Vom Nutzen des Geistlichen Amtes: Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption Johann Gottfried Herders 9783666551390, 3525551398, 9783525551394

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Vom Nutzen des Geistlichen Amtes: Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption Johann Gottfried Herders
 9783666551390, 3525551398, 9783525551394

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Wilhelm-Ludwig Federlin Vom Nutzen des Geistlichen Amtes

WILHELM-LUDWIG FEDERLIN

Vom Nutzen des Geistlichen Amtes Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption Johann Gottfried Herders

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 33

CIP-Kurztitelaufnahme Federlin,

der Deutschen

Bibliothek

Wilhelm-Ludwig

Vom Nutzen des Geistlichen Amtes: e. Beitr. zur Interpretation u. Rezeption Johann Gottfried Herders / Wilhelm-Ludwig Federlin. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1982. (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 33) ISBN 3-525-55139-8 N E : GT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982 - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

„ . . .; jetzt lassen Sie uns vor allen Dingen zu einiger Riinde unsers Werks kommen, und da doch niemand die Wissenschaften, blos um sie zu wissen lernet; vom Gebrauch, vom Nutzen, von der Anwendung reden, zu denen auch Sie Theologie lernen und treiben: denn das Ziel bestimmt die Laufbahn." Johann Gottfried Herder, Briefe das Studium der Theologie betreffend, S W XI, S. 5

Inhalt

EINLEITUNG

Das Problem A. Aporien in der Herderforschung I. Die Problematik des Herder-Wissens II. Tendenzen der neueren Herder-Forschung Exkurs zur Irrationalismusthese 1. Die Universalitätstheorie Exkurs zur Universalismusthese in der marxistischen HerderRezeption 2. Die Verfremdungstheorie Exkurs zur Verfremdungsthese in Ost und West B. Das Geistliche Amt als heuristisches Prinzip

13 13 18 19 21 22 28 30 35

HAUPTTEIL

Herder und das Geistliche Amt 1. TEIL: Herders Frage nach dem Nutzen der Philosophie

43

A. Kopernikus und die Philosophie

44

B. Philosophie und Staatsreform

47

I. Herders negative Philosophie Exkurs zum Verhältnis Herders zu Rousseau Exkurs zum Verhältnis Herders zur Französischen Revolution II. Philosophische Volksbildung Exkurs zu Herders Wissenschaftsbegriff

47 51 54 56 59

Inhalt

8

C . Volksbildung als Methodenlehre des Volk-Seins Exkurs zur Schulorganisation in Weimar I. Die Methode der Akkommodationen II. Predigt als Volksbildungsmedium

62 62 66 67

1. Die Methode des Predigens

67

2. Predigen als subjektive Sittenlehre

69

3. Der Prediger als Patriot III. Literatur als Volksbildungsmedium

70 72

1. Literatur und Volksgattungen Exkurs zur moralischen Evidenz des Gefühls und der Rolle der Frau bei Herder

72

2. Literatur als Geschichte der Menschheit Exkurs zumVerhältnis Herders zu W. v. Humboldt

74 75

3. Stil und Volksgeschmack Exkurs zum Verhältnis von Christologie und Volksliteratur bei Herder

77

2 . TEIL: V o m Nutzen des Geistlichen Amtes Exkurs zur Auslegungsgeschichte von Herders „Provinzialblättern" . . Exkurs zur pädagogischen Struktur von Herders kritischem Stil

82 85 87

1. Abschnitt: Erfahrung und Geschichte Exkurs zur Diskussion um den Spinozismus bei Herder

88 89

A. Die Krise des Geistlichen Amtes Exkurs zu Herders geistesgeschichtlicher Position

91 93

I. A m t und Person II. A m t und Ausbildung Exkurs zur Berufskrise der Intelligenzschicht im 18. Jahrhundert III. A m t und Obrigkeit Exkurs zur wirtschaftlichen Situation der Staatsbeamten im Herzogtum Sachsen-Weimar Exkurs zu Herders Berufung nach Göttingen B. Geschichtsphilosophie als Therapie des Geistlichen Amtes I. Die historische Methode II. Der Begriff der Geschichte

72

79

97 100 103 106 107 114 117 118 124

1. Geschichte und Tatsache

130

2. Geschichte und Urkunde Exkurs zur Diskussion um Herders Geschichtsauffassung

132 135

3. Geschichte und Gott a) Philosophie der Geschichte als Geschichte der Haushaltung Gottes

139 141

Inhalt b) Humanität als Inhalt des Lebens Jesu Exkurs zu Herders Humanitätsbegriff c) Menschlicher Geist als Geist Gottes III. Die therapeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche A m t 1. Identität und Verstand 2. Identität und Gefühl a) Unmittelbarkeit b) Innigkeit Exkurs zum Verhältnis von Reisen und Selbstverwirklichung im 18. Jahrhundert 3. Identität und Tat 2. Abschnitt:

Theorie und Funktion

9 146 146 156 160 162 163 163 167 168 169 174

A. Die gesellschaftliche Funktion des Predigerstandes

174

I. Der Predigerstand als gesellschaftliches Amt

174

II. Der pädagogische Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe des Predigerstandes

179

1. Bildung als gesellschaftliche Aufgabe des Predigerstandes a) Das Bildungsziel Exkurs zu Herders Begriff der Menschenbildung b) Der Bildungsstoff c) Die Bildungsmethode d) Der Bildungsträger aa) Der Begriff der Einfalt bb) Einfalt als ursprüngliche Menschlichkeit: Patriarchie und Botesein 2. Der Predigerstand als öffentlich-rechtliche Institution a) Die menschliche Geschichte b) Gottesrecht Exkurs zur Überwindung des Naturrechtes bei Herder c) Deutsches Recht d) Das Recht der Notwendigkeit

187 190 191 192 194 195 196

B. Das öffentliche Predigtamt als Ausbildung der Menschlichkeit des Menschen

198

I. Religiöse Bildung als menschliche Entwicklungshilfe 1. Recht auf Ganzheit und Unversehrtheit der eigenen Lebenskraft . . . 2. Recht auf Sinnlichkeit a) Die falsche Antithese: Sinnlichkeit oder Religion b) Sinnlichkeit als achtenswerte und gleichberechtigte menschliche Kraft

179 180 181 183 184 185 186

198 202 205 206 207

10

Inhalt

Exkurs zum Verhältnis des Kleinbürgertums zur Sinnlichkeit im 18. Jahrhundert c) Sinnlichkeit und Gott 3. Recht auf Handeln a) Die Einheit von Glauben und Tat b) Die Verkürzung des Glaubens als Rechtschaffenheit c) Die Verkürzung des Glaubens als andächtige Empfindung II. Religiöse Bildung und Glaubenslehre

208 210 212 212 213 215 217

1. Die Angewiesenheit von Religionspädagogik auf Glaubenslehre. . . . a) Glaubenslehre als relative Autorität b) Glaubenslehre als kritische und rechtliche Instanz

218 219 220

2. Religionspädagogik als eigene Aufgabe a) Dogmatik als funktionale Wissenschaft b) Staatsmoral und Schriftgebrauch Exkurs zu Herders Theologiebegriff c) Theologie und Psychologie

224 224 227 229 230

III. Religiöse Bildung als Predigt 1. Die Negation: Predigt als Philosophie a) Historizität als Postulat b) Anschauung als Defizit c) Licht als individuelle und kollektive Dämmerung oder die Philosophische Predigt als Volksverdummung Exkurs zu Herders Sündenlehre d) Inkonsequenzen zur Amtsführung 2. Die Position: Herzenspredigt a) Predigt als Erregung des ganzen Menschen Exkurs zu Kontinuität und Modernem in Herders Bildungsprogramm b) Predigt als Herzenspredigt

232 235 235 237 239 240 244 246 246 248 249

SCHLUSS

Folgerungen A . Ausschlüsse von Herderrezeptionen Exkurs zur Methode der Rezeptionskritik Exkurs zur kulturpolitischen Rezeption Herders im Marxismus

253 254 258

B . A u f g a b e n der H e r d e r f o r s c h u n g

261

I. Zur A u f g a b e einer umfassenden Edition der Herder-Predigten.. II. Z u r A u f g a b e einer A n a l y s e der Herder-Predigten

262 267

Abkürzungen

271

Literatur

271

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist für das Geistliche Amt und seine Aufgaben geschrieben. Anfangs war dazu auch eine Darstellung von Herders Praxis im Geistlichen Amt beabsichtigt. Während der Arbeit an diesem Thema wurde jedoch eine Aufteilung notwendig. Die Arbeit an Herders Praxis im Geistlichen Amt wurde bis zu einer befriedigenden Klärung der Quellenlage als Desiderat zurückgestellt und ist, soweit ich dazu Gelegenheit und die Zeit finden werde, einer künftigen Darstellung vorbehalten. Herders Grundentscheidungen und Intentionen aber zum Geistlichen Amt als Volksbildungsinstitution wurden herausgearbeitet und vorrangig durch Herder selbst verständlich gemacht. Sie und ihre Darstellung sind es, die einen neuen Zugang zum Werk Herders eröffnen und nun auch jenen anderen Teil meines ursprünglichen Arbeitsvorhabens nicht nur möglich, sondern notwendig erscheinen lassen. In der Situation stagnierender Herderforschung im Westen verstehe ich meine Untersuchung als eine notwendige Anregung. Alle Probleme, die die Rezeption Herders für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft hinterlassen hat, können und wollen durch sie nicht gelöst werden. Meine Absicht ist aber, die Ursachen jener Stagnation offenzulegen und mit der Freilegung des professionellen Charakters des Herderschen Denkens aus den verschiedenen Ebenen des Geistlichen Amtes einen neuen Zugang zu Herders Werk und zu diesem großen evangelischen Theologen und Kirchenpolitiker des 18. Jahrhunderts zu weisen. Dadurch, so hoffe ich, kann die Forschung zu neuen Anstrengungen und Gesprächen angeregt werden, auch über das engere theologische Fachgebiet und besonders die innerdeutschen Grenzen hinaus. Meine Arbeit, die 1980 vom Fachbereich Religionswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen wurde, wird hier hinsichtlich ihres Anmerkungsteiles verändert veröffentlicht. So wurden die ursprünglich angehängten Anmerkungen in den fortlaufenden Text genommen, zum Teil als Exkurse. Zu Dank verpflichtet fühle ich mich Vielen, die mit Interesse, Rat und Ermutigung das Entstehen dieser Arbeit begleiteten. Herrn Professor Dr. Dieter Stoodt, der das Hauptreferat übernahm, gebührt auch das Hauptverdienst dafür, daß ich neben meiner Tätigkeit als Gemeindepfarrer die vorliegende Untersuchung fertigstellen konnte. Er hat unter erschwerten räumlichen Verhältnissen mit Interesse und großem persönlichen Einsatz mein Vorhaben begleitet, auf partnerschaftliche Weise bis zur Drucklegung beraten und über

12

Vorwort

seine Pflicht hinaus gefördert. Herrn Professor Dr. Dieter Kimpel verdanke ich weiterführende Aufschlüsse über geistes- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge im 18. Jahrhundert sowie selbstlose Beratung bei der Fertigstellung meiner Arbeit. Herr Professor Dr. Hans P. Schmidt nahm das Korreferat durch kritische und weiterhelfende Solidarität wahr. Die Drucklegung der Arbeit zu begleiten, ist ihm wegen seines tödlichen Unfalles 14 Tage nach meiner Promotion nicht mehr möglich gewesen. Herr Professor Dr. Heinz Röhr hat als Dekan des Fachbereiches das Promotionsverfahren aufmerksam begleitet und durchgeführt. Viele, hier ungenannte Mitarbeiter von Archiven und Bibliotheken in Ost und West haben mir zu Quellen- und Literaturfragen uneigennützig Auskunft erteilt. Die Drucklegung schließlich ermöglicht haben u.a. die Unterstützungen, die meine Untersuchung durch verschiedene Ebenen der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau erfahren hat, und ihre Aufnahme in das Programm des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Allen Vorstehenden und meiner Familie, die durch Verständnis und Opfer diese Arbeit ermöglichte, sei an dieser Stelle von Herzen gedankt. Hesseneck, im November 1981

Wilhelm-Ludwig Federlin

Einleitung: Das Problem A. Aporien in der I. Die Problematik

Herderforschung des

Herder-Wissens

Die Klärung des Verhältnisses der Theologie des 20. Jahrhunderts zu Leben und Werk Johann Gottfried Herders steht nach wie vor vor grundsätzlichen Schwierigkeiten und ungelösten Aufgaben. So beschreibt M. Redeker in dem maßgeblichen theologischen Handwörterbuch zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl Herders Bedeutung für die Geistesgeschichte als auch seine „Bedeutung für die Theologie" als „schwer" 1 definierbar. Redeker beschränkt sich demgemäß darauf, Herder als den „Anreger" 2 auf vielen Gebieten zu beurteilen, zeigt dies entsprechend auf, vermag aber eine systematische Beurteilung der Leistung Herders wegen dessen fragmentarischer und formloser Arbeitsweise 3 nicht zu geben. Er begründet die Vorläufigkeit seiner eigenen Aussagen letztlich in Herder selbst, den er als einen „innerlich zerrissenen Mann" 4 charakterisiert. Vergleichsweise fast keinen Raum verwendet Redeker für Herder, den praktischen Theologen. Dieses Herderbild, das die bestehenden Ungereimtheiten und scheinbaren Widersprüche in Herders Werk als Grund für dessen relativ geringe Wirkungsgeschichte ansieht, sie letztlich in Herder selbst zurückverlagert und psychologisierend ausräumen möchte, wurde durch das Herderbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbereitet, welches seinerseits wiederum maßgeblich von H . Stephan geprägt wurde. Stephan zeichnete schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Herder sowohl in seiner allgemeinen als auch in seiner Bedeutung für die Kirchengeschichte und Theologie als „genialen Anreger" 5 , der zu systematischer Entwicklung seines Wissens „nicht fähig war" 6 oder der sich durch sein zum Teil „peinliches" 7 oder „durch persönliche Aufregung und Polemik" 8 gefärbtes Schrifttum selbst um die theologische Wirkung seines Werkes brachte und damit die Theologie um „eine neue Periode"'. Auch Stephan mißt Herder als praktischem Theologen keine über den Versuch von

1 2 3

Redeker, Herder, 236 und 237. A.a.O., 236. Ebd.

Ebd. Stephan, Herder 1, 2124. ' Ebd.

4

7

5

8 9

A.a.O., 2126. Ebd. Ebd.

14

Das Problem

„interessante(n) Reformen" 10 hinausgehende wendepunktartige Bedeutung bei. Die bei Herder empfundene und bis dahin ungeklärte „Spannung zwischen dem allgemeinen Kulturberuf und dem als notwendig empfundenen . . ., Sonderberufe"" wird beispielsweise als liberale Erfindung abgelehnt oder doch psychologisierend beschwichtigt. An dieser psychologisch zusammengehaltenen Beurteilung Herders hat sich bei Stephan auch später nichts geändert. Herders Schaffen und Leben erscheint in der Neuauflage des theologischen Handwörterbuches noch stärker von der „tiefen Tragik" 12 belastet, daß er durch seine universale, aber grundsatz- und systemlose Genialität sich selbst behinderte, schließlich sich selbst widersprach und so „viele seiner besten historischen und religiösen Erkenntnisse vorzeitig um ihre Auswirkung brachte." 13 Mit einem umfangreicheren und präziseren Wissen um Herders Leben und Werk wie mit einer optimistischeren Beurteilung seiner allgemeinen und theologischen Bedeutung hatte sich noch das 19. Jahrhundert vorgestellt, besonders in seinen Anfängen. Herder wird hier noch gesehen als absoluter Neubeginn. „Es gibt Niemand, mit dem Herder verglichen werden könnte, . . ." H . „Dem Dichter und Ästhetiker, Philosoph und Kritiker, Theolog in theoretischer und praktischer Hinsicht" 15 wird darüber hinaus in allen Dimensionen seines Schaffens ein einheitlicher Zweck, nämlich „auf Moralität"" dringende Begeisterung bescheinigt. Dennoch wird schon hier der Grund für das Wissen um Herder im 20. Jahrhundert gelegt und scheinbare „Abwege" 17 in Herders Werk und Stil mit dessen Charakter oder psychischer Konstitution nicht nur begründet, sondern entschuldigt. Und auch damals stand offenbar die Theologie vor der bis heute ungeklärt gebliebenen Schwierigkeit, daß es sich nicht „genau darthun läßt, was durch seine Schriften, die bald exegetischen, bald methodisch-praktischen Inhalts, oder auch Beweise seines geistlichen Rednertalents sind, gewirkt oder gewonnen worden sei"18. So machte man zwar die sich widersprechende Beobachtung, daß beispielsweise Herders „Predigten, so mächtig ihr Eindruck für den war, der Herdern selbst hörte, von den Homiletikern im Allgemeinen kein ausgezeichneter Werth beigelegt ward" 19 . Eine nach sachlicher Klärung rufende wissenschaftliche Herausforderung wurde in diesen und ähnlichen Beobachtungen jedoch nicht gesehen. Bei diesem Wissen um Herders Bedeutung für die Theologie, das in der dargestellten Weise gemischt ist mit sachlich ungeklärten Widersprüchlichkeiten oder doch mit dem unbeholfenen Versuch ihrer Erklärung, ist es bis heute geblieben. M. Schmidt hat das Wissen seines Lehrers Stephan neu aufgelegt20 10 11 12 12 11 M M 15

Ebd. A.a.O., 2124. Stephan, Herder 2, 1816 und 1817. A.a.O., 1816. Döring, Herder, 163. Ebd.

16

A.a.O., 163-167. A.a.O., 163. 18 A.a.O., 166. " A.a.O., 167. 20 Stephan, Geschichte, 27-30 und 59-64. 17

Die Problematik des Herder-Wissens

15

und zeigt wie dieser auf, „wie wenig Herder seine Jünger zur Klarheit geführt hatte" 21 . F. W. Kantzenbach schließlich verzichtet unter positiver Herausstellung der theologiegeschichtlichen Darstellung Stephans zwar „ungern" 22 , aber doch ganz „auf Johann Gottfried Herder" 23 . Eine theologische Vertiefung des Herder-Wissens hat K. Barth24 versucht. Doch auch Barth ist zu sehr geleitet von einem Gegenentwurf zur Stephanschen Theologiegeschichte und der Verifizierung seines eigenen theologischen Bezugssystems, als daß er wirklich wie Schleiermacher, so auch Herder selbst „ganz anders, viel schöner und eindrücklicher zum Leuchten" 25 hätte bringen können, wie er - in aller von ihm selbst eingestandenen Begrenzung - es doch grundsätzlich angestrebt hat. So betont Barth, daß „Herders Bedeutung für die Theologie der Folgezeit. . . kaum hoch genug einzuschätzen ist"26. Das ist aber für den dialektischen Theologen keine eindeutige und auch keine positive Aussage zu Herder. Vielmehr wird Herder als der Prototyp des Theologen und „Inaugurator der typischen Theologie des 19. Jahrhunderts vor ihrer Inauguration durch Schleiermacher" 27 gezeichnet, der zwar „Theologie an Kant vorbei wieder möglich zu machen wußte" 28 , mit seiner Religionsphilosophie aber „nicht ohne Übereilungen" 29 und auch zum Nachteil der Theologie der Folgezeit, diese von der notwendigen Besinnung „unerhört rasch und kräftig" 30 abhielt, über die von Kant erkannten „Grenzen der Humanität" 31 nachzudenken. Unter „Uberhören dieses kantischen Einwandes" 32 hat Herder nach Barth die dem 18. Jahrhundert gemeinsame Entdeckung „des Menschen als des Maßes aller Dinge nicht nur in die neue Zeit hinübergerettet, sondern . . . noch gewaltig bereichert und bestärkt" 33 , indem er auch die Religion als „Sache des unmittelbaren Gefühls und der unmittelbaren Erfahrung" 34 verstand. Von da aus zieht Barth „einen gewissen Querschnitt" 35 in den allgemeinen Denkrahmen Herders und dessen theologischer Anwendung und kommt zu dem - zunächst barmherzigen - Resümee: „So erscheint das Verdienst, das sich Herder um die Theologie erworben hat, zum vornherein als mindestens zweideutig und mit Gefahren bedroht" 36 . Schließlich aber, bei diesem Barth selbst eigenen apriorischen und so scheinbar von Herder nicht befriedigten Interesse an dem, was nach Barth „Kirche und was Gnade ist"37, zu dem vernichtenden Gesamturteil, daß damit „das Morgenrot einer neuen Zeit, das viele in Herder gesehen haben wollen, doch auch nur ein bengalisches Feuer gewesen"38 wäre. Bemerkenswert ist 21 22 23 24 25 26 27 28 29

A.a.O., 64. Kantzenbach, Programme, 9. Ebd. Barth, Theologie, 279-302. A.a.O., VI. A.a.O., 282. A.a.O., 302. A.a.O., 281. A.a.O., 283.

30 31 32 33 34 35 36 37 38

A.a.O., Ebd. A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., Ebd.

282. 281. 282 f. 283. 283f. 301. 302.

16

Das Problem

und das muß man Barth trotz dieser bei seiner bescheidenen Voraussetzung39 zu großen Worte zugute halten - , daß gegenüber Stephan die beobachtete psychologisierende Beschwichtigung und biographische Glättung der Spannung in Herders Werk zugunsten einer einheitlichen theologischen Beurteilung fast aufgegeben ist. Aber auch Barth entdeckt Widersprüche in der eigenen Gesamtschau Herders, die ihn wie „dunkle Reden"40 treffen und die apriorische Konsequenz41 seiner Darstellung stören. Unerwartet kommen und unerklärbar bleiben ihm gerade solche Stellen, wo er Herder am vernichtendsten kritisiert hat, an Herders Offenbarungsbegriff und besonders an dessen Auffassungen von der Aufgabe „der Predigt der christlichen Kirche" 42 , ,„Gottes Willen zu predigen, nicht den unsrigen, sein Thema darzustellen, nicht unser Thema'" 45 sowie der „Homilie"44 als der „der Sache allein angemessen e ^ ) Predigtform"45. Hier nun, „angesichts solcher vielleicht als verheißungsvoll zu verstehender Sätze"46, eliminiert auch Barth vorschnell diesen in seiner Darstellung aufkommenden Widerspruch und macht dafür Herders eigene Entwicklung verantwortlich: seine zu „eilige"47 und „stürmische"48 Wegentwicklung von der Aufklärung und seine spätere „müde Rückentwicklung" 4 ' in ihre Nähe. In dieser Methode sucht letztlich auch die mehr an geistesgeschichtlichen Zusammenhängen als an Herder selbst orientierte Darstellung von E. Hirsch ihre Zuflucht angesichts der Schwierigkeit, „das Geheimnis"50 von Herders Wirkung auf einen „bestimmten Begriff"51 zu bringen. Bei aller vorbehaltloseren Anerkennung Herders als „Anreger und Bahnbrecher des Christentumsverständnisses . . ., das mit Schleiermacher und der Romantik die Dämme des Aufklärungszeitalters durchbricht"52 kann sich Hirsch schließlich noch weniger als Barth einen Reim auf Herder machen. Hirsch bezeichnet Herder daher lediglich als einen „mit der Zeit nicht ganz mitgehenden Ubergangstheologen"53. Demgemäß durchzieht seine Darstellung von Herders Aussagen zu Religion und Theologie der Aufweis von „Seltsamkeiten"54 oder Halbheiten dieses Mannes wie ein roter Faden. Herders Gotteslehre erreicht nicht die

" Vgl. a.a.O., V. 40 41 42

A . a . O . , 296. Vgl. a.a.O., 2 9 7 oder 299. A . a . O . , 296.

44

Ebd.

45

Ebd. Ebd. Ebd.

46 47

48 A . a . O . , 297. Ebd. A . a . O . , 283. Diese unhistorische, nur das eigene theologische Vorurteil explizierende These und Periodisierung des Herderschen Denkens vertritt vor Barth in analoger kritischer Ausrichtung bereits M. Doerne, Die Religion, 36 f. Die schon von Stephan, Herder in Bückeburg, 85 vorbereitete Doernesche Periodisierung und Akzentuierung Herders übernahm neben Barth auch der von Hegel beeinflußte katholische Moraltheologe H . Zeller, Grundlegung, 16. 43

49

50

Hirsch, Geschichte, 208.

Ebd. " A . a . O . , 217. 51

« Ebd. A . a . O . , 208.

54

Die Problematik des Herder-Wissens

17

wünschenswerte „Klarheit und Kraft" 55 , sein Offenbarungsbegriff „bleibt schnell in Ansätzen und Halbheiten stecken" 56 , weil es Herder nach Hirsch nicht einfalle, „den Zwiesinn seines Offenbarungsbegriffes durch klare Unterscheidungen auseinanderzulegen" 5 7 . Herders Wunderverständnis ist „ein unauflösliches Durcheinander" 5 8 , „in einer oft wirren und jedenfalls verwirrenden Stellungnahme" 5 ' dargeboten und „mit einer Selbsttäuschung erkauft" 60 . Sein Bibelverständnis, das „den für ihn bezeichnenden Ubergang von einer das Menschliche betonenden psychologisch-historischen Grundbetrachtung zum Einbau supranaturaler Aussagen" 6 1 zeigt, führt zu „merkwürdigen Mischaussagen" 62 und apologetisch geleiteter Addition von alter und neuer Auslegung 6 3 oder Halbherzigkeiten 6 4 , die schließlich dazu geführt haben, „daß der Hauptstrom wissenschaftlicher Theologie des neunzehnten Jahrhunderts über seine Apologetik hinwegging" 6 5 . In der für seine Christologie grundlegenden Evangelienbetrachtung stehe Herder vor neuen Einsichten, biege aber „wie übera l l . . . im letzten Augenblick ab" 66 . Er bewahrt z w a r „das Beste aus Luther" 67 , aber „das Entscheidende ist ihm nun die Verknüpfung der Botschaft Jesu mit seiner Person"m, worin schon die „Abweichung dieses Christentumsverständnisses vom altevangelischen" 69 angezeigt ist. Auch Herders Auffassung vom Predigtamt und seine Predigtweise werden von Hirsch mit dieser Elle gemessen. Einerseits ist „Diener am göttlichen Wort die genaueste Bezeichnung des Amts eines Predigers" 70 und Luther dieser Seite seines Wesens „Vorbild" 71 , andererseits sind Herders homiletische Auffassungen - „wie es nach den am Offenbarungsbegriff aufgedeckten Zusammenhängen nur natürlich ist - eine Vorbereitung des, was Schleiermacher in den Reden über die Religion zur Sache dargelegt hat" 72 . So spricht auch Hirsch zusammenfassend von der „Tragik" 73 , die das Wirken des Mannes Herder überschattet. Wie wir weiter unten 74 nachweisen werden, ist dieses Ergebnis nicht haltbar und selbst Produkt einer Herder nicht gemäßen Betrachtungsweise. Die scheinbar tragische Inkonsequenz Herders löst sich auf, sobald der Standpunkt des Betrachters praktisch vermittelt ist und das Wesen der Predigt als Volks-Sprache in der Vermittlung unmittelbarer Subjektivität erkannt ist, w o z u das biblische Wort nicht formales Dogma, wohl aber geistliches Paradigma ist. Allenfalls ist also zu bedauern, daß eine für das Verständnis von Herder bislang unfruchtbar gebliebene Betrachtungsweise dennoch unreflektiert weiter aufrecht erhalten wurde. Das tradierte Wissen von Herder hinterläßt also einen widersprüchlichen, " A.a.O., 54 A.a.O., 57 A.a.O., 5» A.a.O., " Ebd. 60 A.a.O., 61 A.a.O.,

221. 224. 229. 225. 226. 231.

A.a.O., 234. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., 238. A.a.O., 238. A.a.O., 240. A.a.O., 2 4 1 . Ebd.

69 70 71 72 73 74

A.a.O., 242. A.a.O., 245. Ebd. A.a.O., 246. Ebd. Vgl. u. S. 39 f. ; 52 f. ; 6 7 f f . ; 78.

18

Das Problem

unvollständigen und methodisch fragwürdigen Eindruck. In dreifacher Hinsicht offenbaren sich grundsätzliche Lücken. 1. Die Unebenheit von Herders Leben und Werk wird nicht überzeugend interpretiert, so daß nach wie vor allen Deutungen und Aneignungen Herders Tür und T o r geöffnet bleiben. Daß Herder nur auf Grund von Schwächen und Unzulänglichkeiten ein großer Anreger auf vielen Gebieten für die Folgezeit hätte werden können, ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern in dem sarkastischen Unterton dieser Behauptung nur Ausdruck einer anderen Hilflosigkeit. 2. Der Horizont von Herders Wirken, das Geistliche Amt, wird angesichts der Tatsache, daß dieses Amt ein von Herder selbst nie aufgegebenes Kontinuum in seinem Leben ist, für das Verständnis Herdes weit unterschätzt und vernachlässigt. Das Geistliche Amt ist bei Herder weder eine Sache des „Zufalls" 75 noch etwas, worüber „auch" 76 noch zu reden wäre, nachdem man Herder schon verstanden glaubt, sondern gehört notwendig zu seiner Existenz. 3. Die diesem Wissen zugrunde liegenden und an Herder angelegten verschiedenen Betrachtungsweisen und Standorte haben sich als ein Interpretationshindernis herausgestellt und bisher kein Licht in Herders Werk bringen können. Wer in seinen Ausführungen zu Herder von den „dunklen Reden" 77 , unerklärlichen „Seltsamkeiten" 78 , „Nebel" 79 oder unbestimmten „Geheimnissen" 80 dieses Mannes sprechen muß, stellt damit nicht nur die untersuchte Sache, sondern auch die eigene Untersuchungsmethode in Frage. II. Tendenzen

der neueren

Herder-Forschung

Es ist feststellbar, daß die ans Licht getretenen problematischen Wissenslükken ihre Entsprechung in dem bis heute in den aufgezeigten Hinsichten an Problemlösungen lückenhaften oder unbefriedigenden Forschungsstand haben. Hirsch, Geschichte, 213. Redeker, Herder, 2 3 8 und Stephan, Herder 2, 1817. 77 Barth, Theologie, 296. Vgl. Gollwitzer, Europabild, 109 und Bultmann, Geschichte, 92f. Zur katholischen Rezeption Herders finden sich zwei nicht weiter begründete und nur allgemeine Hinweise bei Feiereis, J . G. Herders Vorstellungen, 272, Anm. 1. Danach habe sich diese von einer „vorwiegend negativen Kritik" zu einer „gerechteren, wenn auch meist vorsichtigen Beurteilung" gewandelt. Für jene zitiert Feiereis Baumgartner (Ende 18. Jh.), für diese Rohrmoser. Feiereis selbst beurteilt in seiner in „Rechtgläubigkeit" und der „altkirchlichen Lehre" (a.a.O., 2 8 5 ) befangenen Herderrezeption Herder unter Anwendung seines katholischen Vorverständnisses und vorsichtiger Abstriche als Theologen, „der seiner Zeit weit voraus war" und von dem noch nicht annähernd geklärt ist, „wieviel die Gegenwartstheologie seinem Wirken verdankt" (a.a.O., 291). Seine ungeklärten Abstriche machen dieses Verständnis Herdes als einer theologiegeschichtlich interessanten Größe aber dann doch zu einer wenig sagenden Perspektive. 75 76

« Hirsch, Geschichte, 208.

7

79 80

Kraus, Geschichte, 105. Hirsch, a.a.O., 208.

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

19

Übereinstimmung besteht in der neueren Herder-Forschung in der Bejahung der inneren Spannung sowohl in Herders theologischem wie in seinem allgemeinen Denken 1 . D. Harth faßt die Ergebnisse des interdisziplinären und internationalen wissenschaftlichen Herder-Symposions 2 so zusammen, daß dieses Symposion in „Herders theologischem Denken" 3 vor allem ein ungeklärtes „Spannungsverhältnis zu Glauben und Wissen"4, das „Dilemma"5 des Atheismusstreites, Herders „mindestens problematische"6 Einstellung zum Christentum sowie seine unwissenschaftliche „Hermeneutik der biblischen Schriften"7 deutlich gemacht habe. Auch in Herders allgemeinem Denken habe man ein „ungelöstes Spannungsverhältnis"8 beim Methodenproblem, offenen „Widerspruch"9 in der Klima- und Milieutheorie wie in der Kunstlehre, „Dunkel"10 oder Interpretationsschwierigkeiten bei dem „prekären Verhältnis von Identität und Wechsel in der Geschichte"11 und gar einen „Dunstkreis"12 bei den semantischen Abhängigkeitsfeldern seiner Sprache einmütig feststellen können. Exkurs zur

Irrationalismusthese

D i e Irrationalismusthese ist in der H e r d e r - F o r s c h u n g interdisziplinär wie international weit verbreitet (vgl. u. S. 254f.). A u s n a h m e u n d Bestätigung f ü r den w i r k s a m e n F o r s c h u n g s k o n s e n s der Irrationalismusthese ist U . Meggle. E r legt schonungslos o f f e n , d a ß H e r d e r „selbst v o n der germanistischen F o r s c h u n g " (Meggle, Analogie, 67) z w a r als „Vater d e r G e r m a n i s t i k " (a.a.O., 52) verehrt, aber doch n u r „zu Z w e c k e n ideologischer R e c h t f e r t i g u n g s v e r s u c h e völkischer oder vulgär-materialistischer Phraseologie" (ebd.) b e s c h l a g n a h m t w i r d u n d im übrigen aus „philologischer Hilflosigkeit" (ebd.) u n d o h n e Sachanhalt als g r o ß e r Irrationalist rezipiert u n d tradiert w i r d . Meggle's U n t e r s u c h u n g beabsichtigt, „Ansätze zu einer U b e r w i n d u n g dieser inadäquaten Prämissen d e r H e r d e r f o r s c h u n g " (a.a.O., 70) mittels einer U n t e r s u c h u n g zu H e r d e r s E r k e n n t n i s - u n d Sprachtheorie z u m Z w e c k e eines besseren Verstehens der H e r d e r schen Sprache selbst zu zeigen u n d k o m m t zu d e m Ergebnis: „Die O f f e n h e i t der H e r d e r s c h e n Begriffe hat somit ein analoges Korrelat im E r k e n n t n i s m o d e l l (sc. H e r ders). D i e bisher - selbst v o n der germanistischen F o r s c h u n g - so leichthin als , v e r s c h w o m m e n ' , , d u n k e l ' , ,unklar' bezeichnete Begrifflichkeit H e r d e r s erweist sich als adäquates A b b i l d einer erkenntnistheoretisch d u r c h d a c h t e n U n s c h ä r f e r e l a t i o n z w i schen menschlicher Physeologie u n d begrifflicher E r f a ß b a r k e i t " (a.a.O., 67). A u c h Meggle versucht also abstrakt-ideologisch, nämlich sprachtheoretisch dieses P h ä n o m e n zu erklären, nicht f u n k t i o n a l . N a c h unserer M e i n u n g w ä r e dies H e r d e r s f u n k t i o n a l e r

' Von dieser Basis gehen zuletzt aus: Bückeburger Gespräche 1971; Bückeburger Gespräche 1975; Sitzungsberichte A d W / D D R , S. 5; Jahrbuch für Geschichte 1979, S. 16. 2 Vgl. dazu Bückeburger Gespräche 1971, VI. 3 8 Harth, Zusammenfassung, 149. Ebd. 4 Ebd. ' Ebd. 5 10 Ebd. A.a.O., 151. ' Ebd. " Ebd. 7 A.a.O., 150. A.a.O., 152.

20

Das Problem

Sprachauffassung (vgl. S W I, 4 1 6 oder S W X V I I I , 3 8 4 : D i e Sprache ist „als O r g a n unsrer V e r n u n f t und gesellschaftlichen Thätigkeit, als das W e r k z e u g jeder C u l t u r und Unterweisung, als das Band der Geselligkeit und guten Sitten, als das ächte M o b i l zu B e f ö r d e r u n g der H u m a n i t ä t in jeder Menschenclaße zu b e t r a c h t e n " . D e r Begriff der „Potentialität der Sprache", so Irmscher, H e r d e r , 109, ist für diese Sprachauffassung H e r d e r s auch zu eng.) in ihrer kritischen T e n d e n z (vgl. S W V , 61 und S W V I I I , 1 7 0 f . ) , die Meggle zwar sieht, aber zu schnell übergeht (vgl. Meggle, a . a . O . , 53), adäquater gewesen. V o r allem hätte dies dem G e s a m t r a h m e n der unakademisch-professionellen und tätigen E x i s t e n z Herders, der ja gerade als solcher mit Sprache arbeiten mußte, zu predigen, unterrichten, beraten, helfen, verhandeln und dann auch zu schreiben hatte und so auf die Leistung und W i r k u n g von Sprache angewiesen war, m e h r entsprochen. V o r Meggle hat A . Kathan 1968 die Irrationalismusthese und ihr unangemessenes biographisch-psychologisches Interpretationsinstrumentarium von seinem Standpunkt der „Literaturbetrachtung" (Kathan, Herders Literaturkritik, 173) aus und begrenzt für die literaturwissenschaftliche Rezeptionsgeschichte überzeugend als unhaltbar erwiesen. W e n n wir auch Kathans hermeneutische (vgl. a . a . O . , 166 und 40) B e s t i m m u n g der einheitlichen F o r m Herders nicht teilen (vgl. S. 2 3 3 , A n m . 4 ) , so bedauern wir doch, daß seine wie Meggies Erkenntnisse keine A u f n a h m e in der öffentlichen Diskussion u m H e r d e r , und zwar weder in den westdeutschen B ü c k e b u r g e r Herdergesprächen von 1971 und 1975 (vgl. R u p r e c h t , Vernunft, 5 8 f f . ) n o c h in dem wissenschaftlichen H e r d e r - K o l l o q u i u m von 1978 in der D D R (vgl. Bahner, Z u m ideologiegeschichtlichen K o n t e x t , 93 ff.) oder in dem dortigen J a h r b u c h für G e s c h i c h t e 1979 gefunden haben. Z u r amerikanischen Herderrezeption vgl. E . Brüning. E r k o m m t zu dem Ergebnis, daß sie einerseits ebenfalls „in H e r d e r nur einen jener in ,barbaric tongue' schreibenden ,obscure G e r m a n s ' " (Brüning, H e r d e r , 67) - so die amerikanische Intellektuellenschicht alteingesessener neuenglischer H e r k u n f t im frühen 19. J a h r h u n d e r t - sieht. Andererseits hätten aber Herders Ideen dem sich damals nationalliterarisch entfaltenden amerikanischen Transzendentalismus „mächtige Impulse" (a.a.O., 68) gegeben auch in seiner theologischen A u s f o r m u n g der „transzendentalistischen T h e o l o g i e N e u englands" ( a . a . O , 69) durch G . Ripley u.a. Diese amerikanische Geistesrichtung, die in ihrer theologischen Variante mit utopisch-kommunistischer Praxis (vgl. a . a . O . , 6 9 ) einherginge, trage den Stempel „Made in G e r m a n y ! " ( a . a . O . , 68) nicht o h n e Herders Verdienst. M a n vermißt bei Brüning die Weiterführung der amerikanischen R e z e p tionsgeschichte Herders über diese frühen J a h r e des 19. Jahrhunderts hinaus. H a r t h hat z w a r den O p t i m i s m u s angesichts dieser auf d e m

Hintergrund

e i n e r m e h r als 1 5 0 - j ä h r i g e n H e r d e r - F o r s c h u n g d o c h e n t t ä u s c h e n d e n

Ergeb-

nisse w e i t e r v o n d e r F r e i l e g u n g „ w e i t r e i c h e n d e ( r ) F o r s c h u n g s a u f g a b e n " 1 3

zu

s p r e c h e n . E r p o s t u l i e r t diese A u f g a b e n a b e r d o c h v o r d e m E i n g e s t ä n d n i s , „ d a ß die S u c h e d e s m o d e r n e n I n t e r p r e t e n n a c h W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t a n die v o n H e r d e r s e l b e r g e s t e c k t e n G r e n z e n s t o ß e n m u ß " " . H i e r i n w i r d die rende

Grundhaltung

der

neueren

Herder-Forschung

offensichtlich.

resignieZum

a n d e r e n ist z u b e o b a c h t e n , d a ß die a n H e r d e r e r h o b e n e S p a n n u n g in allen

13 14

Harth, Zusammenfassung, 153. A.a.O., 151.

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

21

ihren Erscheinungsformen auf einer Ebene, nämlich der Ebene formal logischen Denkens und einer empirisch unvermittelten Theorie liegt. Hier schlägt das praktische Defizit der neueren Herder-Forschung negativ zu Buche. D e m internationalen Spezialistengremium, das sich zu dem erwähnten H e r d e r Symposion in Bückeburg traf, gehörte kein Praktiker an 15 , obgleich dort allgemeiner Konsens darüber erzielt wurde, daß Herders Sprache ihn „als Redner, ja Prediger" 1 6 ausweise 17 . So stellt sich die Bejahung der inneren Spannung in Herders W e r k durch die neuere Herder-Forschung in dieser doppelten Hinsicht weiter als mindestens fragwürdiger Interpretationsversuch heraus, der nur offenbart, daß der Schlüssel zu Herders W e r k noch immer nicht gefunden ist. Die Versuche, auf diesem Hintergrund heute Herder zu erforschen, lassen sich ihrer Tendenz nach als zwei Grundtheorien verstehen. W i r bezeichnen die eine als Universalitätstheorie, die andere als Verfremdungstheorie. 1. Die

Universalitätstheorie

Exemplarisch für diese Theorie ist H . - W . Krumwiedes Herderinterpretation. Krumwiede versucht, „dieses seltsame Schauspiel zu erklären, daß Christen und Weltgläubige, daß Marxisten und Völkische Herder mit guten Gründen zu einem der ihren machten" 1 8 und „dem Kern dieses bemerkenswer-

15 Dieser für Herdergespräche unzureichende Ausgangspunkt und diese für die H e r d e r - F o r schung sicher unzureichende Prämisse wurden auch bei den 2. Bückeburger Herder-Gesprächen nicht aufgegeben (vgl. Bückeburger Gespräche 1975, S. V I I und 150). U n t e r diesen Umständen muß man es fast als bemerkenswert bezeichnen, daß in der Denkschrift zum 175. Todestag Herders der Akademie der Wissenschaften der D D R , die sich zwar, wie auch das Jahrbuch für Geschichte 1979, beim Lesen mehr wie ein Kompendium dialektisch-materialistischen Verständnisses der Fülle der Wissenschaften und der Gesellschaft denn als Herderauslegung ausnimmt, von 13 Beiträgen immerhin einer - der knappste - der praktischen Lebensleistung Herders gewidmet ist. Hinreichend zur Aufarbeitung des praktischen Defizites der Herderrezeption erscheint uns dieser den praktischen Theologen Herder ausklammernden und auch den praktischen Pädagogen Herder wiederum als nur eine zufällige „Seite" (J. Irmscher, Herder, 109) seiner Leistung betrachtende Beitrag nicht zu sein. 16 Harth, Zusammenfassung, 152. Ursula Cillien formuliert diesen Sachverhalt - auf einer allgemeineren E b e n e - so: Herder ist „zuerst und vor allem Geistlicher" (Cillien, J . G . Herder, 1979, 189), „auch" (ebd.) Beamter des staatlichen Konsistoriums und „schließlich" (a.a.O., 190) Literat, bringt aber dann durch Addition dieser Bereiche die Erkenntnis dieser klaren Prioritäten um ihre Wirkung. Herders theoretische Sprache bezeichnet auch sie dennoch in einem unbewußten Augenblick als ein „Verkündigen" (vgl. a.a.O., 193). Diese Prioritäten egalisiert auch W . Dietze, Ein würdiger Lehrer, 12. 17 Bedauerlicherweise haben auch S. H . Sunnus in seiner Dissertation „Die Wurzeln des modernen Menschenbildes bei J . G . H e r d e r " und H . G. K l e m m in seinem Aufsatz „Heiliges Epos und evangelische Rhapsoden. Oralität und Literalität in Herders Evangelientheorie" dieses für sie an sich verfügbare Interpretationspotential nicht eingebracht. 18 Krumwiede, Herder, 5.

22

Das Problem

ten Phänomens näher zu kommen" 19 , das sich auch darin zeigt, daß „die Wirkungen Herders . . . unübersehbar"20 sind und sich „vom Persönlichkeitsbegriff des deutschen Idealismus bis zu dem deutschen Patriotismus der Freiheitskriege und der Erweckung des Nationalbewußtseins der slawischen Völker" 21 erstrecken. „Die Antwort darauf ist in dem Bückeburger Werk dieses Mannes (sc. Herders) zu suchen, das von europäischer, ja man könnte sagen von universaler Bedeutung war und ist. Herder war weniger ein Prägender als ein Geprägter, in seinem Denken verlor die Menschheit die Unschuld ihrer geschichtlichen Existenz" 22 . „Von Herder lernen heißt, zu sich selbst kommen" 23 . Der Begriff der Universalität von Herders Denken dient Krumwiede dazu, das beobachtete spannungsgeladene Phänomen auf den Begriff zu bringen. Dieser Kunstgriff wird verbunden mit der Preisgabe der genialen Eigenständigkeit von Herders Werk zugunsten eines moderatorischen Verständnisses Herders, so daß sich schließlich alle und jeder in Herder selbst wieder finden können. Gleichwohl ist dieser Erklärungsversuch unbefriedigend. Die rein technische Addition der Widersprüche ergibt noch keine überzeugende Universalität, sondern lediglich eine additive Harmonie des Werkes von Herder. Wie sehr diese aber trügt, zeigt sich darin, daß das Band dieses Interpretationsversuches nicht hält und Krumwiede gegenüber dem „totalen marxistischen Staat"24 Herder schließlich doch alternativ ins Feld führen muß. Exkurs zur Universalismusthese

in der marxistischen

Herder-Rezeption

Die Universalismusthese ist nicht identisch mit der westlichen Herder-Forschung, sie transzendiert vielmehr die Grenzen politisch oder gesellschaftlich befangener Wissenschaft. Strukturell ist von dieser universalistischen Rezeption Herders die offizielle marxistische Rezeption nicht zu unterscheiden. Auch bei ihr treten dieselben Ungereimtheiten bei ihrer Anwendung, nur eben von der anderen Seite aus, auf. Schon das Gesamtbild der Herderabhandlungen, das die Herderdenkschrift von 1978 aus der D D R (vgl. Sitzungsberichte A d W / D D R ) bietet, ist massiv universalistisch. U n d doch ist es widersprüchlich. Denn nur scheinbar dürfen alle Wissenschaften Herder ihre Ehrerbietung machen. Es fehlt unter ihnen aber die Theologie ebenso wie eine überzeugende Würdigung von Herders durchgehender praktisch-theologischer Tätigkeit. Weiter vertritt diese Denkschrift strukturell ganz analog zu Krumwiede auch im Speziellen die Hauptthese vom Universalismus in Herders Denken. W. Dietze formuliert beispielsweise als These 1 so: „Herders Stellung in der Geschichte deutscher Literatur und Philosophie wird von sehr vielen, unterschiedlich wirkenden, oft sogar " A . a . O . , 6. Ebd. 21 Ebd. 22 A.a.O., 5. Schon Gollwitzer machte aber auf das „ungeklärte Verhältnis von Universalismus und Europäismus" (Gollwitzer, Europabild, 107), insbesondere auf die damit gegebenen „inneren Widersprüche" (a.a.O., 114), aufmerksam - ohne sich allerdings selbst diesen zu stellen. 23 Krumwiede, Herder, 15. 24 A . a . O . , 13. î0

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

23

einander konträren Faktoren bestimmt. Sie erzeugen ein von tiefen Widersprüchen zerklüftetes Welt- und Menschenbild. Als eine der bedeutsamsten historischen Leistungen Herders muß angesehen werden, daß es ihm gelang, diese Widersprüche partiell aufzuheben und in ihrer Gesamtheit dem Universalismus seines Denkens einzugliedern" (Dietze, J. G. Herder, 5; vgl. auch R. Große, Zu Herders Stellung, 80 und W. Fleischer, Zu Herders Auffassung, 83, die von diesem Dietzschen Dogma ihre linguistischen Einordnungen Herders in die deutsche Sprachgeschichte bzw. Herders stilistische Auffassungen deduzieren). Aber auch hier führt sich das additive universalistische Verständnis Herders von selbst in der Anwendung dieser zweifelhaften historischen Erkenntnis ad absurdum. Zwar wird Herder nämlich als einer „der ersten europäischen Denker" (Dietze, a.a.O., 13) mit diesem Interpretationspotential vorgestellt, in der Anwendung wird mit ihm aber sehr anzüglich gegen den „.Europazentrismus'" (ebd.) polemisiert oder vor „ideologischen Gegnern" (ebd.) gewarnt, die Herder zu Zwecken ihrer „antisozialistischen (und meist zugleich antisowjetischen) Kulturpolitik'" (ebd.) mißbrauchen könnten. Herders formal akzeptierter Universalismus wird damit qualitativ alterniert. Oder: die eigene Intoleranz wird lediglich durch einen formalen historischen Uberbau anderer Provenienz legitimiert. Die Leistung dieser Herderrezeption für eine Erhellung und Weiterführung gegenwärtiger Probleme ist also mit dieser Theorie offenbar unmöglich und hätte, wäre sie Herder auch nur annähernd adäquat, dennoch jeglichen Nutzen verloren. W. Förster sieht deutlicher die funktionale Seite des Herderschen „universellen Historismus", bestimmt diese aber als „Waffe von hoher Sprengkraft in den antifeudalen Kämpfen des deutschen Bürgertums" (Förster, Geschichtsphilosophie, 15) sowohl von ihrer Herkunft wie nach ihrem Zweck, vor allem aber in ihrer praktischen Ausformung zu kurz. Auf das gespannte Verhältnis zwischen der Herderforschung in der B R D und der D D R deuten weiter hin: Bückeburger Gespräche 1975, S. VII und umgekehrt das Jahrbuch f. Geschichte 1979 aus der D D R , wo W. Förster die „bürgerliche Interpretation (sc. Herders) der B R D " (a.a.O., 22) als eine wesentlich theologische und selektive pauschal aburteilt. O b W. Förster nicht zur Kenntnis genommen hat, daß zu den Bückeburger Gesprächen der B R D die atheistische Herderinterpretation E. Adlers gehört? Zu den wirklichen Fronten, um die wir uns bemühen, vgl. den kritischeren Marxisten H. Scheel, Herders Stellung, 15 f. und auch hier, beispielsweise S. 257ff. D i e Universalitätstheorie gibt es heute in vielen E r s c h e i n u n g s f o r m e n u n d weiteren Schattierungen. D i e s e sind o f t - wie bei K r u m w i e d e auch - mit entwicklungstheoretischen Interpretationen vermischt, s o b a l d die S p a n n u n g e n in H e r d e r im f o r m a l logischen Bereich nicht mehr verkraftet w e r d e n k ö n n e n . W a s auf der E b e n e der B e g r i f f e unvereinbar erscheint, m u ß dann H e r d e r s Person 2 5 o d e r die Geschichte seiner B e g r i f f e erklären. Eine dieser Erschein u n g s f o r m e n mit A n w e n d u n g p s y c h o l o g i s i e r e n d e r oder begriffsgeschichtli25 Vgl. o. S. 13 f. und den Versuch P. Wapnewskis, der Herders scheinbar widerspruchliche Leistung auf sein Leiden zurückführen möchte und in Herders seit seiner Kindheit durch eine angeborene Tränenfistel angeblich „defekter" Psyche den Interpretationsschlüssel für Herders Werk gefunden zu haben glaubt (vgl. Wapnewski, Herder, Leistung und Leiden, 306 f.).

24

Das Problem

cher Methodik ist das Bückeburger Herder-Symposion 26 . Eine weitere Erscheinungsform sind aber auch jene Interpretationsversuche, die Herder nur in einer speziellen Wissenschaftsdisziplin beleuchten und das widersprüchliche Gesamtwerk von vornherein abblenden. Diese Methode wendet beispielsweise H. J. Kraus an, indem er sich speziell auf Herders alttestamentliche Forschungen konzentriert. Was den Forschungswert dieser Ergebnisse aber angeht, zeigt einmal das „Erstaunen" 27 , in das sich Kraus beispielsweise versetzt sieht, nachdem er für Herders Verständnis der Bibel die „Akkommodationsidee" 28 erhoben glaubt, dann aber feststellen muß, „daß Herder sich polemisch gegen das ,gezwungene Akkommodationschristentum' Semlers aussprach" 29 und dann dieses Problem - wie er eingesteht - nur andeutungsweise bewältigen kann. Zum anderen zeigt die in die gleiche Richtung laufende Untersuchung von Th. Willi, wie sehr dieser Weg der Gefahr unterliegt, mit einer einseitigen Beleuchtung Herders auch den übrigen Forschungsstand abzublenden und Ergebnisse zu erheben, die in diesem Falle hinsichtlich der allgemeinen hermeneutischen Grundsätze Herders überholt sind. Die von Willi in diesem Bereich postulierte „eklektische"50 Nachahmungstheorie51 „existentialen"32 Charakters ist, wie die Forschungen H. D. Irmschers gezeigt haben, bei Herder selbst eben „nur die eine Seite von Herders Hermeneutik" 55 , die im „historischen"54 Verstehen einen - zwar ungeklärten, aber - notwendigen Kontrapunkt hat. Wenn Willi schlußfolgert: „Soviel die biblische Theologie dem Ausleger und Historiker Herder zu danken hat, so sehr ist es leider gar oft der Theologe Herder, der mit seiner Paratheologie der natürlich-menschlichen Hintergründe in eine verhängnisvolle Richtung wies" 55 , so ist dies exegetisch nicht haltbar. Dieses Fazit offenbart aber auch eine systematische Unklarheit, die behoben werden soll mit der nicht belegten Hypothese, daß Herder als Theologe etwas anderes als Ausleger und Historiker gewesen wäre. Die spezielle Auseinandersetzung mit Herder wird im Grunde auch hier auf universalem Hintergrund geführt, und zwar so, daß Herder selbst, diesmal als sich entgegenlaufender Wissenschaftler, den Zusammenhalt dieser Interpretation liefern soll56. S . o . S. 19. Kraus, Herder und das A T , 62. 28 Ebd. 29 E b d . Hinter dieser Erkenntnis bleibt Th. Willi, Herders Beitrag, 27, zurück, so sehr er sich an anderer Stelle bemüht, sich aus der Abhängigkeit von der Herder-Interpretation von Kraus zu lösen. Vgl. dazu a.a.O., 26, Anm. 1. 50 Willi, Herders Beitrag, 127. 33 Irmscher, Grundzüge, 18. 31 A . a . O . , 44 f. 34 A . a . O . , 19. 32 A . a . O . , 143. 35 Willi, Herders Beitrag, 128. 36 Die Fragwürdigkeit einer solchen Differenzierung des Theologen Herder nach der eigenen Wissenschaftsdifferenzierung ist hier - obgleich der theologische Rahmen von Herders Werk im Blick bleibt - offensichtlich. U . Cilliens Herderbuch, bei dem wir zu Einzelfragen einige mit unseren Ergebnissen übereinstimmende Beobachtungen feststellten, versucht in seiner Grundten24

27

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

25

Außerhalb der theologischen Herder-Forschung ist derzeit die Universalitätstheorie in der Erscheinungsform einer mehr psychologisierend vorgehenden oder begriffsgeschichtlich orientierten Entwicklungstheorie Basis der Forschungen von H. B. Nisbet, Y. Shichiji und auch von H. D. Irmscher. Nisbet behauptet gegen alle einseitigen Herderbilder: „Der größte Gewinn der neueren Herder-Forschung besteht in der Einsicht in die Kontinuität und Wechselbeziehung zwischen dem Denken Herders und der Gedankenwelt Europas im weitesten Sinne"37 und sieht als ideologische Klammer um Herders Werk ganz ähnlich wie Krumwiede 38 einen Europäismus gegeben. Dennoch betont er gleichzeitig: „Widersprüchlichkeit und ständiger Wechsel gehören zu den wesentlichsten Kennzeichen seines (sc. Herders) Schaffens" 39 . Die künstliche Vermittlung dieses empirischen Tatbestandes mit jener ideologischen Klammer durch den Begriff der „Vielseitigkeit"40 bzw. des „vielseitigen Herder" 41 denz auch, auf dem Hintergrund eines strukturellen Herderschen Universalismus die nur scheinbar (vgl. Cillien, J. G. Herder, 1972, 11) widersprüchlichen Züge im Herderbild in Anlehnung an Goethe in einer „tieferen Einheit seines Wirkens" (ebd.), nämlich seiner - nach Suphan und H a y m zitierten - „zutiefst pädagogischen Natur" und Praxis, von denen aus „alles seinen Stellenwert" (a.a.O., 13) erhalte, aufzuheben. Dieser Ansatz wird aber nicht durchgehalten. Denn U. Cillien betrachtet in der konkreten Ausführung dieser Beobachtung dann doch nicht die widersprüchliche Aussageform Herders funktional, sondern ideologisch. Sie meint nämlich, diese strukturell in Herders elliptischem Denkmodell (vgl. a.a.O., 67f.; 170 Anm. 40) begründet und aufgehoben sehen zu müssen. Dieses von ihr konstruierte Denkmodell wendet sie als Interpretationsmodell für Herders Anthropologie (a.a.O., 35ff.) und deren für Herder charakteristische Ausformungen (a.a.O., 107ff.) an, was ihr natürlich die Möglichkeit verschafft, viele theoretische Widersprüche weit gelassener zu betrachten als andere systematische Denker, andererseits aber auch den Vorwurf unkritischer ideologischer Harmonisierung eintragen wird. Dies zumal, weil auch bei U . Cillien dann doch übrig bleibende faktische Widersprüche unter Verwendung von Relikten biographisch-psychologisierender Interpretationsmuster (vgl. a.a.O., 17ff.) oder, wie beispielsweise in ihrem Anschluß an M. Doerne (vgl. a.a.O., 58 oder 167, Anm. 3), ideengeschichtlich herausinterpretiert werden. 37 Nisbet, Zur Revision, 117. " S.o. S. 21 f. Ganz anders als beide deduziert I. Berlin, Herder, 197 aus Herders „Ideen": „It is terrible arrogance to affirm that, to be happy, everyone should become European". Ähnlich Iggers, The German Concept, 35: „Herder . . . warned against a Europocentric approach to history (SW V, 484ff.)". Vgl. jedoch Gollwitzer, Europabild, 114, der diese Erkenntnis vorwegnimmt und als Teilaspekt des Herderschen Europabildes betrachtet, da „andererseits" dennoch ein Europäisierungsgedanke bei Herder wirksam sei, der für Gollwitzer aber inkonsequent bleibt. Sollte die Ablehnung von Europäisierung und Missionierung durch Herder einerseits und die Ausbreitung Europas in der Welt andererseits aber nicht so verständlich werden, daß Herder auf der einen Seite die Souveränität eines jeden Volkes gewahrt sehen möchte. Andererseits aber, da im Gegensatz zu dem einander beherrschenden Verfahren das „vergleichende Verfahren" zwischen den Völkern kulturell gerade ein europäischer „Vorsprung" (Gollwitzer, a.a.O., 107) zu werden im Begriffe ist, Herder konsequenterweise gar nicht anders kann als mit Vehemenz praktisch in diesem Sinne weiter zu „europäisieren" - gerade wenn ihm an der Entwicklung der Souveränität der Nationen gelegen ist. Eine u.E. nicht widersprüchliche, sondern in sich schlüssige und konsequente praktische Folgerung Herders! 35 Nisbet, Zur Revision, 102. « A.a.O., 117. « Ebd.

26

Das Problem

oder der müde klingenden Feststellung, „daß wir uns immer nur mit einem unvollständigen Bild unseres Forschungsgegenstandes begnügen müssen" 42 , läßt aber nicht nur die Ablehnung Nisbets der „einseitigen" 43 idealistischen und marxistischen Herderbilder unverständlich erscheinen, sondern im Grunde überhaupt keine klare Forschungsaussage mehr zu. Den internationalen Charakter dieser Verlegenheitslösung offenbart die noch von größerem Forscherdrang getragene Arbeit des japanischen Herderforschers Shichiji, der als Fazit der bisherigen und Programm der künftigen Herder-Forschung in Japan erhebt, „Herders Grundgedanken auf dem jeweiligen Gebiet seines Schaffens und Denkens klarzustellen und sie auf irgendeine Weise in Zusammenhang miteinander zu bringen" 44 . Shichiji selbst versucht dies so, daß er den Europäismus Herders zu einem Internationalismus ausweitet und das „eigentümliche Denken Herders" als den Weg bezeichnet, „auf dem die Zwiesprache zwischen dem westlichen und dem östlichen Denken vielleicht auf irgendeine Weise möglich wird" 45 . Die ideologische Basis für dieses Anliegen Shichijis bildet die Erhebung der „Einheit von Menschheitsgeschichte und Natur" 4 6 bei Herder. Dabei wird die Tatsache, „daß Herder von dem Walten des Schicksals in der Geschichte überzeugt ist" 47 entweder mit der „doch noch religiös(en)" 48 Geschichtsdeutung Herders oder damit herausinterpretiert, daß Shichiji als Erklärungsprinzip dieses Widerspruchs die Lehre von der „coincidentia oppositorum" 4 9 heranbemüht. „In diesem doppelten, dialektischen Sinn, als Mittel der Selbstbehauptung, die zugleich Selbstaufhebung ist" 50 sieht auch H. D . Irmscher „die Negation, den Haß, als Prinzip der geschichtlichen Kontinuität" 5 1 von Herder verstan42

A . a . O . , 101.

A . a . O . , 102. Shichiji, Bekenntnis, 99. Ähnlich schon W . Dobbeks Versuch, Herder aus „einheitlicher, ungebrochener Sicht" (Dobbek, Herders Weltbild, 7) darzustellen, der ihm konkret in viele „Kerne" bei Herder, sich verändernde Ideen und „Widersprüche" (a.a.O., 5ff.) zerfällt, und zwar so sehr, daß sich Dobbek nur psychologisch helfen kann und sein Anliegen im Verlaufe seiner Darstellung auf den Nachweis einer unüberprüfbaren, hintergründigen „einheitlichen Grundhaltung" Herders, nämlich einer religiös-unpolitischen (vgl. a.a.O., 10f.), faktisch reduziert. 43 44

45 46

Shichiji, Bekenntnis, 97. A . a . O . , 92. Vgl. auch a.a.O., 9 4 : „Weltgeschichte wird bei Herder Physik der Geschichte".

A . a . O . , 94. Shichiji, Bekenntnis, 95. 49 A . a . O . , 96. Zum pantheistischen Gedanken der „coincidentia oppositorum" als vorläufigem Begriff, der sich „bei Herder zum Begriff sich revolutionierender Wirklichkeit, die in Gegensätze zerfällt und sich aus ihnen zu neuer Einheit wiederherstellt", entfaltet, vgl. Irrlitz, Deus sive natura, 53. 47 48

50 Irmscher, Grundzüge, 56. Von Herders „dialektischer Erkenntnismethode, die ihn als einen Vorläufer Hegels" zeige, redet auch Irrlitz, Deus sive natura, 58 - ein Beweis unserer These, daß die Aporien der Herderforschung nicht nur durch die verschiedenen Gesellschaftssysteme in O s t und West erklärbar sind, sondern die Fronten der Herderinterpretation eigentlich innerhalb beider an der Frage seiner abstrakten oder seiner praktischen Theologie aufbrechen. 51

Irmscher, Grundzüge, 56 f.

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

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den. Dialektisches Vorgehen weist er auch der „Aufgabe des Verstehens"52 zu, „ein Werk der Dichtung als historisch bedingt und zugleich ursprünglich"" zu begreifen. Und dialektisch ist die von ihm gegen den positivistischen Historismus erhobene Hermeneutik Herders, bei der man „einmal vom historischen sodann vom geschichtlichen Verstehen sprechen"54 muß, und die von Herder „ - wie es scheint - ohne deutliches Bewußtsein des Widerspruchs"55 entwickelt wurde. Theologiegeschichtlich bedeutsam sind die Forschungen Irmschers insofern, als er die scheinbar festgeschriebene und immer noch tradierte Einordnung Herders als Vorläufer Schleiermachers und seiner Nachfolger für den Bereich der Hermeneutik widerlegt hat. „Herder geht es nicht um ästhetische Rekonstruktion, sondern um Fortbildung der Vergangenheit"*. Diese Fortbildung der Vergangenheit mit Hilfe der „produktiven Auslegung"57 für die Gegenwart wird von Irmscher aber „existentiell"58 bzw. „anthropologisch und wahrnehmungspsychologisch"59 beschränkt. Zwar erwacht das Gegenwärtige „unter der Einwirkung der Vergangenheit zu sich selbst"60. Der nationale Grundzug der Hermeneutik Herders bleibt aber unerkannt. Herders zentrale hermeneutische Begriffe, wie „Geist" 6 ', „Kraft" 62 , „Anwendung"63, die Irmscher in den Bereich der Theologie führen, sind weniger, wie Irmscher glaubt, „Anklänge an christlich-dogmatische Vorstellungen"64 als Begriffe praktischer Theologie und Predigt65. Diese freilich beschränkt sich bei Herder nicht auf existentielle Selbstfindung, sondern zielt auf nationale Veränderung. Dialektik als Interpretament der Hermeneutik Herders braucht für diesen eindeutigen Sachverhalt nicht herangezogen zu werden. Sie ist nur dort weiterhin notwendig, wo beim Nachdenken von Herders Werk die Ebene der Theorie nicht verlassen wird. A . a . O . , 25. Ebd. 54 A . a . O . , 19. 55 A . a . O . , 18. * A . a . O . , 53. 5 ' Irmscher, Grundzüge, 54. 52

59

53

60

58

61 62 65 64

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

54. 55. 49. 49f. 40. 49.

A . a . O . , 40.

' 5 Vgl. z . B . 1. Kor 2, 1 - 4 ; 4,20. „Beweis des Geistes und der Kraft" (SW VII, 190), so formuliert Herder 1773 an Prediger, „wäre Prophetenwerk" (ebd.) und deren Domäne, nicht aber Sache metaphysischer Demonstration der Religionswahrheit, die der „am innigsten glauben will am liebsten vergeße" (SW VII, 186). Die Herdersche Begrifflichkeit ist bis in das Wortbild paulinisch. Falsch Irmscher, Herder, 109f., wo Irmscher die synonyme Verwendung der Begriffe „Geist" und „Kraft" abgewandelt der Synthese philosophischer und rhetorischer Tradition bei Herder zuordnet (vgl. a.a.O., 110, Anm. 50). Vgl. u. S. 156 ff. Wie Irmscher war bereits R. Clark diese Herkunft des Herderschen Kraft-Begriffes verborgen. Clark versuchte bereits 1942 darin eine „Synthesis" (Clark, Herder's Conception, 742) von metaphysischer, physikalischer und biologischer Auffassung zu beweisen. Zu den Synonyma: Gott, Kraft, Geist bei Herder vgl. SW X X I , 237f. und insbesondere wiederum Paulus, z . B . R o m 15,13; 1. K o r 2 , 1 0 ; 2. Kor 3,17 u.ö.

28

Das Problem

2. Die

Verfremdungstheorie

Sieht sich der Typus der Universalitätstheorie immer wieder ideologischen Widersprüchen als Herausforderung und Grenze einer systematischen Interpretation Herders gegenüber, so eliminiert der Typus der Verfremdungstheorie die Spannung in Herders Werk durch den Gedanken, daß Herder seine wirkliche Absicht durch bestimmte Elemente verfremdet habe. Zu diesen Elementen gehören nach den Vertretern dieser Theorie vor allem die Religion, die Literatur und Sprache sowie Herders Praxis. Die Religion wird auch bei Shichiji als Fremdkörper in Herders „Physik der Geschichte"66 begriffen67. Doch hat Krumwiede darauf hingewiesen, daß der „sich durch sein religiöses Werk verfremdende Herder . . . schon ein Thema der Marxisten Eisner und Harich geworden"68 ist - eine These, die neuerdings auch von E. Adler „aus polnischer Feder"69 vertreten werde. So werden nach Krumwiede von Adler „die Bückeburger Jahre als der schwerste Zeitabschnitt seines (sc. Herders) Leben bezeichnet, in dem Herder mystisch-religiösen Stimmungen verfallen sei, die aus seiner Einsamkeit oder als Verfremdung seiner wirklichen, revolutionären Gesinnung im Sinne eines unvermeidlichen Kompromisses mit der Aristokratie eines kleinen deutschen Fürstenstaates zu verstehen seien"70. Diese Beobachtung versucht Adler neuerdings auch für Herders Weimarer Zeit und schon „beim jungen Herder"71 der Rigaer Jahre nachzuweisen. Als Gegenstand dazu dient Adler Herders „Humanitätsphilosophie"72 als Bekenntnis zu „Pantheismus - Humanität - Promethie"73. Adler betont darin zurecht, wie sehr „die Humanitätsidee ein integraler Begriff der deutschen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts ist"74 und als „die deutsche klassische Idee"75 von Herder auch in ihrer „Direktive zur Befreiung des Menschen"76 geteilt wird. „Als ein Ideal aus der Zeit der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft verbindet die Humanitätsidee die Forderung nach voller Entwicklung aller menschlichen Anlagen mit dem Protest gegen verschiedene Formen der neuzeitlichen Entfremdung, gegen die Beschränkung der Persönlichkeit, mit dem Protest gegen die Degradierung des Menschen durch die moderne Arbeitsteilung und mit gewissen, sehr bescheidenen Formen des Protestes gegen die historisch gestalteten Existenzbedingungen des Menschen"77. Diese „konkrete soziale Note" 78 und ihr „Bestreben um die Emanzipation des Menschen"79 bekomme die Humanitätsidee durch die ihr zugrunde liegende 66 67 6! 69 70 71 72

Shichiji, Bekenntnis, 94. Vgl. o. S. 26. Krumwiede, Herder, 5. A.a.O., 4. Ebd. Adler, Pantheismus, 90. A.a.O., 77.

75 74 75 76 77 78 79

Ebd. Adler, Pantheismus, 84. Ebd. A.a.O., 85. Ebd. A.a.O., 86. A.a.O., 87.

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

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pantheistische Weltauffassung, die „in sozialgeschichtlicher Interpretation, ein Kampf um ,die Gottesrechte des Menschen' (zit. nach Heine), um eine solche Gestaltung der Lebensbedingungen, die einer menschlichen Existenz würdig sind" 80 , sei. Die „einen Demokratismus" 8 1 hinsichtlich des sozialen Status des Menschen voraussetzende pantheistische Anthropologie führe schließlich auch bei H e r d e r „zu einer weitgehenden Verselbständigung der menschlichen Existenz und zu einer Entfaltung der Persönlichkeit" 82 , zur „promethisch-rebellisch(en) Haltung" 8 3 und „zum Gefühl Gott zu werden und sogar mehr als G o t t zu sein" 84 . Adler bedauert, daß die positive Forderung dieser führenden deutschen klassischen Humanitätsidee auch in ihrer Formulierung durch Herder „eine sehr verschwommene und vorwiegend utopische ist" 85 , entfernt von einer mit Frankreich vergleichbaren „revolutionären Verwirklichung" 8 6 und in „sozialer Hinsicht ziemlich bescheiden" 87 . Er stellt die Vermutung an, ob nicht „gerade der für diese Idee bezeichnende Mangel an Aggressivität, der Umstand, daß sie keine unmittelbare politische Folgerungen enthielt, der G r u n d ihrer großen Verbreitung war" 88 . Adler sieht daher nur eine „gewisse Widerspiegelung" 89 der „in Deutschland heranreifenden sozialen Konflikte und des an seiner westlichen Grenze heraufziehenden revolutionären Sturmes" 90 in der Humanitätsphilosophie Herders gegeben. Herders Intentionen verfremdend habe sich negativ besonders sein Christentum bemerkbar gemacht. Aber Adler steht letzten Endes doch vor dem Rätsel - und damit dem ungelösten Problem seiner Herder-Interpretation - , „ob sich Herder der philosophischen und weltanschaulichen Konsequenzen" 9 1 seiner pantheistischen Auffassung von Welt, Mensch und N a t u r und seiner Äußerungen dazu bewußt war. „Die sind nämlich sehr radikal" 92 und die monistische „pantheistische Konzeption der Welt war . . . immer eine drastische Beleidigung des christlichen Gottes" 93 . Diese von Adler bei Feuerbach abgelesene Definition des Pantheismus als „Negation der Theologie" 94 erweist Adler mehr als einen Interpreten des formalen Gegensatzes zwischen G o t t und Welt, Religion und Politik und sein von daher geleitetes Interesse. Aufgrund dieser geistigen H e r k u n f t Adlers mag das auch verständlich sein, aber es vermag Herder an dieser zentralen Stelle nicht verständlich zu machen. Schon die Tatsache, daß

80

17 A.a.O., 86. Ebd. " Ebd. '» Ebd. !2 89 A.a.O., 89. Ebd. 8! 90 Ebd. Ebd. 84 91 Ebd. A.a.O., 82. 85 92 Adler, Pantheismus, 85. Ebd. 93 " A.a.O., 87. A.a.O., 83. 94 A.a.O., 79. Hier zitiert Adler die „Feuerbachsche Charakteristik des Pantheismus wie folgt: ,„Der Pantheismus ist der theologische Atheismus, der theologische Materialismus, die Negation der Theologie, aber selbst auf dem Standpunkt der Theologie"'.

30

Das Problem

H e r d e r s praktisches Bekenntnis t r o t z seiner „Bekenntnisse" 9 5 z u m pantheistischen Geist Spinozas zeit seines Lebens das christliche geblieben ist, widersprechen dieser Interpretation H e r d e r s

als theologischem Atheisten

bzw.

atheistischem T h e o l o g e n . Adlers Interpretation zeigt daher nicht, daß H e r d e r s C h r i s t e n t u m seine sozial-politischen Intentionen verfremdet, sondern

nur,

daß das Verhältnis von Religion und Politik weniger H e r d e r als A d l e r selbst fremd und unklar ist 96 . Exkurs zur Verfremdungsthese

in Ost und West

Die These vom verfremdenden Charakter der Religion und des Geistlichen Amtes in den gesellschaftskritischen „philosophischen Anschauungen Herders, der immer mehr zum (sc. atheistischen) Pantheismus und Materialismus neigte" (Gulyga, J . G. Herder, 18), erneuert unter offensichtlich antikirchlicher Befangenheit auch der russische Philosophiehistoriker A. Gulyga. Er möchte sogar Herders Flucht aus Riga aus diesem „Widerspruch" (ebd.) erklären, bleibt aber den Beweis dafür schuldig, wieso Herder dann doch wieder ausgerechnet zum kirchlichen Amt als Medium seines Erziehungsprogrammes zurückgekehrt ist. Aus einem Brief Herders an Hamann vom 9. 4. 1779 geht darüberhinaus sogar die somatische Abneigung Herders gegenüber dem atheistischen Geist hervor: „Diderots Essai sur la vie de Seneque et sur ses écrits hat mir Grimm aus Paris geschickt; es liegt indeß noch ungelesen, weil mich, ich weiß nicht, welcher Duft des Atheismus u. der Vernichtung der Vorrede nach davon wegtreibt" (SB IV, 85, 132ff.). Im angelsächsischen Bereich tradiert die Verfremdungstheorie als Konflikt Herders „,zwischen seinem Amt und seinen Uberzeugungen'" ungeprüft weiter Bruford, Kultur, 184. Er zitiert R. T. Clark, Herder, 210, wo dieser wiederum H. Hettner als deutschen Lieferanten und Gewährsmann der These ausgibt. Die Theologie als Verfremdungselement in Herders Sprachphilosophie hebt hervor E . Ruprecht, Vernunft, 78 ff. Er empfindet es als eine „schockierende Abkehr vom eigenen philosophischen Weg" (Ruprecht, a.a.O., 80) Herders, daß dieser seine „philosophisch-anthropologische" Sprachauffassung seiner Schrift „Vom Ursprung der Sprache" (1772) in der „Ältesten Urkunde" (1774) theologisch explizierte. Für Herder selbst liegt darin kein Problem, denn für ihn gilt ja schon 1772: „Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art Göttlich, sofern er Menschlich ist" (SW V, 146). Darin unternimmt also Herder schon 1771 keine Desavouierung des Gottesbegriffes, sondern dessen theologische Interpretation. Vgl. u. S. 156 ff. Die Verfremdungstheorie in einer abgemilderten Form vertritt neuerdings wiederum W . Förster, Geschichtsphilosophie, 19, wonach die ideellen religiösen Relikte in Herders religionskritischer und sozialoppositioneller Geschichts- und Humanitätsphilosophie seine Philosophie zwar inkonsequent und widersprüchlich machen (vgl. auch Förster, Theoretiker, 129), aber als verzeihliche Konzessionen an unumstößliche Fakten wie seine berufliche Existenz oder den herrschenden Zeitgeist Deutschlands anzusehen sind und insofern nur als „metaphorische . . . indirekte Zugeständnisse" (Förster, Theoretiker, 129) eines in Wirklichkeit „pantheistisch verhüllten Materialismus" (Förster, Geschichtsphilosophie, 16) hingenommen werden müssen. 95 96

A.a.O., 80. S.u. S. 52, Anm. 39; 70ff. u.ö.

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

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Diese falsche These der Konzessionen Herders an „Stellung und literarische Polizei" schon 1903 bei K. Eisner, Revolutionäre Humanität, 80f. Vgl. auch u. S. 245 Anm. 152. Der analoge und z . Z . letzte Aufguß der Verfremdungsthese bei Irrlitz, Deus sive natura, 46: „Herder steht in dieser pantheistischen Tradition, so sehr er auch deren offen atheistische und materialistische Tendenz durch eine naturtrunkene DiesseitsReligiosität abzubiegen sucht". Umgekehrt wird die Verfremdungsthese natürlich auch tradiert. So schon bei M. Doerne, der dem späten Herder in Weimar eine „Entgeschichtlichung und Humanisierung der Religion" (Doerne, Die Religion, 34ff.) vorwirft, worin er den Grund dafür sieht, daß Herders kulturelle Sendung „trotz Bückeburg zuletzt unerfüllt" (a.a.O., 158) blieb, ja sogar das „Entscheidende von Bückeburg . . ., die religiöse Zentriertheit aller Welt- und Geschichtsschau, . . . in Herders späterer Arbeit spurlos verloren" (a.a.O., 157f.) gehe. Durch Herders Verflechtung seiner „letzten Wurzeln im Religiösen" (a.a.O., 3) mit „areligiösen Antrieben" (ebd.) und „Leistungen und Perspektiven von so ausgesprochen ,profaner' Meinung" (ebd.) ziehe sich eine Verfremdung durch sein Werk, von der lediglich noch eine tendenzielle, aber „eine sachliche Einheit . . . kaum behauptet werden" (a.a.O, 11) könne. Anders als durch Fortoperieren des Theologen Herder versucht Doerne nun, diesen im Bückeburger Herder herauszustreichen und den von ihm konstruierten Widerspruch so zu beseitigen, daß er den übrigen Herder als einen mißglückten Versuch darstellt. Nach unserer Meinung ist dies der gleiche Fehlgriff, diesmal nur von der anderen Seite. So neuerdings auch wieder W. Dobbek. Herders „Immanenzlehre und seine dialektische Weltansicht" (Dobbek, J . G. Herders Weltbild, 203) wie seine Auffassung von Humanität ist für ihn „säkularisiertes Christentum" (a.a.O., 32), verstanden als Abfall vom wahren Christentum und kulturellen Zwecken dienstbar gemacht. Inkonsequent nimmt sich in diesem formalen und kleinlichen Schema aus, daß Dobbek eine Apologie auf Herder's „Gottesglauben" (a.a.O., 32f.) angesichts der marxistischen Kritik schreiben zu müssen glaubt, zumal deshalb, weil er doch selbst formuliert, daß der Beginn dieser Säkularisierung bei Herder „auf dem Wege über Hegel, bald völlig säkularisiert, ihre Wandlung durch Ludwig Feuerbach und Karl Marx" (a.a.O., 203) erlebte. Eben! Darauf basiert ja gerade die marxistische Verfremdungstheorie. Die Konzessionsthese zurückzuweisen versucht Th. Steinhäuser. Er möchte die Auffassungen, daß Herder den Pfarrerberuf aus Nützlichkeitserwägungen ergriffen (vgl. Steinhäuser, Herder, 14ff.), unglücklich praktiziert (vgl. a.a.O., 18ff.) und nur aus fremden Motiven darin verharrt habe (vgl. a.a.O., 20f.), dadurch widerlegen, daß er Herders „fromme" (a.a.O., 17) Haltung herausstreicht, die grundsätzliche Unmeßbarkeit „zarter und tiefer" (a.a.O., 18) Wirkungen des Predigt- und Seelsorgeamtes Herders betont und die Kategorie der „Uberzeugung" (a.a.O., 20), mit der Herder „von Herzen (!) Pfarrer" (a.a.O., 19) wurde und gewesen sei, einführt. Solche apologetisch-psychologisierende Methode bringt jedoch ihre Absicht selbst um die Wirkung, weil sie sich auf das Feld unnachprüfbarer und auch anders auslegbarer Argumente und Kompromisse begibt und ist deshalb von uns nicht praktizierbar. Handfester, wenngleich zu indirekt und unter Umgehung der notwendigen ideologischen Auseinandersetzung mit ihren Verfechtern, widerspricht I. Braecklein den bei ihm im Anonymen bleibenden Verfechtern der Konzessionsthese. Er macht unter apologetischem Blickwinkel und unter Beleuchtung des Aspektes von Herders Tätig-

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Das Problem

keit im Oberkonsistorium von Weimar die These unwahrscheinlich, daß Herder in seinem Amt „zum Schauspieler oder zum Betrüger" (Braecklein, Zur Tätigkeit, 54) wurde und stellt ihn in dieser Tätigkeit als einen Mann vor, „der sich nicht verliert in allgemeinen Menschheitsideen, sondern der um die Kirche Christi weiß und auf ihre Vollmacht und Heiligkeit bedacht ist" (a.a.O., 70). Die Konturlosigkeit der von Braecklein angesprochenen Position, die Braeckleins Apologie noch vergrößert, erklärt sich wohl aus der kirchenpolitischen Situation in der DDR. An Herders Vorstellungen über das Studium der Theologie mittels seiner Weimarer Schrift „Briefe, das Studium der Theologie betreffend" hat der katholische Theologe K. Feiereis zeigen wollen, daß „Herder persönlich seine seelsorgerliche Tätigkeit. . . der wissenschaftlichen Tätigkeit. . . jederzeit übergeordnet hat" (Feiereis, J. G. Herders Vorstellungen, 274) und Herder ein „großes Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Kirche und ihrer Sendung an die Menschen" (a.a.O., 288) erfüllte. So angenehm uns diese Stimme klingt, Feiereis bleibt doch im anfechtbaren apologetisch-ideologischen Bereich stecken. Herder selbst spricht gegen die Konzessionsthese am stärksten mit seiner Praxis. Aber auch seine Definition von Theologie als praktischer Theologie (vgl. SW X, 10) und seine ausführliche Erörterung der beruflichen Motivation im Rahmen der Pfarramtskandidatenausbildung (vgl. SW X, 263 ff.) weisen auch ideologisch in eine ganz andere Richtung. Herders Problem ist nicht, wie bringe ich mein Denken mit meinem Geistlichen Amt in Einklang, sondern, wie wird die praktische Theologie effektiv bzw., wie Herder sagt, nützlich. Im theologischen Bereich kann man eine ähnliche Unklarheit auch bei F. W . Kantzenbach feststellen, der einerseits „eine nicht wegzudisputierende gemeinsame christliche Basis"97 zwischen Herder und Wieland feststellt, „die nicht zuletzt auch von politischer Relevanz ist"98. Andererseits bemerkt Kantzenbach aber auch: „Besonders nahe kommen sich Wieland und Herder in der Betonung des Reiches Gottes als des zentralen Begriffes der christlichen Verkündigung überhaupt, und, damit zusammenhängend, der Abneigung gegenüber einer politischen oder mit dem Staat in gesetzmäßigen Beziehungen stehenden Religion" 99 . Kantzenbach, Der alte Herder, 142. Ebd.; vgl. auch 147. 99 A.a.O., 145. Vgl. auch W. F. Kantzenbach, Herders Briefe, 24f., wo Kantzenbach wiederum in seiner Rezeption Herders den unproduktiven pro-kantischen Vorwurf des Herderbiographen Haym aufgreift und von „Urteilsschwankungen, Spannungen und Widersprüchen" bei Herder spricht und mit Haym Herders „Alteste Urkunde" sogar „dilletantisch, form- und methodenlos, unverantwortlich übereilt und unreif" findet. Unter diesem Vorurteil leidet auch Kantzenbachs unsichere Auseinandersetzung mit Adlers Herderrezeption. Kantzenbachs Behauptungen gegen Adler, Herders „Pantheismus kann im Gegensatz zum Spinozismus doch eine gewisse Transzendenz Gottes in sich schließen" (a.a.O., 23) oder „Herder ist auch als angeblicher Pantheist Theologe geblieben" (a.a.O., 24), bestätigen ja nur Adlers These. Im übrigen empfinden wir Kantzenbachs Eingehen auf die theologische Rezeptionsgeschichte Herders zu eng. Es erschöpft sich im wesentlichen in einer - lückenhaften (vgl. z.B. Günther, Herder-Bibliographie, 376ff.; 564) - Literaturzusammenstellung, vor allem aber vermissen wir bei ihm die kritische Diskussion als zureichende Basis seiner zu allgemeinen Werturteile. 97 98

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

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Zum Problem der Verfremdung in Herders pädagogischen Vorstellungen hat D. Harth mit seiner Abhandlung „Ästhetik der ,ganzen Seele"'100 einen weiteren Beitrag geliefert. Von Bedeutung für die künftige Herder-Forschung ist darin Harths Versuch, „Herders eminent praktisches Interesse"101 an wissenschaftlicher Erkenntnis zu betonen und im pädagogischen Bereich andeutungs- und versuchsweise frei zu legen. Angesichts nicht nur der „Kluft zwischen Praxis und Theorie, sondern auch zwischen den Gebildeten der höheren Stände und dem nach Bildung strebenden Mittelstand und Kleinbürgertum des 18. Jahrhunderts" 102 habe sich für Herder als „das große Problem"103 ergeben, „wie dieser Gegensatz anders als durch Bildung aufgehoben werden"104 sollte, vorausgesetzt, daß diese sich doch „auf den Menschen diesseits seiner sozioökonomisch und politisch bestimmten Rolle als Bürger"105 beziehe. Von daher habe Herder „auf einer reflektierteren Stufe"106 als die humanistische Tradition sein Konzept einer literarischen Bildung formuliert, mit dem Ziel der „Formierung des Geschmacks als auch des Nationalcharakters"107 andererseits, die beide „der einen Idee der ,menschlichen Bildung' untergeordnet"108 seien. Herder grenze sich dabei von einem autoritativen „humanistischen Traditionalismus" 109 ab, der die studia litterarum über die Lebenserfahrung gestellt hatte. Aber auch „von einer einseitigen und nicht weniger autoritativ verfahrenden Aufklärungspädagogik, die der Einübung beliebig abrufbarer Fertigkeiten den Vorzug gab, ohne die eigentümliche soziale und psychologische Erfahrungssituation der Heranwachsenden, noch deren Hoffnung auf Selbstverwirklichung zu berücksichtigen"110. So sieht Harth in Herders pädagogischer „,Lesemethode'"111 wie in seiner Sprachvorstellung ein emanzipatorisches Moment, „ein Moment der Freiheit wirksam, das sich mit Hilfe eben derselben Tradition erhält, deren Bevormundung der aufgeklärte Bürger des 18. Jahrhunderts zu entgehen suchte"112. Gleichwohl 100 Harth, Ästhetik, 119. Zur Verfremdungstheorie in H. D. Irmschers Herderrezeption vgl. Irmscher, Herder, 125 ff., w o Irmscher den Nachweis zu bringen versucht, daß Herders Wende von einer radikal negativen zu einer resignierend „positiven Bewertung" (a.a.O., 131) des „Verlustes von Öffentlichkeit und Vaterland" (a.a.O., 130) in seiner Sprach- und Literaturauffassung in der „religiösen Deutung" (a.a.O., 125) seiner negativen Erfahrungen bei seiner öffentlichen Wirksamkeit in Bückeburg begründet sei. Vgl. u. S. 80. 101 Harth, Ästhetik, 131; vgl. dazu auch a.a.O., 121 und 129. 102 A.a.O., 127. 10S A.a.O., 128. 103 A.a.O., 128. m A.a.O., 121, Anm. 5. 104 A.a.O., 127. 107 A.a.O., 128. Ähnlich Irmscher, Herder, 135ff., der Herders - allerdings erst Weimarer Humanitätsprogramm als „geistige Vereinigung der Menschen" durch „die Gemeinschaft der Literatur" (a.a.O., 137) verstehen möchte, wobei ein - für Irmscher noch unklarer - Einfluß der Religion die entscheidende Rolle spiele (vgl. a.a.O., 136). 10» Harth, Ästhetik, 128. 1,0 Ebd. 109 A.a.O., 139. 111 Ebd. 1,2 Ebd.; vgl. a.a.O., 130: Hier formuliert Harth den emanzipatorischen Charakter des Sprachgeschehens bei Herder. Danach leitet bei der Entstehung der Sprache den Menschen „kein anderes

34

Das Problem

erscheint Harth bei Herder das Konzept der Pädagogik als literarischer Bildung zum hermeneutischen Problem zu avancieren und sich damit zu verfremden. Herder habe zwar den für die humanistische Tradition normativen Lehrkodex der literarischen Uberlieferung „durch Historisierung aus einem normativen Wirkungszusammenhang herausgerückt" 113 , damit seine „praktisch-moralische Erziehungsfunktion" 114 geschwächt und durch den Entwurf einer „pragmatisch" 115 zu applizierenden Literaturgeschichte „kompensiert"116. Herders neues pragmatisches „Lehrmodell" 117 , in dem der Lernprozeß nunmehr darin besteht, „daß man von den Alten lernt, ,wie' sie zu denken und zu sprechen, und nicht bei ihrer Sprache stehen bleibt und bei dem, ,was' sie gedacht haben"118, stehe aber damit vor der Schwierigkeit, daß nunmehr die „hermeneutische Methode . . . zwischen den Leser und seinen Gegenstand" 11 ' tritt und damit die von Herder über den Begriff des „Wesen(s) der poetischen Rede"120 als „,Kraft"' 121 eingeführte Unmittelbarkeit 122 im Bildungsvorgang „sich nur noch auf wissenschaftlichem Wege herstellen läßt"123. So sieht Harth die eigentliche Verfremdung dieses pädagogischen Konzeptes darin, daß es zwar - wie in der Sprache modellhaft vorgezeichnet - „über die Reaktivierung der ästhetischen Sensibilität"124 eine emanzipatorische Therapie innovieren möchte, die „die Herrschaft fremder Sprach- und Empfindungsmuster zugunsten einer autonomen Erfahrungsunmittelbarkeit brechen soll"125, andererseits diesen Bildungsgang „nur abseits der durch Arbeit und Herrschaft bestimmten gesellschaftlichen Praxis"126 wieder an ein „literarisches Modell"127 - wenngleich pragmatischer Intention und hermeneutischer Qualifikation - verweist. Harth räumt ein, daß das Defizit eines Vergleiches mit der „Bildungswirklichkeit des 18. Jahrhunderts" 128 dieses ihm unerklärliche Dunkel möglicherweise verursacht hat. Sicher begrenzt aber auch das Defizit einer Analyse der pädagogischen Praxis Herders die Interpretation Harths. Daß wir es bei Bedürfnis als das, die Dinge kennen zu lernen, und das verschafft ihm die Freiheit, zur Welt und zu sich selber sich zu verhalten". 1.3 1,5 117 A.a.O., 132. A.a.O., 123. A.a.O., 125. 1.4 116 A.a.O., 122. A.a.O., 122. "« A.a.O., 132. " ' A.a.O., 139. An dieser Stelle bleibt in der Problemerfassung Meggle hinter Harth zurück, wenn er „Herders eigene Form eines ständig neuansetzenden Versuchs, literarisch Erkenntnis zu evozieren" (Meggle, Analogie, 53) hervorhebt und somit Erkenntnis als Hermeneutik bestimmt (vgl. a.a.O., 69). Dem Verfasser selbst offenbar unbewußt führen in diese hermeneutische Sackgasse auch die Ergebnisse von A. Kathans Untersuchungen zu Herders Literaturkritik. Denn, wenn einer es wollte, könnten diese geradezu als Paradebeispiele dafür dienen, wie Herders Praxis, die dem in konkreten unaufschiebbaren Situationen ans Handeln gewiesenen Volk nützen soll, in eine abstrakt-wissenschaftliche Hermeneutik transzendiert und verkehrt wird. M.a.W.: Kathans Ergebnisse dienen einer Herder ganz unangemessenen Problematisierung der Verstehensfrage als seines postulierten durchgehenden Grundanliegens (vgl. Kathan, Herders Literaturkritik, 166). 120 126 Harth, Ästhetik, 132. 123 A a O 139 Ebd. 121 E b d 122

· Vgl. ebd.

,2

'' A.a.O.! 140. us Ebd.

127 121

Ebd. A.a.O., 139.

Tendenzen der neueren Herder-Forschung

35

Herders praktischem Interesse um eine über eine anthropologische Hermeneutik pragmatischer, aber unpolitischer Intention hinausführende Nationalbildung zu tun haben, ist dabei ebenso unbeachtet geblieben wie die von Harth nicht herangezogene Beobachtung, daß Herders nationales Bildungsvorhaben weniger über das literarische Modell einer pragmatischen Literaturgeschichte für Privilegierte als über das rhetorische Modell der christlichen Predigt und Rede im Rahmen des öffentlichen Geistlichen Amtes allgemein verwirklicht wurde. In dieser Sprach- und Institutionsform sprechen sich über anthropologische Intentionen hinausführend Vergangenheit und Gegenwart auch in der Fragwürdigkeit ihrer sozialen und politischen Strukturen für und vor dem Volk - wissenschaftlich unbelastet - öffentlich aus und vermitteln einander. Ebenso wie die Religion ist die Literatur und die Geistliche Rede für Herder kein Gegensatz, sondern das zeitgeschichtlich relevante Mittel politisch verantworteter Praxis129. Es könnte allenfalls zur Debatte stehen, ob dieser Anspruch von Herder auch in der praktischen Durchführung immer durchgehalten wurde und sich Herder vielleicht durch seine Praxis verfremdet habe. So betont S. H. Sunnus: „Trotz dieser fatalistisch klingenden Lösung (sc. der Erhebung gottgewollter Ungleichheit der Menschen) ist Herder aber kein bestehende politische Verhältnisse verteidigender Mensch wie der Staatsminister Goethe geworden. Der ,Plan der Schöpfung' sah nach Herders Meinung eben nicht vor, eine Veränderung auf den ,St. Nimmerleins Tag' zu verschieben - Herder konnte aus christlichen Motiven denken und handeln; - wie kritisch er über bestehende Verhältnisse dachte, wird sich im Folgenden zeigen; sein eigener Handlungsraum war, auch nach seinem eigenen Empfinden, leider begrenzt"130. Ohne eine ins einzelne gehende Analyse der geistlichen Handlungsfelder von Herders politischer Verantwortung und ihrer Auswirkungen wird man jedoch auch diese Behauptung nicht aufrecht erhalten können.

B. Das Geistliche Amt als heuristisches Prinzip Die dargestellte Problematik des Herder-Wissens und der neueren HerderForschung läßt es begründet und nützlich erscheinen, Herders praktische Tätigkeit im Geistlichen Amt deutlicher als bisher als ein Wesensbestandteil seines Werkes zu betrachten und für die Herder-Interpretation fruchtbar zu machen. Bei vielen der aufgezeigten Probleme der Herder-Forschung spielt, wie wir

1M

S.u. S. 36; 52; 60, Anm. 38, 67ff.; 72ff. Sunnus, Die Wurzeln, 136.

36

Das Problem

feststellen konnten, eine nebensächliche Berücksichtigung oder mangelhafte Kenntnis des praktischen Handlungsfeldes Herders eine nicht unwesentliche ursächliche Rolle. Darüberhinaus ist für Herder selbst das Geistliche Amt kein notwendiges Übel zur Beseitigung ökonomischer Engpässe, wohl aber notwendiges Mittel seines auf das Menschliche bezogenen Denkens. Schon lange vor seiner Bückeburger Zeit lesen wir in einem vermutlich 17681 in Riga abgefaßten Brief Herders an seinen Lehrer Kant über die eigene Einstellung und Motivation zum Geistlichen Amt, daß diese der Überlegung und „Erfahrung" 2 entspringt, „menschliche Philosophie" 3 , die „mehr als Spekulation" 4 sei, sei in seiner Situation optimal durch sein „geistliches Amt" 5 zu vermitteln: „. . . Wie manches hätte ich Ihnen zu sagen, wenn ich wüßte, daß sie Geduld haben würden, mir zu antworten. Zweifel wider manche Ihrer philosophischen Hypothesen und Beweise insonderheit da, wo sie mit der Wissenschaft des Menschlichen grenzen, sind mehr als Spekulationen; und da ich aus keiner andern Ursache mein geistliches Amt angenommen, als weil ich wußte und es täglich aus der Erfahrung mehr lerne, daß sich nach unserer Lage der bürgerlichen Verfassung von hieraus am besten Kultur und Menschenverstand unter den ehrwürdigen Teil der Menschen bringen lasse, den wir Volk nennen, so ist diese menschliche Philosophie auch meine liebste Beschäftigung" 6 . Herders daraus sprechende, durch tägliche Erfahrung vermittelte Überzeugung, daß seine Lieblingsphilosophie nur in ihrer konkreten Verwirklichung - zu seiner Zeit offenbar optimal im Geistlichen Amt - zu ihrem Ziel kommt, und die Bewußtheit der Übernahme dieses Amtes lassen es also auch durch Herder selbst berechtigt erscheinen, von einer Analyse des Inhaltes wie der Art und Weise dieser Praxis einen Gewinn für die Herder-Forschung zu erhoffen. Aus diesen Gründen haben wir in der vorliegenden Untersuchung die Darstellung des Geistlichen Amtes bei Herder zum Gegenstand unserer besonderen Forschungsaufgabe gemacht. Was dabei inhaltlich im einzelnen als Forschungsgewinn zu erwarten ist, wird sich zeigen. Da Herders kirchliche Praxis aber eine praktische Auseinandersetzung um das Menschliche besonders in seiner nationalen Ausprägung gewesen ist, läßt das Untersuchungsergebnis auch Anfragen und Impulse dazu erhoffen, wie die heutige volkskirchliche Praxis ihrem gesellschaftlichen Auftrag gerecht werden kann. Daß es ein praktischer Theologe war, der zum Mitbegründer der deutschen Nation wurde 7 , ist sowohl in der Herder-Forschung wie in der praktizierenden Kirche im Grunde bis heute noch nicht verarbeitet. Unsere Untersuchung geht von den folgenden, durch Herders Werk nahegelegten Arbeitshypothesen aus. ' So datiert W. Dobbek in Br 9, 19. Die Datierung des Briefes bestätigt H . D. Irmscher, Herder, 100 Anm. 7 a. 2 5 B r 9 b , 22. Ebd. 3 6 Ebd. Br 9 b, 22. 4 7 Ebd. Vgl. Heuss, Deutschland, S. 28 f.

37

Das geistliche Amt als heuristisches Prinzip 1. W i r b e t r a c h t e n H e r d e r s W e r k in stilistischer

H i n s i c h t als e i n e E i n h e i t .

D i e s e E r k e n n t n i s ist w e n i g e r n e u als i m f o l g e n d e n k o n s e q u e n t

angewendet.

W i e m i r s c h e i n t ist sie a l l g e m e i n e r , w e n n g l e i c h u n b e w u ß t u n d d a h e r b i s h e r unfruchtbar gebliebener Forschungskonsens. Hirsch bemerkt treffend: Unterschied der Predigtauslegungen von denen der theologischen

„Der

Schriften

liegt allein in d e r g r ö ß e r e n V o l k s m ä ß i g k e i t u n d d e m b r e i t e r e n R a u m , d e n d i e A n w e n d u n g h a t " 8 . L e i d e r b l e i b t d i e s e E r k e n n t n i s bei H i r s c h a b e r n u r e i n e A u s s a g e b e z ü g l i c h d e r P r e d i g t e n H e r d e r s b z w . z u H e r d e r als R e d n e r

und

P r e d i g e r „ v o l l e n d e t e r E i g e n a r t " 9 u n d o h n e K o n s e q u e n z für die I n t e r p r e t a t i o n d e r s o g e n a n n t e n t h e o r e t i s c h e n S c h r i f t e n H e r d e r s , f ü r d i e d i e s e A u s s a g e eines lediglich

quantitativen

Unterschiedes

zwischen

Praxis

und

Theorie

noch

b e z e i c h n e n d e r h ä t t e sein k ö n n e n 1 0 . U b e r e i n s t i m m e n d c h a r a k t e r i s i e r t a u c h die neuere H e r d e r - F o r s c h u n g

Herder

als „ R e d n e r ,

ja P r e d i g e r ,

der nicht

von

u n g e f ä h r d e r F r a g e n a c h W e s e n u n d E x i s t e n z eines P u b l i k u m s n a c h g e g a n g e n sei"11

und

die

.„Sprache

des H e r z e n s " ' 1 2

rede.

Auch

hier aber w i r d

diese

8 Hirsch, Geschichte, 246. Das Berufungsdekret Herders nach Weimar von 15. 5. 1776 spricht schon von der Herder auszeichnenden Verbindung von „Gelehrsamkeit und Stärke in der geistlichen Beredsamkeit" (Carl August, Berufungsdekret, S. 1). ' Hirsch, Geschichte, 246. 10 Die Priorität des Redens nicht erkannt auch bei Dietze, J . G. Herder, 6 (These 6) und 9 (These 16). 11 Harth, Zusammenfassung, 152. Tamara Silman hat in einer auf textlinguistische Ergebnisse beschränkten Absicht zum Stil von Winckelmann, Lessing, Herder und Goethe deren „syntaktische", „lexikalisch-syntaktische Relationen zwischen selbständigen Sätzen" sowie deren „Struktur des Absatzes" untersucht und schlüssig nachgewiesen, daß Herders wissenschaftliche Prosa (vgl. T. Silman, Probleme, 36) auf allen diesen Ebenen sich von den anderen untersuchten Zeitgenossen dadurch abhebt, daß sie „Gesprächscharakter" (a.a.O., 61 f.; 118) habe, und zwar so eindeutigen, daß T. Silman nicht von einem „Text Herders", sondern „besser" von einem „Redestrom Herders" (a.a.O., 92) spricht. Daß „Herders Syntax . . . ganz aus der Kraft der lebendigen, gesprochenen und gehörten Rede" lebt, „Herders Sprache . . . von den Merkmalen und Stilmitteln des unmittelbaren, emphatischen Sprechens" erfüllt ist und seine Leseranrede „der des Predigers an seine Gemeinde" gleich ist, betonte schon allgemeiner A. Langen, Deutsche Sprachgeschichte, Sp. 1114 f. Überprüft man die literaturbetrachtenden Ergebnisse zum Formproblem bei Herder von A. Kathan an dessen Grundlagentext, dem „Redner Gottes" von Herder (vgl. Kathan, Herders Literaturkritik, 24 ff.), so führen auch sie - wovor Kathan selbst stehen bleibt, und was er lieber umdreht (vgl. a.a.O., 41 f.) oder gar verneint (a.a.O., 168) - zu dem unausweichlichen Schluß: Die Predigt ist das Herdersche Modell seiner Sprachform, nicht nur als Rede, sondern auch als Literatur. Denn auch das schreibende „Ich" dieses frühen Entwurfes Herders nimmt sich die Praxis des „Redner Gottes" strukturell zum Modell seines Schreibens. Nicht nur die Parallelität, die Abhängigkeit der literarischen Form Herders von der Praxis des Predigens ist offensichtlich. 12 Harth, Zusammenfassung, 152. H. D. Irmscher hat diesen hier schon angedeuteten Zusammenhang vier Jahre später in demselben Rahmen breiter ausführt. In seinem Beitrag zu Herders Vorstellungen über „das Verhältnis des Autors zum Publikum" (Irmscher, Herder, 99 ff.) spricht er von einer „Nachwirkung der Rhetorik in Herders Denken" (a.a.O., 101) bzw. sogar davon, daß Herder „auch als philosophischer Schriftsteller" (a.a.O., 108) ein „Redner" (ebd.) war (vgl. a.a.O., 107; 109; 115; 117; 133). Die Anwendung dieser Erkenntnis bleibt dann aber auch hier mit

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Das Problem

stilistische Einsicht auf die eigentliche Interpretation Herders nicht angewendet, was ohne Zweifel zu deren Zweideutigkeit viel beigetragen hat15. Wie bewußt Herder selbst mit dem eigenen Stil umgeht, belegt eine Stelle aus einem Weimarer Brief Herders an Georg Müller von 1795, in welchem Herder sich gegen den Vorwurf seines Freundes „der zu großen Milde" 14 seiner Humanitätsbriefe verteidigt und dafür seine angefochtene Situation am H o f e in Weimar anführt15. Offenbar war sonst die deutlichere und härtere Rede Herders übliche Sprache, und von peinlichen Ausfällen Herders 1 ' zu reden besteht unter dem Gesichtspunkt dieser stilistischen Beobachtungen überhaupt keine Veranlassung, wenngleich genug Anlaß, diese Beobachtungen nun auch konsequent in die Forschung einzubeziehen. 2. Eng verbunden mit dieser stilistischen Einheit ist für uns die teleologische Einheit von Herders Wirken. D i e „menschliche Philosophie" 17 , die Herder 1768 in seiner Frühzeit gegenüber seinem Lehrer Kant als „seine liebste Beschäftigung" 18 bezeichnet 19 , ist seine Lieblingsbeschäftigung bis in sein Alter geblieben. So schreibt Herder beispielsweise 1797 aus Weimar an den Hessischen Geheimen Rat Johann Gerning in Frankfurt: „Da Sie aus der angezogenen Stelle der Humanitätsbriefe meine Liebhaberei für die politisch-menschliche, ich möchte sagen, Vicoische Philosophie sehen, die, wie Sie auch das aus den ,Ideen zur Geschichte der Menschheit' wissen, mein eigentliches Lieblingsstudium ist, so sorgen Sie auch da für mich, wenn was Gutes Ihnen

dem Hinweis auf Herders unaufgearbeitetes Verhältnis zur Rhetorik (vgl. a.a.O., 108, Anm. 35) aus. 13 Herders Stil als eine bedauerliche unwissenschaftliche Verpackung einer sonst kostbaren Perle zu verschmähen oder nicht zu beachten, mußte schon deshalb zu zweideutigen Interpretationen Herders führen, weil die Unwissenschaftlichkeit seines Stiles auch als Ergebnis einer methodischen Reflexion Herders (vgl. u. S. 78) und nicht als eruptiver Ausbruch etwa eines unbeherrschten Gefühles anzusehen ist. Auf die stilistische „Kontinuität" Herders weist auch hin Meggle, Analogie, 53, wenngleich Meggle Herder lieber als einen bis heute unverstandenen Sprachphilosophen versteht und dessen Sprache als ein notwendiges Produkt seiner Erkenntnistheorie fassen möchte (vgl. a.a.O., 67). Ahnlich hermeneutisch befangen auch A. Kathan, Herders Literaturkritik, 2; 42. 14 Br 161, 360. 15 W. Dobbek spricht in Anlehnung an R. Haym von einer „im Spätherbst 1793 eingetretene(n) Verstimmung des Hofes gegen Herder" (Br Anhang, 472, Anm. 2 zu Br 157). Da die Urfassung der Humanitätsbriefe aus 1792 stammt, muß Herder selbst die Situation bereits schon damals so empfunden haben. Vgl. auch S. Oyama, Einige Betrachtungen, 146. Oyama macht die eingeschränkte Meinungsfreiheit und die Situation am Hof nach 1789 dafür verantwortlich, daß Herder die Urfassung der „Humanitätsbriefe" wie den 5. Teil der „Ideen", die sich mit Politik im allgemeinen und mit der französischen Revolution im besonderen beschäftigen, in seine erschienenen Humanitätsbriefe „verkleidete". Vgl. u. S. 54f. Vgl. auch - allerdings dort schon ebenso vorschnell für Herder negativ gewendet - K. Eisner, Revolutionäre Humanität, 80. " Vgl. o.S. 13. 17 Vgl. o.S. 36. 18 Ebd. " Vgl. u. S. 46 f., wodurch diese Herdersche Philosophie bereits für 1765 belegt ist.

Das geistliche Amt als heuristisches Prinzip

39

vorkommt" 2 0 . Wie wenig Herder bei diesem einheitlichen Zweck seines Werkes an eine theoretische Aufgabe im Sinne einer spekulativen wissenschaftlichen Anthropologie denkt, zeigt die Tatsache, daß er diesen Zweck - wie der erwähnte Brief an Kant belegt - von Beginn an für sich selbst notwendig an die eigent praktische Verwirklichung durch das Medium des Geistlichen Amtes als der zeitgemäßen Vermittlungsform seiner Absicht bindet und diese Bindung auch für sich selbst durchhält. Daß wiederum diese als Geistliches A m t zu praktizierende Hinwendung zum Menschlichen besonders nach ihrer nationalen Hinsicht politisch zu praktizieren ist, hat seinen Grund für Herder in der unübersehbaren miserablen Lage des Volkes 21 . Unter der Last der ganzen Einsicht in diese Tatsache ruft Herder 1788 aus Nürnberg, einer Station auf seiner italienischen Reise, in einem Brief an Karoline aus: „Oh, wie haben die Fürsten den Geist der deutschen Nation verkannt, unterdrückt, verschlemmt und vergeudet" 2 2 . Die daraus erwachsende politisch-menschliche Praxis des Geistlichen Amtes ist der kontinuierliche und einheitliche Sitz im Leben von Herders Werk. Von daher legt sich nahe auf die praktische Vermitteitheit der Zwecke bei Herder besonders zu achten und auch die Unterscheidung von Zweck und Mittel für die Interpretation Herders konsequent anzuwenden. Im Bereich der biblischen Hermeneutik beispielsweise hat auch hier Herder selbst explizit auf die Notwendigkeit dieser Unterscheidung aufmerksam gemacht: „Übrigens lassen Sie sich durch keine der Einkleidungen des Vortrags der Bibel je von der Einen Wahrheit entfernen, die in ihnen allen als Seele lebet: denn wie jenes Sklaverei war, wäre dieses gar kindisch. Allenthalben ist Einkleidung nur Mittel der Lehre; die Wahrheit selbst ist Zweck, und nur 20 Br 176, 377. Zum Verhältnis von Vico und Herder vgl. I. Berlin, Vico und Iggers, The German Concept, 30. Iggers zeigt, daß zwar Vico „had already stressed that the study of social reality requires methodes fundamentally different from those of the natural sciences", aber doch noch Geschichte „as a clue to general truth about mankind" betrachtet, was erst der Bückeburger Herder ganz abgestreift habe, aber der spätere Herder in seiner Progresstheorie wieder zurückgenommen hätte. Vgl. u. S. 135 ff. Zuletzt zum Verhältnis Vico und Herder - in einem strengeren Ideenvergleich - aus marxistischer Feder J. Kudrna, Vico. Kudrna sieht das Verhältnis so, daß Herder - bei z.T. „beträchtlichen Modifikationen" (a.a.O., 87) der Grundprinzipien und Abweichungen in der methodischen Erschließung von „historischer Realität und . . . Quellen" (ebd.) - eigentlich nur die vicoische „Vorstellung von der Einheit des Menschengeschlechtes" (a.a.O., 69 f.) übernimmt, die „demokratischen Züge dieser Konzeption" (ebd.) radikalisiert, mit dem „schöpferischen Moment im Menschen" (ebd.) bereichert und über Vico hinaus „Kritik an der historischen Funktion der Religion" und der politischen, den Despotismus stabilisierenden Funktion der Kirche übe (vgl. a.a.O., 75 u. 86). 21 Hierin liegt m. E. die eigentliche Ursache dazu und die innere Notwendigkeit dafür, warum Herder alle ihm im Laufe seines Lebens angebotenen, zahlreichen Rufe zu einer speziellen wissenschaftlichen Tätigkeit schließlich doch ebenso ablehnte, wie alle Versuche, ihm leitende Amter im privaten Bereich anzubieten. Gleichzeitig macht dies aber auch Herders Abwendung und Bekämpfung von einer zur Scholastizität entarteten Theologie ebenso begreifbar wie seine Abwendung von einer sich im privaten Horizont verlierenden Praxis der Kirche. 22 Br 126, 293; vgl. auch den Brief an Georg Müller von 1800 aus Weimar: Br 199, 415.

40

Das Problem

Schwächlinge vergessen diesen über jener" 23 . Daß hier eine Unterscheidung notwendig ist, hat ansatzweise auch Barth gesehen als er sich dagegen aussprach, Herders theologische Bedeutung „auf eine ästhetische Würdigung der Bibel" 24 festzuschreiben. Die konsequente Anwendung dieser Einsicht ist aber - wie bei Barth selbst25 - bisher auch sonst unterblieben. Die praktische Vermitteltheit der Zwecke muß bei Herder aber noch in einer weiteren Hinsicht konsequent bedacht werden, nämlich hinsichtlich der Verschiedenheit der Mittel bei einheitlichem Zweck. So kann Herder beispielsweise im theologischen Bereich mit dem Mittel des historischen Relativismus der dogmatischen Orthodoxie ebenso die Grundlage entziehen wie durch einen psychologisierenden Biblizismus eine ebenso dogmatische Neologie in Frage stellen26. Man kann natürlich auf Grund dieser Tatsache „merkwürdige Mischaussagen" 27 bei Herder konstatieren und sicher auch „eine imposante Reihe von Widersprüchen in Herders Denken"2®. Aber solche Feststellungen sind eben doch nur solange möglich und relevant, solange die Ebene einer rein ideologischen Auseinandersetzung mit Herder nicht zugunsten eines Herder viel eher entsprechenden pragmatischen Standortes verlassen wird29. Solche Feststellungen können aber vor allem nicht diese Verschränkung scheinbar gegensätzlicher Mittel bei Herder verständlich machen und tragen daher wenig, allenfalls Vorläufiges, zur Forschung bei. Was die Methode unserer Untersuchung betrifft, so ist das Geistliche Amt, das, wenn man so will, praktische Vorverständnis, das wir zur Interpretation Herders mitbringen und, wie gezeigt, offenbar auch mitbringen müssen. SW XI, 9. Barth, Theologie, 298: „Wenn er (sc. Herder) die Bibel zweifellos auch unter diesem Gesichtspunkt gelesen hat und gelesen wissen wollte, so war ihm das doch nur Mittel zum Zweck". 25 Vgl. a.a.O., 300, wo Barth etwas hilflos zur „Erlebnistheorie" Herders bemerkt: „Sie meint offenbar etwas Anderes als das, wovon sie tatsächlich redet, etwas Anderes als das bloße Erlebnis. Sie scheint irgendwie zu meinen die Autonomie und Autopistie, die dem Glauben von seinem Gegenstand und nur von seinem Gegenstand her innewohnt". 26 Vgl. z.B. SW VII, 199: Herders Wendung in der Christologie gegen die aufkommende, dogmatisch gelenkte historische Kritik der Evangelisten und am Leben Jesu einerseits wie gleichwohl andererseits seine Wendung gegen jede Art historisch gelenkter Adoptionschristologie. Jene ist für ihn eine „Bodenlose Unterschiebung und Hypothesensucherei" (ebd.), diese nichts mehr als ein ausgedichteter gekünstelter „Irrthum" (ebd.). Vgl. u. S. 93, Anm. 46. 27 Hirsch, Geschichte, 234. Vgl. auch Gollwitzer, der bei Herder „Widersprüche" zwischen „Idealismus und ,Naturalismus'" sowie „Vermengungen" von „,Physik und Theologie'" (Gollwitzer, Europabild, 107) z.T. selbst sieht, z.T. nur weiter tradiert. 28 Vgl. Nisbet, Zur Revision, 102, Anm. 1, wonach dies I. Berlin, Herder and the Enlightenment, London 1965, 103 ff. versuche. 29 In der praktizierenden Wissenschaft ist offenbar eine sogenannte „saubere", aber sterile einheitliche Begrifflichkeit nicht immer Gewähr für die Eindeutigkeit der Sprachaussage. Für Herder ist demgemäß die Funktion der Sprache wie des Ausdrucks, nicht deren Etymologie oder Analyse aufschlußreich (vgl. SW I, 416). Am Wozu der Sprache entscheidet sich Wortsinn ebenso wie an ihrem gesellschaftlichen Horizont (vgl. SW V, 16). 23

24

Das geistliche A m t als heuristisches Prinzip

41

Herders eigene hermeneutische Methode scheint durch, wenn er im Blick auf die Interpretation des Alten Testamentes bemerkt: „Werden Sie mit Hirten ein Hirt, mit einem Volk des Ackerbaues ein Landmann, mit uralten Morgenländern ein Morgenländer, wenn Sie diese Schriften in der Luft Ihres Ursprungs genießen wollen, und hüten sich insonderheit, so wie vor Abstractionen dumpfer neuerer Schulkerker, so noch mehr für so genannten Schönheiten, die aus unseren Kreisen der Gesellschaft jenen heiligen Urbildern des höchsten Alterthums aufgezwungen und aufgedrungen werden"30. Herder deutet hier an, daß sich dogmatische Abstraktion und noch mehr ästhetische Technik allein eigentlich um den Genuß des Verstehens31 bringen. Diesen sieht Herder überhaupt weniger mit Hilfe einer Technik als auf Grund einer Standortveränderung erreichbar. Dabei erweist sich diese seine Einsicht in den alles bestimmenden Ort des Verstehens in ihrer soziokulturellen Zuspitzung als Herders neue hermeneutische Leitfrage32. Der nationale Charakter eines Werkes und der soziologische Ort seines Interpreten sind die beim Genuß des Verstehens vermittelten Pole. Eben diese Einsicht versuchen auch wir bei Herder selbst anzuwenden, indem wir die Praxis des Geistlichen Amtes als hermeneutischen Schlüssel zu Herders Werk betrachten und unsere Methode von daher empirisch bestimmt sein lassen.

30

SW X , 14. " Dieser Begriff deutet an, daß Verstehen f ü r H e r d e r m e h r ist als bloße intellektuelle Einsicht o d e r als bloßes künstliches N a c h e m p f i n d e n , sondern Befriedigung der wirklichen u n d ganzen Sinneskraft des Menschen. 32 Es gibt hierin bedeutsame Anklänge u n d Unterschiede zu M. Luther, der am 16. 2. 1546 als letztes aufgezeichnet haben soll: „Virgil in den Bucolica u n d Geórgica kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre H i r t e oder Bauer gewesen. Cicero in seinen Briefen (so meine ich) wird niemand verstehen, er habe sich denn vierzig Jahre in einem bedeutenden Staatswesen bewegt. Die heiligen Schriften meine niemand genugsam geschmeckt zu haben, er habe denn h u n d e r t Jahre mit den P r o p h e t e n die Kirchen g e l e n k t . . ." (MA 3 , 428). Diese k ö n n e n hier aber ebensowenig weiterverfolgt werden wie Anklang und Unterschied z u r ,„Wo-Frage"', die E. Fuchs in seiner H e r m e n e u t i k gestellt hat (vgl. dazu etwa Fuchs, Marburger H e r m e n e u t i k , 8). U n t e r teilweiser Rezeption H . D . Irmschers (sc. Irmscher, G r u n d z ü g e ) hat sich neuerdings die katholische Theologie mit der H e r m e n e u t i k H e r d e r s auseinandergesetzt. Fausts von geistesgeschichtlichem Interesse geleitete U n t e r s u c h u n g zu H e r d e r s Verständnis der östlichen Mythologien k o m m t zu d e m Ergebnis, „daß hermeneutisches Verstehen bei ihm (sc. H e r d e r ) seine eigenen Kriterien in einem E r k e n n e n hat, das die Vergangenheit auf die eigene Gegenwart verstehend bezieht" (Faust, M y t h o l o g i e n , 220). Dieses Ergebnis ist im Vergleich mit H e r d e r nicht sehr plastisch. Es verkennt v o r allem die H e r d e r s c h e Frage nach dem „ Z w e c k " (SW I, 441) aller H e r m e n e u t i k u n d so H e r d e r s kasuale Interpretation (s.u. S. 132 ff.). Faust kann daher nicht sehen, daß die A u s f ü h r u n g dieses f ü r H e r d e r von uns erhobenen hermeneutischen Ansatzes, deren A u s f ü h r u n g Faust H e r d e r als das eigentliche Defizit ankreidet (vgl. Faust, a.a.O., 229), nur der Beweis d a f ü r ist, daß die H e r m e n e u t i k H e r d e r s anders, nämlich als H e r m e n e u t i k des Menschen in seinen sozialen Gegebenheiten praktisch orientiert u n d als solche konzipiert ist.

Hauptteil: Herder und das Geistliche Amt 1. T E I L : H E R D E R S F R A G E N A C H D E M DER

NUTZEN

PHILOSOPHIE

D i e F r a g e , die H e r d e r s E x i s t e n z bewegte, ist die F r a g e n a c h d e m N u t z e n v o n P h i l o s o p h i e . V e r m u t l i c h n o c h in K ö n i g s b e r g hat H e r d e r sich t h e m a t i s c h d e r B e a n t w o r t u n g dieser F r a g e z u g e w a n d t 1 . Spätestens aber zu B e g i n n seiner R i g a e r J a h r e 2 hat er diesem P r o b l e m eine A b h a n d l u n g g e w i d m e t .

„Problem:

wie die P h i l o s o p h i e z u m B e s t e n des V o l k e s allgemeiner u n d n ü t z l i c h e r w e r d e n k a n n " 3 , s o lautet der Titel dieses erstmals p o s t h u m veröffentlichten T e x t e s 4 . D i e darin e r h o b e n e F r a g e sowie d e r e n B e a n t w o r t u n g w e r f e n auf das G e s a m t w e r k H e r d e r s 5 , auf dessen G e s i c h t s p u n k t , U m f a n g u n d M e t h o d e ein neues Licht.

1 Vgl. Br Anhang, 443, Anm. 2 zu Br 4 und Irmscher, Herder, 117, der die Entstehung von Skizzen zu dieser Frage zwischen 1763 und 1765 vermutet. 2 Vgl. Herders Brief an Hamann vom Februar 1765, Br 4, 5, wonach Herder davon spricht, daß er erst noch „einen Evensbiß in die Moral zuvor tun will, dazu ich mir den Titius erbeten habe" und danach „meine Abhandlung, die Ihnen (sc. Hamann) so sehr am Herzen liegt, mit vieler langsamen Eile umschmelzen werde". 3 SW X X X I I , 31. 4 Nach SW, a.a.O., VII stand dieser Text aber „bereits in der ersten Herderausgabe". 5 Schon Haym, Herder I, 95 ( = Haym, Herder Ν I, 111) bezeichnet diese Abhandlung Herders als ein „Fundamentalprogramm". Hayms historische Relativierung dieses Herderschen Programmes auf die „Rigaer Wirksamkeit" (ebd.) ist jedoch nicht haltbar. Dagegen sprechen Herders eigene Auffassung über sein durchgängiges Grundanliegen einer „thätigen Philosophie der Nationalbildung und Glückseligkeit" (SW XVI, 609; vgl. Br 176, 377 u.o. S. 39 u. 46f.) ebenso wie seine eigene, hohe Einschätzung der „Erstlinge eines Geistes" (SW X X X I I , 184). Zu Hayms historisch-positivistischer Einstellung als politisch unreflektierter bürgerlicher Ideologie vgl. W. Harich, Rudolf Haym. Richtig schätzt Adler, Herder, 73 f. die Grundbedeutung dieser Schrift für Herders Interessen ein, wobei Adler die richtige inhaltliche Fixierung des Herderschen Anliegens dieser Schrift als praktische Philosophie für das Volk nicht gelungen ist. Die Bedeutung dieser Schrift Herders unterstreicht auch die Tatsache ihrer Aufnahme in Regine Ottos fünfbändige Herderauswahlausgabe von 1978 (vgl. Herder/Regine Otto, Werke, III, 5 ff.).

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Herder und das Geistliche Amt

A. Kopernikus und die Philosophie Die Frage nach dem Nutzen der Philosophie ist für Herders Zeitalter nicht neu. Herder selbst stellte sie zunächst auch nicht als seine eigene Frage an die Zeit, sondern las sie als Preisfrage einer patriotischen Gesellschaft zu Bern in den Literaturbriefen 6 . Neu ist allerdings der Gesichtspunkt, unter dem Herder diese Frage aufgreift und beantwortet. „Unzeitig" 7 und schädlich erscheinen Herder die für seine Zeit charakteristischen Versuche, diese Frage akademisch zu beantworten. Denn entweder behaupten die einzelnen Wissenschaftszünfte auf Kosten der philosophischen Wahrheiten lediglich ideologisch die eigenen Wahrheiten oder sie versuchen, sich aus praktischen und meist ängstlichen Gründen mit ihnen zu vermischen, so daß „Trümmer" 8 oder Entstellungen' auf beiden Seiten zurückbleiben. Solange die Beantwortung der Frage lediglich zu dieser schädlichen und unzeitigen akademischen Bekämpfung der einzelnen Wissenschaftszünfte untereinander führt, ist sie für Herder unnützlich und die zugrunde liegende Frage noch falsch gestellt. Herder lehnt so den Versuch der „Sekte der Mathematiker" 1 0 ebenso ab, von der Philosophie „Mathematische Gewißheit, Evidenz und Nützlichkeit zu fordern" 1 1 , wie die theologischen Versuche der grundsätzlichen Bestreitung von Philosophie einerseits12 und den Versuch „unserer Theologo-Philosophen" andererseits, „mit furchtsamer Dreustigkeit" und „aus einem zitternden Theologischen Gesichtspunkte" 1 3 heraus, „die Philosophischen Wahrheiten in das Gebiet der Religionswahrheiten" 14 zu verpflanzen oder umgekehrt. Akademisch ist also für Herder die Frage nach dem Nutzen der Philosophie nicht fruchtbar zu beantworten. Als akademisches Thema gestellt, erforderte dieses Problem vielmehr „eine andre Auflösung vom Theologen, vom Meßkünstler und Mathematiker, vom Natur- und Staatskundigen." 15 6 Vgl. SW X X X I I , Anmerkungen, 533, 2, wonach die Preisfrage wörtlich lautete: „Wie können die Wahrheiten der Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden". 7 SW X X X I I , 32. 8 A.a.O., 31. 9 Vgl. a.a.O., 32. 10 A.a.O., 31. 11 A.a.O., 32. Auch die wegen ihrer auf Erfahrung bauenden „physischen Analyse" von Herder sonst favorisierten „Physici" (ebd.) werden an dieser Stelle von Herder kritisiert. 12 Vgl. a.a.O., 31. » A.a.O., 33. H A.a.O., 31. Nützlicher wäre - wie Herder hier nebenbei bemerkt die „Arbeit": „Den ganzen himmelweiten Unterschied in Gesichtspunkt, Schluß- und Beweisart, ja in der Erkenntnißquelle beider Wissenschaften (kaum haben sie diesen Namen in einem Verstände) zu entdecken: so viel unnütze Philosophische Lehren aus der Methode unserer Theologen zu entfernen und hingegen neue Wege und Plane zu entdecken, wie man über die biblischesten Wahrheiten einen Philosophischen Geist ausbreiten soll, um nicht an ein heiliges Nichts zu glauben; . . ." (a.a.O., 33). 15

A.a.O., 34. Vgl. auch ebd.: „Gehörte sie (sc. die Frage nach dem Nutzen der Philosophie)

Kopernikus und die Philosophie

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H e r d e r greift daher die Frage unter einem nützlicheren Gesichtspunkt auf. Von ihm sagt er: „Der vierte Gesichtspunkt ist der nützlichste, und der für unser ökonomisch-politisches Zeitalter angemessenste: es ist mit einer kleinen Veränderung die Frage einer patriotischen Gesellschaft: wie können die Wahrheiten u.s.w. Wie kann die Philosophie mit der Menschheit und Politik versöhnt werden, so daß sie ihr auch wirklich dientf"'16 Wenn Herder nach dem N u t z e n der Philosophie fragt, so ist das neue an seiner Frage, daß er damit die Frage nach der praktischen Wirkung" der Philosophie auf das Volk, nämlich als Menschheit und politische Größe, stellt und seiner Beantwortung zugrunde legt. Diese so veränderte Frage ist seine eigene Frage an die Zeit. Sie gibt preis, daß Philosophie und Volk nach Herders Erfahrungsbereich 18 offenbar der Aussöhnung bedürfen und sich offensichtlich auch zum gegenseitigen Schaden völlig auseinanderentwickelt hatten. So wenig wie diese Frage Herders eine akademische ist, so sehr stellt sie ihren Beantworter vor neue Anforderungen. Es ist eine „Frage, die mehr als einen graduirten Philosophen zum Beantworter etc." und nichts weniger als einen solchen z u m Entscheider haben will" 20 , eine Frage über die nach H e r d e r auch „Plato, Rousseau, H u m e und Shaftesburi sehr tief nachdachten und in Zweifel ausbrachen" 21 . Wer über die Wirkung der Philosophie auf das Volk nämlich mehr als akademische Hypothesen aufstellen will, der m u ß sowohl Volk wie die Philosophie aus Erfahrung kennen, und zwar gerade in der Hinsicht und in dem Bereich, worin beide sich in der eigenen Nation praktisch beeinflussen. Herder bezeichnet diesen neuen Standpunkt, den es einzunehmen gilt, als den Standpunkt den er „als Mensch" 22 einnimmt, „ohne Interesse unter die Aufgaben der Akademien, worüber man die Achsel zucken muß, so würde sie sich auch damit strafen, daß sich gemeiniglich zu einem elenden Räthsel ein elender Oedipus gesellet". 16 A.a.O., 33. 17 Daß Herder die beiden Begriffe „Nutzen" und „Wirkung" auswechseln konnte, belegt ein Brief an Hamann vom 20. 3. 1778, worin Herder den Wortlaut der Preisschrift „Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. Eine Preisschrift. (1778)" (SW VIII, 334) in die Frage zusammenfaßt: „,Was nutzten die Dichter ehemals, was nutzen sie jetzt?'" (Br 71, 191). Gemeint ist mit den Begriffen „Nutzen" oder „Wirkung" dieselbe Sache, die Herder auch mit „Einfluß" bezeichnen konnte. Nach SW VIII, 334, Anm. 3 wird nämlich von Herder auch „Einfluß" synonym zu „Würkung" gebraucht. 18 Als Lehrer und Prediger verfügte Herder bereits in Riga über das Erfahrungspotential, das ihn bei der Beantwortung dieser Frage dazu qualifizierte mehr als „Worte" (SW XXXII, 35) zu sagen und „nicht widerlegen, nicht Neuigkeiten sagen, nicht berühmt werden" (a.a.O., 34) zu wollen. " Suphan verwendet an dieser Stelle eine andere Abbreviatur. Sie hat die Bedeutung „et cetera", weshalb wir im folgenden auch mit „etc." zitieren. Die von Suphan für diese Bedeutung verwandte Abkürzung ist nach einer Auskunft des Hessischen Staatsarchives Darmstadt „aus einem alten römischen Abkürzungszeichen (tironische N o t e ) entwickelt" (Hess. Staatsarchiv Darmstadt, Sehr. v. 27. 2. 80 an den Verf.). 20 SW X X X I I , 33. 21 Ebd. 22 A.a.O., 34.

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auf die Philosophie, über die der Stab gebrochen wird, auf eine meiner eigenen Lieblingsneigungen oder auf eine meiner Klassen: und so würde die Wahrheit offenbar, wenn man nicht widerlegen, nicht Neuigkeiten sagen, nicht berühmt werden will, sondern als Mensch schriebe, der lerne und sich zu überzeugen sucht" 2 3 . Herder bezieht diesen menschlichen Standpunkt aber „als Deutscher" 2 4 , als Angehöriger der deutschen Nation, von der er überzeugt ist, daß sie „die einzige Nationalvollkommenheit, Weltweise zu seyn" 2 5 hat, und für den daher die Beantwortung dieser Frage letztlich ein „patriotische(s) Thema" 2 6 sein muß. „Ich rede über ein Deutsches Thema, ich rede vor Deutschen, die die tiefsten und nach den Engländern die unpartheiischsten Weltweise Europens sind: ich rede als Deutscher; statt W o r t e zu säen, pflanze ich Gedanken und Aussichten" 2 7 . Wenn Herder zur Frage nach der Wirkung der Philosophie auf das Volk als Deutscher, als Mensch und Bürger der deutschen Nation schreibt, so versteht er offenbar darunter die Wahrnehmung einer politischen Aufgabe. Sein mit der Zugehörigkeit zur deutschen Nation politisch strukturiertes Menschsein ist der Angel- und Zielpunkt seiner Antwort. Wir bezeichnen diesen seinen O r t , von dem aus er die Frage jener patriotischen Gesellschaft zu seiner eigenen Frage der Wirkung der Philosophie auf das Volk veränderte und als solche beantwortete, folglich als seinen menschlich-politischen Standpunkt. Von dieEbd. " A.a.O., 35. 25 A.a.O., 34; vgl. a.a.O., 52, wo Herder den Begriff des „Weltweisen" so definiert: „Ein Weltweiser, der ein Mensch, ein Bürger und ein Weiser ist, . . .". Dagegen ist für Herder das „Volk" „nur Mensch und Patriot, von Philosophie gehört nichts unter seinen Richterstuhl" (a.a.O., 51). Das Volk als Mensch und Bürger ist zu anderem bestimmt. Des Menschen Losungswon sprach „die Natur" als „lebe, pflanze dich fort und stirb", das des Bürgers „der Staat" als „handle!" (a.a.O., 39). Zur Tat des Menschen als der entscheidenden Dimension für seine Identität vgl. u. S. 169ff.; 212ff.; 246ff. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Tat und Arbeit bei Herder steht m.W. noch aus. Zur theologischen Basis dieses Menschenbildes vgl. Herder: „Du bist, wenn du würkest und waltest, ein Bild Gottes" (SW VI, 63). 26 SW XXXII, 34; vgl. auch unten S. 70ff. 27 A.a.O., 34 f. Für „als Deutscher" sagt Herder auch noch an anderer Stelle „als Patriot" (vgl. a.a.O., 56). Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Kultur ist auch hier für Herder nicht Ausdruck des Mythos einer nationalistischen Überlegenheit, sondern das Ernstnehmen der historischen Individualität eines Volkes und die praktische Anerkenntnis des Rechtes jeden Volkes und jeder Gemeinschaft zur Bestimmung ihrer eigenen Angelegenheiten. Richtig I. Berlin, Herder, 153 in einem anderen und ideologischen Zusammenhang. Patriot ist mithin für Herder kein nationalistischer, sondern ein demokratischer Begriff. Auf das Abdrängen Herders und seiner „sozio-politischen Gedanken" (Barnard, Zwischen Aufklärung, 9) in die nationalistische bzw. nationalsozialistische Ecke während und nach dem 2. Weltkrieg durch B. v. Wiese, M. Rouche, R. G. Collingwood, K. R. Popper, H. S. Reiss macht auch F. M. Barnard aufmerksam (vgl. Barnard, a.a.O., 8). Er betont zurecht und belegt durch seine Arbeit, es sei „abwegig, Männer wie Herder, Hegel, Novalis oder Nietzsche für das verantwortlich zu machen, was die Nationalsozialisten gedacht und getan haben" (Barnard, a.a.O., 9). 23 2

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sem menschlich-politischen Standpunkt aus sollte ja auch seine ganze übrige Existenz verstanden und gelesen werden28. Und in ihm ist schließlich die Wende begründet, die Herder von der Philosophie fordert, wenn sie diese Frage beantworten will: „Soll die Philosophie den Menschen nützlich werden, so mache sie den Menschen zu ihrem Mittelpunkt; sie, die sich durch gar zu ungeheure Ausdehnungen geschwächt hat, wird stark werden, wenn sie sich auf ihren Mittelpunkt zusammenzieht"29. Von diesem neuen Standpunkt hofft Herder, daß sein Leser einsehen möge, „warum ich nicht den Gesichtspunkt wählte, der vielleicht der leichteste war, und jeder andere gewählt hätte"30. Von ihm aus wird aber auch seine Uberzeugung getragen, damit die kopernikanische Wende in der Philosophie überhaupt herbeigeführt zu haben. „Alle Philosophie, die des Volks seyn soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolomäischen das Kopernikanische System ward, welche neue fruchtbare Entwickelungen müssen sich hier nicht zeigen, wenn unsere ganze Philosophie Anthropologie wird."31 An welche „Entwicklungen" denkt dabei Herder?

B. Philosophie- und Staatsreform Herders neues Programm einer „Philosophie des gemeinen Volks" 1 hat gemäß seinem menschlich-politischen Gesichtspunkt zwei Seiten: einerseits nämlich als Programm einer „negativen"2 Philosophie und andererseits als Programm einer philosophischen Volksbildung. Das Gesamtprogramm ist identisch mit der den beiden einzelnen Programmen zugrunde liegenden Doppelfrage, worin die Philosophie dem Volk schadet, und wie sie ihm nützen kann. I. Herders negative

Philosophie

Philosophie ist für Herder nicht „Zweck"3, sondern „Mittel"4. „Wozu" 5 die Philosophie dem Volk dient, ist seine Frage an das, was sie im einzelnen lehrt. Herder stellt diese Frage zunächst kritisch an jedes traditionelle „Stück der Weltweisheit" 6 : Logik, Moral, Politik und Metaphysik. Auf dem Boden dieser Vgl. dazu oben S. 38f. SW X X X I I , 52. 30 A.a.O., 35; Herder meint den Gesichtspunkt des Volkes oder des Philosophen allein (vgl. a.a.O., 45 und 51). 31 A.a.O., 61. Zu dem, was für Herder Anthropologie heißt, s.u. S. 51. 1 SW X X X I I , 49. 4 A.a.O., 35. 2 SW X X X I I , 41. 5 A.a.O., 40. 3 A.a.O., 36; vgl. a.a.O., 45ff. ' A.a.O., 35. 28

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Kritik kommt er dann auch zu seinem neuen philosophischen Reformprogramm: der „Logik des gesunden Verstandes" 7 , einer Moral der natürlichen „Empfindungen" 8 und der Metaphysik einer „glücklichen Unwissenheit"', deren aller „Kern die Psychologie" 10 ist. Gleichwohl bleibt das Ziel seines Vorgehens ein praktisches, nämlich „für das Volk" und nicht „für Gelehrte"" die Frage nach dem Nutzen der Philosophie so zu beantworten, daß es dem Volke dient. Unter diesem Gesichtspunkt muß daher seine zusammenfassende Antwort verstanden werden: „Die Philosophie ist überhaupt den Menschen unnütz, jedem Menschen unnütz; aber auch der Gesellschaft schädlich"12. Von diesem praktischen Interesse Herders aus kann dann aber auch verstanden werden, inwiefern angesichts dieses katastrophalen Ergebnisses Herder dennoch ausschließlich philosophisch aus diesem Dilemma den Weg weist: „Bios die Philosophie kann ein Gegengift seyn, für alles das Uebel, wohin uns die Philosophische Wißbegierde gestürzt" 13 . Die Feststellung der Nutzlosigkeit der Philosophie für das Volk allein wäre dem Volk noch nicht von praktischem Nutzen gewesen. Sie bezeichnet für Herder daher auch keine Negation von Philosophie überhaupt, wohl aber den Aufruf an die Philosophen zu einer Reform der Philosophie, die einerseits „ihre (sc. der Philosophie) Mängel"14 hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Volk sehen lernen soll, andererseits aber auch ein versöhnendes praktisches Programm zu der von Philosophen zu verantwortenden „Verpflanzung eines Staats in feinere Umstände" 15 billigerweise zu entwickeln hätte. Wer könnte dies besser tun als die Philosophen selbst, die ja auch den praktischen Schaden

7 A.a.O., 42. ' Ebd. Herder kann diese auch als „Metaphysik des Willens" (a.a.O., 44) bezeichnen. ' A.a.O., 47. 10 A.a.O., 58. 11 A.a.O., 38; vgl. a.a.O., 45: „Ich arbeite nicht über die Frage: wie ist die Philosophie zum Besten der Philosophen nützlich zu machen". 12 SW XXXII, 48. 13 Offenbar sah Herder keine andere vernünftige Möglichkeit als den Schaden, den die Philosophie am Volk verursacht hatte, wiederum philosophisch auszuräumen, das Volk zum „Mittelpunkt" (a.a.O., 52) der Philosophie zu machen, allen unnötigen Wissensballast abzustreifen und dem Volk praktisch zu nützen, wozu - wie Herder bemerkt - „ein großer Philosophischer Geist" (a.a.O., 41) nötig ist. B. v. Wieses Begriff der tragischen „Paradoxie" (v. Wiese, Der Philosoph, 51 u. 59) für dieses - von v. Wiese im literarischen Bereich festgestellte - Phänomen trifft nicht den Sachverhalt, da es sich dabei um eine qualitativ veränderte und als solche auch von Herder bestimmte, nämlich praktisch-nützliche Philosophie (und Literatur) handelt. Die kritisch-praktische Intention in Herders anthropozentrischer „Philosophie" erkennt und wendet nicht an E. Ruprecht, der Herder zu einem ideologischen Sprachphilosophen der „,philosophia anthropologica'" (Ruprecht, Vernunft, 77) verkürzt. 14 SW XXXX, 45. Im Blick auf die Logik heißt das für Herder „eine negative Logik in Gang zu bringen" (a.a.O., 41). 15 SW XXXII, 48.

Herders negative Philosophie

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verursacht haben: „ - du (sc. „der Philosoph") und nicht das Volk weiß, ob du ein Gift wärest, du und nicht das Volk sey auch ein Gegengift" 16 . Der O r t , w o die Philosophie das Volk praktisch beeinflußt, ist die „Schule", die Person, in der sich diese praktische Beeinflussung vollzieht, der „Lehrer" 17 . Beides ist f ü r Herder ein eigenster und persönlicher Erfahrungsbereich sowohl in dieser frühen Zeit in Riga gewesen wie auch später geblieben. Was war an dieser als Erziehung institutionalisierten philosophischen Beeinflussung des Volkes so schädlich f ü r dieses? „Woher haben wir so wenig eigene Denker: weil sie schon in der Schule mit Logik eingezäunt werden. O du sein Maschinenartiger Lehrer! D u hast nöthig, seinen gesunden Verstand mit deiner Schullogik zu unterdrücken; sonst würde er dich übersehen, dir, was du eine Stunde kauderwelsch geplaudert hast, nachher mit drei Worten natürlich aber ohne Schulwitz hersagen: Er würde dich verachten! - Aber wehe dir! unter tausend Köpfen, die Männer geworden wären, werden zehn die K ü h n heit haben, weise zu seyn - die übrigen sind mit Schulstaub erstickt: gleich der Egyptischen H e b a m m e - " ' 8 . Die Institution Schule ist Instrument einer Unterdrückung des gesunden Verstandes und einer Erstickung der natürlichen Kräfte des Volkes. Sie ist ein O r t sinnloser Zeitverschwendung und nützt nur den Lehrern 19 . Sie hat das Philosophische Denken vom „lernen" „ins Behalten" 20 und „in's Disputiren" 2 1 verkehrt. Folglich sind die Wahrheiten dieser Schullogik „zum Besten des Volks nicht allgemein zu machen" 22 . Der im Blick auf das Volk dermaßen erfolglosen Schullogik hält Herder die im Blick auf den Staat vergleichsweise unverhältnismäßig nützlichere Logik, „die uns unsere Wärterinnen einpflanzten" 23 entgegen - mit der Konsequenz: „Alles Philosophiren (im eigentlichen Verstände) ist dem Staat entbehrlich. Man frage den Projektenmacher Beaumelle, nenne mir die größte Handlung, das feinste Projekt, das im Schoos der Abstraction gewachsen wäre, und nicht im Busen der freien Vernunft. Die " A.a.O., 51. A.a.O., 38. Sowohl „Schule" wie „Lehrer" dürfen aber bei Herder nicht zu eng als der nur schulisch institutionalisierte und beamtete Bildungsvorgang verstanden werden. Mit „Schule" ist umfassender der Ort „der Erziehung des Menschen" (a.a.O., 52) angesprochen. Zu Lehrern zählt daher Herder z.B. auch „unsere Wärterinnen" (a.a.O., 40) oder die „Hofmeister" (a.a.O., 57). Was er den Bildungsfunktionären zu sagen hat, ist auch „den Hauslehrern gesagt, sie können ein ganzes Haus bessern, wenn sie Philosophen sind - den Landleuten - den Lehrern der Religion, von denen wir leider auch denken lernen - den Lehrern des untern Volks" (a.a.O., 53). Allerdings sind die „Schullehrer" und „Akademisten" (a.a.O., 38;47;51) darunter für Herder die reformbedürftigsten Bildungsfunktionäre. 18 SW XXXII, 38. " Herder bezeichnet hier die erstaunlicherweise dennoch erreichte Erfolgsquote dieser an sich selbst orientierten Schule und am eigenen Vorteil interessierten Lehrer mit lediglich 1% dessen, was erreicht werden könnte. Diese 1 % freilich sind auch nicht der Schule zu verdanken, sondern der eigenen „Kühnheit" der Schüler. Ein provozierendes Urteil! 20 22 A.a.O., 37. Ebd. 21 23 A.a.O., 38. A.a.O., 40. 17

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Herder und das Geistliche Amt

größten Thaten des Krieges, die feinsten Anlagen des Staats, lauter Früchte der Logik, die uns unsre Wärterinnen einpflanzten, nicht der, die uns die Schullehrer einprägen wollten"24. Der Erfolg dieser „Logik des Witzes"25 oder des gesunden Verstandes liegt darin, daß sie sich auf unser „Bedürfniß" und Vermittlung des für uns „Nothwendigen"26 beschränkt17. Die Ausbreitung „philosophischer Fähigkeit "2S, die für Herder mit dem gesunden Verstand nicht konkurrieren kann, über diesen Bereich unseres Bedarfs und des für uns Notwendigen diene nur unserer endlosen „Neugierde"29, dem Volk aber ist sie „schädlich"30: „So bald unsre Seele sich über die Gränzen der Bedürfniß ausbreitet, so bald ist sie unersättlich in der Begierde nach Ueberfluß, und wenn die Weltweisheit nichts Wesentliches in dem Nothwendigen bestimmt: so ist sie unter den Wissenschaften, die nie ein Ende der Neugierde lassen. Wenn jene uns zum Denken erhübe, so verlernten wir das Handeln"31. Als „Geschöpfe der Natur und der Gesellschaft"32, mit dem „ehrwürdigen Namen des Patriotischen Volks" 33 , ist uns entweder nichts oder nur dies von der Philosophie nützlich, daß sie unsere Fähigkeit, den gesunden Verstand, ausbildet: „Entweder also nichts, oder o Philosoph, der du mich Wahrheit denken lehrst: bessre meine Fähigkeiten, die ich brauche, den gesunden Verstand; dieser braucht eine Verbesserung, nicht aber Leitung"34. Eine solche Logik verdiente „die allgemeine Verbreitung unters Volk" 35 . Da sie aber „noch unerfunden"3é ist, verweist Herder hier lediglich auf die „Schriften unseres Patriotischen Menschenfreundes Rousseau's"37 und schreibt: „Sein großes Thema ist gar zu sehr mit dem meinigen verwandt: er hat's Jedem, der Menschenaugen, ohne daß das Philosophische Sehrohr sie geschwächt, bewiesen: ,daß zum Besten des Menschenvolks keine Entwicklung der höhern Seelenkräfte zu wünschen sey', und ich habe beweisen müssen, daß zum Besten des Volks im Staat, dieser Geschöpfe, die noch näher am Stande der Natur sind, als Gelehrte, keine Entwicklung der Philosophischen Seelenkräfte zu wünschen sey. Indeß war ihm ein großer Philosophischer Geist nötig, um gleichsam alle diese Lücken der Menschheit und den leidigen Tröster d. Philosoph, zu zeigen, und es werden eben so große Philosophen dazu erfordet, um so eine negative Logik in Gang zu bringen, nach langen Versuchen an logischen Brunnen, die doch löchericht etc. sind, das Volk auf die Quelle des gesunden Verstandes zurückzuweisen"38.

25 A.a.O., 41. 26 SW X X X I I , 40. Zum Bedürfnis des Volkes als Mensch und Bürger vgl. oben S. 46, Anm. „raffenden Bedürfniß" (SW V, 629) des Publikums hat sich auch der Schriftsteller 2 ! SW X X X I I , 40. 32 Ebd. 36 33 Ebd. 37 » Ebd. 30 Ebd. 34 SW X X X I I , 41. 38 31 Ebd. 35 Ebd. 24

27

A.a.O., 40. 25. An diesem zu orientieren. Ebd. Ebd. Ebd.

Herders negative Philosophie

Exkurs zum Verhältnis Herders

zu

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Rousseau

Diese auch philosophiehistorisch interessante Stelle zeigt mehr noch als die Gemeinsamkeit den bedeutsamen Unterschied zu Rousseau in Herders menschlich-politischer Philosophie. Während Rousseau das Heil des Volkes aus Menschen zum Gegenstand seines Denkens macht, geht es Herder um das Beste des Volkes von Bürgern eines Staates. Auch bleibt Herders Nachdenken keine ideologische Theorie. Er sieht deutlich die schädliche Wirkung der Philosophie auf den Zustand des Volkes. Und insofern er sich in dieser Seite des Problems philosophisch mit praktischen Verbesserungsprogrammen zuwendet, ist seine neue philosophische Anthropologie eine praktisch-politische. In diesem Sinne muß bei Herder „Anthropologie" interpretiert werden, s.o. S. 47, Anm. 31. Zum Unterschied Herder-Rousseau vgl. auch Herder, SB I, 119, 57f. Vgl. auch u. S. 194. Anders Korff, der Herder als den „deutschen Rousseau" (Korff, Geist, Rgbd., 15) sehen möchte. Nach W . Harich, Rudolf H a y m , 133 ff. waren es die verschiedenen gesellschaftlichen Situationen der Nationen, auf denen in Frankreich eine Uberzivilisation, in Deutschland aber eine „.verknöcherte Barbarei'" lasteten, die Herder „so sehr zu Rousseau in Gegensatz bringen mußten". H . Wolffs - in den vierziger Jahren vorgelegte - Konstruktion eines „Rousseauismus der Frühzeit" (Wolff, D e r junge Herder, 755 ff.) bei Herder, eines späteren „Antirousseauismus" (a.a.O., 766ff.) und einer weiteren „Rückkehr zu Rousseau" (a.a.O., 779ff.) hält schon für die Frühzeit dem Vergleich mit den zitierten Texten (vgl. a.a.O., 758) nicht stand, einmal abgesehen von der unerörterten Frage, welche gesellschaftlichen Hintergründe ein derart ambivalentes Verhältnis zu Rousseau nun weniger als wissenschaftlich problematisch als vielmehr konsequent, verständlich und notwendig erscheinen lassen könnten. Die nur von einem formalen geisteswissenschaftlichen Ethos getragene Formulierung einer von Rousseau sich abheben wollenden neuen Geschichtsphilosophie Herders allein reicht dazu nicht aus. Der Frage der Rousseau-Rezeption des 18. Jahrhunderts auf dem Hintergrund seines gesellschaftlich unbefriedigten Erwartungshorizontes widmete sich C . Süßenberger. Er kommt zu dem Ergebnis, daß der „durch das bürgerliche Paradigma nur oberflächlich egalisierte, von latenter Dissensbereitschaft durchwirkte Erwartungshorizont" (Süßenberger, Rousseau, 12) des 18. Jahrhunderts Rousseaus Werk „gemäß der in ihm aufgehobenen sozialen Spannungen dissoziierte" (ebd.), wobei allerdings von Süßenberger die Rousseaurezeption Herders nur gestreift wird. Eine beiden Denkern, Rousseau und Herder, fremde Versöhnung von Hegels Volksgeisttheorie aus unternimmt H . Reghaby in seiner Dissertation. Danach soll in Hegels, für den Verfasser idealer Synthese von Rousseau und Herder jener mehr das Revolutionäre, dieser das konservative Element von Hegels revolutionär-konservativer Volksgeistphilosophie bzw. dessen „Versöhnung von ,Kultur' und ,Politik'" (Reghaby, Revolutionäre und konservative Aspekte, 8) abgeben. Unlösbare Schwierigkeiten hat daher Reghaby bei der Bestimmung des „Revolutionären in Herders Philosophie" (a.a.O., 94ff.). Einerseits bezichtigt er Herder der „politischen Unbewußtheit" (a.a.O., 92ff.), andererseits muß er im Interesse seiner Hypothese und der Quellenlage Herder wenigstens als „geistig und philosophisch" (a.a.O., 94) revolutionär ansehen, und schließlich will er doch lieber nur dann von ^revolutionär'" für Herder sprechen, „wenn das Politische nicht unbedingt die wesentliche Bedingung des Revolutionären

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Herder und das Geistliche Amt

w ä r e " (a.a.O., 99) und dieses bei H e r d e r feststellbar wäre. Reghabys Konstruktion ist ein überzeugendes Beispiel für die widersprüchlichen und unhistorischen Früchte, die das Verfolgen unangemessener Fragestellungen erbringen kann. Denn schon nach K. Eisner, Revolutionäre Humanität, 88ff. besteht demgegenüber Herders „zur revolutionären Tat bereite Schwärmerei" immerhin doch in der konkreten Verspottung des „absoluten Herrschers", dem P r o g r a m m : „Keine privilegierten Klassen!", der Verhöhnung eines „Erbrecht(es) des Verdienstes", der Drohung „mit der deutschen Revolution", der Geißelung der „Torheit der Kriege", der Parteinahme „gegen die Intervention Deutschlands zugunsten der gestürzten französischen Herrschaft" sowie seinem Eifer „gegen den Mißbrauch der Religion". W i r sind H e r d e r s n e g a t i v e r P h i l o s o p h i e i m l o g i s c h e n B e r e i c h

ausführlich

g e f o l g t u n d k ö n n e n uns n u n z u i h r e n A u s s a g e n ü b e r M o r a l u n d M e t a p h y s i k e t w a s k ü r z e r fassen. H e r d e r b e s t r e i t e t d e r g ä n g i g e n M o r a l i h r e n N u t z e n s o w o h l als L e h r e w i e als K o r r e k t i v v o n V o l k s m o r a l . D a s V o l k h a n d e l t an s i c h b e r e i t s g u t . „ H a t d a s V o l k w i r k l i c h e P r a k t i s c h e (Vorurtheile)

ü b l e G r u n d s ä t z e w i d e r die M o r a l i t é ?

i c h m e i n e : n e i n ! d e n n d e r m e i s t e T h e i l v o n i h n e n h a n d e l t in d e r T h a t n a c h k e i n e n G r u n d s ä t z e n i m s t r e n g s t e n V e r s t ä n d e . Wornach? leitet -

D a n k d e r N a t u r ! die u n s s c h u f f ! -

d e r Z a u m , d e r ihn

sind n i c h t K e n n t n i s s e ,

sondern

E m p f i n d u n g e n , u n d diese sind alle g u t : sie sind S t i m m e n des Gewissens,

unsres

F ü h r e r s , v o n G o t t gesandt"39. Z u diesen natürlichen E m p f i n d u n g e n

gehört

39 SW X X X I I , 42. Herders Zurücknahme des moralischen Führers des Menschen als Gewissen in diesen selbst ist nicht nur die moralische Variante zu seinem bereits im logischen Bereich intendierten Zurückgehen auf den gesunden Verstand als Quelle menschlichen Denkens, sondern bezweckte vor allem eine Befreiung des Menschen und Bürgers von einer unverstandenen logischen und moralischen Fremdbestimmung zu einer dem geschichtlichen Menschen allein als Mensch und Bürger gemäßen Denk- und Lebensart, zu subjektiver Logik und Moralität. Wie diese Stelle weiter zeigt, glaubte Herder mit dieser Absicht ganz dem Sinne der natürlichen bzw. göttlichen Ordnung zu entsprechen. Da sich aber zugleich jene Fremdbestimmung des Volkes als Philosophie der Gelehrtenschicht seiner Zeit am Volk zu dessen Schaden realisierte, mußte diese Absicht Herders zugleich einer religiös motivierten, politischen Veränderung der Gesellschaft gleichkommen. So ist also Herders Religion das Motiv und der Grund seiner neuen politischen Philosophie und der Veränderung des Staates zu einem menschlichen Volk nach dem Willen Gottes. Diese Tatsache spricht deutlich gegen die von Adler, Pantheismus, 82 und anderen marxistischen Denkern vertretene Auffassung, die Religion Herders verfremde die radikalen politischen Implikationen seines Denksystems (vgl. o. S. 29 f. und 28 ff.). Für unsere Abhandlung ist diese praktische Wendung des Denkens Herders auf den Menschen und Bürger als Subjekt Gottes auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Praktizierung des Geistlichen Amtes in Predigt und Unterricht im Gewissen und gesunden Verstand ihr besonderes menschliches Gegenüber hat (vgl. u. S. 68f. und S. 82ff.).

Die Verfremdungstheorie hält also einer genauen Analyse gerade dieser Schrift Herders nicht stand, die doch von Adler nach Problembewußtsein, Idee und Sprache als exemplarisch für „eines der Leitmotive im Gesamtschaffen Herders" (Adler, Herder, 74) eingeschätzt und im Vergleich mit den Rigaer Predigten von Adler als Kronzeuge seiner Konstruktion des Konfliktes zwischen „religiösen Dogmen und der kirchlichen Hierarchie" (ebd.) in Herders Tätigkeit „vom ersten Augenblick an" (a.a.O., 73) herangezogen wird.

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Herders negative Philosophie

„unzertrennlich" als „Schatte ihrer Würde" 40 und anrührenden Wirksamkeit „Dunkelheit" 41 . Indem der Moralphilosoph diese Dunkelheit ans Licht hebt, macht er „eine Sache deutlich, die mir vorher gewiß war; er lehrt sie meinem Verstände, - und mein Herz, nicht der Verstand muß sie fühlen" 42 . Die Moral kann auch nicht die Laster ausrotten. So wenig wie Wissen von Regeln Tugend zeugen kann, so wenig kann nämlich „die Unwissenheit Laster zeugen . . . sondern herrschende Vorurtheile, Verderbungen, üble Fertigkeiten" 43 . Dagegen ist aber die Moralphilosphie selbst „eine neue Hinderung" 44 . So ist Herders Gesichtspunkt ganz anders. „So bald Empfindung Grundsatz wird, so bald hört sie auf Empfindung zu seyn - Ich denke, ich betrachte, ich ergreife moralische Pflicht: - mein Gesichtspunkt ist ganz anders, ich lerne sein Gegentheil, zu handeln, ihn anzuwenden."45 Beide Gesichtspunkte schließen sich aus. Moralphilosophie erfordert eine abstrakte Sprache, „jeden frommen Seufzer"46 zu vermeiden. Moralisch handeln aber „als ein Zuhörer der Predigt, der gerührt werden will, die Entwicklung eines vorgetragenen Satzes"47 zu vermeiden. So fordert Herder von der theoretischen Philosophie statt Moral zu einem Sammelsurium von Regeln und „zur Disputirkunst" 4 ' zu machen, die Beschränkung von Moral auf eine „Metaphysik des Willens" 49 , die „meine Empfindungen, meine Stärke, moralischen Gefühle und Grundtriebe aufspähet - große Tiefen der Gottheit und unendliche Aufschlüsse etc. - Alsdenn aus diesen Tiefen unsre Verbindlichkeiten eruieren; - bis zum höchsten Begriff der Moralität, eines Gesetzes; zu der Schärfe der metaph. Demonstration bringen, nicht blos die Laster anführen, sondern sie erklären etc. -" 5 C . Doch selbst dies nützte nur den Philosophen, nicht aber dem Volk. Dieses hat nichts mehr und nichts weniger nötig als Predigt, die das Herz rührt. Und Herder folgert daher: „Weder um zu denken, noch um besser zu empfinden, braucht das Volk Philosophie; dies ist folglich als Mittel zu Zwecken sehr entbehrlich. Ihr Weg ist zu mühsam, um mein Weg zu seyn. Du Philosoph also, der du die Philosophie allgemein machen willst, siehe ihre Mängel. . . Philosophie nicht allgemein, sondern zum Glück enger - und eben dadurch nützlicher" 51 . Aber selbst Philosophie als Zweck betrachtet ist dem Volk schädlich. Denn so sättigen wir blos „unsre Neubegierde" und stehen einer „glücklichen Unwissenheit entgegen"52. Zwar ist Neugierde „allerdings ein sehr wirksamer Trieb der Seele"53 und „Mutter der Philosophie" 54 . Herder bestreitet aber, daß die neugierige Bewegung der Seele wirklich „Grund alles Vergnügens"55 sei, und bezeichnet sie nicht als „das Haupt- sondern das letzte Vergnügen"56 und

40 41 42 43 44 45

SW X X X I I , 42. Ebd. SW X X X I I , 42 f. A.a.O., 43. Ebd. Ebd.

46 47 48 49 50 51

Ebd. Ebd. A.a.O., 44. Ebd. A.a.O., 44f. SW X X X I I , 45.

52 53 54 55 56

Ebd. Ebd. A.a.O., 46. Ebd. Ebd.

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Herder und das Geistliche Amt

unsere Neugierde als „also gar nicht unumschränkt gut" 5 7 . Sie stellt nämlich unser „ G l ü c k " 5 ' in Frage und Herder hält es für schädlich, „sie (sc. die „Unphilosophen" 5 9 ), die schon die Bitterkeit der Neugierde schmecken, von ihrer glücklichen Unwissenheit" 6 0 zu entfernen. „ O du, der du mit kühner H a n d den Schleyer wegreißen willst, den die Natur vorwebte, deine H a n d zittere zurück. D u Schullehrer, der seine Schüler z. Abstrakt. Philos, zwingt, du arbeitest wider die N a t u r ; - rasend und doch unnütz, ja als ein Verwüster derselben. In der That hat auch die ganze Metaphysik nichts, das des Nennens werth wäre, da sie das blos sagt, was der gesunde Verstand denkt; der zweite Kreis ist ein Wörterkram, der dritte Hypothesen" 6 1 . Herders v o m Volksnutzen her bestimmtes negatives philosophisches Gesamturteil lautet daher: „Die Philosophie ist überhaupt den Menschen unnütz, jedem Menschen unnütz; aber auch der Gesellschaft schädlich" 6 2 . Wie wenig Herder diese Feststellung aber als eine radikal neue akademische Weisheit verstanden wissen will, zeigt der brisante politische Kontext dieser Feststellung, wenn Herder die Konsequenz dieser unnützlichen theoretischen Philosophie reflektiert: „. . . entweder es muß eine Revolution vorgehen, die nach unserer heutigen lux. . . . nicht möglich ist; oder . . . " " . Herders negative Philosophie erschöpft sich also nicht in einer theoretischen philosophischen Kritelei am Ü b e r k o m m e n e n mit der Absicht, sich selbst in ein bedeutendes Licht zu rücken. Vielmehr ist sie als Teil des Versuches einer philosophischen Prophylaxe und Therapie zu einer absehbaren politischen Katastrophe ernst zu nehmen. Zu diesem Versuch Herders gehört aber neben diesem negativen Teil vor allem ein positives Programm, dem wir uns nun zuwenden. Exkurs zum Verhältnis Herders zur Französischen Revolution H e r d e r schreibt diese Sätze über 2 0 Jahre vor der Französischen Revolution. Einerseits wird dadurch ein bei der Lektüre der Herder-Briefe zurückgebliebener Leseeindruck von W . Dobbek („Schon lange vor der Französischen Revolution spüren wir in Herders Briefen ihren heißen A t e m " , so Dobbek, Herders Briefe, S. (6)) auch auf Herders sonstiges Schrifttum ausgeweitet. Andererseits ist W . Dobbeks Behauptung von einer Sympathie des Herderhauses für die Revolution post festum („Man jubelte im Herderhause der Revolution heimlich z u " , a.a.O., S. (14)) angesichts der folgenden revolutionskritischen Ausführungen Herders in dieser Einseitigkeit sicher nicht haltbar. Mehr unklar als begründet äußert sich in dieser Frage auch H . Tümmler. Denn, man kann nicht H e r d e r einerseits als einen „revolutionsbegeisterten" (Tümmler, Das klassi-

57 Ebd. 5 ! Ebd. 59 A.a.O., 47. 60 Ebd. " Ebd. Von diesem globalen Urteil sieht Herder nur „Winkelmann" und „einiges Wenige ausgenommen, das der natürlichen Theologie zugehört" (ebd.). 62 A.a.O., 48. 63 Hier bricht Herder fragend ab, den Leser zu seiner alternativen Lösung des Problems motivierend.

Herders negative Philosophie

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sehe Weimar, 10) Humanisten apostrophieren, andererseits aber von ihm als weimarischem „Staatsdiener" (a.a.O., 28) sprechen, zumal nicht in den Jahren 1793-1798. Herders auch spätere revolutionskritische Einstellung zur französischen Revolution erkennt auch nicht S. Oyama. Oyama möchte gerne Herder als begeisterten Revolutionär darstellen (vgl. Oyama, Einige Betrachtungen, 148 u. 152). Er beweist aber nur an der von Herder unterdrückten Urfassung der Humanitätsbriefe (vgl. a.a.O., 144), daß Herder die Auseinandersetzung mit der frz. Revolution von seinem geschichtsphilosophischen Standpunkt aus führt, also mit der praktisch-politischen Absicht, nicht ein ideologisches Pro oder Contra zur Revolution verlauten zu lassen, sondern die preußische Intervention, an der auch sein Herzog Carl August und Goethe teilnahmen, als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des französischen Volkes bloß zu stellen. Denn, so sagt doch Herder in der Urfassung, daß „der Deutsche und Französische Nationalcharakter von einander so verschieden sind, wie die bisherigen Verfaßungen und Schicksale beider Nationen" (SW XVIII, 315) verschieden sind. M.a.W., Herder weist darauf hin, aus deutscher Seite wäre es eine nützlichere Politik, sich um die Bestellung des eigenen Hauses zu kümmern. Ausführlicher belegt, aber ähnlich übertrieben emphatisch zu Herders (und Wielands) Einstellung zur französischen Revolution und Herders „republikanischer Gesinnung - sogar bezüglich der Entschuldigungen für deren gemäßigte Formen aus literarischer Vorsicht und Rücksicht auf ihre öffentliche Ämter nach 1789 - schon H. Dinkel, Herder, 65 ff. Verworren zu dieser Frage Dietze, J. G. Herder, 10, These 18, der die „antifeudale", „prorevolutionäre" und „demokratische" Komponente von Herders „weit in die Zukunft weisende(r) Konzeption eines bürgerlichen Humanismus" (a.a.O., 10) dann doch als „republikanisch" (ebd.) klassifiziert und Herders kritisches pädagogisches Volksbildungsprogramm (vgl. u. S. 56ff.; 62ff.; 198ff.) nicht erkennt, vielmehr von seiner eigenen marxistischen Ideologie aus, Herders Volksverbundenheit durch aufklärerische Relikte begrenzt sehen möchte (vgl. Dietze, a.a.O., 11) und als lediglich „appellativ" (ebd. u. These 18) charakterisiert. Man fragt sich, was für Dietze dann noch die Feststellung bedeutet, daß dennoch Herders gesellschaftsbezogene und konfliktintegrierende Auffassung von klassischer Humanität „von höchstem aktuellen Wert in den kulturpolitischen Auseinandersetzungen unserer Gegenwart" (a.a.O., 11) ist, wenn das Pferd des beschworenen Vorreiters wirklich auf einem Fuße so lahmen sollte. Zu Herders schon intellektuell ambivalentem Verhältnis zur französischen Revolution vgl. SW XVIII, 314. Ohne es zu wollen auch H. Scheel, Herders Stellung, 18f. Unbestritten kann aber bleiben, daß der Theologe Herder - mit Wieland! - „innerhalb der Weimarer Gesellschaft wohl am weitesten ,links' stand" (Gollwitzer, Europabild, 115). F. M. Barnard, der selbst unsicher und verlegen, Herder einerseits eines ideologiebedingten „Mangels an politischer Einsicht" (Barnard, Zwischen Aufklärung, 171) und politisch naiver Argumentation (vgl. a.a.O., 184) bezichtigen zu müssen meint, andererseits aber, „ihn doch nicht als politischen Träumer abtun" (a.a.O., 185) zu dürfen glaubt, versucht diesen Standpunkt Herders so zu präzisieren: „In seiner negativen Haltung gegenüber der zeitgenössischen .mechanistischen' Staatsform stand Herder nicht allein, doch ging kaum jemand in der Verurteilung der sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen so weit wie er. Indem er das Prinzip des Nationalstaates proklamierte und dessen organische Grundlage betonte, war er aber

56 Herder und das Geistliche Amt zweifellos einer der ersten modernen politischen Denker. Im Kielwasser der Französischen Revolution sollten diese Ideen ein immer breiteres Wirkungsfeld finden" (a.a.O., 185). Wir vermissen bei Barnard insbesondere die Einsicht in Herders Realisierungsform seines Programmes (vgl. u. S. 179ff.).

II. Philosophische

Volksbildung

Herders negative Philosophie scheint gerade wegen ihrer praktischen Intention konsequent in den Aufruf zur Revolution des Volkes gegen den „Philosophischen Unsinn" 1 zu münden. Herder zeigt diese Konsequenz auch auf, jedoch nur, um sie als Lösung des Problems entschieden zurückweisen zu können. Diese Lösung ist für ihn nicht praktikabel, weil eine solche Revolution dem Volk nicht wirklich nützt und insofern in demselben abzulehnenden Bereich liegt wie die Akademische Philosophie: sie würde dem Volk nur Schaden bringen. „So dringe denn, o Volk, in die Heiligthümer der Weltweisheit, reiß alle die Götzen nieder, und baue dahin Staatshäuser: Versammlungen, wo statt des Philosophischen Unsinns der gesunde Verstand dem Staat, der Menschheit, Berathschlagungen hält. Entreiß der Philosophie ihre Diogenes-Kappe und lehre sie Säulen des Staats; - Nein! o Republik! durch diese Verwüstung stürzest du dich in den Rachen der Barbarei, um einen kleinen Schaden zu vermeiden, versenkst du dich in den Euripus - um dich lauren tausend andre, die, sollten sie auch stets mit dir gleich denken, jetzo wider dich denken würden" 2 . Revolution des Volkes ist offenbar noch ein wesentlich größeres Übel für das Volk als die dem Volk schädliche Akademische Philosophie. Verwüstung, Barbarei, Absinken in die nationale Katastrophe und Bedeutungslosigkeit wären ihre Folge. Deshalb ist für Herder der einzige Weg, der das Volk sowohl vor dem Schaden einer Akademischen Philosophie wie vor dem noch größeren Schaden einer Volksrevolution bewahrt, ein philosophischer. „Bios die Philosophie kann ein Gegengift seyn, für alles das Uebel, wohin uns die Philosophische Wißbegierde gestürzt" 3 . Philosophie muß das Gegengift gegen ihr eigenes Gift sein, den Schaden selbst beseitigen, den sie am Volk angerichtet hat. Diese neue Philosophie kann nicht nur in der Anerkenntnis der philosophischen Entfernung vom gesunden Verstand und den gesunden Empfindungen des Volkes bestehen, sondern mehr noch in der Bemühung um eine größere Nähe zum Volk in Form einer direkten praktischen Beeinflussung des Handelns des Volkes zu dessen Nutzen. „Sie (sc. die Philosophie) denkt für eine Million andre, damit diese handeln: sie lehrt sie nicht, daß sie sich bessern, sondern sie bessert sie selbst - auf ihren Straßen, da sie sich verirrt, hat sie gelernt andre zurechtweisen; sie bildet den Menschen, den Bürger nach bessern Grundsätzen - so wird sie nützlich - zum Besten des SW XXXII, 48.

2

Ebd.

3

Ebd. Vgl. o. S. 48.

57

Philosophische Volksbildung

Volks" 4 . Das dem Volk nützliche neue philosophische Gegengift gegen das philosophische Gift einer akademischen Philosophie besteht demnach in einer unmittelbaren, praktischen menschlich-politischen Bildung des Volkes und dem Ausschluß jeglicher mittelbarer Bildungs/e^re oder Bildungstheorie. Zu der dem Volk allein nützlichen unmittelbaren Bildung gehört vor allem, daß die philosophische Methode eine andere wird. Die Philosophie muß „sich von den Sternen zu den Menschen herablassen"5 und „eine Weltweisheit des gesunden Verstandes"' werden, die zu dem Volk „in seiner Sprache, in seiner Denkart, in seiner Sphäre"7 redet: „seine Sprache sind Sachen und nicht Worte; seine Denkart lebhaft, nicht deutlich, gewiß, nicht beweisend; seine Sphäre wirklicher Nutzen in Geschäften, Grundlagen zum Nutzen; oder lebhaftes Vergnügen"8. Aber auch das Ziel dieser „Philosophie des gemeinen Volks"' wird neu gesteckt: „Statt Logik und Moral bildet sie mit philosophischem Geist den Menschen im Selbstdenken, und im Gefühl der Tugend: statt Politik bildet sie den Patrioten, den Bürger, der da handelt; statt unnütze Wissenschaft der Metaphysik legt sie ihm wirklich Ergötzendes vor, das unmittelbar. Siehe! was ich leisten muß, um was ich will gesagt zu haben: und das meiste zum Glück Aussichten, die mir schon längst Lieblingsplane waren . . ."1C. Methode und Ziel dieses neuen philosophischen Volksbildungsprogrammes Herders haben eine klare emanzipatorische Funktion. Das Volk soll zu seiner Ehre kommen". Gleichwohl bleibt das Volk gerade so in einer größeres Unheil verhütenden Bindung an eine zu ihrer Bildungs/««&i/on hin reformierten Philosophie klar behaftet. Insofern kommt auch die Philosophie zu ihrer neuen - Ehre. Sie erhält sie durch ihre neue praktisch-politische Bildungsfunktion. Reform des Staates erscheint Herder nur mittels einer zur philosophischen Volksbildung reformierten Philosophie optimal, d.h. ohne Schaden und zum Besten des Volkes, realisierbar12. Deshalb bleibt nicht nur das Volk

4

SW X X X I I , 49.

6

Ebd.

8

Ebd.

10

Ebd.

Ebd. ' Ebd. ' Ebd. 11 „Nein, o Volk, du bleibst ehrwürdig, ohne durch Philosophie dir Federn zu schmücken" (ebd.). 12 Herder zielt mit diesem seinen Anliegen auf eine Befreiung des Volkes zu sich selbst in der s

Bindung an eine sich zu dieser Befreiungsaufgabe zur Verfügung stellenden und zum Bildungsmittel hin korrigierenden Philosophie. Dies kam einer Selbstkorrektur der gebildeten Schichten des Volkes gleich, in denen gewöhnlich die schädliche Akademische Philosophie beheimatet war, ohne die Spaltung des Volkes in mächtige Gebildete und gemeines Volk weiter zu treiben, sondern im Gegenteil an ihrer Beseitigung praktisch, und zwar als Gebildete mitarbeiten zu können. Herder weist hier der gebildeten Schicht eine neue Funktion zu, die letztlich auch ihrem eigenen Uberleben dienlich ist: die menschlich-politische Erziehung des Volkes. Selbstverständlich schwingen in diesen Aussagen Herders die politischen Zustände seiner Zeit und besonders das Gefälle zwischen dem feudalen Fürstentum und dem gemeinen Volk und das politische Vermögen und Gären in den beiden Machtblöcken seiner Zeit mit. Was wir hier aber konkret vor uns haben, ist ein deutliches Beispiel für Herders Versuch einer Integration der sich zu ihrem eigenen Schaden auseinander entwickelnden Pole von Philosophie und Volk auf der Basis einer philosophischen

58

Herder und das Geistliche Amt

„ehrwürdig" 13 : „auch der Philosoph bleibt für einen Ehrwürdigen" 14 . Dies nicht nur als „Monstrum der Seltenheit"15, sondern als „Märtirer der Wahrheit" 16 , der die theoretische Philosophie auf sich nimmt, „um dich (sc. das Volk) davon zu befreien" 17 . Schon aus Anerkennung „stürzt man nicht" eine solche „Ceder" 18 , aber auch aus Vorsicht und Rücksicht auf die Selbsterhaltung. Wenn schon eine Revolution, dann wäre zuerst eine „solche Revolut i o n " " angebracht, „daß ein jeder nicht Weltweiser werden wollte" 20 . Das Beste ist: „Du Philosoph und du Plebejer! macht einen Bund um nützlich zu werden" 21 . Denn ist auch „der Nutzen der Philosophen bisher für das Volk klein" 22 , so kann und muß doch allein der Philosoph „seinen Nutzen bestimmen - er ist sein höchstes Tribunal - er frage in sich den Menschen, den Patrioten, den Philosophen. Das Volk ist nur Mensch und Patriot, von Philosophie gehört nichts unter seinen Richterstuhl - du und nicht das Volk weiß, ob du ein Gift wärest, du und nicht das Volk sey auch ein Gegengift" 23 . Die Anwendung dieser neuen philosophischen Volksbildung bestätigt ihre emanzipatorische Funktion. Der Philosoph soll erwägen, daß es ausschließlich zwei „Klassen" des Menschen, „der blos handelt" 24 gibt, nämlich „Mann und Weib" 25 , und demgemäß „Manns- und Frauenzimmer-Philosophen" 26 als BilSelbstkorrektur, wirklicher Partnerschaft zwischen Philosophie und Volk und dem tätigen philosophischen Willen zur Aussöhnung mit dem Volk in Form der Übernahme seiner Bildung nach sich selbst als Bedingung für das Uberleben der Menschheit - als Volk und Weltweise. Gegen die Formulierung des marxistischen Historikers J . Herrmann von Herders Gedanken zum „Bildungsprivileg der herrschenden Klasse als Herrschaftsinstrument" (Hermann, Die Bedeutung, 26) ist sachlich wenig, wohl aber historisch einzuwenden, daß, wie gerade gezeigt, diese Herdersche Erkenntnis sich nicht erst in seinen „Ideen", sondern bereits hier und damit sehr früh zeigt. Ferner auch dies, daß Herder daraus nicht kurzschlüssig revolutionäre Agitation, sondern eine konstruktive Revolution der Religionspädagogik und so der Gesellschaft ab- und einleitete. Vgl. auch u. S. 99 f. 13 SW X X X I I , 49. 17 Ebd. 70 Ebd. 14 Ebd. 11 Ebd. 71 A.a.O., 51. 15 SW X X X I I , 50. 22 Ebd. " Ebd. 16 Ebd. 23 Herder redet hier den Philosophen an, um ihm die Verantwortung für das Volk einzuschärfen, die mit seinen philosophischen Privilegien gegeben sind. Er bestreitet dem Volk nicht Urteilsfähigkeit, wohl aber Einsicht in speziell philosophische Sachverhalte. Des Volkes Urteilskraft bleibt - zum Glück für das Volk - auf menschlich-politische Sachverhalte begrenzt. Herders Definition des Volkes als „nur Mensch und Patriot" ist alles andere als eine Klassendiskriminierung gegenüber seinem Begriff des Wehweisen, „der ein Mensch, ein Bürger und ein Weiser ist" (SW X X X I I , 52). 24 SW X X X I I , 52. Der Klassenbegriff Herders hat in dieser Bestimmung eine klassenkritische Intention, er beschränkt eine faktische Klassengesellschaft auf die eine Klasse des handelnden Menschen „als Mann und Weib" (ebd.). Der biblische Anklang dieser Bestimmung ist nicht überhörbar: vgl. Gen 1,27. Vgl. o. S. 52, Anm. 39. Zum sozial differenzierenden Klassenbegriff der Zeit, gegenüber der Herder mit diesen einfachen biblischen Aussagen geradezu revolutionär erscheinen mußte, vgl. Möller, Kleinb. Familie, 3f. Vgl. u. S. 181, Anm. 13. 25 SW X X X I I , 52. Vgl. die vorhergehende Anmerkung. 26 SW X X X I I , 52.

Philosophische Volksbildung

59

dungsfunktionäre der Volksbildung in Erwägung ziehen. Zum anderen ist auch im Auge zu behalten, daß „eine Weltweisheit als Kunst"27, die den einen Teil des Volkes „zu handelnden Maschinen"28 bildet, die Notwendigkeit ist, die Weltweisheit „als eine technische Wissenschaft"29 dagegen lediglich eine philosophische Möglichkeit darstellt, „den andern (sc. Menschen des Volkes) . . . schon selbst einen Ton zum Denken" 30 anzugeben, „ohne sie doch in seine (sc. des Weltweisen) Zunft aufzunehmen"31. Dabei ist der Nutzen dieser sich auf die Menschen in ihrer politischen Verflochtenheit praktisch konzentrierenden Philosophie durchaus nicht nur auf Seiten des Volkes. Die Philosophie selbst profitiert von dieser Wende - auch als Theorie. „Soll die Philosophie den Menschen nützlich werden, so mache sie den Menschen zu ihrem Mittelpunkt; sie, die sich durch gar zu ungeheure Ausdehnungen geschwächt hat, wird stark werden, wenn sie sich auf ihren Mittelpunkt zusammenzieht"32. Diese Philosophie darf sich nämlich um der Erreichung ihres Ziels willen mit gutem philosophischen Gewissen von unnötigem Ballast befreien und „drei Vierthel unserer Gelehrsamkeit über Bord werfen"33 und - wie Herder für sich selbst in Anlehnung an ein neutestamentliches Gleichnis34 die Konsequenz ziehen: „Neun und neunzig Pfund will ich vergraben und mit dem hundersten wuchern"35. Indem sich also Philosophie auf ihr Volksbildungsvorhaben auch ökonomisch konzentriert, wird ihre Anwendung gleichermaßen ein Segen für das Volk und sich selbst, dergestalt, daß sie so dem Lehrer des Volkes für dessen praktischen Bildungsversuch am meisten nützt. „Glücklich, wenn die Philosophie ihm (sc. dem, „der sich dem Volk nützlich machen will"36) den Weg zeigte, auf dem er es handeln lehrt, ohne zu denken, es tugendhaft seyn lehrt, ohne es zu wissen, Bürger zu seyn, ohne über Grundsätze des Staats zu grübeln, Christen zu seyn, ohne eine theologische Methaphysik zu verstehen"37. Exkurs

zu Herders

Wissenschaftsbegriff

Herder konzentriert die philosophische Aufgabe auf das dem Menschen und Bürger unmittelbar Einleuchtende. E r visiert hierbei als Applikation nicht den nur G o t t zukommenden actus purus, sondern eine menschliche Möglichkeit an. Die mit seiner neuen Philosophie ins Auge gefaßte unwissenschaftliche Vermittlung von Volksbildung wird nämlich nicht von einem blinden antiwissenschaftlichen Vorurteil getragen. Sie wendet sich auch nicht gegen die Notwendigkeit der Vermittlung von Bildung überhaupt. Vielmehr richtet sich Herders metaphorische Formulierung gegen das historische Phänomen des zu einem elitären, technischen und formal-logischen Vorgang des Verstehens entarteten und komplizierten Wissenschafts- und Bildungsbegriffes, wie er in der Vermittlung abstrakter logischer, moralischer, politischer oder metaphysischer Gesetze und N o r m e n und ihrer -logien vor Herder durch die Philosophie Chr. Wolffs A.a.O., 51. Ebd. 2 ' A.a.O., 52. 30 A.a.O., 51. 27

31

21

J2 33 34

Ebd. SW X X X I I , 52. Ebd. Vgl. Matth 25,14-30 Par.

SW X X X I I , 52. * Ebd. 37 Ebd. Vgl. u. S. 205; 212.

35

60

Herder und das Geistliche A m t

(vgl. Kimpel, Philosophie, 105 f. und u. S. 71, Anm. 35) und seiner Schule historisch vorgelegt, existent und maßgebend wurde. Herders neue Philosophie beinhaltet demgegenüber als tätige Philosophie eine dem natürlichen und ganzen Verstehenspotential des arbeitenden Menschen und Volkes, nämlich deren Empfindung, Denken und Handeln (vgl. u. S. 160 f£. ; 198 ff.) verpflichtete und nützliche neue „Wissenschaftlichkeit" und Bildung. D i e Ausführung derselben als mäeutische Religionspädagogik und Homiletik haben wir unten als ein Exemplum derselben dargestellt (vgl. u. S. 82 ff. und 106 Anm. 52; 249 u. 268f). Sowohl für seine eigene neue Bemühung wie für jenen von ihm in Frage gestellten T y p Philosophie Wölfischer Prägung behält aber Herder in seiner ihm eigenen metaphorischen (vgl. u. S. 124, Anm. 18) Redeweise „Philosophie" als Inbegriff notwendiger Bemühung des Menschen um Verständnis und Erschließung von Wirklichkeit bei (vgl. z . B . u. S. 214 und 241) ohne damit seinen eigenen Standpunkt zu verschleiern. D e r Deutlichkeit halber haben wir zur Charakterisierung des Gegensatzes dieser beiden philosophischen Positionen und zur Erhellung des Gegensatzes in dieser Herderschen Metapher zu Beginn eine heuristische Alternierung (vgl. auch u. S. 81, A n m . 70; 119f; 128; 170f.) von Wissenschaftlichkeit (ideologische, abstrakte, akademische Philosophie bzw. Theologie) einerseits und Unwissenschaftlichkeit (tätige, praktische, nützliche Philosophie und Theologie) andererseits als Strukturen philosophischen Bemühens vorgenommen, die immer in diesem historischen Kontext zu lesen ist und bereits hier (vgl. o. S. 56 ff. und u. S. 67) wie im Verlauf unserer Abhandlung sachlich erläutert und differenziert wird (vgl. zuletzt u. S. 261, A n m . 18). Selbstredend sind wir also mit Herder der Meinung, daß durch die neue negative Philosophie Herders nicht die Negierung von Philosophie oder Wissenschaft überhaupt gemeint oder intendiert ist und, daß diese Philosophie verglichen mit jener sogar „mehr als einen graduirten Philosophen" (SW X X X I I , 33), „großen Philosophischen Geist" und „eben so große Philosophen" ( S W X X X I I , 41) erfordert. Mit ihrer Geschichte hat diese neue Philosophie aber auch ihre Probleme (vgl. Kimpel, Philosophie, 119 und Ders., Frühaufklär. Sprachkritik, 34). Diese stellen wir hier zunächst zugunsten ihrer Analyse und ihrer Bedeutung für die homiletische Konzeption Herders zurück, deren notwendiger Erfassung unsere Aufmerksamkeit aus den dargestellten Gründen (vgl. o. S. 13ff.) vorwiegend gilt. S. 212ff. gehen wir dann im Rahmen unseres Themas ausführlich auf die beiden - von Herder gesehenen philosophischen Abwege einer zu pervertiertem Kalküldenken („Kopfbehorchen") einerseits sich ausartende Wölfische Philosophie und einer zur pervertierten Empfindsamkeit entarteten Baumgarten-Meierschen Philosophie andererseits („Busenbehorchen") in ihren theologischen Varianten (vgl. u. S. 127; 216) ein. Auf den tätigen Menschen konzentriert (vgl. u. S. 77), zeitgeschichtlich-kasual motiviert und auch pädagogisch akzentuiert (vgl. u. S. 205 ff.) glaubt Herder mit seiner tätigen Philosophie das nutzlose Gegeneinander- und Auseinanderlaufen der beiden philosophischen Wege verhindern zu können.

Der unentbehrliche philosophische Beitrag im Rahmen der philosophischen Volksbildung Herders ist demnach die pädagogisch verwertbare Methodenlehre des Seins3'. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß es Herder bei seinem " Harth, Ästhetik, 139, der Herder, wie wir auch oben schon sahen (vgl. S. 34) doch wieder auf einen hermeneutischen und wissenschaftlichen Prozeß des Verstehens im Bildungsvorgang zulaufen sieht, hat übersehen, daß die Methodenlehre Herders als Hilfsmittel für den Bildungsfunktio-

Philosophische Volksbildung

61

Volksbildungsprogramm an dessen praktischer Ökonomie und Operationalisierung besonders gelegen ist. „Eine Weltweisheit, die nützlich seyn will, muß erst den Schaden entfernen, und dies in der Erziehung des Menschen zuerst"39. Nach Herder geschieht dies in der Weise, daß so „lange noch das Kind blos Thier ist: so überläßt es der Weltweise lediglich den Menschen, aber Menschen, die er selbst schon durch seine Grundsätze gebessert hat"40. Diese erste Stufe bedeutet für das Volksbildungsprogramm die Herausnahme des ideologischen4' Philosophen aus dem praktischen Bildungsprozeß im Kindesalter zugunsten des in der Methode der Bildung des Volkes nach dessen eigenen Grundsätzen philosophisch gebesserten Menschen: dem Menschen mit philosophischem Geist. Der philosophische Einfluß bleibt zwar bestehen, ist aber ein neuer geworden, eine methodische Hilfe zur Praxis der Bildung des Volkes. „Hier bildet er (sc. der Philosoph des Volkes) seinen (sc. des Kindes) Körper, zwanglos und seine Sinne mit allen Freiheiten des Thiers. Um dies zu erreichen, muß man so spät als möglich die höhern Kräfte reifen lassen und in mehr als einem Betracht sich die Lehre umkehren: Bilde nicht eher den Weltweisen, bis du den Menschen gebildet hast"42. Nichts ist auf dieser Stufe also vorrangiger als die Menschen-Bildung im Sinne einer dem Tier abgelauschten zwanglosen und freien Körper- und Gefühlsbildung. Die zweite spätere - Stufe ist dann die Vermittlung von „Mark der Philosophie"43 bzw. die Einprägung von „Philosophischem Geist"44. Auch diese Stufe erfordert als Bildungsfunktionär den Menschen mit philosophischem Geist und insofern seine konsequente Integration in den praktischen Bildungsprozeß, der jener ersten Ausbildung des „Embryon" 45 folgt. Diese zweite Stufe der Bildung des Volkes geschieht nicht verbal, sondern optisch, nicht als Kopf-Bildung, sondern als Selbst-Bildung. Ihr Ziel ist es, Handlung zu ermöglichen und nicht durch falsche Weckung menschlicher Begierde, „Handwerksphilosoph"46 werden zu wollen, Handlung zu verhindern. „Lege ihm statt Worte eine Menge Handlungen vor, statt zu lesen, laß ihn sehen, anstatt daß du seinen Kopf när als Methode des Seins konzipiert ist und nicht als Methode des Verstehens für das Objekt der Bildung, das Volk, gedacht ist. Für den Bildungsvorgang selbst fordert Herder nämlich nicht nur Unwissenschaftlichkeit, er legt auch die Wege dazu offen (vgl. u. S. 62 ff. und o. S. 59 f. 39 SW X X X I I , 52. 40 Ebd. 41 Wir gebrauchen in unserem Zusammenhang den Begriff der Ideologie für die zeitgenössische (s.u. S. 71, Anm. 35) „empirisch-pragmatischer Rationalität" (Kimpel, Philosophie, 102), Gewissensautonomie und ökonomischer Freizügigkeit (vgl. a.a.O., 102f.; 103f.) nur partiell geöffnete Bildungstheorie und Wissenschaft, für die formal eine sich selbst genügende Systematik oder auch sprachlose Innerlichkeit und final das Moment der Setzung, Tradierung und Beherrschung eines gesamtgesellschaftlichen Bedarfs konstitutiv ist, der dem tatsächlichen und notwendigen Bedarf der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nicht mehr entspricht und schädlich ist. Von daher versteht sich unser übriger Gebrauch dieses Begriffes an den entsprechenden Stellen aus sich selbst. 42 SW X X X I I , 52 f. 43 A.a.O., 53. 45 Ebd. « Ebd. « Ebd.

62

Herder und das Geistliche Amt

bilden wolltest, so laß ihn sich selbst bilden und bewahre ihn nur, daß er sich nicht m i ß b i l d e t . . . Dein Hauptgesetz sey Freiheit und Unabhängigkeit von sich, zwanglose Bemerkung sein selbst und Unabhängigkeit von dem Urtheil andrer. Alles, was die Philosophen lehren und nicht tun können, thun die, welche der N a t u r am nächsten sind, die einfältigen Landbewohner" 4 7 . An den N o r m e n und Werten dieser Landbewohner ist für den Volkslehrer der zu vermittelnde philosophische Geist seinem Inhalt nach abzuschauen: B e o b a c h tung der Natur, Freisein in der Knechtschaft, Verachtung der Ehre, Selbstgewißheit. D o c h nicht nur dies, die „Weise der Ackerleute" 4 8 ist auch das Ideal, wonach die bisherige „unphilosophische Lebensart" 4 9 zum N u t z e n der Philosophie gestürzt werden muß. Tier und Lebensweise der Ackerleute sind für Herder in der dargestellten stufenweisen Vermittlung Archetypen philosophischer Volksbildung und seiner Philosophiereform. Mit beidem sucht Herder nicht eine nostalgische Flucht aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit in eine ursprünglichere, aber vergangene Zeit, sondern eine praktische Befreiung des Volkes wie der Philosophen zu ihrer völkischen Wirklichkeit zu erreichen. W i e stellt sich Herder dazu die Methoden im einzelnen vor?

C. Volksbildung als Methodenlehre des Volk-Seins Herders philosophisches Volksbildungsprogramm erschöpft sich nicht in revolutionären ideologischen Postulaten, sondern es soll dem V o l k nützen. Deshalb m u ß das Programm praktisch werden können, nur darin k o m m t es zu seinem Ziel. Herder überläßt diese Frage nun weder dem eigenen oder einem fremden Enthusiasmus, noch der mühevollen Arbeit eines anderen Praktikers, sondern stellt sich diese Aufgabe selbst 1 . Exkurs zur Schulorganisation in Weimar Über Herders organisatorische Verwirklichung seines Volksbildungsprogrammes in Weimar - speziell im schulischen Sektor - informiert J. Irmscher, Herder als Pädagoge, 112 ff. Danach umfaßten seine organisatorischen Aktivitäten das Land- und Volksschulwesen mit dem Ziel, sowohl einer besseren Ausbildung wie gesellschaftlichen Anerkennung des Elementarlehrers als auch der Schaffung von kindgemäßen Schulbüchern für den Elementarunterricht und die Schulreform des Weimarer Gymnasiums. Im einzelnen kamen unter mühevoller Arbeit zustande oder blieben im Planstadium stecken: die „Errichtung eines Lehrerseminars . . . am 31. März 1788 . . . mit Herder als Direktor", die Bemühung um „eine materielle Besserstellung der Landlehrer" und

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Ebd.

48

Ebd.

49

Ebd.

1

Vgl. u. S. 174 ff.

Organisation der Volksbildung

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die Beseitigung des „Schulstubenelends", 1787 die Vorlage eines Herderschen „Buchstaben- und Lesebuchs", der Plan weiterer Schulbücher, 1798 der Druck des Herderschen „Katechismus", der „Plan einer Industrieschule", die Schul- und Unterrichtsreform des „Weimarer Gymnasiums, welches gleichfalls dem Ephorus Herder unterstand", 1785/1786. Für letztere forderte Herder, nachdem er „bereits die bestehende Schulordnung dahingehend kommentiert hatte, die Schule müsse ,ein Rüsthaus guter Menschen und Bürger' und ,nicht lateinischer Phrasesjünger werden', . . . den neuen Typus lectionum" (a.a.O., 114): Unterbau (Realschule zur Vermittlung nützlicher Kenntnisse und Wissenschaften) und Oberbau (Eigentliches Gymnasium mit zweckbestimmter Ordnung und Verhältnismäßigkeit der Wissenschaften) mit dem Gesamtziel, aus den höheren Lehranstalten keine „gelehrten Institute, sondern „Seminaria humanitatis" (ebd.) zu machen. Ein weit kritischeres, pessimistischeres und widersprüchlicheres Bild von Herders kultureller Praxis in Weimar zeichnete W . H. Bruford. Nach ihm hinterließ Herder seine Spur in der Geschichte „hauptsächlich durch seine (sc. kulturtheoretischen) Schriften" und konnte, aufgrund seines Amtes, „im Erziehungswesen einige Reformen durchführen" (Bruford, Kultur, 17). Die „Anstalten, die er jahrelang umzuformen hoffte", boten „allen seinen Bemühungen trotz" und räumten „ihm nie mehr als einen sehr beschränkten Wirkungsbereich" (a.a.O., 292) ein. Der Umwelteinfluß Herders sei so auf seine „Predigten, Konfirmandenklassen und ähnliche Gemeindepflichten, ebenso wie seine glückliche Beziehung zu der Herzogin Luise als deren geistlicher Beistand" beschränkt gewesen, was Bruford als rein „persönliche Tätigkeit" (a.a.O., 292f.) mißversteht. „Kirche und Schulen" seien „beinahe unberührt von Herders Gegenwart" (a.a.O., 293) geblieben. Die Aufbesserung der Gehälter von Geistlichen und Schullehrern seien lediglich durch „Notbehelfe" (a.a.O., 295) zustande gekommen. Herder habe sich für seine Konzeption des Landschullehrerseminariums „sehr lange" (ebd.) Zeit gelassen und „keineswegs geschickt" (ebd.) bei deren Durchsetzung sich verhalten. Sein Plan zur Verbesserung der Landschulen sei „äußerst maßvoll" (ebd.) gewesen und verrate die „.aristokratische Grundlage der (sc. ganzen) Weimarer Kultur'" (ebd.). Nur die „vollkommene Kontrolle über die Auswahl von Jungen zur Lehrerausbildung" (ebd.) habe er eigentlich erreicht und eine durch einen engen finanziellen Spielraum (200 Taler jährlich für 6 Kandidaten und 2 Ausbilder) sich schwerlich auszeichnende Reform der Lehrerausbildung während es bei der Dorfschullehrerbesoldung generell „trotz seines Protestes" (ebd.) weiterhin bei einer „kläglichen Bezahlung" (ebd.: „25 oder 50 Taler pro Jahr") blieb. Auch hinsichtlich des Lehrplanes für Landschulen habe Herder „keine Erweiterung" (a.a.O., 296) angeregt. Seine Verdienste lägen auch hier auf dem Schul¿«c¿sektor: „neue, sehr verbesserte kleine Lesefibel" und „Ausgabe von Luthers Katechismus mit Erklärungen" (ebd.). „Stark" (ebd.) hingegen hätte er sich mit dem gymnasialen Lehrplan in Weimar beschäftigt und „Ideen zu dessen Reform" (ebd.) beigetragen. Allerdings wären seine Auffassungen in dieser Frage nur „sehr wenig über J . M. Gesner" (ebd.) hinausgegangen, in dessen Geist auch die Herderschen Schulreden gehalten seien. Dennoch, er „förderte das Weimarer Gymnasium sehr als Stätte der humanen, nicht allein der humanistischen Erziehung" (ebd.). Es lag, nach Bruford, aber mehr am Konsistorium und dem Herzog sowie an dem Rektor und Kollegium des Weimarer Gymnasiums, daß Herders Vorschläge begannen, „bald, einige Wirkung auf die Schule auszuüben" (a.a.O., 297 f.). Bruford möchte auch Herders Erziehungstheorie in ihrer kulturellen Wirkung

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Herder und das Geistliche Amt

reduziert sehen. Sie enthielte „vieles von dauerndem W e r t " (a.a.O., 298), aber noch „die unbewußte Anerkennung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft" (ebd.), sei Vorbereiter der späteren „Verknüpfung von Bildung und Besitz" (ebd.), der „Veräußerlichung des Bildungsbegriffes" (ebd.) sowie einer Anschauung von Bildung als „Anschauung toten Wissens" (a.a.O., 299). Auf die Entwicklung der Jenaer Universität habe „Herder keinen unmittelbaren Einfluß" (ebd.) gehabt, und seine zögernden und im Vergleich mit seinen theoretischen Anschauungen auffallend geringfügigen Änderungen der Gottesdienstform seien „in erster Linie von den Eisenacher Ständen vorgeschlagen" (a.a.O., 300), konkret nur „die Taufhandlung mit ihrer Austreibung böser Geister und die Trauungsliturgie" (ebd.) betreffend und nur durch Parteinahme des Herzogs eingeführt. Brufords Zeichnung gründet nicht auf eigenen Forschungen zur Sache, sondern ist eine Kopie der Kritik Lehmanns (vgl. Bruford, a.a.O., 294; 295; 2 9 7 ; 299), die Bruford als einzige sekundäre Literaturquelle zur Sache heranzieht. Sie ist über diese Einseitigkeit hinaus zudem in sich widersprüchlich. Man kann nicht behaupten, „Kirche und Schulen als öffentliche Institute bestanden beinahe unberührt von Herders Wirksamkeit" (a.a.O., 293) und wenige Zeilen später: Herder gelang es, „einige Wirkung auf die Schule" (a.a.O., 298) zu haben. O d e r : Herders Schulreden seien eigentlich ein Abklatsch des Geistes Gesners (vgl. a.a.O., 296) und: für „die Nachwelt war das wertvollste Ergebnis vielleicht die Reihe von Schulreden, die Herder hielt" (a.a.O., 298). U n d schließlich: Das Wertvolle an Herders Erziehungstheorie sei gerade die „Unterscheidung zwischen Ausbildung von praktischen Fähigkeiten und der Ansammlung von theoretischem Wissen" (a.a.O., 298) und dann doch: „. . . sein System ist durchaus dazu geeignet, die Ansammlung toten Wissens . . . zu fördern" (a.a.O., 299). D i e kulturpolitische Funktion des Geistlichen Amtes schließlich bei Herder verkennt Bruford ideel wie praktisch völlig. Umfassender, genauer und intensiver über Herders kulturelle Bedeutung und Tat als Geistlicher informierte schon I. Braecklein in seiner nur den einen Aspekt von Herders Tätigkeit im Geistlichen Amt, nämlich seiner Tätigkeit im Fürstlichen Oberkonsistorium von Weimar, beleuchtenden Abhandlung. Zwar greift Braecklein aus dieser Tätigkeit Herders nur die „Fragen der Perikopenordnung, des Katechismus, der Liturgie und des Gesangbuches und endlich der Kirchenzucht" (Braecklein, Zur Tätigkeit, 60) heraus, die Behandlung dieser Probleme zeigt aber deutlich Herders zeitund gesellschaftskritische Diskussion dieser Sachverhalte und ihre entsprechende Verwirklichung. V o n dieser Tendenz Herders aus wird uns - anders als es Bruford versucht, der die Ursachen dafür psychologisierend finden möchte und in Herder selbst und seine Persönlichkeit verlagert - die nur zögernde Verwirklichung von Herders Ideen verständlich. U b e r Braecklein hinaus müßten hier aber auch Herders Kirchengebete, Bußtagszettel, Vorreden zu Kommunionsandachten, Abendmahlseingaben, Militärpfarrstellenplanung, Eingriffe in die theoretische und praktische Planung der Ausbildung des Predigernachwuchses und Konfirmandenunterrichtes untersucht werden, was uns infolge der Zerstörung der Konsitorialakten im 2. Weltkrieg Suphans Ausgabe als Rest einer weit umfangreicheren kirchenamtlichen Tätigkeit Herders in Weimar noch erhalten hat. Wie dies alles, sind auch die Examina, die Herder abhielt und die uns noch handschriftlich zugänglich sind, seine Einführungen von Pfarrern, und vieles andere, noch nicht einmal annähernd in dieser Funktion Erkannte, von größter Bedeutung. D e r O r t jedoch, wo Herder am unmittelbarsten in die Gestaltung des öffentlichen Lebens und dies nicht nur in Weimar - eingriff, ist der Gottesdienst, und in diesem seine

Organisation der Volksbildung

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Predigt gewesen. D a ß nach Herders T o d aber durch fürstliche Neueinführung einer Konsistorialordnung die in Weimar eingeführte Herdersche Praxis in Gottesdienst, Unterricht, Liturgie, Kirchenzucht wieder teilweise abgebaut wurde, liegt nicht mehr in Herders Verantwortung. Vgl. auch S. 98 A n m . 70.

Wie kann das Volk optimal zu sich selbst gebildet werden? Welche Wege sind dazu am besten geeignet? Herders Beschäftigung mit diesen Fragen machen deutlich, welchen hervorragenden Stellenwert er der Praxis seines Volksbildungsprogrammes beimißt. Nicht irgendwie, sondern optimal soll seine philosophische Volksbildung dem Volk nützen. Daher ist Herders Reformprogramm nicht nur mit den üblichen hermeneutischen Techniken nicht realisierbar, sondern auf besondere methodische Überlegungen explizit und notwendig angewiesen. Wir wenden uns dieser Methodenlehre Herders zunächst 2 zu und erheben sie am moralischen Bereich des Volksbildungsprogrammes, nämlich der philosophischen Aufgabe, „Wege" 3 zu zeigen, „ihn (sc. den Menschen) ohne Wissenschaft tugendhaft zu machen" 4 , eben einer Methodenlehre für das Sein5. Zur Bildung des Volksseins hält dabei Herder die folgenden Wege als besonders geeignet. 2 Zur Praxis selbst dieses Programmes s.u. z.B. S. 232ff. Das Predigen als methodische Grundstruktur der Herderschen Rede- und Sprachform, deren mediale geschichtsphilosophische Konkretisierung sowie ihr volkssympathetischer Boden sind also bereits in dieser Schrift Herders nicht nur begründet, sondern in dieser Weise als Methodenüberlegung Herders der Sache nach ausgeführt. Gegen Kathan, Herders Literaturkritik, 22, wo A. Kathan das Formproblem bei Herder in dieser Abhandlung nur als solches, also in seinem „daß", ins Auge gefaßt, darüber hinaus inhaltlich nicht „konkret" und dann doch „andeutungsweise" fixiert sieht, um schließlich die Andeutungen Herders abweichend von diesem darzustellen. Kathan kommt daher hier nur zu einem negativen Ergebnis. Herder schließe als philosophische Form aus, was man bis heute von ihm erwartet: „Systematik" (a.a.O., 23). Aber selbst hier muß man in Herders Sinne hinzufügen, daß Systematik ausgeschlossen wird, weil diese Form dem Volk nichts nützt, nicht zum Nutzen der Philosophie, für welche Herder ja gerade nicht arbeiten will (vgl. o. S. 84 Anm. 11). 5 SW X X X I I , 54. < Ebd. 5 Darin, daß sich Herder auch methodisch um die Verwirklichung menschlicher Existenz zum Nutzen des Volkes müht, unterscheidet er sich von der nutzlosen unpolitischen wissenschaftlichen Beschreibung des Seins, wie sie zu seiner Zeit als Ontologie und in der Philosophie des 20. Jahrhunderts als Phänomenologie - speziell von M. Heidegger - vertreten wurde. Eine Interpretation der Begriffe „Humanität", „Geschichte", „Sprache" der „Geschichts- und Sprachphilosophie Herders" vom Standpunkt der Heideggerschen Philosophie aus versucht ohne überzeugenden Erfolg und mit geringem literarhistorischen Verständnis G. Schmidt, Der Begriff. Er möchte schon in Bückeburg Herder als Verfasser einer „Ontologie der Geschichte" (a.a.O, 507) sehen, für den „Geschichte . . . das Sein" und deren Lebendigkeit „nicht in der Zeit, sondern Zeit ist" (a.a.O., 514). Die ganze Widersprüchlichkeit dieser Rezeption offenbart sich aber darin, daß einerseits von Schmidt beschworen wird: „das eine und einzige Grundthema Herders ist der Mensch. Auch war die ganze Tätigkeit Herders ausdrücklich auf den Menschen gerichtet, auf den einzelnen, konkreten Menschen seines Zeitalters" (a.a.O., 499). Andererseits muß Schmidt aber den mit der heideggerschen „Tautologie" (a.a.O., 500) aus seiner Geschichtsbezogenheit herausinterpretierten Begriff der Humanität als „fatal" (a.a.O., 512) bezeichnen und aufgrund seiner Interpretationsschablonen auch für Herders Geschichtsphilosophie und Ethik folgern, daß sie

66

Herder und das Geistliche A m t

I. Die Methode der

Akkommodationen

Grundlage für diese Methode6 ist für Herder die Anerkenntnis von Lebensaltern der Seele als eines psychischen Faktums. Die Seelenkräfte des Menschen unterliegen einer Entwicklung. Und: „Unter allen Verhältnissen der Seele ist die Moralité, die sich am spätesten entwickelt"7. Das hat zur pädagogischen Konsequenz für die Tugendlehre, daß „man ihn (sc. den Menschen) nicht zu früh tugendhaft macht"*. Sonst bleiben nämlich die moralischen Begriffe dem Volk „unverstandene Namen" 9 „und unsre heilige Religion selbst"10 eine Sammlung unverstandener „barbarischer Wörter"11, die eigentlich „nach Orient gehören"12. Außer „durch Akkomodationen"13 haben sie auch für ihre Lehrer und „für uns keinen Verstand"14, so daß sie vermutlich „ihnen (sc. den noch nicht moralisch entwickelten Seelen) als Vorurtheile beigebracht"15 sind. Das aber kommt einer irreparablen seelischen Vergewaltigung des Menschen gleich. „Es gibt wirklich ein Alter ohne Moralité; und in dieses Tugend einpflanzen wollen, ist eine Lage dem Gemüthe eindrücken, die auf immer ihre Falten hält"16. Um dies zu verhindern, muß sich die Tugendlehre aus der frühen Erziehung des Menschen heraushalten, sich als seine spätere Bildungsmöglichkeit verstehen. Dann jedoch so, daß nicht der Mensch durch überkommene Tugendideale einer fremden Zeit verstümmelt wird, sondern diese - auch die heilige Religion - seine sich selbst zur eigenen Moralität entwickelnde Seele akkommodieren kann, damit wirklich von einem dem Volk nützlichen Verstehen von Religion und nicht einem schädlichen, unmenschlichen Nachplappern von fremdartigen Worten geredet werden kann. Tugend und Religion können „nicht auf Vernunft"17, sie müssen vielmehr - wie auch unsere „Empfindungen von Schön-

„aporetisch" (a.a.O., 514ff.) sei. D e r „paränetische" (a.a.O., 514) Zweck der Herderschen Geschichtsphilosophie wird von Schmidt zwar betont oder nach Stadelmann zitiert, auf eine Darstellung desselben wartet der Leser aber vergeblich. Dieser Zweck kann ja bei Herders volkspädagogischer Absicht unmöglich darin bestehen, ontologische Philosophie zu formulieren. Schmidt vermag von seinem akademischen Standpunkt aus nicht überzeugend zu interpretieren, daß Herder „sich polemisch gegen zwei", sich wiederum widersprechende aufklärerische Geschichtsbetrachtungen wendet und sowohl die Auffassung von Geschichte als „sinnloses Chaos noch vernunftmäßiger Fortschritt" (a.a.O, 512) nicht teilt. N u r vom formal-logischen, akademischen Gesichtspunkt aus muß dies eine Aporie sein, funktional löst sich der Widerspruch auf, denn beide Geschichtsbetrachtungen bilden nicht den Menschen. ' Kraus, Herder und das A T , 62 und Willi, Herders Beitrag, 27 haben nicht erkannt, daß es sich bei den Überlegungen Herders zur Akkommodation primär um eine methodische Besinnung Herders zur Wertebildung des Menschen handelt, nicht aber um einen systematischen Terminus seiner Gotteslehre. Vgl. auch o. S. 24. 7 SW X X X I I , 54. 10 Ebd. " Ebd. " Ebd. 8 Ebd. 11 Ebd. 17 Ebd. " Ebd. 12 Ebd. 15 Ebd. ' Ebd.

Die Methode der Akkommodationen

67

heit"18 - auf unsere Empfindung, nämlich „der strengen oder süßen Empfindung"" gepflanzt werden. Die Methode der Akkommodationen in Herders volkspädagogischer Tugendlehre basiert einerseits auf der Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Gegebenheiten der menschlichen Seele wie andererseits dem neuen pädagogischen Leitbild der menschlichen Selbst-Verwirklichung in einer bestimmten Zeit anstelle der Vergewaltigung des Menschen durch einen normativ-akademischen Lehrkodex von gestern. Aber auch hierbei20 ist von Bedeutung das zu bemerken, daß diese Selbst-Verwirklichung des Menschen zur ihm eigenen Moralität keine unvermittelte sein kann, sondern eben an die pädagogische Methode der Akkommodationen und ihre konkreten pädagogischen Vermittlungsformen und praktischen Erziehungswege völkischer Existenz philosophisch gebunden bleibt, wenn sie von Nutzen sein soll. Nur so sind die folgenden weiteren methodischen Überlegungen Herders verständlich, die er der Frage widmet: Wie vollzieht sich dieser Weg im einzelnen?

II. Predigt als 1. Die Methode

des

Volksbildungsmedium

Predigens

Indem Herder sich den einzelnen methodischen Schritten der praktischen Vermittlung von Volksbildung zuwendet, wird deutlich, wie weit sein Programm einer Selbst-Verwirklichung des Volkes als Mensch und Bürger davon entfernt ist, ein allgemeines, politisch-theoretisches Postulat ohne praktischpolitische Konsequenz für die Zeit zu sein. Eine lehrhafte Fremdbestimmung des Volkes ist im Bereich der Tugendlehre nicht bloß postulativ zu überwinden, sondern sie soll vor allem praktisch beseitigt werden. Herders Volksbildungsvorhaben ist insofern keine theoretische Bildungspolitik für den Menschen, sondern die Realisierung einer Befreiung des Volkes als Mensch und Bürger zu seinem eigenen Sein auf dem Wege der praktischen Bildung des Volkes1. Nicht jeder praktische Bildungsweg ist aber dazu an sich schon geeignet. Der Weg, den Herder dafür benennt, lautet: „Wenn man ihm (sc. dem Volk als Mensch und Bürger) nicht die Tugend lehrt, sondern einprägt"2. 18

Ebd.

19

Ebd.

Vgl. auch o. S. 57f. und 59f. Als neue „Grenze" erscheint somit die gemeinsam gesprochene Sprache. 1 Analog zu Herders Begriff einer „subjektiven Sittenlehre" (vgl. u. S. 69 f.) ist die Intention dieser politischen Bemühung Herders ebenfalls eine subjektive: eine Inaugurierung der Selbstbestimmung des Volkes. Politisches Instrument dazu ist für Herder jedoch nicht der Aufruf zu einer - für alle Seiten - schädlichen Volksrevolution, sondern das unnütze Zerstörung verhindernde friedliche und mühevollere Mittel einer reformierten Bildungsarèeif des Volkes. 2 SW X X X I I , 54. 20

68

Herder und das Geistliche Amt

Die Methode der Akkommodationen vollzieht sich nicht als wissenschaftliche Lehre. Tugend muß man einprägen, nicht lehren. An die Stelle unverbindlicher akademisch-ideologischer Bevormundung und neuer Postulate setzt Herder die verbindliche methodisch-erzieherische Zuwendung zum Selbst des Volkes. Und die Form dieser praktischen Vermittlung menschlicher Selbstverwirklichung ist nach Herder die Predigt. Im Predigen kann nämlich der „Lehrer der Tugend"3 das „Gewissen"4 des Menschen erreichen, den Ort des Menschen, der nach Herder letzter Ursprung moralischer Empfindungen ist5, und den die akademische Lehrform nicht erreicht. Zum anderen ist das Predigen der Tugend im Gegensatz zur Tugend-Lehre, die nur an die Adresse des Verstandes des Menschen gerichtet bleibt, dem Menschen deshalb nützlich, weil „ich nicht seinem Verstände sondern seinem Gewissen die Tugend predige, die er versteht"6. Predigt braucht also keinen weiteren Ubersetzer; sie ist dem Volk - in der dargestellten Auffassung Herders - ohne hermeneutische Methode verständlich. In der Vermittlung unmittelbarer, natürlicher Tugend besteht ihr Wesen. Tugend-Predigt ist Naturerweckung, nicht aber Naturvergewaltigung des Menschen. Mit der Predigt der Tugend „helfe ich blos der Natur auf; auf dem Grunde seines (sc. des Menschen) Gewissens schläft schon das ganze Feld etc. ich drücke ihm ein Bild ein, das sich nie verlöscht"7. Wer wirklich „Lehrer der Tugend"8 sein will, muß deshalb ein solcher Philosoph werden, der alle Philosophie zugunsten der Tugend-Predigt ablegt, und ein Prediger werden, der die Natur predigt. Dies ist gerade von den „Lehrern der Religion"9 zu beherzigen. Predigen darf nicht zur Philosophie werden. Denn in der Predigt „eine einfältige Herde in ein Labyrinth voll Distinktionen"10 zu führen ist schädlich. Eine scheue, unwissende, verirrte und verwundete Gemeinde ist die Folge. Vor allem aber erzeugt eine abstrakt-philosophische Vermittlung der Tugend Angst, Verwüstung und Vorurteile besonders bei jungen Seelen. Herder wirft diese Beschädigungen des Volkes den „Lehrer(n) der Religion"11 seiner Zeit vor und fordert von ihnen eine methodische Neuorientierung am Kind oder ganz zu schweigen. „O legt die Methoden ab, werdet Kinder; sonst wäre es besser, ihr hättet geschwiegen"12. Wenn sie dem Volk nützen wollen, müssen sich sowohl der Philosoph als Tugendlehrer der Predigt als Vermittlungsform von Tugend bedienen wie der Lehrer der Religion weniger der Philosophie als philosophischen Geistes in seiner Predigt. „(Die meisten sind zu wenig Weltweisen, als daß sie Andern etc). Du, der du mir in einer halben Stunde eine Menge von unverstandenen moralischen Worten, die aus ihrer Verbindung gerissen sind, die für uns orientalischer Nonsens sind, predigst; SW X X X I I , 55. Ebd. 5 Vgl. o. S. 52 f. ' SW X X X I I , 55. 3

4

Ebd. Ebd. ' Ebd.

7

10

8

11 12

Ebd. Ebd. Ebd.

Predigt als Volksbildungsmedium

69

nimm dir einen Tag Zeit, dich zu erklären, ich wette, du wirst die Zeit wenigstens auf ein Jahr verlängern"13. Die Ausbildung der Tugend des Menschen wird also von Herder methodisch gebunden an die besondere, von einer Lehre zu unterscheidenden Vermittlungsform einer für die Moral des Volkes verständlichen Predigt14. 2. Predigen als subjektive

Sittenlehre

„Subjektiv"'5 nennt Herder die Sittenlehre, die in Predigt vermittelt wird, weil sie auf das Subjekt der Auszubildenden bezogen ist, und zwar so, daß sie sich an deren natürlich-sozialer Verfassung orientiert. Was nach diesem so verfaßten Subjekt als Moral einer geschichtlichen Gemeinschaft gelten soll, ist die Frage, und auf sie bezieht sich der methodische Weg einer Predigt als subjektiver Sittenlehre: „Wenn man ihm (sc. dem Menschen und Bürger, dem Volk) nicht zu strenge Pflichten predigt, nicht fremde Verbindlichkeiten, die ihm sein Herz nicht vorschreibt, seine wahre Pflichten in dem ihm eigenen Lichte vorstellt"16. Auch hierbei geht es Herder zunächst um die Suche nach einer nützlichen Methode17 zur moralischen Selbst-verwirklichung des Menschen und Bürgers in einer bestimmten Zeit. Die dazu nützliche Vermittlungsform Predigt hat besonders zu berücksichtigen, daß Vermittlung von Tugend der Zeit gemäß sein muß. Denn was gestern in einer Gemeinschaft verbindlich galt, gilt heute nicht mehr: „Unsere Zeit ist nicht eine Zeit der Strenge, sondern des Luxus, und was für andere Zeiten gemäß war, ist vielleicht unserer Denkart zuwider: die Zeiten der rauhen Einfalt haben Tugenden und Laster der Stärke, wir Tugenden und Laster der Weichlichkeit"18. In der Predigt also die überlieferten Fehler von gestern anzugreifen ist ganz und gar schädlich für heute, denn die Feinde der eigenen Zeit bleiben so „sicher und versteckt"". Der Prediger hat daher zur Aufgabe, die Moral „aus dem Herzen der Menschen, nicht aus fremden Zeiten"20 zu lernen, wenn seine Predigt dem Volk nützen soll. Diese Methode der Predigt als subjektiver Sittenlehre ist für den Lehrer der Tugend gedacht, der für Herder, wie er sagt, „mein Philosoph"21 l)

Ebd.

" E s fällt auf, daß sich Herder bei diesen Ausführungen in keine explizit theologische Auseinandersetzung verwickeln läßt, w o z u dieser Ansatz Herders gewiß Gelegenheit genug geboten hätte. Das ist nur damit erklärbar, daß Herder überhaupt die ideologische Auseinandersetzung mit Theologie und anderen Wissenschaften vermeidet und lieber deren Nutzen und praktische Wirkung auf das Volk kritisch überprüft. Seine kritischen Stellungnahmen kommen also aus der Praxis als Überlegungen zu den optimalen Wegen eines größtmöglichen Nutzens und geringsten Schadens für das Volk. Natürlich haben die auf diese Weise gefundenen neuen methodischen Wege Herders auch eine theoretische Basis. Diese ist jedoch hier nicht Gegenstand seiner Ausführungen. SW X X X I I , 36 und 58. " A . a . O . , 55. 17 17 Vgl. o. Anm. 14. ,s

SW X X X I I , 55. " A . a . O . , 56. 1!

20 21

Ebd. Ebd.

70

Herder und das Geistliche Amt

ist. Sie soll „Versammlungen des Volks für die Tugend"22 wie ihrem „Prediger"" nützen. Von diesen Predigern verspricht sich Herder den meisten Erfolg und die größte Effektivität. Denn diesen „Philosophen kann man nicht entwischen etc. von ihnen den meisten Nutzen etc. sie müssen aber auch Weltweise seyn"24. Subjektiv soll diese Sittenlehre aber auch insofern sein, als sie nicht nur die Normen einer Männergesellschaft vermittelt, sondern sich auf den ganzen Menschen, als Mann und Frau, bezieht. Predigt geschieht für „Männer und Weiber etc. warum predigen sie denn, wie Mönche, die keine Weiber kennen etc. sie predigen für Leute für den Umgang — warum wie Mönche in einer anderen Sprache etc. warum nicht Tugend etc. o wie viele große Gelegenheiten etc. Beichtstühle etc. Versammlungen etc."25. In der Wahrnehmung dieser weiblichen Seite der Subjektivität des Volkes in gepredigter Sittenlehre sieht Herder einen großen Nutzen für das Volk angelegt. Die Methode der Akkommodationen wird also nicht nur von der Einsicht in die Lebensalter der menschlichen Seele getragen26, sondern offenbar auch von der Einsicht in die Lebensalter und Klassen des Volkes. Wie jene Einsicht sich in ihrer methodischen Verwirklichung als Predigt besonders der Entwicklung des Menschen als Kind, bzw. der kindlichen Subjektivität des Volkes als förderlich erweist, so nützt diese besonders der Entwicklung der weiblichen Subjektivität des Volkes. Alle Pflichten werden in dieser subjektiven Sittenlehre Herders nicht an eine strenge Uberlieferung, sondern an die Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft einer bestimmten Zeit gebunden. Diese Pflichten nennt Herder „wahre Pflichten"27. Und auch hier ist es nicht die Ideologie der Tugenden des deutschen Volkes des 18. Jahrhunderts, die Herder aufgrund dieser Aussage als Wahrheit ausführt, sondern es bleibt die weitere Besinnung auf die Methode, die zum wahren Volk-Sein führt, das, womit er sich weiter beschäftigt. 3. Der Prediger als Patriot Bei der Aufgabe, unwissenschaftliche Wege zu zeigen, die das Volk im politischen Bereich bilden können, befindet sich nach Herder die Philosophie seiner Zeit in einer noch größeren Verlegenheit als im moralischen Bereich der Volksbildung. Hier kann Philosophie eigentlich überhaupt nichts Nützliches leisten. „ Wie die Philosophie zum Besten des Volks als Bürger nützlich seyn Ebd. 25 SW X X X I I , 56. Ebd. 24 Ebd.; vgl. o. S. 35f. 26 Vgl. o. S. 66. 27 SW X X X I I , 55. Das geschichtlich notwendige Bedürfnis eines Volkes ist für Herder offenbar wahrer als die zeitlos gültige abstrakte Pflicht. 22

23

Predigt als Volksbildungsmedium

71

kann: Hier muß die Philosophie Wunder thun etc."28. Denn „der Staat muß von unten verbessert werden; wenn der Weltweise Bürger bildet, wenn sie Menschen sind"29. Diese praktische Erziehung zur Demokratie leistet jedoch die zeitgenössische Philosophie nicht mehr wie beispielsweise noch die Zeit, „da Philosophen Staatsmänner waren"30, die in der Methode politischer Erziehung vorbildlich sein könnte. Der einzuschlagende politische Bildungsweg muß gewährleisten: „Ein jeder Mensch ist frei: und von andern unabhängig"31. Politische Bildung vollzieht sich in der Weise, daß der Bildungsfunktionär selbst ein engagierter Täter dieser Freiheit, ein Patriot32 ist: „Wenn man Bürger bildet, als Patriot. - Dies Feuer geht über, pflanzt sich fort etc."33. Auch in der politischen Erziehung des Volkes stellt Herder damit einen Bildungsweg ohne die Notwendigkeit eines Ubersetzers oder wissenschaftlichen Hermeneuten vor. Sein Bildungsweg ist verständlich und nützlich aus sich selbst34. Zu den dargestellten Wegen unwissenschaftlicher Bildung des Menschen gesellt sich hier eine unwissenschaftliche Bildung dieses Menschen zum Bürger durch einen von Freiheit beseelten und so andere davon begeisternden Patrioten. Philosophie allein vermag nicht zur Freiheit und Handlungen zu begeistern, dazu ist sie zu kalt und handlungsarm35. Nationale Begeisterung und Handlung sind die politisch bildenden Vermittlungsformen. Herder bedauert, daß es noch keinen Ort gibt, w o diese methodisch entwickelt werden könnten. „Republiken"36 wären

28

29 30 A.a.O., 56. Ebd. Ebd. Ebd. Diese Freiheit gilt für Herder sowohl für das Volk wie für den „Monarch(en)" (ebd.). Unzufriedenheit des Volkes in dieser in die Freiheit des andern eingebundenen Freiheit der „Verträge" (ebd.) kann sich Herder nicht denken. 32 33 34 Vgl. o. S. 46. SW XXXII, 56. Vgl. o. S. 68. 35 Nach Dieter Kimpel leidet die Philosophie Chr. Wolffs trotz ihrer unbestrittenen sprachdefinitorischen Leistung (vgl. Kimpel, Frühaufklär. Sprachkritik, 44 ff.) an einem nur notdürftig überbrückten „Hiatus" von Sinneserfahrung und Vernunfterkenntnis" (Kimpel, Philosophie, 106). Insbesondere aber fehlt dieser Philosophie durch die Uberbetonung des „Logicus" gegenüber dem „Ästheticus" (a.a.O., 107 und 114) ein Handlungs- und Freiheitsbegriff. Erst mit Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, ihrer „Aufwertung der Ästhetik gegenüber der Logik" (a.a.O., 107) und ihrer Betonung der „komplementären Bedeutung des konkret Individuellen und Besonderen für die Bildung des ,ganzen Menschen'" (ebd.) zu dem „subsumierenden abstraktiven Begriff" (ebd.), taten sich für die Wissenschaft der Zeit trotz der Gefahr pauschalnegativer „illusionärer Selbstüberhebung" und unverbindlich werdender „Sprachnot" (Kimpel, Philosophie, 119) neue Forschungsräume auf, die den notwendigen Erkenntniszuwachs für Politik und Historie" (a.a.O., 107) einbrachten. Wir gehen nicht fehl, wenn wir hierin die maßgebenden konkreten philosophischen Diskussionspartner Herders vor uns haben, worauf uns hier seine Betonung des Handelns (vgl. auch u. S. 169ff.; 212ff.) und der Freiheit als für den Menschen konstitutive Begriffe und auch sein dem Kalküldenken Wolffs fehlendes ganzheitliches Menschenbild (vgl. u. S. 202 u. ö.) hinweisen. Seine kritische Verehrung für „Baumgartens reiche Psychologie" (Herder-Mieth, 15) bringt Herder dann auch in einem Brief an Kant vom November 1768 unverhohlen zum Ausdruck. Vgl. auch o. S. 59 ff. 34 SW XXXII, 56 u. 57. 31

72

Herder und das Geistliche Amt

dafür an sich die richtige Schule. Denn „Umgang - Erziehung zu früh Bücher - auch Predigten - Familiengeist etc."37 binden oft den Menschen zu früh an Einsicht und fremde Tradition und lassen ihn „kalt"3'. Politische Bildung ist aber ebensowenig wie Herders Tugendlehre eine Angelegenheit auf der Ebene abstrakter Rationalität. Die Handlung ist es, die beim Patrioten den anderen Menschen zum Bürger-Sein anstiftet und anzündet, die „Prediger als Wirthschafter"3' und Ökonomen daher die wahren politischen Philosophen. „In Kriegsschulen Krieger etc. in Handelsstädten Kaufmann etc. in Republiken Bürger etc. Da ist der Umgang nicht zu kalt - Handlungen zünden Handlungen an etc. Hier Philosophen nicht von Handlungen ausgeschlossen, Anmunterung wenn sie mitwirken. - Wenn man Bürger bildet, nicht Vernünftler. - Prediger als Wirthschafter - Philosophen."40

III. Literatur als 1. Literatur und

Volksbildungsmedium

Volksgattungen

Wie dargestellt1 geht Herder bei seinem Volksbildungsvorhaben von zwei Volksgattungen, dem „Frauenzimmer"2 und den „Edleren Mannspersonen"3 aus. Demgemäß erfordert sein Plan - wie schon für den Prediger4, so auch für den Philosophen als Schriftsteller - eine besondere methodische Überlegung für eine unwissenschaftliche literarische Bildung der Frau, die bisher vernachlässigt wurde: „Ein Philosoph denke doch an ihre Erziehung"5. Die Ergänzung der bisher dargestellten unwissenschaftlichen Bildungswege des Volk-Sein durch die Predigt um den weiteren Weg einer unwissenschaftlichen literarischen Bildung6 soll vor allem der Bildung der Frau förderlich sein und darin dem Volk. Herders Begründung dafür: „Frauenzimmer: ist Volk" 7 , ja es „ist am meisten Volk" 8 . Exkurs zur moralischen Evidenz des Gefühls und der Rolle der Frau bei Herder F ü r H e r d e r rückte die Überlegung zu der gegenüber der männlichen Denkstruktur eigenständigen und gleichberechtigen Empfindungsstruktur der Frau durch die v o m Pietismus religionsgeschichtlich vorbereitete (vgl. Kimpel, Frühaufklär. Sprachkritik, 31 ff.) und sich insbesondere durch die „Empfindsamkeit der Gellert-Zeit" (Kimpel, Philosophie, 115) in der Dichtung literalisierende und säkularisierende neue Betonung des Gefühls als eigenständige und evidente moralische Instanz in den Blick. Die pietistischen Einflüsse des Elternhauses von H e r d e r sind ebenso allgemein bekannt wie seine späteren Beziehungen zum Darmstädter Kreis über seine Braut Caroline oder zu

37 38 39 40

A.a.O., 56. Ebd. A.a.O., 57. Ebd.

1 1 5 4

S.o. S. 58 u. 70f. SW X X X I I , 57. A.a.O., 58. S.o. S. 70f.

5 SW X X X I I , 57. ' Vgl. ebd.: „Feineres Volk aus Büchern". 7 Ebd. 8 A.a.O., 37.

73

Literatur als Volksbildungsmedium

Sophie v. La Roche (vgl. zuletzt etwa Arnold, Herder, 6;30f.). Weniger bekannt ist die Intensität, mit der Herder die diese Kreise motivierenden empfindsamen literarkritischen Traditionen rezipierte, die „bereits vor Bodes Sterne-Ubersetzung (Sentimental Yourney - Empfindsame Reise, 1768) bei Richardson und der Gottschedin, aber auch im gesellschaftlichen Umgang der literarisch Gebildeten üblich gewesen sind" (Kimpel, Philosophie, 115). So lasen „Herder und Caroline Flachsland . . . gemeinsam den unsterblichen Richardson', dessen Romane nach einer Anmerkung (sc. SW X V I I I , 208) Herders bis weit in die 70er Jahre ihre goldene Zeit erlebten" (Kimpel, D e r Roman, 95). U n d über die von Samuel Richardson literarisch beeinflußte Sophie v. La Roche schrieb Herder im August 1771 an M e r k : „Alles was Sie mir von der Verfasserin der Sternheim sagen, sind für mich wahre Evangelien" (zit. nach Kimpel, a.a.O., 111). U n d weniger bekannt ist auch der kritische Standpunkt, von dem aus Herder trotz dieser Verehrung diese empfindsame Tradition rezipierte (vgl. u. S. 127 und 215ff.). Das Phänomen der Empfindsamkeit selbst beinhaltete nicht bloß einen neuen literarischen Topos, sondern reifte als Recht zu einer „natürlich integren gefühlsevidenten Moral" (Kimpel, Philosophie, 117) zu dem „gesellschafts-politischen Ordnungsfaktor schlechthin" (a.a.O., 115). Zusammen mit der beschriebenen erkenntniskritischen Betonung des Ästheticus (vgl. o. S. 71, Anm. 35, und S. 59f.) rückt Herder durch seine Teilhabe auch an dieser zeitgenössischen moralkritischen Richtung zusammen mit jener „neuen bürgerlichen" (vgl. Vierhaus, Deutschland, 77ff. und 113ff.) Welt- und Lebensanschauung des 18. Jahrhunderts, die in der Formulierung ihrer an diesen beiden Hauptmomenten orientierten Geschmacksbildung, des sensus communis als Inbegriff ganzheitlicher Anthropologie und Pädagogik, die mögliche Antwort der verfassungsrechtlichen Frage der Zeit nach einer neuen über die gemeinsame Sprache (Wolff) hinausgehenden ständeübergreifenden Lebensform sah (vgl. Kimpel, Der Roman, 5 2 f f . ; Ders., Philosophie, 108; Ders., L. Sterne, 159). D a ß Herder selbst im Typus der Volkskirche diese neue Gesellschaftsform vorabgebildet und auch durch eine volkspädagogische Bemühung umfassend realisierbar ansah, werden wir unten (s.u. S. 180f.) zeigen. Dies unterschied ihn von dem Entwurf dieser „gedanklich kühn konstruierten Gesellschaft" (Kimpel, L. Sterne, 159; vgl. Ders., J . G . Müller, 82) und dem damit dem gebildeten Selbstbewußtsein aufgegebenen Identitätsproblem der Lösung der Spannung zu der „tatsächlich weiterbestehenden Ordnung des absolutistischen Ständestaats" (Kimpel, L. Sterne, 159). So taucht das Reisemotiv als Metapher der Lösung jenes Problems bei Herder auch nur einmal und dies sehr früh auf (vgl. u. S. 168 f.).

Wer für die Frau schreibt, muß auf den „Unterschied zwischen einem gelehrten Mann und Frau" 9 achten. Die literarische Bildung der Frau hat nicht das Ziel, „Philosophinnen"10 zu bilden. Die Frau soll vielmehr „witzig im Denken"11 werden. Weil Frauen weder Mittel, noch Akademien, noch Schulen, noch Umgang, noch Schriften haben, „können (sie) zuerst gebeßert werden"12. Bildungsziele für die Frau als Volks-Typ sind: "lerne nicht auswendig; lerne nichts männliche, fremde: Kriege - Politik etc. lerne Tugend fühlen - sehr leicht - Plan zur Moral für sie — lerne Umgang und Geschmack"". ' A . a . O . , 57.

10

Ebd.

11

Ebd.

12

Ebd.

" Ebd. Im Vergleich zu den bisher dargestellten Bildungszielen des Volkes durch Predigt hat

74

Herder und das Geistliche A m t

Nach Herder sind die „Mittel dazu: beßere Hofmeister; mehr Umgang zwischen beiden; - man muß Frauenzimmern mehr Bücher in die Hände spielen, - Einrichtung der Bücher darnach - die Frauenzimmer-Geschäfte; von Seiten der Mütter - der jungen Männer - im Umgange. Der Weg der literarischen Bildung der Frau führt also über die methodische Berücksichtigung ihrer Subjektivität, ein Ansatz, aus dem Herder für seinen eigenen literarischen Bildungsplan die praktische Forderung nach besonderen unwissenschaftlichen „Frauenzimmerstudien"15 und einer „Frauenzimmer-Aesthetik" 16 aufstellt. Wenn sie nützlich sein soll, muß Literatur also konsequent nach den Volksgattungen modifiziert werden. Die „Bücher" müssen nach der „Frauenzimmer-Geschäfte"17 eingerichtet werden. Im Gegensatz dazu ist die literarische Bildung der „edleren Mannspersonen"18 „am leichtesten zu beßern" 19 , weil sie „dem Philosophen am nächsten"20 sind, dadurch ist diese aber auch ein „sehr gutes Stück des Luxus - Langeweile, Neugierde"21. 2. Literatur als Geschichte der

Menschheit

Das speziell philosophische Defizit in der Literatur ist nach allem Gesagten ein „Plan zur Bildung"22 des ganzen Volkes und besonders des Volksgattungstypes der Frau - die Aufgabe, die Herder sich als literarische Lebensaufgabe gesetzt hat. Herders Rezept dazu lautet: „man nehme aus der Philosophie den Menschen, und wende ihn auf alles Uebrige an"25. Der Mensch ist nicht länger Objekt der Philosophie, sondern er wird zu ihrem Gegenüber und Maß. Er wird der Philosophie als Bildungso¿/e&í entzogen und in eine ihm eigene Würde und Subjektivität freigesetzt. Faktisch bedeutete dieser Herdersche Bildungsplan, daß der Mensch und Bürger dem autoritären Einfluß einer das Volk und besonders die Frau absolutistisch versklavenden Philosophie und Volksbildung entzogen wurde und das Volk zu seiner natürlichen Verfaßtheit in einer bestimmten Zeit als vollem und wahren Lebenssinn befreit wurde. Herders literarischer Bildungsweg dazu ist die Verwirklichung einer praktischen subjektiven Philosophie. Ihre literarische Gestalt ist eine „Geschichte der Menschheit"". War Geschichte bisher eine Geschichte „der Menschen, Politik" 25 , der „Regeln der Menschheit"26 oder ihrer „Werke"27, so ist „der große die literarische Bildung der Frau eine besondere ästhetische Nuance, ohne dabei die politische Situation der Frau zu kompensieren. Ebd. Ebd. " A . a . O . , 37 und 57. 17 A . a . O . , 57. 18 A . a . O . , 58. 14

15

17

19 20 21 22

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

2J

24 24 25 26

Ebd. E b d . ; vgl. auch SW IV, 379f. S W X X X I I , 58. Ebd.

Ebd. So verstand der rationalistische Aufklärer Isaak Iselin Geschichtsschreibung. Die eigene

Literatur als Volksbildungsmedium

75

Schauplatz" 28 und der „Kern" 29 dieser neuen Herderschen Geschichtsschreibung „die Psychologie" 30 und nach außen eine Geschichte „der Nat. (sc. -ionen) selbst" 31 . Exkurs zum Verhältnis Herders

zu W. v.

Humboldt

Die Bildungsprogramme Humboldts und Herders sind zu unterscheiden. Humboldts Absicht ist, „die Aufsuchung der Geseze der Entwikklung der menschlichen Kräfte auf Erden" (v. Humboldt/Heinemann, Philosophische Anthropologie, 8) in der Geschichte, nicht der „Reihen der Begebenheiten, sondern der physischen, intellektuellen, und moralischen Kräfte der, durch den gegenseitigen Einfluß dieser Kräfte miteinander verbundenen Generationen" (a.a.O., 9). Die politische Absicht seines Unterfangens unterstreicht v. Humboldt so, daß er damit „vorzüglich demjenigen, der auf andre, vielleicht auf ganze Nationen wirken will, unendlich wichtig sein" (a.a.O., 11) möchte. Humboldt erhebt aber mit seiner „vergleichenden Anthropologie" und „Theorie der Menschenkenntnis" Herders - von ihm explizit nicht genannte - Ideen zum Rang einer von Herder nicht beabsichtigten philosophischen Wissenschaft. Damit nimmt er ihnen einerseits ihren volkspädagogischen Zweck. Andererseits öffnet er damit einer vor allem geschäftlichen und politischen Manipulation des Menschen durch die Herrschenden Tür und Tor. Humboldt sieht zwar die Gefahr des Mißbrauches seiner vergleichenden Anthropologie. Sie ist „grossen Misbräuchen ausgesetzt. Sie lehrt den Gesetzgeber, die Eigenthümlichkeit zu benutzen, um die Nation dadurch leichter zu lenken und zu beherrschen. Aber wie leicht führt dieser bloss politische Gesichtspunkt, ohne die höheren moralischen, in die Gefahr, auch offenbare Schwächen und Blossen absichtlich zu unterhalten" (a.a.O., 16; vgl. a.a.O., 23ff.). Er kann diesen Mißbrauch jedoch nicht überzeugend ausschließen, ja er ermuntert gerade dazu Geschäftemacher und Politiker: „Die vergleichende Anthropologie ist daher zu einem doppelten Zweck und zu einem doppelten Geschäfte nützlich . . . Sie dient dem Geschäftsmann, der den Menschen benutzen und beherrschen will, und zugleich dem Erzieher und Philosophen, der ihn zu bessern und zu bilden bemüht ist" (a.a.O., 18; vgl. a.a.O., 11). Ein solch Zwielichter ideologischer Wasserträgerdienst für den gesellschaftlichen und politischen status quo am Ende des 18. Jahrhunderts war mit Herders Geschichtsphilosophie grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. u. S. 180 f.). Die Dissoziierung der Herderschen Gedankenwelt und der Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts von W . v. Humboldt aus, wie sie F. Heinemann konstruiert hat (vgl. a.a.O., S. X X V I I ) , lehnen wir daher als historisch und politisch unbedacht ab. Aus demselben Grunde teilen wir auch nicht W. Dobbeks Interpretation, der ebenso

Zeit wird von ihm als „Summe und ,Quintessenz aller Zeiten und Völker'" (Kimpel, Philosophie, 118) aus dem lebendigen Geschichtsprozeß abstrahiert und isoliert. Ohne dem Geschichtspessimismus Rousseaus (vgl. auch u. S. 76, Anm. 34, und o. S. 51 f.) zu verfallen, formuliert Herder demgegenüber mit der Metapher (vgl. u. S. 124, Anm. 18) von Geschichte als Kette der zu einem organischen Wachstum sich entwickelnden und zusammenschließenden verschiedenen Kräfte sein historisches Geschichtsverständnis, bestimmt dies inhaltlich als Geschichte der Haushaltung Gottes auf Erden (vgl. u. S. 117ff.) und legt damit sein bildungspolitisches Grundsatz- und gesellschaftpolitisches Therapieprogramm offen. 71

SW X X X I I , 58.

» Ebd.

29

Ebd.

" Ebd.

76

Herder und das Geistliche Amt

Herder als Vorläufer Humboldts verstehen möchte (vgl. Dobbek, J. G. Herders Weltbild, 203). Aus anderen, traditionsgeschichtlichen Gründen hat U . Cillien die These vom „Neuhumanismus Humboldtscher Prägung als Vollendung des von Herder Gemeinten" (U. Cillien, J . G. Herder, 13) zurückgewiesen. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß „im Humanismus und im Christentum" (a.a.O., 155) die beiden Ahnen von Herders Denken liegen und Herders Humanitätsdenken sich durch „.praktische' Intention seines Wollens", das „rechte Maß" bzw. „,die Mitte'" als zentrale Kategorie menschlichen Handelns sowie die Auffassung, daß „menschliches Dasein begrenzt und bedingt" (a.a.O., 14) sei, vor Humboldts Persönlichkeitspflege auszeichne. H i e r b e i g e h t es u m die D a r s t e l l u n g der „Verschiedenheit G e m ü t h e r e t c . , der M e i n u n g e n u n d der G e s c h m ä c k e ,

der L e i b e r u n d der der

Empfindungen

e t c . " 3 2 u n d d a n n - in z w e i t e r Linie - u m die „ W e r k e der M e n s c h h e i t " 3 3 u n d das A u f z e i g e n der „ F r ü c h t e hievon, die er als M e n s c h h a t " 3 4 . V o n diesem A n s a t z aus ergibt sich für M o r a l , Religion, L o g i k u n d Politik als Globalziel literaris c h e r B i l d u n g die B e r ü c k s i c h t i g u n g u n d A u s b i l d u n g der Subjektivität des n a t ü r l i c h - g e s c h i c h t l i c h verfaßten M e n s c h e n u n d B ü r g e r s , o b als „subjektiver Sittenlehre" 3 5 , als E n t w u r f der L o g i k als „ G e s c h i c h t e d e r G e l e h r s a m k e i t aus dem

Menschen"36

als d e m

„Kern

der p h i l o s o p h .

Historie"37

o d e r in

der

V e r f a s s u n g „so ein(es) B u c h ( e s ) wie M o n t e s q u i e u " 3 8 in der Politik. E b e n diese vielfältige literarische V e r w i r k l i c h u n g in A c h t u n g u n d z u m N u t z e n der Subjektivität des V o l k e s m e i n t H e r d e r , w e n n er unter d e r F r a g e n a c h d e r N ü t z lichkeit d e r P h i l o s o p h i e n a c h e i n e m n e u e n Bildungsp/dra fragt u n d die R e d u k tion „der

Philosophie

auf

Anthropologie"3'

f o r d e r t u n d a u c h literarisch als

Schriftsteller praktiziert. 33 Ebd. Ebd. Ebd. Es geht Herder also schon hier weder um Geschichtsskeptizismus noch um Geschichtspositivismus, sondern eben um „Philosophie", d.i. eine vernünftige, den Menschen nützliche Bemühung um die Geschichte zur Entdeckung und pädagogischen Entwicklung ihrer - sich für Herder in der Person Jesu in ihrer höchsten Erscheinungsform menschlicher Identität offenbarenden (vgl. u. S. 146 ff.) - Humanität als der wahren Bestimmung des menschlichen Geschlechtes. M.a.W.: Herders Geschichtsphilosophie selbst ist ein kritischer Gegenentwurf zu dem bloß akademischen, politisch befangenen, abstrakten, situations- und zwecklosen unmenschlichen Aufzählen oder Kramen in der Geschichte - sei es in den Formen des positivistischen Historismus oder in den vielen Formen des historischen Skeptizismus. Herders philosophischer Umgang mit der Geschichte ist ihm dazu nützlich, die Bildung des Menschen zu sich selbst und seinen alltäglichen persönlichen und sozialen Anforderungen und Rechten zu legitimieren (vgl. u. S. 190ff.). Als Beispiel dieser Praxis vgl. u. S. 117ff., Herders geschichtsphilosophische PredigerBildung. 35 SW X X X I I , 58. Vgl. o. S. 69. 37 Ebd. 36 SW X X X I I , 59. 38 Ebd. 39 Ebd. Vgl. F. Knorr, Das Problem, womit der Verfasser für die damaligen Herderauffassungen ungewöhnlich eine grundsätzliche und durchgehende Konsequenz (vgl. a.a.O., 18 f.) im Herderschen Denken nachweisen möchte und diese - abgeleitet an dem sich bei Herder durchgehend gleich gestalteten Erkenntnisproblem - in Herders Verständnis der Philosophie als „primär philosophische Anthropologie" (a.a.O., 143) gegeben sieht. Herder sei „aus der Problematik des 32

34

Literatur als Volksbildungsmedium

77

Reduktion besagt nicht Verkürzung philosophischer Literatur, sondern Konzentration oder, wie Herder selbst sagt, „Einziehung"40 auf ihren Mittelpunkt: den zu bildenden Menschen und Bürger in seiner männlichen und vor allem weiblichen Subjektivität. Auch bei diesem philosophischen Bildungsplan einer literarischen Geschichte der Menschheit ist die größte Bedingung, unwissenschaftlich zu bleiben41 und „den Lehrer zu verbergen, und alle Eindrücke zu nichts weniger als Arbeiten zu machen"42. Aber auch auf der „zu Bildenden Seite" gehören zu diesem Bildungsplan „eben so glückliche Umstände von der Eltern und der zu Bildenden Seite; viel Erfahrenheit und Geschmack und Menschenliebe des Lehrers: kurz, eine Philosophie, die die feinste ist, weil sie dem feinsten Theil des Volks nützlich zu werden sucht"43. Um diese Philosophie praktisch zu realisieren, ist aber nicht nötig, daß Frauen Philosophen werden. Vielmehr ist „eine Unterhaltung gegen dies schöne Geschlecht, die ihre feinsten Ideen herauslockt und zeigt"44 als literarischer Bildungsweg angezeigt. Denn nur so wird die Weltweisheit wirklich reicher an „einem so schätzbaren Theile, der Känntniß des Schönen Volks"45 und damit erst fähig, der Ausbildung der Subjektivität der Frau gerecht zu werden: „Bildung für den Menschen, den Mann, die Gesellschaft und die Kinder!"46 3. Stil und

Volksgeschmack

Die Verfeinerung des Volksgeschmackes zu dessen Nutzen bedingt einen neuen Stil philosophischer Literatur. Denn Geschmacksbildung besteht nicht in der Vermittlung philosophischer Geschmacksideale und deren Annahme durch das Volk, sondern in der Ausbildung des Volks-Geschmackes. Dazu braucht das Volk „außer den Circensischen Spielen noch Philosophen"47. Allerdings müssen diese zur Geschmacksbildung notwendigen Philosophen den Ansprüchen des Volkes gerecht werden. Dies geschieht dadurch, „daß Lebens selbst und d.h. eben des Menschen und nicht von der Wissenschaft her zur Philosophie vorgestoßen", ja er habe „das Problem der Wissenschaft überhaupt von dieser tieferen Fragestellung aus neu aufgeworfen" (a.a.O., 158). So bemerkenswert dieser Ansatz ist, der unverdientermaßen in der philosophischen Herderforschung völlig ohne Auswirkung blieb, bleibt doch auch er noch auf halbem Wege stehen. Herder philosophiert nicht für die Philosophie, sondern zum Nutzen des Menschen und des Volkes (vgl. o. S. 48, Anm. 11). M . a . W . : Es fehlt bei Knorr die durchgehende Besinnung Herders über die Anwendung und Funktion seiner Philosophie, also die Überlegung zu ihrer Rückkoppelung und ihrem Rückweg in die konkrete Problematik des menschlich-politischen Lebens als Volkspädagogik. Nichts lag Herder ferner als eine akademische Anthropologie. Falsch daher K n o r r : „Die Philosophie als Anthropologie würde dann gleichsam die letzte und höchste Stufe der Erkenntnis im Dienste dieser Humanität sein" (a.a.O., 150). Eben diese Stufe war Herders Predigt und Unterricht. 40 41 42 43 44

SW X X X I I , 59. Vgl. o. S. 65. Gegen Harth, Ästhetik, 139. SW X X X I I , 59. « Ebd. Ebd. « Ebd. Ebd.

Ebd.

78

Herder und das Geistliche A m t

sich ihre (sc. dieser Philosophen) Schriften nach ihrer Zeit und Denkart richten" 48 . Wer sich es zur „Grundregel" 4 ' macht: „dies Buch muß nicht für die Einwohner der Gelehrsamkeit, sondern auch für seine Anwohner geschrieben seyn"50, für den „wird's eine Pflicht, jeden Zugang zum Geschmack des Volks zu bemerken" 51 . Der Bemühung um eine unwissenschaftliche Methode der Volksbildung im Bereich der Rede entspricht also im Bereich literarischer Volksbildung die methodische52 - nur so kann Herders Wort der „Pflicht" hier interpretiert werden - Bemühung um einen unwissenschaftlichen volks-gemäßen Stil. Methodisches Vorbild - Vorbild dieses Wie - ist für Herder dazu die älteste „Zeit der Griechischen und Römischen Republik" 53 , in der „die Sprache des Schriftstellers und des gemeinen Volks einerley"54 war. Selbst „der göttliche Homer redete Worte, die zu seiner Zeit Prose waren, . . ., oder das Volk seiner Zeit sprach Poesie, wie sie Jeder νοιδος sang"55. Für seine Zeit hält Herder freilich die Tatsache für etwas „ P a r a d o x e s . . . : die Poesie ist im gemeinen Leben älter als Prose" 56 . Aber nur durch sie ist erklärbar, wieso „die ersten Schriftsteller Poeten, die ersten νομοί Lieder und die älteste Religionen Mythologien sind, die alle die Sprache des sinnlichen Volks reden"57. Gleichwohl kann diese Zeit nicht mehr inhaltliches Vorbild eines volksgemäßen Stiles für die Zeit Herders sein. Denn diese älteste Volkssprache ist „eine für uns so unbegreifliche Sprache, als es unserm Auge dunkel seyn würde, ihre Bilderschrift zu verstehen, oder unserem Ohr, ihre Musik zu erdulden" 58 . Die weitere Geschichte der Sprache zeigt, wie die Sprache des Schriftstellers und die Volkssprache zum Schaden für das Volk und die Literatur auseinandergetreten sind. Zunächst wurde „in den Zeiten der feineren Bildung . . . aus Poesie Prose, . . . des Styls nach dem neuen plebejen Geschmack" 59 . Die stufenweise Trennung von Poesie und Prosa führte schließlich dazu, daß sie „zu den Zeiten des Augusts völlig auseinandergingen, und die Prose allein blieb des Volks"60 eine Entwicklung, in der Herder nicht nur für das Volk einen Schaden sah, sondern auch die Ursache dafür, daß die spätere griechische und römische Literatur der Tragödien und Komödien nicht mehr so gut war. Für die Literatur seiner eigenen Zeit trifft Herder schließlich die Feststellung: „Wir haben schon seit undenklicher Zeit das Publikum verloren: das Volk der Bürger und das Volk der Gelehrsamkeit" 61 . Zwar gibt es trotz der unzähligen „Ueberschwemmungen und Umbildungen . . ., die uns das Wort Volk entris48

49 50 51 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. o. S. 38. Herders Stil im Wesen seiner Persönlichkeit begründet zu sehen oder von ihrer Struktur aus erklären zu wollen, ist demnach verfehlt. Gegen Redeker, Herder, 236 und Stephan, Herder 1, 2126. 55 SW X X X I I , 60. 54 st 58 60 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 55 57 59 61 Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. 52

79

Literatur als Volksbildungsmedium

sen haben" 6 2 , literarische Versuche der „Herablassung . . .

zu unserm P a r -

t e r r e " " in Gestalt zeitgenössischer K o m ö d i e n und bürgerlicher T r a g ö d i e n . D e n n o c h offenbaren auch diese Versuche nur, „wie sehr wenig wir an d e m Pathos

des alten Volks Theil nehmen" 6 4 . Diese Fähigkeit ist nun aber „für die

Philosophen" 6 5 gänzlich „ausgestorben . . ., sobald diese einen eigenen A m e i senhaufen haben errichten müssen, und sobald die U n t e r s c h e i d u n g galt: daß die intellektualistische W e l t der H i m m e l , die Republik des Volks E r d e sei; gleichsam zwei Seiten einer und derselben M ü n z e ~ " 6 6 . U n e i n g e s c h r ä n k t e Sympathie mit dem Volk, nicht technische Herablassung auf seine E b e n e , zeichnet also diesen literarischen Versuch der Geschmacksbildung des Volkes aus und gewährleistet seine erforderliche aus sich selbst verständliche Unwissenschaftlichkeit. Exkurs zum Verhältnis von Christologie und Volksliteratur bei

Herder

Das Motiv, das diese für Herder charakteristische Neuorientierung der Literatur am Volk trägt, ist weder ein kunsttheoretisches noch platte Neuerungs- oder profilneurotische Publikumssucht, sondern ein theologisches, genau, ein Motiv der Christologie: „In alle den Gleichnißen (sc. Christi) also, der einfältigen und so hohen Moral, der Knechtsgestalt bis auf Ausdrücke, Accent und Wahl der Worte: nicht ein blosses, leeres unbestimmtes Herablaßen zu den Menschen, ich weiß nicht woher und aus welcher Wolkenhöhe? finde ich darinn: sondern treues Theilnehmen auch an den Schwachheiten der Menschlichen Natur! brüderliches, wahres ganzes Empfinden und Mitempfinden, Versuchtwerden allenthalben gleich wie wir - das zeigt von Anfang bis zu Ende darinn die Schrift" (SW VII, 199). Vgl. u. S. 154. Diesen sympathetischen Charakter von Herders Stil und Stilauffassung erkennen weder nach seinem Motiv noch in der Sache: W. Dietze, J. G. Herder, 9; These 16, wenn er von Herders „Ideal eines Volksschriftstellers" oder seiner „Volksverbundenheit" (a.a.O., 6 u. 11) spricht; R. Große, Zur Stellung Herders, 78 mit seiner idealistischen sprachgeschichtlichen Einordnung und Auffassung von Herders Ideen zur „Volkstümlichkeit" der Poesie; W. Fleischer, Zu Herders Auffassung, 91, der

Ebd. " E b d . H e r d e r spielt hier auf Gottscheds schon fortschrittliche Bestimmung der „guten Schreibart" in dessen Ausführlicher Redekunst als „genus medium" zwischen hochtrabendschwülstiger wie „gar zu niedriger oder niederträchtiger Schreibart" (zit. nach Kimpel, Philosophie, 112) an, deren Abgrenzung nach „unten" er offensichtlich aber in ihrer gesellschaftspolitischen Integrationsfähigkeit nicht für zukunftsweisend hält. Viel näher schon k o m m t Herder im folgenden mit seinem sympathetischen Verständnis des Volksschriftstellers J o h a n n Elias Schlegel und G o t t h o l d Ephraim Lessings Briefwechsel mit Mendelsohn und Nicolai und dessen Zuspitzung des dramatischen Schaffens auf den „empfindsam mitleidenden Menschen" (Kimpel, a.a.O., 114). Gegenüber diesen bleibt seine Tradition expliziter als christliche sichtbar (vgl. den folg. Exkurs und S. 82, A n m . 8) und durch den Begriff des Volkes, das noch um 1800 in abhängigen Verhältnissen v o m Grundherren in einer nicht bedarfsdeckenden Landwirtschaft beschäftigt war und als solches „ 8 0 % der Gesamtbevölkerung" (Kimpel, Philosophie, 103; vgl. u. S. 180, A n m . 12) ausmachte, illusionsloser an die bedrängende gesellschaftspolitische Frage gebunden. Vgl. auch u. S. 2 3 8 , A n m . 63. 62

M

S W X X X I I , 60f.

« A . a . O . , 61.

«

Ebd.

80

Herder und das Geistliche Amt

lediglich Herders Auffassung von der „Sprache ,als Organ gesellschaftlicher Thätigkeit'" als Theorem und „wiederholte Reflexion" (a.a.O., 90) zitiert. Gemeinsam ist allen diesen Fehldeutungen weiter nicht nur das ideologische Gestell, über das Herder gespannt wird, sondern vor allem die Herder gar nicht gemäße Abstellung in die Ecke eines „Theoretikers" (Fleischer, a.a.O., 91; auch Große, a.a.O., 77) der Sprache und Würdigung seiner Bedeutung, die Herder „nicht auf Grund dieser unmittelbaren Bemühungen und Bestrebungen in der kommunikativen Praxis seiner Zeit" (Große, a.a.O., 77) habe und auch bei seiner „progressiven" Sprachí¿eon'e letztlich in einem objektiv-idealistischen (vgl. Dietze, a.a.O., 10; These 17 und Fleischer, a.a.O., 84 u. 92 Anm. 11) Standpunkt befangen bleibe. H . D . Irmscher sieht eine sich von der „Selbstbehauptung zur ,Theilnehmung und Theilgebung'" (H. D . Irmscher, Herder, 132; Irmscher zitiert hier Herder nach SW X V I , 43) verändernde Auffassung von Sprache und Literatur bei Herder erst für Herders späte - das von Irmscher angeführte Zitat Herders stammt aus 1791 Weimarer Zeit sich abzeichnen und sich, wenngleich für Irmscher religiös verfremdet, doch für Herder als Phänomen mit positivem Charakter darstellen. Angesichts unserer Beobachtungen von Herders sympathetischer Auffassung von Sprache und Literatur wie seiner so gearteten literarischen und rhetorischen Praxis bereits für die Jahre 1763-1765, können wir weder der These Irmscher von einem Bruch in Herders diesbezüglichen Auffassungen zustimmen noch die Bedeutung der Religion für diesen verantwortlich machen. Vielmehr macht gerade Herders sympathetischer, praktischtheologischer Standort die Kontinuität in seinem Denken wie in seinem Handeln aus (vgl. O.S. 33, Anm. 100 u. 107). Die formale Klassifizierung Irmschers, daß Herders Humanitätsbegriff die Haltung der „,theilnehmenden Empfindung'" (H. D . Irmscher zitiert hier Herder nach SW X V I I , 5) meint, können wir also nur ausgedehnt auf den ganzen Herder teilen. Ihre inhaltliche Bestimmung fassen wir aber, wie eben und u. S. 146 ff. dargestellt, anders als Irmscher. Synonym zu Sympathie gebraucht Herder auch Friedfertigkeit, Verstehensbereitschaft, Selbstlosigkeit, Erbarmen (vgl. SW X X I X , 142 f.). U . Cillien ordnet diese Worte richtig in die „christlich-humanistische Tradition des Abendlandes" (Cillien, J . G . Herder, 194) ein, wobei für Herder selbst freilich Christentum und Humanismus keine Alternative noch eine unkritische Synthese bildeten, sondern die beiden auseinandergetretenen Pole der für ihn in der Person und Tat Jesu noch einheitlich vorabgebildeten Humanität, der seine ganze Aufmerksamkeit als Handelnder, Redender, Schreibender und Denkender gilt (vgl. u. S. 146 ff.), ausmachten. Zu abstrakt formuliert H . Dinkel den Gegensatz Goethe/Schiller und Herder/ Wieland als „Autonomie oder Zweckgebundenheit der Dichtung" (Dinkel, Herder, 98ff.), und Literatur im „Dienst des politischen Tagesinteresses" (a.a.O., 114) ist für Herder auch nicht erst ab 1789 die poetische Aufgabe. N a c h einem Zitat von H . Dinkel, Herder, 104 versteht sich auch Wieland als „schriftstellerischer Volkslehrer".

Mit menschlich-politischer Anteilnahme beseelt ist der neue literarische Volks-Stil Herders. Und sie ist der Anlaß dafür, daß Herder die kopernikanische Wende für die Philosophie einläutet: „Alle Philosophie, die des Volks seyn soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen" 67 . In dieser mit dem " Ebd.

Literatur als Volksbildungsmedium

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Volk fühlenden und ihm praktisch nützenden Wende der Philosophie, die für Herder keiner kleineren Veränderung des philosophischen Gesichtspunktes als der „wie aus dem Ptolomäischen das Kopernikanische System ward" 68 gleichkommt, sieht Herder den fruchtbaren Inhalt seiner philosophischen Anthropologie vorgezeichnet: „welche neue fruchtbare Entwickelungen müssen sich hier nicht zeigen, wenn unsere ganze Philosophie Anthropologie wird" 69 . 70

" Ebd. " Ebd. 70 Daß es sich bei dem unter Herders Leitfrage nach dem Nutzen der Philosophie von uns aufgedeckten politisch-menschlichen Horizont der Herderschen Philosophie und ihrer Formulierung als praktische Philosophie zur Bildung des Volkes um den Gesamthorizont, Thema und Ziel des Herderschen Werkes handelt, hätten wir ebenso wie an der oben von uns analysierten Schrift Herders an zahlreichen anderen Schriften Herders aus verschiedenen Epochen seines Schaffens beweisen können. Seine Schriften „Journal meiner Reise im Jahr 1769" (SW IV, 343 ff.), „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", 1774 (SW V, 475ff.). „Ursachen des gesunknen Geschmacks bei den verschiednen Völkern, da er geblühet", 1775 (SW V 595ff.), „Uebers Erkennen und Empfinden in der Menschlichen Seele", 1774 (SW VIII, 236ff.), „Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten", 1778 (SW VIII, 334 ff.), „Dissertation sur l'influence des Sciences sur le Gouvernement et du Gouvernement sur les Sciences", 1780 (SW I X , 307ff.), sprechen dieses Grundanliegen Herders ebenso explizit an wie die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", 1784ff. (SW X I I I , 1 ff.), die „Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands", 1788 (SW X V I , 600ff.), die „Briefe zu Beförderung der Humanität", 1793ff. (SW X V I I , Iff.), die „Christliche Schriften", 1794ff. (SW X I X , Iff.), und „Adrastea", 1801 ff. (SW X X I I I , 17ff.). Ein Vergleich dieser Schriften mit dem von uns oben aufgedeckten Gesichtspunkt und Thema des Herderschen Werkes wäre einer weiteren systematischen Bemühung wert. Im Zusammenhang unserer Arbeit führte sie jedoch zu weit vom Thema ab und - nur kurz gestreift - fehlte ihr u. E. die für die Forschung wichtigere und stärkere analytische Beweiskraft der Aussagen, die wir in unserer Darstellung bevorzugen. Wir wenden uns daher ohne diese Umwege unserer weiteren Untersuchung zu. Unsere Untersuchung hat bisher den Nachweis der sehr frühen und in dieser frühen Form schon umfassenden Anlage wie Ausführung des oben inhaltlich näher dargestellten praktischen Herderschen Volksbildungsprogrammes erbracht. Vor allem aber konnte gezeigt werden, daß Herder sein Programm der subjektiven Bildung des Volkes methodisch durch eine zur Unwissenschaftlichkeit (vgl. o. S. 59 f.) hin reformierte Redeform, die Predigt, und eine ebenso unwissenschaftliche Volks-Literatur realisierbar hält. Weiter, daß in dieser methodischen Reform eine Staats- und Philosophiereform auf pädagogischem Wege verankert ist. Bildung des Volkes geschieht über die methodische Bemühung um das der Subjektivität des Volkes gemäße Medium einer aus sich selbst verständlichen Predigt und Literatur, der Sprache für das Volk. Was bedeutet dieser Gesichtspunkt Herders für das Verständnis des Geistlichen Amtes?

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Herder und das Geistliche Amt

2. T E I L : V O M N U T Z E N DES G E I S T L I C H E N A M T E S

Wie die Frage nach dem Nutzen der Philosophie 1 ist auch Herders Besinnung auf den Nutzen des Geistlichen Amtes thematisch für seine Zeit nichts Außergewöhnliches. So hat beispielsweise auch Spalding 2 1772 eine Abhandlung über dieses Thema vorgelegt mit dem Ziel einer geistreichen Würdigung des Predigtamtes im Rahmen des politisch Opportunen der Zeit. Herder beurteilt diesen Versuch des Aufklärungstheologen vor allem hinsichtlich seiner praktischen Wirkung 3 , nämlich, die „Civilpriester - des Jahrhunderts" 4 bzw. die „Civilpriesterei unserer Zeit" 5 zu unterstützen, als verfehlt. Der eigentliche Gewinn seiner eigenen Behandlung dieser Frage liegt für die Zeit aber nicht in der wissenschaftlichen Bedeutung seiner Kritik für eine akademische Theologie, sondern in dem damit verbundenen eigenen Entwurf Herders über Situation, Wesen und Aufgabe des Geistlichen Amtes als eines politisch wachen und dem Volk verantwortlichen Standes zum Nutzen derer, die als Prediger in diesem Stand praktizieren. „An Prediger" 6 erscheinen daher 1774 von Herder „Fünfzehn Provinzialblätter" 7 . Schon dieser Titel ist ein Signal. Nicht sachlich, wissenschaftlich formuliert Herder sein Anliegen - wie dies in der sachlich-spekulativ formulierten Spaldingschen Arbeit zum Thema geschieht. Herder adressiert persönlich, und als Prediger amtierende Geistliche sind sein Gegenüber. Nicht in Kapitel und Paragraphen verschlüsselt er seine Mitteilung, sondern einfache, in sich abgeschlossene, lesbare Blätter zur praktischen Anwendung legt er vor - aus dem Geistlichen Amt für das Geistliche Amt zugeschnitten 8 . Vgl. o. S. 43 ff. Johann Joachim Spalding, Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, 1772 Berlin bei Chr. Fr. Voß, 2. Auflage 1773. Über Spalding's Predigt selbst einiges - vom Standpunkt einer grundsätzlichen Voreingenommenheit für die aufklärerische Predigt als Paradigma für heutige Theologie und Predigtpraxis aus bei Schütz, Die Kanzel, 143 u. 150 ff. 5 Vgl. o. S. 45. 1 SW VII, 295. 6 SW VII, 225. 5 SW VII, 227. 7 Ebd. 8 Herders stilistisches Vorbild dazu stammt aus der Geschichte und Gegenwart der Kirche: „Also auch wir hier auf die ebne, vollständigere Bahn der Schriften der Apostel! Welch ein Wink für Uns, m. Br., daß Niemand von ihnen Zeit hatte, etwas Anders als Liebesbriefe zu schreiben, für ihre Gemeinen. Und der gelehrte Paulus, der auch des Pbarisäismus kundig war, und sich zu den Füßen Gamaliels im Disputieren geübt hatte! und der liebreiche Johannes, der auch ein großer Menschenfreund war, und doch keine Apologie für die Seligkeit der Grönlander, Ritter Bayards und Hottentotten zu schreiben dachte! Die einfältigen, nur engbornirten Männer!" (SW VII, 210). Oder SW VII, 295, wo Herder diesen Stil als „Predigt eines einfältigen Landhirten" beschreibt. Nicht von ungefähr nennt daher Herder aber auch viele seiner anderen literarischen Versuche einfach „Briefe", ob „das Studium der Theologie betreffend" (SW X, 1), „an Theophron" (SW XI, 155) oder auch „zu Beförderung der Humanität" (SW XVII, 1). Der Sitz im Leben des Herderschen literarischen Werkes wie seiner Schreibart ist das Geistliche Amt. Vgl. o. S. 37. 1

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Die Frage nach dem Nutzen des Geistlichen Amtes

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Dieser Versuch Herders ist also für seine Zeit ungewöhnlich und neu: hinsichtlich seines empirischen Standpunktes und Zieles nämlich wie - damit zusammenhängend - hinsichtlich der Praktikabilität seines Schreibens zum Nutzen des Geistlichen Amtes, dem Motiv wie Charakter auch seiner Kritik. Inhaltlich besteht der neue Standpunkt Herders in der Tatsache einer uneingeschränkten Berücksichtigung der Wirklichkeit des Geistlichen Amtes. Das Geistliche Amt wird in seiner ganzen, praktischen Wirkung auf das Volk ernst genommen, und Herders Überlegungen dienen wiederum dazu, den realen Inhabern des Geistlichen Amtes bei ihren notwendigen Aufgaben im Volk wirkungsvoll zu nützen. Seine Erfahrungen als Hauptprediger, Superintendent und Konsistorialrat in Bückeburg sind Herder die wesentliche Voraussetzung seiner literarischen Blätter. Zum anderen sind Motiv und Charakter seiner Schreibweise für die Zeit neu. Konnten wir oben' schon zeigen, wie wenig Herder sein Schreiben als literarisches Kunstwerk zu eigenem Ruhm oder als wortreiche theoretische Nichtigkeit verstanden wissen wollte, so vernehmen wir nun Grund und Absicht bei aller Kritik. „Mit keinem Manne in der Welt mag ich über den Gesichtspunkt zanken, aus dem Er zu seiner Ruhe und nach seinem Gewißen sein Amt beäuget: und noch weniger über den Ton und die Art zanken, mit der ers Andern anpreiset. Wenn aber offenbar das Resultat dessen, was er also anpreiset, seinen Mitbrüdern, das brüchichste unvollständigste Ding von der Welt würde! Alle unwesentliche Absichten, so fern sie nur dem Jahrhunderte nach ins Auge fallen können, hervorgestrichen, alle wesentlichen Mängel, Pflichten, verdorbne Säfte, geheime tödtliche Krankheiten übergangen, als ob von dem allen nichts in der Welt wäre - geschweige denn nun seinen am geheimsten und innigsten leidenden Brüdern daher die kleinste Arznei, die vielleicht ersehnteste Linderungsprobe - ,ist doch noch Alles so gut in der Welt, wie es ist!' - Ich glaube, so hat doch jedweder ohn Eifersucht nach Pharisäerruhm und Priestergerechtigkeit nicht blos Befugniß sondern Pflicht, auf die Mängel! auf die Verkehrungen des Gesichtspunktes! auf das Nutzbare Oberst zu Unterst und Unterst zu Oberst, zu weisen, mit Herzlichkeit zu weisen, ohne sich im geringsten gegen den Verfasser, als Mensch! als eine sonst würdige Person! böses bewust zu werden! Nicht von Person, sondern von Amt: Nicht von Autorkunstwerk, sondern Buchsinhalt, Sache! ist hier allein die Rede!" 10 Darüber hinaus hat diese literarische F o r m der „dialogischen Argumentationstechnik" (Kimpel, Frühaufklär. Sprachkritik, 47) als neue Sprachform, in der zeitgenössischen Empfindsamkeit (vgl. o. S. 72f.) begründet, breiten Einzug bei ihren Vertretern (Geliert, Klopstock, Wieland) gefunden (vgl. u. S. 106, Anm. 52). R . - R . Wuthenow bezeichnet dieses auch von Herder verwandte und den Leser ins Mitdenken einbeziehende literarische Genus als den hervorragenden Vorläufer des Essays, das in Deutschland eine bemerkenswert späte und noch im 19. Jahrhundert fremdkörperartige Entwicklung in der deutschen Literatur genommen habe (vgl. Wuthenow, Literaturkritik, 134 f.). Vgl. auch o. S. 79, Anm. 63. ' Vgl. o. S. 46. 10 SW VII, 191 f.

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Herder und das Geistliche Amt

Mißachtung oder Verkehrung der ganzen Wirklichkeit des Geistlichen Amtes, der Situation seiner Inhaber und flache Anpassung des Amtes zu dessen Schaden an den Zeitgeist des Jahrhunderts waren also bei aller persönlichen und menschlichen Anerkennung Spaldings die Gründe, die Herder nicht distanziert kühl, sondern mit Leidenschaft11, und mit „Herzlichkeit"12, wie er hier sagt, - als Ursache dafür aufzeigt, daß Spaldings Arbeit im Resultat für die Praxis des Geistlichen Amtes nutzlos bleiben mußte. Diese Einstellung Herders hat sich in der für ihn charakteristischen Verbindung einer mit Leidenschaft vorgetragenen Sachkritik der Arbeit Spaldings zum Geistlichen Amt bei einer gleichzeitig überzeugenden persönlichen Anerkennung und Würdigung auch in der Endredaktion seiner Provinzialblätter durchgehalten und noch deutlicher manifestiert. Gerade um dieser seiner Einstellung willen und eines diese „mißdeutenden oder gar mißbrauchenden Theils der Leser wegen"13 schreibt Herder zu dieser Endredaktion ein besonderes Vorwort und führt aus: „Wenn hier vor manchen Blättern Stellen aus einem bekannten Buche angeführt werden: so müste es nur Ein des Buchs und der viel verbreiteten neuern Theologischen Litteratur Unkundiger seyn, der diese Stellen anders als Gelegenheiten ansehe, über gewiße ähnliche Materien weiter hineinzugehen und zu forschen. Man kann uneinig in Meinungen seyn, und doch die Denkart eines Mannes, selbst mit dem, was uns Mangel oder Irrthum dünkt, sehr ehren, und vielleicht als Mensch sich gar die Denkart mit allen Fehlern wünschen! Vergiß also Personen, Leser, und suche Wahrheit!"14 Nicht als „Autorsache, Kunstmeisterwerk"'\ sondern als eine „Behandlung einer Wahrheit für Menschen und zu Leitung seiner Mitbrüder aus und vor dem Lichte Gottes""' möchte Herder also seine Provinzialblätter gemessen wissen ebenso wie er selbst andere an diesem Maßstab praktischer theologischer Wahrheit mißt. Herder hat offenbar befürchtet, daß schon seine eigene Zeit diese Spannung zwischen herzhafter Kritik in der Sache zum praktischen Nutzen des Geistlichen Amtes bei persönlicher Anerkennung des kritisierten Verfassers nicht verstehen und aushalten könnte. Diese Befürchtung Herders ist eingetroffen. Deshalb hat er sich sehr bald nach dem Erscheinen der Blätter um eine neue Ausgabe Gedanken gemacht: „,ganz anders in Ansehen und Wirkung;' samt den anstößigen Motto's sollte alles getilgt werden, was als persönliche Polemik " Vgl. o. S. 79f. Der Nachahmung nicht wert ist für Herder der Kritiker, der so an „Menschen! Brüder! ohne die bittersten Thränen des Mitleids, ja gar ohne Hohnlächeln und Freude schreiben könnte als etwa der schwache, höfliche, Politische Hume" (SW VII, 286). Empfindungslose Kritik ist für Herder unmenschliche und nutzlose Literatur. 12 SW VII, 192. 13 SW VII, 227. u Ebd.; vgl. SW VII, 246, Anm. 1. 15 SW VII, 260, Anm. 2. 16 Ebd.; vgl. SW VII, 273, Anm. 1.

Die Frage nach dem Nutzen des Geistlichen Amtes

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gegen Spalding"17 hätte mißverstanden werden können. Wenngleich es zu dieser Ausgabe nie gekommen ist, unterstreichen diese Überlegungen doch sehr deutlich Herders ursprüngliche Absicht, nicht die Person Spaldings zum Gegenstand seiner Überlegungen zu machen, sondern das Geistliche Amt. Es ist daher kein nebensächliches Mißverständnis der Intention Herders gewesen, sondern ein grober Fehler der Forschung, die Provinzialblätter Herders dennoch bis heute immer wieder und immer beharrlicher als eine für Herder peinliche und abträgliche persönliche Kampfschrift gegen den verdienten Spalding herauszustreichen 18 , als das, was die Blätter selbst wollen und worauf auch die übrigen äußeren Belege hinweisen zur Kenntnis zu nehmen: nämlich als Beitrag mit praktischem Nutzen für das Geistliche Amt". Exkurs zur Auslegungsgeschichte

von Herders

„Provinzialbliittern"

D i e Auslegungsgeschichte von Herders „Provinzialblättern" ist im übrigen eine Geschichte der persönlichen Verleumdungen des Autors und der Mißverständnisse dieser Schrift als persönliche Polemik gegen Spalding. Auch ein so umfassender Herderkenner wie R. H a y m hat diese Fehlinterpretation verstärkt (vgl. H a y m , Herder I, 615ff. = H a y m Ν I, 649ff.). Falsch auch: H . Zeller, Grundlegung, 165 Anm. 1. Als „Angriff" auf Spalding mißversteht auch Bruford, Kultur, 183 Herders „Provinzialblätter". Es gibt darüber hinaus und abgesehen von den unmittelbaren persönlichen brieflichen Reaktionen und Rezensionen (vgl. z . B . Frankfurter gelehrte Anzeigen, 1774, 536ff. oder Allgemeine deutsche Bibliothek 1775, 2, 346, die Herder die „geistigen Fähigkeiten und den sittlichen Charakter" - Zitat nach Werner, Herder, 130 absprach), die das Erscheinen der „Provinzialblätter" hervorrief, bis heute lediglich im Bereich der Literaturgeschichte den einen besonneneren Beitrag zu ihrer Würdigung aus der Feder v o n E. N a u m a n n ausgangs des vorigen Jahrhunderts. Naumann war 1884

17 Nach Suphan, SW VII, XV finden sich diese Überlegungen Herders in einem Brief an Hartknoch vom 25. Sept. 1777 wie in einem - nach Haym, Herder I, 619 (= Haym Ν I, 653) undatierten, vermutlich „noch aus Pyrmont" erlassenen - Schreiben Herders an Spalding. " Vgl. o. S. 13. " B. Suphan urteilt richtig über das Verhältnis der Blätter zu Spalding, wenn er betont, daß Spaldings Buch über die Nutzbarkeit des Predigtamtes für Herder lediglich den „äußern Anlaß" (SW VII, X) bot. Gleichwohl ist seine Interpretation der Provinzialblätter als persönliche Bekenntnisschrift (vgl. a.a.O., IX) bzw. Empfehlungsschrift Herders für eine angetragene Professur in Göttingen (vgl. a.a.O., VII) zu sehr von äußeren, biographischen Beobachtungen getragen als daß sie die oben dargestellte werksimmanente Grundtendenz der Schrift in ihrer ganzen praktischen Bedeutung für das Geistliche Amt, Kirche und Volk hätte erkennen und zum Ausdruck bringen können. Suphans Unsicherheit in der Interpretation der Provinzialblätter spricht beispielsweise daraus, daß er die von seinen Freunden „wie Zimmermann" (a.a.O., XIX) und übrigens auch von E. Naumann, Herders Provinzialblätter, 345 ff. - als Selbstporträt Herders fehl interpretierte (vgl. u. S. 103, Anm. 39, u. 169, Anm. 74) Stelle der Provinzialblätter SW VII, 282ff. zwar selbst als eine „höchst merkwürdige Stelle" (a.a.O., XIX) empfindet, ihr aber dennoch - wenngleich mit halbem Herzen - auch selbst weiter die gleiche falsche Bedeutung beimißt, indem er ihr eine „unverkürzte Wiedergabe" (a.a.O., XVIIIf.) der früheren Fassung beigibt, die wie er meint, die „individuellen Züge noch weniger zu bergen vermag" (a.a.O., XIX).

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Herder und das Geistliche Amt

bemüht darum, der „polemischen Tendenz" (Naumann, Herders Provinzialblätter, 333) der Schrift neben Spalding einen weiteren, bis dahin unbekannten Gegner zu liefern: Friedrich den Großen (vgl. ebd.). Er versuchte, Herders Schrift in den interessanten Zusammenhang einzuordnen, „wie sich die Litteratur zu Friedrich dem Großen verhielt" (a.a.O., 342), jedoch nicht, ohne der Herderschen Schrift durch stilistische Infragestellung und der Hypothese einer späteren Bekehrung Herders gegenüber dem König (vgl. a.a.O., 331 u. 348f.) die Spitze zu nehmen, was weniger historisch begründet und wohl nur Naumann's eigener politischer Klugheit zuzuschreiben ist. Auch Naumann übergeht einige einfache Beobachtungen: 1. Herders Provinzialblätter sind weder gegen Spalding noch „gegen den König gerichtet" (a.a.O., 341), sondern für und „An Prediger" (SW VII, 225) geschrieben. Ihre therapeutische Funktion (vgl. u. S. 117ff.) bleibt Naumann ganz fremd. 2. Friedrich der Große ist nach unserer Auffassung für Herder nur Typ und Modell einer ihm ungleich näheren Front gewesen (vgl. u. S. 109, Anm. 18). 3. Wenn man beides bedenkt, so erscheinen Herders Provinzialblätter in einem ganz neuen Licht und Zusammenhang, nämlich im Kontext kirchlicher Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung im ausgehenden 18. Jahrhundert, hier in der Form schriftstellerischer Tätigkeit und des Inhaltes a) Stabilisierung des Geistlichen Amtes als einer Widerstandsformation (Therapie; vgl. u. S. 117ff.), b) Methodisierung ihres Widerstands- und Veränderungsprogrammes (Religiöse Bildung; vgl. u. S. 198ff.), c) Konzentrierung der sich ideologisch oder persönlich in der Kirche zerstreitenden Positionen auf die gemeinsame, dem Volk nützliche Aufgabe (Funktionalisierung der theologischen und kirchlichen Aufgabe; vgl. u. S. 174ff.). Wir verstehen den Stil der Provinzialblätter aus diesem ihrem Sitz im Leben. Wir bezeichnen ihn daher nicht als „gereizt" oder „formlos", sondern als optimale Form sympathetischer und agitativer Schreibweise (zur agitativen Redeweise der Predigt vgl. u. S. 232 ff.) unter den herrschenden Verhältnissen einer unausgesprochenen oder ausgesprochenen Zensur und ihrer Folgen. Die wenigen übrigen theologischen Bezugnahmen auf diese Schrift Herders sind unzureichend. A. Werner bezeichnet sie 1871 u.a. als „Büß- und Strafpredigt" (Werner, Herder, 130) für die Geistlichen, der Aufsatz von Tiebe-Wiegand 1902 verhandelt sie als Apologie und „Schutzschrift für das Predigtamt" (Tiebe-Wiegand, Herders zwölf Provinzialblätter, 345) und schließlich klammert sie F. W. Kantzenbach 1976 mit zwei ungenügenden Zeilen in ihrer Bedeutung für Herder als Theologen ganz aus (vgl. Kantzenbach, Herders Briefe, 26). Wenn Herder sich in den Blättern direkt mit Spaldings Arbeit zum Geistlichen A m t auseinandersetzt, dann also nicht um der Person Spalding oder gar seiner eigenen Person willen, sondern - neben der methodischen Absicht des besseren Verstehens seines Anliegens und dessen Anwendung - offenbar darum, weil er in ihr die typische Einstellung zum Geistlichen A m t wie sie auch in seiner Zeit umfassend praktiziert wurde, literarisch kristallisiert sieht.

Die Frage nach dem Nutzen des Geistlichen Amtes Exkurs zur pädagogischen

Struktur

von Herders kritischem

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Stil

H e r d e r spart f ü r philosophische Sachverhalte keinen besonderen Stil aus. Die Darstellungsweise ist vielmehr f ü r ihn grundsätzlich an die Frage geknüpft, wie Sachverhalte dem Leser so vermittelbar sind, daß das Beschriebene auch dem Lesenden ohne philosophische Vor- oder Verbildung nützt und diesem zu einem eigenen, kritischen Standpunkt verhilft. Von da aus werden Sachverhalte von H e r d e r mit Vorliebe typisiert. Diese typisierend vorgehende Darstellungsweise eines praktisch-theologischen Problems beobachten wir auch an Herders Schrift „Vom U r s p r u n g der Sprache". Äußerlicher Anlaß f ü r H e r d e r waren dort die Sprachideen des praktischen Theologen und Konsistorialrates J. P. Süßmilch und die in dessen Gedanken repräsentierte spekulative Sprachauffassung, insbesondere in ihrer Auswirkung auf Süßmilchs damit begründete Unterrichtstheorie, die Herders praktisch-theologisch orientierte „menschliche" Sprachauffassung der Sache nach überwand. Falsch daher E. Ruprecht, der dies nicht erkennt und - wie schon G . Schmidt, Der Begriff, 517 - unter Aufgreifen eines Begriffes von H . A. Salmony, Die Philosophie, 55, wonach „die Polemik generell" (Ruprecht, Vernunft, 60) Herders Methode sei, Herders frühen Stil als „polemisierend" (a.a.O., 61) klassifiziert. Falsch auch W. Bahner, der diesen praktisch-theologischen Kontext von Herders Sprachauffassung ebenfalls übersieht und - hinsichtlich des Gegners modifiziert, in Süßmilch nur den Strohmann Condillacs sehend - von einer „direkten Polemik" (Bahner, Z u m ideologischen Kontext, 95) der Herderschen Sprachabhandlung in dieser Richtung spricht. Mit der Einordnung auch dieser Schrift Herders als Polemik kann es aber nicht weit her sein. D e n n , wie neuere Forscher feststellten (vgl. Aarsleff, T h e Tradition, 141 ff. und Schottlaender, Die verkannte Lehre, 163), hat H e r d e r Condillacs Ideen nur teilweise zur Kenntnis genommen und diesen auch nur ungenau zitiert. Wäre es H e r d e r wirklich auf Polemik angekommen, hätte er sich diese Ungenauigkeiten in der Sache und F o r m nicht erlauben können. O . Baumgarten betont schon Ende des 19. Jahrhunderts im Anschluß an H a y m den „pädagogischen Grundzug seines Wesens" (Baumgarten, Herder's Anlage, 11) und postuliert, „ihn selbst in dem Stil" (ebd.) Herders nachweisen zu können. So sieht er im P h ä n o m e n „der immer neuen Umgießungen seiner H a u p t w e r k e " (ebd.) nicht H e r d e r s Ringen um „sachliche Verbesserungen" (ebd.) wirksam, sondern die pädagogische Absicht, „dem Standpunkt des Lesers" (ebd.) entgegenzukommen. Baumgartens D e d u k t i o n der Predigttätigkeit H e r d e r s aus einer „pädagogischen Anlage" (a.a.O., 12f.) wie einer „spezifisch religiösen Anlage" (a.a.O., 25) ist heute weniger interessant. U n t e r falscher A n w e n d u n g beobachtet richtig Eisner, Revolutionäre Humanität, 80 das P h ä n o m e n , daß die mehrfachen Umarbeitungen vieler Herderscher Werke eine generelle Tendenz sichtbar machen, nämlich die Entfernung der „unmittelbaren Anspielungen auf seine Zeit". H e r d e r s Motive dafür sind bei Eisner nicht richtig getroffen und auf ängstliche utilitaristische Überlegungen reduziert. H e r d e r s Typologie m u ß m . E . als A n w e n d u n g seines pädagogischen Prinzipes der Anschauung (vgl. u. S. 237) im Bereich der literarischen Nationalbildung gesehen werden. D e r Prediger H e r d e r spricht aus Herders Bemerkung im Reisejournal, ein Volksbildungsbuch müsse bei „lebendigen Beispielen, Gewohnheiten, Erziehung" ansetzen und „bei dem Schattenbilde trockner Gesetze" (SW IV, 466) enden. Vgl. auch S. 37f., S. 103, A n m . 39, S. 233, A n m . 3, u. S. 233, A n m . 4.

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Herder und das Geistliche Amt

Nicht Spalding, das „Spaldingsch(e)"20 seiner Zeit ist sein Gegenüber in Verständnis und Praxis des Geistlichen Amtes. Was wir darunter zu verstehen haben, beschreibt Herder 1773 in einem Brief an Lavater wie ein Motto zu seiner Arbeit so: „Ihr Spalding ärgert mich von Tag zu Tag mehr. Seine zweite Auflage des ,Predigers' - kein Wort, was ein Prediger vor Gott und Menschen sein soll, alles nur, was er in den Staaten Sr. glorwürdigsten Majestät, des Königs von Preußen, höchstpriviligiertermaßen sein darf und sein möchte, um doch auch so etwas zu sein."21 Politisch naiver Opportunismus von Theologie und Kirche wie deren unpolitischer Subjektivismus sind für Herder also jenes jenseitige, gleichermaßen wirkungslose Getto, aus dem er das Geistliche Amt herausführen möchte zu einem wachen Uberlegen und Tun dessen, was nicht vor dem König oder den eigenen Wünschen, wohl aber „vor Gott und Menschen"22 wirklich für das Volk notwendig ist. Was heißt das nun im einzelnen?

1. Abschnitt:

Erfahrung und Geschichte

Wenn Herder sich der Wirklichkeit - auch der Wirklichkeit des Geistlichen Amtes - zuwendet und ihre Wirksamkeit bedenkt, so geschieht dies in einer für seine Zeit bei allem vergleichbaren Kontext doch ungewöhnlichen historischen Denkweise. Wirklichkeit begegnet Herder nicht in der Struktur des bloßen Daseins oder der Vorfindlichkeit23, sondern immer und überall in der Struktur des Gewordenen, Gewirkten, Geschaffenen: als eine Sache der Tat, im wahrsten Sinne des Wortes also als Tat-sache. 20

„An Lavater Ende 73; nochmals 5. Nov. 74 Aus Herders Nachlaß 2, 83.117" (Zitiert nach Suphan, SW VII, VII f.). Vgl. auch Br 11, 29, einen Brief an Mendelsohn vermutlich vom April 1769, wonach es eine ganze Schule der „Spaldingianer" gab, die Herder den „Pythagoräern und Platoniker" der Zeit nebenordnete. Nicht gegen „Buch und Bücher", sondern „gegen Sinn der Zeit, Geist des Jahrhunderts" (ebd.) will Herder selbst seine Blätter geschrieben wissen. Daß Spalding nur Typus einer breiten Formation aufklärerischer Predigt war, kann man auch - indirekt - aus Schütz, Die Kanzel, 137ff. entnehmen. 21 Br 50, 149. Vgl. auch SW VII, 191, wo Herder bei der spaldingschen Bestimmung der Nutzbarkeit des Predigtamtes als eines Amtes, in dem eine „,bürgerlich unschädliche Religion und Tugend'" (ebd.) gelehrt werden solle „kein Wort" (ebd.) zu den Fragen findet, „was Prediger denn recht als Boten Gottes! der Religion und Tugend, thun sollen? nicht blos so leidlich unter den Flügeln des Staats auch mitkriechend, thun mögen ? was sie nun eben zu unserer Zeit, und keiner andern thun sollen, und insonderheit alsdenn, wenn ihr lieber leidlicher Tugendvortrag und Unterricht nichts verfängt, und so gut ist, als ob er nicht da wäre? wo denn nun die Wurzlen solches Allunterdrückenden, Luftwegschnappenden Uebels liegen mögen? und wie sich ein Prediger çun über und gegen sie weislich und treulich zu betragen? wie, wo er nicht ausrotten könne, er sich zu betragen habe, um zu hemmen, zu unterdrücken? Wie mit andern gemeinschaftlich?" (ebd.). 22 Br 50, 149. 25 Vgl. o. S. 65, Anm. 5, und 60, Anm, 38.

Herders Wirklichkeitsbegriff

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N u r in der Transzendierung der Wirklichkeit auf die in ihr ans Licht tretenden göttlichen und menschlichen Kräfte ist der besondere Nerv der Herderschen Existenz begründet, über das Handeln des Menschen und dessen N u t z e n mit Leidenschaft nachzudenken. Wirklichkeit als nur Vorfindliches ist nicht zum Guten und Schlechten beeinflußbar, allenfalls phänomenologisch beschreibbar und politisch indifferent oder willkürlich verwendbar. W o h l aber ist Wirklichkeit, wenn gestaltet, dann auch zum Schaden und N u t z e n gestaltbar. Es liegt an der inneren Struktur ihres Gewirktseins, daß sie empfänglich ist - so und so - für die Tat und das Werden. Bei aller kritischen Bewunderung Spinozas, war es ja gerade dessen unpolitische Seinslehre, die Herder mit dieser seiner eigenen theologischen Wirklichkeitserfassung hinter sich ließ. „Spinoza hat keinen Begriff vom Werden, vom Nichtgewordensein, Entstehen und Nichtentstandensein . . . Sein ist bei ihm das Erste und Letzte . . . Sein System bauet sich im höchsten Verstände a priori" 2 4 , schrieb Herder am 6. J u n i 1785 an Jacobi. U n d schon am 6. 2. 1784 kann man in einem Brief an denselben Jacobi lesen: „Ich würde also auch mein System nie Spinozismus nennen; denn die Samenkörner davon liegen in den ältesten aller aufgeklärten Nationen beinah reiner, nur er (sc. Spinoza) ist der erste, der das H e r z hatte, es nach unserer Weise in ein System zu kombinieren, und dabei das Unglück hatte, gerade die spitzesten Seiten und Winkel herauszukehren, wodurch er's bei Juden, Christen und Heiden dekreditierte." 2 5 Exkurs zur Diskussion um den Spinozismus bei Herder Herders kritisches Verhältnis zu Spinoza wird von Adler (Adler, Pantheismus, 79) vereinfacht und verkannt. Herder hat auch nicht erst während des Spinozastreites worauf Adler baut - den orthodoxen Begriff des extramundanen Gottes bestritten, sondern bereits 1769 in einem Brief an Mendelsohn die Funktion einer darauf abzielenden Gedankenführung im Bereich der theologischen Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele politisch in Frage gestellt: „aber das / ist / ein unrechter Gesichtspunkt zu leben, damit man die Welt vollkommner verlasse als man sie betrat. Wir betraten sie, um hier vollkommner zu werden, zuzunehmen und abzunehmen, zu lernen und anzuwenden und immer uns und die Welt zu genießen; das war Absicht der Natur" (Br 11, 31). Vor allem aber war die Herder mit Spinoza teilende Vorstellung von der Anwesenheit Gottes „zu, in und durch alle Geschöpfe" (Br 95, 242) für ihn selbst nie eine ketzerische oder gar - wie Adler auffaßt - atheistische Einstellung, sondern immer dem Gehalt nach Ausdruck rechter Theologie. Am 20. 12. 1784 schrieb er an Jacobi: „Du genießest also Gott nur immer nach Deinem innersten Selbst, und so ist er als Quelle und Wurzel des geistigsten, ewigen Daseins unveränderlich und unaustilgbar in Dir. Dies ist die Lehre Christus' und Moses', aller Apostel, Weisen und Propheten, nur nach verschiedenen Zeiten und nach dem Maß der Tiefe von der Erkenntnis und Genußkraft eines jeden anders gesaget" (Br 95, 242). W. F. Kantzenbach behauptet für Herder aufgrund von dessen Schrift „Gott" erst

* Br 461, Anm. 3 zu Br 89.

25

Br 89, 227.

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Herder und das Geistliche Amt

f ü r 1787 das „durchaus kritische Gespräch Herders mit Spinoza" (Kantzenbach, Herders Briefe, 23). Die Belege dazu im einzelnen fehlen uns jedoch ebenso wie die vorgängigen Motive Herders zu dieser Kritik. Auf den Unterschied zwischen Pantheismus und Herders Gottesanschauung sowie der Theologie nicht als Feind, sondern als H ö h e p u n k t der Philosophie in Herders Verständnis, machte schon kurz der Philosoph F. Knorr, Das Problem, 122 A n m . 224 aufmerksam. H . Timm ordnet Herder und Goethe als „Weimarer Theologie des organischen Lebens" (Timm, Gott, 275) unter dem weiteren Überbegriff eines „christlichen Spinozismus" (a.a.O, 226) historisch in eine Epoche der „Spinozarenaissance" ein. Für H e r d e r gibt es, wie wir soeben zeigten, allenfalls eine spinozistische Variante des biblischen und kirchlichen Gottesglaubens. Timm's Begrifflichkeit verschleiert darüber hinaus aber auch das kritische Verhältnis Herders zu Goethe (vgl. z.B. u. S. 168f. und S. 248). U n d schließlich kann es mit Herders Spinozismus auch für Timm selbst nicht so weit her sein, da, wie er im Ergebnis selbst feststellt, Spinoza von Herder lediglich seiner Funktion wegen rezipiert wurde: „Spinoza hatte die Immanentisierung der christlichen Teleologie vollzogen, um die Sittlichkeit von allen Zweckerwägungen zu befreien. Bei den Weimarern versieht der spekulative Pantheismus die gleiche Funktion" (a.a.O., 335). Die gesellschaftliche Komponente dieser Funktion bleibt zudem bei Timm unentdeckt. Zur Spinozarezeption Herders suggeriert auch Altwicker, Spinoza, 39f., daß Herder „den G o t t Spinozas . . . gleichsam getauft und den Theologen zur Selbstkritik ihres Gottes Verständnisses anempfohlen" hat. Letzteres ist richtig, der Taufe aber bedurfte es nicht, da Spinoza für Herder kein Heide, sondern theologischer Mitstreiter war. Diese Einsicht Herders wurde bislang übersehen, so daß Spinozas Ideen immer wieder und bis heute geradezu als Lieferant und Pate aller Formen ideologischer und insbesondere marxistischer Religionskritik fungierten. Vgl. besonders H . Lindner, Das Problem, Buhr/Irrlitz, die außer in Fichte und Hegel in Herders „naturalistischer (pantheistischmaterialistischer) Geschichtsphilosophie" den dialektischen Materialismus von Marx „vorgedacht" (Buhr/Irrlitz, Der Anspruch, 198; vgl. auch Förster, Geschichtsphilosophie, 30) sehen, sowie den Sammelband „Texte zur Geschichte des Spinozismus". Dies geht soweit, daß H . Lindner umgekehrt seine Arbeit unter der - wohl nicht ganz unberechtigten - Befürchtung verfaßte, jede Ausmerzung des Spinozimus aus der Weltanschauung Herders und Goethes sei eigentlich auf eine „Ausmerzung des Materialismus" (Lindner, Das Problem, 16) in deren Weltanschauung durch die von Lindner so genannte „bürgerliche .Forschung'" (ebd.) angelegt. Diese Befürchtung führt bei Lindner zu einer Uberreaktion und trägt in seine Arbeit sowohl eine unnötige prospinozistische Vorentscheidung seines Problems ein wie ein völliges Vorbeigehen an der Frage der im Spinozismus zur Debatte stehenden gesellschaftlichen Funktion der Religion bzw. Theologie (vgl. a.a.O., 96ff.), was seinem interessanten Versuch, die Aufnahme des Spinozismus durch Goethe und Herder aus den gesellschaftlichen Ursachen der Zeit zu begründen, zweifellos geschadet hat. Lindners Vorgehen ist insofern inkonsequent als auch er zugeben muß, daß die Formel „Spinozismus = Atheismus" (a.a.O., 173) von Herder mit „recht" (ebd.) umgestoßen wurde und bei Spinoza der „erste und letzte Gedanke . . . in der Tat G o t t " (ebd.) sei. Daß damit aber von Spinoza und Herder nur eine Korrektur des „feudaltheologischen Weltbildes" (ebd.) gemeint sein soll, belegt ja nicht einen atheistischen „antitheologischen und

Herders Wirklichkeitsbegriff

91

b e s o n d e r s antifeudalen" (ebd.) C h a r a k t e r der H e r d e r s c h e n W e l t a n s c h a u u n g , s o n d e r n n u r die sozialkritische Anwendung u n d Funktion i h r e r Theologie. D e r D i f f e r e n z i e r u n g v o n Theologie u n d praktischer Theologie u n t e r z i e h t sich auch nicht das z . Z . letzte A u f g i e ß e n des materialistischen Spinozismus bei H e r d e r d u r c h Irrlitz, D e u s sive natura, 45f. E r m ö c h t e das P r o g r a m m Spinozas als eine „ E m a n z i p a tion der P h i l o s o p h i e u n d N a t u r f o r s c h u n g v o n der V o r h e r r s c h a f t der T h e o l o g i e " verstanden h a b e n . E r reduziert d a z u H e r d e r s Geschichtsauffassung auf die mit ihrem P a n t h e i s m u s gegebenen G e s i c h t s p u n k t e eines „dialektischen N a t u r b e g r i f f s " , einer „diesseitigen M o r a l " u n d der „ A u s d e h n u n g des P a n t h e i s m u s auf die Geschichte" als „die Idee eines kausalen, i m m a n e n t e n Geschichtsprozesses" (a.a.O., 45), w o r i n , nach Irrlitz, „ H e r d e r s originaler Beitrag z u r E n t w i c k l u n g des Pantheismus(l)" liege. Dieser A u f g u ß s c h m e c k t indes nach nichts als problematischer Ideologie. D e n n Irrlitz definiert s o w o h l das „progressive P r i n z i p " von H e r d e r s Geschichtsauffassung wie die B e d e u t u n g des p h i l o s o p h i s c h e n P a n t h e i s m u s lediglich als „theoretisch" (a.a.O., 45).

Wir beobachten diese Einstellung Herders zur Wirklichkeit auch an der Art, wie Herder sich dem Geistlichen Amt zuwendet und dessen Krise beschreibt, andererseits an der Art, wie er dieser Krise des Geistlichen Amtes methodisch begegnet, um sie wirkungsvoll zu bewältigen.

A. Die Krise des Geistlichen Amtes Wenn Herder die Krise des Geistlichen Amtes 26 anspricht, so geschieht dies auf dem Hintergrund keiner schwachen, sondern - sehen wir einmal von der Qualität dieser Stärke ab - einer starken und gesellschaftlich einflußreichen Institution Kirche. Insbesondere auf den kleinbürgerlichen Lebensablauf war auch im ausgehenden 18. Jahrhundert der Einfluß der Kirche ungebrochen und, verzahnt mit den Institutionen Obrigkeit und Zunft, reglementierte und stabilisierte sie diesen sowohl im Alltäglichen wie an dessen H ö h e p u n k t e n ziemlich unangefochten". T r o t z dieser festen Verankerung der Kirche im gesellschaftlichen Leben befindet sich diese nach Herder bereits in einer Krise, worauf insbesondere 26 Zum Kontext des hier aufgezeigten speziellen Sachverhaltes vgl. die einen allgemeineren Zusammenhang ins Auge fassenden Abhandlungen von Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, und Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus. 27 Vgl. Möller, Kleinb. Familie, 100. Aber auch Herder wählte offenbar unter realistischer Einschätzung dieser Vorgegebenheit das Geistliche Amt als Instrument seines Volksbildungsvorhabens (vgl. o. S. 36). Lessing scheint ohne Berücksichtigung dieser gesellschaftlichen Verfaßtheit einen für seine Zeit utopischen Bildungsweg der Gesellschaft an der Kirche vorbei versucht zu haben, der so von vornherein nur wenig Erfolg haben konnte. Vgl. den Versuch von W. Jens über Lessing, der zeigt, daß Lessings unter antibourgeoiser Tendenz ausgeführter Versuch, Theologie „von der Kanzel auf das Theater" (Jens, Lessing, 17) zu bringen, im Grunde bis heute erfolglos geblieben ist (vgl. a.a.O., 15 u. 27f.).

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Herder und das Geistliche Amt

seine kritischen Bemerkungen zum äußeren Zustand des Predigtamtes hinweisen. Wir hören von „Klagen gegen Dogmatik, Gesangbuch, Katechismus und Liturgie"2*, von der „klagenden Demuth, die man schon an dem Stande (sc. des Predigers) gewohnt ist" 29 , von der Demonstriersucht beim Predigen „bis wir zuletzt, wie Plato, im Hörsaal ganz allein sind, und alle Religion und Antireligion von uns entflohen" 30 und „keiner mehr so ein Ding, was Religionsbeweis heißt, fast anzusehen trauet" 31 . Mit Ironie stellt Herder fest: die „Zeiten, da Laster zu strafen und der Tugend so Machtvoll aufzuhelfen war, sind / Gottlob / nicht mehr" 32 . Auch, daß der Prediger „lieber leidlicher Tugendvortrag und Unterricht nichts verfängt, und so gut ist, als ob er nicht da wäre" 33 . Die Hilflosigkeit der Prediger gegenüber dem der Kirche angebotenen „Band des Staats " 34 , das sich in Wahrheit aber doch als „Ableitungsstricke vom Christenthum" 35 erweist, ihre Machtlosigkeit gegenüber dem als „Element, Luft, Aetherprincipium der und der Regierungsform"36 gepriesenen neuen Klima, das sich als „ein sichtbar, jetzt gewiß nicht mehr unsichtbares Gift"37 erweist, das „allen Lebensothem der Religion verpestet und wegfrißt" 38 , beleuchten die Krise des Predigerstandes ebenso wie Herders physiognomisches Selbstporträt als Prediger mit den „verworrenen Zügen meines Angesichts und meiner Seele" 3 '. Die Wirkungslosigkeit der Predigt als zentraler Handlung des Geistlichen Amtes durch ihre „erbauliche und leider! blos erbauliche, steife, hölzerne Form" 4 0 spricht aus folgendem: „Der meiste Theil der Zuhörer, die von Kind an über Jesum predigen gehört, kennen ihn weniger, verstehen ihn weniger, als den Alexander! oder den Karl den Zwölften, in den sie Viertheilstunden hineingeguckt -." 4 1 „Was Kreuz Christi und Glauben und thörichte Göttliche Predigt? philosophiren!" 42 ist der Predigtgeschmack der Zeit. Mit diesem paart sich einerseits eine theologische, kaum erwartete Intoleranz, biblizistische Enge und Angst um die Kirche: „Solche Toleranz hatte der SW VII, 192. ¡9 SW VII, 215. Vgl. auch SW VII, 246, wo Herder von einem „in Philosophie und Pfarre ( - sc. am Handeln! - ) kränkelnden Theil der Menschen" spricht. so s w v i l , 186 M. Der Zusatz M zur Seitenzahl weist den Leser darauf hin, daß Herders Manuskript für die Herausgabe dieser Textgestalt durch G. Müller (vgl. Suphan, SW VII, XVII) fehlt. Da aber Müllers Editionskriterien darin bestanden, daß er den „Herderschen Text. . . gekürzt (in polemischen Partien), gemildert, paraphrasiert, verdeutlicht" (Suphan, SW VII, S. XVII) hat, „alles nach freiem Ermessen, in Ubereinstimmung mit der bezeichneten Absicht" (ebd.), ist dies für unseren Zusammenhang unerheblich. Denn wie hat dann wohl erst Herder selbst formuliert? 31 SW VII, 188 M. 35 Ebd. 39 SW VII, 208 M. 52 SW VII, 191. 36 Ebd. « SW VII, 209 M. 33 Ebd. 37 Ebd. 41 Ebd. 34 SW VII, 193. 38 Ebd. 42 SW VII, 210. 28

93

Die Kritik des Geistlichen Amtes

G e i s t G o t t e s m i t der D e n k a r t , den G a b e n u n d der A n w e n d u n g derselben bei d e n e n , die ewige N o r m der K i r c h e w e r d e n sollten (sc. die „wenigen G o t t e s männer"

P e t r u s , Paulus, J a k o b u s , J o h a n n e s , die obgleich

„Einen

Lehrer!

E i n e n Z w e c k ! E i n E v a n g e l i u m ! " hatten, „erstaunend v e r s c h i e d e n " blieben): die w i r d e n n nun w o h l / w a s geht U n s auch Geist G o t t e s an? / w a h r l i c h nicht h a b e n . N a c h M a a s g a b e drei, vier P e r s o n e n solche V e r s c h i e d e n h e i t - ei w a s w ü r d e da aus der K i r c h e w e r d e n ? " 4 3 U n d auf der anderen t h e o l o g i s c h e n Seite ein ü b e r

die

„ersten Zeiten der K i r c h e " 4 4

sich h i n w e g s e t z e n d e r

hybrider

H i s t o r i s m u s o h n e B e r ü c k s i c h t i g u n g dieser G e s c h i c h t e als „erste u n d ewige B i l d u n g " 4 5 . F ü r diesen stehen die biblischen „Beispiele . . ., weiß nicht w o z u ? da! D i e W o r t e sind, weiß nicht, wie? auszulegen. K u r z ! die ersten Zeiten der K i r c h e sind für uns m i t Seel u n d L e i b v o r b e i ! " 4 6 Exkurs zu Herders

geistesgeschichtlicher

Position

Für den Bereich der Geschichtswissenschaften konstatiert ein ähnliches Ergebnis an Herders Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" unter hermeneutischer Fragestellung H . - G . Gadamer, der sowohl die Fragestellungen des „historischen Skeptizismus" wie des „relativistischen Historismus" (Gadamer, Nachwort, 150) für Herders im „christlichen Selbstbewußtsein" (ebd.) begründete „Zusammenschau von Natur und Geschichte" (a.a.O., 151) für unangemessen hält. Für den Bereich der Rechtswissenschaften ähnlich H . Klenner, der als Marxist behauptet, daß Herder sowohl gegen die „reaktionären (sc. im unhistorischen Naturrecht begründeten) wie gegen die progressiven (sc. für Klenner im abstrakten Vernunftrecht begründeten)" (Klenner, Herder, 35 u. 38) juristischen Auffassungen angegangen sei. Für den Bereich der Linguistik fast ähnlich W . Fleischer, der die für Herder charakteristische Einstellung zu Sprachgebrauch und Stil gegen W . Kohlschmidt so sehen möchte: „Herder isoliert die - wie wir sagen würden - funktionalen Stil typen nicht voneinander und läßt auch jedem seinen besonderen Stellenwert" (Fleischer, Zu Herders Auffassung, 90). Jedoch ist durch diese universalistische Harmonisierung Herders eigener stilistischer Standpunkt, der diesseits der Fronten von Stilideologien liegt und dem Zweck nach von praktischem Volksnutzen (vgl. o. S. 80), der F o r m nach kritisch (vgl. u. S. 257) ist, nicht getroffen. Anders Irmscher, Herder, 116, der Herders kritische Verwendung seiner ideellen Integration der Stiltypen erkennt, aber auf Herders Frühzeit zu sehr einengt.

4J

SW VII, 213.

44

Ebd.

45

Ebd.

Ebd. Dieser - natürlich auch für Herder selbst charakteristischen - Betrachterposition diesseits jener beiden in der Unterschätzung der Geschichte zusammenfallenden theologischen Positionen begegnen wir bei Herder auch in anderen theologischen Bereichen, z . B . in der Christologie, wo Herder sich ebenso gegen eine dogmatisch bevormundete Kenntnis des „Mens c h e n ) Jesus Christus, der also sprach, fühlte und handelte" (SW VII, 199 M ) wie gegen den Versuch einer historisierenden Relativierung des Sohnes Gottes zum „belohnten Menschen" (SW VII, 199 M ) ausspricht, oder im exegetischen Bereich, in dem Herder „die sklavische, Amts- und Affenmäßige Entschlaubung derselben (sc. der neutestamentlichen Bilder und Gleichnisse) noch ungleich ärger, als sklavische Nachahmung" (SW VII, 200 M ) hält. Für Herder liegt „der wahre Weg in der Mitte" (SW VII, 199 M) davor. Vgl. o. S. 40, Anm. 26, und u. S. 134f. 44

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Herder und das Geistliche Amt

F ü r H e r d e r s Sprachauffassung formulierte schon R . C l a r k , daß „Herder attacked both the orthdox-theological theory of language advanced b y Süßmilch and the rationalistic t h e o r y of R o u s s e a u " (Clark, H e r d e r ' s C o n c e p t i o n , 7 4 3 ; vgl. auch - nur geringfügig davon unterschieden - Berlin, H e r d e r , 167). D i e Schwierigkeit, H e r d e r im pädagogischen Bereich mit den dort zur Verfügung stehenden Klassifizierungen geschichtlich einzuordnen, belegt Ursula Cilliens neuer Versuch über J . G . H e r d e r , in dem sie Herders pädagogisches P r o g r a m m der „ H u m a nitätsbildung" (Cillien, J . G . H e r d e r , 195) als „spannungsreiche E i n h e i t " ( a . a . O . , 197) von Selbsterfahrung, Gewissensbildung und Ausbildung zu gesellschaftlichem Handeln zeichnet, die nach H e r d e r in „ H u m b o l d t ' s B i l d u n g s r e f o r m " , „Herbartianismus" und „ R e f o r m p ä d a g o g i k " (a.a.O., 196) als schädliche Verkürzungen Herders auseinandergetreten sei. Diese zu additive Gesamtschau Herders stört U . Cilliens richtige B e m e r k u n g zu Herders unbefangener U n k l a r h e i t : „die T h e o r i e ist ja nicht (sc. Herders) eigentlicher Z w e c k " ( a . a . O . , 193). W o z u aber dann solche ideologiegeschichtliche M ü h e ? F ü r den Bereich der Pädagogik vgl. auch S. 148. F ü r den Bereich der Religion und T h e o l o g i e versucht - nicht überzeugend - U . Cillien, J . G . H e r d e r . Christi. H u m a n i s m u s , 65, Herder „zwischen (!) O r t h o d o x i e und A u f k l ä r u n g " zu stellen und beide Richtungen als vereinseitige theologische Abfallprodukte dieser - w o h l für U . Cillien - idealen „ M i t t e " , der zentralen Interpretationskategorie U . Cilliens (vgl. z . B . a . a . O . , 1 4 ; 6 7 ; 1 0 7 ) , darzustellen. W i r sind anderer M e i nung: die Position Herders liegt diesseits (vgl. u. S. 2 6 1 , A n m . 18) beider ideologischer Positionen. W i e will U . Cillien Herders scharfe Kritik beider Positionen glaubwürdig erscheinen lassen, wenn sie nur von einem harmonisierenden, darüber hinaus utopischen, vor allem aber lediglich theoretischen Sitzplatz zwischen den festen Stühlen aus geführt worden sein sollte? Zumal dann, wenn doch auch für U . Cillien H e r d e r „kein theologischer Systematiker" ( a . a . O . , 58) gewesen war? Vgl. u. S. 2 6 1 , A n m . 18. A u c h h a t m a n „in u n s e r e m A p a p i s t i s c h e n J a h r h u n d e r t e " 4 7 in d e r K i r c h e n p f l e g e das K i n d m i t d e m B a d e a u s g e s c h ü t t e t u n d in u n k r i t i s c h e m G e f o l g e d e r R e f o r m a t i o n n i c h t n u r a u f „ e i n e n Pabst... i m weltlichen geistliche

i m geistlichen

und . . . noch mehr

V e r s t ä n d e " 4 8 v e r z i c h t e t , s o n d e r n d a m i t a u c h auf j e d e

Obrigkeit"*9,

d e n e i g e n e n „Werth,

des „geistlichen W e s e n ( s ) "

51

Gehalt-

und gleichsam

„bestimmte Grund"50

w i e d e r N o t w e n d i g k e i t v o n in g e i s t l i c h e n S a c h e n

kundigen Funktionsträgern der Kirche verzichtet, w o v o n „der meiste neuere U n f u g u n s e r e r K i r c h e n h e r r ü h r e t " 5 2 . U n d die V e r u n s i c h e r u n g des G e i s t l i c h e n A m t e s g e h t s c h l i e ß l i c h H a n d in H a n d a u c h m i t N e u e r u n g e n z u d e r „ ä u ß e r e ( n ) R e l i g i o n s f o r m u n d K i r c h e n o r d n u n g " 5 3 , bei d e r „ n a c h L u t h e r n o c h fast eine g r ö ß e r e R e f o r m a t i o n e n t s t a n d e n , die E r die V e r b e ß e r u n g d e r J u r i s t e n ( w e i ß nicht, mit w e l c h e m G r u n d e ! )

54

n e n n e n w ü r d e , u n d die uns e n d l i c h s o w e i t

g e b r a c h t h a t , d a ß - s e h e n Sie sich u m , m e i n e H e r r n ! - v o n d e m alt G o t h i s c h e n g a r s t i g e n G e b ä u d e , das Kirche

SW VII, 214. Ebd. Ebd. Ebd.

h e i ß t , d a s t e h n - w e l c h e luftige U e b e r b l e i b s e l !

51 52 53 54

Ebd. Ebd. SW VII, 215. Sc. eine Verbesserung!

Die Kritik des Geistlichen Amtes

95

Sparren und Sparren! und oben überall durch der schöne blaue Philosophische Himmel! - der denn unser aller Decke auch ohne dies zerflickte, abgetragene, verfallne Haus ist - in Ewigkeit Amen!" 55 Bemerkenswert an diesem Zustand ist, daß offenbar auch jeglicher Glaube an eine Änderung der Verhältnisse durch „Wißenschaft"56 für die betroffenen Amtsträger verloren war. Es war nämlich mit dieser so weit gekommen, daß „Scienz und Grund nur der Schein! und Macht, Belieben, anderweitiger Nutzen der ganze Einige wahre Grund ist, und da ists immer ein eitler Streit, mit Wort gegen That kämpfen"57. Das Geistliche Amt hat unter diesen faktischen Machtverhältnissen einen nicht erstrebenswerten Gipfel gesellschaftlicher Wirkungslosigkeit erklommen: „Und da sind wir nun eben auf der schönen Höhe, so sehr das allgemeine Sensorium und Element der Religionsübung verlohren zu haben, daß man noch allenfalls am liebsten von allgemeiner Moral oder bürgerlichen und politischen Nutzbarkeit spricht, um doch nicht ganz zu Schanden zu werden"58. Unter dieser selbst verschuldeten fragwürdigen Höhe hat sich Nutzen, Ansehen und Gehalt des Predigtamtes verkehrt: „Unnütze, tolerirte Religionsverwandte in dem grossen, herrschendwürksamen Staatskörper die also dahin gebracht sind, doch als honnetes-gens ihre allenfallsige Bräuchlichkeit zu berechnen und demüthig anzuzeigen, falls es ihm einmal gnädig gefiele, das tolerirte Ding, das Religion heißt, auch einmal für sich näher zu brauchen."'9 Predigt und Religionsübung sind unter dem Gewicht ökonomischer Faktizitäten auseinandergetreten. „,Predigtamt, Sorge fürs ewige Leben' tolerirte Anstalt der Gesellschaft: und darum siehts auch mit allem, was es würken soll, so tolerirt aus. Das ganze herrschende Betragen gegen die Religion - schadet dem Prediger nichts: er wird besoldet, daß er predige, nicht daß die Religion geübt werde. Die herrschendsten Aergeniße und Gräuel - gehen den Prediger nichts an: er predigt und wird besoldet. Sei kein Störer des Handels und Wandels, löblicher Geldbringender Schandthaten, Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen und der Lasterpestilenz der Zeit - tolerirter Prediger und wird besoldet. .Seelsorger! Beichtvater! Kirche! Gemeine!' pfui der alten Kindischen Worte." 60 Aufsicht und Anstellung des Predigers geschehen ebenso gesellschaftskonform und verlangen Kompetenzen, Charaktere und eine Ausübung des Dienstes, die mehr als fragwürdig sind". Und nicht nur für das Wesen, auch für die

56 Ebd. SW VII, 215. Ebd. Für Herder selbst war dies Grund, „kein Kirchenrecht" (ebd.) zu schreiben, sondern „als Prediger . . . für Einige andre meiner Brüder" (SW VII, 215 f.) zu klagen. 58 SW VII, 216. » Ebd. « SW VII, 217. " „Predigtamt tolerirte Anstalt der Gesellschaft!" (SW VII, 217), dafür sind „Dummköpfe die beste; haben so viel Gravität! Autorität!" (ebd.), „daher kann auch wer nicht? die Aufsicht drüber verwalten. Dieser Mann versteht Parade zu kommandiren, oder einen Proceß auf allen Vieren 55

57

96

Herder und das Geistliche Amt

Wirkung und Gestaltung der Predigt hat diese Auffassung des Predigerstandes schon zu Konsequenzen geführt, auf die Herder offenbar schon als ihm vorgegebene Faktizitäten zurückblickt. „Der allgemeine Widerwille gegen Predigten ist bekannt"62. „Sie sind längst zum Sprüchwort geworden, die Kanzelbeweise und Kanzeltrostgründe und Kanzelperioden, und ich wollte fast, daß sies noch mehr würden."63 Bei dem Versuch, die vielfältigen Symptome der Krise dieses die Gesellschaft nicht mehr hinterfragenden, sondern sie stabilisierenden und in ihr bedeutungsvoll ruhenden Geistlichen Amtes auf ihre wahren Ursachen hin zu befragen, treten wenigstens drei Gründe deutlicher hervor, die sich für Herder dann zur Grundkrankheit des Jahrhunderts, „der Civilpriesterei unsrer Zeit"64 verdichten. Es sind dies die Auswirkungen der Sozialisation des Predigers, die der Ausbildung und die Auswirkungen von Obrigkeit und öffentlicher Meinung auf das Geistliche Amt. Herder formuliert diesen Ursachenszusammenhang im Kontext einer Zurückweisung der äußeren Kritik am Predigerstand durch Hume so: „Was kommen für Menschen ins Predigtamt! Wie sie (sc. die „Land- und Kirchenpfleger"65) wahrlich nicht Sauigelhirten und Tafeidecker so sorglos wählen würden - und an ihnen soll die arme, verlaßne, gnug geplagte Heerde noch einigen Trost des Lebens haben! Und ob denn über Predigtamt zu spotten Wunders, oder Kunst wäre? Wer hat die Sauhirten ins Amt gedinget? -

laufen zu laßen, und sollte Pfaffen zu bestellen nicht verstehen? der Kandidat war Informator und - und taufen und Hölle predigen wird der Stiefelknecht, Kriecher und Schmeichler ja endlich wohl lernen!" (ebd.). Und „daher intereßirts auch so erschrecklich wenig, was dahin belangt!" (ebd.) Vgl. dazu auch SW VII, 284, Anm. l f . 62 SW VII, 220. 63 Ebd. Deshalb nämlich, weil dann eher die Zeit der „Reife des Kerns" (SW VII, 224), wozu „selbst die Fehler und Laster des Standes" (ebd.), ja selbst seine „Unterdrückungen" (ebd.) dienen müssen, heraufzieht. Der Verzug dieser Zeit hat Herder offenbar als Mitbruder und Verantwortlicher schwerer belastet als zunächst eingestanden (vgl. SW VII, 292 mit SW VII, 224). Gleichwohl kann von einer persönlichen Krise Herders im Geistlichen Amt in Bückeburg nicht die Rede sein. Zwar gibt es Bemerkungen Herders über seine isolierte literarische Situation in Bückeburg (vgl. z . B . B r 46, 139f.) und auch über Schwierigkeiten in der Amtsführung (vgl. ebd.). Daß Herder aber dazu nicht wegen des ihm persönlich fragwürdig werdenden Geistlichen Amtes veranlaßt ist, zeigt ein Brief an Hamann vom März 1773, in dem er den Feund bittet, seine „kleine Provinziallage und Krisis! Sein Amt!" (zitiert nach SW VII, I X ) ernst zu nehmen und dieses Amt auch nicht gegen den ihm von Hamann erdachten und unterbreiteten Vorschlag der Übernahme eines anderen Amtes, nämlich eines Akademiepräsidenten, einzutauschen gedenkt. Die Krise des Geistlichen Amtes ist eine allgemeine und Herder weiß, daß er in Bückeburg an einer verhältnismäßig ertragbaren Stelle an einer Sache partizipiert, die andere Brüder schlimmer getroffen hat (vgl. SW VII, 215). Irreführend, da diese allgemeine Krise als persönliche Krise Herders verengend: Haym, Herder I, 469ff., Baur, Herder, 38ff., Adler, Herder, 131 und 135f., Kantzenbach, J . G. Herder, 61 ff. 64 65

SW VII, 227; vgl. o. S. 82. SW VII, 296, Anm. 1.

Die Kritik des Geistlichen Amtes

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- Weichlich und üppig erzogen; der andre Theil aus Armuth, Koth und Jammer unwißend, demiithig hinein gekrochen - und wie zubereitet! welch ein Ideal des Standes, das ihnen selbst Profeßoren, Theologische Atheologen, als gewöhnliche Nachmittagsspäße auftrugen. — Endlich im Stande selbst, wie begegnet! wie geachtet! Müßen verachtenswerth bleiben, weil sie verachtet sind und verachtet werden, weil sie sich verachtenswerth machen ! " " I. Amt und Person Es geht Herder bei der Bestimmung dieses Zusammenhanges als der einen Ursache der Krise um Feststellung und Erörterung keines defizitären dogmatischen Sachkomplexes im üblichen Verstände, sondern um Erfassung einiger schlichter sozialer Gegebenheiten, die zum Schaden des Geistlichen Amtes bisher offenbar in der nötigen Deutlichkeit übergangen wurden. Tatsache ist nämlich: Das Predigtamt wird längst nicht mehr vom Mittelstand, sondern von unteren Schichten angestrebt und besetzt. „Wer, der jetzt kaum mehr wie es nur heißt, von begüterten oder mittelmäßigen Leuten auf dich (sc. den Predigerstand) studiret? Und jener Rest Sittenloser, armer Verunglückter, oder (ich rede nicht von Ausnahmen, sondern wie mans dem gemeinen Gange der Meinung nach für gut hält) elender Dummköpfe, die denn die besten Geistlichen seyn sollten - wie ists daß sie sich auf dich bereiten? In Schulen? Auf Akademien? Wie in der frühesten Erziehungf"67 Daß Herder hier die soziale Struktur der Pfarrerschaft treffsicher im Auge hat und keine atypischen Verhältnisse der Deutlichkeit halber karikierend überzeichnet oder gar die tatsächlichen Verhältnisse heftig oder gereizt überzieht68, vielmehr mit wissenschaftlicher Exaktheit eben diese bestimmt hat, bestätigen neuere Untersuchungen in anderem Zusammenhang".

" SW VII, 2 9 5 f. Zur ambivalenten Funktion, die auch die universitären Bildungseinrichtungen gesellschaftspolitisch ausübten, vgl. u. S. 100ff. ; 102 f. und 192, Anm. 119. Gemeinhin Aushängeschild für die ideell fortschrittliche bürgerliche Erkenntnis- und Moralkritik und Grund des neuen bürgerlichen Selbstbewußtseins kam dennoch die von den Hochschulen vergebene Chance der Lösung des Praxisproblems einer Desillusionierung jener aufkeimenden Hoffnung gleich, wie sie Herder hier insbesondere den Theologischen Fakultäten unterstellt. Das für die Realisierung des bürgerlichen Gesellschafts- und Bildungsanspruches so wichtige Feld der Institutionen hatte man zum Schaden der eigenen Idee und vielleicht aus dem verzeihlichen Überschwang neu entdeckter Freiräume für menschliche Vorstellungs- und Handlungsinnovationen zu sehr sich selbst und damit den Händen des absolutistischen Ständestaates überlassen. 67

SW VII, 296, Anm. 1.

" Gegen Suphan, SW VII, 569 und VII, S. X I V . " Vgl. etwa Möller, Kb. Familie, S. 5 und die dort in den Anmerkungen 1 7 - 2 2 zum Pfarrerstand im 18. Jahrhundert herangezogene Literatur. Nach Möller „stoßen wir in eines damit (sc. der „von Schöffler herausgearbeiteten Bedeutung des Pfarrerstandes jener Zeit für die Entstehung des neuen Lesepublikums") auf die Tatsache, daß sich ein nicht unbeträchtlicher Teil aus unteren Schichten - oder zumindest solchen, die der

98

Herder und das Geistliche Amt

D i e Parallelität d e r f r ü h e n E r z i e h u n g in d e r Familie m i t j e n e r in d e r S c h u l e bestand darin, in d e r f r ü h e n K i n d h e i t z u b e s c h w i c h t i g e n , i n s b e s o n d e r e aber d a r i n , „den , E i g e n w i l l e n ' des K i n d e s z u .brechen' - o f t auf eine so h a n d g r e i f l i che W e i s e (sc. d u r c h Prügel), daß sie zeitgenössische K r i t i k hervorrief" 7 0 . D i e s e P ä d a g o g i k k o n n t e eine z u m g r o ß e n Teil n o c h p r i v a t e W i n k e l s c h u l e m i t i h r e r ö k o n o m i s c h e n A b h ä n g i g k e i t u n d A n g e w i e s e n h e i t des L e h r e r s auf das z a h l e n d e Elternhaus 7 1 n i c h t k o r r i g i e r e n , s o n d e r n in i h r e r W i r k u n g n u r p o t e n zieren 7 2 . U n d w e n n H e r d e r i m R ü c k b l i c k auf seine eigene K i n d h e i t in einem k l e i n b ü r g e r l i c h e n W e b e r - u n d E l e m e n t a r l e h r e r h a u s am 2. 1 2 . 1 7 8 7 an T r e s c h o s c h r e i b t : „ D i e ersten B i l d e r m e i n e r J u g e n d sind m i r dabei (sc. bei seinem L e b e n ) n a t ü r l i c h meistens traurige Bilder, u n d m a n c h e E i n d r ü c k e d e r S k l a v e rei m ö c h t e ich, w e n n ich m i c h i h r e r e r i n n e r e m i t t e u r e n B l u t t r o p f e n a b k a u zeitgenössischen Bildung fern standen - rekrutierte" (Möller, a.a.O., 5). Die von Möller herangezogenen zeitgenössischen Quellen - es fehlt leider Herder! - berichten „übereinstimmend von der Dürftigkeit der großen Masse der Theologiestudenten und ihrem geringen Herkommen" (ebd.). Wegen der Billigkeit des Studiums, den kalkulierbaren Stipendien und dem Unterkommen im Beruf war das Theologiestudium bei Anerkennung der Bedingungen für solche Hilfen „die Chance für den gemeinen Mann" (ebd.) und Möller unterstellt - vor dem Hintergrund der Herderschen Analyse zurecht - , „daß es oft soziale und ökonomische Gründe waren, die dieses Studium attraktiv machten: der Erwerb von gelehrtem Wissen war für ihn (sc. den gemeinen Mann) fast der einzige, .anständige' Weg zu arrivieren und der von theologischem noch der leichteste" (ebd.). W. Bruford, Kultur, 180 bezeichnet demgemäß die Theologie als „Fakultät des armen Mannes". Auch Herder selbst ist diesen Weg gegangen, wie Richter richtig bemerkt: „So nahm er (sc. Herder) im Jahre 1762 kurz entschlossen das Studium der Theologie auf, das einzige, das einem mittellosen jungen Manne kleinbürgerlichen Standes möglich war" (Herder im Spiegel, S. 32). Und Minerva, ein zeitgenössisches Journal aus dem Jahre 1793, beleuchtet, was man unter der niederen Klasse zu verstehen hatte: „die niedere Klasse, das heißt: der Handwerker, der Landmann, im Ganzen genommen, allenthalben nur Halbmenschen" (zit. nach Möller, a.a.O., 7) eine Definition von der Herders Bezeichnung sich keineswegs durch besondere persönliche Färbung oder Gereiztheit abhebt. „Landgeistliche, insofern sie Erzieher sind" (zit. nach Möller, a.a.O., 7, Anm. 36) gehören nach Goethe schon zum erstrebten „Mittelstand" (ebd.). 70 Möller, Kb. Familie, 43. Auch die Lehrzeit brachte darin keine Änderung. So wurden „die Lehrburschen zu allem Möglichen gebraucht, und ich wußte, daß sie eigentlich nur die europäischen Sklaven waren" (K. F. v. Klöden, Jugenderinnerungen, Leipzig 1874, 175 zit. nach Möller, a.a.O., 61). Sicher trugen dazu auch, was die Schule betrifft, die konkreten räumlichen und organisatorischen Verhältnisse bei. J. Irmscher berichtet unter Verweis auf P. Krumbholz, Geschichte des weimarischen Schulwesens, Berlin 1934, 87ff.: „Vor den Toren der Residenz, in Oberweimar, war 1783 für die wachsende Kinderzahl die Schule zu klein geworden; wären alle Schüler anwesend, so müßten einige stehen, da auch Bett, Klavier und Spinnräder - für den Lehrer und seine Familie - in der Schulstube Platz zu finden hätten" und unter Hinweis auf M. K. v. Herder, Erinnerungen, hrsg. v. J. G. Müller, 118: „Aber auch in den Armenschulen des klassischen Weimar kam auf hundert Kinder verschiedenen Alters und unterschiedlicher Begabung nur ein Lehrer, der jene gleichzeitig zu unterrichten hatte" (J. Irmscher, Herder als Pädagoge, 112 f.). 71 „Manche Lehrer hielten den Unterricht vom Bett aus, um die Schüler nicht zu verlieren" (Möller, Kb. Familie, S. 50, Anm. 128). 72 Vgl. Möller, Kb. Familie, 53.

A m t und Person

99

fen" 73 - so unterstellen wir, im Gegensatz zu anderen harmonisierenden Versuchen 7 4 , H e r d e r hier lieber eine U n t e r - als Übertreibung des repressiven Charakters seiner frühen Erziehung in Elternhaus und Schule. „Weichlich und üppig" 7 5 ist der in Elternhaus und Schule herangebildete Charakter der Pfarramtskandidaten und damit ebenso sozialisiert zur „demüthig(en)" 7 6 Hineinkriecherei in bessere Verhältnisse wie jener andere Teil der Pfarramtsbewerber durch ihre „aus Armuth, K o t h und J a m m e r " 7 7 hervorgegangene und in diese gebundene Unwissenheit. Angesichts dieser - auch von der Kirche zu verantwortenden 7 8 - H y p o t h e k eines zu blindem Gehorsam und Unterwürfigkeit, eben zur „Sklaverei" hin, sozialisierten Verhaltens der Aspiranten, die ins Geistliche A m t drängten, das verknüpft war mit der Erwartung und verlockenden gesellschaftlichen Verheißung sozialen Aufstiegs aus „Armuth, K o t h und Jammer" 7 9 wie darin motivierter und hineinbindender Unwissenheit mittels eines billigen, aber fügsamen und wiederum bindenden und zur Servilität prädestinierenden Studienganges, war die Prognose für einen die Zeit erfordernden gesellschaftlich wachen und kritischen Pfarrerstand, der eine Änderung der sklavischen Verhältnisse hätte bewirken können - jedenfalls von der Sozialisation der Betroffenen her - denkbar ungünstig 80 . Die Bewerber kamen aus einer versklavten Gesellschaft und drohten Funktionäre eben derselben Gesellschaft von Untertanen zu werden. U n d zwar an 73

B r 115, 274.

Vgl. neuerdings etwa Richter, der das Aufwachsen Herders „unter strenger, aber liebevoller E r z i e h u n g " (Herder im Spiegel, 31) hervorhebt. Ein wirkliches Gegengewicht zur Strenge liegt aber in der „liebevollen" Erziehung noch nicht vor, da man auch repressive Maßnahmen und Züchtigung durch Prügel oft genug und bis heute mit Liebe motiviert hat. 7
nur „Beigeschäfte"2''0, nicht aber „Hauptgeschäfte"1". Die dieser Erklärungsart zugrunde liegende Religion aber ist „Abiblisch"1''1. Entscheidender Beleg für den theologischen Charakter von Herders Geschichtsphilosophie ist auch die Qualifikation, die Herder dafür voraussetzt: das Geistliche Amt. Nur kraft dieses Amtes ist einer dazu legitimiert. Herders Theologie ist also eine professionelle und keine schöngeistigen oder akademischen Ursprungs. Nur der durch Amt, nämlich als Priester zur Bildung der Menschheit bestellte,

SW VII, SW VII, 2J8 SW VII, 2 " SW VII, 240 Ebd. 241 SW VII, 242 Ebd. 243 SW VII, 244 Ebd. 245 Ebd. 246 Ebd. 247 SW VII, 241 Ebd. 249 SW VII, 2)6

257

200 M. 205 M; vgl. SW VII, 210. 209. 210. 211. 213.

307. 222.

SW VII, Ebd. 52 SW VII, 51 SW VII, 54 SW VII, 55 SW VII, 56 SW VII, 57 Ebd. 58 Ebd. 5 ' SW VII, 60 Ebd. " Ebd. 62 SW VII, so

305.

51

305. 237. 238. 240. 242.

246, Anm. 1.

280.

144

Herder und das Geistliche A m t

sich dazu amtlich verpflichtende wie diese Menschheitsbildung im Amt praktizierende Priester Gottes ist der Fachmann für diese Theologie. „Philosophie der Menschheit, und derselben wahre Geschichte, - niemand als ein Priester Gottes wird sie dereinst schreiben, wird von neuen Seiten durch sie bilden; jetzt hat der Morastquell weder Boden noch Rand."263 Ebenso deutlich im Text der Vulgata264. „Eine Philosophie der Menschheit, mit ihr eine wahre Geschichte derselben - niemand als ein Priester Gottes wird und soll dieselbe einst schreiben. Jede andre Philosophie und Geschichte versinkt in den Morastquell, aus dem sie aufgegährt war, und hat weder Anfang noch Ende . . . Ein Priester Gottes wird einst eine Weltgeschichte schreiben können; der Pragmatische Reflexionsgeist unsrer Voltaire, Hume u.a. mit seinem Gelieferten wird seyn Staub, den der Wind zerstreuet."265 Es ist seine amtliche erzieherische Praxis, die den Priester Gottes zu dieser Theologie qualifiziert266. Denn darin entspricht er dem „Wesen. . . Ursprung . . . und Zweck"267 seines Amtes268. ,„Ein Vater, der wie Abraham, im Kreise seiner Kinder und seines Hauses nach ihm Gott lehret, befiehlt, daß sie des Herrn Wege halten, und thun, was recht und gut ist!' siehe da der würdigste erste Priester seines Hauses, seines Geschlechts - eines Gottesgeschlechts! eines Gotteshauses! Erziehung und Unterweisung der Seinen, nichts geringeres als ein kleines Nachbild der grossen Gotteserziehung des ganzen Geschlechts!"269 Und im Vollzug von Bildung der Menschen entspricht dieser Priester unbezweifelbar dem „Wort Gottes" 270 , das ihn zu seiner Praxis legitimiert. Denn es war so, „daß sich ursprüngliche Stiftung des Worts Gottes so natürlich an die simpelsten Stände der Menschheit, Haus-, Ehestand, Kinderzucht, und überhaupt Erziehung des Menschlichen Geschlechts in seinem Fortwuchse anschlang"271. Demgemäß ist auch nicht jeder für ein solches Werk geeignet. Geschichtsphilosophie in diesem professionellen Sinne von praktischer Theologie aus dem Geistlichen Amt erfordert einen „Propheten Gottes"272, ist ein „Prophetenwerk! Beweis des Geistes und der Kraft!"173, zu dem nicht jeder die Qualifikation hat. Nicht deshalb, weil ihm Gott diese versagt, sondern weil er SW VII, 300. Vgl. o. S. 92, Anm. 30, und S. 118, Anm. 7. 265 Zit. nach S W VII, 300, Anm. 2 f. 266 Insofern dies natürlich für Herder selbst gilt, als Bruder von „Mitbrüdern" im Geistlichen A m t , haben wir hier die Bestätigung für die Richtigkeit unseres Interpretationsansatzes (vgl. o. S. 35 ff.) vorliegen. 26)

264

267 268 269 270 271

S W VII, 182 M . Ü b e r die inhaltliche Auffassung des Geistlichen Amtes s.u. S. 174ff. S W VII, 180 M ; vgl. SW VII, 293. SW VII, 183 M . E b d . ; vgl. o. S. 142.

272 273

S W VII, 189 M . SW VII, 190.

Der Begriff der Methode

145

sich selbst diese nicht zugesteht. Nicht deshalb, weil nicht jeder etwa die philosophische Kunst der „Metaphysischen"17* Demonstration der Religion oder eine noch höhere Kunst beherrschte, sondern weil ihm die einem geschichtsphilosophischen Werk erforderliche menschliche Einfalt und Ungelehrtheit fehlt, die beispielsweise ein „einfältiger und ungelehrter Luther"275 noch hatte. Dieser „Plan . . . Wunderwerk und Kraftdenkmal eines Propheten Gottes" ist nämlich nichts mehr als sich darum zu bemühen, „daß Haushaltung Gottes (und nicht Moral Christus oder Epiktets) gezeigt werde, wie sie istf Wie sie aufeinander folgte . . . was durch sie erklärbar und ohne sie ewig unerklärlich bleibt. . . jede Offenbahrung Gottes in all ihrer Einfalt, Zeitmäßigkeit, Würde, Kraft. Was durch Alles zum Nutzen der Welt gewürkt ist, und da ohne, wie wirs jetzt Thatmäßig haben, nicht hätte gewürkt werden können"276. Dieses Prophetenwerk ist kein abstraktes und schwieriges „Kritisches Spiel= und Räthselwerk"277, sondern eine in simpler Bibelauslegung278 sich konkretisierende Übernahme von erzieherischer Verantwortung und Praxis für das Volk, eine „Stimme Gottes zur Bildung, Aufklärung und Seligung des Menschengeschlechts"2", ein „Bote Gottes ans Volk! Ueberbringer und Dollmetscher des Worts für Welt und Nachwelt!"280 Das wäre für diese Theologie der ganze „Beweis des Geistes und der Kraft"m. Ausgeschlossen als Autoren für ein solches Werk - und dies zeigt nochmals wie ein Negativ den praktischtheologischen Charakter und professionellen Ursprung dieses Herderschen Entwurfes - sind alle Versuche, Religion und Menschheitsgeschichte zu beweisen282 und diese aus „Sozialkontrakt"1" oder einer anderen „Politischchristlichen Religion"284 heraus zu „philosphiren"285. Diese „Philosophischen Beweise"m sind ebenso ungeeignet für Theologie wie ein „Mahomed. . ., der Enthusiast=Betrüger" 287 , der jenen Philosophen gegenüber noch den Vorzug verdient, sich wenigstens formal, wenn auch nicht „dem Inhalte nach"288, immer auf „seinen Koran"m bezogen zu haben290, oder

SW VII, 187 M. SW VII, 190 M ; vgl. SW VII, 305. Ein „Kraftmann" ist dazu nicht in der Lage, wie die Vulgata der Provinzialblätter textlich überliefert (Zit. nach SW VII, 305, Anm. 1). 275

276 277 278

S W VII, 189 M. S W VII, 190 M. Vgl. S W VII, 190 M.

SW VII, 190 M. ° Ebd.

279 2S

281

Ebd.

Vgl. SW VII, 186ff. M ; S W VII, 3 0 3 : die „Philosophische Beweise der Religion". 2 . 3 S W VII, 294. 287 SW VII, 305. 2 . 4 SW VII, 305. 288 Ebd. 285 S W VII, 216. 289 Ebd. 284 S W VII, 303 f. 290 Vgl. SW V, 518, wonach „Muselmann und Mammeluke" als der Sache fremde Betrachterpositionen bezeichnet werden, und SW VII, 569, Anm. 300, zu „Philosophie der Menschheit". 2.2

146

Herder und das Geistliche Amt

die zeitgenössische religiöse Dichtung, das „Wortgeschwätz von Epopee, Drama" 2 ' 1 - unnützliche „Dichtung" 2 ' 2 ohne Wahrheit und Wirkung. N u r „Engel Gottes, Lichter, Priester"2n sind dieser Theologie rechte Lehrer. b) Humanität als Inhalt des Lebens Jesu Wenngleich nicht formal, so taucht der Humanitätsbegriff Herders der Sache nach bereits in den Provinzialblättern in der für Herder charakteristischen Auslegung des „Leben(s) Jesu"1", dessen „Wort und That! That und Wort!" 2 ' 5 , auf. Exkurs zu Herders

Humanitätsbegriff

Der Inhalt von Person und Werk Jesu ist für Herder Humanität. Die Gleichung vollzieht verbal Herder selbst in seinen „Ideen" : „Die ächteste Humanität ist in den wenigen Reden enthalten, die wir von ihm (sc. Jesus) haben; Humanität ists, was er im Leben bewies, und durch seinen Tod bekräftigte; wie er sich denn selbst mit einem Lieblingsnamen, den Menscbensohn, nannte" (SW XIV, 290). Unscharf Förster, Geschichtsphilosophie, 19, der - sehr ungern - nicht die Religion Jesu, sondern die Religion allgemein als höchste Humanität bezeichnet. Sachlich unklar, historisch fragwürdig und funktional ungeschickt schon M. Doerne, Die Religion, 6: „Nur in ihren (sc. der Bückeburger Schaffensperiode Herders) Arbeiten ist das realisiert, was wir im eigentlichen Sinne eine religiöse Geschichtsphilosophie nennen dürfen." Wir teilen das sich darin aussprechende prinzipielle Vorurteil Doernes darüber, was eigentlich religiös genannt zu werden wert ist, nicht. Nur daraus ergab sich für Doerne notwendig, daß Herders „Humanitätsprogramm der SpätWeimarer Geschichtsphilosophie" (a.a.O., 51) ein „Widerspruch zu wirklich religiöser Haltung" (ebd.) sein mußte. „Religiös im eigentlichen Sinne" (a.a.O., 50) hieß für Doerne nämlich „Theonomie" (a.a.O., 51), unwirklich religiös, „areligiös" (a.a.O., 3), „profan" (ebd.) offenbar „Autonomie" (a.a.O., 51; vgl. a.a.O., 121) - eine für das Verständnis Herders ganz und gar ungeeignete spekulative Konstruktion wie ein Hindernis zum Verständnis des Phänomens Religion überhaupt. Doernes Periodisierung der Herderschen Geschichtsphilosophie und pessimistische Beurteilung des späten Herder ist nur Ausdruck seines eigenen Vorgriffes. Aber wie er von dieser Warte aus die Weimarer Geschichtsphilosophie Herders mit ihrer pantheistischen Entpersonalisierung Gottes als eine defizitäre Religiosität ansah, so erkannte er schon für Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie nicht, daß und inwiefern die Christologie ihre explizite Mitte war. Auch F. Knorr sah die Bezugnahme auf R. Haym 62 Anm. 171) und unter schwommen. Falsch G. Schmidt, Der 291 2,2 2,5

SW VII, 306. Ebd. SW VII, 312.

„religiöse" Mitte des Herderschen Denkens, aber unter u. E. Kühnemann zu allgemein (vgl. Knorr, Das Problem, Bezugnahme auf M. Doerne (vgl. a.a.O., 62) zu verBegriff, 500, der die Humanität bei Herder tautologisch 2.4 2.5

SW VII, 308; vgl. SW VII, 208 M. SW VII, 205 M; vgl. SW VII, 200 M.

Der Begriff der Methode

147

interpretiert und dadurch „theologisch-eschatologische, moralisch-rationalistische und nihilistische Auffassungen" (a.a.O., 504) ausgeschlossen sieht. Es geht uns hier nicht darum zu behaupten, daß schon der Gedanke der „Humanität" ein spezifisch Herderscher sei. Auch nicht darum, zu meinen, es sei schon seine Leistung, Humanität religiös oder christlich zu verstehen. Ein Blick in die Predigten der Zeit bestätigt, daß dies vielmehr allgemeinerer Kontext aufklärerischer Predigt war (vgl. Schütz, Die Kanzel, 150ff.). Wohl aber haben wir herausgefunden, daß die spezifisch Herdersche Fassung der Humanität 1. christozentrisch formuliert ist und 2. nur in einer praktischen, gelebten und gesprochenen sozialkritischen Vermittlung als solche gedacht ist. Die Herdersche Humanität meint also die Existenzform Jesu in ihrer für Mensch und Gesellschaft nützlichen Funktion. Diesen christologischen Nerv als traditionsgeschichtliches Motiv für Herders Humanitätsbegriff wie sein Gespräch zwischen Humanismus und Christentum erkannte schon O . Baumgarten nicht. Er sah zwar die „eigenste Berufsaufgabe H s . " (Baumgarten, Herder's Anlage, 96) darin, als „lebendige Brücke zu dienen von dem Bildungsideal der Humanisten zu dem Lebensideal des Christentums" (ebd.), formuliert aber selbst dieses Unterfangen Herders als einen „Widerspruch in sich" (a.a.O., 99), so daß schließlich für Baumgarten die Lektüre Herders nicht mehr als ein „Surrogat" (a.a.O., 101) der dem praktischen Theologen notwendigen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist ist. 1933 hat Berger Herders „Menschenbild" (Berger, Menschenbild, 5 ff.) wie seine „Menschenbildung" ( a . a . 0 , 1 7 8 f f . „aus einem religiös-kosmischen Grundgefühl" (a.a.O., S. V I I ) nicht „paulinisch-christlicher" (ebd.) Art hergeleitet und als eine „deutsche pädagogische Anthropologie" (ebd.) gründlich mißbraucht. Der katholische Moraltheologe H . Zeller betonte zwar im Anschluß an W. Vollrath, „daß man die Religiosität Herders nicht verstehen könne, ohne seine Christologie zu würdigen" (Zeller, Grundlegung, 60 Anm. 2) und auch deren partielle Funktion für Herders Humanitätsbegriff (vgl. a.a.O., 163 ff.). Zeller versteht Herders Christologie aber doch nur als eine letzte, noch zu beachtende akzidentelle Seite von Herders Theologie, die für Zeller mit unter dem Gesamturteil steht, daß „am Ende der Aufklärungszeit bei den protestantischen Theologen ein Religionsbegriff herrschte, der weder der Wirklichkeit Gottes noch der des Menschen gerecht wurde" (a.a.O., 22). Unter diesen Theologen ist zwar Herder für Zeller kein Schauspieler im geistlichen Kleide, aber doch nur „erst ein Anfang zu vollerer Erkenntnis" (ebd.). Herder sei der „Vorwurf seiner eigenen Klage" (a.a.O., 62) zu machen, daß er infolge seiner „rationalistischen Befangenheit" (ebd.) keinen „vollen Gebrauch" von seiner christologischen Einsicht mache und nicht „bis in den Bereich echt übernatürlichen Lebens vorzudringen" (ebd.) vermochte und auch nicht die übernatürliche „Gnade" (ebd.) Christi verstehe. Eine katholische Dublette von K. Barths Herderkritik, die sich als solche auch darin erweist, daß Zeller meint, Herders Sündenbegriff (vgl. dazu u. S. 240 f.) kritisieren zu müssen. Der katholische Theologe Faust hat generell Herders christologische Basis nicht erkannt (vgl. Faust, Mythologie, 228). Am christologischen Motiv vorbei geht auch F. M. Barnard. Er spricht lediglich sehr unspezifiziert und wenig problembewußt davon, daß sich „Herders politischer Glaube . . . in erster Linie auf die jüdisch-christliche Tradition und auf den weltlichen

148

Herder und das Geistliche Amt

Humanismus der Renaissance und der Aufklärung" (Barnard, Zwischen Aufklärung, 172) stütze und bestimmt als Herders Hauptziel, „weltliche Werte auf religiöses und religiöse Werte auf menschliches Gebiet zu übertragen" (a.a.O., 110). Barnard meint damit, daß Herder Religion unter einem sozialen Vorurteil selektiere (vgl. ebd.). Herders Frage ist diese auf Barnards dualistischem Hintergrund entstehende ideologische Synthese nicht. Religion ist für Herder nicht etwas, was erst noch nach einer sozialen Seite hin interessant zu machen wäre, sondern Religion ist Soziales Verhalten wie am Beispiel Jesu ablesbar. Es geht daher Herder nur lediglich darum, daß diese Religion praktisch wird, d. h. um den Zweck, „die Religion zum Wohl der Menschheit und der Gesellschaft anzuwenden (!)" (SW VI, 63). Das, was Barnard Herder als Mangel seiner Geschichtsphilosophie vorwirft, „die mangelhafte Trennung von empirischem moralischem und metaphysischem Gebiet" (a.a.O., 136) und wofür Barnard Herders „im wesentlichen religiöse Auffassung der universalen Ordnung" (ebd.) verantwortlich macht, ist Barnards, nicht Herders Problem, für den sich diese dualistische bzw. sogar trichotomische akademische Problematik nicht stellt. Sicher liegt es auch an dem akademischen Standort Barnards, daß er Christentum und Humanität bei Herder lediglich als soziale Bewußtseinsform, also „eine Geisteshaltung" (a.a.O., 113), „eine geistige Haltung, die eine gemeinsame Gesinnung" (a.a.O., 178) darstelle, verstehen kann und Humanität weder in ihrer christologischen Tiefe noch als eine in der sozialen sympathetischen Tat sich vollendende menschliche Existenzweise in den Blick bekommt. Zu flach auch W. Dobbek: „J. G. Herder war ein tief religiöser Mensch" (Dobbek, Herders Weltbild, 10) oder seine Behauptung hinsichtlich des Humanitätsverständnisses Herders: „Der Mensch Jesus steht tatsächlich im Blickpunkt, wird freilich mehr im Sinne eines kämpferischen, dem miles christianus des Erasmus abgelauschten Humanismus als der .schönen Seele' pietistischer Prägung geschildert" (a.a.O., 108). Beides ist unzureichend. Den Zusammenhang von „Bildung und Nutzen" (vgl. o. S. 43ff.) für Herder beobachtet richtig J . Irmscher, Herder als Pädagoge, 114. In solcher „Einheit" aber das Herdersche Motiv zur Förderung humanistischer wie realistischer Bildung zu sehen, ist zu oberflächlich, was bei Grube, Die Idee, 97 richtig gesehen wird. Ubertrieben schließlich ist J . Irmschers Euphorie, darin die Vorarbeit und das Privileg der „Schule unserer sozialistischen Gegenwart" (J. Irmscher, a.a.O., 114) zu sehen. Der Herdersche „Humanismus" ist nach unseren Erkenntnissen seiner Erfahrung und Tradition nach ein christologischer und als solcher von realem Bezug. Er liegt diesseits und ist unterschieden sowohl vom humanistischen Imitationsprinzip wie von dem durch die Aufklärung geprägten Humanitätsideal. Sein Vorbild ist allein Jesus Christus. Sachgemäßer zur wichtigen Frage der „Gestalt Jesu" bei Herder äußert sich U . Cillien, J . G. Herder. Christi. Humanismus, 65 ff. Wir unterscheiden uns von ihr in unserer Interpretation der Christologie Herders als des Zentrums einer als Humanität den Menschen befreienden Existenzform. Während U. Cillien darum bemüht ist, für Herder das Mißverständnis abzuwehren, sein Bezug auf Jesus Christus sei lediglich eine Illustration seines vernünftigen Humanitätsdenkens (vgl. a.a.O., 67), versucht sie „umgekehrt" (ebd.) und etwas abstrakt, Herders Humanitätsidee als eine Aktualisierung des Lebens Jesu als „reinster Form" (ebd.) der sich sonst in der Geschichte nur unvollkommen offenbarenden Humanität zu sehen. Konsequent ist daher für sie der „.geschichtliche' Jesus", der, dem das Prädikat der „Einzigartigkeit" (ebd.) eignet und

Der Begriff der Methode

149

Humanität immer nur als Vorenthaltung, Gesetz, Utopie für den konkreten geschichtlichen Menschen gedacht. Dieser muß immer bemüht sein, dieses Vorbild so zu erreichen, daß er sich als unvollkommener „Mensch der ,Mitte'" (ebd.) versteht, der „in allem Handeln und Wirken das rechte Maß zu finden und zu halten" (a.a.O., 14; 64 u.ö.) hat. Herder selbst lehnt diese, sich in dieser Argumentation abzeichnende, Vergottungstendenz der Person Jesu ausdrücklich als unevangelisch und unnützlich ab. Jesus ist ihm befreiendes Vorbild zum Menschsei« und hat seine nützliche Funktion für den geschichtlichen Menschen in der Bildung zu seiner Identität und tatsächlichen Befreiung zu sich selbst. Herders anthropologischer Begriff für menschliches Verhalten ist demgemäß nicht von einer utopischen Mitte aus konzipiert, sondern realistischer Gehorsam, der Gegenbegriff nicht Stolz, sondern Heuchelei. K. Wiesner formuliert als Ergebnis seines Versuches, die „Einheitlichkeit in Herders Leben und Werk" (Wiesner, Herder als Christ, 39) in „Herders Christsein" (ebd.) zu erweisen: „Christsein heißt für ihn (sc. Herder) letztlich nichts anderes als Menschsein" (a.a.O., 51). Wiesner meint damit aber in Wirklichkeit, daß sich so ein „Bruch" (a.a.O, 41) durch Herders Christsein hindurchziehe, der darin begründet läge, daß „Herders Weg als Christ zwischen Hamann und Spinoza hindurchläuft" (a.a.O., 41; vgl. 50). Wir unterscheiden uns von Wiesner insofern, als wir 1. in Herders Zuwendung zum Menschen keinen Bruch finden können, dieser liegt in Wiesners spekulativer Zweinaturenlehre (vgl. a.a.O., 40), 2. nicht zu Spinoza und Hamann laufen müssen, um den Humanitätsbegriff Herders zu fassen, dafür ist ausreichender Grund die neutestamentliche Christologie Herders, vor allem aber 3. damit, daß sich diese Christologie Herders nicht im Spekulativen erschöpft, sondern von Herder als nützliche und das Menschsein des Menschen befreiende Idee praktisch angewandt wird. Dieses spezifisch-theologische, nämlich christologische Motiv für Herders Bildungstheorie und seine Schulpraxis erkennt nicht J . Irmscher, Herder als Pädagoge, 109ff., wie diesem überhaupt der Zusammenhang der verschiedenen Bildungstätigkeiten Herders im Rahmen der Schul- und Gemeindepraxis verschlossen bleibt (vgl. a.a.O., 117 Anm. 64). Historisch und traditionsgeschichtlich falsch auch H . Dinkel. Er glaubt noch, daß „Herders Humanitäsideal. . . auf dem Fortschrittsglauben der Aufklärung" (Dinkel, Herder, 58) basiere, zu der sich Herder „in den 80er Jahren" (ebd.) zurückgewendet habe. Demgemäß muß Dinkel die Auffassung des Christentums bei Herder so interpretieren, daß es „nur eine Etappe auf dem Erziehungsweg zur reinen Humanität" darstelle und in diesem Sinne „ C h r i s t u s . . . Lehrer der Humanität" (a.a.O., 59) sei. Ferner, daß Herder die „christliche Heilsgeschichte zu einer unaufhörlich fortschreitenden Vervollkommnung des Menschengeschlechts" (ebd.) säkularisiere und deren Ziel als „Vollendung der Humanität" (ebd.) immanentisiere. Natürlich! Aber dieses Vorgehen Herders findet nicht durch ein obskures „Glaubensbekenntnis der Aufklärung im ganzen 18. Jahrhundert" (ebd.) seine Erklärung, vielmehr schlägt in Dinkel's Alternierung von Transzendenz und Immanenz dessen katholisches Vorverständnis und christologisches Erkenntnisdefizit für eine adäquate Herderinterpretation negativ voll durch. Interessant ist an Dinkels Arbeit, daß offenbar auch Wieland die christologischen Prämissen Herders geteilt haben muß (vgl. ebd. und a.a.O., 74). Herders Christologie wird aber nicht nur immer wieder mit einer natürlichen Theologie, „ G o t t ist ja der Welt immanent" (Günther, Das Problem des Bösen, 139), verwechselt, sie bleibt vor allem in ihrer Funktion völlig im dunkeln. Deswegen ist

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Herder und das Geistliche Amt

auch Kantzenbachs halbherzige Ehrenrettung Herders als Theologe in der Weise, daß er bei H e r d e r die Verbindung der „Humanität und Tradition" (Kantzenbach, Geschichte, 4 3 f f . ) erhebt, „Geschichte als Offenbarung" (a.a.O., 45ff.) definiert und „Herders reines Christentum" (a.a.O., 4 7 f f . ) postuliert, vor diesem Hintergrund und der Tatsache, daß Kantzenbach selbst wieder alles zurücknimmt und aufgrund seines eigenen Bekenntnisses einer „notwendigen Diastase von Christentum und Kultur" (a.a.O., 4 9 ) H e r d e r doch wieder in die Barthsche E c k e eines natürlichen und damit fragwürdigen Theologen (vgl. ebd.) abstellen möchte, nicht nur eine verbale Angelegenheit, sondern zudem bloß die halbe Wahrheit. Das funktionale Defizit der H e r d e r interpretation Kantzenbachs drückt sich insbesondere darin aus, daß er Herders christologische Kritik an den kirchlichen christologischen D o g m e n nicht einordnen kann.

In der ersten Redaktion benennt Herder noch diesen Geist des eigenen Werkes: „Die meiste, ja alle Kraft und Nahrung (sc. meines Buches) war nicht aus dem Geist der Zeit und Philosophie und dergleichen, sondern aus Bibel! Jene grosse Veranstaltungen Gottes ! jene Muster der Schriftsteller, Bekenner und Propheten - das herrlichste Exempel Jesu und der Apostel selbst - o Brüder, welch ein Bildersaal grosser, weckender, Kraftvoller Lehre! Um Sie zu schmecken, muß man Offenbarung Gottes in der Bibel glauben! sie im Gange des ganzen Menschengeschlechts auch glauben! und also natürlich immer und überall auf den grossen Mittelpunkt zurückkommen, um den sich alles dreht und füget! Jesus Christus der Eckstein! und Erbe! der gröste Bote, Lehrer, Mensch des Vorbildes, aber auch seiner Person nach Eckstein der Seligkeit, auf den wir alles fügen sollen, was jene Welt bewähren wird!"296 Dieser großen Mitte seines Buches über das Predigtamt wie seines Denkens überhaupt entspricht in der veröffentlichten Redaktion der Provinzialblätter dann auch kompositorisch die Zuspitzung und Konzentrierung alles Gesagten im XV. Provinzialblatt auf „Christus"2'7, dem Schluß- und Kulminationspunkt seiner Schrift. Daß diese Konzentration auf Christus natürlich nicht nur ein Wesensmerkmal von Herders Darstellung des Geistlichen Amtes sein kann, legte ja schon ihre oben298 erörterte Einbettung in die professionelle Geschichtsphilosophie Herders als eines amtierenden Predigers nahe. Negativ ausgedrückt, nicht nur in bezug auf das Geistliche Amt, sondern „überhaupt (!)" 2 ", glaubt Herder, daß „das Kraftvolle Vorbild, oder vielmehr die ewige Gegenwart Christi bis an den letzten der Tage nur zu oft zu lauem, kaltem Wasser gemacht worden"300 ist und daß „mans für die Lehrer als Nachfolger Christi, doppelt und dreifach also verspület"301 hat.

2% 2,7 m

SW VII, 222; vgl. SW VII, 213. SW VII, 228; vgl. SW VII, 307ff. Vgl. o. S. 141 ff.

m 300 301

SW VII, 200 M. Ebd. Ebd.

Der Begriff der Methode

151

,Jesus Christus"™1 ist also der „Mensch des Vorbildes"™. Auf ihn als „Eckstein und Mittelpunkt"304 ist „Schöpfung und Haushaltung der Welt, Bildung, Folge und Ordnung aller Zeitalter"305 verfaßt. Solcher Mittelpunkt ist Jesus aber „allein als Lehrer der Welt! Hirtel Arzt! geistlicher Retter und Helfer!"306, als „nur - Menschensohn! Lehrer! geistlicher Priester"307. Er ist deshalb „ein wahrer Menschensohn"309, weil er Menschlichkeit nicht akademisch dozierte, sondern „als ein Mensch"30' „lebte, sprach, handelte und wandelte"310. Als unser Vorbild ist Jesus „Brudervorbild"311, er ist Anfänger und Vollender des höchsten und tiefsten Menschenglaubens"312, der „größte und innigste Menschenzeuge"313, der „alleinige edelste Bruder unsrer Menschheit"314, der „Lehrer der Menschen mit Wort und That und Empfindung auf die simpelste, stärkste Weise"315. Durchgängige Mitte seines Lebens ist „Menschen- und Bruderliebe"3" oder kurz: „Menschenliebe"317. Jesus ist „Ebenbild der Menschheit"™, „Unser Bruder"3". Er steht „mit in den Schranken der Laufbahn, ist der Einzige vor! Sei also auch in unsern Schranken, in unsrer sündigen Gestalt, in unserm tiefen Abgrunde - wie Alles, so auch als Lehrer der Welt! Arzt, Hirte, das Einige Muster"120 In „dem Geiste Jesu"m wurzeln die „ganze Religion!"311, „Christenleben"3", „Predigtamt und Lehrersinn"3". Jesu Göttlichkeit liegt in seiner Menschlichkeit. Nur als Menschensohn ist er Gottessohn. Nur „in der Gestalt des sündigen Fleisches"31'' ist er „Abbild der Gottheit"316, „Bote Gottes und Opfer für die Welt"317. Diesen spannungsreichen Zusammenhang darf man nicht auf eine der Seiten auflösen. Jesus ist weder als „der immer substituirte, . . . trügende Gott"328 noch „allein zum Menschen und nachher in seinem höhern Stande zum belohnten Menschen"329 ausdichtbar und zu erkünsteln. Vielmehr gilt: „Christus, so gewiß der Eingebohrne, Sohn Gottes, wahrer Gott und ewiges Leben:

3,7 S W VII, 2 0 7 M. S W VII, 222. 318 Ebd.; S W VII, 3 1 1 . Ebd. 3 " S W VII, 208 M ; S W VII, 308. S W VII, 199 M. 320 S W VII, 208 M. S W VII, 198 M. 321 S W VII, 209 M; vgl. S W VII, 201 M. Ebd.; vgl. S W VII, 208 M ; S W VII, 307. 3!2 S W VII, 209 M. S W VII, 199 M. 323 Ebd. S W VII, 200 M. 3 " Ebd. Ebd. 325 S W VII, 198 M ; vgl. S W VII, 307. Ebd. 326 S W VII, 198 M ; vgl. S W VII, 207 M. Ebd. 327 S W VII, 199 M. Ebd. 32S Ebd.; vgl. S W VII, 308. Ebd. 329 S W VII, 199 M. Ebd. Ebd.; vgl. S W VII, 201 M. S W VII, 2 0 7 M ; S W VII, 3 1 1 ; vgl. S W :, 204 M.

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Herder und das Geistliche Amt

so gewiß auch überall, wo er handelte, ganz Mensch und als unser Bruder fühlend!"330 Für Herder ist diese Identität zwischen Mensch und Gott in Jesus keine dogmatische Aussage im herkömmlichen Sinne einer spekulativen Zweinaturenlehre, sondern die praktische Identität in der Person Jesus mit praktischer Funktion für die Menschheit. „Allein eben darin und dadurch, daß der wahre Mensch, Jesus Christus, handelte, litt und fühlte, bildete und schattete sich in ihm die Gottheit ab! Nur allein also war Gott in Christo, die Menschheit mit sich zu vereinigen und zu versöhnen - deutlicher kann die Schrift nichts sagen!"331 Jesus ist nicht nur für „die Lehrer als Nachfolger Christi""1 vorbildich „als Lehrer"333, sondern er ist als „der Mensch Jesus Christus . . . Bote Gottes, Lehrer der Menschen"334 und darin ihr Vorbild. Er ist eben „Abbild Gottes im (!) Ebenbilde der Menschheit"™. Eine mit sich selbst als menschliches Geschöpf Gottes empfundene, gelehrte und gelebte Identität, „Menschengottesempfindung"336, ist der „Sinn und Geist der Religion Jesu""7 und als solcher „Gottessinn"338. 330

333 Ebd. Ebd. 334 SW VII, 200 M. Ebd. 352 Ebd. 335 y i i ) 311 _ e ¡ n e schärfere Formulierung Herders als Abbild Gottes und Ebenbild der Menschheit" (SW VII, 207 M), obgleich das gleiche gemeint ist, wie SW VII, 198 M beweist. 336 g-ψ VII, 207 M. Diese christologische Prämisse ist auch die Klammer für jene Aussagen Herders in anderem Zusammenhang über die Entfaltung der im Menschen liegenden Kräfte als Initiierung seiner Gottesebenbildlichkeit, die neurere Herderforscher wie T. Namowicz oder W. Flemmer noch unzureichend entweder als „Entwicklung vom Pietismus zum Prometheismus" so faßt Adler, Pantheismus, S. 89, Anm. 28, die Hauptabsicht von Namowicz zusammen; vgl. Namowicz, Pietismus und Antike 1 ff. - beschreiben oder - wie Flemmer - als „Christentum und Promethie" (Flemmer, Christentum, Dissertationstitel) alternieren. Glaube, der Gestalt wird, praktische Theologie, war von jeher de facto, Bekenntnis zum Menschen und Antithese zu jeder Form eines formalen, für den Menschen nutzlosen Theismus. Es ist eine erwiesene Tatsache, daß die ersten Christen nicht wegen ihres Theismus, sondern wegen ihres A-theismus gesellschaftlich diskriminiert, verfolgt und getötet wurden. Der Theologe Herder steht in dieser Tradition. Man braucht also weder eine „Entwicklung" noch einen „Widerspruch" in Herders Menschenbildung zu erheben, seine Christologie ist ausreichender und ganzer Schlüssel für diese nur scheinbaren Widersprüche und Entwicklungen. Der Mangel an chnstologischer Einsicht kennzeichnet auch die Herderkritik eines Herderkenners vom Range Adlers. Herder formal als Atheisten aufzuweisen - wie es letztlich Adler tut (vgl. o. S. 29) - ist vor diesem Hintergrund der Christologie Herders, die sein ganzes Denken trägt, nur Beweis für ihn als einen rechten christlichen Theologen und Prediger. 337 s w VII, 204 M. Die spezialtheologische Frage nach der christologischen Variante, die Herder hier vertritt bzw. mit der er operiert, ist interessant, sie trägt aber zum Aufweis unseres jetzigen Zusammenhanges nicht viel aus (vgl. o. S. 69, Anm. 14; hier Anm. 336; 166, Anm. 51; 229f.; 256, Anm. 9; 261). Zur Komplexität der neutestamentlichen Christologie vgl. Bultmann, Theologie, 35ff.; 45ff.; 81 ff.; 126ff.; 178ff.; 292ff.; 385ff.; 507ff. und - kürzer - Conzelmann, Grundriß, 91 ff.; 367ff. »» SW VII, 204M. 351

Der Begriff der Methode

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Daß es sich bei dieser an Jesus Christus abgelesenen Menschlichkeit um keinen ideologischen Humanitätsbegriff, sondern um praktische Menschlichkeit im Sinne einfältiger Annahme, einfältigen Lebens und einfältiger Bildung der eigenen menschlichen Verfaßtheit, d.i. „Menschenglauben" 33 ', handelt, beweist Herders nähere Charakterisierung derselben. Dieser Menschenglaube konkretisiert sich nämlich nicht etwa in schöngeistiger Ablenkung von menschlicher Praxis oder in anderen hohen, dem Menschen nicht dienlichen Vertröstungen und utopischen kirchlichen wie gesellschaftlichen Bildungszielen, sondern in „Gehorsam"™. Gehorsam nämlich gegenüber sich als Mensch, gegenüber der Menschheit bei sich und anderen. Denn Jesus, der ganze Sinn der „Offenbahrung und Sendung Gottes"™, war „blos Inhalt und Vorbild dessen, daß er diene, und Gehorsam lerne und für den grösten Theil der Menschenfülle ein Vorbild sei zur schwersten, demüthigsten, Göttlichen Pflicht - Gehorsam!"1*1 Als „Anfänger und Vollender des höchsten und tiefsten Menschenglaubens"m ist er gleichzeitig Vorbild des „höchsten und schwersten Ideals der Tugend, Aufopferung, des Gehorsams und der Hingabe aus Bruderliebe" 344 , welches jenem korrespondiert. Unvollendetheit des Lebens ist Konsequenz dieses der Menschheit gehorsamen Verhaltens. Es ist kaum „ein unvollendeterer Entwurf eines Lebens . . . als es das Leben Jesus war" 345 . Dennoch sieht Herder darin „das gröste 3» SW VII, 200 Μ. Κ. Grube, der unter dem - an der aufkommenden dialektischen Theologie abgelesenen - Eindruck einer „unübersteigbaren Kluft . . . zwischen Gottesglauben und Glauben an den Menschen" (Grube, Die Idee, 6) stand, versuchte in den dreißiger Jahren, Herders, wie er sie nennt, dem Umkreis nach erstmals konsequent abgeschrittene „rein-menschliche Bildung" (a.a.O., 101) bzw. „Bildungstheorie der menschlichen Immanenz" (a.a.O., 102) in die Ecke des Neuhumanismus zu balancieren. Überzeugend ist dieses Bemühen nicht, da, wie Grube selbst zugeben muß, für Herder selbst der oben genannte Widerspruch nicht existent war: „Es sei schon hier angemerkt, daß für Herder alles Lebendige am göttlichen Wesen teilhat, daß es daher keinen Dualismus zwischen Mensch und Gott im Sinne Franckes gibt. Die Geschichte kann so auch, ohne ihren menschlichen Charakter zu leugnen, von Herder an vielen Stellen als Gottes Wirken bezeichnet werden" (a.a.O., 98, Anm. 225; vgl. auch a.a.O., 102). Auch verbaute sich Grube durch Rücksicht auf jene falsche Alternierung die rechte Erfassung von Herders Umgang mit der humanistischen Tradition, die er lediglich als eine „formale Vorbildlichkeit" (a.a.O., 106) ansehen kann, ebenso wie die Erfassung von Herders Humanitätsbegriff, den er als „Innenkultur" (a.a.O., 108) verkürzt. Das „nicht ganz durchsichtige Halbdunkel" (a.a.O., 101), das auch Grube für Herder konstatiert, liegt also offenbar an der eigenen problematischen Prämisse Grubes selbst. 340 SW VII, 198 M; vgl. SW VII, 210 (hier für Paulus charakteristisch: „Gehorsam vom Kreuz Christi"); SW VII, 207 M; SW VII, 311. Wie das folgende zeigt ist „Gehorsam" bei Herder nicht auf eine dem Menschen fremde Autorität bezogen, und kann daher auch nicht als Orientierungssystem für deren Stabilisierung herangezogen werden, sondern auf den Menschen selbst. Gehorsam zu sich als Mensch besagt nichts weniger als über sich selbst - als Mensch! - praktisch bestimmen! Gehorsam ist also ein Begriff aus der Selbstverwirklichungssphäre des Menschen eine aktive und befreiende Kategorie! 341 SW VII, 198 M. 342 Ebd. w Ebd.; vgl. SW VII, 204 M; SW VII, 311. 3,5 SW VII, 200 M. 345 SW VII, 198 M; vgl. SW VII, 307.

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Herder und das Geistliche A m t

Leben!"™ - das „Optimum Maximum im Symbol des Minimum der Natur"347. Gehorsam zieht sich bei Jesus durch alles hindurch, „durch Stand, Leben, Lebensbeschreibung, Schreibart, Mittel, 2weck!"m In Jesu Rede findet Herder „nicht ein blosses, leeres, unbestimmtes Herablaßen zu den Menschen, ich weiß nicht woher? und aus welcher Wolkenhöhe? . . . sondern treues Theilnehmen auch an den Schwachheiten der Menschlichen Natur! brüderliches, wahres, ganzen Empfinden und Mitempfinden"™. Stand „verschmähete er"350, er war weder Levit, noch Priester, noch Hausvater, noch König351, sondern „ward nur - Menschensohn! Lehrer! geistlicher Priester/"352 Wegen dieser menschlichen Nähe geschieht es nur „aus Menschlicher Behaglichkeit und Träge"353, wenn man das „Unnachahmbare, Weite und Grosse"354 an Jesus hervorstreicht, statt eine einfältige „Nachfolge im Geiste Christi"355 zu wagen. Der Menschenglaube Jesu ist wegen seines menschlichen Gehorsams in Rede und Tat „einfältig"356 und in dieser Einfachheit „das Kraftvolle Vorbild"1", „rein und rund, und Kraftvoll und gewaltig"358. In seinem Gehorsam liegt aber auch gesellschaftlicher Nutzen verankert: als antischolastische Theologie359, als „Galiläer für Galiläer"m „gründete er das erhabenste, ewigste der Reiche Gottes!" 361 , als unkonventionelle Lebensart gegen unmenschliche Sitten362 und Vorurteile363 seiner Zeit,

346

SW VII, 198 M ; SW VII, 307.

SW VII, 3 0 7 ; vgl. SW VII, 198 M. Zur „Maxima-Minima-Dialektik, historisch gewendet", also als formales geschichtsphilosophisches Modell „von Herder bis M a r x " , um die „sich Herders Geschichtsdialektik konzentriert", vgl. Irrlitz, Deus sive natura, 50f. u. 51, Anm. 22. Die inhaltliche, spezifisch christologische Pointe dieses Modells bei Herder erkennt Irrlitz nicht. 3,7

34 '

SW VII, 307.

349

SW VII, 199 M ; vgl. o. S. 79.

350

SW VII, Vgl. SW SW VII, SW VII,

351 352 353 354 355 356 357

199 M ; vgl. SW VII, 198 M. VII, 199 M ; SW VII, 307. 199 M. 200 M.

Ebd. SW VII, 201 M ; vgl. SW VII, 2 0 0 M. SW VII, 201 M. SW VII, 200 M.

SW VII, 201 M. Vgl. SW VII, 201 M ; SW VII, 308. So auch bei Paulus (vgl. SW VII, 2 1 0 ) von Herder abgelesen. 358 35 '

360

SW VII, 201 M ; SW VII, 308.

SW VII, 201 M. 362 Vgl. SW VII, 201 M : Beispiel Herders: Fasten; SW VII, 3 0 8 f . : gegen Sonntagsgesetz. 3« SW VII, 201 M : Beispiele Herders: Vorurteile gegen Zöllner, Sünder, Essen, Trinken; auch SW VII, 309. 361

Der Begriff der Methode

155

als nationale Empfindlichkeit364 wie politisch unliebsame Auftritte gegen völkischen Nationalismus3" und als Weite und Öffnung des Menschenreiches sogar für politische Staatsfeinde: „Samariter"*66 u.ä. Gegenteil des sich im Gehorsam zur Menschheit praktisch bekennenden Glaubens und Lebens Jesu ist die Lebensform der „Heuchelei"167. Diese war z.Z. Jesu für Herder verkörpert in der offiziellen Theologen-Kirche der .„Heuchler"' 368 : Schriftgelehrten und Pharisäer369, zur eigenen Zeit aber im Predigtamt370. Ihre Heuchelei war, zu wissen von der eigenen menschlichen Geschöpflichkeit, sie aber selbst nicht zu leben. Lieber andere darüber zu lehren und zu bekehren als selbst Gottes Gebot, Mensch zu sein, gehorsam zu tun371. Heuchler sind solche, die sich ihrer gottgewollten Menschheit schämen und sich und anderen die erlösende Identität mit sich selbst versagen. Heuchelei geht so am „Sinn"172 von Gottes Gebot vorbei. Das aber „wars, was Christus liebte"373. „Lippen"374 und „Herz"375 der Heuchler sind nicht an der Liebe dieses Sinnes orientiert. Wer Gottes Gebot zur Menschlichkeit gehorsam liebt, für den kann das weder eine private noch lediglich eine innere Sache bleiben. Denn es müssen „mit diesem unmittelbaren Umfaßen Gottes auch die Pflichten von Aufopferung verbunden werden"376, für Jesus „sein Kreuz"177. Sie sind „unmittelbare Erfordernifl . . . (conditio sine qua non)"378 für ein „geläutertes Gemüth"379. Mit der „blossen Rechtschaffenheit des Sinnes, allen qualitatibus occultis Philosophischer Systeme, und dem taliter qualiter Christlicher Pflichten"380 ist Vgl. SW VII, 201 M: Beispiel Herders: Angriffe Jesu auf die Städte; Weinen um sie. " s Vgl. SW VII, 202 M: Beispiele Herders: Vorurteile gegenüber Samaritern, Kanaanäern, Heiden; Erwählungsbewußtsein der Juden; vgl. auch SW VII, 309. 3M SW VII, 201 M f. 367 SW VII, 283, Anm. 1 ; vgl. o. S. 101 ; SW VII, 286; SW VII, 289; SW VII, 309. Zu Heuchelei als Gegenteil von „Einfalt" vgl. SW VII, 177 M; SW VII, 214; SW VII, 218; SW VII, 269, Anm. ; SW VII, 272; SW VII, 285; SW VII, 294; SW VII, 299, Anm. 1; SW VII, 301, Anm. 1; SW VII, 302, Anm.; SW VII, 305f.; SW VII, 308. 368 SW VII, 202 M. 3ro Vgl. o. Anm. 367. 3 " Vgl. ebd. 371 Vgl. SW VII, 202 M. 372 SW VII, 202 M; vgl. SW VII, 204 M („Gottessinn"); SW VII, 205 M („Sinn und Aether auch des Amts" ist, zum „Sinn und Bau seines (sc. Christi) Reiches" beizutragen); SW VII, 209 M (Sinn der Geschichten und Parabeln Jesu aus dessen „Seele,. . . Miene,. . . Angesicht,. . . Sinn,. . . Seele erklären"); SW VII, 218 (von der ersten Kirche: sie war „näher dem Sinn und dem Herzen"); vgl. SW VII, 309 („Sinn" als Gegenteil von „Buchstabe"). 373 SW VII, 202 M. 375 Ebd. 374 Ebd. 3 " SW VII, 204 M. 377 Ebd.; vgl. SW VII, 207; SW VII, 214 (von Luther). 378 SW VII, 204 M. 379 Ebd. 380 Ebd.; vgl. SW VII, 211: auch als Predigtziel ungeeignet! 3M

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nicht „gedient"381. Menschenglaube, auf Gottes Gebot hin gelebte Menschlichkeit Gottes, erfordert als Konsequenz das Opfer und Kreuz für den Mitmenschen. Das Geschenk menschlicher Identität beinhaltet also das Geschenk menschlicher Solidarität. Es ist nicht „zu läugnen"382, daß wie Jesus „alle Liebe Gottes und des Nächsten, oder vielmehr Gottes im Nächsten, die Liebe zu ihm einzig und allein im Bruder, selbst dem elendesten, geringsten, kleinsten Bruder selbst, einem Kinde, einem Unmündigen, unmittelbar als ob man Gott darin liebte"383 mit seinem Gehorsam gegen Gott verband, dies alles auch „Hauptsumme des Christenthums"384 ist385. Dermaßen ist also diese in ihre individuellen und gesellschaftlichen Konkretionen ausgezogene „Menschen- und Bruderliebe"™ die Mitte in Jesu Leben, die „alles aufhob, hielt und stärkte!"387 Sachgemäß faßt Herder zusammen: Jesus... ist Lehrer und Urheber der Religion, die ich lehre!"388 Der christologische Ursprung von Herders Humanitätsbegriff ist offensichtlich. Als solcher389 ist er von kirchenkritischer, vor allem aber gesellschaftskritischer Substanz und Virulenz.

c) Menschlicher Geist als Geist Gottes Nach den ausführlichen Darstellungen des theologischen und christologischen Hintergrundes von Geschichte und Humanität stellen wir einen größeren Belegzusammenhang dieses Komplexes nicht mehr vor und beschränken uns in unserem Zusammenhang auf Herders Grundaussagen zu seinem Geistbegriff und Konsequenzen aus bereits Gesagtem. Natürlich ist auch Herders Geistbegriff ausschließlich theologisch strukturiert. Wir haben bereits betont390, daß der Begriff des Geistes praktisch-theologischer Provenienz ist. So geht der absolute Gebrauch von Geist und Kraft durch Herder auf 1. Kor 2,4391 zurück. Paulus gebraucht ihn dort im Zusammenhang der Erörterung und Abgrenzung seines Wortes und seiner Predigt von „überredenden Worten menschlicher Weisheit"392 und charakterisiert seine Predigt inhaltlich als „göttliche Predigt"393, d.h. der Verkündigung von „allein Jesus Christus,

3,1 382 3S3 584 585 384 387

SW VII, 204 M. Ebd. Ebd.; vgl. SW VII, 207 M; SW VII, 311. SW VII, 204 M. Vgl. SW VII, 205 M. SW VII, 311; vgl. SW VII, 207 M; SW VII, 204 M. SW VII, 207 M; vgl. SW VII, 204 M; SW VII, 311.

388 SW VII, 311. Vgl. o. Vgl. o. 3 " Vgl. 1. 3 . 2 1. Kor 3.3 1. Kor 389 3,0

S. 52, Anm. 39. S. 27. Kor 4,20. 2,4a. 2,1.

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dem Gekreuzigten" 3 ' 4 , der Weise nach aber als nicht philosophisch demonstrierend, „sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft"3'5. Herder übernimmt diese theologische Formulierung des Paulus wortwörtlich. Über das „Prophetenwerk" 3% seiner Zeit schreibt er, daß es „Beweis des Geistes und der KraftZ"3'7 sei. Und um zu erklären, was er damit meint, verweist er auf das Vorbild Paulus und zitiert dem Wortlaut nach 1. Kor 2 , 4 + 53'8.

Herders wörtliche Anlehnung an diesen biblischen, praktisch-theologischen Zusammenhang besteht aber nicht nur in der wörtlichen Nebenordnung von Geist und Kraft gleich dem paulinischen Sachverhalt. Herder übernimmt diese Formulierung offenbar auch hinsichtlich einer vergleichbaren kirchlichen Situation. Paulus hat eine innergemeindliche Situation vor Augen, die durch eine Position gefährdet war, die offenbar „mit hohen Worten und hoher Weisheit"3" das Reich Gottes verkündigte und dadurch den Glauben „auf Menschenweisheit" 400 und nicht auf „Gottes Kraft"401 gründete. Herder gebraucht die Begriffe Geist und Kraft im Zusammenhang und als Antithese zu „den Propheten unsrer Zeit, den Demonstranten unsrer Reiigionswahrheit"402, die „Philosophische Beweise der Religion "403 in das Predigtamt wollen und haben einfließen lassen. Diesen spricht Herder die Legitimität ab, so nämlich, daß er ihren Nutzen in Frage stellt. „Beweise Gottes voll Geist und Kraft"™ dürfen nicht in philosophische 3.4

1. Kor 2,2. 1. Kor 2,4b. Der Begriff von Kraft taucht bei Paulus auch als Gegenbegriff zu „Worten" auf. 1. Kor 4,20: „Denn das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft." 3 * SW VII, 190 M. m SW VII, 190 M; vgl. SW VII, 186 M; SW VII, 306: Prophetengabe war es, „Wort Gottes in Stärke und Kraft zu beweisen", auch die Darstellung der Bibel geschehe „in Wahrheit! ohne Dichtung! daß sie würke! Prophetengabe für unsre Zeit!"; SW VII, 273, Anm. 1 f.: Die „Begeisterung" des Priesteramtes besteht darin, „Werkzeug" zu sein: „wie wird, wie muß er (sc. der Priester) seine Eigenheit vergessen! wie ganz verschlungen werden, in den Geist dem er dienet!" Vgl. Herders Erläuterungen zum Neuen Testament, 1775: Notwendiger als „tautologisches Gewäsch" dreschender Interpretation des N T durch „Paraphrasten und Wörterbuchschreiber" ist eine „Ubersetzung des N.T. im Sinne ihres Geistes und in der Fülle unsrer Sprache. Aber freilich schön klassisches Gewäsch könnte sie nicht seyn, denn auch die Urschrift derselben ist nicht Schön klassisch. Ihre Schriftsteller verachteten welke Blumen und Sprachen so gut sie konnten, mit Geist und Kraft!" (SW VII, 386, Anm. lf.) und Herders Bemerkung über die für ihn vorbildlichen „Gaben der ersten Kirche": „Ein Erweis des Geistes und der Kraft war mehr als ein Lexikon fremder (Sprachen) Worte!" (SW VII, 470). Vgl. auch: SW XII, 427 zu SW X, 172 und SW XX, 398 zu SW XIX, 32. 39« VII, 210. Offenbar stand in Herders Bibel nicht „in Erweisung des Geistes und der Kraft" (vgl. o. Anm. 395), sondern „in Beweis des Geistes und der Kraft" (Zit. nach SW VII, 210), was Herder freilich als „Erweis" verstand (s.u. Anm. 404). 402 " M . Kor 2,1. SW VII, 186 M. 400 403 1. Kor 2,5. SW VII, 303 M. 401 404 Ebd. SW VII, 186 M. 3.5

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„Beweise der Wahrheit der Religion "405 verkehrt werden. Metaphysische „Religionsbeweise"406 sind nämlich wirkungslos und damit ohne Anspruch auf Kraft. Das eigentliche „Räthsel"407 seines philosophischen Jahrhunderts ist, daß, obwohl „Religion, hundertfach im Großen und Kleinen so Philosophisch demonstrirt und erwiesen - doch am wenigsten geglaubt werde . . . und daß, wer sie etwa noch glaubt, sie am wenigsten aus diesen Demonstrationen glaube, diese Demonstrationen gerade zu der Zeit, da er am innigsten glauben will, am liebsten vergeße"40'. Erweist die Tatsache des Unglaubens die blasphemischen409 Versuche des „Philosophische(n) Maulwurf(s)"410 als geist-, kraft- und saftlose Angelegenheit, so entscheidet die Tatsache des Glaubens als Effekt, daß Gottes Geist und Kraft in ihr am Werke ist. Diese Wirkung und Qualität schreibt Herder auch der literarischen wie rhetorischen „Gattung Erweise der Schrift an ihr selbst: mit aller Fülle ihrer Einfalt, Zusammenhanges und Kraft, ohne Menschensatzungen, blos sofern sie sie selbst zeiget"4" zu. Sie ist identisch auch mit dem prophetischen Bemühen gleicher Verheißung, „Offenbahrung Gottes in all ihrer Einfalt, Zeitmäßigkeit, Würde, Kraft"412 darzustellen. Geist und Kraft sind also Eigenschaften wie Gottes so der „Schrift"™, der „Haushaltung Gottes"414, der „Offenbahrung Gottes"415, des „Werkes Gottes 4ib durch Zeiten und Völker" und ihrer simplen Darstellung durch den „Bote(n) Gottes ans Volk! Ueberbringer und Dolmetscher des Worts für Welt und Nachwelt!"417, den „Prophet(en)"4ii, „Angewehete(n) vom Geist Gottes!"419 Bezogen auf Gottes Offenbarung können Gottes Geist und Kraft auch zu Eigenschaften des menschlichen Umganges mit jener werden. Je einfältiger nämlich dieser ist, desto kräftiger kann Gottes Geist wirken und nützlich sein. In der Einfalt also ist menschlicher Geist Sprachrohr und Vehikulum von Gottes Geist - schafft diesem Raum zur Wirksamkeit. Geist und Kraft als Kriterien für die Wirksamkeit und den Nutzen des Geistes Gottes sind demgemäß ebenso Kriterien für die Wirksamkeit und den Nutzen des Predigtamtes als des Geistlichen Amtes. Das Geistliche Amt kann in „keinem Kritischen Spiel= und Räthselwerk, wo eine Handvoll Wind eignen Ansehens und Goldes zu erhaschen wäre"420, bestehen, sondern nur „in einer Stimme Gottes zur Bildung, Aufklärung und Seligung des Menschenge-

405 406 407 408 409

4,0

Ebd. SW VII, SW VII, Ebd. Vgl. SW SW VII,

187 M. 186 M.

411 412 4,5

VII, 187 M. 187 M.

4,4 415

SW VII, 189 M. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

416

Ebd. Ebd. 4,8 Ebd. 4 " SW VII, 185 M. 420 SW VII, 190 M. 417

Der Begriff der Methode

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schlechts" 421 . Als solches, öffentlich nutzbares Amt, ist es selbst „Prophetenwerk! Beweis des Geistes und der Kraft!"*22 Herder kann aus diesem Zusammenhang heraus ganz unbekümmert theologische Konsequenzen bis in den formalen Bereich ziehen. In Ablehnung der Bevorzugung nur der oberen Seelenkräfte der Menschen, der „Demonstrationsgabe" 4 ", beispielsweise betont er nicht nur, daß die Schrift „unser Einiges Muster der Philosophie und Seelenlehre"424 ist und von ihr „alle (!) Kräfte (sc. auch die „unteren" 425 ) der Seele gleich geachtet und gleichgeschonet"426 werden. Er legt vor allem Wert auf die Feststellung, daß „der ganze Geist des Menschen aus Gott und Gottes"*27 ist, „auch in seiner Bearbeitung, Kraft, und Würkung!"m Oder er qualifiziert die Folge des Gehorsams gegenüber Gott als „Menschlichen Geist">2\ Und das für Menschen und Prediger vorbildliche Heranwachsen und Starkwerden des Sohnes Gottes „im Geist"*1", „der würkliches Kind! nicht als und in Gestalt eines Kindes gebohren ward" 431 , bestimmt er „nicht anders" 432 als dessen Handeln und Lehren im Einklang und gemäß „dieser vollen Menschlichen Natur, seiner Erziehung, Denkart, Handelsweise"43J. Diese menschliche Nachfolge heißt „Nachfolge im Geist Christi"434, ist „Sinn und Geist der Religion Jesu"™. 422 Ebd. 425 SW VII, 263, Anm. Ebd. Ebd.; vgl. dazu SW VII, 280; 262, Anm. 2; 266; 271; 300f. 425 SW VII, 263. 426 SW VII, 263, Anm. 427 Ebd. 42! Ebd. 429 SW VII, 197 M. Vgl. Herders mit dieser theologischen Basis übereinstimmenden Ausspruch in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache: „Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art Göttlich, sofern er Menschlich ist" (SW V, 146). In der Forschung hat man daraus bisher lediglich eine Alternierung des göttlichen und menschlichen Ursprungs der Sprache und in Konsequenz davon eine Alternierung oder Verfremdung von Theologie und Anthropologie bei Herder herausgehört. So zuletzt: Ruprecht, Vernunft, 78ff. und Bahner, Zum ideologiegeschichtlichen Kontext, 95;97;102ff. In Wahrheit ist dieser Satz Herders aber eine praktischtheologische Aussage in dem Kleid theologischer Kritik. Denn es geht ja Herder darin nicht um eine Negation des göttlichen Ursprunges der Sprache - negiert wird nur das spekulative Kleid der Darstellung dieses theologischen Gedankens u.a. in Süßmilch's Religionspädagogik - , sondern darum, „die würdige Art" (SW V, 146) der Göttlichkeit der Sprache zu bestimmen. Und diese liegt nach Herder darin, daß ihr Ursprung menschlich ist. Eine Interpretation von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache in diesem praktisch-theologischen Kontext ist m . W . noch nicht geschehen. Statt dessen wird immer von neuem an der der Abhandlung Herders inadäquaten und ziemlich unproduktiven Frage der ideologiegeschichtlichen Einordnung der Herderschen Ideen herumlaboriert. Vgl. Bahner, a.a.O., 93 ff., der sie neuerdings geistesgeschichtlich in Zusammenhang „zur französischen und englischen Aufklärung" und mit dieser in Gegensatz zu Religion und Theologie bringen möchte. 421

424

432 Ebd. 434 SW VII, 201 M. ° SW VII, 199 M. 433 Ebd. Ebd. «s SW VII, 204 M. Herders Entwicklungsgedanke kann schon deshalb kein natürlicher bzw. organisch determinierter sein, weil 1. die Natur dazu nur per analogiam Pate steht, 2. Humanität 4>

411

160

Herder und das Geistliche Amt

Menschlicher Geist wird Gottes Geist, wenn er in Einfalt und Gehorsam zu sich selbst kommt und seine Menschlichkeit praktisch wahrnimmt. Nur als solcher trägt er die Verheißung des Geistes Gottes, ein Geist, der Kraft hat, zu sein, nämlich allgemeine Wirkung und Nutzen für die Menschheit mit sich zu bringen. Dies ist für Herder also das theologische Programm, das wie für Person und Stand des Geistlichen so für das Lehramt des Geistes, das Geistliche Amt, und dessen Medium, die Predigt, das grundlegende wie gestaltgebende Motiv ist.

III. Die therapeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche Amt Herder schreibt „als Prediger"' für „Einige andre meiner Brüder" 2 . Welchen praktischen Nutzen bringen seine geschichtsphilosophischen Ausführungen den Praktikern im Geistlichen Amt? Dies ist die Frage, woran Herder gemessen sein will3. Das Gesagte hat gezeigt, daß Herder die Grundkrankheit des Geistlichen Amtes offenbar als Identitätskrise der Inhaber dieses Amtes versteht. Die Übernahme des Amtes mußte diese in ihrer Zeit offenbar in einen „Wiederwilauf Bildung und Geist angewiesen ist und 3. - wie hier - die Entwicklung der Menschheit zur Humanität als Übergang von der formalen, buchstäblichen und sklavenmäßigen Kopie Jesu und der Bibel in die Nachfolge im Geist eine qualitativ andere Stufe meint. Der Begriff des Determinismus selbst ist verwechselbar mit Determination, Prädestination und Fatalismus (vgl. Wells, Herder, 262 ff.). Ohne nähere Bestimmung erschließt er nicht, sondern verdunkelt nur Herders funktionales Verständnis von Mensch, Sprache und Geschichte. 1 SW VII, 215. 2 SW VII, 215 f. Den sich hier ausdrückenden sympathetischen Charakter der literarischen Ausdrucksform Herders haben wir als Programm bereits für 1763-1765 bei Herder beobachtet und o. S. 79f. dargestellt. Die stilistische Konsequenz Herders ist offensichtlich. ' Vgl. SW VII, 191 f. Die sich in der heutigen Rezeption der Geschichtsphilosophie Herders abzeichnende Polarisierung einerseits als immanent-materialistische Auffassung von Geschichte als „Werk des Menschen selbst" (Förster, Geschichtsphilosophie, 30) und andererseits als „religiöse" (Dobbek, Herders Weltbild, 143) Geschichtsdeutung und Säkularisierung des christlichen Vorsehungsglaubens ist angesichts dieser Herderschen Frage wie seiner eigenen allgemeinen Bestimmung seiner Geschichtsphilosophie „zur Bildung (!) der Menschheit" nur eine akademische Frage, im übrigen aber unfruchtbar. Bei beiden Polen fällt die pädagogische Funktion der Geschichtsphilosophie Herders völlig unter den Tisch, Geschichtsphilosophie ist nur - so oder so - eine Ideologie ohne praktische Funktion und Nutzen. Und wäre es wirklich so schädlich gesetzt den Fall, Herders Geschichtsphilosophie würde der Entwicklung der Menschlichkeit des Menschen tatsächlich nützen - , wenn sie dann immanent-materialistisch oder säkular-religiös konzipiert wäre? Beide sich polarisierende Verständnisse offenbaren sich unter dieser Frage als Projektionen eigener Erfahrungen und politischer Erwartungen in Herder. Sie haben, gemessen an Herder selbst, zudem den Nachteil, flach, unvollständig und widersprüchlich zu sein, und sollten daher ihren Streit besser unter sich als auf dem Rücken von Herder austragen, der sich dagegen nicht mehr wehren kann. Vgl. auch o. S. 135ff.

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche A m t

161

len"4 zu sich selbst versetzen, weil sie sich im und durch das Amt von sich als Menschen entfremdeten. Da aber dieses Geistliche Amt gesellschaftlich toleriertes und privilegiertes Amt ist, zeigte sich in seiner Krise zugleich auch die Ursache an, woran auch die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft selbst krankte: der Selbstentfremdung des Menschen. Und da schließlich die Qualifikation zum Geistlichen Amt mit Bildungserwerb verknüpft war, und dieser wiederum mit wirtschaftlichen Einzelinteressen zusammenfiel hatte sich auch das Instrument der Selbstverwirklichung des Menschen des 18. Jahrhunderts, nämlich Bildung, der Wirkung nach offenbar genau in sein Gegenteil verkehrt - zu einem Instrument nämlich gegen den Menschen und die Verwirklichung seiner selbst. Bildung war damit alles andere als Bildung des Menschen geworden. Dem möchte Herder durch seine Geschichtsphilosophie zur Bildung der Menschheit abhelfen, indem er zunächst den Multiplikatoren seiner unakademischen Volksbildung, den Predigern, zur Identität mit sich als Menschen und einer darin gründenden neuen Aufgabenstellung verhilft. Offenbar betrachtete Herder seine geschichtliche Philosophie dazu als die einzig wirksame Therapieform und das einzige wirksame Mittel seiner Zeit. Sie war in seinen Augen das größeres gesellschaftliches Unheil verhindernde „Gegengift" 5 , welches das sich von seiner menschlichen Mitte mittels einer zur akademischen Philosophie exaltierten Volksbildung entfremdende Geistliche Amt als Spiegelbild dieser gegen die Entwicklung des Menschen gerichteten und in unmenschliche Höhen und Tiefen hinaufphilosophierten Gesellschaft nötig hatte und verstand. Man kann hier viele Fragen stellen: Warum Herder ausgerechnet Geschichtsphilosophie dazu als angemessene Arznei betrachte? O b denn überhaupt Geschichte das geeignete Mittel sei, menschlicher Identität und ihrer Verwirklichung dienen zu können oder nicht selbst wiederum ein neues Entfremdungsinstrument darstelle? Ob denn menschliche Identität nur auf diesem Wege von Bildung findbar und lebbar wäre? O b denn die in der simplen Aneignung des Wortes Gottes verborgen liegende menschliche Selbstverwirklichung nicht lediglich Eintausch der einen Abhängigkeit des Geistlichen Amtes von Gesellschaft und König durch die neue Abhängigkeit von Gott und seinem Wort sei? O b denn die Faktizität der wirtschaftlichen Abhängigkeit und Entfremdung des Geistlichen Amtes durch eine auf dem Wege geschichtlicher Bildung erreichte Identität wirklich aufgehoben werden könne? Und vielleicht die brisanteste, was es denn für eine Zeit aussagt, in der man

4

SW VII, 284, Anm.

5

Vgl. o. S. 4 8 ; 56.

162

Herder und das Geistliche Amt

offenbar so und nur so, wie Herder es tat, den Menschen dienen und zu sich selbst verhelfen konnte? Wir stellen diese Fragen - aus unserer Zeit - zurück, nehmen zur Kenntnis, daß Herder offenbar nur darin den Rückgewinn von Identität durch Prediger und Mensch angelegt sah, und versuchen damit zu beantworten, daß wir hier schlicht erfassen, wie Herder den Nutzen seiner Geschichtsphilosophie für das Predigtamt bestimmt. 1. Identität und Verstand Wir haben schon gezeigt', daß die Geschichte seiner eigenen Gattung den Menschen in dreierlei Hinsicht angeht: sie vergewissert ihn der Tatsächlichkeit seines ganzen Menschseins in Situationen der Verwirrung und des Zweifels an seiner Menschheit, sie berechtigt ihn zur Anwendung erreichter Entwicklungen in der Menschheit in Fällen der Bestreitung und Beschneidung menschlicher Rechte für sich und andere, sie legitimiert und autorisiert ihn dazu mit göttlicher Autorität gegenüber autoritären Eingriffen in die Menschheit durch Staat oder andere die Menschheit beschneidende Institutionen7. Analoge Funktion hat Geschichte wie für den Menschen so für den Prediger. Wissen, Recht, Gott sind auch für ihn die geschichtlichen Grundlagen seiner Identität als Mensch wie als Prediger der Menschheit. Es besteht aufgrund der Geschichte des Menschlichen Geschlechts daher: 1. kein Anlaß dazu, „den Priesterstand zu verkleinern"8 und „selbst"'', „der Wahrheit, der Geschichte, der Offenbahrung zuwider"10 diese „Stiftung, Amt, Werk Gottes"11 gering zu schätzen. Der Geistliche Stand ist eine nicht wegdiskutierbare und nicht wegspottbare Tatsache. 2. „Predigtamt ist eine unmittelbare Anordnung Gottes zum Heil und zu

6

Vgl. o. S. 130 ff. U. Cillien unterscheidet von Herder her drei Ebenen der Erfahrung, die unauflöslich zusammengehören: „die konkrete, einzelne Erfahrung, die Erfahrung der Geschichtlichkeit und Endlichkeit des Menschen und die Erfahrung eines tragenden Grundes allen Daseins" (Cillien, Emanzipation, 132). Sie sieht vor allem in dem auch pädagogisch vermittelten Defizit der beiden letzteren beim „modernen Menschen" (ebd.) dessen erworbene „Erfahrungsunfähigkeit" (ebd.) angelegt und folgert daraus - „gegen alle radikale Kulturkritik und allen abgründigen Skeptizismus" (ebd.) - antikulturkritisch ein pädagogisches, an Selbsterfahrung, Gewissen und Wissen orientiertes Programm, das wieder „Erfahrungsfähigkeit" (ebd.) als Voraussetzung eines „lebenslangen Lernens" von „Mündigkeit" (a.a.O., 133) bereit stellt. Wir haben bei unserer Analyse von Herders Geschichtsbegriff insbesondere die verbindliche Funktion der religiösen Erfahrung als den zur Humanität freisetzenden handlungsautorisierenden Faktor menschlicher Selbstbestimmung beobachtet. Vgl. auch u. S. 169ff.; 212ff.; 246ff. 8 10 11 SW VII, 182 M. ' Ebd. Ebd. Ebd. 7

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche Amt

163

einer Bildung des Menschengeschlechts" 12 . Das „muß jeder Edlere als ersten Anhauch seines Lebens fühlen!" 13 Diese unmittelbare Autorität zählt vor aller anderen im Amt, gleich, ob diese durch Menschen oder Obrigkeit auch fragwürdig vermittelt und dadurch begrenzt worden wäre14. 3. Die Tatsächlichkeit einer fragwürdigen 15 und gesellschaftlich angepaßten Amtsführung ist keine ausreichende Rechtsgrundlage dafür, dem Geistlichen Amt die „in innerm" 16 diesem zukommenden Rechte mit in Frage zu stellen: „und was gölte das (sc. das Erschleichen der Amter mit höchster Erlaubnis) im mindesten dem Begriff deiner (sc. des „Amt(es) Gottes"") Wichtigkeit! Vorzüge und Rechte, sofern sie in innerm Ursprünge, Beruf und Bestimmung liegen - im mindsten was? Allerdings sind wir . . . in unserm Stande so unmittelbar von Gott, als jede Obrigkeit unmittelbar (und nicht im philosophischen Sinne des contract social unserer Zeit!) ist von Gott geordnet!" 18 2. Identität und

Gefühl

Insbesondere Herders Begriff der Unmittelbarkeit des Amtes belehrt uns in diesem Zusammenhang, daß das von seiner Geschichtsphilosophie für den Prediger bereitgehaltene Identitätsmuster aber mehr ist als Vorstellung einer Identität des Bewußtseins und deren ausschließlicher Bindung an historisches Wissen, Geschichte, Lesen, Interpretation, Intellekt, abstrakter Bildung, wie wir oben" einmal - Einwände unserer Zeit aufgreifend 20 - vermutet haben. a) Unmittelbarkeit Wenn Herder nämlich die Unmittelbarkeit des Predigtamtes betont, so ist dies nicht einfach verbaler Gegenwurf apologetischen Charakters gegen die fragwürdige faktische Vermitteltheit des Amtes durch die absolutistisch21 strukturierte Gesellschaft. Vielmehr drückt Herder damit die nicht nur den Prediger beglückende Erfahrung aus, im Amt mit sich selbst als Mensch eins sein zu dürfen und in der Amtsführung sich als Mensch unmittelbar treu bleiben zu können. Diese Erfahrung wird nicht durch Intellekt, sondern Gefühl bewirkt - die andere gleichrangige Seelenkraft des einen menschlichen Geistes22. Die Unmittelbarkeit des Amtes von Gott muß man nämlich „fühlen"".

12 13 14 15 16 17

SW VII, 182 M; vgl. SW VII, 183 M. SW VII, 183 M. Vgl. ebd. Vgl. o. S. 106 ff. SW VII, 183 M. Ebd.

1!

Ebd.; vgl. SW VII, 294. " Vgl. o. S. 161 f. 20 Vgl. o. S. 33 ff. 21 Davon hält Herder nichts! Vgl. SW VII, 234. 22 Vgl. SW VII, 263, Anm. 2J SW VII, 183 M.

164

Herder und das Geistliche Amt

Leben aus der Unmittelbarkeit zu sich als Mensch kennzeichnet auch das für den Prediger als „Lehre der Welt"2* vorbildliche Leben Jesu. Sie spricht sowohl aus dem „hohen Ideal, das er ihnen (sc. seinen Jüngern) allweg von ihrem Amt und Stande gibt! Lichter der Welt! das Salz der Erden! auch mit dem Geringsten (!) ihrer Lehre und ihres Lebens" zu sein, als auch aus Jesu Verboten, „das kleinste seiner Gebote nicht aufzulösen! den grösten, tiefsten Sinn jedes Gesetzes zu forschen und ganz zu lehren!'™ Aber auch „Demuth"lk ist Charakteristikum dieser Unmittelbarkeit. Sofern nämlich „ihre (sc. Jesu und seiner Jünger) erhabensten guten Werke, Gebete, Früchte und Uebungen" 27 nur der einfache tatsächliche Ausdruck ihres Menschseins sind, ist Hochmut darüber als besondere Leistung gar nicht angebracht. Jesu Leben charakterisiert „unmittelbares Zutrauen sowohl auf die unmittelbar erhaltene Vatervorsorge Gottes, als Gefaßtheit, um seinetwillen alles zu leiden und zu ertragen!" 28 „Glauben"7*, „Gebet in seinem Namen" 30 sind vergleichbar mit einem „unmittelbaren Kindesvertrauen auf Gott" 31 und haben „unmittelbare >2 Kräfte" . Mit dem „unmittelbaren Umfaßen Gottes" 33 ist auch als „unmittelbare Erforderniß dazu"3* die Liebe Gottes „im"35 Nächsten verbunden. Im Amt- und Lehrverständnis der Apostel sieht sich Herder in dieser Auffassung bestätigt: „Nichts allein seyn, wie an ihm und in ihm leben und weben, grünen und blühn, würken und Früchte bringen, von ihm und in ihm so unmittelbar genährt werden, als man in allem auch unmittelbar dient" 36 . An Jesu Leben kann man aber auch ablesen, daß in seinem „unmittelbaren Zug"37 auch Einsamkeit gründet 38 . Unmittelbarkeit kennzeichnet auch den Vorgang biblischen Verstehens: „Das beste ist indeß doch immer aus den Evangelisten unmittelbar in Herz, in Seele, in Leben" 3 '. Unmittelbar ist auch Jesu Wirkung: „Habt ihr keinmal in seinem Leben das Unnennbare Anmuthige, die Zauberaugenblicke, voll Gotteskraft und Wonne gefühlt, die unmittelbar von ihm ging und sich in keine Sylben buchstabieren läßt"40. So wie Jesus ist auch „dieser Lehrer, unmittelbar aus und zur Empfindung, Liebling der Brust Jesu, Johannes!"*'1 Demgemäß ist auch Unmittelbarkeit die Voraussetzung für die Wirkung der Predigt des Wortes Gottes: „Aber gib Kindern und Menschen Ein Wort Gottes, stark geglaubt, anschauend erkannt, unmittelbar im Vorbilde aufs

30 " SW VII, 203 M. Ebd. Ebd. " Ebd. 26 32 Ebd. Ebd. 27 33 SW VII, 204 M. Ebd. 28 34 Ebd. Ebd. 29 35 Ebd. Ebd. 41 SW VII, 312; vgl. SW VII, 212 („.. . unmittelbar 25

36 37 3! 39 40

SW VII, 205 M. SW VII, 206 M. Vgl. ebd. SW VII, 208 M. SW VII, 311.

aus und zur Empfindung

. . .").

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche A m t

165

Herz, zur That strebend: es thut!" 42 Unmittelbarkeit ist die „Sprache der Empfindung"". Diese „ist freilich sehr unphilosophisch und drückt sich immer innig, unmittelbar, zusammengeflossen aus"44. Aber es bleibt in ihr doch ein Kräfteverhältnis zwischen Mensch und Gott wirksam, wobei die Kraft menschlicher Empfindung durch die Kraft Gottes gelenkt wird45 - wie Herder den nutzlosen Gebrauch von Unmittelbarkeit durch ein „Empfindungschristentum"46 abwehren möchte. Der „Empfinder empfindet nur, und kümmert sich nicht, wie Gott Empfindung würke? Wenn er spricht - wirds alles unmittelbar! Empfindung! Philosoph fängt von der Hypothese an - aber davon muß er nicht anfangen! Er dichtet also auch und weis nicht - wir treten aus seinem Kreise"47. Beide Positionen sind Herder suspekt. Er hält sich bei der Frage, wie nun „Gottheit auf alle die mancherlei Kräfte der Seele"48 wirkt an seinen, den dritten Weg: die „Bibel"*9. Diese „entscheidet nichts darüber: sie wendet entweder geradezu das Angesicht weg, ,der Wind bläset u.s.w.' oder sie gibt (und auch das ist weise Güte des Urhebers!) nur Beispiele, Muster, Bilder! Da spricht Empfindung unmittelbar zum Herzen, zum Sinn, zur Nachahmung, und wird kein Nachgrübeln, kein Auflösen in Elemente. Glauben soll man und denn unverrückt thun! Erleuchtet, erwärmet, wiedergebobren werden neu seyn"50. Mit dem Begriff der Unmittelbarkeit stellt Herder in Transzendierung des praktizierten Bildungsideals die Selbstfindung des Menschen und Predigers auch auf die Grundlage der Empfindung als einer intellektueller Bildung mindestens gleichrangigen Basis und sieht in der menschlichen Empfindung eine kompetente Instanz zu menschlicher Selbstverwirklichung. Damit gibt seine Geschichtsphilosophie das Bildungsmonopol für einen rechten Prediger und Menschen auch wirklich aus der Hand und legt die Verwirklichung von Identität mit in die Hand von diesen selbst. Was dem Menschen wie Prediger als Lehre des Menschen nottut, dienlich und förderlich ist, dazu ist ihm durch seine Empfindungskraft selbst Schlüssel und Werkzeug in seiner Natur vorge42

SW VII, 246.

SW VII, 261. An diesen Begriffen belegt sich die von uns oben schon mehrfach aufgezeigte (vgl. S. 71, A n m . 3 5 ; 7 2 f . ; 79, Anm. 63) Traditionslinie Herders zur Baumgarten-Meierschen Philosophie und den empfindsamen Kreisen einerseits und der Lessing-Mendelsohnschen Dichtung andererseits, ohne daß, wie wir zeigten und wie es auch hier deutlich wird (s.S. 162ff. und 169ff.), Herder je ganz in diesen Traditionen aufging. Vgl. u. S. 207f. 43

S W VII, 261. Vgl. ebd. Die formale Schematisierung des Verhältnisses Gott=Subjekt, M e n s c h = O b j e k t ist gegenüber diesem Verständnis Herders nicht nur flach, sondern fällt auch wegen ihrer Unmenschlichkeit ab. Mit dem Begriff der Kraft bringt Herder das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in ein G o t t wie dem Menschen würdigeres Verhältnis zurück, das auch theologisch noch etwas von der Menschenliebe Gottes abbildet. 46 SW VII, 258. 48 Ebd. » S W VII, 2 6 7 f . 44 ,s

47

S W VII, 267.

49

Ebd.

166

Herder und das Geistliche A m :

geben. Unmittelbarkeit des Amtes durch Gott ist also bei Herder das theologische Interpretament rechtmäßiger und gültiger Identität, die der Mensch selbst nicht ohne seine gesunde Empfindung finden kann, wie die Geschichte Gottes mit dem Menschen mannigfach belegt. Wollte die praktizierte Bildung den Menschen erst zu etwas machen gegen seine eigene Emotionalität - die aufklärerische Bildungsideologie nämlich zu einem guten Bürger, d. h. gehorsamen Untertanen, und Prediger zu angepaßten Ideologen dieses Unterfangens - , so birgt dieser Entwurf Herders die Befreiung dazu, daß der Mensch selbst sich als solcher nach seiner eigenen und ganzen Menschheit verstehen, lieben und einsetzen lernt, und gibt dazu nichts mehr und nichts weniger als die erforderliche praktische Hilfestellung gerade auch für den Prediger51. Zugespitzt gesagt ist Herders Geschichtsphilosophie52 also der Weg, eine sich durch Unterdrückung und Individuierung zur Unmenschlichkeit hin intellektualisierende und komplizierende Bildung des Menschen überflüssig zu machen und zum Nutzen der Menschheit mit einer auf ihre Menschlichkeit hin als ihre Mitte sprachlich vereinfachte Volksbildung zu überholen. Die therapeutische Funktion dieser Geschichtsphilosophie für das Predigtamt liegt also nicht nur und nicht einmal in erster Linie darin, dem Prediger anhand von Geschichte Wissen, Recht, Autorität über und zur Wahrnehmung seines Geistlichen Amtes für die Menschheit zu vermitteln, um diesem in aller Angefochtenheit dennoch eine historische Kompensationsmöglichkeit der am eigenen Leib spürbar verloren gegangenen Identität zu verschaffen. Vielmehr ist sie Therapie darin, daß sie den Prediger auf seine eigenen menschlichen Füße stellt und ihm seine durch eine akademisch-abstrakte Bildung verschüttete menschliche Empfindung als Quelle seiner Identität, Sprache und Entscheidung wieder freilegt. Darauf verweisen einige Bemerkungen Herders, die ohne Kenntnis dieser emotionalen Struktur von Unmittelbarkeit wie Rückzugsgefechte Herders in die Innerlichkeit aussehen, die man aber einem Manne wie Herder schon ohne die Ausführung der Sache nicht einmal zutrauen sollte.

51 Dafür, also für eine konsequente Selbstverwirklichung des Menschen, ist für Herder Jesus „Vorbild", wie er gerne sagt, womit er nicht das begrenzende Gesetz dieser Selbstverwirklichung, also wie weit sie zu gehen hat, sondern ihren Rahmen meint, also wohin alle Konsequenz zur Menschlichkeit sich ausdehnen kann und wird! Deswegen gebraucht Herder für Jesus auch den Begriff „Muster" oder „Wink" (vgl. SW VII, 308). Auch hier ist also die Christologie Rahmen in den der Theologe Herder formuliert, nicht Gesetz seiner Volksbildung. 52 Daß Herder diese Hilfestellung in F o r m und der Methode nach geschichtsphilosophisch gibt, liegt einerseits sicherlich in der Ungeheuerlichkeit dieses Sachunterfangens im 18. Jahrhundert, andererseits aber auch darin begründet, daß dieser W e g äußerlich die geringste Kritik und Ablehnung erwarten ließ, da er ja formal eine gewohnte Methode, wenngleich mit anderer Zielsetzung, war. Vgl. auch o. S. 124 ff.

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche A m t

167

b) Innigkeit So ist Gottes „unmittelbare Leitung"53 des Predigtstandes seit Beginn des menschlichen Geschlechts verbunden mit dem Segen „innerer Kraft, wie das Samenkorn des Winters auch unter Schnee und Eis fortzudauren und wiederaufzuwachen"54 bis jetzt. Denn „die Kraft dauret auch jetzt fort, regt sich nur unsichtbar und verborgen auch jetzt"55. Diese Kraft kann mit dem „unreinsten Koth bedeckt, auch von der garstigsten Hand in den Koth geworfen werden"56, sie bleibt ihrem Wesen nach „göttliche Macht"57. Diese Macht ist die Wurzel des Predigtamtes. Man kann sie zwar wie Wurzeln in der Erde verbergen, „daß sie nicht blos liegen und Kliiglinge über dich (sc. den edlen Baum des Predigtamtes aus Gott) straucheln; aber innig (!) laß dir diese Wurzeln nicht nehmen"58, denn ohne sie schwebt der Baum „in der Luft" 5 '. „Innerer Sinn und Gewissen"60 trügen nicht, ob die Ausübung des Amtes Bauchpfaffentum oder Nachfolge ist. Sie sind die wahren Instanzen dafür, homiletische bürgerliche Kompensationsangebote und Kompensationsformen zu erkennen und sich von des praktizierten Predigtamtes „Nutzbarkeit Rechnung zu geben"61. Durch sie sieht man, daß sich die „Politische Philosophie"62 durch das Beschneiden der Gewalt zur „Execution"" ihrer Moral selbst zu erkennen gibt, wer sie wirklich ist und wer man als Prediger in ihrem System wirklich ist: „ein unnützer Tropf"". Jesus ist der „gröste" Menschenzeuge, weil er der „innigste" ist65. „Ahraham traut, Christus betet, als ob sein Gott ihm der Einzeln innige, gegenwärtige Gott sei."66 „Innig"" ist aber die „Sprache der Empfindung"68. Innigkeit ist mithin bei Herder verbunden mit Kraft, Saft, Wirkung und Nutzen, so daß selbst „alle Reinigungen, Läuterungen, selbst Unterdrückungen dieses (sc. des Prediger-) Standes gehen auf den großen Endzweck dieser Reife des Kerns, damit die Hülle abfalle"69. Sie ist alles andere als Innerlichkeit oder das Gegenteil von Erfahrung. Sie ist deren Ausdruck. Und da das innige menschliche Fühlen Anteil am Geiste Gottes hat70 ist es als solches immer zugleich von göttlicher Autorität. Diese Einzelzusammenhänge machen aber nicht nur die therapeutische Funktion von Herders Geschichtsphilosophie für das Geistliche Amt als Freilegung menschlicher Selbstbestimmung durch Selbsterfahrung und Geschichte deutlich. Die Aufwendigkeit der Argumentation Herders weist SW VII, 182 M. Ebd. 55 Ebd. * Ebd. 53

M

57 58

Ebd. SW VII, 183 M.

SW VII, 183 M ; vgl. SW VII, 294. SW VII, 193. Ebd. SW VII, 194.

Vgl. SW VII, 200 M. " SW VII, 270. 67 SW VII, 261. " Ebd.

Ebd. Ebd.

" SW VII, 224. 70 Vgl. SW VII, 263.

168

Herder und das Geistliche A m :

noch auf etwas anderes hin. Sie läßt eine hartnäckige gesamtgesellschaftliche Krise in dieser Beziehung vermuten. Wenn Herder für die Gebildetsten des Volkes Wissen, Recht, Gott ins Feld führen muß, um diesen Mut zu sich selbst und zur Menschheit zu vermitteln und einen dermaßen umständlichen Weg der Begründung einschlagen muß, um Mensch und Prediger das eigene Fühlen wieder als ihren Ort von Selbsterfahrung aufzuhellen und aufzuwerten, wie mag es dann um das Recht der menschlichen Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung und insbesondere um die Anerkennung der eigenen Sinnlichkeit in jener Zeit erst bei dem ungebildeten Volke bestellt gewesen sein? Man kann nur schließen, daß dieses Recht eine ganz unselbstverständliche und unterdrückte Angelegenheit gewesen ist. Exkurs zum Verhältnis von Reisen und Selbstverwirklichung

im 18.

Jahrhundert

Faktisch war die einzige Möglichkeit, in der kleinbürgerlichen Enge sich selbst zu verwirklichen, die Flucht aus dieser in Form von Reisen. Herder hat diese Möglichkeit selbst ergriffen in seiner alle - „Stadt, Kirche, Magistrat" (Br 14,40) von Riga überraschenden Abreise zu Schiff im Jahre 1769 und seiner Aufgabe aller Ämter. An Hamann schreibt er 1769 aus Nantes: „Ich stürzte mich aufs Schiffe ohne Musen, Bücher und Gedanken, wie wenn ich in Bett und Schlaf sänke, und habe also die ganzen sechs Wochen meiner langen, stillen, sanften und recht poetischen Reise nichts anderes können als träumen - aber glauben Sie, mein Hamann, Träume nach einer so schleunigen Veränderung, auf einmal wie in ein andres Land und Element geworfen, von Geschäften, Welt und Narrheiten verlassen, die uns (quälten), blos sich (!), dem Himmel und dem Meer übergeben - o Freund, da lehren uns Träume von 6 Wochen mehr als Jahre von Bücherreflexionen und von Hamannischen Pastoralschreiben" (Br 14,41). Man kann auch an anderen im 18. Jahrhundert plötzlich in großer Zahl auftauchenden Reisebeschreibungen (vgl. Möller, Kb. Fam., 322ff.) ablesen, daß Reisen das Instrument der Beschäftigung mit sich selbst und der Verwirklichung seiner wirklichen Bedürfnisse war. Und die offenbar starke Verbreitung der Reiseliteratur läßt nur vermuten, daß offensichtlich auch noch die literarische Gestalt fremder Reiseerlebnisse das eigene Selbst und seinen Wunsch auf Verwirklichung bei denen, die zum Bleiben im kleinbürgerlichen Milieu verdammt waren, stark ansprach. Die Möglichkeit dieser Selbstverwirklichungsform war nämlich naturgemäß nur entweder tollkühnen Naturen oder wohlhabenden Bürgern vorbehalten, was sie als allgemeine Möglichkeit des Volkes unbrauchbar machte. Reisen kostete Geld, das der Kleinbürger entbehrte, Hofrat Goethe aber oder auch Herder - in späteren Jahren als Oberkonsistorialrat - hatten bzw. infolge ihrer Stellung zugedacht bekamen. Aus den kleinbürgerlichen Kreisen kamen nur die Gesellen in den „Genuß" solcher Reisen, da sie ihre Wanderjahre hinter sich bringen mußten. Die Frau des Volkes war davon ganz ausgeschlossen. Wie anders aber Reisen genutzt wurden, zeigt ein Vergleich zwischen Goethe und Herder. Goethe konnte Reisen bis zum Exzeß für sich selbst auskosten. Herder schrieb nach der beglückenden Selbsterfahrung auf seiner Reise 1769 das Konzept für sein Volksbildungsprogramm im „Journal" seiner Reise nieder. Oder kehrte - nach seiner Italienreise - lieber an den Ort seiner Tätigkeit in Weimar zurück (vgl. Herders Briefe

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche A m t

169

zur italienischen Reise, J . G. Herder-W. Dietze, Johann Gottfried Herder, Bloß für Dich geschrieben). Die goethische Identität mit sich selbst bezeichnete Herder daher gerne als „Selbstheit", als eine „für andere ganz und im Innern unteilnehmende Existenz" (Br 139, 3 2 6 ; vgl. auch Br 198, 413, wo Herder sich ähnlich über Richter und seine Eheproblematik äußert), seine eigene schloß die Liebe des Bruders ein, für den er mit seinem Tun da sein mußte. Selbstverwirklichung vollzieht sich auch bei Herder persönlich in sozialer Konkretion - ein Faktor, der Wesen und Kraft seines politischen Programmes ausmachte. Vgl. o. S. 79. Zur Unterscheidung von Liebe und Selbstheit bei Herder vgl. auch SW X V , 304 f. Nach Dieter Kimpel hat das Reisemotiv im Roman der Spätaufklärung die Funktion der „Metaphorisierung des Problems der analytischen Selbstdarstellung, dem sich die gebildeten Bürger im absolutistischen Staat aus politischen Gründen unterzogen" (Kimpel, L. Sterne, 160; vgl. Ders., Philosophie, 117). Dem Gebildeten vermittelte sich so eine an Fremderfahrung sich brechende und so aufgeklärte Selbsterfahrung, die sich wiederum mit „komischen" Zügen vermischte (vgl. Kimpel, J. G. Müller, 82). Vgl. auch o. S. 73 und o. S. 116f.

Man kann aber auch von da aus nochmals Herders Gang in die Geschichte verstehen und vor allem seinen Ausruf: „Mitarbeiter, Vorarbeiter, Muster! ihr sollt mich stärken, daß mein Muth nicht sinke, mir Würde meines Standes, hohes Ziel, Bahn, die grosse Ernte zeigen, worinn der Herr Arbeiter aussende!"" Ja, daß allein Christus selbst für uns „Aufmunterung, Muster, Wink" 72 dazu wäre.

3. Identität und Tat Die therapeutische Funktion der Geschichtsphilosophie Herders besteht jedoch nicht nur in der Freilegung menschlicher Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, sondern für den, der sie wahrnimmt, in Hilfen zu ihrer Verwirklichung. Identitätsfindung geschieht nie allein auf intellektuellem Wege oder durch punktuell befreiende Erlebnisse, sondern sie ist das Ergebnis eines Prozesses von Taten". Demgemäß leitet Herder als Ziel und Konsequenz seines Anliegens den Prediger an, wie er sich in seinem Tun, nämlich dem Predigen, als Mensch selbst finden und treu bleiben kann. Daß Herder jenseits aller ideologischen Identitätsvermittlung gerade die Übernahme von menschlicher Praxis als die entscheidende, heilende Therapie einschätzt, bestätigt nicht nur seine Voraussicht und Einsicht in seelische Heilungsprozesse, sondern wird selbst belegt durch seinen Umgang als Superintendent mit den beiden, im Predigerstand seiner Zeit offenbar vorgefundenen, gegensätzlichen Haupttypen74 von Predigern. 71 72 73 74

SW VII, 2 9 2 ; vgl. SW VII, 3 0 5 ; auch SW VII, 2 7 2 ; SW VII, 300. S W VII, 308. Vgl. o. S. 71, Anm. 35. Falsch E. Naumann, der die beiden zur Debatte stehenden zeitgenössischen Haupttypen

170

Herder und das Geistliche Amt

Herder beschreibt den einen Typus des Geistlichen seiner Zeit als den „einfältigen Landhirten75 seiner einfältigen Heerde"76. Dieser allein hat noch Reste des patriarchalischen Urbilds des Predigtamtes in sich77. Er ist ein „Vater78 aller, die er die Seinigen nannte: kannte und liebte, und führte sie auf hartem dornigen Lebenswege aufmunternd zum Himmel!" 79 Er ist „Aller Väter und Greise Bruder80, aller Unmündigen Erzieher81 und Vater, aller Unglückseligen Freund und Engel82"83. Er ist mit dieser brüderlichen erzieherischen, menschenfreundlichen Praxis den Seinen nicht nur von Nutzen als eine „Gabe des Himmels"84 und Garant allgemeiner „Redlichkeit und Gottesfurcht" 85 , sondern auch selbst der „verdienteste und glücklichste vielleicht der Menschen auf Erden"86. Mit seiner „einfältigen"87 Praxis aber ist er „allein noch, was jener Erste heiligste Priester war, König der Gerechtigkeit und des Friedens88 und Priester Gottes des Allerhöchsten89"'°. Denn in „jedem Stande ist Patriarch vielleicht der würdigste, erhabenste Anblick der Menschheit: . . . und . . . des geistlichen Standes in seinem höchsten Begriffe"91. Sein Glaube war „einfältig(er)"92 Bibelglaube und seine Lehre ist von gleichem Charakter. Herz und Horizont seiner Denkart sind „Eins"93 und identisch mit seiner Gemeinde: „Menschliche Einbildung, die noch nicht aufgespannt, . . . sich nur am Nothwendigen hält und nur auf Zweck, Anwendung und Uebung ruhet"94. Die Wirkung von Fortbildungsmaßnahmen eines aufgeklärten Supterintendenten95 auf diesen Predigertyp ist verheerend. Herder beschreibt sie als eine persönliche „Betäubung"96. Als Erschütterung der menschlichen Identität der Tat dieses Predigers durch eine fragwürdige ideologische Umorientierung und Mißbildung mittels einer in „philosophisch=theologisch=deistisch=homiletibiographisiert: Der erste „ist J. C. Lavater", der „zweite ist Herder" (Naumann, Herders Provinzialblätter, 345). Die gleiche falsche Individualisierung auch bei Baumgarten, Herder's Anlage, 55. Vgl. o. S. 85, Anm. 19; 85ff. u. 103, Anm. 39. 75 Vgl. SW VII, 295 (hier bezüglich der Predigt). 76 SW VII, 234; vgl. SW VII, 184 M. 77 Vgl. SW VII, 234. 78 Vgl. SW VII, 184 M; SW VII, 295. 79 SW VII, 234. 80 Vgl. SW VII, 184 M; SW VII, 295. 81 Vgl. SW VII, 184 M. 82 Vgl. SW VII, 184 M: Hier noch: „Kenner und Nothhelfer" der Armen. 83 SW VII, 234 f. 90 SW VII, 235. 84 SW VII, 235. 91 SW VII, 184 M, z.T. SW VII, 184. 85 Ebd. 92 SW VII, 235. 86 Ebd. 93 Ebd. 87 SW VII, 234; vgl. SW VII, 184. 94 Ebd. 88 SWVII, 184 M. 95 Vgl. ebd. % SW VII, 236. » Ebd.

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche A m t

171

sch=ascetischena,>7 Modeschriften bestehenden „Lesebibliothek, christlichökonomisch, ökonomisch-christlich ,damit dem Könige um so besser würde, was des Königs und so denn Gott u.s.w.'" 98 . So wird dieser Praktiker zu allem anderen als in seiner Aufgabe fortgebildet, nämlich zu einem weiteren „Kirchengeschichtsprofeßor"99, „Aufklärer der Welt durch Encyklopädie einer Religion für alle Sekten (die nicht in seinem Dorfe waren (!))"100. Damit wird aber an der dem Prediger aufgetragenen Praxis vorbeigeredet, und solche Maßnahmen erweisen sich für diesen selbst wie für seine Adressaten als nutzlos. Der einfältige Landhirte „wußte nichts von all dem Guten, was die und die Lehre wieder mitbrächte: und ich glaube, er brauchts auch nicht zu wißen"101. Seine Aufgabe ist nämlich das Predigen102. Herder kann in dieser persönlichen Verunsicherung des Predigers durch ideologische Literatur daher keine „heilsame (!) Methode"m weder für diesen selbst noch für das Volk sehen. „Deutschland ist des Zwiespalts voll"104 und der „Zwiespaltsgrunde" 105 wird dadurch nur vertieft und weiter „verschleiert"106 als wirklich behoben, wie es exemplarisch an der Person des verunsicherten, mit sich, seiner Aufgabe, seiner Dogmatik, seinem Superintendenten107 nicht mehr einigen Predigers vielfältig erfahrbar ist. Daher soll sich ein für die Ausbildung verantwortlicher Superintendent „am Predigen genügen"108 lassen, dogmatische Fragen mit Dogmatikern erörtern und den „Gesichtskreis" Prediger nicht überschreiten: „ärgre nicht, rede zum Prediger, wie ihm gebühret. Lehre ihm aus Lehren, die Er für wahr hält, Honig saugen; nicht mache ihm Lehren durch stumme Winke gefährlich, die du ihm nicht als Gift beweisest/"109 Aber auch dem anderen Typus von Prediger, dem allem Neuen aufgeschlossenen Manne, „der wie viel von Nutzbarkeit des Predigtamtes erwartete"110, hat diese Erwartung in die zeitgenössische Homiletik nichts für seine menschliche Predigtpraxis gebracht. Denn „in Verlegenheit und schwerer Sorge über die Unnützlichkeit seines Amtes, daß ihm so gar die Stunde der Wahl deßelben sehr oft gereuen wollte"111, hat man ihm Wasser statt Honig angeboten. Seine Erfahrung war, daß er in einem als „tolerirte Anstalt""1 gesellschaftlich verstandenen Amt, in dem der Religion ihr „Medium entnommen war"113, nirgends „unnützer" 1H in seiner Zeit sein konnte. Ihm wurde aber nur der „gewöhnliche Predigertrost ,es ist doch immer so viel Gutes in der Welt! mit dir und ohne dich!'"115 und der „leidlichste Predigertextzuteil: .„predige Sonntags Tugend! ob was oder nichts draus werde!'"117

Ebd. Vgl. ebd.; vgl. o. S. 59f.

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. SW VII, 237. Ebd.

SW VII, 236.

E b d . ; vgl. SW VII, 282.

S W VII, 235. '» Ebd. 99 S W VII, 236. 100 Ebd. 97

101 102 103

SW VII, 237. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

172

Herder und das Geistliche Amt

Vor allem wurde ihm ein Predigtamt ohne Bezug auf „Zeit, Ort, Jahrhundert"" 8 vorgestellt: „.stelle dich gleich! suche auch den Amtmann zu übersehen, predige dem Staate nützlich! laß dich als Philosophen toleriren . . ."'". Das „Seufzen"120 eines Frustrierten kann nur-Konsequenz solcher homiletischer Erwägungen sein, auch wenn sie auf diesen Typus eines Geistlichen treffen. Ihr entscheidender Mangel ist auch für diesen kritischer eingestellten Geistlichen das Fehlen des Einfühlungsvermögens in dessen an seiner Praxis aufbrechenden Identitätskrise und der Bereitstellung befriedigender praktikabler Hilfen auf der Ebene seiner Aufgaben als Prediger für die Zeit. Konsequenz: ,„Und du, Bibel, sprach (sc. auch!) er glühend, sollst so lang ich lebe, mein Hauptbuch bleiben, was ich glauben, lehren und wie ich nutzbar werden soll vor Gott!"'m Die Stelle zeigt, wie sehr Herder die Identitätskrise des Geistlichen Amtes als Krise seiner gesellschaftlichen Praxis versteht. Je mehr der Prediger mit seiner Aufgabe für die Gesellschaft eins ist, desto mehr mit sich selbst. Und je weniger ihn seine Tat befriedigt, desto weniger auch sein Amt. Demgemäß sieht Herder seine Aufgabe nicht darin, die Ideologie des Predigtamtes zu verbessern oder gar einfältige Geistliche und kritischere Geister gegeneinander ideologisch auszuspielen. An den z.T. verschiedenen ideologischen Positionen liegt ihm nicht viel - sofern sie dem praktizierenden Prediger nicht schaden. Wesentlicher ist ihm, daß beide Typen des Geistlichen Amtes Gelegenheit erhalten, mit ihrer Aufgabe in ein Einverständnis zu sich selbst zu kommen und in ihr sich selbst als Menschen verwirklichen können. Wer dazu nichts beiträgt, der ist die andere Front. Gegenüber einer von der Tat und Aufgabe menschlicher Selbstverwirklichung ablenkenden oder diese Aufgabe in ihrer Wichtigkeit schmälernde oder verzeichnende Homiletik liegt die heilende Kraft des Herderschen geschichtsphilosophischen Entwurfes darin, der Tat und Aufgabe des Menschen als unveräußerlichem Teil seiner Selbstverwirklichung - gerade für den Prediger besondere Aufmerksamkeit zugewandt und modellhafte Hilfen erarbeitet zu haben. „Das wahre Siegel der Göttlichkeit ist thun und nicht gemessen! viel geben, und wenig bedürfen!""2 Kein Prediger steht „mehr in seinem Amte"123 als der, der „. . . nichts als die edelstgemeine, die erwählteste Menschennatur zeigen kann, an der man eben sehe (!), daß die Religion nicht blos meinen Verstand beschäftige, und daher vielleicht etwas mehr Wirkung vermuthe (denn sonst vermuthet man gerade umgekehrt!) sondern daß eben dies göttliche Licht und Kraft der Religion Hauptcharakter meines Lebens werde - . . . " m Dem „einzeln-empfindenden, handelnden Wesen"125 des Menschen helfen Abstraktionen nichts. 1.8 1.9 120

Ebd. Ebd. Ebd.

121 122 123

Ebd. SW VII, 302. SW VII, 291.

124 125

Ebd. SW VII, 270.

Die theraupeutische Funktion der Geschichtsphilosophie für das Geistliche Amt

173

Glauben und Handeln ist nicht nur Kennzeichen des „ehrwürdigen Haufen Volk"126. „Anwenden"127 der Konfession sollte auch die Losung der Konfessionalisten sein. Für die Prediger geht es darum, „die edelst-verborgensten Wohlthäter (!) der Menseben zu werden!" 128 Herder hofft auch, daß „der Vorzug (sc. des unmittelbar von Gott für die Menschheit gestifteten Priesteramts)" 12 ' um „unsres Stifters und Berufs willen"130 nicht „blos Erkenntniß und Bildung des Erkenntnißes bleibe!" 131 , sondern Licht von „Leben""2 wird. Die Tat war auch „,Speise und Trank'" 135 für Jesus, dem Vorbild des Predigers als „Lehrer der Welt, Arzt, Hirte"w. Denn nur: „,Wer den Willen thut - der ist mir Vater, Schwester und Mutter!'" - wie Herder in Anlehnung an Mk 3,35 sein auf den Prediger bezogenes therapeutisches Anliegen christologisch begründet. In der praktischen Amtsführung des Predigers als Bildung der Menschheit ist offensichtlich für Herder auch dessen Identität als Mensch und Prediger angelegt, zu gewinnen und als solche zu erhalten135. Wenn dies Herders therapeutisches Anliegen war, mußte also sein an den Aufgaben des Predigtamtes orientierter geschichtsphilosophischer Entwurf homiletischer Intention vor allem in einer Hilfestellung zur Praxis des Geistlichen Amtes und seiner Wirklichkeit in Stand, Amt und Aufgabe des Predigers gipfeln. Dieser wenden wir uns nunmehr zu.

SW VII, 246. SW VII, 279. Anwenden ist auch der richtige Umgang mit den Worten und Taten Jesu (vgl. SW VII, 308) wie seiner Lebensweise (vgl. SW VII, 309). SW VII, 299, Anm. 1. 125 S W V I I , 301, Anm. 1. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 SW VII, 310. 134 SW VII, 307. 135 Herders geschichtsphilosophische Identitätstherapie des Geistlichen Amtes zum Zwecke volkskirchlicher Effiziens erscheint im Lichte seiner viel späteren Prophezeiung: „Es kommt, es kommt eine Zeit, da die Clerisei, auch wie sie jetzt ist und das Pfaffenregiment so wenig bestehen kann, als sich der weit ehrwürdigere Stand der alten Druiden in ihren dunklen Hainen halten konnte" (SW X V I I I , 307) als eine bemerkenswert weitblickende Prophylaxe. Die bei diesem Anlaß von Herder daraus gezogene Konsequenz, daß es „die Pflicht also jedes Verständigen ist, dem größeren Uebel vorzubauen, und die Heuchellose Wahrheit auf dem gelindesten Wege (in seine Gegend einzuführen) in die Welt zu fördern: denn was vermag Eine Zunft gegen die ganze andringende Zahl lebender und zukünftiger Geschlechter?" (ebd.), macht darüber hinaus deutlich, vor welches durchgängige und große Grundproblem sich Herder damit gestellt sah. 126

127

174

Herder und das Geistliche Amt

2. Abschnitt:

Theorie und

Funktion

Wie wir gezeigt haben, ist Herders Theorie zum Geistlichen Amt formuliert an dem Leitfaden von dessen Nutzbarkeit. Eine abstrakte homiletische Ideologie als Selbstzweck lag Herder fern. Alle Begriffe, die er verwendet, haben eine konkrete Funktion für die Verwirklichung des Predigtamtes. Es ist damit ohne weiteres klar, daß eine Darstellung dieser funktionalen Theorie des Predigtamtes, die, wie wir gesehen haben, therapeutischen Charakter hat, Herder ganz unangemessen bliebe, wollte man - wie es weithin in der Herderinterpretation geschieht1 - die Theorie lediglich nach dem sie tragenden Begriffszusammenhang vollständig darstellen, entwirren oder kritisieren. Wichtiger ist die vollständige Erfassung ihrer Funktion, ihres Zieles und ihres Zweckes. Und wenn eine kritische Frage erlaubt und notwendig ist, so kann sie nur lauten, was hat Herder mit seiner funktionalen Theorie für das Predigtamt und seine Zeit geleistet, was sollte man davon unter keinen Umständen wieder aufgeben, und was hat er in dieser Beziehung nicht geleistet oder noch nicht leisten können. Eine ideologische Rezeption wie Kritik Herders ist für uns nur Schall und Rauch. Die große Leistung seiner funktionalen Theorie des Geistlichen Amtes liegt - abgekürzt geredet - darin, daß Herder damit einer - mit ihren kirchlichen Institutionen - an den Rand der Menschlichkeit abgerutschten ständischen Gesellschaft das Geistliche Amt als kritisches Instrument der Wahrung und Bildung der Rechte des Menschen und damit ihres eigenen gesellschaftlichen Lebensnerves zurückgegeben hat. Was dies im einzelnen heißt, wollen wir nun im folgenden ausführen.

A. Die gesellschaftliche Funktion des

Predigerstandes

Daß nicht nur Predigt und Predigtamt, sondern der Stand des Predigers eine gesellschaftliche Funktion wahrzunehmen hat, zeigt Herders Umgang mit der äußeren Kritik des Predigerstandes durch den Engländer Hume2 und einer unter ihrem Eindruck stehenden apologetischen Homiletik.

I. Der Predigerstand als gesellschaftliches Amt Hume kritisierte nach Herder den Predigerstand wie folgt: ,„Sie müßen nicht, wie die übrige Welt ihren natürlichen Regungen und Empfindungen

Vgl. o. S. 13-25. Herder bezieht sich auf „Hume Moral. Polit. Vers, deutsche Uebers. Th. 4" (SW VII, 289, Anm. ). 1

2

Der Predigerstand als gesellschaftliches Amt

175

Raum geben: müßen unaufhörlich über Blicke, Worte, Handlungen Wache halten, und um die Ehrfurcht zu unterstützen, die ihnen das unwißende Volk bezeuget, müßen sie den Geist des Aberglaubens durch beständige Grimaßen der Heuchelei befördern. Diese Verstellung zerstört die Aufrichtigkeit und Freimüthigkeit ihres Temperaments und macht in ihrem Charakter einen unersetzlichen Bruch.'" 3 Danach ist der Priester also gezwungen unnatürlich, gezwungen moralisch, egoistischen Interessen zuliebe gezwungen zur Unwahrheit und Vorenthaltung von Bildung für das Volk. Diese gezwungene Verstellung seines wahren Menschseins hat eine Charakterschizophrenie bewirkt. Hume warnt vor der Geistlichkeit so: „,oder sehet ihr nicht die Versuche dieser Gesellschaft, die als Gesellschaft immer durch Ehrgeiz, Geiz und Verfolgungsgeist getrieben sein wird? Das Temperament der Religion ist ernsthaft und Majestätisch! Keine Munterkeit vielweniger ausschweifendes Vergnügen erlaubt! In Religionen, auf spekulative Grundsätze gebauet, und wo öffentliche Reden einen Theil des Gottesdienstes ausmachen, kann man auch voraussetzen, daß die Geistlichen auch einen ansehnlichen Theil der Gelehrsamkeit werden besitzen wollen, obs gleich gewiß ist/" 4 Zu jenem Zwang zur Verstellung ihrer wahren Menschheit gesellt sich also nach Hume bei dem Geistlichen Stand Ehrgeiz, Geiz und Verfolgungsgeist, übertriebener Ernst und Majestät, Trübsinnigkeit und Askese sowie der Schein von Gelehrsamkeit, der in nichts begründet ist. Hume gibt gegenüber diesem Standescharakter selbst dem Soldatenstandescharakter den Vorzug: ,„Ein Soldat und ein Priester sind unter allen Nationen und zu allen Zeiten verschiedene Charaktere. Die Lebensart der Soldaten macht sie großmüthig und beherzt. Durch ihre öftere Veränderung der Gesellschaft erlangen sie eine gute Erziehung und freie Aufführung. Da sie nur gegen öffentliche und offenbare Feinde gebraucht werden, so werden sie aufrichtig, ehrlich, uneigennützig. Gesellschaft und Welt ist ihre Sphäre. Und wenns eine Artigkeit gibt, die sich in der Gesellschaft lernen läßt, so werden sie gewiß den grösten Theil davon haben. Der Charakter der Priester ist in den mehresten Stücken dem Charakter der Soldaten ganz entgegen usw.'" 5 Herder kann sich hier nicht verkneifen, eine ironische Konsequenz anzuhängen: „Also den abscheulichen, abergläubischen Pfaffen = und Heuchelstand ab; den offenen, aufrichtigen, uneigennützigen, bildenden und gebildeten Soldatencharakter an die Stelle! zur allgemeinern beßren Bildung der Welt Bajonetten auf Kanzel und Altar!" 6 Das ist jedoch nur die ironische Spitze seiner Kritik von Hume. In der Sache wurzelt diese - und das ist für unseren Zusammenhang wesentlich - darin, daß

5 4

Zit. nach Herder; SW VII, 286. Zit. nach Herder; SW VII, 287.

5

Zit. nach Herder; SW VII, 288f. ' SW VII, 289.

176

Herder und das Geistliche Amt

er Hume eine ganz und gar asoziologische Auffassung des Geistlichen Amtes vorwirft, die der Einsicht in dessen soziales Umfeld völlig entbehrt. Humes Kritik ist eine psychologisierende Charakterkritik des Priesterstandes ohne Bezug auf die „Drachen, Klötze, Verführungen ringsum (!), und im (!) Stande" 7 , auf die „Vor- und Nebenwelt" 8 des Geistlichen Standes, die „trotz aller Pflichten, die das Wesen des Standes selbst fordert, die besten (!) Charaktere also verarten!'"', auf die „Anläße, Fallbrücken und Gelegenheiten, die so viel edle Menschenseelen in einem ganz von Euch (sc. „Staat und Obrigkeit") angeordneten oder tolerierten Stande verderben!" 10 Humes an sich gute Beobachtungen gehen als Kritik des Priester stände s deswegen an die falsche Adresse und damit ins Leere. Konsequenz einer Sicht des Predigerstandes als eines in die agierende Gesellschaft eingebundenen Standes mit gesellschaftlicher Funktion hätte nämlich sein müssen, nun aufgrund der gemachten Beobachtungen nicht „diese (sc. „Staat und Obrigkeit") für Geistlichen warnen! sondern sie recht dagegen aufbringen, daß sie das Uebel sehen und heßern"". Vor allem also die „Anläße"12 zu solcher Charakterbildung zu beseitigen, „den unwißenden, abergläubigen Haufen, den jetzt, wie ihr sagt ein Pfaffe also betrügen muß - das ganze Medium des Aberglaubens und Betrugs, zumal Eure Weiher und Kinder, an die sich zuletzt alles hängt, schafft sie weg lieben Herrn, . . ,"13 Dies leistet jedoch die Kritik von Hume nicht. Staat und Obrigkeit dürfen nicht von ihrer Mitverantwortung am Zustand des Predigerstandes entbunden werden. Humes Kritik ist daher sowohl für den Stand selbst wie als Hilfe für die ihn tragende Gesellschaft politisch völlig nutzlos14. Einen wirklichen Nutzen kann nur eine streng gesellschaftsbezogene Sicht des Predigerstandes erwarten lassen. Deswegen wendet sich Herder mit demselben Nachdruck gegen homiletische Versuche, auf den Hintergrund von Humes Kritik des Predigerstandes und deren unkritischer Annahme ein neues, doch noch irgendwie akzeptables Bild des Predigerstandes zu entwerfen. Kennzeichen dieser Versuche sind nach Herder: 1. der Versuch, durch persönliche Bescheidenheit und gänzlicher Aufgabe seines Wesens als Amt Gottes und des Volkes das Ansehen des Predigerstandes durch Persönlichkeit zu retten und 2. der Rettungs-Versuch, den Stand als öffentlich wirksames Kollektiv abzubauen. Herder zitiert diese Versuche so: ,„Der Prediger, der nach der Wahrheit zu sich selber sagt: ich glaube nicht aus der gemeinen Masse der Menschen Kraft meiner Ordination herausgezogen und über dieselbe erhöhet zu seyn; ich rühme mich keines Umganges mit Gott, als den ein jeder meiner Zuhörer auch SW VII, 286. " SW VII, 293. 7

9 10

SW VII, 286. SW VII, 287.

11 12

Ebd. Ebd.

13 14

Ebd. Vgl. ebd.

Der Predigerstand als gesellschaftliches Amt

177

haben kann, wenn er will: ich verlange keine grössere Heiligkeit an mir zu besitzen und zu zeigen, als deren die gemeine Menschliche Natur fähig ist usw.'"15 Und: ,„Eben so wenig verursachet der eigentliche Zweck unsers Amts eine partheiische Verbindung derer, dies bekleiden, eine Zusammenverschwörung."" 6 Wenngleich damit vielleicht Humes Kritik die Spitzen genommen wären, so fehlt doch auch diesen Auffassungen des Geistlichen Standes die gesellschaftliche Virulenz. Im Grunde spricht daraus, wie bei Humes psychologisierender Charakterkritik, eine privatistische Auffassung des Geistlichen Standes, was durch die beiden Zweige des in seiner Tendenz zur Individualisierung des Standes einen Stammes nur bestätigt wird. Für Herder ist dieser Versuch nicht weniger nutzlos für Predigtstand und Gesellschaft als der Humes. Mit ihm wird eigentlich der Predigtstand seiner Mitverantworung an dem gesellschaftlichen Zustand enthoben. Herders Weg liegt jenseits dieser nur scheinbar gegensätzlichen Positionen. Er bringt Predigerstand und Gesellschaft in eine konstruktive, amtliche Partnerschaft. Nicht der persönliche Glaube ist es, der den Prediger zum Stand bestimmt, sondern die Tatsache, daß er „selbst von ihnen (sc. „der gemeinen Masse der Menschen", also dem Volk) und also von Gott erwählet, an sie Gottes Wort zu tragen. Also nicht durch meine Person, die hier im mindsten nicht in Betracht kommt, aber vermöge meines Amtes zum Boten und Werkzeuge erhöhet, wie keiner meiner Zuhörer, ich aber an sie alle es seyn kann, darf und soll! . . ."' 7 Wer so von seinem Amt als einem öffentlichen Auftrag zu Wortverkündigung und Religionsübung" und so von dieser öffentlichen Aufgabe als Aufgabe des Predigerstandes redet, redet genau „in seinem Amte" 1 '. Idee und Wirklichkeit des Amtes sind für ihn identisch. Aber „Stand"20 ist noch mehr als diese „Individuelle Moral eines Mitglieds"21. Dazu gehört ein Kollektiv: „Vereinigung, Verbindung aller Glieder, die Ein Amt bekleiden, zu Einer Parthei, dem Geiste des Amts! Einverleibung zu gemeinschaftlicher Lehre, Unterstützung, Aufmunterung, worinn es auch seyn müße - . . ."22 Die Auffassung eines der Öffentlichkeit verantwortlichen wie von dieser zu verantwortenden Predigtamtes verbindet sich bei Herder also mit der Notwendigkeit eines von der Öffentlichkeit zu verantwortenden und ihr verantwortlichen PredigerstóMífes. Ein Individuum wäre dieser Aufgabe nicht gewachsen und völlig nutzlos. Der Predigerstand, die „Klerisei"23, ist dazu da, „dem Reiche Gottes mit andern nützlich zu seyn!"24, hat „das gemeinschaftliche Intereße mit seinem 20 21 22 23 24

Ebd. Ebd. Ebd. SW VII, 292. Ebd.

Zit. nach Herder; SW VII, 290. » Zit. nach Herder; SW VII, 291. 17 SW VII, 291. Vgl. SW VII, 291. " S W VII, 291. 15

178

Herder und das Geistliche Amt

geringsten Bruder, ,daß die Dinge geglaubt und geübt werden, die sie lehren', arbeitet mit Vielen auf Einem Grunde der Offenbahrung" 25 . In diesem Geistlichen Kollektiv der gemeinsamen Tat erfüllt sich: „Ein Leib! Ein Intereße! . . . in und bei allem das Haupt Christus/"26 Deswegen ist dieser Stand auch Ermunterung und Trost in der konkreten beruflichen Arbeit des Predigers. Nicht fragwürdiges Kompensationsinstrument für Frustrierte, sondern durch tatsächliche Mithilfe an der eigenen gesellschaftlichen Aufgabe eine mit- und vorarbeitende Instanz. „In den schwersten und wichtigsten Augenblicken meines Berufs (!), will ich mich also sammlen, aufrichten, trösten; nicht will ich meine Augen niederschlagen" 27 und von eigener Einsamkeit, Nutzlosigkeit und Erfolglosigkeit im Beruf philosophieren, „aufschlagen will ich sie und umherblicken: in welchem grossen Reiche! auf welchem Plane der Haushaltung Gottes auch ich diene! Die Würdigsten meiner Zeit, Muster meines Standes - kleine Reste! hinauf! - Mitarbeiter (!), Vorarbeiter (!), Muster! (sc. als Arbeiter), ihr sollt mich stärken, daß mein Muth nicht sinke . . ."28 Daß also Predigerstand in der dargestellten Weise eines gesellschaftlich tätig werdenen Kollektivs ein gesellschaftliches Amt ist, ein „Nationalstand"29, ein „Gottgenehmigter, Gotterwählter Nationalstand seines Volks"10, der einzelne Priester aber der „Nationalbeamte eines freien, aus solchen Gliedern zusammengeordneten Volks"31, ein ^geheiligter Nationalbeamter'" 32 steht für Herder ganz außer Frage33. Dies bestätigen nicht nur die - freilich der Sache nach fragwürdige 34 - faktische Einstellung der Zeit zum Predigerstand, Prediger als „Nationalb eamtezu betrachten, sondern auch die Geschichte der „Mosaischen Republik" 36 wie die erste Geschichte „der alten Deutschen"17. „Gott würdigte, da er selbst einen Staat seines Volkes anzuordnen befahl, auch den Priesterstand als besonderen Stand, Zucht, Landstütze einzuführen, - es war der Stamm Levi in der Mosaischen Republik!" 38 Und in der „Nationalver-

25

29 Ebd. SW VII, 297, Anm. 1 (V); vgl. SW VII, 175. 30 Ebd.; vgl. 1. Kor 12! SW VII, 299, Anm. 6 (V). 27 31 SW VII, 292. SW VII, 292. 2! 32 Ebd. SW VII, 298. 33 Vgl. SW VII, 299, Anm. 6 (V) und SW VII, 297, Anm. 1 (V). Völlig abwegig F. W. Kantzenbach, Geschichte, 42, der die Auffassung Herders vom Prediger so skizziert, daß Herders Begriff des Predigers als „Redner Gottes" ausschließt, daß der Prediger „irgendeiner vordergründigen .Menschlichkeit' nützt, also etwa dem Zusammenleben in der Gesellschaft oder dem Staate oder sonst irgendeinem Zwecke". Daß dies nicht Herders, sondern nur Kantzenbachs Selbstbekenntnis in dem Kleid einer Herderinterpretation ist, beweist Kantzenbach selbst. Vgl. o. S. 150 und sein Standpunkt überhaupt, „nur den inneren Weg der Kirche" (a.a.O., 9) verfolgen zu wollen. 3< 37 Vgl. o. S. 106 ff. SW VII, 297. 35 38 SW VII, 181 M. SW VII, 297, Anm. 1 (V). 36 SW VII, 297, Anm. 1 (V). 26

179

Der Predigerstand als gesellschaftliches Amt

Sammlung der alten Deutschen"" mußte man den Priester „,als einen geheiligten Nationalbeamten ansehen"*40, wie Herder aus S. Moser41 zitiert. Die Frage für ihn konnte nur lauten, in welcher Weise der Prediger dies war, welche Funktion dieses gesellschaftliche Amt hatte. Ob man ihn „blos" 42 dergestalt als Nationalbeamten ansehen durfte, daß er „Generalgewaltiger und Handhaber der Gerechtigkeit, deren Heiligkeit oder Heiligung nicht anders als aus Menschengutwillen und Eigenmacht"4J herrühret, ist, ob er als solcher gar bloß aus „Klugheit" 44 oder gar als „Polizei (!) Gottes oder Moses" 45 zu verstehen sei. Oder, ob er als Nationalbeamter ein ganz anderes gesellschaftliches Amt wahrzunehmen hätte und ggf. welches !*

II. Der pädagogische

Charakter der gesellschaftlichen des Predigerstandes

Aufgabe

Welche Funktion also schreibt Herder dem gesellschaftlichen Amt des Predigerstandes zu? 1. Bildung als gesellschaftliche Aufgabe

des

Predigerstandes

Der weiteste Begriff, den Herder für die Aufgabe dieses öffentlichen Predigerstandes gebraucht, ist „Bildung". „Stand, der du Jahrtausende und die ersten wichtigsten Jahrtausende, Bildung der Welt wärest, fühle dein Element!" 1 " SW VII, 297. « Ebd. « SW VII, 298. « SW VII, 297, Anm. 1 (V). 41 „Osnabr. Gesch." (SW VII, 298, Anm.). « Ebd. 42 SW VII, 181 M. 44 Man kann an dieser Argumentationsweise Herders sehr klar die beiden Herder beschäftigenden Fronten erkennen, nämlich einerseits eine sich von ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung zurückziehende Kirche und andererseits ein sich autoritär gebärdender Staat. Beide Fronten sind nicht nur hinsichtlich der Auffassung des Geistlichen Amtes eins (hier Integration des Geistlichen Amtes als verlängerter Arm der eigenen absolutistisch-autoritären Staatsmoral und Staatsideologie, dort faktische Anpassung in der Ausübung des Amtes bei - z.T. - innerer, nicht-öffentlicher, individueller Kritik), sondern auch in ihrer Wirkung aufs Volk, dem beide nichts nützen. Herder hat sehr klar erkannt, daß in der Bestimmung und Ausübung der gesellschaftlichen Funktion des Geistlichen Amtes sein Schlüssel für eine notwendige gesellschaftliche Wende lag. Seine Taktik liegt dabei darin, formal einer Integration des Geistlichen Amtes in die Gesellschaft nicht nur - dem Staat gegenüber - zuzustimmen, sondern diesen sogar darauf faktisch und geschichtlich zu behaften, inhaltlich aber mit Hilfe des Geistlichen Amtes, insbesondere seiner Predigt, die bestehende Gesellschaft zu desintegrieren und auf Menschlichkeit hin zu verändern. Allein darin lag aber auch in seinem Jahrhundert die einzige Überlebenschance von Volkskirche was Herder besonders der darin zu unachtsamen Kirchenpolitik seiner Zeit ins Bewußtsein bringen wollte. ' SW VII, 301; vgl. SW VII, 290; SW VII, 293; SW VII, 294; SW VII, 299; SW VII, 307; SW VII, 311.

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Herder und das Geistliche Amt

Zwar haben sich Zeit und Gesellschaftsstruktur geändert, aber durch Menschenbildung auf die ganze Gesellschaft Einfluß zu nehmen, „all einfliessen"2 zu können, ist immer noch „Element" 3 , „Aether"* des Standes. Denn auch die ersten Priester waren die „ersten Erzieher der Welt"5. „Bildung"6 war das, was ihnen solche Bedeutung verlieh, daß es „ihr Scepter"7 ward. „Lehrer der Welt"' war auch Jesus. In vierfacher Hinsicht bestimmt Herder diese öffentliche Funktion des Predigerstandes näher: 1. was das Ziel dieser Bildung betrifft, 2. was ihren Stoff angeht, 3. hinsichtlich ihrer Methode und 4. bezüglich der Qualifikation ihres Trägers. a) Das Bildungsziel Das die öffentliche Bildungsaufgabe des Predigerstandes bestimmende Bildungsziel ist: „nicht Stände als Stände"9, sondern „Menschen als Menschen zur edelsten Höhe" 10 zu bilden, weder „Bürger, noch Unterthanen, sondern Menschen, Geschöpfe Gottes, Brüder Jesu, Glieder der Offenbabrung"" zu erziehen. Mit diesem Ziel ist der Geistliche Stand bei seiner ureigensten Sache. Es enthält sowohl eine kritische wie eine programmatische Seite. Ständisch orientierte Bildung ist nämlich nicht die öffentliche Aufgabe des Predigerstandes, mithin auch nicht Stabilisierung des gesellschaftlichen status quo einer ständisch orientierten Gesellschaft. Die Kirche ist weder eine „Bildungsakademie für Bürger und Unterthanen Sr. Majestät"12 noch „Bildungsakademien für den Landmann, Pächter, BürSW VII, 299; vgl. SW VII, 290; SW VII, 294. SW VII, 299; vgl. SW VII, 301. 4 Ebd.; vgl. SW VII, 302. 5 SW VII, 177 M. 6 SW VII, 294; vgl. SW VII, 182 M: „Wißenschaften und Bildung". 7 SW VII, 294; vgl. SW VII, 182 M. s S W V I I , 307; vgl. SW VII, 311. ' SW VII, 299. 10 Ebd. " SW VII, 290. 12 SW VII, 238. Vgl. o. S. 108. Daß hier Herder die zeitlichen gesellschaftlichen Verankerungen des Bildungswesens für Schaumburg-Lippe real sieht, bestätigen Ergebnisse neuerer soziologischer Forschungen für das Großherzogtum Sachsen-Weimar noch für das Jahr 1816. Nach H. Eberhardt war auch das vergleichsweise städtischere Sachsen-Weimar der Goethezeit nicht nur ein „Staat überwiegend landwirtschaftlichen Charakters" (Eberhardt, Goethes Umwelt, 17). Auch die ständische Gliederung war entsprechend: die herrschende Schicht (Fürsten, Stadt- und Landadel) mit 1%, städtisches Bürgertum mit 2 3 % , Bauerntum mit 63%, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter, Dienstboten und Tagelöhner der Stadt und des Landes mit 13%, jeweils der Gesamtbevölkerung (vgl. a.a.O., 23). Die steuerlich erfaßten Berufsgruppen - neben den steuerfreien Militärper2 3

Pädagogischer Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe der Prediger ger"'\

V i e l m e h r ist ihr B i l d u n g s z i e l menschlich-politischer

181

N a t u r : Bildung des

M e n s c h e n als M e n s c h e n , a l s o als s o l c h e n , d e r o f f e n b a r - g e r a d e als L a n d m a n n , P ä c h t e r , B ü r g e r u n d in s e i n e m S t a n d - e n t w e d e r viel v o n s e i n e r M e n s c h l i c h k e i t e n t b e h r e n m u ß t e , e i n g e b ü ß t h a t o d e r gar in s e i n e r s t ä n d i s c h

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K l a s s e n g e s e l l s c h a f t vielleicht in s e i n e r M e n s c h h e i t n o c h g a r n i c h t v o l l

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E n t w i c k l u n g g e k o m m e n ist o d e r k o m m e n k o n n t e . Exkurs

zu Herders

Begriff

der

Menschenbildung

D i e Priorität der Menschenbildung vor der Ausbildung zu staatlicher professioneller N u t z b a r k e i t und zu deren fortwährender Korrektur betont Herder noch in Weimar. In einer Weimarer Schulrede von 1786 sagt H e r d e r : „Menschen sind wir eher, als wir Profeßionisten werden, und wehe uns, wenn wir nicht auch in unserm künftigen Beruf Menschen blieben! V o n dem was wir als Menschen wissen und als Jünglinge gelernt haben, k o m m t unsre schönste Bildung und Brauchbarkeit für uns selbst her, noch ohne zu ängstliche Rücksicht, was der Staat aus uns machen wolle" (SW X X X , 123). U n d in den „Alteren Niederschriften" zu seinen „Ideen" lesen wir analog: „Ich wünschte nicht, daß man eine dieser Zeilen einem partheiischen Groll in meinem H e r z e n zuschriebe, zu dem ich keine Ursache weiß; wie freudiger würde ich andre Resultate zeichnen, wenn sie mir die Geschichte darböte! Ich bediene mich daher auch immer nur des Worts D e s p o t i s m u s , das nicht der Monarchie allein z u k o m m t sondern in allen gemißbrauchten, übelverwalteten Regierungen statt findet. - . . . Glücklich, daß Menschheit und Staat nicht Einerlei ist; . . . aber den Menschen, über deßen Geschichte ich schreibe, darf ich anreden, in welchem Staat und Stande er sich auch befinde. U n d ihm rufe ich z u : unterscheide den Menschen v o m Unterthan, v o m Staatsmann, v o m D e s p o t e n . N u r der G r u n d s a t z eines Sklaven (kann es seyn) ists, daß der Mensch ein Thier sei, das einen Herren nöthig habe; kehre den Satz u m : - Alle Entschlüße seiner Seele, jede edle Thätigkeit seines Willens ist sein; und sie ist nicht mehr sein, sobald er eines Herrn bedorfte. Der Staat mag einen Regenten und seine Mithelfer, das H e e r einen Anführer, das Volk einen Beherrscher nöthig haben; so wie es aber ein böser A r z t ist, der seinen Kranken curirt, damit er seiner ja immer bedörfe . . .: so ist es ein böses Kennzeichen der Regierungen, daß sie den größesten Theil der Menschen dahin gebracht haben, um sie jetzt mehr zu bedörfen, als jemals" (SW X I I I , 454ff.).

sonen, Frauen und Kindern ungefähr 1/3 der Gesamtbevölkerung - waren staatliche und städtische Bedienstete (26%), Handwerker, Kaufleute, Händler und Gastwirte (22%), Handwerksgesellen (17%), männliche und weibliche Bedienstete, Tagelöhner (35%) und damit mindestens zu 78% in Dienstverhältnissen personaler und starker Abhängigkeit. " SW VII, 251; vgl. SW VII, 232: „Claßen, Curien und Centurie»" durch Tugendlehre zu bilden ist nicht ihre Aufgabe. Geistreich aber falsch der marxistische Rechtswissenschaftler H. Klenner, der - zu sehr von Marx/Engels befangen - die unbelegte Behauptung aufstellt, daß Herders Menschenbild - noch bürgerlich befangen - den Menschen als Klassenwesen „in der Anonymität" (Klenner, Herder, 42 u. 46) belasse. Vgl. o. S. 58, Anm. 24. Daß sich Herder erst in seinen „Ideen" und dazu noch in „eingekleideter und umschriebener Form . . . für gesellschaftliche Umwälzungen, für sozialpolitische Veränderungen" (Förster, Geschichtsphilosophie, 27) ausspreche, erscheint von dieser Stelle aus als falsch. Vgl. auch u. S. 251.

182

Herder und das Geistliche Amt

Anders schon W. v. Humboldt 1795, der in seiner vergleichenden Anthropologie der Menschenbildung die politische Virulenz als Korrektiv des politischen status quo nimmt und sie der religiösen und staatlichen Manipulation des Menschen nebenordnete. „Den Menschen zu bilden ist aber nicht bloss der Erzieher, der Religionslehrer, der Gesetzgeber bestimmt. So wie jeder Mensch neben (!) allem, was er noch sonst seyn kann, zugleich immer noch Mensch ist, so hat er auch (!) die Obliegenheit auf sich, neben (!) allen Geschäften, die er sonst immer betreiben mag, zugleich auf die intellectuelle und moralische Bildung seiner und andrer praktische Rücksicht (!) zu nehmen" (v. Humboldt/Heinemann, Philosophische Anthropologie, 15; vgl. o. S. 75 f.). Diese gesellschaftskritische Symbolik und Praxis des Geistlichen Amtes verkennt auch die Herderrezeption Chr. Grawes. Er ist daran interessiert, in der naturphilosophischen (Scheler, Plessner, Gehlen) und kulturanthropologischen (Rothacker, Gehlen, Landmann) Anthropologie der Gegenwart „die Fülle der Herderschen Ansätze, Gedankenfolgen und Einzelheiten" (Grawe, Herders Kulturanthropologie, 19) nachzuweisen, nicht aber an der kulturkritischen Praxis Herders. Zu ideell und als bloße intellektuelle Stellungnahme zu der „konterrevolutionären" Braunschweiger Deklaration formuliert der Marxist H. Scheel Herders politisches Engagement (vgl. Scheel, Herders Stellung, 17ff.). Offenbar war aber z.Z. Herders die Herzogin Luise die feinsinnigste Beobachterin und Kritikerin von Herders religiöspolitischer Stellungnahme in dieser Frage (vgl. ebd.). Von ihr existiert im Frankfurter Goethemuseum ein bislang nur in Auszügen veröffentlichter Brief vom 14. 9. 1790 an Frau von Stein (vgl. Luise von Sachsen-Weimar, Br v. 14. 9. 1790) über eine Predigt Herders „gegen den Luxus und die Vorurteile der höheren Stände" (Goethe-Museum, Sehr. v. 5.12. 1979 an den Vf., Anlage), der uns in unserer Auffassung und Darstellung bestätigt, daß Herders politische Einstellung eine religiös motivierte praktische und als solche methodologisierte Angelegenheit war (gegen Dietze, J. G. Herder, 10; These 18). Diese Form öffentlicher politischer Agitation nahm Herder eindeutiger als bei seinem schriftstellerischen Werk, bei dem eine Zurücknahme der politischen Responsabilität für das Gesagte durch stilistische Besonderheiten zu beobachten ist (vgl. o. S. 38, Anm. 15 sowie H. Scheel, Herders Stellung, 20), nach 1789 offenbar nicht zurück. Zu ideell sieht auch I. Berlin das Revolutionäre bei Herder. Nach ihm wirken sich drei zentrale Ideen aus: Herders „populism" (Berlin, Herder, 153), sein „expressionism" und sein „pluralism" (ebd.). Mit ihnen begegne Herder „three great eighteenthcentury myths" (a.a.O., 186), nämlich dem Mythos „of the superiority of a particular tribal culture" (ebd.), den „historical myths of the century" (a.a.O., 190) und dem Mythos „of steady progress" (ebd.). Insbesondere in Herders Pluralismus, „his famous rejection of absolute values" (a.a.O., 206) sieht Berlin „perhaps the most revolutionary of the implications of Herder's position" (ebd.). Denn, wenn „Herder's notion of the equal validity of incommensurable cultures is accepted, the concepts of an ideal state or of an ideal man become incoherent" (a.a.O., 209). So sehr zu begrüßen ist, daß Berlin damit den ideologischen Gegensatz von Herders Populismus zum Nationalismus (vgl. a.a.O., 153; vgl. zu diesem Gegensatz auch Iggers, The German Conception, 29ff.) beweist, fehlt bei ihm doch der Blick auf die Herdersche Praxis seines Volksbildungsprogrammes. Zur Homiletik Herders in Weimar, aber unzureichend, weil deren gesellschaftskriti-

Pädagogischer Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe der Prediger

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sehen Akzent ausklammernd, Feiereis, J . G. Herders Vorstellungen, 2 7 5 ; 288 ff. Vgl. u. S. 192, A n m . 117.

Das alle Stände umfassende „Häuflein Christenvolkist Auftraggeber und Empfänger dieser kirchlichen Aufgabe, die Bildung von allen „Christen nach Christus Bilde"" ihr höchstes Ziel. b) Der Bildungsstoff „Medium" 16 , „Vehikulum"", „Mittel"™, also Stoff dieser an der Entwicklung des Menschen orientierten öffentlichen Bildung ist dem Predigerstand das „edelste Medium"", das „ganze Medium der Gottespflege und Erziehung des Menschengeschlechtes" 20 , die „Gottesbildung"11, die „Bildung der Seele durch Religion"11, die „Offenbahrung"" als „des reinsten Mittels der Bildung" 24 , die 15 „Geschichte der Religion" als dem „großen Vehikulum der Bildung"1'', Jesus, als dem „reinsten Vehikulum, wo schon Vehikulum seyn muste" 27 . Es gibt für Herder offenbar keinen seinem Bildungsziel adäquateren Stoff, um diese Menschlichkeit des Menschen aufzuschließen und zu vermitteln. Auch diese Stoffauswahl hat eine kritische Seite. Die zeitgenössische aufgeklärte Morallehre und ihre Texte sind für dieses Ziel ungeeignet: „Deismus, Moral, Katechismusmilch" 28 , „Seneka, Epiktet, Shaftesburi, Voltare"", „Sokrates, pensées der Voltarepiktete"30, ein „Brief an

SW VII, 251. Durchgehalten von Herder auch in Weimar: „In der Christengemeine ist kein Stand; Soldat, Hofdiener, Fürst und Minister sind Christen" (SW X X X I , 754; hier gegen das die kirchlichen Befugnisse und die öffentliche Versöhnungspraxis der Kirche unterlaufende fürstliche Dispensationswesen in Fragen der Kirchenzucht und dessen juristische Differenzierungen von sog. verschiedenen und loskäuflichen Sündengattungen gewendet). Anders als bei H. D. Irmscher, Herder, 134, der erst für das Jahr 1795 den Begriff eines literarischen „.Publicum des Christenthums'" - Irmscher zitiert Herder nach SW XVII, 301 f. - „zum ersten Mal" bei Herder feststellt und in dieser sprachlich-literarischen Konstituierung „die nationalen Trennungen aufhebende Öffentlichkeit" sieht, ist hiermit die durch die Predigt konstituierte Volkskirche bereits für 1774 als Herders gesellschaftskritisches Programm erwiesen. Sachlich zu eng ist F. M. Barnards Formulierung, daß Herder als fruchtbarstes soziales Gefüge das Volk als „eine Sprachgemeinschaft" (Barnard, Zwischen Aufklärung, 179;175) erschienen sei. Das Volk ist für Herder Glaubensgemeinschaft und als solche eine menschlichem Sprechen wie menschlichem Denken und Handeln verpflichtete Gemeinschaft. Vgl. o. S. 72 f. 15 SW VII, 293. I ! SW VII, 290; SW VII, 182 M. " SW VII, 299; SW VII, 182 M. SW VII, 299. ,7 SW VII, 243; SW VII, 307. 20 SW VII, 294; vgl. SW VII, 182 M. 21 SW VII, 293; vgl. SW VII, 180 M: „Gotteserziehung". 22 SW VII, 290. 25 Ebd.; vgl. SW VII, 243; SW VII, 305. 27 SW VII, 307. 24 SW VII, 290. 28 SW VII, 280. 29 SW VII, 251. " S W V I I , 243. 26 Ebd. J ° SW VII, 240.

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Herder und das Geistliche Amt

Keith, Maupertius und Bredow"" oder „Zolledikte und Hume's Moralischpolitische Diskurse!"11 Alle diese Stoffe haben lediglich eine die aufgeklärte Klassengesellschaft stabilisierende, sie aber nicht mehr in ihrer Menschlichkeit hinterfragende und zur Menschlichkeit weiterentwickelnde Funktion. c) Die Bildungsmethode Die Methode der Vermittlung dieses Bildungszieles ist „einfältig, stark, unzerbrechlich, wahre Handhabe - Kurz Erweis der Offenbahrung an ihr selbst/"" Darin entspricht sie sowohl der Kraft und dem menschlichen Inhalt des Stoffes, wie dem einfältigen Fassungsvermögen der Adressaten, dem „Volk"14. Aber auch der Kraft und dem Vermögen ihres „einfältigen"35 Bildungsfunktionärs. Diese Methode ist also hörerfreundlich, praktikabel auch für den „geringsten Bruder"56 und stofffreundlich, sie steht ihrer Sache nicht im Wege. Herder formuliert auch diese Methode als ein kritisches Programm. Die Methode der „Philosophische(n) Beweise der Religion"37 erfüllen nämlich diese dreifache pädagogische Bedingung für die Wirksamkeit dieser gesellschaftlichen Aufgabe des Predigerstandes nicht. Sie ist unverhältnismäßig1' im 31 SW VII, 241. Richtig Naumann: „Die genannten drei Briefe hatten Friedrich den Grossen zum Verfasser" (Naumann, Herders Provinzialblätter, 335). 32 SW VII, 287. 33 SW VII, 305; vgl. SW VII, 189 M. 34 SW VII, 305; SW VII, 246; vgl. SW VII, 190 M. 35 SW VII, 295; SW VII, 234; vgl. SW VII, 184 M. 36 SW VII, 292. 37 SW VII, 303; vgl. SW VII, 186 M. 38 Diese dem menschlichen Geist entsprechende, nach Ziel, Stoff, Hörer und eigener Qualifikation ausgerichtete Verhältnismäßigkeit in der Methode nennt Herder auch „analog" (vgl. u. S. 221; 223; 226) oder, für die Predigtpraxis, „analytisch" (vgl. u. S. 267ff.). Selbstverständlich ist damit alles andere als eine komplizierte wissenschaftliche Technik und Vorarbeit zur eigentlichen Bildungsaufgabe gemeint. Sie ist vielmehr die Sache selbst, in Gestalt von Literatur oder Predigt. Zur Rekonstruktion der Erfahrung korrelierenden Erkenntnistheorie Herders durch Rückführung auf „das Problem der Konstituierung von Analogie als dem Mittel, Phänomene zu ordnen und ihnen dadurch Sinn zu verleihen" (Meggle, Analogie, 54) sowie zur analogen Erkenntnisweise Herders als sprachliches Phänomen bei Herder selbst vgl. Meggle, Analogie. Meggle stellt darin dar, daß Erkenntnis (menschliches Erkennen und Benennen) der polyprozessualen Natur bei Herder kein apriorisches Denken und syllogistisches Klassifizieren ist, sondern ein kontrolliertes Vergleichen des Erfahrbaren durch die sich besinnende menschliche Seele mittels eines erinnerten Merkwortes, das als metastasierendes Merkmal auf die Natur projeziert diese durch sich überlagernde Perspektiven erfaßt und nur darin menschliche Wahrheit, Analogie zum Menschen selbst ist (vgl. Meggle, a.a.O., 59ff.). Zu diesem Prozeß des Erkennens als Wiedererkennen trage nach Herder insbesondere die Empfindung des ersten und bleibenden Tones einer Sache das entscheidende Merkwort bei. Der Gedanke entstehe aber erst durch eine unbegreifliche „Metastasis", eingeleitet durch eine Reflexion, die den progressiven Vorgang des Verstehens bewußt anhält.

Pädagogischer Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe der Prediger

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Blick auf ihren Stoff, den sie in seiner „Würklichkeit"" unterschätzt, die eigene wissenschaftliche Qualifikation zur Abstraktion, die sie in ihrer Wirkung überschätzt40, und bezüglich der Hörer, bei denen sie nichts in Bewegung bringt. Die stoffliche, persönliche und hörerbezogene Unverhältnismäßigkeit dieser Methode ist Ursache, daß philosophische Beweise „so wenig würken"41, in nichts „rühren, . . . verstören! allgemein würken!"42 Von ihren „Propheten"43 sagt daher Herder: „ihr kommt und wahrlich ungesendet"*\ Demgegenüber liegt in jener einfachen Darstellung der „Haushaltung Gottes"", des „simple(n) Gewächs(es) Gottes. . . wie es ist"4\ der „Darstellung der Bibel, wie sie ist"47 das ganze, notwendige Prophetenwerk „für unsre Zeit"48 beinhaltet, denn nichts anderes war Prophetengabe, als „Wort Gottes in Stärke und Kraft zu beweisen"49. d) Der Bildungsträger Ziel, Stoff und Methode bestimmen auch die Qualifikation des Bildungsträgers für diese gesellschaftliche Aufgabe. Auch diese formuliert Herder in kritischer Abhebung, bezogen auf Bestrebungen seiner Zeit. Die Qualifikation des Predigers zur gesellschaftlichen Aufgabe seines Standes liegt nicht in standesgemäßer Gelehrtheit, sondern in seiner Qualifikation als Mensch. Wir haben oben schon dargestellt, wie kritisch Herder die dazu unangemessene zeitgenössische Ausbildung beurteilt. Sie ist ihm alles andere als auf diese berufliche Aufgabe bezogen und führt lediglich die künftigen Bildungsträger durch akademische Gelehrsamkeit in einen Zwiespalt zu sich und ihrem Amt50. Wir haben auch schon gezeigt, wie wenig Herder von einer ideologischen Ausbildung oder ideologischen Konfrontation der Bildungsträger hält51. Die Hauptqualifikation für die Übernahme des Geistlichen Amtes in seiner Bildungsaufgabe der menschlichen Gesellschaft ist für ihn menschliche Einfalt.

Diese bleibe daher in ihrer „Metaschematisierung" der Natur physeologisch durch die Empfindung strukturiert (vgl. a.a.O., 62), thetisch aber durch die Gesellschaft (vgl. ebd.). Zur Problematik von Meggies Auffassung selbst vgl. o. S. 19 f. » SW VII, 303. « Ebd. 4) 41 E b d . ; vgl. S W VII, 188 M. 42 43 44 45

SW VII, 303. SW VII, 304. Ebd. S W VII, 305.

"

E b d . ; vgl. S W VII, 189 M.

47

S W VII, 305. S W VII, 306. Ebd.

41 49

50 50

Vgl. o. S. lOOff.

5t 51

Vgl. o. S. 169 ff.

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Herder und das Geistliche Amt

aa) Der Begriff der Einfalt „Einfalt"52 ist das Charakteristikum des Standes. „Einfalt"" muß auch verlangt werden, wenn die „ersten Musterseelen des Menschlichen Geschlechts"54 durch „Dichtkunst"* dargestellt werden. In ihrem „Gange der Einfalt"* rührt auch die erste „herrliche Theodicee"57 in Hiob. Gilt, „daß sich ursprüngliche Stiftung des Worts Gottes so natürlich an die simpelsten Stände der Menschheit, Haus=, Ehestand, Kinderzucht, und überhaupt Erziehung des Menschlichen Geschlechtes in seinem Fortwuchse anschlang"58, dann erfordert dies nach Herder auch für den Diener am Wort, daß er als einfältiger Erzieher, „Vater und Mutter, Hausvater und Hausmutter"59 ein „einfältiger Diener Gottes!"60 ist. „Philosophen, Moralische Lehrer, geistliche Redner und obrigkeitliche Räthe, artige, angenehme Gesellschafter"61 können zwar „viel andres Nützliches"" sein, nur nicht der gesuchte Bildungsträger. Dieser Beruf liegt „unter ihrer Würde, wenigstens (ohne alle Deutung gesprochen) unter ihrem Kreise"", wie Herder hinzufügt. Daher ist der gesuchte Mann: „einfältiger Hirte deiner einfältigen Herde!"64 „Einfalt"65 ist die Auszeichnung der Schrift, „das ganze Werk Gottes durch Zeiten und Völker... in all seiner Würde und Einfalt"66 zu zeigen, ist die erforderliche Qualifikation für einen „Bote(n) Gottes am Volk"67. Luther beispielsweise war so ein „Einfältiger, ungelehrter"68 Gottesbote. Die „einfältigen Parabeln der Evangelisten"69, der „einfältige Jesus"70, seine „simplen Gleichniße"71 ein weiterer Beleg für diese Qualifikation, da sie ja zu einer Zeit der „Blüthe der (sc. gelehrten) Jüdischen Theologie"72 sozusagen ihrer Funktion nach als Antiprogramm angesehen werden müssen. Wie das Beispiel der „Schriftgelehrten und Pharisäer"73 zeigt, verbindet sich Gelehrsamkeit mit Heuchelei74 - dem Gegenteil von Einfalt. Lauterkeit ist ihr aber synonym75. Am Maß von „Einfalt, Würde, Leben, Rundung"76 ist auch der Fortschritt der Predigttypen ablesbar. Das „einfältige(re)"77 Fühlen hat die größere Ver-

62 Ebd. SW VII, 175. 63 SW VII, 184 M. SW VII, 177. 64 Ebd. 54 Ebd. 65 SW VII, 185 M. 55 Ebd.; vgl. SW VII, 306. 56 SW VII, 179 M. 66 SW VII, 189 M. 67 SW VII, 190 M. 57 Ebd. 68 Ebd.; vgl. SW VII, 305. S( SW VII, 183 M; vgl. SW VII, 294. 69 SW VII, 201 M; vgl. SW VII, 205 M. 59 SW VII, 183 M. 70 Ebd. " SW VII, 183 M f. 61 SW VII, 183 M. 71 SW VII, 200 M; vgl. SW VII, 308: „Einfältige Parabeln Jesu". 75 Vgl. SW VII, 214. 72 SW VII, 201 M. 76 SW VII, 218. 75 SW VII, 202. 77 SW VII, 269. 74 Vgl. SW VII, 202 M. 52

53

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heißung der Erkenntnis des Lebensnotwendigen78. Nicht durch besondere Gelehrsamkeit oder besondere Empfindungen Priviligierte, sondern die „ganze Menschheit"79 erwartet von dem Prediger einen Weg, den gerade ein „Einfältiger"'0 in dieser Welt gehen kann. „Simplicität"81 ist auch das Wesen des Eindrucks der Religion, aber die „Natürliche Menschensprache"g2 und die „wahre edle Mitte guter Sitten"83 scheinen noch schwieriger für manchen Bildungsträger zu sein, als die dann in Wirklichkeit doch einfachere Sache, „Einfalt, Würde, Göttlichkeit, erhabne Ruhe seines Standes"84 zu treffen. Selbst die „Theologie""5 kennzeichnet eine, durch sie auch für andere, dem Menschen nützliche Wissenschaften erreichbare, „Einfalt, Licht und Leben So wünscht sich Herder auch, daß der Predigerstand in juristischen, philosophischen und ökonomischen Fragen wie ursprünglich tätig bliebe - auch unter Verachtung, „aber mit einer Einfalt, Würde und Erhabenheit. . ., die in solchem Maas und Höhe allein ihm eigen, aus der Religion eigen seyn sollte! Salz der Erden! Licht, das seinem Wesen nach in Dunkelheit und Dämmerung scheinet, . . ,"87. Es sei daher der „Priesterstand als Stand, als Charakter! Einfalt und Himmelsläutere, und Würde und allumfassende Redlichkeit sei unser Priesterschmuck, . . ,"88 Auch die Methode der Ausübung des Bildungsamtes ist „einfältig"8', „ungelehrt"K, „von Kopf und Herz und Brust und Schreibart"'1. Vorbild für diese Einfalt - auch in der Dichtkunst - sind die „.Anfänge der Bibel, der Weltgeschichte, die ersten Eindrücke unsrer Jugendseele, die einzigen Reste eines wahren Goldalters der Welt, wo Einfalt, Hoheit, Ruhe, Glückseligkeit, Gottesseele"'2 hervorstrahlen, der „Ur= und Stammvater des Menschengeschlechts! Geschlechts Inbegrif und Hieroglyphe! in deinem Lichte, und in deiner Feierhülle! in deiner Vernunft= und Sprach = und Kunstlosen Einfalt und Stärke, und Hülle und Fülle von Menschenkraft, Menschenrege, und Gottesempfindung!. . ,"' 3 Ebenso Jesus, der „Einfalt, Leben, Licht und Würde"94 in seinem Leben verkörpert. bb) Einfalt als u r s p r ü n g l i c h e M e n s c h l i c h k e i t : P a t r i a r c h i e u n d B o t e s e i n

Was meint Herder mit diesem Begriff der Einfalt als Qualifikation des Bildungsträgers für die von ihm zu übernehmende gesellschaftliche Aufgabe der Volksbildung? Vgl. SW VII, 269, Anm.

84

SW VII, 272. Ebd.

85

" SW VII, 284. 82 SW VII, 285. 81 Ebd.

87

79 80

86

88 89

Ebd. SW VII, SW VII, SW VII, SW VII, SW VII,

299. 299, Anm. 1. 301, Anm. 1 (V). 301, Anm. 1 (V)f. 305.

Ebd. Ebd. SW VII, 306. Ebd. SW VII, 308.

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Herder und das Geistliche Amt

Herder beschreibt dies in einem Bild: „Aber, wenn ich mich dir nähere, einfältiger Hirte deiner einfältigen Heerde! Vater aller, die dein sind, die du alle kennest und liebest! in ihrem oft harten, dornigen Lebenswege anmunterst, tröstest, und durch Pflicht und Vertrauen zum Himmel führest: guter, redlicher Mann des Himmels! Unterpfand der gemeinsamen Gottesfurcht, Friedens, Redlichkeit und Glückseligkeit deiner Gemeinde! du aller Väter und Greise Bruder! aller Armen und Elenden Kenner und Nothhelfer! aller Unmündigen und Kinder Erzieher und Vater - edler, einfältiger Mann! Gabe des Himmels! Bote der Gottheit! Glücklichster und Verdientester (wenns verdiente und glückliche gibt!) der Menschen auf Erden - du liegst verborgen! wirst, als ,Wort Gottes auf dem Lande!' verspottet: bist kein - bist allerdings! und vielleicht Einzig noch der wahre König zu Salem! König der Gerechtigkeit und des Friedens! Priester Gottes des Allerhöchsten! - Lehre und thue Gottesdienst und glaube! Dein Keim fällt in die Erde, aber die Krone deines Baumes wird groß seyn! - In jedem Stande ist Patriarch vielleicht der würdigste, erhabenste Anblick der Menschheit: ein Noah, Abraham, Melchisedek und leider auch öfters Hiob! des geistlichen Standes in seinem höchsten Begriffe! Wie tief fühlt sich ein Edler liegend, wenn er nur hie und da Trümmer des heiligen Gottesrestes siehet!"95 Was sich ohne genaues Zusehen und Kenntnis Herders hier als Einfalt des Pastoren beinahe wie ein Idyll romantischer Provenienz" ausnimmt, ist in Wahrheit ein Kontrastprogramm zu massiven gesellschaftlichen Mißständen. Schon die Tatsache, daß es offenbar nur „Trümmer" dieser Art Einfältigkeit gibt, die dazu noch als solche verborgen oder verspottet werden, beweist, daß es Herder hier um keine Verherrlichung eines romantischen Ideals oder gar einer heilen Realität geht. Ein Defizit drückt dieses Bild aus, eine Art Negativ tatsächlicher kirchlicher und gesellschaftlicher Zustände in dem positiven Bild des einfältigen Hirten, der in dieser Situation der ändernde Faktor sein könnte. So ist dieses Bild entwickelt - zugleich eine Charakteristik einer - samt Predigerstand! - in ihren ursprünglichsten sozialen menschlichen Beziehung gestörten Gesellschaft. Denn, warum muß sich menschliche Einfalt darin erweisen, daß der Mensch als „Vater" wieder in den Blick kommt, wenn nicht Väterlichkeit in Gesellschaft und Stand verloren gegangen ist? Warum muß menschliche Einfalt als „Bruder", „Kenner und Nothhelfer" der Armen und Elenden erst noch oder wieder definiert werden, wenn da nicht Brüderlichkeit, Solidarität, Interesse aneinander und Barmherzigkeit verloren sind? Warum schließlich als „Erzieher und Vater" von Unmündigen und Kindern, als „König der Gerechtigkeit n

SW VII, 184 M; vgl. SW VII, 234 und SW VII, 295, wo Herder diese Einfachheit als Qualität des Predigers ganz ähnlich aus dessen Predigt erweist. % Falsch Förster, Geschichtsphilosophie, 14, der diesen Vorwurf gegen den Bückeburger Herder insgesamt erhebt.

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und des Friedens", wenn nicht Erziehung, Gerechtigkeit und Frieden zum Problem geworden sind. Herders Negativ-Projektion tatsächlicher - wenngleich zunächst noch ganz allgemein gehaltener - gesellschaftlicher Defizite in das Positiv des einfältigen Predigerstandes als Patriarch ist also alles andere als das, was vielleicht wir mit dem Begriff des Patriarchen verbinden, obgleich auch uns eine vaterlose Gesellschaft inzwischen wieder problematisch geworden ist'7. Herder definiert auf diese Weise menschliche Einfalt, also als Verwirklichung ursprünglicher Menschlichkeit im primären und weiteren sozialen Bereich. Nicht, ob das alles auch theologisch korrekt ist, darf daher unsere erste Frage sein, sondern was diese Definition für seine Zeit und insbesondere für den auf seine ursprüngliche Menschlichkeit hin angesprochenen Prediger als Wahrer jener öffentlichen Aufgabe der Volksbildung geleistet hat. „Ohne Anmaassungen und Jesuitereien, o Stand, könntest Du je werden, was du wärest und seyn solltest. Patriarchie! Stand der allgemeinen und zartesten Gottesbildung, allgemeines Band, Kütt und Unterpfand geheiligter Ordnung und Redlichkeit der Welt - und keine Geistlichen, die das mißbrauchten! Und keine Weltlichen, deren Intereße etwas anders wäre, und überall gnug Zunder, und Empfänglichkeit, die reine Gottesflamme anzunehmen und fortzubreiten - alle Christen nach Christus Bilde/"" Oder Herders Ausruf im Angesicht der dargestellten Faktizität" des Standes nach Besserung: „O Priesterstand, Patriarchie! O Patriarchenpriester! = =" 100 Daß Herder damit keinen romantischen Gefühlen oder nostalgischen Regungen nachhängt ist mithin bewiesen. Wie der Begriff der Patriarchie ist auch der andere Begriff, den Herder für die Qualifikation des Bildungsträgers verwendet, nämlich „Bote Gottes"'" zu sein, ein Interpretament menschlicher Einfalt und alles andere als affirmatives oder gar selbstbewußtes Herauskehren von priesterlicher Größe oder leerer Konfessionalität, sondern Qualifikation für ein gesellschaftliches Programm der väterlichen Gesellschaft. „Bote Gottes am Volk"m sein heißt nämlich: die Zurücknahme aller Vermittlung von gelehrtem Wissen an das Volk im Interesse des Staates und einfacher „Ueberbringer und Dollmetscher des Worts für Welt und Nachwelt!"103 zu werden. 97 Vgl. Mitscherlich, Auf dem Weg, S. 342, wo der Verfasser neben einer Vaterlosigkeit ersten Grades für unser Zusammenleben die Vaterlosigkeit zweiten Grades charakterisiert und deren Bewältigung von jener abhängig sieht. Z u r politischen Dimension des Vaterbegriffes bei Herder vgl. SW I, 23 f., wonach Herder der Auffassung ist, daß der wahre Monarch für sein Volk Vater ist.

Zum Vater-Begriff als kritischer politischer Kategorie später auch J . G. Müller von Itzehoe (vgl. Kimpel, J. G. Müller, 87), obgleich dieser weniger kritisch in Verteilung dieses Ehrentitels beispielsweise an Friedrich II. war. SW VII, 293. " Vgl. o. S. 91 ff.

100 101

SW VII, 297. SW VII, 196.

102

SW VII, 190. Ebd.

190

Herder und das Geistliche Amt

Diese Konsequenz zur Einfachheit in der Methode der Überbringung des Wortes Gottes - nicht seiner Interpretation - qualifiziert den menschlichen nicht den gelehrten akademischen - Prediger als den Propheten104, inhaltlich aber dazu, „Bote Gottes zur wahren Wohlfahrt"105, „Wächter deiner Brüder!"m zu sein. Von diesem einfältigen Prediger ist garantiert: „. . . - kein weltliches Gesetz wird dein Gewißen und deine Empfindung hindern, dein Amt als mehr, als Tugendlehrer zu führen nicht vor Menschen, sondern vor Gott! und keine Casuistik und Pastoraltheologie es dir bestimmen dörfen, wie du ohne wahren Anstoß bürgerlicher= Stands= und Sittenbeziehungen Seelen suchest und findest, Lastern entgegenredest und entgegenhandelst, ihre Wurzeln, soweit deine Hand reicht, nicht wegzuschieben, sondern wegzurotten trachtest. . . Arzt und Hirt für die Deinen; im eigentlichsten Verstände - und so du was mehr thun willt oder kannst, Beßrer der Welt!"w? Menschliche Einfalt zum Bote-Sein macht also widerstandsfähig gegen Verkehrungen und Versuchungen im Geistlichen Amt und stark zur - offenbar notwendigen! - theologischen und gesellschaftlichen Kritik - eine pädagogische Qualifikation, die faktisch fehlte und auch nicht durch Beteuerungen erreichbar war. Der Predigerstand ist in diesem „wahrern und bestimmtem Ausdrucke"108 „Bringer einer Gabe Gottes ans Volk - Lehrer der Offenbahrung, Ausbreiter des reinsten Mittels der Bildung - und so fern würklich abgesonderte, auserwählte Mittelsperson - Bote und Werkzeug Gottes. Kein geweihter Besorger heiliger Gebräuche, zumal nicht nach eigensinniger Willkür (ein Bild, wofür man zittert!) aber etwas Edlers, geweihte, das ist erwählte Besorger heiliger Geschäfte, des heiligsten Geschäfts auf Erden - Bildung der Seele durch Religion",c". Daß Herder auch damit keinen weltfremden Predigerstand, sondern Prediger für seine Welt vor Augen hat, ist nun ebenso klar. Der Predigerstand ist „Stand der Menschheit""0 als ihr Bildungsstand und darin der „Erste der Welt und des Lebens"1". 2. Der Predigerstand als öffentlich-rechtliche

Institution

Es verwundert für den heutigen Betrachter, mit welcher Ausführlichkeit, vor allem aber mit welchen schwergewichtigen Gründen Herder diese seine Auffassung vom Predigerstand als „patriachalische" Bildungsinstitution für eine väterliche Gesellschaft begründen, ja rechtfertigen112 muß. Wäre seine

108 SW VII, '» Vgl. SW VII, 190 und SW VII, 306. , 0 ' Ebd. SW VII, 196. 110 SW VII, Ebd. 107 Ebd. 1,1 SW VII, 112 Uber die viel schwierigere Aufgabe des Rechtfertigens

290.

,05

286 f. 284. als des Erklärens Herder selbst:

Pädagogischer Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe der Prediger

191

Auffassung lediglich ein unverfängliches romantisches Idyll oder die Ausgeburt eines nostalgischen Schwärmers gewesen, so entfiele dazu jegliche Notwendigkeit. So aber bringt er für seine Auffassung sogar vier öffentlich-rechtliche Beweise. Das kann nur heißen, daß seine Auffassung die öffentliche Gesellschaft in ihrer Struktur betraf und offenbar auch empfindlich angriff - ein nachträglicher Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung der gesellschaftskritischen Intention seines „Patriarchenpriesters". Welches sind die vier Faktoren, mit denen er den so charakterisierten Predigerstand in seiner gesellschaftlichen Bildungsaufgabe als eine öffentlichrechtliche Institution rechtfertigt? Herder führt dafür an: 1. die menschliche Tradition, 2. Gottesrecht, 3. Deutsches Recht und 4. den faktischen gesellschaftlichen Bedarf. a) Die menschliche Geschichte Schon die menschliche Tradition erweist in ihren Anfängen den Priester als väterlichen Erzieher des Menschengeschlechts als einen Urständ der Menschheit. „Natürlich also, daß der Priesterstand auch noch am liebsten, wo er gebohren ist, webet - in den simpelsten Ständen der Menschheit. Erzväter Gottes! sucht sie nicht, oder weniger in jenen Hauptstädten, wo sie rothe Schuhe oder gar rothe Hüte und seidne Kleider tragen! Wos nicht Vater und Mutter, Hausvater und Hausmutter mehr gibt, zum ersten Lebenszwecke: Wie kanns da Priester Gottes mehr geben? Aber freilich etwas Andres, vielleicht Vornehmers, auch Gutes — was weis ich?"115 Oder: „Die ersten Jahrtausende der Welt waren sie (sc. die „Patriarchen") die erste Haushaltung Gottes auf Erden! Durch sie und an sie stuffenweise seine erste Offenbahrung: an sie die ersten Prüfungen und Entwicklungen der Tugend: sie also, als Vorbilder, Lehrer und Gottes Werkzeuge Jahrtausende hin, die ersten Erzieher der Welt!""4 „. . . erklären läßt sich alles; aber rechtfertigen? es als Ordnung Gottes aus unwandelbaren Gesetzen der Menschennatur nach diesem Geschäft, jenem Lande und Klima erweisen zu sehen? wenn das nicht die Vernunft empörte, so wüßte ich nicht, was sie empören könnte. Philosophie und Geschichte widersprechen solchen Behauptungen, so sehr sie sich auch mit Philosophie und Geschichte schmücken und ziehren. Der esprit des loix in jedem Lande, in jedem Klima ist, daß Gesetze eigentlich nur für die Bösen gemacht sind, daß aber die Guten sich bequemen, ihre Last zu tragen und am Ende einzig und allein das friedliche Opfer derselben werden . . . " (SW XIII, 449). 113 SW VII, 294; vgl. SW VII, 183 Mf. 1,4 SW VII, 177 M; vgl. SW VII, 181: „Kanal und Quelle alles Unterrichts und gemeinschaftli-

192

Herder und das Geistliche Amt

Schirmen wir einmal für einen Moment die zeitkritischen Spitzen dieser Aussagen ab115, so sieht sich Herder in seiner Darstellung des Priesterstandes als öffentliches Bildungsamt durch die menschliche Tradition gerechtfertigt, mit der seine Auffassung übereinstimmt. Priester Gottes war von jeher simpelster Stand der Menschheit. Dem Wesen nach Hausvater und Hausmutter, der Funktion nach Erzieher eines sozialen Gebildes: des Hauses, der Welt, „des Menschlichen Geschlechts""''. War dies sicher für staatliche Ohren und Zungen bestimmt, so jene einmal abgeschirmten Aussagen sicher für kirchliche Praxis. Die Aussage wieder zusammengenommen bringt noch einmal deutlich die beiden - in ihrer Auswirkung aufs Volk einigen - Gegenpositionen Herders vor den Blick: Staat und Kirche, die sich zu einer unheiligen Allianz zusammengefunden hatten, in der der menschliche Bildungsauftrag117 der Kirche im Begriff war als öffentliche Angelegenheit unterzugehen. b) Gottesrecht Einen noch massiveren Beweis für die eigene Auffassung der Rechtmäßigkeit des patriarchalisch verstandenen Predigerstandes als öffentliche Bildungsinstitution ist für Herder das Gottesrecht. Er kennt „kein Göttlichers, von allen Einräumungen politischer Konvenienz unterschiedlichers Recht als Wahrheit""*. Hatte sich der im Bereich moralischer Bildung kulturell dominant119 bleicher Bildung von Gott!!" ist der Priesterstand von „Ursprung aller Geschichte", von „Anbeginn des Menschlichen Geschlechtes" her. 11S Wir sind darauf bereits ausführlich eingegangen; vgl. o. S. 106ff. ni SW VII, 183 M; Herder definiert auch hier die „simpelsten Stände der Menschheit" als „Haus=, Ehestand, Kinderzucht". 117 Vgl. o. S. 180 ff. Menschenbildung war im ausgehenden 18. Jahrhundert, beispielsweise bei J . G. Müller von Itzehoe, zu einem literarischen Topos geworden (vgl. Kimpel, J. G. Müller, 86 f.), ohne allerdings den Kreis und die Weite der von Herder hier ins Auge gefaßten desillusionierenden Öffentlichkeit abzuschreiten und die geschichtliche Dimension wie die damit zusammenhängende Dichte der Einengung des Legitimationsspielraumes für den absolutistischen Ständestaat zu erreichen. Ebenso spannend wie der Vorgang, daß in J. G. Müllers von Itzehoe Romanen „die empfindsame Moral bürgerlicher Anthropologie und Familienkultur zur politischen Kritik am absolutistischen Ständestaat expandiert" (Kimpel, J. G. Müller, 86 nach Koselleck), ist die Tatsache, daß bei Herder dies offensichtlich mit der kritischen Infragestellung zumindest der diesem Staat verbliebenen oder beharrlich verschriebenen Legitimationsinstitutionen einhergeht (vgl. hier, Anm. 119). 118 SW VII, 239. 119 Vgl. Vierhaus, Geschichte, 113. Das zentrale zeitgenössische Erlebnis war zwar „für die im absolutistischen Staat sich formierende bürgerliche Gesellschaftsidee bei stagnierender Wirtschaftsentwicklung der kulturelle Aufschwung (Wissenschaften, Künste, Bildungsinstitutionen)" (Kimpel, J. G. Müller, 82 nach Vierhaus). Die Ernüchterung der Zeit war aber die Spannung zwischen ideal-politischen Vorsätzen und Entwürfen und der tatsächlich weiterbestehenden Ordnung. Solange beispielsweise die Gebildeten und Schulen nicht gegen die Staatsräson verstießen, hatten sie relativ freie Hand. Im anderen Falle nicht (vgl. Kimpel, Frühaufklär. Sprachkritik,

Pädagogischer Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe der Prediger

193

bende absolutistische Stände-Staat - mit kirchlicher Unterstützung! - als „im absolutesten Verstände, von Goti" 120 her gerechtfertigt, so setzt dem Herder das Gottesrecht der wahren Geschichte gegenüber. Dieses aber, „die Urgeschichte aller Völker" 121 beweist erstens, daß alle weiteren Stände „als Gesetzgeber, Könige, Fürsten"' 22 lediglich Ableger des priesterlichen Urstands sind und auch alle ursprünglichen rechtlichen Urkunden und Vereinbarungen Gottes Siegel und nicht das des Königs tragen123. Wenn sich also die absolutistische Obrigkeit von Gott her als rechtmäßig begründet, dann muß erst recht die dafür unerläßliche Voraussetzung gelten, daß „Priesterstand von Gott!"m ist. Während die übrigen Stände nur durch Priesterstand vermittelten Charakter haben, kommt diesem also göttliche Unmittelbarkeit' 25 zu. Und daher hat er zweitens als diese „unmittelbare Anordnung Goííes" 126 eine durch keinen anderen Stand - auch nicht des Königs - ersetzbare oder bestreitbare öffentliche Bildungsfunktion, nämlich, „zum Heil und zu einer Bildung des Menschengeschlechtes" 127 in der ihm von Gott her als Patriarchie aufgetragenen Weise da zu sein. „Wenn alle Stände am Patriarchen erwachsen sind, und die Erste Bildung des Menschengeschlechts, wies Historisch und Philosophisch erwiesen werden kann, von Gott kommen muste: die Ersten, an die die Offenbahrung oder die Fortpflanzung derselben gelangte, die also, seine Werkzeuge, in Gottes Namen sprachen und von Sohn auf Enkel hinaberbten; siehe da Prototyp der Priester! Die Bildung, dadurch sie herrschten, ihr Scepter: das ganze Medium 4 6 : Ausweisung Wolffs und für Herder o. S. 38, A n m . 15). Daher wird den Bildungseinrichtungen von H e r d e r zwar nicht pauschal Indoktrination unterstellt (vgl. o. S. 97, A n m . 66), ihre politische Funktion und Auswirkung ist ihm aber eine ambivalente, wenn nicht sogar problematische Angelegenheit gewesen. F ü r diese Problematik dürften insbesondere die dem Bestehenden von N a t u r aus mehr verbundenen Fakultäten, das in der Breite wirksame und praktizierte Gesellschafts- und Staatsrecht, vor allem aber die öffentliche praktische Verkündigung und Erziehung wie das Anstellungsverfahren für die Staatsbeamten ausschlaggebend gewesen sein. N i c h t „Emanzipation", „Antizipation" (Kimpel, J . G . Müller, 82) war daher die Struktur der fortschrittlichen bürgerlichen Gesellschaftsidee im absolutistischen Staat, vermutlich solange, bis die Frage der Institutionalisierung von Kultur als Bedingung für ihre Wirksamkeit auch von den fortschrittlichen Denkern in der wünschenswerten Deutlichkeit erkannt und geklärt wurde. H e r d e r scheint diese Frage nicht nur gesehen zu haben (vgl. o. S. 180f. und 91 ff.), sondern in der funktionalen R e f o r m des Geistlichen Amtes wie des Lehramtes (vgl. o. S. 62 ff. und 174 ff.) zu seinem T h e m a gemacht und ersten Ergebnissen zugeführt zu haben. 120 121

S W V I I , 182 M. S W V I I , 181 M .

122 E b d . A u c h „ R i c h t e r = , A d e l = , Königsstand und alle Stände (die meisten erst wie später!)" ( S W V I I , 181 M ) sind aus dem Priesterstand erwachsen. 123 Vgl. S W V I I , 181 M . 124 125 126 127

S W V I I , 182 M . Zur Funktion des Begriffes für die Identität des Predigers vgl. o. S. 162 f. S W V I I , 182 M . Ebd.

194

Herder und das Geistliche Amt

der Gottespflege und Erziehung des Menschengeschlechts ihr weiter Königsraum: ihr Stand also so unmittelbar von Gott, als Ein Stand seyn kann! . . . Immer wirds brüchige Geschichte des Menschlichen Geschlechts bleiben, alles aus Socialkontrakt zu erklären oder was nicht dicht vor uns liegt, als Betrug und Teufelswerk zu verbannen. Ist Menschengeschlecht auch aus Socialkontrakt entstanden? oder wars gar Betrug und Teufelswerk, daß es entstand? Waren alle Priester und Generalgewaltiger ursprünglich Betrüger: so weiß ich wohl, welche Generalgewaltiger es mehr als Priester gewesen seyn müsten? U n d siehe! wie eigentlich sagt die Religion von ihnen: sie sind von Gott! U n d wenn wir der nicht glauben wollen, nur durch Priester und aus Priestern sind sie ja, was sie sind, worden!"121 Exkurs zur Überwindung

des Naturrechts

bei

Herder

K.-H. Hahn hat durch eine Untersuchung zu F. H. v. Einsiedel nachzuweisen versucht, daß Rousseaus das Recht des Einzelindividuums gesellschaftlich absichernde Naturphilosophie am ausgehenden 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts offenbar in Weimar in einem breiteren Kreis als bisher bekannt überwunden war (vgl. Hahn, „Ideen", 52 ff.). Dabei ist nicht so sehr verwunderlich, daß, wie Hahn unter Zitierung einer Formulierung Kants von 1795 meint, „.Staats- und Religionsmaterien' die einzigen, die große Lesewelt interessierenden Artikel'" (a.a.O., 54) waren. Daran hat sich ja bis heute nicht viel geändert. Vielmehr scheint bedeutsamer, und die hier zitierte Stelle aus Herder belegt dies, daß die auch von Hahn gesehene Bezogenheit dieses Phänomens und einer sich abzeichnenden Veränderung der Auffassung der bislang naturrechtlich begründeten Gesetzgebung zu einer Gesetzgebung der Privilegierung der „führenden sozialen S c h i c h t . . . der Kleineigentümer und Lohnarbeiter" (a.a.O., 52) wie zu einem auf deren Rechtssicherheit abgestellten Begriff des Staates - Hahn gebraucht für diese Gesellschaftsauffassung den Begriff des Wirtschaftsliberalismus weniger als ein unvorbereitetes ideengeschichtliches Ereignis zustande kam als durch Herders konsequente theologische Autorisierung der Priorität des Volkes und der Gleichrangigkeit aller Kräfte des Menschen und so schließlich doch durch den Glauben des vielgeschmähten sogenannten ungläubigen und aufgeklärten 18. Jahrhunderts möglich wurde. Vgl. o. S. 51 und o. S. 121 ff. Auch H. Klenner liefert einen geistreichen Beitrag zu diesem Thema und stellt Herders Bedeutung für die Rechtswissenschaft als Ablösung der Positionen der „abstrakten Vernunft- und unhistorischen Naturrechtlern" (Klenner, Herder, 39) und Einführung einer „naturhistorischen Basis" (ebd.) für Menschheitsgeschichte und menschliches Recht heraus. Die Untersuchung des selbstkritischen Marxisten, der vor marxistischen Überinterpretationen Herders (vgl. a.a.O., 42 und 46) zur Stützung der eigenen Ideologie ebenso warnen kann wie W. Bahner für den Bereich der marxistischen Germanistik (vgl. Bahner, Zum ideologiegeschichtlichen Kontext, 93), leidet freilich darunter, daß in Wahrheit diese Selbstbeschränkung dem Ziel dient, Herder nicht in das für marxistische Ohren empfindliche Kielwasser des positivistischen Rechtshistorikers Savigny geraten bzw. dessen „Vorreiter" (Klenner, a.a.O., 36) abgeben zu lassen, was in der Tat nun auch schwerer beweisbar sein dürfte. Klenner m

SW VII, 294; vgl. SW VII, 181 Mf.

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schlägt also seinen eigenen Freunden Herder aus der H a n d nur dazu, um ihnen diesen nun schärfer und griffiger wieder als interessantes Geschenk zur Rechtfertigung der eigenen Ideologie zu offerieren - ein durchaus nicht vereinzelter Versuch marxistischer Herderrezeption (vgl. Bahner, a.a.O., 93ff.).

c) Deutsches Recht Aber auch die deutsche Geschichte und die ursprüngliche soziale Verfaßtheit dieses Volkes beweisen das Recht des Priesters zu autonomer öffentlicher Erziehung des Volkes ohne staatliche Direktiven. Herder führt hierzu anhand von Mosers Osnabrücker Geschichte129 sowohl den Beweis des priesterlichen Urstandes mit öffentlicher Erziehungskompetenz als auch den Beweis der politischen Funktion des Priesterstandes in der das Gemeinwohl bestimmenden „Nationalversammlung der alten Deutschen"" 0 . Erziehung übernahmen in der ersten Geschichte des Volkes zunächst „einzelne Wohner"' 31 , die „Priester und Könige in ihren Häusern und Hofmarken"132 waren. Zu ihrer Erziehung gehörte, daß jeder autonom „über das Leben ihrer Familien und Knechte"133 richtete, als Hof wie ein „unabhängiger Staat. . . mit Krieg und Friede"134 sich vom Nachbarn schied und jeder „Hausvater"135 - auch bei Eingehen eines gemeinsamen Sicherheitsbündnisses autonom „seinen eigenen Hausfrieden"136 handhabte. Obrigkeitlicher oder allgemeiner Einfluß hatte keine Autorität „in eines Mannes Wehre"137. Gemeinsames Recht war nur eine Krücke des „Hausrechte(s)"138. Herder liest, so müssen wir folgern, an dieser139 ersten Geschichte des deutschen Volkes auch hier den Urständ des Priesters mit seinem Recht zu öffentlicher Erziehung ab, wobei nun besonders deutlich wird, daß es ihm bei diesem Recht um die Autonomie einer ursprünglichen allgemeinen und auf das praktische Leben und Handeln in einer Gemeinschaft bezogenen priesterlichen Menschenbildung ohne obrigkeitliche Bevormundung geht. Hinzu kommt ein Zweites140, nämlich der Erweis des Priesterstandes als eines „gelehrVgl. SW VII, 293 und SW VII, 297 f. SW VII, 297. 1,1 Wir zitieren nach Herders Wiedergabe von „Mosers Osnabr. Gesch. § 13 (1. Aufl. Osnabr. 1768)" (SW VII, 293) in SW VII, 293, da Herder hier ohne weiteren kritischen Kommentar Moser folgt. 132 Zit. nach Herder, SW VII, 293. 133 Zit. nach Herder, ebd. 156 Zit. nach Herder, ebd. I3< Zit. nach Herder, ebd. 157 Zit. nach Herder, ebd. 135 Zit. nach Herder, ebd. 13! Zit. nach Herder, ebd. 139 Herder merkt zu den von ihm zitierten § 13 von Mosers Geschichte nur an: „Der Paragraph enthält vielleicht mehr Erläuterung, von dem schiefen, späten, niedern Orte, wo er gegen Orient zu, hertönet, als grosse Genesiskommentare". (SW VII, 293). 140 Grundlage dafür ist für Herder „S. Mosers Osnabr. Gesch. (§ 38-40, S. 72-77)" (SW VII, 298, Anm.). Im folgenden zitiert nach Herders Wiedergabe SW VII, 297-298, da Herder auch hier Moser ohne Kommentar übernimmt. 129 130

196

Herder und das Geistliche Amt

ten, allgemeinen Zwischenstand(es) seines Volkes"141. Ursprünglich waren „Edlen und Wehren oder Gemeine"142 „zwei neben einander stehende, und von einander unabhängige Stände"143, wobei die Gemeine den „Körper der Nation"144 bildete, ohne deren „Einwilligung"145 nichts geschah, die auch den Edlen „zu Nichts verpflichtet"146 war. Beide Stände gehörten der „Nationalversammlung"147 an, in der der „Priester und keine andere Obrigkeit... die Ordnung"148 handhabte. Es war Priesterzuigabe, „mehrere Mannien zusammen und Edle und Gemeine im Gleichgewichte"149 zu halten. Es war Priesterrecht allein, in der Versammlung das Wort zu erteilen oder jemandem „Stillschweigen"150 aufzuerlegen. Der Priester war „nothwendig edel"151. „Man muß ihn als einen152 geheiligten Nationalbeamten ansehen, der gleich dem Adel zwischen den Innungen stand, ohne zu einer Einzigen insbesondere zu gehören."153 Auch war es Priestermacht, „aus der Gemeinschaft"154 auszuschließen und ohne Blutvergießen die Nationalversammlung zu leiten. Darüber hinaus hatte der Priester die Richterfunktion in privaten Streitfällen und war der „geheiligte Mittler und Schiedsrichter zwischen streitigen Edlen, wie auch ganzen Mannien und Marken"155. Er hatte das „glückliche Recht, die streitige Grenze zu heiligen"156. Was Herder sagen will, ist deutlich, die nationale Funktion des Predigerstandes und seine Wahrnehmung politischer Tätigkeit als Zwischenstand seines Volkes zum Gleichgewicht zwischen dessen Obrigkeit und ihm selbst ist auch nach Deutschem Recht unbestreitbar. d) Das Recht der Notwendigkeit Öffentliche Berechtigung hat aber der Predigerstand als Bildungsinstanz für das Volk auch, weil er sich an dem für Menschen Notwendigen orientiert. Herder führt diese Orientierung der Bildungsaufgaben des Predigerstandes nicht ausdrücklich als Rechtsbeweis ihrer öffentlichen Unbestreitbarkeit an, sondern mehr beiläufig und als Beweis der Nützlichkeit des Predigerstandes wie dessen Predigt für den tatsächlichen Bedarf des Volkes. Offenbar war diese Qualität des öffentlich wahrgenommenen Bildungsauftrages der Kirche entwe141 142 H5 144 1,7 149 150 152 155 154

143 Zit. nach Herder, ebd. SW VII, 299. 144 Zit. nach Herder, ebd. Zit. nach Herder, SW VII, 297. Zit. nach Herder, ebd. Moser selbst: „Bewilligung"; vgl. SW VII, 297, Anm. 2, Zit. nach Herder, SW VII, 297 f. 148 Zit. nach Herder, ebd. Zit. nach Herder, SW VII, 298. Zit. nach Herder, ebd.; vgl. auch SW VII, 175. 151 Zit. nach Herder, ebd. Zit. nach Herder, SW VII, 298. Moser selbst: + „unabhängigen"; vgl. SW VII, 298, Anm. 1. 155 Zit. nach Herder, ebd. Zit. nach Herder, SW VII, 298. 156 Zit. nach Herder, ebd. Zit. nach Herder, ebd.

Pädagogischer Charakter der gesellschaftlichen Aufgabe der Prediger

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der für Herder selbst oder für seine zeitgenössischen Adressaten noch nicht Ausweis genug für ein daraus abzuleitendes öffentliches Recht zu diesem gesellschaftlichen Amt. Wir sind bereits oben157 auf die Schädlichkeit aller praktischen Philosophie eingegangen, die sich nicht am Notwendigen, dem Bedarf des Volkes, orientiert und fügen hier nur an, daß auch den öffentlich wirksamen Predigerstand diese Orientierung auszeichnet und wegen dieser Orientierung auch indirekt als öffentlich nützlichen Stand legitimiert und bestätigt. Den wahren Predigerstand zeichnet aus: „Eine Menschliche Einbildung, die noch nicht aufgespannt, mit Dornen und Kantheriden noch nicht gereizt ist, sich nur am Nothwendigen hält und nur auf Zweck, Anwendung und Uebung ruhet, sie findet bald Kreis, und wirkt ruhend desto einfältiger und gewißer"158. Da aber diesem Beweis aus der Faktizität des Predigerstandes noch eine breite, ihn tragende Mehrheit im Predigerstand selbst fehlt, hat es Herder offensichtlich unterlassen, ihn weiter auszuführen, obgleich auch die Lücke in der Bildung der Sphäre dessen, was das Volk bedarf und wirklich zum Leben nötig hat, auch für die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit des öffentlichen kirchlichen Bildungsauftrages hätte sprechen können. M.a.W.: Herder führt lieber drei schlagende als einen mißverständlichen Beweis an - ein Beleg dafür, wie sehr ihm offenbar an der Unanfechtbarkeit dieses Gedankenganges gelegen war. Uns zeigt die Ausführlichkeit und Vorsicht dieses gesamten Begründungszusammenhanges weiter, daß nicht nur der Predigerstand sein Recht zu einem autonomen öffentlichen Bildungsmandat im Volk zu verlieren im Begriff war, sondern auch in der inhaltlichen Formulierung dieses Auftrages als Patriarchie das Negativ einer offenbar gerade in dieser Hinsicht defizitären Gesellschaft und Bildungswirklichkeit des 18. Jahrhunderts. Politisch war damit aber auch eine Aufwertung des Hausvater-Standes als Symbol des Priesters jenseits aller ständischen und klassischen Struktur der faktischen Gesellschaft verknüpft, dergestalt, daß ihm nunmehr in der Erziehung wieder die autonome Verantwortung für sein Haus zugemutet wurde. Was das für den bis in die Lebensformen staatlich und kirchlich reglementierten Kleinbürger an Identitätgewinn und Selbstbestimmungsgewinn bedeuten konnte - wie es genutzt wurde, sei zunächst dahingestellt - , ist ohne weitere Worte klar. Für die menschliche Identität des Predigers schließlich war diese Konzeption des Predigerstandes eine Befreiung159 - von der Wirkung der Vorbildlichkeit dieses sich emanzipierenden Mittelstandes des Predigers auf andere Stände einmal ganz abgesehen. Herders Integration des Predigerstandes in die ständische Öffentlichkeit intendiert nach allem Gesagten durch das Wesen dieses Bildungsamtes deren Desintegration zur Menschlichkeit. ,S7

Vgl. o. S. 48.

158

SW VII, 235.

159

Vgl. o. S. 160 ff.

198

Herder und das Geistliche Amt

B. Das öffentliche Predigtamt als Ausbildung der Menschlichkeit des Menschen Uber den theologischen Charakter dieses scheinbar ketzerischen oder gar atheistischen Bildungsprogrammes des Predigtamtes haben wir bereits oben1 ausführlich gehandelt. Ebenso über seine gesellschaftsbezogene und gesellschaftskritische Funktion2. Hier geht es uns darum, dieses Programm im einzelnen inhaltlich wie methodisch zu erfassen. Was also zeichnet es als solches aus und wie stellt sich Herder seine Vermittlung vor? I. Religiöse Bildung als menschliche

Entwicklungshilfe

Herder fordert als öffentliche Bildungsaufgabe eine dem „Wachsthume"3 des Menschen entsprechende Menschenbildung. Vor allen methodischen Fragen ist damit ein bildungspolitisches Sachprogramm angeschnitten, das den Menschen in seiner Entwicklung zum Gegenstand hat. Links und rechts dieses Programmes liegen die unpolitischen methodischen Versuche, Religion als moralisches Substrat der Ebene des Kindes anzupassen bzw. diese ihm „ein (zu) greisen"4 - beides Ausdruck eines Sachprogrammes, in der Religion Sachthema ist, nicht der Mensch selbst. Beides vollzieht Herder „nicht mit" 5 . „Wer ein Kind biosfür das Jahr erziehen, das ist, wie unsre Kinderlehrer sagen, sich zu ihm herablaßen, oder wers gar auf einmal zu sich erheben, das ist, eine ganze Religion ihm Philosophisch eingreisen will, der thue es - ich nicht mit." 6 Wirklich religiös ist demgegenüber für Herder die öffentlich nützliche Bildung, in der der ganze Mensch und nur er selbst Thema und Gegenstand der Bildung ist7. Denn es gilt: „Religion in eigentlichster Bedeutung, nach Inhalt, Zweck und Vortrage, also der Einige Schatz für alle Kräfte der Menschheit! in jedem Umfange, jeder Entwicklung, und für ihre ganze Existenz hinaus!"8 Auf keinen Fall war und ist Religion eine „Religion blos auf Blätter Papier, 5 SW VII, 244. 5 Ebd. Vgl. besonders o. S. 146 ff. 4 SW VII, 243. Vgl. o. S. 174 ff. ' Ebd. 7 Vgl. auch Herders Bestimmung von „Theologie", o. S. 142 u. 229f. 8 SW VII, 245; vgl. SW VII, 252: die „Offenbahrung" ist „Gebäude der Entwicklung des Menschengeschlechts in die Ewigkeit hinüber". Auch „Jesus" ist „nicht etwa auch ein guter Mann und Lehrer guter Moral, sondern Erlöser der Welt! Mittelpunkt des Menschlichen Geschlechts! Vorbild Christlicher Vollkommenheit in die Entwickelung der Ewigkeit hinüber!" Man darf diese Begrifflichkeit Herders nicht in dogmatischer Weise pressen, denn die Situation der Auseinandersetzung mit der Staatsmoral ist sowohl deutlich spürbar wie auch an seinen antithetischen Formulierungen ablesbar. Was er meint, ist klar: Religion, Offenbarung und Jesus sind von konkretem Nutzen für den Menschen in seiner Menschheit. 1

2

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auf Pergament von Eselshaut, wenn gar auf Steintafeln geschrieben, erhalten und darüber disputirt - nur immer Wißenschaft der Buchstaben!"' Es kann demgemäß in der religiösen Bildung nur darum gehen, die menschliche „Seele aufs tiefste zu nähren, und auf ewig; nur allmälicb, aber mit allen Kräften sie zu erweitern"10. Das Wesen dieser Bildung ist also nicht die Vermittlung von Religion als eines einem fragwürdigen Staat dienlichen toten Wissens, sondern die Vermittlung, Ausbildung und Entwicklung aller menschlichen Kräfte als Religion. Wer so will, also eine Form von menschlicher Selbstbestimmung, deren Stärke nicht in der Ideologie, sondern darin liegt, daß sie als menschliche Möglichkeit und Tatsache gedacht ist, weil nämlich alle ureigensten Kräfte des Menschen dabei zur Verwirklichung kommen sollen. So geht es diesem Bildungskonzept darum, „die kleine Menschheit. . . sich an Kräften"11 entwickeln zu lassen. Nicht durch „ein blos Exempelbuch süßlicher Tugendvorbilder"12 die Entwicklung der Menschenkräfte zu verstellen, sondern „durch Offenbahrung Gottes"" „auf ganze Entwickelung der Menschenkräfte"14 aus zu sein, damit der „schöne Körper"15 „Kräftevoll"" heranwächst. Das „ganze schöne Gewächs Gottes" 17 soll durch den ihm entsprechenden Boden, „ O f f e n b a h r u n g g e m ä ß seinem innigen „Saft und Kraft" 1 ', „Glaube"20, heranwachsen. So gilt es für den Prediger, den „ganzen Menschen"21 zu stärken, „sowohl die sinnlichen, nur glaubende, auf Autorität beruhende, dunkle, aber 50 lebhafte und würksame Kräfte, auf die Alles im Leben ankömmt; als das kleine deutliche Faßungsvermögen, das natürlich nur in sehr milden bedachtsamen Situationen würken kann."22 Diese „ganze Seele"23 gilt es zu nähren, zu erweitern, zu tragen und zu stärken, wie es das „Wort Gottes" 24 tut. Denn „Glaube, Hoffnung und Liebe sind eben so wohl Kräfte, und edle, würkende Kräfte, als das Kunstwerk, klare Vernunft"25. Da der Mensch „aus einer sinnlichen Kindheit"26 aufwächst, 14 Ebd.; vgl. SW VII, 245. 19 Ebd. SW VII, 258. 15 SW VII, 243. SW VII, 243. " Ebd. 11 Ebd.; vgl. SW VII, 242. 16 Ebd. 30 Ebd. 12 SW VII, 243. 17 SW VII, 244. 21 Ebd. 13 Ebd. 22 Ebd.; vgl. SW VII, 261: Man kann fälschlicherweise dem Menschen „alle . . . nicht blos denkenden, sondern wesentlichen Kräfte" absprechen; SW VII, 262f.: Die beiden menschlichen Seelenkräfte, die „Obere und untere Seelenkräfte" sind gleichrangig; SW VII, 265: Gott empfindet es nicht „unanständig", auch auf die „ganz sinnlichen Kräfte des Menschen zu würken". Oder: Die ganze Religion ist auf „Zeugniß der Sinne und nicht der Oberkräfte allein" gebaut. " SW VII, 244. « Ebd. 25 Ebd.; vgl. SW VII, 242f., wonach „Glauben und Gehorsam, Liebe und Hoffnung" - „(ob wohl nicht in unserer Philosophischen Erziehung)" - die „ersten Tugenden, die in ihm (sc. dem einzelnen Kind) geweckt werden müßen, und die Lebenslang alles führen und tragen" sind. 26 SW VII, 244. 9

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„aus der er den Saamen all seiner Kräfte hernimmt"27, sollte „seine Bildung . . . diesem Fortgange ähnlich"2S werden. In seiner Entwicklung bleibt der Mensch „aber auch sein Lebenlang Kind einer höhern Macht"2\ dergestalt nämlich, daß er Teil der Menschheit, Glied in einer „grosse(n) Kette, in die alle meine Kräfte streben"30, ist, sein jetziger Entwicklungsstand nur „auf Einem sichtbar gewordenen, eingeschloßnen, verdämmerten Punkte"31 das ist, was er ist und insofern immer nur „das Unendlichwenigere gegen das, was, vor= um= und hinter ihm im dunkeln Spiegel schwimmt"12 ist. Es ist „Trug oder Kurzsichtigkeit"33, diese Relativität menschlicher Entwicklung, diesen „Umfang nicht erkennen"34 zu wollen und auf dem augenblicklichen Stand als „auf dem einen hellen Punkte der Nadelspitze zu verharren, und - ihn als das Ganze unsers Systems von Wißen und Thun zu preisen"35 und Lähmung36, den Menschen nicht „zu beiden Seiten hin"37 zu bilden, zumal diese doch sichtbar sind. Auch bezüglich der Komplexität des menschlichen Handlungsablaufes3' ist es psychologisch39 ganz falsch, die menschliche Seele nur „in Einer Kraft ausschliessend stimmen und treiben"40 zu wollen, weil das wenigste menschlichen Handelns und Tuns „aus deutlich erkannten Beweggründen, als Philosophische Pflicht gethan wird"41. „Aus Sinnlichkeit, auf Sinnlichkeit"42 geht „alles"43 beim Menschen zurück. Und „tausenfach mehr"44, meint Herder, baut sich das menschliche Handeln auf „Glauben, als auf aufgeklärte Regungen, Bewegungsgründe, und wie der Triumphkram weiter laute"45 auf. Bildung des Menschen „mit blosser Moral aus löblichen, deutlich erkannten Bewegsgründen"46 ist daher ebenso erfolglos wie die andere Konzeption der Erziehung des Menschen „aus blos harter, drückender Autorität!" 47 Nur, daß jene Bildungskonzeption und „ewiges Philosophiren übers καλόν κ'αγαθον der Tugend"48, die zwar „fein und schön, aber nicht bräuchlich"49 ist, dazu noch den größeren Schaden anrichtet, weil sie nämlich am „ Volk "50 vorbeigeht. 29 Ebd. 31 Ebd. 33 Ebd. Ebd. 50 Ebd. 52 Ebd. 34 Ebd. Ebd. 35 Ebd. Ebenso unsinnig sind die daraus abgeleiteten moralischen Unterweisungen in Vorträgen und Predigten, die „Pflicht oder Thema auf der Nadelspitze" (vgl. SW VII, 242) mit sich führen. 36 Vgl. ebd. 37 SW VII, 245. 3 ! Vgl. SW VII, 262 und SW VII, 262, Anm. 3. " Zum Stellenwert psychologischer Argumente, s.u. S. 230ff. 40 SW VII, 245. 41 Ebd. „Eins gegen hundert" ist dies nach Herder nur der Fall und dann ohne „lebhaft" zu wirken (vgl. ebd.). 42 SW VII, 245. 47 Ebd. 43 Ebd. 4» Ebd. 44 Ebd. 49 Ebd. 45 SW VII, 245f.; vgl. SW VII, 245, Anm. 1. 50 Ebd. 44 SW VII, 246. 27

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Sie bewegt „nicht die Kräfte der Seele . . ., die bei dem grossen, ehrwürdigen Haufen Volk! erregt werden müssen, wenn etwas würken soll" 51 . Denn: „Das Volk, noch nicht zu Raisonnement gebildet, glaubt und handelt: nimm ihm den Glauben, dein ewig Raisonnement kann nichts ersetzen und hat geschwächt, hat verdorben/"" Daher weiß Herder „nichts, was so allgemein auf den Menschen und auf den grossen, starken, würkenden, nicht in Philosophie und Pfarre kränkelnden Theil der Menschen würke, als Religion in ganzer Bedeutung Die moralphilosophische Bildungskonzeption verbindet sich wegen der Nutzlosigkeit für das Volk für Herder mit einer der Empirie und Weite menschlicher Seelenvorgänge nicht standhaltenden mechanistischen 54 Ideologie der Menschlichen Seele als lediglich rational bzw. moralisch strukturiertes menschliches Vermögen - abgelesen an ein paar Gebildeten. Demgegenüber betont Herder weniger die Irrationalität als die große Spannweite menschlicher Kraft, den sinnlichen Boden aller menschlichen Kräfte, vor allem aber die Nutzlosigkeit einer Bildung, die sich auf „Zergliederer" 55 der menschlichen Seelenkräfte aufbaut und damit deren Verwirklichung im Großen verhindert, indem sie lediglich den weniger wirksamen abstrakten Teilbereich der menschlichen Kraft für darin Privilegierte oder den allein ebenso unwirksamen Teilbereich der menschlichen Empfindungskraft für darin Privilegierte anspricht. Glaube ist demgegenüber Inbegriff für die gesunde und ganze Verstandeskraft des sinnlichen Menschen. „Glaube, der alle (sc. menschlichen) Kräfte fasset" 56 , ist es, auf den die „ganze Religion . . . bei den Empfangenden" 5 7 gebaut ist. Menschenbildung muß darauf achten, daß diese subjektive menschliche Kraft nicht in irgendeiner Weise, als Verstand oder Gefühl, zum Schaden menschlicher Entwicklung verkürzt wird. Dies muß man nach links wie rechts festhalten. Eine Reduktion und Konzentration der Bildung auf dieses ganze Vermögen 51 Ebd. Vgl. SW VII, 265: Die ganze Religion ist aber „nach Zweck und Inhalt ans Volk, dem grösten, sinnlichem Theil der Menschheit und nicht an Grübler gerichtet". Vgl. auch SW VII, 305. 52 SW VII, 246. Vgl. SW VII, 267: In der „Bibel" aber beispielsweise „spricht Empfindung unmittelbar zum Herzen, zum Sinn, zur Nachahmung; und wird kein Nachgrübeln, kein Auflösen in Elemente", sondern „Glauben" und „thun". Eine der Bibel in dieser Hinsicht analoge Menschenbildung darf mit dem gleichen Erfolg rechnen: „Aber gib Kindern und Menschen Ein Wort Gottes, stark geglaubt, anschauend erkannt, unmittelbar im Vorbilde aufs Herz, zur That strebend: es tbut! - Der elende Menschenschauplatz sich seine Pflicht zu ergrübein, wird Schauplatz neuer Exsistenz, Thätigkeit, Religion Gottes" (SW VII, 246). Bei dieser Menschenbildung geht es um Wiedergeburt des Menschen als „neu seyn" (SW VII, 268, Anm.), nicht um Auflösung des menschlichen „Daseyn in klare genetische Begriffe davon" (SW VII, 268, Anm.). „Abstraktion" (SW VII, 269) hilft „dem einzelnempfindenden, handelnden Wesen . . . wenig" 55 SW VII, 247. (SW VII, 270). 53 SW VII, 246. 56 SW VII, 265. 57 Ebd.; vgl. SW VII, 244. " Vgl. SW VII, 247 und o. S. 124, Anm. 18.

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des Menschen, Glaube, läßt erst den Menschen zur Wirksamkeit und Tat, zur faktischen Selbstverwirklichung kommen. Eine Ausweitung menschlicher Kräfte über diese ihre gesunde Mitte hinaus verleitet, jede auf ihre Weise, den Menschen zur Untätigkeit. Mehr als Glauben ist nicht erforderlich. Denn: „Glauben soll man und denn unverrückt thun" 58 . Die Menschliche Seele nach Kreis, Tiefe und Höhe „auszumessen" 59 , ist nicht Bildungsaufgabe, denn trotz klugen Aufweises von „Aberglauben" 60 oder „Philosophisch-Utopische(n) Götter(n), die oben im seligen Aether unwirksamer Spekulation leben"" sollen, wird nach Glauben gehandelt. Daher gilt für die Menschenbildung: „Im grossen Gange der Offenbahrung. Dahin und daraus sehe ich alle Kräfte streben!"62 Drei Haupttendenzen zeichnen also dieses religionspädagogische Konzept njenschlicher Bildung aus: 1. Das Drängen Herders auf Ausbildung des ganzen Menschen in seiner ganzen Kraft, 2. Sein Drängen auf eine gleichberechtigte Entwicklung der sinnlichen Kräfte des Menschen und 3. sein Drängen auf eine ganze Entwicklung der Kräfte des Menschen mit der Möglichkeit und dem Recht zu einer seinen Kräften gemäßen eigenen Tat. Die antithetische Gedankenführung Herders wie sein kritischer, in ständiger Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Bildung in und außerhalb der Kirche pulsierender Stil belegen ausreichend, daß offenbar diese Punkte das Defizit zeitgenössischer Menschenbildung ausmachten. Im tiefsten, so müssen wir vermuten, wurzelte also diese an Menschlichkeit defizitäre öffentliche Pädagogik in einer Unterschätzung der natürlichen Menschlichkeit des Menschen und ihrer Kraft. Hier hat nach Herder das Predigtamt mit seiner religiösen Bildung vor allem anderen als Wahrer von Urrechten der Menschheit in die Bresche zu gehen, und zwar so, daß es diese als öffentliches Amt erkennt, behauptet und ausbildet. 1. Recht auf Ganzheit und Unversehrtheit

der eigenen

Der Mensch hat ein natürliches Recht auf „ganze" Kräfte.

63

Lebenskraft

Entwicklung aller seiner

58 SW VII, 267f.; vgl. SW VII, 268, Anm.: „Glauben sollen wir und denn flugs und unzertrennlich thun!" 59 ω 61 62 SW VII, 247. Ebd. Ebd. Ebd. 65 SW VII, 243; vgl. SW VII, 244; SW VII, 245; SW VII, 253; SW VII, 272. Wir halten die Interpretation U. Cilliens, daß der Mensch nach Herder „ein Geschöpf der,Mitte'" (Cillien, J. G. Herder. Christi. Humanismus, 107) und des „rechten Maßes" (a.a.O., 14) sei, nicht für geglückt (vgl. o. S. 148 f). „Ganzheit" ist für Herder der bezeichnende anthropologische Ausdruck oder

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Bei diesem ganzheitlichen religionspädagogischen Bildungsprozeß bestimmt der Mensch Fortschritt und Fortgang, nicht eine Sache. Denn auf diesem Weg muß darauf geachtet werden, daß sich die ganzen Seelenkräfte des Menschen „nur allmälich"''* entwickeln können, damit diese alle am Ziel des pädagogischen Weges zur Anwendung und ganzen selbständigen menschlichen Selbstverwirklichung auch ausgebildet und ganz, nicht aber verkürzt, verkrüppelt oder verstellt bereit stehen. Welche Kräfte der Mensch selbst zu seiner Verwirklichung hat und wie sie allmählich auszubilden sind, beschreibt Herder in dem Bild vom Heranwachsen einer Pflanze: „die Einbildung fängt an sich aufzuhellen, das Urtheil, noch geschloßne geruchvolle Knospe, vorzubrechen: Neigungen gehn, wie Sprossen aus dem Samenkorn der zarten Pflanze allmälich auseinander: die kleine Menschheit entwickelt sich an Kräften, wie im Verhalte der Glieder, - und siehe! so das große Vehikulum der Bildung, Geschichte der Religion. Nun sondern sich in ihm Züge und Gruppen: Reden, Begriffe, allgemeine Wahrheiten steigen von selbst in die Höhe, und da's auf ein blos Exempelbuch süßlicher Tugendvorbilder nicht angesehen war, sondern auf ganze Entwickelung der Menschenkräfte durch Offenbahrung Gottes - wie leicht und Kräftevoll wächst der schöne Körper mit Gliedern und Jahren! Nun wird allmälich simple Dogmatik, Moral u. f. aber nie Dogmatik den Moralischen Lehrsätzen etwa auf den Schweif gehänget, oder jene aus der ganzen Geschichte nur erpreßet - aus einem lebenden Samenkorne der Tatsache, der Geschichte, das ganze schöne Gewächs Gottes! sein Boden ist Offenbahrung! sein inniger Saft und Kraft ist - Glaube! In diesem Wachsthume geht ein Prediger mit seiner Gemeine fort." 65 War und ist religiöse Bildung oft genug von der Grundeinstellung getragen, daß der Mensch von sich aus nichts weiß und kann, gar in Sünde geboren und schlecht ist, und deswegen erst richtig gebildet und zum Menschen erzogen werden muß, wenn nötig durch einschneidende und rigide pädagogische Maßnahmen", so begegnen wir hier einer an der Geschichte der Religion und auch „Glauben", der alle Kräfte faßt. Dadurch kommt das befreite und gehorsame Tun des Menschseins dem Menschen unverstellter in den Blick als bei dem anthropologischen Begriff der Mitte, der menschliches Handeln unnötig a priori problematisiert und auch resignativ zu beeinflussen und zu relativieren vermag. Vgl. o. S. 71, Anm. 35. S W VII, 243. « SW VII, 243 f. M Möller, Kb. Familie, 4 3 ; 5 3 und 61 zeigt anhand von Beispielen, wie die häusliche, schulische und handwerkliche Ausbildung des Kleinbürgers im 18. Jh. darin übereinstimmte, seinen „Eigenwillen" zu brechen. Vgl. o. S. 99. Selbst I. Kant teilte nicht nur, sondern formulierte offenbar diese Haltung als politisches Prinzip: „der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat . . . E r bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche . . . Aber dieser ist ebensowohl ein Tier, das einen Herrn nötig hat . . . Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja, ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als M

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Herder und das Geistliche Amt

Offenbarung Gottes abgelesenen ganz andersartigen Einstellung zum Menschen. Der Mensch ist schon als „kleine Menschheit"67 ein „ganze(s) schöne(s) Gewächs Gottes" 68 . Wie ein lebendes Samenkorn hat er selbst alle zum menschlichen Leben nötigen Kräfte voll und ganz in sich selbst. So ist er ein ganz und gar aus sich selbst lebensfähiges und „schöne(s)"69 Wesen, bei dessen Erziehung und Bildung es nur darauf ankommen kann, daß ihm die richtige Nahrung für sein volles Menschsein - nämlich „Offenbahrung"70 nicht vorenthalten wird, damit sich seine Kräfte „von selbst"71 entwikkeln können und er so durch seine Kräfte zu einer ihm gemäßen autonomen Lebensführung befähigt wird. In diesem Sinne ist religiöse Bildung immer nur, aber auch immer mindestens Hilfe, Geburtshilfe und Entwicklungshilfe zum souveränen Menschsein als dem eben dazu geschaffenen und ausgestatteten schönen Geschöpf Gottes. Dieser auf Menschenliebe gegründeten Menschenglaube Herders, abgelesen an Gottes Glauben an den Menschen, wie ihn die Geschichte der Religion zeigt, trägt also - wie ein Stachel - die Empfindung, daß jeder Mensch nach Gottes Willen ein Recht auf Ganzheit und Unversehrtheit der eigenen Lebenskräfte und eines darauf beruhenden eigenen Lebens hat. Und es nimmt nicht wunder, sondern es ist nur konsequent, daß die pädagogische Zuspitzung dieser Einstellung sich gegen jede Art von Ungeduld, Dirigismus, Zwang und Verbildung in der Erziehung wie vor allem auch negativ72 gegen zeitgenössische religiöse Bildungskonzepte, die dem Menschen wie Gott „die volle Materialien der Menschheit"73 rauben, als pädagogische Kritik ausformen mußte. Herder sieht deren zwei: Menschenbildung auf dem Hintergrund von „Disputiersucht"74 einerseits und Menschenbildung als „Empfindungskram"75 andererseits. Oder: die „Seuche"76 der „Behorcher des Kopfes"77 einerseits und die - wenngleich nach Herder in seiner Zeit nicht mehr so ausgeprägte Seuche der „Behorcher des Busens"78 andererseits. woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden" (I. Kant, Kleine Schriften zur Geschichtsphilosophie, Hamburg 1973, 11; zit. nach Klenner, Herder, 55 f.). Herders oben gezeigtes Menschenbild erstrahlt demgegenüber nicht nur von menschlicher Sympathie und größerem Optimismus, sondern beinhaltet vor allem ganz andere persönliche und gesellschaftliche Organisationsmöglichkeiten. Richtig Klenner, der gegenüber Kants Resignation von „Herders kompromißlosem Bekenntnis zur Selbstbestimmung (13, 149) des Menschen" (Klenner, Herder, 45) spricht. Der religiöse Horizont dieser Aussage und Position Herders bleibt Klenner freilich verschlossen. 67 SW VII, 243. 70 SW VII, 244. 72 Vgl. o. S. 47ff. 68 SW VII, 244. 71 SW VII, 243. 75 SW VII, 264. " SW VII, 243. 74 SW VII, 258; vgl. SW VII, 255: „Abstraktionskram"; SW VII, 263: „Philosophen"; SW VII, 228 u. 240f.: „Verordnete Lehrer der Weisheit und Tugend"; SW VII, 267: „Philosoph". 75 SW VII, 258; vgl. SW VII, 272: „Seuche der Andächtelei" oder „kränkelndes Empfindungshorchen". SW VII, 264: „Schwärmer und andächtiges Vieh"; SW VII, 267: „Empfinder"; SW VII, 261: „Schwärmer und andächtige Kränkler". 76 SW VII, 272. 77 Ebd. 78 Ebd.

Religiöse Bildung als menschliche Entwicklungshilfe

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Beide sind krankhafte79 Verzerrungen menschlicher Grundeinstellung und religiöser Bildung. Darin sind sie beide „Kränkelnd!" 80 , daß sie im „Disputiren und Empfinden Kauen statt Essen, Tasten statt Genießen, Fühlen statt Sehen, Haben und Thun" 81 . Beide machen also keinen nützlichen Gebrauch von den menschlichen Kräften. Sie verweilen vielmehr bei ihnen als Endzweck, statt sie als nützliches Mittel zur Verwirklichung ihres menschlichen Bedarfs einzusetzen. In gewisser Weise versteigen und freuen sie sich mehr an den Werkzeugen zum menschlichen Leben als an diesem selbst. Jenen gegenüber widerlegt Herder die zeitgenössische Abwertung der Sinnlichkeit des Menschen, beiden gegenüber insistiert er auf menschlicher Selbstverwirklichung als einer Tat-sache. 2. Recht auf

Sinnlichkeit

Wie der Mensch ein Anrecht auf ganze und unversehrte Entwicklung seiner menschlichen Kräfte hat, so insbesondere ein göttliches Recht auf Entfaltung seiner Sinnlichkeit als einer dem Bewußtsein gleichberechtigten und gleichzuachtenden Erkenntnis- und Gestaltungskraft seines Lebens. Wenn zwar nicht vollständig tabuisiert, so war doch die Sphäre der Sinnlichkeit des Menschen und deren Ausbildung vollkommen abgewertet und führte nur noch in der Ecke eines sektiererischen „Empfindungschristenthums" 82 eine kümmerliche und fragwürdige Existenz, oft genug als „leidige Kompensation eines gerühmten deutlichen Denkens, damit doch auch der unwißende Pöbel etwas habe!" 83 Herder sieht darin eine menschliche Fehlentwicklung und setzt alles daran, der Sinnlichkeit des Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen - nicht bloß als Erkenntnisquelle Gottes, sondern als vollwertige Gestaltungskraft menschlichen Lebens. Herder geht dabei so vor, daß er diese Aufwertung von menschlicher Sinnlichkeit an der moralphilosophischen Einschränkung des ,„Werth(es) der Gefühle im Christenthume'" 84 , wie sie typisch in einem weiteren Buch Spaldings85 zum Ausdruck kommt, zusammen mit deren Widerlegung erhebt. Wie wir schon öfter beobachteten86, ist auch hier Herders eigene Aussage zur Sache verflochten in einen kritischen Zusammenhang, der ihr ihr unverwechselbares zeitliches Kolorit, ihre Kasualität87 verleiht.

82 SW VII, 258. Vgl. SW VII, 258; SW VII, 272. 83 SW VII, 266. SW VII, 258; vgl. SW VII, 272. 81 SW VII, 258f.; vgl. o. S. 59, Anm. 37. 84 SW VII, 258. , s „.Gedanken über den Werth der Gefühle im Christenthume', Leipzig 1769", zit. nach SW VII, 258. 84 Vgl. o. S. 192f. 87 Vgl. o. S. 132 ff. Zum historischen Kontext selbst vgl. o. S. 59f. und 71, Anm. 35. 79

206

Herder und das Geistliche Amt

a) Die falsche Antithese: Sinnlichkeit oder Religion Herder kritisiert an der moralphilosophischen Einstellung zu den menschlichen Gefühlen a) deren Unzeitgemäßheit und Nutzlosigkeit. Denn: „Zu einer Zeit, da man sich in den meisten Ländern wol am mindsten über die zu vielen Gefühle im Christenthume beschweren konnte"88 und, wo auch noch übrig gebliebene gärende Reste schon „so faul und verjährt"8' waren, daß sie eigentlich kein weiteres Wort der Bekämpfung mehr nötig hatten, war völlig unzeitgemäß Zeit „zum reifen Raisonnement"90 darüber und b) daß die dargestellte „Sache . . . weder Psychologisch noch Theologisch im Lichte"" ist. Im einzelnen führt er aus: 1. Es ist Schattenboxen'2, .„göttliche Gefühle'"'3 so unglaublich zu machen, daß damit ja eine „Vernichtung"' 4 des menschlichen Wesens einhergehen müsse. Auch die Gefühlskraft setzt eine Kraft des Menschen voraus, was doch jeder Theologe, selbst „jeder Schwärmer und andächtige Kränkler"'5 voraussetzt. 2. Es ist ebenso falsch, die Wirksamkeit Gottes „,an, in, durch die Menschliche Seele nur an bestimmte, „,nur helle! klare/"" menschliche Kräfte zu binden, wie es nur falsch sein kann, was die „Empfindungsschwärmerei"'7 tut, sie an „,dunkle, nur dunkle, aber lebhafte Gefühle!'"'8 zu binden. „Wiedergeburt, Erleuchtung, Heiligung, Erneuerung"" ist Sache weder „Obere(r)"m noch „untere(r) Seelenkräfte"101 allein, sondern Sache „des ganzen Menschen"102. 3. Die Frage nach der Wirkungsweise Gottes auf die menschlichen Kräfte kann weder „ Empfinder"103 noch „Philosophzufriedenstellend beantworten. Die Frage ist also müßig. Selbst die „Bibel entscheidet nichts darüber: sie wendet entweder geradezu das Angesicht weg, ,der Wind bläset u.s.w.' oder sie gibt (und auch das ist weise Güte des Urhebers!) nur Beispiele, Muster, Bilder! Da spricht Empfindung unmittelbar zum Herzen, zum Sinn, zur Nachahmung; und wird kein Nachgrübeln, kein Auflösen in Elemente"105. 4. Das Hinaufsteigen zu hypothetischen Vermutungen über die an Men90 Ebd. " SW VII, 259. " Ebd. " SW VII, 260; vgl. SW VII, 245; SW VII, 262; SW VII, 262, Anm. 2; SW VII, 263, Anm.; SW VII, 266; SW VII, 271; SW VII, 271, Anm. 3. 92 Ein immer wiederkehrender Vorwurf Herders auch in anderem Zusammenhang: SW VII, 248: „ins Blaue . . . fechten"; SW VII, 269, Anm.; SW VII, 271; SW VII, 278; SW VII, 289; SW VII, 291. 93 SW VII, 261. 94 Ebd. 98 SW VII, 261. 102 SW VII, 261. 95 Ebd. 103 SW VII, 267. » Ebd.; vgl. SW VII, 267; SW VII, 268. 100 SW VII, 263. 104 Ebd. « Ebd. 97 SW VII, 262. 105 Ebd.; vgl. SW VII, 246. '" Vgl. ebd.

122 123 124 125 126 127

SW VII, 254. SW VII, 255. Ebd. Ebd. SW VII, 255. Ebd. Ebd. Ebd.

Religiöse Bildung und Glaubenslehre

227

Das alles dann „in der Geschichte der Kirche"™ auf ihre Auswirkungen und Veränderungen hin zu untersuchen und dann „in der Anwendung derselben für Prediger"129 festzustellen: „was uns jetzt nah und entfernt, welche Ketzereien ausgestorben, welche Misdeutungen fern von uns, welche Zusätze und Nebenbestimmungen also minder brauchbar - woran wir uns aber im Gegentheile, nach Forderniß der Zeit, nach Licht und Zusammenhange der Schrift desto mehr zu halten haben!"130 „Stümper"131 in dieser „ganzen Lehre, Kunst und Wißenschaft"m können wie anderswo nicht deren Bedeutung als diese dem Predigeramt dienliche, funktionale „Wißenschaft"1}> herabsetzen, vor allem dann nicht, wenn offensichtlich ist, daß einer dies nur deswegen tut, um den „Inhalt der Wissenschaft, den ganzen Inhalt der Bibel""* nicht zu brauchen, wie es nur ein vorübergehender Diener der Religion, ein „Volontair im Felde der Religion"135 tun kann. Dogmatik ist eine eigene Aufgabe, anerkennenswerte und nützliche Wißenschaft von dafür zuständigen Spezialisten, den Dogmatiklehrern, für Prediger und die Freiheit ihrer öffentlichen Bildungsaufgabe. Religiöse Bildung ist eine eigene Aufgabe von Spezialisten, den Predigern für das Volk. Jene sollen für diese arbeiten. Diese sollen die Arbeit jener für ihre eigene Aufgabe nützen. b) Staatsmoral und Schriftgebrauch Für diese einander funktional zugeordneten Aufgabenfelder Dogmatik und religiöse Bildung und die Eigenständigkeit beider Aufgaben spricht auch, daß nicht schon ein formaler Bibelgebrauch an sich deren theologische Qualität ausweist. Auch die Bibel will überlegt in ihrem Sinn gebraucht sein. Das ist man als mindestes ihr schuldig. Wir haben schon aufgezeigt136, daß Herder der Meinung war, daß Zitieren der Schrift - auch umfangreiches und wörtliches - noch keinen christlichen Prediger macht. Es kommt vielmehr auf den Geist der Anwendung der Schrift an und auf dessen Analogie zum ganzen Geist der Schrift. Diese Entsprechung aber fehlt Herder bei der zeitgenössischen Morallehre trotz deren z.T. ausführlichen Rezeption der Schrift. Herder sieht darin die Stelle, wo sich diese Morallehre am tiefsten selbst widerspricht: trotz eines anderen Geistes dennoch die Schrift zu zitieren, trotz einer engen Staatsmoral dennoch Dogmatik teilweise anzuführen.

12»

Ebd.

131

129

Ebd. Ebd.

132

130

133

SW VII, 256. SW VII, 255. SW VII, 256.

13
« Ebd. 1,3 Ebd. 1,7 Ebd. 150 Ebd. ' Ebd. 140 Ebd. 151 Ebd. Ebd. SW VII, 232. 141 Ebd. 1,5 Ebd. 152 Der Konzessionsgedanke als Krücke zur Überbrückung der Widersprüchlichkeit zwischen materialistischen Ideen und geistlicher Praxis in Herders Werk (vgl. auch o. S. 30 f.) - zuletzt vertreten von W. Förster, Geschichtsphilosophie, 19 = mit Förster, Theoretiker, 129) - ist angesichts dieser Herderschen Prioritäten unhaltbar. 155 SW VII, 232. 158

,3

Herder und das Geistliche A m t

246

vermeiden, entsteht der folgende Effekt: sie bindet den Menschen in einen diesem von Natur und Gott aus nicht gemäßen, engen und unnatürlichen Lebensstand, beschneidet den Gebrauch seiner ganzen menschlichen Kraft und bremst dadurch die freie Entwicklung seines ganzen Geschlechts. Dies tut sie nicht nur faktisch, sie will und muß dies auch tun. So widerspricht sie in Anlage, Ausführung und Zweck Gottes Offenbarung als der Haushaltung Gottes auf Erden, der tatsächlichen Religion. Dies ist nach Herders Begriff also Christliche Predigt nicht. Was aber dann? 2. Die Position:

Herzenspredigt

Natürlich haben wir die Kritik Herders an der zeitgenössischen Predigtauffassung und Predigtweise als Philosophie nicht deshalb so ausführlich skizziert, weil wir an der Uberzeugungskraft - die einleuchtend und konsequent ist - dieser Kritik als Kritik interessiert sind, sondern weil wir durch stilistische Beobachtungen154 der Uberzeugung sind, daß auch Herders eigene Anschauung von Predigt darin inhaltlich wie begrifflich zentral mitgegeben ist. Uber die praktischen Vorzüge dieser kritischen Darstellungsart Herders, die auf griffige, praktische Anwendung aus ist, haben wir bereits das Wesentliche gesagt155. Wollen wir diese Kritik ganz anwenden, so müssen wir nun das Negativ ins Positiv entwickeln. Dieses abgeblendet, bleibt jenes nur halb verständlich. Wollen wir also Herders Predigtauffassung nach ihrer positiven Seite fassen, so führen wir dazu keine neuen Belege auf und verweisen statt dessen in dieser Beziehung insgesamt auf den vorigen Abschnitt156. a) Predigt als Erregung des ganzen Menschen Öffentliche Predigt ist für Herder also das rednerische „Erregen"™ und „Erreden"15" des ganzen Menschen in seiner ganzen menschlichen Kraft. Sie hat als solche zwei Komponenten, die Erregung der individuellen Kräfte des Menschen und die Erregung seiner sozialen Kraft. In jener Hinsicht ist sie sowohl Erregen „der Leidenschaft"159 wie Erregen „heller Ideen"M mit dem Ziel, die ganze menschliche Verstandeskraft zu „Thathandlungen"M und „Entschlüße(nJ" 1 6 2 zu bewegen. Sie will also den Menschen zur Realisierung und Tatsächlichkeit seiner selbst verhelfen und

154 155

Vgl. o. S. 232 f. Vgl. o. S. 232 ff.

156 157

Vgl. o. S. 2 3 5 ff. SW VII, 219.

158 159

Ebd. Ebd.

160 Ebd. Eine „Spannung" zwischen „Evidenzerfahrung" und einer „pädagogischen Erwekkung" ( U . Cillien, J . G. Herder, 195) vermögen wir also auf diesem Hintergrund der Predigt als pädagogisches Medium bei Herder nicht festzustellen. 162 Ebd. "> Ebd.

247

Religiöse Bildung als Predigt

nicht zulassen, daß die ganze menschliche Kraft durch eine Förderung dämmeriger individueller Mittelmäßigkeit zur sozialen Untätigkeit gezwungen und eingeschränkt wird. Sie ist damit aber zugleich Erregung der Menschheit als der wünschenswerten sozialen, „national(en)"163 und politischen Kraft, die ebenfalls nicht künstlich oder gesteuert eingeschränkt werden darf, sondern zur Verwirklichung kommen soll. Dies geschieht konkret durch ihre Erregung zum Zwecke der Realisierung der natürlichen Kräfte des Volkes. Predigt ist in diesem Sinne keine Besänftigung und Unterdrückung dieser Kräfte, keine Rede, „die den Handel schlichtet"164. Wie Herder am Muster des prophetischen Vortrags"5 abliest, ist ihr Charakter: „National!. . . Zeitmäßig! Individuell! Laster und Fehler gerad' ins Auge angegriffen! Nichts weniger als Ausführungen allgemeiner Tröster; aber dagegen scharf! wie treffend! wie bestimmt! Von Vielem wißen wir nicht die unterliegenden Fälle, die aber immer durchschimmern: nach Jahrtausenden und in dem Europa schimmern sie noch durch! Das Wort in ihrem Munde ist Feuer! ist wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt" 1 ". „,Zeiher der Sünden und Laster des Volks mit dem, was darauf erfolgen müste! Anmuntrer mit allen hellesten Gemälden der Tugend und Nationalglückseligkeit!' - Waren jene Propheten und - sind unsre Prediger nicht."167 Damit hat Herder die Begründung der Predigtauffassung als Staatsmoral durch das Vorbild des prophetischen Vortrages mit deren eigenen Worten nochmals168 in der Historizität auch dieses Postulats spürbar erschüttert. Kein „Störer des Handels und Wandels, löblicher Geldbringender Schandthaten, Ungerechtigkeiten, Unterdrückungen und Lasterpestilenz der Zeit"169 zu sein, ist keine Christliche Predigt. Erregung der ganzen Kraft des Menschen wie der seiner Gattung, der Menschheit, zu individueller, sozialer und politischer Verwirklichung ist also dem Anspruch nach für Herder die öffentliche Christliche Predigt als Redegattung. Dieses Verständnis von Predigt als Erregung der ganzen Kraft der Menschheit zur Tat zeigt uns in seinen soeben geschilderten näheren Bestimmungen, daß das Ziel Christlicher Predigt nicht noch ein anderes, höheres, darüber hinaus liegendes Ziel ist. Das rednerische Erregen des Menschen zielt in Christlicher Predigt als letztes Ziel auf dessen Selbstverwirklichung ab. Die sich in solcher Predigt verwirklichende Bildung will nicht mehr, sondern - so muß es gesehen werden! - gibt sich nicht mit weniger zufrieden als der Verwirklichung dieses Zweckes. Die Christlichkeit dieser praktischen Bemühung um die Selbstverwirklichdung des Menschen durch diese öffentliche agitative Predigt liegt darin, daß, wenn es schon Religion, Glaube, Offenbarung, Jesus, Gott in ihrer Mitte um " J Vgl. SW VII, 195. SW VII, 219. Vgl. SW VII, 191;195.

164

167

SW VII, 195. SW VII, 191.

"" Vgl. o. S. 235ff. SW VII, 217.

248

Herder und das Geistliche Amt

die Verwirklichung von Menschlichkeit geht, es der Christlichen Predigt um nichts weniger als ihre Mitte gehen kann. Religóse Bildung des Menschen mittels der Predigt besagt also nicht philosophische Belehrung über ihn als Menschen, noch empfindsames Einreden auf ihn als Menschen, sondern rednerische Bildung des Menschen an ihm selbst zu ihm selbst durch die Tat. Sie setzt bei diesem weder erkünsteltes Abstraktionsvermögen, noch lediglich dunkles Gefühl, sondern nichts weniger als gesunden Menschenverstand voraus. Der Mensch wird in diesem Bildungsprozeß sich selbst z u m lebendigen Thema wie das beste und nächste Beispiel dessen, was es als Mensch zu lernen, zu erproben und zu tun gibt. Predigt ist also keine Form einer Bildungsideologie des Menschen über sich selbst, sondern die Form, in der der Mensch sich als Handelnden verstehen und erproben lernt, und so die Form, die ausschließlich ihn zu ihrem lebendigen Gegenstand als Subjekt erhebt, zu ihrem ausschließlichen Thema und zu ihrem ausschließlichen Beispiel hat. Exkurs zu Kontinuität

und Modernem in Herders

Bildungsprogramm

Wie hier durchgängig bewiesen wird, ist die Kontinuität des Volksbildungsprogrammes Herders sowohl durch dessen berufliche Tätigkeit wie in der Sache gewahrt. Man vgl. hierzu als frühen Beleg Herders stoffabgewandtes, in der Bildung des Menschen an seiner Umwelt und sich selbst orientiertes pädagogisches Reformprogramm, das er auf seiner Reise im Jahre 1769 konzipierte. Danach wollte Herder sich „zum Nutzen und zur Bildung der lebenden Welt einweihen" (SW IV, 363), um mittels der Predigt und seines Geistlichen Amtes aus seinem Land die „Colonie einer verbeßerten Evangelischen Religion zu machen: nicht schriftlich, nicht durch Federkriege, sondern lebendig, durch Bildung" (SW IV, 364). Mittel der Befähigung zu diesem Vorhaben war für Herder selbst die Reise; vgl. o. S. 168f. Die Kontinuität dieses Herderschen Bildungsprogrammes - auch der Idee nach bestätigen Herders „Ideen". 1787 in Weimar formuliert er diesen Sachverhalt so: „Humanität ist der Zweck der Menschen=Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben . . . Wären wir dazu geschaffen, um wie der Magnet sich nach Norden kehrt, einen Punkt der Vollkommenheit, der außer uns ist und den wir nie erreichen könnten, mit ewigvergeblicher Mühe nachzustreben: so würden wir als blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das Wesen bedauern dürfen, das uns zu einem Tantalischen Schicksal verdammte, indem es unser Geschlecht blos zu seiner, einer Schadenfrohen, ungöttlichen Augenweide schuf" (SW XIV, 207f.). Vgl. zur ideologischen Kontinuität Herders auch o. S. 89f. Goethe formulierte formal ähnlich, inhaltlich aber anders. In einem Brief an H . Meyer vom 8. Februar 1796 schreibt er: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst" (zit. nach Grube, Die Idee, 58). Damit war Menschsein als Leben definiert und so aus dem ethischen Horizont der Herderschen Bestimmung des Menschseins als Humanität prinzipiell herausgenommen. In der neueren religionspädagogischen Diskussion - dieser Vergleich sei an dieser Stelle in aller Kürze erlaubt - finden wir ein der Herderschen Position analoges Programm und Bemühen um die Bildung des Menschen bei Dieter Stoodt, insbesondere auf den Ebenen des Religions- und Konfirmandenunterrichtes wie der Ausbildung

Religiöse Bildung als Predigt

249

der religiösen Bildungsträger. So ist für Stoodt ein schülerorientierter Unterricht nicht lediglich eine methodische Frage, sondern „als Situationserschließung und Situationsbearbeitung" (Brockmann/Stoodt, Schülerorientierung, 256) das Lernziel selbst. Religionsunterricht ist so als Interaktionsgeschehen zwischen theologischer Tradition und religiöser Erfahrung ein Beitrag zum Identitäts- und Sozialisationsprozeß des Lernenden (vgl. Stoodt, Religionsunterricht, 11 f.). Theologie aber ist für Stoodt der „hermeneutische Vorgang der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Symbolen" (Hüppauff/Stoodt, Verständigung, 264) menschlicher Erfahrung, Kommunikation und Person und Religionspädagogik das methodische Bemühen, neutralisierte Religion und institutionalisierte Kirchlichkeit mittels und zum Zwecke eigener Erfahrung zu entkrusten und so einem persönlich wie kollektiv „befreienden" (Hüppauff/Stoodt, a.a.O., S. I nach einer Formulierung H. B. Kaufmanns) Lernprozeß der Auszubildenden fruchtbar zu machen. Dieses Interaktionsmodell macht also, „pointiert gesagt, den Schüler selbst zum Gegenstand des Unterrichtes" (Stoodt, Die Praxis, 2). Die Analogie zu Herder ist offensichtlich. Der Unterschied liegt in der den Mitteln unserer Zeit entsprechenden differenzierten Methodisierung der Interaktionsmöglichkeiten der Sprache. Öffentliche Predigt ist so Redeform der Vermittlung praktischen Menschenglaubens. Wir bezeichnen diese den Menschen nach seinen individuellen und sozialen Kräften sich selbst nahebringende und ihn zu der Tat entbindende Rede, deren Kennzeichen weder Wissenschaftlichkeit noch Empfindsamkeit, sondern natürliche Menschensprache ist, als Herders praktische Bildung des Menschen und begrifflich als seine mäeutische Religionspädagogik. Wir meinen damit, daß es darin als Christlicher Rede 1. um nichts Größeres als die öffentliche Entwicklung der ganzen Menschenkraft und deren Befreiung zur Tat geht, 2. daß es dabei darauf ankommt, daß der angesprochene Mensch selbst sein nächstes Beispiel und Erprobungsfeld dieses natürlichen Menschseins bleibt und 3. daß also die Predigt nicht über Menschen redet, sondern selbst als Form dieser praktischen Ausbildung des Menschen dessen Befreiung zum natürlichen Handeln selbst bewirken hilft und mitträgt. b) Predigt als Herzenspredigt Herder hat aber auch selbst ein Positiv jenes Negativs der Predigt als Philosophie entwickelt. Keinen systematischen Gedanken, sondern ein Bild zum Anschauen, Erkennen und Nachahmen. Wir wollen es als Probe unseres Versuches der Entwicklung seiner Negation betrachten. Es gleicht dem bereits oben 170 beschriebenen Bild Herders für den Predigerstand. N u r , daß es diesmal ein Bild für die wünschenswerte Predigt ist.

170

Vgl. o. S. 187 ff.

250

Herder und das Geistliche Amt

„Ich kam in die Predigt eines einfältigen Landhirten - aber es war keine Predigt! Nicht Dogmatischer Lokus, nicht Philosophisches Thema, keine schöne Rede in Paris, Kamtschatka und in aller Welt, nachzulesen, zu loben, nachzuhalten - ich wäre seines Worts unwerth gewesen, wenn ich so etwas nur dem Anblicke nach, hätte erwarten wollen. Vater an Kinder! Bruder an Brüder! Bote Gottes an Gottgegebene - und keine Rede! - unmittelbarer Wink von Herz zu Herz, Fülle der Seele aus seiner in ihrer aller Situation des Lebens, ein Netz, das sie in jedem Gliede alle umflocht, ein Lebenshauch, der sie alle zu einem Körper Jesu belebte - aber im Drucke? für die weite Welt? Der gute Mann meinte gar, eine wahre Herzenspredigt, wäre Drucks so fähig, als ein vertrauter Brief, eine Liebesunterredung Vaters an seine Kinder, die jetzt für die, und für keinen lebendigen Menschen auf der Welt wäre. Meinte sogar, was für alle paßte, sei auch eine kleine Latte zu einem grossen Gebäude, die immer schon selbst ganzes niedliches Haus sei, sei auch Aber das Wenigste bei diesem Manne war Predigt. Handhabe der Religion, Haushalt der Redlichkeit und des Gottesfriedens in seiner Gemeine, stilles erhabnes Muster der besten Stände der Welt - weis nicht, ob der Prediger des deserted village Auburn sein Bruder seyn mag: aber im Gemüth und Leben völlig einerlei Züge! ~ " m Auch dieses Bild von einer Christlichen Predigt ist nicht frei von negativen Zügen. 1. Christliche Predigt ist „keine Predigt"172. Selbstverständlich keine Predigt in der gängigen Auffassung, also Philosophische Predigt173. Sie ist weder eine popularisierte Minidogmatik174 noch eine allgemeine Abhandlung über ein Thema175. Sie ist auch kein literarisches Kunstwerk zu übergemeindlichem Gebrauch in aller Welt. Sie ist nicht auf Lob und Wiederholung angelegt. 2. Ihre Kraft liegt im Standpunkt und Ort begründet, den der Prediger einnimmt, als Vater, Bruder, Bote Gottes. Also in der Persönlichkeit des Predigers als einfacher Mensch mit seinen natürlichen menschlichen Aufgaben, die sich aus seinen sozialen Beziehungen ergeben. 3. ist Christliche Predigt „keine Rede"176. Ihr Wesen ist unmittelbare Herzenssprache, keine halbe, sondern ganze menschliche Seelenmitteilung auf dem Boden einer zwischen Prediger und Gemeinde identischen Lebenssituation. 4. Ihre Wirkung ist die Herstellung und Belebung von christlicher Gemeinschaft als konkreter Menschengemeinschaft. 5. Sie verliert an Wirkung, wenn der konkrete Ort und der konkrete Hörer verloren gehen. Denn eine wahre „Herzenspredigt""7 ist nur für unauswech173 Vgl. o. S. 235 ff. SW VII, 295. 174 Vgl. SW X X X I I , 5. Ebd.; vgl. SW X X X I I , 5. 175 Vgl. ebd.: „kein unterhaltender geistlicher Diskurs". 176 SW VII, 295. Weder dies noch eine „Kanzelhomilie": vgl. SW X X X I I , 5. 177 s w y u ; 295. Herzensbildung im Sinne einer .„Charakterbildung'" ist also angesichts dieses 171

172

251

Religiöse Bildung als Predigt

seibare, bestimmte Menschen als Hörer gedacht. In dieser Einmaligkeit und Kasualität gleicht sie vertraulichen Briefen und Liebesunterredungen 178 zwischen Vater und Kind. 6. Sie ist nur ein ganz kleiner Teilbereich der Menschenbildung. Zu dieser gehören als Ergänzung: das tätige und einfältig-unheuchlerische Leben dieses Glaubens an den Menschen, ganze „Handhabe der Religion, Haushalt der Redlichkeit und des Gottesfriedens"m in der Gemeinde und Vorbildlichkeit für die Urstände der Menschheit. 7. Wie wenig damit ein familiäres Idyll gemeint ist, zeigt Herders nähere Bestimmung des Boteseins, das diese Arzt- und Hirtenpredigt 180 des Menschen mitträgt. Es gilt darin, „seine Seligkeit mit Furcht und Zittern" 181 zu schaffen und der Brüder „Wächter""2 und „Bote Gotteszu ihrer „wahren Wohlfahrt" 184 zu sein. Dazu gehört auch, daß, wie Herder den Prediger ermutigt, die menschliche Seelen suchende und findende Predigt nicht „ohne wahren Anstoß bürgerlicher= Stands= und Sittenbeziehungen"18S sein kann und „du . . . Lastern entgegenredest und entgegenhandelst, ihre Wurzel, soweit deine Hand reicht, nicht wegzuschieben, sondern wegzurotten trachtest" 186 . homiletischen Programmes als Herders pädagogisches Ziel auszuschließen (gegen W . D o b b e k , J . G . Herders Weltbild, 197). Das H e r z des Menschen ist für Herder nicht menschliches O r g a n einer inneren Bildung, sondern O r t der Erregung und der wirkungsvollen Motivation des Menschen zur sozialen Tat. D i e Persönlichkeitsbildung hat für Herder auch keine Priorität vor der sozialen Erziehung, wie noch D o b b e k meint (vgl. a.a.O., 123). 178

Vgl. S W V I I , 3 1 2 : A u c h Paulus schrieb „nur L o k a l = und Liebesbriefe"; vgl. S W V I I , 210.

179

S W V I I , 295. Vgl. S W V I I , 196 und S W V I I , 307.

181

Ebd.

1M

180 ,83

182

S W V I I , 196. Ebd. Ebd.

185

Ebd.

E b d . In seinen späteren „Humanitätsbriefen" geißelt Herder die öffentliche politische Untätigkeit, Leisetreterei und Unselbständigkeit der Zeit mittels eines geschichtlichen R ü c k b l i k kes: „Das Jahrhundert der Reformation erlaubte sich noch, auch über vaterländische Sachen laut zu denken; seitdem ward alles Rang, F o r m , Stand oder ging, sobald es ein eigner Gedanke schien, in die Archivgräber" (zit. nach Förster, Geschichtsphilosophie, 40, der hier die Ausgabe Berlin/ W e i m a r 1971, 268 zitiert; vgl. auch S W X V I I I , 331). 186

Zu Herders eigener Predigtpraxis, zu der wir eine gesonderte Untersuchung vorbereiten, und der damit zusammenhängenden Frage nach der Realisierung dieser sozialkritischen Homiletik hier eine der Stimmen aus der Sicht der Weimarer Hörer. Schiller, der das unlösbare Problem der Predigt in dem unterschiedlichen intellektuellen Erwartungs- und Verständnishorizont ihres Publikums sah und dem Herders Predigt besser gefiel „als jede andere" (Bruford, Kultur, 293), beschrieb am 12. 8. 1787 in einem Brief an K ö r n e r diese Herdersche Predigt so: „Die ganze Predigt glich einem Diskurs, den ein Mensch allein führt, äußerst plan, volksmäßig, natürlich. Es war weniger eine Rede als ein vernünftiges Gespräch. Ein Satz aus der praktischen Philosophie, angewandt auf gewisse Details des bürgerlichen Lebens - Lehren, die man ebensogut in einer M o s c h e e als in einer christlichen Kirche erwarten könnte. Einfach wie sein Inhalt ist auch sein Vortrag, keine Gebärdensprache, kein Spiel mit der Stimme, ein ernster und nüchterner Ausd r u c k " (zit. nach Bruford, Kultur, 293). Weitere Zeugnisse von zeitgenössischen H ö r e r n über H e r d e r als Prediger - auch für die Bückeburger Zeit - in Eva Schmidts Sammlung „Herder im Geistlichen A m t " , 2 5 6 f f . , wozu auch a.a.O., 19 A n m . ; 2 7 9 ; 2 8 3 f . zu vergleichen ist.

Schluß: Folgerungen Wie wir ausgeführt haben, war Herders Existenz nach Methode, Inhalt und Zweck ein Handeln und Denken für das Volk auf dem Boden der Offenbarung Gottes in Natur und Geschichte: Predigerexistenz. Aufgrund unserer Darstellung ziehen wir abschließend die folgenden Konsequenzen. Wir unterscheiden dabei das, was künftig als adäquate Interpretation und Rezeption Herders ausgeschlossen werden kann, und zum anderen die Aufgaben, die im Hinblick auf eine weitere Erschließung dieser Herderschen Existenz wesentlich und vorrangig sind.

A. Ausschlüsse von

Herderrezeptionen

Schon Herder selbst hat die folgenden Mißverständnisse seiner Auffassung von Predigt als Volksbildungsmedium als Fehlinterpretation seines Anliegens ausgeschlossen: 1. Die Auffassung von Predigt als Philosophischer Belehrung 1 und 2. die Auffassung von Predigt als unnützes Affekterregen 2 . Auch dieses kennzeichnet nicht Christliche Predigt, sondern nur - trotz Wirkung - den „unzeitigen, Zweckverfehlenden, ungelegnen Thoren" 3 . Nicht dessen Agitation ist also das Verkehrteste, sondern deren Situationslosigkeit und zeitliche Unangemessenheit. Die Interpretation Herders als orthodoxer Abstraktionskünstler oder freigeistiger Philosoph der Aufklärung wie als enthusiastischer Orator oder empfindsamer Schwärmer der Romantik sind damit gleichermaßen ausgeschlossen, so sehr solche Einseitigkeiten schon zu Lebzeiten Herders 4 aufkamen und immer wieder aufkommen mögen.

1

Vgl. o. S. 213 f. ; 235 ff. Vgl. o. S. 215f.;243f. 3 S W V I I , 221. * Vgl. ein Brief Gleims an Herder vom 17. 2. 1794: „Schreiben Sie, Lieber, doch ja nichts für die Theologen! Sie wissens Ihnen keinen Dank; entweder schreiben Sie ihnen zu klug, und dann heißen Sie Freigeist, oder zu rechtgläubig, dann heißen Sie Heuchler . . (Zit. nach SW VII, S. XVI). 2

254 Exkurs zur Methode der

Folgerungen Rezeptionskritik

An der Methode der Rezeptionskritik in der Herder-Forschung ist zu bemängeln, daß sie sich bislang auf vereinzelte Überlegungen beschränkte und als solche auch zu wenig interdisziplinär koordinierend vorging. Insbesondere aber wurde sie hermeneutisch reflektiert nur punktuell vollzogen, und es fehlt ihr eine systematische Erfassung der jeweiligen wie der eigenen hermeneutischen Prämissen. So bestand sie vorwiegend darin, von der eigenen geistesgeschichtlichen oder auch gesellschaftlichen Position aus, Herder und Herder-Rezeptionen zu befragen und zu benutzen. Nicht nur die Interpretation des Rezipierten trat dabei in den Hintergrund, auch die rezeptionskritischen Feststellungen erhielten auf diese Weise einen hohen Grad von Zufälligkeit und Relativität, der zudem das, was die Herder-Rezeption untereinander verband, in Vergessenheit geraten ließ. Vgl. o. S. 13 ff. Für den sprachwissenschaftlichen Sektor zeigt Meggle unter Aufgreifen von Erkenntnissen R. Clarks, daß sich die Irrationalismusthese aufgrund einer Pro-Kant-Haltung gegenüber Herder selbst seiner großen Biographen (vgl. Meggle, Analogie, 70) unbeirrt bis in unsere Zeit weitertradiert und weist dies für Rudolf Haym, Eugen Kühnemann, René Wellek, Bruno Liebrucks sowie Erich Heintel „knapp" (ebd.) nach. Lediglich Friedrich Ostermanns und Anton Kathans sprachwissenschaftliche Herderarbeiten fallen nicht unter seine Kritik. Meggle selbst fällt in das andere, oben von Herder ausgeschlossene Extrem. Seine Interpretation Herders ist zu akademisch und zu eng auf Herder als den Sprachphilosophen abgestellt (vgl. o. S. 19f. Wegen biographisch-psychologisierender Interpretation des Irrationalismus in Herders Werk schließt ausführlicher und überzeugend A. Kathan die neueren literaturwissenschaftlichen Herderinterpretationen von René Wellek und Emil Staiger, Friedrich Ostermann, Max Wedel, Rudolf Sanner und - bedingt - Werner Kohlschmidt aus (vgl. Kathan, Herders Literaturkritik, Iff.). Zu Kathan selbst vgl. o. S. 233, Anm. 4. Uber die ältere Herderliteratur dieses Fachbereiches: Kohlschmidt, Herder-Studien, 3ff. Schon 1930 versuchte F. Knorr die Herderrezeption von prokantischen Vor- und Fehlurteilen loszulösen und ihr zu einer eigenen, Herder gemäßen Fragestellung zu verhelfen (Knorr, Das Problem, 9 ff.). Wie man an Meggies erneuerten und in dieselbe Richtung gehenden Ausschlüssen sieht, ist Knorrs - zu sehr auf eine Versöhnung Herders mit Kant angelegter (vgl. a.a.O., 158) - Versuch in der philosophischen Zunft unbeachtet geblieben. Herder philosophisch in eine „bloß reaktive Vermittlerposition von,Philosophie und Schwärmerei'" (Timm, Gott, 289) zu drängen, ist angesichts seiner aktiven praktischen Philosophie aus dem Geistlichen Amt allerdings ebenso falsch. Wenig belegt in der Sache und inadäquat formuliert sind die ideologischen und postulativen Ausschlüsse von Herderrezeptionen durch W . Dietze. E r beklagt sich mehr über „positivistische (Haym, Suphan)", „neokantianische", „konservative (Nietzsche, Nadler u.a.)", „faschistische (Rasch, Kindermann u.a.)", „bürgerliche (Ernst Keyser und die Gründung des Marburger Herder-,Forschungsrates' 1950)" und, seit 1970, über „antisozialistische (und meist zugleich antisowjetische)" Verdrehungen des Herderschen Erbes (vgl. Dietze, J . G . Herder, 12f.; These 23). Diese unbelegten unspezifischen Klassifizierungen sind in der Sache zu simpel und in der Form zu platt, als daß sie wirklich mehr als nur eine grobe Vororientierung leisten können. Sie haben zudem den Nachteil, sich durch ihr stark aufgetragenes politisches Kolorit von vornherein um das wissenschaftliche Gehör bei einer breiteren Hörerschaft zu bringen.

Ausschlüsse von Herderrezeptionen

255

Ä h n l i c h vage und rezeptionsgeschichtlich unzureichend auch Förster, Geschichtsphilosophie, 22 f. D i e „bourgeois-barbarische" Herderrezeption sowie die Herdergedenkfeiern der „von J u n k e r t u m und Klerikalismus regierten W e l t " (Eisner, Revolutionäre Humanität, 78 f.) des beginnenden 20. Jahrhunderts schloß ihrer allgemeinen T e n d e n z nach bereits 1903 K . Eisner aus. Sie seien nichts „wie ein leerer, heuchlerischer und verlogener A h n e n k u l t " (ebd.) und ein noch größerer rebarbarischer Rückschritt „hinter die G e d a n k e n w e l t Herderscher H u m a n i t ä t " ( a . a . O . , 90) als der der Herderschen revolutionären „Schwärmerei" wünschenswerte und nötige Fortschritt „zu der reifen Kraft der sozialdemokratischen Bewegung des Proletariats" (ebd.). A u c h Eisners Versuch, der, wie es zunächst scheint, mit größerer historischer Wahrhaftigkeit und agitativerer Sprache die Geschichtsverfälschung „der herrschenden Klasse" (a.a.O., 80) zu treffen vermag, ist dadurch belastet, daß er - ebenso wie die kritisierte bürgerliche Herderverstellung - nicht H e r d e r und seiner Zeit, sondern eben der „Bewegung des Proletariats" gilt und deren Kulturbegriff legitimieren soll. Strukturell geschieht dieselbe Vergewaltigung der G e s c h i c h t e von der eigenen - H e r d e r fremden - Position aus. V o n einer „uneingelösten K u l t u r s c h u l d " ( a . a . O . , 79) zu reden, haben wir also nicht nur für jene, sondern auch bei dieser Herderrezeption berechtigten Anlaß. Sehr detailliert behandelt demgegenüber G . A . Wells die negative F u n k t i o n der Herderrezeption im 19. J a h r h u n d e r t , und zwar hinsichtlich ihrer verstellenden W i r kung auf die E n t w i c k l u n g induktiver Soziologie (vgl. Wells, H e r d e r , 136 ff.). Wells k o m m t zu dem Ergebnis, daß nicht H e r d e r selbst, sondern „what was written in the nineteenth century, was the worse for ignoring him. W h a t is valuable in his w o r k has been misunderstood o r misrepresented, so that he was prevented from making the contribution he could towards the solving of what are still important p r o b l e m s " (a.a.O., 280). W i r f ü g e n an d i e s e r Stelle w e i t e r e A u s s c h l ü s s e an, g e g e n die H e r d e r selbst seine A u f f a s s u n g C h r i s t l i c h e r R e d e n i c h t m e h r a b g r e n z e n k o n n t e , die a b e r e b e n s o als a d ä q u a t e H e r d e r i n t e r p r e t a t i o n e n e n d g ü l t i g a u s s c h e i d e n . D i e s e A u s s c h l ü s s e b e t r e f f e n I n t e r p r e t a t i o n e n u n d R e z e p t i o n e n aus u n s e r e r Z e i t . W i e w i r i m e i n z e l n e n z e i g t e n 5 , ist H e r d e r s P r e d i g t a u f f a s s u n g eine K o n k r e t i o n s e i n e r G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . D i e s e a b e r ist i h r e m d a r g e s t e l l t e n I n h a l t e n a c h eine d e z i d i e r t e F o r m p r a k t i s c h e r T h e o l o g i e a u f d e m B o d e n v o n G o t t e s O f f e n b a r u n g , insbesondere auf d e m B o d e n neutestamentlicher

Christologie.

D a h e r s c h e i d e n f e r n e r als s a c h g e m ä ß e H e r d e r i n t e r p r e t a t i o n e n a u s : 3. D i e I n t e r p r e t a t i o n d e r P r e d i g t a u f f a s s u n g H e r d e r s als H a u p t b e l e g f ü r d e n unsystematischen und daher unnützlichen Geist Herders6. D a s H a u p t i n d i z f ü r diese A u f f a s s u n g , die P r o v i n z i a l b l ä t t e r H e r d e r s , b e w e i sen

das

Gegenteil:

eine

innere,

schlüssige

Systematik

von

theologischem

F o r m a t , d a r g e b o t e n in e i n e m k r i t i s c h e n Stil. 4 . D i e I n t e r p r e t a t i o n d e r P r e d i g e r e x i s t e n z H e r d e r s als l a t e n t e n A t h e i s m u s 7 . H e r d e r s p r a k t i s c h e M e n s c h e n b i l d u n g d u r c h das P r e d i g e n g r ü n d e t , s o h a b e n

Vgl. o. S. 82 ff.

' Vgl. o. S. 13 ff.

7

Vgl. o. S. 28 ff.

256

Folgerungen

wir gesehen8, sowohl formal in Schrift, Bekenntnis und Theologie wie auch ihrer inhaltlichen Mitte nach in einer biblisch orientierten Christologie. Diese Religion allein ist Herders Grund für die Art seiner praktischen Gesellschaftskritik: durch Ausbildung des Menschen zur Entwicklung der Rechte des Volkes beizutragen. Diese Religion allein ist aber auch Herders Grund für die Art seiner praktischen Kirchenkritik: durch Ausbildung des Predigers zu dessen öffentlicher Predigtaufgabe zur Entwicklung der Volkskirche beizutragen. Beides gehört zusammen und gründet für Herder in der Religion der tatsächlichen Menschenfreundlichkeit Gottes 9 . 5. Die Auffassung des Herderschen religiösen Volksbildungsvorhabens als hermeneutische Pädagogik10. Herders Auffassung der Predigt als praktische Bildung des Menschen auf der Basis und zum Zweck der Entwicklung aller seiner Kräfte zielt nicht auf eine ausschließlich oder vorwiegend intellektuelle Beschäftigung des Menschen mit sich selbst mittels oder zum Zwecke der Aufstellung anthropologischer Ideologien und damit nicht auf einen hermeneutischen Bildungsprozeß als Bildung des Individuums ab. Die Unwissenschaftlichkeit und Verständlichkeit der Christlichen Predigt als Rede für das Volk ermöglichen vielmehr die Tat des Menschen als Effekt seiner Bildung und Selbstentfaltung gerade ohne Hermeneutik, wohl aber im Rahmen und zum Nutzen des in der Sozialgestalt der Gemeinde versammelten Volkes. 6. Die universalistische Interpretation Herders". Herders Predigtauffassung hat gezeigt, daß Universalität kein wertneutrales oberstes Prinzip der Bildung des Menschen sein kann. Universalität hat für Herder ihre Grenze und ihren Sinn: den Nutzen für den aufgrund und zur Höhe der Offenbarung Gottes nach Verstand, Gefühl und Tat sich selbst entfaltenden Menschen. Von diesem Mittelpunkt aus ist Herder universal im Erfassen der Offenbarung Gottes. Von diesem Mittelpunkt ist er auch universell im Erfassen und Integrieren der Stimmen aus Zeit und Geschichte, die diesem Menschen nützen. Von diesem Mittelpunkt ist er aber auch universal in der Ablehnung zeitgenössischer und geschichtlicher Stimmen, die diesem Menschen schaden. s Vgl. insbesondere o. S. 141 ff. ' Diesen Grund allen Bemühens von Herder kann man weder von philosophischer noch von theologischer Seite wegdiskutieren, wenngleich man darüber mit Herder als einem Theologen streiten könnte. Dies ist hier jedoch nicht unsere Absicht. Einmal, da dieser Glaube Herders doch wirklich kein unchristlicher ist. Zum anderen aber, weil uns hier vorrangig die Funktion solchen Glaubens interessiert hat. 10 Vgl. o. S. 21 ff. 11 Vgl. o. S. 21 ff.

Ausschlüsse von Herderrezeptionen

257

Herder hat diese klare, kritische Mitte und diesen klaren kritischen Stil12. Ein unkritischer Universalismus im Denken und Handeln Herders ist völlig ausgeschlossen. 7. Die nur dem Schein nach naheliegende Auffassung der Predigerexistenz Herders als Exponent einer anthropologischen Theologie. Herders Rede von Gott im Interesse und für den Menschen ist von der zeitgenössischen Formel der Rede von Gott als der Rede vom Menschen zu unterscheiden. Christliche Rede ist für Herder keine Vulgäranthropologie, und ihre Leistung erschöpft sich nicht in der Interpretation menschlichen Selbstverständnissses. Christliche Predigt hat einen wirksameren und nützlicheren Beitrag zu leisten, nämlich die ganze Entfaltung seiner Menschheit dem Menschen so zu erreden, daß er in seiner sozialen Tat zu sich selbst kommt und sich darin vor sich selbst als Mensch verantworten lernt. Dieser anthropozentrischen, weil christozentrischen Theologie Herders geht es nicht darum, wie man andernorts heute beteuert, in Predigt den Menschen in seiner Wirklichkeit ernst zu nehmen, sondern um die Tat und die Verwirklichung dieses Postulats - gerade in der F o r m Christlicher Predigt. 8. Die Weise der kulturpolitischen Rezeption Herders 13 in beiden deutschen Staaten. Dabei kann man der D D R , die ihre amtliche Kulturpolitik im Ausland ganz und mit aufwendigen Mitteln und Instituten 14 im Namen Herders treibt, die Vgl. o. S. 255, N r . 3 und S. 233. Vgl. hierzu K. Stankiewitz, der anläßlich der Eröffnung des ersten Goethe-Instituts in Osteuropa im Jahre 1979 in einer Tageszeitung von der unterschiedlichen Kulturpolitik beider deutscher Staaten berichtet und dabei die Kulturpolitik der D D R auf die Formel gebracht hat: „ G o e t h e rangiert hinter H e r d e r " ( O H Z , 9. 11. 79, S. 14). 12

13

A m 22. 11. 1979 hat sich das W e s t - O s t - K u l t u r w e r k e.V. mit der unterschiedlichen Rezeption der beiden deutschen Klassiker Lessing und Herder in O s t und West auf einer Tagung in SolingenBurg (vgl. F A Z , 22. 11. 79, S. 26) beschäftigt. Auf unsere diesbezügliche Anfrage war zu erfahren, daß die gehaltenen Vorträge der Öffentlichkeit noch nicht zur Verfügung stehen (vgl. W e s t - O s t Kulturwerk, Sehr. v. 31. 1. 1980 an den Verfasser). 14 G e m e i n t sind vor allem die Herder-Institute. A b e r auch der Wiederaufbau reiner G e d e n k stätten und Museen, wie z . B . in Weimar und in Mohrungen/Polen (vgl. hierzu N a m o w i c z , Das Herdermuseum) gehört hierher ebenso wie die übrige ostzonale Herdersche Kultur und Subkultur jüngster Vergangenheit. Diese besteht inhaltlich in folgendem: 1952: Herders W e r k e in einbändiger Auswahl; 1969: 4. Auflage der 5-bändigen Auswahlausgabe von Herders Schriften; 1977: „nach mehr als einem halben J h . unter imperialistischen Bedingungen erfolgloser Bemühungen" erster Band der Gesamtausgabe der Briefe Herders, daneben: Auflage von einzelnen Werken Herders, Einführen der „Herder-Medaille" für die „besten Schüler der sozialistischen Oberschule der D D R " , U m b e n e n n u n g des universitären Instituts für Ausländerstudien in Leipzig unter Verwendung von Herders Namen (vgl. Grau, Herder, 114). Gegenüber der „bösen" O s t f o r schung der B R D , nach wie vor 1945, mit ihren getarnten „revanchistischen Zielen" (Grau, a.a.O., 113) und „antisozialistischen Institutionen" (ebd.), charakterisiert C . Grau sehr plump, emphatisch und gesprächsunproduktiv die „von Marx und Engels über Mehring bis in unsere sozialistische G e g e n w a r t " (ebd.) führende Herdertradition als „gut". Diese Schwarz-Weiß-Malerei Graus

258

Folgerungen

Kritik nicht ersparen, die Bedeutung von Religion und Kirche für den gesellschaftlichen Entwurf Herders und das durch ihn überlieferte Kulturgut zu unterschlagen oder doch zu unterschätzen. Exkurs zur kulturpolitischen

Rezeption

Herders im Marxismus

W. Dietzes kulturpolitische Rezeption Herders entbehrt nicht eines gewissen Widerspruchs. Einerseits muß er zugestehen, daß „Herders Religiosität... als substantieller, nicht nur als akzidentieller Bestandteil seines Weltbildes gesehen werden" (Dietze, J. G. Herder, 9) muß. Andererseits ist für ihn Herder auch als Prediger nur weltfrömmiger „Volksschriftsteller" (ebd.) und sein Verdienst eine - von Dietze säkularisiert formuliert - menschliche Kulturgeschichte und Kulturtheorie (vgl. a.a.O., 13). Wir vermuten, daß die Begründung für diese widersprüchliche kulturpolitische Rezeption Herders, da ihr das nötige theologische Bindeglied fehlt, darin liegt, daß sich historisch die Bedeutung von Religion für Herders Entwurf wohl nicht länger leugnen läßt, die ideologische Basis gegenüber dem Phänomen Religion bei Dietze selbst aber so negativ besetzt ist (vgl. a.a.O., 8), daß sich daraus für uns der oben gezeigte Widerspruch erklärt und sich in Dietzes Formulierung von Herders „kompliziertem Verhältnis zur Religion"' (a.a.O., 9) sprachlich niederschlägt. Theologie und Aufklärung sind - wie gezeigt - nicht für Herder, wohl aber für Dietze sich ausschließende Gegensätze (vgl. a.a.O., 9). Hier ist also faktisch sichtbar, wie eine in Herder hineingesetzte Verfremdung nur aus einem seinem Interpreten fremden Verhältnis erklärbar wird, ein Vorgang, der durch Dietzes Projektion eines imaginären westlichen Feindbildes in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Herder (vgl. a.a.O., 13) nur verstärkt wird. Mit dem beargwöhnten Feind der westdeutschen Herderinterpretation (zum Motiv der Angst in der marxistisch-leninistischen Herderforschung vgl. auch Grau, Herder, 111) kann es - abgesehen von unseren folgenden Bemerkungen - schon deshalb nicht so weit her sein, weil das westdeutsche Pendant zur öffentlichen Erhebung der kulturpolitischen Bedeutung Herders (vgl. o. S. 257, Anm. 13) mit einjähriger Verspätung dem Gedenkjahr Herders hinterherhinkte und bis jetzt immer noch nicht seinen privatistischen Charakter abgestreift hat. Freilich bleibt jener Vorgang wegen der dogmatischen Thesenreihe Dietzes besonders signifikant für die widersprüchliche und fast schon ängstliche kulturpolitische Rezeption Herders auch in der D D R . Exemplarisch erhellt dieser Vorgang dadurch, daß H. Scheel, ebenfalls marxistischer Interpret Herders, in derselben öffentlichen Verlautbarung sehr schön zeigt, daß die Front der Herderrezeption ja in Wirklichkeit auch gar nicht zwischen „bürgerlicher" und „marxistischer" Geschichtsforschung aufbricht, sondern innerhalb beider Lager an der Frage der politischen Funktion Herders, die hier wie dort lediglich quantitativ unterschiedlich zu Unrecht nicht problematisiert wird (vgl. Scheel, Herders Stellung, 15 f.). Wir stimmen im Grundsatz Scheel zu, vermissen aber auch bei ihm historisch eine analytische Erhellung der Motive und Tradition für Herders religiös-politische Existenz wie das Erkennen von Herders diesbezüglicher theologischer Praxis, vor allem aber auch die Aktualisierung dieser Erkenntnis. Herders christologisch motivierter Humanismus wird auch ausgespart von J. Irmscher, Herder als Pädagoge, 114 bei Anerkennung Herders als Vorbereiter „der Schule unserer sozialistischen Gegenwart".

verschleiert die wahren Probleme der Herderforschung und führt in eine wissenschaftliche Sackgasse.

Ausschlüsse von Herderrezeptionen

259

Eine stärkere Berücksichtigung des Phänomens Religion in Herders sozialutopischer (so Förster, Geschichtsphilosophie, 8 und 43) Geschichts- und Humanitätsphilosophie als bisher üblich hat 1979 für Herder in seiner Weimarer Zeit der ostdeutsche Philosoph W. Förster vorgenommen. „Für Herder", so schreibt er, „ist die Religion Synonym der ,höchsten Humanität' des Menschen, eigentlicher Raum menschlicher Entfaltung" (a.a.O., 19 u. 32f.). Gleichwohl sieht Förster in Herders „Pointierung der Religion" (ebd.) eine Konzession Herders an seinen Beruf und an die „allgemeine geistige Atmosphäre in Deutschland, die eine völlige Befreiung von der Religiosität nur als äußerste Konsequenz zuließ" (ebd.; vgl. auch Förster, Theoretiker, 129), und so, was Förster selbst betrifft, auch bei Herder die „geistliche . . . Herrschaftsform des Feudalismus" (Förster, Geschichtsphilosophie, 7) wirksam. Diese Konstruktion Försters offenbart ihre Schwäche der Ungereimtheit besonders an der Stelle, wo Förster „im besonderen" den Traditionsstrom des „religionskritischen und sozialoppositionellen Denkens der deutschen Philosophie" (ebd.) bei Herder sich auswirken sehen lassen möchte. Wie soll man beides ideel zusammenbringen? Zudem, wenn Förster meint, der „retrograde" (a.a.O., 22) religiöse Herder sei der Bückeburger Herder, selbst aber einen religiösen Herder aus den „Ideen" (vgl. a.a.O., 19), also als den Herder von Weimar, zitiert! Immerhin könnte der Raum, den Förster der Religion auch für den späteren Herder zugesteht, Anlaß für eine Neubesinnung Försters werden. 1974 behauptete er noch beispielsweise, es gehöre zu den „Leistungen der Herderschen Entwicklungslehre" (Förster, Theoretiker, 133), daß damit der „christliche Unsterblichkeitsmythos . . . weitgehend aufgelöst" (a.a.O., 134) werde, daneben aber, daß bestimmte „idealistische und theologische Züge" (ebd.) in Herders Entwicklungsidee erhalten bleiben, und versuchte, diesen Widerspruch als Widerspruch Herders darzustellen und entwicklungsgeschichtlich zu kompensieren. 1979 geht das nicht mehr, denn danach zeigt sich nach Förster auch in den Weimarer „Ideen" Herders das Festhalten Herders „an idealistischen Gedankengängen (Jenseitsglaube)" (Förster, Geschichtsphilosophie, 16) und ein durchgehender „Widerspruch von Materialismus und Idealismus durch Herders Werk" (ebd.), weshalb Förster nunmehr mit der nichtssagenden Formel „eines pantheistisch verhüllten Materialismus" (ebd.) seine wahre Verlegenheit ausdrückt. Weiter ging schon 1903 der Historiker unter den progressiven Sozialdemokraten K. Eisner. Er sieht sowohl den religiösen Charakter der Herderschen „Religion der Humanität" (Eisner, Revolutionäre Humanität, 85) wie die Bedeutung der „.Grundsätze des Christentums'" (a.a.O., 84; vgl. auch Eisner/Schmolze, Die halbe Macht, 46) für deren „revolutionären" (Eisner, Revolutionäre Humanität, 78 ff.) Charakter und anerkennt grundsätzlich die Bedeutung dieser kulturellen Traditionslinien - wenn auch im einzelnen ideell zu unspezifiziert, praktisch unvollständig und eben doch dann nur so weit, wie es ihm die eigene Position wirklich erlaubt (vgl. o. S. 254f.). Bemerkenswert auch die neue marxistische Formulierung J. Kudrnas: „Letzten Endes reduziert sich bei Herder die Religion auf die Humanität" (Kudrna, Vico, 75). Statt Reduktion muß man historisch exakt Konzentration (vgl. o. S. 177; 146ff.) sagen und vor dieser Tatsache vor allem nicht wie das von einer Schlange gebannte Kaninchen oder einer geheimnisvollen Sphinx verharren. D e r B R D , die ihre Kulturpolitik ganz auf den N a m e n Goethes festgelegt hat und von da aus mit zahlreichen Instituten und ebenso aufwendigen Mitteln

260

Folgerungen

treibt, muß aber die kritische Frage gestellt werden, warum sie ihre kulturpolitische Auslandsarbeit so wenig von Herder in Frage stellen läßt und die menschlich-politische Philosophie dieses Klassikers der deutschen Sprache und Promotors einer deutschen Nation' 5 nicht zur Förderung der nationalen, internationalen, vor allem aber kulturellen Zusammenarbeit beider deutscher Staaten einbringt. Mit Sicherheit wäre dies Herder selbst und dem Gang der deutschen Geschichte gemäßer, als auf den üblichen Verkürzungen und Verkennungen Herders als ästhetischem oder philosophischem Anreger zu beharren und deutsche Kulturpolitik von dem allbestimmenden Goetheschen W e r k " her zu konzipieren. Eine mehr an Herders Geist ausgerichtete kulturpolitische Didaktik ließe auf wirkliche Verständigung hoffen. Die Kirche aber in beiden deutschen Staaten17 wäre gut beraten, über den Weg einer Aktualisierung des Herderschen Erbes den Weg der Verständigung, des Gespräches und der Auseinandersetzung auf der kulturpolitischen Szene zu eröffnen und glaubhaft darzulegen wie dem auch Gestalt zu verleihen, daß diese kulturpolitische Aufgabe mit zu ihrem ureigenen Anliegen des Dienstes am Frieden gehört. 9. Die Weise der theologischen wie kirchlichen Nichtbeachtung der Predigerexistenz Herders. Der praktische Theologe Herder hatte seinen Ort im Kräftespiel zwischen Staat und Kirche um Bildung und Strukturierung des Volkes. Dabei zeichnet Herder theologisch aus, daß er Theoretiker einer am kirchlichen Handeln als politischer Aufgabe orientierten und zu messenden Theologie war und als diese Aufgabe der Kirche öffentliche Bildung mittels des Predigtamtes erkannt und bestimmt hat. Ergebnis dieser theoretischen Bemühung ist seine funktionale Amtstheorie, die wir dargestellt haben. Hinzu kommt Herders praktische Bemühung, in der Form entsprechender Ausbildung der Predigtamtsanwärter wie in der Form eigener Volkspredigt, die dieser Theorie zugrunde liegenden Erfahrungen und Einsichten auch 15 U . Hegner notierte in seinen Briefen von 1794-1815 an J . G . Müller in Schaffhausen schon vor nahezu 200 Jahren zu Herder: „Ich möchte ihn bald den letzten Deutschen nennen" (Zit. nach Geilfen, Lit. Aphorismen, 413). 16 So apostrophieren zeitgenössische Historiker und Germanisten auch neuerdings „das Jahrhundert zwischen 1750 und 1850" (Staat und Gesellschaft, S. I X ) immer noch als „GoetheZeitalter" (ebd.). Von einem Herder-Zeitalter habe ich noch nichts gelesen und auch vergeblich in der zitierten Festschrift nach einer Behandlung seiner Stellung zu Staat und Gesellschaft im sog. Goethezeitalter gesucht. 17 Immerhin hat die kirchliche Herderrezeption der D D R nicht nur mit „Kirchlichen Herderfeiern" anläßlich des 175. Todestages Herders am 18. Dezember 1978 erstmals, wie uns scheint, gegenüber der kulturpolitischen staatlichen Betrachtungsweise Herders in der D D R zu einer nötigen öffentlichen eigenen Aussage gefunden, die gegenüber den vergangenen Jahren besonders in ihrer kritischen Freimütigkeit gegenüber der offiziellen kulturpolitisch-marxistischen Rezeption Herders erstaunt. Sie versucht, wenn nach unserer Meinung auch auf zu engem Raum, auch mit erwägenswerten „Fragen und Wünschen an die (sc. „marxistische") Herderforschung" (Koch, J . G . Herder, 53) das wünschenswerte Gespräch mit jener zu finden.

Ausschlüsse von Herderrezeptionen

261

wirklich praktisch auf den verschiedenen Ebenen seiner Predigerexistenz zu vermitteln. Zur Belebung der eigenen theologischen wie volkskirchlichen Situation verdienten also diese praxisbezogenen Ideen und Entwürfe wie das volkskirchliche Handeln dieses Mannes selbst, der sich stets diesseits der Ideologien18 verstand, ohne dadurch platt zu wirken, in Theologie und Kirche eine Renaissance. Um so mehr deshalb, weil ihre theologische Mitte der Funktion nach nicht Konformität, sondern Kritik und Transzendierung unmenschlicher gesellschaftlicher Strukturen verheißt und über utilitaristische Überlegungen erhaben ist.

B. Aufgaben

der

Herderforschung

Der Sache nach ist erwiesen, was zu beweisen war: Das Geistliche Amt ist nach Form und Inhalt der Angelpunkt und der Drehpunkt der Herderschen Existenz- und Denkweise. Dabei hat sich Herders Auffassung dieses Amtes und der Predigt als dessen Medium als Vorläufer einer an der Entwicklung und Befreiung der Menschen öffentlich arbeitenden, praktischen Theologie und Kirche erwiesen, dergestalt, daß diese Arbeit zugleich den neuen Inhalt und das Wesen des Geistlichen Amtes ausmacht. Um diese Mitte Herderscher Existenz ordnen sich alle dieser nur scheinbar widersprechenden Nebenbeschäftigungen Herders zu einem in sich schlüssigen Ganzen zusammen - wie Perlen auf einer Kette, die Herders tätige menschlich-politische Philosophie der Offenbarung Gottes als ihre Mitte unterstreicht und schmückt. Als dieses Werk praktischer Theologie ist daher für uns Herders Werk weder inkonsequent noch widersprüchlich. Vielmehr hat sich in diesem Gesichtspunkt Herder für uns als früher, konsequenter Theologe funktionaler Theorie und Arbeitsweise 1 wie als weitblickender Mann, Diener und Vater der Kirche erwiesen. In seiner Predigerexistenz haben wir den Geschichtsbeleg für den von Herder praktisch geführten Streit und praktisch angetretenen Beweis vor uns, daß und wie die Religion des Christusglaubens als zentraler Faktor 1! Vgl. o. S. 40, Anm. 26; 44f.; 69, Anm. 14; 82f.; 93f.; 120, Anm. 20; 129, Anm. 108; 135ff.; 137, Anm. 75; 157, Anm. 397; 179, Anm. 46; 204, Anm. 75; 223, Anm. 91; 243, Anm. 126; 253 f. Daß Herder als solcher „von den entgegengesetzten Zeiten und Parteien" schon zu seiner Zeit und generell „verkannt" war, betont sein Altersfreund Jean Paul (J. Paul, Vorschule der Ästhetik, zit. nach v. Wiese, Der Philosoph, 32 und U. Cillien, J. G. Herder, 187). Vgl. auch o. S. 59f.; 71, Anm. 35; 72t.; 74, Anm. 27; 79, Anm. 63; 165, Anm. 43 und 208, Anm. 126. 1 Vgl. z. B. o. S. 174ff.; 224ff.

262

Folgerungen

deutschen Kulturgutes wie des Sozialgebildes einer Deutschen Nation von Nutzen und Wirkung für dieses Volk sein kann und bleiben muß. Dieser Tatsache als dem zentralen Thema der Herderschen Existenz ist bisher die Wirklichkeit der Herderrezeption, deren Problematik und Tendenzen wir für die jüngste Vergangenheit oben dargestellt haben2, in keiner Weise auch nur annähernd gerecht geworden. Herder, der Prediger, führt darin vielmehr bis heute ein unsachgemäßes, unverdientes und verkanntes Winkeldasein. Zwar wird auf dieses Phänomen in neuerer Zeit vereinzelt hingewiesen3, auch wird mit dem Ausdruck des Bedauerns danach vereinzelt gefragt4. Wirklich gearbeitet wird an der Abstellung dieses Mißstandes in einer diesem Thema bei Herder entsprechenden Weise bislang aber noch nicht in dem wünschenswerten Umfange. Welcher Weg ist also im Aufgreifen unserer Arbeitsergebnisse und im Verfolgen einer solchen Erkenntnis weiter einzuschlagen? Wir sehen hier zwei vorrangige Aufgaben: 1. Die möglichst vollständige Herausgabe sämtlicher noch zugänglicher Predigten Herders und 2. die Untersuchung dieser Predigten aufgrund der von uns ans Licht gehobenen Einstellung Herders zum Geistlichen Amt, insbesondere a) als Exempel der Realisierung der eruierten christologischen Mitte des Herderschen Volksbildungsprogrammes, seiner praktischen Christologie und b) als Exempel kulturpolitischer Praxis von Predigtamt und Kirche auf dem Boden der Offenbarung Gottes und zum Nutzen des Volkes in einer kulturell sich von diesem Boden und Ziel entfernenden Zeit. I. Zur Aufgabe einer umfassenden Edition der

Herder-Predigten

Bei der Überlegung, wodurch eine nun beinahe 180jährige Herderinterpretation behindert war, sich Herder, dem Prediger, adäquat zuzuwenden, sind wir neben den dargestellten unsachgemäßen Standorten der einzelnen Interpreten auch auf eine Beobachtung gestoßen, die größere Aufmerksamkeit und eine weitere Beachtung verdient: Das Winkeldasein Herders als Prediger in Forschung und Lehre hat auf editorischer Ebene eine Entsprechung: das Winkeldasein der Predigten Herders. 3 Vgl. Herder im G.A., 8. Vgl. o. S. 13 ff. Vgl. Otto, Rede, 58. Lediglich mit historischem Interesse (vgl. u. S. 263, Anm. 8) auch F. W . Kantzenbach, Herders Briefe, 25. Auch in anderen praxisorientierten Wissenschaften scheint - wenigstens postulativ - ein verstärktes Fragen nach Herder Raum zu greifen. So zählt der Marxist J. Irmscher Herder trotz, wie er festzustellen glaubt, „Fehlens eines pädagogischen Systems und ungeachtet seiner utopischen Befangenheit... zu den Höhepunken der progressiven bürgerlichen Pädagogik, die voll herauszustellen und in ihrer Gegenwartsbedeutung zu begreifen ein gewichtiges Anliegen der erziehungsgeschichtlichen Forschung" (Irmscher, Herder als Pädagoge, 115) auszumachen habe. 2

4

Zur Aufgabe einer umfassenden Edition der Herder-Predigten

263

So war in der bis heute maßgebenden Suphanschen Herderausgabe schon im „Entwurf der Ausgabe" 5 den „Schriften aus dem Geistlichen A m t ein Band eingeräumt" 6 . Naturgemäß war damit entschieden, w o bei dem imposanten Gesamtwerk von ursprünglich 31 Bänden der T o n lag. Die Stellung dieses einen Bandes an den Schluß der Gesamtausgabe aber tat das übrige dazu, schon optisch das Augenmerk auf alles andere zu richten als ausgerechnet auf Herder im Geistlichen A m t und seine Predigten. Diese wurden vielmehr als Anhängsel betrachtet, als Supplement seiner übrigen Schriften. Entsprechend wurden sie in den abschließenden 31. Band der Gesamtausgabe sowie in einen geplanten und auch erschienenen „Supplementband ( X X X I I ) " 7 hineingenommen und unwesentlich für die Rigaer Jahre ergänzt veröffentlicht. Während der ersten 12 Jahre des Erscheinens dieser Ausgabe Suphans hat dazu die Weise des Erscheinens der einzelnen Bände diesen Vorgriff und Eingriff in die Herderinterpretation verstärkt. Die ersten Bände erschienen ab 1877 und bis zum Erscheinen der ersten Predigten Herders, 1889 und 1899, war der Herder schon lange und fast vollständig in Bearbeitung oder auf dem Markt, wie ihn die Herausgeber von ihrem mehr ideologisch als praktisch orientierten Standpunkt aus gerne sahen 8 . 7 Ebd. S W X X X I , S. VII. ' Ebd. ' E . Schmidt bemerkt zutreffend, daß die Darbietungsweise auch der übrigen Christlichen Schriften Herders durch die Suphansche Ausgabe eher den Zugang zu dem Theologen Herder erschwert als eröffnet: „Die große Suphan-Ausgabe bringt sie (sc. die Christlichen Schriften) unübersichtlich über mehrere Bände verstreut. Sie ist überdies nur einem sehr beschränkten Leserkreis zugänglich. Eine zusammenfassende Ausgabe fehlt" (Herder im G . A . , 8f.). Daran hat sich, trotz dieser guten Einsicht, auch heute noch nichts geändert. 5

Die Tatsache des tendenziösen Charakters der Auswahl der Suphanschen Ausgabe aus Herders Nachlaß ist seit Erscheinen der Ausgabe allgemein bekannt und von Suphan selbst bezeichnet. Ihm ging es darum, eine dem nationalen Bedürfnisse seiner Zeit gerecht werdende Ausgabe zu schaffen (vgl. S W X X X I , S. V I I u. S W V I , S. 15). Die Problematik dieses generellen Gesichtspunktes liegt schon - einmal abgesehen von wissenschaftlichen Kriterien (dazu vgl. H . D . Irmscher, Aus Herders Nachlaß, 281 f.) - mit der veränderten politischen Lage auf der Hand. Was das Motiv der tendenziösen Predigtenauswahl in Suphans Ausgabe betrifft, so hat zwar H . D . Irmscher bereits vor zwanzig Jahren „eine gewisse politische Rücksichtnahme" (Irmscher, Der handschriftliche Nachlaß, 10) gegenüber der deutschen Kaiserin Augusta, einer geborenen Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der die Ausgabe gewidmet ist, vermutet. Bis heute ist es aber sowohl generell wie speziell für die Predigten Herders bei diesen Tatsachen und Mutmaßungen geblieben. So stellt F. W . Kantzenbach, der Irmschers Erkenntnis lediglich formal und verkürzt kopiert, auch nur das Postulat einer „vollständigen Sammlung der Predigten Herders" auf ohne Hilfsmittel oder über Irmscher hinausführende Informationen dazu an die Hand zu geben. Im übrigen überzeugt sein Postulat selbst nicht, da es lediglich ein fragwürdiges historisches Interesse erkennen läßt und in Wahrheit von dem vernichtenden Urteil getragen ist, daß „insgesamt . . . Herders Homiletik kaum eine Chance der Wiederkehr" (Kantzenbach, Herders Briefe, 25 f.) hat. Das Gegenteil haben wir beweisen können. Angesichts der Verfälschung des Herderbildes zu unkritisch gegenüber den Herausgebern der Ausgabe Suphans ist in dieser Frage Steinhäuser, Herder, 22 ff. Obwohl Steinhäuser richtig die editorische Seite der Verzerrung des Herderbildes sieht, harmonisiert er vorschnell, läßt das „auf

264

Folgerungen

Dieses Winkeldasein der Predigten Herders hat sich auch in den neueren Ausgaben nicht verändert. Die fünfbändige Herderausgabe von Regine Otto 9 in der Weimarer Bibliothek deutscher Klassiker enthält im 5. Band unmittelbar vor Abschluß des Werkes und einigen Rezensionen noch ganze drei bereits bekannte Predigten10 und das Herder-Lesebuch in den Volkslesebüchern für unsere Zeit von G. Mieth und J . Schmidt" schließlich keine einzige Predigt mehr. Aber auch die sich durch größeres Problembewußtsein auszeichnende Sammlung von Untersuchungen, Quellen und Dokumenten zu Herders Tätigkeit im Geistlichen Amt von Eva Schmidt12 räumt der Predigertätigkeit Herders nur einen geringen und in dieser Gestalt bereits bekannten Raum ein13. Diese Tatsachen sind um so verwunderlicher als man sowohl zur Zeit Suphans wie auch noch heute, was die Predigten Herders betrifft, einen unverhältnismäßig reicheren Schatz hätte anbieten können als es mit dem kümmerlichen, darüber hinaus formal unglücklich dargebotenen und wirkungslos gebliebenen Extrakt geschehen ist, der bis heute Lesern und Forschung an Herder-Predigten allgemein zugänglich gemacht worden ist. Die Suphansche Ausgabe überliefert insgesamt 71 Predigten Herders aus seiner gesamten Predigertätigkeit von 1764-1803 und verstreut über drei Bände14. Vorhanden waren damals noch „eine überraschende Fülle ungedruckter Predigten"15 in Gestalt der Grundlagen für die erste Predigtenauswahl durch G. Müller16 und der Bestände des Herder-Archivs, die Suphans Ausgabe als minimale Kostprobe erscheinen lassen. Nicht nur A. Jacobsen, 1889, sondern auch O . Hoffmann, der andere mit der Herausgabe der Predigten Herders verantwortlich betraute Mitarbeiter Suphans, bezeichnet 10 Jahre später seine die Jacobsensche Predigtenauswahl geringfügig ergänzende Veröffentlichung als „eine Auswahl aus der reichen Fülle der uns erhaltenen Manuskripte" 17 . So waren damals beispielsweise allein für die Rigaer Zeit Herders noch „sechzig ganz oder fast ganz ausgearbeitete Predigten, durchgehends mit einer sehr ausführlichen Disposition versehen, elf Entwürfe" 18 , also 71 Predigthandsich beruhen", möchte „mit den Herausgebern der Werke Herders" nicht rechten und ist der völlig irrigen Auffassung, daß die Handschriften der Herderpredigten „jetzt aber verloren oder doch unauffindbar verschollen" sind. Vgl. Herder I-V/Regine Otto. Vgl. Herder V/Regine Otto, 271-319. 11 Vgl. Herder-Lesebuch. 12 Vgl. Herder im G.A. 13 Vgl. Herder im G.A., 101-138. 14 SW X X X I : 50 Predigten, SW X X X I I : 20 Predigten und SW X X X I I I : 1 Predigt. Von diesen 71 Predigten stammen 1 Predigt aus Herders Königsberger Zeit, 27 Predigten aus seiner Rigaer Wirksamkeit, 24 aus Bückeburg und 19 aus Weimar. 15 SW X X X I , S. XI. 16 Vgl. Herder/Müller, RTh II und IV. 17 SW X X X I I , S. VIII. " SW X X X I , S. XI, Anm. Nach Hoffmann ließen sich damals sogar „75 Predigten Herders 9

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Zur Aufgabe einer umfassenden Edition der Herder-Predigten

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Schriften und damit vermutlich alle" Predigten Herders in Riga vorhanden. Lediglich ein Drittel dieser Rigaer Predigten wurden aber in der Suphanschen Ausgabe veröffentlicht, wobei dieses Drittel Predigtbeispiele aus Herders 5jähriger Predigertätigkeit in Riga in der Suphanschen Ausgabe den Hauptteil der insgesamt abzudeckenden 40jährigen Predigerpraxis Herders in Riga, Bückeburg und Weimar ausmacht. Das ist aber bei Erkenntnis der durchgängigen Bedeutung des Geistlichen Amtes für Herders Existenz- und Denkweise für eine objektive Erfassung seines Werkes zu wenig. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß an dieser Stelle der Erforschung des Herderschen Werkes nicht nur einem offensichtlichen Mangel abgeholfen werden muß, sondern auch abgeholfen werden kann, da eine Fülle unveröffentlichter Predigten Herders aus allen Epochen seines Wirkens auch heute noch vorhanden und zugänglich ist. Im wesentlichen kann dabei auf drei bedeutende20 Bestände zurückgegriffen werden: Herder-Predigten in großer Zahl befinden sich im Berliner Nachlaß Herders 21 , im Schaffhausener Nachlaß J. G. Müllers22 und im Weimarer Nachlaß Herders". nachweisen, die er in Riga gehalten hat, d. i. ungefähr die Zahl, welche er zu halten verpflichtet war. Ein Drittel davon sind in dieser Ausgabe (sc. der von Suphan) abgedruckt" (SW XXXII, 538). " Vgl. die vorhergehende Anmerkung. 20 Kleinere bzw. keine Bestände an Herderpredigten haben wir wie folgt festgestellt: Das Fürstliche Hausarchiv im Niedersächsischen Staatsarchiv in Bückeburg hat „keine Predigttexte oder -entwürfe" (Niedersächs. Staatsarchiv, Sehr. v. 30. 8. 79 an den Verfasser). Im Staatlichen historischen Archiv der Lettland-Republik der UdSSR gibt es zwar „einige Handschriften von J. G. Herder . . ., Predigttexte und auch deren Konzepte" (Hauptarchivamt der UdSSR, Sehr. v. 19. 11. 79 an den Verfasser, übers, v. R. Nohr u. A. Geng) wurden aber nicht aufgefunden. Die Akademie der Wissenschaften der D D R hat in ihrem Archiv „keine Dokumente" (Akad. d. Wiss. d. D D R , Sehr. v. 29. 11. 79 an den Verfasser) zu Predigten und Predigtdispositionen Herders. Das Freie Deutsche Hochstift Frankfurter Goethe-Museum besitzt in seinem handschriftlichen Herdermaterial eine Predigt Herders „sowie einen Brief der Herzogin Luise an Frau von Stein über eine Predigt Herders" (Goethe-Museum, Sehr. v. 5. 12. 79 an den Verfasser). Die Deutsche Staatsbibliothek in Berlin-DDR besitzt „nur Briefe sowie sein (sc. Herders) Reisetagebuch" (Dt. Staatsbibliothek, Sehr. v. 7. 12. 79 an den Verfasser). Im Staatsarchiv Weimar befinden sich „keine unveröffentlichten Predigten, Predigtdispositionen o.ä. von J. G. Herder" (Staatsarchiv Weimar, Sehr. v. 4. 1. 1980 an den Verfasser). Die Akten des ehemaligen Oberkonsistoriums in Weimar sind „durch Kriegseinwirkung völlig vernichtet worden" (Eva Schmidt, Brief v. 18. 10. 79 an den Verfasser). Keine „unveröffentlichten Predigten und Predigtentwürfe" (Schaumburg-Lippisches Landeskirchenamt, Sehr. v. 8. 2. 80 an den Verfasser) besitzt auch das Schaumburg-Lippische Landeskirchenamt in Bückeburg. 21 Erfaßt in Irmscher/Adler, Der handschriftl. Nachl. 22 Erfaßt in Zsindeley, Katalog d. J . G. Müller Nachl. und Boos, Verzeichnis. Diese wie die folgenden Bestände hat F. W . Kantzenbach offenbar total übersehen (vgl. Kantzenbach, Herders Briefe, 25). 25 Erfaßt in Hahn, Bestandsverz. d. Goethe- u. Schillerarchivs.

266

Folgerungen

Der Umfang unveröffentlichten Materials in diesen Beständen ist beträchtlich. Allein im Berliner Herdernachlaß, der von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin verwaltet wird, befinden sich 149 ungedruckte Herder-Predigten oder Predigtentwürfe von Herders eigener Hand aus allen Epochen seines Wirkens24. Hinzu kommt das Predigtmaterial, das bislang aus diesem Nachlaß nur auszugsweise oder abweichend veröffentlicht wurde, 70 Predigten und Predigtentwürfe, sowie 8 Abschriften oder Übersetzungen von Herderpredigten, die uns von fremder Hand erhalten geblieben sind". Nicht weniger ergiebig sind die beiden anderen erwähnten Nachlässe Herders in Schaffhausen und in Weimar. Nach Mitteilung der Stadtbibliothek Schaffhausen befindet sich „ein grösserer handschriftlicher Bestand (sc. von handschriftlichem Material von J. G. Herder) in den Nachlässen des Historikers Johannes v. Müller (1752-1809) und dem seines Bruders Johann Georg Müller (1759-1819)" 2 '. Darunter umfaßt der Bestand an Predigten und Predigtentwürfen „sechs volle Zugmappen . . ., die laut Schätzung des Fachmannes mindestens 4000 Aufnahmen zum Kopieren benötigen"27. Auch die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar teilten auf unsere Anfrage über den in ihrem Besitz befindlichen Teil des Herdernachlasses mit, daß er „u. a. amtliche Schreiben zu Schul- und Religionsangelegenheiten sowie offensichtlich unveröffentlichte Predigtentwürfe von Herders Hand, vorwiegend über die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, insgesamt ca. 200 Bl." 28 enthalte. Die beiden Nachlässe in Schaffhausen und Weimar sind im einzelnen noch nicht nach evtl. Veröffentlichungen daraus überprüft. Auch wurden diese drei für die Herder-Predigten bedeutsamsten Nachlässe noch nicht einem koordinierenden Vergleich unterzogen. Die Fülle des vorhandenen Materials von Herder-Predigten steht jedoch in einer solch großen Diskrepanz zu der mit 71 2< Vgl. Irmscher/Adler, Der handschriftl. Nachl., 10; 130; 166f.; 172; 178-185; 188f.; 193; 201 ; 242; 244f.; 256f.; 276-278. 25 Vgl. ebd. 26 Stadtbibliothek Schaffhausen, Sehr. v. 1 1 . 9 . 79 an den Verfasser. 27 Stadtbibliothek Schaffhausen, Sehr. v. 11. 12. 79 an D . Stoodt. Allein die Fase. 510 und 511 des J . G . Müller-Nachlasses umfassen: „FASC. m Predigten und Predigtentwürfe von J . G . Herder. (Teils Autogr. teils Abschr. von J G M u.a.). 1770-1803 und o . D . (801 Bl.) - Darunter : Predigtentwurf von (J. G . Müller) mit Bemerkungen von (Herder, 1781). (Bl. 134-137). - Beil.: „Herders ungedruckte Predigten" (Abschr.) 1773-1775. 222 S. Halblederbd. (b). - Mit 3 Originalumschl. von G M K . 2 Kartonmappen, 8°. Bl. 764-801 urspr. water in Fase. 248. FASC. Hl Predigtentwürfe von Q. G . Herder) über Texte aus dem A.T., Matthäus, Markus, Lukas und der Apostelgesch. (Autogr.) 1774-1798 und o . D . (755 Bl. 12 Kartonmappen, 8°. - urspr. J G M s Predigtentwürfen." (Stadtbibliothek Schaffhausen, Sehr. v. 11. 9. 79 an den Verfasser, Anlage). 28 Goethe- und Schillerarchiv, Sehr. v. 11. 9. 79 an den Verfasser.

Zur Aufgabe einer umfassenden Edition der Herder-Predigten

267

veröffentlichten Herder-Predigten 2 ' dieser Fülle gegenüber geradezu verschwindend klein erscheinenden immer noch maßgebenden Suphanschen Ausgabe der Herder-Predigten, daß eine Abstellung dieses Zustandes ohne weitere Worte einleuchtend ist und auch auf editorischer Ebene eine Revision des überlieferten Herderbildes30 eingeleitet werden sollte. Es gilt, die Predigten Herders aus ihrem Winkeldasein zu heben und sie in das ihnen quantitativ wie qualitativ zukommende Licht zu rücken.

II. Zur Aufgabe einer Analyse der

Herder-Predigten

Eine zweite Aufgabe hätte sich unmittelbar an die Edition der HerderPredigten anzuschließen: die analytische Bearbeitung der so allgemein zugänglich gemachten Herder-Predigten, insbesondere nach den oben näher bezeichneten theologischen Problemkreisen wie ihrer volkspädagogischen Brisanz im einzelnen1. Diese Aufgabe ergibt sich für unsere Begriffe ohne weiteres aus unserer Untersuchung, die dazu den sachgemäßen Fragehorizont eröffnet hat. Von Bedeutung erscheint uns bei dieser Aufgabe die sachgemäße Erhebung des Strukturprinzipes der Herderschen Predigt, die wir im Ansatz abschließend skizzieren wollen.

Vgl. o. S. 264. E. Adlers und H. D. Irmschers Hinweis auf eine Herderbildkorrektur aufgrund des Nachlaßbestandes von Berlin (vgl. Adler, Herders Nachlaß, 90) gilt für das Verständnis Herders als eines praktischen Theologen insbesondere. ' Vgl. o. S. 262. Die durch zwei Jahrhunderte tradierte Resignation gegenüber den gedruckten Predigten Herders teilen wir angesichts des erwiesenen „Redecharakters" aller Herderschen Literatur (vgl. o. S. 37f.) nicht. Warum sollte dieser Charakter in seinen gedruckten Predigten weniger erhalten sein? Die Meinung, die überlieferten Predigten Herders seien ja doch nicht die wirklich gehaltenen, ist mitverantwortlich dafür, daß man sich bisher Herder dem praktischen Theologen nicht ausreichend zuwandte und liefert für dieses große Versäumnis scheinbar ein hinreichendes Alibi. Steinhäusers Folgerung angesichts der Tatsache, daß er beim heutigen Lesen der Predigten Herders sich nicht vorstellen könne, „daß ihr Eindruck so tief gewesen ist, wie allgemein bezeugt wird" (Steinhäuser, Herder, 22), und sein Schluß daraus, „es muß doch wohl die ganze Gewalt seiner überragenden Persönlichkeit gewesen sein, die seine Hörer in den Bann geschlagen hat" (ebd.), erledigen das offene Problem psychologisch. Was wir demgegenüber an diesem Faktum ablesen, ist, daß Herder offenbar wirklich situationsgemäß gepredigt hat und mithin die Bestätigung der von uns oben homiletisch aufgezeigten Predigtanforderungen Herders (vgl. o. S. 246 ff.) durch seine eigene Predigtpraxis. Die Skepsis ist auch deshalb verfehlt, weil sich gegenüber der mittelalterlichen „Kultur der gesprochenen Sprache" die neuzeitliche Kultur als eine des „geschriebenen und gedruckten Wortes" abhebt und so, anders als für die mittelhochdeutsche Zeit, „in nhd. Zeit aus Dokumenten der gesprochenen Sprache Rückschlüsse auf die Rede und ihre Pflege" (Weithase, Zur Geschichte, S. V) möglich werden. 29

30

268

Folgerungen

Das Predigtbild Herders2 gab zu verstehen, daß Christliche Predigt die einfältige, natürliche Menschensprache als Antwort des zu seinem Mitmenschen wie zu sich selbst nach Einstellung, Verantwortungsübernahme und tätigem Handeln befragten Menschen ist und insofern weniger technisch als durch die dem Prediger als Menschen aufgetragene, ureigenste Lebensaufgabe selbst erlernbar ist3. Dennoch stellt sich die berechtigte Frage, ob und ggf. wie diese Aufgabe außer der dargestellten grundsätzlichen Einstellungsveränderung zu Predigtamt und Predigerstand methodisch erlernbar und praktizierbar sein könnte. M.a.W.: Gibt es für Herder auch eine pädagogische Vermittlung seines Predigtverständnisses in Gestalt homiletischer Methodenlehre? Wie wir dargestellt haben, ist Herders homiletische Kritik kein antihomiletisches Programm, sondern selbst die homiletische Konzeption, welche die Aufgabe der Predigt wieder in den Blickpunkt und das Zentrum theologischer Bemühung um den Menschen, wie diese insbesondere den Praktikern im Amt aufgetragen ist, rückt. Seine Kritik zeitgenössischer Predigttheorie enthält außer dem inhaltlichen Aufweis, daß dadurch Predigt als die vom Worte Gottes her aufgetragene öffentliche und ganze Menschenbildung zur politisch opportunen Standesbildung und Halbbildung des Menschen und Volkes ideologisch verkürzt wurde, auch die methodische Kritik, daß durch sie Predigt zu einem bloßen Handwerk verkümmert ist. Dabei stimmt zwar formal alles - „Predigtton und Predigtstil und Predigtphilosophie!"4, auch „Predigtzuschnitt"5 mit „Einleitung, . . . Erklärung, Ueberleitung, . . . Periode"', Predigtthema und Predigtform - , aber faktisch wurde durch diese methodische Künstelei jene Aufgabe der Predigt als der eigentlichen Aufgabe aller praktischen Theologie nicht ins Gespräch, sondern außer Diskussion gebracht. Deswegen sucht Herder als Grundvoraussetzung und zur Verhinderung dieser unerwünschten Wirkung seiner Homiletik einen Weg der pädagogischen Vermittlung der Befähigung des Predigens, der diesen Effekt ausschließt. Demgemäß finden wir bei Herder auch keine systematisierte technische Anweisung zur Erledigung der Predigtaufgabe, sondern die nach seiner Ansicht wirksamere pädagogische Form der bildhaften Analyse tatsächlich existierender Prediger und faktisch erlebter und erfahrener Predigten als 2

Vgl. o. S. 2 4 6 ff.

Also: learning by doing it! Nämlich: Mensch zu sein (vgl. auch o. S. 62ff.)! Herder gibt demgemäß auch keine apriorische Methodenlehre zum Predigen, sondern ein Bild der ihn überzeugenden Predigt a posteriori mit daraus abgeleiteten Leitlinien für künftige Predigt. W i r haben es bei ihm auch methodisch mit einem praxisbezogenen homiletischen Entwurf zu tun. So wie man nach Herder „Grammatik aus der Sprache, nicht Sprache aus der Grammatik", „Stil aus dem Sprechen, nicht Sprechen aus dem künstlichen Stil" ( S W I V , 3 8 9 ) lernt, so Homiletik aus dem Predigen, nicht Predigen aus einer künstlichen Homiletik - wie man analog formulieren könnte. 3

4

S W VII, 229.

5

Ebd.

« S W VII, 2 2 9 f.

Zur Aufgabe einer Analyse der Herder-Predigten

269

Modelle und Muster zur eigenen Ergreifung jener Predigtaufgabe als der öffentlichen Aufgabe der Theologie. Es ist von diesem funktionalen pädagogischen Konzept Herders her nur konsequent, daß wir bei ihm auch im Bereich der Kandidatenausbildung für das Predigtamt zunächst keine handwerklichen Rezepte a priori für das Predigen finden, sondern positiven und negativen Bildern und systematisierten Erlebnissen über tatsächlich erfahrene Predigten als seiner homiletischen Aussageform und Mitteilung begegnen 7 . Wie Herders theoretische, so besteht auch Herders methodische homiletische Mitteilung darin, daß er nicht sagt, was Predigt und Predigen sein muß oder sein möchte, sondern an dem, was beides ist, zeigt, was beides sein soll und sein kann. Herders pädagogischer Grundsatz, daß der rechte Menschenlehrer sich dadurch ausweist, daß er sich zur richtigen Zeit entbehrlich macht und dem „Schüler die Freude läßt, selbst eine Entdeckung zu thun" 8 , gilt für ihn offenbar nicht nur für die Tätigkeit des Predigens selbst, sondern auch auf jener anderen Ebene der Predigerausbildung. Dies bestätigt uns sogar noch für Herders Weimarer Zeit der an dem Nutzen der praktischen Funktion der akademischen Theologie seiner Zeit irre gewordene und mit seinem Besuch bei Herder die Hoffnung auf wirkliche praktische Direktiven verbindende Predigtamtskandidat Müller, wenn er als ein ihn befreiendes Erlebnis beschreibt: „Nichts will er (sc. Herder) in den Menschen hineinbringen, alles muß aus ihm herauskommen. Deßwegen schweige er so oft, wo er Stunden lang reden könnte. Aber selbst zu finden ist viel größere Freude und das Fremde muß doch wieder und oft mit Schmerzen abgerissen werden"'. Wenngleich Herder in seinen Weimarer Jahren unter dem Eindruck vor allem der „Unwissenheit und Rathlosigkeit seiner jungen Landgeistlichen" 10 in seinem fünfteiligen Werk „Briefe, das Studium der Theologie betreffend"" und dabei besonders mit dessen praktischem viertem Teil, auf den für Herder alles zulief 12 , in die Diskussion um den praktischen Nutzen der zeitgenössischen Theologie eingriff und dabei auch einen direkteren pädagogischen Weg nicht scheute, ist dieser sein pädagogischer Pragmatismus in keine die Eigeninitiative des Predigers abtötende technokratische Homiletik ausgeartet, weder theoretisch noch methodisch. 7 Vgl. o. S. 187ff.; 235ff.; 246ff. Auch Herders früher homiletischer Entwurf „Der Redner Gottes" (SW X X X I I , 3-11 = Herder im G . Α., 75-81) aus dem Jahre 1765 ist Homiletik in diesem Kleid und sowohl inhaltlich wie methodisch mit Herders Auffassung von Homiletik wie Predigt der Bückeburger Zeit kongruent. Der Streit zwischen Suphan und G . Müller über die literarische Selbständigkeit bzw. Abhängigkeit der Provinzialblätter von jenem frühen Rigaer Entwurf (vgl. SW VII, 567 zu SW VII, 219 ff.) bestätigt für uns unsere Auffassung. Denn ein Vergleich beider beweist auch literarisch, daß zwischen Herders Rigaer und Bückeburger Jahren kein Bruch seiner homiletischen Auffassung 10 Müller, a.a.O., 242. eingetreten ist. ' SW X X X I I , 6. " SW X und SW X I , 1-213. I ! SW X I , 5. ' Müller, Tagebuchaufzeichnungen, 253.

270

Folgerungen

Eine Erhebung des Strukturprinzipes Herderscher Predigt muß als ihrer Voraussetzung und ihrem Boden auf dieser Form der homiletischen Mitteilung Herders basieren. Unter Beachtung dieser Prämisse muß sie nun aber nicht mehr auf das Handwerkszeug zum Predigen eingehen, auf dessen unerläßliche menschlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen. Diese haben wir ausführlich dargestellt13. Zusammengefaßt sind es: 1. eine einfache und geordnete „Bibelerklärung"14, 2. eine „recht helle"15 und „tief treffende"16 menschliche Sprache und 3. die „beschwerliche einzelne Känntniß des Menschlichen Herzens und seiner Zuhörer"17. Oder mit unseren Begriffen ausgedrückt: Biblische und systematische Theologie, Beherrschung der Sprache als aufklärender und agitativer Rede sowie Psychologie in Form der „Analyse des Herzens und Lebens"18, also Psychoanalyse, Verhaltens- und Gruppenpsychologie. Vielmehr kann sie sich der Erhebung eines strukturellen Musters Herderscher Predigt zuwenden, wobei die Predigten Herders auf dem Hintergrund von Herders besonderer, durch Erfahrung vermittelter Predigt-Bilder homiletischer Intention als Problem und Probe den Gegenstand der Aufgabe abgeben müssen. Die Lösung dieser Aufgabe wird sowohl über das strukturelle Herdersche Predigtschema, Herders Begriff der Homilie und seinen Begriff von Homiletik die wünschenswerte nähere Auskunft und Klarheit bringen als auch die bezeichnete inhaltliche Aufgabe der Analyse der Herder-Predigten19 vorteilhaft unterstützen und voranbringen können.

15

17

14

18

Vgl. o. S. 198 ff. SW VII, 221. 15 Ebd. " Ebd.

Ebd. SW VII, 230. " Vgl. o. S. 262f.; 267.

Abkürzungen Die von mir benützten Abkürzungen folgen entweder dem Verzeichnis der Abkürzungen in dem Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft „Die Religion in Geschichte und Gegenwart", 3. Auflage, Band 6, Tübingen 1962, S. XIXff. oder wurden von mir, falls sie nicht unmittelbar aus sich selbst verständlich sind, an Ort und Stelle erklärt. Ausnahmen bilden: Br M SB SW

= = = =

Herder - Dobbek, Herders Briefe siehe S. 92, Anmerkung 30 Herder - Hahn, Johann Gottfried Herder: Briefe Herder - Suphan, Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke

Die übrige von mir benutzte Literatur wird ebenfalls durchgehend abgekürzt zitiert. Literaturabkürzungen verweisen also prinzipiell auf das alphabetisch geordnete Literaturverzeichnis. Meine Erläuterungen oder Hervorhebungen in Zitaten habe ich für den Leser durch „(sc. . . .)" oder durch „(!)" kenntlich gemacht. Sperrungen oder andere Hervorhebungen in der zitierten Quelle selbst werden einheitlich durch Kursivdruck wiedergegeben.

Literatur Von der Herder-Literatur, die nach Abschluß meiner Dissertation erschienen ist und hier nicht mehr umfassend berücksichtigt werden konnte, erwähne ich besonders den von W. Dietze u. a. herausgegebenen Sammelband „Herder-Kolloquium / Referate und Diskussionsbeiträge", Weimar 1980. Auch auf meinen Aufsatz „Predigt und Volksbildung. Marginalien zu J. G. Herders Predigtverständnis", der inzwischen im Deutschen Pfarrerblatt, Jahrgang 81, 1981, Heft 11, S. 506-514 erschienen ist und Folgerungen dieser Dissertation weiterführt, mache ich aufmerksam. Aarsleff, Hans, The Tradition of Condillac: The Problem of the Origin of Language in the Eighteenth Century and the Debate in Academy before Herder, in: Studies in the History of Linguistics, ed. by D. Hymes, London, 1974, 93-156. Adler, Emil, Herder und die deutsche Aufklärung, Ubersetzung aus dem Polnischen v. Irena Fischer, Wien, Frankfurt/M., Zürich 1968. - , Pantheismus - Humanität - Promethie. Ein Beitrag zur Humanitätsphilosophie Herders, in: Bückeburger Gespräche 1971, Bückeburg 1973, 77-90. - , Uber den Katalog von Johann Gottfried Herders handschriftlichem Nachlaß, in: Bückeburger Gespräche 1975, Rinteln 1976, 85-98. Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin, Schreiben vom 29. November 1979 an den Verfasser. Altwicker, Norbert, Spinoza. Tendenzen der Spinoza-Rezeption und -kritik, in: Texte zur Geschichte des Spinozismus 1971, 1-58. Arnold, Günter, Johann Gottfried Herder. Mit 65 Abbildungen, Leipzig 1979. Bahner, Werner, Zum ideologiegeschichtlichen Kontext von Herders Abhandlung „Uber den

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Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 3 Erich Roth · Geschichte des Gottesdienstes der Siebenbürger Sachsen 281 Seiten, kart.

6 Ingeborg Röbbelen - Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts X I I , 4 7 0 Seiten, Ln.

9 Martin Elze · Tatian und seine Theologie 137 Seiten, kart.

10 David Löfgren · Die Theologie der Schöpfung bei Luther 335 Seiten, brosch. und Ln.

11 Hellmut Lieberg · Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon 394 Seiten, brosch.

12 Bernhard Lohse · Mönchtum und Reformation Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters. 379 Seiten, brosch.

13 Ole Modalsli · Das Gericht nach den Werken Ein Beitrag zu Luthers Lehre v o m Gesetz. 2 4 6 Seiten, kart.

14 Günther Metzger · Gelebter Glaube Die Formierung reformatorischen Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung, dargestellt am Begriff des Affekts. 2 3 3 Seiten, brosch.

15 Adolf Martin Ritter · Das Konzil von Konstantinopel und sein Symbol 3 1 6 Seiten, brosch.

16 Ekkehard Mühlenberg · Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa 215 Seiten, brosch.

17 Kjell O. Nilsson · Simul Das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem in Luthers Theologie. 458 Seiten, brosch.

18 Friedrich Beißer · Ciaritas scripturae bei Martin Luther 199 Seiten, kart.

19 Hans Martin Barth Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers 222 Seiten, kart.

20 Matthias Kroeger · Rechtfertigung und Gesetz Studien zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre beim jungen Luther. 246 Seiten, kart.

Fortsetzung siehe nächste Seite

21 Helmut Roscher · Papst Innocenz III. und die Kreuzzüge 323 Seiten, kart.

22 Werner Affeldt · Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese Römer 13,1-7 in den Römerbriefkommentaren der lateinischen Kirche bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 317 Seiten, kart.

23 Ekkehard Mühlenberg - Apollinaris von Laodicea 257 Seiten, kart.

24 Oswald Bayer · Promissio Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie. 376 Seiten, kart.

25 Adolf Martin Ritter Charisma im Verständnis des Johannes Chrysostomos und seiner Zeit Ein Beitrag zur Erforschung der griechisch-orientalischen Ekklesiologie in der Frühzeit der Reichskirche. 232 Seiten, kart.

26 Martin Schloemann - Siegmund Jacob Baumgarten System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus. 302 Seiten, kart.

27 Johann Ch. Emmelius · Tendenzkritik und Formengeschichte Der Beitrag Franz Overbecks zur Auslegung der Apostelgeschichte im 19. Jahrhundert. 321 Seiten, kart.

28 Bernhard Brons · Gott und die Seienden Untersuchungen zum Verhältnis von neuplatonischer Metaphysik und christlicher Tradition bei Dionysius Areopagita. 346 Seiten, kart.

29 Henning Paulsen · Studien zur Theologie des Ignatius von Antiochien 226 Seiten, kart.

30 Hennig Graf Reventlow · Bibelautorität und Geist der Moderne D i e Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung. 716 Seiten, geb.

31 Rudolf Lorenz · Arius judaizans? Untersuchungen zur dogmengeschichtlichen Einordnung des Arius. 227 Seiten, kart.

32 J a n Badewien Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille 211 Seiten, kart.

Johann Gottfried Herder im Spiegel seiner Zeitgenossen Briefe und Selbstzeugnisse. H r s g . von L u t z Richter. 368 Seiten, 41 Abb., Ln.

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich