Reich« wäre es nicht zu verantworten, die Ermittlungen im Falle des St. Vincenzhauses mit einer solchen Begründung einzustellen. War es bereits sachlich falsch, das Reichssicherheitshauptamt mit der SS gleichzusetzen und ihm eine Bedeutung im Prozess der »Euthanasie« zuzuschreiben, so gilt auch für die Annahme, die überlieferten Krankenakten enthielten keine Beweise für systematisches Töten, das Gegenteil: Eine Durchsicht von 50 Krankenakten führt eindrücklich vor Augen, dass das St. Vincenzhaus praktisch seit 1933 /34 ein Ort der Täterschaft war. Ganz ohne Beweise zu verschleiern dokumentierten die Anstaltsärzte Anton Gockel und Heinrich Nau eigenhändig in den Patientenakten mit ihrer Unterschrift 66 Vgl. ebd., Bericht des LKA NRW an die Zentrale Stelle NRW, 19. 4. 1989. 67 Vgl. ebd., Vermerk des LKA NRW, 23. 8. 1989. 68 Stralau war zunächst als Zeuge u. kurz nach Eröffnung des Ermittlungsverfahrens als Beschuldigter geführt worden, vgl. die Unterlagen in: ebd. u. LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13085. Zum Einstellungsbeschluss vgl. ebd., Verfügung der Zentralen Stelle NRW, 15. 6. 1990. 69 Vgl. LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13084, Bericht des LKA NRW an die Zentrale Stelle NRW, 19. 4. 1989; LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13085, Verfügung der Zentralen Stelle NRW, 15. 6. 1990. STERILISATION

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den begangenen Straftatbestand des Mordes an geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen, die sich in einer katholischen Einrichtung in Obhut befanden.70 Der Fall des St. Vincenzhauses ist historisch allein deshalb von besonderer Relevanz, weil Tatschemata erkennbar werden, von denen bislang angenommen wurde, sie seien erst im Zuge der »Kindereuthanasie« ab 1939 /40, als reichsweit bürokratisch organisierte Ermordung behinderter Kinder, praktiziert worden.71 Dies betrifft den Einsatz des Betäubungsmittels »Luminal«72 ebenso wie das Töten durch Nahrungsentzug73 oder ein Töten durch unterlassene Hilfe bzw. durch eine bewusst nichtkurative Therapie.74 Die Krankenakten des St. Vincenzhauses verdeutlichen überdies, 70 Vgl. Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Opgenroth, geb. 18. 7. 1928; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Beck, geb. 26. 8. 1895; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Gottschalk, geb. 19. 1. 1932; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Endemann, geb. 21. 4. 1926; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Rink, geb. 11. 2. 1930; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kaisers, geb. 1. 3. 1933; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Bruns, geb. 12. 9. 1924; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte De Carli, geb. 10. 9. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schorn, geb. 17. 3. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Louen, geb. 28. 4. 1932; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kels, geb. 19. 9. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Henke, geb. 20. 9. 1930; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Klein, geb. 20. 8. 1932; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Menné, geb. 20. 7. 1936: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Sager, geb. 6. 12. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schulte-Holtey, geb. 28. 2. 1901; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kessel, geb. 2. 11. 1932; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Lindlar, geb. 31. 7. 1935; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Bousseljot, geb. 17. 10. 1930; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Koch, geb. 19. 12. 1920; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schneider, geb. 18. 8. 1927; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Heyer, geb. 14. 8. 1936; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schneider, geb. 10. 10. 1927; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schumacher, geb. 27. 8. 1931; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Sydow, geb. 2. 4. 1935; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte König, geb. 27. 5. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Fischer, geb. 12. 7. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Halm, geb. 7. 9. 1935; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Ackens, geb. 14. 11. 1937; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Klein, geb. 21. 12. 1912; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Talermann, geb. 15. 5. 1931. 71 Zur diesbezüglichen Forschung vgl. insbes. Benzenhöfer, »Kinderfachabteilungen«; ders., Genese und Struktur; ders., Fall; Beddies, Kinder; Hübener, Pfleglinge. 72 Vgl. Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Endemann, geb. 21. 4. 1926; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kaisers, geb. 1. 3. 1933; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte König, geb. 27. 5. 1934. 73 Vgl. Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Opgenroth, geb. 18. 7. 1928; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schulte-Holtey, geb. 28. 2. 1901; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kessel, geb. 2. 11. 1932; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schneider, geb. 18. 8. 1927; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schneider, geb. 10. 10. 1927. 74 Dies betrifft insbes. die Anwendung des krampfauslösenden Medikamentes »Cardiazol« bei Personen mit bekannter Veranlagung zur Epilepsie u. spastischen Reak192

,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-* https://doi.org/10.5771/9783835348752

dass ein bürokratischer Selektions- und Überweisungsprozess zur Tötung behinderter Kinder nicht erst mit Beginn der zentralen »Kindereuthanasie« Gestalt annahm. Denn die von der Forschung beschriebene Praxis der ab 1939 /40 einsetzenden Selektion von Kindern und deren anschließende Überweisung in »Kinderfachabteilungen«, zum Zweck sie dort zu töten,75 war in Oberhausen spätestens 1934 Routine. Beinahe alle im St. Vincenzhaus ermordeten Kinder waren von der in Bonn ansässigen »Rheinischen Provinzialanstalt für seelisch Abnorme« nach Oberhausen überwiesen worden.76 Diese Anstalt, so ist seit Anfang der 1990er Jahre bekannt, war die zentrale Schaltstelle der ab 1939 /40 praktizierten »Kindereuthanasie« im Rheinland und in Westfalen.77 Von dort aus wurden die zu tötenden behinderten Kinder der lokal zuständigen »Kinderfachabteilung« in Dortmund-Aplerbeck, ab 1941 in Waldniel und schließlich ab 1943 in Kalmendorf überstellt, wo jeweils die Ausführung des Mordes stattfand.78 Die Akten des St. Vincenzhaus belegen, dass die Rheinische Provinzialanstalt für seelisch Abnorme nicht erst seit 1939 /40 eine organisatorische Instanz zur Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher war, sondern diese Rolle schon 1933 /34 einnahm.

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tionen. Vgl. Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Talermann, geb. 15. 5. 1931; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Endemann, geb. 21. 4. 1926; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kaisers, geb. 1. 3. 1933; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte König, geb. 27. 5. 1934. Vgl. ebs. die Fälle einer nicht behandelten Hauterkrankung u. den darauffolgenden Tod durch Sepsis sowie die letale Nichtbehandlung einer Durchfallerkrankung: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Beck, geb. 26. 8. 1895; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Rink, geb. 11. 2. 1930. Zum Medikament »Cardiazol«, das angstauslösende Wirkung besaß u. zeitgenössisch in der Schocktherapie verwandt wurde vgl. Read, Consequences, S. 667 – 676; Jung / Lal / Gatch, Effects, S. 430 f. Zur Forschung vgl. insbes. Benzenhöfer, »Kinderfachabteilungen«; ders., Genese und Struktur; ders., Fall; Beddies, Kinder; ders., Kinderarzt; Gerst, Catel; Hübener, Pfleglinge; Zimmermann, Überweisung. Vgl. ebs. insgesamt Orth, Transportkinder, sowie Kinast, Kindermord, S. 121 – 132. Vgl. u. a. Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Sager, geb. 6. 12. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schumacher, geb. 27. 8. 1931; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Henke, geb. 20. 9. 1930; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Sydow, geb. 2. 4. 1935; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kels, geb. 19. 9. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kaisers, geb. 1. 3. 1933; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Louen, geb. 28. 4. 1932; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte König, geb. 27. 5. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Rinke, geb. 11. 2. 1930; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Akens, geb. 14. 11. 1937; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Endemann, geb. 21. 4. 1926; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte De Carli, geb. 10. 9. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Gottschalk, geb. 19. 1. 1932. Vgl. insgesamt Orth, Transportkinder, sowie Kinast, Kindermord, S. 121 – 132. Vgl. Kinast, Kindermord, S. 121 – 132; Orth, Transportkinder, S. 9 – 43.

STERILISATION

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Basierend auf den verfügbaren Quellen zeigt sich auch: Nicht die Bonner Psychiater mussten die Oberhausener Anstaltsärzte zu Selektion und Krankenmord anweisen. Der Mordprozess verlief offenkundig vielmehr Hand in Hand. Das St. Vincenzhaus bot seit 1933 /34 regelmäßig Bettenkapazitäten an, die von Bonn genutzt werden konnten. Interne Selektionen gingen dabei in Oberhausen vielmals Tötungen voraus. Diese Begutachtungsmaßnahmen von Kindern fanden entweder anhand der Papierakten statt und sind durch die von Anstaltsärzten hinterlassenen Kürzel auf dem Einband von Krankenakten getöteter Kinder dokumentiert; oder sie fanden im Rahmen der regelmäßigen, ohne Indikation abgehaltenen Reihenuntersuchungen aller Kinder statt, die ebenfalls aufgrund der notierten Termine in den Krankenakten nachweisbar sind.79 Dieses strukturierte interne Selektieren dokumentiert eindrücklich die wesentlichen vom St. Vincenzhaus und offenkundig vor allem vom dortigen Arzt Anton Gockel ausgehenden Impulse zur Etablierung eines Tötungsregimes zwischen Bonn und Oberhausen. Gockel fühlte sich ab dem Zeitpunkt des Machtantrittes der NSDAP im Reich zum Handeln ermächtigt. Radikale Utopien der »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, wie sie seit der Jahrhundertwende artikuliert worden waren, wurden Realität.80 Sei es, um Ressourcen zu schonen und Behandlungszeit zu sparen, die ohnehin nur aussichtslos »bildungsunfähigen« Personen zugute kamen, oder um sich von »lärmenden«, »unsauberen« und »störenden« Patienten zu trennen – Charakterisierungen wie sie in den Fällen ermordeter Kinder in den Krankenakten des St. Vincenzhauses von Gockel immer wieder vermerkt wurden.81 Wie die Forschung zur NS -»Euthanasie« gezeigt hat, war es im späteren Selektionsprozess des reichsweiten Programmes zur Ermordung von Kindern und Erwachsenen 79 Auffällig ist, dass auf dem Deckblatt der Krankenakten getöteter Kinder eine Diagnose gemäß der im GzVeN katalogisierten Krankheiten mit Bleistift notiert wurde, die z. T. erst durch das St. Vincenzhaus im Verlauf des Aufenthaltes der Kinder vor Ort gestellt wurde. Dabei galt offenkundig die Zahl »1« als Codierung für eine Krankheit im Sinne des GzVeN. Erst in Verbindung mit dem Kleinbuchstaben »a« galt die Angabe »1a« als Selektionscode der Tötung. Das »a« wurde auf den Krankenakten sichtbar nachträglich zur gestellten Diagnose »1« vermerkt, etwa im Nachgang von Reihenuntersuchungen der Kinder. Vgl. u. a. die Unterlagen in: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Heyer, geb. 14. 8. 1936; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schumacher, geb. 27. 8. 1931; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schneider, geb. 10. 10. 1927. 80 Zu den »Euthanasie«-Debatten in Deutschland vgl. u. a. Schwartz, »Euthanasie«Debatten; Harms, Biologismus; Müller-Hill, Selektion; Burleigh, Tod. Vgl. ebs. Binding / Hoche, Freigabe; Hoche, Sterben. 81 Vgl. u. a. Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kels, geb. 19. 9. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte König, geb. 27. 5. 1934; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Endemann, geb. 21. 4. 1926; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Rinke, geb. 11. 2. 1930; Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Akens, geb. 14. 11. 1937. 194

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ein wesentliches Kriterium, ob die Opfer von den Tätern als »laut«, »unsauber« und »lästig« empfunden wurden.82 Als Mitglied der städtischen Gesundheitskommission und »Erster Vorsitzender des Oberhausener Aerztevereins« hatte Gockel – wie es zeitgenössisch hieß – »großes Können tatkräftig eingesetzt« und sich »die größten Verdienste erworben«.83 Zugleich setzte er die radikalsten Maßnahmen einer inhumanen Medizin im »Dritten Reich« durch. Abseits des Mordes an Kindern zeigt sich Gockels Haltung auch daran, dass er 1937 mithilfe von Staatsanwaltschaft, Polizei und Gestapo gegen eine Mutter vorgehen ließ, die ihre im St. Vincenzhaus untergebrachte Tochter versucht hatte »aus dem Heim zurückzuholen«.84 Bleibt zu bilanzieren: Spätestens 1934 war in Oberhausen ein elaboriertes Regime zur Ermordung behinderter Kinder aufgebaut worden. Dieses System, bestehend aus einer externen Zuweisungspraxis, hausinterner Selektion und einer Tötung durch Medikamente oder Vernachlässigung weist zahlreiche Elemente der ab 1939 /40 reichsweit zentral koordinierten »Kindereuthanasie« auf – die in Oberhausen lange zuvor dezentral begonnen hatte.85 Das Oberhausener System zur Ermordung behinderter Kinder zeichnete sich nicht zuletzt auch dadurch aus, dass Täter ihre Taten zwar vor der Allgemeinheit und den Eltern der Kinder verschleierten, aber selbstsicher gegenüber staatlichen Instanzen kommunizierten – primär gegenüber dem Gesundheitsamt. Vom St. Vincenzhaus wurden die dorthin obligatorisch gesandten Sterbefallmeldungen speziell gefasst.86 Anders als in regulären Sterbefällen, erschien zusätzlich zur Angabe einer natürlichen Todesursache eine Erbkrankheit aus dem Katalog des GzVeN. So lauteten »Todesursachen« etwa: »Lungenentzündung/mongoloider Schwachsinn«,87 »Bronchitis / Idiotie«,88 »Gehirnkrämpfe/ Schwachsinn«89 oder »chronischer Darmkatarrh / Schwachsinn«.90 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. Fuchs / Rotzoll / Richter / Hinz-Wessels / Hohendorf, Minderjährige, S. 65 – 68. Vgl. H. K.: 50 Jahre Arzt, in: Der neue Tag, 10. 4. 1936, S. 1 f. Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1152, Vorgang Akte 38, Mai 1937. Zum »dezentralen Krankenmord« ab 1942 vgl. Süß, Krankenmord, S. 123 – 135. Zur Pflicht privater Fürsorgeträger, Sterbefälle an die Gesundheitsämter zu melden, vgl. RGBl. I, 1937, Nr. 119, §§ 34 – 40 Personenstandsgesetz, 3. 11. 1937, S. 1149. Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 80 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte De Carli, geb. 10. 9. 1934. Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 104 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kels, geb. 19. 9. 1934. Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 707 aus 1938, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Endemann, geb. 21. 4. 1926. Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 512 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schneider, geb. 18. 8. 1927.

STERILISATION

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Von der Forschung ist exakt jene markante Chiffrierung des Vollzuges der Ermordung kranker Kinder und Erwachsener ab 1939 /40 beschrieben worden.91 Wenn in einer Sterbefallmeldung zusätzlich zu einer letalen Ursache eine »Diagnose« im Sinne des Kataloges der Erbkrankheiten des GzVeN stand, zielte der Subtext der Meldung auf den Vollzug in einer zwar NS -ideologisch als notwendig erachteten, aber strafrechtlich im »Dritten Reich« nie legalisierten Maßnahme ab: der »Vernichtung lebensunwerten Lebens«.92 Der Fall St. Vincenzhaus zeigt, dass diese bekannte und ab 1939 /40 zentral von Berlin aus organisierte Verfahrensweise der Kodierung und Chiffrierung medizinischen Mordens in Oberhausen zwischen Fürsorgeanstalt und Gesundheitsamt lange zuvor systematisch praktiziert worden ist. Hierbei befürchtete die Mordanstalt eben gerade keine Missbilligung oder gar ein Eingreifen der Gesundheitsbehörde in die kommunizierte Praxis gezielten medizinischen Tötens. Mit dem Beschluss zur Einstellung der Ermittlungen in Sachen des St. Vincenzhauses endete im Juni 1990 auch das staatsanwaltschaftliche Vorgehen gegen Josef Stralau. Ihm war – als hohem Verantwortlichen des Oberhausener Gesundheitsamtes im Tatzeitraum – eine Amtspflichtverletzung hinsichtlich der Aufsicht über das St. Vincenzhaus bzw. Beihilfe zum Mord an behinderten Kindern in sieben Fällen vorgeworfen worden.93 Josef Stralau berief sich auf sein Aussageverweigerungsrecht bzw. gab Unkenntnis in der Sache vor und unterstützte die Ermittlungen von LKA und Staatsanwaltschaft im Wesentlichen nicht, anders als das St. Vincenzhaus.94 Die anhand von Akten rekonstruierbaren Vorgänge lassen Stralaus Behauptung eines Nichtwissens um die gezielten Kindstötungen in Oberhausen unglaubwürdig erscheinen. Für jeden damals tätigen Medizinalbeamten war der spezielle Kontext des Vorganges ersichtlich, wenn in einem angezeigten Sterbefall als Todesursache eine Erbkrankheit gemäß GzVeN gemeldet wurde – da mit Ausnahme der Epilepsie keine der im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses definierten Krankheiten 91 Vgl. u. a. Hinz-Wessels / Fuchs / Hohendorf / Rotzoll, Abwicklung; Hohendorf / Rotzoll / Fuchs / Hinz-Wessels / Richter, Opfer; Süß, Krankenmord; Teppe, Massenmord; Topp, »Reichsauschuß«; Lilienthal, T4-Aktion. 92 Zur NS -»Euthanasie« vgl. insbes. Klee, »Euthanasie«; ders., Vergasungsärzte; Mitscherlich / Mielke, Diktat; Schmuhl, Rassenhygiene; ders., Selbstverständlichkeit; ders., Sterilisation; Weingart/ Kroll / Bayertz, Rasse; Evans, Victims; Lifton, Doctors; Burleigh, Tod; Schwartz, »Euthanasie«-Debatten, S. 617 – 665; Dörner, Nationalsozialismus, S. 121 – 152. Vgl. ebs. Kerrl, Tötung. 93 Vgl. die Unterlagen in: LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13084 u. LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13085. 94 Vgl. ebd., Verfügung der Zentralen Stelle NRW, 15. 6. 1990, sowie allgemein die Unterlagen in ebd. sowie LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13084. 196

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in einem medizinischen Zusammenhang mit dem Eintritt des Todes stehen konnte. Amtsärztliche Pflichten verletzte folglich die massenhafte Akzeptanz von »Todesursachen« wie »mongoloider Schwachsinn«95 oder »Idiotie«.96 Gleiches galt für die Sterbemeldungen des St. Vincenzhauses, die äußerlich nicht diagnostizierbare Todesursachen vermerkten – ohne dass hierbei zunächst eine nichtnatürliche Todesart dokumentiert und daraufhin der amtliche Beschluss zur Obduktion gefasst worden war.97 Selbst die an das Gesundheitsamt im März 1939 gemeldete Todesursache des »Marasmus / Schwachsinn« im Falle eines kleinen Kindes führte zu keiner Überprüfung des St. Vincenzhauses seitens des Gesundheitsamtes.98 Und dies, obwohl dem Amtsarzt mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens seit 1935 die Kleinkinderfürsorge anvertraut war und die Angabe »Marasmus«, also schwere Unterernährung, als Sterbegrund bei einem kleinen Kind einem vonseiten des St. Vincenzhauses selbst ausgestellten Attest über größtmögliche und systematische Vernachlässigung in der Pflege glich.99 Freilich relativierte sich eine solche Bewertung für Gesundheitsbörden zeitgenössisch durch den Zusatz: »Schwachsinn«. Gleiches galt für den Tod von neun Kindern innerhalb von nur 17 Tagen im Frühjahr 1939. Die Sterbefallanzeigen dieser signifikanten Häufung waren jeweils versehen mit der Todesursache »Lungenentzündung«, in Kombination mit den Diagnosen »Schwachsinn«, »Epilepsie« oder »Idiotie«.100 95 Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 80 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte De Carli, geb. 10. 9. 1934. 96 Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 104 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kels, geb. 19. 9. 1934. 97 Vgl. u. a. den Fall der tödlichen Entzündung der Innenhaut des Herzens bzw. den Fall einer angeblich letalen kardialen Embolie bei einer Fünfjährigen in: StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 87 aus 1940, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Klein, geb. 21. 12. 1912; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 706 aus 1938, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Gottschalk, geb. 19. 1. 1932. 98 Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 331 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kessel, geb. 2. 11. 1932. Zur Meldung an das GA Oberhausen vgl. ebd., Meldung 18. 3. 1939. Zur Mangelernährung als Teil der NS -»Euthanasie« vgl. insgesamt Faulstich, Hungersterben. 99 Zur Aufgabe der Säuglings- u. Kleinkinderfürsorge vgl. u. a. Vossen, Gesundheitsämter, S. 394 f. 100 Vgl. die Fälle: StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 26 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Bruns, geb. 12. 9. 1924; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 80 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte De Carli, geb. 10. 9. 1934; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 84 aus 1939, sowie die STERILISATION

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Alle diese genannten Fälle – in Summe 31 – ereigneten sich zwischen Mai 1938 und Frühjahr 1940 bzw. Frühjahr 1942 – als Josef Stralau stellvertretender Amtsarzt in Oberhausen war.101 Vor dem Hintergrund der verfügbaren Quellen, der im Gesundheitsamt eingegangenen Meldungen und dem heutigen Wissen um die NS -»Kindereuthanasie« kann nur geschlussfolgert werden, dass Josef Stralau in dieser Zeit mit einem bis zur Tötung von Kindern gesteigerten Extrem der NS -Erb- und -Rassenpflege konfrontiert wurde – und dazu schwieg, zeitgenössisch und auch im Ermittlungsverfahren von 1989 /90. Dieses Schweigen des stellvertretenden Amtsarztes von Oberhausen zu offenkundig irregulär-kriminellen Vorgängen trug jedoch zwischen 1938 und 1940 zum Funktionieren des Mordsystems im St. Vincenzhaus bei. Glaubwürdig wäre Stralaus Nichtwissen nur dann, wenn es zuträfe, dass der Tod von 31 Kindern innerhalb von 25 Monaten in einer einzigen Fürsorgeeinrichtung einer Stadt wie Oberhausen am stellvertretenden Leiter des Gesundheitsamtes hätte unbemerkt vorübergehen können. Und dies, obwohl jede Sterbefallmeldung dort per Brief angezeigt wurde – mit dem expliziten Hinweis, es sei nicht nur ein Kind an Lungenentzündung gestorben, sondern der »Volkskörper« vom einem »defekten« Erbkranken gereinigt worden. Alle Opfer wurden daher anschließend im Gesundheitsamt auch aus der Liste potenziell zu sterilisierender Personen gestrichen. Denn die Mehrzahl später verstorbener Kinder des St. Vincenzhauses war dem Gesundheitsamt als Sterilisationsfall mit Überweisung in das

Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schorn, geb. 17. 3. 1934; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 90 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Louen, geb. 28. 4. 1932; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 26 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Bruns, geb. 12. 9. 1924; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 104 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Kels, geb. 19. 9. 1934; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 105 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Henke, geb. 20. 9. 1930; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 115 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Klein, geb. 20. 8. 1932; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 134 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Menné, geb. 20. 7. 1936; StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 139 aus 1939, sowie die Krankenakte des St. Vincenzhauses: Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Sager, geb. 6. 12. 1934. 101 Josef Stralau war von März 1940–März 1942 im Sanitätsdienst der Luftwaffe zum Kriegsdienst an der West- und an der Ostfront eingezogen. Vgl. die Unterlagen in: BA rch, PERS 6 /295590. 198

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Fürsorgeheim gemeldet worden, wobei ein Eingriff für die Dauer der geschlossen Unterbringungen zurückgestellt worden war.102 Mindestens Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der massenhaft mit »Lungenentzündung/mongoloider Idiotie« als verstorben gemeldeten Kinder bleibt im Hinblick auf Stralaus Agieren in dieser Zeit zu konstatieren. In jedem Fall war es tatrelevant. Denn dass im St. Vincenzhaus über Jahre hinweg als »unwert« erachtetes Leben »defekter« Menschen gezielt beendet werden konnte, lag nicht nur an der permanenten Überweisung von Kindern seitens der Rheinischen Provinzialanstalt für seelisch Abnorme, sondern auch am Nichteinschreiten der amtlichen Gesundheitsstellen – die Anlass genug für eine solche Intervention gehabt hätten. Erst im Lichte später gewonnener Forschungsergebnisse steht auch fest, was Ermittlungsbehörden 1989 /90 noch nicht aufklären konnten: Die letzten 1942 aus dem St. Vincenzhaus verlegten Kinder wurden in die damalige »Kinderfachabteilung« nach Waldniel überwiesen und entweder dort ermordet oder zur Tötung in andere »Kinderfachabteilungen« überstellt.103 Zudem ist auch nicht länger unbekannt, wer der Oberhausener Arzt war, den Ermittlungsbehörden 1989 /90 als »Dr. Gorku« identifizierten, aber nicht aufspüren konnten.104 Ein »Gorku« hatte die Mehrzahl der Sterbefallmeldungen des St. Vincenzhauses an das Oberhausener Gesundheitsamt signiert. Die Unterschrift als Trauzeuge auf der Heiratsurkunde seines Schwiegersohns zeigt, dass es sich bei dem gesuchten »Dr. Gorku« um Anton Gockel handelte.105 Josef Stralau verwies auf Erinnerungslücken, als das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ihn 1989 danach fragte, ob er wisse, wessen Unterschrift die besagten Sterbefallanzeigen trügen und wer »Dr. Gorku« sei.106 Diese Aussage Stralaus kann angesichts der Bekanntheit Gockels in Oberhausen sowie der Kontakte und des Schriftverkehrs zwischen ihm und dem Gesundheitsamt der Stadt nur als Schutzbehauptung verstanden werden – die zugleich eindrücklich darauf hinweist, dass die (Mit-)Täter-

102 Vgl. u. a. Fall Schorn in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1152, Vorgang Akte 1, StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 84 aus 1939, Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte Schorn, geb. 17. 3. 1934, sowie Fall De Carli in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 55-1152, Vorgang Akte 2, StA Oberhausen, Standesamt, Sterbeurkunde 80 aus 1939, Archiv Kloster Arenberg, Krankenakte De Carli, geb. 10. 9. 1934. 103 Vgl. Kinast, Kindermord, S. 133 f. 104 Vgl. LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13085, Verfügung der Zentralen Stelle NRW, 15. 6. 1990. 105 Vgl. StA Oberhausen, Standesamt, Urkunde der Eheschließung 20 aus 1930. 106 Vgl. hierzu die Vorgänge in: LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13084, sowie LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234 /13085. STERILISATION

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schaft der NS -Gesundheitsämter an der Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher lange vor 1939 /40 begonnen hatte.107

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Als im Sommer 1958 im Oberhausener Gesundheitsamt der Brief eines Rechtsanwaltes einging, arbeitete Josef Stralau bereits seit gut einem Jahr in Bonn als Leiter der Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums. Sein Mandant sei 1943 zwangsweise unfruchtbar gemacht worden und er wolle nun, so der Anwalt gegenüber dem Gesundheitsamt, in Erfahrung bringen, »welche Schritte« notwendig seien, um »Wiedergutmachungsansprüche zu realisieren«.108 Er erhielt kurz darauf die Antwort, dass man amtlicherseits »leider zu den Schritten nicht unterrichtet« sei.109 Der Mandant des Rechtsanwaltes hatte nicht erst 1958 versucht, sich gegen einen als Unrecht empfundenen staatlichen Sterilisationsbeschluss zu wehren. Der letztlich im Juni 1943 zwangsweise vollzogenen Unfruchtbarmachung des damals 42 Jahre alten Mannes war ein intensiver Rechtsstreit zwischen dem Oberhausener Gesundheitsamt bzw. dem Duisburger Erbgesundheitsgericht auf der einen und zwei Anwälten auf der anderen Seite vorausgegangen.110 Weder die klare Argumentation gegen seine Sterilisierung noch das zielgerichtete Vorgehen mithilfe von zwei Rechtsanwälten konnten die amtsärztlich gefällte Diagnose »angeborener Schwachsinn« jedoch infrage stellen. Die zwangsweise ausgeführte Unfruchtbarmachung des Mannes sei »regelgerecht« und ohne Komplikationen verlaufen, wie es im Juli 1943 im Schreiben an das Erbgesundheitsgericht Duisburg hieß – gemeldet von Josef Stralau.111 Stralau hatte seinerzeit nicht nur den Sterilisationsantrag im Falle des Mannes gestellt, sondern auch den Rechtsstreit mit dessen Anwälten ausgetragen.112

107 Zur Rolle der Gesundheitsämter in der ab 1939 /40 zentral organsierten »Kindereuthanasie« vgl. insbes. Vossen, Gesundheitsämter, S. 372 – 374, 394 – 404; Beddies, Kinder, S. 129 – 154; Topp, »Reichsausschuß«, S. 17 – 54. Vgl. ebs. Benzenhöfer, Kinderfachabteilungen; ders., Genese; ders., Fall; Zimmermann, Überweisung. 108 Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391, Schreiben eines Rechtsanwaltes an das Gesundheitsamt Oberhausen, 28. 7. 1958. 109 Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391, Schreiben des Gesundheitsamtes Oberhausen an einen Rechtsanwalt, 4. 8. 1958. 110 Vgl. die Unterlagen in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391. 111 Vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391, Meldung des Gesundheitsamtes Oberhausen an das Erbgesundheitsgericht Duisburg, 2. 7. 1943. 112 Vgl. die Unterlagen in: StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 391. 200

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Die bizarre Konstellation, dass ein Opfer einer NS -Zwangssterilisation sich 15 Jahre später mit der Bitte um Wiedergutmachung beinahe an die Person gewandt hätte, die den Sterilisationsantrag zu verantworten hatte und nun an der Spitze der bundesdeutschen Gesundheitsverwaltung stand, ist historisch mit der nicht anerkannten Unrechtmäßigkeit des GzVeN erklärbar: Obwohl die drei West-Alliierten das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1945 praktisch unanwendbar machten, indem sie die Sondergerichte zur Feststellung einer Erbkrankheit verboten, wurde das Gesetz insgesamt nicht als nationalsozialistisches Unrecht aufgehoben und blieb in Teilen bis 1968 in Kraft.113 Diese versagte Anerkennung eines Unrechtscharakters des GzVeN – letztlich erst 1988 durch den Deutschen Bundestag und 1998 durch Bundesgesetz revidiert –114 wurde noch vor Gründung der Bundesrepublik auf zwei Argumente gestützt: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sei weder ein originäres NS Gesetz gewesen, denn schon vor 1933 habe man in der Weimarer Republik eugenische Sterilisationsmaßnahmen beraten, noch seien eugenische Sterilisationen allein vom »Dritten Reich« praktiziert worden, vielmehr hätten zahlreiche westliche Länder ebenfalls Sterilisationsgesetze erlassen. Beide Aspekte missinterpretierten den Kern des deutschen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ahistorisch.115 Das GzVeN stand in keiner Tradition mit Überlegungen zur eugenischen Sterilisation während der Weimarer Republik. Es war vielmehr charakteristisches Produkt der radikalen Rassenhygiene. Auch wenn 1932 in Preußen ein Gesetz zur Unfruchtbarmachung debattiert worden war, trug es die Handschrift einer damals noch gemäßigten Richtung der Weimarer Eugenik. Das kurz darauf per Kabinettsbeschluss der NSDAPRegierung verabschiedete GzVeN regelte zwar auf den ersten Blick dieselbe Materie – wandte aber diametral verschiedene Mittel an: Während in der Weimarer Republik eine vonseiten des Staates zwangsweise durchgeführte Sterilisation ausgeschlossen wurde und auch die Abschaffung der ärztlichen Schweigepflicht niemals mehrheitsfähig gewesen war, zählte es zu den charakteristischen NS -Spezifika, beides durchgesetzt und damit eine völlig andere Praxis zur Handhabung des Sterilisationsgesetzes geschaffen

113

Vgl. u. a. Etzel, Aufhebung, S. 132 f.; Schagen / Schleiermacher, Rahmenbedingungen, S. 482; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 40 – 44; Westermann, Leid, S. 60 – 88; Scheulen, Rechtslage, S. 212 – 214. 114 Vgl. Deutscher Bundestag, DS 11 /1714, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, 26. 1. 1988; BGBl. I, 1998, Nr. 58, Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte, 25. 8. 1998, S. 2501 f. 115 Vgl. Westermann, Leid, S. 60 – 88; Bock, Zwangssterilisation, S. 104 – 116. STERILISATION

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zu haben.116 Überdies blieb es ein deutsches Phänomen weltweit, Blindheit, Taubheit, Epilepsie und Psychosen zwischen 1933 und 1945 als die Volksgesundheit existenziell gefährdende Übel aufzufassen, die durch Zwangssterilisationen bekämpft werden mussten.117 Das GzVeN war spezifisch nationalsozialistisch und sollte sich dezidiert durch seine Radikalität vom Weimarer Entwurf abgrenzen. Zeitgenössisch wurde stets – sowohl im federführenden Reichsministerium des Innern als auch in der einschlägigen Literatur – das Originelle betont, das dieses Gesetz NS -typisch machte und von parlamentarisch-demokratischen Initiativen der 1920er Jahre kategorial unterschied.118 Die Staats- und Parteiführung des »Dritten Reiches« behauptete, dass nur der Nationalsozialismus möglich gemacht habe, was in der parlamentarisch-liberalen »Systemzeit« von Weimar unmöglich gewesen sei. Denn ohne den Nationalsozialismus hätte es nur ein Gesetz zur Sterilisation gegeben, das durch »humanistische Gefühlsduselei« und die Betonung bürgerlicher Rechte des Einzelnen nutzlos gewesen wäre.119 Im Oktober 1937 resümierte die Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums unmissverständlich: »Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ist nationalsozialistischem Gedankengut entsprungen. […] Seine Grundgedanken sind in dem Buch des Führers ›Mein Kampf‹ niedergelegt.«120 Eine Weimarer Tradition des GzVeN wurde folglich von den Nationalsozialisten explizit bestritten. Das deutsche Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses stand darüber hinaus aber auch in keiner Tradition mit vergleichbaren Vorhaben in anderen westeuropäischen Staaten, auch wenn eine eugenische Radikalität auch jenseits des NS existierte. Der auch vor 1945 häufig gezogene Vergleich zu Schweden zeigt, dass dort – bei aller sprachlichen Ähnlichkeit der Stigmatisierung von »entarteten Schwachsinnigen« und einer Option zum Zwang – weder Blindheit noch Taubheit und vor allem auch keine psychischen Erkrankungen zur Sterilisation führten. Zumal

116 Vgl. insgesamt Westermann, Leid, S. 44 – 53; Bock, Sterilisationspolitik, S. 21 – 27; Ley, Zwangssterilisation, S. 34 – 40; Schmuhl, Zwangssterilisation, S. 201 – 209; Vossen, Umsetzung, S. 96 – 105; Päfflin, Zwangssterilisation, S. 31 – 37; Nowak, Sterilisation, S. 85 – 99; ders., Euthanasie, S. 11 – 37, 64 – 76. 117 Vgl. ebd.; Ley, Zwangssterilisation, S. 34 – 66; Päfflin, Zwangssterilisation, S. 31 – 37; Bock, Sterilisationspolitik, S. 85 – 99. 118 Vgl. u. a. den Kommentar zum GzVeN: Gütt / Rüdin / Ruttke, Gesetz, sowie Conti, Reden, S. 31 – 47. Vgl. ebs. Bock, Sterilisationspolitik, S. 85 – 99; Benzenhöfer, Genese, S. 1012 – 1019. 119 Vgl. etwa die Ausführungen des NSDAP-»Reichsärzteführers« Wagner 1934 in: Conti, Reden, S. 31 – 39, 64 – 80. Vgl. ebs. den Kommentar zum GzVeN: Gütt / Rüdin / Ruttke, Gesetz. 120 Vgl. BA rch, R 1501 /5585, Vorlage des RMI, Oktober 1937. 202

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in Stockholm, anders als in Berlin, ein parlamentarisch-rechtsstaatlicher Diskussionsprozess nur mehrheitsfähige Beschlüsse erlaubte.121 Wie stark das GzVeN darüber hinaus ein Instrument politischer Willkür gewesen war – im Widerspruch zu der nach 1945 immer wieder behaupteten Regelhaftigkeit seiner Anwendungspraxis –,122 zeigt sich an der Kontroverse zwischen Parteiführung und Ministerialbürokratie Mitte der 1930er Jahre: Der Reichsinnenminister – zuständig für die staatliche Gesundheitspolitik im »Dritten Reich« – gab Ende des Jahres 1936 gegenüber dem »Stellvertreter des Führers« zu, dass bei Sterilisationsanträgen von NSDAP-Mitgliedern der »schwierigen Frage einer Abgrenzung von landläufiger Dummheit« und der Erbkrankheit des »angeborenen Schwachsinns« nicht die »erforderliche Aufmerksamkeit« geschenkt worden sei.123 Ziel wäre es nun, eine »ärztliche Gesamtschau der Persönlichkeit« sicherzustellen und der »Bewährung im Leben« angemessen Rechnung zu tragen.124 Der Leiter der Medizinalabteilung des Reichsinnenministeriums wurde gegenüber der Adjutantur Hitlers Ende Dezember 1936 noch konkreter. Es sollten für Sterilisationsanträge von NSDAP-Mitgliedern de facto und de jure andere Maßstäbe gelten als für die von Nicht-NSDAP-Mitgliedern. Denn nur bei Parteigängern der NSDAP war die »Auflockerung« der Bewertungsmaßstäbe im Falle von »angeborenem Schwachsinn« erlaubt.125 Das Verkennen der NS -spezifischen Merkmale des deutschen Zwangssterilisationsgesetzes, das auf präzedenzlose Weise massenhaft angewandt worden war, hatte nach 1945 – wie von der Forschung aufgezeigt – im Wesentlichen zwei Konsequenzen: Galt das Gesetz nicht als Unrecht, bestand für NS -Zwangssterilisierte keine Chance, als Opfer einer rassistischbiologistischen Ideologie anerkannt zu werden. Weder moralisch noch politisch stand ihnen damit Wiedergutmachung für im »Dritten Reich« zugefügtes Leid zu. War das GzVeN keine originäres NS -Unrecht, konnten darüber hinaus aber auch die an seiner Umsetzung beteiligten Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes keine Täter sein.126 121 Vgl. Barow, Platz. 122 Zur diesbezüglichen Forschung vgl. u. a. Westermann, Leid, S. 136 – 206; Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 207 – 209. Zur zeitgenössischen Argumentation vgl. u. a. BA rch, B 106 /62728, Vermerk, 2. 1. 1951; BA rch, B 106 /62728, Vermerk, 17. 12. 1954; PA -BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, S. 3 – 11. 123 Vgl. BA rch, NS 10 /31, Schreiben Wilhelm Fricks an Rudolf Heß, 13. 11. 1936. 124 Vgl. ebd. 125 Vgl. BA rch, NS 10 /31, Schreiben Arthur Gütts an Fritz Wiedemann, 23. 12. 1936. Zur Kontroverse insgesamt vgl. BA rch, NS 10 /31, sowie u. a. Päfflin, Zwangssterilisation, S. 35 – 41. 126 Vgl. u. a. Westermann, Leid, S. 81 – 107; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 40 – 97; Surmann, NS -Unrecht, S. 198 – 204; Christians, Amtsgewalt, S. 314 – 328. STERILISATION

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Basierend auf der weiterhin akzeptierten Vorstellung, dass der öffentliche Gesundheitsdienst im »Dritten Reich« keine politische Verfolgungsinstanz gewesen war, setzte auch Josef Stralau seine amtsärztliche Karriere 1945 unmittelbar fort, trotz seiner Unterstützung der NS -Erb- und -Rassenpolitik sowie seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und Zugehörigkeit zur SA .127 1947 wurde er Amtsarzt in Oberhausen und gewann vor allem im konservativ-christdemokratischen Lager namhafte Unterstützer.128 Im Herbst 1953 war es die Kölner CDU, die Josef Stralau gegen Theodor Burauen, den späteren langjährigen sozialdemokratischen Oberbürgermeister der Domstadt, ins Rennen um das Amt des Beigeordneten für Gesundheit schickte und auch durchsetzen konnte.129 Hans Globke, einflussreicher CDU-Politiker, Chef des Bundeskanzleramtes und Vertrauter Konrad Adenauers, gewann Josef Stralau schließlich 1957 als neuen Leiter der Gesundheitsabteilung des Bonner Innenministeriums.130 Dass der 1943 in Oberhausen auf Antrag Stralaus zwangssterilisierte Mann sich 1958 um Wiedergutmachung bemühte, kann als Ausdruck einer damals neu angestoßenen bundesdeutschen Debatte verstanden werden: Im Sommer 1956 war das bereits drei Jahre zuvor verabschiedete sogenannte Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) neu gefasst worden.131 Dieses 1953 beschlossene Regelwerk stellte den Versuch dar, die während des »Dritten Reiches« aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen Verfolgten materiell zu entschädigen.132 Der Inhalt des Gesetzes zielte besonders auf jüdische Opfer ab und schloss auch in der neu gefassten Form von 1956 NS -Zwangssterilisierte von einer Wiedergutmachung aus. Die Bundesregierung begründete dies mit dem bekannten Argument, dass das GzVeN von alliierter Seite eben nicht als NS -Unrechtsgesetz deklariert worden sei. Demnach waren auch die nach 1933 gefassten Sterilisationsbeschlüsse formal korrekt sowie rechtsstaatlich ergangen und im Sinne des 127 Zur Entnazifizierung Stralaus 1946 /47 vgl. die Unterlagen in: LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1015 /3178. Zur Entnazifizierungspraxis im Gesundheitsbereich vgl. insgesamt u. a. Christians, Amtsgewalt, S. 291 – 313. 128 Zur Berufung zum Amtsarzt vgl. StA Oberhausen, Amtliche Mitteilungen, Nr. 102, 24. 9. 1947. Zu den CDU-Kontakten Stralaus vgl. die Angaben seiner Referenzpersonen in: BA rch, PERS 101 /79533. 129 Vgl. hierzu die Unterlagen in: StA Köln, Best. 438/A 3, Personalakte Stralau, Josef. 130 Zur Rolle Globkes vgl. BA rch, PERS 101 /79532, Vermerk, 20. 5. 1957, sowie in Unterlagen in: StA Köln, Best. 438/A 3, Personalakte Stralau, Josef. 131 Zum BEG vgl. BGBl. I, 1953, Nr. 62, Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 18. 9. 1953, S. 1387 – 1408; BGBl. I, 1956, Nr. 31, Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 29. 6. 1956, S. 559 – 597. 132 Vgl. insgesamt u. a. Goschler, Wiedergutmachung; ders., Schuld; Hockerts, Grenzen. 204

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Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses auch legal durchgeführt worden.133 Vor 1945 sterilisierten Personen stand nach dem BEG nur dann eine Entschädigung zu, wenn sie einen Formfehler innerhalb des Verfahrens oder eine religiös, weltanschaulich, politisch oder rassisch motivierte Verfolgung nachweisen konnten. Als rassisch Verfolgter galt in den 1950er Jahren nicht pauschal jeder NS -Zwangssterilisierte, weil das GzVeN nicht als rassistisches Instrument des nationalsozialistischen Regimes, sondern als ein wissenschaftlich fundiertes, legales und rechtsstaatlich angewandtes Gesetz betrachtet wurde.134 In der Neufassung des BEG 1956 wurde die Frist zur Geltendmachung von Ansprüchen auf Oktober 1957 und schließlich auf den 1. April 1958 festgesetzt.135 Rund um diesen Termin entspann sich eine lebhafte Debatte. Dabei wurde um die Ausweitung des Gesetzes bzw. um eine Anerkennung weiterer NS -Opfergruppen gestritten.136 Im Rahmen der 1958 begonnenen Diskussion um eine Reform des BEG – die letztlich erst mit der Verabschiedung des »BEG -Schlussgesetzes« 1965 endete –137 fiel dem Wiedergutmachungsausschuss des Deutschen Bundestages die zentrale Funktion bei der Abstimmung zwischen Parlament und Ministerien zu.138 Innerhalb der beteiligten Bundesressorts wiederum nahmen in der ersten Phase der möglichen BEG -Reform ab 1958, die im April 1961 mit der Anhörung von Experten vor dem Wiedergutmachungsausschuss des Bundestags endete, Josef Stralau und die Gesundheitsabteilung des BMI eine zentrale koordinierende Funktion wahr. Von der Forschung bislang unbeachtet geblieben, war die gut vierjährige Vorgeschichte jener Expertenanhörung vor dem Wiedergutmachungsausschuss 1961 auf das engste und unmittelbar mit Stralaus Agieren verbunden.139 Obstruktiv und kon133 134

135

136 137 138 139

Vgl. Neppert, Kontinuität, S. 254 – 256; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 136 – 147. Vgl. ebs. Goschler, Schuld, S. 61 – 214; ders., Wiedergutmachung, S. 286 – 306. Vgl. u. a. Neppert, Kontinuität, S. 254 – 256; Surmann, NS -Unrecht, S. 203 – 205; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 98 – 144. Vgl. hierzu auch die Grundsatzargumentation der BMI-Gesundheitsabteilung Anfang der 1950er Jahre in: BA rch, B 106 /62728, Vermerk, 2. 1. 1951; BA rch, B 106 /62728, Vermerk, 17. 12. 1954. Vgl. BGBl. I, 1956, Nr. 31, § 189 Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 29. 6. 1956, S. 590; BGBl. I, 1957, Nr. 29, Art. 1 Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes, 1. 7. 1957, S. 663. Vgl. u. a. Zielke, Sterilisation, S. 77 – 82; Goschler, Schuld, S. 176 – 214, 219 – 253. Vgl. ebd., S. 254 – 288; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 136 – 144. Zum Schlussgesetz vgl. BGBl. I, 1965, Nr. 52, Zweites Gesetz zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG -Schlussgesetz), 14. 9. 1965, S. 1315 – 1340. Vgl. u. a. Zielke, Sterilisation, S. 77 – 108; Surmann, NS -Unrecht, S. 203 – 205. Zielke, Sterilisation, S. 77 – 108, beschreibt zwar die Konfliktlinien der Wiedergutmachungsdebatte in dieser Phase sehr prägnant, verkennt aber die konkrete Bedeutung Stralaus, indem er abstrakt von der destruktiven Haltung des »BMI«

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fliktverschärfend war Stralau eine der maßgeblichen Instanzen zur Verhinderung von Wiedergutmachungsansprüchen der NS -Zwangssterilisierten in dieser Phase ab 1958. Dabei machte er seinen Einfluss auf zwei Ebenen geltend: Mithilfe einer direkten Boykottierung des Bundestagsausschusses für Wiedergutmachung und des externen Experten Hans Nachtsheim. Die SPD -Bundestagsfraktion forderte mit Blick auf die NS -Zwangssterilisierten entweder die Anerkennung von deren Schicksal im Rahmen einer Ergänzung des BEG oder ein neues Entschädigungsgesetz für Zwangssterilisierte, so brachte es der Vorsitzende des Wiedergutmachungsausschusses und SPD -Politiker Alfred Frenzel im Oktober 1959 gegenüber Josef Stralau unmissverständlich auf den Punkt.140 Frenzel bat den Leiter der Gesundheitsabteilung des BMI, konkrete Vorschläge für eine Regelung dieser Fragen auszuarbeiten und seinem Wiedergutmachungsausschuss vorzulegen.141 Stralau lehnte dies unverhohlen ab. Noch während des Gespräches mit Frenzel verwies er auf die Legalität des GzVeN, die eine neue Anerkennungspraxis von Sterilisationsopfern ausschließe – und führte zugleich ein Novum in die Debatte ein: Stralau erklärte, dass Sterilisationen im »Dritten Reich« keine ärztlichen Eingriffe gewesen seien. Vielmehr habe es sich um »Maßnahmen gehandelt, die auf Grund von Gerichtsbeschlüssen nach dem Gesetz zur Bekämpfung erbkranken Nachwuchses durchgeführt worden seien und deshalb hier in erster Linie eine Rechtsfrage anstehe«, so Josef Stralaus Behauptung, mit der er im Oktober 1959 gegenüber dem Vorsitzenden des Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestages bestritt, dass eugenisch indizierte Sterilisationen vor 1945 eine medizinische Angelegenheit gewesen waren.142 Aus diesem Grund liege auch die von Alfred Frenzel geforderte Stellungnahme außerhalb seiner Zuständigkeit, so Stralau 1959.143 Frenzel erkannte diese Argumentation Stralaus nicht an und wies die Behauptung, NS -Zwangssterilisationen seien keine medizinische Angelegenheit gewesen, als unsinnig zurück. Zudem bestand er auf der geforderten Berichterstattung seitens der Gesundheitsabteilung des BMI.144 Im

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in der Frage einer Wiedergutmachung spricht, anstatt die in den Akten Stralau klar zuordenbaren Eingriffe zu benennen. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 199, 205, übersieht die 1959 vom Wiedergutmachungsausschuss zunächst auf Stralau konzentrierte Zuständigkeit in der Wiedergutmachungsfrage u. vermutet, das BMF sei zuständig gewesen. Ähnlich argumentiert Richter, Seilschaften, S. 564. Tümmers, Anerkennungskämpfe, betrachtet die Rolle Josef Stralaus nicht. Vgl. BA rch, B 142 /2118, Vermerk, 27. 10. 1959. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Dezember 1959, gut zwei Monate nach seinem Treffen mit Frenzel, berief Stralau eine koordinierende Sitzung zwischen BMI, Bundesjustiz- (BMJ) und Bundesfinanzministerium (BMF) ein.145 Der Tenor in der von Stralau geleiteten Debatte war eindeutig: Jede Änderung der Wiedergutmachungspraxis sei kategorisch ausgeschlossen, andernfalls drohe der »Kreis von Anspruchsberechtigten ins maßlose« auszuufern. Wenn die Sterilisationsopfer anerkannt würden, dann »kämen« als nächstes »noch die Homosexuellen und KZ -Insassen«, um Wiedergutmachung zu fordern, wie der Vertreter des Finanzministeriums erklärte.146 Josef Stralau selbst begründete die Ablehnung einer pauschalen Entschädigung für NS -Zwangssterilisierte im Dezember 1959 erneut damit, dass eine Unfruchtbarmachung vor 1945 »keine politische Verfolgungsmaßnahme« gewesen sei, sondern aus »eugenischen Gründen« zum Zweck der Volksgesundheit stattgefunden habe – eine paradoxe Umkehr der zuvor Frenzel gegenüber vertretenen Sicht, NS -Zwangssterilisationen seien keine medizinische Angelegenheit gewesen.147 Ergebnis dieser Ressortsitzung im Dezember 1959 war die Ausarbeitung einer Antwort an Frenzel, die Stralau zwischen BMJ und BMF koordinierte. Zudem sicherte Stralau dem Bundesfinanzministerium zu, »Aktenmaterial zur Recherche und als Argumentationsgrundlage« zur Verfügung zu stellen, aus dem hervorgehe, dass alle Inhalte des GzVeN ihren Ursprung in der Zeit vor 1933 hätten.148 Mit erheblicher Verzögerung leitete Stralau schließlich Anfang Februar 1960 den zwischen ihm, dem BMJ und dem BMF abgestimmten Antwortbrief an Frenzel weiter und scheute darin vor der Konfrontation mit dem Wiedergutmachungsausschuss nicht zurück.149 Anstatt wie erbeten die Möglichkeiten einer Entschädigung der Zwangssterilisierten aufzuzeigen, erklärte Stralau namens der beteiligten Ressorts, dass die Bundesregierung eine Änderung der Entschädigungspraxis für NS -Zwangssterilisierte ablehne, denn das GzVeN sei ein rechtmäßiges Gesetz gewesen.150 Im Bundestagsausschuss für Wiedergutmachung folgte daraufhin Mitte Februar

145 Vgl. BA rch, B 142 /2118, Vermerk, 14. 12. 1959. 146 Vgl. ebd. 147 Zur Aussage Stralaus vgl. BA rch, B 142 /2118, Vermerk, 14. 12. 1959. Zur Stellungnahme gegenüber Frenzel vgl. BA rch, B 142 /2118, Vermerk, 27. 10. 1959. 148 Vgl. BA rch, B 142 /2118, Vermerk, 12. 12. 1959. Zur Korrespondenz zwischen BMI, BA rch u. BMF vgl. ebd. 149 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 24. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 18. 2. 1960, Anlage 1. Zur Verzögerung vgl. PA-BTag, Protokoll der 21. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 14. 1. 1960. 150 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 24. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 18. 2. 1960, Anlage 1. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 98 f.; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 122. STERILISATION

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1960 eine Aussprache unter Teilnahme Stralaus sowie je eines Vertreters des BMF und des BMJ. Alfred Frenzel erklärte zu Beginn der anberaumten Sitzung über »Hilfsmaßnahmen für die Gruppe der Zwangssterilisierten«, er weise die im Schreiben Stralaus vorgebrachte Haltung grundsätzlich zurück.151 In der kontroversen Diskussion zwischen den Abgeordneten der SPD sowie der CDU / CSU-Fraktion einerseits und den Vertretern der beteiligten Bundesministerien, allen voran Stralau, andererseits stand die Frage im Mittelpunkt, inwiefern das GzVeN »zu respektieren« sei, wenn es doch »im NS -Staat keine intakte Verwaltung und kein intaktes Richtertum gegeben habe«, wie es ein Abgeordneter des Christdemokraten, an die Adresse Stralaus und des Vertreters des Bundesfinanzministeriums gerichtet, formulierte.152 Stralau, BMF und BMJ wiedersprachen dieser Interpretation und beriefen sich auf die Legalität des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses sowie auf seine korrekte Anwendung vor 1945.153 Ergebnis der Sitzung des Wiedergutmachungsausschusses im Februar 1960 war ein veritabler Konflikt: Demonstrativ widersprach der Bundestag der Argumentation des Schreibens Stralaus und stellte fest, dass NS -Zwangssterilisierten eine finanzielle Wiedergutmachung zustehe. Ziel sei, »eine allgemeine Entschädigung an sterilisierte Personen zu gewähren«.154 Darüber hinaus sollten nach dem Willen des Wiedergutmachungsausschusses Ad-hoc-Maßnahmen initiiert werden. Und seitens des Ausschussvorsitzenden wurde hierfür ausdrücklich Josef Stralau als Verantwortlicher bestimmt. Stralau sollte dafür Sorge tragen, dass eine interministerielle Abstimmung darüber stattfand, welche Maßnahmen einer Entschädigung für Zwangssterilisierte sofort und »ohne Gesetz ergriffen werden« könnten.155 Die Ergebnisse dieser Sondierung sollten dem Ausschuss zeitnah mitgeteilt werden.156 Josef Stralau ließ den Arbeitsauftrag aber ins Leere laufen. Es kam in der Folge zu keiner Ressortkoordinierung bezüglich der geforderten Entschädigungsmaßnahmen. Stralau setzte vielmehr auf Konfrontation. Unter seiner Führung begannen BMF und BMJ engere Abstimmungen, um 151

Vgl. PA-BTag, Protokoll der 24. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 18. 2. 1960, S. 4. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 98 f. 152 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 24. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 18. 2. 1960, S. 4. 153 Vgl. ebd., S. 4 f. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 98 f. 154 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 24. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 18. 2. 1960, S. 5. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 99. 155 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 24. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 18. 2. 1960, S. 5. 156 Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 98 f. 208

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ihre Ablehnung neuer Forderungen nach einer Entschädigung der NS Zwangssterilisierten argumentativ stringenter zu fassen und sich auf eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit dem Wiedergutmachungsausschuss vorzubereiten. Anstatt wie vom Bundestag gefordert Ad-hoc-Maßnahmen für Zwangssterilisierte vorzubereiten, begannen im Frühjahr 1960 – koordiniert von Stralau – Abstimmungen zwischen der BMI-Gesundheitsabteilung, dem Bundesfinanz- und dem Bundesjustizministerium zu einem Papier, mit dem Wiedergutmachungsforderungen von Zwangssterilisierten ultimativ abgewiesen werden sollten.157 Im Verlauf dieser Anfang des Jahres 1960 begonnenen interministeriellen Konsultationen war es immer wieder Josef Stralau, der die vom BMF bereits rigoros formulierten Ablehnungsgründe als zu schwach rügte und im Ton verschärfte.158 Letztmalig im Februar 1961. Noch immer ging es um den Nachweis der Legalität des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Es sei in dieser »schwierigen Rechtsfrage« zu missverständlich argumentiert worden, so Stralau mit Blick auf eine Vorlage des Finanzministeriums. Der von angeblichen Sterilisationsopfern »axiomatisch-apodiktisch« vorgetragenen Behauptung, dass »alle in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 erlassenen Gesetze die Vermutung der Unrechtmäßigkeit für sich« hätten, müsse aber ganz präzise widersprochen werden.159 Stralau stellte klar: Der Zeitpunkt der Verabschiedung des GzVeN sei »kein Maßstab für die Gültigkeit« des Regelwerkes, denn es zähle der »im Verwaltungsrecht unbestrittene Satz, daß ein Gesetz die Vermutung der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit für sich [habe].«160 Zudem könne die Kritik an der zwangsweise durchgeführten Sterilisation gemäß des NS -Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses auch nicht mit »Argumenten des universellen Naturrechts bewertet und delegitimiert werden«, von Bedeutung sei vielmehr die Evidenz der eugenischen Wissenschaft.161 Der Konflikt rund um den vom Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages im Februar 1960 an Stralau verantwortlich überwiesenen Arbeitsauftrag in Sachen einer Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten hatte sich durch dessen fortgesetzte Obstruktion, sowie die des BMF und des BMJ, gut ein Jahr später verschärft.162 Anfang Februar 1961 entschied der Bundestagsausschuss für Wiedergutmachung schließlich angesichts der stagnierenden Lage, Experten zur Streitfrage der Legalität des GzVeN und

157 158 159 160 161 162

Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /738. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 98 f. Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /738. Vgl. BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMI an das BMF, 4. 2. 1961. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Zielke, Sterilisation, S. 98 – 100.

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der Sterilisationspraxis vor 1933 zu befragen.163 Ziel dieser Expertenanhörung sollte es sein, den nunmehr fertiggestellten Bericht der drei Bundesministerien zur Versagung weiterer Ansprüche von Sterilisationsopfern durch die Meinung von Sachverständigen zu objektivieren.164 Hatte Stralau in dieser wichtigen ersten Phase der möglichen Reform des BEG zwischen 1958 und 1961 die Rolle des Bremsers eingenommen, der als Koordinator zwischen BMI, BMF und BMJ den ablehnenden Tenor verschärfte und Arbeitsaufträge des Bundestages boykottierte, so war es wiederum Stralau, der es verstand, die Bemühungen um eine Öffnung des BEG mithilfe externer Experten zu unterminieren. Hans Nachtsheim war die entscheidende von Stralau in die Auseinandersetzung mit dem Bundestag eingeführte Persönlichkeit. Nachtsheim galt in der frühen Bundesrepublik als die Stimme der proeugenischen Sterilisation.165 1890 geboren, hatte er Zoologie studiert und sich in der Weimarer Republik als Fachmann für die Vererbungslehre bei Tieren profiliert. Später übertrug er diese Erkenntnisse mehr und mehr auf die Humanmedizin.166 Zwischen 1941 und 1945 arbeitete Nachtsheim in leitender Funktion am damaligen »Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« in Berlin-Dahlem. Er war hier für Experimente an behinderten Kindern in mindestens vier Fällen verantwortlich.167 Anders als etwa Hans Harmsen, ebenfalls vor 1945 Experte für Erbbiologie und Anhänger der NS -Erb- und Rassenpolitik,168 nahm Hans Nachtsheim niemals kritisch zur nationalsozialistischen Praxis der Zwangssterilisation oder der Validität des Krankheitskataloges des GzVeN Stellung. Nachtsheim befürwortete 1952 in seiner Schrift »Für und Wider die Sterilisierung aus eugenischer Indikation« die Sterilisation aus erbbiologischen Gründen uneingeschränkt, auch (wieder) zwangsweise vollzogen.169 Harmsen plädierte hingegen in seinem 1954 veröffentlichten Aufsatz über die »Erfahrungen 163 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 205 – 207. 164 Vgl. ebd., S. 205 – 210. 165 Zur Berufung vgl. die Unterlagen in: AMPG, III. Abt., Rep. 20A, Nr. 12. Zur Rolle Nachtsheims vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 206; Zielke, Sterilisation, S. 138 f. Vgl. ebs. Nachtsheim, Sterilisierung; ders., Rassereinheit; ders., Vererbung. 166 Vgl. Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 389 – 396; Klee, Lexikon, S. 427. Vgl. ebs. Nachtsheim, Erbpathologie; ders., Mendelismus; Morgan / Nachtsheim, Grundlage. 167 Vgl. Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 423 – 436; Klee, Lexikon, S. 427; Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 206. 168 Zur ambivalent zu bewertenden Biografie Harmsens, der in der Weimarer Republik u. während des »Dritten Reiches« der wichtigste Eugenik-Berater der evangelischen Kirche gewesen war u. nach 1945 eine einflussreiche Position als Chef v. »Pro Familia« behielt, vgl. Schleiermacher, Sozialethik; Klee, Lexikon, S. 227. 169 Vgl. Nachtsheim, Indikation. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 138 f. 210

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mit dem deutschen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« für eine kritische Aufarbeitung.170 Die definierten Krankheitsbilder des GzVeN seien, so Harmsen, unwissenschaftlich, spätestens nun Mitte der 1950er Jahre sei dies erwiesen. Zudem existiere keine gravierende und die Masse der Bevölkerung betreffende Erbkrankheit, die eine rigide staatliche Sterilisationspolitik erfordere.171 Harmsens Fazit lautete 1954: »Die Erfahrungen der Jahre bis zum Zusammenbruch 1945 haben gezeigt, daß der Verlust der Achtung vor dem Leben und vor der menschlichen Individualität und Persönlichkeit sich volks- und gemeinschaftszerstörend auswirken. Der Mensch ist mehr als nur ein biologisches Wesen. Jeder ist ein Geschöpf Gottes mit seinem besonderen Auftrag […]. Im übrigen ist die wirtschaftliche Förderung der gesunden, tüchtigen Familie noch immer der beste Weg einer qualitativen Bevölkerungspolitik.«172 Harmsen griff damit Argumente gegen eine invasive eugenische Gesundheitspolitik wieder auf, die in den 1920er Jahren vor allem die christlichen Kirchen vertreten hatten.173 1954 formulierte er damit zugleich eine Antithese zur Position Nachtsheims. Nicht Hans Harmsen, sondern Hans Nachtsheim wurde jedoch 1958 auf Vorschlag Josef Stralaus in das zentrale gesundheitspolitische Gremium zur Beratung der Bundesregierung berufen, den Bundesgesundheitsrat.174 Und nicht Harmsen, sondern Nachtsheim war der die Bundesministerien in ihrer Abwehr einer BEG -Reform maßgeblich unterstützende Experte.175 Als Ratgeber und Gesprächspartner nahm er auf die Formulierung der zwischen den Bundesressorts vorbereiteten Stellungnahme zur Ablehnung von Wiedergutmachungsansprüchen der NS -Sterilisationsopfer Einfluss und genoss dabei als »der bewährte Sachverständige« Josef Stralaus dessen Vertrauen.176 Wohl orchestriert war auch Nachtsheims Funktion als prominentester – vonseiten Stralaus benannter – Sachverständiger in der Anhörung vor dem Bundestagsausschuss für Wiedergutmachung im April 1961.177 Hans Nachtsheim, der vor dem Bundestag das von ihm mit erarbeitete Positionspapier von BMI, BMF und BMJ zur Legalität des Gesetzes zur 170 171 172 173 174 175 176 177

Vgl. Harmsen, Erfahrungen, S. 120 – 123. Vgl. ebd., S. 120 – 122. Vgl. ebd., S. 123. Vgl. Muckermann, Wesen; ders., Eugenik; Mayer, Unfruchtbarmachung. Zur diesbezüglichen Forschung vgl. insbes. Nowak, »Euthanasie«; Schwartz, »Euthansie«Debatten. Vgl. die Unterlagen in: AMPG, III. Abt., Rep. 20A, Nr. 12. Zur Rolle Nachtsheim als Berater vgl. AMPG, III. Abt., Rep. 20A, Nr. 12, sowie BA rch, B 189 /738. Vgl. ebs. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 205 – 210. Zum Urteil vgl. Zielke, Sterilisation, S. 108. Vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /738. Vgl. Zielke, Sterilisation, S. 98 – 108; Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 210 – 214.

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211

Verhütung erbkranken Nachwuchses objektivieren sollte, erklärte in der Ausschusssitzung zunächst, das GzVeN sei »kein verbrecherisches Nazigesetz, sondern ein Erbgesundheitsgesetz« gewesen.178 Dieses Gesetz habe identisch auch andernorts in Europa existiert, denn in vielen Ländern seien Sterilisationen als eugenische Maßnahmen praktiziert worden.179 Damit relativierte Nachtsheim den speziellen Zwangscharakter des GzVeN, dessen Verabschiedung außerhalb eines Parlamentes und vor allem die präzedenzlose Massenanwendung der Sterilisation während des »Dritten Reiches«.180 »Wir dürfen«, so Nachtsheim vor dem Wiedergutmachungsausschuss, »froh sein, daß dieses Gesetz 1933 als eines der ersten Gesetze der neuen Regierung herauskam.«181 Mit Ausnahme von »illegalen« Sterilisationen der SS, die aufgrund rassischer Verfolgung stattgefunden hätten, sei das generelle Prozedere zur Sterilisation gemäß GzVeN ein ganz normaler Verwaltungsakt gewesen; kein Unrecht, sondern wissenschaftlich fundiert, so Nachtsheim.182 Es waren vor allem Abgeordnete der CDU / CSU-Fraktion des Bundestages, die Nachtsheims apologetische Exkurse zur Eugenik und NS -Sterilisationspraxis zurückwiesen. Ob er eine »biologische Mustergesellschaft, bereinigt von allen, die von der Erbgesundheitsnorm nach unten abwichen«, erreichen wolle, wurde Nachtsheim gefragt;183 oder ob er behaupten würde, dass von erblich blinden und tauben Menschen eine Gefahr für die Öffentlichkeit ausgehe;184 und was mit »erblichem Heuschnupfen« sei, wolle Nachtsheim auch diese Krankheit durch Zwangssterilisationen verhindern?185 Trotz der sarkastischen Schärfe im Nachfragen hatten Nachtsheims Aussagen letztlich Bestand: Mit Abschluss der Expertenanhörung vor dem Bundestag im April 1961 waren die Bemühungen um eine Neuregelung der Entschädigung von Sterilisationsopfern gemäß dem BEG weit zurückgeworfen worden.186 Legalität und Wissenschaftlichkeit des GzVeN schienen bestätigt, nicht zuletzt wegen der von Hans Nachtsheim dominierten Debatte der Anhörung. Dieses Ergebnis war für Josef Stralau, der Nachtsheim als beratenden Experten der Bundesregierung prominent in Stellung gebracht und auch 178 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, Zit. S. 10, vgl. ebs. S. 3 – 8. 179 Vgl. ebd., S. 4 f. 180 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 210 – 214; Surmann, NS -Unrecht, S. 204 f. 181 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, S. 10. 182 Vgl. ebd., S. 3 – 11. 183 Vgl. ebd., S. 50. 184 Vgl. ebd., S. 52. 185 Vgl. ebd., S. 50, 52. 186 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 210 – 218; Zielke, Sterilisation, S. 100 – 108; Surmann, NS -Unrecht, S. 204 f. 212

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die Ressortabstimmung zwischen BMI, BMF und BMJ im Vorfeld der Anhörung routiniert geführt hatte, ein persönlicher Erfolg.187

ŇĻĻåŹƐ)ƣďåĻĞī×Ɛ„ƒŹ±Į±ƣžƐFĻЃбƒĞƽåĻƐüƨŹƐåĞĻƐ„ƒåŹĞĮĞž±ƒĞŇĻžďåžåƒǍƐ ĞĻƭÚåĻƐŐŁƌǑåŹƐI±ĚŹåĻ

Der im Bundestag 1961 von Nachtsheim, Stralau sowie dem BMF und dem BMJ geführte Nachweis einer Legalität und Wissenschaftlichkeit des GzVeN zielte aber nicht nur auf eine Deklassierung der Opferansprüche. Er galt auch einem seinerzeit aktuellen Thema: »Eine Entschädigung aus eugenischer Indikation Sterilisierter ist aber auch deshalb nicht angebracht«, so Hans Nachtsheim im April 1961 vor dem Wiedergutmachungsausschuss, »weil dadurch eine solche Sterilisation auf freiwilliger Basis gleichfalls in Mißkredit gebracht würde. […] Jedes Kulturvolk kann auf die Dauer heute nicht auf Eugenik verzichten, und zu den wichtigsten Maßnahmen zur Verhinderung eines Überhandnehmens der Erbkrankheiten gehört die Unfruchtbarmachung aus eugenischer Indikation.«188 Schließlich sei, so Nachtsheim weiter, die »starke Kontraselektion« ein akutes zeitgenössisches Problem: Es würden in der Bundesrepublik unzählige Kinder mit »Hasenscharte«, »angeborenem Herzfehler«, Bluter oder auch Diabetiker medikamentös oder chirurgisch therapiert und »am Leben erhalten«, ohne dass deren Erbdefekt behoben sei.189 »Im Jahr 2000«, so rechnete Nachtsheim vor, »haben wir ungefähr doppelt so viele Menschen, wie wir heute haben. Wenn wir nun nicht nur diese quantitative Zunahme, sondern dabei auch noch eine qualitative Verschlechterung haben – das geht lawinenartig von Generation zu Generation –, wo kommen wir dann überhaupt hin?«190 Rhetorisch fragte Nachtsheim die Ausschussmitglieder schließlich: »Ist es nicht richtiger, daß man eine derartige Zunahme von Erbkrankheiten verhindert? Oder wollen wir es dahin kommen lassen, daß sich das Verhältnis der Gesunden zu den in Anstalten Untergebrachten mehr und mehr zu Gunsten der in Anstalten Untergebrachten verschiebt?«191 Alle diese Argumentationsfiguren Nachtsheims waren identisch mit den Inhalten der nationalsozialistischen Propaganda zur Begründung

187 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 210 – 218; Zielke, Sterilisation, S. 100 – 108. 188 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, S. 11. 189 Vgl. ebd., S. 52. 190 Vgl. ebd., S. 54. 191 Vgl. ebd. STERILISATION

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des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.192 1961 hoben sie – vorgetragen in einer Sitzung zum GzVeN – nicht primär darauf ab, Wiedergutmachungsansprüche zu versagen. Sie dienten vielmehr dazu, aktuelle Politik und die soeben initiierten legislativen Maßnahmen der eugenisch indizierten Sterilisation zu legitimieren.193 Opfer stellten sich, so Nachtsheims Plädoyer 1961, nicht nur zu Unrecht als Opfer dar, sondern die dämonisierende Umdeutung des GzVeN als Unrecht verbaue den Weg in die Zukunft. Nach wie vor richtige und notwendige Maßnahmen einer eugenischen Bevölkerungspolitik dürften keinesfalls durch eine grundlose Verurteilung der NS -Sterilisationspraxis in »Mißkredit« gebracht werden.194 Immer wieder war seit 1949 /50 von unterschiedlichen Akteuren in der Bundesrepublik gefordert worden, eine »Gesetzeslücke« zu schließen und die freiwillige Unfruchtbarmachung gesetzlich zu normieren.195 Vor allem Ärzte verwiesen auf die Rechtsunsicherheit in dieser Frage.196 Die Bundesregierung verhielt sich zunächst zurückhaltend. Das Bundesjustizministerium urteilte noch 1954, die Bundesregierung könne auf diesem Gebiet – gemäß dem Standpunkt der Gesundheitsabteilung des BMI – keine Initiative ergreifen, auch nicht im Zuge einer Strafrechtsreform, denn die eugenische Sterilisation liege außerhalb der vom Grundgesetz dem Bund übertragenen Kompetenzen.197 Gleichwohl setzten sich die Debatten in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu diesem Thema fort und schon Mitte des Jahres 1957 war ein erster Gesetzentwurf zur freiwilligen Sterilisation aus eugenischen Gründen zwischen BMI und BMJ erarbeitet worden. Paragraf 1 lautete: »Wer nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft schwachsinnige, geistesgestörte, schwer missgebildete oder auf andere Weise schwer erbkrankhaft veranlagte Nachkommen zu erwarten hat, kann auf eigenen Antrag unfruchtbar gemacht werden.«198 Noch bevor Josef Stralau im Herbst 1957 die Leitung der BMI-Gesundheitsabteilung übernahm, hatte man dort eine Kehrtwende vollzogen, wie der Entwurf zeigt. Eine Zuständigkeit des Bundes für die eugenische Sterilisation wurde nicht länger bestritten. 192 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 210 – 214. 193 Vgl. Zielke, Sterilisation, S. 110 – 115. 194 Vgl. PA-BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, S. 11. 195 Vgl. etwa Der Spiegel: Zeit, zu debattieren, in: Der Spiegel, 33 /1950, S. 7. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 38 – 82. 196 Vgl. ebd., S. 51 – 72; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 144 f. 197 Vgl. BA rch, B 141/ 82115, Vermerk, 16. 1. 1954. 198 Vgl. BA rch, B 142 /2199, Entwurf eines Gesetzes zur freiwilligen Sterilisation aus eugenischen Gründen, 6. 7. 1957. 214

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Die interministeriellen und federführend vom BMJ betriebenen Abstimmungen über ein Gesetz zur freiwilligen eugenisch indizierten Sterilisation fanden ab 1957 parallel zur Wiedergutmachungsdebatte und der geplanten Reform des BEG statt.199 Einen Impuls bekam die Arbeit am Sterilisationsgesetz inmitten des eskalierenden Konfliktes mit dem Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages: Wenige Wochen nachdem Josef Stralau im Februar 1960 vom Ausschussvorsitzenden zum interministeriellen Koordinator für die Wiedergutmachung von NS -Zwangssterilisierten bestimmt worden war, ergriff der damalige Leiter der BMI-Gesundheitsabteilung gegenüber dem Bundesjustizministerium die Initiative. Stralau übersandte im Mai 1960 ein Grundsatzpapier, das konkrete inhaltliche Eckpunkte definierte. So sollten die medizinische und die eugenische Indikation Teil der per Gesetz geregelten Sterilisationspraxis werden. Eine »soziale Indikation«, etwa Alkoholismus, sei, so Stralau, hingegen nicht zu berücksichtigen.200 Innerhalb der Bundesregierung stieß Stralaus Entwurf auf Widerspruch. Das damalige Bundesministerium für Familien- und Jugendfragen argumentierte, eine »eugenische Indikation« der Unfruchtbarmachung sei nicht mehr zeitgemäß, denn es stünden weit »weniger eingreifende Maßnahmen der Empfängnisverhütung« zur Verfügung.201 Bis Mitte des Jahres 1961 hatte Josef Stralau – unterstützt durch Hans Nachtsheim – schließlich erreicht, dass die eugenische Indikation unbestrittener Bestandteil einer Normierung der freiwilligen Unfruchtbarmachung wurde.202 Wenige Tage nach der Expertenanhörung vor dem Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages im April 1961, in der Hans Nachtsheim davor gewarnt hatte, das GzVeN zu einem Unrechtsgesetz abzustempeln und damit die parallelen Gesetzesinitiativen zur Regelung der eugenischen Sterilisation in »Mißkredit« zu bringen,203 konnte Josef Stralau die Mitglieder der Arbeitsgruppe leitender Medizinalbeamter des Bundes und der Länder über den Fortgang der Arbeit am geplanten Sterilisationsgesetz informieren, das nun auch eine eugenische Indikation vorsah.204 Im Ergebnis einer gut einjährigen Abstimmung zwischen Stralau – seit November 1961 Leiter der Abteilung I des neu gegründeten Bundesgesundheitsministeriums – und dem BMJ waren im Frühjahr 1963 schließlich zwei Gesetzentwürfe zur freiwilligen Unfruchtbarmachung entstanden, die 199 Vgl. Zielke, Sterilisation, S. 91 – 109. Vgl. ebs. insgesamt Tümmers, Anerkennungskämpfe. 200 Vgl. BA rch, B 141 /82115, Schreiben des BMI an das BMJ, 25. 5. 1960. 201 Vgl. BA rch, B 141 /82115, Schreiben des BMFJ an das BMJ, 22. 9. 1960. 202 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2119. 203 Zur Aussage Nachtsheims vor dem Bundestagsausschuss vgl. PA-BTag, Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Wiedergutmachung, 13. 4. 1961, S. 11. 204 Vgl. BA rch, B 142 /3677, Protokoll der Tagung der AGLMB, TOP 10, 10. 5. 1961. STERILISATION

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erstmals ein Sondergesetz zur Sterilisierung vorsahen, losgelöst von einer Strafrechtsreform.205 Noch forciert durch eine Initiative des Bundesrates im Sommer 1962 zur Klärung der strafrechtlichen Relevanz freiwilliger Eingriffe zur Unfruchtbarmachung, hatte Stralaus Abteilung des Bundesgesundheitsministeriums die medizinisch-fachliche Arbeit an den drei Gesetzentwürfen geleistet.206 Anders als ursprünglich geplant, entschied die Spitze des neuen BMGes, dass nur das Bundesjustizministerium und nicht auch das Gesundheitsressort – wie vor Gründung des BMGes von Stralau geplant – die Gesetzesarbeit federführend leiten sollte. Offenkundig glaubte Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt, eine formal weitergehende Involvierung ihres neuen Ministeriums würde das Haus überfordern, das zeitgleich auch mit dem Contergan-Skandal konfrontiert war.207 Gleichwohl war die ab 1961 /62 formal allein beim BMJ liegende Federführung in Sachen des Gesetzes zur freiwilligen Unfruchtbarmachung mitnichten als ein Desinteresse des Bundesgesundheitsministeriums an der eugenischen Sterilisation zu deuten.208 Ganz im Gegenteil. Die 1962 /63 von Stralaus Abteilung des Bundesgesundheitsministeriums medizinisch-fachlich zugeschnittenen Entwürfe zeichnete zunächst aus, dass wieder drei Indikationen der freiwilligen Unfruchtbarmachung unterschieden wurden: die medizinische, die soziale und die eugenische.209 Während Erstere als Maßnahme zur »Abwehr ernstlicher Gefahren für das Leben und die Gesundheit« von Personen definiert wurde, galt die »soziale Indikation« – die Stralau noch im Mai 1960 bezogen auf Alkoholismus abgelehnt hatte – als ein Schritt »zur Linderung einer seelisch schweren Belastung«.210 Die eugenische Sterilisation sollte dann Anwendung finden, 205 Vgl. die Entwürfe v. 9. 1. 1963 bzw. v. 18. 2. 1963 in: BA rch, B 142 /2119. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 110 – 120. 206 Zur Zuständigkeit Stralaus bzw. der Abteilung I des BMGes für die medizinische Facharbeit vgl. die Korrespondenz zwischen BMGes u. BMJ in: BA rch, B 142 /2120. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 115 – 118. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 144 – 147, 162 – 170, erörtert zwar die Genese des geplanten Sterilisationsgesetzes, jedoch ohne die Rolle Stralaus u. des BMGes zu berücksichtigen. 207 Zur internen Haltung des BMGes in der Frage der Federführung 1962 /63 vgl. die Korrespondenz zwischen BMGes u. BMJ in: BA rch, B 142 /2120. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 117 f. Zum Contergan-Skandal vgl. Mecking, Gesundheitsabteilung, S. 117 – 134; Lenhard-Schramm, Contergan-Skandal; ders., Land. Vgl. ebs. Crumbach, Sprechen. 208 So Zielke, Sterilisation, S. 118. 209 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963; BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. 210 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963. Zum zweiten Entwurf vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. Zur Haltung Stralaus im Mai 1960 vgl. BA rch, B 141 /82115, Schreiben des BMI an das BMJ, 25. 5. 1960. 216

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wenn es »nach der ärztlichen Wissenschaft« als wahrscheinlich galt, dass die Nachkommen von Personen an »schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden« litten.211 Um die »eugenische Indikation« präzise zu definieren, war dem Gesetz eine »Liste« beizufügen, die alle »schwerwiegenden körperlichen oder geistigen Erbschäden« benannte.212 Dieser Katalog – der vom BMGes unter Stralaus Leitung ebenfalls ausgearbeitet wurde – rekurrierte, mit Ausnahme des Alkoholismus, ohne jede kritische Distanz auf alle im nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses als Erbkrankheit definierten Erscheinungen: Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres manisch-depressives Irresein, Epilepsie, Huntington’sche Chorea, Blindheit, Taubheit und körperliche Missbildungen.213 In ungebrochener Logik beabsichtigte Josef Stralau damit im Namen des Bundesgesundheitsministeriums Anfang der 1960er Jahre den medizinischen Kern des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 wieder zu einem Bestandteil staatlicher Gesundheitspolitik zu machen. Von Stralau eingefügt worden waren in die Entwürfe im Frühjahr 1963 aber auch zwei ganz wesentliche Elemente der Überlegungen zur Sterilisation in Preußen 1932: Zum einen wurden auch gesunde Träger von erblichen »Defekten« zur freiwilligen Sterilisation aufgefordert, zum anderen wurde die zwangsweise Unfruchtbarmachung abgelehnt.214 Ungeklärt und vage blieben in den Entwürfen 1963 hingegen die Überlegungen zu Sterilisationsfällen, in denen die »Erbkranken« nicht einwilligungsfähig waren.215 Im Verlauf des Jahres 1963 begannen intensive Abstimmungen zwischen Stralaus Abteilung im BMGes und dem Bundesjustizministerium. Als strittig wurde aufseiten des BMJ vor allem die Definition der eugenischen Indikation angesehen. Im August 1963 wurde die von Stralau eingebrachte Liste der Erbkrankheiten in einem nunmehr zum Referentenvorentwurf überarbeiteten BMJ-Konzept des Gesetzes zur freiwilligen Sterilisation zu 211 212 213 214 215

Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963; BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963; BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963; BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963; BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. Zum preußischen Entwurf vgl. u. a. Nowak, Euthanasie, S. 41 f. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 9. 1. 1963; BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963.

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einem »Merkposten für die Nachprüfung durch ärztliche und biologische Sachverständige« erklärt.216 Stralaus Haltung zur Validität der definierten Erbkrankheiten blieb indes unverändert. Erst im Frühjahr 1964 erklärte er sich bereit, die katalogisierten Krankheitsbilder vonseiten medizinsicher Fachgesellschaften begutachten zu lassen.217 Dieses Zugeständnis bedeutete nicht, dass Stralau fachlich vom Standpunkt abrückte, die aus dem GzVeN übernommenen »Erbkrankheiten« seien Mitte der 1960er Jahre wissenschaftlich fundierte und aktuelle Gesundheitsgefahren. Denn die Abteilung I des BMGes sicherte dem Justizministerium lediglich zu, die medizinischen Fachgesellschaften danach zu fragen, ob es »über die in dem Katalog« des Gesetzes genannten Fälle »hinaus« weitere »wissenschaftlich eindeutig nachweisbare Fälle von Erbkrankheiten« gebe.218 Als derartige weitere »Fälle« – so Stralaus handschriftliche Ergänzungen auf dem Briefentwurf an die Fachgesellschaften der Bundesrepublik – galten aus Sicht der Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums »Diabetes, Psychopathien, angeborener Lues [Syphilis], Rh-Faktor- [Rhesus-Faktor] und Blutgruppenunverträglichkeit« sowie generell alle »besonderen konstitutionellen Veranlagungen«.219 Stralau erklärte sich mit dieser Benennung weiterer definierter »Erbkrankheiten« gegenüber den medizinischen Fachgesellschaften der Bundesrepublik praktisch bereit, die »eugenische Indikation« einer Unfruchtbarmachung nicht auf Ausnahmeerkrankungen zu beschränken, sondern als ein Instrument einer allumfassenden Gesundheitspolitik zu implementieren. In der Bevölkerung weitverbreitete Stoffwechselerkrankungen galten im Sinne Stralaus als eugenische Erbkrankheiten, wie auch erbliche Veranlagungen für bestimmte Krebsarten unter die Definition von »besonderen konstitutionellen Veranlagungen« hätten subsumiert werden können.220 Hans Nachtsheim war von der Abteilung I des BMGes frühzeitig in die Abstimmungen zum Referentenvorentwurf mit dem BMJ einbezogen worden.221 Dabei nahm er bis auf die Wortwahl von Vorlagen Einfluss, wie seine irrtümliche Formulierung vom »Preußischen Gesundheitsamt« zeigt. Im Frühjahr 1963 hatte das BMJ in einer Begründung zum zweiten Gesetzentwurf der freiwilligen Unfruchtbarmachung eine historische Herleitung verfasst. Darin hieß es: »Bereits am 4. Juli 1914 war dem Reichstag der Entwurf eines Gesetzes gegen Schwangerschaftsunterbrechung und 216 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Referentenvorentwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 13. 8. 1963. 217 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 27. 2. 1964. 218 Vgl. ebd. 219 Vgl. ebd. 220 Vgl. ebd. 221 Vgl. BA rch, B 142 /2120, Vermerk, Dezember 1963. 218

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Unfruchtbarmachung vorgelegt worden, der dann zu keinem Ergebnis geführt hat. Die Diskussion kam jedoch nicht zur Ruhe. Sie führte im Jahre 1932 zu dem Entwurf eines Sterilisationsgesetzes des Preußischen Landesgesundheitsamtes […].«222 Im Juli 1964 gab Hans Nachtsheim in seiner Funktion als Direktor der »Max-Planck-Gesellschaft für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie« eine amtliche Stellungnahme zum geplanten Sterilisationsgesetz gegenüber dem BMGes ab. Darin bat er um Korrektur der weiterhin falsch verwendeten Begrifflichkeit vom »Preußischen Landesgesundheitsamt«; es müsse richtig »Preußischer Landesgesundheitsrat« heißen: »Ob der Irrtum primär von mir stammt oder ob ich ihn anderswoher übernommen habe, vermag ich nicht mehr festzustellen«, so Nachtsheims Eingeständnis zum Ursprung der falschen Formulierung gegenüber dem Bundesgesundheitsministerium.223 Hans Nachtsheim monierte in seinem Gutachten, dessen Eingang im BMGes vor Befragung der medizinischen Fachgesellschaften nicht abgewartet worden war, wesentliche Punkte des vom Bundesgesundheits- und Bundesjustizministerium erarbeiteten Gesetzentwurfes. Seine Kritik lässt eine markante Diskrepanz zwischen ihm und Stralau erkennen: Nachtsheim votierte vehement gegen Stralaus Katalog der Erbkrankheiten im Entwurf des Gesetzes, denn »eine Offenheit« müsse »erhalten bleiben, um neuzeitliche Ergebnisse berücksichtigen zu können«.224 Zudem plädierte Nachtsheim für ein rein eugenisches Sterilisationsgesetz und lehnte die Einbeziehung weiterer Indikationen, wie der sozialen oder medizinischen, ab.225 Eben um eine breite gesundheitspolitische Wirkung erzielen zu können, hielt Stralau sowohl am umfassenden Katalog der Krankheiten als auch an einer »sozialen Indikation« der Sterilisierung fest. Diese wollte er vor allem als Mittel verstanden wissen, um »wirtschaftliche Notlagen« kinderreicher Familien zu verhindern oder eine »Beeinträchtigung des Lebensziels« von Personen abzuwenden, beispielsweise wenn durch Kinder »die schöpferische Kraft eines Gelehrten« oder die eines »Künstlerehepaars« gefährdet sei, oder die »beruflichen Möglichkeiten eines Artistenehepaars usw.«.226 Josef Stralau und die Abteilung I des BMGes skizzierten damit 1964 einen – angesichts der Zulassung medikamentöser Empfängnisverhütung 1961 – anachronistischen gesundheitspolitischen

222 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Entwurf eines Gesetzes über die Unfruchtbarmachung, 18. 2. 1963. 223 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Gutachten der MPG für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie, 9. 7. 1964. 224 Vgl. ebd. 225 Vgl. ebd. 226 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 17. 11. 1964. STERILISATION

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Abb. 45 : Artikel des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« über die vom BMG es initiierte Arbeit an einem neuen Gesetz zur freiwilligen eugenisch indizierten Sterilisation und einen von Josef Stralau den medizinischen Fachgesellschaften übersandten Fragenkatalog, 9. 12. 1964.

220

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Ansatz der Geburtenkontrolle, der im Widerspruch stand zu einer sexuell emanzipierten Gesellschaft.227 Vernichtend wurde indes von den medizinischen Fachgesellschaften nicht die »soziale Indikation« Stralaus beurteilt, sondern vielmehr der Katalog angeblicher Erbkrankheiten. Gut zwei Dutzend medizinische Fachgesellschaften der Bundesrepublik waren im März 1964 vom Leiter der Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums persönlich-vertraulich angeschrieben worden, um wie erwähnt deren Stellungnahme zu »wissenschaftlich eindeutig« nachweisbaren Erbkrankheiten »über die im Gesetzentwurf katalogisierten hinaus« zu erbitten.228 Stralau drängte auf eine rasche Antwort, da das geplante Sterilisationsgesetz »noch in dieser Legislaturperiode« verabschiedet werden sollte, das heißt vor der geplanten Bundestagswahl im Herbst 1965.229 Alle Antworten an das Bundesgesundheitsministerium attestierten Stralau medizinisch-fachlichen Dilettantismus, denn die »Erbkrankheiten« Schizophrenie, zirkuläres manisch-depressives Irresein, »angeborener Schwachsinn« sowie »erbliche Fallsucht« seien als Krankheitsbilder nicht mehr zeitgemäß.230 »Stoffwechselstörungen und Psychopathien« seien überdies kein ausreichender Grund für eine eugenische Indikation zur Sterilisierung, so die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie in ihrem Schreiben an Stralau.231 Die Gesellschaft für Gynäkologie lehnte es aufgrund fehlender Wissenschaftlichkeit gänzlich ab, sachlich zu Stralaus Fragen Stellung zu nehmen. Sie empfahl dem Ministerialdirektor des Bundesgesundheitsministeriums stattdessen die »sorgfältigste Durcharbeitung« seiner aufgelisteten Krankheitsbilder.232 Aus Empörung über den grob unmedizinischen Krankheitskatalog bestand der renommierte Psychiater und Neurologe Hans Jörg Weitbrecht im Namen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde 227 Vgl. diesbezüglich u. a. Silies, Erfahrungen, S. 205 – 224. 228 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 27. 2. 1964, sowie den Briefentwurf Stralaus an die Gesellschaften in: BA rch, B 142 /2119, Entwurf, März 1964. Vgl. ebs. Zielke, Sterilisation, S. 123 – 130. 229 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 27. 2. 1964, sowie den Briefentwurf Stralaus an die Gesellschaften in: BA rch, B 142 /2119, Entwurf, März 1964. 230 Vgl. u. a. BA rch, B 142 /2120, Schreiben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde an Josef Stralau, 26. 10. 1964; BA rch, B 142 /2120, Schreiben der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie an Josef Stralau, 10. 6. 1964; BA rch, B 142 /2120, Schreiben der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie an Josef Stralau, 10. 7. 1964; BA rch, B 142 /2120, Schreiben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie an Josef Stralau, 10. 7. 1964. 231 Vgl. BA rch, B 142 /2120, Schreiben der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie an Josef Stralau, 10. 7. 1964. 232 Vgl. BA rch, B 142 /2120, Schreiben der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie an Josef Stralau, 10. 7. 1964. STERILISATION

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auf einer Aussprache mit dem Bundesjustiz- und dem Bundesgesundheitsministerium. Jeweils lediglich auf Referentenebene empfangen, erklärte Weitbrecht seitens der Gesellschaft die »völlige Ablehnung« hinsichtlich des Krankheitskataloges im Gesetzentwurf.233 Unter Verweis auf den Unrechtscharakter des GzVeN erklärte er außerdem, dass die Verabschiedung eines neuen eugenischen Sterilisationsgesetzes nicht nur eine breite öffentliche Diskussion, sondern auch eine adäquate wissenschaftliche Bestimmung möglicher Erbkrankheiten erfordere; »Begriffe wie Schizophrenie und zirkuläres manisch-depressives Irresein«, wie Stralau sie aus dem GzVeN übernommen hatte, seien »wissenschaftlich überholt«, so Weitbrecht gegenüber dem BMJ.234 Die für Stralau desaströse Kritik der medizinischen Fachgesellschaften erodierte 1964 /65 die Position des Bundesgesundheitsministeriums im laufenden Prozess der Formulierung eines Gesetzes zur freiwilligen Unfruchtbarmachung.235 Noch im Herbst 1964 wurde in einer überarbeiteten Fassung des Referentenvorentwurfes des Sterilisationsgesetzes vom BMJ der Katalog der Erbkrankheiten entfernt.236 Auf einer Sitzung von Bundesgesundheitsministerium, BMJ, BMI und Familienministerium zum geplanten Sterilisationsgesetz wurde letztlich im Frühjahr 1965 beschlossen, einen Katalog – gleich welcher Krankheiten – definitiv nicht in das Gesetz aufzunehmen; generell sollte der Gesetzentwurf vor der Bundestagwahl im Herbst 1965 auch nicht mehr im Bundeskabinett beraten werden.237 Im Übrigen wurde, entgegen den Vorstellungen Stralaus, festgehalten, dass zukünftig »eine Zulassung der Sterilisation aus eugenischer Indikation, soweit sie in Betracht kommt, nicht als Förderung der kollektiven Erbgesundheit, sondern allein als individuelle humanitäre Hilfe für die Betroffenen verstanden werden« sollte.238 Damit war der von Josef Stralau intendierte umfassende eugenisch-gesundheitspolitische Kern des potenziellen Sterilisationsgesetzes ausgehöhlt worden. Bereits im April 1965 hatte das BMJ Stralaus Abteilung im Bundesgesundheitsministerium signalisiert, dass ein eigenständiges Sterilisationsgesetz zur eugenisch, sozial und medizinisch indizierten freiwilligen Unfruchtbarmachung nicht mehr erreicht werden könne.239 Den Vorschlag des Justizministeriums, »gleich zu Beginn der kommenden Wahlperiode« ein »allgemeines Gesetz über ärztliche Eingriffe« zu initiieren, das die Frage der 233 234 235 236 237 238 239

Vgl. BA rch, B 142/2120, Vermerk, 16. 9. 1964; BA rch, B 142/2120, Vermerk, 29. 9. 1964. Vgl. BA rch, B 142 /2120, Vermerk, 16. 9. 1964. Vgl. Zielke, Sterilisation, S. 130 f. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 6. 11. 1964. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 26. 5. 1965. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 5. 4. 1965; BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 14. 4. 1965.

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freiwilligen Sterilisation mit regeln sollte,240 lehnte der Staatssekretär des Bundesgesundheitsministeriums, Walter Bargatzky, auf Stralaus Vorschlag hin ab.241 Der Leiter der Abteilung I des BMGes versuchte stattdessen einen Rückschritt: Die »Probleme« mit dem Sterilisationsgesetz sollten durch die »Eingliederung der Bestimmungen in ein allgemeines Strafrechtsänderungsgesetz« versucht werden »zu entschärfen«, wie der zuständige Referent Stralaus in der Sitzung mit BMJ, BMI und Familienministerium Anfang Juli 1965 erklärte.242 Eine solche »Entschärfung« wurde von den anderen Ressorts jedoch abgelehnt.243 Generell, so lassen die Mitschriften der Sitzung vom Sommer 1965 erkennen, war es innerhalb des Gesundheitsministeriums höchst umstritten, wie weiter verfahren werden sollte. Zwischen Stralau und Ministerin Schwarzhaupt sowie Staatssekretär Bargatzky herrschte Streit bezüglich der von der Abteilung I aufrechterhaltenen Forderung nach einer »Sterilisation aus sozialen Gründen (Mehrfachmütterschutz schwachsinniger Mädchen für außereheliche Mehrfachschwangerschaften in frühester Jugend)«.244 Mit Stralau gestritten wurde im BMGes aber auch hinsichtlich des Verfahrens der Sterilisation einwilligungsunfähiger »schwachsinniger Mädchen«.245 Anfang Dezember 1965 fanden die von Josef Stralau seit 1960 /61 forcierten Bemühungen um ein Gesetz zur eugenisch indizierten Sterilisation ihr Ende. Das BMJ unterrichtete Stralaus Referenten, dass innerhalb des Justizministeriums zum einen der bisherige Fachreferent ausgeschieden sei und zum anderen, »im Lichte zahlreicher Zuschriften«, die »auf Sexualverbrecher« Bezug nehmen würden, die »Neigung bestehe«, die eugenische Sterilisation von der Frage der Kastration zu »entkoppeln«, aber nur Letztere noch gesetzgeberisch einer Lösung zuzuführen, und zwar im Rahmen der Strafrechtsreform.246 War Stralaus medizinisch zugeschnittenes Vorhaben zur Sterilisation damit gescheitert, bestand weiterhin die Forderung nach Entschädigung der Opfer des GzVeN.

240 241 242 243 244 245 246

Vgl. BA rch, B 142 /2119, Schreiben des BMJ an das BMGes, 19. 5. 1965. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 5. 4. 1965. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 9. 7. 1965. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 142 /2120, Vermerk, 9. 12. 1965. Zur weiteren Entwicklung der diesbezüglichen Strafrechtsreform vgl. u. a. Ramsbrock, Gesellschaft; dies., Geschlecht.

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Als nach der für Stralau desaströsen Rückmeldung der medizinischen Fachgesellschaften im Herbst 1964 die Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem BMJ über das weitere Vorgehen bezüglich des geplanten Sterilisationsgesetzes kulminierten, spitzte sich auch die Debatte um eine Reform des BEG zu. Nach der Expertenanhörung 1961 war es zunächst eine Initiative Niedersachsens gewesen, mit der 1962 /63 versucht worden war, über den Bundesrat eine Gesetzgebung zur Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten zu erreichen.247 Außerdem skizzierte der Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages 1963 /64 zwei Möglichkeiten einer Lösung: entweder per BEG oder auf dem Weg eines Sondergesetzes, das einerseits das Unrecht des NS -Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aufheben und anderseits den Weg für eine Entschädigung freimachen sollte.248 Beide Initiativen – die der Niedersächsischen Landesregierung und die des Wiedergutmachungsausschusses – hatten BMGes und BMJ, die zeitgleich die Entwürfe zum neuen Sterilisationsgesetz abstimmten, nur tangiert; primär war für sie aufseiten des Bundes das BMF zuständig gewesen.249 Ende des Jahres 1964 verschränkten sich die Entschädigungsdebatten wieder mit den legislativen Bemühungen um ein neues Sterilisationsgesetz. Und die neue Dynamik konzentrierte sich auf die Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums, wobei Josef Stralau erneut obstruktiv an einer Verzögerung aller Initiativen zur Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten arbeitete und zugleich um eine Rettung des Sterilisationsgesetzes bemüht war. Stralaus maßgeblich ablehnende Position in der Entschädigungsdebatte 1965 zeigte sich zunächst hinsichtlich der Länderinitiative zur Wiedergutmachung für NS -Zwangssterilisierte. Im Frühjahr 1965 war er von Niedersachsen im Rahmen der Arbeitsgruppe leitender Medizinalbeamter des Bundes und der Länder aufgefordert worden, Vorschläge für eine Regelung der Entschädigungsfrage im Sinne eines Sondergesetzes auszuarbeiten.250 Niedersachsen gab mit Blick auf die NS -Zwangssterilisierten zu Protokoll: »Die Betroffenen sind die Opfer eines Verfahrens, das – bei scheinbarer Rechtsstaatlichkeit in der äußeren Form – im Geiste der Rassenideologie und der Deklassierung der ›biologisch Minderwertigen‹ unter Zwang durchgeführt worden ist. Die ärztliche Meldepflicht gegenüber den an247 248 249 250 224

Vgl. Zielke, Sterilisation, S. 147 – 149. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 147 f. Vgl. BA rch, B 269 /11, Protokoll der Tagung der AGLMB, TOP 2, 16. 5. 1965. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

tragsbefugten Stellen […] und die Zwangssterilisationen widersprachen rechtsstaatlichen Grundsätzen.«251 In der darauffolgenden Sitzung der Arbeitsgruppe erklärte Josef Stralau Ende Juli 1965 den Gesundheitsministern und -senatoren der Länder, es liege außerhalb ihrer Kompetenz, eine rückwirkende Aufhebung des GzVeN anzustreben oder davon ausgehend Wiedergutmachungsansprüche herzuleiten. Allein der Bund sei hierfür zuständig, konkret das Bundesfinanzministerium.252 In diesem Sinne veränderte Stralau auch die Beschlussvorlage des Gremiums zur Entschädigungspraxis maßgeblich. Es hieß nicht länger: »Die für das Gesundheitswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder halten es für erforderlich zu prüfen, in welchem Ausmaße Personen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unter Verstoß gegen die damals geltenden Vorschiften unfruchtbar gemacht worden sind«, sondern eingefügt wurde von Stralau ein »ob«.253 Grundsätzlich stand zunächst in Rede, »ob« Personen überhaupt gegen die geltenden Vorschiften des GzVeN unfruchtbar gemacht worden waren.254 Ergänzt wurde von Stralau noch etwas anderes: Nicht Nordrhein-Westfalen und Niedersachen sollten eine neue Arbeitsgruppe zur Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten leiten. Auf Stralaus Intervention wurde die reine Länderkontrolle ergänzt um die »Mitwirkung eines Vertreters des Bundesministeriums der Finanzen«.255 Damit war faktisch von den Ländern die auf Bundesebene negative Haltung zur Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten nicht zu unterminieren. Josef Stralau hielt in einer Stellungnahme kurz nach der Sitzung mit den Länderverantwortlichen 1965 fest, die Frage des Sondergesetzes zur Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten sei erledigt und jede weitere Befassung mit dieser Frage »überflüssig«.256 Und noch immer hieß es von ihm: »Ob jede Zwangssterilisierung als typisch nationalsozialistisches Unrecht anzusehen ist, dürfte auf Grund der Entstehungsgeschichte des Erbgesundheitsgesetzes und angesichts der heutigen Auffassung namhafter Wissenschaftler zumindest zweifelhaft sein. […] Die wesentlichen Einwände gegen die Sterilisation zwischen 1933 und 1945 stützen sich in Wirklichkeit auch weniger auf den Unrechtscharakter des Gesetzes, als auf den Unrechtscharakter einzelner Entscheidungen.«257 Bei beiden Punkten, die Stralau gegenüber den Ländern angemahnt hatte, war er zeitgleich auf Bundesebene involviert: beim Sondergesetz 251 252 253 254 255 256 257

Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 269 /11, Protokoll der Tagung der AGLMB, 27. 7. 1965. Zur Intervention Stralaus vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMGes an das BMF, August 1965. Vgl. ebd.

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und bei der Klärung einer Federführung der Bundesressorts für dessen Ausgestaltung. Als BMJ und BMGes Ende 1964/Anfang 1965 gemeinsam rangen, um nach der Befragung der medizinischen Fachgesellschaften irreparable Schäden am Projekt des Gesetzes der freiwilligen Sterilisation zu verhindern, brachte das Bundesfinanzministerium Stralau in Zugzwang. Das BMF erklärte, das Gesundheitsressort sei federführend für die Vorbereitung des vom Bundestagsausschuss geforderten separaten Entschädigungsgesetzes zuständig, eventuell »könnte auch erwogen werden, diese Regelung in das in Vorbereitung befindliche Sterilisationsgesetz aufzunehmen«, so das BMF im Januar 1965.258 Unmittelbar nach Eingang des Schreibens hielt der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium Walter Bargatzky in einem Vermerk an Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt fest: »Eine die Menschenwürde achtende Gesundheitspolitik verlangt danach, dass der Unrechtscharakter des GzVeN zur Folge die Entschädigung haben« müsse.259 Und weiter hieß es: »Die Gründe, die der BMF [in seinem Schreiben vom 28. 1. 1965] gegen das Recht auf Entschädigung anführt, muten zum Teil degoutant an. Ich gebe zu, daß es nicht leicht sein wird, die Grenze zwischen Berechtigten und Nichtberechtigten zu ziehen. Es gibt aber zahlreiche Fälle – einige hiervon sind mir in meiner Praxis [als Rechtsanwalt] unmittelbar nach dem Krieg unter Ausschluß jeden Zweifels bekannt geworden – in denen die Sterilisation unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit völlig überflüssig und mit schwersten geistigen und seelischen Einbußen für die Betroffenen und ihre Familien verbunden war.«260 Der Vergleich zwischen diesem Vermerk Bargatzkys Ende Januar 1965, der dem Bundesfinanzministerium eine »degoutante« Haltung gegenüber NS -Sterilisationsopfern attestierte, und der von Stralau konzipierten Antwort an das BMF gut zwei Monate später zeigt, dass in den dazwischenliegenden Wochen ein interner Konflikt entbrannt sein muss. Und zwar zwischen der Abteilung I und der Hausspitze des Gesundheitsministeriums darüber, wie auf das Schreiben des Finanzministeriums reagiert werden sollte. Dieser Streit fiel mit der bereits zwischen den gleichen Akteuren ausgetragenen Kontroverse bezüglich des weiteren Vorgehens im Fall des Sterilisationsgesetzes zusammen.261 Interministeriell konnte sich Stralau auch mit Blick auf das Sondergesetz zur Wiedergutmachung zunächst durchsetzen und verschleppte dessen rasche Erarbeitung. Im März 1965 lehnte das BMGes eine vom Finanzministerium dem Gesundheitsressort angetragene Federführung in 258 259 260 261 226

Vgl. BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMF an das BMGes, 28. 1. 1965. Vgl. BA rch, B 189 /738, Vermerk, 29. 1. 1965. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 9. 7. 1965. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

der Sache ab und schlug stattdessen das BMJ als verantwortliches Ressort vor. Denn der »Sinn« des geforderten Sondergesetzes sei offenkundig eine »moralische« und keine »gesundheitliche« Rehabilitierung von Personen: »Hierfür ist meines Erachtens die Zuständigkeit des Herrn Bundesministers der Justiz gegeben. Bei diesem liegt übrigens auch die Federführung für das Sterilisationsgesetz, das sich z. Z. in Vorbereitung befindet«, so Stralaus Antwortentwurf an das BMF, der von Bargatzky am 11. März 1965 unterzeichnet und versandt wurde.262 Zu diesem Zeitpunkt war im BMJ noch nicht entschieden worden, das gemeinsame Projekt eines eigenständigen Gesetzes zur freiwilligen Sterilisation zu stoppen. Dies geschah erst, nachdem Stralau dem Justizministerium die Verantwortung für das Sondergesetz zur Entschädigung von NS -Sterilisationsopfern zugewiesen hatte, und ironischerweise im selben Moment, als Stralau mit jener Überweisung an das BMJ versuchte, in der Frage der Federführung zum Entschädigungssondergesetz auf Zeit zu spielen. Das Bundesjustizministerium entschied zeitgleich, beides abzulehnen: die Weiterarbeit an dem mit Stralau beratenen Gesetz zur freiwilligen Unfruchtbarmachung und die Federführung in Sachen des Sondergesetzes der Entschädigung von NS -Zwangssterilisierten. Als das Bundesjustizministerium der Abteilung Stralaus im April 1965 mitteilte, man lege den Gesetzentwurf zur Sterilisation zu den Akten,263 wies es zugleich in einem vierseitigen Brief jede Verantwortung für ein Entschädigungsgesetz brüsk zurück. »Für eine Prüfung der Frage«, so das Justizministerium, »ob das Erbgesundheitsgesetz und die auf seiner Grundlage ergangenen Entscheidungen durch besonderes Bundesgesetz aufgehoben und gegebenenfalls für rechtsunwirksam erklärt werden sollen, kann die Federführung nur nach der Zuständigkeit in Fragen der Erbgesundheit heute fallen. […] Das Erbgesundheitsgesetz stammte seinerzeit aus dem RMI und der Gesundheitsabteilung.«264 Aus diesem Grund, so das BMJ gegenüber Stralau und dem Bundesfinanzministerium, käme, »sofern nicht das BMF« eine Federführung übernähme, nur das Bundesgesundheitsministerium als zuständiges Ressort infrage.265 Außerdem – so direkt an Stralau gewandt – arbeite das Bundesjustizministerium aktuell »nicht an einem Sterilisationsgesetz«, sondern an »einem reinen Strafgesetz«.266 Mit diesem Gesetzentwurf stehe »die Frage der Beurteilung

262 263 264 265 266

Vgl. BA rch, B 189 /736, Schreiben des BMGes an das BMF, 11. 3. 1965. Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 5. 4. 1965; BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 14. 4. 1965. Vgl. BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMJ an BMF und BMGes, 8. 4. 1965. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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von Zwangssterilisationen aus der Zeit vor dem 8. Mai 1945 in keinem sachlichen Zusammenhang«.267 Der Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages hatte bis zur Verabschiedung des BEG -Schlussgesetzes im September 1965 vergeblich darauf gedrungen, NS -Sterilisationsopfer in das Entschädigungsgesetz aufzunehmen. Letztlich erfolgreich abgewehrt worden war infolgedessen nicht nur die Regelung einer Wiedergutmachung für Zwangssterilisierte im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes, sondern auch auf dem Weg eines Sondergesetzes. Auf Stralaus Impetus hin, hatten BMGes, BMJ und BMF erfolgreich auf Zeit gespielt und die Frage einer Federführung offengelassen.268 Als sich der 5. Deutsche Bundestag im Oktober 1965 konstituiert hatte, entfiel der bisherige Ausschuss für Wiedergutmachung, neu gegründet wurde lediglich ein »Ausschuss für Kriegs- und Verfolgungsschäden«. Abgeordnete dieses Ausschusses hielten allerdings unbeirrt an der Forderung nach einem Sondergesetz für NS -Sterilisationsopfer fest.269 Das Bundesjustizministerium entwickelte im Frühjahr 1966 eine paradoxe Strategie, um nach der Verabschiedung des BEG-Schlussgesetzes auch die Bemühung um das Sondergesetz für NS -Sterilisationsopfer definitiv scheitern zu lassen. Das Argument, auf das man sich stützte, ging dabei auf eine Vorlage der Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums zurück. Nachdem der gemeinsam von BMGes und BMJ erarbeitete Gesetzentwurf zur freiwilligen Sterilisation im Dezember 1965 vom Justizministerium endgültig fallengelassen worden war, suchten BMGes und BMJ die Entschädigung von Sterilisationsopfern ebenfalls ultimativ und zynisch zu unterminieren: Man erklärte schlicht den Bund für sachlich nicht zuständig. 270 Ein vom Bundestag »gefordertes Gesetz, durch welches das Erbgesundheitsgesetz [gemeint das GzVeN] für rechtswidrig und unwirksam erklärt wird, wäre der Sache nach eine rückwirkende Aufhebung dieses Gesetzes. Dem Gedanken eines solchen Feststellungsgesetzes kann deshalb nur dann nähergetreten werden, wenn der in Frage kommende Gesetzgeber das frühere Gesetz aufheben oder ändern oder durch eine gleichartige Neuregelung ersetzen könnte. Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das im Erbgesundheitsgesetz behandelte Sachgebiet […] besteht jedoch nicht, weil die Erbkrankheiten nicht unter den Begriff der gemeingefährlichen Krankheiten fallen«, so das BMJ im Mai 1966.271 Das BMGes bestätigte 267 268 269 270

Vgl. ebd. Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 214 – 219. Vgl. ebd. Vgl. BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMJ an das BMF und BMGes, 12. 5. 1966. Zur Haltung des BMGes vgl. BA rch, B 189 /738, Vermerk, 29. 7. 1966; BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMGes an das BMF, August 1965. 271 Vgl. BA rch, B 189 /738, Schreiben des BMJ an das BMF und BMGes, 12. 5. 1966. 228

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diese Meinung kurz darauf offiziell, wonach die im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses geregelte »Materie« der Sterilisation keine Bundeskompetenz sei und damit auch die rückwirkende Aufhebung des GzVeN durch den Bund nicht erfolgen könne.272 Das von der Abteilung I des BMGes und dem Bundesjustizministerium entwickelte Argument, dem Bund fehle die Kompetenz zur rückwirkenden Aufhebung des GzVeN und damit auch zur Regelung von Wiedergutmachungsforderungen, entstand nach dem Scheitern des von Stralau und dem BMJ seit 1961 verfolgten Gesetzesvorhabens zur freiwilligen Sterilisation. Ziel war nun, eine fachliche Zuständigkeit des Bundes in der Sachfrage der eugenischen Unfruchtbarmachung abzustreiten, um damit Wiedergutmachungsansprüche von NS -Zwangssterilisierten auf dem Wege eines Sonderentschädigungsgesetzes versagen zu können. Zwischen 1961 und 1965 hatten BMJ und BMGes jedoch gemeinsam ein Gesetz zur freiwilligen Unfruchtbarmachung vorbereitet, ohne jemals die Legitimität eines solchen Vorhabens aufgrund unklarer Kompetenzen des Bundes für die »Materie« der Erbkrankheiten infrage zu stellen. Im Gegenteil: Seit 1957 war die Gesundheitsabteilung des BMI der Überzeugung, dass die Sterilisation aus eugenischer Indikation zu den gesundheitspolitischen Kompetenzen des Bundes gehörte.273 Der Rückgriff auf das Argument fehlender Bundeszuständigkeit für die gesundheitspolitische Frage der Unfruchtbarmachung glich 1966 dem von Stralau inspirierten Versuch, zumindest eines von zwei Zielen zu erreichen: Nach dem Scheitern des Gesetzgebungsversuches zur eugenischen Sterilisation im Dezember 1965 sollten die Forderungen nach einem Sonderentschädigungsgesetz für NS -Sterilisationsopfer dauerhaft abgewehrt werden. Tatsächlich blieb das Argument fehlender Bundeskompetenz bis Ende der 1980er Jahre zur Versagung einer materiellen und moralisch-politischen Wiedergutmachung von NS -Zwangssterilisierten bestehen.274 Josef Stralau hatte während seiner Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitsdienst des NS -Staates die inhumanen Extreme der nationalsozialistischen Rassenhygiene unmittelbar erlebt. Er war ein exekutiver Schrittmacher der rassistisch-biologistischen und weite Teile der Gesamtbevölkerung adressierenden Idee vom »defekten« Menschen gewesen, der zum Wohle des Volksganzen entmündigt und entwürdigt werden konnte, bis hin zur »Eliminierung« der »Minderwertigen«. Eine Distanzierung von diesem 272 Vgl. BA rch, B 189 /738, Vermerk, 29. 7. 1966. 273 Vgl. BA rch, B 142 /2199, Entwurf eines Gesetzes zur freiwilligen Sterilisation aus eugenischen Gründen, 6. 7. 1957. 274 Vgl. Neppert, NS -Zwangssterilisierten, S. 214 – 219; Surmann, NS -Unrecht, S. 205 – 209. STERILISATION

229

Abb. 46 : Paul Wulf, Initiator eines in den 1980er Jahren in Münster/Westfalen gegründeten Verbandes zur Vertretung der Interessen von NSZwangssterilisierten vor seinen Ausstellungstafeln, 1988.

Extrem oder eine kritische Reflektion vorangegangenen NS -Unrechts, an dessen Umsetzung er auf lokaler Ebene engagiert beteiligt gewesen war, ist bei Stralau nach 1945 zu keinem Zeitpunkt feststellbar und anhand von Quellen zu belegen. Josef Stralau blieb auch während seiner Amtszeit an der Spitze der Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums davon überzeugt, dass der deutsche Staat vor 1945 jede Legitimation für seine entgrenzten biopolitischen Maßnahmen besessen hatte – die eben keine gemäßigt-eugenischen, sondern radikal-rassenhygienische gewesen waren. Diese fehlende Distanzierung motivierte Stralaus Frontstellung gegen die Entschädigung der NS -Zwangssterilisationsopfer. Die ungebrochene personelle Kontinuität aus der Zeit des Nationalsozialismus hatte insofern sehr konkrete sachliche Konsequenzen. Zugleich zeigt Stralaus Fall, wie eine verneinte historische Verantwortung gegenüber einem vom »Dritten Reich« implementierten eugenischen Radikalkonzept die Formulierung einer eugenischen Biopolitik unter den Bedingungen der Demokratie in den 1960er Jahren zunächst befeuerte und dann blockierte. Die Initiativen Stralaus im Prozess der Gesetzgebung zu einer eugenischen Sterilisation in der Bundesrepublik waren von entscheidender Bedeutung für den medizinisch-fachlichen Zuschnitt der geplanten Normierung in den 1960er Jahren – und zugleich eine wesentliche Erklärung für ihr Scheitern. 230

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Inhaltlich amalgamierte Stralau dabei die Weimarer Tradition formaler Freiwilligkeit mit einem Rekurs auf eine antiindividualistische und rein interventionistische gesundheitspolitische Vorstellung von Eugenik, die in einer illiberalen, unsolidarischen und antihumanistischen Idee der Vererbungslehre wurzelte und Kernbestandteil der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik gewesen war. Trotz aller vor 1945 erlebten Exzesse rassenhygienischer Selektion und Volks-Züchtung besaß der bundesdeutsche Staat der 1960er Jahre im Sinne Stralaus weiterhin ungebrochen die Hoheitsrechte der Stigmatisierung und der Selektion pathogener Teile der Gesamtbevölkerung. Ein Abweichen von der gesunden Norm definierte Stralau noch Mitte der 1960er Jahre mithilfe des nationalsozialistischen Kataloges der »Erbkrankheiten« im GzVeN, erweitert um Stoffwechselstörungen bis hin zu allen »konstitutionellen Schwächen« der Bevölkerung.275 Eben diese umfassende Ausweitung der eugenischen Indikation lässt es umso fraglicher erscheinen, wie Stralaus Sterilisationskonzept – trotz erklärter Freiwilligkeit – die Fortsetzung eines vor 1945 gepflegten utilitaristisch-rassistischen Kalküls hätte verhindern können, demzufolge der biologische Wert des Menschen das Maß seiner (Abwehr-)Rechte gegenüber dem Staat determinierte.276 Denn welchen Druck hätten die Kinder von an Brustkrebs erkrankten Müttern oder von an Multiple Sklerose erkrankten Vätern verspürt, wenn nach dem Willen der Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums schon Diabetiker aus Gründen der Volksgesundheit ihre krankhafte genetische Veranlagung nicht weitervererben sollten? Die antiindividualistische und interventionistische Radikalität entwertete nicht nur den vordergründig gemäßigt-demokratischen Gesetzentwurf Stralaus zur freiwilligen Unfruchtbarmachung. Sie war zugleich auch Hauptunterschied zu der zeitgleich in anderen parlamentarischen Demokratien (auch zwangsweise) praktizierten eugenischen Biopolitik.277 Letztere war individuell fokussiert und galt exakt definierten seltenen Erbkrankheiten, nicht Diabetes, Blutgruppenunverträglichkeit und praktisch jeder erblichen »besonderen konditionellen Veranlagung« zum Zweck der Steigerung einer »volksbiologischen Brauchbarkeit« des Menschen – ein Neologismus Stralaus aus dem Jahr 1938, der die Motive hinter den kollektivistisch-interventionistischen Sterilisationsinitiativen des Abteilung I des Bundesgesundheitsministeriums Mitte der 1960er Jahre pointiert umriss.278 275 Vgl. BA rch, B 142 /2119, Vermerk, 27. 2. 1964. 276 Vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 104 – 116; Herbert, Traditionen, S. 472 – 488. 277 Vgl. u. a. die Beispiele skandinavischer Länder in: Broberg, Eugenics. Vgl. ebs. insgesamt die Arbeiten zur Biopolitik von liberalen Demokratien: Karnein, Eugenik, S. 123 – 134; Gebhardt, Biopolitik, S. 69 – 82. 278 Zum Ausdruck vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 630, Antrag auf Unfruchtbarmachung, Juni 1938. STERILISATION

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Josef Stralaus medizinisches Konzept einer freiwilligen Unfruchtbarmachung in den 1960er Jahren entsprach im doppelten Sinn einem Anachronismus: einerseits bedingt durch sein Festhalten an einem wissenschaftlich-medizinisch längst überholten NS -Katalog von »Erbkrankheiten«; andererseits bedingt durch die Vorstellung einer radikal und kollektiv betriebenen Eugenik, die in der Breite gesundheitspolitisch wirken sollte, statt individuelle Ausnahmeerkrankungen zu bekämpfen. Übersehen wurde damit von Stralaus Medizinalabteilung des Bundesgesundheitsministeriums das Potenzial der Humangenetik und ihres antikollektivistischen Ansatzes.279 Während eine demokratische Normierung der Eugenik als staatliche Biopolitik in der Bundesrepublik der 1960er Jahre maßgeblich daran scheiterte, dass eine kritische Reflexion der deutschen Sterilisationspraxis vor 1945 innerhalb der Bundesregierung und ihrer Ministerialbürokratie weitestgehend ausblieb, sollte eben jenes Verdrängen von Schuld den Umgang mit den Sterilisationsopfern noch sehr viel langfristiger prägen. Die von Stralau maßgeblich mitgestaltete amtliche Sicht auf das GzVeN determinierte eine sich über Jahrzehnte hinweg gegen die Entschädigung wie moralisch-politische Rehabilitation der NS -Zwangssterilisierten wehrende Haltung von Politik und Gesellschaft entscheidend mit. Nicht zuletzt zeigen sich aber auch in den späteren Debatten um eine sogenannte Präimplantationsdiagnostik sowie die »humangenetische Beratung« Argumentationsmuster für die Sterilisation, die im bundesdeutschen Kontext nicht neu waren, sondern bereits maßgeblich in den 1960er Jahren vonseiten des BMGes unter Josef Stralau Relevanz erlangt hatten.280 Eine paradoxe Konstellation: Hatten die medizinischen Fachgesellschaften den Krankheitskatalog gemäß GzVeN 1964 /65 als unwissenschaftlich und gefährlich abgewiesen, und hatte auch die Replik des Bundestagsausschusses für Wiedergutmachung auf Hans Nachtsheims eugenische Degenerationshypothesen 1961 gezeigt, dass die bundesdeutsche Gesellschaft der 1960er Jahre eine umfassend kollektivistische Eugenik für falsch hielt, bewirkte diese Ablehnung keine ähnlich breite Anerkennung des begangenen Unrechts gegenüber den Opfern der im »Dritten Reich« betriebenen Gesundheitspolitik. Im Sinne Stralaus ein zwiespältiger Erfolg: Während seine im antiliberalen Denken der 1920er und 1930er Jahre wurzelnden biopolitischen Ideen an Pluralität und Modernität der bundesdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahre scheiterten, hatte eine ahistorische Verdrängung der NS -Sterilisationsopfer noch lange Bestand. 279 Zur Humangenetik in der Bundesrepublik sowie westeuropäischen Staaten ab den 1950er Jahren vgl. u. a. Knippers, Einführung; Petermann / Harper / Doetz, History; Kröner, Rassenhygiene; Germann, Laboratorien. 280 Zu Präimplantationsdiagnostik u. humangenetischer Beratung vgl. u. a. Schenk, Behinderung. 232

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3. Krebs : Zum Umgang mit einer Volkskrankheit

Abb. 47: Plakat »Schmerzen treten erst dann auf, wenn es zu spät MWXn;ERHIVEYWWXIPPYRKHIW)IYXWGLIR-]KMIRI2YWIYQW)VIWHIR zum Thema »Kampf dem Krebs«, 1931.

Die Krebskrankheit ist so alt wie der Mensch. Spuren an Schädel- und Skelettfunden aus der Zeit frühester Zivilisation lassen auf eine Störung des menschlichen Organismus schließen, die erstmals von Hippokrates im 5. Jahrhundert vor Christus als Krebs benannt wurde.1 Bis heute ist die Krankheit für die Wissenschaft ein Rätsel geblieben. Die Medizin weiß über sie nach wie vor zu wenig, als dass sie imstande wäre, die Ursachen der verschiedenen Tumorbildungen abschließend nachzuvollziehen und Krebs zu heilen. Wie vor Tausenden von Jahren täuscht die Krebskrankheit das verlässlichste Alarmsystem des Körpers, das vor Verletzung und drohender Gefahr warnt: den Schmerz. Unverändert groß geblieben ist

1 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 4; Proctor, Cancer, S. 16 f. Zur Krebskrankheit vgl. ebs. Hitzer, Krebs; Mukherjee, König; Sontag, Krankheit. KREBS

233

daher die Angst des Menschen vor dem Krebs, gilt er doch noch immer als eine der heimtückischsten Krankheiten.2 Seit Hippokrates und den ersten medizinischen Beschreibungen von Krebs versuchen Ärzte die Ursachen für die Entstehung maligner Tumore nachzuvollziehen. Die frühen naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze gingen bis in das 16. Jahrhundert davon aus, dass die Krebskrankheit eine Schicksalsfügung bzw. Strafe Gottes war. Verbreitet war ebenso die Annahme, die aus dem Gleichgewicht geratene Balance körpereigener Energieströme liege ihr zugrunde.3 Eine Verwissenschaftlichung der Suche nach den Entstehungsumständen des Krebses setzte im 18. Jahrhundert ein. So beschrieb ein britischer Arzt 1775 am Beispiel von Schornsteinfegern den Zusammenhang zwischen einem chemischen Reiz und einer daraus resultierenden Krebserkrankung.4 Diese erste Benennung exogener Faktoren der Tumorbildung führte zur sogenannten Trauma- oder Reiztheorie. Ihr zufolge kann eine langanhaltende Einwirkung bestimmter chemischer und physikalischer Reize auf den Körper das Zellwachstum krankhaft verändern.5 Diese ersten Fortschritte auf der Suche nach den Ursachen der Krebskrankheit wurden Anfang des 19. Jahrhunderts von der pathologischen Anatomie ergänzt. Je mehr über den zellulären Auf bau des Organismus bekannt wurde, desto deutlicher erschien der Krebs als Krankheit, die nicht den gesamten menschlichen Körper befiel, sondern spezifische Zentren. Der Berliner Anatom Johannes Müller widerlegte 1838 die Annahme, beim Krebs handele es sich um eine körperfremde Gewebestruktur. Die menschlichen Zellen – sowohl im gesunden wie im krebskranken Zustand – mussten nach Müllers Verständnis denselben Ursprung haben.6 Rudolf Virchow, Müllers Schüler, entwickelte hiervon ausgehend in den 1860er Jahren die Theorie, dass jede menschliche Zelle aus einer anderen entstanden sei. Virchows Überlegungen bildeten die Basis, um das pathologische Wachstum des Krebses analysieren zu können.7 Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die moderne Anästhesie etablierte, ermöglichte sie völlig neue medizinische Fortschritte und schuf die Grundlage für eine komplexe Chirurgie.8 Die operative Entfernung von Krebs entwickelte sich in der Folge zur vielversprechendsten Therapie.9 Ende 2 3 4 5 6 7

Vgl. ebd.; Hitzer, Krebs; Mukherjee, König. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 4 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 6. Vgl. Müller, Bau; Atzl / Helms, Geschichte, S. 5; Proctor, War, S. 17 f. Vgl. Virchow, Geschwülste, Bd. 1 – 3; Atzl / Helms, Geschichte, S. 5 f.; Proctor, War, S. 17 f. 8 Vgl. u. a. Robinson, Victory. 9 Vgl. Helvoort, Scalpel, S. 43. 234

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des 19. Jahrhunderts weckten die Bakteriologie und die Erkenntnisse der Tuberkuloseforschung die Hoffnung auf einen Durchbruch im Kampf gegen den Krebs. Das Wissen um die Ursachen von Infektionskrankheiten – als den seinerzeit größten Gesundheitsbedrohungen der Menschen – ließ es plausibel erscheinen, dass auch der Krebs auf spezifische Krankheitserreger zurückging.10

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An der Wende zum 20. Jahrhundert hatte sich schließlich die Disziplin der Krebsforschung herausgebildet – und das mit Abstand wichtigste Land, das sie dominierte, war Deutschland. Nach Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 war hier eine spezialisierte Forschung entstanden, die die Ursachen exogener Faktoren der Krebsentstehung ebenso wie die pathologische Struktur des Krebses analysierte. 1876 und 1889 gelang deutschen Forschern, gestützt auf die frühen Arbeiten Virchows und die Theorie des Zellwachstums, die Transplantation maligner Tumore. Ein wissenschaftlicher Erfolg von grundlegender Bedeutung, da er die Bildung von Krebsgeschwüren noch detaillierter nachvollziehbar werden ließ.11 Im Februar 1900 schloss sich mit dem »Comité für Krebssammelforschung« die weltweit erste Organisation von Krebsforschern zusammen. Das Comité, 1911 in »Deutsches Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit« (DZK) umbenannt,12 war Ausgangsund Referenzpunkt der institutionalisierten Erforschung des Krebses.13 1906 wurde unter Leitung des Comités der national wie international erste wissenschaftliche Krebskongress einberufen.14 Die 1904 vom Comité der deutschen Krebsforscher begründete Fachzeitschrift war das wichtigste Publikationsorgan der jungen medizinischen Disziplin und trug seinerzeit dazu bei, dass Deutsch weltweit zur Sprache der Krebsforschung avancierte.15 Mit Berlin, Heidelberg und Frankfurt a. M. verfügte das wilhelminische Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasch über drei herausragende Krebsforschungsinstitute, deren unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte 10 Vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 40 – 42; Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 8. 11 Vgl. ebd., S. 8 f. 12 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 23 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 25. Im Juni 1900 hatte sich das im Februar desselben Jahres gegründete Comité für Krebssammelforschung in »Komitee für Krebsforschung« umbenannt, vgl. ebd. 13 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 23 – 29; Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 38. 14 Vgl. Proctor, War, S. 18. 15 Vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 39 – 49; Proctor, Cancer, S. 17 – 19. KREBS

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nicht zuletzt im Rahmen des »Comités« aufeinander abgestimmt werden sollten.16 Auch wenn Preußen 1899 mit der Forderung nach einer verlässlichen statistischen Erhebung aller Krebsfälle im Land einen wichtigen Impuls zur Gründung des Comités für Krebssammelforschung gab, ging die eigentliche Initiative hierzu von Wissenschaftlern aus.17 Das Comité war kein politisch kontrolliertes Gremium. Seine Ziele bestanden in der Koordinierung der Forschungsarbeit und der Mobilisierung finanzieller und personeller Ressourcen im Kampf gegen den Krebs.18 Innovativ war die Struktur des Comités insofern, als die Statistik zu einem eigenen Arbeitsbereich wurde. Basis der weiteren Krebsforschung sollten valide Daten sein, die Rückschlüsse über die Altersstruktur von Patienten, die regionale Verteilung der Krebskrankheiten oder Erkenntnisse über sonstige Besonderheiten bei den Krankheitsfällen zuließen.19 Die Institutionalisierung der Krebsforschung in Deutschland um 1900 war zwar eine von der Wissenschaft vorangetriebene Entwicklung. Das Vorhaben konnte und wollte jedoch von Beginn an nicht unpolitisch sein. Die Gründung des Comités für Krebssammelforschung zielte gerade auch auf staatliche finanzielle Unterstützung ab.20 Je deutlicher wurde, dass die Ursachen der Krebskrankheit komplex waren, dass etwa die Lebensgewohnheiten von Menschen oder deren Arbeitsalltag eine Rolle spielten, desto stärker wurde der Kampf gegen den Krebs abhängig von politisch gesetzten Rahmenbedingungen und öffentlicher Aufklärung, das heißt desto weniger konnte die Krebsforschung auf politische Unterstützung verzichten.21 Auszutarieren war damit zugleich das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlicher Unabhängigkeit und politischer Vereinnahmung. Die Ambivalenzen im Verhältnis von Wissenschaft und Staat zeigten sich mit Blick auf die Bekämpfung des Krebses in Deutschland bereits zu Beginn unmittelbar. Denn ein wesentliches Merkmal der deutschen Suche nach den Entstehungsursachen des Krebses war Anfang des 20. Jahrhunderts die Fokussierung auf die Bakteriologie. Verständlich ist diese Verengung des Forschungszuganges vor dem Hintergrund der zeitgenössischen medizinischen Innovationsschübe infolge der Entdeckung des Tuberkuloseerregers.22 16 Vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 39 – 45, 51 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 12 – 25; Fahrenbach, Forschungszentrum, S. 47. 1913 kam ein viertes Krebsforschungsinstitut in Hamburg hinzu, vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 44. 17 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 23 f. 18 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 9; Hitzer, Krebs, S. 38 f. 19 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 12 – 25; Schneck, Zentralkomitee, S. 24 – 26. 20 Vgl. ebd., S. 23 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 26 – 28. 21 Vgl. ebd., S. 6 – 35; Schneck, Zentralkomitee, S. 23 – 26; Kohl, Ernst von Leyden, S. 56 f. 22 Vgl. ebd., S. 43 – 57; Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 9. 236

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Obwohl seinerzeit die Bedeutung exogener Faktoren der Krebsentstehung seit mehr als 100 Jahren bekannt war und deutsche Forscher 1894 den Einfluss von Sonnenlicht auf die Entstehung von Hautkrebs sowie 1895 die Wirkung von Anilinfarben bei der Genese von Blasenkrebs darlegen konnten,23 gerieten umweltbedingte Aspekte als Erklärung des Krebses zunächst aus dem Blick der institutionalisierten deutschen Krebsforschung.24 Primäres Ziel des Comités der Krebsforscher war es ab 1900, jene Erreger zu identifizieren, die für die Krebserkrankung vermeintlich verantwortlich waren.25 Diese inhaltliche Fokussierung auf Krebserreger lässt sich jedoch nicht mit rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten erklären. Sie war Kalkül und politische Stellungnahme zugleich. Auch wenn das Koordinierungsgremium der deutschen Krebsforschung kein von staatlicher Seite kontrollierter Verbund war, sollte die Orientierung an der Bakteriologie – als der seinerzeit staatlich getragenen Wissenschaftsdisziplin – die Anschlussfähigkeit der eigenen Arbeit unterstreichen und das Potenzial der Krebsforschung als einer »wissenschaftspolitischen Ressource« betonen.26 Die Wissenschaft generierte mit dem Comité in diesem Sinne ein an die Politik adressiertes Angebot und warb um politische sowie finanzielle Unterstützung.27 Dieses Taktieren hatte sich aus Sicht der deutschen Krebsforschung bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges rentiert – trotz ausgebliebener Erfolge bei der Suche nach den Krebserregern. Die gesteigerte politische Aufmerksamkeit mitsamt gewachsener, aber noch immer bescheidener finanzieller Möglichkeiten hatten nicht nur erstmals ein umfassendes öffentliches Bewusstsein für das Krebsproblem generiert, sondern auch die Interdisziplinarität und damit das Innovationspotenzial der Krebsforschung erhöht.28 Wegweisende Durchbrüche waren in den Jahren zwischen 1900 und 1914 gelungen: So beschrieb etwa Theodor Boveri, Entdecker des Chromosoms als Träger der Erbinformation, den Zusammenhang zwischen genetischen Anomalien und daraus resultierenden Tumorbildungen.29 Auch auf den Gebieten der Trauma- und Reizforschung hinsichtlich exogener Faktoren konnten deutsche Forscher Grundlagenwissen erarbeiten, beispielsweise mit Blick auf die karzinogene Wirkung von Röntgenstrahlen, insbesondere als 23 Vgl. Unna, Histopathologie; Rehn, Blasengeschwülste. 24 Vgl. Proctor, Cancer, S. 2; Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 9; Kohl, Ernst von Leyden, S. 44 – 46, 56 f. 25 Vgl. ebd., S. 43 – 57; Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 9. 26 Vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 56 f. 27 Vgl. ebd.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 6 – 9. 28 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 23 – 28; Atzl / Helms, Geschichte, S. 26 – 38. Zum Umfang der Forschungsarbeit vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, R 86 /2593, sowie BA rch, R 86 /2584. 29 Vgl. Boveri, Frage; Knippers, Einführung, S. 12 – 15. KREBS

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Abb. 48 : Titelblatt der DZKPublikation »Krebs-Merkblatt zur Aufklärung des Volkes über die Krebskrankheit«, 1912.

Ursache für die Leukämie, oder die Entstehung von Lungenkrebs durch bestimmte Farbstoffe und Korrosionsschutzmittel.30 Spätestens ab 1910 /11 hatte sich die deutsche Krebsforschung von der anfänglichen Suche nach Krebserregern gelöst und sich breit aufgestellt.31 Schwerpunkte der Arbeit des DZK bildeten nicht länger Bakteriologie und Statistik, sondern die Suche nach neuen therapeutischen Ansätzen und die experimentelle Grundlagenforschung, vor allem auch hinsichtlich biologischer und chemischer Vorgänge der Krebsgenese bei Tieren und Pflanzen.32 Erfolgreich gearbeitet hatte das Deutsche Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit überdies mit Blick auf die Evaluierung neuer Krebsmittel und die verstärkte Aufklärung der Bevölkerung über unseriöse und unwirksame Therapien.33 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendete im Sommer 1914 eine Hochzeit der deutschen Krebsforschung. Die Arbeit des Zentralkomitees und die Tätigkeit der Landesverbände zur Erforschung und Bekämpfung 30 31 32 33 238

Vgl. Ziegler, Untersuchungen; Proctor, War, S. 17. Vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 39 – 58. Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 24 – 29. Vgl. ebd., S. 25 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 28 – 38. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

Abb. 49 : Ferdinand Blumenthal, ca. 1932.

der Krebskrankheit kamen bis 1918 zum Erliegen.34 Nach vier Jahren Krieg hatte sich die Leistungsfähigkeit der vormals international exzellent aufgestellten Krebsforschung zu Beginn der Weimarer Republik deutlich reduziert, Folge der während des Krieges eingestellten Arbeit, der internationalen Isolierung Deutschlands seit 1914 und von Budgetkürzungen.35 Die Revitalisierung der deutschen Krebsforschung und die erstrebte Rückführung des Faches in die internationale Gemeinschaft wurden ab 1919 /20 von einer neuen Generation deutscher Krebsforscher geleistet, der eine intakte institutionelle Infrastruktur zur Verfügung stand und die zugleich an die bis 1914 geleistete interdisziplinäre Arbeit anknüpfen konnte.36 Mit Ferdinand Blumenthal und Friedrich Kraus übernahmen 1919 bzw. 1921 neue Protagonisten die Leitung des DZK.37 Dessen gesamter Vorstand hatte sich Anfang der 1920er Jahre, bedingt durch Rücktritte und Todesfälle von Mitgliedern, vollständig erneuert.38 Ein generationeller 34 35 36 37 38

Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 27 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 30 – 38. Vgl. ebd.; Schneck, Zentralkomitee, S. 27 f. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 40 – 46. Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 28 f. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 40 f.

KREBS

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Abb. 50 : Besucher in der Wanderausstellung »Kampf dem Krebs«, Berliner Europahaus, 1932.

Bruch mit wichtigen programmatischen Konsequenzen, wie das Beispiel Blumenthals zeigt. 1870 in Berlin geboren, wurde Blumenthal 1895 in Freiburg im Breisgau zum Doktor der Medizin promoviert und erhielt im Folgejahr die Approbation als Arzt.39 Er kehrte anschließend nach Berlin zurück und spezialisierte sich im Bereich der Inneren Medizin und Krebsforschung. 1905 wurde Blumenthal zum Professor ernannt und war seit 1916 Leiter des Krebsforschungsinstituts der Berliner Charité.40 Damit trat er die Nachfolge Ernst von Leydens an, des 1832 geborenen Nestors der deutschen Krebsforschung und Begründers des Comités für Krebssammelforschung.41 Blumenthal folgte aber nicht nur als Kliniker auf von Leyden, sondern übernahm auch innerhalb des Deutschen Zentralkomitees zur Erforschung

39 Vgl. ER A , 50. 4. 45, Blumenthal, Lebenslauf Blumenthals o. D., ca. 1939; ER A , 50. 4. 45, Blumenthal, Urkunde der Approbation, 31. 1. 1896. Vgl. ebs. Jenss / Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 14 – 17. 40 Vgl. ebd., S. 18 – 26; ERA , 50. 4. 45, Blumenthal, Lebenslauf Blumenthals o. D., ca. 1939. 41 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 23 – 27. Zu von Leyden vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 39 – 59. 240

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und Bekämpfung der Krebskrankheit eine entscheidende Funktion: 1919 wurde er zum Generalsekretär des DZK gewählt.42 Der Vergleich zwischen beiden Krebsforschern – Blumenthal und von Leyden – lässt pars pro toto die generationellen und fachlichen Brüche der deutschen Krebsforschung im Übergang vom Kaiserreich in die Weimarer Republik erkennen: Während von Leyden ausschließlich an der Suche nach Krebserregern festgehalten hatte, widmete sich Blumenthal von Beginn an der experimentellen klinischen wie außerklinischen Krebsforschung und Therapie.43 Blumenthal untersuchte seit 1900 vor allem chemische karzinogene Reize und exogene Ursachen der Tumorbildung. Darüber hinaus trieb er die Weiterentwicklung der Bestrahlung als Krebstherapie entscheidend voran und war zwischen 1907 und 1914 Leiter der Fürsorge für Krebskranke in Berlin.44 Anders als von Leyden verfügte der experimentelle Krebsforscher Blumenthal über einen viel weiteren medizinischen Blick; ausgehend von seinen Erfahrungen in der Fürsorge war Ferdinand Blumenthal aber auch Vorkämpfer einer verbesserten therapeutischen Versorgung von Krebskranken. Die experimentelle klinische sowie außerklinische Forschung und die Weiterentwicklung der Krebstherapie waren für Blumenthal untrennbar miteinander verbunden. Beides war zugleich Charakteristikum der Krebsbekämpfung während der Weimarer Republik – geprägt durch Ferdinand Blumenthal.45 Trotz existenzieller finanzieller Nöte und einer praktisch ab 1919 immer weiter reduzierten staatlichen Unterstützung bzw. 1923 /24 zunächst vonseiten der Reichsregierung eingestellten Finanzierung der Krebsforschung,46 waren die medizinischen Erfolge im Kampf gegen den Krebs beachtlich. Vor allem ab 1924 /25 vonseiten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gefördert, trug auch das politische Umfeld der Demokratie von Weimar zu den Erfolgen der Krebsforschung bei. Das pluralistisch-liberale Gesellschaftssystem von Weimar kompensierte immerhin partiell pekuniäre Einschränkungen. Die Staatsform der Demokratie war attraktiv für 42 Vgl. Jenss/Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 20 f.; Schneck, Zentralkomitee, S. 27 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 40. Vgl. ebs. ERA , 50. 4. 45, Blumenthal, Lebenslauf Blumenthals o. D, ca. 1939. 43 Zur Fokussierung von Leydens vgl. Kohl, Ernst von Leyden, S. 43 – 57. Zu den Schwerpunkten Blumenthals vgl. ders., Vorgänge; ders., Ergebnisse; ERA , 50. 4. 45, Blumenthal, Lebenslauf Blumenthals o. D., ca. 1939. Vgl. ebs. Jenss / Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 18 – 34. 44 Vgl. ERA , 50. 4. 45, Blumenthal, Lebenslauf Blumenthals o. D., ca. 1939; Jenss / Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 35 – 40; Atzl / Helms, Geschichte, S. 33. 45 Vgl. ebd., S. 41 – 45; Jenss / Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 26 – 47; Schneck, Zentralkomitee, S. 26 – 29. 46 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 41 f. KREBS

241

Abb. 51 : Rhoda Erdmann, ca. 1932.

Forscher und fruchtbar im Sinne einer Weiterentwicklung der deutschen Krebsforschung.47 Konkret lässt sich das aus dem demokratischen Staatswesen resultierende innovative Potenzial am Beispiel Rhoda Erdmanns und der in der Weimarer Republik Frauen ermöglichten politischen wie sozialen Partizipation nachvollziehen.48 Mit Erdmann kehrte 1919 eine Expertin für Zellbiologie aus den Vereinigten Staaten zurück, die eine neue Abteilung für experimentelle Zellforschung an Blumenthals Berliner Krebsforschungsinstitut aufbaute und Gewebeexperimente erstmals in Deutschland in vitro betrieb. Rhoda Erdmann schuf damit die Grundlagen für ein neues Forschungsdesign.49 Erst die emanzipatorisch-liberale Weimarer Reichsverfassung ermöglichte den Aufstieg der Forscherin Erdmann: Als eine der ersten Frauen in Deutschland wurde sie Anfang der 1920er Jahre zur Habilitation zugelassen und in Berlin zur Universitätsprofessorin ernannt; Erdmann zählte zu den ersten Frauen im Vorstand des Deutschen Zentralkomitees zur Erforschung und 47 Vgl. Schneck, Zentralkomitee, S. 26 – 29. 48 Zur emanzipatorischen Komponente der Weimarer Republik vgl. u. a. Cordes, Frauen; Störmer, Frauen. 49 Vgl. Prüll, Disease, S. 19; Schneck, Zentralkomitee, S. 26; Schneck, Frau, S. 174 – 177; Atzl / Helms, Geschichte, S. 43 f. 242

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Bekämpfung der Krebskrankheit.50 1930 wurde ihre Berliner Abteilung für experimentelle Zellforschung schließlich zu einem Institut aufgewertet, das weltweit anerkannte Grundlagenforschung betrieb.51 Parallel zur ausgeweiteten klinischen und außerklinischen Forschung wurde in der Weimarer Republik auch die Untersuchung sogenannter Berufskrebse forciert. Bekanntestes Ergebnis diesbezüglich war die nachgewiesene Kausalität von Lungenkrebs und Radonstrahlung bei Bergleuten im sächsischen Erzgebirge.52 Die in den 1920er Jahren gewonnenen (zum Teil nicht neuen) Erkenntnisse über karzinogene Stoffe des Berufsalltages ließen den Arbeitsschutz zum festen Bestandteil der Krebsbekämpfung werden.53 Vorangetrieben wurde diese Entwicklung nicht zuletzt durch sozialdemokratische Regierungen auf Reichs- bzw. Länderebene.54 Erstmals war damit im Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik die Aufklärung über Krebsrisiken in einem gesellschaftlichen Bereich systematisch aufgenommen worden.55 Generell war es Anliegen des Zentralkomitees der deutschen Krebsforscher, die von 1914 bis 1918 eingestellte Öffentlichkeitsarbeit wiederaufzunehmen und auszubauen. Hierzu konzipierte man in den 1920er Jahren die an die Bevölkerung gerichteten Anti-Krebskampagnen umfassend neu, um über Erscheinungsformen des Krebses, Symptome und Therapiemöglichkeiten zu informieren und zugleich vor vermeintlichen Wundermitteln und unseriösen Heilpraktiken zu warnen.56 Innovativ war die deutsche Krebsforschung der 1920er Jahre vor allem aber auch hinsichtlich der methodischen Verbreiterung der Krebstherapie. Nachdem vor 1914 die Suche nach wirksamen chemotherapeutischen Mitteln erfolglos geblieben war, wurde ab 1919 /20 vor allem von Ferdinand Blumenthals Krebsinstitut der Berliner Charité sowie vom Heidelberger Krebsforschungsinstitut verstärkt an einer kombinierten Therapiestrategie gearbeitet: Als neue Maßnahme sollte die Bestrahlung flächendeckend angewendet werden, um die chirurgische sowie die chemische post-operative Behandlung zu ergänzen. Die Entwicklung einer sicheren Strahlentherapie zählte zu den wichtigsten Projekten der deutschen Krebsforschung in den 1920er Jahren, maßgeblich initiiert durch Ferdinand Blumenthal.57 50 51 52 53 54

Vgl. Schneck, Frau, S. 171, 176 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 44. Vgl. ebd., S. 44, 60; Schneck, Frau, S. 178 – 183. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 42 f. Vgl. ebd.; Proctor, Cancer, S. 36 – 48. Vgl. Engelmann / Häuple / Kühne / Lang / Neumann / Reiners / Rüdinger / Waldenfels, Gesundheit, S. 16 – 25; Atzl / Helms, Geschichte, S. 42 f. 55 Vgl. ebd.; Proctor, Cancer, S. 36 – 48. 56 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 45 – 47. 57 Vgl. Helvoort, Scalpel, S. 44 – 46. KREBS

243

Es war auch auf Blumenthals Vorstoß gegenüber dem Reichsminister des Innern im Sommer 1929 zurückzuführen, dass sich 1931 der ministeriell kontrollierte »Reichsausschuß für Krebsbekämpfung« (RAK) gründete. Sein Zweck bestand in einem staatlich organisierten und gesicherten Umgang mit dem zur Strahlentherapie notwendigen Element Radium.58 Unter Leitung des Reichsinnenministeriums gehörten dem RAK, als erstem Gremium der Krebsbekämpfung auf Reichsebene, Blumenthal und weitere drei Vorstandsmitglieder des DZK an, darüber hinaus Vertreter der Krankenkassen, der Versicherungsanstalten und der Ärzteschaft.59 Die Aufgabe des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung war nach Vorstellung Blumenthals zweigeteilt: Einerseits sollte der RAK den Auf bau eines Netzwerkes lokaler Erfassungs- und Behandlungsstellen für die Strahlentherapie vorantreiben, andererseits zentrale Forschungsinstitute für Strahlenbehandlung schaffen. Die Verteilung der Radiumbestände für Forschung und Bestrahlung sollte jeweils durch die Reichsregierung erfolgen, um eine ausschließlich sachkundigem Personal vorbehaltene Anwendung zu garantieren.60 Die geplante Zentralisierung der Strahlentherapie und der systematische Auf- und Ausbau spezieller Fachkliniken stießen bei Teilen der klinischen Ärzteschaft auf erheblichen Widerstand. Allen voran der Chirurg Ferdinand Sauerbruch lehnte eine solche Neuausrichtung der Krebstherapie ab, befürchtete er doch einen Machtverlust der Kliniker und eine Beschneidung ihrer Kompetenzen, resultierend aus der drohenden Konkurrenzsituation zwischen bestehenden Einrichtungen und neuen Fachkliniken. Unweigerlich hätte dies zur Abwerbung von Patienten und wirtschaftlichen sowie fachlichen Nachteilen aufseiten der etablierten (universitären) Häuser gegenüber den neuen (außeruniversitären) Zentren geführt.61 Sauerbruchs Intervention war letztlich von Erfolg gekrönt. Im Frühjahr 1932, zeitgleich mit der sich immer weiter zuspitzenden politischen Konfrontation am Ende der Weimarer Republik und vor dem Hintergrund tiefgreifender finanzpolitischer Verwerfungen infolge der Weltwirtschaftskrise,62 sahen die vom Reichsinnenministerium veröffentlichten Arbeitsrichtlinien des RAK keine neuen Therapieanstalten zur Bestrahlung mehr vor.63

58 59 60 61 62

Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 47 f.; Thom, Reichsausschuß, S. 37. Vgl. ebd.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 48. Vgl. ebd.; Thom, Reichsausschuß, S. 37. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 49; Helvoort, Scalpel, S. 45. Zum Ende der Weimarer Republik vgl. Wirsching, Republik; Winkler, Weimar; Harsch, Democracy; Bracher, Auflösung. 63 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 49. 244

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UŹåÆžƐĞķƐė%ŹĞƒƒåĻƐåĞÏĚĖƐ×Ɛ%åŹƐc±ƒĞŇĻ±ĮžŇǍбĮĞžķƣžƐ ±ĮžƐ¬·žƣŹƐÚåŹƐÚåƣƒžÏĚåĻƐUŹåÆžüŇŹžÏĚƣĻď

Bei Antritt der Reichsregierung unter Kanzler Adolf Hitler im Januar 1933 war die Gemeinschaft der deutschen Krebsforscher tief zerstritten, nachdem die Chirurgen um Sauerbruch den von Blumenthal vertretenen Grundlagenforschern die erhoffte Etablierung von Zentren der Strahlentherapie verwehrt hatten.64 Der alte Konflikt zwischen zwei Denkschulen der Krebstherapie – zwischen Anhängern der operativ-invasiven bzw. der bestrahlend-nichtinvasiven Richtung – hatte sich verschärft.65 Inmitten dieses Streits setzte das NS -Regime eine fundamentale Zäsur und begann mit radikalen Maßnahmen die deutsche Krebsforschung im Sinne einer rassistisch-biologistischen Weltanschauung zu vereinnahmen. Wie von der historischen Forschung beschrieben, umfasste der Prozess der nationalsozialistischen Durchdringung der Krebsforschung drei Elemente: Zum einen die antisemitisch motivierte Entrechtung, Vertreibung, KZ -Inhaftierung und zum Teil Ermordung der führenden deutschen Krebsforscher. Zum anderen die Auflösung aller Strukturen unabhängiger Forschung – allen voran des Deutschen Zentralkomitees zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit. Und schließlich die Implementierung einer »Neuen Deutschen Heilkunde«, die auch in der Krebsbekämpfung, anstelle einer als abstrakt und »jüdisch« verunglimpften Grundlagenforschung, naturheilkundliche und angeblich »natürlich gewachsene« Therapiemethoden postulierte.66 Das Verhältnis zwischen dem NS -Regime und der Krebskrankheit muss differenzierter betrachtet werden als es der plakative Titel vom »Nazi War on Cancer« vermuten lässt. Denn die Haltung des Nationalsozialismus gegenüber dem Krebs kann nicht allein durch die Anti-Tabakpolitik des »Dritten Reiches« bestimmt werden.67 Der Nationalsozialismus begann 1933 keineswegs einen erbitterten Feldzug gegen den Krebs im Sinne einer substanziellen Ausweitung der Grundlagenforschung.68 Krebsbekämpfung hieß im Sinne des Nationalsozialismus Machtgewinn über die Lebens64 Vgl. Helvoort, Scalpel, S. 45. 65 Zum seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestehenden Konflikt zwischen Chirurgie u. Radiologie in Deutschland vgl. Helvoort, Scalpel. 66 Vgl. Weber, Krebs, S. 54 – 58; Proctor, War, S. 35 – 57, 120 – 165; Hitzer, Krebs, S. 39 f., 49 – 59. 67 Vgl. die Darstellung bei Proctor, War, der im Wesentlichen allein die rigorose AntiTabakpolitik des Nationalsozialismus als Ausweis eines erbitterten Kampfes gegen den Krebs heranzieht. Zum Umgang mit Nikotin während des »Dritten Reiches« vgl. ebs. Kap. III.4. in diesem Bd. 68 Vgl. Weber, Krebs, S. 54 – 58; Fahrenbach, Forschungszentrum, S. 48 – 50; Scheybal, Institut, S. 53 – 56; Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, S. 57 – 62. KREBS

245

Abb. 52 :5PEOEX~,IWYRHWIMRMWX5ǼMGLXnHIV;ERHIVEYWWXIPPYRKHIW)IYXschen Hygiene-Museums Dresden zum Thema »Kampf dem Krebs« 1939.

gewohnheiten von Menschen; nicht Forschung und Therapie waren die wichtigsten Instrumente der Krebsbekämpfung während des »Dritten Reiches«, sondern Belehrung, Diagnostik und Selektion.69 Wie überhaupt der »Kampf« gegen den Krebs während des »Dritten Reiches« auf die »Friedensjahre« beschränkt blieb und spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 nur noch eine marginale Rolle spielte.70 Blumenthal, 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens gemäß dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« als Professor abgesetzt und seiner Direktorenfunktion am Berliner Krebsforschungsinstitut der Charité enthoben, musste auch von seinen Ämtern im DZK zurücktreten. Er floh mit seiner Familie 1933 zunächst in die Schweiz, später nach Wien und schließlich nach Estland; 1941 starb er dort bei einem deutschen Luft69 Vgl. Weber, Krebs, S. 54 – 58; Proctor, War, S. 22 – 34, 68 – 72, 120 – 165; Hitzer, Krebs, S. 132 – 143. 70 Vgl. Fahrenbach, Forschungszentrum, S. 48 – 50; Scheybal, Institut, S. 53 – 56; Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, S. 57 – 62. 246

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Abb. 53 : Muster der von Ferdinand Blumenthal in Estland 1940 /41 genutzten Visitenkarte.

angriff.71 Blumenthals Schicksal steht exemplarisch für den von den Nationalsozialisten verursachten Zwangsexodus von Hunderten ab 1933. Diese Eliminierung herausragender deutscher Krebsforscher war ein personeller Einschnitt in die Entwicklung des Faches, der über Generationen spürbar blieb und der die wissenschaftlichen Bemühungen um die Bekämpfung des Krebses in Deutschland nachhaltig zurückwarf.72 Auch wenn der ursprüngliche Zweck des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung – die Koordination der Strahlentherapie und -forschung – nach Intervention Sauerbruchs 1933 infrage stand, wurde das Gremium zu einem wichtigen politischen Instrument zur Beendigung unabhängiger Krebsforschung in Deutschland. Der RAK war institutioneller Ausgangspunkt der Übernahme bzw. Neuausrichtung des Faches im Sinne des Nationalsozialismus: Schon am 1. Dezember 1933 beschloss der vom NS -Regime »bereinigte« Vorstand des 1900 gegründeten DZK »mit dreifachem ›Sieg Heil‹ auf den Obersten Führer« seine Selbstauflösung und den Übertritt in den vom RMI kontrollierten Reichsausschuss für Krebsbekämpfung.73 71 Vgl. Jenss / Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 48 – 53; Atzl / Helms, Geschichte, S. 62 f.; Proctor, War, S. 35. Vgl. ebs. die Unterlagen in: ERA , 50. 4. 45, Blumenthal. Zum Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vgl. RGBl. I, Nr. 34 , 7. 4. 1933, S. 175. 72 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 56 – 60; Jenss / Reinicke, Ferdinand Blumenthal, S. 48 – 53; Proctor, War, S. 35 f.; Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, S. 57 – 62; Fahrenbach, Forschungszentrum, S. 47 – 50; Thom, Reichsausschuß, S. 37 – 42; Helvoort, Scalpel, S. 45 f.; Schneck, Frau, S. 178 – 183. 73 Vgl. das Protokoll der Sitzung v. 1. 12. 1933 in: BA rch, B 142 /412. Vgl. ebs. Schneck, Reichsausschuß, S. 28 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 56; Proctor, War, S. 38. KREBS

247

Auch wenn der RAK bis 1945 bestand und formal seit 1942 das höchste Koordinierungsgremium für Krebsforschung in Deutschland war, verwaltete er seit 1933 nur den Mangel einer vormals exzellenten medizinischen Disziplin.74 Die Zerschlagung aller Strukturen experimenteller Krebsforschung, die sich seit mehr als drei Jahrzehnten vor allem in Berlin, Frankfurt a. M. und Heidelberg aufgebaut hatten, war im Sinne des Nationalsozialismus folgerichtig und doch von katastrophaler Wirkung für die deutsche Onkologie.75 An die Stelle der gewachsenen, hochspezialisierten Forschungsinstitute trat die 1935 initiierte nationalsozialistische Neugründung eines »Allgemeinen Instituts gegen die Geschwulstkrankheit« – das zwar vom Chef der Reichskanzlei, Reichsinnen- sowie Reichswissenschaftsministerium kontrolliert und mit jährlich 100.000 RM vom »Führer« bedacht wurde, aber seine Infrastruktur praktisch völlig neu aufbaute.76 Die Forschungsabteilung des Instituts war erst 1942 arbeitsfähig, viel zu spät, um substanzielle Ergebnisse erzielen zu können, vor allem nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und einer ab 1939 praktisch eingestellten Arbeit.77 Ziel der nationalsozialistisch geduldeten Krebsforschung war die Hinwendung zu vermeintlich »lebensnahen« Fragen der Krebsgenese. Verlangt wurde eine Abkehr von der Untersuchung abstrakter Theorien.78 Die nicht von den Nationalsozialisten vertriebenen Krebsforscher arbeiteten damit nach 1933 im doppelten Sinn unter völlig neuen politischen Rahmenbedingungen: Zum einen hinsichtlich der notwendigen Selbstlegitimierung und einer Abgrenzung gegenüber nichtschulmedizinischen Ansätzen der Krebsbekämpfung;79 zum anderen angesichts eines polykratischen Geflechts, bestehend aus Dutzenden von Ämtern, Stäben, Arbeitsgemeinschaften und Arbeitsausschüssen, die sich in den Dienststellen von Reich, NSDAP und SS mit dem Thema Krebs befassten.80 74 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 57 – 64, 68; Thom, Reichsausschuß, S. 38 – 41. 75 Vgl. Thom, Reichsausschuß, S. 41 f.; Fahrenbach, Forschungszentrum, S. 47 – 50; Atzl / Helms, Geschichte, S. 62 – 64; Proctor, War, S. 35 – 45. 76 Vgl. Scheybal, Institut, S. 51 – 56. 77 Vgl. ebd., S. 51 – 55; Proctor, War, S. 258 f. 78 Vgl. Weber, Krebs, S. 56 f.; Proctor, War, S. 36 – 40; Hitzer, Krebs, S. 39 f., 49 – 59. 79 Vgl. Weber, Krebs, S. 56 f.; Proctor, War, S. 36 – 40, 55 – 57, 136 – 140, 257. 80 Zur Rolle jenes polykratischen Geflechts liegt bislang keine separate konzise wissenschaftliche Studie vor. Seine Bedeutung wird indes im Vergleich der Beschreibungen bei Fahrenbach, Forschungszentrum, Scheybal, Institut, Geißler, Krebsforschung u. Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, deutlich. Vgl. ebs. Atzl / Helms, Geschichte, S. 56 – 64; Proctor, War, S. 36 – 40, 55 – 57, 136 – 140. Zur Polykratie im NS -Gesundheitswesen generell vgl. insbes. Süß, »Volkskörper«. Zur Polykratie, als einem dem NS inhärenten Merkmal, vgl. insbes. Broszat, Staat; Neumann, Behemoth; Roberts, House; Reichardt / Seibel, Radikalität; Frei, Führerstaat; Rebentisch, Führerstaat; Thamer, Monokratie-Polykratie. Vgl. ebs. Hildebrand, Monokratie. 248

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Die im Sinne der NS -Doktrinen politisierte Krebsforschung erzielte ihre wichtigsten Erkenntnisse auf dem Gebiet der karzinogen bzw. antikarzinogenen Wirkung von Provitaminen, Vitaminen und Hormonen sowie – an die Forschungen zur Arbeitssicherheit der 1920er Jahre anknüpfend – mit Blick auf die Entdeckung weiterer krebserregender Gefahrenstoffe.81 Ergebnisse, die keineswegs durch eine hohe finanzielle Unterstützung seitens des Staates zustande kamen. Während nach 1933 NSDAP und SS -Organisationen, wie das »Ahnenerbe«, die Krebsprophylaxe durch Heilkräuter propagierten und die Eliminierung von Erdmagnetismus und unterirdischen Wasseradern zum Zweck der Krebsbekämpfung vorantrieben,82 drohten die seriösen Traditionsstränge der deutschen Krebsforschung abzureißen, vor allem auch hinsichtlich der Gewebe- und Zellforschung. Rhoda Erdmanns 1930 eröffnetes Berliner Institut für experimentelle Zellforschung wurde 1933 von den Nationalsozialisten geschlossen, verbunden mit einem Berufsverbot für Erdmann. Ein gravierender Verlust für die deutsche Medizin.83 1936 /37 waren es Wissenschaftler, die angesichts ausbleibender staatlicher Gelder Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Höhe von rund 350.000 RM einwarben, um Studien zur Zellforschung und Mutation des Krebses durchführen zu können.84 Das bis etwa 1940 DFG -finanzierte Tumorprogramm war das größte von der Wissenschaft angestoßene Vorhaben der Krebsforschung nach 1933 – betrieben unter den neuen politischen Rahmenbedingungen des Nationalsozialismus.85 Inhumane und unethische Experimente waren Bestandteil der vonseiten der DFG finanzierten und von damaligen deutschen Krebsforschern betriebenen Studien – die an Erdmanns Leistungen nie anknüpfen konnten. Angeblich wissenschaftlich-klinische Versuche zur Zellentwicklung und -mutation reichten von der intravenösen Vitamininjektion bis hin zur Applikation karzinogener Mittel bei Patienten mit Hautkrebs, aus der Überlegung heraus, krebs- und mutationserzeugende Stoffe wirkten auch krebsheilend.86 An Häftlingen in Konzentrationslagern wurden Versuche zur künstlichen Erzeugung von Gebärmutterhalskrebs oder die Transplantation von Karzinomen durchgeführt.87 All dies steht sinnbildlich für eine desorientierte, NS -systemkonforme und die neuen politischen 81 Vgl. u. a. Proctor, War, S. 73 – 119, 160 – 165; Hitzer, Krebs, S. 39 f. 82 Vgl. Proctor, War, S. 136 – 141, 154 – 165, 264 f.; Weber, Krebs, S. 56 f. Vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, NS 19 /1108, sowie BA rch, R 1501 /126319. 83 Vgl. Schneck, Frau, S. 178 – 183; Atzl / Helms, Geschichte, S. 60. 84 Vgl. Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, S. 58 – 61; Atzl / Helms, Geschichte, S. 60 f.; Thom, Reichsausschuß, S. 41 f. 85 Vgl. Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, S. 58 – 61. 86 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 61; Proctor, War, S. 160 f., 253. 87 Vgl. Weber, Krebs, S. 57. KREBS

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Abb. 54 : Röntgenuntersuchung von Angehörigen der Hitlerjugend, 1944.

Rahmenbedingungen enthemmt ausnutzen wollende ehemalige deutsche Spitzenforschung zur Krebsbekämpfung.88 Am Beispiel der Bestrahlung – als dem in den 1920er Jahren in Deutschland energisch vorangetriebenen neuen Ansatz der Krebstherapie – lassen sich nicht nur Ambivalenzen und Zugänge der NS -Krebsforschung, sondern vor allem auch die medizinischen Rückschritte im Kampf gegen den Krebs nach 1933 ablesen: Während sich die Strahlentherapie als aussichtsreiche Form der Krebsbehandlung methodisch und inhaltlich im »Dritten Reich« nicht weiterentwickelte und für die Masse der Patienten unzugänglich blieb,89 wandte das NS -Regime Bestrahlung zwar an, aber nicht für therapeutische Zwecke der Krebsbekämpfung, sondern allein als Instrument der Selektion: Röntgen etablierte sich ab 1933 zur klassischen Reihenuntersuchung, die allein darauf abzielte, Krankhaftes innerhalb der Bevölkerung zu ermitteln.90 Die Obsession zum Selektieren und zum Aufspüren des Kranken innerhalb eines zu reinigenden »Volkskörpers« lässt ein ambivalentes 88 Vgl. Steinwachs, Tumorforschungsprogramm, S. 61; Thom, Reichsausschuß, S. 41 f.; Fahrenbach, Forschungszentrum, S. 47 – 49. 89 Vgl. Helvoort, Scalpel, S. 45 f. 90 Vgl. Proctor, War, S. 40 – 45. 250

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Charakteristikum des Umgangs mit dem Krebs ab 1933 erkennen: Die NS -ideologische Nichtakzeptanz von Krankheit und Schwäche bzw. die

vom »Dritten Reich« erstrebte Eliminierung des »Minderwertigen«.91 Der Nationalsozialismus klärte die Bevölkerung zwar mithilfe umfangreicher Kampagnen über den Krebs auf, propagierte die Selbstbeobachtung und betrieb Massenscreening, um Krebskrankheiten so früh wie möglich zu erkennen. Aber die Antwort auf die Frage, welche Rechte Krebskranken im »Dritten Reich« zustehen konnten, blieb zeitgenössisch immer eindeutig: keine. Eine allein an der biologischen Leistungsfähigkeit des Einzelnen orientierte Politik offenbarte ihre Inhumanität an einer in den allermeisten Fällen nicht heilbaren Erkrankung: dem Krebs.92 Für Krebskranke im »Dritten Reich« war der Tumor nicht nur eine tödlich verlaufende Erkrankung, sondern die Ursache einer politischen und gesellschaftlichen Entrechtung und Stigmatisierung.93 Je mehr in der Öffentlichkeit über den Umgang des Nationalsozialismus mit den »nutzlosen Essern« und der »Vernichtung unwerten Lebens« bekannt wurde, desto stärker sank nicht nur die Bereitschaft der Bevölkerung krebsprophylaktische Untersuchungen wahrzunehmen. Es wuchs vielmehr auch im Verlauf des »Dritten Reiches« die Angst vor dem Krebs; die Angst davor, als Krebspatient Opfer staatlicher Sanktionierung zu werden, bis hin zur »Euthanasie«.94 Der Makel des Krebses war nach 1933 in Deutschland ein politisch induziertes Tabu.95 Ursachen dieser Entwicklung waren nicht allein die Prämissen einer biologistisch-inhumanen Leistungsideologie des Nationalsozialismus und deren Umsetzung. Die Art und Weise, wie die Bevölkerung mit dem Krebs umging, war auch durch die Syntax nationalsozialistischer Propaganda bestimmt. Die Sprache des »Dritten Reiches« ließ den Krebs ubiquitär werden. Das »Krebsgeschwür« des »Bolschewismus« und des »internationalen Judentums« galt es »auszurotten«; »zersetzt« und »ausgesaugt« hatte das »Krebsgeschwür« der Demokratie und des Liberalismus den angeblich gesunden »Volkskörper«.96 Krebs war im Sinne Victor Klemperers LTI eine Metapher für Entartung und Bedrohung, für das Böse, für eine parasitäre Schädigung des Gesunden, für etwas, das unerbittlich bekämpft und zerstört werden musste.97 Auch wenn die Krebsmetapher keine Erfindung der 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Hitzer, Krebs, S. 39 f., 132 – 144; Proctor, War, S. 39 f.; Weber, Krebs, 57 f. Vgl. ebd.; Hitzer, Krebs, S. 39 f., 142 – 144; Proctor, War, S. 39 f. Vgl. Hitzer, Krebs, S. 39 f., 132 – 144. Vgl. ebd., S. 142 – 144; Weber, Krebs, S. 57 f. Vgl. ebd.; Hitzer, Krebs, S. 42 – 59, 208 – 223; Proctor, War, S. 45 – 47. Vgl. ebd.; Weber, Krebs, S. 57 f. Zum Krebs als Metapher im NS vgl. Weber, Krebs, S. 54 – 58; Proctor, War, S. 45 – 47. Zur LTI vgl. Klemperer, Notizbuch.

KREBS

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NS -Propaganda war, instrumentalisierte erst der Nationalsozialismus das Bedrohungspotenzial der Krebskrankheit und übertrug die Jahrtausende alte Angst vor dem Krebs zielgerichtet und massenhaft auf politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensbereiche.98 Zum Bestandteil staatlicher Gesundheitspolitik wurde auf diese Weise das Schüren von Angst vor dem Krebs mitsamt einer rassistisch-eugenisch indizierten Stigmatisierung von Krebskranken. Beides widersprach nicht nur den Traditionen deutscher Krebsforschung, sondern glich einer fundamentalen ethischen Wertverschiebung.99 Bezeichnend für die Haltung des Nationalsozialismus gegenüber dem Krebs war schließlich auch die Gründung des »Reichsinstituts für Krebsforschung« im Frühjahr 1943.100 Nicht medizinische Forschung im Dienst der Gesundheit von Patienten war Auftrag der Einrichtung, sondern die Untersuchung der Einsatzmöglichkeiten des Krebses als biologischen Kampfstoff zum Zweck der Kriegführung. Ausgestattet mit einem Budget von 1,5 Millionen RM – gut fünfmal soviel wie der »zivilen« DFG -finanzierten Tumorforschung zwischen 1937 und 1940 zur Verfügung gestanden hatte – war das Reichsinstitut Sinnbild der nihilistischen Abkehr von den Traditionen deutscher Krebsforschung während des »Dritten Reiches« und zugleich letztes Kapitel der Auseinandersetzung des NS -Staates mit dem Krebs.101 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Folgen dieser Politik keineswegs verschwunden.

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Im Frühjahr 1945 lag die deutsche Krebsforschung in Trümmern. Verheerender als die kriegsbedingten Zerstörungen von Institutsgebäuden wirkten die in zwölf Jahren NS -Diktatur entstandene fachliche Leerstelle und die vielen unterbrochenen Traditionsstränge der wissenschaftlichen Arbeit nach. Die Hypothek des »Dritten Reiches« wog für die Krebsforschung angesichts des ab 1933 betriebenen Zwangsexodus der führenden deutschen Onkologen umso schwerer.102 Damit unterschieden sich die Ausgangsbedingungen für den Wiederauf bau der Krebsforschung in Deutschland am Ende der beiden Weltkriege deutlich voneinander, trotz 98 99 100 101 102 252

Vgl. Weber, Krebs, S. 54 – 58. Vgl. Hitzer, Krebs, S. 142 f. Vgl. Geißler, Krebsforschung, S. 75 – 82; Proctor, War, S. 260 – 263. Vgl. ebd.; Geißler, Krebsforschung, S. 75 – 82. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 68 – 71. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

der jeweils unter parlamentarisch-demokratischen Verhältnissen wiederangestoßenen Forschungsarbeit. Während 1918 /19 eine jüngere Forschergeneration auf die zumeist intakte institutionelle Infrastruktur zurückgreifen konnte, die bis 1914 geleistete interdisziplinäre Forschungsarbeit wiederaufnahm und rasch – trotz finanzieller Notlagen – innovative Fortschritte erzielte,103 wurde der Wiederaufbau der westdeutschen Krebsforschung ab 1945 /49 von den während des »Dritten Reiches« aktiven Wissenschaftlern und den Konsequenzen der singulären Zäsur des Jahres 1933 geprägt.104 Anders als 1918 /19 wirkten die personellen Kontinuitäten in Verbindung mit den enorm großen immateriellen Schäden einer vom NS -Regime geschliffenen und in weiten Teilen zerstörten Forschungslandschaft geradezu lähmend auf den Versuch, die onkologische Grundlagenforschung ab 1945 /49 wiederaufzubauen.105 Eine kritische Reflexion innerhalb der westdeutschen Krebsforschung über die vom NS -Regime verursachten tiefen Einschnitte blieb zunächst aus – zu groß waren die drängenden gesundheitspolitischen Herausforderungen der Nachkriegszeit, die nichts mit dem Krebs zu tun hatten, und zu stark wirkten die personellen Kontinuitäten in der Krebsforschung aus der Zeit vor 1945 nach.106 Das für den Wiederaufbau der westdeutschen Krebsforschung charakteristische Beschweigen der Vergangenheit – die Nichtthematisierung des seit 1933 kontinuierlich vollzogenen fachlichen Rückschrittes und des beschämenden Umgangs mit den Experten der Disziplin – zeigt sich deutlich an der 1948 in Heidelberg wiederaufgenommenen experimentellen Krebsforschung unter Karl Heinrich Bauer und Hans Lettré. Weder Lettré noch Bauer hatten in ideologischer Distanz zum Nationalsozialismus gestanden.107 Beide Forscher waren vielmehr zwischen 1933 und 1945 durch uneingeschränkte Loyalität im Sinne des NS -Staates bzw. die Bereitschaft zu unethischer, unwissenschaftlicher und entgrenzter Krebsforschung in Erscheinung getreten. Bauer hatte Ende der 1930er Jahre an krebskranken Klinikpatienten experimentell untersucht, ob hochgradig krebsauslösende Substanzen nicht doch auch antikarzinogene Wirkung besaßen.108 Zudem war er bereits vor 1933 Anhänger der völkisch-rassistischen Rassenhygiene gewesen und zählte im »Dritten Reich« zu den vehementesten Befürwortern der NS -Sterilisationspolitik. Bauer plädierte angesichts der 103 104 105 106 107

Vgl. ebd., S. 40 – 46. Vgl. Hitzer, Krebs, S. 40 f. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 74 – 94. Vgl. ebd., S. 64 – 66; Hitzer, Krebs, S. 40 f. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 70. Die gegenteilige Behauptung bei Wagner, Krebsforscher. 108 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 61; Proctor, War, S. 160 f., 253. KREBS

253

vom Nationalsozialismus ermöglichten Eingriffe in die Privatsphäre von Patienten für eine stärkere Berücksichtigung erblicher Faktoren bei der Krebsbekämpfung – bis hin zur erstrebten Sterilisation von Personen bei angeblich erwiesener Erblichkeit von Krebs.109 Mit Hans Lettré übernahm der ehemalige Leiter der Abteilung für chemische Forschung des 1935 in Berlin als Aushängeschild der neuen NS -konformen Krebsforschung gegründeten »Allgemeinen Instituts gegen die Geschwulstkrankheit« die Führung des 1948 an der Universität Heidelberg etablierten Instituts für experimentelle Krebsforschung.110 Lettrés Leitungstätigkeit an der vom Chef der Reichskanzlei, dem Reichsinnen- sowie dem Reichswissenschaftsministerium geführten Einrichtung wurde in den 1950er Jahren zu keinem Zeitpunkt kritisch hinterfragt. Gleiches galt im Falle der NS Biografie Bauers.111 Trotz aller Unterschiede zur Konstellation von 1918 waren es 1945 ebenfalls Ärzte und Wissenschaftler, die angesichts der großen Gefahren der Krebskrankheit auf eine institutionelle Wiederbelebung der Forschungsund Aufklärungsarbeit drangen. Zweifelsohne stellten bis Ende der 1940er Jahre die Infektionskrankheiten die größte gesundheitspolitische Herausforderung dar. Nichtsdestotrotz ergriffen Praktiker 1946 /47 die Initiative zur organisatorischen Wiederbelebung der Krebsbekämpfung, gerade weil befürchtet wurde, das Krebsproblem könne zu weit in den Hintergrund gedrängt werden.112 Wie bereits 1918 /19 (und auch im Jahr 1900) waren es auch nach 1945 nicht politische Entscheider, die zuerst aktiv wurden, sondern Ärzte und Wissenschaftler. Sie formierten in den drei Westzonen auf Länderebene und ohne Unterstützung durch zentrale Regierungsinstanzen die institutionelle Basis der Krebsforschung neu.113 Anders als 1918 /19 stellten sich am Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch konkrete formale Fragen, nicht nur angesichts eines in vier Besatzungszonen geteilten Landes. 1945 war der letzte organisatorische Zusammenschluss der Krebsforschung in Deutschland – der RAK – von den Alliierten aufgelöst worden.114 Die neuen Ländergremien zur Krebsbekämpfung entwickelten sich in Westdeutschland Ende der 1940er Jahre mit großer Autonomie und gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Souveränität. Erstmals

109 Vgl. Bauer, Rassenhygiene; ders., Mutationstheorie; Bauer/Just/Hanhart, Handbuch; Bauer / Mikulicz-Radecki, Praxis; Bauer / Just, Handbuch. Vgl. ebs. Atzl / Helms, Geschichte, S. 61. 110 Vgl. Scheybal, Institut, S. 51 – 56. 111 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 70. 112 Vgl. ebd., S. 74 – 78. 113 Vgl. ebd. 114 Vgl. ebd., S. 74. 254

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seit 1900 entstand die institutionalisierte Krebsforschung in Deutschland nicht zuerst zentral, sondern lokal.115 Der 1951, gut drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, gebildete Dachverband aller zehn auf Länderebene entstandenen Zusammenschlüsse für Krebsforschung und -bekämpfung gab sich den traditionsreichen Namen »Deutscher Zentralausschuß für Krebsforschung und Krebsbekämpfung« (DZA) – Vorläufer der heutigen »Deutschen Krebsgesellschaft«.116 Sprachlich verschmolzen wurde 1951 mit dem Begriff des »Zentralausschußes« der vormalige Titel des politisch unabhängigen und von Wissenschaftlern getragenen »Zentralkomitees für Krebsbekämpfung« mit dem Anfang der 1930er Jahre entstandenen »Reichsausschuß für Krebsbekämpfung«, der bis 1945 bestanden hatte und dem im Dezember 1933 das Deutsche Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit beigetreten war.117 Die Namenswahl betonte 1951 symbolisch das ambivalente Verhältnis der westdeutschen Krebsforschung gegenüber der eigenen Historie: Zwar orientierte man sich mit dem Wort »Zentral« an einer vor 1933 etablierten Institution, schuf aber keine kritische Distanz zur Arbeit des RAK während des »Dritten Reiches«.118 Charakteristisch für die bundesdeutsche Entwicklung – und zugleich in deutlichem Kontrast zur institutionellen Struktur der Krebsforschung vor 1933 und während des »Dritten Reiches« – war die Autonomie der Landesverbände innerhalb des neuen Zentralausschusses für Krebsforschung und Krebsbekämpfung. Diese strukturelle Besonderheit wurde durch den Föderalismus verstärkt. Behielten die Länderkomitees für Krebsforschung und -bekämpfung ihre Souveränität ab Anfang der 1950er Jahre doch nicht nur im bilateralen Verhältnis, sondern auch gegenüber der Bundesregierung und dem neuen DZK .119 Die vom Grundgesetz vor allem den Ländern übertragene Verantwortung zur Krebsbekämpfung beließ dem Bund zwar richtungslenkende Möglichkeiten im Zuge der finanziellen Förderung, sprach ihm in der Sache aber keine ausschließliche Kompetenz zu. Erstmals seit 1900 war damit in der Bundesrepublik das Verhältnis von wissenschaftlicher Autonomie der Forschung und politischer Einflussnahme auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung nicht mehr nur zwischen einem Verband und der Zentralregierung auszutarieren. Anfang der 1950er Jahre entstand eine im Vergleich zur Geschichte der institutionalisierten Krebsforschung in Deutschland neue strukturelle Pluralität, die Forschungsansätze gerade 115 116 117 118 119

Vgl. ebd., S. 74 – 79. Vgl. ebd., S. 74 f. Vgl. Schneck, Reichsausschuß, S. 28 f.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 56. Vgl. ebd., S. 74 – 76. Vgl. ebd., S. 74 – 83.

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durch die gesteigerte Konkurrenz voranbringen konnte, zugleich aber auch nach einer substanziellen finanziellen und politischen Unterstützung von Bund und Ländern verlangte.120 In den 1950er Jahren profitierte die bundesdeutsche Krebsforschung noch nicht von diesen strukturellen Veränderungen. Ganz im Gegenteil: Sie war weit von ihrer vormaligen fachlichen Leistungsfähigkeit der 1920er Jahre entfernt und lag mit deutlichem Abstand hinter dem internationalen Standard zurück, vor allem auch verglichen mit der Entwicklung im westeuropäischen Nachbarland Frankreich.121 Über mehr als eine Dekade hinweg gelang es der westdeutschen Krebsforschung nicht, an Relevanz zu gewinnen.122 Zu groß waren die zwischen 1933 und 1945 entstandenen fachlichen und institutionellen Verluste, und zu gravierend wirkten die verursachten fundamentalen ethischen Wertverschiebungen nach – zumal innerhalb der Zunft ein klarer Wille zur kritischen Selbstreflektion über die Entwicklung der Krebsforschung zwischen 1933 und 1945 fehlte, und diese Hemmungen und das Beschweigen Fortschritte blockierten.123 Nüchtern und zutreffend resümieren die Autoren der 2012 vorgelegten Studie zur Geschichte der deutschen Krebsgesellschaft, der DZA habe »die Krebsbekämpfung und Krebsforschung in Deutschland« bis Mitte der 1960er Jahre »nicht wesentlich« vorangebracht.124 Bettina Hitzer hat in ihrer konzisen und umfassenden emotionsgeschichtlichen Arbeit über die Krebsangst der Deutschen im 20. Jahrhundert das für die 1950er Jahre der Bundesrepublik prägende Motiv des Beschweigens identifiziert, das bis hin zu Urteilen des Bundesgerichtshofes reichte, die bestätigten, dass Patienten eine Krebsdiagnose unbedingt vorzuenthalten war. Denn Krebs galt in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft als Todesurteil. Eine solche Diagnose musste – so die zeitgenössische Lesart – zu einer ungeheuren Todesangst, einer darauffolgenden Krebspsychose und letztlich dem physischen und psychischen Zusammenbruch führen, deshalb war sie zu verschweigen.125 Die Krebskrankheit war damit in den 1950er Jahren ein absolutes Tabu geworden. Die Angst vor dem Krebs, manifestiert im politisch-medialen Diskurs der Zeit, resultierte – so Hitzers Fazit – nicht nur aus dem völligen Schweigen über die Krankheit Krebs, sondern sie führte auch zu einer Entwissenschaftlichung der Debatte über die Entstehungsursachen 120 Vgl. ebd., S. 74 – 78. 121 Zur Entwicklung der Krebsforschung in Frankreich zwischen 1945 u. 1960 vgl. Pinell, Héritiers. 122 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 71, 74 – 83. 123 Vgl. ebd., S. 74 – 94. 124 Vgl. ebd., S. 94. 125 Vgl. Hitzer, Angst, S. 150 f.; dies., Krebs, insbes. S. 59 – 102, 178 – 249. 256

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maligner Tumore, verstanden im Sinne einer größer werdenden Distanz gegenüber experimenteller Grundlagenforschung.126 Mit den in den 1950er Jahren populär gewordenen Theorien, dass unterdrückte Gefühle und die Unfähigkeit, emotionalen Stress zu verarbeiten, Ursachen von Krebs seien, wurde auf Erklärungsmuster rekurriert, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts psychosomatische Ursachen der Krebskrankheit thematisierten. Sie waren auch in den 1920er Jahren verbreitet gewesen, ohne jedoch breite öffentliche Wirkung erzielen zu können.127 In den 1950er Jahren stießen psychosomatische und nichtschuldmedizinische Erklärungsversuche für die Krebserkrankung auf große Resonanz innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft.128 Wie Bettina Hitzer erstmals und überzeugend thematisiert, war der in der frühen Bundesrepublik ausgeprägte Umgang mit der Krebskrankheit – das Beschweigen und die Konjunktur nichtschulmedizinischer bzw. psychosomatischer Ursachen – gekennzeichnet durch die Folgen der NS -ideologisierten Krebsforschung und des NS -propagandistischen Einsatzes der Krebsmetapher.129 Nicht nur die in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik zurückgegangene Bereitschaft zur Krebsfrüherkennung muss im Kontext einer auf Selektion und Ängstigung von Menschen beruhenden Gesundheitspolitik des »Dritten Reiches« mit Blick auf den Krebs betrachtet werden.130 Das »Tabu Krebs« hatte in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren spezifische, aus der Krebs-Politik des »Dritten Reiches« herrührende Ursachen.131 Diese bundesdeutschen Ausprägungen unterschieden die Haltung gegenüber der Krebskrankheit in der frühen Bonner Republik von den in westeuropäischen Ländern und auch in den USA geführten gesellschaftlichen Krebsdebatten. Die besondere westdeutsche Tabuisierung macht ein Vergleich deutlich: Der Umgang mit den Krebskrankheiten von Heinrich von Brentano und John Foster Dulles, zwei der prominentesten Politiker der Bundesrepublik bzw. der Vereinigten Staaten in den 1950er Jahren. Während US -Außenminister Dulles, 1958 an Darmkrebs erkrankt und 1959 verstorben, seine Diagnose und die Therapiefolgen nie verschwieg und dies zu einer selbstbestimmteren Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber dem Krebs bzw. dem Umgang mit den körperlichen und seelischen Leiden von Krebspatienten beitrug,132 galt im Falle seines bun126 127 128 129 130 131 132

Vgl. ebd., S. 59 – 97. Vgl. ebd., S. 31 – 102; Sonntag, Krankheit, S. 49 – 51. Vgl. ebd.; Hitzer, Angst, S. 150 – 152. Vgl. insgesamt Hitzer, Krebs, S. 42 – 102, 142 – 144, 208 – 249. Vgl. ebd., S. 142 – 144. Vgl. ebd., S. 42 – 102, 142 – 144, 208 – 249. Vgl. Hitzer, Angst, S. 150 f.; Lerner, Illness, S. 81 – 99.

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desdeutschen Amtskollegen das Gegenteil. Außenminister Brentanos 1962 diagnostizierter Speiseröhrentumor wurde nie öffentlich als Krebskrankheit bezeichnet. Lange vor Brentanos Tod 1963 war die Diagnose jedoch ein offenes Geheimnis. Anstatt souverän Krebs als solchen beim Namen zu nennen, stellte die offizielle Metapher vom »schweren, unheilbaren Leiden« die Diagnose Krebs nur einmal mehr als quälendes tödliches Siechtum dar – und verstärkte damit noch Anfang der 1960er Jahre einen durch Angst und Tabuisierung gekennzeichneten gesellschaftlichen Umgang mit dem Krebs und mit den Krebskranken.133 Die bundesdeutsche Krebsforschung durchbrach dieses Schweigen nicht. Eine mangels kritischer Selbstreflektion verstärkte fachlich-mentale Lähmung aufseiten des DZA blockierte Fortschritte, um der Krebsangst der 1950er Jahre adäquat zu begegnen.134 Die vom Deutschen Zentralausschuss für Krebsforschung und Krebsbekämpfung Mitte der 1950er Jahre initiierten Kampagnen zur Aufklärung der Öffentlichkeit erreichten das Gegenteil. Sie belegen die seinerzeit vorherrschende anachronistische fachliche Auffassung des DZA . Ohne eine kritische Überprüfung präsentierter Motive wurden wesentliche Inhalte der NS -Propaganda übernommen und etwa zur »Selbstbeobachtung« aufgerufen, um die »7 Warnzeichen, die jeder beachten muß«, zu erkennen.135 Zurück kam Ende der 1950er Jahre außerdem – wieder vor allem an Frauen gerichtet – der nationalsozialistische Slogan: »Krebs ist heilbar«, erneut verbreitet in Werbefilmen und in Verbindung mit dem Satz: »Keine Angst vor Krebs«.136 Die Lebensrealität der 1950er Jahre widersprach dieser Kampagnenpolitik des DZA . Denn gerade weil innovative Forschung zwischen 1933 und 1945 sabotiert und ruiniert worden war und ein Prozess der Aufarbeitung dieser Politik nach 1945 noch nicht begonnen hatte, um Glaubwürdigkeit und Seriosität zurückzugewinnen, war das Versprechen von der Heilung des Krebses leicht als Unwahrheit zu erkennen.137 Weder Forschung noch Politik setzten sich in den 1950er Jahren offensiv mit der Krebskrankheit auseinander. Bezeichnend war, wie Spitzenvertreter der westdeutschen Krebsforschung gegenüber der damaligen Gesundheitsabteilung des Bundesinnenministeriums um Fördermittel warben: Nicht das drängende Problem einer stagnierenden Forschung und die fachlichen Hypotheken der NS -Zeit zwangen zum Handeln, sondern die DDR . Der politisch nicht anerkannte ostdeutsche Teilstaat drohe die Bundesrepublik 133 134 135 136 137 258

Vgl. Hitzer, Angst, S. 150 f. Vgl. insgesamt ebs. dies., Krebs, S. 85 – 102. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 89 – 91; Hitzer, Krebs, S. 132 – 142, 157 – 162. Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 89 – 91; Hitzer, Krebs, S. 132 – 142, 157 – 162. Vgl. ebd.; Atzl / Helms, Geschichte, S. 89 – 91. Vgl. Hitzer, Krebs, S. 157 – 160. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

Abb. 55 : Plakat »7 Warnzeichen, die jeder beachten muß !«, Aufklärungskampagne des DZA, 1957.

auf dem Feld der Krebsforschung zu überholen. »Im Vordergrund stehe die Frage«, so der DZA , »welche Möglichkeiten bestehen, die Krebsforschung mindestens in dem Umfang wie in der sogenannten DDR zu fördern.«138 Aufmerksamkeit und finanzielle Unterstützung des Bundes sollten mithilfe des SED -Regimes generiert werden. Und das Wort »zumindest« in der Argumentation des DZA verwies auf die prekäre wirtschaftliche Lage der Krebsforschung in der Bundesrepublik.139 Immerhin erreichte der Weckruf des DZA 1954 einen deutlichen Anstieg des vom Bund bereitgestellten Budgets. Ab Mitte der 1950er Jahre wuchs die Höhe der dem Zentralausschuss für Krebsforschung und Krebsbekämpfung vonseiten der BMI-Gesundheitsabteilung für die Förderung einzelner Projekte ausgezahlten Mittel um mehr als das Zehnfache. Aus 138 Vgl. BA rch, B 142 /412, Sitzungsprotokoll, 4. 12. 1954. Zur Krebsforschung in der DDR vgl. Bielka, Krebsforschung. 139 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 80 – 93. KREBS

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Abb. 56 : Werbefaltblatt für den bundesdeutschen &YJOP®VYRKWǻPQ »Krebs ist heilbar«, 1958.

den anfänglich 5.000 DM wurden jährlich zwischen 55.000 DM und 68.000 DM.140 Aber auch diese Erhöhung reichte bei Weitem nicht aus, um angesichts der großen Investitionsrückstände rasche Verbesserungen zu erzielen.141 Wandlungsprozesse : Das BMG åžƐƣĻÚƐÚåŹƐUŹåÆžƐ ÆĞžƐĻü±ĻďƐÚåŹƐŐŁƆǑåŹƐI±ĚŹå

Nach Gründung des Bundesgesundheitsministeriums entwickelte das Ressort ab Herbst 1961 zunächst weder neue politische Initiativen zugunsten der Krebsforschung und -bekämpfung noch wuchs die Höhe der bereitgestellten Gelder an. Beides wäre jedoch geboten gewesen. Die Anfang der 1960er Jahre vom BMGes erarbeiteten Memoranden über die »Grundzüge der Gesundheitspolitik« und auch die dem Ministerium von 140 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2027, sowie Atzl / Helms, Geschichte, S. 80. 141 Vgl. ebd., S. 80 – 88. 260

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Fachseite übermittelten Stellungnahmen erkannten alle im Krebs eine der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen der damaligen Zeit – die vor allem vom neuen Gesundheitsressort des Bundes angegangen und bewältigt werden musste. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung sei, so etwa ein Bericht des Bundesgesundheitsministeriums im Sommer 1963, in einem außerordentlich schlechten Zustand, geprägt von zwei Hauptproblemen: Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.142 Wissenschaftliche Berater des BMGes konfrontierten das Ministerium parallel mit einer erschütternden Bilanz: 100.000 Krebstote seien pro Jahr zu beklagen, damit sei der Krebs zweithäufigste Todesursache im Land. Bei den zwischen 35 und 65 Jahre alten Teilen der Bevölkerung stehe die Krebskrankheit sogar an erster Stelle der Todesursachen.143 Der an das BMGes gerichtete Appell der Experten verlangte nach einer neuen Strategie zur Krebsbekämpfung und nach einer verbesserten Krebsfrüherkennung.144 Gehör fand er bei Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt indes nicht. Zwischen 1961 und Mitte der 1960er Jahre reduzierte das Bundesgesundheitsministerium die Höhe der dem DZA zur Verfügung gestellten Mittel von 70.000 DM auf 25.000 DM.145 Damit lag die jährliche Förderung des Deutschen Zentralausschusses für Krebsforschung und Krebsbekämpfung seitens des BMGes ab 1963 auch hinter den Zuwendungen zugunsten der Multiple-Sklerose-Forschung zurück.146 Die Kritik des DZA richtete sich weniger auf die Mittelkürzung des Bundesgesundheitsministeriums als solche, obwohl man sie selbstverständlich ablehnte.147 Vorgehalten wurden dem BMGes vor allem sein Desinteresse gegenüber dem DZA und die rein bürokratische Zusammenarbeit mit dem Koordinierungsgremium der deutschen Krebsforschung. Im Frühjahr 1965 beschwerte sich der DZA auf einer eigens im Bundesgesundheitsministerium einberufenen Sitzung gegenüber Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt und Josef Stralau, dem Leiter der Abteilung für ärztliche Angelegenheiten und Humanmedizin, über einen viel zu formalen, abgestumpften und geradezu von Gleichgültigkeit geprägten Umgang des BMGes mit dem Deutschen Zentralausschuss für Krebsforschung und 142 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Memorandum des BMGes über die Grundzüge der Gesundheitspolitik o. D., ca. Juli 1963. 143 Vgl. BA rch, B 142 /1994, Manuskript des Bundesausschusses für gesundheitliche Volksbelehrung o. D., ca. März 1963. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. die Zuwendungsbescheide in: BA rch, B 142 /2027. 146 Vgl. die Zuwendungsbescheide für Krebs- bzw. MS -Forschung in: BA rch, B 142 /2031, BA rch, B 142 /2028 u. BA rch, B 142 /4008. 147 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2028. KREBS

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Krebsbekämpfung.148 Die Modalitäten zur Auszahlung der Fördermittel und die vom Bundesgesundheitsministerium aufgestellten Kriterien der Verwendungsnachweise seien viel zu abstrakt und würden »Planung und Durchführung von Forschungsvorhaben […] stark behinder[n] und zum Teil unmöglich« machen, so die fundamentale Kritik des DZA gegenüber der Spitze des Bundesgesundheitsministeriums zu Beginn des Jahres 1965.149 Tatsächlich war das BMGes in den Anfangsjahren kein Schrittmacher der Krebsbekämpfung oder Initiator von neuen Projekten auf dem Feld der Krebsforschung. Das Ministerium nutzte die durch die Fördermittelvergabe vorhandenen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten bei Weitem nicht. Uninspiriert und initiativlos beschränkte sich die Krebspolitik des BMGes in den ersten Jahren nach seiner Gründung auf eine rein bürokratische Abwicklung der immer weiter reduzierten finanziellen Förderung des DZA . Die verfügbaren Archivquellen zeigen, dass das Thema Krebs weder in der von Josef Stralau geleiteten Abteilung für Humanmedizin noch für Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt eine Priorität besaß – und dies, obwohl interne Analysen und externe Sachverständige die Krebsproblematik als vordingliche Aufgabe erkannten und nach einer stärkeren Involvierung des Ministeriums verlangten.150 Während die Abteilung I des BMGes Anfang der 1960er Jahre akribisch und außerordentlich intensiv an der Neufassung eines Gesetzes zur freiwilligen eugenisch indizierten Sterilisation arbeitete,151 wurde zeitgleich die fachliche Auseinandersetzung mit der Krebsforschung und -bekämpfung völlig vernachlässigt und geradezu ignoriert. Eine Ausnahme von dieser frühen politischen Grundlinie des BMGes bildete das Engagement des Staatssekretärs Walter Bargatzky. Dessen persönliche Involvierung – nicht die von Ministerin Schwarzhaupt oder des fachlich zuständigen Abteilungsleiters Stralau – brachte ab 1964 ein zentrales Projekt der deutschen Krebsforschung entscheidend voran: Den Aufbau des Heidelberger Krebsforschungszentrums. Immer wieder war es Walter Bargatzky, der in den Verhandlungen zwischen dem Land Baden-Württemberg und dem Bund, als Trägern der geplanten Einrichtung, stets präsent war, Konflikte zu entschärfen suchte und sich auch mit operativen Details persönlich befasste, etwa der Raumaufteilung innerhalb

148 Vgl. BA rch, B 142 /2028, Geschäftsbericht des DZA , 30. 1. 1966. 149 Vgl. ebd. 150 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Memorandum des BMGes über die Grundzüge der Gesundheitspolitik o. D., ca. Juli 1963; BA rch, B 142 /1994, Manuskript des Bundesausschusses für gesundheitliche Volksbelehrung o. D., ca. März 1963. 151 Vgl. Kap. III.2. in diesem Bd. 262

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Abb. 57 : Der zwischen 1968 und 1972 errichtete Hochhauskomplex des Heidelberger Krebsforschungszentrums, 1975.

der geplanten Neubauten.152 1965 /66 begann in Heidelberg in den ersten fertiggestellten Gebäuden die Arbeit; bis Mitte der 1970er Jahre wurde die Infrastruktur immer weiter ausgebaut.153 Eine grundsätzliche Änderung erfuhr die Krebspolitik des BMGes durch den Wechsel an der Spitze des Hauses: Mit Amtsantritt Käte Strobels als Bundesgesundheitsministerin im Dezember 1966 wurden die politischen Prämissen des Umgangs mit dem Thema Krebs neu – und sozialdemokratisch geprägt – ausgerichtet. Tatsächlich war es die SPD gewesen, die bereits 1962 als erste große bundesdeutsche Partei eine Konferenz zur Gesundheitspolitik abgehalten und hierbei die Krebskrankheit sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen als die größten gesundheitspolitischen Herausforderungen benannt hatte.154 Obwohl mit Elisabeth Schwarzhaupt seit Herbst 1961 eine Christdemokratin an der Spitze des neuen Bundesgesundheitsministeriums stand, legten CDU / CSU erst 1965 ihre

152 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142/2900, BA rch, B 142/2898 u. BA rch, B 142/2899. 153 Vgl. u. a. die Angaben des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg, www. dkfz.de/timeline/ (27. 1. 2021). 154 Vgl. Kettler, Entwicklung, S. 64 – 79; Engelmann / Häuple / Kühne / Lang / Neumann / Reiners / Rüdinger / Waldenfels, Gesundheit, S. 32 – 34, sowie die Unterlagen in: AdsD, NL Strobel, Ordner 58 u. BA rch, B 136 /5251. KREBS

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gesundheitspolitischen Leitsätze vor.155 Darin wurde die Krebskrankheit nicht als ein vordingliches gesundheitspolitisches Problem erkannt und ebenfalls nicht – wie von der SPD und Strobel – als eine der »Volks- und Zivilisationskrankheiten« der damaligen bundesdeutschen Gesellschaft identifiziert.156 Als sozialdemokratische Gesundheitspolitikerin stellte sich Käte Strobel explizit in die Tradition der von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vor allem in den 1920er Jahren durchgesetzten Verbesserungen in der Fürsorge und auf dem Gebiet der Sozialhygiene. Gemäß Strobels Verständnis adressierte die Gesundheitspolitik die drei Grundfeste sozialdemokratischer Politik: Freiheit, Gleichheit und Solidarität.157 Der vom Staat gesetzte Rahmen gesundheitspolitischer Maßnahmen ermöglichte die freie Entfaltung des Einzelnen und garantierte seine gesellschaftliche Partizipation; eine solche Gesundheitspolitik »förderte die wirtschaftliche und die moralische Kraft des Gemeinwesens« und war »notwendiger und unerläßlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der Gesellschaft«, so die im Sinne der SPD von Strobel Ende der 1960er Jahre formulierten gesundheitspolitischen Eckpunkte des BMGes.158 Auch wenn Käte Strobels Initiative zur Gründung eines neuen »Bundesinstituts für Volks- und Zivilisationskrankheiten«, das sich neben Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten vor allem dem Thema Krebs zuwenden sollte, 1968 /69 am Widerstand sowohl des Bundesrates als auch des Bundesfinanzministers Franz Josef Strauß scheiterte, führte der Ministerinnenwechsel im BMGes ab 1966 /67 zu einer innovativeren und engagierten Herangehensweise des Bundesgesundheitsministeriums gegenüber der Krebsforschung und -bekämpfung.159 Ein Verdienst Strobels war nicht zuletzt die schnelle Reaktionsfähigkeit des BMGes auf die breiten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse am Ende der 1960er Jahre. 155 Vgl. Christlich Demokratische Union Deutschlands, Umwelt. 156 Zur gesundheitspolitischen Programmatik von CDU / CSU vgl. Christlich Demokratische Union Deutschlands, Umwelt. Zur Stellungnahme der SPD vgl. Kettler, Entwicklung, S. 64 – 79. Vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /5251. Zur Stellungnahme Strobels vgl. AdsD, NL Strobel, Ordner 58, Vortrag auf dem XI. Bundeskongress der Ärzte und Apotheker in der SPD, Oktober 1968, sowie die Grundsatzunterlagen zum BMGes in: BA rch, B 136 /5251. 157 Vgl. AdsD, NL Strobel, Ordner 58, Vortrag auf dem XI. Bundeskongress der Ärzte und Apotheker in der SPD, Oktober 1968. Vgl. ebs. die Grundsatzunterlagen zum BMGes in: BA rch, B 136 /5251. Zur sozialdemokratischen Gesundheitspolitik vgl. u. a. Kettler, Entwicklung; Riege, Gesundheitspolitik; Bardens, Gesundheit; Engelmann / Häuple / Kühne / Lang / Neumann / Reiners / Rüdinger / Waldenfels, Gesundheit. 158 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Gesundheitsbericht 1970. 159 Zur genannten Initiative Stobels u. ihrem Scheitern vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /5251, sowie AdsD, NL Strobel, Ordner 58. 264

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Mit dem gestiegenen Bewusstsein der Bevölkerung für Aspekte des Umweltschutzes und für alltägliche Gesundheitsgefährdungen, etwa durch die Verunreinigung der Luft, den Einsatz chemischer Zusatzstoffe in Lebensmitteln oder den Kontakt mit karzinogenen Stoffen im Arbeitsalltag, wandelte sich auch der Umgang mit dem Thema Krebs.160 Als Bundesgesundheitsministerin musste sich Käte Strobel weder mit Debatten über Umweltgefahren noch mit den Gesundheitsrisiken einer gewandelten Arbeitswelt vertraut machen. Strobels politischer Einsatz zur Umsetzung der den zeitgenössischen gesundheitspolitischen Diskurs dominierenden neu aufgeworfenen Fragen – allen voran der Krebsgefahr durch Umwelteinflüsse – besaß vielmehr von Beginn an große Glaubwürdigkeit.161 Ihr Kurs unterstützte den Prozess einer neuen Versachlichung der Debatte um Entstehungsursachen des Krebses: Indem die Umwelteinflüsse und exogene Faktoren der Krebsgenese vonseiten des BMGes stärker in den Blick genommen wurden, formulierte Strobels Ministerium politische Grundlinien, die sowohl den gewandelten gesellschaftlichen Veränderungsprozessen Rechnung trugen als auch die Theorien über psychosomatische Ursprünge des Krebses weiter zurückdrängten. Dass die Jahre 1969 /70 zur entscheidenden Zäsur für den Übergang der bundesdeutschen Nachkriegs-Krebsforschung zu einer wieder leistungsstarken und breit aufgestellten Disziplin wurden, hatte verschiedene Ursachen. Neben dem gewachsenen Umweltbewusstsein der Gesellschaft und einer neuen Sensibilisierung für die exogenen Gefahren der Tumorentstehung war es die aktualistisch betriebene Gesundheitspolitik des BMGes unter Käte Strobel, die der ministeriellen Auseinandersetzung mit der Krebskrankheit erstmals inhaltlich-programmatische Konturen verlieh und sie gegenüber der Öffentlichkeit und der Krebsforschung profilierte. Gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit sowie veränderte politische Zugänge zum Thema Krebs korrespondierten mit höheren finanziellen Leistungen des Bundes und der Länder zugunsten der Krebsforschung und -bekämpfung.162 Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der die frühen 1970er Jahre zu einem Wendepunkt in der Entwicklung der bundesdeutschen Krebsforschung werden ließ, betraf fachimmanente Ereignisse. Schon Ende der 1960er Jahre wurden die Folgen eines generationellen Bruchs immer deutlicher. Die Krebsforschung und die institutionellen Koordinierungs- und Leitungsgremien des Faches auf Bundes- sowie Länderebene veränderten sich 160 Vgl. Hitzer, Angst, S. 153 – 155. Zur Umweltbewegung in der Bundesrepublik vgl. u. a. Hasenöhrl, Zivilgesellschaft; Uekötter, Ende; ders., Umweltgeschichte. 161 Vgl. u. a. die Debatten des BR ates u. BTages sowie die Grundsatzunterlagen zum BMG es in: BA rch, B 136 /5251, sowie BA rch, B 136 /5252. 162 Vgl. Atzl / Helms, Geschichte, S. 96 – 111. KREBS

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Abb. 58 : Bundeskanzler Willy Brandt spricht im Krebsforschungszentrum Heidelberg, 4.12.1973.

personell grundlegend. Eine in der Bundesrepublik sozialisierte jüngere Forschergeneration wollte die stagnierende Entwicklung auf dem Feld der Krebsforschung überwinden und war zugleich bereit, sich der historischen Verantwortung für die Geschichte der deutschen Krebsforschung während des »Dritten Reiches« zu stellen. Dieser in den 1970er Jahren angestoßene Reflexionsprozess ermöglichte es, Glaubwürdigkeit und internationale Reputation langfristig zurückzugewinnen.163 »Mit der Umstrukturierung in den 1970er-Jahren war aus dem eher im Hintergrund agierenden und mehr auf die Krebsbekämpfung gerichteten Deutschen Zentralausschuß eine interdisziplinäre Fachgesellschaft geworden, die in ihrem Ansehen international auf Augenhöhe und innerhalb Deutschlands hoch motiviert auf die zukünftigen Herausforderungen reagieren wollte«, so das Resümee des historischen Abrisses zur Entwicklung der deutschen Krebsgesellschaft von Isabel Atzl und Roland Helms.164 Oder mit anderen Worten: Fast vier Jahrzehnte waren nötig, um die in nur wenigen Jahren während des »Dritten Reiches« verursachten ideellen und

163 Vgl. ebd., S. 96 – 111. 164 Vgl. ebd., S. 103. 266

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materiellen Zerstörungen der deutschen Krebsforschung zu überwinden und zu kompensieren. Der Blick auf die Entwicklung der Krebsforschung in Deutschland seit dem Jahr 1900 zeigt: Weder Monarchie noch Weltanschauungsdiktaturen boten Wissenschaft und Medizin so gute Ausgangsbedingungen für den Kampf gegen den Krebs wie das parlamentarische Staatswesen. Die liberale Demokratie und eine offene Gesellschaft begünstigten innovative Fortschritte bei der Suche nach grundlegenden Erkenntnissen zur Entstehung des Krebses und möglichen neuen Therapiemethoden. Zugleich stellten parlamentarische Demokratien sicher, dass jeder von den medizinischen Erfolgen profitierte.165 Nichtsdestotrotz sind die Angst, das Leid und der Schmerz Begleiter der Krebskrankheit geblieben, denn besiegen konnten sie auch die liberalen deutschen Demokratien (noch) nicht.

165 Vgl. insgesamt die Ergebnisse bei Hitzer, Krebs, sowie Eckart, 100 Years. KREBS

267

 3MOSXMR)EW,MJXHIV+VIMLIMX

Rauchen tötet. Nie war die wissenschaftliche Evidenz dieses Satzes in der mehrere Hundert Jahre währenden Auseinandersetzung mit dem Tabakkonsum größer als heute. Dennoch zählt der Genuss von Zigaretten nach wie vor zur verbreitetsten und zugleich größten vermeidbaren Gesundheitsgefahr.1 Trotz aller medizinischer Erkenntnisse über die Bedeutung des Rauchens für die Entstehung Dutzender Arten bösartiger Tumore, von Unfruchtbarkeit, Gefäßerkrankungen sowie Herz- und Hirninfarkten bleibt die Zahl der Raucher konstant hoch. Über ein Drittel der in Deutschland lebenden Menschen zwischen 18 und 64 Jahren raucht gemäß des »Tabakatlasses 2020« des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) regelmäßig.2 Für mehr als 40 Prozent dieser Altersgruppe ist tägliches Rauchen von bis zu 19 Zigaretten fester Bestandteil des Alltags; etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter konsumiert pro Tag mehr als 20 Zigaretten. Die 40- bis 49-Jährigen rauchen hierbei am stärksten, fast jeder Zweite aus dieser Altersgruppe raucht gut zwei Dutzend Zigaretten pro Tag.3 Alarmierende Ergebnisse lässt der Bericht des DKFZ vor allem mit Blick auf Jugendliche und junge Erwachsende erkennen: In den Jahren 2017 /18 war gut die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands zwischen 18 und 24 Jahren Raucher, mit einem täglichen Konsum von bis zu 19 Zigaretten.4 Während bei den 18- bis 20-Jährigen rund fünf Prozent mehr als 20 Zigaretten konsumierten, vervierfachte sich diese Quote bei den 21- bis 24-Jährigen.5 Das heißt: In jungen Jahren begonnenes gelegentliches Rauchen verstetigt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Verlauf des Älterwerdens zu einem Massenkonsum, wobei das Einstiegsalter hierfür gemäß der Erhebung des DKFZ bei etwa 16 Jahren liegt.6 Hinzu kommt: Nach den Ermittlungen des Deutschen Krebsforschungszentrums rauchten 2017 /18 über sieben Prozent der elf bis 17 Jahre alten Jugendlichen in der Bundesrepublik täglich mehrere Zigaretten.7 1 Vgl. u. a. die Ergebnisse in: Schaller / Mons, Tabakrauchen; Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas; Augustí / Hogg, Pathogenesis; Bays, Things. Vgl. ebs. die Angaben des Centers for Disease Control and Prevention, Health. 2 Vgl. Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas, S. 18 f., 44 f., 52 f. 3 Vgl. ebd., S. 44 f. 4 Vgl. ebd., S. 44. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. ebd., S. 46. 268

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Diese Zahlen stehen in einem deutlichen Kontrast zu den vom Bundesgesundheitsministerium 2015 formulierten Zielen: Denen zufolge sollten 2022 weniger als sieben Prozent der Jugendlichen rauchen; innerhalb der erwachsenen Bevölkerung bis 64 Jahre sollte der Anteil der Raucher in Deutschland maximal 21 Prozent betragen.8 Auch aktuelle Daten der Europäischen Union (EU) zeigen, dass beide Zielmarken des Ministeriums nicht erreicht werden. Gemäß EU-Statistiken rauchten im Jahr 2020 in der Bundesrepublik mit 21 Prozent bei den 15- bis 24-Jährigen sogar mehr Personen aus dieser Altersgruppe als im europäischen Durchschnitt.9 Aus medizinischer Sicht besorgniserregend sind diese Statistiken – die vor allem auch zeigen, dass nach wie vor sehr früh und zum Teil exzessiv mit dem Rauchen begonnen wird – allein insofern, als bekannt ist, dass Zigarettenkonsum für jede fünfte Krebsneuerkrankung und für gut ein Drittel aller letalen Herz-Kreislauf- sowie Gefäßerkrankungen verantwortlich ist. Dabei wirken selbst geringe Mengen vieler der in Zigaretten enthaltenen Giftstoffe auf den menschlichen Organismus toxisch.10 85.000 Krebsfälle pro Jahr wären vermeidbar, würden die Menschen nicht rauchen, so das DKFZ .11 In der gesamten Europäischen Union werden aktuell jährlich 2,6 Millionen neue Krebsfälle diagnostiziert. Mindestens eine Halbe Million von ihnen steht ursächlich mit dem Rauchen in Verbindung.12 Etwa 130.000 Raucher sterben jährlich in Deutschland an den Folgen ihres Tabakkonsums,13 gut 500.000 Tote pro Jahr sind es in den Vereinigten Staaten.14 Die heutigen Herausforderungen im Umgang mit dem »krank machenden« und »tödlichen Produkt« Tabak – so der wissenschaftliche Vorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums im Jahr 2020 – scheinen beinahe dieselben zu sein, wie zu Beginn der Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen Gefahren des Zigarettenkonsums.15 Aus medizinischwissenschaftlicher Sicht sind die Risiken des Rauchens für den Menschen spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts überzeugend dargelegt worden, beginnend mit der Erkenntnis eines britischen Arztes über den Zusammenhang von Tabakkonsum und Lippenkrebs. Weitere medizinische Studien in Frankreich und Deutschland belegten bis Anfang des 20. Jahrhunderts die ursächliche Bedeutung des Rauchens für die Entstehung 8 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheitsziel, S. 3. Vgl. European Commission, Eurobarometer. Vgl. Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas, S. VIII, 8 – 32, 54. Vgl. ebd., S. VIII. Vgl. European Commission, Diseases. Vgl. Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas, S. 54. Vgl. Gottlieb / Zeller, Framework, S. 1111. Vgl. Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas, S. VIII.

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von Mund-, Rachen- und Kehlkopfkrebs.16 Zur damaligen Zeit blieben diese Erkrankungen in Deutschland wie Europa Ausnahmen, denn der Anteil der Raucher innerhalb der Bevölkerung war gering.17 Eine Zäsur im Hinblick auf den Umgang mit dem Tabak markierte das Aufkommen industriell gefertigter Zigaretten Ende des 19. Jahrhunderts. Der Erste Weltkrieg und die auch im Deutschen Kaiserreich verfügte Freigabe des Tabaks als Bestandteil der Verpflegung der kämpfenden Truppe trug zur Verbreitung des Rauchens (vor allem bei Männern) bei.18 Die politische Auseinandersetzung mit den Gesundheitsgefahren des Rauchens aufseiten der Regierung begann in Deutschland in den 1920er Jahren, auch wenn Tabakgegner bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts, in Vereinen organisiert, auf die drohenden Gesundheitsschäden hinwiesen.19 Trotz einer zunehmenden Zahl von Rauchern beider Geschlechter in der Weimarer Republik wurden restriktiv-regulative Eingriffe in das Konsumverhalten der Bevölkerung von Tabakbefürwortern mit Verweis auf eine fehlende Kausalität zwischen Rauchen und den verschiedenen Krankheitsbildern erreicht. Zu wenig eindeutig schien die alleinige Verantwortung des Tabaks für gravierende gesundheitliche Folgen, angesichts eines gestiegenen Automobilverkehrs und vermehrter Umweltverunreinigungen.20 Die Politik der Weimarer Demokratie setzte auf Forschung und Aufklärung: Die Wissenschaft sollte Beweise gegen die Argumente der Tabakbefürworter erarbeiten, um damit die Bevölkerung besser über die Risiken informieren zu können.21 Anfang der 1930er Jahre gelang deutschen Forschern schließlich der Nachweis, dass nicht das Nikotin, sondern der im Tabak enthaltene Teer karzinogen wirkte.22 Schon in den 1920er Jahren wurde die Auseinandersetzung mit den Tabakgefahren durch drei Elemente bestimmt: dem staatlich zu organisierenden Gesundheitsschutz der Bevölkerung, einer wirtschaftlichen Handlungsautonomie der Tabakindustrie und schließlich einer dem Bürger zugesprochenen souveränen Konsumfreiheit. Kategorien von Freiheit und Selbstbestimmung waren der Debatte um den Tabak stets inhärent, wobei allein der Staat das Ordnungsmonopol besitzen konnte, das den Widerstreit unterschiedlicher Interessen von Rauchern und Nichtrauchern entschied. Nur er regulierte und normierte Wirtschaft wie Gesellschaft.23 16 17 18 19 20 21 22 23

270

Vgl. Proctor, War, S. 179 f. Vgl. ebd., S. 179 f.; ders., Hitler, S. 71. Vgl. Proctor, War, S. 180 f.; ders., Hitler, S. 71. Vgl. Proctor, Hitler, S. 71. Vgl. Proctor, War, S. 181. Vgl. ebd., S. 181 f. Vgl. ebd., S. 191 f. Zur Kontroverse von Freiheit u. Selbstbestimmung innerhalb der Nikotinprävention vgl. insgesamt Mukherjee, König. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

Historisch betrachtet – nicht zuletzt mit Blick auf die deutsche Geschichte –, berührt die politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Tabakkonsum und den Gesundheitsgefahren des Rauchens immer auch Fragen von Demokratie und Diktatur: Wie agierten autoritär-totalitäre und wie liberal-parlamentarische Staatsformen im Widerstreit von Gesundheitsschutz und Tabakkonsum? Und war es tatsächlich die inhumane Weltanschauungsdiktatur des »Dritten Reiches«, die im 20. Jahrhundert die substanziellste und wissenschaftlich fundierteste Strategie für den Umgang mit den Gefahren des Rauchens entwickelte und durchsetzte?24

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Für den Nationalsozialismus war Rauchen kein bloßes moralisches Laster, sondern eine Frage der politischen Weltanschauung. Tabak galt NS -Ideologen als ein »Rassengift«, das langfristig und immer weiter fortschreitend die Gesundheit des deutschen Volkes und seine biologische Überlegenheit zerstörte.25 Dieses rassistisch aufgeladene Weltbild, das den Akt des Rauchens politisierte wie niemals zuvor, fußte zugleich in einer antisemitischen Grundüberzeugung. Im Sinne des Nationalsozialismus war »der Jude« nicht nur finanzieller Hauptprofiteur eines seit den 1920er Jahren exponentiell gestiegenen Zigarettenverkaufs, sondern er war der eigentliche Initiator des versuchten Anschlags auf die »Volksgesundheit« der Deutschen: »Die Juden« wollten mit Nikotin und Tabak das »rassisch überlegene« deutsche Volk in Abhängigkeiten führen und physisch wie psychisch nachhaltig schwächen, so die NS -Ideologie.26 Entsprechend rigide propagierte die NSDAP-Führung um Adolf Hitler einen prohibitiv-erzieherisch zugespitzten Umgang mit dem Tabak.27 Bereits vor Antritt seiner Regierung auf Reichsebene 1933 ließ sich Hitler als absoluter Anti-Raucher porträtieren, und erklärte die Einstellung gegenüber dem Tabak suggestiv-manipulativ zu einer fundamentalen politischen Glaubensauffassung. In einem Anfang der 1930er Jahre veröffentlichten Bildband des »Führers« der NSDAP hieß es: »Unser Führer Adolf Hitler trinkt keinen Alkohol und raucht auch nicht. Ohne andere – auch seine 24 Zur These vgl. Proctor, War, S. 173 – 247; ders., Campaign, S. 1450 – 1453; ders., Hitler, S. 67 – 74; ders., Hitler, das »Rassengift« – und die Spätfolgen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 5. 2010. 25 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 24 f.; Proctor, Hitler, das »Rassengift« – und die Spätfolgen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 5. 2010. 26 Vgl. Proctor, Hitler, S. 70. 27 Vgl. Merki, Tabakpolitik. NIKOTIN

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Abb. 59 : Nationalsozialistische Propaganda gegen das »Tabak-Kapital« in der Zeitschrift »Reine Luft«, Nr. 23, 1941, S. 117.

nächste Umgebung – im geringsten in dieser Richtung zu bevormunden, hält er sich eisern an das selbstauferlegte Lebensgesetz. Seine Arbeitsleistung ist ungeheuer.«28 Umrissen war damit zugleich die der nationalsozialistischen Lehre vom Tabak konstitutive Ambivalenz: Zwar galt Rauchen im rassistischantisemitischen NS -Weltbild als Verrat an Volk und »Führer«, doch beschränkten sich die Eingriffskategorien von Partei und Staat auf Wünsche und Appelle – angesichts eines politisch nicht bezwingbaren Massenkonsums.29 Auch der Kampf gegen den Tabak war ein Teil der für den Nationalsozialismus charakteristischen »korrigierenden und selektionierenden Ambitionen« zur Schaffung einer neuen Gesellschaft.30 Aber: Selbst wenn 28 Vgl. das »Geleitwort« Baldur von Schirachs in: Hoffmann, Hitler, S. XIII. 29 Vgl. Merki, Tabakpolitik; Petrick-Felber, Genuss. 30 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 24. 272

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Abb. 60 : Demonstrationszug des »Deutschen Raucherbundes« anlässlich seines 50-jährigen Bestehens, Berlin, 4. 2. 1934.

Hitler fortwährend propagieren ließ, dass er – als ehemaliger Raucher – seine Aufgabe der »Errettung des deutschen Volkes« nur deshalb habe erfolgreich bewältigen können, weil er sich vom Tabak entwöhnt habe,31 musste das Regime akzeptieren, dass Rauchen in der Bevölkerung viel zu verbreitet war, als dass es hätte verboten werden können.32 Es erscheint paradox und zynisch zugleich, dass das NS -Regime vor dem Tabak zurückwich. Während der nationalsozialistische Staat alle sonst von ihm erkannten »Rassenfeinde« der Deutschen radikal stigmatisierte, verfolgte und eliminierte, blieb der Kampf gegen den Tabak im Wesentlichen beschränkt auf den fast flehentlich-beschwörenden moralischen Appell vom »innigsten Wunsch des Führers« nach einem rauchfreien Deutschland.33 Ein staatlicherseits verhängtes absolutes Tabakverbot wurde – anders als bei zahlreichen weiteren Kernthemen der rassistisch-biologistischen NS Gesundheitspolitik – nach 1933 nie beschlossen. Und auch eine nachhaltige 31 Zur Aussage Hitlers vgl. Pickert, Tischgespräche, S. 126. 32 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 24 – 30. Vgl. insgesamt ebs. Petrick-Felber, Genuss, S. 70 f. 33 Zum Zit. des »innigsten Wunsches des Führers« vgl. die Rede des thüringischen NSDAP-Gauleiters Fritz Saukel 1940 in: Reine Luft: Heraus aus dem Engpaß!, in: Reine Luft 23 (1941), S. 4. Vgl. insgesamt Merki, Tabakpolitik, S. 24 – 30; PetrickFelber, Genuss, S. 70 f. NIKOTIN

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Abb. 61 : Nationalsozialistisches Propagandaplakat, ca. 1939.

Reduzierung des Tabakverbrauches war im Verlauf des »Dritten Reiches« nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil: Der Konsum von Zigaretten stieg ab 1933 immer weiter – und sehr stark – an.34 In den Jahren 1939 /40 machten die Einnahmen der Tabaksteuer in Höhe von zwei Milliarden Reichsmark einen substanziellen Teil des Staatsetats aus.35 Trotz aller propagandistisch-moralischen Verdammung des Rauchens und einer umfangreichen antisemitisch-rassistisch fundierten Anti-Raucherkampagne erreichte die Politik des »Dritten Reiches« ihr Ziel bis Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 bei Weitem nicht.36 Angesichts der enorm großen Zustimmung der Bevölkerung zur aggressiv-nationalistischen Politik Hitlers, etwa im Falle des »Anschlusses« Österreichs und der »Sudetenkrise« 1938,37 bleibt die These wenig stichhaltig, die Deutschen hätten mit ihrem nach 1933 fortgesetzten und sogar gesteigerten Rauchen ein Zeichen von Widerstand gegen das NS -Regime gesetzt.38 Nahe liegt vielmehr das Gegenteil: Die 34 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 21 f.; Proctor, Hitler, S. 73; ders., Campaign, S. 1450 f.; Petrick-Felber, Genuss, S. 121 – 134. 35 Vgl. Proctor, Hitler, S. 73; ders., Campaign, S. 1450. 36 Vgl. Proctor, Hitler, S. 73. 37 Vgl. Broszat, Motivation, S. 211 – 228; ders., Kräftefeld, S. 94 – 107. 38 Vgl. zur These vgl. u. a. Smith / Ströbele / Egger / Peto, Smoking. 274

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Abb. 62 :-IVQERR,ÁVMRK4FIVFIJILPWLEFIVHIV1YJX[EǺI 'MPHQMXXIPMROW rauchend in einem Pariser Salon, Frühjahr 1942.

Deutschen rauchten nicht wegen, sondern trotz Hitler – zum Missfallen der NSDAP-Führung (die in Teilen selbst nie das Rauchen gestoppt hatte).39 Die womöglich deutlichsten Erfolge verzeichnete das NS -Regime – wenn auch statistisch nicht zu validieren – mit Blick auf die gesellschaftliche Nichtakzeptanz der rauchenden Frau. Die »deutsche Mutter« hatte seit 1933 ganz besonders im Fokus der nationalsozialistischen Propaganda gegen den Tabak gestanden, trug sie doch einen wesentlichen Teil der Verantwortung für eine gesunde »rassenstarke« Nachkommenschaft. Umso energischer bekämpft wurde das Rauchen von Frauen während des »Dritten Reiches«, mit »positiven« Effekten auf ihren Tabakkonsum.40 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 erlangte Tabak einen neuen Stellenwert. Zunächst als »kriegswichtiger Genuss«, der Soldaten wie Zivilbevölkerung half, Schrecken zu verarbeiten;41 und spätestens ab 1942 /43 – bedingt durch die Verknappung verfügbaren Tabaks und ein anhaltend hohes Konsumbedürfnis – als Ersatzwährung.42 Seit Kriegsbeginn galt umso mehr: »Die Nationalsozialisten konnten auf dieses polyvalente und multifunktionelle Psychopharmakon [gemeint: Nikotin], das sowohl 39 Vgl. Proctor, Hitler, S. 69 – 71. 40 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 25 f.; Proctor, War, S. 267 – 269; Petrick-Felber, Genuss, S. 62 f. 41 Vgl. ebd., S. 108 – 208, 246 – 444; Merki, Tabakpolitik, S. 20 f. 42 Vgl. u. a. ebd.; Petrick-Felber, Genuss, S. 304 – 333. NIKOTIN

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Abb. 63 : Deutsche Fallschirmjäger rauchend während einer Kampfpause nach der Einnahme von Fort Eben-Emael, Belgien, 12. 5. 1940.

sedativ wie stimulierend wirken kann, kaum verzichten. Ihre Tabakpolitik war deshalb widersprüchlich, und sie blieb – was die praktische Prävention angeht – überwiegend Ideologie.«43 Zwar wurden Anfang der 1940er Jahre im Deutschen Reich legislative Maßnahmen beschlossen, die etwa das Rauchen in einzelnen Bereichen des öffentlichen Raumes oder für Jugendliche unter 18 Jahren verboten.44 Eine regulative Wirkung im Sinne einer substanziellen Reduktion des Tabakkonsums riefen diese Eingriffe indes nicht hervor.45 Dass NSDAP und SS 1939 ein Rauchverbot in Partei- und Ministerialbüros erließen, war keine originär nationalsozialistische Maßnahme.46 Vielmehr hatte das preußische Staatsministerium schon im April 1927 ein Rauchverbot in Diensträumen per Erlass zur »allgemeinen Höflichkeit« im Umgang der preußischen Beamtenschaft mit Bürgerinnen und Bürgern erklärt.47

43 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 20. 44 Vgl. Proctor, War, S. 201 – 207; ders., Campaign, S. 1451; Petrick-Felber, Genuss, S. 66 – 68. 45 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 24 – 30; Proctor, Hitler, S. 73. 46 Die gegenteilige Behauptung bei Proctor, War, S. 203; ders., Campaign, S. 1451. 47 Vgl. Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 1927, Nr. 15, Verordnung über Formen des Dienstverkehrs, 8. 4. 1927. 276

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Wie bereits zwischen 1933 und 1939 so galt auch während der Kriegszeit bis 1945: Tabakkonsum und Rauchen blieben im »Dritten Reich« ein geduldetes Tabu. Auch das NS-Regime akzeptierte, dass eine strenge Verbannung der Zigarette nicht nur ohne Erfolg bleiben musste, sondern in Kriegszeiten politisch »unzweckmäßig« war, wie es Hitlers Chef-Propagandist Joseph Goebbels 1941 freimütig festhielt.48 Das Tabakproblem sollte nach dem »Endsieg« gelöst werden.49 Der Historiker Robert Proctor prägte Mitte der 1990er Jahre die These, die erfolgreichste und zielstrebigste Anti-Tabakpolitik sei vom NS -Regime betrieben worden. Hitler habe nicht nur die entschlossensten Kampagnen gegen das Rauchen geführt, sondern auch die weltweit fortschrittlichste Wissenschaft zur Untersuchung der Tabakgefahren hervorgebracht, und damit auf diesem Gebiet weitreichendes Grundlagenwissen generiert: »German tobacco epidemiology by this time was the most advanced in the world.«50 Proctors Diktum, das nationalsozialistische Regime habe eine »Tabakforschung« von exzeptioneller Qualität initiiert, wurde widerlegt. 2001 bzw. 2013 konnten Historiker darstellen, dass während des »Dritten Reiches« weder eine wissenschaftlichen Standards genügende internistische, pharmakologische oder epidemiologische Forschung existierte noch seinerzeit neue Erkenntnisse mit Blick auf die Gefahren des Tabakkonsums erarbeitet wurden.51 Vielmehr rekurrierten »Tabakwissenschaftler«, wie etwa der Internist und Sozialdemokrat Fritz Lickint, auf die bereits in den 1920er Jahren ermittelten Befunde, die allerdings erst Ende der 1930er Jahre publiziert wurden.52 Und beide von Proctor als die »wichtigsten Ergebnisse im Bereich der Forschung« über den Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs während des »Dritten Reiches« benannten Arbeiten waren weder originell noch wissenschaftlich.53 1940 wurde in der »Zeitschrift für Krebsforschung und klinische Onkologie« die medizinische Dissertation Friedrich Müllers veröffentlicht, die ausgehend von Fallstudien und Patientenbefragungen eine Kausalität zwischen Rauchen und Lungenkrebs beschrieb.54 Eine solche Fallermittlung hatte in den Vereinigten Staaten bereits Ende der 1920er Jahre stattgefunden; 48 Vgl. Merki, Tabakpolitik, S. 20. 49 Vgl. ebd.; Petrick-Felber, Genuss, S. 485 – 495. 50 Zum Zit. vgl. Proctor, Campaign, S. 1451. Zur These generell vgl. ebd., S. 1450 – 1453; Proctor, Hitler, S. 69 – 74; Proctor, War, S. 173 – 247; ders., Hitler, das »Rassengift« – und die Spätfolgen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 5. 2010. 51 Vgl. Morabia, Cancer; Zimmermann / Egger / Hossfeld, Research. 52 Vgl. Proctor, Hitler, S. 71; ders., War, S. 183 f.; Merki, Tabakpolitik, S. 22 f. 53 Zum Zit. vgl. Proctor, Hitler, S. 71. Vgl. insgesamt ebs. ders., War, S. 191 – 198. 54 Vgl. Müller, Tabakmissbrauch. Die Studie war insgesamt 29 Seiten lang. NIKOTIN

277

1931 publiziert.55 Müllers Arbeit, die keinen Bezug auf die amerikanische Studie nahm, wurde 1940 vom NS -Regime als nationalsozialistisches Novum deklariert und lange Zeit auch als solches angesehen.56 Vorgeblich durch Müller war erstmals vom »Dritten Reich« das Lungenkarzinom als Folge des Rauchens benannt worden.57 1943 schließlich versuchten sich der Pathologe Dietrich Eberhard Schairer und sein Doktorand Erich Schöninger an einer vom NS -Regime propagandistisch inszenierten Bestätigung der drei Jahre zuvor von Müller präsentierten Befunde. Ebenfalls durch die Befragung von Lungenkrebspatienten und ihrer Angehörigen identifizierte die acht Seiten umfassende SchairerSchöninger-Studie verschiedene (bekannte) Risikofaktoren und erklärte das Rauchen zur alleinigen Ursache der untersuchten Tumorbildungen.58 Die Arbeit von Schairer und Schöninger galt fortan als Pionierleistung und nationalsozialistisch geförderte Spitzenforschung, die den Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs luzide darlegte.59 Wie Alfredo Morabia 2013 nachwies, war die Untersuchung von Schairer und Schöninger jedoch von eklatanten methodischen Mängeln und Ergebnisfälschungen geprägt. Sie kam im Grunde nicht über bereits Jahre zuvor außerhalb Deutschlands publizierte Ergebnisse hinaus.60 Nicht zuletzt beruhte die Mitarbeit der »Probanden« der Studie nicht auf Freiwilligkeit. Vielmehr hatten sich Schairer und Schöninger mutmaßlich mithilfe der SS Zugang zu den persönlichen Angaben von Patienten und ihrer Angehörigen verschafft.61 Ein Ausweis substanzieller NS -Forschung zum Thema der Tabakgefahr war auch die Arbeit von Schairer und Schöninger, wie von Proctor erklärt, mithin nicht.62 Ähnlich verhält es sich auch mit Blick auf das Institut, in dessen Auftrag Schairer und Schöninger tätig geworden waren: Das 1941 in Jena etablierte »Wissenschaftliche Institut zur Erforschung der Tabakgefahr«. Jene Einrichtung, geleitet von einem überzeugten Anhänger der rassenhygienischen Lehre des Nationalsozialismus – dem 1898 geborenen SS -Angehörigen und Arzt Karl Astel –,63 war weder eine eigenständige Institution noch seiner Struktur nach imstande, substanzielle Forschungsergebnisse hervor55 56 57 58 59 60 61 62 63

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Vgl. Hoffman, Cancer. Vgl. Morabia, Evaluation, S. 208 – 212. Vgl. Proctor, Campaign, S. 1450 f.; ders., Hitler, S. 71; ders., War, S. 192 f. Vgl. Schairer / Schöninger, Lungenkrebs, S. 261 – 269. Vgl. Proctor, War, S. 192 – 198; Schairer, Memoriam. Vgl. Morabia, Evaluation, S. 208 – 212. Vgl. ebd., S. 208 f. Zur Aussage Proctors vgl. ders., Hitler, S. 71 f.; ders., War, S. 206 – 217. Zur Person vgl. u. a. Etzemüller, Suche, S. 170; Merki, Tabakpolitik, S. 19. Vgl. ebs. Astel, Rassekurs; Astel / Weber, Fortpflanzung. ,*93)-*.8541.8.057,93,*393)'7¦(-*

zubringen.64 Falsifiziert ist damit zugleich die von Proctor gemutmaßte herausragende Bedeutung des »Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahr«.65 Die Einrichtung war lediglich eine ideelle Konstruktion, ohne eigenständige strukturelle Verankerung an der Universität Jena. Vergleichbar mit einem Vereinszusammenschluss Gleichgesinnter, verfügte es über keinen eigenen Etat und keine eigenen Mitarbeiter. Vielmehr verrichteten drei Forscher der Universität aus anderen Fachgebieten, der Chirurgie, der Pathologie oder der Epidemiologie, quasi ehrenamtlich und neben ihrer eigentlichen Arbeit unregelmäßig Tätigkeiten für das Institut, das de facto nur aus einer Person bestand: Karl Astel. An Mitteln standen ihm wenige Tausend Reichsmark jährlich zur Verfügung.66 Nach außen prominent von Astel vertreten, der 1934 auf Veranlassung des nationalsozialistischen thüringischen »Gauleiters« Fritz Saukel ohne Berufungsverfahren oder Habilitation an der medizinischen Fakultät in Jena ordentlicher Professor geworden war, existierte das »Wissenschaftliche Institut zur Erforschung der Tabakgefahr« faktisch nur auf dem Papier und entfaltete keinerlei wissenschaftliche Relevanz.67 Robert Proctors Thesen von einer substanziellen NS -Tabakforschung können mithin als widerlegt betrachtet werden. Nichtsdestotrotz bleibt Proctors Plädoyer zugunsten eines stärkeren Differenzierens richtig: Die rassistisch-antisemitische Gesundheitspolitik der NS -Diktatur solle – so Proctor – nuancierter betrachtet werden und sei zugleich nicht manichäisch in »gut« und »böse« zu unterscheiden, das heißt: Zurückdrängung und Bekämpfung des Tabakkonsums auf der einen, inhumane medizinische Experimente, Zwangssterilisation und Krankenmord auf der anderen Seite. Charakteristisch sei vielmehr eine Komplexität, die Funktionieren und Wirken der NS -Diktatur auszeichne.68 Die politisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung des Nationalsozialismus mit dem Tabak konturiert die Kategorie intentionaler Handlungsautonomie innerhalb eines Weltanschauungssystems, das von Menschen adaptiert werden konnte, obwohl ihr Habitus sie zu ihrem eigenen Feind machte und sie sich mit ihrem alltäglichen Handeln über NS -Dogmen hinwegsetzten. Zweifellos zeigt die Tabakpolitik des Nationalsozialismus damit Komplexitäten auf, verdeutlicht Grenzen von Ideologie, Herrschaft und Macht und hilft, den Alltag der totalitären NS -Diktatur besser zu verstehen. 64 65 66 67 68

Vgl. Zimmermann / Egger / Hossfeld, Research, S. 35 – 37. Vgl. Proctor, Hitler, S. 71 f.; ders., War, S. 206 – 217. Vgl. Zimmermann / Egger / Hossfeld, Research, S. 35 – 37. Vgl. ebd. Vgl. Proctor, Hitler, S. 72 – 74.

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Wichtig sind Proctors Studien zum Thema Tabak während des »Dritten Reiches« aber dennoch: Stichhaltig verweist er auf sehr lange nachwirkende Konsequenzen des Umgangs des NS -Regimes mit dem Rauchen. Die Folgen der Anti-Raucherkampagnen des nationalsozialistischen Regimes blieben weit über das Kriegsende 1945 hinaus relevant und behinderten die Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren des Tabakkonsums in den folgenden Dekaden, so Proctor.69 Mit Blick auf die bundesdeutsche Entwicklung nachvollziehen lässt sich dieser Befund im Wesentlichen an zwei Elementen: einerseits der vielfach erfolgreich betriebenen Strategie von Tabakunternehmen, die Wissenschaft zu instrumentalisieren, um Tabakgegner zu delegitimieren; und andererseits die ebenfalls von der Industrie generierte Projektion, die Raucher in die Gruppe der NS -Opfer einreihte und den Akt des Rauchens ab 1945 zu einem Inbegriff von Freiheit und Antitotalitarismus stilisierte. Beide Aspekte hatten dieselben historischen Wurzeln: Die von Tabakunternehmen zwischen 1933 und 1945 gewonnenen Erfahrungswerte im Umgang mit einer ihr völlig feindselig und ablehnend gegenüberstehenden Exekutive des NS -Regimes in Deutschland.70 Die deutsche Tabakindustrie war nach 1933 gezwungen, neue Legitimationsstrategien zu entwickeln. Ein Bestandteil hiervon war ihre selbstbetriebene Wissenschaft gewesen, die nachzuweisen suchte, dass keineswegs eindeutige medizinische Belege für die Gesundheitsgefahren des Rauchens existierten. Man wollte auf diese Weise schon vor 1945 die Validität der Argumente von Tabakgegnern diskreditieren und stellte sie zugleich als unseriöse »Fanatiker« dar, die blindwütig, rigoros und unbegründet gegen ein mit »Genuss« vermarktetes Lebensgefühl vorgingen.71 Zudem versuchten deutsche Zigarettenunternehmen vor 1945 mit eigener substanziell betriebener Forschung das Produkt »gesunder Tabak« zu entwickeln und zu vermarkten. Wichtigste Maßnahme war diesbezüglich die Präsentation der nikotinfreien Zigarette, obwohl seit Anfang der 1930er Jahre bekannt war, dass nicht das beim Rauchen inhalierte Nikotin, sondern Teerderivate krebserzeugend wirkten, neben vielen anderen Zusatzstoffen, die trotz entwickelter Filter nicht absorbiert werden konnten.72 69 Vgl. ebd., S. 73 f.; ders., War, S. 270 f. 70 Vgl. ebd., S. 234 – 242, 264 – 277. 71 Vgl. ebd., S. 234 – 242; ders., Hitler, das »Rassengift« – und die Spätfolgen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 5. 2010. 72 Vgl. Proctor, War, S. 191 f. 280

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Die wissenschaftliche Delegitimierung von Tabakgegnern und ihre Brandmarkung als »Fanatiker« war etablierte Praxis, als nach Kriegsende 1945 Tabak und amerikanische Zigaretten einen völlig neuen Status erlangten. Die unmittelbare Nachkriegszeit und die frühen 1950er Jahre führten zu einer Enthemmung bezüglich des Konsums von Zigaretten. Der Anteil der Raucher stieg massiv, vor allem unter Jugendlichen und mit Blick auf die Raucherinnen. Eine staatlicherseits forcierte Kampagne zur Aufklärung über die Gesundheitsgefahren des Rauchens fehlte, wohingegen sich die vor 1945 entwickelten Strategien von Unternehmen, Tabak als ein risikoarmes Genussmittel und seine Gegner als fanatische Demagogen darzustellen, als beständig erwiesen.73 Die den Nichtrauchern in den 1950er Jahren seitens der Tabakindustrie attestierte radikale Intoleranz und ihr vermeintlicher ideologischer Eifer fungierten als Verbindungsglied zum wichtigsten Element der Vermarktung des Rauchens in den 1950er und 1960er Jahren: dem Motiv der Freiheit und des Antitotalitarismus. Auch die in der Bundesrepublik tätigen Tabakunternehmen stellten Rauchen seinerzeit als ein Lebensgefühl dar, das mit einem freien, unkonventionellen Geist, Individualismus, Liberalismus und kultureller und politischer Offenheit einherging. Als Negativfolie diente das »Dritte Reich« und seine versuchte Dämonisierung des Rauchens. Als ehemaliger prominenter »Feind« Adolf Hitlers stilisierte sich die Tabakindustrie ab 1945 zum Opfer und schuf das Konzept vom Rauchen als Antifaschismus.74 Dass der Raucher seit jeher in der Auseinandersetzung von Freiheit und Diktatur auf der richtigen Seite gestanden hatte, war eine noch bis Mitte der 1990er Jahre spürbare Legende: »Wie weit werden Sie gehen« bzw. »Wo werden sie die Grenze ziehen?«, fragte einer der größten amerikanischen Tabakkonzerne im Juni 1995 im Magazin »Newsweek« in einer ganzseitigen Anzeige rhetorisch und bildete unter diesem Satz einen Kartenausschnitt Amsterdams ab. Darin markiert wurde ein sogenanntes Rauchergebiet, das in seinen stilisierten Grenzen mit dem ehemaligen jüdischen Ghetto der Stadt während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg identisch war.75 Die jüdische Bevölkerung Amsterdams zählte zu der von Deutschen am brutalsten verfolgten, massenhaft deportierten und schließlich in Vernichtungslagern im besetzten Osten Europas ermordeten Personengruppe

73 Vgl. ebd., S. 270 – 277; ders., Hitler, das »Rassengift« – und die Spätfolgen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 5. 2010. 74 Vgl. ebd.; Proctor, War, S. 264 – 277. 75 Vgl. ebd., S. 272. NIKOTIN

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Abb. 64 : Werbeanzeige der »Philip Morris Europe S. A.« im Magazin »Newsweek«, 3. 7. 1995.

während der Schoah.76 Der Subtext der Werbeanzeige war eindeutig: Mit »sie« waren 1995 die Tabakgegner, mit dem imaginären »wir« die Raucher gemeint; alles projiziert auf ein Menschheitsverbrechen. Die suggestiv präsentierte Analogie lautete: Tabakgegner sind »Nazis« und Raucher »Juden«. Oder anders ausgedrückt: Zigarettenkonsumenten wurden in Europa Mitte der 1990er Jahre angeblich von Fanatikern aus nichtigem Grund und basierend auf bloßer Ideologie verfolgt und ihnen drohte die Gettoisierung – eine veritable ahistorische Verharmlosung und Entwürdigung der tatsächlichen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in Amsterdam vor 1945. Das Beispiel zeigt ausgewöhnlich deutlich, wie stark

76 Vgl. insgesamt Schrabauer, NS -Verfolgung; Happe, Hoffnungen; Colijn, Netherlands; Boom, Nederlanders; Jong, Jodenvervolging. Vgl. ebs. Happe / Mayer / Peers, Verfolgung, S. 127 – 400. 282

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und wie selbstverständlich die Tabakindustrie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die »Nazi-Karte« spielte.77 Mit »Nicotine-Nazi« war in den Vereinigten Staaten bereits in den 1950er Jahren ein eigenes Wort für angeblich fanatische Gegner des Tabakgenusses entstanden, das die für die Erinnerungskultur an die Schoah gefährliche Melange aus Geschichtsrevisionismus und manichäisch-ahistorischer Täter-Opfer-Umkehr ausdrückte: Wie vor 1945 im nationalsozialistischen Deutschland war die »Freiheit« der Raucher von »Fanatikern« bedroht, die ihre rauchenden Opfer rücksichtslos und blindwütig stigmatisierten, diskriminierten und bekämpften. Im Akt des Rauchens setzte sich folglich nach 1945 der Widerstreit von »Freiheit« und »Tyrannei« fort, standen sich Gut und Böse gegenüber, verstanden als eine instrumentalisierte Negativfolie: Tabakgegner waren »Nazis« und die Raucher ihre (jüdischen) Opfer.78 Diese nach 1945 vonseiten der Tabakunternehmen versuchte Kaperung des Freiheitsbegriffes entwertete nicht nur den tatsächlichen Widerstand gegen das »Dritte Reich« und Adolf Hitler, sondern basierte auch auf der nicht den historischen Fakten gerecht werdenden Annahme, das nationalsozialistische Deutschland habe eine außergewöhnlich rigide sanktionierende Anti-Raucherpolitik betrieben. Nichtsdestotrotz blieb die nach 1945 generierte Zuschreibung von Rauchen als einem Akt der Freiheit und Selbstbestimmung das dominierende Motiv für den Umgang mit dem Tabak – auch in der frühen Bundesrepublik.79 Eine allmähliche Trendumkehr im Kampf für eine wissenschaftlich fundierte Kampagne zur Aufklärung der westdeutschen Bevölkerung über die Gefahren des Rauchens zeichnete sich erst zu Beginn der 1960er Jahre ab. Zur damaligen Zeit wurden in den Vereinigten Staaten zwei Studien über die Bedeutung des Tabakkonsums für Lungenkrebs veröffentlicht, die eine Wende markierten, obwohl praktisch keines der veröffentlichten Ergebnisse neu war. Entscheidend war vielmehr das vonseiten der amerikanischen Regierung unter Präsident John F. Kennedy dem Tabakproblem neu entgegengebrachte Interesse – angesichts dramatisch gestiegener negativer gesundheitlicher Folgen des Rauchens im Land.80 Auch in der Bundesrepublik setzte sich ab Mitte der 1960er Jahre allmählich der Trend

77 Vgl. Proctor, War, S. 270 – 277; ders., Hitler, das »Rassengift« – und die Spätfolgen, in: Süddeutsche Zeitung, 19. 5. 2010. 78 Vgl. Schneider / Glantz, Analysis. Vgl. ebs. Proctor, War, S. 270 – 277. 79 Vgl. Sammer, Menschen, S. 364 – 373. 80 Vgl. Mukherjee, König, S. 333 – 337; Sammer, Menschen, S. 364 f. NIKOTIN

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zur »Entmusealisieung der Gesundheitsaufklärung« durch, mitsamt eines neuen Zuganges zur Haltung gegenüber dem Tabakkonsum.81 Das 1961 etablierte Bundesgesundheitsministerium war anfänglich – wie sein institutioneller Vorläufer, die Gesundheitsabteilung im Bundesinnenministerium – weder inspirierender Antreiber noch ein Vorkämpfer in der Auseinandersetzung mit den Gesundheitsschäden des Rauchens. Es galt zunächst das Gegenteil: Das BMGes zeigte in seiner Herangehensweise an das Tabakproblem größere Affinität für das nach 1945 errichtete Konstrukt von der »Freiheit« des Rauchers und die Stigmatisierung von Tabakgegnern als »Fanatiker«, als dass es vorbehaltlos und umfassend über hinlänglich bekannte gesundheitliche Gefahren des Rauchens aufklärte. Bezeichnend war etwa, wie historisch unsensibel und in Teilen wider die bekannten wissenschaftlichen Fakten verharmlosend die Abteilung für Humanmedizin des BMGes unter Leitung Josef Stralaus 1963 die Lehrer und »obersten Bundesbehörden« der Bundesrepublik über die Gefahren des Rauchens informieren ließ. In einer »auf meine [Stralaus] Veranlassung hin und mit finanzieller Förderung meines Hauses« konzipierten Anti-Raucherbroschüre des Deutschen Gesundheitsmuseums Köln, die 1963 mit einer Auflage von 300.000 Stück an alle Schulen der Bundesrepublik verteilt werden sollte, um über »das Problem des Rauchens« zu informieren, hieß es auf Seite eins lapidar, Tabak sei ein »Genußmittel«, das »im Übermaß genossen, ohne Zweifel gewisse Risiken« für die Gesundheit mit sich bringe.82 Die Lehrerschaft, an die diese von Stralau initiierte und von ihm mitkonzipierte Broschüre adressiert war und die eigentlich Schüler davon überzeugen sollte, nicht zu rauchen, erfuhr mit diesem Satz amtlich, dass die Gefahren des Rauchens vermeintlich weder genau bestimmbar noch sonderlich groß waren. Eine solche, die Gefahren des Rauchens relativierende Stellungnahme war im Jahr 1963 doppelt problematisch: Zum einen hatten im Vorjahr britische und auch amerikanische Studien Zigarettenrauchen »als Agens der Entstehung von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen« eindeutig identifiziert.83 Zum anderen war die Gefährlichkeit des Tabakkonsums – vor allem für Jugendliche – in Deutschland nicht nur seit spätestens Ende der 1920er Jahre hinlänglich beschrieben worden, sondern auch das BMGes selbst war intern, anders als es Stralaus Formulierung suggerierte, zum Ergebnis

81 Vgl. ebd., S. 364 – 373. 82 Vgl. BA rch, B 136 /5276, Deutsches Gesundheits-Museum Köln-Merheim, Zentralinstitut für Gesundheitserziehung: Zum Problem des Rauchens. Köln 1963. Zum Zit. Stralaus vgl. BA rch, B 136 /5276, Schreiben des BMGes an alle obersten Bundesbehörden, 2. 8. 1963. 83 Vgl. Mukherjee, König, S. 333 – 337; Sammer, Menschen, S. 364. 284

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gelangt, dass die Gesundheitsschäden des Rauchens Anfang der 1960er Jahre immer katastrophalere Ausmaße annahmen.84 Neben der verharmlosenden Stellungnahme von den »gewissen« Risiken des Rauchens ließ die Broschüre aber auch eine Sensibilität im Hinblick auf die antisemitische NS -Tabakpropaganda vermissen. Josef Stralaus entworfenes Anti-Raucherheft präsentierte den Schülern der Bundesrepublik 1963 den vor 1945 hinlänglich bekannten »Tabak-Teufel« – mitsamt einer jüdisch-antisemitisch stilisierten »Haken-Nase«.85 Das Bundesgesundheitsministerium bewegte sich mit einer solchen Stilisierung klar abseits des Weges eines historisch akzeptablen Umgangs mit dem »Dritten Reich« und seiner rassistisch-antisemitischen AntiTabakpropaganda. Auch wenn der »Tabak-Teufel« mit »Haken-Nase« keine Erfindung des Nationalsozialismus war,86 desavouierte jede Verwendung dieses Symbols der nach 1933 obsessiv betriebenen antisemitischen Propaganda denjenigen, der es Anfang der 1960er Jahre noch immer glaubte als Ausweis seriöser Symbolik verwenden zu können. Diese unkritische Übernahme eines Elements der NS -Gesundheitspolitik durch Josef Stralau muss als ein weiterer Beleg für dessen nicht distanzierten Umgang mit dem Nationalsozialismus verstanden werden.87 Unter inhaltlich-didaktischem Blickwinkel reihte sich Stralaus Aufklärungsbroschüre durchaus symptomatisch in die Riege der bis Anfang der 1970er Jahre diesbezüglich konzipierten Arbeiten ein. Die Gesundheitsgefahren des Rauchens (vor allem die für Jugendliche) wurden kaum durch medizinische Fakten und klare Instruktionen aufgezeigt. Stattdessen beschränkten sich Kampagnen zum »Problem des Rauchens« auf historische Rekurse, etwa zum Thema »Wie der Tabak nach Deutschland kam«.88 Vernachlässigt wurde demgegenüber zumeist noch in den 1960er Jahren eine psychologische Risikoprävention, die individuelle Motive des Tabakkonsums in den Mittelpunkt rückte, analysierte und in der Aufklärungsarbeit gezielt adressierte.89 Wie stark die Anti-Tabak-Politik des BMGes in den 1960er Jahren zugleich in zwei vonseiten der Tabakindustrie – und zwar vor wie nach 1945 – konzipierten geschichtsrevisionistischen Deutungen verharrte, nämlich der von der »Freiheit« des Rauchers und der von den »fanatischen« Tabakgeg84 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Memorandum des BMGes über die Grundzüge der Gesundheitspolitik o. D., ca. Juli 1963; BA rch, B 142 /1994, Manuskript des Bundesausschusses für gesundheitliche Volksbelehrung o. D., ca. März 1963. 85 Vgl. die Broschüre in: BA rch, B 136 /5276. 86 Vgl. Proctor, War, S. 174 – 179. 87 Vgl. u.a. ebs. die Darstellung in Kap. III.1. u. III.2. in diesem Bd. 88 Vgl. Sammer, Menschen, S. 422. 89 Vgl. ebd., S. 420 – 426, Zit. S. 422. Vgl. insgesamt ebs. Wimmer, Rauchen; Elliot, Youth. NIKOTIN

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Abb. 65 : Stilisierung des »Tabak-Teufels« in einer vonseiten des BMG es erarbeiteten Anti-Raucherbroschüre 1963.

nern, veranschaulicht der Umgang des Bundesgesundheitsministeriums mit einem in der Bundesrepublik entstandenen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses von Professoren der Medizin und praktizierenden wie pensionierten Ärzten: dem »Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit«. Wie der Arbeitskreis gegenüber BMGes-Staatssekretär Ludwig von Manger-Koenig ausführlich darlegte, war die Organisation das Ergebnis einer aus Sicht der Mediziner nicht länger tragbaren Misere: »Es ist eine Katastrophe, wie sorglos unsere Jugend zu Zigarettensüchtigen geworden ist«, so der Vorsitzende des Arbeitskreises im Juli 1969.90 Die Gesundheitsschäden des Rauchens – die im Übrigen auch das BMGes seit Anfang

90 Vgl. BA rch, B 189 /36287, Schreiben des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit an das BMGes, 11. 7. 1969. 286

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Abb. 66 : Bundespräsident Gustav Heinemann (rechts mit Zigarette) während eines Gespräches mit dem irischen Außenminister Patrick Hillery (2. v. l.), Bonn, 4. 2. 1970.

der 1960er Jahre in internen Berichten als gravierend bewertete –91 hätten Ende der 1960er Jahre dramatische Ausmaße angenommen. Deshalb, so der Zusammenschluss von Ärzten, fordere man das Ministerium zum Handeln auf.92 Gerade die Politik müsse, so der Arbeitskreis gegenüber von MangerKoenig weiter, Verantwortung übernehmen und prominente Politiker sollten Vorbilder sein. Zu lange schon würden die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens von politischen Entscheidern der Bundesrepublik ignoriert und in der Öffentlichkeit demonstrativ ein sorgloser Umgang mit Zigaretten zur Schau gestellt. Erreicht habe der Arbeitskreis diesbezüglich immerhin die Zusage des soeben ins Amt gelangten neuen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, nicht mehr öffentlich zu rauchen.93 Damit beschrieben die Mediziner gegenüber dem BMGes 1969 einen durchaus zutreffenden Befund, verdeutlicht etwa an Ludwig Erhard, dem »Vater« des bundesdeutschen Wirtschaftswunders und zwischen Herbst 91 Vgl. BA rch, B 136 /5251, Memorandum des BMGes über die Grundzüge der Gesundheitspolitik o. D., ca. Juli 1963; BA rch, B 142 /1994, Manuskript des Bundesausschusses für gesundheitliche Volksbelehrung o. D., ca. März 1963. 92 Vgl. BA rch, B 189 /36287, Schreiben des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit an das BMGes, 11. 7. 1969. 93 Vgl. ebd. NIKOTIN

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Abb. 67 : Ludwig Erhard, Bundesminister für Wirtschaft, raucht Zigarre und liest in seinem Buch »Wohlstand für Alle«, 28. 1. 1957.

1963 und Ende 1966 amtierender zweiter Bundeskanzler der Republik. Erhards Markenzeichen waren die Zigarre und das Rauchen, mit einem gleichsam symbolhaften Ausdruck für Wohlstand und ein liberal-freiheitliches Lebensgefühl. Weitere prominente Politiker aller Parteien zählten zeitgenössisch zu den bekennenden und ihre Gewohnheit öffentlich zelebrierenden Zigarettenrauchern, etwa Herbert Wehner, Willy Brandt, Franz Josef Strauß oder Helmut Schmidt. Auf die – sowohl vom medizinischen wie auch politischen Standpunkt des Jahres 1969 betrachtet – seriöse Kritik des Arbeitskreises Rauchen und Tabak reagierte das Bundesgesundheitsministerin 1969 außerordentlich scharf und abweisend. In internen Vermerken der Abteilung I wurde der Arbeitskreis zunächst zu einer gefährlichen, antidemokratischen Organisation erklärt. Auf Grundlage »eingeholter Erkundigungen« könne, so die Abteilung für Humanmedizin des BMGes, der Arbeitskreis nur als ein Verbund von aus »Fanatismus« heraus Agierender charakterisiert werden, die ihre »Gegner« mit »polemischen Angriffen und unsachlichen Formulierungen« bekämpften und eine »völlige Abstinenz« vom Tabak propagierten, ohne jede wis288

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Abb. 68 : Bundeskanzler Helmut Schmidt während des Bundesparteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Dortmund lesend und rauchend, 19. 6. 1976.

senschaftliche Grundlage für ihre Behauptungen vorweisen zu können.94 Weiter hieß es, einzelne Personen des Zusammenschlusses stünden mit neonazistischen Parteien in Kontakt bzw. seien für nationalsozialistische Parolen affin. Insgesamt sei der Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit, so das Urteil des BMGes 1969, der »APO« zuzurechnen.95 In der offiziellen Antwort des BMGes auf den vom Arbeitskreis Mitte Juli 1969 Staatssekretär von Manger-Koenig übermittelten Brief verfocht die humanmedizinische Abteilung des Hauses im Dezember 1969 dezidiert die These von der »Freiheit des Rauchers«: In »demokratischen Staaten« müsse es grundsätzlich »dem einzelnen überlassen bleiben, wie er sich persönlich entscheidet«, so der Wortlaut des Schreibens, das in der Abteilung I von einem Referenten gefertigt, von Stralau gebilligt und versandt wurde, ohne eine in den Akten dokumentierte Vorlage bei Ministerin Käte Strobel.96 Ohne eine ausreichende Würdigung der medizinischen Gesundheitsgefahren – oder eine Beachtung der auch in den Vereinigten Staaten zwischenzeitlich rigider formulierten Anti-Raucherpolitik –97 94 Vgl. BA rch, B 189 /36287, Vermerk, 22. 6. 1969. 95 Vgl. ebd.; BA rch, B 189 /36287, Vermerk, 19. 12. 1969. 96 Vgl. BA rch, B 189 /36287, Schreiben des BMGes an den Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit, 19. 12. 1969. 97 Vgl. Mukherjee, König, S. 333 – 337, 355 – 365. NIKOTIN

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hieß es im BMGes-Schreiben weiter: Zwar sei es zu begrüßen, wenn sich private Zusammenschlüsse zur Umsetzung eines Zieles bildeten, allein ihr Zweck sei jedoch entscheidend. »Dieser Zweck wird […] nicht erreicht, wenn die private Initiative veralteten Vorstellungen folgt oder von falschen Voraussetzungen ausgeht.«98 Geschlossen wurde der Brief des Bundesgesundheitsministeriums mit dem Plädoyer, dass in einer Demokratie der Staat den Einzelnen nicht bevormunden dürfe. Und wenn jemand Rauchen wolle, so sei dies sein gutes Recht.99 Diese Reaktionen des BMGes – einerseits in internen Vermerken festgehalten und andererseits im erwähnten Antwortschreiben artikuliert – sind in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Der zumindest, so in den Akten durch Kürzel ersichtliche, innerhalb der Abteilung Humanmedizin des Bundesgesundheitsministeriums abgestimmte und Ende des Jahres 1969 verfasste Antwortbrief an den Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit erklärte gegenüber einem Zusammenschluss von Medizinern zur Bekämpfung des Rauchens unter Jugendlichen, er hänge »veralteten Vorstellungen« an, die auf »falschen Voraussetzungen« beruhten; überdies sei der Arbeitskreis aus Medizinprofessoren und Klinikern »nicht ausreichend« über medizinische Fakten zu den Gefahren des Rauchens informiert.100 Dabei verhielt es sich gegenteilig: Denn der vom Ministerium vertretene Absolutheitsgrundsatz einer »Freiheit« des Rauchers stand im Widerspruch zum damaligen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand. Während auch in den Vereinigten Staaten in den 1960er Jahren die Prämisse der absoluten individuellen Entscheidungshoheit zum Rauchen durch die Forschung über die Tabakgefahren zurückgedrängt worden war,101 negierte das Antwortschreiben des BMGes noch 1969 das wissenschaftlich legitimierte Handlungsrecht des Staates zum Zweck der Nikotinprävention. Hinzu kam: Entgegen einer in den Akten herauszulesenden sachlichen Darstellung ihrer Anliegen wurde die Vereinigung von Ärzten zur Bekämpfung des exzessiven Tabakkonsums von Jugendlichen durch die Abteilung I des BMGes 1969 intern und ohne Vorlage von Beweisen zu einer Gruppe fanatischer Getriebener und antiwissenschaftlicher Ideologen stilisiert, die Kontakte zu bundesdeutschen Neonazisten unterhielten bzw. der »Außerparlamentarischen Opposition« (APO) zugerechnet wurden. Letzteres in Anspielung an die zeitgenössische Entstehung einer ursprünglich pazifis-

98 Vgl. BA rch, B 189 /36287, Schreiben des BMGes an den Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit, 19. 12. 1969. 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Mukherjee, König, S. 333 – 337, 355 – 365. 290

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tisch-ökologisch ausgerichteten Bewegung der bundesrepublikanischen Bevölkerung, die mehr Mitbestimmung und Partizipation einforderte.102 Sowohl die zugeschriebene Nähe zu neonazistischen Gruppen als auch die despektierlich gebrauchte Begrifflichkeit von der »APO« diskreditierten aus Sicht der Abteilung I des BMGes 1969 Anliegen und Ziele des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit maximal und ließen die weitere Befassung des Bundesgesundheitsministeriums mit der Organisation praktisch unstatthaft erscheinen. In einer im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung von »1968« entstandenen Gruppierung zur Tabakprävention erblickte die Abteilung Josef Stralaus 1969 eine Gefahr und keine Chance. Die als Anmaßung gegenüber der politischen Linie des BMGes empfundene Kritik des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit – die die Abteilung I des Ministeriums 1969 mit der Zuschreibung von der »APO« rhetorisch scharf artikulierte – stand zugleich nicht exemplarisch für ein »1968« rein negativ bewertendes Amtsverständnis des Bundesgesundheitsministeriums. Erst das Votum von Ministerin Käte Strobel hatte dazu geführt, dass das BMGes mit einer offiziellen Antwort auf die Stellungnahme des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit reagierte. Die Ministerin forderte nach mehrmaligen Drängen des Vorsitzenden des Arbeitskreises – adressiert an das Ministerbüro –, »daß dafür gesorgt wird, daß der Mann baldig Antwort bekommt«.103 Nach Monaten der Verzögerung ging es auf diese Intervention zurück, dass eine Replik schriftlich verfasst wurde. Auch wenn Strobels Reaktion zu einer von der Abteilung I eigentlich nicht erwogenen Auseinandersetzung mit dem Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit zwang, erwirkte die Entscheidung der Ministerin dennoch nicht, dass ein konstruktiver inhaltlicher Dialog einsetzte. 500 Ärzte unterzeichneten im August 1970 eine Petition und baten das Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit vergeblich darum, Anliegen und Ziele des Arbeitskreises, zwischenzeitlich im Rahmen eines Forschungsverbundes »Präventive Onkologie« in Heidelberg etabliert, zu unterstützen.104 Bis Mitte der 1970er Jahre blieb die Haltung des Bundesgesundheitsministeriums gegenüber der Gruppe unverändert ablehnend. In internen Unterlagen und bei Auskünften gegenüber anderen Stellen der Bundesexekutive, die vom Arbeitskreis kontaktiert worden waren und nun das Gesundheitsministerium um Auskunft über diese Organisation

102 Zur APO vgl. u. a. Mecking, Aufbruch; Richter, Opposition; Gassert, Wahrnehmungsrevolution. 103 Zum handschriftlichen Vermerk Strobels vgl. BA rch, B 189 /36287, Schreiben des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit an das BMGes, 28. 11. 1969. 104 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 189 /36287. NIKOTIN

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baten, wurde die Erzählung von den »Fanatikern« der »AOP« mit neonazistischem Einschlag tradiert.105 Diese Sichtweise des Bundesgesundheitsministeriums blockierte noch Anfang der 1970er Jahre die Suche nach innovativen und konstruktiven Lösungen in der Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen Folgen des Tabakkonsums. Anstatt Allianzen mit gesellschaftlichen Initiativen zu fördern, war das Ministerium gefangen im Argumentationsmuster von der »Freiheit des Rauchers« als einem Ausdruck von Liberalismus. Rauchen wurde als ein Freiheitsrecht angesehen, das nur von totalitären Unrechtsregimen beschnitten wurde und das daher in der parlamentarischen Demokratie sakrosankt war. Ad absurdum führte eine solche Argumentation praktisch jede Verantwortung des republikanisch-demokratischen Staates für eine wissenschaftsbasierte Aufklärungsarbeit über die Gesundheitsschäden des Rauchens. Fiskalisch-politische regulatorische Eingriffe zur Senkung des Tabakkonsums waren gemäß dieses Selbstverständnisses ebenfalls weder richtig noch angemessen. Die Replik des Vorsitzenden des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit auf diese Position des Bundesgesundheitsressorts ließ im Januar 1970 nichts an Deutlichkeit vermissen: »Man kann nicht das Recht auf Gesundheit in der Verfassung verankern und gleichzeitig es jedem freistellen, bewußt die eigene Gesundheit zu zerstören. Angeblich wissen alle, daß Rauchen schädlich ist, und doch wird geraucht – mehr denn je. […] Es herrschen absurde Zustände, nützen Alkohol und Nikotin einer Zerstörung der Gesundheit in ›demokratischer Freiheit‹.«106

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Praktisch seit Gründung des Bundesgesundheitsministeriums 1961 bestand dessen gesundheitspräventive Strategie gegenüber den Tabakunternehmen im Konzept der freiwilligen Selbstbeschränkung: Firmen sollten in ihrer Darstellung des Produktes Tabak eigeninitiativ und ohne staatliche Regulation Grenzen beachten, um vor allem Jugendliche besser vor einem frühen Konsum von Zigaretten zu schützen. Daher sollte in Radio- oder Fernsehwerbespots sowie bei Plakatreklamen darauf verzichtet werden, den »risikoarmen« Genuss von Tabak als ein die Jugend in seiner Darstellung explizit ansprechendes positives Lebensgefühl von Freiheit zu präsentie105 Vgl. die Unterlagen in: ebd. 106 Vgl. ebd., Schreiben des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit an das BMGes, 4. 1. 1970 (Hervorhebungen im Original). 292

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Abb. 69 : Jugendliche rauchen und hören Radio, München, Oktober 1963.

ren.107 Zugleich war jenes Konzept des BMGes gegenüber der Industrie – wie Christian Sammer betont – stets auch »von der Hoffnung« getragen, »politisierbare Konfliktlinien« nicht auf brechen zulassen: »konkret die mit dem Finanzministerium, das die steuerlichen Einnahmen durch den Rückgang des Zigarettenabsatzes bedroht sah«.108 Tatsächlich blieb ein latenter Grundkonflikt zwischen Bundesfinanzministerium und BMG es ein bis in die 1970er Jahre fortwährendes Element der bundesdeutschen Raucherprävention.109 Zugleich wurde der Kurs einer gegenüber den Tabakunternehmen restriktiveren Politik nicht durch eigene Initiativen des Bundesgesundheitsministeriums vorgegeben. Entscheidend für eine verstärkte Anti-Raucherpolitik gegenüber der Tabakreklame waren vielmehr drei äußere Faktoren: Ein gestiegener 107 Vgl. Sammer, Menschen, S. 402 – 409, 414 – 425. 108 Vgl. ebd., S. 409. 109 Vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 106 /116088; BA rch, B 106 /116087; BA rch, B 142 /3634. NIKOTIN

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öffentlich-parlamentarischer Handlungsdruck, publizierte wissenschaftliche Erkenntnisse über die Gefahren des Rauchens und eine stärker sanktionierende Vorgehensweise in anderen Ländern, vor allem den USA . Welchen Einfluss das Zusammenspiel dieser drei Faktoren – öffentliche Meinung, Wissenschaft und Vorbildfunktion Vereinigte Staaten – auf die vom BMGes nur zögerlich vorangetriebene stärker sanktionierende »Selbstbeschränkung« der Tabakindustrie hatte, verdeutlicht die Kontroverse zwischen dem Gesundheitsministerium und dem Bundestagsausschuss für Gesundheit hinsichtlich des Verbots der Tabakreklame im Fernsehen 1971 /72. Die Darstellung des Tabakkonsums seitens der Unternehmen war stets ein zwischen Rauchern und Anti-Rauchern stark umkämpftes Konfliktfeld. Gerade in Hinblick auf kommunikative Werbetechniken erwies sich die Tabakindustrie als ein geschickt und durchaus psychologisch-manipulativ auftretender Akteur.110 Dem Gesundheitsministerium waren diese Techniken vertraut. Regelmäßig wurde es entweder von privater Seite oder durch übermittelte Schreiben der Industrie über Auseinandersetzungen informiert.111 Aussagekräftig ist in diesem Sinne etwa auch ein in den ministeriellen Akten des BMGes überlieferter Briefwechsel zwischen einem pensionierten Ingenieur aus Köln und der Presseabteilung eines der größten bundesdeutschen Zigarettenunternehmens aus dem Frühjahr 1964. Die Privatperson hatte das Hamburger Unternehmen Reemtsma über die Idee informiert, »entgifteten Tabakrauch in Kapseln« herzustellen und anstatt der gewöhnlichen Zigaretten zu vermarkten.112 Reemtsma antwortete in einem mehrseitigen Schreiben, das markant viele Emotionen evozierende Adjektive aufwies und suggerierte, beim Produkt Zigarette handele es sich um ein sorgfältig in Handarbeit hergestelltes Produkt, das ohne Reue genossen werden könne, so wie Saft oder Obst. Die »fein nuancierte« Zusammensetzung der verschiedenen Tabake, so Reemtsma, folge einem »regelrechten Rezept« und sei Grundlage einer »spezifischen Geschmackskomposition«, die den Konsumenten »lieb und vertraut« wäre; sie habe den Kunden überhaupt erst als Raucher an die Marke Reemtsma gebunden.113 »Einziger Sinn und Zweck des Cigarettenrauchens ist der Genuß von Tabak […] zur Freude und Entspannung«, so die Firma mit einem demonstrativ-distinguiert hervorgehobenen C anstatt des gewöhnlichen Z im Wort »Cigarette«; und weiter: Aufgrund 110 Vgl. Schneider / Glantz, Analysis; Proctor, War, S. 270 – 277. 111 Vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 208 /585. 112 Vgl. BA rch, B 208 /585, Schreiben einer Privatperson an die Firma Reemtsma, ca. Januar 1964. 113 Diese u. die folgenden Zit. in: BA rch, B 208 /585, Schreiben der Firma Reemtsma an eine Privatperson, 7. 2. 1964. 294

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des »Genussprozesses Rauchen« sei es unzumutbar, »lediglich abgefüllten und komprimierten Rauch zu liefern – also das Endprodukt des Tabakverbrennungsprozesses.« Außen vor gelassen wurde von Reemtsma der medizinische Aspekt der Inhalation des Suchstoffes Nikotin und weiterer krebserzeugender Stoffe. Während als Zweck des Zigarettenkonsums ein Zelebrieren von Genuss und Freude gepriesen wurde, blieb der Rauch nur »Endprodukt«, ohne notwendigen Bezug zum Zweck. Reemtsma umging auch die ursprünglich von der Privatperson verwendete Formulierung vom »entgifteten« Rauch, womit das Zigarettenunternehmen der Verantwortung auswich, ein allein durch inhalierten Rauch krank und süchtig machendes Produkt zu vermarkten. In paradoxer Verkehrung von gesund und ungesund schloss Reemtsma seinen Brief mit einem Vergleich: Eigentlich verhalte es sich mit der Idee des »komprimierten Rauchs« (unter Weglassung des Wortes Gift) wie mit »Obst und Vitaminen«: »Menschen, die Appetit auf saftige Früchte verspüren, können auch nicht mit einer Ampulle mit dem entsprechenden Aroma oder einer Vitamintablette abgespeist werden. […] Der Tabakgenuß […] wäre seiner Poesie und seines Charmes, seiner ganzen Daseinsberechtigung beraubt, würde man ihn lediglich in seine Endform als ›blauen Dunst‹ auf den Markt bringen«, so Reemtsma zum Abschluss seiner Antwort 1964.114 Nachdem 1970 in den Vereinigten Staaten ein Verbot für die Tabakund Zigarettenreklame im Fernsehen durchgesetzt worden war,115 stand auch die bundesdeutsche Politik diesbezüglich unter Zugzwang. Besonders vehement kritisiert wurde ein als sehr zögerlich wahrgenommenes Vorgehen des Gesundheitsressorts unter der sozialdemokratischen Ministerin Käte Strobel durch Politiker der SPD. Karl Bechert, der die Sozialdemokratie im Bundestagsausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit vertrat, mahnte den Ausschussvorsitzenden, den Sozialdemokraten Rudolf Hauck, Anfang April 1971, er möge gegenüber »der Zigarettenindustrie nach dem Wortlaut« der mit dem Bundesgesundheitsministerium angeblich kurz zuvor vereinbarten Selbstbeschränkung bei der Fernsehwerbung fragen; Bechert selbst habe diesbezüglich vom Ministerium keine Antwort erhalten und denke auch nicht, dass Hauck dort befriedigende Ergebnisse erzielen werde.116 Der Vorsitzende solle sich deshalb direkt an die Industrie wenden, denn er selbst, so Bechert, könnte als einfaches Mitglied des Gesundheitsausschusses auch dort wenig ausrichten. Die gesamte Angelegenheit einer mit dem Gesundheitsministerium vereinbarten Selbstbeschränkung 114 Vgl. ebd. 115 Vgl. Mukherjee, König, S. 342 f. 116 Vgl. AdsD, 1/KBAA000171, Schreiben Karl Becherts an den Vorsitzenden des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Bundestags, 7. 4. 1971. NIKOTIN

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der Zigarettenindustrie sehe für ihn aber nach einem »merkwürdigen Gemauschel« aus, und er wolle – so Bechert – »genaueres erfahren«.117 Mitte Juni 1971 gab der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Bechert Recht. Der Verband der Zigarettenindustrie habe ihm bestätigt, dass es »keine schriftlich fixierte Vereinbarung mit dem Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit über die Beschränkung der Werbung im Fernsehen« gebe.118 Nachdem feststand, dass in einer den zeitgenössischen gesundheitspolitischen Diskurs maßgeblich dominierenden Frage – nämlich der verbesserten Tabakprävention vor allem zum Schutz von Jugendlichen – eine mutmaßlich sehr weiche und der Zigarettenindustrie entgegenkommende Politik aufseiten des Bundesgesundheitsministeriums betrieben worden war, setzte im Herbst 1971 eine kurze, aber scharfe Kontroverse zwischen Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel und dem sozialdemokratisch geführten Bundestagsausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit, in Person Karl Becherts, ein. Bechert mahnte Strobel im November 1971, die vom Ministerium akzeptierten und aus seiner Sicht nicht ausreichenden mündlichen Zusagen und »Versprechungen« der Zigarettenindustrie sollten rasch durch Vereinbarungen ersetzt werden.119 Es müsse überdies sichergestellt werden, dass Restriktionen auch hinsichtlich der Plakatwerbung zum Tragen kämen, so Bechert weiter. Auch hier reichten die Zusagen der Tabakwirtschaft »nur Personen abzubilden, die über 30 Jahre alt« seien, nicht aus. »Denn Menschen in dem auf diesen Plakaten dargestellten Alter dienen ja gerade den Jugendlichen als Vorbild, das sie nachahmen wollen. Ich kann mir nicht denken, daß jemand der die heutige Jugend kennt, dies bestreiten möchte«, so Bechert gegenüber Ministerin Strobel Anfang November 1971.120 Das letztlich ab 1. Januar 1973 in der Bundesrepublik durchgesetzte Verbot einer Werbung für Zigaretten im Fernsehen war weniger Resultat eines gegenüber der Industrie energisch forcierenden Auftretens des Bundesgesundheitsressorts, sondern maßgeblich durch öffentlichen Druck und das Handeln des Bundestagsausschusses für Gesundheit zustande gekommen. Hatten bereits sei den frühen 1960er Jahren die wissenschaftlichen Ergebnisse über die Gesundheitsrisiken des Rauchens in den Vereinigten Staaten zu einem Kurswechsel in der staatlichen Politik gegenüber der

117 Vgl. ebd. 118 Vgl. AdsD, 1/KBAA000171, Schreiben des Sekretärs des Vorsitzenden des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Bundestags an Karl Bechert, 11. 6. 1971. 119 Vgl. AdsD, 1/KBAA000171, Schreiben Karl Becherts an Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel, 2. 11. 1971. 120 Vgl. ebd. 296

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Abb. 70 : Plakatwerbung in Saarbrücken, 1987.

Tabakwerbung geführt,121 so konnte sich die Bundesregierung derartigen Forderungen nicht verschließen. Das Werbeverbot im Fernsehen war Ausdruck einer konzeptionell veränderten Gesundheitsprävention bezüglich des Themas Nikotin in der Bundesrepublik, die erst viel später als etwa in den USA Ergebnisse zeitigte, nämlich ab Anfang / Mitte der 1970er Jahre.122 Diese Neubewertung gesundheitlicher Risikoaufklärung aufseiten des Bundesgesundheitsressorts war Folge der sich vor allem seit Anfang der 1960er Jahre neu entwickelten sozialen und demokratiepolitischen Ordnungsvorstellungen, die ein als zögerlich empfundenes Handeln des Ministeriums gegenüber der Tabakindustrie versuchten zu beschleunigen. Im Falle des Verbots der Fernsehreklame für Zigaretten 1973 war es der Bundestag, der, wiederum beeinflusst durch eine veränderte öffentliche Meinung gegenüber den Risiken des Rauchens, als Katalysator eines ministeriellen Handelns fungierte. Gleichwohl blieb etwa die Plakatwerbung für Zigaretten 1973 von einem Verbot ausgenommen. Ab 2023 soll sie in der Bundesrepublik verboten sein, nach einem mehr als fünf Jahrzehnte währenden Diskus-

121 Vgl. insgesamt Mukherjee, König; Sammer, Menschen. 122 Vgl. insgesamt ebd. NIKOTIN

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sionsprozess zwischen Tabakunternehmen, staatlicher Exekutive, Ärzten, Wissenschaftlern und Öffentlichkeit.123 Ähnlich wie im Falle des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages zeigt der Umgang des BMGes mit dem Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit 1969 /70: Die Nachwirkungen einer in den 1950er Jahren begonnenen Viktimisierung der Raucher als Opfer totalitären Unrechts behinderte eine an medizinischen Fakten orientierte Gesundheitspolitik hinsichtlich einer Reduktion des Tabakkonsums. Dies war zugleich auch Ausdruck eines unbewältigten Umganges sowie eines fehlenden Reflexionsprozesses mit Blick auf die nationalsozialistische Herrschaft, mitsamt einer Übernahme des bereits vor 1945 etablierten Argumentationsmusters vom »fanatischen Tabakgegner«: Prohibitive Anti-Raucherpolitik galt für das Bundesgesundheitsressort noch Anfang der 1970er Jahre als pronazistisch und verbat sich deshalb in der Demokratie. Überdies qualifizierte das Ministerium mit der Zuschreibung von der »APO« einen Zusammenschluss von Ärzten zur Bekämpfung des Rauchens unter Jugendlichen als Ansammlung illiberaler Ideologen, die gegenüber der Exekutive in unverständlicher und anmaßender Weise Kritik äußerten, Mitsprache einforderten und Veränderungen anmahnten. Der von Ablehnung geprägte Umgang mit dem Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit verdeutlicht exemplarisch eine missbilligenden Haltung gegenüber den mit »1968« initiierten gesellschaftlichen Partizipations- und Erneuerungsprozessen der bundesdeutschen Demokratie. Das Gesundheitsministerium musste erst lernen, sie zu akzeptieren. Damit war zugleich eine für den Umgang der Exekutive mit »1968« symptomatische Reaktion zu beobachten: Erst zögerlich setzten sich gesellschaftliche Veränderungsprozesse der 1960er Jahre durch und resultierten in einem »Demokratisierungsschub«, letztlich einer demokratiegeschichtlichen »Umgründung der Republik«,124 als Folge einer »fundamentalen Politisierung der westdeutschen Gesellschaft«, die Ausdruck fand in Forderungen nach Partizipation und Mitbestimmung.125 »Zu groß sind auf der einen Seite die Möglichkeiten der Hersteller, ihre abhängig und krank machenden, letztlich oft tödlichen, Produkte anzupreisen – auch jungen Menschen – und zu stark ist der Einfluss der 123 Vgl. die Mitteilung der Bundesregierung v. 29. 10. 2020: Tabakwerbung wird weitgehend verboten, www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/tabakwerbeverbot-1766070 (12. 1. 2021). 124 Zu den Zit. vgl. Conze, Suche, S. 354, sowie Görtemaker, Geschichte, S. 440. 125 Zum Zit. vgl. Conze, Suche, S. 354. Zur Rolle von »1968«, auch für die Protestbewegungen der Bundesrepublik in den 1980er u. 1990er Jahren, vgl. Gassert, Wahrnehmungsrevolution, sowie insgesamt Gilcher-Holtey, Wahrnehmungsrevolution; dies., 1968. 298

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Tabakindustrie auf die Politik. Zu gering ist auf der anderen Seite der politische Wille, ein Umfeld zu schaffen, das die Bevölkerung – insbesondere junge Menschen – vor diesen gesundheitsschädlichen Produkten schützt«, so das kritische Fazit des wissenschaftlichen Vorstandes des Deutschen Krebsforschungszentrums im Jahr 2020.126 Trotz allem Pessimismus verweist es auf einen wesentlichen Aspekt: Die langfristig beste Anti-Tabakstrategie besteht in der Aufklärung der Bevölkerung bzw. einer auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen ruhenden Entscheidung gegen das Rauchen. Die Auseinandersetzung zwischen Staat, Gesellschaft und Industrie verlangt ein differenziertes Vorgehen im Umgang mit dem Tabak. Staatliche Regulation ist unabdingbarer Bestandteil eines Schutzes der Bevölkerung – auf Kosten unternehmerischer Freiheit. Eine historische Analyse der deutschen Anti-Tabakpolitik im 20. Jahrhundert zeigt: Das Maß der jeweils vom Staat gegenüber der Tabakindustrie festgelegten Grenzen variierte deutlich, abhängig von einer gewandelten öffentlichen Meinung und einer über die Gefahren des Tabakkonsums sensibilisierten Bevölkerung. Dabei wurde die Aufklärungsarbeit zugunsten der Nikotinprävention in der Bundesrepublik nach 1949 über Jahrzehnte hinweg blockiert durch die Folgen der Anti-Tabakkampagne des »Dritten Reiches«. Ein Umstand, der detaillierter zu untersuchen sein wird.

126 Vgl. Deutsches Krebsforschungszentrum, Tabakatlas, S. VIII. NIKOTIN

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5. Sauber und gesund : Luftreinhaltung und Lebensmittel sicherheit

Sowohl die Versorgung mit sauberem Trinkwasser als auch die Hygiene von Lebensmitteln und die Verbesserung der sanitären Infrastruktur gehörten bereits im 19. Jahrhundert zu Kernelementen der ersten, von deutschen Einzelstaaten formulierten Gesundheitspolitik(en).1 Das heißt: Von Beginn an standen – neben der Bekämpfung von Infektionskrankheiten und speziell Maßnahmen gegen die zeitgenössisch grassierenden Choleraund Typhusepidemien – auch die negativen gesundheitlichen Folgen einer fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung im Mittelpunkt der öffentlichen deutschen Gesundheitspolitik. Vor allem die Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts prägte diese Entwicklung und begründete erste Standards der Lebensmittelkontrolle.2 Für die im Verlauf des 19. Jahrhunderts dezentral – und letztlich ab 1871 auch im Reich – neu geschaffenen institutionellen Strukturen zur Umsetzung der Gesundheitspolitik hieß das: Die Gesundheitsbürokratien umfassten auch Arbeitseinheiten für die Kontrolle von Lebensmitteln und Trinkwasser. Und so war das Kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin ab Anfang des 20. Jahrhunderts, neben dem Seuchen- und Tierseuchenschutz, auch reichsweit für die Lebensmittelhygiene und Kontrolle von Fleisch und Milch, die Bauhygiene und die Sicherung der Trinkwasserqualität zuständig. Darüber hinaus oblag ihm die öffentliche »Volksbelehrung« mit Blick auf die gesundheitspolitische Bedeutung und mögliche Risiken all dieser Themengebiete.3 Dass schließlich auch negative Umwelteinflüsse – vor allem die Luftverschmutzung – explizit zu festen Bestandteilen öffentlicher Gesundheitspolitik wurden, ging auf die in den 1920er Jahren erlebte »Blütezeit der Sozialhygiene« zurück.4 Als »Leitwissenschaft« der Gesundheitspolitik der Weimarer Republik bestanden die Ziele der Sozialhygiene in einer stärkeren Fürsorge und Prävention, ausgehend von der Prämisse, dass Armut und Verelendung, sozio-politische Rahmenbedingungen im Ar1 Ich danke Franziska Kuschel für ihre Archivrecherchen u. Vorarbeiten zu diesem Kapitel. 2 Vgl. Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 28 – 35; Hardy, Ärzte, S. 91 – 145, 373; Bynum, History, S. 68 – 72; Mackenbach, History, S. 93 – 101. Vgl. insgesamt ebs. Dominick, Movement. 3 Vgl. Hardy, Ärzte, S. 218 – 272, 273 – 344; Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 21 – 23; Hüntelmann, Gesundheitspolitik, S. 216, 225 – 250. 4 Vgl. Arndt, Umweltgeschichte. 300

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beits- und Lebensalltag und auch menschengemachte umweltbedingte äußere Risikofaktoren potenzielle Gesundheitsgefährdungen schufen.5 Mit anderen Worten: Die maßgeblich von der SPD geprägte Weimarer Sozialhygiene »rückte Umweltbedingungen immer mehr ins Blickfeld des medizinischen und sozialpolitischen Interesses«.6 Vom »Dritten Reich« wurde auch der Bereich der Lebensmittelsicherheit – wie Medizin und Gesundheitspolitik generell – radikal rassistisch ideologisiert. Ausgehend von den »biologistisch-völkischen Annahmen über den Zusammenhang von Boden- und Volksgesundheit« propagierte der Nationalsozialismus eine Hinwendung zu ursprünglicheren und enger naturverbundenen Lebensstilen.7 In Verbindung stand diese Politik mit der vom »Dritten Reich« betriebenen Bekämpfung von Krebs.8 Das ambivalentparadoxe Verhältnis des Nationalsozialismus und seiner als »modern« und »volksnah« beschriebenen Politik zum Schutz vor Umweltgefahren und Schadstoffen verdeutlicht die »Buttergelb-Affäre«, die bis heute zu den größten gesundheitspolitischen Skandalen der deutschen Geschichte zählt.9 Erst Anfang der 1950er Jahre erfuhr die westdeutsche Bevölkerung, dass sich die Chemieindustrie sowie verschiedene Reichsministerien 1938/39 mit dem Zusammenhang zwischen Leberkrebs und einem der Butter zugesetzten Farbstoff befasst hatten. Infolge einer Vielzahl ungeklärter Fälle von Leberkrebs war seinerzeit von mehreren Gesundheitsbehörden und auch von Wissenschaftlern eine solche Untersuchung gefordert worden. Denn die potenziell krebserregende Wirkung des Farbstoffes »Buttergelb« war seit langer Zeit bekannt. Erst nachdem auch durch internationale Studien eine karzinogene Wirkung dieses Farbstoffes nachgewiesen worden war, reagierte das NS -Regime mit erheblicher Verspätung 1941 /42 und verbot »Buttergelb«, begleitet von großen Widerständen aufseiten der Industrie bzw. des Reichswirtschaftsministeriums.10 Im Kontext der 1950er Jahre erreichte aber zunächst auch das Bekanntwerden des »Buttergelb-Skandals« keine Steigerung des öffentlichen Bewusstseins für exogene Ursachen von Tumorbildungen. Auch wurde sich nun nicht vermehrt Fragen von Lebensmittelsicherheit und 5 Vgl. u. a. Fehlmann, Entwicklung; Mackenbach, History; Heinzelmann, Sozialhygiene; Ankele, Verhütung; Moser, Zukunft. 6 Vgl. Arndt, Umweltgeschichte. Vgl. insgesamt ebs. Radkau, Ära; Ditt, Anfänge; Engels, Naturpolitik. 7 Vgl. Uekötter, Ende, S. 63 – 68; ders., Versuchung, S. 96 f. Vgl. insgesamt ebs. Radkau, Naturschutz; Bramwell, Blood. 8 Vgl. Proctor, War, S. 165 – 170. 9 Zum Skandal vgl. Proctor, War, S. 165 – 170, sowie die Unterlagen in: BA rch, R 1501 /3656. 10 Vgl. ebd.; Proctor, War, S. 165 – 170. LUFTREINHALTUNG UND LEBENSMITTELSICHERHEIT

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Verbraucherschutz zugewandt. Strukturell nachwirkend waren indes, so aktuelle Forschungsergebnisse, gleichwohl biologistisch-völkische Ideen eines Zusammenhangs von »Boden- und Volksgesundheit« im Kontext des frühen bundesrepublikanischen Naturschutzes und der Landschaftspflege.11 %ĞåƐĻü·ĻďåƐÚåžƐŽķƾåĮƒžÏĚƣƒǍåžƐ±ƣüƐƣĻÚåžåÆåĻåƐ×Ɛ%±žƐBMG es ƣĻÚƐÚĞåƐXƣüƒŹåĞĻ̱ĮƒƣĻďƐĞķƐœ±ĻÚåĮƐÚåŹƐŐŁƌǑåŹƐI±ĚŹå

In Anlehnung an sozialhygienische Paradigmen der Weimarer Republik galt für die frühe bundesdeutsche Gesellschaft der 1950er Jahre Erholung in der Natur als ein Teil von Gesundheitspolitik.12 Die infolge wirtschaftlichen Aufstiegs und substanziell gesteigerter Industrieleistung vor allem in Großstädten und Ballungsgebieten sich parallel rasant verschlechternden Zustände der Luft- und Wasserqualität, aber auch die permanent ansteigende Lärmemission, veränderten die gesellschaftliche Perzeption mit Blick auf Fragen des Umwelt- und Naturschutzes: Das Primat der Prosperität, die auch auf Kosten einer wachsenden Umweltbelastung erreicht werden sollte, wurde mehr und mehr von einem sensiblen Umweltbewusstsein abgelöst.13 Dass Fragen des Umwelt- und Naturschutzes Anfang der 1960er Jahre eine völlig neue gesundheitspolitische Dimension erlangt hatten, verdeutlichten auch die vonseiten Bundeskanzler Adenauers Ende November 1961 explizit herausgestellten Arbeitsschwerpunkte des neuen Bundesministeriums für Gesundheitswesen. Als dessen »vordringliche« Aufgabe galt die Reinhaltung des Wassers und der Luft.14 Damit war das BMGes aber keinesfalls mit einem Umweltministerium in spe zu verwechseln, denn entscheidend für diese Zuschreibung war die zeitgenössisch geprägte Wahrnehmung von Umweltbelastungen als direkten Gesundheitsgefahren.15 Repräsentative Meinungsumfragen machten seit Mitte der 1950er Jahre deutlich, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung eine zentrale staatliche Politik zur Beseitigung eklatanter gesundheitlicher Belastungen, vor allem der Luft- und Wasserverschmutzung, forderte.16 Mit der von Adenauer Ende des Jahres 1961 umweltpolitisch argumentierenden 11 Vgl. Engels, Naturpolitik, S. 46 – 92. 12 Vgl. ebd., S. 97 – 99; Uekötter, Ende, S. 68 – 79. 13 Vgl. u. a. Dominick, Movement, S. 182 – 190; Uekötter, Ende, S. 68 – 79. Vgl. insgesamt ebs. ders., Umweltgeschichte; Hasenöhrl, Zivilgesellschaft. 14 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 4. WP, 5. Sitzung, 29. 11. 1961, S. 24. 15 Vgl. insgesamt ebs. Uekötter, Ende, S. 68 – 79. 16 Vgl. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1947 – 1955, S. 183; dies., Jahrbuch 1958 – 1964, S. 316, 349. 302

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Abb. 71 : Titelbild des Nachrichtenmagazins ~)IVcTMIKIPn

Stoßrichtung des neuen – von einer CDU-Ministerin geführten – Bundesgesundheitsressorts, versuchte der christdemokratische Bundeskanzler auch parteipolitisch zu taktieren: Denn die sozialdemokratische Opposition, nicht die Parteien der CDU-geführten Bundesregierungen, hatte seit den 1950er Jahren umweltbedingte Probleme als krankheitserregende Risikofaktoren benannt und das Themenfeld »Umweltverschmutzung« gesundheitspolitisch besetzt.17 1961 hatten schließlich gesundheitspolitische Belange des Umweltschutzes auch erstmals den Bundestagswahlkampf bestimmt. Vor allem das Thema Luftreinhaltung war vonseiten der Sozialdemokratie breit diskutiert und auch von Medienkampagnen aufgegriffen worden.18 Willy Brandt, seinerzeit Regierender Bürgermeister West-Berlins, erklärte in seiner Funktion als Kanzlerkandidat der SPD auf einem Wahlkongress der Partei im April 1961: »Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, daß im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme an Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen ist. Es ist bestürzend, daß diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig 17 Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Gesundheitssicherung; Wüstenberg, Standpunkt. Vgl. ebs. insgesamt Engelmann / Häuple / Kühne / Lang / Neumann / Reiners / Rüdinger / Waldenfels, Gesundheit. 18 Vgl. Dominick, Movement, S. 182 – 190; Engels, Naturpolitik, S. 222. LUFTREINHALTUNG UND LEBENSMITTELSICHERHEIT

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vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden!«19 Der von Willy Brandt geprägte Ausdruck vom »Blauen Himmel über der Ruhr« avancierte zum Slogan einer Anfang der 1960er Jahre sich verstärkenden gesellschaftlichen Bewegung, die ein neues Verständnis von Industriepolitik einforderte. Das Ruhrgebiet, als Herzstück der deutschen Schwerindustrie, und die beinahe permanent über den Metropolen der Region heraufziehende gelb-graue Dunstglocke dienten als Symbol eines vermehrt öffentlich formulierten Zieles, seitens der Wirtschaft industriebedingte Umweltbelastungen zu minimieren und damit Gesundheitsrisiken zu verringern.20 Brandts im April 1961 formulierte Kritik an einem politischen Desinteresse gegenüber umweltbedingten Gesundheitsgefahren – gerade auch während des Bundestagswahlkampfes vorgebracht und auf die Ebene des Bundes bezogen –, spiegelte zeitgenössische Wahrnehmungen der Öffentlichkeit wider: Umfragen dokumentierten, dass staatliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung entweder gänzlich vermisst oder das Agieren von Bundes- und Länderbehörden als zu bürokratisch und nutzlos erachtet wurden.21 Vor dem Hintergrund der bereits im Bundestagswahlkampf 1961 scharf ausgetragenen Kontroverse rund um die umweltbedingten Gesundheitsgefahren – vor allem die Luftverschmutzung – überrascht es nicht, dass Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt unmittelbar nach Amtsantritt ein entschiedenes Bekenntnis für diesbezüglich mehr Engagement ihres Ressorts öffentlich versprach. Gut zwei Wochen nach Amtsantritt erklärte Schwarzhaupt vor dem Bundestag, die Verschmutzung von Wasser und Luft zu »Begleiterscheinungen der Zivilisation in den Ballungsgebieten«, denen auf vielfältige Weise begegnet werden sollte.22 Dass eben die Umsetzung einer entsprechenden neuen Politik indes alles andere als einfach war, gestand sie gut ein Jahr nach Gründung des BMGes mit ebenso deutlichen Worten ein: Der Umwelt- und Verbraucherschutz zähle für sie zu den »sorgenvollsten Kapiteln« der Arbeit ihres Hauses.23

19 So Willy Brandt a. 28. 4. 1961, zit. n. Willy Brandt: Vertrauen in die Zukunft unseres Volkes, in: Vorwärts, 3. 5. 1961, S. 20. 20 Vgl. Brüggemeier / Rommelspacher, Himmel. 21 Vgl. u. a. Noelle/Neumann, Jahrbuch 1958 – 1964, S. 349, 466. 22 Vgl. Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 4. WP, 5. Sitzung, 29. 11. 1961, S. 24. 23 Vgl. BA rch, B 145 I F/146, Pressekonferenz mit Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt, 27. 9. 1962. 304

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Abb. 72 : Autos vor einer Industrieanlage im Ruhrgebiet bei Dortmund, 1965.

Hauptsächlich zwei Gründe waren für diese »sorgenvolle« Arbeitsbilanz der ersten zwölf Monate nach Gründung des BMGes in Bezug auf den Umweltschutz verantwortlich: Auch wenn Elisabeth Schwarzhaupt durchaus engagiert nach Amtsantritt versucht hatte, die frühe Umweltpolitik thematisch zu besetzen, scheiterten Initiativen ihres Ressorts – das zumal in den ersten Monaten seiner Existenz hinsichtlich der Umweltthemen auf Abteilungs- bzw. Referatsebene personell noch schwach besetzt war –24 vor allem an Kompetenzkonflikten mit anderen Bundesressorts und an einer stark wirtschaftsliberalen Haltung innerhalb der CDU, die rigide staatlich-regulatorische Vorgaben an die Industrie ablehnte. Auch wenn innerministeriell die Arbeitsstrukturen des neues Bereiches »Wasser, Luft, Lärm« in Gestalt der Abteilung II bzw. ab 1964 als Abteilung III firmierend bis Mitte der 1960er Jahre deutlich erweitert wurden25 und das BMGes ab 1962 /63 vielfältige Medienkampagnen entwickeln ließ, um durch Kurzfilme für den Umweltschutz zu werben,26 waren die Kompetenzkonflikte und die innerparteilichen Widerstände letztlich 24 Vgl. die Strukturpläne in: BA rch, B 142 /5082. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 106/38280; BA rch, B 106/38281; BA rch, B 106/38282. LUFTREINHALTUNG UND LEBENSMITTELSICHERHEIT

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Abb. 73 : Montage klappbarer Schilder zur Ausrufung von »Smog-Alarm« in Essen, 20. 10. 1966.

verantwortlich dafür, dass bis zum Ende der Amtszeit Schwarzhaupts 1966 Initiativen des BMGes zur Bekämpfung der Luftverschmutzung ins Stocken gerieten oder scheiterten – dies zeigt allein das Beispiel des Katalysators. Einer der wesentlichsten inhaltlichen Schwerpunkte Schwarzhaupts zur Bekämpfung von Luftverunreinigungen war die erstrebte Reduktion von Autoabgasen. Als Vorreiterin ließ sie sich demonstrativ Ende des Jahres 1963 einen Katalysator in ihren Dienstwagen verbauen.27 Hatte Schwarzhaupt bereits bei ihren Forderungen nach der personellen und organisatorischen Ausstattung des BMGes in Bezug auf den Umweltschutz stets auf das Vorbild USA verwiesen,28 so handelte sie auch beim Thema »Abgasentgifter« für Automobile ausdrücklich unter Verweis auf die Vorreiterrolle der Vereinigten Staaten – die für die Bundespolitik Vorbild sein sollte.29 Die Bundesministerien für Verkehr und für Wirtschaft standen Anfang der 1960er Jahre umfassenden Planungen für eine entsprechende der Autoindustrie aufzuerlegende Pflicht zum Einbau von Katalysatoren indes skeptisch bis ablehnend gegenüber.30 Sie artikulierten mit dieser 27 Vgl. BA rch, B 142 /2865, Mitteilungen aus dem Gesundheitswesen, Nr. 51, 23. 12. 1963. 28 Vgl. BA rch, B 106 /35718, Entwurf eines Antwortschreibens des BMG es an das BKA mt, 16. 8. 1962. 29 Vgl. BA rch, B 136 /4705, Schreiben von Gesundheitsministerin Schwarzhaupt an Bundeskanzler Erhardt, 17. 2. 1966. Vgl. ebs. Margedant, Entwicklung, S. 15 – 28; Der Spiegel: Gift in allen Gassen, in: Der Spiegel, 3 /1962. 30 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 136 /4705; BA rch, B 136 /5251; BA rch, B 106 /38280. 306

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Abb. 74 : Messung der Luftverschmutzung in Essen, 1968.

Haltung im Wesentlichen die Position des wirtschaftsliberalen Flügels der CDU. Auf dem zweiten gesundheitspolitischen Kongress der Partei erklärte etwa 1965 der damalige »Geschäftsführende Vorsitzende« der CDU, Josef Hermann Dufhues, im Kontext einer Debatte um Autoabgase und Messstationen zur Ermittlung der Luftverunreinigung, »der Staat dürfe sich nicht von der Wiege bis zur Bahre um die Gesundheit eines jeden einzelnen kümmern«.31 Zum Durchbruch gelangte der Katalysator in der Bundesrepublik letztlich erst 1968 – und zwar allein im Kontext einer in den Vereinigten Staaten verbindlich eingeführten Pflicht zur Abgasfilterung bei Automobilen. Der Wettbewerbsdruck auf dem US -Automobilmarkt zwang die westdeutsche Industrie technische Filteranlagen standardmäßig in Neuwagen zu verbauen – die aber nun bitte auch für den Verkauf in der Bundesrepublik genutzt werden sollten, so das Drängen des von der Sozialdemokratin Käte Strobel geführten BMGes gegenüber dem Bundesverkehrsministerium 1967.32 Da das bisherige Hauptargument der Industrie gegen den Kata31 Zit. n.: Die Welt: Meßstationen sollen Luftverschmutzung kontrollieren, in: Die Welt, 30. 1. 1965. 32 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 106 /38280. LUFTREINHALTUNG UND LEBENSMITTELSICHERHEIT

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lysator – nämlich fehlende technisch-wirtschaftliche Rentabilität – mit dem Entschluss der USA widerlegt sei, müsse auch die bundesdeutsche Gesetzgebung der Straßenverkehrszulassungsordnung durch Grenzwerte für die Abgasemission von Automobilen novelliert werden, so die Forderung des Bundesgesundheitsministeriums gegenüber dem Verband der Automobilindustrie und dem Verkehrsministerium 1967 /68.33 Waren in den USA ab Januar 1968 Regelungen in Kraft getreten, die Katalysatoren bei neuen Automobilen verbindlich vorschrieben, so waren schließlich auch in der Bundesrepublik ab Mai 1968 nur noch solche Kraftfahrzeuge zugelassen, deren Abgase technisch gefiltert wurden.34 Erst der Umstand, dass Washington verbindliche Standards in Bezug auf die Abgasemission von Fahrzeugen festgelegt hatte, ermöglichte es letztlich dem BMGes unter Käte Strobel, eine seit 1961 /62 von Elisabeth Schwarzhaupt gegenüber der Automobilindustrie und anderen Bundesressorts geforderte Pflicht zum Einbau von Katalysatoren durchzusetzen. Gesellschaftlicher Druck und das gewandelte öffentliche Bewusstsein für die Luftreinhaltung allein hatten diese zuvor nicht erreicht. Auch wenn die Luftqualität Ende der 1960er Jahre ein Thema des Gesundheitsschutzes blieb, änderte sich der vonseiten des Bundes gewählte organisatorische Zuschnitt: Im Kontext der 1969 vollzogenen Integration des ursprünglichen BMGes in ein neues »Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit«, wurde der Bereich zur Bekämpfung der Luftverschmutzung einem Referat »Umwelt« im Bundesinnenministerium zugewiesen, auch aus der Überlegung heraus, dass die Überwachung der Luftqualität zeitgenössisch ein Aspekt des Bevölkerungsschutzes war, ging es doch auch um das frühzeitige Aufspüren möglicher radioaktiver Stoffe nach einem möglichen Atomwaffenangriff.35

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Der zeitgleich mit der Gründung des BMGes 1961 /62 die Bundesrepublik erschütternde Skandal um das rezeptfrei zu erwerbende Beruhigungsmedikament mit dem Namen »Contergan«,36 das zu körperlichen Fehlbildungen 33 Vgl. BA rch, B 106 /38280, Schreiben des BMGes an Verband der Automobilindustrie, 23. 5. 1967; BA rch, B 106 /38280, Vermerk, 23. 7. 1968. 34 Vgl. BGBl. I, 1968, Nr. 28, § 47 Verordnung zur Änderung der StraßenverkehrsZulassungs-Ordnung, 8. 5. 1968, S. 360. 35 Vgl. Diebel, Atomkrieg, S. 99 – 117. 36 Zum Contergan-Skandal vgl. Lenhard-Schramm, Contergan-Skandal; ders., Land. Vgl. ebs. Crumbach, Sprechen. Vgl. ebs. Mecking, Gesundheitsabteilung, S. 117 – 134. 308

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Abb. 75 : Vorbereitung eines Verhandlungstages im »Contergan-Prozess« in Alsdorf bei Aachen 1968.

bei Embryos bzw. Föten führte, veränderte die westdeutsche Verbraucherschutzpolitik nachhaltig. Denn der Contergan-Skandal führte – auch abseits des engeren Bereiches der Arzneimittelsicherheit – in der Folge zu einer stärkeren öffentlichen Sensibilisierung und Politisierung von bereits zuvor geführten Debatten rund um den Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten.37 Dass der Staat potenzielle Gesundheitsgefährdungen im Bereich der Lebensmittelherstellung, Bedarfsgüter oder auch Arzneimittel auszuschließen und die Verwendung von Zusatzstoffen oder die Zusammensetzung von Produkten zu regeln und zu überwachen hatte, galt praktisch seit dem 19. Jahrhundert. Denn schon seinerzeit waren etwa Lebensmittelverfälschungen auf Kosten der Gesundheit der Verbraucher keine Ausnahmen.38 Seit 1887 regelte beispielsweise ein Gesetz reichsweit, welche Farbstoffe als zulässig und sicher galten, um sie Lebensmitteln beimengen zu dürfen.39 Der Skandal um »Butter-Gelb« Mitte der 1940er Jahre belegt indes ein Grund37 Vgl. u. a. Steinmetz, Politisierung; Rick, Verbraucherpolitik. 38 Vgl. Geyer, Gedanke. 39 Vgl. RGBl., 1887, Nr. 23, Gesetz, betreffend die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der Herstellung von Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen, 9. 7. 1887, S. 277 – 280. LUFTREINHALTUNG UND LEBENSMITTELSICHERHEIT

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problem des Schutzes der Verbraucher vor gefährlichen Zusatzstoffen:40 das prinzipielle Dilemma, zumeist nur reagieren zu können. Während Chemie- und Lebensmittelindustrie aktiv an der Entwicklung neuer Stoffe arbeiteten, wurde die gesundheitsgefährdende Wirkung einer Substanz oder eingesetzten chemischen Verbindung oftmals nicht sofort, sondern erst im Verlauf der Zeit ersichtlich. Kontrollen und Regulation konnten damit naturgemäß mit der Dynamik der Entwicklung neuer Zusatzstoffe nur bedingt schritthalten.41 Die seit den 1950er Jahren boomende Entwicklung auf dem Gebiet der industriellen Lebensmittelherstellung und der massenhaften Produktion von Fertigerzeugnissen stellte an den Verbraucherschutz und die Reglementierung von Zusatzstoffen ganz neue Ansprüche. Der Faktor Wirtschaftlichkeit und das Argument der Industrie, durch Zusatzstoffe Produktionskosten senken und Produkte länger haltbar machen zu können, stand gesundheitlichen Bedenken vor chemischen Verbindungen gegenüber.42 Auch mit Blick auf die Herausbildung des frühen bundesdeutschen Verbraucherschutzes zeigt sich – analog zum Beispiel des Katalysators – die Vorbildfunktion und Vorreiterrolle der USA . Die von Präsident John F. Kennedy vor dem amerikanischen Kongress im März 1962 proklamierten vier Ziele des Verbraucherschutzes – das Recht auf freie Wahl, ein Recht auf Sicherheit, ein Recht, Gehör zu finden, und das Recht auf Wissen – wurde im neuen Bundesgesundheitsressort aufmerksam registriert.43 Antizipiert wurde Anfang der 1960er Jahre vonseiten des Bonner Gesundheitsressorts durchaus – ausgehend von einer Veränderung der Verbraucherwünsche und eines internationalisierten Lebensmittelmarktes, der keine einheitlichen Standards in Bezug auf Zusatzstoffe oder den Einsatz von Medikamenten in der Tierzucht kannte – ein neues Problembewusstsein der Öffentlichkeit hinsichtlich des Verbraucherschutzes. Auch ein gestiegener Handlungs- und Erwartungsdruck seitens der Bevölkerung wurde erkannt. Zeitgenössische Lebensmittelskandale oder zum Skandal stilisierte vermeintliche Versäumnisse führten zu einer Flut von Beschwerden und an das Bonner Gesundheitsressort adressierten Briefen,44 und gipfelten oftmals auch im Vorwurf eines völligen Versagens des Ministeriums – das eine adäquate Krisenkommunikation erst lernen musste. Beispielsweise 1963 /64 im Zuge der Skandale um falsche Hasen und echte Kängurus. 40 Zum Buttergelb-Skandal vgl. Proctor, War, S. 165 – 170. Vgl. ebs. die Unterlagen in: BA rch, R 1501 /3656. 41 Vgl. u. a. Geyer, Gedanke. 42 Vgl. Rick, Verbraucherpolitik; Jenning, Spätgeburt; Trumball, Consumer; Thoms, Introduction. 43 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2495. 44 Vgl. u. a. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2281 u. BA rch, B 142 /2282. 310

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So waren in der Bundesrepublik an Weihnachten 1963 zahlreiche Festtagsbraten serviert worden, bei denen eine geschmackliche Prüfung zu großen Überraschungen geführt hatte. Denn das zubereitete Fleisch stammte nicht wie erwartet von einem Hasen, sondern von einem Tier aus der Familie der Meerschweine und Hasenmäuse. Presseberichte dokumentierten nicht nur die weitverbreitete Aufregung in der Bevölkerung, sondern diskutierten auch potenzielle Gesundheitsgefährdungen, etwa ein Salmonellenproblem, der aus Übersee stammenden Tiere. Dass vom Sprecher des BMGes auf dem Höhepunkt der Krise erklärt wurde, es bestehe »kein Grund zur Panik« und Verbraucher sollten das Fleisch der falschen Hasen nicht roh verzehren und gut waschen, befeuerte nur die Kritik am BMGes und einer als zu lasch und nicht zeitgemäß empfundenen Importpolitik von Fleisch.45 Zumal von der Öffentlichkeit eigentlich erwartet worden war, dass das Bonner Gesundheitsressort etwas aus der seit 1959 /60 ausgetragenen Kontroverse um das Thema Kängurufleisch gelernt hatte. Auch dieser Fall hatte gezeigt, dass die Internationalisierung der Märkte neue Probleme für den Verbraucherschutz schuf, barg doch der Verzehr importierten (billigen) Kängurufleisches die erhöhte Gefahr an einer Salmonelleninfektion zu erkranken. Nach Gründung des BMGes opponierten Importeure und Wirtschaftsverbände unmittelbar gegen eine striktere staatliche Regulierung im Falle des Kängurufleisches.46 Von der Öffentlichkeit als untätig in diesem Fall verschrien, war es das BMGes das seit 1962 gegen den Widerstand von Wirtschaftsverbänden und im Konflikt mit den Ländern eine »Wildfleisch-Verordnung« auf den Weg brachte.47 Noch vom »Verband der Suppenindustrie e. V.« für den Verordnungsentwurf kritisiert, den Import von entsprechendem Fleisch strenger reglementieren zu wollen, wurde das BMGes schließlich 1963 inmitten der Debatte um die Verordnung vom Skandal um die falschen Hasen erschüttert.48 Beide – von der Öffentlichkeit als potenzielle Gesundheitsgefahr wahrgenommenen – Lebensmittelskandale führten letztlich zur »Verordnung über den Verkehr mit Fleisch von Känguruhs sowie von Hasen und anderen wildlebenden Nagetieren« vom 18. April 1964.49 Darin festgalten wurde, dass es »zum Schutze der menschlichen Gesundheit« verboten wurde, »Känguruhfleisch und unter Verwendung von Känguruhfleisch hergestellte Erzeugnisse sowie Fleisch von außereuro45 Vgl. BA rch, B 142 /2281, Vermerk des Pressereferent Michaelis an MR Haupt, 10. 12. 1963, Bl. 119. 46 Vgl. die Unterlagen in: BA rch, B 142 /2282. 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. BGBl. I, 1964, Nr. 19, Verordnung über den Verkehr mit Fleisch von Känguruhs sowie von Hasen und anderen wildlebenden Nagetieren, 18. 4. 1964, S. 284. LUFTREINHALTUNG UND LEBENSMITTELSICHERHEIT

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Abb. 76 : Katharina Focke, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (rechts), beim Start der Kampagne »Informationsbus der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher«, Bonn, 20. 9. 1973.

päischen Hasen und anderen wildlebenden Nagetieren gleicher Herkunft als Lebensmittel anzubieten, zum Verkauf vorrätig zu halten, feilzuhalten, zu verkaufen oder sonst in den Verkehr zu bringen.«50 Das Beispiel der Verordnung zeigt sowohl bezogen auf die bundesdeutsche Verbraucherschutzpolitik als auch das Agieren des BMGes zweierlei: Zum einen trug die Institutionalisierung der Gesundheitspolitik auf Bundesebene dazu bei, das Problembewusstsein für Gesundheitsfragen in der Bevölkerung zu verändern. Zumindest gab es seit 1961 eine zentrale Instanz, an die Beschwerden oder auch nur Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger gerichtet werden konnten. Zum anderen lernte das BMGes – und dies ist der zweite charakteristische Befund ausgehend vom Beispiel der Verordnung über Känguru- und Hasenfleisch – sehr rasch ein Argument strategisch zu nutzen. Gerade was die Verbraucherrechte angeht, führte das Bundesgesundheitsressort in den 1960er Jahren Auseinandersetzungen mit Spitzenverbänden der Industrie, 50 Vgl. ebd. 312

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aber auch dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und dem Bundeswirtschaftsministerium. Und das BMGes argumentierte dabei besonders mit einem Argument: dem Schutz der Verbraucher. Im Lebensmittelbereich erklärte es diese Frage zu einer Angelegenheit der öffentlichen Gesundheitspflege, während die anderen Ressorts stärker auf die wirtschaftlichen Auswirkungen bestimmter Verordnungen verwiesen und Widerspruch einlegten. Das heißt: Das Bonner Gesundheitsressort münzte bis Anfang der 1970er Jahre in seinen Auseinandersetzungen mit Lobbyverbänden und anderen Bundesressorts den Bonus einer »kritischen öffentlichen Erwartungshaltung« immer geschickter und nutzbringender in politisches Kapital um. Insgesamt gilt jedoch für den Verbraucherschutz des Bundesgesundheitsressorts in den 1960er und frühen 1970er Jahren: Obwohl sich das Ministerium um eine aktive Verbraucherschutzpolitik bemühte, agierte es letztlich zumeist aber reaktiv, dem Umstand geschuldet, Antworten auf Herausforderungen finden zu müssen, die eine dynamische und zumal immer stärker internationalisierte Industrie sowie ein globaler Markt generierten und vorgaben.

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Auch wenn Medizin, Politik und Öffentlichkeit Anfang des Jahres 2020, als das Coronavirus SARS -CoV-2 die Bundesrepublik erreichte, vieles über die von ihm ausgelöste neue Infektionskrankheit COVID -19 noch nicht wussten, wäre ein Umstand mehrheitlich mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort als unentschuldbares Defizit erschienen: das Fehlen eines Gesundheitsressorts auf Bundesebene. Der Blick auf die Entwicklung der Gesundheitspolitik in den 1950er und 1960er Jahren zeigt indes: Die heute vertraut erscheinende Tatsache der Existenz eines Bundesgesundheitsministeriums war gesellschaftlich und politisch lange Zeit alles andere als akzeptiert und selbstverständlich. Denn das westdeutsche Verständnis von und über Gesundheitspolitik durchlief nach 1945 /49 verschiedene Wandlungs- und Lernprozesse, sowohl bezogen auf inhaltliche als auch auf strukturell-organisatorische Aspekte. Mit Blick auf Letztere war bereits die bloße Gründung der neuen Spitzenbehörde für Gesundheit im Herbst 1961 – gut zwölf Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik – Ergebnis von Wandlungs- und Lernprozessen. Zweierlei griff im Verlauf der 1950er Jahre ineinander: einerseits ein innerhalb der Bevölkerung gestiegenes Bedürfnis nach gesundheitspolitischer Handlungs- und Entscheidungskompetenz des Bundes zur Bekämpfung von Gesundheits- und Umweltgefahren; und anderseits die immer stärker betonte Virulenz des Themas »Gesundheit« seitens der politischen Opposition, die Resonanz gesellschaftlicher Wandlungsprozesse war.1 Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden Ende der 1950er Jahre erstmals von der Sozialdemokratischen Partei als »Zivilisationskrankheiten« der bundesdeutschen Gesellschaft benannt. Zurückreichend auf die Prämissen der SPD-geprägten Weimarer Gesundheitspolitik, die vor allem die Sozialhygiene ins Zentrum gerückt hatte und damit die fürsorgliche Aufgabe des Staates, negative soziale Faktoren als Gesundheitsrisiken 1 Vgl. u. a. auch Kuschel, Gesundheit; Thießen, Gesundheit. EINE BILANZ

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auszuschalten, ging die bundesdeutsche Sozialdemokratie ab Mitte der 1950er Jahre daran, Handlungsfelder einer »Bundesgesundheitspolitik« zu definieren. In deren Mittelpunkt stand das Bundesministerium für Gesundheitswesen – das bei Gründung der Bundesrepublik noch nicht entstanden war. Denn die nach 1945 zuerst dezentral gewachsenen Zuständigkeiten für »Gesundheit«, der Faktor einer erstarkten freien Ärzteschaft und die seit Kriegsende erfolgreich von westdeutschen Ländern geleistete gesundheitspolitische Arbeit ließen eine neue Bonner Spitzenbehörde für Gesundheit 1949 überflüssig erscheinen. Hinzu kam eine zeitgenössische Kalte-Kriegs-Logik: Bonn wollte sich mit dem Verzicht auf ein Bundesgesundheitsministerium demonstrativ von der DDR abgrenzen, wo als gesundheitspolitische Zentralinstanz ein Ministerium für Gesundheitswesen gebildet worden war. Überdies hatte auch das Grundgesetz im Mai 1949 keine einzige gesundheitspolitische Aufgabe als alleinige Kompetenz des Bundes festgeschrieben und somit weder im- noch explizit ein neues »Bundesgesundheitsministerium« gefordert.2 Mit anderen Worten: Nicht Infektionskrankheiten und drohende Epidemien, sondern die als gesundheitsgefährdende Risiken wahrgenommene Luftverunreinigung, die Lärmbekämpfung, das Garantieren hoher Standards hinsichtlich der Lebensmittelsicherheit sowie des Verbraucherschutzes, vor allem aber auch die immer dramatischer sichtbar werdenden Folgen von Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bedingten im Verlauf der 1950er Jahre ein Umdenken. Die westdeutsche Öffentlichkeit artikulierte zunehmend die Forderung, in der Bundesrepublik das in anderen westlichdemokratischen Staaten längst etablierte zentrale Gesundheitsministerium zu schaffen. Aber erst der von Medizinern innerparteilich aufgebaute Druck, sich als CDU / CSU stärker gesundheitspolitisch gegenüber Sozialdemokratie und FDP zu profilieren, in Verbindung mit der ultimativen Forderung christdemokratischer Frauen nach Ämterpartizipation waren letztlich Ursachen für ein Umdenken aufseiten von Bundeskanzler Konrad Adenauer 1961. Dass zuvor stets abgelehnte neue Bundesgesundheitsressort sollte nun doch entstehen – geführt von der ersten Ministerin der Bonner Republik. Wie diese Untersuchung aufzeigen konnte, nahmen jedoch weder »Gründungsministerin« Elisabeth Schwarzhaupt noch ihre sozialdemokratischen Nachfolgerinnen bis Mitte der 1970er Jahre – Käte Strobel und Katharina Focke – das Amt an der Spitze des neuen Gesundheitsressorts als eine ausgesprochen dankbare Aufgabe wahr. Alle drei Ministerinnen verstanden ihre Funktion primär als Vorreiterrolle und besondere Verpflichtung, um die bundesdeutsche Gesellschaft emanzipatorisch weiterzuentwickeln und 2 Vgl. insgesamt ebs. Kuschel, Gesundheit, S. 307 – 313; Lindner, Gesundheitspolitik, S. 37; Woelk, Gesundheit, S. 398 – 430; ders./Halling, Gründung, S. 84 – 86. 316

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Frauen in politischen Spitzenpositionen sichtbar werden zu lassen. Und alle – vor allem Schwarzhaupt – wussten um die enorm großen Konkurrenz- und Kompetenzkämpfe mit den Ländern und innerhalb des Bundes bei gesundheitspolitischen Themen, die fortan auch von diesem neuen Bundesministerium für Gesundheitswesen mitbestimmt und mitgestaltet werden sollten. Alle drei Frauen waren weder Ärztinnen noch, mit Ausnahme Strobels, Expertinnen auf den Gebieten der Gesundheit und des Verbraucherschutzes. Gleichwohl prägten sie jeweils ganz individuell eine entscheidende Phase der Herausbildung des Bonner Gesundheitsressorts. Während die promovierte Juristin Elisabeth Schwarzhaupt zwischen 1961 und 1966 – ohne breiten innerparteilichen Rückhalt der CDU – in der Sachpolitik, vor allem hinsichtlich des Umwelt- und Verbraucherschutzes, mit erheblichen Widerständen ihrer eigenen Partei konfrontiert wurde, setzte erst die ihr nachfolgende profilierte SPD-Politikerin Käte Strobel gesundheitspolitische Schwerpunkte und verlieh dem Ressort bis Anfang der 1970er Jahre inhaltlich Kontur und Profil – sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch innerhalb der Bundesregierung und in der Auseinandersetzung mit den Ländern. Wie Strobel so war auch die ab 1972 als Bundesgesundheitsministerin amtierende promovierte Akademikerin Katharina Focke eine versierte Europapolitikerin. Die beiden sozialdemokratischen Ministerinnen verstanden es, ihr europapolitisches Denken auf das Gesundheitsressort zu übertragen, das während ihrer Amtszeiten mit einer sich immer stärker internationalisierenden und europäisch konsolidierenden Gesundheitspolitik konfrontiert wurde. Dies gilt etwa hinsichtlich erster Richtlinien auf europäischer Ebene für Arzneimittel, dem auch von Brüssel und Straßburg mitbestimmten Umwelt- und Verbraucherschutz oder der Freizügigkeit der Anstellung von Medizinern innerhalb der Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Personalpolitisch war allein der Wechsel an der Spitze des BMGes 1966 von der Christdemokratin Schwarzhaupt hin zur Sozialdemokratin Strobel Ausdruck eines politisch-gesellschaftlichen Wandlungsprozesses – der erstmals die Sozialdemokratie Mitte der 1960er Jahre in Regierungsverantwortung auf Bundesebene geführt hatte. Entwicklungs- und Wandlungsprozesse der bundesdeutschen Demokratie spiegelten sich zugleich auch in der Personalpolitik des Gesundheitsressorts zwischen 1961 und Mitte der 1970er Jahre insgesamt wider – mit einer dominanten Konstante: unkritische Distanz zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Hinblick auf die Personalpolitik hatte Elisabeth Schwarzhaupt 1961 zunächst vor der Herausforderung gestanden, ein sehr großes und aus vielen vormaligen Bereichen anderer Ministerien bzw. Abteilungen der Bundesverwaltung zusammengesetztes neues Ressort handlungsfähig EINE BILANZ

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machen zu müssen. Eine Vielzahl vakanter Stellen erschwerte das Agieren des neuen BMGes bis Mitte der 1960er Jahre. Grundsätzlich war es zudem eine Besonderheit des Bonner Gesundheitsressorts, nicht wie andere Bundesministerien personell von Verwaltungsjuristen dominiert zu sein, sondern von Medizinern, Pharmazeuten und Ingenieuren. Erst Anfang der 1970er Jahre war das Verhältnis von Juristen und Ärzten innerhalb des BMGes ausgeglichen, bedingt durch gewandelte Arbeitsschwerpunkte und generationelle Ablösungsprozesse. Zudem gilt: Trotz der prominenten weiblichen Führungsspitze des Hauses war das BMGes personalpolitisch Männerdomäne und Frauen in Leitungspositionen im Vergleich zu anderen Bundesministerien unterrepräsentiert. Diese Untersuchung konnte darüber hinaus als einen zentralen personalpolitischen Befund herausarbeiten, dass die NS -Vergangenheit des BMGes-Personals seitens der Leitungsebene und der Personalverantwortlichen praktisch bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes Mitte der 1970er Jahre nie als eine relevante und näher zu untersuchende Kategorie verstanden wurde. Folge einer derart unkritisch gegenüber NS -Biografien betriebenen Personalpolitik war unter anderem die Kontinuität des Narratives vom während des »Dritten Reiches« tätigen »unpolitischen« Arzt bzw. Naturwissenschaftler. Die vorliegende historische Studie verwendet den Begriff der »Belastung« differenziert. An zahlreichen Beispielen wurde aufgezeigt, dass »Belastung« nicht allein auf den Faktor »NSDAP-Mitgliedschaft« reduziert werden kann. Differenziert und historisch-kritisch kontextualisiert wurde damit ein markanter Befund: Rein quantitativ lagen die Quoten ehemaliger NSDAPMitglieder, Angehöriger der SA oder SS bzw. weiterer NS -Organisationen innerhalb des Gesamtpersonalbestandes des Gesundheitsministeriums in den 1960er Jahren – verglichen mit denen anderer Bundesministerien bzw. -behörden – auf einem hohen Niveau. Sie fielen (wie auch bei anderen Einrichtungen) erst mit dem altersbedingten Ausscheiden von Personen Anfang der 1970er Jahre.3 Vergleicht man den personalpolitischen Umgang des BMGes hinsichtlich der Kategorie »NS -Belastung« mit dem Agieren anderer Bundesministerien, etwa dem personalstarken und für die Innenverwaltung wichtigen 3 Zu den diesbezüglichen Ergebnissen anderer Forschungsarbeiten vgl. u. a. Rass, Sozialprofil; Wolf, Entstehung; Görtemaker / Safferling, Akte; Goschler / Wala, Bundesamt; Stange, Bundesministerium; Palm / Stange, Vergangenheiten. Im Untersuchungszeitraum war etwas weniger als die Hälfte, rund 46 , der insgesamt 111 untersuchten leitenden Mitarbeiterinnen u. Mitarbeiter des BMGes Mitglieder der NSDAP gewesen; 17  des BMGes-Personals hatte der SA angehört u. drei Angestellte (rd. 3 ) der SS. Zu weiteren Angaben, etwa zum zeitlichen Verlauf, zur Differenzierung nach Lebenswegen u. Netzwerken, vgl. detailliert Kap. II. 318

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BMI, treten zwei markante Besonderheiten zutage. Zunächst war die

späte Gründung des Bundesgesundheitsressorts 1961 Argument gegen eine kritisch betriebene Personalpolitik in Bezug auf die NS -Biografien des Personals. Denn die zeitliche Distanz zu »1945 /49« galt per se als »entnazifizierend«. Mit anderen Worten: Eine vor 1945 erfolgreich betriebene Karriere im öffentlichen Gesundheitsdienst oder auch die Mitgliedschaft in und aktive Unterstützung von NS -Organisationen wurden zwar von den Personalverantwortlichen in den 1960er Jahren registriert, aber allein deshalb als unverdächtig und belanglos eingestuft, weil das Personal bereits mehrfach seit 1945 überprüft und »entnazifiziert« worden war. Das Leitungspersonal hatte mit Eintritt ins BMGes zudem in der Bundesrepublik seit 1949 Karriere gemacht. Personen wie der Jurist Walter Bargatzky, der erste Staatssekretär im Gesundheitsressort, hatten sich gegenüber den West-Alliierten als »Männer des Wiederaufbaus« profiliert und waren in den 1950er Jahren in höchste Leitungspositionen anderer Ressorts gelangt. Im Fall Bargatzkys hatten seine in Reden und Schriften publizierten rassistischen Auslassungen über die Höher- und Minderwertigkeit der Menschen in den Jahren 1946 und 1948 die Einstellung ins Bundesinnenministerium nicht behindert und waren nicht nur denk-, sondern auch sagbar gewesen. Nachdem Bargatzky im BMI Karriere gemacht hatte, galt er bei seiner Berufung ins BMGes als politisch zuverlässig. Dieses personalpolitische Argument der »Gnade einer späten Ministeriumsgründung« wurde im Fall des BMGes aber auch durch eine charakteristische personalpolitische Kategorie verstärkt, die der Profession. Gerade weil es sich beim Bundesministerium für Gesundheitswesen um ein von naturwissenschaftlichen »Experten« dominiertes Ressort handelte – und diese Berufsgruppen zeitgenössisch als »unverdächtig« im Hinblick auf eine mögliche zwischen 1933 und 1945 akkumulierte »Schuld« galten – unterblieb eine kritische Reflexion bzw. wollten Verantwortliche des BMGes in Einzelfällen nähere Details einer Biografie aus der Zeit vor 1945 nicht wissen. Eine tatsächlich kritische Auseinandersetzung mit der Personalpolitik des eigenen Hauses ruhte aufseiten des Ministeriums praktisch bis in die jüngste Zeit. Und dies, obwohl erstmals 1989 /90 gegen einen der prominentesten Beamten des Ressorts strafrechtliche Ermittlungen wegen Tötungsdelikten während des NS -Regimes geführt worden waren – und zwar gegen Josef Stralau, den langjährigen Ableitungsleiter I des BMGes. Dass Stralau zwischen 1937 und 1945 im öffentlichen Gesundheitsdienst des »Dritten Reiches« eifrig und rigide die Prämissen der auf Selektion und Züchtungsutopie beruhenden nationalsozialistischen »Gesundheitspolitik« implementiert hatte und als ein überzeugter NS -Rassenhygieniker in Erscheinung getreten war, konnte diese Untersuchung erstmals quellenfundiert und detailliert herausarbeiten. Die Ergebnisse historischer Forschung EINE BILANZ

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gehen aber noch weiter: Sie verdeutlichen mit Blick auf die NS -Biografie Josef Stralaus die Täterschaft eines Amtsarztes im »Dritten Reich«. Denn Stralau verhängte nicht nur – als Ausdruck vorauseilender Selbstermächtigung – Zwangssterilisationsbeschlüsse, deren »Indikationsgrundlagen« weit über die nationalsozialistisch definierten radikalen rassenhygienischbiologistischen Kriterien hinausreichten, sondern er wurde mitschuldig an der Tötung von geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen in mindestens 31 Fällen durch Unterlassen. Qua Funktion des Amtsarztes war Stralau verantwortlich gewesen für die Aufsicht über eine Oberhausener Heil- und Pflegeanstalt, in der Insassen zwischen 1933 und 1941 planmäßig »euthanasiert« wurden – wobei alle Evidenz einer in diesem Fall erstmals ausführlich durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchung von Krankenakten und amtlicher Korrespondenz nur den Schluss zulässt, dass der Amtsarzt Josef Stralau von den gezielten und heimtückischen Tötungsvorgängen wusste, sie aber zumindest gleichgültig akzeptierte und damit einem Fortdauern des Ermordens Vorschub leistete. Auch ohne die Details im Falle der Oberhausener Heil- und Pflegeanstalt zu kennen, galt Josef Stralaus amtsärztliche Biografie aus der Zeit vor 1945 für das BMGes nicht nur als unverdächtig, sondern als ein Ausweis fundierter medizinischer und bürokratischer Kompetenz. Dementsprechend wurde sie nie kritisch hinterfragt. Sein Fall steht diesbezüglich exemplarisch für die auch bei anderen »Experten« des Ressorts betriebene unkritische Personalpolitik, die sich eben durch zwei wesentliche Elemente auszeichnete: die »Gnade« der späten Ministeriumsgründung, in Verbindung mit dem Narrativ des »unpolitischen« Experten. Das BMGes berücksichtigte mit dieser Personalpolitik die im Verlauf der 1960er Jahre neu gewonnenen Erkenntnisse über Täterschaft und Schuld während des »Dritten Reiches«, vor allem auch hinsichtlich der Rolle des als »unpolitisch« geltenden Agierens von Ärzten und Beamten im NS-Staat, nicht. Gesellschaftliche Debatten, wie etwa rund um den 1964 angestrengten Prozess gegen den NS -»Euthanasie«-Arzt Werner Heyde, aber auch der praktisch zeitgleich mit der Ministeriumsgründung Ende des Jahres 1961 in Jerusalem geführte Prozess gegen Adolf Eichmann – Exempel eines am Massenmord beteiligten NS -Bürokraten –, rückten zeitgenössisch mehr und mehr die verbrecherischen Dimensionen des »Dritten Reiches« ins Zentrum. Der Prozesse generierte neues Wissen über die Rolle von Tätern und demonstrierte die Mannigfaltigkeit der Kategorie von Täterschaft. Er wandelte indes den bundesdeutsch-gesellschaftlichen Umgang mit dem »Dritten Reich« erst langfristig.4 4 Vgl. u. a. Krause, Öffentlichkeit; ders., Eichmann-Prozeß; Keilbach, Epoche; Große, 320

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Das heißt: Auch wenn zeitgenössisch Anhaltspunkte gegeben waren, die scheinbar »unpolitische« Biografie eines Amtsarztes während des NS -Regimes kritisch zu hinterfragen, geschah dies aufseiten des Ministeriums nicht – und es war auch erst in den 1990er Jahren eine tatsächlich in der Breite der Bevölkerung stärker erkannte Notwendigkeit. Anders formuliert: Mit ihrer unkritischen Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus spiegelte die Personalpolitik des BMGes gesamtgesellschaftliche Tendenzen des bundesdeutschen Umganges mit dem »Dritten Reich« wider. Und weil historisches Wissen und differenzierte Analysen fehlten, galt die zwischen 1933 und 1945 ausgeübte Funktion des Amtsarztes für die Personalverantwortlichen des Bonner Gesundheitsressorts weder zu Beginn noch am Ende des Untersuchungszeitraumes dieser Arbeit als die eines Protagonisten der NS -Rassenhygiene. Sachpolitisch schlug sich diese Personalpolitik konkret nieder. Wie diese Untersuchung gleichfalls herausgearbeitet hat, lassen sich ausgehend vom Beispiel Josef Stralaus mentale Haltungen des frühen BMGes mit Blick auf humanmedizinische Sachfragen exemplifizieren. Dabei zeigen sich politische Konzepte, die das rassistisch-biologistische Paradigma der NS »Gesundheitspolitik« relativierten und partiell sogar zu reaktivieren suchten. Für die gesundheitspolitische Arbeit des BMGes ab 1961 war Josef Stralau als Leiter der Abteilung I die maßgeblich gestaltende und koordinierende Persönlichkeit hinsichtlich humanmedizinischer Fragen. Mit Fug und Recht kann festgehalten werden, dass das Ressort bis Antritt eines Mediziners als Staatssekretär 1967 unter Ägide Stralaus stand und er in der Amtszeit von Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt eine unumschränkte Machtposition einnahm. Deutlich wird dies allein daran, dass er nach Gründung des Ministeriums 1961 formal für gut anderthalb Jahre neben der wichtigen humanmedizinischen Abteilung I gleichzeitig auch die Zentralabteilung leitete und damit für die Personalpolitik des Bundesgesundheitsressorts verantwortlich war. Stralaus prägender sachpolitischer Einfluss lässt sich – so die Ergebnisse dieser Studie – anhand dreier Beispiele verdeutlichen: zum einen dem erbitterten Streit des Bundesministeriums für Gesundheitswesen mit den wichtigsten medizinischen Fachgesellschaften und ärztlichen Berufsverbänden der Bundesrepublik um das Wort »Approbation«; zum anderen der Initiative des BMGes für ein neues Gesetz zur freiwilligen eugenisch indizierten Sterilisation; und schließlich dem Umgang des Bonner Gesundheitsministeriums mit einem privaten Zusammenschluss von Medizinern Eichmann-Prozeß; Matthäus, Eichmann-Prozeß; Langer, Euthanasie-Prozesse; GodauSchüttke, Heyde / Sawade-Affäre. EINE BILANZ

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zur Verbesserung der Nikotinprävention. In allen drei Fällen dominierte eine stark illiberal-antipluralistische und etatistisch-autoritäre Haltung die Politik des Ministeriums, die mehr als nur unkritisch im Hinblick auf die medizingeschichtlichen Hypotheken des NS -Regimes war. Dass es aufseiten der BMGes-Abteilung I nicht nur mangelnde kritische Distanz zu einem vom Nationalsozialismus implementierten etatistischautoritären Verständnis von Medizin und ärztlicher Handlungspraxis, sondern Überzeugung von der Richtigkeit der im »Dritten Reich« definierten staatsdienenden Rolle des Arztes war, die in politischen Initiativen des frühen Bundesgesundheitsressorts Ausdruck fand, zeigt eine der bemerkenswertesten gesundheitspolitischen Kontroversen der 1960er Jahre: der Konflikt um die Worte »Approbation« versus »Bestallung«. Wie diese Studie aufzeigt, forderten seit Ende der 1950er Jahre die wichtigsten ärztlichen Standesvertretungen und Berufsverbände der Bundesrepublik von Josef Stralau – seinerzeit noch Leiter der Gesundheitsabteilung des BMI – endlich wieder den Begriff »Approbation« anstelle des während des »Dritten Reiches« 1935 eingeführten Wortes »Bestallung« in den vom Bund zu erlassenden Regelwerken über die Zulassung zum ärztlichen Beruf zu verwenden. Während die Verbände auf eine lange standesethische und liberal geprägte Tradition des Wortes »Approbation« verwiesen und sich gegen den in der deutschen Verwaltungssprache für die Medizin unüblichen Terminus »Bestallung« verwahrten, eben weil er das Untergebenenverhältnis eines Staatsdieners gegenüber einer hoheitlichen Autorität bezeichnete, ergriff das BMGes auch in den 1960er Jahren demonstrativ und energisch Partei zugunsten der »Bestallung«. Die Gesamtergebnisse dieser Studie zeigen: Diese Haltung der humanmedizinischen Abteilung I des BMGes war nicht allein durch fehlende Sensibilität hinsichtlich einer NS -Terminologie motiviert, sondern von der Überzeugung, dass die Zulassung zum Beruf des Arztes eine substanziell etatistisch konnotierte Haltung des Mediziners verlangte. Im »Sinne einer Kontinuität« – so die Betonung der BMI-Gesundheitsabteilung bereits im Sommer 1960 – war das Festhalten am vom NS -Regime implementierten Begriff »Bestallung« in der bundesdeutschen Demokratie »erwünscht« – obwohl er ein illiberal-autoritäres Verständnis von der Funktion des Arztes im Staat tradierte.5 Das Beispiel des zwischen 1961 und 1965 zielstrebig vorangetriebenen Gesetzesvorhabens zur eugenisch indizierten Sterilisation macht darüber hinaus deutlich, wie stark rassenhygienische Paradigmen der 1920er und 1930er Jahre mental verhaftet blieben – und diese Geisteshaltungen konstitutiv für das Handeln des BMGes wurden. Auch in der bundesdeutschen Demokratie der 1960er Jahre blieb der Leiter der Abteilung I 5 Vgl. BA rch, B 142 /3775, Protokoll der Sitzung v. 10. 8. 1960. 322

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des Bundesgesundheitsministeriums davon überzeugt, dass der Staat ein Verfügungsrecht über die Erbgesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger besaß, aus dem hoheitlichen Interesse heraus, die biologische Substanz des Volkes langfristig zu stärken und damit eine erbgesunde Bevölkerung heranzuzüchten. Dementsprechend durfte der Staat rigide in intimste Bereiche eingreifen und die Frage entscheiden, wer Kinder haben durfte und wer nicht. Für die Anfang der 1960er Jahre entworfene Sterilisationspolitik des BMGes galt damit praktisch dieselbe Prämisse, wie Josef Stralau sie 1938 formuliert hatte: nämlich die von der staatlicherseits definierten »volksbiologischen Brauchbarkeit« des Einzelnen.6 Handlungsleitendes Motiv gesundheitspolitischer Überzeugungen blieb bei BMGes-Abteilungsleiter Stralau auch in den 1960er Jahren die »Wertigkeit« menschlicher Anlagen, das heißt im Umkehrschluss eine vorzunehmende Klassifikation und Nichtgleichheit. Die Rechte von Menschen waren gemäß seinen Paradigmen der »Bonner Eugenik« gegenüber Staat und Gesellschaft abhängig von biologischen Variablen: Körperliche Veranlagungen, Stoffwechselstörungen oder Krankheiten, etwa Diabetes oder Krebs, sowie expressis verbis alle 1933 vom Nationalsozialismus definierten »Erbkrankheiten« sollten nach dem Willen Stralaus 1964 die Grundlagen einer neuen bundesdeutschen Sterilisationspolitik bilden. Denn sie galten nach dem Wunsch des BMGes als Indikatoren einer Unfruchtbarmachung. Das heißt: Nach Maßgabe der Abteilung I sollten Mitte der 1960er Jahre von Staats wegen in entsprechenden Gesetzentwürfen erwünschte »Erbanlagen« definiert werden, mit der Konsequenz der unkritischen Übernahme rassenhygienischer Prämissen einer selektiv-stigmatisierenden »Erbgesundheitspolitik«. Wie diese Untersuchung schließlich auch darstellt, wurde eine private Initiative von Medizinern, deren Ziel eine Verschärfung der bundesdeutschen Anti-Raucherpolitik, insbesondere zum Schutz von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, war, seitens der humanmedizinischen Abteilung I des BMGes Ende der 1960er Jahre delegitimatorisch als »APO« tituliert.7 Mit dem despektierlich verwandten Schlagwort von der »Außerparlamentarischen Opposition« stigmatisierte das Bundesgesundheitsministerium den zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss als undemokratisch-staatsgefährdende Vereinigung. Mit anderen Worten: Die Abteilung Stralaus im Bundesgesundheitsministerium erkannte Ende der 1960er Jahre – wie andere Bereiche der Bundesexekutive auch – in der mehr politisch-demokratische Mitbestimmung einfordernden und von Studentenprotesten und Um6 Zum Ausdruck von 1938 vgl. StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten, Bd. 630, Antrag auf Unfruchtbarmachung, Juni 1938. 7 Vgl. BA rch, B 189 /36287, Vermerk, 22. 6. 1969; BA rch, B 189 /36287, Vermerk, 19. 12. 1969. EINE BILANZ

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weltbewegung geprägten Entwicklung von »1968« eine Gefahr und keine Chance. Kritik an ministerieller Politik und gesellschaftlich eingeforderte Mitsprache galten für die Abteilung I als Affront und Provokation einer als militant verschrienen politisch linken Opposition.8 Dabei war das in den 1960er Jahren gewandelte Bewusstsein der Bevölkerung für die bundesdeutsche Demokratie eine der wichtigsten Ursachen für modernisierende und liberalisierende Veränderungen in der Politik des BMGes. Die anachronistischen gesundheitspolitischen Vorstellungen und Initiativen Stralaus wurden nicht vonseiten der sozialdemokratischen Ministerin Strobel oder ihres Staatssekretärs von Manger-Koenig gestoppt, sondern scheiterten am Widerspruch einer kritischen und emanzipierten Öffentlichkeit: Die medizinischen Fachgesellschaften übten Fundamentalkritik an der von Stralaus Abteilung des Bundesministeriums für Gesundheitswesen entworfenen Konzeption einer bundesdeutschen Sterilisationspolitik. Empört über deren schiere Unwissenschaftlichkeit, kritisierten sie de facto vor allem auch – unter Verweis auf das begangene Unrecht vor 1945 – eine unsensible und nationalsozialistische Verbrechen relativierende Herangehensweise des Ministeriums. Die immer wieder kritische Haltung von sozialdemokratischen, aber auch christdemokratischen Mitgliedern des Bundestagsausschusses für Gesundheit sowie die an das Gesundheitsministerium adressierten Zuschriften der Bevölkerung waren Faktoren pluralistischer Kontrolle, die umso deutlicher aufzeigten, wie entkoppelt von der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit der 1960er Jahre das gesundheitspolitische Handlungsinstrumentarium Josef Stralaus war – und dies gilt nicht nur im Falle der Sterilisations-, sondern etwa auch der Anti-Raucherpolitik. Auch der Umstand, dass das Wort »Approbation« die »Bestallung« als Bezeichnung für die staatlicherseits erteilte Zulassung zum ärztlichen Beruf 1968/69 ersetzte, war weder einer zeitlichen Koinzidenz geschuldet noch ging die Umbenennung auf eine Initiative des BMGes zurück. Vielmehr hatte der Bundestagsausschuss für Gesundheit auf eine zeitgemäße Änderung des Ausdrucks gedrungen – forciert durch das energische Intervenieren der ärztlichen Fachverbände und Standesvertretungen. Deren seit Mitte der 1950er Jahre unverändert vehement artikulierte Haltung in dieser Frage fand nun Ende der 1960er Jahre, vor dem Hintergrund breiter gesellschaftlicher Modernisierungstendenzen, politisch Resonanz. In diesem Sinne war schließlich auch Josef Stralaus Entschluss zur vorzeitigen Pensionierung im Januar 1971 mehr als nur eine persönliche Entscheidung. Sie muss vielmehr als Resultat vorangegangener gesell8 Vgl. insgesamt u. a. Schildt, Kräfte. Vgl. insgesamt ebs. Mecking, Aufbruch; Richter, Opposition; Gassert, Wahrnehmungsrevolution; Gilcher-Holtey, Wahrnehmungsrevolution; dies., 1968. 324

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schaftlicher und politischer Wandlungsprozesse gelten, die auch das von Stralau im Ministerium mitgestaltete Handeln in vielen Bereichen ganz maßgeblich verändert hatten. Auch wenn Stralau nicht unmittelbar durch eine vom Gesundheitsressort initiierte kritische Reflektion über seine NS Biografie zur Quittierung des Dienstes bewegt wurde, war der mit »1968« umschriebene Wandlungsprozess der bundesdeutschen Demokratie – hin zu mehr gesellschaftlicher Partizipation und kritischer Erörterung von Schuld und Täterschaft im »Dritten Reich« – Ursache seines vorzeitigen Rückzuges aus dem Amt 1971. Mit Blick auf die Sachpolitik des BMGes gilt darüber hinaus grundsätzlich: Während in den 1960er Jahren noch primär medizinpolitische Themen die Arbeit des Hauses bestimmten, bekamen in den 1970er Jahren Konzepte zur Stärkung des Verbraucherschutzes immer stärkeres Gewicht. Auch wenn das BMGes 1961 demonstrativ und explizit unter Verweis auf die umweltbedingten Gesundheitsrisiken entstanden war, blieb die praktische Sachpolitik zunächst klar dem Primat der Humanmedizin untergeordnet. Die Abteilung »Wasserwirtschaft, Reinhaltung der Luft und Lärmbekämpfung« legte zwar in den 1960er Jahre erste Grundsteine. Jedoch erst die im Verlauf dieses Jahrzehnts gesellschaftlich immer stärker werdende Tendenz zur Berücksichtigung von Fragen des Umweltschutzes, der Lärmbekämpfung und der Lebensmittelsicherheit führte im Ergebnis bis Anfang der 1970er Jahre zu einer deutlichen innerministeriellen Akzentverschiebung des Arbeitsfokus. Während die Abteilung »Wasser – Luft – Lärm« 1969 ins BMI gewechselt war, als neue Abteilung »U«, gestaltete das Gesundheitsressort schließlich seit den frühen 1970er Jahren die Anfänge des Verbraucherschutzes auf Bundesebene maßgeblich mit, speziell hinsichtlich der Lebensmittelsicherheit. Dabei griff dieser moderne Verbraucherschutz der späten 1960er und frühen 1970er Jahre durchaus auf Elemente einer in der Weimarer Republik der 1920er Jahre begonnenen sozialhygienisch geprägten Entwicklung zurück – und adaptierte sie. Charakteristisch im Hinblick auf die Sachpolitik des Bundesgesundheitsministeriums ist schließlich auch: Ein anfänglich konfrontatives Agieren des BMGes, das die vom Grundgesetz Bund und Ländern aufgetragene Aushandlung der jeweiligen gesundheitspolitischen Zuständigkeiten maximal zugunsten des Bundes festzuschreiben suchte, wandelte sich erst ab dem Ende der 1960er Jahre zu einem gegenüber den Ländern von Kooperation und Konkurrenz geprägten Arbeitsstil. Sei es die über Jahre hinweg mit den Ländern ausgetragene Kontroverse um die vom Bund beanspruchte Regelungskompetenz einer Zulassung von Fachärzten oder auch die de jure grundgesetzwidrige Initiative für ein Bundesgesetz zur eugenischen Sterilisation: Beide Beispiele stehen pars pro toto für die vom frühen BMGes resolut beanspruchte gesundheitspolitische Führungsrolle, EINE BILANZ

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die die – auch historisch seit dem 19. Jahrhundert gewachsene – Länderdominanz auf diesem Gebiet zu unterminieren suchte. In vielerlei Hinsicht bleibt die frühe bundesdeutsche Geschichte bis heute paradox und ambivalent: Denn das Scheitern der Demokratie war im Falle der Bundesrepublik in den 1950er Jahren viel wahrscheinlicher als ihr Erfolg.9 Warum konnte ein demokratisch-liberaler Rechtsstaat – trotz starker personeller NS -»Belastungen« seiner Beamtenschaft – herausgebildet werden? Und konkret auf das Beispiel des Gesundheitsressorts bezogen: Wie ist der fundamentale Widerspruch zu erklären, dass Gesellschaft und medizinische Öffentlichkeit die NS -Zwangssterilisierten in den 1960er Jahren nicht als Opfer rassistischen Unrechts anzuerkennen vermochten, es andererseits aber gleichzeitig dieselbe Öffentlichkeit und die medizinischen Fachverbände waren, die ein vom BMGes angestrebtes neues Sterilisationsgesetz als unwissenschaftlich und geschichtsvergessen verdammten – eben weil es auf NS -definierte »Erbkrankheiten« rekurrierte? Wieso hatten man einerseits ein so ausgeprägtes moralisches Gewissen, erkannte andererseits aber nicht diejenigen als Opfer an, die diesen nicht gebilligten Praktiken vor 1945 ausgesetzt gewesen waren? Welches sachpolitische Beispiel dieser Untersuchung auch herangezogen wird, stets tritt ein Befund zutage: Das größte innovative Potenzial für die im Verlauf der 1960er und frühen 1970er Jahre gewandelten Vorstellungen von und über Gesundheitspolitik wurde nicht vom Staat freigesetzt, sondern von der seitens der Öffentlichkeit an ihn adressierten Erwartungshaltung im Hinblick auf das Thema »Gesundheit«. Vergleicht man den gesundheitspolitischen Zäsurcharakter der Jahre 1945 /49 mit dem von 1918 /19, also den Beginn der ersten deutschen Demokratie von Weimar, wird deutlich, wie viel stärker zu Beginn der 1920er Jahre ein politisch gewollter – und in Form der Sozialhygiene staatlicherseits implementierter – neuer Entwurf von Gesundheitspolitik Raum griff. 1945 /49 erfolgte – trotz vergleichbar hoher »personeller Kontinuitäten« in diesem Bereich wie 1918 /19 – eine so starke und bewusst vollzogene Neukonzeption bezüglich einer öffentlichen Gesundheitspolitik aufseiten des Staates nicht. Erst die im Verlauf der 1950er Jahre gewandelten Lebenskonzepte der westdeutschen Gesellschaft, veränderte Konsumverhalten und die verstärkten Umweltbelastungen, als Kehrseite gestiegener Wirtschaftskraft, bedingten es, dass die gegenüber dem Staat artikulierten Ansprüche und Vorstellungen von und über Gesundheitspolitik viel weitreichender und komplexer wurden. Erst die gesellschaftlich gewandelten Vorstellungen lösten die vom BMGes etatistisch geprägten Konzeptionen von Gesundheitspolitik zugunsten liberal-individualistischer Prämissen ab. 9 326

Vgl. u. a. Wolfrum, Demokratie; Kielmansegg, Land. EINE BILANZ

Die Einbettung der bundesdeutschen Demokratie in westeuropäische Strukturen war hierbei ein ganz wesentliches Moment der Modernisierung der »Bundesgesundheitspolitik« und ihrer pluralistischen Liberalisierung. Auch diese Untersuchung beschreibt damit, wie neuere Forschungen im Hinblick auf die Herausbildung der bundesdeutschen (Gesundheits-) Bürokratie, Facetten eines ministeriellen Lernprozesses von Demokratie in den frühen Jahren der Bundesrepublik.10 Ein Blick zurück auf die Anfänge der Gesundheitspolitik auf Bundesebene zeigt zudem: Es war stets ein emotional debattiertes und umstrittenes Feld, weil es elementare Belange von Menschen berührte und damit zugleich auch den Staat in eine besondere Verantwortung nahm, ging es doch um die Sicherung von Gesundheit respektive Gewährleistung ihrer Wiedererlangung. Auch wenn das Budget des Bundesgesundheitsressorts von Jahr zu Jahr stieg und seine Kompetenzen weitreichender und klarer definiert wurden, blieb »Gesundheitspolitik« als Bundesaufgabe in den 1960er und frühen 1970er Jahren ein umstrittenes – und von föderalen Akteuren maßgeblich mitbestimmtes – Feld. Gerade auch die von den föderalen Gesundheitsakteuren gesetzten Impulse und ihre Mitbestimmung waren es, die Modernisierungstendenzen des BMGes beschleunigten und Veränderungsprozesse initiierten. Zumindest für die historische Rückschau gilt daher: Erst das konstruktive Zusammenwirken von Bund und Ländern schuf über die Zeit die besten Rahmenbedingungen einer demokratischmodernen Gesundheitspolitik. Insgesamt belegen damit die Befunde dieser Arbeit nicht zuletzt den besonderen Querschnittscharakter von Gesundheitspolitik: Wie kaum ein anderes Forschungsfeld zeigt sich in ihrem Fall die enge Verzahnung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Facetten. Und nicht zuletzt: Der für den föderalen deutschen Bundesstaat konstitutive Gegensatz zwischen Bund und Ländern ist essenzieller Teil der Gesundheitspolitik. Als Beitrag zu einer Zeitgeschichte der Gesundheit und Behördenforschung stellt diese Studie, ausgehend von einer Betrachtung des BMGes, eine umfassende Anschlussfähigkeit her: Die Ergebnisse dieser Untersuchung bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte und Schnittmengen für weitere Forschungsarbeiten. Nicht nur zu bundesdeutschen Institutionalisierungsund Bürokratisierungsprozessen, sondern auch zur Politik-, Wirtschafts-, Umwelt-, Alltags- und Konsumgeschichte, zur Geschichte der Körperlichkeit und nicht zuletzt zu einer Problemgeschichte des Föderalismus. Im Ergebnis zeigt sich damit die einzigartige Bedeutung von »Gesundheit« als einem essenziellen Teil der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Geschichte der Bundesrepublik. 10 Vgl. u. a. Friedl, Demokratie; Palm, Fördern. EINE BILANZ

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am Abbildung Abteilung Archiv für Christlich-Demokratische Politik Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung Arbeitsgruppe Leitender Medizinalbeamter (des Bundes und der Länder) The American Journal of Preventive Cardiology am Main Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Außerparlamentarische Opposition am Rhein an der Saale Bundesärztekammer Bundesärzteordnung Bundesarchiv Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung/Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung Band Bundesgesundheitsamt Bundesgesetzblatt Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes Bundesgesundheitsrat Bundeskanzleramt Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Justiz Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Bundesrat Bundesregierung Deutscher Bundestag Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheid beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union Deutschlands

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CDU/CSU d. ders. DFG dies. DKFZ DM Dr. jur. Dr. phil. DVP DZA DZK ebd. ebs. ehem. ERA EU EWG f. FDP Fn. geb. GVG GzVeN HLKO i.Br. insbes. Kap. KdF KPD LA LKA LTI LP mbH MdEP MS NEJM NL 330

Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern das derselbe Deutsche Forschungsgemeinschaft dieselbe Deutsches Krebsforschungszentrum Deutsche Mark doctor juris doctor philosophiae Deutsche Volkspartei Deutscher Zentralausschuß für Krebsforschung und Krebsbekämpfung Deutsches Zentralkomitee für Krebsforschung und Krebsbekämpfung ebenda ebenso ehemalige(n) Eesti Rahvus Archiiv Europäische Union Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Freie Demokratische Partei Fußnote geboren Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Haager Landkriegsordnung im Breisgau insbesondere Kapitel Kanzlei des Führers Kommunistische Partei Deutschlands Landesarchiv Landeskriminalamt Lingua Tertii Imperii Legislaturperiode mit beschränkter Haftung Mitglied des Europäischen Parlaments Multiple Sklerose The New England Journal of Medicine Nachlass ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

NRW NS NSDAP OT PA-BTag RÄO RGBl. Rh-Faktor RKI RMI RM S. SA SED SPD SS St. StA StS Ts. u. u.a. US/USA v. v.a. vgl. VO W WDR WHO WP Zit. zit. n. z.T. z.Z.

Nordrhein-Westfalen Nationalsozialismus/nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Organisation Todt Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages Reichsärzteordnung Reichsgesetzblatt Rhesus-Faktor Robert Koch-Institut Reichsministerium des Innern/Reichs- und Preußisches Ministerium des Innern Reichsmark Seite Sturmabteilung Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Sankt Stadtarchiv Staatssekretär Taunus und unter anderem United States of America von / vom vor allem vergleiche Verordnung West Westdeutscher Rundfunk World Health Organization Wahlperiode Zitat/Zitate zitiert nach zum Teil zur Zeit

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VIIIũƭUĮŇžƒåŹƐŹåĻÆåŹď Archiv Kloster Arenberg, Chronik Oberhausen Archiv Kloster Arenberg, Jahresberichte 1930 – 1939 Archiv Kloster Arenberg, Krankenakten

IX ũƭX±ĻÚåž±ŹÏĚĞƽƐcŇŹÚŹĚåĞĻĝœåžƒü±ĮåĻƐŦLA cœ) LA NRW, Abt. Rheinland, BR 0007 LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1015 /3178 LA NRW, Abt. Rheinland, BR 2225 /1500, Personalakte Stralau, Josef LA NRW, Abt. Westfalen, K 101, Regierung Arnsberg LA NRW, Abt. Westfalen, Q 234

£ũƭ{±ŹĮ±ķåĻƒž±ŹÏĚĞƽƐÚåžƐ%åƣƒžÏĚåĻƐƣĻÚ垃±ďåžƐŦPA-BTag) PA-BTag, Ausschuss für Gesundheitswesen PA-BTag, Ausschuss für Wiedergutmachung

XIũƭ„ƒ±Úƒ±ŹÏĚĞƽƐkÆåŹĚ±ƣžåĻƐxƐĚåĞĻĮ±ĻÚƐŦ„ƒƐkÆåŹĚ±ƣžåĻŧ StA Oberhausen, Amtliche Mitteilungen StA Oberhausen, Bd. 12, Nr. 1047, Personalakte Schröder, Erich StA Oberhausen, Erbgesundheitsakten StA Oberhausen, Standesamt

XIIũƭ„ƒ±Úƒ±ŹÏĚĞƽƐUŋĮĻƐŦ„ƒƐUŋĮĻŧ StA Köln, Best. 438/A 3, Personalakte Stralau, Josef

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361

eÆÆĜĬÚƚĹčŸĹ±ÏĘƵåĜŸ Abb. 1: Bundesarchiv/Bild 183-2006-0329500 Abb. 2: Süddeutsche Zeitung Photo Abb. 3: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00060144, Fotograf: Scherl Abb. 4: Deutsches Historisches Museum/ Fotograf: Arne Psille Abb. 5: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00043364, Fotograf: Scherl Abb. 6: Archiv Stiftung Sächsische Gedenkstätten / Gedenkstätte PirnaSonnenstein/Foto: Jürgen Lösel Abb. 7: Süddeutsche Zeitung Photo/ Sammlung Berliner Verlag Abb. 8: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00309301 Abb. 9: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00324843 Abb. 10: Süddeutsche Zeitung Photo/Bild ID 00113541 Abb. 11: Bundesarchiv Abb. 12: Grafik F. Kuschel Abb. 13: Grafik F. Kuschel Abb. 14: Grafik F. Kuschel Abb. 15: Grafik F. Kuschel Abb. 16: Grafik F. Kuschel Abb. 17: Grafik F. Kuschel Abb. 18: Grafik F. Kuschel Abb. 19: »Krakauer Zeitung«, 16. 8. 1944 Abb. 20: Grafik F. Kuschel Abb. 21: Grafik F. Kuschel Abb. 22: Grafik F. Kuschel Abb. 23: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00047228, Fotograf: Gerhard Heisler Abb. 24: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00046132, Fotografin: Renate Patzek Abb. 25: Ziviler Bevölkerungsschutz (8) 1963, Nr. 3 Abb. 26: Cover »Mein Pudel Katja« Abb. 27: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00391914 Abb. 28: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00090025, Fotograf: Gert Schütz Abb. 29: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00169416, Fotograf: Ludwig Wegmann 362

Abb. 30: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00012980, Fotograf: Egon Steiner Abb. 31: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00090495, Fotograf: Gerhard Heisler Abb. 32: Artikel aus »Der Spiegel«, 14. 3. 1962 Abb. 33: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00011009, Fotograf: Detlef Gräfingholt Abb. 34: Süddeutsche Zeitung Photo/ Bild-ID 2.00252254, Fotograf: Jürgen Wagner Abb. 35: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00099642 Abb. 36: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00013056, Fotograf: Detlef Gräfingholt Abb. 37: Deutsche Presse-Agentur Abb. 38: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00169599, Fotograf: Lothar Schaack Abb. 39: Sven Simon Fotoagentur Abb. 40: Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung Abb. 41: Bundesarchiv Abb. 42: Ullstein Bild Abb. 43: Ullstein Bild Abb. 44: Kloster Arenberg Abb. 45: Artikel aus »Der Spiegel«, 9. 12. 1964 Abb. 46: Fotoarchiv Ralf Emmerich/Fotograf: Ralf Emmerich Abb. 47: Stiftung Deutsches HygieneMuseum Dresden Abb. 48: Stiftung Deutsches HygieneMuseum Dresden Abb. 49: Ullstein Bild Abb. 50: Stiftung Deutsches HygieneMuseum Dresden Abb. 51: Ullstein Bild Abb. 52: Stiftung Deutsches HygieneMuseum Dresden Abb. 53: Estnisches Nationalarchiv Abb. 54: Bundesarchiv/Bild 183-J08974, Fotograf: Hoffmann Abb. 55: Bundesarchiv Abb. 56: Bundesarchiv ABBILDUNGSNACHWEIS

Abb. 57: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-F044576-0046, Fotograf: Engelbert Reineke Abb. 58: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-F041563-0033, Fotograf: Lother Schaack Abb. 59: Illustration aus »Reine Luft«, Nr. 23, 1941 Abb. 60: Bundesarchiv/Bild 102-15490, Fotograf: Georg Pahl Abb. 61: Stiftung Deutsches HygieneMuseum Dresden Abb. 62: Bundesarchiv/Bild 101 I-355-175124A, Fotograf: Röder Abb. 63: Bundesarchiv/Bild 146-1972-05912, Fotograf: Büttner Abb. 64: Werbeanzeige aus »Newsweek«, 3. 7. 1995 Abb. 65: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00104811 Abb. 66: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-00104811, Fotograf: Jens Gathmann

ABBILDUNGSNACHWEIS

Abb. 67: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-F004204-0003, Fotografin: Doris Adrian Abb. 68: Bundesregierung/Bestand B 145, Bild-F048646-0033, Fotograf: Ludwig Wegmann Abb. 69: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00002193, Fotograf: Fritz Neuwirth Abb. 70: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00609394, Fotograf: Ferdi Hartung Abb. 71: Cover des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, 8. 8. 1961 Abb. 72: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 00116333, Fotograf: Germin Abb. 73: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 01154403 Abb. 74: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 01154401 Abb. 75: Süddeutsche Zeitung Photo/BildID 02235655 Abb. 76: Deutsche Presse-Agentur

363

{åųŸŅĹåĹųåčĜŸƋåų Kursiv gesetzte Zahlen verweisen auf Namen in den Anmerkungen.

Adenauer, Konrad 59–64, 74 f., 103–105, 110, 112 f., 123 f., 130, 132, 135, 204, 302, 316 Arendt, Hannah 7 Astel, Karl 278 f. Atzl, Isabel 266 Bahr, Egon 148 Bargatzky, Walter 79, 82, 96, 98, 104–117, 223, 226 f., 262, 319 Bauer, Karl Heinrich 253 f. Baumgarten, Hans 113 f. Bechert, Karl 295 f. Behring, Hans von 120 Binding, Karl 32 Blankenhorn, Herbert 112 Blumenthal, Ferdinand 239–247 Bouhler, Philipp 40 f., 164 Boveri, Theodor 237 Brandt, Karl 42, 51, 164 Brandt, Willy 140, 148 f., 151, 266, 288, 303 f. Brentano, Heinrich von 257 f. Brugmann, Walter 89 Brunner, Bernhard 109, 111 Burauen, Theodor 204 Burgbacher, Fritz 140 Churchill, Winston

149

Daelen, Maria 76–78 Dammann, Bruno 29 Daniels, Josef 95 Darwin, Charles 12 Dehler, Klaus 103 364

Dehler, Thomas 110 Dufhues, Josef Hermann Dulles, John Foster 257

307

Eckert, Alois 188 Ehlers, Hermann 129 Ehmke, Horst 148, 154 Eichmann, Adolf 83 Ellerbrock, Dagmar 16 f., 46–48, 50 Erdmann, Rhoda 242, 249 Erhard, Ludwig 132, 287 f. Fedde-Woywode, Wolfdiether 86–88, 100 Finkelnburg, Carl Maria Ferdinand 98 Focke, Ernst 150 Focke, Katharina 18, 74, 146–157, 312, 316 f. Frank, Hans 89 f. Frenzel, Alfred 206–208 Frick, Wilhelm 40 f. Friedl, Sophie 10 Friedlaender, Ernst 151 Fuchs, Anke 74 Gabel, Werner 99 f. Globke, Hans 104, 115, 204 Gockel, Anton 189, 191, 194 f., 199 Göring, Hermann 275 Gütt, Arthur 38, 40 f. Habenicht, Gerhart 104 Hagen, Wilhelm 84 Hallstein, Walter 140 Harmsen, Hans 210 f. PERSONENREGISTER

Hassel, Kai-Uwe von 60 f. Hauck, Rudolf 295 Heinemann, Gustav 149, 287 Helms, Roland 266 Herbert, Ulrich 7 Heß, Rudolf 39–41 Heyde, Werner 320 Hillery, Patrick 287 Himmler, Heinrich 41 Hippokrates 160, 233 f. Hitler, Adolf 7 f., 10, 13, 35, 37 f., 40–43, 45 f., 51 f., 85, 88, 90 f., 93, 108, 127 f., 138, 163–165, 178 f., 181 f., 190, 203, 245, 250, 271–275, 277, 281, 283 Hitzer, Bettina 256 f. Hoche, Alfred 32 f. Höcherl, Hermann 97 Hoffmann, Werner 113 Huber, Antje 74, 157

Michaelis, Adolf 105 Michel, Elmar 110 f. Mielke, Fred 14 Mitscherlich, Alexander Monnet, Jean 150 Morabia, Alfredo 278 Moses, Julius 29, 79 Müller, Friedrich 277 Müller, Johannes 234

Kennedy, John F. 283, 310 Kiesinger, Kurt Georg 136 f., 146 Klemperer, Victor 7, 251 Klose, Franz 60–62, 64, 84, 104 Köster, Adolf 29 Kogon, Eugen 149 Kraus, Friedrich 239 Kumpf, Walther 88–93, 95

Redeker, Franz 57, 60, 84, 168, 170 Rehling, Luise 62 Reuter, Heinz 105 Robinson, Victor 21

Labisch, Alfons 38 Lammers, Hans Heinrich 90 Lehr, Robert 114 Lehr, Ursula 74 Lettré, Hans 253 f. Lex, Hans Ritter von 77 Leyden, Ernst von 240 f. Loos, Marianne 78 Lübke, Heinrich 132, 137 Manger-Koenig, Ludwig von 82, 85, 116–122, 174, 286 f., 289, 324 Merkel, Helga 76, 78, 98 PERSONENREGISTER

14

Nachtsheim, Hans 206, 210–215, 218 f., 232 Nau, Heinrich 189, 191 Neussel, Rosemarie 78 Niemöller, Martin 128 Peters, Jutta 78 Pietsch, Ursula 78 Proctor, Robert 245, 277–280

Sammer, Christian 293 Saretzki, Thomas 30 Sauerbruch, Ferdindand 244 f., 247 Saukel, Fritz 273, 279 Schairer, Dietrich Eberhard 278 Schleicher, Marilene 78 Schneider, Marie-Luise 78 Schlögell, Rolf 103 Schmidt, Helmut 154–157, 288 f. Schöninger, Erich 278 Scholz, Simone 75 Schröder, Erich 184 Schwartz, Michael 11 Schwarzhaupt, Elisabeth 18, 63 f., 67, 70, 74–77, 96, 98, 102–106, 115–117, 123–136, 143, 147, 152, 216, 223, 226, 261, 304–306, 308, 316 f., 321 365

Schwarzhaupt, Wilhelm 125 Seneca, Lucius Annaeus 7 f. Smuts, Jan Christian 111 Speer, Albert 89 f. Stralau, Josef 9, 69 f., 86, 88, 92, 97 f., 103–105, 116, 134, 170–174, 176–178, 181–189, 191, 196, 198–200, 204–232, 261 f., 284 f., 289, 291, 319–325 Strauß, Franz Josef 143, 264, 288 Strobel, Bastian 75 Strobel, Hans 138 f. Strobel, Käte 9, 18, 74, 76, 82 f., 116 f., 121 f., 135–148, 150, 154, 263–265, 289, 291, 295 f., 307 f., 316 f., 324 Süssmuth, Rita 74

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Tauche, Felicitas 77 f. Tennstedt, Florian 38 Todt, Fritz 89 Veit, Sylvia 75 Virchow, Rudolf 23, 234 f. Vossen, Johannes 184 Ward, Curtis G. 107 Wagner, Gerhard 39–41, 180, 202 Weber, Helene 62, 123 f., 188 Wehner, Herbert 146, 288 Weitbrecht, Hans Jörg 221 f. Welter, Emmi 74 Welter, Erich 113 f. Wulf, Paul 230

PERSONENREGISTER

Dank Im Januar 2019 startete das Forschungsprojekt zur Geschichte des Bundesgesundheitsministeriums am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin; der »Staffelstab« der wissenschaftlichen Bearbeitung wechselte im Sommer 2020. Gemeinsam haben wir die Arbeiten an diesem Buch abgeschlossen. Und niemand von uns konnte sich 2019 vorstellen, dass in den Jahren, während diese Studie entstehen sollte, das Thema »Gesundheit« eine so dramatische Relevanz erlangen würde. Viele haben uns während unserer Arbeiten begleitet, allen voran die wissenschaftliche Projektleitung des Instituts für Zeitgeschichte. Wir danken dem Institutsdirektor, Professor Dr. Andreas Wirsching, sowie dem Leiter der Forschungsabteilung München, Professor Dr. Johannes Hürter, für ihre uneingeschränkte Unterstützung, ihren Zuspruch, ihr Vertrauen und ihre Kritik. Ohne all dies wäre dieses Buch in der Form nie entstanden. Aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die Forschungsarbeiten der vorliegenden Studie gefördert sowie das Verfassen des Textes ermöglicht. Dabei standen die Arbeiten an diesem Projekt in Verbindung mit der ebenfalls vom BMG initiierten Studie zum DDR-Gesundheitsministerium, die vonseiten des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam durchgeführt wurde. Für die Unterstützung und die Koordinierungs- und Abstimmungsarbeit möchten wir uns ausdrücklich beim zuständigen Referenten des BMG, Dr. med. Lothar Janßen, bedanken. Profitiert hat unsere Arbeit zudem auf vielfältige Weise von den inhaltlichen Debatten mit den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates des Projektes, denen wir auch für ihre Lektüre des Manuskriptes und die wertvollen Hinweise und Ratschläge dankbar sind. Dem Beirat gehörten an: Professorin Dr. Ulrike Lindner, Professorin Dr. Mag. theol. Sabine Schleiermacher, Professor Dr. Martin Lengwiler, Professor Dr. med. Heinz-Peter Schmiedebach sowie Professor Dr. Malte Thießen – dem ein besonderer Dank für seine Rückmeldungen, Kritik und Unterstützung gebührt. Unser Dank gehört zudem Professor Dr. Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte für seine kritische Kommentierung des Sterilisationskapitels, Professor Dr. Thomas Mergel für die kritische Diskussion erster Ergebnisse im Rahmen des Kolloquiums an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Professor Dr. Thomas Großbölting und Professor Dr. Klaus Große Kracht. Auf deren Einladung hin konnten Forschungsergebnisse und

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Thesen auf der Konferenz »Verwaltungslogik und kommunikative Praxis. Wirtschaft, Religion und Gesundheit als Gegenstand von Bürokratie in Deutschland 1930–1960« zur Diskussion gestellt werden. Dankbar sind wir selbstverständlich aber auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zahlreicher Archive, die die Arbeiten an diesem Buch wesentlich unterstützt haben. Dies betrifft vor allem das Bundesarchiv in Koblenz und das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau, das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und das Stadtarchiv Oberhausen/Rheinland. Hervorzuheben bleibt ganz besonders die engagierte und umfassende Unterstützung des Klosters Arenberg bei Koblenz im Hinblick auf die Einsicht und Auswertung der Krankenakten des Oberhausener Sankt Vincenzhauses. Für die sehr kooperative Unterstützung und die Bereitstellung zahlreicher Abbildungen danken wir zudem der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden sowie der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte PirnaSonnenstein. Zudem hat auch die wertvolle organisatorische und inhaltliche Unterstützung durch Jan-Martin Zollitsch und Carolin Starke zum Gelingen des Projektes beigetragen. Nicht zuletzt gilt unser Dank dem Wallstein Verlag und besonders Ursula Kömen für die gründliche und sorgfältige Arbeit mit dem Manuskript. Widmen möchten wir dieses Buch: Freya Kreller und Hugo Kuschel. Dr. Lutz Kreller

Dr. Franziska Kuschel

Berlin / Dresden im April 2022

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