Als einer der bedeutendsten Spätromantiker und zugleich Wegbereiter der Moderne verbindet Gustav Mahler in seiner Sympho
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German Pages 311 [312] Year 2022
Table of contents :
Cover
Einleitung
Skizzierung des Themas
Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums
Analytischer Hauptteil
Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie
Zur Entstehung der Ersten Symphonie und zur Problematik der Programme
Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Ersten
Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Ersten
Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen
Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Zur Entstehung der Zweiten Symphonie und zur Problematik der Programme
Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Zweiten
Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Zweiten
Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen
Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Zur Entstehung der Dritten Symphonie und zur Problematik der Programme
Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Dritten
Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Dritten
Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
Generierung von tonalen und modalen Feldern
Bordunfelder
Orgelpunktfelder
Modale Felder
Ambivalente Felder
Kadenzen
Methoden der Kadenzmanipulation
Funktion von Kadenzen
Satzmodelle und Sequenzen
Verwendung von Satzmodellen und Sequenzen
Funktion von Satzmodellen und Sequenzen bei Mahler
Nicht kadenzielle syntaktische Verknüpfungen
Nicht kadenzielle Quintbeziehungen
Tonzentrale Verfahren
Kombinationen von nicht kadenziellen Quintbeziehungen und tonzentralen Verfahren
Parataktische Reihungen
Überblendungen
Überblendung mittels doppeldeutiger Septnonakkorde
Überblendung mittels antizipierender Auftakte
Zum Modulationsbegriff bei Mahler
Mahlers Achsentontechnik
Achsentonmelodische Verfahren im Dienste der Motiv- und Themenbildung
Achsentonmelodische Verfahren innerhalb von Feldern
Achsentonharmonische Verfahren
Interaktion von Achsentonmelodik und -harmonik im Kopfsatz der Dritten
Aufbau und Konzeption einer makrologischen harmonischen Stufe
Schlussüberlegungen und Ausblick
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Erläuterungen zu den Notengraphiken
Erläuterungen zu den Übersichten über die Architektur der Kopfsätze
Verwendete Ausgaben
Werke von Gustav Mahler
Werke von Ludwig van Beethoven
Werke von Anton Bruckner
Werke von Franz Schubert
Werke von Richard Wagner
Werke von Johannes Brahms
Sonstige
Literaturverzeichnis
Danksagung
Als einer der bedeutendsten Spätromantiker und zugleich Wegbereiter der Moderne verbindet Gustav Mahler in seiner Symphonik eine Vielzahl unterschiedlichster Charaktere und Stilmerkmale. Angesichts der äußerlichen Heterogenität der musikalischen Mittel lautet eine verbreitete These, dass sich seine Kompositionsweise gegen Systematisierung sperre, dass seiner Musik allenfalls »mikrologisch« beizukommen sei. Michael Jakumeit vertritt in der vorliegenden Arbeit die entgegengesetzte Position. Ausgehend von einem Diktum Theodor W. Adornos nimmt er eine »makrologische« Perspektive ein. Er bescheidet sich nicht mit der Betrachtung von Einzelfällen, sondern bezieht jedes Detail in dialektischer Bewegung auf das Ganze. Mithilfe minutiöser Detailanalyse mit einem umsichtig kalibrierten analytischen Instrumentarium gelingt es ihm, allgemeine kompositorische Strategien Mahlers herauszuarbeiten und zu systematisieren. Denn wenn Mahler vom »Aufbau einer Welt« mit musikalischen Mitteln spricht, zielt er nicht allein auf Vielgestaltigkeit, sondern auch auf konstruktive Kohärenz. Als Untersuchungsgegenstand wählt Jakumeit mit gutem Grund die Kopfsätze der ersten drei Symphonien, denn der Kopfsatz der Dritten Symphonie markiert, selbst im Kontext von Mahlers eigenem Schaffen, einen Höhepunkt an epischer Breite. Es handelt sich um ein Gebilde, welches nur wahrhaft makrologisches Denken zu schaffen vermag. ISBN 978-3-487-16087-0
MICHAEL JA KUMEIT — V OM AUFB AU EI NER W ELT
S CHRI F T E N D E R M U S I K H O C H S C H UL E L ÜB E C K Musiktheorie – Musikwissenschaft – Komposition Band 3 herausgegeben von Oliver Korte
MICHAEL JAKUMEIT VOM AUFBAU EINER WELT
Untersuchungen zur makrologischen Harmonik in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien von Gustav Mahler
O LM S
9 783487 7 7 160870 1 www.olms.de
https://doi.org/10.5771/9783487424958 MHL_Schriftenreihe_Umschlag_220120_RZ.indd 1
20.01.22 15:09
Michael Jakumeit Vom Aufbau einer Welt
https://doi.org/10.5771/9783487424958
Schriften der Musikhochschule Lübeck
Herausgegeben von Oliver Korte
Band 3 Michael Jakumeit Vom Aufbau einer Welt
Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2022
https://doi.org/10.5771/9783487424958
Michael Jakumeit
Vom Aufbau einer Welt Untersuchungen zur makrologischen Harmonik in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien von Gustav Mahler
Georg Olms Verlag Hildesheim · Zürich · New York 2022
https://doi.org/10.5771/9783487424958
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. d- nb. de abrufbar.
© Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2022 www.olms.de Umschlagabbildung: Gustav Mahler, Symphonie Nr. 3, Autograph, 1896, S. [17d]. Mit freundlicher Genehmigung durch The Morgan Library & Museum, New York. Umschlaggestaltung: Karen Zeiger Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-487-31192-0
https://doi.org/10.5771/9783487424958
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skizzierung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Analytischer Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Entstehung der Ersten Symphonie und zur Problematik der Programme Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Ersten . . . . . . . . . . . Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Ersten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen . . . . . Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Entstehung der Zweiten Symphonie und zur Problematik der Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Zweiten . . . . . . . . . . Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Zweiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen . . . . . Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Entstehung der Dritten Symphonie und zur Problematik der Programme Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Dritten . . . . . . . . . . . Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen . . . . .
247 257
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . Generierung von tonalen und modalen Feldern . . . . . . . Bordunfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orgelpunktfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modale Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ambivalente Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kadenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Kadenzmanipulation . . . . . . . . . . . . . Funktion von Kadenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Satzmodelle und Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung von Satzmodellen und Sequenzen . . . . . Funktion von Satzmodellen und Sequenzen bei Mahler
262 262 262 264 268 271 272 272 275 278 278 283
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26 26 26 29 72 80 83 83 86 139 148 151 151 159
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Inhaltsverzeichnis Nicht kadenzielle syntaktische Verknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht kadenzielle Quintbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tonzentrale Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kombinationen von nicht kadenziellen Quintbeziehungen und tonzentralen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parataktische Reihungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblendung mittels doppeldeutiger Septnonakkorde . . . . . . . . . Überblendung mittels antizipierender Auftakte . . . . . . . . . . . . . . . Zum Modulationsbegriff bei Mahler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mahlers Achsentontechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achsentonmelodische Verfahren im Dienste der Motiv- und Themenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Achsentonmelodische Verfahren innerhalb von Feldern . . . . . . . . Achsentonharmonische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion von Achsentonmelodik und -harmonik im Kopfsatz der Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Konzeption einer makrologischen harmonischen Stufe . . .
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285 286 286 287 287 289 290
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Schlussüberlegungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zu den Notengraphiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterungen zu den Übersichten über die Architektur der Kopfsätze Verwendete Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke von Gustav Mahler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke von Ludwig van Beethoven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke von Anton Bruckner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke von Franz Schubert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke von Richard Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werke von Johannes Brahms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
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Einleitung
Skizzierung des Themas „Monstrum“ – so bezeichnete Gustav Mahler seine Dritte Symphonie in einem Brief, den er im Sommer 1902 an Josef Krug-Waldensee anlässlich einer Aufführung des Werkes durch die städtische Kapelle Magdeburg richtete. 1 Als monströs erweist sich Mahlers Dritte nicht nur hinsichtlich der vom Komponisten verlangten Besetzung, sondern vor allem aufgrund ihrer zeitlichen Ausmaße. Herausragend ist dabei der Kopfsatz, der mit einer Spieldauer von etwa dreißig Minuten bereits ein Drittel des gesamten Werkes ausmacht. 2 Die Symphonik Mahlers weist im Allgemeinen epische Dimensionen auf. Ferner hat seine musikalische Sprache einen erzählerischen Duktus, der den Vergleich mit einem Roman gestattet. 3 Das „episch-romanhafte Moment“ 4 äußert sich zunächst einmal in Mahlers Umgang mit motivisch-thematischem Material, das der Komponist mit Hilfe seiner „Variantentechnik“ immer wieder aufs Neue umformt und in ein anderes Licht rückt, ohne es dabei allzu stark zu verfremden. 5 Insbesondere spiegelt es sich jedoch in der signifikanten harmonischen Großflächigkeit wider, die Theodor W. Adorno als „makrologische Harmonik“ 6 bezeichnet und die für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist. Als unabdingbare Voraussetzung für Mahlers makrologische Harmonik sind eine „Attitüde der Muße“ 7, ja ein „Duktus des Ausschweifens“ 8 zu nennen. Hierbei handelt es sich um nichts weniger als einen Gegenwurf zum 1
Vgl. Blaukopf, Herta (Hg.), Gustav Mahler Briefe (Wien 1982), Neuausgabe, zweite, nochmals revidierte Auflage 1996, Wien: Zsolnay 1996, S. 297 f. (= GMB). 2 Vgl. Sponheuer, Bernd, Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mahlers, Tutzing 1978, S. 135. 3 Vgl. Adorno, Theodor W., Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960, S. 85 ff. 4 Ebd., S. 116. 5 Vgl. ebd., S. 117. 6 Ebd., S. 42. 7 Lichtenfeld, Monika, Zur Klangflächentechnik bei Mahler, in: Mahler – eine Herausforderung. Ein Symposion, hrsg. v. Peter Ruzicka, Wiesbaden 1977, S. 123. 8 Ebd.
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Einleitung „Beethovenisch-Brahmsischen Ökonomieprinzip“ 9, denn es wird – im Hinblick auf die Gesamtarchitektur eines Satzes – auf das vorwärts drängende, prozesshaft entwickelnde und zielgerichtete Moment weitgehend verzichtet. 10 Abschnittsweise entwickelt Mahlers Musik wiederum eine ausgesprochen vorwärtsdrängende Kraft, deutlich mehr als bspw. die von Johannes Brahms; die Frage des Prozesshaften ist da eine andere. Ein Novum stellen harmonisch großflächige Verfahren allerdings nicht dar. Als mögliche Vorbilder und Anknüpfungspunkte für Mahler sind vor allem die ausgedehnten orchestralen Vorspiele in einigen der Musikdramen Richard Wagners, wie bspw. Lohengrin oder Siegfried, zu nennen. 11 Die technische Umsetzung der großflächigen Harmonik erfolgt vermittels sog. „Felder“, wozu die traditionellen Orgelpunkt- und die Bordunfelder zählen. Sowohl der Begriff des Feldes als auch die Termini Orgelpunkt und Bordun werden später detailliert besprochen und kritisch diskutiert. Die Musik Gustav Mahlers zeichnet sich durch eine Vielzahl unterschiedlichster „Charaktere“ aus. Der Terminus Charakter wird in der Mahlerforschung auf zwei unterschiedliche Weisen definiert: im Sinne von Theodor W. Adorno und im Sinne von Constantin Floros. Für Adorno repräsentieren Charaktere bei Mahler zentrale Formkategorien, auf deren Basis dieser eine „materiale Formenlehre“ entwickelt hat, die einer „akademischen“ gegenübersteht. 12 Im Vergleich zu traditionellen Formenlehren wird nicht versucht, Formabschnitte mit „abstrakt-klassifikatorischen Einteilungen“ 13 zu beschreiben, sondern sie selbst als „Charaktere“ 14 zu definieren und zu begreifen. 15 Als zentrale Formkategorien benennt Adorno „Durchbruch, Suspension und Erfüllung“ 16: Durchbrüche können mit dem Begriff der Peripetie beschrieben werden, Suspensionen repräsentieren „Episoden senza tempo“ und Erfüllungen gleichen „Abgesängen“. 17 Constantin Floros definiert Charaktere hingegen als „Satztypen und Genres mit hervortretenden Stilmerkmalen und Ausdrucksvaleurs“ 18, zu denen u. a. Choräle, Märsche und Tänze gezählt werden können. Zusätzlich zu den beschriebenen Charakteren finden sich bei Mahler „Klanggestalten, die noch nicht den Stempel kompositorischer Subjektivität
9
Adorno, Physiognomik, S. 118. Vgl. Lichtenfeld, Klangflächentechnik, S. 123. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 64 f. 13 Ebd., S. 65. 14 Ebd., S. 66. 15 Es sei darauf hingewiesen, dass nahezu alle dieser Bezeichnungen bereits von Paul Bekker verwendet worden sind. 16 Adorno, Physiognomik, S. 60. 17 Vgl. ebd. Ferner findet sich die „Kategorie des Einsturzes“ (ebd., S. 66). 18 Floros, Constantin, Gustav Mahler II. Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts in neuer Deutung. Zur Grundlegung einer zeitgemäßen musikalischen Exegetik (Wiesbaden 1977), 2. Auflage, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1987, S. 108 (= Floros II). 10
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Skizzierung des Themas tragen“ 19. Bei diesen handelt es sich um „Vokabeln“ im Sinne Hans Heinrich Eggebrechts, die er wie folgt definiert: Unter musikalischen Vokabeln verstehe ich musikalische Gebilde innerhalb der komponierten Musik, die an vorkompositorisch geformte Materialien anknüpfen. Bei diesem vorfindlichen, kompositorisch präexistenten Stoff, dem Rohstoff für die Bildung von Vokabeln, handelt es sich um typische, durch Gebrauch, Funktion und Tradition genormte Wendungen innerhalb der musikalischen Gebrauchs-, Umgangs- oder Alltagssprache sowie um zum Typus verfestigte oder einem Idiom zugehörige Ausdrucksweisen in der tradierten musikalischen Kunstsprache[.] 20
Die Heterogenität der Musik Mahlers spiegelt sich jedoch nicht nur in der stilistischen Bandbreite und der thematischen Vielfalt, sondern im Tonsatz selbst wider. Dieser weist ein zum Teil starkes Gefälle auf: milde Konsonanzen können abrupt umschlagen in ein „Klima der absoluten Dissonanz“ 21; dementsprechend unterschiedlich fällt auch die Rezeption der Harmonik Mahlers sowohl zu seiner Zeit als auch danach aus. 22 Mahlers Musik ist durch und durch tonal geprägt und zeichnet sich dabei gemessen an anderen zeitgenössischen spätromantischen Komponisten durch eine „verspätete[. . . ] Harmlosigkeit des Materials“ 23 aus. 24 Das Bemerkenswerte daran ist, dass es dem Komponisten gelingt, die Tonalität am fin de siècle noch einmal „zum Glühen“ zu bringen, 25 indem er „das Gleichgewicht der tonalen Sprache“ 26 stört. Dies stellt gleichzeitig ein weiteres zentrales Charakteristikum der Musik Mahlers dar. Neben der bereits mehrfach zitierten Mahler-Monographie Adornos existieren noch weitere detaillierte kompositionstechnische Untersuchungen. Hervorzuheben sind die Arbeit zur Zweiten Symphonie von Rudolf Stephan, 27 die Untersuchung der Dritten von Friedhelm Krummacher 28 und die 2011 erschienenen, von Peter Revers und Oliver 19
Sponheuer, Logik, S. 55. Vgl. Eggebrecht, Hans Heinrich, Die Musik Gustav Mahlers (Wilhelmshaven 1999), Neuausgabe 2003, Wilhelmshaven: Noetzel 2003, S. 67. 21 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 74. 22 Vgl. Fürbeth, Oliver, Ton und Struktur. Das Problem der Harmonik bei Gustav Mahler, Frankfurt a. M.: Lang 1999 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 36, Musikwissenschaft, Band 17), S. 12. 23 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 30. 24 Oliver Fürbeth stellt zutreffend fest, dass es Komponisten wie Schreker, Reger oder Pfitzner trotz eines avancierteren Materials kaum gelingt, derartige frappante Wirkungen zu erzielen (vgl. Fürbeth, Ton und Struktur, S. 11 f.). 25 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 32. 26 Ebd., S. 33. 27 Stephan, Rudolf, Gustav Mahler. II. Symphonie c-moll (= Meisterwerke der Musik, Heft 21), München 1979. 28 Krummacher, Friedhelm, Gustav Mahlers III. Symphonie. Welt im Widerbild, Kassel u. a.: Bärenreiter 1991. 20
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Einleitung Korte herausgegebenen zweibändigen „Mahler-Interpretationen“, 29 die sich dem Gesamtwerk des Komponisten widmen. Dennoch muss konstatiert werden, dass kompositionstechnische Untersuchungen innerhalb der Mahlerforschung immer noch ein Randdasein fristen. Nur zwei Untersuchungen widmen sich beispielsweise schwerpunktmäßig der Harmonik: die 1937 erschienene Dissertation von Hans Tischler 30 und die bereits zitierte Dissertation von Oliver Fürbeth aus dem Jahre 1999. In der Gesamtschau lässt sich feststellen, dass in der bisherigen Mahlerforschung zur Kompositionstechnik oftmals nur Teilaspekte beleuchtet bzw. Momentaufnahmen abgebildet wurden. 31 Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ein allgemeiner Konsens darüber zu herrschen scheint, dass sich die Kompositionstechniken Mahlers aufgrund der soeben beschriebenen Vielfältigkeit und ihrer Komplexität einer Systematisierung entziehen, wobei insbesondere die Unvereinbarkeit von Konvention und Neuem beklagt wird. 32 In der Tat muss es gelingen, das beziehungsreiche Wechselspiel von Konvention und Neuem zu entschlüsseln. Jedoch scheinen weniger die Quantität, Diversität und Heterogenität des Materials, sondern vielmehr die Insuffizienz der methodischen Vorgehensweise für das weitgehende Fehlen einer Systematisierung kompositorischer Strategien Mahlers verantwortlich zu sein. Es ist also eine die bisherigen Ansätze und sämtliche musikalische Parameter berücksichtigende Untersuchung notwendig, die eine Systematisierung der kompositionstechnischen Strategien Mahlers ermöglicht. Dabei wird deutlich werden, dass Mahlers kompositorische Sprache in gewissen Hinsichten sogar sehr homogen ist. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Prinzipien der musikalischen Sprache Gustav Mahlers in den frühen Symphonien herauszuarbeiten. Konkret bilden dabei die Kopfsätze der ersten drei Symphonien den Untersuchungsgegenstand. Dieser Schwerpunkt steht dabei nicht in Widerspruch zum oben formulierten ganzheitlichen Anspruch, da, wie zu zeigen sein wird, die kompositorischen Strategien sowohl satz- als auch werkübergreifend Geltung besitzen, und dies sogar bis zur Zehnten Symphonie. Von besonderem Interesse sind Mahlers Ausgestaltung der makrologischen Harmonik und die damit verbundene tonale Architektur der betreffenden Kopfsätze. Die tonale Architektur gilt es schließlich vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund zu interpretieren. Dem Autor ist bewusst, dass die Vielzahl und Dichte der ‚Datensätze‘ bzw. recherchierten Ergebnisse eine Herausforderung für die Leserschaft darstellen. Der nach wie vor verbreiteten Annahme, dass Mahlers kompositorische Sprache allenfalls als eine Reihe von Einzelfällen zu analysieren und zu deuten sei, ist jedoch nur mit einer flächendeckenden Untersuchung zu begegnen. Erst vor dem Hintergrund einer tatsächlich alle harmonischen Details einer Reihe von Sätzen berücksichtigenden
29
Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011. 30 Tischler, Hans, Die Harmonik in den Werken Gustav Mahlers, Wien 1937. 31 Dies zeigt sich u. a. im „mikrologischen Ansatz“ Oliver Fürbeths, der nur eine stichprobenartige Untersuchung ermöglicht (vgl. Fürbeth, Ton und Struktur, S. 25). 32 Vgl. Fürbeth, Oliver, Ton und Struktur, S. 13.
10
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums Analyse lassen sich allgemeine Charakteristika Mahler’schen Komponierens verbindlich herausarbeiten, und nur so lässt sich die Behauptung eines notwendig mikrologischen Ansatzes seriös entkräften.
Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums Die Mahlerforschung operiert – wie auch diese Arbeit – mit analytischen Verfahren und Begriffen, die der Untersuchung der tonalen Musiksprache des 18. und 19. Jahrhunderts im Allgemeinen dienen. Ihr Geltungsbereich ist enorm. Um die Nuancen der Kompositionstechniken Mahlers herausarbeiten zu können, erweist sich eine sehr klare terminologische Bestimmung als absolut notwendig. Hand in Hand gehen dabei eine Betrachtung der Terminologie im Allgemeinen und eine Betrachtung ihrer Verwendung innerhalb der Mahlerforschung. Insbesondere gilt es, die gesamte Nomenklatur im konkreten musikalischen Kontext hinsichtlich ihrer Tauglichkeit und Adäquatheit kritisch zu hinterfragen, gegebenenfalls anzupassen und zu erweitern. Aus der Begriffsbestimmung resultiert schließlich die Wahl des analytischen Instrumentariums. Daran wird sich zeigen, wie sensibel Begriffsdefinition und Instrumentenwahl aufeinander reagieren und dass bei der Musik Mahlers besonderes Fingerspitzengefühl gefragt ist. Die Diskussion der Terminologie und die daran geknüpfte Darlegung des analytischen Instrumentariums folgen insgesamt einem übergeordneten hierarchischen Aufbau, und zwar ‚vom Kleinen ins Große‘, wobei allerdings eine vorläufige Bestimmung des komplexen Tonalitätsbegriffs den Ausgangspunkt bildet. Daran schließt sich eine terminologische Klärung an, die von tendenziell ‚kleineren‘ musikalischen Phänomenen, wie der Kadenz, hin zu ‚größeren‘, wie den tonalen und modalen Feldern, fortschreitet. Dies führt schließlich zum Kern der vorliegenden Arbeit, der Analyse der großflächigen harmonischen Architektur der Kopfsätze der ersten drei Symphonien Mahlers. Der klare hierarchische Aufbau soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sämtliche Punkte äußerst eng miteinander verwoben sind und einander größtenteils bedingen. Wie bereits beschrieben wurde, zeichnet sich Mahlers Musik in bestimmten Aspekten durch eine besondere Heterogenität aus. Daher liegt es grundsätzlich nahe, ihr mit einer ähnlich breit angelegten methodischen Palette zu begegnen. Dies soll mit einem „besonnenen Eklektizismus der theoretischen Ansätze“ 33 im Sinne von Carl Dahlhaus erfolgen. Dabei ist es notwendig, sich genauestens Rechenschaft über die
33
Dahlhaus, Carl, „Tristan“-Harmonik und Tonalität, in: Melos / Neue Zeitschrift für Musik 03/1978, S. 215 ff. Dahlhaus’ Eruierungen können problemlos auf die Materie Gustav Mahler transferiert werden.
11
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Einleitung „Aussagekraft eines theoretischen Systems“ 34 abzulegen, die „in der Begrenzung seines eigenen Anspruchs“ 35 deutlich wird. Erst durch die Betrachtung von Mahlers Musik aus verschiedenen Perspektiven wird es möglich, ihren Facettenreichtum analytisch zu fassen. Vor allem jedoch kann einem dogmatischen Umgang mit Analysewerkzeugen, wie er selbst in jüngster Mahlerforschung noch vorzufinden ist, 36 vorgebeugt werden. Daher wird es auch als notwendig erachtet, bei der Untersuchung auf einer elementaren Materialebene anzusetzen.
Zum Tonalitätsbegriff Eingangs muss konstatiert werden, dass es sich beim Tonalitätsbegriff um ein unüberschaubares terminologisches Feld handelt und dass „es vergeblich sein dürfte, eine Norm des Wortgebrauchs festsetzen zu wollen“ 37. Da der komplexe Tonalitätsbegriff die Basis für nahezu alle weiteren Eruierungen repräsentiert, ist es dennoch unabdingbar, sich einer Diskussion über einen adäquaten Tonalitätsbegriff für Mahler zu stellen. Diese vorläufige Begriffsbestimmung wird innerhalb des analytischen Hauptteils Verwendung finden und sich dabei an der Analyse mehr und mehr schärfen, so dass am Ende der vorliegenden Arbeit ein klareres Bild gezeichnet werden kann, wie Mahlers Musik in das große Feld Tonalität einzuordnen ist. In seiner bereits 1960 erschienenen und höchst einflussreichen Mahler-Monographie stellt Theodor W. Adorno fest, dass die Tonalität in ihrer Gesamtheit als Darstellungsmittel bei Mahler fungiert. 38 Eine Reaktion seitens der Mahlerforschung, den Tonalitätsbegriff bei Mahler entsprechend weit zu fassen, ist bislang jedoch weitgehend ausgeblieben, was an den beiden Tendenzen hinsichtlich des Gebrauchs des Tonalitätsbegriffs deutlich wird: Er wird als ein selbstverständlicher vorausgesetzt, bleibt demzufolge undefiniert und somit unscharf, oder er wird auf den der harmonischen Tonalität verengt. 39
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Kühn, Clemens, Musiktheorie unterrichten – Musik vermitteln: Erfahrungen – Ideen – Methoden. Ein Handbuch, Kassel 2006, S. 86. 35 Ebd. 36 Als Beispiel kann die Dissertation von Oliver Fürbeth, der für seine Untersuchung der Harmonik Mahlers beinahe ausschließlich die Funktionstheorie als analytisches Werkzeug verwendet, angeführt werden. 37 Dahlhaus, Carl, Tonalität, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Band 9, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a.: Bärenreiter / Metzler 1998, Sp. 623. 38 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 40. 39 Die Unumstößlichkeit und Selbstverständlichkeit des harmonischen Tonalitätsbegriffs innerhalb der Mahlerforschung lässt das folgende Zitat von Oliver Fürbeth, der stellvertretend für viele andere Mahlerforscher genannt werden kann, deutlich werden: „Daß die Harmonik die zentrale Dimension der Musik der harmonischen Tonalität ist, mithin deren ‚Ton‘
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums Zur harmonischen Tonalität Unter harmonischer Tonalität wird die Ausprägung einer Tonart mit Hilfe von Akkorden, die in funktionaler Abhängigkeit zueinander stehen und als gemeinsames Bezugszentrum die Tonika aufweisen, verstanden. 40 Im Allgemeinen kann von der „Zentrierung um eine Tonika“ 41 gesprochen werden. Im deutschsprachigen Raum findet als analytisches Werkzeug größtenteils die auf Hugo Riemann zurückgehende Funktionstheorie Verwendung, 42 deren analytische Aussagekraft vor Augen geführt werden soll. Mit ihr können „feine Deutungen harmonischer Verwandtschaften, Beziehungen, Gewichtungen, durchschrittener Wege und tonaler Räume“ 43 vorgenommen werden. Zweifellos existieren bei Mahler in diesem Sinne tonale Abschnitte und auch weiterhin soll hierbei die Funktionstheorie als Instrument zum Einsatz kommen. Ein einseitiger Schwerpunkt auf die harmonische Komponente im Allgemeinen bzw. auf das Analysewerkzeug Funktionstheorie ist im Mahlerkontext allerdings in mehrfacher Hinsicht prekär: 44 Offen zu Tage treten analytische Unzulänglichkeiten bei der ausgeprägten polyphonen Anlage der Musik Mahlers, da lineare Prozesse von der Funktionstheorie nur unzureichend erfasst und abgebildet werden können. Um der Komplexität der linearpolyphonen Technik Mahlers analytisch gerecht werden zu können, muss zusätzlich
steuert, ist eine Tatsache, die nicht einfach nur im Begriff der harmonischen Tonalität selbst liegt, sondern die vielmehr im Laufe des 19. Jahrhunderts auch überdeutlich in den Vordergrund tritt“ (Fürbeth, Ton und Struktur, S. 11). 40 Vgl. Dahlhaus, Carl, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität (Kassel 1967), 2., unveränd. Aufl., Kassel 1988, S. 18. 41 Ebd. 42 Riemanns Grundidee besteht darin, harmonische Prozesse auf die drei Funktionen Tonika, Dominante und Subdominante zurückzuführen, um die Harmonisierung vorgegebener Melodien zu erleichtern (vgl. Riemann, Hugo, Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre, 8. Auflage, Berlin: Hesse 1920, S. 19–21). Hierzu sei angemerkt, dass die 1. Auflage unter dem Titel Katechismus der Harmonielehre (1889) erschienen ist. Die 2.–4. Auflage trägt den Titel Katechismus der Harmonie- und Modulationslehre. Ab der 5. Auflage lautet der Titel dann Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre. Explizit von „Funktionsbezeichnungen“ spricht Riemann im „Vorwort der zweiten Auflage“. Ein kompakter historischer Abriss über die Weiterentwicklung der Funktionstheorie, vor allem durch Hermann Grabner und Wilhelm Maler, findet sich bei Reinhard Amon (vgl. Amon, Reinhard: Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren für Funktionen, Stufen und Jazzakkorde, Wien: Doblinger / Metzler 2005, S. 268 ff.). 43 Kühn, Musiktheorie unterrichten, S. 67. 44 Die Dissertation von Oliver Fürbeth, die sich schwerpunktmäßig mit dem „Problem der Harmonik bei Gustav Mahler“ auseinandersetzt, muss als verwandte Arbeit zweifellos berücksichtigt werden. Jedoch distanziere ich mich sowohl vom dogmatischen Umgang mit seinem analytischen Werkzeug, der Funktionstheorie, als auch vom eingeschlagenen methodischen Ansatz Fürbeths, den er als „mikrologisch“ bezeichnet und mit dem lediglich eine stichprobenartige Untersuchung möglich ist.
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Einleitung aus der Untersuchung von harmonischen und melodischen Wechselwirkungen heraus versucht werden, einen adäquaten Kontrapunktbegriff für Mahler zu erarbeiten. An dieser Stelle soll der in engem Zusammenhang zur harmonischen Tonalität stehende Kadenzbegriff erörtert und mit in die Diskussion einbezogen werden. Zum Kadenzbegriff In der vorliegenden Arbeit soll unter dem vieldeutigen Terminus Kadenz ein funktionales „Beziehungsmuster von Klängen“ 45 verstanden werden. Im Allgemeinen fallen darunter also Progressionen, die auf den drei Hauptfunktionen Tonika, Subdominante und Dominante samt charakteristischen Dissonanzen basieren. 46 Zu berücksichtigen gilt es außerdem, dass mit Kadenzen stets eine mehr oder weniger starke Schlusswirkung erzielt wird. 47 Die Zäsuren, die mit diesen Schlusswendungen einhergehen, strukturieren den Verlauf eines Stückes, womit der Kadenz traditionell die zentrale Aufgabe der Formbildung zukommt. 48 Eine weitere besteht darin, dass sie eine Tonart eindeutig artikuliert. 49 Eine Definition der Kadenz als harmonischer Vorgang schließt allerdings keineswegs eine stimmführungstechnische Betrachtung aus. Eine solche ist sogar essenziell für das Verständnis der Kadenzbehandlung Mahlers. Es wird zu zeigen sein, dass in die Mechanik von Kadenzen eingegriffen und der Großteil der Kadenzen manipuliert wird. Nicht zuletzt übt die Kadenz die größtmögliche syntaktische Wirkung im musikalischen Umfeld aus. Dies ist insofern relevant, als sie als Orientierungspunkt für eine Fülle von Wendungen mit unterschiedlichen Stärkegraden syntaktischer Verknüpfung fungiert. Nun soll noch einmal die Tauglichkeit der Funktionstheorie als analytisches Werkzeug im Mahlerkontext hinterfragt werden. Wie soeben erwähnt wurde, eignet sich die Funktionstheorie hervorragend bei kadenziell geprägten Passagen. Allerdings repräsentieren solche keineswegs den quantitativen Hauptanteil von Mahlers Musik. Im Gegenteil, sie treten insgesamt eher selten auf, 50 was zur Folge hat, dass sich ein exklusiver Einsatz des analytischen Werkzeugs Funktionstheorie von selbst verbietet. Zudem – und das ist ein enorm wichtiger Aspekt – muss einer voreiligen Interpretation der Kadenz als ‚normaler‘ Wendung vorgebeugt werden, da es Mahler gelingt, dem
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Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 132. Dazu zählen insbesondere der Dominantseptakkord und die Subdominante mit sixte ajoutée. Zusätzlich zu berücksichtigen sind selbstverständlich die Nebenfunktionen sowie Zwischendominanten. 47 Hindemith, Paul: Unterweisung im Tonsatz I. Theoretischer Teil (Mainz 1937), Neue, erweiterte Ausgabe, Mainz: Schott 1940, S. 168. 48 Vgl. La Motte, Diether de, Harmonielehre (Kassel 1976), 12. Auflage, Kassel: Bärenreiter 2001, S. 140 ff. 49 Vgl. Schönberg, Arnold, Harmonielehre (Wien 1911), 3., vermehrte und verbesserte Auflage, Wien: Universal Edition 1922, S. 179. 50 Vgl. Tischler, Die Harmonik in den Werken Gustav Mahlers, S. 61. 46
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums zu seiner Zeit vermeintlich verschlissenen tradierten Mittel neue Seiten abzugewinnen und mit ihr bemerkenswerte Wirkungen zu erzielen. Präzise ausgedrückt: Eine reine Chiffrierung mit Funktionssymbolen ist in den allermeisten Fällen nicht ausreichend und bedarf ergänzender Erklärung. Dabei wird die Frage sowohl nach der formalen und dramaturgischen Platzierung als auch nach der Funktion von Kadenzen im musikalischen Kontext aufgeworfen, und inwieweit sie dabei noch in einem traditionellen Sinn verwendet werden. Nachdem die harmonische Seite 51 des Terminus Tonalität beleuchtet wurde, soll sich nun der melodischen zugewandt werden. Zur Modalität Modalität, die auch als melodische Tonalität bezeichnet wird, stellt das Gegenstück zur harmonischen Tonalität dar. 52 Während die harmonische Tonalität auf einem System von Akkordbeziehungen beruht, in dem sämtliche Bestandteile in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander stehen, setzt sich Modalität aus tendenziell voneinander unabhängigen Bausteinen zu einem Komplex zusammen. Als wichtigstes Merkmal ist die Diatonik, der „Inbegriff sämtlicher Modi“ 53, zu nennen. Dabei zeichnen sich Modi nicht durch Akkordbeziehungen, sondern durch „Gebilde melodischer Art“ 54 aus. Nicht zuletzt haftet Modalität im Allgemeinen ein „Moment des Vagen, [ein] Rest an Unbestimmtheit“ 55 an, was sie weniger greifbar macht als die harmonische Tonalität. Selbstredend muss dieser an der Musik des 15./16. Jahrhunderts entwickelte Modusbegriff dem Mahlerkontext angepasst werden. Insbesondere stellt sich dabei die Frage nach der Art und Weise der Ausprägung einer Tonart bzw. eines Modus. Doch zuvor soll die Notwendigkeit eines adäquaten Modalitätsbegriffs erläutert werden. Wie bereits dargelegt worden ist, dominiert in der Mahlerforschung ein harmonischer Tonalitätsbegriff. Modale Gesichtspunkte sind dem gegenüber unterrepräsentiert. Das vermeintliche Übergewicht von dur-moll-tonalen Anteilen in Mahlers Musik ergibt sich aus einer eingeschränkten Perspektive der Forschung. Die Musik Mahlers ist, wie zu zeigen sein wird, maßgeblich von modalen Strukturen und Elementen geprägt. Umso virulenter ist es, eine Antwort auf die Frage nach einem adäquaten Begriff von Modalität bei Mahler zu finden, der sowohl eine grundlegende
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Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Bezeichnungen „harmonische Tonalität“, „Dur-Moll-Tonalität“ und „funktionale Tonalität“ in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet werden. 52 Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 17. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass damit nicht die auf distanzieller Oktavteilung beruhenden „Modi mit begrenzten Transpositionsmöglichkeiten“ im Sinne von Olivier Messiaen gemeint sind. 53 Ebd., S. 210. 54 Meier, Bernhard, Alte Tonarten: dargestellt an der Instrumentalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts (Kassel 1992), 4. Auflage, Kassel: Bärenreiter 2005, S. 14. 55 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 192.
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Einleitung Systematisierung modaler Aspekte als auch darüber hinaus eine Zusammenschau von dur-moll-tonalen und modalen Komponenten ermöglicht. Nicht zuletzt geht es darum, fundierte Aussagen über deren quantitatives und qualitatives Verhältnis zueinander und über mögliche Wechselwirkungen treffen zu können. Sicherlich lassen sich auch bei anderen Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts modale Tendenzen nachweisen. 56 Allerdings ist bei Mahler über die Verwendung von Modi als Materialskalen hinaus insgesamt eine „modale Denkweise“ 57 erkennbar. Sie zeigt sich vor allem darin, dass eine Tonart „nicht durch Akkorde, geschweige denn durch kadenzielle Folgen erstellt und befestigt [wird], sondern nur durch die Tonauswahl gegeben [ist.]“ 58 Der diatonische Kern schließt dabei chromatische Färbungen keineswegs aus. Zu klären gilt es, wie es Mahler gelingt, ohne kadenzielle Bestätigung der Tonart einen Grundtonbezug herzustellen. Da es sich hierbei um ein komplexes Ineinandergreifen mehrerer Faktoren handelt, bedarf es erst einer eingehenden Analyse. An dieser Stelle sei jedoch bereits gesagt, dass der Grundtonbezug primär durch melodische Mechanismen gewährleistet wird. Dabei spielen die Intervalle der reinen Quarte und der reinen Quinte eine Schlüsselrolle. Mithilfe ihrer „Grundtonkraft“ 59 steuert Mahler die Grundtonwahrnehmung des Hörers. 60 Vorgreifend sei bereits hier angemerkt, dass Mahler modale Skalen nicht nur in linearer Hinsicht verwendet, sondern auch ihr harmonisches Potential ausschöpft. Zur analytischen Darstellung modal-diatonisch geprägter Passagen In einem modal-diatonischen Kontext wird „die Position in der Skala – nicht die in der Tonart – zum primären Bestimmungsmoment einer Tonstufe“ 61. Um vor allem diesem skalaren Fokus gerecht werden zu können und zu Gunsten einer Differenzierung von funktionalen Passagen soll zur analytischen Darstellung für solche modaler Prägung eine Stufensymbolschrift (falls notwendig nebst Generalbassbezifferung) verwendet werden; ergänzend treten Akkordbezeichnungen hinzu. Damit sollen mögliche wiederkehrende modale und nicht kadenzielle Muster erfasst und schließlich systematisiert werden. 62 56
Modale Tendenzen lassen sich exemplarisch bei Claude Debussy, Maurice Ravel und Igor Stravinsky nachweisen. 57 Korte, Oliver, Bordun und Parallelensatz. Zur Artikulation tonaler Felder bei Gustav Mahler, in: Das klagende Lied: Mahlers „Opus 1“ – Synthese, Innovation, kompositorische Rezeption, hrsg. v. Elisabeth Kappel, Wien 2013, S. 185. 58 Tibbe, Monika, Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniesätzen Gustav Mahlers, hrsg. von Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan, München 1971, (Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 42. 59 Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, S. 216 f. 60 Beim Intervall der Quarte wird der obere Ton als Grundton wahrgenommen, beim Intervall der Quinte ist es der untere (vgl. Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, S. 90 f.). 61 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 210. 62 Eine Anlehnung an eine bestimmte Stufenlehre erfolgt aus dem Grund ausdrücklich nicht, da sich der ‚funktionale Systemgedanke‘ dort ebenfalls sedimentiert hat.
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums Es muss betont werden, dass der Reiz der Musik Mahlers gerade darin besteht, dass sie sich oftmals weder in ein rein dur-moll-tonales noch rein modales Schema fügt, sondern sich genau zwischen diesen beiden Polen bewegt. Sie ist ambivalent und kann in subtilsten Nuancen zwischen beiden Ausprägungen changieren. So erweist sich auch eine strikte terminologische Trennung von Tonart und Modus oftmals nicht nur als problematisch, sondern als geradezu unangemessen. Die Herausarbeitung der Strategien Mahlers zur Erzeugung von Ambivalenz ist ein zentraler Punkt der vorliegenden Arbeit. Zu den Begriffen Modulation, Ausweichung und Rückung Unter Modulation wird allgemein ein Wechsel der Tonart, mit dem der „Übergang der Tonikabedeutung auf einen anderen Klang“ 63 verbunden ist, verstanden. Als wesentliche Voraussetzungen werden die zweifelsfreie Ausprägung der Ausgangstonart und die kadenzielle Bestätigung der Zieltonart erachtet. 64 Im Unterschied zu einer Ausweichung, bei der eine neue Tonart lediglich gestreift und somit die Ausgangstonart nur kurzzeitig verlassen wird, wird die erreichte neue Tonart bestätigt und für einen längeren Zeitraum beibehalten. 65 Maßgeblichen Einfluss auf die Wahl des Modulationsmittels übt das oftmals in Quintenzirkelgraden angegebene Verwandtschaftsverhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltonart aus; 66 dabei kann zwischen nah und fern verwandten Tonarten unterschieden werden. Modulation impliziert also eine möglichst ‚geschmeidige‘ Hinführung von der alten zur neuen Tonart und gleichzeitig eine syntaktische Verknüpfung von formalen Abschnitten. Darauf nimmt eine Rückung keine Rücksicht. Sie ist parataktisch, entbehrt einer syntaktischen Verbindung, und kommt einer abrupten und harmonisch überraschenden Sprungbewegung gleich. 67 Alle drei Termini lassen sich auch auf Mahlers Musik anwenden. Jedoch ist festzustellen, dass Mahler eine Affinität zu Rückungen hat und reguläre Modulationsvorgänge im Wesentlichen scheut. 68 Grundsätzlich ist es fatal, Techniken des Tonartwechsels aus dem kompositorischen Kontext herauszureißen und sie pauschal in Kategorien wie ‚einfach‘ und ‚schwierig‘ – je nachdem in welchem Verwandtschaftsverhältnis die Tonarten stehen – zu unterteilen. Dieses Problem potenziert sich bei den Techniken Mahlers, denn bei ihm scheinen sich die Verhältnisse von ‚einfach‘ und ‚schwierig‘ umzukehren. 63
Riemann, Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre, S. 107. Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 179 f. 65 Vgl. Riemann, Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre, S. 107. Die auf Heinrich Christoph Koch zurückgehenden Termini „durchgehende“ und „förmliche Ausweichungen“ finden in der vorliegenden Arbeit keine Verwendung. Es sei darauf hingewiesen, dass eine zweifelsfreie Abgrenzung von Modulation und Ausweichung nicht immer möglich ist. 66 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 181 ff. 67 Vgl. Kurth, Ernst, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“, Bern 1920, S. 196 ff. Hugo Riemann spricht anstelle von Rückung von „Tonalitätssprung“ (Riemann, Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre, S. 107). 68 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 41 f. 64
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Einleitung Zum Begriff der Tonikalisierung Zusätzlich zu den bereits genannten Termini zur Beschreibung eines Tonartwechsels muss der von Heinrich Schenker geprägte Begriff der „Tonikalisierung“ 69 berücksichtigt werden. Er beschreibt die „Tonikasucht“ 70 einer Stufe, also ihren Drang, sich innerhalb der Diatonik als Tonika auszunehmen. 71 Schenker unterscheidet zwischen mehreren Tonikalisierungs-Verfahren, wovon eines für die vorliegende Arbeit besonders relevant ist: die „[u]nmittelbare Tonikalisierung“ 72. Schenkers Gedanke der unmittelbaren Tonikalisierung, die darauf beruht, dass ein Tonikawechsel einzig durch eine Modifikation des diatonischen Tonvorrats erreicht wird, 73 wird für diese Arbeit im Kern übernommen. Im Unterschied zu Schenker, der die unmittelbare Tonikalisierung ausschließlich in die Dienste der „Auskomponierung einer Stufe“ stellt und ihr damit modulierende Eigenschaften abspricht, 74 soll die unmittelbare Tonikalisierung in der vorliegenden Arbeit sehr wohl als ein weiteres Mittel für einen Tonartwechsel betrachtet werden. Denn mit Hilfe der unmittelbaren Tonikalisierung – im weiteren Verlauf der Arbeit wird sie verkürzt als Tonikalisierung bezeichnet – lassen sich bei Mahler Tonartwechsel, die weder auf einem ‚geschmeidigen‘ Modulationsvorgang noch auf einer abrupten Rückung beruhen, erklären. Neben der notwendigen Anpassung der Diatonik spielt die schiere Dauer eines Klangs eine entscheidende Rolle für dessen Etablierung als neues tonales Zentrum. Tonikalisierung gehorcht keiner kadenziellen Logik, sie repräsentiert vielmehr die nicht kadenzielle Erschließung und Etablierung einer neuen Tonart. Zum Begriff der Überblendung Zur Erklärung und Systematisierung bestimmter formaler Nahtstellen nebst Tonartwechsel wird des Weiteren der Begriff der Überblendung verwendet. Dieser stammt aus der Filmwissenschaft und wird technisch als „[f]ilmischer Effekt, bei dem durch Kombination von Ab- und Aufblende zwei Szenen sanft ineinander übergehen“ 75, definiert. Ein harmonischer Gebrauch des Überblendungsbegriffs findet sich bereits bei Moritz Hauptmann, der den Septakkord als „Zusammenklang zweier durch ein gemein-
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Schenker, Heinrich, Neue musikalische Theorien und Phantasien I. Harmonielehre, Stuttgart 1906, S. 337 ff. 70 Ebd., S. 334. 71 Vgl. ebd. und S. 337. 72 Ebd., S. 338. „Mittelbare Tonikalisierung“ kann insofern vernachlässigt werden, als sie einer Ausweichung bzw. der Miteinbeziehung einer Zwischendominante entspricht (ebd., S. 343). 73 Vgl. ebd., S. 337. Schenker bezeichnet die Modifikation als „Chromatik“, womit Alterationen gemeint sind. 74 Vgl. ebd., S. 339. 75 Monaco, James, Film verstehen. Das Lexikon. Die wichtigsten Fachbegriffe zu Film und Neuen Medien (2011), aus dem Englischen von Hans-Michael Bock, 2. Auflage, Hamburg: Rowohlt 2017, S. 256.
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums schaftliches Intervall verbundener Dreiklänge“ 76 interpretiert. Konkrete Beispiele der Anwendung unter besonderer Berücksichtung der Instrumentation lieferte in jüngerer Zeit Michael Polth. 77 Für die vorliegende Arbeit erweist sich die differenzierte Betrachtungsweise dissonanter Akkorde – vor allem Septakkorde – bzw. die Unterscheidung zwischen „primären und sekundären Klangeinheiten“ als nützlich: Dabei kann bspw. ein halbverminderter Septakkord als traditionelle „Einheit“ oder aber als das Resultat „‚zusammengesetzter Klänge‘“, bspw. als die Summe eines Dreiklangs in den Oberstimmen und eines Basstons verstanden werden. 78 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Überblendung in Anlehnung an Hauptmann und Polth ebenfalls als ein harmonischer und instrumentatorischer definiert; ergänzend werden auch melodische Aspekte berücksichtigt. Damit können bei Mahler formale Nahtstellen nebst Tonartwechsel beschrieben und systematisiert werden, an denen zwei Abschnitte oder Unterabschnitte weder eindeutig auf einem syntaktischen Bindeglied beruhen noch parataktisch aufeinander folgen; dabei erweist sich der ebenfalls für solche Stellen vorgesehene Begriff der Tonikalisierung allein als unzureichend. Wie zu zeigen sein wird, gilt es dabei aufs Genaueste die Wechselwirkungen von Melodik, Harmonik, Instrumentation und Form zu beleuchten, da sich je nach Situation das gleiche ‚Instrument‘ anders auf sein Umfeld auswirken kann.
Zum Modell- und Toposbegriff Im aktuellen musiktheoretischen Diskurs über tradierte kompositorische Schemata, die seit dem 17. Jahrhundert prägend für die tonale Sprache sind und eine epochenübergreifende Reichweite besitzen, spielen die Termini Modell und Topos eine überragende Rolle. Grundsätzlich handelt es sich bei ihnen um eine „unauflösbare Einheit von kontrapunktischen und harmonischen Prinzipien“ 79. Sie sind weder auf einen Komponisten noch auf eine bestimmte Epoche beschränkt 80 und können als musikalische Größenordnung „im strukturellen Mittelfeld zwischen elementarer Fortschreitung und
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Hauptmann, Moritz, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1853, S. 76. Hauptmann ergänzt: „Er [der Septimenaccord] bildet sich durch den Uebergang aus dem einen in den andern, indem der erste mit dem zweiten noch fortbesteht.“ (ebd.). 77 Polth, Michael, Zum Verhältnis von Harmonik und Instrumentation ‚vor Wagner‘, in: ZGMTH – Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, 11. Jahrgang 2014, Ausgabe 11/1: Instrumentation, hrsg. von Christoph Hust, Michael Polth u. a., Hildesheim: Olms 2016, S. 37–61. 78 Vgl. ebd., S. 56 f. 79 Fladt, Hartmut, Satztechnische Topoi, in: ZGMTH – Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, 1.–2. Jahrgang 2003/05, Ausgabe 2/2–3: Nordamerikanische Musiktheorie, hrsg. von Oliver Schwab-Felisch, Hildesheim: Olms 2005, S. 189. 80 Vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 186.
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Einleitung Form“ 81 angesiedelt werden. In der Mahlerforschung spiegelt sich die grundlegende terminologische Differenzierung Hartmut Fladts wider: Während der Modellbegriff gewissermaßen ‚neutral‘ die strukturelle Beschaffenheit einer tradierten Wendung (bspw. die Intervallstruktur) ins Auge fasst, inkludiert der Toposbegriff darüber hinaus eine „geschichtlich gewachsene Semantik“ 82 und eine tradierte Funktionalität. 83 Letzterer erweist sich bei Mahler als problematisch, da sich nicht eindeutig klären lässt, inwieweit bei der Verwendung tradierter musikalischer Schemata gleichzeitig eine tradierte Semantik seitens des Komponisten intendiert worden ist. 84 Im analytischen Hauptteil der Arbeit wird daher der Modell- dem Toposbegriff vorgezogen. In der Zusammenfassung der analytischen Resultate soll jedoch der Toposbegriff immer dann reaktiviert werden, wenn es darum geht, für Mahler typische Formeln zu systematisieren und der Palette von „Klangsymbolen“ im Sinne von Constantin Floros 85 hinzuzufügen.
Zur Achsentontechnik In seiner Dissertation über die langsamen Symphoniesätze Mahlers beschreibt Theodor Schmitt harmonische Vorgänge, in denen zumeist ein einzelner Ton zum Dreh- und Angelpunkt wird; er bezeichnet sie als „Achsenharmonik“. 86 Der besondere Reiz besteht dabei darin, dass mit dem Achsenton „stets neue Klang- und Harmoniemöglichkeiten“ 87 einhergehen und dass er auch selbst von seinem Umfeld immer wieder neu eingefärbt und in ein anderes Licht gerückt wird. 88 Der Achsenton selbst muss nicht automatisch als Grundton innerhalb einer bestimmten Tonalität fungieren. Festzuhalten ist zudem, dass funktionale Logik insgesamt kaum eine Rolle spielt. 89 Die Relevanz von achsentönigen Verfahren bei Mahler muss als überragend bezeichnet werden. Dabei beschränken sich diese keineswegs nur auf kleingliedrige harmonische Vorgänge, sondern äußern sich auch in der melodischen Konzeption. Daher wird es als sinnvoll erachtet, den Begriff der Achsenharmonik zu dem der ‚Achsentontechnik‘ zu erweitern.
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Ebd. Fladt, Satztechnische Topoi, S. 189. 83 Vgl. ebd. 84 Hierbei handelt es sich um eine grundsätzliche Problematik, wie Hans Aerts in seinem Artikel abschließend festgestellt (vgl. Aerts, Hans, ‚Modell‘ und ‚Topos‘ in der deutschsprachigen Musiktheorie seit Riemann, in: ZGMTH – Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, 4. Jahrgang 2007, Ausgabe 4/1–2: Satzmodelle, hrsg. von Hans Ulrich Fuß und Oliver Schwab-Felisch, Hildesheim: Olms 2007, S. 155). 85 Vgl. Floros II, S. 187 ff. 86 Vgl. Schmitt, Theodor, Der langsame Symphoniesatz Gustav Mahlers. Historisch-vergleichende Studien zu Mahlers Kompositionstechnik, München: Fink 1983, S. 86 ff. 87 Ebd., S. 91. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. ebd. 82
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums Zur Artikulation tonaler und modaler Felder Die bisher diskutierten kompositorischen Mittel lassen sich bei Mahler oftmals in einen größeren Kontext eingebettet vorfinden. Hierbei handelt es sich um sog. ‚Felder‘ oder ‚Flächen‘. 90 Wenngleich der Feldbegriff erst etwa ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der „Klangflächenkomposition“ Fuß gefasst hat, 91 wird er von der gegenwärtigen Musikwissenschaft und Musiktheorie mit gutem Grund auch auf frühere Musik übertragen. Selbstredend muss der Feld- bzw. Flächenbegriff, der in so vielen unterschiedlichen musikalischen Zusammenhängen gebraucht wird, eigens für den Mahlerkontext definiert werden. 92 Im Allgemeinen werden als Voraussetzung für das Vorhandensein eines Klangfeldes sowohl eine gewisse zeitliche Ausdehnung 93 als auch die bereits erwähnte „Attitüde der Muße“ 94 genannt. Weitgehend unvereinbar ist damit folglich eine prozesshafte und zielgerichtete Entwicklung des motivischthematischen Materials. 95 Allerdings gestattet ein Feld das Nebeneinander und die Aneinanderreihung motivisch heterogener Elemente. 96 In technischer Hinsicht lässt sich ein enger Zusammenhang zwischen Feldern und Liegetonstrukturen feststellen. Zum Orgelpunktbegriff Kein anderer Terminus zur Bezeichnung von Passagen, die von Liegetonstrukturen geprägt sind, dominiert in der Mahlerforschung so sehr wie der des Orgelpunkts. Als problematisch ist allerdings die Tatsache zu erachten, dass oftmals nur eine unzureichende Differenzierung sowohl hinsichtlich der Faktur der Liegetonstrukturen als auch des tonalen Umfeldes erfolgt. 97 Um den Orgelpunktbegriff zu schärfen, ist es notwendig, sich seine traditionelle Verwendung vor Augen zu führen. Zunächst einmal wird der artikulierende Liegeton – er kann sowohl ausgehalten als auch figuriert in
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Feld und Fläche werden im Rahmen der Dissertation als Bezeichnungen synonym verwendet. 91 Vgl. Lichtenfeld, Klangflächentechnik, S. 121. Als Beispiele werden die Werke Atmosphères und Lontano von György Ligeti angeführt. 92 Dahingehend ist die „Tonfeld-Analyse nach Albert Simon“ äußerst kritisch zu betrachten, denn sie beansprucht für sich genau diese enorme historische Spanne. Daher kommt sie in der vorliegenden Arbeit nicht zur Anwendung. 93 Vgl. Lichtenfeld, Klangflächentechnik, S. 123. 94 Ebd. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. Schmitt, Der langsame Symphoniesatz, S. 34. 97 Dies zeigt in aller Deutlichkeit folgendes Zitat von Hermann Danuser (Danuser, Hermann, Gustav Mahler und seine Zeit (1991), 2., korr. Auflage, Laaber 1996, S. 89): „Technisch wird Mahlers Ton [. . . ] in einem schwerlich zu überschätzenden Maße von Orgelpunktverfahren mannigfaltigster Art bestimmt. Sie umfassen einfache Liegestimmen, ostinate Figuren wie Wechselbässe, aber auch stationär-bewegte Klangfelder.“
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Einleitung Erscheinung treten – in der Bassstimme verortet. 98 Grundsätzlich handelt es sich beim Orgelpunkt um ein dur-moll-tonales Phänomen, die Prolongation einer Funktion, die eine Tonart eindeutig definiert. Prinzipiell ist zu unterscheiden zwischen beruhigenden tonikalen und spannungssteigernden dominantischen Orgelpunkten. 99 Ihre „syntaktische Funktion in Bezug auf vorangehende oder nachfolgende Musik“ 100 spiegelt sich in ihrer formalen Platzierung innerhalb eines Stückes wider, was ein weiteres entscheidendes Merkmal darstellt. 101 Zusätzlich zu einer traditionellen Behandlung lässt sich bei Mahler feststellen, dass Orgelpunkte von ihren angestammten formalen Positionen entkoppelt werden und sich „zu einem Mittel von formaler Ubiquität“ 102 verselbständigen. Innerhalb der Feldtechnik Mahlers repräsentieren Orgelpunkte wiederum einen ganz bestimmten Feldtyp bzw. eine ganz bestimmte Ausprägung eines Feldes, und zwar eine dur-moll-tonale. Zum Bordunbegriff Obwohl der Bordunbegriff innerhalb der Mahlerforschung nicht so häufig wie der des Orgelpunkts Verwendung findet, hat er dennoch seinen festen Platz. Ihn unmittelbar zum Gegenstück des Orgelpunkts zu erklären, erweist sich als problematisch, da beide Termini oft konfliktfrei in der wissenschaftlichen Literatur koexistieren und im Wesentlichen keine Differenzierung auf technischer Ebene vorgenommen wird. Der entscheidende Unterschied scheint darin zu bestehen, dass die Verwendung des Bordunbegriffs mit einer spezifischen Semantik gekoppelt ist, die sich grob als pastorale Idylle umschreiben lässt. 103 In diesem Naturzusammenhang, der eine Durtonalität voraussetzt, werden zudem auch nur ganz bestimmte Liegetonkonstellationen berücksichtigt: entweder einzelne ausgehaltene oder zwei simultan erklingende Töne im Intervallabstand einer Quinte (Bordunquinte) in der Bassstimme. Innerhalb der Mahlerforschung kann die technische Differenzierung der Termini Orgelpunkt und Bordun durch Oliver Korte als Ausnahme gelten. In seinem Artikel Bordun und Parallelensatz definiert er den Bordun als modales und parataktisches Phänomen, wodurch dieser dem dur-moll-tonalen und syntaktischen Phänomen Orgelpunkt technisch gegenübersteht. 104 Der bislang so betonte semantische Aspekt des 98
Vgl. Gárdonyi, Zsolt / Nordhoff, Hubert, Harmonik (1990), überarbeitete, erweiterte Neuausgabe 2002, Wolfenbüttel: Möseler 2002, S. 53 f. 99 Vgl. Korte, Oliver, Bordun und Parallelensatz, S. 165. 100 Ebd., S. 165. 101 Tonikale Orgelpunkte werden oftmals zu Beginn und / oder am Ende eines großen formalen Abschnitts, z. B. in der Exposition, dominantische Orgelpunkte häufig vor dem Eintritt des Seitensatzes oder der Reprise platziert (vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 165 und Schönberg, Harmonielehre, S. 256 ff.). 102 Danuser, Mahler und seine Zeit, S. 95. 103 Vgl. Floros, Constantin, Gustav Mahler III. Die Symphonien, Wiesbaden 1985, S. 30 (= Floros III). 104 Vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 165.
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums Bordun wird dabei weitgehend ausgeklammert, so dass er nun auch auf Passagen angewendet werden kann, die des pastoralen Charakters entbehren. Für die vorliegende Arbeit erweist sich eine Definition des Bordun als sinnvoll und ertragreich, die sowohl seine charakteristische Semantik als auch die von Oliver Korte aufgeführten technischen Eigenschaften inkludiert. 105 Zusätzlich dazu muss der Bordunbegriff an der Analyse der Symphoniesätze selbst geschärft werden. Ohnehin – und das ist entscheidend – handelt es sich bei den Phänomenen Orgelpunkt und Bordun lediglich um zwei Ausprägungen eines Feldes, die zwar beide bei Mahler in Erscheinung treten, jedoch keineswegs ausreichen, um die Vielfalt der Feldtechnik in Gänze zu erfassen. Zwangsläufig müssen hierfür neue adäquate Termini geprägt werden.
Zur makrologischen Harmonik Tonalen und modalen Feldern kommt im Schaffen Mahlers eine besonders herausgehobene Bedeutung zu, da sie sich sogar auf die Harmonik als Ganzes auswirken, wie bereits Theodor W. Adorno feststellt: Er [Mahler] organisiert nicht durch die Harmonik im Kleinsten, sondern verschafft durch sie dem Ganzen Licht und Schatten, Vordergrund- und Tiefenwirkungen, Perspektive. Darum sind ihm Tonartenflächen wichtiger als ihr bruchloser Übergang oder harmonische Durchartikulation jeder einzelnen Fläche in sich: seine Harmonik ist makrologisch. [. . . ] Die Idee makrologischer Harmonik wirkt bis in die Anlage ganzer Symphonien hinein. 106
Zur analytischen Erfassung des makrologischen harmonischen Gerüsts, welches eine Komposition trägt, wird in dieser Arbeit die „Schichtenlehre“ Heinrich Schenkers adaptiert. 107 Nach Schenker setzt sich eine Komposition aus Hintergrund-, Mittelgrundund Vordergrund-Schichten zusammen. 108 Der Grundgedanke besteht darin, dass sich eine Komposition auf ein elementares Gerüst – Schenker bezeichnet es als „Ursatz“ – reduzieren lässt, das im Hintergrund einen übergeordneten Zusammenhang stiftet. 109
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Als Referenzstelle kann hierfür der Beginn der Durchführung (T. 151 ff.) aus dem ersten Satz der Sechsten Symphonie Beethovens angeführt werden. Dort treten semantische und technische Merkmale gemeinsam auf. 106 Adorno, Physiognomik, S. 42. 107 Vgl. Schenker, Heinrich, Neue musikalische Theorien und Phantasien III. Der freie Satz (Wien 1935), zweite Auflage, hrsg. und bearb. von Oswald Jonas, Wien: Universal Edition 1956. 108 Vgl. ebd. 109 Beim „Ursatz“ handelt es sich um das Zusammenwirken von „Urlinie“ und „Baßbrechung“ (vgl. Schenker, Der freie Satz, S. 39 f.) bzw. um das kontrapunktische Zusammenspiel einer stufig fallenden Melodielinie in der Oberstimme („Terz-, Quint- oder Oktavzüge“) und
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Einleitung Damit wird sowohl eine Hierarchisierung der unterschiedlichen Ebenen 110 als auch ein Wechsel von der Mikro- und in die Makroperspektive möglich. 111 Während in dieser Arbeit weitgehend auf Schenkers Terminologie, vor allem aber auf seine Dogmatik verzichtet wird, wird seine Grundidee der Hierarchisierung von Ebenen, des damit einhergehenden möglichen Perspektivenwechsels und der Reduktion auf eine harmonische Essenz übernommen. Die harmonischen Eckpfeiler werden in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Schenker ebenfalls mit Stufensymbolen versehen. 112 Dabei dürfen diese makrologischen harmonischen Progressionen keinesfalls mit kadenziellen Fortschreitungen (insbesondere in einem funktionalen Sinne) verwechselt werden. 113 Nicht zuletzt gilt es zu prüfen, inwieweit die makrologische harmonische Architektur und
einer I-V-I-Progression in der Bassstimme. Eine Übersicht über den ‚Prototyp‘ des Ursatzes und weitere Erscheinungsformen nebst Analysen barocker, klassischer und romantischer Werke findet sich bei Schenker in den anhängenden illustrierenden „Figurentafeln“. 110 Klärend wirkt das nachfolgende Zitat (ebd., S. 173 f.): „Im Vordergrunde nun alle Stufen unterschiedslos zu lesen, als wären alle von gleicher Bedeutung und von gleicher Herkunft, geht nicht an. Sie müssen vielmehr so unterschieden werden, daß Klänge, die in den späteren Schichten besonderen Diminutionen in besonderer Wirkung dienen, nichts mit jenen Stufen gemeinsam haben, die im Dienste ihrer Voraussetzungen stärkere Beziehungen in den früheren Schichten ausdrücken. Hierher gehört auch die Frage der Scheintonarten im Vordergrunde. Der durch den Ursatz verbürgte Zusammenhang des Ganzen offenbart die Kunstwerdung nur eines einzigen Klanges. Also gibt es auch nur die Tonart eben dieses Klanges, so daß, was wir im Vordergrund sonst für Tonarten nehmen, nur Scheintonarten sein können. Die Klänge solcher Scheintonarten sind, da die Baßbrechung der Ursatzformen auch auf die Scheintonarten übertragen wird, innerhalb der neuentstandenen Kadenzen gewiß auch Stufen, doch sind diese Stufen im Sinne der nur übertragenen Kadenz für andersrangig als die der früheren Schichte zu nehmen.“ 111 Vgl. ebd., S. 49. 112 Schenker definiert eine Stufe als „eine höhere abstrakte Einheit, [die] zuweilen mehrere Harmonien konsumiert, von denen jede einzelne sich als selbständiger Dreiklang oder Vierklang betrachten ließe“ (Schenker, Heinrich, Harmonielehre, S. 181). Den übergeordneten harmonischen Verlauf eines Stückes bezeichnet er als „Stufengang“ (vgl. ebd., S. 281 ff.). Es ist darauf hinzuweisen, dass beide Bezeichnungen auch von Paul Hindemith verwendet werden. Hierzu seien Hindemiths Definitionen von Stufe und Stufengang angeführt: „Den Grundtönen, welche die Akkordlasten größerer harmonischer Zusammenhänge tragen, gebührt der Name Stufen, ihre [. . . ] Reihenfolge heißt Stufengang.“ (Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, S. 173). Bei aller Ähnlichkeit zu Schenker geht es Hindemith allerdings darum, mit Hilfe des Stufengangs „dem harmonischen Gefälle in den Akkordfolgen entgegenzuwirken.“ (Ebd., S. 174). Unter „harmonischem Gefälle“ wird das „im Spielen mit den Wertund Spannungsunterschieden sich ergebende Auf und Ab der Klänge [verstanden]. Je nach dem Wert der zur Verbindung nötigen Akkorde kann das harmonische Gefälle steil oder flach sein.“ (Ebd., S. 145). 113 Vgl. Schenker, Der freie Satz, S. 48.
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Diskussion der Terminologie und Darlegung des analytischen Instrumentariums die formale Anlage eines Stückes vor dem Hintergrund der traditionellen Sonatensatzform zusammenspielen. 114 Alle hier diskutierten Punkte sind aufs Engste miteinander verwoben und ineinander verzahnt. So gleicht die Analyse von Mahlers Musik einem Drahtseilakt, bei dem es stets darum gehen muss, Nuancen herauszuarbeiten und eine Balance zu finden. Je nachdem, wo Mahler gerade den Hebel ansetzt, kann das Geschehen innerhalb kürzester Zeit umschlagen. Weder eine bislang zumeist eingenommene ausschließliche Perspektive der harmonischen Tonalität noch eine primär modale Betrachtungsweise zeitigt unzweideutige Ergebnisse; Ambivalenz ist – wie gezeigt werden wird – ein entscheidender Wesenszug seiner Harmonik.
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Es wird darauf hingewiesen, dass die Begriffe der makrologischen Harmonik sowie der Tonikalisierung als eingeführt betrachtet und im weiteren Verlauf der Arbeit nicht weiter kursiv hervorgehoben werden.
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Analytischer Hauptteil Dieses Kapitel ist der Detailbetrachtung der Kopfsätze der Ersten bis Dritten Symphonie Mahlers gewidmet. Den detaillierten Analysen sind jeweils Erläuterungen zur Werkentstehung, zum programmatischen Inhalt sowie zu damit verbundenen Problemen bei der Untersuchung vorangestellt. Nachgestellt findet sich jeweils eine Übersicht über die wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen. Eine abschließende Betrachtung der Form und der makrologischen harmonischen Architektur vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund erfolgt für den Kopfsatz der Ersten und Zweiten unmittelbar nach der Detailanalyse. Aufgrund der epischen Dimension des Kopfsatzes der Dritten erscheinen dort Zwischenzusammenfassungen nach größeren Formabschnitten sinnvoller. Auf diese wird in einer abschließenden Diskussion Bezug genommen. Die Architektur eines jeden Satzes wird zusätzlich in ‚Makro‘-Graphiken gefasst. Diese liefern nicht nur eine Gesamtübersicht über den formalen, thematischen und tonalen Verlauf der Sätze, sondern darüber hinaus wichtige Informationen über die Verhältnisse und Wechselwirkungen zwischen Form, Thematik und Harmonik. Ferner können hier tonale Gewichtungen, Proportionen und Relationen der makrologischen harmonischen Stufen zueinander sowie die jeweiligen tonalen und modalen Felder und deren Dichte überblickt werden.
Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Zur Entstehung der Ersten Symphonie und zur Problematik der Programme Die Genese von Mahlers symphonischem Erstling ist in der Mahlerforschung bereits intensiv aufgearbeitet worden, so dass auf die einschlägige Literatur verwiesen werden kann. Einige Aspekte, die besonders relevant für die vorliegende kompositionstechnische Untersuchung sind, seien hier diskutiert. An seiner Ersten zeigt sich Mahlers „frühe Auseinandersetzung mit dem Begriff der Programmmusik“ 115 und damit das Spannungsfeld zwischen absoluter Musik und Programmmusik, in dem sich seine Musik prinzipiell bewegt. Als äußerst aufschlussreich erweist sich dabei, sowohl ihre Entsehungsgeschichte als auch ihre Rezeption zu Lebzeiten Mahlers näher zu beleuchten. Bei der Budapester Uraufführung im Jahr 1889 präsentierte Mahler seine Erste der Öffentlichkeit noch nicht als Symphonie, sondern als fünfsätzige Symphonische Dichtung in zwei Abteilungen ohne jegliche programmatische Beschreibung. 116 Mit großer Wahrscheinlichkeit war es der mäßige Erfolg der Uraufführung, der Mahler 115 116
Fischer, Jens Malte, Gustav Mahler. Der fremde Vertraute, Wien: Zsolnay 2003, S. 192. Vgl. Floros III, S. 22 f.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie dazu bewog, das Werk erst nach mehrjährigem Abwarten (vor allem instrumentatorisch) zu überarbeiten und ihm zudem ein ausführliches Programm beizufügen. 117 Mahlers Programmbegriff ist erläuterungsbedürftig. Er selbst bezeichnete seine Programme als „Wegtafeln und Meilenzeiger“ 118. Bei diesen handelt es sich nicht um konkrete musikalische Inhaltsangaben, sondern um (mehr oder weniger abstrakte) Orientierungsund Verstehenshilfen, die am ehesten „durch den Begriff des Gleichnisses zu fassen“ 119 sind. Während sich die Überarbeitung und die beigefügten programmatischen Hinweise bei der Hamburger Aufführung im Jahr 1893 – dort trug die Erste den Titel „Titan“, eine Tondichtung in Symphonieform – für den Komponisten positiv auszahlten, 120 wurde die Aufführung in Weimar ein Jahr später, für die Mahler das Programm nochmals modifizierte, hingegen zwiespältig rezipiert. 121 Aus einem Brief Mahlers an Arnold Berliner geht hervor, dass seine Erste „einesteils mit wütender Opposition, andererseits mit rückhaltslosester Anerkennung aufgenommen“ 122 wurde. Im Zentrum der Kritik stand vor allem das Programm, das den Rezensionen zufolge keinen Zugang zur Musik gewährte und insgesamt für mehr Verwirrung als Klarheit sorgte. 123 Die komplexe Frage, ob und inwieweit sich Mahler neben dem Werktitel und einigen Satzüberschriften inhaltlich an den um 1800 erschienenen Romanen Titan und Siebenkäs von Jean Paul orientierte, 124 wird in der Mahlerforschung kontrovers diskutiert. 125 Es steht fest, dass Mahler zwar ein glühender Verehrer Jean Pauls war, allerdings das Programm zur Ersten erst nachträglich verfasste und sich zudem stets gegen unterstellte konkrete inhaltliche Zusammenhänge zwischen seiner Ersten und den Werken Jean Pauls verwahrte, wie aus den Aufzeichnungen von Natalie Bauer-Lechner hervorgeht: Mahler schwebte dabei keine konkrete Romanfigur vor. Vielmehr hatte er „einfach einen kraftvoll-heldenhaften Menschen im Sinne, sein Leben und Leiden, Ringen und Unterliegen gegen das Geschick“ 126. Dabei gab der Komponist zu verstehen, dass die einzelnen Symphoniesätze 117
Vgl. Roch, Ekkehard, Erste Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 90. 118 GMB, S. 172. 119 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 158. 120 Vgl. Floros III, S. 24 f. 121 Vgl. ebd., S. 26. 122 GMB, S. 135. 123 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 94. Als namhafter Kritiker ist Ernst Otto Nodnagel zu nennen. Anfänglich stand er Mahler als Komponist eher skeptisch gegenüber, wurde dann aber später einer seiner größten Verehrer. 124 Mit der Überschrift für den „1. Theil.“ der Ersten im Hamburger Programm (vgl. La Grange, Henry-Louis de, Gustav Mahler: Volume 1, London: Gollancz 1974, Abb. 47 bzw. zwei Seiten vor S. 583) – sie lautet: „‚Aus den Tagen der Jugend‘, Blumen-, Frucht- und Dornstücke.“ – spielt Mahler deutlich auf den Siebenkäs an (vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 92). 125 Eine Übersicht über die unterschiedlichen Standpunkte liefern Constantin Floros (vgl. Floros III, S. 27–298) und Ekkehard Roch (vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 92 f.). 126 NBL, S. 173.
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Analytischer Hauptteil unterschiedliche „Stationen im Leben“ 127 seines Protagonisten repräsentieren. 128 Für die Aufführung in Berlin im Jahr 1896 und auch für die spätere Drucklegung im Verlag Weinberger im Jahr 1899 verzichtete Mahler dann schließlich auf jeglichen programmatischen Hinweis – der Titel lautete nun Symphonie in D-Dur für grosses Orchester – und entfernte zudem den ursprünglichen zweiten Satz (Blumine). 129 Das Fortlassen der Wegtafeln führte wiederum dazu, dass Mahler vorgeworfen wurde, die Symphonie wirke ohne diese chaotisch und sei (formal) nicht mehr durchdringbar. 130 Ein Maximum an Ablehnung bescherte Mahler schließlich die Aufführung im Jahr 1900 in Wien, 131 wo seine Erste nach Ansicht der Zuhörerschaft schlicht den „Maßstäben der klassischen symphonischen Tradition“ 132 nicht genügte. Für eine kompositionstechnische Untersuchung stellt sich nun die Frage, welche Kriterien bei Mahlers Erster angelegt werden können. Ist sie als Symphonische Dichtung oder als Symphonie zu deuten? Ist ihrer Gestaltung eher programmatisch oder mit traditionellen symphonischen Kriterien beizukommen? Es scheint nicht übertrieben, von einem Dilemma für die Mahlerforschung zu sprechen, 133 da sich ein Entwederoder als wenig ertragreich erweist. Ein Spagat zwischen programmatischem Inhalt und traditioneller symphonischer Konzeption muss ausgehalten werden. Für seine programmatischen Hinweise und Erläuterungen, die der Komponist bis zu seiner Dritten auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, 134 muss festgestellt werden, dass sie hinsichtlich ihrer „Gültigkeit für den tatsächlichen Gehalt der Komposition einen sehr unterschiedlichen Stellenwert“ 135 besitzen. In dieser Hinsicht stellt die Erste ein besonderes Problem dar. Einerseits muss an einer direkten Beziehung zwischen ihr und den Romanen von Jean Paul gezweifelt werden, andererseits kann, speziell den Kopfsatz betreffend, „das Erwachen der Natur“ 136 als verbindlicher programmatischer Inhalt der Introduktion gelten, 137 und dies ungeachtet dessen, dass Mahler sämtliche Programme im Jahr 1900 nachträglich widerrief und dabei „das Beginnen, Musik nach 127
Floros III, S. 28. Vgl. NBL, S. 173 f. 129 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 94. 130 Vgl. ebd. 131 Vgl. NBL, S. 177. 132 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 95. 133 Vgl. ebd., S. 96. 134 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 158. 135 Ebd. 136 Dies kann unabhängig vom jeweiligen Programm festgestellt werden, da sich das Programm für die Hamburger und dasjenige für die Weimarer Aufführung lediglich im Detail voneinander unterscheiden. Im Hamburger Programm lautet Mahlers Beschreibung: „Die Einleitung stellt das Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe dar.“ Im Weimarer Programm hingegen lautet es: „Das Erwachen der Natur im Walde am frühesten Morgen.“ Vgl. Floros III, S. 25 f. 137 Vgl. ebd. S. 159. 128
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie einem Programm zu schreiben, [sogar als] die größte musikalische und künstlerische Verirrung“ 138 bezeichnete. Zusätzlich zu den jeweiligen Wegtafeln muss bei Mahlers Werken ein autobiographisches Moment berücksichtigt werden. 139 Dies gab Mahler selbst zu verstehen, wenn er seine Musik als „gelebt“ 140 charakterisierte. „Gelebte Musik“ ist dabei als „Medium des Lebens“ 141 zu verstehen, was das nachfolgende Zitat verdeutlicht: Meine beiden Symphonien [die Erste und die Zweite] erschöpfen den Inhalt meines ganzen Lebens; es ist Erfahrenes und Erlittenes, Wahrheit und Dichtung in Tönen. 142
Vor einem autobiographischen Hintergrund beruht die Erste nach Constantin Floros auf der „Idee der Transzendenz, [der] Idee der Überwindung des Elends und Leids.“ 143 Es sei noch darauf hingewiesen, dass für die nachfolgende Untersuchung die traditionellen Termini zur Beschreibung der Sonatensatzform, die untrennbar mit der Konzeption von Symphoniekopfsätzen verbunden ist, zunächst lediglich als „gleichsam topographische Anhaltspunkte der Satzstruktur“ 144 im Sinne Bernd Sponheuers verwendet werden. Sie dienen also vor allem zu formalen Orientierungszwecken. Inwieweit die so bezeichneten Abschnitte sich tatsächlich in formaler, motivischer, harmonischer etc. Hinsicht gemäß der symphonischen Tradition verhalten, muss die Analyse zeigen.
Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Ersten Introduktion (T. 1–62) Basierend auf Mahlers Partitureintrag „Wie ein Naturlaut“ bezeichnet Hans Heinrich Eggebrecht die Einleitung als „Naturlaute-Musik“ 145. Kennzeichnend für sie ist eine „Regression zum Elementaren“ 146 bzw. die Verwendung eines urtümlichen musikalischen Materials. 147 Herausragend ist dabei das Intervall der Quarte, denn es bildet den Grundbaustein für den Großteil der motivischen Gestalten, die allesamt durch den 138
NBL, S. 171 Floros, Constantin, Exkurs II: Zur Relevanz der „Programme“ in Mahlers Symphonien, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 398. 140 Vgl. GMB, S. 145. 141 Nowak, Adolf, Mahlers geistige Welt, in: Mahler-Handbuch, hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Stuttgart und Weimar 2010, S. 66. 142 NBL, S. 26. 143 Floros, Relevanz der Programme, S. 401. 144 Sponheuer, Logik, S. 54 f. 145 Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 148. 146 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 102. 147 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 148.
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Analytischer Hauptteil Streicherliegeton a zusammengeschweißt werden. 148 Zusätzlich zu seiner semantischen Bedeutung „als Symbol des unberührt Naturhaften“ 149 spielt es in Mahlers Erster auf motivischer Ebene eine so derart überragende Rolle, dass folgende Feststellung nicht übertrieben ist: Wollte man den musikalischen Ideengang der I. Symphonie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, so würde man ihn wohl als die ‚Geschichte einer Quarte‘ beschreiben. 150
Bislang nahezu unberücksichtigt in der Mahlerforschung, jedoch für die nachfolgende Untersuchung von höchster Wichtigkeit ist die Wirkung des Quartintervalls auf die Grundtonwahrnehmung. Wie im terminologischen Kapitel dargelegt wurde, wohnt der Quarte – dasselbe gilt für die Quinte – eine Grundtonkraft inne, die einen eindeutigen Grundton erkennen lässt. Aufgrund ihrer überragenden Relevanz sowohl für diesen Satz als auch für andere Werke Mahlers ist es angemessen, der Quarte den Stellenwert eines ‚tonalen Steuerungselements‘ im kompositorischen Kontext Mahlers zuzugestehen. Ein charakteristisches Merkmal der Introduktion ist ihre Unbestimmtheit, die sich auf mehreren Ebenen widerspiegelt. 151 Von besonderem Interesse ist hierbei der tonale Aspekt. Nach Eggebrecht verleiht der Liegeton der Streicher „der Harmonik etwas Undefiniertes [und] Afunktionales“ 152, doch trifft diese Annahme noch nicht den Sachverhalt. Im Gegenteil wäre von einem verbindlichen Liegeton eher eine stabilisierende und definierende Wirkung zu erwarten. So auch hier. Es ist vielmehr das spannungsvolle Ineinander unterschiedlichster Elemente im Verhältnis zum Liegeton, das der Introduktion Ambivalenz verleiht. Unbestimmtheit wird zudem durch das unstete Tempo, durch den Wechsel von langsamen / schleppenden und bewegten Abschnitten erzielt. Die Tempowechsel verunklaren nicht nur Takt und Metrum, 153 sondern lassen darüber hinaus den Schluss zu, dass „sich die Entwicklung der Musik auf zwei Ebenen“ 154 vollzieht. Die Passagen, denen das Zeitmaß „Langsam. Schleppend.“ bzw. Tempo I zugewiesen ist, repräsentieren die schlafende Natur, diejenigen, die sich durch ihre markanten Fanfarensignale und durch die Anweisung Più mosso von den anderen abheben, sind als an die schlafende Natur gerichtete „Weckrufe“ zu verstehen. 155 Zusätzlich zu den unterschiedlichen Tempi separiert Mahler die beiden semantischen Ebenen mit Hilfe der 148
Vgl. ebd., S. 154. Bekker, Paul, Gustav Mahlers Sinfonien (Berlin 1921), Reprint, Tutzing 1969, S. 38. 150 Baur, Vera, I. Symphonie in D-Dur (Titan), in: Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung – Deutung – Wirkung (Kassel 2001), hrsg. von Renate Ulm, 2. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2002, S. 59. 151 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 154. 152 Ebd. 153 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 41. 154 Floros III, S. 29. 155 Vgl. Floros III, S. 29. Es sei darauf hingewiesen, dass Mahler selbst im Autograph seiner Dritten die Eröffnungsfanfare des Kopfsatzes als „Weckruf“ bezeichnet; darauf wird später im 149
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Instrumentation. Während der ‚schlafenden Natur‘ insbesondere durch den Einsatz von Piccoloflöte und Oboe, später dann von zweiten Violinen und Celli, eine gewisse Plastizität verliehen wird, erschallen die Weckrufe der Bläser aus weiter Ferne. Diese räumliche Wirkung im Orchester erzielt Mahler durch die flüsterleise Dynamik und insbesondere durch die Positionierung der Trompeten. 156 Mahlers Vorliebe für das „Fernorchester und [die] Illusion des Fernorchesters“ 157 bzw. für das „Zusammenwirken von realer und imaginärer Raumwirkung“ 158 reicht weit über den Kopfsatz der Ersten hinaus. 159 Die Liegetöne der Streicher, die größtenteils als fragiles Flageolett ausgeführt werden, bilden dabei einen „dünnen Vorhang“ 160 zwischen den beiden Ebenen. 1. Abschnitt (T. 1–17): Der mehrfach oktavierte Liegeton a, der laut Mahler „das Schimmern und Flimmern der Luft“ 161 symbolisiert, artikuliert für die Dauer seines Erklingens ein Feld. In der Mahlerforschung wird es oftmals als Orgelpunkt bezeichnet, 162 doch kommt die Bezeichnung Orgelpunkt hier einer terminologischen Verengung gleich, die nicht vermag, der Komplexität und Einzigartigkeit dieser Einleitung gerecht zu werden. Der Liegeton und die übrigen Elemente bedingen einander und können nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. 163 Die Grundtonkraft der fallenden Quarte (e-a) bzw. des Quartenmotivs lässt zu Beginn keinen Zweifel am Grundton a aufkommen. Doch bereits durch das sich in T. 7 anschließende Quartenthema gerät diese Stabilität ins Wanken, da sich der Grundton, bedingt durch dessen sequenzartigen Charakter, zumindest ausweichungsartig ebenfalls verschiebt. 164 Die Intervallabfolge von fallender Quarte und steigender Sekunde, die auch als ein melodischer Terzfall mit charakteristischem Gegenschrittmodell bezeichnet werden kann, bleibt dann, anstatt sie konsequent zu
Rahmen der Untersuchung des betreffenden Kopfsatzes noch detailliert eingegangen. Eine Übertragung auf die Erste erscheint aufgrund der ähnlichen semantischen Funktion legitim (vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 155 f.). 156 Mahler schreibt in der Partitur vor, dass die erste und zweite Trompete „In sehr weiter Entfernung aufgestellt“ (T. 11), die dritte Trompete „aus der Ferne“ (T. 23) erklingen soll. 157 Vgl. Floros II, S. 151 ff. 158 Jost, Peter, Instrumentation. Geschichte und Wandel des Orchesterklangs, hrsg. von Silke Leopold und Jutta Schmoll-Barthel, Kassel u. a.: Bärenreiter 2004, S. 140. 159 Vgl. Floros II, S. 151 ff. 160 Adorno, Physiognomik, S. 11. 161 NBL, S. 176. Gegenüber Natalie Bauer-Lechner betont Mahler die Verwendung von Flageoletts für sämtliche Streicher (vgl. ebd.). 162 Vgl. u. a. Lichtenfeld, Klangflächentechnik, S. 128. 163 Wie zu zeigen sein wird, wechselt der konstant erklingende Liegeton a innerhalb der jeweiligen tonalen Umgebung seine Rolle. Sein Umfeld färbt ihn ein, wodurch er immer wieder neu beleuchtet wird. 164 Eggebrecht bezeichnet es als „Quartensequenzmotiv“ (Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 148). Der Einsatz mehrerer Quarten nacheinander ruft grundsätzlich eine tonale Verunsicherung beim Hörer hervor (vgl. Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, S. 216 f.).
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Analytischer Hauptteil Ende zu führen, „auf einem b hängen [. . . ], das sich an dem Streicher-a reibt“ 165. Noch im selben Takt intonieren die Klarinetten und die Bassklarinette vom Grundton b aus eine Fanfare, 166 aus der sich nach und nach ein vollständiger B-Dur-Dreiklang herausschält; bei dieser handelt es sich um den ersten Weckruf, der an die schlafende Natur gerichtet ist. Nachdem die Fanfare in T. 13 zu ihrem Ende gelangt ist, wird der B-DurDreiklang zu einem h-verminderten Dreiklang abgewandelt. Dieser mündet schließlich in einen a-Moll-Dreiklang, der sich aus dem „terzverdoppelte[n] Sextsprung“ 167 der Oboen zusammensetzt. Nach Hans Heinrich Eggebrecht handelt es sich bei dem markanten Sextsprung aufwärts um ein „unmittelbares und elementarisches Sichäußern von Empfindung“ 168, um einen „Empfindungslaut“ 169, der unter die Kategorie der Naturlaute falle. Die tonale Unbestimmtheit der soeben beschriebenen Passage zeigt sich daran, dass sie sich sowohl einer rein modalen als auch einer rein dur-moll-tonalen Interpretation entzieht. Zunächst wird ein modal-linearer Blickwinkel eingenommen. Der Ton a kann aufgrund seiner Omnipräsenz – er tritt nicht nur als Liegeton auf, sondern markiert zudem auch die Eckpunkte der Passage – als Grundton angesehen werden. Gleichzeitig fungiert er als Bordunton, da die relevanten semantischen Kriterien erfüllt sind. Das verwendete Tonmaterial basiert im Kern auf einer a-phrygischen Diatonik, 170 wobei der Ton h transitorisch bzw. als chromatische Farbe innerhalb der Diatonik zu deuten ist:
Abbildung 1: Übersicht über das verwendete Tonmaterial (T. 1–17)
Die Interpretation des Tons h als chromatische Durchgangsnote ist jedoch nicht unproblematisch. Bereits dessen Länge von eineinhalb Takten lässt Zweifel an seiner untergeordneten Stellung als Transitus aufkommen. Unter dur-moll-tonalen Gesichtspunkten sind a-Moll und d-Moll als mögliche tonale Zentren zu nennen. Letztere Deutung schlagen u. a. Monika Tibbe 171 und Bernd
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Adorno, Physiognomik, S. 11. Auf die idiomatische Besonderheit, Klarinetten anstelle von Trompeten oder Hörnern für die Fanfare zu verwenden, macht Ekkehard Roch aufmerksam (vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 104). 167 Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 150. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Die VII. Tonleiterstufe (g) wird ausgelassen. 171 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 26. 166
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Sponheuer 172 vor. Beide erklären d-Moll sogar zur übergeordneten Tonart für die gesamte Introduktion, was insofern als problematisch erachtet werden muss, als dem Satzbeginn damit eine klare tonale Richtung bescheinigt wird, was gerade nicht der Fall ist. Geht man von einem d-Moll-Kontext aus, ist die Kollision des Weckrufs mit den Streicherliegetönen bzw. der daraus resultierende Sekundakkord (a-b-d-f) als Mollsubdominante mit Nonvorhalt in der Bassstimme zu deuten. Dagegen sprechen sowohl die fehlende Auflösung des dissonanten Basstons als auch das Ausbleiben weiterer kadenzieller Signale, die für eine Konstitution der Tonart d-Moll notwendig wären. Insbesondere ist das komplette Ausbleiben des Leittons cis zu nennen, der in beiden nachfolgenden hypothetischen Fortführungen d-Moll erst eigentlich stabilisiert:
Abbildung 2: Erste hypothetische Fortführung ab T. 13
Dieselben Gründe sprechen gegen eine Interpretation des B-Dur-Dreiklangs als Tonikagegenklang über einem dominantischen Orgelpunkt:
Abbildung 3: Zweite hypothetische Fortführung ab T. 13
Geht man demgegenüber von a-Moll als Tonalität aus, so fungiert der Liegeton a als tonikaler Orgelpunkt, über dem der Neapolitaner, 173 der verkürzte Dominantseptnonakkord und die Tonika erklingen. Doch wiederum ist es die Leittonlosigkeit, in diesem 172 173
Vgl. Sponheuer, Logik, S. 58. Vgl. Lichtenfeld, Klangflächentechnik, S. 128.
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Analytischer Hauptteil Fall also das Fehlen des Tons gis, die eine dominantische Strebewirkung letztlich nicht aufkommen lässt:
Abbildung 4: Erster Versuch einer funktionalen Deutung der T. 9–16
Dies liefert im Übrigen eine Erklärung für die insgesamt überraschende Wirkung des Empfindungslauts in den Oboen: Der erklingende a-Moll-Dreiklang tritt eben nicht als Resultat einer funktional logischen Fortführung ein. Ähnlich unbefriedigend ist es, den verminderten Dreiklang als zweite Mollsubdominantvariante nach dem Neapolitaner zu deuten, an den sich also eine plagale Wendung anschließt:
Abbildung 5: Zweiter Versuch einer funktionalen Deutung der T. 9–16
Monika Tibbe misst der Reibung zwischen dem Liegeton a und der B-Dur-Fanfare gar bitonale Eigenschaften bei, 174 es fällt jedoch schwer, von Bitonalität zu sprechen, da das entscheidende Kriterium, die „simultane Übereinanderlegung zweier [. . . ] verschiedener Tonarten“ 175, schlicht nicht erfüllt ist. Der Satzbeginn lässt sich demnach sowohl auf a-Phrygisch als auch auf d-Moll und a-Moll beziehen und verhält sich somit ambivalent. Somit lässt sich der Liegeton a 174
Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 42 f. Beiche, Michael, Polytonalität, in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart: Steiner 1995, S. 341 ff.
175
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie sowohl als Bordun-Grundton als auch als dominantischer und tonikaler Orgelpunkt interpretieren. Gleichzeitig spielt Mahler mit der traditionellen Hörerwartung, indem er den subdominantisch konnotierten Signalklängen 176 eine traditionelle Fortsetzung verweigert. Dadurch löst er diese harmonischen Topoi aus ihrer traditionellen Logik heraus und macht sie so für sich fruchtbar. Sie wirken bei ihm erfrischend unverbraucht. 2. Abschnitt (T. 18–27): Der zweite Abschnitt beginnt unmittelbar mit dem sequenzierenden Quartenthema. Dieses Mal durchquert es den Oktavraum a-a ohne auf dem Ton b hängenzubleiben, wodurch sowohl seine melodische als auch seine modale Kontur geklärt wird. Nun kann von a-Phrygisch als Modalität gesprochen werden. An das Quartenthema schließt sich in T. 22 ff. der nächste Weckruf an. Intoniert wird er nun nicht mehr von den Klarinetten, sondern von den Trompeten, die „In sehr weiter Entfernung aufgestellt“ 177 sind. Ein weiterer Unterschied zum ersten Weckruf besteht in dessen Faktur, die nun auf Hornquinten beruht. Sie bilden zudem die harmonische Essenz der T. 22–27, was die nachfolgende Notengraphik illustriert:
Abbildung 6: D-Dur-Hornquinten als harmonisches Gerüst der T. 22–27
Die Relevanz von Hornquinten im kompositorischen Schaffen Mahlers muss als überragend bezeichnet werden und daher kann ihnen der Stellenwert einer Vokabel im Sinne von Hans Heinrich Eggebrecht eingeräumt werden. Eine besondere Eigenschaft von Hornquinten besteht darin, dass sie eine Durtonart eindeutig ausprägen, obwohl lediglich vier unterschiedliche Tonhöhen zum Einsatz kommen. 178 Diese Wirkung entfalten sie auch an dieser Stelle. Das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass die Hornquinten in D-Dur anheben, und somit nicht auf dem vorherrschenden Grundton a, sondern auf der IV. Stufe d fußen. Damit ist auch ein Rollenwechsel der konstant erklingenden Streicherliegetöne verbunden: Sie fungieren nicht mehr als Grund-, sondern als Quintton in D-Dur. Die „Deplatzierung“ von Hornquinten auf die IV. Stufe, mit der eine gewisse „exterritoriale Wirkung“ erzielt wird, findet sich bei Mahler erstaunlich 176
Die Kollision der B-Dur-Fanfare mit dem Liegeton a kann sowohl als eine nach d-Moll weisende Mollsubdominante mit Nonvorhalt in der Bassstimme als auch als Neapolitaner in a-Moll interpretiert werden. 177 Dabei handelt es sich um Mahlers Partitureintrag. 178 Vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 188, Anm. 22.
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Analytischer Hauptteil häufig, wie Oliver Korte aufzeigen konnte. 179 In einem ganz entscheidenden Punkt unterscheiden sich die betreffenden Hornquinten der Ersten von vielen anderen Passagen in Mahlers Schaffen: Es gelingt ihm, ihre tonartkonstituierenden Kräfte zunächst abzuschwächen, so dass sich D-Dur erst nach und nach als Tonalität durchsetzen kann. Verantwortlich hierfür ist die Doppelgesichtigkeit von T. 22 f. Während die beiden Takte motivisch bereits eindeutig den Hornquinten angehören, ist es deren aus Quarte und Quinte bestehende Intervallfaktur, die tonal noch nach a-Phrygisch weist. 180 Diese Ambivalenz schlägt sich auch sogleich auf den Streicherliegeton a nieder, der temporär unentscheidbar als Grundton in a-Phrygisch oder als Quintton in D-Dur fungiert. Erst einen Takt später herrscht dann zweifelsfrei D-Dur. Bereits in T. 25 gewinnt dann der Ton a durch die fallenden Quarten (a-e) der Holzbläser erneut die Rolle des Grundtons zurück. 181 So deutlich dieser als Grundton hervortritt, so unklar bleibt dabei sein tonales Umfeld, denn es erklingen lediglich die Töne a und e. Auch die Miteinbeziehung des Hornquintenmaterials führt zu keinem eindeutigen Ergebnis, da sich die daraus resultierende unvollständige, auf dem Ton a gebildete Skala (a-d-e-fis) ebenso wenig greifen lässt. Anhand der drei aufeinander folgenden tonalen Zentren a, d und a kann für den zweiten Unterabschnitt der Introduktion festgestellt werden, dass diesem auf einer mittleren harmonischen Ebene eine plagale I-IV-I-Progression zu Grunde liegt. 3. Abschnitt (T. 28–46): Auch der dritte Abschnitt der Introduktion wird vom sequenzierenden Quartenthema eröffnet. Es unterscheidet sich von seiner vorherigen Fassung vornehmlich durch die Eliminierung des Tons b. Dadurch geht nicht nur seine phrygische Aura verloren, sondern es rückt nun auch noch mehr als zuvor der Ton d in den Fokus des Hörers. Für seine rasche Durchsetzung als neuer Grundton sorgen sogleich die fallenden Quarten (d-a) in der Klarinette, der Mahler in der Partitur folgende Spielanweisung vorschreibt: „Der Ruf eines Kuckucks nachzuahmen“. Es handelt sich hierbei allerdings um einen verfremdeten Kuckucksruf, da er anstelle des traditionellen Terzintervalls die satzprägende Quarte aufweist. 182 Gleichzeitig wird damit der Weg für den sehr leisen und weichen D-Dur-Hörnergesang geebnet, 183 der im Tempo I anhebt und als „Insel“ 184 179
Vgl. ebd., S. 172. Zusätzlich verstärkt wird die „exterritoriale Wirkung“ in der Ersten durch die bereits angesprochene auf Raumwirkung ausgelegte Instrumentation. 180 In anderen Passagen, wie bspw. in T. 49 ff. in Der Spielmann aus Mahlers Das klagende Lied, setzen die Hornquinten hingegen sogleich mit Grund- und Terzton bzw. mit dem charakteristischen Terzintervall ein, was im Zusammenspiel mit dem Liegeton unmittelbar zur Tonart der Hornquinten klärt. 181 Die fallenden Quarten repräsentieren für Eggebrecht den zweiten Empfindungslaut. Gleichzeitig wird damit der später erklingende Kuckucksruf antizipiert (vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 156). 182 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 40. 183 Mahlers Spielanweisung für die Hörner lautet „sehr weich gesungen“. 184 Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 154.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie aus dem bisherigen unsteten Satzverlauf herausragt. Die Diatonik ist nicht nur voll ausgeprägt, sondern es findet sich erstmals im Satzverlauf (T. 35 f.) eine Kadenz:
Abbildung 7: Manipulation der ersten echten Kadenz (T. 35 f.)
Im Detail fällt jedoch auf, dass Mahler die Kadenz manipuliert, indem er ihr zwei essenzielle Bestandteile verweigert: den Leitton cis und den Fundamentschritt a-d in der Bassstimme. 185 Dies hat zur Folge, dass ihre syntaktische Kraft abgeschwächt wird. Die Ruhe, die der Hörnergesang ausstrahlt, erweist sich als trügerisch, denn in die ausklingende Tonika (T. 36) fährt plötzlich der nächste Weckruf hinein. Die D-DurFanfaren der Trompeten gelangen mit den Tönen fis und a nicht nur in eine bislang unerreichte Registerhöhe. Dort angekommen wird mittels zweier verminderter Septakkorde ein dissonanter Kontrast zum bisherigen Satzverlauf erzielt, 186 was einen ersten echten Eingriff in die Naturlaute-Musik darstellt. Die harmonische Progression der T. 37–40 wird gern als Topos gedeutet, der „ubiquitär im 19. Jahrhundert [und] das Ergebnis einer Elision“ 187 ist: 188
185
Das Fehlen des Fundamentschritts führt innerhalb der Fläche sogar dazu, dass der Zeitpunkt der Auflösung in die Tonika verschleiert wird. Aufgrund des metrischen Gefüges erfolgt sie tendenziell auf der ersten Zählzeit von T. 36. 186 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 42. 187 Fürbeth, Ton und Struktur, S. 156. Fürbeth stellt in seinem Kapitel Harmonische Topik (S. 149 ff.) mehrere ähnliche Passagen vor, die seiner Meinung nach auf einer Elision beruhen. 188 Ein harmonischer Topos ist gerade das Gegenteil eines Naturlauts und steht somit der Deutung Eggebrechts, der diese Takte als dritten Empfindungslaut interpretiert (vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 156), entgegen.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 8: Deutung der T. 37–40 auf Basis einer Elision
Diese funktionale Deutung liefert jedoch keine Antwort auf die Frage, weshalb eine im 19. Jahrhundert geläufige harmonische Wendung innerhalb des hier diskutierten Kontextes eine derart frappante klangliche Wirkung entfaltet. Eine Erklärung hierfür besteht darin, dass Mahler mittels der verminderten Septakkorde und der damit einhergehenden und bislang ausgesparten Chromatik die bis zu diesem Zeitpunkt dominierende Diatonik schlagartig aufbricht. Die verminderten Septakkorde gleichen einem dissonanten Stachel, der aus der milden Diatonik herausragt. In harmonischer Hinsicht gilt es, insbesondere die Funktion des ersten verminderten Septakkords (fis-a-c-es) zu hinterfragen. Einen wichtigen Hinweis auf seine Rolle im vorliegenden Kontext liefert die Grundtonfortschreitung der drei Harmonien. Dabei ergibt sich die Abfolge der Töne d, a und d, womit eine elementare I-V-I-Progression vorliegt. Man mag den ersten verminderten Septakkord also weniger als eine Dominante deuten, die ihr vermeintliches Ziel nicht erreicht, sondern vielmehr als eine durch die hinzugefügten chromatischen Töne es und c erweiterte und dissonant geschärfte Durtonika, als eine temporäre Irritation:
Abbildung 9: Deutung der T. 37–40 auf Basis der Grundtonfortschreitung
Letztlich bestünde dann die Pointe darin, dass es Mahler gelingt, einen traditionell dominantisch konnotierten Klang zu einem tonikalen umzufunktionieren. Und tatsäch38
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie lich geht nach der beschriebenen Irritation D-Dur als Tonika umso gestärkter hervor. Der chromatische Stachel wird zudem sowohl dynamisch als auch instrumentatorisch durch die perkussiv eingesetzten Streicherpizzicati exponiert. Insgesamt kann man von der ersten ‚dramaturgischen Spitze‘ innerhalb der Fläche bzw. der Einleitung sprechen. Im Anschluss (T. 40 ff.) kehrt der Hörnergesang noch einmal wieder, um abermals vom Weckruf – der nun mit dem verfremdeten Kuckucksruf der Klarinette kombiniert wird – unterbrochen zu werden. 4. Abschnitt (T. 47–62): In programmatischer Hinsicht geht mit dem vierten und letzten Abschnitt der Introduktion nach Eggebrecht „das Eintreten der Wirklichkeit als Eintritt der anderen Art von Musik“ 189 einher. Anders ausgedrückt, die Musik erfährt an dieser Stelle eine Zustandsveränderung: Die vorweltlich anmutende und „noch nicht den Stempel kompositorischer Subjektivität tragen[de]“ 190 Naturlaute-Musik erwacht zur Kunstmusik. 191 Als kunstmusikalische Elemente treten vor allem das „chromatische Bassmotiv“ 192 und der Paukenwirbel hervor. 193 Tonal wirkt sich der Einsatz der genannten Elemente insofern aus, als der D-Dur-Bezug rasch schwindet. 194 Dann setzt noch einmal das Quartenthema im dritten Horn ein. 195 Noch bevor es an sein Phrasenende gelangt ist, wird es im ersten Horn von einer diminuierten Variante des Quartenthemas überlagert. In Folge hält Mahler an dieser diminuierten Version fest und erzielt durch die imitatorische Verzahnung der Bläserstimmen 196 eine Verdichtung des Satzes, die mit einer kontinuierlichen Beschleunigung des Tempos verknüpft ist. 197 Als tonale Richtung wird dabei d-Moll eingeschlagen. Als lohnenswert erweist sich eine genaue Betrachtung der Taktgruppenstruktur des chromatischen Bassmotivs. Es umfasst zwölf Takte, die sich in drei Abschnitte zu je vier Takten gliedern lassen. Auf die ersten vier Takte trifft die Bezeichnung chromatisches Bassmotiv am ehesten zu, so dass durchaus von einer Gegensätzlichkeit zwischen Naturintervallen und Chromatik gesprochen werden kann. 198 Dass den besagten vier Takten ein sequenzieller Gedanke zu Grunde liegt, zeigt sich an der taktweisen, halbtönig aufwärts gerichteten Verschiebung des motivischen Gebildes. Doch bereits der T. 50 189
Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 156. Sponheuer, Logik, S. 55. 191 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 157. 192 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 42. Es sei angemerkt, dass sich innerhalb der Mahlerforschung die Bezeichnung chromatisches Bassmotiv hartnäckig hält, obwohl der Basslinie eine Durchmischung von chromatischen und diatonischen Schritten zu Grunde liegt. 193 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 156. 194 Dazu trägt auch das Ausbleiben des Kuckucksrufs bei. 195 Dieses entspricht den T. 28 ff. 196 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 43. 197 „Allmählich und unmerklich in das Hauptzeitmass übergehen“ lautet der Partitureintrag Mahlers. 198 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 105. 190
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Analytischer Hauptteil weicht geringfügig von seinen chromatischen Vorgängern ab. Eine mögliche Erklärung für die Modifikation besteht darin, dass der Zielton d in T. 51 nicht leittönig erreicht werden soll. Eine Gegenüberstellung des leittonlosen Originals und einer hypothetischen leittönigen Version erweist sich dabei als nützlich:
Abbildung 10: Gegenüberstellung der Melodielinie Mahlers und der leittönigen hypothetischen Fassung (T. 50)
Bereits einen Takt später weicht der chromatische Schwerpunkt einer d-aeolischen Diatonik, die kurzzeitig durch den Ton h eine dorische Farbe erhält. Diese subtile Modifikation scheint wiederum nicht zuletzt vom Zielton der Linie her motiviert zu sein, denn ohne diese würde nicht der Ton d, sondern der Ton e in T. 55 erklingen:
Abbildung 11: Gegenüberstellung der Melodielinie Mahlers und der diatonischen hypothetischen Fassung (T. 51 ff.)
Die letzte Taktgruppe wird dann ausschließlich mit einem d-aeolischen Tonvorrat bestritten. Anhand der Anfangstöne eines jeden Viertakters (die Töne a, d und nochmals d) wird deutlich, dass Mahler die Passage unter der Prämisse weitgehender Leittonlosigkeit mit Hilfe einer elementaren V-I-Progression harmonisch organisiert. Bis zuletzt hält Mahler die Introduktion tonal in der Schwebe und nutzt dafür einmal mehr das Intervall der Quarte. Konkret geht es um die fallenden Quarten in der Klarinette und der Flöte, die jeweils einen anderen Grundton – einmal d und einmal a – akzentuieren. ‚Die Suche nach dem Grundton‘, die sich zuvor über einen längeren musikalischen Zeitraum erstreckt hat, wiederholt sich nun auf engstem Raum. Am Ende der Introduktion (T. 59– 62) ist es schließlich die Klarinette, die zum Grundton d klärt. Harmonisch lässt sich diese Stelle als eine nach d-Moll weisende Dominante mit Quartvorhalt deuten, wobei 40
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie der Liegeton a nun als dominantischer Orgelpunkt fungiert. 199 Die jedoch ausbleibende Auflösung des Quartvorhalts an dieser entscheidenden formalen Nahtstelle bestätigt ein weiteres Mal das Festhalten an einer Strategie, die sich wie ein roter Faden durch die Introduktion zieht: Leittonlosigkeit. Wenngleich traditionelle Langsame Einleitungen durchaus fantasieartige Züge und formal locker aneinandergefügte Teile aufweisen können, geht Mahlers Introduktion aufgrund ihrer beachtlichen Ausmaße, der Vielzahl von aneinandergereihten motivischen Elementen und der tonalen Uneindeutigkeit deutlich darüber hinaus. Vor allem die Naturlaute-Musik ist nicht zuletzt deshalb außergewöhnlich, als sie sowohl eine Art Vorstadium 200 als auch eine „bestimmte Negation“ 201 von Kunstmusik repräsentiert. Als Konsequenz daraus fällt es schwer, eine hierarchische Abstufung zwischen den Formteilen Introduktion und Exposition vorzunehmen. Als eine wesentliche traditionelle Aufgabe Langsamer Einleitungen kann die kadenzielle Hinführung zur Exposition gelten. 202 Darüber, ob die Introduktion der Ersten eine solche Zielgerichtetheit hin zur Exposition aufweist, herrschen in der Mahlerforschung geteilte Meinungen: Während bspw. Paul Bekker den Einsatz des Hauptthemas in T. 63 ff. als logische Lösung der „in der Einleitung zusammengezogene[n] und gestaute[n] melodische[n] Energie“ 203 interpretiert, stehen für Monika Tibbe die Introduktion und die Exposition disparat nebeneinander. 204 Verantwortlich für einen fehlenden Konsens scheint zusätzlich zur tonalen Mehrdeutigkeit ein instrumentatorischer Kunstgriff Mahlers zu sein. Während sich nämlich das tonale Geschehen ab T. 47 zusehends beschleunigt, wird zugleich die Instrumentation kontinuierlich ausgedünnt. Diese sukzessive Ausdünnung des Orchesterapparats interpretiert Tibbe als ein Verpuffen der begonnenen Steigerung. 205 Dabei steht dieses instrumentatorische Verfahren einer dramaturgischen Steigerung in keiner Weise entgegen und hat darüber hinaus historische Vorbilder. Als berühmtes Beispiel kann der Übergang von der langsamen Einleitung zum Vivace (T. 63) im Kopfsatz der Siebten Symphonie Beethovens angeführt werden. Hierzu sei die Beschreibung der besonderen Wirkung der Instrumentation von Oliver Korte zitiert: „Dieser Prozess der Ausdünnnung generiert einen musikalischen Unterdruck, gleichsam ein Vakuum, in das nun der Grundrhythmus des Vivace zwanglos einströmen kann, ausgelöst lediglich
199
Dass anstelle von d-Moll dann zu Beginn der Exposition die Varianttonart D-Dur erklingt, ist unerheblich. 200 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 154. 201 Adorno, Physiognomik, S. 26. 202 Vgl. Schmidt-Beste, Thomas, Die Sonate. Geschichte – Formen – Ästhetik, Kassel u. a.: Bärenreiter 2006, S. 96. 203 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 43. 204 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 43. 205 Vgl. ebd.
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Analytischer Hauptteil von dezenten Auftaktfiguren.“ 206 Insgesamt kann der Introduktion der Ersten also sehr wohl eine Zielgerichtetheit zur Exposition hin bescheinigt werden.
Exposition (T. 63–162) Maßgeblich beruht die Exposition auf einer Liedvorlage, und zwar auf Mahlers Orchesterlied Ging heut’ morgen über’s Feld aus dem Liederzyklus Lieder eines fahrenden Gesellen. 207 Die Verwendung eines selbst komponierten Liedes als Vorlage für ein weiteres Werk stellt kein Novum dar und so können Kammermusikwerke von Franz Schubert, wie bspw. das Forellenquintett oder das Streichquartett Der Tod und das Mädchen, als Beispiele und mögliche Vorbilder herangezogen werden. 208 Allerdings kann Mahler insofern als Pionier gelten, als es ihm gelingt, Lied und Symphonie zusammenzuführen. 209 Anders ausgedrückt, „das instrumental verarbeitete Lied“ 210 wird für den symphonischen Kontext fruchtbar gemacht, 211 wofür als wesentliche Voraussetzung die „[e]xtreme Sprachähnlichkeit“ 212 der Instrumentalmusik Mahlers gelten kann. 213 Mit dem Erklingen der Liedvorlage wird der Wechsel von der vorweltlich anmutenden, naturlautlichen hin zur kunstmusikalischen Sprache endgültig vollzogen. Gleichzeitig nutzt Mahler die semantisch aufgeladene Liedvorlage dafür, um die insgesamt „dionysische, noch durch nichts gebrochene und getrübte Jubelstimmung“ 214 des
206
Korte, Oliver, Die siebte und achte Symphonie, in: ders. und Albrecht Riethmüller (Hgg.): Beethovens Orchestermusik und Konzerte (= Beethoven-Handbuch Bd. 1), Laaber: Laaber 2013, S. 184. 207 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 43. Als Hauptentstehungszeitraum des aus vier Klavierliedern bestehenden Zyklus sind die Jahre 1884–1885 zu nennen. Die Orchestrierung erfolgte deutlich später, und zwar in den 1890er Jahren. Am 16. März 1896 erfolgte die Uraufführung der Orchesterfassung in Berlin unter der Leitung des Komponisten (vgl. Schmierer, Elisabeth, Lieder eines fahrenden Gesellen, in: Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 68 ff.). 208 Vgl. Storjohann, Helmut, Die formalen Eigenarten in den Sinfonien Gustav Mahlers, Hamburg 1954, S. 36 f. 209 Vgl. ebd., S. 36. 210 Ebd., S. 37. 211 Vgl. ebd. 212 Adorno, Physiognomik, S. 35. 213 Auf die dabei entstehenden Synergien geht bereits Paul Bekker (Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 23) ein: „Lied und Monumentaltrieb streben in Mahler zueinander. Das Lied wird aus der Enge subjektiven Gefühlsausdruckes hinaufgehoben in die weithin leuchtende, klingende Sphäre des sinfonischen Stiles. Dieser wiederum bereichert seine nach außen drängende Kraft an der Intimität persönlichsten Empfindens.“ 214 NBL, S. 173.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Kopfsatzes zu erzeugen. Gleichzeitig wird ein Bild pastoraler Idylle gezeichnet. 215 „Als Sänger des Liedes“ kann dabei der von Mahler beschworene „Held“ der Symphonie selbst gelten. 216 Darüber hinaus zeigt sich, dass nicht nur semantisch, sondern auch motivisch – über das Quartintervall – eine Beziehung zwischen Natur und Lied hergestellt wird. 217 Damit wiederum werden die Introduktion und die Exposition untrennbar miteinander verbunden. Wenngleich die Liedfaktur von Ging heut’ morgen über’s Feld nicht wörtlich in den Kopfsatz der Ersten einfließt, sind dennoch sowohl die Nähe zur Vorlage als auch ihr quantitativer und qualitativer Anteil bemerkenswert. 218 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich die nachfolgenden Untersuchungen auf die kompositorische Ausgestaltung des Symphoniesatzes konzentrieren. Die Liedvorlage wird selbstverständlich berücksichtigt, allerdings handelt es sich nicht um eine vergleichende Analyse wie bspw. bei Monika Tibbe. Zum allerersten Mal im Verlauf des Kopfsatzes wird eine Tonart nicht nur eindeutig artikuliert und steht nicht wie zuvor auf schwankendem Grund, sondern es wird zudem erstmals deutlich, in welcher Tonart die Symphonie überhaupt zu verorten ist. Abgestützt von der Quinte d-a in den Hörnern, die ein D-Dur-Bordunfeld artikuliert, kann sich die D-Dur-Melodik frei entfalten. Der linear gestalteten Faktur oberhalb der Bordunquinten liegt ein kadenzielles Gerüst zu Grunde, das sich auf ein Alternieren von Tonika und Dominantseptakkord zurückführen lässt. Die Melodie der Celli entspricht – abgesehen von ihrer „Versetzung [. . . ] in die Baßlage“ 219 – zunächst derjenigen der Singstimme zu Beginn des Gesellenliedes, ehe sie durch zweimalige Sequenzierung der letzten viertönigen Phrase fortgesponnen und erweitert wird. 220 Mit Erreichen des Zieltons e in T. 71 erfolgt der erste echte Harmoniewechsel von D-Dur nach A-Dur, einhergehend mit einem Wechsel des Borduns von den Hörnern in die Fagotte. In der Mahlerforschung wird bereits zu diesem Zeitpunkt von einer Modulation von D-Dur nach A-Dur gesprochen, 221 was allerdings nicht zutreffend ist. Der A-DurDreiklang entfaltet im bisherigen D-Dur-Kontext zunächst eine halbschlüssige Wirkung und fungiert somit als Dominante. Entscheidend ist, dass er erst nach und nach, 215
Die bildhafte Schilderung von Constantin Floros sei hier wiedergegeben: „[D]er Mensch befindet sich im Einklang mit der Natur und mit der Welt. Und folgerichtig ist, daß der Satz über weite Strecken pastorales Gepräge trägt: der Harmoniewechsel ist ausgesprochen langsam, Bordunbässe, liegende Stimmen und Ostinati bestimmen das Bild“ (Floros III, S. 30). An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Beschreibung Floros’ zwar zutreffend ist, die genannten pastoralen Charakteristika und Elemente allerdings keineswegs so disparat nebeneinander stehen, wie seine Aufzählung suggeriert. Tatsächlich lässt sich, wie die Analyse zeigen wird, ein Zusammenhang zwischen ihnen herstellen. 216 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 105. 217 Vgl. ebd. 218 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 19. 219 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 30. 220 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 106. 221 Vgl. ebd. und Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 30.
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Analytischer Hauptteil mit zunehmender Dauer seine dominantische Eigenschaft verliert, um sich selbst als neue Tonika auszunehmen. Maßgeblichen Anteil daran haben die der Introduktion entliehenen Quartenmotive in der Klarinette, die mittels ihrer Grundtonkraft mehr und mehr in Richtung A-Dur drängen. Es ergibt sich demnach ein tonaler Schwebezustand: Der A-Dur-Dreiklang fungiert vorübergehend sowohl als Dominante in D-Dur als auch als Tonika in A-Dur. Eine eindeutige Klärung nach A-Dur erfolgt dann schließlich nicht kadenziell, sondern mittels Anpassung der Diatonik und mittels der melodischen Kräfte beim abermaligen Erklingen der Liedvorlage in der zweiten Takthälfte von T. 74. Letztlich wird der beinahe unmerkliche Tonartwechsel dadurch vollzogen, dass es Mahler gelingt, einen dominantisch konnotierten Klang zu tonikalisieren, 222 ihn in seiner Funktion gewissermaßen zu invertieren. Dies führt aber auch dazu, dass die syntaktische Verknüpfung der quintverwandten Tonarten D-Dur und A-Dur in ihrer Wirkung teilweise abgeschwächt wird. Der soeben beschriebene Wechsel von D-Dur nach A-Dur ereignet sich im Gesellenlied nicht und stellt somit einen Unterschied zwischen diesem und dem Symphoniesatz dar. Unter dem Gesichtspunkt der Verwendung des Liedmaterials im Symphoniesatz deutet Monika Tibbe die soeben untersuchten T. 63–74 als „eine Art Vorspann“ 223 zum nachfolgenden A-Dur-Abschnitt. Ihrer Meinung nach repräsentiert erst der A-Dur-Teil den eigentlichen ersten Teil der Exposition, der sich von T. 75–108 erstreckt und auf der dritten Liedstrophe basiert. 224 Diese Sichtweise ist problematisch. Das erste Eintreten des Hauptthemas zu einem Vorspann zu degradieren, wird seiner überragenden Rolle im Satzverlauf in keiner Weise gerecht. Zudem wird hier die am Ende der Introduktion gestellte Frage nach der Tonalität nicht nur beantwortet, sondern auch erstmals im Satz in aller Klarheit eine Tonart überhaupt ausgeprägt. Dabei handelt es sich um nichts weniger als die übergeordnete Tonart der gesamten Symphonie. Pikant ist allerdings durchaus, wie knapp Mahler das Auftreten von D-Dur als Haupttonart des Werkes hier hält. 225 Der A-Dur-Abschnitt (T. 75–91) unterscheidet sich abgesehen von der Tonart nur geringfügig von der dritten Liedstrophe; die dritte Strophe hebt im Orchesterlied in H-Dur an. 226 Nachdem auch weiterhin die Anfangsmelodik des Liedes dominiert, erklingt ab T. 84 ein neuer Gedanke, der sich durch Tonrepetitionen und das Durchschreiten der Quint- (e-h) und Septimenräume (d-e) auszeichnet. Harmonisch lässt sich dieser ebenfalls auf ein Alternieren von Dominantseptakkord und Tonika zurückführen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle die Ausgestaltung der Bordunquinte a-e. Sie ist nach wie vor omnipräsent und artikuliert das A-Dur-Bordunfeld. Allerdings tritt sie nicht
222
Zum Begriff der Tonikalisierung wird auf das terminologische Kapitel verwiesen. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 30. 224 Vgl. ebd. und S. 26. 225 Auf das proportionale Verhältnis der verwendeten Tonalitäten wird später noch ausführlich eingegangen. 226 Vgl. ebd., S. 30 f. 223
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie mehr wie zuvor in Gestalt der ausgehaltenen Liegenoten auf, sondern erhält eine eigene rhythmische Gestalt. 227 Daran schließt sich ein weiteres Bordunfeld an, das sich über knapp achtzehn Takte (T. 92–109) erstreckt und in E-Dur zu verorten ist. Von besonderem Interesse sind abermals die Mechanismen, mit denen Mahler die harmonisch großflächig angelegten Abschnitte aufeinander folgen lässt. Der Übergang erfolgt über eine Kadenz in T. 90– 92. Auch sie erweist sich allerdings als manipuliert: Die Dominante mit Quartsextvorhalt und die Tonika E-Dur werden anstelle der Auflösung des Quartsext-Vorhaltes durch einen A-Dur-Sextakkord interpoliert:
Abbildung 12: Manipulation der Kadenz mittels Interpolation (T. 90–92)
Der eingeschobene Sextakkord ist ein Fremdkörper im Kadenzgefüge und durchkreuzt die traditionelle Auflösung des Quartsextvorhalts. Der Leitton dis erklingt nicht und dies führt zu einer Abschwächung der syntaktischen Wirkung. Gleich zu Beginn des E-Dur-Abschnitts (T. 92) wird der Leitton dis, der der Kadenz soeben noch verwehrt worden ist, dann aber nachgereicht, woraus sich nun eine vollständige E-Dur-Diatonik ergibt. Die Ausgestaltung der Borduntöne lässt sich als Kombination von ausgehaltenen Liegenoten und Ostinati beschreiben. Erwähnenswert ist die charakteristische melodische Gestalt der Flöte in T. 94, später auch in den ersten Violinen, die Paul Bekker aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Vogelrufen als „Tirili“ 228 bezeichnet und die im weiteren Satzverlauf noch mehrfach auftauchen wird. Aus der Modifikation des Leittons dis zum Ton d in der zweiten Takthälfte von T. 107 resultiert harmonisch ein Dominantseptakkord, der nach A-Dur zurückführt. 229 Wie die Kadenzen zuvor wird auch diese manipuliert. Genau im Moment der chromatischen Tiefalteration wird 227
Dazu zählen sowohl die teils fragmentarischen Einwürfe in der Harfe als auch die pulsierenden rhythmischen Figuren mit ostinatem Charakter in den Celli. 228 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 43. 229 Bereits kurz vor dem Erklingen des Dominantseptakkords deutet sich A-Dur subtil an, und zwar durch den Akkord (a-e-h-e), der in der Harfe und in den geteilten Kontrabässen erklingt. Seine charakteristische Quintenschichtung lässt dabei kurzzeitig den Ton a als
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Analytischer Hauptteil der Ton gis eliminiert, so dass ein leittonloser Dominantseptakkord erklingt. Bemerkenswert ist ferner Mahlers Umgang mit der Septime d in den Violen: Anstatt sie in der Streichergruppe aufzulösen, lässt Mahler diese dort verstummen, um sie beinahe unmerklich an das 3. Horn zu übergeben, das im Folgetakt (T. 110) die erwartete stufige Fortführung zum Ton cis realisiert. Des Weiteren wird der klärende Fundamentschritt e-a bzw. die Auflösung zum Grundton in der Bassstimme hinausgezögert. Trotz der stets tonal klärenden Wirkung des Kopfmotivs des Gesellenliedes, das zunächst in der Trompete und anschließend in den Celli anhebt, steht die A-Dur-Tonalität immer noch auf wackeligen Beinen. Echte Stabilität stellt sich erst in T. 110 ein, und zwar durch den Einsatz der Harfe und Kontrabässe, die gemeinsam die A-Dur-Tonalität durch den Basston a erden; im Übrigen taucht hier auch der ausgesparte Ton gis wieder auf. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den soeben beschriebenen Verlauf:
Abbildung 13: Manipulierte Kadenz (T. 107–110)
Die in A-Dur zu verortenden T. 109–116 werden dann abermals als Bordunfeld ausgestaltet. Dabei wird es erstmals und größtenteils vom Quintton e, der im Fagott erklingt, artikuliert. Dies stellt eine weitere Ausgestaltungsmöglichkeit hinsichtlich Mahlers Umgang mit Borduntönen dar. Den harmonischen Kern des bisherigen Verlaufs der Exposition bilden somit die vier Bordunfelder D-Dur (T. 63–74), A-Dur (T. 75–91), E-Dur (T. 92–108) und nochmals A-Dur (T. 109–116). Alle Felder weisen dur-moll-tonale Elemente auf und werden syntaktisch miteinander verbunden, wenngleich an allen formalen Nahtstellen klare Kadenzen vermieden werden, was zu einer Abschwächung der syntaktischen Wirkung führt. 230 Hervorzuheben ist die außergewöhnliche Kürze und Kompaktheit der moduGrundton durchschimmern. Gleichzeitig kommt ihm im E-Dur-Kontext die Rolle einer IV. Stufe zu, so dass eine plagale Wendung vorliegt. 230 Wie bereits im terminologischen Kapitel dargelegt wurde, handelt es sich beim Bordun in Mahlers Symphonik nicht zwangsläufig um ein rein modales und parataktisches Phänomen. Dies hat die Analyse soeben noch einmal bestätigt.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie latorischen Übergänge im Verhältnis zu den groß angelegten Feldern: Die Übergänge ereignen sich auf engstem Raum, sie gleichen einem Hebel, mit dem von Feld zu Feld ‚umgeschaltet‘ wird. Zusätzlich zu den Tonarten und dem jeweils verwendeten Liedmaterial unterscheiden sich die Felder hinsichtlich der (rhythmischen) Ausgestaltung der Borduntöne voneinander, die vornehmlich in der Bassstimme zu verorten sind, was die nachfolgende Notengraphik veranschaulichen soll:
Abbildung 14: Ausgewählte Erscheinungsformen des Bordun
Hinsichtlich ihrer Rolle innerhalb der jeweiligen Tonalität differieren die Borduntöne allerdings nicht, sondern weisen vielmehr eine weitere Gemeinsamkeit auf: Sie fungieren als Grund- und / oder Quintton der jeweiligen Tonart. Sie unterscheiden sich also lediglich graduell voneinander und lassen sich allesamt unter einem erweiterten Bordunbegriff subsumieren: Borduntöne können simultan und sukzessiv, regelmäßig und unregelmäßig erklingen. 231 Darüber hinaus kann ein Zusammenhang zwischen Borduntönen und Ostinati hergestellt werden, der in der Mahlerforschung bislang nahezu unberücksichtigt geblieben ist: Aus Borduntönen können rhythmische Figuren geformt werden, die dann als wiederkehrende Muster in Erscheinung treten. Der nächste Abschnitt (T. 117–127) hebt sich vom bisherigen Expositionsverlauf zunächst dadurch ab, dass der strengen Diatonik nun erstmals echte Chromatik beigemischt wird. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal ist jedoch seine Wirkung im musikalischen Umfeld zu nennen. Denn es handelt sich bei ihm nicht um ein
231
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt Oliver Korte bei seiner Untersuchung von Mahlers Symphoniekantate Das klagende Lied und ausgewählter Lieder (vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 185).
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Analytischer Hauptteil Bordun-, sondern um ein klar dominantisches Orgelpunktfeld, das auf die Tonika A-Dur zielt. Oberhalb des Orgelpunkts e lässt sich das harmonische Geschehen zunächst auf ein Alternieren von Dominantseptakkord und Tonika zurückführen. Es folgt ein aufwärts gerichteter synkopierter Fauxbourdon mit 5-6-Konsekutive, ehe nochmals ein Dominantseptakkord-Tonika-Pendel erklingt. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht die harmonische Konstitution des dominantischen Orgelpunktfeldes:
Abbildung 15: Harmonische Reduktion des dominantischen Orgelpunkts (T. 117–128)
Bemerkenswert ist vor allem der Zeitpunkt des Wechsels von der Bordun- hin zur Orgelpunkttechnik, denn er erfolgt ungefähr ab der Hälfte der Exposition. Mit dem Wechsel ist eine kontinuierliche dramaturgische Steigerung verbunden, die in T. 135 ihren Höhepunkt erreicht. Unter dem Gesichtspunkt der verwendeten Feldtypen Bordun und Orgelpunkt zeigt sich also eine zweiteilige formale Anlage der Exposition. Eine solche wird ebenfalls von Monika Tibbe vor dem Hintergrund der Verwendung der Liedstrophen im Symphoniesatz festgestellt. Ihrer Ansicht nach markiert bereits der T. 109 den Beginn des zweiten Teils der Exposition, der sich nun an der ersten bzw. zweiten Liedstrophe orientiert und sich bis T. 132 erstreckt. 232 Wenngleich der Beginn des zweiten Teils zu unterschiedlichen Zeitpunkten verortet wird, stehen beide Deutungen in keinerlei Widerspruch zueinander, sondern resultieren aus dem jeweils eingenommenen Blickwinkel: Einmal stehen die Felder, einmal die Liedstrophen im Vordergrund. Nach erfolgter Auflösung in die Tonika A-Dur in T. 128 nimmt Mahler noch einmal Anlauf, um zum Höhepunkt der Exposition zu gelangen. Hierfür nutzt er eine Kadenz, die aus dem bisherigen Kontext derart herausragt, dass es nicht übertrieben ist, von einer ‚Inszenierung‘ zu sprechen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem auskomponierten Dominantseptnonakkord, der auf die chromatisch eingefärbte Subdominante mit sixte ajoutée folgt. 233 Bemerkenswert ist die Konzeption der Außenstimmen: Der Dominantgrundton e und die große None fis bilden einen Rahmen. Eingebettet in den aufgespannten Nonenrahmen erklingt ein für Orgelpunktpassagen typischer Satz
232
Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 31. In diesem Zusammenhang ist zweifellos das erstmalige Erklingen des charakteristischen Subdominantklangs zu erwähnen.
233
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie aus parallelen Sexten, der sich kontinuierlich und überwiegend chromatisch aufwärts schraubt, ehe sich die aufgestaute dominantische Energie in die Tonika in T. 135 entlädt. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht die soeben beschriebene Kadenz:
Abbildung 16: ‚Inszenierung‘ der Kadenz (T. 129–135)
Die inszenierte Kadenz sticht nicht nur hinsichtlich ihrer schieren Länge gegenüber allen bisherigen Kadenzen hervor. 234 Als Mittel der Höhepunktgestaltung der Exposition könnte sie auch hinsichtlich Faktur, Funktion und Wirkung kaum unterschiedlicher sein. Es gelingt Mahler, dem zu seiner Zeit vermeintlich verschlissenen Mittel der Kadenz unterschiedlichste Seiten abzugewinnen, es hinsichtlich seiner traditionellen Wirkung und Funktion zu hinterfragen und es dadurch für seine Zwecke nutzbar zu machen. Ausgehend vom traditionellen Sonatensatzschema entspricht der Abschnitt bis zum Doppelstrich der Schlussgruppe. Die erreichte Tonika A-Dur erlangt sogleich selbst Feldqualität, denn mit ihr kehren die charakteristischen Bordunquinten wieder, die instrumentatorisch vollends exponiert werden und abermals ein diatonisches A-DurBordunfeld artikulieren. 235 Oberhalb der Bordunquinten lässt sich der harmonische Verlauf wie schon des Öfteren auf ein Alternieren von Tonika und Dominantseptakkord zurückführen. Motivisch dominieren zunächst das Kopfmotiv des Gesellenliedes und das Tirili-Motiv. 236 Sie weichen ab T. 155 schließlich Elementen der Introduktion. Gemeint sind die im Register kontinuierlich absinkenden und dabei allmählich verklingenden Hornquinten und die Quartenmotive in den Holzbläsern, die gegen Ende zum
234
Gleichzeitig dienten sie als eher unscheinbare ‚Umschalthebel‘, um binnen kürzester Zeit von einem Bordunfeld zum anderen zu modulieren. 235 An dieser Stelle hat die Chromatik der Takte 149 und 150 keinesfalls denselben Stellenwert wie in den T. 117 ff. Vielmehr dient sie als eine Art ‚Füllmaterial‘. 236 Als Detail ist der kurzzeitig erklingende Fauxbourdon zu nennen, der aus dem Zusammenspiel von Trompeten und Hörnern resultiert.
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Analytischer Hauptteil Oktavintervall gespreizt werden. 237 Gleichzeitig rekurriert Mahler in aller Deutlichkeit auf die Einleitung durch das Aufspannen der charakteristischen Liegetöne in den Streichern. Mit Hilfe der Liegetöne wird darüber hinaus ein bruchloser und fließender Übergang von der Exposition zur Durchführung vollzogen. Ein bemerkenswertes Charakteristikum der Exposition ist sicherlich der fehlende Themendualismus. 238 An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine monothematische Konzeption grundsätzlich in keinerlei Konflikt zur traditionellen Sonatensatzform steht. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts finden sich solche insbesondere in den Werken von Joseph Haydn. 239 Danach jedoch setzt sich die mehrthematische Anlage als Gestaltungsprinzip durch, so dass monothematische Konzeptionen zu Mahlers Zeit als untypisch bezeichnet werden müssen. In der Mahlerforschung werden für den fehlenden Themendualismus unterschiedliche Gründe angeführt. Constantin Floros macht „für die Anomalien der Gestaltung [. . . ] die Liedvorlage verantwortlich“ 240, allerdings könnte zusätzlich zum Liedmaterial ein kontrastierendes Seitenthema formuliert werden. Ebenso denkbar ist, dass die mit einer eigenen Qualität aufwartende Introduktion ein kontrastierendes Seitenthema überflüssig macht. Anders ausgedrückt, die Gegenüberstellung von Naturlaute-Musik und Lied ersetzt gewissermaßen den traditionellen Themendualismus in der Exposition, 241 was allerdings mit den traditionellen Kriterien der Sonatensatzform nur schwer vereinbar ist.
Durchführung (T. 163–357) Die Durchführung lässt sich in drei große Abschnitte untergliedern, die sich jeweils deutlich voneinander unterscheiden. Während im ersten Abschnitt (T. 63–206) die Introduktion aufgegriffen wird, hat der zweite (T. 207–304) neben neuem thematischen Material zu Beginn im Kern die Liedvorlage zum Gegenstand. Der dritte Teil (T. 305– 357) fällt hingegen aus dem bisherigen Verlauf heraus und bildet einen deutlichen Kontrast. 242 237
Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 43. Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 13. 239 Vgl. Rosen, Charles, Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven (Kassel 1983), 5. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2006, S. 31. 240 Floros III, S. 31. 241 Vgl. Redlich, Hans Ferdinand, Gustav Mahler. Eine Erkenntnis, Nürnberg 1919, S. 183, zit. nach Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 48. 242 In der Mahlerforschung kann die dreiteilige Deutung der Durchführung als etabliert gelten. Dabei entspricht die vom Autor vorgeschlagene dreiteilige Anlage im Wesentlichen derjenigen von Constantin Floros (vgl. Floros III, S. 30) und auch derjenigen von Bernd Sponheuer (vgl. Sponheuer, Logik, S. 67). Letzterer unterscheidet zwar insgesamt nur zwei Durchführungsteile, allerdings wird der zweite Teil nochmals in zwei Abschnitte untergliedert. Eine ähnliche dreiteilige Gliederung schlägt Monika Tibbe vor (vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 26 f.). 238
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie 1. Durchführungsteil (T. 163–207): Das Aufgreifen der Introduktion zu Beginn der Durchführung kann als „Rückerinnerung“ 243 interpretiert werden. Zum Teil wird dies in der Mahlerforschung als Irregularität innerhalb der Sonatensatzform betrachtet. 244 Dabei stellt dies weder ein Novum noch eine Irregularität dar, was sich exemplarisch anhand des ersten Satzes von Beethovens Klaviersonate Op. 13 sofort aufzeigen lässt. 245 Nachdem die A-DurTonalität bereits am Ende der Exposition durch die kontinuierliche Ausdünnung des Tonvorrats mehr und mehr verblasst ist, herrscht zu Beginn der Durchführung dann wieder der schwebende tonale Anfangszustand des Satzes vor. Erstaunlicherweise verorten Monika Tibbe und Ekkehard Roch den Beginn der Durchführung in a-Moll, was jedoch unzutreffend ist. 246 Sicherlich sorgt das kreisende und nun diminuierte TiriliMotiv für eine gewisse Zentrierung des Tons a, allerdings ist zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Auskunft über eine eindeutige Tonalität möglich. Es erklingen lediglich drei unterschiedliche Tonhöhen, und zwar die Töne a, h und fis. Ebenfalls uneindeutig verhalten sich die Holzbläsereinwürfe in T. 166, die sich motivisch am ehesten auf die Ausrufe der Oboen in T. 15 beziehen lassen. Sie fügen sich zu einer akkordischen Progression zusammen, der ebenfalls ein achsentöniges Moment um den Ton a anhaftet:
Abbildung 17: Partiturausschnitt des T. 166
243 244 245 246
Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 157. Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 107. Vgl. Schmidt-Beste, Die Sonate, S. 116 f. Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 26 und Roch, Erste Symphonie, S. 98.
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Analytischer Hauptteil Die Fortschreitung des großen D-Dur-Septakkords und des A-Dur-Dreiklangs mit hinzugefügter großer None lässt sich sowohl als halbschlüssige Wendung in D-Dur als auch als plagale Wendung in A-Dur 247 deuten; folglich lässt es sich nicht entscheiden, ob der Streicherliegeton a den Quint- oder den Grundton repräsentiert. Auf ein Detail soll noch aufmerksam gemacht werden: Der Partitur-Ausschnitt lässt eine ‚sprunghafte‘ Stimmführung der Holzbläser erkennen. Aus der Partiturreduktion, die das tatsächliche Klangergebnis widerspiegelt, geht hingegen ein Stimmführungsgedanke hervor, der im Kern auf Parallelverschiebung beruht:
Abbildung 18: Partiturreduktion des T. 166
Diese vermeintliche Diskrepanz zwischen der markanten Stimmführung und dem mixturähnlichen 248 Klangergebnis lässt sich durch die Stimmkreuzung innerhalb einer jeden Holzbläsergruppe erklären. So übernimmt bspw. die erste Klarinette den Anschlusston der zweiten und umgekehrt. Die Vermeidung einer naheliegenderen parallelen Stimmführung in den Holzbläsern scheint letztlich aus motivischen Gründen zu erfolgen, denn mittels der charakteristischen Sprünge wird, wie soeben erwähnt wurde, ein Zusammenhang zum Empfindungslaut der Oboen in T. 15 f. hergestellt. Klärend – und zwar nach A-Dur – wirkt dann noch im selben Takt das Quintenmotiv (a-e) in der Piccoloflöte. 249 Daran schließt sich in den Violoncelli ein neues motivisches Element an, das in der Mahlerforschung auch als „Seufzermotiv“ 250 bezeichnet wird. Es erklingt an dieser Stelle „gleichsam bruchstückartig“ 251 und wird „im zweiten Teil der Durchführung zum Seufzerthema“ 252 weiterentwickelt. Ein Bezug zum motivischen Grundbaustein des Kopfsatzes, der Quarte, lässt sich auch beim Seufzermotiv, das als deren „intervallische Umkehr“ 253 gedeutet werden kann, herstellen. In tonaler Hinsicht
247
Aufgrund einer fehlenden klärenden VII. Stufe kann nicht endgültig geklärt werden, ob es sich um a-Mixolydisch oder A-Dur handelt. 248 Mixtur kann wie folgt definiert werden: „In Anlehnung an das mehrchörige Orgelregister ‚Mixtur‘ wird die Parallelführung von allen Tönen eines Mehrklangs genannt“ (Gárdonyi / Nordhoff, Harmonik, S. 148). 249 Die Beziehung zum Quartenmotiv ist offensichtlich. 250 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 44. 251 Floros III, S. 31. 252 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 44. 253 Sponheuer, Logik, S. 63.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie bestätigt es also ebenfalls den Grundton a. Mit Hilfe der Grundtonkraft des Quartenmotivs (d-a) in der Klarinette schwenkt Mahler in T. 172 nach D-Dur, ehe sich nach zweimaligem Erklingen des Tirili-Motivs in der Flöte, das von zarten Harfentupfern interpunktiert wird, die Stimmung eintrübt. Verantwortlich hierfür ist die Mollfärbung des Seufzermotivs, die durch die Modifikation des Tons fis zum Ton f erzielt wird. 254 Am Ende des ersten Teilabschnitts der aufgegriffenen Introduktion (T. 178) – und erst hier – lenkt Mahler mit Hilfe des in die Länge gezogenen Quintenmotivs (e-a) in der Oboe dann in eine a-Moll-ähnliche Sphäre. 255 Das subtile tonale Changieren am Beginn der Durchführung über einen Kamm zu bürsten, indem man es generalisierend als „a-Moll“ hinstellt, heißt, eines der wesentlichsten Elemente der Mahler’schen Tonsprache zu ignorieren. Insgesamt schweben die T. 163–179 wie der Satzbeginn zwischen einer A- und einer D-Tonalität. Ebenfalls in Anlehnung an den Satzbeginn erfolgt der äußerst sensible Umgang mit Leittönen: Der Leitton cis für D-Dur / d-Moll erklingt lediglich zweimal punktuell innerhalb der Holzbläserakkorde und wirkt dabei bemerkenswert ‚unleittönig‘, der Leitton gis für A-Dur / a-Moll wird gänzlich vermieden. Zur Steuerung der Grundtonwahrnehmung werden abermals die Quarten- und Quintenmotive verwendet. Anhand ihrer Einsätze in T. 166 f. (Grundton a), T. 172 f. (Grundton d) und T. 178 (Grundton a) wird darüber hinaus das harmonische Gerüst erkennbar, das, ausgehend vom Grundton a, einer plagalen I-IV-I-Wendung entspricht. Der Reiz der Passage besteht nicht zuletzt darin, dass sich die zeitliche Reichweite der Grundtonkraft nicht exakt bestimmen lässt. So deutlich die auf Quarten und Quinten beruhenden Motive ihre Grundtonkraft für den Zeitpunkt ihres Erklingens entfalten, so unklar bleibt die zeitliche Ausdehnung ihrer Wirkung. Sie scheint kurz nach ihrem Erklingen bereits wieder zu schwinden, was der Musik ihren spezifischen Schwebecharakter verleiht. Durch das Eintreten des Liegetons f in den Kontrabässen und der Tuba (alternativ Kontrafagott) 256 erlangt die aufgegriffene Einleitung ab T. 180 eine neue Qualität, die sich sowohl instrumentatorisch in der enormen Spannweite des Registers als auch in der Verkomplizierung der tonalen Verhältnisse widerspiegelt. Vor allem letzterer Aspekt ist in der Mahlerforschung kaum untersucht worden und soll nun einen Schwerpunkt bilden. Bisweilen wird der Liegeton f als Orgelpunkt und gleichzeitig als Terz von d-Moll gedeutet, 257 was vor dem Hintergrund einer traditionellen Orgelpunktbehandlung als widersprüchlich bezeichnet werden muss 258 und der Komplexität dieser Takte nicht gerecht wird. Allen weiteren Ausführungen voran kann festgestellt werden, dass die Takte 180 ff. in Mahlers Schaffen eine Besonderheit darstellen und eine besonders feingliedrige
254
Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 43. Es fehlt die Mollterz c. 256 Dies geht aus Mahlers Partitureintrag hervor: „Wenn der Tubist diesen tiefen Ton nicht pp herausbringt, so ist derselbe dem Contrafagott zuzutheilen“. 257 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 58. 258 Es wird prinzipiell zwischen tonikalen und dominantischen Orgelpunkten unterschieden. 255
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Analytischer Hauptteil Analyse erfordern. Die bislang verlässlichen Indikatoren zur Grundbestimmung – die Quarten- und Quintenmotive – büßen an Eindeutigkeit innerhalb des aufgespannten Dezimenrahmens (f-a) ein. Da sich die Tonalität kurz vor T. 180 in einem a-Moll-ähnlichen Bereich bewegt, ist der einsetzende Liegeton f zunächst als Sextton zu deuten. Mit zunehmender Dauer jedoch scheint der Basston die Rolle als Sextton abzustreifen und sich selbst als Grundton auszunehmen. Das Verfahren der „Klangunterterzung“ 259 eines zuvor vorherrschenden Grundtons in der Bassstimme stellt ja auch grundsätzlich kein kompositorisches Novum dar. 260 An der hier diskutierten Stelle kann keine eindeutige Antwort auf die Frage gegeben werden, ob die Töne des Quintenmotivs (e-a) in der Klarinette und des Seufzermotiv-Fragments (e-a) in den Celli in a-Moll als Quint- und Grundton – der Basston f würde demnach als Sextton fungieren – oder in F-Dur als Septim- und Terzton – der Basston hätte Grundtonfunktion inne – zu deuten sind. Einen Takt später klärt das Quartenmotiv dann nach d-Moll, da zusammen mit den Liegetönen faktisch ein d-MollSextakkord erklingt. In d-Moll ist auch das einsetzende Seufzermotiv zu betrachten, wenngleich auch dieser tonale Bezug kontinuierlich verblasst und sich dieselbe Frage wie zuvor stellt. In T. 189–192 erfolgt dann ein Rückgriff auf zwei prägende Gestalten der Introduktion: das Quartenthema und das chromatische Bassmotiv. 261 Ihre Einbettung in den aufgespannten Dezimenrahmen (f-a) lässt auch diese in einem neuen Licht erscheinen. Die Tonalität bleibt jedoch auch weiterhin in der Schwebe. Taktweise nacheinander wechselt der tonale Bezug: Auf a-Moll folgen F-Dur und schließlich d-Moll. Dieser harmonische Terzfall orientiert sich nicht nur an der Mechanik des Quartenthemas, sondern führt genau die drei tonalen Zentren nacheinander vor Augen, zwischen denen sich die Introduktion seit T. 180 bewegt. Im Vergleich zur Introduktion verdichtet sich der Satz im Anschluss nicht weiter, sondern erhält stattdessen ein neues Element: Ein Fauxbourdon in den Hörnern. 262 Der Fauxbourdon fügt sich mit seiner charakteristischen Quarte zwischen den Oberstimmen nahtlos ein, erklingt zweimal und weist mit seinem Tonvorrat insgesamt nach d-Moll. Tonal klärend wirken zudem die dominantischen A-Dur-Dreiklänge, die an den jeweiligen Eckpunkten platziert sind:
259
Vgl. La Motte, Harmonielehre, S. 178 ff. Eine ähnlich geartete Stelle findet sich bspw. in den T. 122 ff. im Kopfsatz von Franz Schuberts h-Moll-Symphonie. Dort wird die vorherrschende Tonart e-Moll durch den Sextton c unterterzt. 261 Trotz geringfügiger Modifikation verhalten sich diese Takte insgesamt analog zu den T. 49–52. 262 Ein motivischer Zusammenhang zwischen Fauxbourdon und Bassmotiv ist dabei nicht von der Hand zu weisen (vgl. Sponheuer, Logik, S. 61). 260
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie
Abbildung 19: Im ambivalenten Feld eingebetteter Fauxbourdon (T. 192–194 und T. 196–198)
Zwischen den Fauxbourdon-Episoden erklingen zwei Takte, die weniger tonal, 263 sondern vielmehr motivisch von Bedeutung sind. Dabei geht es insbesondere um das chromatische Bassmotiv, das an dieser Stelle vor allem rhythmisch modifiziert wird, indem die charakteristische Achteltriole durch ein Achtelpaar ersetzt wird. 264 Diese modifizierte Gestalt – Bernd Sponheuer bezeichnet sie als „Schrittmotiv“ 265 – wird im dritten Durchführungsteil noch eine wichtige Rolle spielen. Genau im Augenblick der vermeintlichen Etablierung von d-Moll als Tonalität lenkt Mahler in eine andere Richtung, indem er den Leitton cis durch den Ton c ersetzt. Dadurch wird der A-Dur-Dreiklang in den Hörnern in T. 200 nach a-Moll eingetrübt, was jegliche dominantische Strebewirkung zunichtemacht. 266 Das zeitgleich dazu erklingende Seufzermotiv in den Celli verhält sich dementsprechend und scheint zunächst in d-Moll anzuheben, um dann doch nach a-Moll einzuschwenken. In Folge rekurriert Mahler auf die mixturähnlichen Holzbläserakkorde, die aus T. 166 ff. stammen, und lässt sie der Unterterzung folgend eine große Terz abwärts transponiert erklingen. Tonal bedeutet dies, dass sie sowohl als halbschlüssige I-V-Progression in B-Dur als auch als plagale IV-I-Fortschreitung in F-Dur gedeutet werden können. Gleichzeitig weisen die melodischen Bausteine, das Quartenmotiv (d-a) in der Klarinette und das auf das 263
Die beiden Takte bewegen sich in den soeben genannten Bereichen d-Moll, a-Moll und F-Dur. 264 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 61. Wenngleich das Bassmotiv auch zuvor niemals streng chromatisch geführt worden ist, sind der Verzicht auf jegliche Chromatik und der nun vorherrschende diatonische Schwerpunktan dieser Stelle ebenfalls hervorzuheben. 265 Ebd. 266 Der Akkord (a-h-f) einen Takt davor ist weniger als eigenständige Harmonie, sondern vielmehr als Vorhaltsgebilde zum nachfolgenden a-Moll-Dreiklang zu deuten. Präzise ausgedrückt, es liegt ein doppelter Vorhalt vor: Der Ton h ist als Non-, der Ton f als Sextvorhalt zu interpretieren.
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Analytischer Hauptteil Intervall der Quarte (d-a) verengte Seufzermotiv, bereits wieder nach d-Moll. Mahlers Spielanweisung „sehr zurückhaltend“ für die Schlusstakte des ersten Durchführungsteils (T. 203 ff.) unterstützt die Wirkung des harmonischen Stillstands ebenso wie den zum Erliegen kommenden musikalischen Fluss. Einzig die aufblitzenden Quartenmotive und der einsetzende flüsterleise Wirbel der Großen Trommel schüren eine Hörerwartung. Harmonisch kommt das Verharren auf dem großen B-Dur-Septakkord einem Fragezeichen gleich und dabei stellt sich die Frage nach dessen Funktion. 267 Tonal klärend – doch weder in die eine noch in die andere Richtung – wirkt schließlich die überraschend einsetzende, kompakte und in den zweiten Durchführungsteil hinüberführende Kadenz. Überraschend ist die Kadenz vor allem deshalb, weil sie die erste und einzige im gesamten ersten Durchführungsteil ist und vom Komponisten bis zum allerletzten Moment aufgespart worden ist. Wenngleich diese Kadenz nur schwer vergleichbar mit derjenigen aus T. 129 ff. ist, scheint es dennoch angemessen, auch an dieser Stelle von einer Inszenierung zu sprechen. Bislang weitgehend unberücksichtigt in der Mahlerforschung ist die Tatsache, dass die Kadenz nicht unmittelbar zur Tonika D-Dur führt. Sicherlich ist der Beginn des zweiten Durchführungsteils insgesamt in D-Dur zu verorten, allerdings wird die Tonart D-Dur nicht kadenziell, sondern mittels Tonikalisierung ausgeprägt. Die Kadenz selbst weist nämlich eigentlich nach g-Moll mit ihrem übermäßigen Terzquartakkord bzw. einem A-Dur-Septakkord mit tiefalterierter Quinte (es-g-a-cis), traditionell also einer Doppeldominante. 268 Der D-Dur-Dreiklang wirkt folglich zunächst dominantisch in g-Moll. Mit zunehmender Dauer verblasst jedoch seine dominantische Wirkung und schließlich sorgen die Quartenmotive in den Holzbläsern und vor allem das „Fanfarenthema“ 269 in den Hörnern für die Durchsetzung von D-Dur als neuer Tonart. 270 Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht die soeben beschriebene Kadenz:
267
Konkret stellt sich die Frage, ob er an dieser Stelle als Grundakkord in B-Dur oder als Septakkord der VI. Stufe in d-Moll fungiert. 268 Eine Beschreibung nebst historischer Herleitung (ausgehend von der phrygischen Wendung) der traditionell doppeldominantisch verwendeten übermäßigen Sext-, Terzquart- und Quintsextakkorde liefern u. a. Wolfgang Budday (Budday, Wolfgang, Harmonielehre Wiener Klassik. Theorie – Satztechnik – Werkanalyse, Stuttgart 2002, S. 76 f. und S. 160 ff.) und Clemens Kühn (Kühn, Clemens, Analyse lernen (Kassel 1993), 4. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2002, S. 44 f.). 269 Die Bezeichnung findet sich u. a. bei Monika Tibbe (vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 44). 270 Das soeben erläuterte Verfahren der Tonikalisierung erinnert nicht zuletzt stark an den Beginn der Exposition, wo Mahler auf ähnliche Art und Weise einen zunächst dominantischen Klang zu einem tonikalen umfunktionierte, um von D-Dur nach A-Dur zu gelangen.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie
Abbildung 20: ‚Inszenierung‘ der Kadenz am Ende des ersten Durchführungsteils (T. 205– 207)
Im Gegensatz zur Introduktion bescheinigt Monika Tibbe dem ersten Durchführungsteil „deutlich einleitende Funktion“ 271. Dafür sprächen das einheitliche Tempo und der thematische Entwicklungsstrang vom Seufzermotiv hin zum Fanfarenthema. 272 Dagegen sprechen allerdings sowohl dramaturgische als auch tonale Aspekte, die dabei Hand in Hand gehen. Der erste Durchführungsteil entbehrt einer kontinuierlichen Steigerung, wie sie in der Introduktion, T. 47 ff. beobachtet werden konnte. Stattdessen hält Mahler das musikalische Geschehen bis zum allerletzten Moment in der Schwebe und die am Ende des Abschnitts platzierte Kadenz stellt keineswegs den Zielpunkt einer Entwicklung, sondern eine Überraschung dar. 273 Im Vergleich zur Introduktion verfährt Mahler zu Beginn der Durchführung dramaturgisch und thematisch genau umgekehrt: Die Introduktion weist hinführenden Charakter zur Exposition auf, was jedoch nichts am Eindruck der thematischen Unverbundenheit der beiden Formteile ändert, der erste Durchführungsteil hingegen ist wenig zielführend, wirkt jedoch thematisch stringenter aufgrund der Entwicklung vom Seufzermotiv bis hin zum Fanfarenthema, das den zweiten Durchführungsabschnitt eröffnet. Bislang lässt sich kaum von einer Durchführung im traditionellen Sinn sprechen. Es wird weder vorangegangenes thematisches Material verarbeitet, noch liegt eine
271
Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 43 f. 273 Sie taucht vielmehr ohne Vorbereitung auf und gleicht einem Eingriff in die NaturlauteMusik, der sie gleichzeitig auch beendet. Darüber hinaus führt die Kadenz zunächst in eine andere tonale Richtung, ehe sich mittels Tonikalisierung das eigentliche Ziel herauskristallisiert. 272
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Analytischer Hauptteil durchführungstypische harmonische Dynamik vor. 274 Mahler verweigert sich diesen traditionellen Verfahrensweisen, zieht sich auf eine elementare motivische Ebene 275 zurück und formt weitgehend abgeschottet vom Geschehen der Exposition aus dem Urelement der Quarte das für den weiteren Satzverlauf wichtige Seufzermotiv, aus dem sich danach das Fanfarenthema und später das Seufzerthema entwickelt. Diese ‚kunstmusikalische Entwicklung‘ führt nicht zuletzt dazu, dass die zu Beginn der Durchführung aufgegriffene Introduktion „etwas von ihrem [ursprünglichen] Naturlautcharakter“ 276 einbüßt. 2. Durchführungsteil (T. 207–304): Das Fanfarenthema erfüllt darüber hinaus eine vermittelnde Funktion zwischen den Bereichen Naturlaute-Musik und Lied, denn es vereint Charakteristika beider. 277 Das Elementare zeigt sich nicht nur an der exponierten und omnipräsenten Quarte, sondern auch daran, dass das Thema melodisch nicht über eine Dreiklangsbrechung hinausgelangt. Das Liedhafte äußert sich vor allem in der klaren periodischen Gliederung, in die sich nach kurzer Zeit auch die Quartenmotive, die zunächst noch wie ein Relikt der Naturlaute-Musik wirken, konfliktlos einfügen. 278 Das im ersten Teil der Durchführung vorgestellte Seufzermotiv wird – nachdem das Fanfarenthema verklungen ist – in T. 220 ff. zu einer „kantable[n] Melodie“ 279 bzw. zum Seufzerthema weiterentwickelt. Kurze Zeit später geht es nahtlos in die Liedvorlage über. Im Kern orientieren sich T. 225–242 an der „dritten Liedstrophe (Lied T. 79–97) bzw. [an] den Expositionstakten 88–108, wobei die Takte 107/108 ausgelassen werden“ 280. Als neues Element wird in das sich in T. 229 anschließende A-Dur-Bordunfeld eine „terzbegleitete Melodie in Hörnern und Violoncelli, die aus der Schlußgruppe der Exposition (T. 144/155) stammt“ 281, eingefügt. Vergleicht man den modulatorischen Übergang von D-Dur nach A-Dur mit dem der Exposition in T. 91 f., – dort waren es A-Dur und E-Dur – zeigt sich, dass die Kadenz nun nicht mehr manipuliert, sondern gewissermaßen schulmäßig vollzogen wird, wodurch sie gleichzeitig ein Maximum an syntaktischer Wirkung erzielt. Einen möglichen Grund für ihre Modifikation liefert der Takt 243. Dieser markiert tonal einen Wendepunkt, denn erstmals im Satz verlässt Mahler die bislang prägenden tonalen Regionen D-Dur und A-Dur 282 und erschließt den „Kreis der 274
Vgl. Kühn, Formenlehre der Musik (Kassel 1987), 6. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2001, S. 129. Der vorherrschende tonale Schwebezustand ist dabei gerade das Gegenteil von harmonischer Dynamik. 275 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 108. 276 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 48. 277 Vgl. ebd., S. 44. 278 Ebd. 279 Floros III, S. 31. 280 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 34. 281 Ebd. 282 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 44.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie B-Tonarten“ 283, in den das Liedmaterial nun getaucht wird. Bezeichnend ist, dass Mahler genau an dieser Stelle erstmals im Satz Felder nicht syntaktisch miteinander verknüpft, sondern sie parataktisch aneinanderreiht. Das mittels Rückung erreichte Feld, das in Cis-Dur bzw. Des-Dur anhebt, ist der erste tonal wirklich exterritoriale Bereich. Die Rückung wirkt an dieser formalen Nahtstelle umso plastischer nach dem ‚perfekten‘ kadenziellen Übergang zuvor, was zugleich eine nachträgliche Erklärung für die schulmäßige Kadenz liefert. Es sei angemerkt, dass sowohl eine Cis-Dur- als auch eine Des-Dur-Perspektive möglich ist: Cis-Dur ist lokal bzw. im Rahmen der Rückung zu präferieren, da dadurch die Großterzbeziehung zwischen dem vorangegangenen A-Dur hervorgeht, im Hinblick auf die makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes ist – wie noch zu zeigen sein wird – hingegen Des-Dur zu bevorzugen. Das in T. 243– 256 verwendete motivische Material orientiert sich nicht mehr unmittelbar an der Liedvorlage, sondern wird daraus „buntscheckig zusammengesetzt“ 284, was den prinzipiellen Umgang mit dem Liedmaterial nochmals verdeutlicht: Mahler verfährt nicht prozesshaft entwickelnd, sondern präsentiert die Elemente „in wechselnder Beleuchtung“ 285. Nach vier Takten (ab T. 247) gesellt sich der Ton b zur Des-Dur-Harmonie hinzu, so dass sich ein Quintsextakkord (des-f-as-b) ergibt. 286 Letzterer ist traditionell als Subdominante mit sixte ajoutée konnotiert und signalisiert demnach die Tonart As-Dur. Doch von As-Dur als Tonart kann in den nächsten Takten keine Rede sein. Vielmehr verblassen die subdominantischen Eigenschaften des Quintsextakkords mit zunehmender Dauer und anstelle einer kadenziellen Bestätigung etabliert sich in T. 251 b-Aeolisch als neue Tonalität. Der Wechsel von Des-Dur nach b-Aeolisch vollzieht sich dabei nahezu unmerklich, da sowohl die Diatonik als auch der das Feld artikulierende Basston des, der nun innerhalb von b-Moll als Terzton fungiert, beibehalten werden. Maßgeblich zur Tonikalisierung von b-Aeolisch tragen die akkordischen Hörner, 287 die dreiklangsartige Melodik in den Violinen und Violen und insbesondere die b-Moll-Fassung des Kopfmotivs des Gesellenliedes in der Trompete (T. 252) bei. Es sei angemerkt, dass innerhalb des Kopfsatzes der Ersten zum ersten Mal ein artikulierender Liegeton als Terzton und nicht wie bislang als Grund- oder Quintton in einer vorherrschenden Tonart fungiert. Dies stellt in Mahlers Schaffen allerdings kein Novum dar, wie Oliver Korte in seiner Untersuchung von Mahlers Symphoniekantate Das klagende Lied aufzeigen konnte. 288 Der Wechsel von Des-Dur nach b-Moll oberhalb der Bassebene hat letztlich weniger eine Änderung des Feldtyps als vielmehr eine Änderung der Morphologie des Bordunfel-
283 284 285 286 287 288
Floros III, S. 31. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 34. Floros III, S. 31. Deutlich wird er in der Harfe abgebildet. Der b-Moll-Dreiklang wird mittels Quartsextvorhalt umspielt. Vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 185.
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Analytischer Hauptteil des zur Konsequenz: Es erhält dadurch eine Molltrübung im weiteren Sinne. 289 Letztere signalisiert gleichzeitig das Ende des Bordunfeldes. Die nachfolgende As-Dur-Passage (T. 257 ff.) folgt übergangslos auf das Bordunfeld. Dabei stehen beide Abschnitte eher unverbunden nebeneinander, was harmonisch insofern bemerkenswert ist, als der b-Moll-Dreiklang einen Takt zuvor, der kleine Es-DurSeptakkord und der kurze Zeit später ertönende As-Dur-Dreiklang eine ausnahmsweise lupenreine ii-V-I-Progression bilden. Hauptverantwortlich für den disparaten Klangeindruck bzw. für die Abschwächung der Kadenz sind wieder einmal das plötzliche hebelartige Umschalten von Abschnitt zu Abschnitt, wodurch das tonikalisierte b-Moll erst rückwirkend zur ii. Stufe wird, und Mahlers spezifische Instrumentation, seine „SchnittTechnik“ 290. Er instrumentiert die beiden Abschnitte maximal unterschiedlich und beginnt den neuen Teil mit frischen unverbrauchten Klangfarben. 291 Dies gelingt ihm hauptsächlich dadurch, dass er nahezu alle am Bordunfeld beteiligten Instrumente / Instrumentengruppen aussetzen und an der formalen Nahtstelle andere einsetzen lässt. 292 Wieder einmal sorgt der Komponist dafür, dass eine syntaktische Verknüpfung zweier Abschnitte manipuliert und in ihrer Wirkung entscheidend abgeschwächt wird. Der As-Dur-Abschnitt selbst folgt wiederum der Liedvorlage. 293 Gleichzeitig handelt es sich um eine Variante der Expositionstakte 117 ff., die sich motivisch von ihrem Pendant vor allem dadurch unterscheidet, dass sich in den ersten vier Takten die Liedvorlage und das Seufzerthema überlagern. 294 Hier wie dort liegt ein dominantisches Orgelpunktfeld vor, wenngleich nun ein artikulierender Liegeton in der Bassstimme auf den ersten Blick zu fehlen scheint. Eine genaue Betrachtung der melodischen Faktur der Bassstimme zeigt, dass der Quintton es als melodischer Dreh- und Angelpunkt fungiert. 295 Durch die Regelmäßigkeit seines Erklingens erlangt der Achsenton liegetonähnliche Qualitäten, so dass er anstelle eines solchen hier also das dominantische
289
Es handelt sich um eine Molltrübung im weiteren Sinne, da kein unmittelbarer Wechsel in den Variantklang (von Des-Dur nach des-Moll) erfolgt. 290 Vgl. Jost, Peter, Mahlers Orchesterklang, in: Mahler-Handbuch, hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Stuttgart und Weimar 2010, S. 120 f. Zum Begriff der Schnitt-Technik sei ferner auf Sander Wilkens verwiesen (Wilkens, Sander, Gustav Mahlers Fünfte Symphonie: Quellen und Instrumentationsprozeß, Frankfurt am Main u. a.: C. F. Peters 1989, S. 131 ff.). 291 Vgl. ebd., S. 121. 292 Besonders deutlich zeigt sich dies an den ersten Violinen, deren melodische Linie mit einem Mal abreißt. Die zweiten Violinen und die Violen werden zwar beibehalten, allerdings wechseln sie ihre Spieltechnik von pizzicato auf arco, so dass sie ebenfalls eine neue Klangfarbe beimischen. 293 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 34 f. 294 Der weitere Verlauf entspricht dann trotz einiger Modifikationen im Kern der Exposition. 295 Deutlich wird das achsentönige Moment vor allem nach den ersten vier Takten, die auf einem Alternieren von Dominantseptakkord und Tonika basieren.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Orgelpunktfeld artikuliert. Als orgelpunkttypisch kann zudem die charakteristische Terzen- und Sextenführung oberhalb der Bassstimme gelten. An die Auflösung in die Tonika (T. 268) schließt sich die aus T. 129 ff. stammende inszenierte Kadenz an. Auch sie orientiert sich zunächst an ihrem Vorgänger in der Exposition, doch nun verfehlt der auskomponierte Dominantseptnonakkord sein erwartetes tonikales Ziel. Stattdessen wird mittels Rückung ein weiterer Dominantseptnonakkord angehängt, der nach C-Dur weist. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den abrupten Tonalitätswechsel:
Abbildung 21: ‚Inszenierung‘ der Kadenz und Rückung (T. 269–274)
Der musikalische Verlauf nach der Rückung entspricht im Wesentlichen T. 265 ff. 296 Und aufgrund dieser Analogie ist in T. 279 ff. die inszenierte Kadenz zu erwarten. Doch auf die erklingende Subdominante 297 folgt nun eben nicht mehr der markante auskomponierte Dominantseptnonakkord. Stattdessen wird bereits der Tonvorrat so modifiziert, dass die subdominantischen Eigenschaften des F-Dur-Dreiklangs innerhalb von C-Dur mit zunehmender Dauer verblassen und sich stattdessen F-Dur als neue Tonika zunehmend etabliert. Nachdem kurze Zeit später die Ostinati bzw. die sukzessiv erklingenden Bordunquinten (f-c) in der Harfe für weitere Stabilität von F-Dur sorgen, ist es der Einsatz des Kopfmotivs des Liedes in den Holzbläsern (T. 282), der schließlich eindeutig nach F-Dur klärt. Das gesamte Verfahren der Tonikalisierung erinnert ein weiteres Mal an T. 71 ff. Wenngleich dort kein subdominantischer, sondern ein dominantischer Klang vorgelegen hat, vollzieht Mahler mit nahezu denselben Mechanismen die Tonikalisierung. Innerhalb des sich über knapp zwanzig Takte erstreckenden F-DurBordunfeldes, das Mahler mit Hilfe der erwähnten Ostinati artikuliert, wird das Liedmaterial mit dem Seufzerthema durchmischt. Mit dessen nächstem Einsatz in T. 299 296
Im Unterschied zu vorher wird vor allem auf die achsentonmelodische Bassstimme verzichtet. Harmonisch liegt ein Wechsel von Dominantseptakkord und Tonika vor. 297 Aufgrund der nun fehlenden sixte ajoutée wirkt die Subdominante als charakteristischer kadenzieller Signalklang im Vergleich zu den analogen Passagen weniger zwingend.
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Analytischer Hauptteil trübt sich dann mit einem Mal die Stimmung nach f-Moll. Damit wird sowohl das Ende des Bordunfeldes angedeutet, als auch bereits die tonalen Weichen für den dritten und letzten Durchführungsteil gestellt, der ab T. 305 ff. anzusetzen ist. 298 Dieser Teil wird über eine Terzstiegsequenz erreicht (T. 298–304):
Abbildung 22: Molltrübung und Terzstiegsequenz (T. 298–306)
Offenkundig nutzt Mahler die Sequenz nicht zu Modulationszwecken, wie es traditionell möglich wäre. Sie dient vielmehr dazu, die harmonische Statik des Feldes temporär aufzubrechen, ohne dabei die vorherrschende F-Tonalität in Frage zu stellen. Dies gleicht einer Drehung um die eigene Achse oder anders ausgedrückt: Die Harmonien zwischen den harmonischen Eckpfeilern – dem F-Dur- und dem f-Moll-Dreiklang – weisen transitorische Züge auf. Das Erreichen der f-Moll-Tonika markiert schließlich den Beginn des dritten und letzten Durchführungsteils. 3. Durchführungsteil (T. 305–357): Der dritte und letzte Durchführungsteil ragt aus dem bisherigen Satzverlauf deutlich heraus. Dies ist nicht nur auf seine bedrohliche f-Moll-Atmosphäre zurückzuführen, die ihn zur Naturlaute-Musik und zur pastoralen Liedvorlage kontrastieren lässt. Er unterscheidet sich insgesamt durch seinen „symphonischen Anspruch [. . . ]“ 299 und kommt dadurch einer traditionellen Durchführung am nächsten. 300 Zutreffend charakterisiert Paul Bekker den Abschnitt zudem als „Geburtsstätte des Finale“ 301, denn Mahler antizipiert hier nicht nur die Tonalität, sondern in T. 311 ff. auch das Hauptthema
298
Monika Tibbe setzt den dritten Durchführungsteil bereits in T. 299, also bei der Molltrübung, an (vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 27). Wenngleich diese Deutung tonal legitimiert ist, ereignet sich die echte Zäsur bzw. der echte Stimmungswechsel erst in T. 305. 299 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 45. 300 Vgl. ebd. 301 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 45.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie des Finalsatzes. 302 Das Erklingen dieses innerhalb des Kopfsatzes fremden Abschnitts scheint daher weniger aus formalen, sondern vielmehr aus programmatischen Gründen zu erfolgen, so dass er als düstere Vorahnung oder bildhaft als dunkle Wolken am Himmel über der ungetrübten Naturstimmung gedeutet werden kann. 303 Motivisch spielen im dritten Durchführungsteil das Seufzermotiv und die „Schrittmotivvariante“ 304 (eine auftaktige Version des Schrittmotivs, das dem T. 195 f. entstammt) eine Hauptrolle. Diese lässt Mahler – abgestützt von Umspielungsfiguren 305 und kurze Zeit später von Liegetönen der Hörner – imitatorisch durch die Instrumente / Instrumentengruppen wandern, ehe das Finalsatzthema von den Holzbläsern (T. 311– 315) intoniert wird. Letzteres kann dabei als motivische Synthese charakterisiert werden: Das achsentonmelodische Moment, also das regelmäßige Ansteuern des Grundtons f, scheint dem Seufzermotiv entliehen zu sein, der Auftakt, die stufige Bewegung aufwärts und die Chromatik können dem chromatischen Bassmotiv bzw. der Schrittmotivvariante zugeschrieben werden. 306 Der in der Dynamik an- und abschwellende Oktavsprung abwärts (f-f), der sich ab T. 316 als motivisches Element festsetzen kann, lässt sich als das Ergebnis einer Abspaltung und Dehnung des Sextintervalls des Seufzermotivs deuten. 307 In den ersten Violinen wird daraus sogleich eine achsentönige Figur geformt, die die Grundharmonie des Abschnitts – den f-Moll-Dreiklang – sukzessiv horizontal abbildet. Darunter pulsieren die Umspielungsfiguren in den zweiten Violinen und in den Violen sowie die sequenziell angelegte Schrittmotivvariante in den Celli und Kontrabässen, die sich kontinuierlich stufig aufwärts schraubt und in T. 319 schließlich in den Ton des mündet. Das beschriebene motivische Geschehen spielt sich innerhalb eines Feldes ab, das durch die Liegetöne f und durch die den Grundton zentrierenden Umspielungsfiguren artikuliert wird. Als wichtiges Detail und Unterscheidungsmerkmal zu den anderen bislang erklungenen Feldern ist die Lage der artikulierenden Töne zu nennen: Sie befinden sich größtenteils nicht in der Bassregion, sondern eher in einer Mittelstimmenlage und darüber, wodurch das Feld insgesamt nicht so geerdet wirkt. Die f-Moll-Tonalität wird nicht kadenziell, sondern durch den überwiegend diatonischen Tonvorrat und durch die bereits beschriebene grundtonzentrierende Melodik ausgeprägt. Es zeigt sich also, dass das Feld modale Eigenschaften besitzt. Gleichzeitig wird deutlich, dass es sich nicht um ein Orgelpunkt- oder ein Bordunfeld handeln kann und dass es mit diesen tradierten
302
Der Titel des Finalsatzes „Dall’ Inferno“ (Hamburger Konzertzettel, vgl. La Grange, Volume 1, Abb. 47) wurde von Mahler anlässlich der Aufführung der Ersten in Weimar in „Dall’ Inferno al Paradiso“ abgeändert (vgl. Floros III, S. 26). 303 Vgl. ebd., S. 31. 304 Sponheuer, Logik, S. 61 und Roch, Erste Symphonie, S. 109. 305 Gemeint sind die Achtelfiguren f-e-f und f-g-f. Diese auf die Vogelrufe zuvor zu beziehen, ist durchaus möglich (vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 45). 306 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 61. 307 Vgl. ebd., S. 67.
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Analytischer Hauptteil Termini nur unzureichend erfasst werden kann. Dies macht einen neuen Terminus technicus erforderlich. Aufgrund der vorhandenen Eigenschaften sollen derartige Felder als modale Felder bezeichnet werden. Im Unterschied zu den Bordunfeldern, die ebenfalls modal konzipiert sein können, entbehren modale Felder der borduntypischen Semantik und verhalten sich vor allem hinsichtlich des Tongeschlechts flexibler. Die Morphologie des Feldes ändert sich dann erstmals in T. 319. Dort bedient sich Mahler des Kunstgriffs der Unterterzung, der bereits in T. 189 ff. zum Einsatz gekommen ist, so dass das modal konzipierte f-Moll-Feld nun vom Sextton des artikuliert wird. Instrumentatorisch sind daran die Einsätze der Tuba, des Kontrafagotts und der Kontrabässe gekoppelt, die gemeinsam die Tiefe des Bassregisters ausloten und zusammen mit den Liegetönen der Hörner und Trompeten, dem Paukenwirbel und insbesondere der dynamisch an- und abschwellenden Oktavsprünge in den Violinen und Flöten für eine immer bedrohlichere und unheilvollere Atmosphäre sorgen. Wie eingeschoben wirkt dann die kompakte Des-Dur-Kadenz, wodurch der Basston kurzzeitig zum Grundton umfunktioniert wird. Von einer Modulation zu sprechen, wäre jedoch verfehlt, vielmehr ist es ein subtiler Effekt zwischen engst verwandten Tonarten. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht die soeben beschriebenen Aspekte:
Abbildung 23: Unterterzung des f-Moll-Feldes und eingeschobene Des-Dur-Kadenz (T. 319–323)
In den Trompeten blitzt in T. 324 das altbekannte Element des Weckrufs auf, der auch innerhalb des düsteren Durchführungsabschnitts als Reminiszenz an die NaturlauteMusik der Introduktion wahrgenommen wird. 308 Während in den hohen Holzbläsern in T. 328 noch einmal das Finalsatzthema angerissen wird, erklingt in der Bassregion das Seufzermotiv, das sogleich eine wichtige Modifikation erfährt: Das bislang charakteristische Intervall der (kleinen) Sexte wird zur kleinen Septime erweitert, wodurch nicht wie zuvor der Grundton f, sondern erstmals die f-aeolische VII. Stufe (der Ton
308
Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 156 f.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie es) erreicht wird. 309 Harmonisch resultiert daraus ein (terzloser) f-Moll-Sekundakkord. Entscheidend ist an dieser Stelle jedoch weniger die harmonische Momentaufnahme, sondern vielmehr die damit verbundenen Konsequenzen für das modale Feld: Es wird von diesem Zeitpunkt an vom Septton artikuliert und wirkt aufgrund des neuen Bassfundaments stark instabil. 310 Anstelle einer möglichen Re-Stabilisierung entfernt sich Mahler dann mehr und mehr von den f-Moll-Pfaden. Daran ist nicht nur eine Beschleunigung des Satzes geknüpft, insgesamt beginnt eine unaufhaltsame Steigerung hin zum Höhepunkt des Kopfsatzes, dem „Durchbruch“, der noch sehr ausführlich besprochen wird. Sehr gut nachvollziehen lässt sich das auskomponierte Accelerando anhand der Bassstimme. Dort wird aus den drei Tönen der letzten Seufzermotiv-Variante eine neue motivische Figur generiert, die sich zu einem Ostinato verselbständigt und immer weiter diminuiert wird, bis schließlich in T. 348 ff. treibende Achtelmotorik erreicht worden ist. 311 Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den soeben beschriebenen Entwicklungsprozess vom Seufzermotiv hin zum Ostinato:
Abbildung 24: Entwicklungsstationen des Seufzermotivs (T. 328– 334)
309
Insgesamt bestimmt das Seufzermotiv motivisch den restlichen dritten Durchführungsteil. Beinahe alle nachfolgenden motivischen Gestalten beruhen substanziell auf ihm und können als Modifikationen oder Transformationen dessen gedeutet werden. 310 Die Artikulation eines Feldes mittels des Septtons muss besonders hervorgehoben werden, nachdem Felder bislang hauptsächlich vom Grund- oder Quintton (seltener vom Sextton) artikuliert worden sind. Bereits im Kopfsatz der Ersten liefert Mahler einen Vorgeschmack auf die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten seiner Felder, die im Kopfsatz der Dritten zu einem ersten Höhepunkt geführt werden. Zudem wird deutlich, dass damit endgültig traditionelle Grenzen überschritten werden. 311 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 45.
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Analytischer Hauptteil Simultan zum sich in Gang setzenden Bassostinato erklingt in den Violinen zunächst eine phrygisch gefärbte Fassung 312 des Seufzermotivs, die in T. 338 auf zwei Töne (ges-f) verkürzt wird. Ausgehend von dieser zweitönigen Formel wird unter regelmäßiger Ansteuerung des Tons f der Großterzraum f-a chromatisch durchschritten. Die dabei entstehende chromatische Linie aufwärts (ges-g-as-a) wird von den Hörnern zusätzlich in ganzen Noten nachgezeichnet und herausgearbeitet. Die Forcierung von Chromatik hatte in den letzten zehn Takten (T. 334–343) nicht nur ein Verblassen der Ausgangstonart des dritten Durchführungsteils zur Folge. Sie macht sogar eine exakte lokale Tonalitätsbestimmung unmöglich. Und es scheint Mahler auch weniger um die Formulierung eines neuen und klaren tonalen Ziels zu gehen, sondern vielmehr um die sukzessive chromatische Verzerrung des zuvor diatonischen Umfeldes des Tons f, der nach wie vor als Grundton wahrgenommen wird, was die artikulierenden Liegetöne und die Achsentonmelodik gewährleisten. Anders ausgedrückt, der Ton f erfährt eine chromatische Beleuchtung. Die endgültige Loslösung von seiner Gravitationskraft gelingt schließlich ab T. 344. Dort fügen sich die einzelnen Stimmen harmonisch zu einem verminderten Septakkord (fis-a-c-es) zusammen. Aufgrund seiner zeitlichen Ausdehnung von acht Takten (T. 344– 351) kann ihm ebenfalls feldähnliche Qualität bescheinigt werden. Wenngleich innerhalb des prinzipiell mehrdeutigen verminderten Septakkords kein Grundton feststellbar ist, lassen die repetitiven Hörnerfanfaren den Ton a herausragen, 313 so dass unter Berücksichtigung des bisherigen Verlaufs des dritten Durchführungsteils zumindest von einer Schwerpunktverlagerung vom Ton f hin zum Ton a gesprochen werden kann. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass der verminderte Septakkord nicht funktional verwendet wird. Er fungiert vielmehr als spezifischer dissonanter Farbwert 314 und gleichzeitig als Mittel zur Höhepunktgestaltung. 315 Dies zeigt sich auch daran, dass seine Auflösung keiner traditionellen Logik gehorcht. Mahler schöpft nicht das enharmonische Potential des verminderten Septakkords aus, sondern liefert eine Antwort auf die Frage nach der tonalen Rolle des exponierten Tons a. Bei der Antwort handelt es sich dann um die „intentionale Signatur“ 316 Mahlers Erster, den Durchbruch. Dieser übertrifft nicht nur die bis dahin aufgebaute Spannung, sondern steht klanglich außerhalb jeglicher Proportion. 317 Darüber hinaus haftet ihm ein gewaltsames Moment an, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die „Immanenz der Form“ ge312
Gemeint ist die phrygische Sekunde f-ges. Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 87 f. 314 Hierzu sei insbesondere auf die Ausführungen von Ernst Kurth (vgl. Kurth, Romantische Harmonik, S. 264 ff.) verwiesen. Kurth gesteht solchen Passagen „absolute Klangwirkung“ zu. Damit ist die Loslösung von Klängen aus ihrer traditionellen Fortschreitungslogik, die wiederum die Voraussetzung dafür darstellt, gemeint. Für derartige verselbständigte Klänge finden sich treffende Bezeichnungen wie „akkordliche Einzeleffekte“ oder „selbständige Farbensymbole“. 315 Vgl. Floros II, S. 296 ff. 316 Sponheuer, Logik, S. 52. 317 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 11. 313
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie sprengt wird. 318 Zwar kündigt der Durchbruch den Eintritt der Reprise an, jedoch macht er gleichzeitig eine traditionelle Reprisen-Konzeption zunichte und erfordert eine alternative Fortführung: 319 Anstelle des Liedthemas erklingt das Fanfarenthema aus T. 207 ff. Letzteres gebart sich „gewissermaßen nachträglich als das Hauptthema [. . . ], das es an Ort und Stelle niemals war“ 320. Gleichzeitig durchkreuzt Mahler damit die sonatensatztypische Symmetrie zwischen Exposition und Reprise. 321 Inwieweit der Durchbruch dem Kopfsatz insgesamt „seine Struktur anbefiehlt“ 322, darüber herrschen jedoch unterschiedliche Ansichten in der Mahlerforschung. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob das Fanfarenthema, das den zweiten Durchführungsteil eröffnet, ausschließlich zur Vorbereitung des Durchbruchs generiert worden ist, 323 um dort dann als „dessen Resultat“ 324 zu erscheinen. Dagegen spricht die vermittelnde Funktion des Fanfarenthemas zwischen Naturlaut und Lied. 325 Monika Tibbe vertritt daher die Meinung, dass das Fanfarenthema nicht bereits in der Durchführung, sondern erst von den Durchbruchs-Fanfaren vorbereitet wird. 326 Allerdings erweisen sich Letztere als zu gewaltig, um schlussendlich als Vorbereitung des Fanfarenthemas gelten zu können. 327 Nach Adorno verbleibt die Reprise in Folge des Eingriffs in einem Ungleichgewicht 328 und „schrumpft zum hastigen Epilog“ 329. Diese Einschätzung wird vom Autor der vorliegenden Arbeit nicht geteilt. Sicherlich macht der Durchbruch ein traditionelles Reprisen-Konzept unmöglich und das Fanfarenthema mag auch nicht den Stellenwert eines Themas erlangen, 330 allerdings erweist sich die Reprise trotz aller Modifikationen insgesamt als konsistent. Dies zeigt sich bereits daran, dass sich Exposition und Reprise vom Umfang her im Wesentlichen entsprechen und dass die 318
Vgl. ebd., S. 13 und S. 23. Vgl. ebd., S. 23. 320 Ebd. 321 Wie bereits erörtert worden ist, sprengt der Durchbruch die Immanenz der Form und zeigt das Scheitern des Satzes vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund auf (vgl. Adorno, Physiognomik, S. 13). Der auf der Kategorie der Form fußenden Interpretation Adornos stellt Hans Heinrich Eggebrecht eine Deutung auf Basis des Vorstellungszusammenhangs der Fanfare als Signal gegenüber (vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 90). Damit wird nicht das „Signal seitens des Kriteriums der formimmanenten Stimmigkeit zum Indiz des nicht Gelungenen, Einbekenntnis des bloßen Scheins von Kunst, sondern umgekehrt wird die ästhetische Maxime der Formautonomie seitens des Signals als unzureichend, als selbst nur Schein bloßgetsellt.“ (ebd., S. 90 f.). 322 Adorno, Physiognomik, S. 13. 323 Vgl. ebd., S. 23. 324 Ebd. 325 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 46. 326 Vgl. ebd., S. 46 f. 327 Vgl. ebd. 328 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 13. 329 Ebd. 330 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 46. 319
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Analytischer Hauptteil entscheidenden tonalen Bereiche erklingen. Daher fällt es auch schwer, das Fanfarenthema als eine „theatralisch auskomponierte große Enttäuschung“ 331 zu deuten, wie es Ekkehard Roch tut. Nachdem sich zuvor das Unheil bedrohlich genähert hat, gelingt es dem „Helden“, diesem im Durchbruch zu trotzen, die sich steigernde Beklemmung abzuschütteln und sie in ein triumphales Glücksgefühl zu wenden. Mit Blick auf die gesamte Erste Symphonie mag es sich hierbei um eine „trügerische Idylle“ 332 handeln, allerdings kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede von einer solchen sein. Der nachfolgende musikalische Satzverlauf zeugt von ungetrübtem Optimismus und der Schluss weist sogar übermütige und komische Züge auf. Harmonisch handelt es sich beim Durchbruch um eine inszenierte Kadenz. Zusätzlich zu ihrer herausragenden und üppigen orchestralen Ausstattung und ihrer markanten „Signalpolyphonie“ 333 trägt die vorangehende weitgehende Kadenzlosigkeit maßgeblich zu ihrer frappanten Wirkung bei. Besonderes Augenmerk liegt zunächst auf T. 352– 357, die zwei Deutungsmöglichkeiten zulassen: Erstens als eine Überlagerung von Dominantseptakkord und Tonika in D-Dur 334 und zweitens eine als Dominantseptakkord mit simultan erklingender Quarte und Sexte bzw. Undezime und Tredezime, ebenfalls in D-Dur, also als Akkord höherer Terzenschichtung. In jedem Fall steht die dominantische Funktion dieser Takte außer Frage. Ein wichtiges Detail ist bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben: das Fehlen des Tons cis. Es zeigt sich also, dass Mahler sogar an der Schlüsselstelle des Satzes seiner Vorliebe der Leittonlosigkeit treu bleibt, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Satz zieht. Gleichzeitig liefert der Durchbruch eine Antwort auf die zuvor zunehmend drängende Frage nach der tonalen Rolle des innerhalb des verminderten Septakkords exponierten Tons a: Er erhält die Rolle des Quinttons in D-Dur. 335 Nicht zuletzt wird der gesamte verminderte Septakkord durch den Durchbruch harmonisch in anderes Licht gerückt.
Abbildung 25: Harmonische Reduktion des Durchbruchs (T. 344–358)
331 332 333 334 335
Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 111. Ebd. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 87. Vgl. Floros III, S. 32. Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 87 f.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Reprise (T. 358–450) Auch die Takte nach dem Fanfarenthema entsprechen noch nicht dem Expositionsverlauf (T. 62 ff.), sondern stellen eine komprimierte Variante von T. 220 ff. dar, womit sich Mahler weiterhin am zweiten Durchführungsteil orientiert. Letzterem dadurch „rückwirkend [. . . ] die Funktion einer Exposition“ 336 zu bescheinigen, greift aber dann doch zu weit: Sowohl die Bildung neuer Themen innerhalb der Durchführung als auch der Rekurs auf diese in der Reprise können als traditionell bezeichnet werden. 337 Tonal dominiert in der Reprise zweifellos D-Dur als Tonalität. Dass sie sich allerdings gänzlich in der Grundtonart bewege, so wie Monika Tibbe es darstellt, 338 ist nicht zutreffend. In T. 372 wird sie für einen Zeitraum von knapp zehn Takten von A-Dur abgelöst. Dabei wird das A-Dur-Bordunfeld mit der gleichen manipulierten Kadenz wie in T. 90–92 erreicht. Der bereits in T. 375,3 anhebende dominantische Orgelpunkt, der eine Bestätigung von A-Dur signalisiert, wird in T. 378 f. intensiviert. Harmonisch erinnert seine Intensivierung an eine Montesequenz, die aus dem teils chromatisch, teils diatonisch ausgefüllten Tetrachord (e-a) in der Bassstimme nebst charakteristischer Harmonisierung hervorgeht. 339 Das sequenzielle Moment zeigt sich ferner an der melodischen Dreierfigur, bestehend aus zwei Vierteln und einer Halben in den Holzbläsern, die stufig aufwärts verschoben wird. Genau im Moment der erwarteten Auflösung in die Tonika A-Dur (T. 380) lenkt Mahler die Tonalität dann aber überraschend in eine andere Richtung. Zwar erklingt faktisch der erwartete A-Dur-Dreiklang, jedoch wirkt er aufgrund der hinzugefügten kleinen Septime g sogleich nicht mehr tonikal, sondern bereits als Dominantseptakkord in D-Dur; pikant dabei ist, dass letztlich eine einzige Feinjustierung – die Modifikation des Tons gis zu g in T. 380 – ausreicht, um die Tonalität nun doch in D-Dur verbleiben zu lassen. Unterstrichen wird dieser Punkt durch die Instrumentation, und zwar vor allem durch den Einsatz der Pauke, die mit ihrem Wirbel auf dem Ton a gleichzeitig ein dominantisches Orgelpunktfeld artikuliert. Die soeben beschriebene Sequenzmechanik wird in den Oberstimmen fortgesetzt, ehe in T. 383 eine klärende tonikale Auflösung vollzogen zu werden scheint. Der dort erklingende Fundamentschritt e-a weist jedoch vielmehr nach A-Dur als nach D-Dur, zumal der dominantische Orgelpunkt genau an dieser Stelle aussetzt. Die eigentliche Auflösung in die D-Dur-Tonika erfolgt dann einen Takt später, wobei (wie schon mehrmals zuvor) insbesondere die melodischen Kräfte des Kopfmotivs des Gesellenliedes tonal stabilisierend wirken. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht die beiden soeben beschriebenen Orgelpunkte:
336
Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 37. Im Allgemeinen sind ‚rückwirkende‘ Interpretationen als problematisch anzusehen, da solche dem linearen Hörerlebnis von Musik diametral entgegenstehen. 338 Vgl. ebd. 339 Die Abfolge der Töne eis-fis und gis-a ist als Leitton-Grundton-Fortschreitung zu deuten. Gleichzeitig kann den Klängen zwischen den harmonischen Eckpunkten (e-a) transitorische Funktion zugestanden werden. 337
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 26: Manipulierte dominantische Orgelpunkte (T. 378–384)
Mahler verkompliziert also den Tonartwechsel von A-Dur nach D-Dur, der aufgrund der vorliegenden Quintverwandtschaft eigentlich ‚mühelos‘ zu bewerkstelligen ist, indem er genau an den beiden entscheidenden Stellen – den erwarteten Auflösungen in die jeweilige Tonika – für Irritationen sorgt und entgegen der Hörerwartung verfährt. Hervorzuheben ist ferner, dass die Montesequenz selbst nicht das Modulationsmittel repräsentiert, sondern zur chromatischen Intensivierung der Dominantfunktionen genutzt wird. Innerhalb der Reprise orientiert sich Mahler erst ab T. 384 an der Exposition bzw. am satzprägenden Liedmaterial. Dabei wird allerdings nicht auf die Anfangstakte der Exposition (T. 62 ff.), sondern auf T. 109 ff. rekurriert, was klarmacht, dass knapp fünfzig Takte fehlen und durch das Fanfarenthema und das Seufzerthema ersetzt worden sind. 340 Innerhalb der T. 392–399, die die „einzige Erweiterung gegenüber der Exposition“ 341 darstellen, erklingt eine Quintfallsequenz mit Septakkorden. Sie bricht die Diatonik des D-Dur-Bordunfeldes auf und kündigt als traditionelles Modulationsmittel einen Tonartwechsel an. Doch anstatt einen solchen zu vollziehen, wird mittels Kadenz zur Tonika zurückgekehrt. Somit weist die Quintfallsequenz ähnlich wie der Terzfall in T. 298 ff. und die Montesequenz zuvor transitorischen Charakter auf und sorgt lediglich für eine temporäre Irritation des diatonischen D-Dur-Bordunfeldes:
340 341
Vgl. ebd. Ebd.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie
Abbildung 27: Transitorischer Quintfall mit Septakkorden (T. 395–401)
Wie nahezu alle Kadenzen im Kopfsatz der Ersten wird auch diese manipuliert. Zusätzlich zur wiederum leittonlosen Gestaltung der Dominantfunktion zeichnet sich diese Stelle dadurch aus, dass Mahler in origineller Weise den Dominantquartsextvorhalt (T. 399) von seiner Weiterführung zum Dominantseptakkord (T. 400) separiert. Die merkwürdig unverbundene Wirkung wird dadurch erzielt, dass der Vorhaltsquartsextakkord das Ende des Unterabschnitts markiert und motivisch noch diesem zugehörig ist, während der Dominantseptakkord den nächsten Abschnitt eröffnet und demnach zum nachfolgenden Unterabschnitt zu zählen ist. Motivik, Form und Harmonik spielen hier somit nicht zusammen. Die T. 400 ff. können als chromatisch eingefärbte Variante der T. 257 ff. gelten 342 und münden schließlich in die Kadenz, die die Schlussgruppe vorbereitet. Ein Vergleich mit der inszenierten Kadenz aus der Exposition (T. 129– 135) zeigt, dass die Subdominante mit sixte ajoutée zwar vorliegt, danach jedoch auf den markanten auskomponierten Dominantseptnonakkord verzichtet wird. Stattdessen erklingt eine kompakte Dominantformel in Gestalt des Vorhaltsquartsextakkords nebst Weiterführung zum Dominantseptakkord. 343 Die erreichte Tonika wird dann wie in der Exposition zu einem Bordunfeld prolongiert. Im Unterschied zur Exposition lässt Mahler jedoch den Spannungsbogen nicht mehr abreißen: Die Dynamik wird aufrechterhalten und das Tempo kontinuierlich erhöht.
Coda (T. 443–450) Zum Verständnis der merkwürdig zerklüfteten Schlusstakte des Kopfsatzes erweist sich folgende Äußerung Mahlers gegenüber Natalie Bauer-Lechner als hilfreich: Den Schluß dieses Satzes werden mir die Hörer gewiß nicht auffassen; er wird abfallen, während ich ihn leicht wirksamer hätte gestalten können. Mein Held 342
Hier wie dort kann von einem dominantischen Orgelpunkt gesprochen werden, dessen Bassebene sich durch eine achsentönige Konzeption auszeichnet. 343 Als Detail sei erwähnt, dass zwischen Subdominante und Dominante nun eine Doppeldominante eingeschoben worden ist.
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Analytischer Hauptteil schlägt eine Lache auf und läuft davon. Das Thema, welches die Pauke zuletzt hat, findet gewiß keiner heraus. 344
Mahler entscheidet sich also ganz bewusst gegen eine fulminante Schlusswirkung und verleiht dem Satzende stattdessen eine gewisse Unabgeschlossenheit. Des Weiteren geht daraus hervor, dass Mahler den Pauken eine thematische Funktion überträgt. 345 Sie exponieren das Urelement des Kopfsatzes, das Quartintervall, noch einmal vollends und antizipieren zugleich bereits die unnachgiebige Marschbegleitung des dritten Satzes der Symphonie. 346 Obwohl die Pauken nicht durchgängig vorhanden sind, schwingt dennoch der Grundton d in der Bassstimme die ganze Zeit mit, so dass eine Deutung der Schlusstakte als tonikaler Orgelpunkt möglich ist. Über diesem ertönt der Dominantseptakkord mit Quartvorhalt, dessen Auflösung bis zur vierten Zählzeit des vorletzten Taktes – also bis zum letztmöglichen Zeitpunkt – hinausgezögert wird, ehe die Tonika den Kopfsatz beschließt. An der hinausgezögerten Vorhaltsauflösung lässt sich einmal mehr Mahlers sensibler Umgang mit dem Leitton, dessen Eintritt zudem durch das Orchestertutti inszeniert wird, exemplifizieren. Dass die Reprise im Vergleich zur Exposition deutlich geraffter wirkt, ist auf interne Straffungen und auf das Hinzielen zum Satzende zurückzuführen. 347 Diese Gedrängtheit äußert sich ebenfalls im Umgang Mahlers mit den tonalen und modalen Feldern. Mahler agiert nicht mehr mit derselben „Attitüde der Muße“ 348 wie zuvor, sondern bricht die harmonische Statik der Felder mehrfach auf. Hierzu kommen Sequenzen zum Einsatz, die in der Exposition überhaupt nicht erschienen sind. Ferner zeigt sich, dass Mahler sie entgegen der Tradition eben nicht zu Modulationszwecken nutzt. Stattdessen sorgt er mit ihrer Hilfe für eine temporäre Irritation der vorherrschenden Tonalität.
Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Ersten Trotz der zeitlichen und formalen Extension, der Vielzahl von heterogenen motivischen Gestalten, der tonalen Ambivalenz und der einzigartigen semantischen Konzeption bestehend aus „zwei[. . . ] Arten von Musik“ 349 steht die Introduktion einer traditionellen Sonatensatzform nicht entgegen. 350 Sie erfüllt sogar (entgegen der Meinung einiger Mahlerforscher/-innen) die zentrale Funktion einer Hinführung zur Exposition. Ekkehard Roch wirft die Frage auf, ob die Introduktion „als ein in die Länge gezogener, 344
NBL, S. 173. Vgl. Ünlü, Altug, Gustav Mahlers Klangwelt. Studien zur Instrumentation, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 14 f. 346 Vgl. Floros III, S. 32. 347 Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 37. 348 Lichentfeld, Klangflächentechnik, S. 123. 349 Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 157. 350 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 69. 345
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie ‚kadenzierter‘ Auftakt zum eigentlichen Thema des 1. Satzes“ 351 interpretiert werden kann. Er selbst verneint diese Idee und argumentiert, dass es „kein wirkliches ‚Thema‘, sondern nur ein neuer motivischer Aspekt neben den anderen“ 352 ist. Allerdings kann Rochs Frage auf einer makrologischen harmonischen Fortschreitungsebene positiv beantwortet werden. Vor dem Hintergrund der übergeordneten Tonart der Ersten, D-Dur, nimmt die Introduktion in der harmonischen Architektur des Kopfsatzes die Rolle einer makrologischen harmonischen V. Stufe ein. Da die Exposition in D-Dur anhebt, liegt somit eine V-I-Progression vor, wenngleich natürlich nicht in einem kadenziellen Sinne. Die Exposition hingegen verhält sich weitaus problematischer zur traditionellen Sonatensatzform. Sie weist keine typische Disposition auf 353 und darüber dürfen auch die tonalen Bereiche D-Dur, A-Dur, E-Dur und nochmals A-Dur, die durchaus einem traditionellen Tonartenschema entsprechen, nicht hinwegtäuschen. Mahler verzerrt dessen Proportionen und bringt es in ein Ungleichgewicht. 354 Ein solch gravierender Eingriff wird bereits kurz nach dem Beginn der Exposition vorgenommen: Nachdem die Grundtonart D-Dur zum allerersten Mal überhaupt im Satz eindeutig artikuliert wird, wird sie bereits nach achteinhalb Takten wieder verlassen und die Oberquinttonart A-Dur aufgesucht. Insgesamt verlagert sich der tonale Schwerpunkt innerhalb der Exposition nach A-Dur. Die Grundtonart D-Dur bleibt so drastisch unterrepräsentiert, dass man fast den Eindruck hat, es handele sich um eine A-Dur-Symphonie. Diese Verzerrung wird durch die zu Mahlers Zeit untypische monothematische Konzeption bzw. das Nichtvorhandensein eines traditonellen Themendualismus verstärkt. Bezeichnenderweise wäre die Formulierung eines (kontrastierenden) Seitenthemas problemlos möglich und dabei lässt sich anhand der tonalen Felder sogar dessen hypothetischer Einsatzzeitpunkt exakt bestimmen. Nachdem Mahler das auf der Liedvorlage basierende Hauptthema mit Hilfe seiner Variantentechnik bislang innerhalb von Bordunfeldern wechselnd beleuchtet hat, vollzieht er ungefähr ab der Hälfte der Exposition einen Wechsel von der Bordunhin zur Orgelpunkttechnik. Bislang nahezu unberücksichtigt in der Mahlerforschung sind die Konsequenzen, die dieser Feldtypwechsel auf formaler Ebene nach sich zieht. Traditionell schürt der dominantische Orgelpunkt nebst nachfolgendem inszenierten Halbschluss die Erwartung nach einem Seitenthema. Doch führt er hier eben nicht dorthin, sondern zu jenem Unterabschnitt, der traditionell einer Schlussgruppe entspräche. Dies hat einen Verlust der traditionellen Funktion des dominantischen Orgelpunkts zur Folge. Die besondere Wirkung der hier diskutierten Passage wird zudem dadurch verstärkt, dass sie dramaturgisch den Höhepunkt der Exposition darstellt, was wiederum eine Umgewichtung der Formteile nach sich zieht. Somit lassen sich die „Anomalien der Gestaltung“ 355 nicht ausschließlich mit der Liedvorlage begründen, zumal die Schluss-
351 352 353 354 355
Roch, Erste Symphonie, S. 105. Ebd. Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 33. Vgl. ebd. Floros III, S. 31.
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Analytischer Hauptteil gruppe – trotz aller vorhandenen motivischen Bezüge 356 – explizit nicht der Liedvorlage entstammt. Mahler scheint sich an dieser Stelle gegen ein kontrastierendes Seitenthema zu entscheiden, um die Gegenüberstellung von Naturlaute-Musik und Lied zu wahren, und nimmt gemessen an traditionellen Kriterien dabei sowohl ein tonales als auch ein formales Ungleichgewicht innerhalb der Exposition in Kauf. Von einer Durchführung im traditionellen Sinne kann im Kopfsatz der Ersten nur in sehr eingeschränktem Maße gesprochen werden. Der Rekurs auf die Introduktion im ersten Durchführungsteil stellt per se keine Irregularität dar. Allerdings artikuliert Mahler abermals ein ambivalentes Feld, innerhalb dessen weder eine traditionelle durchführungstypische harmonische Dynamik noch eine Verarbeitung des motivischen / thematischen Materials erkennbar sind und das in der makrologischen harmonischen Architektur die V. Stufe einnimmt. Die aus dem Quartintervall geformten beiden neuen Themen erklingen dann zu Beginn des zweiten Durchführungsteils untypischerweise in der Grundtonart D-Dur, was weniger den Anschein einer Durchführung, sondern vielmehr den einer zweiten Exposition erweckt, in der der zuvor fehlende Themendualismus gewissermaßen nachgeholt wird. 357 Über knapp vierzig Takte hinweg verweilt Mahler in der Grundtonart D-Dur und in der Dominanttonart A-Dur. 358 Damit knüpft er an die tonalen Bereiche der Exposition an und schafft, nachdem bereits die Introduktion im ersten Durchführungsteil aufgegriffen worden ist, nun eine weitere Symmetrie zwischen der Exposition und dem zweitem Durchführungsteil. Erst wesentlich später (ab T. 243) erfolgt eine Loslösung von der Gravitationskraft der Grund- und Oberquinttonart, so dass in tonaler Hinsicht dort der eigentliche Beginn der Durchführung anzusetzen ist; markiert wird dies durch die erste Rückung im Satz. Die erreichten Tonalitäten DesDur und As-Dur sind dabei ihrerseits eng verwandt, insofern sie wie zuvor D-Dur und A-Dur in einer Quintbeziehung zueinander stehen. Dasselbe gilt für die nachfolgende C-Dur- und F-Dur-Passage. Der makrologische harmonische Verlauf des zweiten Durchführungsteils beruht demnach im Kern auf drei Paarbildungen. Während jedes Paar für sich auf einer mehr oder weniger stark artikulierten Quintbeziehung beruht, wird eine syntaktische Verknüpfung von Paar zu Paar hingegen tunlichst vermieden: Hier kommen Rückungen zum Einsatz. Nachdem bereits die tonalen Bereiche der Exposition Quintbeziehungen aufgewiesen haben, spielen diese auch in der Durchführung eine überragende Rolle bei der makrologischen harmonischen Organisation. Weshalb zu Beginn des Abschnitts in aller Ausführlichkeit auf die tonalen Gefilde der Exposition rekurriert und damit gewissermaßen eine zweite Exposition konstruiert wird, lässt sich vor einem traditionellen Hintergrund nur ungenügend beantworten. Eine mögliche Erklärung könnte darin bestehen, dass Mahler um tonale Balance bemüht ist und nun einen Ausgleich für die in der Exposition unterrepräsentierte Grundtonart
356
Sie basiert maßgeblich auf dem Tirili-Motiv und dem Kopfmotiv des Gesellenliedes (vgl. ebd.). 357 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 67. 358 Vgl. ebd.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie schaffen möchte. Ebenfalls denkbar ist die Bestrebung Mahlers, den ersten echten tonalen Perspektivenwechsel in T. 243 ff. umso plastischer wirken zu lassen. Der dritte Durchführungsteil kommt einer traditionellen Durchführung vor allem hinsichtlich des Umgangs mit thematischem Material zweifellos am nächsten: 359 Es finden unentwegt Transformationen, neue Kombinationen, Abspaltungen, Verkürzungen etc. statt. Allerdings nimmt sich dieser Teil insgesamt als Fremdkörper aus. 360 Seine besondere Stellung resultiert nicht nur aus dem erhobenen „symphonischen Anspruch [. . . ]“ 361 und der auf den Finalsatz der Ersten vorausweisenden Funktion: Er bildet den einzigen Abschnitt im gesamten Satz, dem ein modales Feld mollarer Prägung zu Grunde liegt. Gleichzeitig wird damit die makrologische harmonische III. Stufe f-Moll erst- und einmalig ausgestaltet. In formaler und dramaturgischer Hinsicht ist in der Mahlerforschung bereits auf eine dreiteilige Steigerungsanlage hingewiesen worden. 362 Und eine solche konnte sich ebenfalls auf tonaler Ebene nachzeichnen lassen: Das anfängliche diatonisch-modal geprägte f-Moll-Feld erhält mehr und mehr chromatische Elemente, bis es schließlich vollständig verzerrt ist und im verminderten Septakkord kulminiert. Aufgrund des Durchbruchs kann sich die sonatensatztypische Symmetrie zwischen Exposition und Reprise nicht einstellen. Die Reprise rekurriert zunächst eben nicht auf die Exposition, sondern auf den zweiten Durchführungsteil. 363 Entgegen der Einschätzung Adornos ist die Reprise trotz allem als konsistent zu beurteilen, zumal sich die makrologische harmonische I. Stufe vollends durchsetzen und eine tonale Balance zur Exposition herstellen kann. Das traditionelle Sonatensatzmodell dient dem Kopfsatz der Ersten nur noch entfernt als Grundgerüst. 364 Bereits Paul Bekker hat kritisch darauf hingewiesen, dass das Anlegen eines traditionellen symphonischen Formkorsetts zwar möglich, aber nur insofern ertragreich ist, als damit verdeutlicht wird, „mit welcher Kraft der inneren Belebung Mahler den konstruktiven Grundriß durchdrang, wie er ihn mit schöpferischem Impuls zu füllen und das Schematische daran völlig vergessen zu machen wußte“ 365. Eine „immanente[. . . ] Deutung des Kopfsatzes“ 366 fällt nicht nur deshalb schwer, weil er sowohl tonal als auch formal-architektonisch in sich nicht ausbalanciert wirkt, 367 sondern auch aufgrund dessen, dass der dritte Durchführungsteil erst unter 359
Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 45. Vgl. Floros III, S. 31. 361 Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 45. 362 Vgl. Roch, Erste Symphonie, S. 110 f. 363 Dass damit der zweite Durchführungsteil rückwirkend zur Exposition erklärt wird, so wie es Monika Tibbe vorschlägt (vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 37), greift zu weit und würde jegliche Sonatensatzarchitektur ad absurdum führen. 364 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 70. 365 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 46. 366 Sponheuer, Logik, S. 70. 367 Vgl. ebd. 360
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Analytischer Hauptteil Berücksichtigung des Finalsatzes in seiner vollen Bedeutung zu verstehen ist. 368 Hans Tischler geht sogar so weit, den Kopfsatz als Exposition und den Finalsatz als dessen Durchführung zu deuten. 369 Zumindest kann bereits in Mahlers Erster von der Idee einer funktionalen Verknüpfung von Sätzen gesprochen werden, die sich in späteren Werken dann verfestigt. Dahingehend ist vor allem Mahlers Fünfte zu nennen. Dort spiegelt sich das Sonatensatzschema in der I. Abteilung insofern wider, als der erste Satz (1. Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt) als Exposition und der zweite Satz (2. Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz) als Durchführung desselben interpretiert werden kann. 370 Nun muss noch die prinzipielle Frage nach der Kompatibilität von Lied und Symphonie gestellt werden. Monika Tibbe kommt in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass „die Verwendung von Liedstrophen mit der traditionellen Sonatenform nicht vereinbar“ 371 ist. Diese Einschätzung kann vom Autor der vorliegenden Arbeit nur bedingt geteilt werden. Sicherlich handelt es sich dabei nicht um ein genuin symphonisches Material, allerdings stehen die Liedstrophen nicht a priori quer zur traditionellen symphonischen Form. Eine Einpassung der Liedstrophen in eine traditionelle Umgebung wäre ebenso möglich gewesen wie das Exponieren eines kontrastierenden Seitenthemas in der Exposition. Doch Mahler belässt die Liedstrophen weitgehend in ihrem ‚unsymphonischen‘ Urzustand, konserviert sie gewissermaßen, und verzerrt stattdessen die sonatentypische tonale Disposition, was zum Teil eine Umgewichtung der Formteile zur Folge hat. Es ist das Zusammenspiel von Mahlers auf Variantentechnik basierender Themenbehandlung und den Eingriffen in die traditionelle Sonatenform, das die Liedstrophen inkompatibel wirken lässt. Die nachstehende ‚Makro-Graphik‘ lässt die enorm hohe Anzahl tonaler Felder erkennen – tatsächlich weist der Kopfsatz der Ersten die höchste im gesamten symphonischen Schaffen Mahlers auf. Ferner zeigt sich der makrologische harmonische Grundgedanke eines Ungleichgewichts zwischen der V. und I. Stufe in aller Deutlichkeit. Das Intervall der Quarte / Quinte stellt nicht nur motivisch-thematisch den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, 372 sondern wird von Mahler zum architektonischen Prinzip des Satzes erhoben.
368 369 370 371 372
Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 47. Vgl. Tischler, Die Harmonik in den Werken Gustav Mahlers, S. 144 f. Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 130. Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 47. Baur, I. Symphonie, S. 59.
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie
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Analytischer Hauptteil
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Abbildung 28: Überblick über die Architektur des Kopfsatzes der Ersten
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie
Abbildung 28 (Fortsetzung)
Analytischer Hauptteil
Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen Quarten- und Quintenmotive
Quartenthema
Weckrufe
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Zum Kopfsatz der Ersten Symphonie Chromatisches Bassmotiv
Schrittmotiv
Schrittmotivvariante
Liedvorlage
Tirili-Motive
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Analytischer Hauptteil Seufzermotiv
Fanfarenthema
Seufzerthema
Antizipation des Finalsatzthemas
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Zur Entstehung der Zweiten Symphonie und zur Problematik der Programme Die Genese der gesamten Symphonie erstreckte sich über einen mehrjährigen Zeitraum (1888–1894), die Ursprungsfassung des Kopfsatzes entstand jedoch binnen eines Jahres. 373 Dabei lassen sich erste Vorarbeiten noch während der Fertigstellung der Ersten, ungefähr zu Beginn des Jahres 1888, feststellen. 374 Anfang August desselben Jahres lag bereits ein erster Entwurf vor, dem sich die Fertigstellung des Kopfsatzes am 10. September anschloss. 375 Mahler schien zunächst die Komposition einer kompletten c-Moll-Symphonie vorzuschweben, allerdings wich er nach Vollendung der Ursprungsversion des Kopfsatzes von seinem Vorhaben ab, 376 was sich anhand des Titelblatts des frühesten vollendeten Autographen nachvollziehen lässt: Dort finden sich der Titel „Todtenfeier“ und die ausgestrichene Bezeichnung „Symphonie in C-moll“. 377 Erhalten bleibt jedoch der Untertitel „1. Satz“, 378 was wiederum eine Fortsetzung der Symphonie impliziert. Mahler versuchte, den Symphoniesatz als eigenständiges Werk, als die Symphonische Dichtung Todtenfeier, 379 der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, was jedoch misslang; ob er sich bereits zu diesem Zeitpunkt entschieden hatte, den Satz sowohl als eigenständiges Werk als auch als Grundlage für den Kopfsatz der Symphonie zu verwenden, lässt sich nicht eindeutig klären. 380 Festzustellen ist (ähnlich wie im Falle der Ersten) eine „gattungsübergreifende Mehrdeutigkeit“ 381, die sich in der kompositionstechnischen Untersuchung niederschlagen muss. Mögliche eher pragmatische Gründe für Mahlers Entschluss, die Arbeit an der Symphonie nicht
373
Vgl. Floros III, S. 47. Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 73. 375 Vgl. Floros III, S. 47. 376 Vgl. ebd., S. 48. 377 Vgl. Hefling, Stephen E., Zweite Symphonie, in: Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 215. 378 Vgl. ebd. 379 Damit knüpft Mahler an die von Franz Liszt geprägte Tradition einsätziger symphonischer Dichtungen an (vgl. Amon, Lexikon der musikalischen Form, S. 338 f.). Es sei darauf hingewiesen, dass sich in der Mahlerforschung sowohl Todtenfeier als auch Totenfeier als Titel etabliert haben. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Mahler selbst beide Titel verwendete. Wie bereits erwähnt worden ist, lautet der Titel im Autograph Todtenfeier. In einem Brief an Friedrich Löhr nennt Mahler den Satz dann jedoch Totenfeier (vgl. GMB, S. 118). 380 Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 236. Mahler trat mit seiner Todtenfeier an Dr. Ludwig Strecker, den Geschäftsführer des Verlags B. Schotts Söhne, zwecks Drucklegung und an Hans von Bülow zwecks Aufführung heran. Beide lehnten das Werk ab (vgl. ebd.). 381 Schmidt, Martin Christian, II. Symphonie in c-Moll, in: Gustav Mahlers Sinfonien (Kassel 2001), hrsg. von Renate Ulm, 2. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2002, S. 82. 374
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Analytischer Hauptteil fortzuführen, den Satz auszugliedern und zu einem eigenständigem Werk zu erklären, scheinen einmal fehlende Zeit für die weitere kompositorische Tätigkeit bedingt durch den Stellenantritt als Dirigent in Budapest 382 und einmal der Druck, unter dem der Komponist Mahler nach dem nur mäßigen Erfolg der Uraufführung seiner Ersten stand, zu sein. 383 Mahler setzte die Arbeit an seiner Zweiten schließlich im Jahr 1893 fort und es folgten die Sätze zwei bis vier. 384 Eine besondere Herausforderung bestand für Mahler in der Komposition eines adäquaten Finalsatzes, der eine Balance zum Kopfsatz herstellt. Den entscheidenden Impuls, die Symphonie mit einem Chorfinale bzw. als Symphoniekantate zu beschließen, – daran zeigt sich noch einmal die gattungsübergreifende Mehrdeutigkeit – erhielt Mahler während der Trauerfeier für Hans von Bülow am 29. März 1894 in Hamburg, als der „Chor von der Orgel den Klopstock-Choral ‚Auferstehn‘“ 385 vortrug. Der programmatische Inhalt des Finalsatzes lässt sich unter den Schlagworten Apokalypse, Jüngstes Gericht und Auferstehung subsumieren. 386 Die Textgrundlage für das Chorfinale bildet dabei das Gedicht Die Auferstehung von Friedrich Gottlieb Klopstock, das Mahler zum Teil abänderte und durch selbst gedichtete Strophen ergänzte. 387 Vor der Fertigstellung des Finalsatzes widmete er sich dann noch einmal intensiv der Todtenfeier und nahm mehrere Änderungen vor: Hier sind vor allem die Vergrößerung des Orchesterapparats und die Straffung von vierhundertdreiundsiebzig auf vierhundertfünfundvierzig Takte zu nennen; 388 diese revidierte Fassung nahm in Folge die Stellung als Kopfsatz der Zweiten ein. 389 Unter der Leitung Mahlers fand die Uraufführung der ersten drei Sätze am 4. März 1895 in Berlin statt. 390 Ihr folgte noch im selben Jahr (13. Dezember 1895) und am selben Ort die vollständige Aufführung der
382
Vgl. Fischer, Der fremde Vertraute, S. 252. Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 211. 384 Der zweite Satz (Andante moderato) wurde bereits im Jahr 1888 skizziert und dann im Jahr 1893 vollendet (vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 241). Der dritte Satz (Scherzo) basiert in Teilen auf dem Wunderhorn-Lied Des Antonius von Padua Fischpredigt, wenngleich das Scherzo ausschließlich instrumental gehalten ist (vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 52). Beim vierten Satz Urlicht handelt es sich um das gleichnamige, orchestrierte WunderhornLied, dem in der Konzeption der Zweiten Symphonie eine Schlüsselrolle als vokal-instrumentales Bindeglied zwischen dem Scherzo und dem Finalsatz zukommt (vgl. Floros III, S. 62). 385 Dies geht aus einem Brief vom 17. Februar 1897 an Arthur Seidel hervor (GMB, S. 223). 386 Vgl. NBL, S. 40. 387 Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 265 ff. 388 Hinsichtlich detaillierter Unterschiede wird auf die revidierte Neuausgabe (2010) von Renate Stark-Voit und Gilbert Kaplan verwiesen. 389 Es sei noch angemerkt, dass die revidierte Fassung das Datum „Sonntag, 29. April 94 renovatum“ (Floros III, S. 49) trägt. 390 Ein Abdruck des Programmzettels findet sich bei Henry-Louis de La Grange (vgl. La Grange, Volume 1, Abb. 49). 383
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Zweiten Symphonie, die ein durchschlagender Erfolg wurde und Mahler entscheidend zum Durchbruch als Komponist verhalf. 391 Der Titel Todtenfeier scheint vom gleichnamigen Epos des polnischen Dichters Adam Mickiewicz inspiriert. Zugang dazu erhielt Mahler durch seinen Freund Siegfried Lipiner, der die erste deutsche Übersetzung anfertigte. 392 Inwieweit Mickiewicz’ Todtenfeier über die Titelwahl hinaus ebenfalls als programmatische Vorlage für Mahler bei der Komposition diente, lässt sich nicht eindeutig klären, was sich auch in den unterschiedlichen Standpunkten innerhalb der Mahlerforschung widerspiegelt. 393 Zusätzlich zu der möglichen literarischen Vorlage finden sich im Wesentlichen drei programmatische Charakterisierungen, die Mahler allesamt deutlich nach der Vollendung der Todtenfeier formulierte. Mahlers früheste Äußerungen zum Programm datieren vom 26. Januar 1896 und sind den Aufzeichnungen Natalie Bauer-Lechners zu entnehmen: Der erste Satz enthält das titanenhafte Ringen eines in der Welt noch befangenen, kolossalen Menschen mit dem Leben und Geschicke, dem er immer wieder unterliegt; sein Tod. 394
In einem Brief an Max Marschalk vom 26. März 1896 findet sich Mahlers zweite Wegtafel: Ich habe den ersten Satz ‚Totenfeier‘ genannt, und wenn Sie es wissen wollen, so ist es der Held meiner D-dur-Symph[onie], den ich da zu Grabe trage, und dessen Leben ich, von einer höheren Warte aus, in einem reinen Spiegel auffange. 395
Die dritte programmatische Erläuterung, die auch als Dresdner Programm – anlässlich einer dortigen Aufführung der Zweiten 396 – bezeichnet wird, datiert vom Dezember 1901 und ist An den König Albert von Sachsen gerichtet: 391
Vgl. Fischer, Der fremde Vertraute, S. 253. Eine Übersicht über frühe Rezensionen liefert Rudolf Stephan (vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 82 ff.). 392 Mickiewicz, Adam, Todtenfeier (Dziady) (Poetische Werke von Adam Mickiewicz, übersetzt von S. Lipiner, Bd. 2), Leipzig 1887, zit. n. Hefling, Zweite Symphonie, S. 216. Das Epos handelt vom Einsiedler Gustav, der eine obsessive Liebe zu Maria, einer bereits verlobten Dame höheren gesellschaftlichen Standes entwickelt. Am Tag ihrer Hochzeit begeht Gustav aus tiefster Verzweiflung und Wut Selbstmord, um schließlich aus einer Art höheren Perspektive vor einer überidealisierten romantischen Liebe zu warnen (vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 218–220). 393 Während sich Rudolf Stephan strikt gegen „ein sogenanntes Programm, eine bestimmte Dichtung [oder] eine erdachte Handlung“ (Stephan, II. Symphonie, S. 47) ausspricht, vertritt Stephen E. Hefling die Meinung (Hefling, Zweite Symphonie, S. 221), dass „sich doch eine größere Zahl an darauf hindeutenden Korrespondenzen zwischen beiden Werken [findet], die [Mickiewicz’ Epos als Vorlage für Mahler] als möglich erscheinen lassen.“ 394 NBL, S. 40. 395 GMB, S. 172 f. 396 Vgl. Fischer, Der fremde Vertraute, S. 916.
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Analytischer Hauptteil Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen zieht noch einmal, zum letzten Male an unserem geistigen Auge vorüber. [. . . ] Ist dieß Alles nur ein wüster Traum, oder hat dieses Leben und dieser Tod einen Sinn? 397
Im Dresdner Programm spiegeln sich zudem noch einmal die Unsicherheit und der Zwiespalt wider, in dem sich Mahler hinsichtlich einer Beifügung programmatischer Wegtafeln befunden hat, denn das betreffende Programm wurde von Mahler nach seiner Distanzierung von jeglichen programmatischen Erläuterungen verfasst. 398 Festzustellen ist, dass, wenngleich zwischen den Programmen teils mehrere Jahre liegen, sie inhaltlich miteinander korrespondieren. Im Mittelpunkt stehen die Todesproblematik und damit verbunden „Fragen nach dem Sinn der Existenz und nach den letzten Dingen.“ 399 Aus dem zitierten Brief an Max Marschalk geht zudem eine von Mahler intendierte programmatische Verknüpfung zwischen der Ersten und dem Kopfsatz der Zweiten hervor. Wenngleich keines der drei Programme von Mahler selbst veröffentlicht worden ist, 400 müssen sie ebenso wie das autobiographische Moment, auf das bereits im Zuge der Untersuchung des Kopfsatzes der Ersten eingegangen worden ist, bei einer kompositionstechnischen Untersuchung berücksichtigt werden. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich zusätzlich zu einem programmatischen auch ein enger kompositionstechnischer Zusammenhang zwischen den Kopfsätzen der ersten beiden Symphonien herstellen. Dies ist insofern bemerkenswert, als der Kopfsatz der Zweiten im Vergleich zum Kopfsatz der Ersten eine wesentlich größere Bandbreite an wechselnden Stimmungen und Charakteren aufweist. Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass nicht die im Jahr 1888 komponierte Symphonische Dichtung Todtenfeier, sondern die 1894 revidierte Fassung – also der eigentliche Kopfsatz der Zweiten – im Mittelpunkt der Untersuchung steht, wobei auf signifikante Abweichungen von der Frühfassung eingegangen werden wird.
Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Zweiten Exposition (T. 1–116) Auf den ersten Blick erinnert der markante Beginn von Mahlers Zweiter an symphonische Werkanfänge anderer Komponisten, insbesondere an diejenigen der Zweiten und Vierten Symphonie von Anton Bruckner. 401 Dass es sich eher um Ähnlichkeiten oberflächlicher Natur handelt, zeigt sich bereits daran, dass beide Komponisten hinsichtlich 397
La Grange, Henry-Louis de / Weiß, Günther (Hg.), Ein Glück ohne Ruh’. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Eine Gesamtausgabe, Berlin 1995, S. 87. 398 Vgl. NBL, S. 170 f. 399 Floros, Relevanz der Programme, S. 401. 400 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 93. 401 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 25. Der Beginn der Siebten Symphonie Bruckners könnte ebenso dazugezählt werden.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Klangfarbe, Dynamik und tonaler Deutlichkeit unterschiedlich verfahren. Bei Bruckner bilden die tremolierenden Streicher einen zarten Klangschleier und gleichzeitig wird von Beginn an für tonale Klarheit gesorgt. Bei Mahler hingegen treten die tremolierenden Streicher mit einem harschen fortissimo-Akzent ein. Die intonierte Oktave (g-g ) wirkt insofern irritierend, als damit der Ton g als Grundton wahrgenommen wird, was einen Werkbeginn in G-Dur / g-Moll suggeriert. 402 Klärend, und zwar zur eigentlichen Grundtonart c-Moll, wirkt dann der Einsatz der Celli und Kontrabässe, aus denen sich nach und nach eine vollständige aufsteigende c-moll-melodische Tonleiter herausschält. 403 Dennoch hat der Satzbeginn immer noch nicht gänzlich feste Konturen erlangt, wofür die Unbestimmtheit von Tempo, Takt und Metrum verantwortlich zu machen ist. 404 Mahler erzielt diese, indem er den Bassfiguren und den Pausen unterschiedliche Tempoangaben zuweist. 405 Ein tempo giusto stellt sich dann erstmals ab T. 6 (a tempo) ein. Die Satzanfänge der genannten Werke unterscheiden sich noch in einem weiteren Punkt voneinander, und zwar hinsichtlich der thematischen Faktur. Bereits Paul Bekker hat darauf hingewiesen, dass sich die Bassfiguren bei Mahler weniger durch eine sangliche Melodik, sondern vielmehr durch ihre agile Rhythmik und ihre insgesamt gleichförmige Bewegung auszeichnen. 406 Der rhythmisch-motorische Schwerpunkt erinnert zusammen mit der Tonart c-Moll und den charakteristischen Fermaten dabei an das Hauptthema des Kopfsatzes der Fünften Symphonie Beethovens. 407 Darüber hinaus sind für die markanten Anfangstakte noch weitere Bezüge zu anderen Werken hergestellt worden: Alfred Stenger stellt einen indirekten Zusammenhang zum Beginn von Der Spielmann aus Mahlers Symphoniekantate Das klagende Lied fest, 408 für Henry de La Grange weisen sie Ähnlichkeiten zum Leitmotiv des Hunding aus Richard Wagners Die Walküre auf: 409
Abbildung 29: Ausschnitt der 1. Violinen aus Richard Wagners Die Walküre, WWV 86b, 1. Akt, 2. Szene
Dass Mahler den Satzbeginn harmonisch großflächig gestaltet, zeigt sich anhand des Tons g, der von den tremolierenden Streichern über einen Zeitraum von vierundzwanzig 402
Vgl. ebd. Auf die Ausprägung der Tonart wird später noch detailliert eingegangen. 404 Vgl. ebd. 405 Dies geht aus Mahlers „Anmerkung für den Dirigenten“ in der Partitur hervor. 406 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 74. 407 Vgl. ebd. 408 Vgl. Stenger, Alfred, Die Symphonien Gustav Mahlers. Eine musikalische Ambivalenz, Wilhelmshaven: Noetzel 1995, S. 18 f. und S. 56. 409 Vgl. La Grange, Henry-Louis de, Music about Music in Mahler: Reminiscences, Allusions, or Quotations, in: Mahler Studies, hrsg. von Stephen E. Hefling, Cambridge 1997, S. 161. 403
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Analytischer Hauptteil Takten intoniert und mit dessen Hilfe ein modales Feld artikuliert wird. 410 Dessen Konstitution stellt kein Novum dar und erinnert stark an den düsteren modal geprägten f-Moll-Abschnitt (T. 305 ff.) im Kopfsatz der Ersten. Im Unterschied zu diesem wird das modale Feld nun nicht vom Grund-, sondern vom Quintton artikuliert. Der modale Grundgedanke spiegelt sich in der Ausprägung der c-Moll-Tonalität wider, die mittels melodischer Mechanismen und schwerpunktmäßiger Diatonik vollzogen wird. Die bislang hauptsächlich verwendete aufsteigende c-moll-melodische Tonleiter wird ab der zweiten Takthälfte von T. 11 durch ihr absteigendes Pendant ergänzt. 411 Die auf- und absteigenden Skalen unterscheiden sich vor allem in der Behandlung der VII. Tonleiterstufe und genau diese Nuance nutzt Mahler für ein reizvolles Wechselspiel von Leittönigkeit und Leittonlosigkeit.
Abbildung 30: Übersicht über das verwendete Tonmaterial des Satzbeginns
Als optionale chromatische Farbe fungiert der Ton fis, der insbesondere in Kombination mit dem Ton as bei Umspielungsfiguren des Quinttons g zum Einsatz kommt. Aus der abwärts gerichteten Skala formt Mahler im Übrigen in latenter Dreistimmigkeit einen Fauxbourdon, 412 der im weiteren Satzverlauf noch mehrmals erklingen und mehr und mehr an Relevanz gewinnen wird:
Abbildung 31: Fauxbourdon in den tiefen Streichern (T. 13)
Ein weiteres Charakteristikum der Satzeröffnung ist die horizontale und vertikale Häufung von Quart-, Quint- und Oktavintervallen, die hauptsächlich aus Grund- und
410
Tatsächlich greifen die traditionellen Termini Orgelpunkt und Bordun nicht. Eine Deutung als tonikaler Orgelpunkt zieht zwangsläufig die Grundtonart g-Moll und nicht c-Moll nach sich. Gegen eine Interpretation als dominantischer Orgelpunkt sprechen die ausbleibende dominantische Strebewirkung nebst Auflösung sowie die Platzierung des Liegetons in eine Mittellage. Ebenfalls auszuschließen ist eine Interpretation als Bordun, da hierfür schlichtweg die notwendige Semantik fehlt. 411 Nachfolgend werden die aeolische Skala und die absteigende melodische Molltonleiter als Bezeichnungen synonym verwendet. 412 Insbesondere an dieser Stelle zeigt sich die frappierende Ähnlichkeit mit den kurz zuvor erwähnten Takten aus Richard Wagners Die Walküre.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Quintton (g-c, c-g, g-g) der Tonart gebildet werden; aus den genannten Intervallen setzt sich das sog. „Oktavenmotiv“ 413 zusammen. Es ist an dieser Stelle nicht übertrieben, von einem feinmaschigen Netz zu sprechen, das aus den genannten Intervallen geknüpft und über den Satzanfang gespannt wird. Der modale Grundgedanke spiegelt sich darin ebenfalls wider, denn die Intervalle werden „nicht im Hinblick auf ihre akkordische Bedeutung [. . . ], [sondern] als lineare Richtpunkte“ 414 genutzt. Aufschluss über die Beschaffenheit des beschriebenen Netzes geben vor allem die Taktschwerpunkte bis T. 18. Erkennbar wird dabei ein dreiteiliges I-V-I-Schema, das den Verlauf harmonisch organisiert: Die ersten sieben Takte weisen größtenteils den Grundton c als Bassfundament auf, die nächsten acht Takte hingegen den Quintton g und die letzten beiden Takte fußen dann wieder auf dem Grundton und bilden somit eine Klammer. Damit kann aufgezeigt werden, dass der Satzbeginn sowohl auf einer kleingliedrigen als auf einer mittleren harmonischen Ebene von den Intervallen Quarte, Quinte und Oktave durchsetzt ist. Dass es sich um keine Fortschreitung im funktionalen Sinn handelt, wird nicht zuletzt anhand der spezifischen Verknüpfung der zuvor beschriebenen Tonvorräte an das I-V-I-Gerüst ersichtlich: Das Erklingen der I. Stufe ist mit der c-moll-melodischen Tonleiter, das Erklingen der V. Stufe mit der c-aeolischen Skala gekoppelt. Der V. Stufe wird also (wie schon so oft in der Ersten) explizit der Leitton verweigert, so dass sich keine dominantische Strebewirkung einstellen kann. Innerhalb des aufgespannten Netzes sind es diatonische und chromatische Umspielungen von Grund- und Quintton und die Grundtonkraft des Quart- und Quintintervalls im Allgemeinen, die keinerlei Zweifel am Grundton c aufkommen lassen. Nicht zufällig werden Erinnerungen an das Naturintervall der Quarte und an den urtümlichen und elementaren Charakter der Naturlaute-Musik im Kopfsatz der Ersten Symphonie Mahlers wach. Und tatsächlich kann der bisherige Verlauf der Zweiten ebenfalls „im Bereich des Vorthematischen“ 415 verortet werden. Der erste echte melodische Gedanke, der zugleich das eigentliche Hauptthema repräsentiert, setzt dann schließlich in den Oboen und im Englischhorn in T. 18 ein. Währenddessen findet sich unterhalb des Hauptthemas eine nahezu wörtliche Wiederholung des Satzanfangs. 416 Hervorstechend ist die enge motivische Verwandtschaft zwischen den Bassfiguren des Anfangs und dem Hauptthema, die insbesondere auf dem Schlüsselintervall der Quarte bzw. der Quinte beruht. Der Einsatz des Hauptthemas wirkt sich auf den gesamten bisherigen Verlauf aus und rückt den Satzbeginn in zweierlei Hinsicht in ein anderes Licht: Durch seine melodische Dominanz werden erstens die motorischen Bassfiguren nun als kontrapunktische Gegenstimme wahrgenommen, 417 zweitens
413
Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 77. Hierzu sei auf die beigefügte Motiv- und Thementafel verwiesen. 414 Ebd., S. 75. 415 Stephan, II. Symphonie, S. 27. 416 Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 224. 417 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 27.
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Analytischer Hauptteil erweist sich der Anfang gewissermaßen nachträglich als Einleitung. 418 In der Mahlerforschung ist ein Zusammenhang zwischen dem Hauptthema des Kopfsatzes der Zweiten und dem Beginn des Orchesterliedes Ich hab’ ein glühend Messer aus dem Liederzyklus Lieder eines fahrenden Gesellen von Gustav Mahler hergestellt worden. 419 Während ein programmatischer Zusammenhang zwischen den genannten Werken in der Thematisierung der Todesproblematik besteht, 420 lässt sich ein kompositionstechnischer nur bedingt herstellen: Im Symphoniesatz (Tonart c-Moll) ertönt der halbverminderte Septakkord der II. Stufe (d-f-as-c), im Gesellenlied (Tonart d-Moll) hingegen handelt es sich um den verminderten Septakkord der VII. Stufe (cis-e-g-b). Die beiden genannten Septakkorde werden oberhalb des in der Bassstimme erklingenden Grundtons der jeweiligen Tonart platziert. Somit kann im Gesellenlied von einem tonikalen Orgelpunkt, über dem die Dominante in Gestalt des verkürzten Dominantseptnonakkords ertönt, gesprochen werden. Im Symphoniesatz besitzt der auf der II. Tonleiterstufe gebildete halbverminderte Septakkord subdominantische Funktion. 421 Zeitgleich mit dem Verstummen des Streichertremolo wird in T. 25 erstmals im Satzverlauf ein klares akkordisches Gerüst errichtet, das im Kern auf dem Wechsel eines leeren Quint-OktavKlangs auf dem Ton g und einem f-Moll-Dreiklang mit hinzugefügter großer Sexte bzw. einem halbverminderten Septakkord auf dem Ton d basiert. 422 So sehr sich eine funktionale Deutung hierbei zunächst auch aufdrängen mag, so fahrlässig wäre es, eine solche pauschal vorzunehmen. Denn der leere Quint-Oktav-Klang sperrt sich gegen eine Deutung als Dominante, wofür die Leittonlosigkeit der c-aeolischen Diatonik, die hier als Tonvorrat zum Einsatz kommt und jegliche dominantische Wirkung unterbindet, verantwortlich zu machen ist. Nicht minder problematisch verhält es sich in den beiden Folgetakten (T. 29 f.). Dort scheinen der leere Quint-Oktav-Klang und der f-MollDreiklang mit hinzugefügter großer Sexte miteinander kombiniert zu werden bzw. einander zu überlagern. Der daraus resultierende Quartseptnonakkord (g-c-d-f-as) lässt dabei zwei funktionale Deutungen zu. Die eine Deutung besteht darin, den Basston als dominantischen Orgelpunkt zu betrachten, über dem die Mollsubdominante mit sixte ajoutée erklingt. Die andere beruht darauf, die Harmonie zu einem Dominantseptnonakkord mit unaufgelöstem Quartvorhalt zusammenzufassen. Die nachstehende Notengraphik veranschaulicht die beiden Interpretationen: 418
Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 224. Vgl. ebd., S. 224 f. 420 Das besagte Lied ist das „am stärksten von Selbstmordgedanken geprägte[. . . ] unter Mahlers Gesellen-Liedern“ (ebd., S. 224). 421 Es zeigt sich also, dass die Deutung Heflings, der als Gemeinsamkeit zwischen Symphoniesatz und Gesellenlied den „verminderten Dreiklang auf der zweiten Stufe über einem Tonika-Orgelpunkt“ (Hefling, Zweite Symphonie, S. 224) ausmacht, nur teilweise zutreffend ist. 422 Das Alternieren der beiden Klänge lässt sich sehr gut an den Hörnern nachvollziehen und erfolgt in T. 25 f. zunächst halbtaktig, ehe diese in den T. 27–30 auf das Vierfache ihrer ursprünglichen Länge gedehnt werden. 419
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 32: Doppeldeutiger Quartseptnonakkord (T. 29 f.)
Zusätzlich zu den beiden möglichen funktionalen Deutungen tritt noch eine tendenziell modale, denn die betreffende Harmonie kann als ‚Produkt‘ der c-aeolischen Diatonik, die die Takte hinsichtlich des verwendeten Tonmaterials eint, interpretiert werden. Der Reiz der soeben beschriebenen sechs Takte besteht also darin, dass sich in der erstmals im Satz ausgeformten harmonischen Komponente sowohl modales als auch funktionales Denken widerspiegeln bzw. dass sich Mahler genau zwischen den Polen Modalität und Dur-Moll-Tonalität bewegt: Die Passage verhält sich ambivalent, ist nicht gänzlich zu greifen. Erst nach dreißig Takten erklingt dann eine eindeutige kadenzielle Progression, die aus einem Dominantseptnonakkord samt Auflösung in die Tonika besteht. Dabei nimmt der Basston c nun die Rolle eines tonikalen Orgelpunkts ein. Vier Takte später (in T. 35) leitet Mahler ein Crescendo ein, das zum ersten Höhepunkt des Satzes führt. Gekoppelt mit dem Einsatz der bislang ausgesparten Posaunen erfolgt ein erster echter Eingriff in die c-Moll-Diatonik. Hierfür wird ein kleiner Septnonakkord (c-e-g-b-des), der funktional als Zwischendominante zur Mollsubdominante (f-Moll) zu deuten ist, verwendet. Auf eine Auflösung zur Mollsubdominante wartet man jedoch vergebens. Stattdessen ertönt im Orchestertutti eine tendenziell abwärts schreitende Skala, die in T. 39 schließlich in den Dominantgrundton von c-Moll mündet. 423 Das Ausbleiben der funktional zu erwartenden Mollsubdominante kann als Elision erklärt werden: 424
423
Zwar wird die absteigende Skala durch den Ton des modifiziert und dadurch einer f-Moll-Diatonik angepasst, jedoch wird f-Moll als eigenständige Harmonie kaum greifbar. 424 Vgl. Fürbeth, Ton und Struktur, S. 156 ff.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 33: Deutung der T. 35–41 auf Basis einer Elision
Die Deutung als Elision verschleiert jedoch eher die Rolle, die der betreffende kleine Septnonakkord im bisherigen kompositorischen Kontext der Zweiten hat. Es stellt sich vor allem die Frage, inwieweit diesem überhaupt dominantische Qualitäten innewohnen, da er faktisch nicht aus der Tonart führt. Klärung bringt eine Betrachtung der Grundtonfortschreitung der T. 35–41, einer elementaren I-V-I-Progression, was den Schluss zulässt, dass der kleine Septnonakkord im harmonischen Kontext nicht als Dominante zu interpretieren ist, die ihr vermeintliches Ziel nicht erreicht, sondern als Dur-Tonika-Septnonakkord in c-Moll, der nur ganz kurz für eine Irritation der Tonart sorgt:
Abbildung 34: Deutung der T. 35–41 auf Basis der Grundtonfortschreitung
Mahler gelingt es somit, einen traditionell dominantisch konnotierten Klang, der gleichzeitig aus der vorherrschenden Tonalität herauszuführen droht, zu einem tonikalen umzufunktionieren. Der soeben beschriebene Eingriff in die Diatonik erinnert stark an T. 37–39 im Kopfsatz der Ersten Symphonie Mahlers. Dabei korrespondieren die Passagen nicht nur hinsichtlich ihrer Funktion im Kontext und ihrer Harmonik, sondern auch hinsichtlich der daran geknüpften dynamischen und instrumentatorischen Intensivierung. Wie bereits angedeutet worden ist, wird in T. 39 der Dominantgrundton g erreicht. Er wird über mehrere Oktaven gespannt und nimmt eine Doppelrolle ein: Er fungiert als Liege- und Achsenton. Von Letzterem aus wird eine fächerartige und größtenteils chromatische Linienführung initiiert. Ihr Ziel ist die Tonika in T. 41, in der sich die aufgestaute dominantische Energie entlädt: 92
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 35: ‚Inszenierung‘ der Kadenz (T. 39–42)
Rudolf Stephan bezeichnet diese Takte treffend als eine „mit Hilfe kontrapunktischer Mittel dargestellte (prolongierte), äußerst intensive Kadenzformel.“ 425 Aus dem bisherigen kompositorischen Kontext heraus ist es nicht übertrieben, von einer ‚Inszenierung‘ der Dominante bzw. der Kadenz zu sprechen. Ihr Dissonanzenreichtum und die plötzliche Bündelung von Chromatik auf engstem Raum lassen sie aus dem bisherigen Satzverlauf herausragen und einen Gegenpol zum davor gesetzten diatonischen Schwerpunkt bilden. Deshalb wäre es verfehlt, die vorliegende Kadenz als „ein elementares musikalisches Phänomen“ 426 zu bezeichnen, denn dies wird ihrem besonderen Stellenwert im bisherigen Satzverlauf nicht gerecht. Der Leitton h, der bislang äußerst zurückhaltend behandelt worden ist, wird nun durch den Triller der Holzbläser überdeutlich exponiert. 427 Es sei auch darauf hingewiesen, dass die markante lineare Auffächerung, ausgehend von einem Achsenton, die thematische Substanz der Marschtakte 80 ff. bilden wird. Mittels einer „Überleitung von Schubertscher Kürze“ 428 (T. 43–47) gelangt Mahler zum Seitenthema. 429 Diese beruht im Kern auf einem zweistufigen Verfahren, bei dem zwei harmonische Terzfälle und die Mechanik von stufiger Verschiebung und Tonzentralität ineinandergreifen. Während die um den Ton c kreisende Bassfigur in T. 46 f. chromatisch abwärts zum Ton ces verschoben wird, bleibt der in den Mittelstimmen zu verortende Ton es liegen. Harmonisch stellt dies den ersten Terzfall dar, und zwar von c-Moll nach as-Moll. 430 Im Kern wiederholt sich das soeben beschriebene Verfahren, 425
Stephan, II. Symphonie, S. 31. Ebd., S. 32 427 Vgl. ebd. 428 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 76. 429 Gemeint ist damit nicht nur die Kompaktheit von Überleitungen Mahlers im Allgemeinen. Besonders deutlich wird auch das proportionale Verhältnis zwischen ihnen und den harmonisch großflächigen Feldern. Beides konnte bereits mehrfach in der Exposition des Kopfsatzes der Ersten aufgezeigt werden. 430 Melodisch wird der Zielton as in T. 46 stufig über die Töne g und b erreicht. Letzterer erklingt bereits im as-Moll-Takt und ist als Nonvorhalt zu deuten. 426
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Analytischer Hauptteil allerdings mit vertauschten Rollen und im diatonischen Gewand: Während nun der Basston ces als Achse dient, wird der Ton es zum fes stufig aufwärts verschoben, was folglich den zweiten Terzfall von as-Moll nach Fes-Dur repräsentiert. Den entscheidenden tonalen Wendepunkt bildet der erste Terzfall von c-Moll nach as-Moll. 431 Die Notengraphik veranschaulicht noch einmal die Überleitung zum Seitenthema:
Abbildung 36: Überleitung zum Seitenthema (T. 43–48)
Somit ist der Beginn des Seitenthemas in der Tonart Fes-Dur zu verorten. Diese Deutung scheint mit der gängigen Auffassung in der Mahlerforschung, die das Seitenthema in der Tonart E-Dur verortet, nicht konform zu gehen. Doch stehen beide Deutungen nicht in Widerspruch zueinander, sondern unterscheiden sich lediglich hinsichtlich des eingenommenen Blickwinkels. Während Fes-Dur auf einer kleingliedrigen harmonischen Ebene – der harmonischen Logik des Terzfalls – zu präferieren ist, bedarf es der E-Dur-Perspektive, um die tonale Architektur des Satzes sinnvoll erfassen zu können. Aus diesem Grund wird eine zweigleisige Vorgehensweise als notwendig erachtet: Für die zunächst kleingliedrige analytische Betrachtung des Seitenthemas wird an der FesDur-Interpretation nebst den damit einhergehenden ‚enharmonischen Konsequenzen‘ festgehalten, ehe im makrologischen harmonischen Zusammenhang und vor dem Hintergrund der traditionellen Sonatensatzform eine Betrachtung in E-Dur erfolgt. 432 Das lyrische Seitenthema steht in deutlichem Kontrast zum vorherigen marschmäßigen Hauptsatz. 433 Bemerkenswerterweise verknüpft Mahler die stark kontrastieren431
Dies zeigt sich an den unterschiedlichen mediantischen Beziehungen der beiden Terzfälle: Der erste stellt eine Mediante zweiten Grades dar und sprengt den diatonischen Rahmen, der zweite ist eine Mediante ersten Grades und entstammt der Diatonik. 432 Rudolf Stephan bietet ebenfalls eine enharmonische Umdeutung an, die auf die Vereinbarkeit der tonalen Eckpunkte des Seitenthemas (E-Dur und es-Moll) abzielt: Es-Moll wird enharmonisch zu dis-Moll umgedeutet (vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 44). Die Harmonik des Seitenthemas selbst bleibt dabei jedoch weitgehend unberücksichtigt. 433 Hefling macht auf die Bezeichnung „Gesang“ in Mahlers Skizzen aufmerksam. Dabei scheint es sich um eine Abkürzung für „Gesangsperiode“ zu handeln, die wiederum synonym als Bezeichnung für das Seitenthema verwendet wird (vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 225). Unterstrichen wird der neue Charakter zusätzlich durch den Vermerk Mahlers in der Partitur: „Anmerkung für den Dirigenten[:] Im Tempo nachgeben“.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie den Themenblöcke durch ein weiterhin konstant erklingendes motivisches Element: die motorischen Bassfiguren des Satzbeginns. Anhand dessen kann im Übrigen ein weiterer Zusammenhang zu Beethovens Fünfter hergestellt werden. 434 Getragen von den imitatorisch angelegten Hornquinten 435 kann sich die sangliche Melodie in den Violinen vollends entfalten. Es sind primär die Hornquinten, die für eine Tonikalisierung der Tonalität des Seitenthemas sorgen. An die Fes-Dur-Takte schließt sich ein auskomponierter Dominantseptakkord mit einem charakteristischen stufig aufwärts gerichteten parallelen Terzensatz an, der mittels Quintfall erreicht wird und in T. 56 zur neuen Tonika Ces-Dur führt. 436 Wenngleich der Übergang von Fes-Dur zu Ces-Dur aufgrund seiner Kompaktheit mit vielen anderen bei Mahler korrespondiert, liegt an dieser Stelle eine für den Komponisten äußerst seltene ‚schulmäßige‘ Modulation ohne Manipulationen jeglicher Art vor. Nach erfolgter Auflösung in die Tonika Ces-Dur wird noch im selben Takt damit begonnen, ihre tonikalen Eigenschaften abzuschwächen. Destabilisierend wirkt dabei das chromatische Umkreisen des Tonikagrundtons in der Bassstimme in halben Noten. 437 Kurze Zeit später erfolgt dann ein Tonalitätswechsel nach es-Moll mittels nur einer einzigen Justierung, und zwar der Absenkung des Tons ces zum Ton b in der Bassstimme. 438 Dies lässt „die traumhaft elegische Stimmung wieder in leidenschaftliche Erregung“ 439 kippen. Die Schlusstakte des Seitenthemas verhalten sich harmonisch im Wesentlichen analog zu den vorhergehenden Ces-Dur-Takten: Es erklingt ebenfalls eine prolongierte Dominante mit orgelpunkttypischer Harmonik, die sich schließlich zur Tonika in T. 62 auflöst. Die erreichte Tonika es-Moll repräsentiert dabei sowohl den Ziel- als auch den Endpunkt des Seitenthemas. Die nachfolgende Notengraphik fasst den soeben beschriebenen harmonischen Verlauf noch einmal zusammen:
434
Im Es-Dur-Seitenthema des 1. Satzes von Beethovens Fünfter blitzt unterhalb der melodieführenden Violinen / Holzbläser ab T. 65 ff. in regelmäßigen Abständen das motorische Kopfmotiv des Hauptthemas in den Celli und Kontrabässen auf. 435 Wie bereits im Kopfsatz der Ersten aufgezeigt werden konnte, prägen Hornquinten eine Durtonart eindeutig aus. 436 Gleichzeitig kann von Ces-Dur aus betrachtet von einer II-V7-I-Wendung gesprochen werden. 437 Wirkten Umspielungsfiguren bislang stabilisierend, scheint sich ihre Wirkung an dieser Stelle umzukehren, was auf die Dehnung der Notenwerte zurückzuführen ist. 438 Die Art und Weise, wie es-Moll erreicht wird, erinnert sogleich an den Übergang zum Seitenthema (vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 76). 439 Ebd. Zum Stimmungswechsel trägt ferner der Umschwung der Dynamik bei.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 37: Terzstiegsequenz (T. 52–62)
Urplötzlich fährt in der zweiten Takthälfte von T. 62 der tonleiterfremde Ton g hinein und sorgt für ein abruptes Ende von es-Moll. Gleichzeitig hat er Signalwirkung, denn er kündigt als wiederum in den Streichern tremolierender Quintton die Rückkehr zur Ausgangstonart c-Moll an. Das Seitenthema beruht somit auf den drei tonalen Stationen Fes-Dur, Ces-Dur und es-Moll. Von überragender Bedeutung für die harmonische Organisation des Seitenthemas ist das Terzintervall. Mahler nutzt es sowohl ‚im Kleinen‘ als auch ‚im Großen‘. Um in das Seitenthema zu gelangen und um es auch wieder zu verlassen, platziert er an den jeweiligen Eckpunkten äußerst kompakte harmonische Terzfälle. Das harmonische Herzstück des Seitenthemas beruht im Kern auf einer gedehnten Terzstiegsequenz mit charakteristischem Quart-Sekund-Gegenschrittmodell in der Bassstimme. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den soeben beschriebenen harmonischen Verlauf:
Abbildung 38: Zusammenfassung des harmonischen Verlaufs der T. 43–65
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Auf das abrupte Ende des Seitenthemas folgt eine variierte und auskomponierte Wiederholung der Exposition, 440 die dabei „wie im Zeitraffer“ 441 erklingt. Dies hat eine Veränderung des Charakters des Hauptthemas zur Folge, 442 denn es hebt sich, vor allem bedingt durch die Stauchung der Notenwerte, nicht mehr wie bei seinem ersten Erscheinen als melodische Oberstimme von der motorischen Umgebung ab, sondern fügt sich nun vielmehr nahtlos in diese ein. In T. 69 ff. werden zunächst die motorischen Bassfiguren nach und nach ausgedünnt, ehe ruhigere Viertelbewegung einsetzt. Dann hebt in T. 74 gänzlich unvermittelt ein choralartiger neuer Abschnitt in As-Dur an. Überraschend wirkt nicht nur der neue Charakter, sondern vor allem die Tonalität, und dies, obwohl die Tonarten c-Moll und As-Dur eng miteinander verwandt sind und der Übergang technisch demjenigen des Seitenthemas ähnelt: Als Gemeinsamkeiten sind die „sinkende Baßlinie“ 443, die Tonzentralität (der Töne c und es) und der Terzfall (von c-Moll nach As-Dur) zu nennen. Die Ursache für die besondere Wirkung von As-Dur ist in den Takten kurz vor dem Eintritt des Chorals zu suchen. Dort erfolgt eine Anpassung der Diatonik, mit der nicht die tonalen Weichen für As-Dur, sondern für g-Moll gestellt werden. 444 Harmonisch liegt ein verminderter Septakkord (a-c-esfis) vor, die Dominante in g-Moll. Doch das gesetzte Signal erweist sich als Finte. Mahler durchkreuzt im allerletzten Moment die erwartete Auflösung in die Tonika g-Moll, indem er in die Mechanik der Stimmführung eingreift und damit jegliche dominantische Wirkung aushebelt: Der Basston a wird nicht zum Tonikagrundton g, sondern chromatisch zum Ton as abgesenkt, die Töne c und es werden nicht als Septime und kleine None, sondern als ein Bindeglied zwischen dem verminderten Septakkord und dem nachfolgenden As-Dur-Dreiklang behandelt und der Leitton fis wird schlicht eliminiert:
Abbildung 39: Überraschendes Erreichen von As-Dur mittels Tonzentralität und Chromatik (T. 72–74)
440
Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 226. Stephan, II. Symphonie, S. 29. 442 Für Rudolf Stephan verwandelt sich die Hauptthemenmelodie durch die Stauchung „in eine Fanfare, [in] eine bloße Figur“ (Stephan, II. Symphonie, S. 29). 443 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 76. 444 Signalartig wirkt dabei der Leitton fis. 441
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Analytischer Hauptteil Die besondere Wirkung von As-Dur wird also vor allem dadurch erzeugt, dass es entgegen der Hörerwartung eintritt. Der Choral, der als drittes Thema bezeichnet werden kann, 445 hebt sich sowohl durch seine homophone Anlage als auch durch seine schlichte Kadenzharmonik, mit der das unkonventionell erreichte As-Dur eindeutig ausprägt wird, vom bisherigen Satzverlauf ab. Seine charakteristische Initialwendung korrespondiert dabei mit dem „tonische[n] Symbol des Kreuzes“ 446 von Franz Liszt. 447 Wenngleich Mahler nicht selten selbst eng verwandte Tonarten merkwürdig fremd nebeneinander erscheinen lässt, kann an dieser Stelle zusätzlich dazu ein Zusammenhang zwischen Semantik und Tonalität hergestellt werden. Der Übergang zum nächsten Abschnitt, mit dem der Marschcharakter wiederkehrt, vollzieht sich in T. 78–80. Auch an dieser Stelle kommt eine chromatische Linienführung in der Bassstimme zum Einsatz, während darüber weiterhin konstant ein As-DurDreiklang intoniert wird. An der formalen Nahtstelle erklingen dann ein verkürzter Septnonakkord mit tiefalterierter Quinte (fis-as-c-es), der traditionell doppeldominantisch konnotiert ist, und ein leerer Oktavklang (g-g), der demnach dominantisch in c-Moll zu deuten ist:
Abbildung 40: Halbschlüssig konnotierte Wendung in cMoll nebst Tonikalisierung (T. 78–80)
Trotz dieser klaren kadenziellen Signale vermag c-Moll als Tonart im Anschluss nicht Fuß zu fassen. Die halbschlüssige Wirkung des leeren Oktavklangs verblasst rasch und der Ton g etabliert sich als neuer Grundton. Die neue Tonart g-Moll wird nicht kadenziell 445
Vgl. Sponheuer, Logik, S. 109. Floros III, S. 55. Constantin Floros (Floros II, S. 243) liefert hierzu eine ausführliche Beschreibung: „Es handelt sich um das Initium der gregorianischen Intonation des dritten beziehungsweise achten Psalmtons, eine Tonfolge, die aus einer großen Sekunde und einer kleinen Terz besteht [. . . ]. Kein Zweifel, daß das Symbol als solches unerkannt geblieben wäre, hätte Liszt nicht selbst darauf hingewiesen. Die 1869 bei Kahnt erschienene Partitur seiner Legende von der heiligen Elisabeth enthält eine Schlußbemerkung, in der Liszt die gregorianischen Melodien und Volksmelodien angibt, die er in der Legende verarbeitet hat.“ 447 Nachfolgend soll es Kreuzmotiv genannt werden. 446
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie ausgeprägt, sondern durch die Anpassung der Diatonik und durch melodische Kräfte tonikalisiert. Temporär fungiert der Ton g sowohl als Quintton in c-Moll als auch als Grundton in g-Moll. 448 Verunklarend wirkt zudem die (teils) manipulierte Stimmführung: Während sich der Leitton fis und die tiefalterierte Quinte as erwartungsgemäß zum Ton g auflösen, erreichen die kleine None es und die kleine Septime c nicht ihre erwarteten Ziele d bzw. b, sondern springen jeweils zum Ton g ab. Die manipulierte Stimmführung wird instrumentatorisch durch die Trompeten, die die Septime intonieren, exponiert. Harmonisch handelt es sich beim neuen marschmäßigen Abschnitt um ein modal konzipiertes g-Moll-Feld, das vom Grundton g artikuliert wird, der als Liegeton über mehrere Oktaven gespannt ist und einen Rahmen bildet. Motivisch werden dort Elemente des Hauptthemas mit denen der inszenierten Dominante aus T. 39 f. vereint. 449 Deutlich wird nun auch, dass der Choral als Interpolation der beiden Marschabschnitte zu verstehen ist und dass die Tonart g-Moll, die sich bereits vor dem Choral ankündigte, anschließend voll zur Geltung kommt. Als Detail sei erwähnt, dass die rhythmische Figur aus drei Vierteln und Achteltriole in Hörnern, Violen und Celli dem Kopfsatz der Ersten entlehnt ist: Sie korrespondiert mit dem dortigen chromatischen Bassmotiv. Wie bereits angemerkt, wird g-Moll als Tonart nicht kadenziell ausgeprägt, sondern mit Hilfe des angepassten diatonischen Tonvorrats und melodischer Kräfte tonikalisiert. Letztere wirken vor allem in den Trompeten, deren melodische Konzeption auf einem achsentönigen Grundgedanken beruht: Jede der drei aufwärts gerichteten Melodiephrasen erfolgt vom Achsenton g aus und wird sukzessiv im Ambitus erweitert, bis schließlich nach sechs Takten der g-MollGrundakkord einmal vollständig horizontal abgebildet worden ist. Die beiden abwärts gerichteten Gegenstimmen in den Violinen und in den Violen, Celli und Hörnern heben sich instrumentatorisch und rhythmisch nicht nur klar voneinander ab, sondern auch von der Trompetenlinie. Eine klangliche Verschmelzung der drei Linien wird vom Komponisten zu Gunsten linearer Transparenz tunlichst vermieden. Fixe kontrapunktische Prinzipien lassen sich dabei nicht feststellen. Das verbindende und gleichzeitig die Zusammenklänge organisierende Element zwischen ihnen scheint die g-aeolische Diatonik zu sein. 450 Diese ist es, die letztlich auch Dissonanzen zwischen den einzelnen Linien legitimiert, wobei die Zusammenklänge innerhalb des modalen Feldes eine untergeordnete Rolle spielen. Ähnlich wie zu Satzbeginn spannt Mahler auch in diesen Takten ein Netz aus Liegetönen und linearen Richtpunkten, das die vorherrschende Tonalität auf nicht kadenzielle Art und Weise stabilisiert. In T. 85 f. entsteht zwischen den Streichern und den Blechbläsern 448
Somit ist Paul Bekkers Deutung der T. 80–88 als Rückkehr nach c-Moll (vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 77) nicht zutreffend. 449 Aus dem Hauptthema stammen die aufwärts gerichtete Melodik und vor allem die rhythmische Formel, bestehend aus halber Note, punktierter Viertel- und anschließender Achtelnote. Der inszenierten Dominante sind hingegen die achsentönige und fächerartige melodische Konzeption und die stützenden Liegetöne entliehen. 450 Die Chromatik in den Trompeten ist strukturell bedingt bzw. dem achsentonmelodischen Grundgedanken geschuldet. Eine g-phrygische Farbe schimmert ein einziges Mal in den Violen, Celli und Hörnern in T. 83 auf.
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Analytischer Hauptteil eine Reibung, 451 allerdings wäre es zu weit gegriffen, von eigenständigen Dreiklängen (Es-Dur und B-Dur) in den Blechbläsern zu sprechen. Vielmehr sind die Töne es und f als melodische Umspielungen des g-Moll-Grundakkords zu verstehen. Nach sieben Takten endet das g-Moll-Feld und es folgt eine Ausweichung in dessen Mollsubdominante in T. 87 f., um jedoch sogleich wieder in die Bahnen von g-Moll zurückzulenken. Dabei geben sich T. 89–96 vor dem Eintritt der Schlussgruppe zunächst als dominantischer Orgelpunkt zu erkennen, wofür sowohl der in der Bassstimme liegende Dominantgrundton d als auch der auf ihr gebildete signalartige orgelpunkttypische Quartsextakkord gleich zu Beginn sprechen. Trotz der orgelpunkttypischen Signale erweisen sich T. 89–96 keineswegs als so zwingend, wie es zunächst den Anschein hat. Als Einstieg in die notwendige feingliedrige Analyse eignet sich der Posaunensatz, denn an ihm lässt sich am deutlichsten nachvollziehen, dass die Fortführung nicht uneingeschränkt hält, was die Eingangssignale versprechen. Sie beruht im Kern auf einem orgelpunkttypischen stufig abwärts gerichteten parallelen Sextensatz, dem als Tonmaterial primär eine leittonlose g-aeolische Diatonik zu Grunde liegt. Lediglich an zwei Stellen wird die Diatonik aufgebrochen: einmal durch den Ton cis in T. 95 und einmal durch den Leitton fis in T. 96,3. Beide Töne könnten hinsichtlich ihrer Relevanz und Wirkung im Kontext nicht unterschiedlicher sein. Während der Ton cis bzw. der erklingende verminderte Septakkord (cis-e-g-b) aus der Mechanik des Sextensatzes heraus transitorisch zu begreifen ist, kommt dem Leitton fis innerhalb der Passage eine Schlüsselrolle zu. Dieser bzw. der dominantisch wirkende übermäßige Dreiklang (d-fis-b) ist es, der erstmals eindeutig nach g-Moll klärt. Damit wird zudem die prinzipielle Frage beanwortet, ob es sich überhaupt um einen dominantischen Orgelpunkt in g-Moll handelt, nachdem die bis zu diesem Zeitpunkt dominierende leittonlose Diatonik die anfangs gesetzten Signale für einen dominantischen Orgelpunkt mit zunehmender Dauer verblassen ließ. Der besondere Reiz besteht also darin, dass der Leitton und die mit ihm verbundene klärende Dominantfunktion bis zum letztmöglichen Zeitpunkt hinausgezögert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass der übermäßige Dreiklang nicht selten als harmonischer Höhepunkt eines Abschnitts genutzt wird, was sich sowohl satz- als auch werkübergreifend beobachten lässt. 452 Die um den akkordischen Posaunensatz angelegten gegenläufigen Linienführungen prallen zunächst aufeinander, ehe sie später dann halbtaktig versetzt und verkürzt erklingen. Daran gekoppelt ist eine sukzessive Ausdünnung der Orchestration, 453 über die weiter unten zu sprechen sein wird. Insgesamt scheinen die besagten Linienführungen primär farbliche Funktion zu besitzen, was sich an den wechselnden diatonischen Skalenbildungen zeigt: Nachdem die auf- und absteigende melodische g-Moll-Tonleiter in T. 93 aufeinander getroffen sind – die Kollision der unterschiedlichen VII. Skalenstufen führt gewissermaßen zu einer Neutralisierung des Leittons fis –, schimmert danach kurzzeitig g-Phrygisch auf, ehe sich bis zum Eintritt des Leittons am Ende g-Aeolisch durchsetzen kann. Harmonisch strukturierend wirkt abermals die Melodik, was sich vor allem an den ersten Violinen 451 452 453
Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 77. Als Beispiel kann der T. 30 im 2. Satz der Fünften angeführt werden. Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 34
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie zeigt. Sie bilden auf den jeweiligen Taktschwerpunkten der T. 89–96 – ähnlich wie zuvor die Trompeten – nach und nach die Grundharmonie des Abschnitts, den g-MollDreiklang, horizontal ab. 454 Dramaturgisch und instrumentatorisch wird ähnlich wie in den Schlusstakten der Introduktion des Kopfsatzes der Ersten verfahren. Die Pointe besteht hier wie dort darin, dass Mahler mehr und mehr die Dynamik zurücknimmt und die Instrumentation ausdünnt, während gleichzeitig die kontinuierliche Verkürzung der Motivglieder und der harmonische Fortgang nach einer Lösung der Spannungen streben. Die beschriebenen Orgelpunkttakte werden durch die nachfolgende Notengraphik noch einmal veranschaulicht:
Abbildung 41: Dominantischer Orgelpunkt mit hinausgezögertem Leitton (T. 89–97) 454
Erwähnenswert sind die ab T. 93 immer wieder vom Ton c aus startenden melodischen Phrasen der tieferen Holzbläser, wodurch dieser Achsentoncharakter erlangt. Im Zusammenspiel mit dem Basston d ergibt sich dabei das Intervall der kleinen Septime, das cha-
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Analytischer Hauptteil Mit dem Erklingen der Tonika g-Moll in T. 97 wird der letzte Abschnitt der Exposition eingeläutet, der innerhalb der traditionellen Sonatensatzform die Schlussgruppe repräsentiert. Constantin Floros bezeichnet den Abschnitt als „Exequienmusik auf einem Baßostinato mit Tamtam“ 455 und weist dabei auf die semantische Bedeutung des erklingenden Tamtams hin: Es fungiere als Klangsymbol des Todes. 456 Trotz der dichten motivischen Beziehungen zum bisherigen Satzverlauf 457 hebt sich die Exequienmusik klanglich vom gesamten musikalischen Geschehen deutlich ab. Die Musik erfährt an dieser Stelle eine „Zustandsveränderung“ 458, die nicht nur durch Mahlers Vortragsbezeichnung „Beruhigend“ erzielt wird. Verantwortlich für ihre „zerschmettert-beruhigt[e]“ 459 Wirkung ist die Vorgeschichte des motivischen Materials und der Perspektivenwechsel, den es erfährt: Erklang es zuvor im Kontext der martialischen Marschtakte, erhält es in der zurückgenommenen Schlussgruppe eine gänzlich andere Beleuchtung. 460 Zusätzlich zur hohen Dichte an motivischen Beziehungen spiegelt sich auch die satzprägende großflächige harmonische Konzeption im letzten Abschnitt der Exposition noch einmal wider. Die erreichte g-Moll-Tonika verselbständigt sich zu einem Feld, das sich über mehr als zwanzig Takte erstreckt und der gesamten Schlussgruppe zu Grunde liegt. Im Laufe dieser Takte ändert sich mehrfach die Morphologie, sprich es alternieren modale und tonale Signale, mit denen auch der Feldtyp wechselt. Dies macht wiederum eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Feldtyp unmöglich. Im Unterschied zur ambivalenten Introduktion im Kopfsatz der Ersten bleibt die Tonalität davon jedoch unberührt. Als übergeordnetes Motto der Schlussgruppe kann der absteigende Tetrachord gelten, der innerhalb des Abschnitts nahezu omnipräsent ist. Mahler formt den absteigenden Tetrachord zu einem Bassostinato, das das Fundament der gesamten Schlussgruppe repräsentiert. Motivisch vereint er die Chromatik der inszenierten Dominante (T. 39 f.) mit der Rhythmik der abwärts gerichteten Gegenstimme aus den g-Moll-Marschtakten (T. 80 ff.). 461 Verbunden mit dem Bassostinato ist das regelmäßige Erklingen des Grundtons g, der dadurch einem Liegeton gleichkommt und mit dessen Hilfe das Feld artikuliert wird. 462 Oberhalb des Bassostinato greifen rakteristisch für einen Dominantseptakkord ist. Es hat Signalcharakter und schürt innerhalb der g-aeolischen Diatonik die Erwartung nach einer klar erkennbaren Dominante, die, wie bereits dargelegt wurde, bis zum allerletzten Moment hinausgezögert wird. Im Augenblick des Erklingens des Leittons wird dann die Septime c zur Sexte b abgesenkt, woraus schließlich der übermäßige Dreiklang resultiert. 455 Floros III, S. 53. 456 Vgl. Floros II, S. 311. 457 Diesbezüglich sei auf die detaillierten Ausführungen von Rudolf Stephan verwiesen (vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 32). 458 Stephan, II. Symphonie, S. 32. 459 Adorno, Physiognomik, S. 71. 460 Vgl. ebd., S. 70. 461 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 32. 462 Im Unterschied zu einer traditionellen Behandlung nimmt Mahler keine Harmonisierung des Bassostinato vor und nutzt es ausschließlich melodisch.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie die Hörner die Hauptthemenvariante aus T. 80 ff. auf. Im Vergleich zu diesen Takten scheint ihnen nun aber zunächst die Kraft zur melodischen Entfaltung zu fehlen. Zwar starten alle drei Melodiephrasen vom Achsen- bzw. Grundton g aus, jedoch sinken die ersten beiden gleichsam resignierend zum Ausgangspunkt zurück. Erst beim dritten Anlauf und mit Hilfe der Holzbläser gelingt es, sich aus der melodischen Starre zu befreien. 463 Erwähnenswert ist die schneidende Klangfarbe der dynamisch exponierten gedämpften Posaunen, die die Tonika mittels Quartsextvorhalt umspielen. Die schneidende Klangfarbe steht nicht nur klanglich einer stabilen Tonika entgegen, sondern sorgt innerhalb der Schlussgruppe insgesamt für ein leichtes Ungleichgewicht. 464 Bis zu diesem Zeitpunkt des Feldes verfährt Mahler primär melodisch, so dass das Feld (ähnlich wie T. 80 ff.) modale Züge aufweist. Angelangt auf dem Spitzenton g in T. 104 übernehmen von dort an die Oboen die melodische Führung und intonieren eine weitere Variante des Hauptthemas, das nun in einer Art Umkehrung erklingt; 465 den melodischen Kern bildet dabei der absteigende Tetrachord. 466 Während die chromatische Struktur des Bassostinato in eine diatonische übergeht, erhält der chromatisch angehauchte absteigende Tetrachord in der Oberstimme durch das Zusammenspiel von Oboen und Trompeten nun erstmals auch eine harmonische Ausgestaltung, die auf einem Fauxbourdon mit 5-6-Konsekutive basiert: 467
Abbildung 42: Chromatisch absteigender Tetrachord harmonisiert mittels Fauxbourdon (T. 104–110)
463
Es erfolgen dabei sowohl eine horizontale Abbildung der Grundharmonie als auch eine Durchquerung des Oktavraums g-g. 464 Hinsichtlich der besonderen Wirkung einer spezifischen instrumentalen Klangfarbe besteht Ähnlichkeit zwischen der soeben beschriebenen Passage und den T. 31 ff. im Kopfsatz der Dritten. Dort ist es die gedämpfte Trompete, die mit ihrem gedehnten und vorhaltig wirkenden Leitton für ein klangliches Ungleichgewicht im tonikalen Umfeld sorgt (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 63). 465 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 77. 466 Gleichzeitig kann die Oboenmelodie als seufzerartig charakterisiert werden (vgl. Floros II, S. 214 und S. 391). 467 Die Harmonisierung des absteigenden Tetrachords in der Bassstimme mittels Sextakkorden kann als die wohl traditionellste gelten.
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Analytischer Hauptteil Durch den harmonischen Schwerpunkt ändert sich die Morphologie des Feldes: Es erhält tonikalen Orgelpunktcharakter. Bemerkenswert ist hierbei zweifellos die Instrumentation, die in hohem Maße analytisch wirkt, 468 was besonders in T. 107 f. deutlich wird. Die Beschreibung Rudolf Stephans bringt es auf den Punkt: [D]urch Mittel der Instrumentation werden aus dem Hauptmotiv die zweitönigen Vorhaltsmotive herauspräpariert, [wodurch] aus dem harmonischen Vorgang, der Verrückung des übermäßigen Dreiklangs um einen Halbton abwärts, selbst ein kontrapunktischer [wird]. 469
Zu ergänzen sind an dieser Stelle die Dekonstruktion und das Zunichtemachen der Stimmführung, was sich bei der Auflösung des dominantisch wirkenden übermäßigen Dreiklangs (d-fis-b) in die g-Moll-Tonika zeigt. Erzielt wird dies durch das plötzliche Verstummen von Trompeten, zweiter Oboe und Englischhorn, was einen sanften Übergang in die Schlusstakte vereitelt. Mahler erzielt mit seiner charakteristischen SchnittTechnik einen deutlichen Klangfarbenwechsel und lenkt so die Aufmerksamkeit auf die einsetzende Melodielinie der Hörner. Während die Hörner auf den Beginn der Exequienmusik rekurrieren, wird der Tonikadreiklang nun mehrmals seufzerartig mittels Sextbzw. Quartsextvorhalt umspielt, wobei abermals die gedämpften Posaunen klanglich hervorstechen. Der Satz wird in Folge immer weiter ausgedünnt, bis schließlich „alles motivische Leben erstorben“ 470 ist. Dabei verfährt Mahler wie zu Beginn des Feldes wieder primär melodisch und färbt es damit abermals modal ein. Der kontinuierliche „Auflösungsprozeß“ 471 der Schlussgruppe zeigt sich besonders am Verlauf des Bassostinato, das zuletzt auf ein elementares I-V-Pendel zusammengeschrumpft ist. Damit wird zugleich das Elementarintervall der Quarte, das den gesamten bisherigen Satz geprägt hat, noch einmal plastisch vorgeführt. Die Kopfsätze von Mahlers Erster und Zweiter 468
Die Bezeichnung „Analytische Instrumentation“ geht auf Carl Dahlhaus zurück (Dahlhaus, Carl, Analytische Instrumentation. Bachs sechsstimmiges Ricercar in der Orchestrierung Anton Weberns, in: Bach-Interpretationen, hrsg. von Martin Geck, Göttingen 1969, S. 197– 206). Das analytische Moment der Instrumentation Weberns besteht darin, dass Stimmen bzw. Melodielinien in ihre motivischen Bausteine aufgegliedert und durch Klangfarbenwechsel voneinander separiert und dadurch herausgearbeitet werden; besonders deutlich wird dies gleich zu Beginn des Ricercars, wo das Thema einstimmig vorgestellt und dabei „in nicht weniger als sieben, durch Farbwechsel voneinander abgehobene Fragmente zerlegt“ (ebd., S. 198) wird. Weberns Intention ist die Verdeutlichung motivischer „Zusammenhänge zwischen den Stimmen“ (ebd., S. 205). Die Dekonstruktion von Stimmen in Motive führt aber auch dazu, dass der melodische Grundgedanke nicht mehr im Vordergrund steht und sogar bis zu einem gewissen Grad beschädigt wird (vgl. ebd.). Somit interpretiert Webern „Bachs Polyphonie als primär motivischen, nicht linearen Kontrapunkt.“ (ebd., S. 204). 469 Stephan, II. Symphonie, S. 33. 470 Ebd. 471 Ebd.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie beruhen trotz aller deutlichen Unterschiede hinsichtlich ihrer musikalischen Charaktere beide auf dem elementaren Baustein der Quarte.
Durchführung (T. 117–329) In der Mahlerforschung wurde bereits sehr früh festgehalten, dass der Durchführung eine zweiteilige Anlage zu Grunde liegt. 472 Über den Zeitpunkt des Endes des ersten bzw. des Beginns des zweiten Durchführungsteils herrschen allerdings nach wie vor unterschiedliche Ansichten. Während Constantin Floros den Beginn des zweiten Durchführungsteils nach dem Doppelstrich ab T. 254 ansetzt, 473 verortet Stephen E. Hefling dessen Anfang bereits ab T. 244. 474 Tatsächlich sprechen mehrere Aspekte, die in der nachfolgenden Analyse noch im Detail beleuchtet werden, für die Deutung Heflings. Zunächst ist es die drastische Zäsur, die sich dort zwischen dem ausklingenden pastoralen Abschnitt und den mit äußerster Vehemenz einsetzenden Bassfiguren des Satzbeginns ereignet. Insbesondere wirkt jedoch an dieser Stelle die es-Moll-Tonalität klärend. Sie ist bereits ab T. 244 anzusetzen und wird den gesamten zweiten Durchführungsteil maßgeblich prägen. Es gibt somit keinen plausiblen Grund dafür – der Doppelstrich allein reicht als eher notationstechnisches Indiz nicht aus –, die T. 244– 252 auszugliedern und dem ersten Durchführungsteil zuzuweisen.
1. Durchführungsteil (T. 117–243): Der in C-Dur zu verortende Beginn der Durchführung rekurriert sowohl in thematischer als auch in instrumentatorischer Hinsicht auf das Seitenthema. Der Übergang von der ausklingenden düsteren Exequienmusik hin zur lyrischen Seitenthema-Variante ist von ergreifender Zartheit. Darüber hinaus erfüllt der Durchführungsbeginn mit seiner zurückgenommenen Dynamik und seinem vorübergehenden musikalischen Stillstand die Kriterien für eine Suspension im Sinne Adornos. 475 Obwohl die Stimmungen kaum unterschiedlicher sein könnten, existiert ein Bindeglied zwischen den Abschnitten in Gestalt des Basstons g. Er wechselt unmerklich seine Funktion im tonalen Kontext: 472
Vgl. Specht, Richard, Gustav Mahler, erste bis vierte Auflage, Berlin und Leipzig: Schuster & Loeffler 1913, S. 222. 473 Vgl. Floros III, S. 54. 474 Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 226. 475 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 60. Walter Werbeck konstatiert zwei prinzipielle Strategien Mahlers zur Gestaltung der Durchführungsteile, um sie zur Exposition kontrastieren zu lassen: erstens eine traditionelle, bei der motivisch-thematische Arbeit und große Steigerungs-Partien im Vordergrund stehen, zweitens eine unkonventionelle, die u. a. auf Suspensionen basiert (vgl. Werbeck, Walter, Die Sonatenform in Mahlers frühen Symphonien, in: Gustav Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts. Referate des Bonner Symposiums 2000 (Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 5), hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Frankfurt a. M.: 2001, S. 56).
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Analytischer Hauptteil Nahm er soeben noch die Rolle des Grundtons in g-Moll ein, fungiert er nun als Quintton bzw. als dominantischer Orgelpunkt in C-Dur, womit eine syntaktische Verknüpfung vorliegt, wenngleich nicht in einem kadenziellen Sinne. Als Detail ist die dissonante Reibung in den Oberstimmen, die aus der Simultaneität von Quartsextvorhalt und dessen Auflösung resultiert, zu nennen. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht sowohl den Übergang von der Exposition in die Durchführung als auch den dominantischen Orgelpunkt:
Abbildung 43: Übergang zur Durchführung und dominantischer Orgelpunkt (T. 115–121)
Nach erfolgter Auflösung in die C-Dur-Tonika (T. 121) erklingt ein zweifacher Terzfall, der über a-Moll nach F-Dur führt und sofort Erinnerungen an den Übergang zum Seitenthema weckt. Im Zusammenspiel mit den melodieführenden ersten Violinen ergibt sich dabei ein achsentöniges Moment, was sich an der dreimaligen wechselnden Beleuchtung des Spitzentons c zeigt: Er fungiert zunächst als Grund-, dann als Terzund schließlich als Quintton. Bei gleich bleibender Diatonik beginnt sich in T. 123 ff. F-Dur vor allem durch die Fanfarenmelodik der Hörner als neue Tonalität mehr und mehr zu festigen. 476 Doch bereits kurze Zeit später verlässt Mahler schon wieder die eingeschlagene Richtung und erreicht mittels phrygischer Wendung in T. 127 überraschend E-Dur. Unerwartet wirkt der Eintritt von E-Dur, weil sich der Ton f gerade als neuer Grundton zu etablieren begonnen hat und der Übergang von F-Dur nach E-Dur kaum kürzer sein könnte. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den bisherigen harmonischen Verlauf des ersten Durchführungsteils: 476
Aus dem C-Dur-Kontext heraus kann von einer angehenden Tonikalisierung der Subdominante gesprochen werden.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 44: Terzfall und phrygische Wendung (T. 121–127)
Der Reiz der Passage besteht allerdings nicht nur darin, dass E-Dur unerwartet eintritt, sondern dass es keineswegs sofort als neue Tonika fungiert. Die Ursache hierfür ist in der traditionell halbschlüssigen phrygischen Wendung zu sehen. Das bedeutet, dass E-Dur der vorangehenden Diatonik geschuldet zunächst als Dominante in a-Moll zu deuten ist. Doch die dominantische Wirkung von E-Dur vermag sich nicht zu halten, sie verblasst mit zunehmender Dauer und schließlich etabliert sich E-Dur selbst als tonales Zentrum. Vollzogen wird die Tonikalisierung auf ähnliche Weise wie kurz zuvor mit Hilfe der Hörnerfanfaren und durch die Anpassung der Diatonik. 477 Für den in T. 129 beginnenden neuen Abschnitt findet sich in Mahlers Skizzen der Eintrag „Meeresstille“ 478. In der Mahlerforschung ist versucht worden, einen Zusammenhang zum gleichnamigen Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe herzustellen. Dabei deutet Constantin Floros Mahlers Eintrag Meeresstille vor dem Hintergrund der Todesprogrammatik des Symphoniesatzes als bildhaften Ausdruck für „Todesstille“ 479. Seine Einschätzung ist allerdings schwer vereinbar mit der vorherrschenden Stimmung. Während das Gedicht Goethes von tiefster Verzweiflung getragen ist, zeichnet Mahler in T. 129 ff. ein idyllisches Naturbild. 480 Demnach meint Mahler mit Meeresstille wohl eher den Moment des Friedens zwischen all den Stürmen des Kopfsatzes. 481
477
Das Umfunktionieren dominantisch konnotierter Klänge zu tonikalen konnte inzwischen mehrfach an formalen Nahtstellen aufgezeigt werden. 478 Vgl. Floros III, S. 56. 479 Ebd. Floros bezieht sich vor allem auf die Verszeile „Todesstille fürchterlich!“ in Goethes Gedicht. 480 An dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, dass idyllische Naturbilder bei Mahler nicht nur pastoralen, sondern auch maritimen Charakter aufweisen können. Die musikalische Umsetzung von pastoralen und maritimen Bildern unterscheidet sich, wie noch zu zeigen sein wird, nicht. Im Übrigen führt Floros selbst die Meeresstille-Episode in der Kategorie Pastorale mit Beispielen anderer Komponisten (vgl. Floros II, S. 372 f.). 481 Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 227.
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Analytischer Hauptteil Den Beginn des lyrischen Abschnitts markiert das Englischhorn mit einer sanglichen Melodie. Womöglich besteht hier eine bewusste Ähnlichkeit zum „Schlummermotiv“ bzw. „Zauberschlafmotiv“ aus Richard Wagners Die Walküre 482:
Abbildung 45: Ausschnitt aus Richard Wagners Die Walküre, WWV 86b, 3. Akt, 3. Szene 483
Angepasst an die E-Dur-Diatonik erklingt in der ersten Oboe anschließend die Melodie, die der Schlussgruppe der Exposition (T. 104 ff.) entstammt und deren Faktur maßgeblich vom absteigenden Tetrachord geprägt ist. Diese und das Schlummermotiv, das inzwischen an die hohen Celli übergeben wurde, überlagern einander kurze Zeit später, ehe „im Echoton der Klarinetten [. . . ] ein wehmütig süßer Erinnerungsgesang“ 484 präsentiert wird. Zu ihm gesellen sich tonleiterartige Ausschnitte in der Harfe und charakteristische Hornquinten in den Hörnern. Eingebettet sind sämtliche Motive in den „zartschimmernden Rahmen“ 485 der Bordunquinten, den Mahler über mehrere Register spannt und damit ein E-Dur-Bordunfeld artikuliert. Einmal mehr wird die Tonart weniger kadenziell, sondern vielmehr durch den Tonvorrat und melodische Kräfte konstituiert. Die Ähnlichkeit zu den Bordunfeldern in der Exposition des Kopfsatzes der Ersten ist evident. 486 Das Schlummermotiv erklingt am Ende des Abschnitts noch einmal in den Celli und kurze Zeit später (T. 145) in den Violen und bildet damit eine formale Klammer. Mahler führt es in den Violen jedoch nicht wörtlich fort, sondern formt es zu einer neuen durchgehenden Achtelfigur um, die
482
Vgl. ebd., S. 228. Bei der nachfolgenden Notengraphik orientiert sich der Autor der vorliegenden Arbeit am Klavierauszug von Richard Kleinmichel (vgl. Wagner, Richard, Die Walküre – Klavierauszug zu zwei Händen mit Hinzufügung des Gesamttextes und der szenischen Bemerkungen von Richard Kleinmichel, Mainz u. a.: Schott 1895). 484 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 78. 485 Ebd. 486 Auch kontrapunktisch verhalten sich die betreffenden Bordunfelder ähnlich: Mahler präferiert imperfekte Konsonanzen und milde Dissonanzen. Darüber hinaus wird die Wirkung von Dissonanzen durch die Instrumentation abgeschwächt, die darauf angelegt ist, die einzelnen Melodielinien zu verdeutlichen und gleichzeitig voneinander abzuheben. Letztlich scheint es die Diatonik zu sein, die die Zusammenklänge legitimiert. 483
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie bis T. 159 bedeutsam bleibt. 487 Gleichzeitig trübt sich das idyllische Naturbild durch den überraschenden Tongeschlechtswechsel von E-Dur nach e-Moll. Die Trübung des Bordunfeldes kündigt sowohl das Ende der friedlichen Stimmung als auch einen neuen Abschnitt an, dessen Tonalität dadurch bereits vorgezeichnet ist. Schließlich weicht die sangliche Melodik, die bis zu diesem Zeitpunkt den Abschnitt prägte, den in T. 147 einsetzenden Trauermarschrhythmen in den Celli und Kontrabässen. Damit knüpft Mahler an den marschmäßigen Satzbeginn an, der nun jedoch „in gebändigter Gestaltung“ 488 erscheint. 489 Die durchgehenden Achtelfiguren und die quasi punktierten Marschrhythmen bilden zusammen das rhythmisch-motorische Gerüst des neuen Marschabschnitts. Einerseits heben sie sich durch die unterschiedliche Phrasierung und Artikulation voneinander ab, andererseits teilen sie sich bis T. 150 die harmonische e-Moll-Tonleiter als Tonvorrat. Als weitere Gemeinsamkeit weisen sie eine achsentönige Anlage auf: Die melodische Konzeption konzentriert sich um und auf den Grundton e, gleichsam als Liegeton, so dass der Abschnitt insgesamt feldähnliche Qualitäten aufweist. Mit der erklingenden „Weise“ 490 in Englischhorn und Bassklarinette, die als Tonvorrat eine e-aeolische Diatonik nutzt, tritt dann ein Element in den Marsch ein, das ihm eine gedrückte Stimmung verleiht. 491 Während die Violen ihrer achsentonmelodischen Anlage bis T. 157 treu bleiben, reagieren die quasi punktierten Marschrhythmen auf die Weise mit einem Wechsel von ihrer markanten Achsentonmelodik hin zu einer tendenziell stufigen wellenartigen Bewegung, die sich tonal nach wie vor auf e-Moll beziehen lässt. Allerdings finden unentwegt Modifikationen in den diatonischen Tonleiterstrukturen statt und dabei schöpft Mahler nahezu die gesamte Palette an mollaren Farben aus: In kurzen zeitlichen Abständen wechseln Skalenausschnitte von melodisch-Moll, aeolisch, phrygisch und harmonisch-Moll, wodurch der Grundton e ständig neu eingefärbt wird. Das e-Moll-Feld setzt sich somit aus insgesamt drei Ebenen zusammen, die sich jeweils
487
Unterstützung erhalten die Violen zeitweise von den zweiten Violinen, die eine ähnliche Figur vortragen. 488 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 78. 489 Sicherlich bedarf es im Allgemeinen lediglich der Modifikation des Tons gis zu g, um von E-Dur nach e-Moll zu gelangen. Doch ist es bemerkenswert, wie Mahler zwei unterschiedliche Charaktere, Pastorale und Marsch, nahtlos ineinander übergehen lässt. Einerseits antizipiert der Komponist mit der durchgehenden Achtelfigur in den Violen und zweiten Violinen, die aus der Motivtransformation des Schlummermotivs gewonnen wird, und der Molltrübung des Bordunfeldes den neuen Abschnitt sowohl in motivischer als auch in tonaler Hinsicht, andererseits lässt er Elemente des Bordunfeldes noch in die bereits einsetzende Marschmotorik hineinragen. Es ist letztlich die Verschränkung von Tonalität und Motivik, die den bruchlosen Übergang bewerkstelligt. Solche Verschränkungen von Unterabschnitten lassen sich später noch insbesondere in der Coda verstärkt feststellen. 490 Hefling, Zweite Symphonie, S. 228. 491 Bekker bezeichnet sie als „klagend“ (Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 78), Stephan als „trauerchoralartig“ (vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 37).
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Analytischer Hauptteil hinsichtlich Rhythmik, Phrasierung, Artikulation und insbesondere hinsichtlich ihrer unterschiedlichen, aber stets auf den Grundton e bezogenen diatonischen Tonvorräte voneinander abheben. 492 Lediglich einmal innerhalb des Teilabschnitts – in T. 156– 159 – lässt die Gravitationskraft des Grundtons e kurzzeitig nach. Dies erzielt Mahler mit Hilfe einer Terzstieg- und einer darauf folgenden Quintfallsequenz. Erneut werden die Sequenzen nicht zu Modulationszwecken eingesetzt, 493 denn bereits in T. 160 wird mittels Dominantseptakkord-Tonika-Wendung die Tonart e-Moll wieder bestätigt und damit gleichzeitig der nächste Teilabschnitt eingeläutet:
Abbildung 46: Kompakter Terzstieg und Quintfall (T. 155–160)
Die Aufgabe der Sequenzen besteht darin, die harmonische Statik des Feldes temporär aufzubrechen und die e-Moll-Tonalität kurzzeitig zu verunklaren, ohne sie jedoch in Frage zu stellen. Motivisch wird in T. 160 ff. die Hauptthema-Variante (in den Hörnern), die T. 80 ff. entlehnt ist, mit der Weise im Englischhorn und der Bassklarinette vereint. Interpunktiert werden sie durch die absteigenden Tonleiterfiguren in den Violinen, die ebenfalls T. 80 ff. entstammen. Dieses melodische Dreiergespann erklingt oberhalb der Marschrhythmen des Satzbeginns in den tiefen Streichern, die dabei das achsentönige Moment der Takte zuvor mit einfließen lassen. Bereits nach kurzer Zeit wird durch motivische Abspaltung und Sequenzierung für eine Verdichtung und Beschleunigung des Satzes gesorgt, was gleichzeitig dazu führt, dass die bislang getrübte Stimmung in eine zunehmend aufgewühlte übergeht. 494 Als harmonisches Gerüst der T. 160–167 dient ein ausharmonisierter Ausschnitt der aufsteigenden melodischen Molltonleiter in der Bassstimme, was sogleich an das barocke Harmonisierungsmodell der „Regola
492
Auch an dieser Stelle fällt es schwer, fixe kontrapunktische Prinzipien zu benennen. Abermals sind die Präferenz von imperfekten Konsonanzen und die Vermeidung scharfer Dissonanzen innerhalb der Diatonik deutlich zu erkennen. 493 Dieser spezifische Gebrauch von Sequenzen hat sich bereits im Kopfsatz der Ersten (vor allem in der Reprise) beobachten lassen. 494 Vorantreibend wirken die in T. 164 einsetzenden Achteltriolen in Celli und Kontrabässen.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie dell’ottava“ bzw. „Oktavregel“ 495 erinnert und zu dessen Darstellung sich eine Generalbassbezifferung anbietet:
Abbildung 47: Ausharmonisierter Ausschnitt einer aufsteigenden e-Moll-melodischen Tonleiter (T. 160–167)
Die häufige Verwendung von Quintsextakkorden ist vor diesem Hintergrund als traditionell zu beurteilen, 496 jedoch mit einer Ausnahme: Mahlers Interpretation der V. Tonleiterstufe. Anstelle einer Harmonisierung als Grund- oder Septakkord bzw. als Dominante der Tonart e-Moll erfolgt eine Ausweichung nach a-Moll. Aus der a-MollPerspektive lässt sich dann im Übrigen die trugschlüssige Wirkung des F-Dur-Dreiklangs erklären, der auf letzter Zählzeit in T. 165 ertönt, 497 ehe sogleich zurück in Richtung e-Moll gelenkt wird. Wenngleich Mahler in diesen Takten seinem melodisch-linearen Schwerpunkt auch weiterhin treu bleibt, zeigt sich, dass er harmonisch nun deutlich kleingliedriger verfährt und ein akkordisches Denken klar erkennbar ist. Die Rolle der Oktavregel klärt sich allerdings erst in einem größeren harmonischen Kontext: Beim Durchqueren der e-MollTonleiter wäre an mehreren Stellen problemlos eine Modulation möglich gewesen, die jedoch tunlichst vermieden worden ist. Somit scheint die Oktavregel bei Mahler eine
495
Bei der Regola dell’ottava handelt es sich um ein zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Italien, Frankreich und später auch im deutschsprachigen Raum aufkommendes (standardisiertes) Harmonisierungsschema auf- und absteigender Dur-Moll-Tonleitern in einer Bassstimme. Jeder Tonleiterstufe wird eine bestimmte Generalbassbezifferung zugewiesen, wobei zum Teil auch mehrere Möglichkeiten existieren, die sich zudem von Autor zu Autor unterscheiden. Als äußerst hilfreich erweist sich die Oktavregel vor allem bei der improvisatorischen Praxis bzw. bei der ad-hoc-Ausführung unbezifferter Bässe (vgl. Christensen, Thomas, The „Règle de l’Octave“ in Thorough-Bass Theory and Practice, in: Acta Musicologica Bd. 64, Nr. 2, 1992, S. 91–117 und Budday, Harmonielehre Wiener Klassik, S. 174 ff.). 496 Quintsextakkorde auf der IV., VI. und VII. Tonleiterstufe stellen typische Harmonisierungen dar. 497 Aufgrund seiner untergeordneten metrischen Position ist es angemessen, diesen als Durchgangsquartsextakkord interpretieren, der die beiden genannten Tonleiterstufen chromatisch miteinander verbindet.
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Analytischer Hauptteil ähnliche transitorische Funktion wie der Großteil der Sequenzen zu besitzen. 498 Mahler beschließt den e-Moll-Abschnitt mit einer Abfolge kompakter Kadenzen, die den dramaturgischen Höhepunkt des Abschnitts repräsentieren. Motivisch rekurriert Mahler in der Oberstimme erneut auf das Hauptthema, das nun in einer freien Umkehrung erscheint, 499 fortgesponnen wird und schließlich in eine Überleitung mündet. In der sequenziell angelegten viertaktigen Überleitung (T. 171–175) werden signalartige Einwürfe der Hörner und (anschließend) der Trompeten exponiert, die sich motivisch auf den Satzbeginn beziehen lassen:
Abbildung 48: Partiturreduktion der T. 171–175
Harmonisch basiert die Überleitung auf einem harmonischen Terzfall, der über a-Moll und F-Dur nach D-Dur moduliert und dadurch sofort an den Übergang zum Seitenthema erinnert.
Abbildung 49: Modulierender harmonischer Terzfall (T. 171–175)
In D-Dur hebt dann eine Variante des Kreuzmotivs an, das nun nicht mehr wie in der Exposition als Fremdkörper aus der Marschumgebung herausragt, sondern eingebettet 498
Derartige ausharmonisierte Tonleiterausschnitte lassen sich in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien vereinzelt beobachten, spielen aber im Gegensatz zu Sequenzen insgesamt eine untergeordnete Rolle. 499 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 79.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie im motorischen Treiben erklingt. Als farbliche Besonderheit ist die Modifikation der VI. Tonleiterstufe – die Tiefalteration des Tons h zum b – zu nennen. Dadurch entsteht der Anschein, als hebe der Choral nun in g-Moll an, was jedoch nicht zutreffend ist. Insbesondere die Initialwendung zu Beginn darf nicht als Progression von Dominante und Molltonika in g-Moll fehlgedeutet werden. Es handelt sich nach wie vor um D-Dur und um die für das Kreuzmotiv charakteristische plagale Wendung, die eben nun als Besonderheit die Mollsubdominante aufweist. 500 Es scheint, als färbe die düstere Marschumgebung auf den Choral ab, als sei er eines Teils seiner ursprünglichen optimistischen Leuchtkraft beraubt. Im letzten Takt des Choralabschnitts (T. 178) ‚korrigiert‘ Mahler die VI. Stufe, allerdings weniger um D-Dur diatonisch zu festigen, 501 sondern vielmehr um den Übergang zum nächsten marschmäßigen Abschnitt vorzubereiten, einer Variante von T. 80 ff. An der formalen Nahtstelle kommt dabei eine phrygische Wendung zum Einsatz:
Abbildung 50: Halbschlüssige phrygische Wendung in fis-Moll nebst Tonikalisierung (T. 178 f.)
Aufgrund ihrer halbschlüssigen Wirkung ist der in T. 179 ertönende leere Oktavklang (cis-cis) zunächst dominantisch in fis-Moll zu deuten. Doch ähnlich wie in T. 126 f. verblasst diese Wirkung rasch, und schließlich kann sich der Ton cis selbst mittels Tonikalisierung als neues tonales Zentrum etablieren. 502 Erneut wird also ein zunächst dominantisch wirkender Klang zu einem tonikalen uminterpretiert, was zu einem temporären tonalen Schwebezustand – in diesem Fall schwebt die Tonalität vorübergehend zwischen fis-Moll und cis-Moll – führt. Bei der cis-Moll-Marschvariante (T. 179– 185), die sich stark an T. 80 ff. orientiert, handelt es sich abermals um ein modales Feld, das mehrere Farbwechsel erfährt: Anfänglich erhält es einen chromatischen, später einen aeolischen und phrygischen Anstrich. Erwähnenswert ist sicherlich die leittönige Schärfung am Ende des cis-Moll-Feldes, die sogleich zu einem „grell leidenschaftlichen
500
Zu ergänzen ist der übermäßige Überdreiklang (b-d-fis) auf der VI. Stufe. Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 79. 502 Die Tonikalisierung wird durch die Anpassung des Tonvorrats und durch das Zusammenspiel von Liegetönen und spezifischer achsenmelodischer Konzeption erzielt. 501
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Analytischer Hauptteil Aufschrei“ 503 gesteigert wird. Der Aufschrei erklingt insgesamt dreimal, und mit jeder Wiederholung verunklart sich die tonale Situation und damit verbunden die Rolle des Tons cis. Verantwortlich hierfür ist der in der Bassstimme erklingende Fauxbourdon. 504 Dabei verliert sich mit zunehmender Dauer der vorangehende Bezug zum Grundton cis, bis schließlich aufgrund der vermehrt auftretenden A-Dur-Dreiklänge eine Entscheidung zwischen cis-Phrygisch und A-Dur unmöglich geworden ist. Dementsprechend fungiert der Ton cis temporär sowohl als Terz- als auch als Grundton. Die nachstehende Grafik veranschaulicht die beschriebenen Fauxbourdontakte:
Abbildung 51: Irritierender Fauxbourdon (T. 186–188)
Überraschend hebt der nächste Marschabschnitt in T. 189 ff. weder in A-Dur noch in cis-Moll, sondern in fis-Moll an. 505 Damit klärt Mahler also noch in eine dritte tonale Richtung; nun nimmt der Ton cis die Rolle des Quinttons ein. Festzustellen ist, dass die beiden Marschabschnitte trotz des syntaktischen Bindeglieds (der vorliegenden Quintbeziehung fis-cis) merkwürdig unverbunden nebeneinander stehen. 506 Dies ist ebenfalls auf den Fauxbourdon zurückzuführen, der die beiden Marschabschnitte interpoliert und den schlichten Wechsel von cis-Moll nach fis-Moll verkompliziert. Der Eindruck der Unverbundenheit der beiden Abschnitte wird instrumentatorisch durch den Einsatz der Schnitt-Technik verstärkt. 507 Bemerkenswert ist ferner die mit 503
Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 79. Damit ist die exponierte halbtönige Zweitonformel (d-cis) in den Hörnern und Holzbläsern gemeint. 504 Der Fauxbourdon weist motivisch in aller Deutlichkeit auf die motorischen Bassfiguren des Satzbeginns. 505 Für die Oberstimmen kann in jedem Fall fis-Moll als Tonalität gelten. Tonal nicht so klar verhalten sich hingegen Oberstimmen und Bassstimme zueinander, worauf sogleich noch einzugehen ist. 506 Für eine Separierung sorgt bereits die Viertelpause in den Bläsern. 507 Während bislang involvierte Instrumente – wie Violinen, Oboen und Klarinetten – mit einem Mal verstummen, setzen zuvor ausgesparte Instrumente – wie Tuba, Fagotte, Posaunen und Trompeten – unvermittelt ein.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie der Unterterzung einhergehende plötzliche Tiefe des Bassregisters. Dies weckt sogleich Erinnerungen an die Durchführung des Kopfsatzes der Ersten (T. 180 ff.); hier wie dort wird ein modaler Schwebezustand erzeugt. Geht man in den Oberstimmen von fis-Moll aus, so fungiert der das modale Feld artikulierende Basston d als Sextton. Wird allerdings diesem das Primat eingeräumt, Grundton zu sein, so bewegen sich die Oberstimmen in der Tonart der III. Stufe. Keiner der beiden Interpretationen kann der Vorzug gegeben werden. 508 Vielmehr zeichnet sich die Passage gerade durch diesen Schwebezustand aus. Wie noch zu zeigen sein wird, liegt der Einsatz des Basstons d in einer im Hintergrund wirkenden makrologischen harmonischen Struktur begründet. Abgesehen vom Bassfundament unterscheidet sich die Faktur des Marschabschnitts von der seiner Vorgänger in g-Moll und cis-Moll nur geringfügig. 509 Der schneidende Beckenschlag auf der ersten Zählzeit in T. 196 sorgt für ein jähes Ende des Marsches und läutet zugleich den nächsten orchestralen Ausbruch ein. 510 Den kurzen tonhöhenlosen Moment – alle zuvor involvierten Instrumente verstummen an dieser Stelle für den Zeitraum einer Viertelnote – nutzt Mahler harmonisch für einen überraschenden Tonalitätswechsel nach g-Moll, an den ein deutlicher Registersprung aufwärts geknüpft ist. Eine wichtige Rolle kommt dem Ton d in der ersten Pauke zu, denn er stellt das einzige Bindeglied zwischen den ansonsten klar separierten Unterabschnitten dar. Er wechselt seine Rolle und fungiert nun als Quintton. Ohne diese Achse läge eine Rückung vor. Anhand dieser formalen Nahtstelle lässt sich sehr gut nachvollziehen, wie Mahler syntaktische Verknüpfungen gezielt abstuft. 511 Die Tonart g-Moll wird in Folge nur angerissen und nicht befestigt. Dies zeigt sich daran, dass sich die T. 196–199 zu Grunde liegende prolongierte Dominante, die sich aus einem Vorhaltsquartsextakkord (d-g-b) samt Weiterführung zum Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quinte (d-fis-as-c) zusammensetzt, in Folge nicht in die Tonika auflöst. Stattdessen erklingt in T. 200 ein weiterer Dominantseptakkord (cis-eis-gis-h), der nach fis-Moll weist:
508
Die Unentschiedenheit zwischen fis-Moll und D-Dur zeigt sich zudem anhand der beiden melodischen V-I-Progressionen, einmal in den Bläsern und einmal in den Kontrabässen, die jeweils in eine der beiden tonalen Richtungen weisen. 509 Erwähnenswert ist die leittönige Schärfung sowohl des Grund- als auch des Quinttons am Ende des modalen Feldes. Ansonsten weist es zu Beginn keine Chromatik, sondern eine ausgeprägte Diatonik auf, die sich beinahe bis zum Ende hält. Motivisch verzichtet Mahler auf die gegenläufige Linienbildung und setzt anstelle der absteigenden Gegenstimme den markanten Oktavsprung in Flöten und Trompeten. Als Detail sei noch genannt, dass die quasi punktierten absteigenden Skalen in den hohen Streichern, die sich hinsichtlich ihres Anfangstons am Zielton einer jeden Hauptthemenphrase der Bläser orientieren, ebenfalls eine aeolische und eine phrygische Färbung aufweisen, allerdings in vertauschter Reihenfolge. 510 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 79. 511 Die Skala von syntaktischen Verbindungen erweitert sich im Kopfsatz der Dritten noch einmal deutlich.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 52: Verbindung von g-Moll und fis-Moll auf Basis enharmonischer Umdeutung (T. 199 f.)
Dass es sich hierbei nicht um eine Rückung handelt, wird daran deutlich, dass der nach g-Moll weisende Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quinte d-fis-as-c zum in fis-Moll doppeldominantisch wirkenden übermäßigen Terzquartakkord d-fis-gis-his enharmonisch umgedeutet werden kann. Nachdem sich die Intensität ab T. 179 kontinuierlich gesteigert hat, 512 markieren T. 200 ff. einen dramaturgischen Wendepunkt: Sie repräsentieren die für Mahler charakteristische „Kategorie des Einsturzes“ 513. Als Prototyp eines solchen Einsturzes gilt das Ende des dritten Gesellenliedes Ich hab’ ein glühend Messer (T. 68 ff.), und tatsächlich ähneln sich die Faktur der Lied- und Symphonietakte sehr. 514 Technisch wird der Einsturz nach Adorno dadurch erzielt, dass die beiden Passagen zu Grunde liegende dominantische Orgelpunkt-Episode kein Ziel erreicht, sondern sich nach und nach verliert. 515 Von besonderem Interesse ist die Art und Weise, wie es Mahler im Symphoniesatz gelingt, den dominantischen Orgelpunkt in sich zusammenbrechen zu lassen und seiner syntaktischen Eigenschaften zu berauben. Der erklingende Dominantseptakkord (mit Sextvorhalt) weist nach fis-Moll und scheint zudem eine dominantische Orgelpunkt-Episode zu initiieren, worauf der artikulierende Liegeton cis in der Bassstimme und der parallele Sextensatz darüber hindeuten. Allerdings wird der Leitton eis unmittelbar nach seinem Erklingen zu Beginn aus dem weiteren Verlauf verbannt und durch den Ton e ersetzt. Dies hat zur Folge, dass der Liegeton cis bereits nach kurzer Zeit nicht mehr als Dominantgrundton in fis-Moll, sondern vielmehr als Grundton in einem cis-phrygischen Kontext wahrgenommen wird. Mahler beraubt die anfangs klar dominantische Episode durch die Substitution des Leittons ihrer strebenden Qualität.
512 513 514 515
Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 229. Adorno, Physiognomik, S. 66. Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 66. Vgl. ebd.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Dadurch ändert sich die Morphologie des Feldes, das nun modale Züge trägt. 516 In den letzten beiden Takten der Einsturz-Passage (T. 204 f.) beschleunigt sich der Sextensatz und spitzt sich zu einem chromatischen Fauxbourdon zu:
Abbildung 53: Harmonische Reduktion der Einsturz-Partie (T. 200–205)
Wie bereits an einigen Stellen sowohl innerhalb des Kopfsatzes der Ersten als auch im bisherigen Verlauf des Kopfsatzes der Zweiten beobachtet werden konnte, verknüpft Mahler auch hier die finale Steigerung eines Unterabschnitts mit einer Ausdünnung in der Instrumentation. Als Scharnier zum nächsten Abschnitt, der in T. 206 in F-Dur anhebt, dient der kleine cis-Moll-Septakkord, der aus dem Zusammenspiel des letzten Sextakkords (gis-e-h) in den Oberstimmen und des Basstons (cis) resultiert und tonal doppeldeutig ist. Während er innerhalb des cis-Moll-Kontexts als Septakkord der I. Stufe fungiert, hat er im nachfolgenden F-Dur-Abschnitt (enharmonisch umgedeutet) doppeldominantische Funktion. 517 Hier wäre er als verkürzter Doppeldominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quinte im Bass, großer Sexte und kleiner None zu deuten.
516
Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ein feiner Unterschied hinsichtlich der Platzierung des Leittons zwischen den Einsturz-Takten des Symphoniesatzes und des Gesellenliedes besteht: Während der Leitton im Symphoniesatz gleich zu Beginn der Passage erklingt und unmittelbar danach substituiert wird, spart ihn Mahler im Gesellenlied zunächst aus und lässt ihn erst am Ende der Passage erklingen. Es wird also genau andersherum verfahren, was dazu führt, das im Gesellenlied (streng genommen) zunächst kein dominantischer Orgelpunkt, sondern ein tendenziell modales Feld vorliegt. Erst später erfährt es eine leittönige Schärfung und erlangt damit Eigenschaften eines dominantischen Orgelpunkts. Eine ähnliche Dramaturgie hinsichtlich des anfänglichen Aussparens und des Hinauszögern des Leittons konnte im Kopfsatz der Zweiten in den T. 89–97 beobachtet werden. 517 Der Ton cis muss zum des und der Ton gis zum as enharmonisch gedeutet werden. Daraus resultiert der Akkord des-e-as-h.
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Analytischer Hauptteil Unabhängig davon wird der den neuen Abschnitt einläutende F-Dur-Quartsextakkord dreifach halbtönig erreicht 518 und die neue Tonart F-Dur durch Anpassung der Diatonik tonikalisiert. Nachdem bislang dominantische Klänge zu tonikalen umfunktioniert worden sind, kehrt sich dieses Verfahren an dieser Stelle um:
Abbildung 54: Harmonisch doppeldeutige Nahtstelle in T. 205 f.
Die ab T. 208 in F-Dur anhebende Variante des Seitenthemas 519 kommt durch das forcierte Tempo 520 und die ausgedünnte, kammermusikalische Instrumentation deutlich lebhafter und schwereloser als das ursprüngliche elegische Seitenthema daher. 521 Da das ursprüngliche Seitenthema in E-Dur begann, handelt es sich um eine Transposition um eine kleine Sekunde aufwärts. Vor diesem Hintergrund markiert der T. 219 einen Wendepunkt. Motivisch spinnt die Flöte (später zusammen mit den ersten Violinen) die Melodie fort, ehe das Seitenthema in T. 221 von den zweiten Violinen, Violen und Klarinetten nochmals aufgegriffen wird. Gleichzeitig verschieben sich die tonalen Verhältnisse. Der Verlauf des ursprünglichen Seitenthemas ließe in T. 219 in der Bassstimme den Ton h erwarten. Doch an dessen Stelle tritt nun der Ton b, woraus kurzzeitig eine b-lydische Färbung resultiert. Damit werden nicht nur die tonalen Weichen für das in es-Aeolisch
518
Hierzu sind die von Ernst Kurth geprägten Bezeichnungen „Nebentoneinstellung“ und „Leittoneinstellung“ zu nennen, die er insbesondere zur Erklärung harmonischer Phänomene in Wagners Tristan und Isolde benutzt (vgl. Kurth, Romantische Harmonik, S. 167 ff.). Kurth setzt diese „technisch mit einem frei eintretenden Vorhalt“ (ebd., S. 168) gleich, wobei ihre Strebewirkung und ihre Spannungslösung in einen Zielakkord entscheidend sind. In Anlehnung an Ernst Kurth findet sich bei Hermann Erpf für das rein chromatische Erreichen eines Zielakkords die Bezeichnung „freie Leittoneinstellung“ (vgl. Erpf, Hermann, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1927, S. 55– 57). 519 Vgl. Floros III, S. 55. 520 Mahlers Partitureintrag lautet „Etwas drängend.“. 521 Für Constantin Floros weist die Seitenthemavariante „die unverwechselbare Physiognomie der ‚Musik aus der Ferne‘“ (Floros III, S. 55) auf.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie wiederkehrende Seitenthema gestellt, sondern es wird in die tonalen Gefilde des Seitenthemas aus der Exposition zurückgekehrt. Die Tonalität es-Aeolisch wird weder kadenziell erreicht noch gefestigt, sondern vor allem mittels Anpassung der Diatonik tonikalisiert. 522 Die Schlusstakte des aufgegriffenen Seitenthemas (T. 223–225) gestaltet Mahler in CesDur, das zunächst als VI. Stufe in es-Aeolisch zu deuten ist. Mit dem Eintritt des letzten Abschnitts des ersten Durchführungsteils einen Takt später streift Ces-Dur seine Eigenschaften als VI. Stufe dann jedoch ab und nimmt sich selbst als neues tonales Zentrum aus, das den restlichen tonalen Verlauf des Abschnitts bestimmt. Eine Schlüsselrolle bei der Tonikalisierung von Ces-Dur spielen die Melodik und die Bordunquinten insofern, als sie es sind, die bei gleichbleibender Diatonik – es-Aeolisch und Ces-Dur teilen sich denselben Tonvorrat – für Klärung sorgen. Hinsichtlich der Notation bzw. der enharmonischen Umdeutung von Ces-Dur zu H-Dur gilt grundsätzlich dasselbe, was zuvor für das Seitenthema bemerkt wurde. Hier wie dort stehen Ces-Dur und H-Dur in keinerlei Widerspruch zueinander, sondern ergeben sich aus der jeweils eingenommenen Perspektive: ‚Im Kleinen‘ bzw. aus dem vorangehenden es-aeolischen Kontext heraus ist eine Deutung als Ces-Dur zu präferieren, ‚im Großen‘ bzw. in der makrologischen harmonischen Architektur des ersten Durchführungsteils erweist sich H-Dur als sinnfällig. Im letzten Abschnitt des ersten Durchführungsteils, der sich von T. 226–243 erstreckt, überführt Mahler (marschrhythmische) Elemente des Hauptthemas in die Stimmung der Meeresstille-Episode. 523 Zunächst intonieren die Trompeten eine weitere Hauptthemenvariante, die ab T. 230 von Bläsern und Streichern fortgesponnen wird. Während die melodischen Phrasen durch Bläser und Streicher wandern, verkürzen sie sich bei gleichzeitiger instrumentatorischer Ausdünnung immer mehr, bis schließlich der leise Paukenwirbel auf dem Grundton h und die ebenfalls leisen Schläge der Großen Trommel am Ende des Abschnitts übrigbleiben. Die ausgeprägte Diatonik, die charakteristische Hornquintenmelodik und vor allem die immer wieder erklingenden Bordunquinten (h-fis) machen jenen letzten Abschnitt wie zuvor die erste MeeresstilleEpisode zu einem Bordunfeld.
2. Durchführungsteil (T. 244–329): Eröffnet wird der zweite Teil der Durchführung von den markanten Streicherfiguren des Satzbeginns, die „aus dem dynamischen Quasi niente“ 524 urplötzlich im dreifachen forte herausschießen 525 und sogleich nach es-Moll zielen. Allerdings sorgt Mahler mit einem Detail dafür, dass sich es-Moll als neue Tonalität erst kurze Zeit später endgültig etablieren kann. Mit Hilfe des kaum wahrnehmbaren Paukenwirbels auf dem Ton
522
B-Lydisch und es-Aeolisch stehen zwar in einem Quintverhältnis zueinander, allerdings besteht keine funktionale Beziehung zwischen ihnen. 523 Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 229. 524 Stenger, Ambivalenz, S. 61. 525 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 80.
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Analytischer Hauptteil ces, der als in die Länge gezogener Ausklang des vorangehenden heiteren pastoralen Abschnitts in den martialischen Anfang des zweiten Durchführungsteils hineinragt, 526 wird eine Überblendung der Ausgangs- und Zieltonalität sowie der beiden heterogenen Abschnitte erzielt. Die Streicher fußen kurzzeitig auf dem Basston ces, so dass temporär Ces-Dur und es-Moll übereinander zu liegen scheinen. Fungierte der Basston ces im pastoralen Abschnitt noch als Grundton, nimmt er sich in es-Moll als Sextton aus. 527 Erst durch die Substitution des Tons ces durch den Quintton b in T. 246 setzt sich esMoll durch: 528
Abbildung 55: Überblendung von Ces-Dur und es-Moll (T. 243–246)
Nach dem heftigen orchestralen Ausbruch verebbt die Musik binnen weniger Takte bis an die Grenze des Hörbaren: 529 Tremolierende Streicher durchschreiten den Oktavraum (es-es) überwiegend chromatisch (T. 249–253). Interpunktiert werden sie vom Oktavmotiv des Satzanfangs, das Mahler den Pauken anvertraut. 530 Mit ihren Tönen es und b bewirken sie, dass die Tonalität es-Moll trotz der chromatischen Streicherführung zu keinem Zeitpunkt gefährdet ist:
Abbildung 56: Überwiegend chromatisch abwärts durchschrittener Octachord (T. 249–253)
526
Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 44. Möglich ist zudem eine Deutung als temporäre Unterterzung von es-Moll, die ihr Vorbild innerhalb des Satzes in den T. 189–195 hat. 528 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 80. 529 Mahler Partitureintrag lautet: „bis zur Unhörbarkeit abnehmen“. 530 Hinsichtlich einer motivischen Einbindung der Pauke bei Mahler kann auf die Ausführungen von Altug Ünlü (vgl. Ünlü, Mahlers Klangwelt, S. 14 ff.) verwiesen werden. 527
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Das abwärts gerichtete chromatische Durchschreiten des Oktavraums stellt, wie noch zu zeigen sein wird, eine für Mahler charakteristische melodische Formel dar, die sich in ähnlicher Faktur und transitorischer Funktion in weiteren Symphoniesätzen nachweisen lässt. 531 Angelangt auf dem Grundton es setzt in T. 254 eine jeglicher „Stoßkraft beraubt[e]“ 532 Marschvariante ein, zu der nach vier Takten „stöhnende Klagerufe“ 533 des Englischhorns hinzutreten. In den marschrhythmischen Figuren der Streicher kristallisiert sich in T. 259 ff. ein Fauxbourdon heraus, im Gegensatz zum Satzbeginn nicht in einem diatonischen, sondern nun in einem chromatischen Gewand. Mit Hilfe einer kompakten Kadenz führt Mahler schließlich aus dem chromatischen Dickicht heraus und sorgt damit gleichzeitig für eine erstmalige kadenzielle Bestätigung der seit T. 244 vorherrschenden es-Moll-Tonalität:
Abbildung 57: Chromatisierter Fauxbourdon nebst klärender Kadenz (T. 259–262)
Wieder einmal nutzt der Komponist eine Sequenz nicht zu Modulationszwecken. Vielmehr zeichnet sich der Fauxbourdon durch seine transitorischen Eigenschaften aus und gleicht einem chromatischen Farbfleck innerhalb des es-Moll-Bereichs. Zwei melodische Elemente aus dem ersten Durchführungsteil, die dort zu unterschiedlichen Zeitpunkten erklungen sind, werden in T. 262 ff. aufgegriffen und übereinandergelegt: Es handelt sich dabei um die von Englischhorn und Bassklarinette intonierte Weise aus T. 151 ff., die nun in der Trompete und der Posaune ertönt, und um die Fanfare der Hörner aus T. 171 ff., die nun der Flöte anvertraut ist: 534
531
Darüber hinaus erfüllt sie die Kriterien eines „tonmalerischen Schlafmotivs“ im Sinne von Constantin Floros (vgl. Floros II, S. 223–226 und S. 394 f.). 532 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 80. Dazu trägt freilich das nun vorgeschriebene Tempo Sehr langsam beginnend bei. 533 Ebd. 534 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 37 f.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 58: Partiturreduktion der T. 262–267
Harmonisch beruhen die ersten vier Takte auf einem unkonventionellen sequenziellen Grundgedanken bzw. auf der chromatisch aufwärts gerichteten Progression der grundständigen Dreiklänge es-Moll, Fes-Dur und F-Dur. Letzterer führt dann als Dominante nach b-Moll: 535 535
Der sequenzielle Gedanke wird vor allem an den Skalen der tiefen Streicher, die sich kontinuierlich verkürzen, deutlich: Nach zwei Takten es-Moll und einem Takt Fes-Dur erklingen F-Dur und b-Moll innerhalb eines Taktes. Zusätzlich zur vorgeschlagenen sequenziellen Deutung ist teils auch eine funktionale möglich: Hierbei ist die Progression der Dreiklänge es-Moll und Fes-Dur als Molltonika und verselbständigter Neapolitaner in esMoll und diejenige der Dreiklänge F-Dur und b-Moll als Dominante-Tonika-Wendung in b-Moll zu deuten. Die Fortschreitung von Fes-Dur und F-Dur lässt sich unabhängig von der tonalen Perspektive allerdings nur unzureichend funktional beschreiben. Von esMoll aus betrachtet, läge die Fortschreitung von Neapolitaner und Doppeldominante vor, wobei Letztere eben nicht als solche fungiert, sondern sich bereits als Dominante von b-Moll
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 59: Unkonventionelle Sequenz (T. 262–267)
Dabei zeigt sich ein weiteres Mal, dass Mahler darauf bedacht ist, die enge Verwandtschaft von Tonarten – es besteht eine Quintbeziehung zwischen es-Moll und b-Moll – zu verschleiern und sie weit voneinander entfernt wirken zu lassen. 536 Nach knapp drei Takten verlässt Mahler b-Moll bereits wieder und moduliert in einem zweistufigen Verfahren zurück nach es-Moll. Zunächst erklingt in T. 268 f. ein Quintfall mit Septakkorden, der jedoch nicht sofort in die Tonika, sondern zunächst trugschlüssig in den Tonikagegenklang Ces-Dur mündet. Ihm schließt sich eine klärende Kadenz an:
Abbildung 60: Rückmodulation von b-Moll nach es-Moll mittels Quintfallsequenz (T. 268–270)
ausnimmt. Von b-Moll aus gesehen, stellt Fes-Dur einen Fremdkörper dar, der sich nur mit Gewalt in einen b-Moll-Kontext pressen lässt. 536 Eine ähnliche Harmoniefolge findet sich im Kopfsatz der Fünften, und zwar in T. 17– 19. Dort wird der Neapolitaner in cis-Moll (fis-a-d) chromatisch zu einem grundständigen Dis-Dur-Dreiklang weitergeführt, der sich als Dominante ausnimmt und schließlich in die neue Tonika gis-Moll mündet.
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Analytischer Hauptteil Mahler nutzt die an dieser Stelle unverbrauchte instrumentale Farbe der Hörner, um in T. 270 ein neues Element von besonderer semantischer Tragweite in den Satz einzuführen. Es handelt sich um ein viertöniges Fragment des „Dies irae“, – der Sequenz aus der Totenmesse – das der Komponist zu einem achttaktigen Gebilde fortspinnt. 537 Mit dem Aufgreifen des Dies irae knüpft Mahler nicht nur an eine programmmusikalische Tradition an, die maßgeblich von Hector Berlioz und Franz Liszt geprägt worden ist, 538 sondern weist an dieser Stelle sehr deutlich auf den Finalsatz seiner Zweiten voraus. 539 Die harmonische Ausgestaltung der Dies irae-Passage ist in der Mahlerforschung bislang kaum näher untersucht worden. Ihr liegt eine Terzfallsequenz mit charakteristischem Gegenschrittmodell zu Grunde, das nach diatonischem Beginn mehrfach chromatisch modifiziert wird, ehe mittels Kadenz b-Moll zur neuen Tonika erklärt wird. Ähnlich wie zuvor ist der Geltungsbereich von b-Moll nur von kurzer Dauer, so dass es sich an dieser Stelle lediglich um eine temporäre tonale Ausweichung handelt. 540 Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den soeben beschriebenen harmonischen Verlauf der T. 270–278: 541
Abbildung 61: Harmonische Reduktion der Dies irae-Passage (T. 270–278)
537
Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 38. Als Beispiele sind u. a. der 5. Satz (Songe d’une nuit du Sabbat) der Symphonie Fantastique von Hector Berlioz und Franz Liszts Totentanz zu nennen. 539 Vgl. ebd. Constantin Floros schließt gar daraus, dass die Konzeption des Finales bereits in die Entstehungszeit des Kopfsatzes fällt (vgl. Floros III, S. 56). 540 Es sei noch angemerkt, dass sich durch die Progression der Dreiklänge Des-Dur und As-Dur in T. 276 Des-Dur als neue Tonalität zwar andeutet, sich allerdings nicht behaupten kann bzw. von der b-Moll-Kadenz vereitelt wird. 541 Wie Christian Utz aufzeigen konnte, besitzen Terzfallsequenzen mit charakteristischem Gegenschrittmodell in Mahlers Neunter Symphonie eine überragende Bedeutung; im Unterschied zur ‚neutralen‘ Bezeichnung des Autors der vorliegenden Arbeit wählt Utz den semantisch aufgeladenen Begriff „Romanesca“ (vgl. Utz, Christian, Neunte Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Band 2, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 336–338). 538
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Bei den T. 278–283 handelt es sich um eine transponierte Variante der T. 171–176 und hier wie dort wird mittels Terzfallsequenz in den nächsten Abschnitt geleitet; die harmonischen Stationen des nun erklingenden Terzfalls lauten b-Moll, Ges-Dur und Es-Dur. In Es-Dur hebt dann eine kompakte Variante des Kreuzmotivs 542 an. Nach der charakteristischen plagalen Initialwendung weicht Mahler von den vorherigen beiden Kreuzmotiv-Fassungen ab und formt zwei neue Motive: das „Ewigkeitsmotiv“ und das „Auferstehungsmotiv“, die auf das Finale der Symphonie vorausweisen. 543 Diese motivisch und semantisch bedeutsamen Takte (T. 282 ff.) sind tonal insgesamt in Es-Dur / es-Moll zu verorten und demnach wie der bisherige Verlauf des zweiten Durchführungsteils unter der makrologischen harmonischen III. Stufe zu subsumieren. Auf einer kleingliedrigen harmonischen Ebene verhält es sich jedoch keineswegs immer so eindeutig. Ein genauer Blick auf das Auferstehungsmotiv und das Ewigkeitsmotiv verrät, dass deren Melodik und Harmonik temporär quer zueinander stehen: Während ihre diatonische melodische Anlage in aller Deutlichkeit nach Es-Dur zielt, 544 weist die Harmonik hingegen nach g-Moll. Letzteres zeigt sich daran, dass mit dem Leitton fis in der Bassstimme bzw. mit dem verkürzten Dominantseptnonakkord auf letzter Zählzeit von T. 284 ein eindeutiges dominantisches Signal für g-Moll gesetzt wird. 545 Mit Hilfe dieses Querstands wird ein vorübergehender tonaler Schwebezustand zwischen Es-Dur und g-Moll erzeugt. Eine Schlüsselrolle, um weder in die eine noch in die andere tonale Richtung zu kippen, kommt dem Sextakkord (g-b-es) zu, der sowohl als Tonika in Es-Dur als auch als Tonika mit Sexte in g-Moll fungiert. Aufgehoben wird der Schwebezustand durch den Verzicht auf den Leitton fis bzw. durch die Anpassung der Diatonik nebst Tonikalisierung von Es-Dur. In Folge greift Mahler auf das satzprägende harmonische Gestaltungsmittel des Terzfalls zurück, mit dessen Hilfe er von Es-Dur über c-Moll nach As-Dur gelangt. Letzteres wird in der zweiten Takthälfte von T. 287 dann zu as-Moll modifiziert, womit nicht nur das optimistische Bild von Auferstehung und ewigem Leben getrübt, sondern auch der düstere es-Mollbereich des Dies irae-Motivs angekündigt wird, das schließlich endgültig jegliche Hoffnungen zunichtemacht. Als harmonisches Bindeglied zwischen dem Ewigkeitsmotiv und dem Dies irae-Motiv dient eine plagale Wendung, die offenbar ihr Vorbild im Kreuzmotiv hat. Strukturierend wirkt ferner der Tonleiterausschnitt (g-as-b-ces) in der Bassstimme, der an den Taktschwerpunkten erkennbar wird. Während sich im letzten Takt (T. 290)
542
Hierzu sei auf die Thementafel auf den S. 56 ff. verwiesen. Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 81. Im Unterschied zum Finale wird das Ewigkeitsmotiv an dieser Stelle noch nicht vollständig ausformuliert. Mahler modifiziert es in T. 288 und lässt es übergangslos in das Dies irae-Motiv münden, das den Abschnitt beschließt (vgl. ebd.). Eine Übersicht über die genannten Motive und ihre Verwendung im Kopfsatz und im Finale der Zweiten liefert Constantin Floros (vgl. Floros II, S. 405). 544 Stabilisierend wirkt die Grundtonkraft des Quart- bzw. Quintintervalls es-b. 545 Ähnlich verhält es sich exakt einen Takt später. Dort erklingt die Dominante von g-Moll in Gestalt des übermäßigen Dreiklangs. 543
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Analytischer Hauptteil dieses Unterabschnitts das Tempo verlangsamt, 546 beschleunigt sich hingegen der harmonische Rhythmus. Der dabei erklingende Quintfall, dessen harmonische Stationen Ces-Dur, Fes-Dur und Heses-Dur lauten, 547 führt zwar temporär denkbar weit von der vorherrschenden es-Moll-Tonalität weg, allerdings vermag sich mit diesem kein neues konkretes tonales Ziel einzustellen. Stattdessen lässt Mahler die Musik abrupt abreißen, um dann erneut in es-Moll anzusetzen. In den nachfolgenden dreizehn Takten zeichnet Mahler ein Bild von äußerster orchestraler Gewalt. 548 Technisch beruhen sie auf einer chromatisch intensivierten dominantischen Orgelpunkt-Episode in es-Moll, die mittels Rückung angehängt wird. Aufgrund der notwendigen kleingliedrigen Untersuchung empfiehlt es sich, parallel die weiter unten stehenden Notengraphiken zu konsultieren. Der Beginn der Orgelpunkt-Episode (T. 291–294) basiert auf einem Alternieren des verkürzten Doppeldominantseptnonakkords und der Dominante in Gestalt des übermäßigen Dreiklangs oberhalb des Basstons b. 549 Hinzuweisen ist auf eine manipulierte und stark exponierte Stimmführung in den Trompeten: Die Septime der Doppeldominante (der repetierte Ton es) springt anstelle einer traditionellen stufig abwärts geführten Auflösung zum Dominantgrundton b ab. 550 Durch Beschleunigung des harmonischen Rhythmus und durch Forcierung von Chromatik erzielt Mahler danach eine weitere Steigerung. Im Kern liegt eine chromatisch kreisende und sequenziell aufwärts gerichtete Oberstimme vor, 551 die mit einem orgelpunkttypischen Sextensatz gekoppelt ist und in T. 297 in den Dominantseptnonakkord mit Quartvorhalt mündet. 552 Der Sextensatz selbst zeichnet sich durch eine im Satzverlauf bislang nicht dagewesene Häufung von übermäßigen Dreiklängen aus, deren Einsatz zweifellos der dramaturgischen Steigerung des Satzes geschuldet ist. Es schließt sich sogleich ein weiterer, nun insgesamt abwärts gerichteter akkordischer Sextensatz an, der mit chromatisch nachschlagenden Sexten kombiniert wird und in T. 299 den nächsten Dominantseptnonakkord ansteuert. Einen Takt später kann sich die aufgestaute dominantische Energie erstmals entladen, wenngleich noch nicht vollständig. Unvollständig deshalb, weil die Tonika durch einen gedehnten Sextvorhalt (as-ges) quasi trugschlüssig abgefangen wird:
546
„Molto riten.“ lautet Mahlers Anweisung in der Partitur. Mahler notiert den Quintfall offenbar aus spielpraktischen Gründen sowohl in B- als auch in Kreuztonarten. 548 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 81. 549 Vgl. Floros II, S. 302. 550 Dabei werden Erinnerungen an T. 79 f. wach. 551 Umkreist werden der Tonleiterausschnitt b-c-d. 552 Der Dominantseptanonakkord dient innerhalb der komplexen Orgelpunkt-Passage mehrmals als Orientierungs- und Ankerpunkt. 547
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 62: Dominantischer Orgelpunkt (T. 291–300)
Über eine chromatische Akkordfolge 553 wird am Ende von T. 301 erneut der Dominantseptakkord erreicht und abermals wird dessen Auflösung trugschlüssig abgeschwächt. Erwähnenswert ist, dass an dieser Stelle das satzprägende melodische Element des chromatisch absteigenden Tetrachords (es-b) in den Hörnern aufgegriffen wird. Mahler wiederholt danach im Wesentlichen T. 300 f., nimmt allerdings eine ebenso subtile wie folgenreiche Modifikation vor: Der Einsatz der chromatischen Bassbewegung wird um den Notenwert einer Viertel hinausgezögert. Dadurch verschiebt sich das gesamte harmonische Gefüge, so dass beim Übergang von T. 303 zu T. 304 nun eben nicht mehr eine trugschlüssige, sondern vielmehr eine halbschlüssige Wendung erklingt. Sie besteht aus dem verkürzten Doppeldominantseptakkord und der Dominante mit Quartsextvorhalt. Mahler geht einer traditionellen Auflösung im Anschluss jedoch aus dem Weg, indem er auf dem Quartsextakkord (b-ges-es) verharrt und eine solche gewissermaßen ‚verschluckt‘. Für die rasche Akzeptanz des erklingenden esMoll-Quartsexakkords als Tonika sorgt insbesondere die Quartenfaktur der bis „zur äußersten Steigerung“ 554 getriebenen Hauptthemenvariante in den Trompeten, hohen Holzbläsern und ersten Violinen. 555 Der besondere Reiz der intensiven dominantischen Orgelpunkt-Episode besteht letztlich in der Unterschlagung der tonikalen Auflösung, jenem Vermeiden der traditionell zu erwartenden Wendung:
553
Im Detail wird der Dominantseptakkord über einen knapp gehaltenen, chromatisch abwärts geführten Fauxbourdon mit 7-6-Konsekutive, dem sich der verkürzte Doppeldominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quinte anschließt, erreicht. 554 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 81. 555 Manipulationen traditionell halbschlüssig konnotierter Schlusswendungen konnten im Satzverlauf bereits mehrfach insbesondere an formalen Nahtstellen beobachtet werden. Im Unterschied zu anderen Passagen, vor allem solchen mit phrygischer Wendung, wird an dieser Stelle nicht die Tonart der V. Stufe tonikalisiert.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 63: Hinauszögerung der tonikalen Auflösung (T. 300–304)
Bis T. 311 verharrt Mahler in der Bassstimme auf dem Quintton, wodurch der Passage endgültige tonale Stabilität verwehrt bleibt. Erst danach gelingt eine Loslösung von dessen Gravitationskraft und gleichzeitig erlangt der Satz mehr rhythmische Agilität, 556 was zusätzlich durch Mahlers Spielanweisung „Etwas drängend“ unterstrichen wird. Mit der Mollsubdominante mit sixte ajoutée und der Doppeldominante in Gestalt des verminderten Septakkords 557 werden in T. 313–315 zwar zwei sehr deutliche kadenzielle Signale für es-Moll gesetzt, allerdings spielt kadenzielle Logik unmittelbar danach kaum mehr eine Rolle. Anstelle einer erwarteten Dominante verselbständigt sich die quasi punktierte rhythmische Figur zu einer absteigenden chromatischen Skala, die in T. 320 in den Ton g mündet. 558 Dieser liegt ein dreistufiges sequenzielles Verfahren zu Grunde. Strukturierend und organisierend wirkt dabei der Ganztonleiterausschnitt des-g, der sich an den jeweiligen Taktschwerpunkten der T. 316–320 herauskristallisiert: 559
556
Insgesamt scheint Mahler auf die T. 221 ff. zu rekurrieren. Aus dem tonalen Zusammenhang heraus ist der notierte Ton fis als ges zu verstehen. 558 Als diatonisches Gegenstück bzw. als diatonisches ‚Vorbild‘ kann die absteigende Skala, die der inszenierten Dominante in T. 39 f. vorausgeht, gelten. 559 Die Frage, inwieweit die Tritonusrelation des-g als „Sinnbild des Unheils“ (vgl. Floros II, S. 396 ff.) gelten kann, ist zwar nicht eindeutig zu beantworten, allerdings ist eine gewisse semantische Qualität vor der nahenden Klimax wenige Takte später auch nicht von der Hand zu weisen. 557
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 64: Konsequenzlose kadenzielle Signalklänge und unkonventionelle Sequenz (T. 313– 320)
Angelangt auf dem Ton g rekurriert Mahler auf eine bereits in T. 80 ff. angewandte spezifische Mischung aus Liegeton- und Achsentontechnik. Zusätzlich zur nochmals intensivierten Orchestration unterscheidet sich ihre Ausgestaltung an dieser Stelle von allen bisherigen analogen Passagen: Während bislang vom Achsenton ausgehend stets ein Molldreiklang sukzessiv melodisch ausgeformt wurde, wird nun erst- und einmalig ein verminderter Dreiklang horizontal abgebildet. Nicht eindeutig zu klären ist dabei die Tonalität und demnach die Rolle des Tons g. Einerseits verhindert die prinzipielle harmonische Mehrdeutigkeit des verminderten Dreiklangs eine eindeutige Bestimmung, andererseits besteht die Tendenz, den Ton g als Grundton wahrzunehmen. Der funktional letztlich ohne Konsequenz bleibende verminderte Dreiklang ist vor allem aus der Vorgeschichte der achsentontechnischen Passage innerhalb des Satzes zu begreifen und als ein einmaliger dissonanter Farbanstrich der auf Liegeton- und Achsentontechnik basierenden Takte zu deuten. 560 Nach diesem dissonanten Vorgeschmack ereignet sich der „katastrophenähnliche[. . . ] Höhepunkt“ 561, bei dem es sich technisch um einen dominantischen Orgelpunkt handelt:
560
Er ist insofern funktional ohne Konsequenz, als er weder subdominantische noch dominantische Wirkung entfaltet. 561 Floros III, S. 54.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 65: Harmonische Reduktion des katastrophenähnlichen Höhepunkts (T. 325–329)
Die Orgelpunkt-Passage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Sie repräsentiert innerhalb des Satzes die klanglich frappanteste Stelle und gleichzeitig eine der ganz wenigen bei Mahler überhaupt, die sämtliche traditionelle Kriterien erfüllt, da sie in T. 329 zur Ausgangstonart c-Moll zurückführt und gleichzeitig die Reprise einläutet. Im Übrigen klärt sich nun die Rolle des Liegetons g, der als Quintton der Skala und Grundton der Dominante fungiert, was rückblickend eine Subsummierung der T. 320– 324 unter dem dominantischen Orgelpunkt gestattet. Ein signifikantes Merkmal der harmonischen Ausgestaltung des Orgelpunkts (T. 325–329) ist der aufgespannte Rahmen mit Hilfe des Dominantgrundtons, innerhalb dessen zunächst die Doppeldominante in Gestalt des verminderten Septakkords erklingt. 562 Durch den ausschließlichen Gebrauch der Blechbläser erzeugt Mahler eine im Satz einmalige schneidende und metallische Klangfarbe, die die Wirkung des katastrophenähnlichen Höhepunkts zusätzlich verstärkt. Danach ertönt unter Beteiligung weiterer Orchesterinstrumente der Siebenklang g-h-d-f-as-c-es, der sowohl als „Dominantseptnonenakkord mit zusätzlichem Quartsextvorhalt“ 563 als auch als Akkord höherer Terzenschichtung gedeutet werden kann. 564 Als charakteristisch kann dabei die Kollision des Leittons mit dem Quartvorhalt bzw. der Undezime gelten. Sie repräsentiert im Übrigen das wesentliche harmonische Unterscheidungsmerkmal zum Durchbruch im Kopfsatz der Ersten, denn der dort erklingende Sechsklang entbehrte des Leittons. Nachdem die Spannung bis zum Zerreißen aufgebaut worden ist, entlädt sich die aufgestaute dominantische Energie mit einem Mal in die Tonika c-Moll, was gleichzeitig zu einem schlagartigen Ende
562
Vgl. Ünlü, Mahlers Klangwelt, S. 177. Ebd. 564 Denkbar ist ebenfalls eine Interpretation als „Dominanttonikaklang“, also als Überlagerung von Dominantseptnonakkord und Molltonika (vgl. Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 151 f.), wenngleich betont werden muss, dass der markante Siebenklang eindeutig als Dominante fungiert. 563
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie der Durchführung führt und die Reprise eröffnet. Bemerkenswert ist hierbei instrumentatorisch der rapide Absturz vom hohen ins tiefe Klangregister. 565 Für kurze Zeit herrscht gespenstische Stille. Lediglich die tremolierenden Streicher und der Wirbel der Großen Trommel schimmern als dessen Hallfahne flüsterleise auf. 566 An dieser Stelle lohnt ein Blick auf die analoge Höhepunktgestaltung in der Symphonischen Dichtung Todtenfeier. Dort überlagern im Moment der Auflösung in die Tonika bzw. im Moment des Eintritts der Reprise (T. 355) der markante Registerabsturz und die motorischen Bassfiguren einander und genau auf diese Interferenz verzichtet Mahler im Kopfsatz. Dort wird dem Nachhall in Gestalt der tremolierenden Streicher und des Wirbels der Großen Trommel mehr Raum gegeben, indem die motorischen Bassfiguren erst zwei Takte später einsetzen. Dadurch verstärkt sich die Wirkung des Zusammenbruchs außerordentlich, was gleichzeitig die modifizierte Gestaltung im Kopfsatz erklärt.
Reprise (T. 329–445) Bei der kompositionstechnischen Ausgestaltung der Reprise orientiert sich Mahler bis zum Eintritt des rekapitulierten Seitenthemas in T. 362 sehr stark an der Exposition, was teilweise den Verweis auf die Untersuchungsergebnisse der Exposition gestattet. Dennoch stellt die Reprise insgesamt keineswegs eine bloße doppelnde Wiederholung der Exposition dar, denn spätestens ab T. 362 wird deutlich, dass die Reprise der Durchführung hinsichtlich einer „durchführungshafte[n] Variantentechnik“ 567 in keiner Weise nachsteht. 568 Ein wesentlicher Unterschied zur Exposition besteht in der Gedrängtheit der Musik insgesamt und in einer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht dagewesenen Konkretion der thematischen Elemente, was es erlaubt, die Reprise als Zielpunkt thematischer Entwicklung zu deuten. 569 Auch das Seitenthema (T. 362 ff.) wird einer deutlichen Straffung unterzogen. 570 Dabei werden die Pfade der Exposition bereits nach zwei Takten verlassen, und zwar an einer melodisch prägnanten Stelle, der Vorhaltswendung fis-e in den ersten Violinen. Mahler unterlegt diese nun mit einem A-Dur-Dreiklang und interpretiert sie damit 565
Es sei an dieser Stelle auf die von Constantin Floros vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Sturzmotiven und Einsturz-Partien hingewiesen: Während Einsturz-Partien tendenziell langsam stufig absinken, zeichnen sich Sturzmotive durch einen drastischen Absturz vom hohen ins tiefe Register aus (vgl. Floros II, S. 219–221). Festzustellen ist allerdings, dass sich die von Floros vorgeschlagene Differenzierung in der Mahlerforschung nicht durchgesetzt hat. Neben der Dominanz des Zusammenbruchs im Sinne Adornos finden sich auch etliche Überschneidungen zwischen den genannten Kategorien. 566 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 30. 567 Hefling, Zweite Symphonie, S. 231. 568 Vgl. ebd. 569 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 30. 570 Es entbehrt insbesondere des Terzstiegs, der den harmonischen Verlauf des ursprünglichen Seitenthemas organisiert hat.
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Analytischer Hauptteil nicht mehr als Non-, sondern als Sextvorhalt. Der Harmoniewechsel von E-Dur nach A-Dur selbst ist zunächst als plagale I-IV-Wendung zu deuten. Allerdings verunklart sich mit jedem weiteren Wechsel der beiden Harmonien mehr und mehr die tonale Situation und es entsteht bei gleichbleibendem diatonischen Tonvorrat ein temporärer tonaler Schwebezustand zwischen E-Dur und a-Lydisch. Durch die Anpassung der Diatonik, durch das Erklingen charakteristischer Hornquinten und nicht zuletzt durch die Progression von Dominantseptakkord und Tonika kann sich dann tatsächlich A-Dur für kurze Zeit als neue Tonalität etablieren, ehe sich in T. 370 übergangslos eine Variante der Meeresstille-Episode, also ein Abschnitt aus dem ersten Durchführungsteil, anschließt. Letztere ertönt in ihrer angestammten Tonart E-Dur, wobei die Tonikalisierung wiederum durch schlichte Modifikation der Diatonik erfolgt. Die Kombination der beiden ohnehin charakterlich ähnlichen Themenblöcke lässt deren Grenzen in der Reprise nun endgültig verschwimmen. Bemerkenswerterweise wirken die beiden tonalen Bereiche A-Dur und E-Dur trotz der bestehenden Quintbeziehung erstaunlich unverbunden. Dies ist darauf zurückführen, dass beide jeweils tonikale Eigenschaften besitzen und sich nun unvermittelt gegenüberstehen. Darüber hinaus zeigt sich, dass die plagale Wendung auch auf einer mittleren harmonischen Ebene wirksam ist und die beiden Abschnitte harmonisch organisiert, wenngleich explizit nicht in einem kadenziellen Sinne. Die Variante der Meeresstille-Episode (T. 372 ff.) hebt sich von ihrem Original im ersten Durchführungsteil hauptsächlich durch einen hinzugefügten Fauxbourdon in den Hörnern ab: 571
Abbildung 66: Variante der Meeresstille-Episode mit eingearbeitetem Fauxbourdon (T. 372 ff.)
Mahler substituiert in T. 376 den Leitton dis durch den Ton d, woraus an dieser Stelle harmonisch ein Dominantseptnonakkord (e-gis-h-d-fis) resultiert, der nach A-Dur (T. 377) zielt. Dem betreffenden Dominantseptnonakkord wird zudem Raum dadurch
571
Der charakteristische absteigende Tetrachord, der in den melodieführenden Violinen abgebildet wird, unterscheidet sich lediglich hinsichtlich des modifizierten Rhythmus.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie gegeben, dass die Quinte des Borduns e-h entfällt; das e fungiert temporär als Quintton in A-Dur. Doch die neue Tonika kann sich in Folge nicht behaupten und verblasst sogleich. Es scheint an dieser Stelle auch gar nicht um einen Tonartwechsel – der E-Dur-Kontext wird insgesamt nicht verlassen – zu gehen, sondern vielmehr um einen Eingriff in das bislang stabile diatonische E-Dur-Bordunfeld. Der oberhalb des Basstons e ertönende A-Dur-Dreiklang repräsentiert dabei den Ausgangspunkt für einen im Kern abwärts gerichteten, zum Teil synkopierten Sextensatz, der sich im Laufe der nächsten sieben Takte zunehmend chromatisch verdichtet und die Tonalität verunklart. Gleichzeitig schwinden damit die semantischen Charakteristika für einen Bordun. Allerdings wird noch im Dickicht der Chromatik (ab T. 379,3) die entscheidende Weichenstellung für die Rückkehr nach E-Dur vorgenommen: Mahler restituiert die Bordunquinte e-h, wodurch automatisch der Bezug zum Grundton e wiederhergestellt wird. Daran schließt sich eine klärende Kadenz an, die zu einer nochmaligen Variante des Schlummermotivs in T. 384 ff. führt. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht die temporäre Irritation des Bordunfeldes:
Abbildung 67: Temporäre Irritation des Bordunfeldes (T. 377–384)
Die zwischen den Schlummermotiv-Passagen ertönenden T. 377–383 besitzen somit transitorische Funktion, verursachen eine temporäre Verunklarung des E-Dur-Bordunfeldes und bilden einen chromatischen Kontrast zum ansonsten vorliegenden diatonischen Schwerpunkt. Abgestützt von zarten Bordunquinten erklingt das im Ambitus zusammengeschrumpfte Schlummermotiv zunächst in den Violen und kurze Zeit später in den Violoncelli. In T. 387 erfährt das E-Dur-Bordunfeld dann eine Trübung von E-Dur nach e-Moll, die analog zum ersten Durchführungsteil (T. 143 ff.) sein Ende signalisiert. Der markante Dur-Moll-Wechsel wiederholt sich im Unterschied zur Durchführung sogleich noch einmal und gleichzeitig nimmt die Musik dynamisch immer weiter ab. Wie gespenstische Klangrelikte schimmern der Ton g im ersten Horn und der Ton e in den tremolierenden ersten Violinen auf. 572 Letzterer wird schließlich zum Ton es
572
Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 45.
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Analytischer Hauptteil abgesenkt, wobei dieser aus dem tonalen Kontext heraus zunächst als Leitton dis zu verstehen ist. Erst mit Beginn der Coda, die in c-Moll zu verorten ist, entpuppt er sich gewissermaßen nachträglich als Mollterz von c-Moll. 573 Das Verklingen des Tremolo erinnert an die Abblende einer Film-Szene. 574
Coda (T. 392–445) Die Spanne möglicher traditioneller Coda-Gestaltungen ist enorm und reicht von einer knappen Aneinanderreihung von Kadenzformeln bis hin zu einer Ausgestaltung als vollgültiger eigener Formteil. 575 So zeichnen sich insbesondere Beethovens Codas durch durchführungsartige motivisch-thematische Umbildungen und Kombinationen aus, wobei diese im Unterschied zum Durchführungsteil im Allgemeinen nicht innerhalb einer tonal instabilen, sondern in einer stabilen, tonikalen Umgebung erklingen. 576 Dieses Kriterium erfüllt auch die Coda des Kopfsatzes von Mahlers Zweiter. Aufgrund der bis zum Ende des Satzes unentwegt vorgenommenen Variantenbildung ist eine Charakterisierung der Coda als „Synthese von Schlußgruppe und Hauptsatzpartien“ 577 zutreffend. Der sich über mehr als fünfzig Takte erstreckende Schlussteil des Symphoniesatzes beruht dabei auf einem Feld, das durch den nahezu omnipräsenten Liegeton c in der Bassstimme artikuliert und mittels diatonischer und chromatischer Modifikationen mal modal, mal dur-moll-tonal eingefärbt wird. Ungeachtet dessen wird bis zum Satzende nicht mehr von der Grundtonart c-Moll abgerückt. Dramaturgisch vollzieht sich in der Coda ein kontinuierlicher Auflösungs- bzw. Zersetzungsprozess. 578 Zu Beginn rekurriert Mahler auf die Exequienmusik, die die Rolle der Schlussgruppe in der Exposition eingenommen hat, und lässt sie in einer gestrafften Fassung in der Grundtonart c-Moll anheben, 579 ehe sie in T. 401 nahtlos in den marschmäßigen Hauptsatz übergeht. Für einen bruchlosen Übergang sorgen dabei motivische Elemente des marschmäßigen Hauptsatzes (wie das Oktavenmotiv in den zweiten Violinen und Violen), die bereits zwei Takte zuvor innerhalb der Exequienmusik erklungen sind und dadurch den nächsten Abschnitt antizipieren. Die Oberstimmen der T. 401– 404 basieren auf dem größtenteils chromatisch absteigenden Tetrachord c-h-b-as-g,
573
Vgl. ebd. Wie angedeutet wurde, findet sich in der Todtenfeier bereits in T. 276 ff. eine ähnliche doppeldeutige Passage. 574 Mahler notiert für die geteilten ersten Violinen in T. 391 „bis zum gänzlichen Aufhören“. 575 Vgl. Leichtentritt, Hugo, Musikalische Formenlehre (1911), 11. Auflage, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1979, S. 164–166. 576 Vgl. Schmidt-Beste, Die Sonate, S. 117. 577 Floros III, S. 54. 578 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 46. 579 Die Nähe der Coda zur Schlussgruppe gestattet einen Verweis auf die Untersuchungsergebnisse der Schlussgruppe in der Exposition.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie der erneut als Fauxbourdon harmonisiert wird. 580 Der absteigende Tetrachord bzw. der aufgespannte I-V-Rahmen (c-g) wirkt zudem strukturierend und organisiert die sequenziell angelegte Passage (T. 401–404), 581 die aufgrund ihres Facettenreichtums an wechselnden diatonischen und chromatischen Farben modale Züge aufweist: 582
Abbildung 68: Absteigender Tetrachord im Zusammenspiel mit einem Fauxbourdon (T. 401–404)
Weiterhin ist Mahler bestrebt, Unterabschnitte motivisch ineinander zu verzahnen und somit für fließende Übergänge zu sorgen. An dieser Stelle ist es das letzte Glied der Fauxbourdon-Episode (der Sextakkord f-as-d in T. 404), das sowohl deren Ende als auch den Anfang des nächsten Teilabschnitts (T. 404–410) markiert. Letzterer verhält sich im Wesentlichen analog zu den T. 25–30, 583 wobei als neues Element lediglich einige melodische Einwürfe der Flöte auffallen. Analog zur Exposition deutet Mahler nun das c zu einem tonikalen Orgelpunkt (T. 410–419) um. 584 Dieser erfährt nun eine deutliche harmonische Intensivierung: Im Abstand von zwei Takten erklingen verminderte Septakkorde, die chromatisch abwärts geführt werden, um schließlich in die Tonika münden: 585
580
Eine ebenfalls chromatisch geprägte Passage findet sich in T. 104 ff., eine diatonische in den T. 372 ff. 581 Der die Passage strukturierende Tetrachord wird in Tonpaaren (c-h, h-b und b-as) abgebildet, die besonders deutlich in den Flöten erkennbar sind. Der dort noch fehlende Quintton g wird dann von der 1. Trompete in T. 404 intoniert. 582 Es sind leittönige, leittonlose und phrygische Färbungen festzustellen. Zudem geht Mahler kadenziellen Signalen aus dem Weg. 583 Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 41. 584 In der Exposition sind es die T. 31 ff. 585 Die Progression verminderter Septakkorde zählt ebenso wie parallele Sextensätze zum Standard der Oberstimmengestaltung im Rahmen eines Orgelpunkts. Dabei sind Erstere weniger hinsichtlich ihrer funktionalen Tendenzen, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer farblichen Aufgabe zu betrachten (vgl. Kurth, Romantische Harmonik, S. 264–272).
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 69: Chromatische Verschiebung verminderter Septakkorde oberhalb des tonikalen Orgelpunkts (T. 410–410)
Für neun Takte (T. 420–428) verbannt Mahler sodann den Leitton und ersetzt ihn durch die aeolische VII. Stufe. Die damit verbundene Regression zur spannungsarmen c-aeolischen Diatonik kann als Reaktion auf die zuvor forcierte Chromatik der aneinandergereihten verminderten Septakkorde verstanden werden. Die betreffenden Takte zeichnen sich zudem durch eine sukzessive instrumentatorische Ausdünnung aus, die mit einem Absinken im Register gekoppelt ist. Oberhalb der Pauken, die den Triolenrhythmus der Streicher aufgreifen, intonieren die Trompeten und Posaunen im pianissimo (T. 427 f.) zweimal einen verminderten Septakkord (e-g-b-des), der harmonisch und durch die Pausen isoliert wirkt. Dessen Aufgabe scheint an dieser Stelle darin zu bestehen, der zuvor beinahe ersterbenden c-MollTonalität noch einmal neues Leben einzuhauchen und gleichzeitig zu signalisieren, dass das musikalische Geschehen noch nicht abgeschlossen ist. Gerade sein isoliertes und punktuelles Auftreten lässt den Akkord hier weniger als einen dominantischen Klang erscheinen, sondern im Zusammenspiel mit der Bassstimme vielmehr als einen chromatisch geschärften Grundakkord bzw. als einen Dur-Tonika-Septnonakkord. Inwieweit ihm dominantische Eigenschaften in der sich anschließenden kompakten choralartigen Blechbläser-Passage zugestanden werden können, lässt sich nicht so leicht beantworten. Einerseits kann der betreffende Septakkord als Zwischendominante zur Mollsubdominante in c-Moll gedeutet werden, andererseits tritt Letztere aufgrund des fehlenden Grundtons f nur bruchstückhaft in Erscheinung, was sogleich die Frage aufwirft, ob es sich überhaupt um die Subdominante handelt: 586
586
Auch die Melodielinie der 1. Oboe entbehrt des Tons f.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 70: Dur-Tonika-Septnonakkord und perforierter Sextensatz (T. 427– 430)
Der harmonisch zerklüftete Gesamteindruck dieser Takte ist auf den nicht aufzuhaltenden Zersetzungsprozess der Coda zurückzuführen. Vor diesem und vor dem Hintergrund der Dominanz von Sextensätzen innerhalb des Symphoniesatzes lässt sich die choralartige Passage am ehesten als ein perforierter Sextensatz beschreiben. Hier folgt eine hypothetische komplettierte Fassung desselben Sextensatzes:
Abbildung 71: Hypothetische Fassung des T. 429 f.
Instrumentatorisch variiert wiederholen sich die soeben beschriebenen Takte. Lediglich am Ende (T. 433) wird die Molltonika nach Dur aufgehellt. Danach verfährt Mahler noch punktueller und führt damit den Zersetzungsprozess kompromisslos fort, wobei von einer geschlossenen Melodie- oder Phrasenbildung keine Rede mehr sein kann. Das punktuelle Moment zeigt sich besonders im Alternieren der in ihrer Leuchtwirkung isolierten C-Dur-Dreiklänge in den Trompeten und der Motivfetzen in den Hörnern in c-Moll. Dies gleicht einem Wechselspiel von Licht und Schatten, das durch den Klangfarben- und Registerunterschied zusätzlich unterstrichen wird: 587 587
Vgl. Stephan, II. Symphonie, S. 46.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 72: Wechselspiel zwischen C-Dur und c-Moll (T. 433–438)
Für den Zeitraum von zwei Takten scheint sich C-Dur durchzusetzen, da nun auch die Hörner in den Dur-Dreiklang einlenken. Dieser Anschein erweist sich allerdings als trügerisch, denn abrupt kippt die Tonalität in T. 439 zurück nach c-Moll, wodurch jeglicher Optimismus schlagartig zunichtegemacht wird. Dieser wirkungsmächtige Wechsel des Tongeschlechts wird in der Mahlerforschung auch als „Dur-Moll-Siegel“ 588 bezeichnet und tritt noch in weiteren Werken auf, bspw. im Kopfsatz der Sechsten, T. 59 f. Gleichzeitig lässt sich darin auf engstem Raum gebündelt ein letztes Mal die satzprägende markante Gegenüberstellung der tonalen Bereiche e und es erkennen. 589 Mit einer letzten heftigen orchestralen Geste endet der Satz dann sogleich abrupt, wobei Mahler auf den katastrophenähnlichen Höhepunkt rekurriert. Der „chromatische Absturz über zwei Oktaven, der durch einen arpeggierten verminderten Septakkord in den Hörnern [. . . ] interpunktiert wird“ 590, stellt das exakte Gegenteil einer fulminanten Schlusskadenz dar und lässt den Kopfsatz der Zweiten mit einem Moment des Unabgeschlossenen und des Ergebnislosen enden: 591
588 589 590 591
Floros II, S. 290 und Floros III, S. 54. Vgl. Hefling, Zweite Symphonie, S. 232. Ebd. Vgl. ebd., S. 231.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
Abbildung 73: Chromatischer Absturz am Satzende (T. 441–445)
Der dabei ertönende verminderte Septakkord (c-es-fis-a) ist als Farbwert bzw. als finale dissonante Schärfung der Tonika c-Moll zu verstehen und darf keinesfalls als Doppeldominante fehlgedeutet werden.
Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Zweiten Wenngleich vor allem durch die variierte Wiederholung und Auskomponierung der Exposition und die zweiteilige Konzeption der Durchführung eine formale Expansion erzielt wird, ist festzustellen, dass Mahler „das symphonische Schema nur ausweitet, ohne es zu sprengen“ 592. Der „Grundriß der Sonatenform“ 593 bleibt also erkennbar. Die tonale Komponente, die untrennbar mit der formalen verknüpft ist, verhält sich jedoch keineswegs eindeutig und scheint sogar zum Teil unvereinbar mit der traditionellen Sonatensatzform zu sein. Ausgenommen ist hiervon der „[c-Moll-]Hauptsatz mit Trauermarschcharakter“ 594 (T. 1–42), der die Rolle der makrologischen harmonischen I. Stufe in der tonalen Architketur des Kopfsatzes einnimmt. Bemerkenswert ist die sich von Unterabschnitt zu Unterabschnitt entwickelnde Ausprägung der genannten Stufe, denn an diese ist ein dramaturgischer Steigerungsgedanke geknüpft: Nach dem anfänglichen diatonischen und melodisch-linearen Fokus formt sich allmählich eine harmonische Komponente aus, die zunehmend funktionale Qualitäten erlangt und schließlich in der chromatisch durchtränkten und klanglich frappanten Kadenz kulminiert. Insgesamt kann der Hauptsatz somit als ein groß angelegtes, auskomponiertes Crescendo bezeichnet werden. Der Seitensatz, der seine traditionelle Aufgabe, einen Kontrast zum Hauptsatz zu bilden, zweifelsfrei erfüllt, erweist sich in tonaler Hinsicht vor einem traditionellen Hintergrund als problematischer. Die Ursache hierfür liegt in der vermeintlichen Unvereinbarkeit der tonalen Eckpunkte des Seitenthemas E-Dur und es-Moll. Wie aufgezeigt 592 593 594
Specht, Gustav Mahler, S. 227. Floros III, S. 53. Ebd.
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Analytischer Hauptteil wurde, sind die beiden tonalen Eckpfeiler des Seitensatzes E-Dur und es-Moll jedoch weniger über ihren Abstand im Quintenzirkel, sondern vielmehr als unterschiedliche Ausprägungen der makrologischen harmonischen III. Stufe zu deuten und unter dieser zu subsumieren. Wenngleich sich beide tonalen Bereiche in einem ‚C-Kontext‘ bereits bei Beethoven nachweisen lassen und jener somit als mögliches Vorbild gelten kann, 595 geht Mahlers Konzeption der III. Stufe weit darüber hinaus. Zwar ist die mittlere tonale Station des Seitenthemas Ces-Dur mit dem traditionellen Sonatensatzmodell auch weiterhin nur schwer vereinbar, allerdings ist sie Bestandteil der Terzstiegsequenz, die das Seitenthema harmonisch organisiert und somit als Hinführung zum es-Moll-Zielpunkt zu betrachten ist. Insgesamt knüpft Mahler mit der makrologischen harmonischen III. Stufe an die symphonische Tradition an. Zusätzlich zur traditionellen Aufgabe, einen (harmonischen) Kontrast zum Hauptsatz zu schaffen, erfüllt das Seitenthema noch eine weitere, eher nicht traditionelle Funktion: Es antizipiert nahezu alle tonalen Bereiche der Durchführung. In der wiederholten und variierten Exposition erklingen zusätzlich zur Grundtonalität c-Moll die traditionell typischen Tonarten der VI. und V. Stufe (As-Dur und g-Moll). Deren Zustandekommen, Abfolge und unterschiedliche Gewichtigung erschließen sich jedoch erst aus einer makrologischen harmonischen Perspektive: Mahler organisiert den makrologischen harmonischen Verlauf der variierten Exposition mit Hilfe des absteigenden Tetrachords c-g :
Abbildung 74: Absteigender Tetrachord zur makrologischen harmonischen Organisation der T. 64– 116
Anhand der Notengraphik wird sogleich eine besondere Bedeutung und Gewichtung der Tonart der V. Stufe deutlich. Diese beruht auf der Abfolge von drei Feldern: einem modalen Feld (T. 80 ff.), einem dominantischen Orgelpunktfeld (T. 89 ff.) und einem ambivalenten Feld (T. 97 ff). Sowohl die Tonalität als auch der Rekurs auf Elemente des trauermarschmäßigen Hauptsatzes – Bernd Sponheuer bezeichnet die Takte als 595
Das Seitenthema im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 21 Op. 53 (Grundtonart C-Dur) bestreitet Beethoven in E-Dur. Im Kopfsatz der Klaviersonate Nr. 8 Op. 13 (Grundtonart c-Moll) hebt der Seitensatz, wie bereits angesprochen wurde, in es-Moll an. Grundsätzlich lassen sich ab Beethoven und Schubert mediantische Beziehungen zwischen Haupt- und Seitensatz feststellen.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie „Themenkombination“ 596 – fügen sich dabei problemlos in ein traditionelles Schema ein. 597 Nicht zuletzt wird anhand des absteigenden Tetrachords deutlich, dass die Tonart der VI. Stufe, in der das semantisch bedeutsame Kreuzmotiv anhebt, lediglich eine hierarchisch untergeordnete tonale Zwischenstation auf dem chromatischen Weg von c-Moll nach g-Moll bildet. Der erste Durchführungsteil erfüllt mit seinem Reichtum an Themenvarianten und -kombinationen sowie mit seiner farbigen tonalen Disposition traditionelle Kriterien, wenngleich auch dort Mahler größtenteils harmonisch großflächig verfährt. Bislang weitgehend unberücksichtigt in der Mahlerforschung ist der Zusammenhang zwischen dem zweiten Expositions- und dem ersten Durchführungsteil hinsichtlich der im Hintergrund wirkenden makrologischen harmonischen Organisation. Denn auch dieser wird makrologisch harmonisch durch einen absteigenden Tetrachord organisiert. Im Unterschied zum zweiten Expositionsteil wird der absteigende Tetrachord nicht von der makrologischen harmonischen I., sondern von der III. Stufe (hier E-Dur) aus initiiert, woraus der absteigende Tetrachord e-h und mit diesem eine bemerkenswerte traditionell untypische Symmetrie zwischen den beiden Formteilen resultieren:
Abbildung 75: Absteigender Tetrachord zur makrologischen harmonischen Organisation der T. 127– 243
Ein weiterer Unterschied zum zweiten Expositionsteil besteht in der Behandlung des zu Grunde liegenden Tetrachords. Mahler gewinnt ihm mehr tonale Facetten ab, indem einige der Töne des Tetrachords, die das Bassfundament bilden, nun nicht mehr ausschließlich als Grundtöne innerhalb der dabei erklingenden Tonalität interpretiert werden. 598 Es zeigt sich, dass Mahler nach der knapp gehaltenen C-Dur-Partie, die als 596
Sponheuer, Logik, S. 109 Die Erschließung des tonalen Bereichs der V. Stufe in einem Moll-Sonatensatz findet sich ebenfalls bei Beethoven. Als Beispiele können die Kopfsätze der Klaviersonaten Op. 31 Nr. 2 und Op. 90 genannt werden. Ein Rekurs auf thematisches Material des Hauptsatzes innerhalb der Exposition stellt grundsätzlich kein Novum dar. 598 Hervorzuheben sind die unterschiedlichen und wechselnden Ausdeutungen der Töne d und cis: Den Ton d erklärt Mahler einmal zum Grundton von D-Dur, einmal zum Sextton von fis-Moll und schließlich kurzzeitig zum Quintton von g-Moll; der Ton cis fungiert einmal als Grundton in cis-Moll und einmal kurzzeitig als Quintton in fis-Moll. 597
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Analytischer Hauptteil eine Art Vorspiel oder Einleitung der Durchführung fungiert, 599 für einen Zeitraum von über vierzig Takten (T. 127–170) ausschließlich E-Tonalitäten verwendet, woran die Dominanz der makrologischen harmonischen III. Stufe deutlich wird. Deren sukzessive tonale Ausprägung sowie die damit verbundene kontinuierliche dramaturgische Steigerung erinnern dabei an den Verlauf des c-Moll-Hauptsatzes (T. 1–42): Der anfangs gesetzte harmonisch großflächige und modal-diatonische Schwerpunkt verschiebt sich nach und nach zu einem kleingliedrigen und kadenziellen. 600 Hinsichtlich durchführungsartiger Variantentechnik steht der zweite Durchführungsteil dem ersten in nichts nach. Schwerpunktmäßig basiert Ersterer auf der ‚anderen‘ makrologischen harmonischen III. Stufe (es-Moll / Es-Dur). Mit den stellenweisen Ausflügen nach b-Moll erschließt sich Mahler temporär einen tonalen Nebenbezirk, der in der tonalen Gesamtarchitektur des Satzes jedoch keine Rolle spielt und unter der makrologischen harmonischen III. Stufe zu subsumieren ist. Der Fokus auf es-Moll / Es-Dur dürfte vor allem aus Gründen tonaler Balance gesetzt worden sein: Nachdem im ersten Durchführungsteil E-Tonalitäten als III. Stufe im Vordergrund standen, wird im zweiten Durchführungsteil gewissermaßen ein Gegengewicht in Gestalt von Es-Tonalitäten geschaffen. Das konsequente Festhalten an den Tonalitäten es-Moll und Es-Dur ist vor einem traditionellen Hintergrund kritisch zu hinterfragen, da dies einer traditionellen harmonischen Instabilität und Dynamik einer Durchführung entgegenzustehen scheint. Allerdings wirkt die makrologische harmonische III. Stufe alles andere als statisch, da es Mahler immer wieder gelingt, ihr unterschiedlichste farbliche Facetten abzugewinnen, sie temporär zu irritieren und insgesamt in einem spannungsvollen Schwebezustand zu halten. 601 Die Platzierung des dominantischen Orgelpunkts am Ende der Durchführung zwecks Rückführung zur Reprise könnte dann nicht traditioneller sein. Gleichzeitig nutzt Mahler wie im Kopfsatz der Ersten genau diese Nahtstelle für die dramaturgische Klimax, einen katastrophenähnlichen Höhepunkt (T. 325 ff.). Hier wie dort entfaltet der dominantische Orgelpunkt zusätzlich zu seiner syntaktischen Wirkung auch eine destruktive, die traditionelle Maßstäbe weit übersteigt. Als Vorbild für den harmonischen Verlauf des zweiten Durchführungsteils dient möglicherweise die Nahtstelle zwischen dem Seitenthema und dem nochmals aufgegriffenen marschmäßigen Hauptsatz (T. 59–64). Was sich dort auf engstem Raum harmonisch ereignet hat, wird im zweiten Durchführungsteil auf eine makrologische harmonische Ebene projiziert. 599
Vgl. Floros III, S. 53. Für beinahe die Hälfte der Dauer der III. Stufe erklingt ein diatonisches E-Dur-Bordunfeld (T. 127–146). Nach dessen Molltrübung schließt sich ihm ein weitgehend modal geprägtes e-Moll-Feld (T. 147–159) an, das sich durch eine breite Palette an unterschiedlichen mollaren Farben auszeichnet. In der nachfolgenden Oktavregel-Passage (T. 160–167) weicht die Feldstatik dann erstmals einer kleingliedrigeren harmonischen Faktur, die schließlich eine endgültige Ausprägung in den beschließenden Kadenztakten (T. 167–170) erhält. 601 Hinsichtlich der vielfältigen Strategien Mahlers sei auf die Ergebnisse der Detailanalyse verwiesen. 600
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Die Reprise erfüllt ihre traditionelle Aufgabe der Rekapitulation der Exposition und geht gleichzeitig darüber hinaus. Das Niveau hinsichtlich Variantenbildungen bleibt ähnlich hoch wie in der Durchführung. Erwähnenswert sind die Verschmelzung des Seitenthemas mit der Meeresstille-Episode und die dabei nicht vollzogene tonale Anpassung an die Grundtonart c-Moll. 602 Damit wahrt Mahler auch in der Reprise die markante Gegenüberstellung der I. und III. makrologischen harmonischen Stufe. 603 Die abschließende, sich über mehr als fünzig Takte erstreckende Coda konzipiert Mahler als ein ambivalentes Feld, das mal modal, mal dur-moll-tonal gefärbt wird, dabei jedoch unumstößlich den Grundton c akzentuiert. Damit erfüllt die Coda ihre traditionelle Aufgabe der abschließenden Stabilisierung der Grundtonart und stellt darüber hinaus eine Balance zwischen der I. und III. makrologischen harmonischen Stufe her. Hervorzuheben sind dramaturgisch der innewohnende sukzessive (tonale sowie thematische) Auflösungsprozess und die ‚Anti-Kadenz‘ am Ende. Während im Kopfsatz der Ersten die Erzeugung eines Ungleichgewichts zwischen der makrologischen harmonischen I. und V. Stufe im Vordergrund stand, setzt Mahler nun einen Schwerpunkt auf eine ausbalancierte Gegenüberstellung der I. und III. Stufe. Letztere vereint dabei sämtliche Tonalitäten, die in einer Terzbeziehung zum Grundton c stehen. 604 Diese stellen jeweils für sich zwar kein Novum dar, allerdings müssen die Vielfalt an Ausprägungen und insbesondere deren Präsenz und Ballung innerhalb eines Symphoniesatzes als einzigartig bezeichnet werden. Was sich bereits tonal innerhalb des Seitenthemas ereignete, wird von Mahler auf eine großformal-architektonische Ebene projiziert.
602
Ein Novum stellt das Ausbleiben der tonalen Anpassung zu Mahlers Zeit selbstverständlich nicht dar (vgl. Amon, Lexikon der musikalischen Form, S. 351–355). 603 Die knapp gehaltene A-Dur-Passage weist interpolierende Eigenschaften auf und ist der III. Stufe hierarchisch unterzuordnen. 604 Die makrologische harmonische III. Stufe tritt in Gestalt von Es-Dur, es-Moll, E-Dur und e-Moll auf. Diese Befunde decken sich mit den traditionellen Seitentonarten in Durund Mollstücken.
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie
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Abbildung 76: Überblick über die Architektur des Kopfsatzes der Zweiten
Analytischer Hauptteil
Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen Motorische Bassfiguren
Hauptthema und Hauptthemenvarianten
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Zum Kopfsatz der Zweiten Symphonie Seitenthema
Kreuzmotiv
Bassostinato
Schlummermotiv (danach Hauptthemenvariante)
Weise
Dies irae
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Analytischer Hauptteil Ewigkeitsmotiv (vorher Kreuzmotiv)
Auferstehungsmotiv (danach Dies irae)
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Zur Entstehung der Dritten Symphonie und zur Problematik der Programme Erste Skizzen zum Kopfsatz der Dritten Symphonie reichen bis in das Jahr 1893 zurück, so dass sich Mahlers Arbeit an diesem mit derjenigen an seiner Zweiten Symphonie überschnitten haben dürfte. 605 Als Hauptentstehungszeitraum können jedoch die Sommermonate der Jahre 1895 und 1896 gelten. 606 Bemerkenswert ist die Reihenfolge der Genese der einzelnen Sätze: Nach Mahlers eigener Aussage wagte er sich erst an den Kopfsatz, der für ihn die größte kompositorische Herausforderung darstellte, nachdem die Komposition der übrigen Sätze abgeschlossen war. 607 Nachdem er die Sätze II–VI im Sommer 1895 im Wesentlichen zum Abschluss gebracht hatte, 608 nahm er die Arbeit am Kopfsatz am 11. Juni 1896, 609 also ungefähr ein Jahr später, wieder auf und stellte ihn in einem Zeitraum von weniger als sechs Wochen am 28. Juli 1896 fertig. 610 Die finale Ausarbeitung wurde im Herbst desselben Jahres vorgenommen: Das im Autograph eingetragene Datum der Fertigstellung des Kopfsatzes lautet 17. 10. 1896. 611 Das in der Druckfassung sechssätzige Werk – der Erstdruck erfolgte 1902 in Wien bei Josef Weinberger 612 – gliedert sich in zwei Abteilungen, wobei der Kopfsatz die erste und die übrigen fünf Sätze die zweite bilden. Der ursprüngliche Plan, die Symphonie mit einem siebten Satz, nämlich der Orchesterfassung des Wunderhorn-Liedes Das Himmlische Leben enden zu lassen, wurde von Mahler verworfen; später sollte Das Himmlische Leben den Finalsatz seiner Vierten Symphonie bilden. 613 Mögliche Gründe für diese 605
Vgl. Floros III, S. 76. Maurer-Zenck, Claudia, Dritte Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 289. 607 Vgl. NBL, S. 61. 608 Mahler teilte Friedrich Löhr in einem Brief vom 29. August 1895 mit, dass die anderen Sätze außer dem Kopfsatz fertiggestellt sind (vgl. GMB, S. 150 f.). 609 Nachdem Mahler im Juni 1896 bereits in Steinbach am Attersee angelangt war, fiel ihm auf, dass er seine Skizzen zum Kopfsatz in Hamburg vergessen hatte. Zu Mahlers großer Erleichterung sandte ihm sein Freund Hermann Behn die Skizzen binnen kürzester Zeit zu (vgl. Blaukopf, Herta (Hg.): Gustav Mahler. Unbekannte Briefe, Wien: Zsolnay 1983, S. 26– 29). 610 Vgl. NBL, S. 65. 611 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S, 289. 612 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 26. 613 Während Das Himmlische Leben in einem Brief an Friedrich Löhr vom 29. August 1895 noch als VII. Satz vorgesehen ist (vgl. GMB, S. 150 f.), findet es sich in Mahlers Mitteilungen etwa ein Jahr später nicht mehr wieder (vgl. GMB, S. 187 f. und S. 196). Es sei noch angemerkt, dass sowohl die Klavier- als auch die Orchesterfassung von Das Himmlische Leben bereits aus dem Jahr 1892 stammen (vgl. Stark-Voit, Renate, Des Knaben Wunderhorn, in: Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 176 f. 606
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Analytischer Hauptteil Entscheidung werden später diskutiert. Innerhalb der Dritten, die eine Spieldauer von ungefähr eineinhalb Stunden aufweist 614 und damit Mahlers umfangreichstes Werk ist, macht der monumentale Kopfsatz, dessen „Proportionen [als] vorweltlich“ 615 bezeichnet werden können, mehr als ein Drittel der Zeit aus. 616 Zusätzlich zu den riesenhaften Dimensionen des „Monstrum[s]“ 617 – wie Mahler seine Dritte bezeichnete – dürfte auch die verlangte gewaltige Besetzung bzw. das gewünschte „Regimentsorchester“ 618 dazu beigetragen haben, dass zu Mahlers Unmut zunächst nur einzelne Sätze der Dritten, insbesondere der zweite Satz, relativ zeitnah nach der Werkvollendung aufgeführt worden sind. 619 Die Uraufführung der gesamten Symphonie fand erst einige Jahre später statt, und zwar am 9. Juni 1902 in Krefeld beim Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins unter Mahlers Leitung. 620 Während die Aufführungen der Einzelsätze gemischte Reaktionen beim Publikum und bei Kritikern hervorriefen, 621 kann die Uraufführung der gesamten Dritten als durchschlagender Erfolg bezeichnet werden. 622 Zwar besteht zwischen der Dritten und den beiden vorangegangenen Symphonien kein unmittelbarer programmatischer Zusammenhang, 623 allerdings „schwebt [sie] noch über jener Welt des Kampfes und Schmerzes in der Ersten und Zweiten und konnte nur als deren Resultat hergehen.“ 624 Gerade zur Zweiten bestehen aber auch Ähnlichkeiten, was sich anhand eines Vergleichs der ersten vier Sätze veranschaulichen lässt: Beide Kopfsätze basieren auf Märschen, die zweiten Sätze repräsentieren einen traditionellen Tanzsatz, die dritten Sätze sind als Scherzo konzipiert und weisen als kompositorische Grundlage jeweils ein Wunderhorn-Lied auf 625 und bei den vierten
614
Vgl. GMB, S. 150. Adorno, Physiognomik, S. 109. 616 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 135. 617 GMB, S. 297. 618 NBL, S. 35. Zusätzlich zur insgesamt großen Orchesterbesetzung waren für den 3. Satz ein Posthorn, für den 4. Satz ein Alt-Solo und für den 5. Satz ein Frauen- und Knabenchor notwendig (vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 289). 619 Hierzu erweist sich die Übersicht über die wichtigsten Stationen im Leben Gustav Mahlers von Jens Malte Fischer als äußerst nützlich (vgl. Fischer, Der fremde Vertraute, S. 908). 620 Vgl. ebd., S. 917. 621 Vgl. GMB, S. 225. 622 Vgl. Mitchell, Donald (Hg.), Alma Mahler-Werfel. Erinnerungen an Gustav Mahler (beigefügt: Gustav Mahler. Briefe an Alma Mahler), Frankfurt a. M. u. a.: Propyläen 1971, S. 67. 623 In der Untersuchung des Kopfsatzes der Zweiten ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Zweite programmatisch unmittelbar an die Erste anknüpft. 624 NBL, S. 35. 625 Im Scherzo der Zweiten bildet das Lied Des Antonius von Padua Fischpredigt die Grundlage, im Scherzo der Dritten ist es das Lied Ablösung im Sommer (vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 50 und S. 59 f.). 615
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Sätzen handelt es sich um Orchesterlieder mit einem Alt-Solo. 626 Mit seiner Dritten wollte Mahler nicht nur die Zweite überbieten, sondern darüber hinaus ein Werk schaffen, „in welchem sich [. . . ] die ganze Welt spiegelt“ 627. Somit liegt zunächst einmal die Erweiterung von der Fünf- zur Sechssätzigkeit ebenso wie die Vergrößerung der Besetzung nahe. Der langsame sechste Satz stellt zudem eine Balance zum riesenhaften Kopfsatz her, nachdem die mittleren Sätze in Relation dazu sehr kompakt gehalten sind. Eine Ergänzung durch die Orchesterfassung von Das Himmlische Leben nach dem sechsten Satz wäre insofern kontraproduktiv gewesen, als damit genau diese Balance zwischen den Außensätzen durchkreuzt worden wäre. 628 Um dem Facettenreichtum und der Verschiedenartigkeit der „ganzen Welt“ in seiner Symphonie gerecht zu werden, greift Mahler zu einer bemerkenswerten „idiomatische[n] Vielfalt“ 629 bzw. zu einer Vielzahl von unterschiedlichen Charakteren (im Sinne von Constantin Floros), die sich sowohl satzintern (vor allem im Kopfsatz) als auch von Satz zu Satz offenbaren. 630 Dadurch erhält die Dritte ihre so charakteristischen rhapsodischen Züge. 631 Gleichzeitig zeigt sich wie an keiner anderen seiner Symphonien aber auch die Unvereinbarkeit der heterogenen Elemente und die Unmöglichkeit, die Welt in ihrer Ganzheit zu fassen und zu einer Einheit zu verschmelzen. 632 Bernd Sponheuer fasst dies so zusammen: In lapidarer Parataxe stehen die ersten fünf Sätze mit ihren scharf kontrastierenden Ausdrucksregionen, die in der unreglementierten Mannigfaltigkeit der musikalischen Idiome konkret werden, nebeneinander. Ihre Einheit, die nur eine abstrakte ist: nämlich ihr Bezogensein auf die gesellschaftliche Totalität, die in ihrer musikalischen Repräsentanz von der vulgären Marschphrase bis zur Brucknersymphonie präsent ist, kommt als Einheit nicht zu musikalischer Existenz. 633
Mahlers Dritte erweist sich noch in einem weiteren Punkt als monumental: Zu keiner anderen Symphonie existieren so viele und so ausführliche programmatische Äußerun-
626
Vgl. Steinbeck, Erste bis Vierte Symphonie, S. 241. GMB, S. 187. 628 Vgl. Hein, Hartmut, Vierte Symphonie, in: Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 369 f. 629 Sponheuer, Logik, S. 141. 630 Mahler bezeichnete die Sätze II–V gegenüber Natalie Bauer-Lechner als „so mannigfaltig wie die Welt selbst“ (NBL, S. 61). 631 Vgl. Schnebel, Dieter, Über Mahlers Dritte, in: Mahler – eine Herausforderung. Ein Symposion, hrsg. von Peter Ruzicka, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1977, S. 157. 632 Dies gestand Mahler (NBL, S. 56) selbst ein: „Aus den großen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Sätzen, von denen mir anfangs träumte, ist nichts geworden; jeder steht als ein abgeschlossenes und eigentümliches Ganzes für sich da: keine Wiederholungen und Reminiszenzen.“ 633 Sponheuer, Logik, S. 181. 627
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Analytischer Hauptteil gen seitens des Komponisten. 634 Es sei angemerkt, dass sich in der Mahlerforschung keine verbindlichen Angaben über die Anzahl der hermeneutischen Erklärungen zum programmatischen Inhalt und der Titellisten finden lassen. Die detaillierteste Übersicht liefert Friedhelm Krummacher. 635 Inhaltlich lässt sich die Dritte als ein „Schöpfungsmythos“ 636 charakterisieren, der evolutionäre, kosmologische und spirituelle Aspekte vereint. 637 Zwei Äußerungen Mahlers erweisen sich zum Einstieg als besonders hilfreich. Die erste findet sich in den Aufzeichnungen Natalie Bauer-Lechners und stammt aus den Sommermonaten des Jahres 1896: Und schaurig ist, wie sich aus der unbeseelten, starren Materie heraus [. . . ] allmählich das Leben losringt, bis es sich von Stufe zu Stufe in immer höhere Entwicklungsformen differenziert: Blumen, Tiere, Mensch, bis ins Reich der Geister, zu den ‚Engeln‘. 638
Die zweite entstammt einem Brief an Anna von Mildenburg und datiert ebenfalls vom Sommer 1896: Und so bildet mein Werk ein[e] alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser Steigerung umfassende musikalische Dichtung. – Es beginnt bei der leblosen Natur und steigert sich bis zur Liebe Gottes! 639
Aus beiden Zitaten geht deutlich die „Idee einer Stufenreihe des Seienden“ 640 hervor, die in der göttlichen Liebe gipfelt. Diese Idee zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Dritte. Jeder Satz ist in die Konzeption eingebunden und repräsentiert für sich eine Entwicklungsstufe. 641 Es muss betont werden, dass sich die soeben beschriebene Idee einer Stufenleiter erst allmählich und über einen längeren Zeitraum ausformte und dass bis zur Autograph-Fassung sowohl die Bezeichnungen als auch die Anordnung der Entwicklungsstufen bzw. der einzelnen Sätze mehrfach von Mahler geändert wurden. Dies soll nachfolgend anhand einer Gegenüberstellung zweier Titellisten veranschaulicht werden. Bei der einen handelt es sich um eine undatierte Frühfassung nach Alma Mahler-Werfel 642, die andere findet sich in einem Brief an Max Marschalk vom 6. August 1896 643:
634
Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 289. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 176 ff. 636 Floros, Constantin, Gustav Mahler: Visionär und Despot. Porträt einer Persönlichkeit, Zürich und Hamburg 1998, S. 214 ff. 637 Vgl. Floros III, S. 79 ff. 638 NBL, S. 56. 639 GMB, S. 189 f. 640 Floros III, S. 79. 641 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 106. 642 Mahler-Werfel, Erinnerungen, S. 65. 643 GMB, S. 196. 635
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Undatierte Frühfassung nach Alma MahlerWerfel:
Brief an Max Marschalk vom 6. August 1896:
Ein Sommernachtstraum
Ein Sommermittagstraum.
1. Der Sommer marschirt ein (Fanfare und lustiger Marsch) (Einleitung) (Nur Bläser mit konzertierenden Contrabässen).
I. Abteilung. Einleitung: Pan erwacht. Nr. I: Der Sommer marschiert ein (Bacchuszug).
2. Was mir der Wald erzählt. (1. Satz.)
II. Abteilung. Nr. II: Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen.
3. Was mir die Liebe erzählt. (Adagio.)
Nr. III: Was mir die Tiere im Walde erzählen.
4. Was mir die Dämmerung erzählt. (Scherzo) (nur Streicher.)
Nr. IV: Was mit der Mensch erzählt.
5. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen. (Menuetto.)
Nr. V: Was mir die Engel erzählen.
6. Was mir der Kuckuck erzählt. (Scherzo.)
Nr. VI: Was mir die Liebe erzählt.
7. Was mir das Kind erzählt.
Deutlich wird, dass Mahler die Symphonie nicht von Beginn an in zwei Abteilungen gegliedert hat. Stattdessen unterteilte er den Kopfsatz ursprünglich in eine Einleitung und einen 1. Satz; folglich handelt es sich bei der undatierten Frühfassung um keine echte siebensätzige Konzeption. 644 Bei den Satzbezeichnungen selbst stechen die Formulierungen „Was mir [. . . ] erzählt“ bzw. „Was mir [. . . ] erzählen“ und das daran geknüpfte narratologische Moment hervor. 645 Eine Inspirationsquelle für den Schöpfungsmythos der Dritten dürfte Siegfried Lipiners Gedicht Genesis aus dem Buch der Freude sein. 646 Das Gedicht handelt von einer riesigen, zunächst schlafenden Wolke, aus der sich nach einer Art Urknall das gesamte Universum und das Leben entwickeln. Als Entsprechung zur schlafenden Wolke kann im Kopfsatz der Dritten der von Mahler so genannte „schlafende Pan“ gelten. 647 Mahler 644
Vgl. Steinbeck, Erste bis Vierte Symphonie, S. 241. Eine siebensätzige Anlage, die als Finalsatz Das Himmlische Leben aufweist, findet sich u. a. in einem Brief (beigelegtes Quartblatt) an Friedrich Löhr (vgl. GMB, S. 151). 645 Vgl. hierzu Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 293. In einem Brief an Friedrich Löhr vom 29. August 1895 (GMB, S. 150) äußerte sich Mahler dahingehend wie folgt: „Die Betonung meines persönlichen Empfindungslebens (als, was die Dinge mir erzählen) entspricht dem eigenartigen Gedankeninhalt.“ 646 Vgl. Lipiner, Siegfried, Genesis, in: Das Buch der Freude, Leipzig 1880. Eine vollständige Abbildung des Gedichts findet sich bei Constantin Floros (vgl. Floros, Constantin, Gustav Mahler I. Die geistige Welt in systematischer Darstellung (Wiesbaden 1977), 2. Auflage, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1987, S. 203–206 (= Floros I)). 647 Vgl. Floros III, S. 87. Im Autograph findet sich der Eintrag Pan schläft. Einige Notenfaksimiles des Autographs wurden von Constantin Floros abgebildet (vgl. Floros I, S. 235 und S. 237).
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Analytischer Hauptteil verdankt seine Idee einer Stufenreihe großer Wahrscheinlichkeit Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung 648. Nach Schopenhauer objektiviert sich der Wille der Welt in einer Stufenreihe, bestehend aus dem unorganischen Reich, der Pflanze, dem Tier und schließlich dem an der Spitze stehenden Menschen. 649 Der Mensch nimmt innerhalb der Stufen aufgrund seiner Individualität eine Sonderrolle ein. 650 Zudem ist nur er im Stande, sich die Welt auch vorzustellen. 651 Sein Imaginationsvermögen äußert sich auf besondere Art und Weise in der Musik, die „eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens“ repräsentiert, „wie die Welt selbst es ist“ 652. Als weitere Inspirationsquelle können Werke von Friedrich Nietzsche angeführt werden. Ein unmittelbarer Zusammenhang besteht in Gestalt des vierten Satzes, des „Mitternachtsliedes“ 653, einer Vertonung des Gedichts Das trunkne Lied (O Mensch! Gibt acht!) aus dem Vierten Teil von Also sprach Zarathustra. 654 Weitere Zusammenhänge zwischen Mahlers Dritter und Nietzsches Also sprach Zarathustra lassen sich insbesondere im zweiten Durchführungsteil des Kopfsatzes (T. 530 ff.) feststellen. Im Autograph Mahlers findet sich dort der Eintrag „Das Gesindel“, 655 der offenbar eine Anspielung auf das Kapitel „Vom Gesindel“ im Zweiten Teil von Also sprach Zarathustra darstellt. 656 Dort distanziert sich Zarathustra vom Gesindel, das „vergiftete Brunnen[,] stinkende Feuer und beschmutzte Träume“ 657 hinterlässt. Um dem Gesindel zu entkommen und um seine Lebenslust wiederzuerlangen, schwingt er sich „ins Höchste“ 658 auf. Den erreichten Idealzustand beschreibt Zarathustra wie folgt: Vorbei die zögernde Trübsal meines Frühlings! Vorüber die Bosheit meiner Schneeflocken im Juni! Sommer wurde ich ganz und Sommer-Mittag. 659
648
Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung (Leipzig: F.A. Brockhaus 1859), zit. nach der Neuedition der dritten, verbesserten und beträchtlich vermehrten Auflage des I. Bandes, Zürich: Haffmans Verlag 1988. 649 Vgl. ebd., S. 216. 650 Vgl. ebd., S. 188. 651 Vgl. ebd, S. 245. 652 Ebd., S. 341. 653 Claudia Maurer-Zenck macht darauf aufmerksam, dass dieser Titel nicht authentisch ist, allerdings in der Mahlerforschung als etabliert gelten kann (vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 329). 654 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1886), zit. nach der vollständigen Ausgabe nach dem Text der Ausgabe Leipzig 1891, 6. Auflage, Goldmann Verlag 1986, S. 258–264. 655 Vgl. Floros I, S. 238. 656 Nietzsche, Zarathustra, S. 79–81. 657 Ebd., S. 79. 658 Ebd., S. 80. 659 Ebd.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Demnach scheint nicht nur Mahlers zwischenzeitlich geplanter Titel Ein Sommermittagstraum von Nietzsche inspiriert zu sein, sondern auch die programmatische Idee des Kampfes zwischen dem „einmarschierenden Sommer“ und dem Winter, aus dem der Sommer schließlich als Sieger hervorgeht. 660 Des Weiteren spielen Nietzsches Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und die damit verbundene griechische Mythologie eine wichtige Rolle. Nietzsches Geburt der Tragödie handelt von der „Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen“ 661, aus der die griechische Tragödie hervorgeht. Die beiden griechischen Gottheiten Apollon und Dionysus bilden ein Gegensatzpaar und verkörpern die „Kunsttriebe“ des Menschen bzw. die Seiten menschlicher Existenz: Während Apollon das intellektuelle Individuum repräsentiert, steht Dionysus für den Menschen im Kollektiv, der sich in Einklang mit der Natur befindet und sich dem Rauschhaftem und Orgiastischen hingibt. 662 Im Kopfsatz der Dritten steht Dionysus, der aus dem programmatischen Zusammenhang heraus mit dem Sommer gleichzusetzen ist, im Vordergrund. 663 Die Vielzahl der Wegtafeln darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Mahler hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Publikum äußerst unsicher war. 664 Verstärkt wurde seine Unsicherheit sicherlich durch die schlechten Erfahrungen, die er mit diesen bei seinen ersten beiden Symphonien gemacht hat. Gleichzeitig zeigt sich ein weiteres Mal Mahlers Dilemma hinsichtlich einer eindeutigen Zuordnung seiner Werke zur Programmmusik oder zur absoluten Musik. Nachdem er bereits mehrere Wegtafeln verfasst hatte, in denen er sein Werk als Symphonie bezeichnete, deutete er im Sommer 1896 (also relativ kurz vor der Fertigstellung der Symphonie) gegenüber Natalie BauerLechner an, das Werk werde den Titel „Pan, Symphonische Dichtungen“ 665 tragen. Letztlich entschied sich Mahler dazu, keine der zahlreichen programmatischen Erläuterungen und Titellisten zu veröffentlichen. Für die Drucklegung wählte er folgende ‚neutrale‘ Satzbezeichnungen:
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Vgl. NBL, S. 35. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, zit. nach der vollständigen Ausgabe nach dem Text der Ausgabe Leipzig 1895, Neuauflage, Goldmann Verlag 1999, S. 25. 662 Vgl. ebd., S. 30 f. 663 Es sei noch angemerkt, dass in Mahlers Wegtafeln sowohl von Dionysus als auch von Pan die Rede ist. Beide sind grundsätzlich voneinander zu unterscheiden. Mahler tut dies zunächst auch (vgl. NBL, S. 56), um beide später sowohl in einem Brief an Richard Batka (vgl. GMB, S. 203) als auch bezeichnenderweise in der Überschrift des Kopfsatzes gleichzusetzen, was aus der oben zitierten Titelliste (Brief an Max Marschalk) hervorgeht. Bacchus ist im Übrigen die lateinische Bezeichnung für Dionysus (vgl. hierzu auch Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 292). 664 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 289 f. 665 NBL, S. 60. 661
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Analytischer Hauptteil Erste Abteilung 1. Kräftig. Entschieden Zweite Abteilung 2. Tempo di Menuetto. Sehr mässig 3. Comodo. Scherzando. Ohne Hast 4. Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp „O Mensch! Gib acht!“ (Alt-Solo) 5. Lustig im Tempo und keck im Ausdruck „Es sungen drei Engel“ (Chor, Alt-Solo) 6. Langsam. Ruhevoll. Empfunden Zweifellos muss der programmatische Inhalt bei einer kompositionstechnischen Untersuchung berücksichtigt werden. Gleichzeitig jedoch gilt es, ihn kritisch zu hinterfragen. Zu Recht weist Claudia Maurer-Zenck darauf hin, dass sich ein einseitiger Schwerpunkt auf die zahlreichen schriftlichen und mündlichen Äußerungen Mahlers zum Programm eher kontraproduktiv auf die analytische Untersuchung der Dritten ausgewirkt hat. 666 Beispielhaft sei diejenige Paul Bekkers genannt: 667 Dessen kompositionstechnische Analyse der Ersten und Zweiten kann nach wie vor als eine der detailliertesten in der Mahlerforschung gelten. Umso mehr verwundert es dann, dass Bekker bei der Dritten einen gänzlich anderen Analysestil pflegt. Er konzentriert sich beinahe ausschließlich auf die Programmatik und lässt kompositionstechnische Aspekte weitgehend außer Acht. 668 Eine ähnliche kritische Haltung (wie Claudia Maurer-Zenck) hinsichtlich der Tauglichkeit der programmatischen Erläuterungen Mahlers für eine kompositionstechnische Untersuchung nimmt Seth Monahan ein: „Nevertheless, it is critical to recognize that these assorted paratexts stand only in a loose relationship to the music and to one other; they are not tokens of an analytically reconstructable ‚program‘ in the strict sense.“ 669 Die Berücksichtigung des programmatischen Inhalts wirft nicht zuletzt die grundsätzliche Frage nach der Vereinbarkeit mit der traditionellen symphonischen Form auf. Konkret stellt sich die Frage, inwieweit die von Mahler intendierte zweiteilige
666
Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 292. Umgekehrt sind aufgrund ihres Detailreichtums die Untersuchungen zur Dritten von Claudia Maurer-Zenck, Friedhelm Krummacher und Seth Monahan besonders hervorzuheben. Letzterer setzt sich als einer der wenigen dezidiert mit der Form des Kopfsatzes auseinander und diskutiert diese kritisch vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund. 667 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 105 ff. 668 Auffällig ist nicht zuletzt, dass Bekker der eigentlichen Analyse des überdimensionierten Kopfsatzes weniger Platz einräumt als den jeweiligen Analysen der Kopfsätze der Ersten und Zweiten. 669 Monahan, Seth, Mahler’s Symphonic Sonatas, Oxford u. a.: Oxford University Press 2015, S. 181.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie programmatische Anlage, bestehend aus „Einleitung: Pan erwacht“ und „Der Sommer marschiert ein (Bacchuszug)“ mit dem traditionellen Sonatensatzschema konform geht. Erschwerend kommt Mahlers berühmte Äußerung gegenüber Natalie Bauer-Lechner hinzu: Daß ich sie Symphonie nenne, ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich an die herkömmliche Form. Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimmt sich seine Form von selbst. 670
Zweifellos ist gerade die Architektur des Kopfsatzes eine einzigartige. Allerdings ist die makrologische harmonische Anlage, wie zu zeigen sein wird, keineswegs unvereinbar mit der traditionellen symphonischen Form. Es sei schon hier bemerkt, dass ein Schlüssel zum formalen Verständnis des Satzes in der Tatsache liegt, dass Mahler die Dritte nicht von Anfang an als d-Moll-, sondern auch als F-Dur-Symphonie bezeichnet hat, 671 was eine zusätzliche Perspektive auf den Kopfsatz gestattet, auf die in der bisherigen Mahlerforschung kaum eingegangen wird. Stattdessen koexistieren mehr oder weniger beziehungslos unterschiedliche formale Interpretationen des Kopfsatzes nebeneinander. Diese gilt es hier, vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Form, Thematik und Tonalität kritisch zu hinterfragen. Ferner soll gezeigt werden, dass Mahler, die kompositionstechnischen Strategien der Kopfsätze der Ersten und Zweiten Symphonie wieder aufgreift und weiterentwickelt. Dabei erlangt insbesondere die Komponente der makrologischen Harmonik eine neue und so in Mahlers Schaffen dann auch nicht wieder erreichte Dimension.
Kompositionstechnische Analyse des Kopfsatzes der Dritten Introduktion (T. 1–26) Nach Mahlers eigener Aussage gegenüber Natalie Bauer-Lechner handelt es sich zu Beginn des Kopfsatzes der Dritten „schon beinahe [um] keine Musik mehr, [sondern] fast nur [um] Naturlaute.“ 672 Zudem liege über ihr „wieder jene Stimmung der brütenden Sommermittagsglut, in der kein Hauch sich regt, alles Leben angehalten ist“ 673. Damit ist ein programmatischer Zusammenhang zwischen der Einleitung des Kopfsatzes der Dritten und der Introduktion der Ersten gegeben. Zu klären gilt es, inwieweit auch ein kompositionstechnischer Zusammenhang herstellbar ist, und dies, obwohl sich die betreffenden Satzeröffnungen hinsichtlich ihrer musikalischen Faktur im Detail
670
NBL, S. 35. Vgl. Mitchell, Donald, Gustav Mahler. The Wunderhorn Years: Chronicles and commentaries, London: Faber & Faber 1975, Notenfaksimile vor S. 137. 672 NBL, S. 56. 673 Ebd. 671
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Analytischer Hauptteil stark voneinander unterscheiden. Es muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Bezeichnung Introduktion / Einleitung in der Mahlerforschung in einem doppelten Sinne verwendet wird: Mal ist darunter die formale Funktion der T. 1–26 und mal die programmatische Funktion der T. 1–272, die das Erwachen des Pan zum Inhalt haben, zu verstehen. In der vorliegenden Untersuchung wird zunächst der formale und vor dessen Hintergrund dann der programmatische Aspekt berücksichtigt. Das fanfarenartige Eröffnungsthema, das „Kräftig. Entschieden.“ 674 von acht Hörnern unisono im fortissimo intoniert wird, versieht Mahler im Autograph mit der Notiz „Der Weckruf!“. 675 Semantisch erfüllt der Weckruf die gleiche Funktion wie sein Pendant in der Introduktion des Kopfsatzes der Ersten: Er fungiert als ein aktivierendes Signal, das an die noch „unbeseelte [. . . ], starre[. . . ] Materie“ 676 gerichtet ist. 677 Das Weckruf-Thema weist einen „allerweltsmäßig, unoriginell erscheinende[n] Duktus“ auf, „der den Hörer an musikalisch schon Dagewesenes erinnert“ 678. Bezüge sind vor allem zu dem den Kopfsatz von Franz Schuberts Großer C-Dur-Symphonie eröffnenden Hornthema, 679 zum Streicherthema des Finalsatzes von Johannes Brahms’ Erster Symphonie und auch zum Studentenlied Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand von Hans Ferdinand Maßmann aus dem Jahr 1820 zu erkennen: 680
Abbildung 77: Beginn der Großen C-Dur-Symphonie von Franz Schubert
Abbildung 78: Ausschnitt (T. 61–73) des Finalthemas aus dem Schlusssatz der Ersten Symphonie von Johannes Brahms
674
Dabei handelt es sich um die von Mahler vorgegebene Spielanweisung in der Partitur. Vgl. Floros III, S. 85 f. 676 NBL, S. 56. 677 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 155 f. 678 Ebd. 679 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 297. 680 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 48. Ferner spielt das besagte Lied thematisch in der Akademischen Festouvertüre Op. 80 (T. 63 ff.) und im Finalsatz (Allegro molto) der CelloSonate Op. 99 von Johannes Brahms eine wichtige Rolle. 675
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 79: Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand von Hans Ferdinand Maßmann
Es ist allerdings wahrscheinlich, dass es sich hierbei weder um ein Zitat noch um ein parodistisches Verfahren Mahlers handelt. 681 Vielmehr besteht der Reiz des WeckrufThemas darin, dass es den „Schein des [musikalisch] schon Dagewesenen“ 682 erweckt und dass es in einer Art kompositorischem Rohzustand daherkommt: 683
Abbildung 80: Analytische Partiturreduktion des Weckruf-Themas (T. 1–11)
Das Weckruf-Thema weist weder eine Phrasierung – jeder einzelne Ton wird akzentuiert – noch eine traditionell typische symmetrische periodische Anlage auf. 684 Zudem entbehrt es einer traditionellen Kopplung von Satzbau und Harmonik. 685 Die Melodie wirkt „gleichsam unfertig“ 686, auch in dem Sinne, dass eine melodische Entfaltung insgesamt unterbunden wird. Dies wird besonders am Spitzenton b deutlich, denn er wirkt weniger wie ein ausgebildeter Höhepunkt, sondern vielmehr wie eine Barriere, die
681
Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 49. Ebd. 683 Mehrdeutige Töne, auf die noch einzugehen ist, erscheinen in der Notengraphik umrahmt. 684 Vgl. ebd. S. 47 f. Strukturierend wirken allerdings die eingestreuten Pausen. 685 Vgl. ebd., S. 48 f. 686 Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 296. 682
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Analytischer Hauptteil sich auch nach insgesamt drei Anläufen nicht überwinden lässt. 687 Ferner herrscht in der Mahlerforschung weitgehend ein Konsens darüber, dass das Weckruf-Thema „von einer harmonischen Instabilität [. . . ] unterminiert“ 688 wird. In engem Zusammenhang steht damit die prinzipielle Frage nach der Tonalität des Werkanfangs. 689 Festzustellen ist zunächst einmal ein modaler Grundcharakter, der sich an der ausgeprägten Diatonik bei gleichzeitigem kompletten Fehlen eines kadenziellen Gerüsts zeigt. Von entscheidender Bedeutung für die Grundtonwahrnehmung innerhalb der Diatonik sind wieder einmal die Quart- und Quintintervalle, die mit ihrer innewohnenden Grundtonkraft temporär für Klärung sorgen. Die ersten eineinhalb Takte sind demnach am ehesten in d-Aeolisch zu verorten. 690 Mit dem Erklingen der Quartintervalle b-f und f-b verschiebt sich dann allerdings bereits im zweiten Takt die Wahrnehmung hin zum Grundton b, mit lydischer Färbung. Harmonisch liegt eine I-VI-Progression vor. Die zweite Hörnerphrase mündet in den mehrdeutigen Ton a. In b-Lydisch ist er als Leitton zu deuten. Misst man hingegen dem Quintintervall e-a, das sich aus der abwärts gerichteten Melodik herauskristallisiert, das Primat bei, ist der Ton a als Grundton in a-Phrygisch aufzufassen. Weder eine b-lydische noch eine a-phrygische Richtung wird danach allerdings eingeschlagen. Stattdessen kehrt Mahler nach d-Aeolisch zurück, so dass der Ton a nachträglich als V. Stufe zu interpretieren wäre. Der Quintzug d-a in T. 5 f. deutet auf eine Stabilisierung des Modus d-Aeolisch vom Anfang, sie wird aber durch den scharf akzentuierten Fundamentschritt e-a in Streichern, Bläsern und Schlagwerk vereitelt, welcher, gleichsam als Relikt einer Kadenz, für einen sofortigen Grundtonwechsel hin zum Ton a sorgt. 691 Unterhalb der sich festfahrenden Hörnermelodik verschieben sich die Akzente dann stufig versetzt. Der letzte Akzent, die Quinte f-b, sorgt nicht nur für eine Verschiebung der Grundtonwahrnehmung zurück zum Ton b, sondern zudem für eine „kurzfristige[. . . ] Übereinstimmung beider Ebenen“ 692; anders ausgedrückt
687
Vgl. ebd. Die Überwindung der melodischen Barriere wird erst in der Reprise gelingen. Ebd. 689 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 61 f. 690 Friedhelm Krummacher deutet die Passage in d-Dorisch, wobei der Ton b einen Fremdkörper repräsentiert (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 61). Diese Auffassung wird nicht geteilt, da es keinen plausiblen Grund gibt, von einem ‚beschädigten‘ d-Dorisch zu sprechen. 691 Friedhelm Krummacher deutet den betreffenden Fundamentschritt e-a als Kadenz in a-Moll (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 61). Diese Einschätzung wird vom Autor der vorliegenden Arbeit nur bedingt geteilt. Gegen eine Deutung als traditionelle Kadenz spricht, dass es sich hierbei um keine harmonische, sondern um eine melodische Progression, sprich um eine Bassklausel handelt. An dieser Stelle sei auf die im terminologischen Kapitel dahingehend vorgenommene Differenzierung verwiesen. 692 Ebd. Die Interaktion zweier Ebenen wird im weiteren Satzverlauf noch eine überragende Rolle bei der Erzeugung temporärer tonaler Schwebezustände spielen und die Musik bis an die Grenze zur Bitonalität führen. 688
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie zielen erstmals die Hörner und das Tutti auf einen gemeinsamen Grundton. 693 Die absteigende Melodielinie der Hörner mündet schließlich in den abermals mehrdeutigen Ton a. Ausgehend vom Grundton b wäre er als Leitton in B-Dur zu deuten. 694 Fokussiert man jedoch die Eckpunkte der T. 1 bis 11,2 – also Anfang und Ende des Weckruf-Themas –, dann ist der Ton a eine V. Stufe zunächst in d-Aeolisch, dann – der Modifikation des Tons e zum Ton es geschuldet – in d-Phrygisch. Bei im Kern gleichbleibender Diatonik werden nacheinander also mehrere unterschiedliche tonale Zentren (d, b und a) angesteuert, wodurch eine eindeutige Grundtonbestimmung unmöglich ist. Der Schlusston hält die Tonalität nicht nur in der Schwebe, sondern erweist sich zudem als syntaktisches Bindeglied zwischen dem Weckruf-Thema und den nachfolgenden „mystische[n] Baßharmonien“ 695, ab der zweiten Takthälfte von T. 11. Harmonisch basieren sie auf zwei VI-I-Progressionen: Die erste, bestehend aus den Dreiklängen F-Dur und a-Moll, weist nach a-Moll, die zweite, bestehend aus den Dreiklängen fis-Moll und A-Dur, nach A-Dur. 696 Die mystischen Baßharmonien gehorchen dabei einer achsentönigen Logik: Das a fungiert als Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Harmonien. 697 Der Achsenton a wird als Grundton wahrgenommen, wenngleich sein tonales Umfeld sich einer eindeutigen Bestimmung entzieht: 698
Abbildung 81: Mystische Baßharmonien (T. 11–14)
Betont unheimlich wirkt die Passage aufgrund ihrer Platzierung in das dunkle und undurchsichtige Bassregister. Zum mysteriösen, gezielt ‚zwielichtigen‘ Klangbild tragen zusätzlich die dynamische Zurücknahme und der beigemischte Geräuschanteil eines flüsterleisen Wirbels auf der Großen Trommel und einiger Tamtam-Schläge bei. Nahtlos schließt sich in T. 15 ff. eine tendenziell „modale Akkordfolge“ 699 an. Gleich zu 693
Die Interaktion zweier Ebenen wird im Verlauf des Kopfsatzes für die Erzeugung modaler / tonaler Schwebezustände eine wichtige Rolle spielen. 694 B-Dur stellt sich durch die Modifikation des Tons e zu es ein. 695 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 114. Eine Abbildung der mystischen Baßharmonien, wie sie auch nachfolgend bezeichnet werden, findet sich in der Übersicht über die wichtigsten Motive und Themen am Ende der Untersuchung. 696 Dabei entstehen zweimal Medianten ersten Grades (F-Dur zu a-Moll und fis-Moll zu A-Dur) und einmal eine Mediante zweiten Grades (a-Moll zu fis-Moll). 697 Es scheint somit angemessen, von einer ‚Achsentonharmonik‘ zu sprechen. 698 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 61. 699 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 298.
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Analytischer Hauptteil Beginn neutralisiert Mahler das Tongeschlecht durch Eliminierung der Akkordterz (cis). Es sei angemerkt, dass die Erinnerung an diesen Ton cis nicht abrupt verschwindet; sie verblasst. Der Quint-Oktav-Klang a-e-a nimmt innerhalb der Akkordfolge zudem insofern eine Sonderstellung ein, als er regelmäßig alle zwei Klänge wiederkehrt und damit als eine Art Achsen-Akkord fungiert. Der Ton a bleibt also eindeutig der Grundton. Doch so deutlich dieser wahrzunehmen ist, so vage bleibt auch hier sein Umfeld: Bezieht man den gleich zu Beginn eliminierten Ton cis vorerst noch mit ein, so weist die Akkordfolge zunächst einen a-mixolydischen Tonvorrat auf, mit dem Erklingen des C-Dur-Dreiklangs wird dann aber eine tendenziell a-dorische Richtung eingeschlagen:
Abbildung 82: Mystische Baßharmonien (T. 14–23)
Schließlich sind es die tonhöhenlosen Schläge der Großen Trommel, die ab T. 23 endgültig für Unbestimmtheit sorgen 700 und gewissermaßen alles auf Anfang setzen; pointiert ausgedrückt könnte Mahler nun in jeder beliebigen Tonart fortfahren. Gleichzeitig antizipieren die Marschrhythmen der Großen Trommel den Trauermasch des folgenden Abschnitts; innerhalb des Kopfsatzes der Dritten kommt dem Schlagwerk oftmals die Aufgabe zu, formale Zäsuren zu markieren. 701 Wenngleich es sich bei den T. 11–23 zweifellos um einen kontrastierenden musikalischen Gedanken zum Weckruf handelt, der darüber hinaus die harmonische Grundlage des vierten Satzes der Dritten bildet, wäre es doch zu weit gegriffen, ihnen den Stellenwert eines Themas einzuräumen. 702 Die von Mahler intendierte Grundtonart d-Moll ist zu Satzbeginn aufgrund der vorherrschenden tonalen Ambivalenz kaum auszumachen, so dass insgesamt keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der vorherrschenden Tonalität gegeben werden kann. Zusätzlich zur tonalen Uneindeutigkeit trägt die thematische Komponente maßgeblich zum doppelbödigen Charakter der Introduktion bei, denn das eingangs „Entschieden“ als Hauptthema daherkommende Weckruf-Thema fällt bereits nach kurzer Zeit gewissermaßen unvollendet in sich zusammen, wodurch es schwerfällt, diesem den Stellenwert des Hauptthemas einzuräumen. Vielmehr entbehrt die Einleitung einer konkreten thematischen Formulierung. 703 Vordergründig zeichnen sich die T. 1–23 700 701 702 703
Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 62. Vgl. Stenger, Ambivalenz, S. 61. Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 298. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 62.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie durch eine kleingliedrige Faktur aus. Auf einer mittleren harmonischen Ebene lassen sie sich allerdings unter einer elementaren I-V-Progression subsumieren, worin sich gleichzeitig die zweiteilige Anlage abbildet: Der erste Abschnitt basiert insgesamt auf dem Grundton d, der zweite Abschnitt auf dem Grundton a, wobei kein funktionsharmonischer Zusammenhang zwischen beiden besteht. Die eingangs gestellte Frage, inwieweit zusätzlich zum programmatischen ein kompositionstechnischer Zusammenhang zwischen den Einleitungen der Kopfsätze der Ersten und Dritten besteht, kann insofern positiv beantwortet werden, als beiden ihr ambivalenter Charakter gemein ist. Claudia Maurer-Zenck hat darauf hingewiesen, dass der Kopfsatz der Dritten in der Mahlerforschung (in Anlehnung an Mahlers programmatische Grundidee) größtenteils als eine sukzessive Entwicklung bzw. als ein allmähliches Werden charakterisiert wird, und dies, obwohl der Satzverlauf, wie die vorliegende Untersuchung bereits bestätigt hat und im weiteren Verlauf noch bestätigen wird, immer wieder von einem Scheitern geprägt ist. 704 Allerdings schließen sich ein allmähliches Werden und ein temporäres Scheitern in keiner Weise aus. Vielmehr würde eine stringente lineare Entwicklung der von Mahler intendierten ‚natürlichen‘ sogar entgegenstehen.
Exposition (T. 27–368) Die Exposition weist eine zweiteilige Anlage auf. Hierfür werden die von Claudia Maurer-Zenck vorgeschlagenen Bezeichnungen „erste und zweite Entwicklungspartie“ übernommen. 705 Erste Entwicklungspartie (T. 27–163): „Schwer und dumpf“ 706 setzt sich ein Trauermarsch in Bewegung, „der sich im Rückblick nun eher als eigentlicher Hauptsatz ausnimmt“ 707. Dabei kann sogar von einem Trauermarschkomplex gesprochen werden, da er sich aus mehreren heterogenen motivischen Bausteinen zusammensetzt: Zu den marschrhythmischen Figuren in den Posaunen, der Tuba und dem Schlagwerk gesellen sich mehrere kurzatmige Einwürfe, wozu die „knapp auftaktige[n] Formeln der Fagotte [. . . ] mit Trillern“ 708 und die Ausrufe in den Holzbläsern und kurze Zeit später in den Hörnern zählen. 709 Eingebettet sind sämtliche motivische Bausteine in einem d-Moll-Feld, das modale Eigenschaften
704
Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 295. Vgl. ebd., S. 306 f. Inwieweit diese die Kriterien einer traditionellen Exposition erfüllen, muss die Analyse zeigen. 706 „Schwer und dumpf.“ lautet die von Mahler vorgeschriebene Spielanweisung. 707 Krummacher, III. Symphonie, S. 63. 708 Ebd. 709 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 150. Diese Ausrufe erinnern stark an diejenigen der Oboen in T. 15 f. in der Einleitung des Kopfsatzes der Ersten. Die genannten TrauermarschPartikel finden sich in der Übersicht über die wichtigsten Motive und Themen. 705
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Analytischer Hauptteil besitzt, durch den repetierten d-Moll-Dreiklang artikuliert wird und zunächst mit einem fünftönigen Tonvorrat auskommt. 710 Beim ersten Auftreten des Leittons cis in T. 31 kann von einem regelrecht inszenierten Auftritt gesprochen werden. Er sticht überdeutlich hervor und wirkt trotz seiner tonalen Zugehörigkeit beinahe wie ein Fremdkörper im diatonischen Umfeld, wofür mehrere Faktoren sorgen: erstens die penetrante nasale Klangfarbe der gedämpften Trompete, die zudem dynamisch exponiert ist, und zweitens die Überlänge des dissonanten Leittons. 711 Seine frappanten klanglichen Eigenschaften stehen einer stabilisierenden tonalen Wirkung entgegen. 712 Mit dem „wild“ 713 hochschnellenden Lauf der Celli und Kontrabässe wird ab T. 38 dann ein neuer motivischer Baustein in das Feld eingefügt, ein leittonloser Gegenentwurf zur leittönigen Trompetenfanfare. 714 Er hebt ebenfalls dynamisch exponiert im dreifachen forte an, was eine klangliche Balance zur Trompetenfanfare schafft. Entscheidend ist jedoch, dass der erreichte Spitzenton c, die d-aeolische VII. Stufe, quer zur leittönigen VII. Stufe cis steht. An dieser Stelle könnte demnach umgekehrt von einer Inszenierung der Leittonlosigkeit gesprochen werden. 715 Mahler nutzt die soeben beschriebenen dynamischen Spitzen nebst wechselnder Färbung der VII. Tonleiterstufe dazu, das ansonsten stabile d-mollare Feld immer wieder modal ‚aufzurauhen‘. Vom Spitzenton c aus sinkt die Basslinie sogleich stufig nach unten ab und mündet in den Ton a. Dem darauf errichteten Quartsextakkord ist ein Signalcharakter nicht gänzlich abzusprechen: Als traditionelle Dominante mit Quartsextvorhalt schürt er die Erwartung einer Auflösung, die jedoch unerfüllt bleibt. 716 Stattdessen friert Mahler den Klang ein, bis sich nach und nach wieder Stabilität einstellt. Im Vergleich zur rhythmisch und melodisch klar konturierten, jedoch tonal ambivalenten Introduktion verhält sich der bisherige Verlauf des Trauermarsches tonal weitgehend klar, gelangt allerdings insgesamt zu keiner „geschlossenen melodischen Formulierung“ 717, wofür das mosaikartige motivische 710
Die Tonart wird nicht kadenziell, sondern primär durch die Liegetonkonstellationen und durch den diatonischen Tonvorrat konstituiert. 711 In der Mahlerforschung ist ein Zusammenhang zwischen der besagten Fanfarenfigur der Trompete und derjenigen der Klarinetten und Hörner im Finalsatz der Sechsten Symphonie (drei Takte nach Ziffer 104) hergestellt worden (vgl. Adorno, Physiognomik, S. 115). 712 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 63. 713 So lautet Mahlers Spielanweisung. 714 Eine Abbildung des hochschnellenden Basslaufs, wie er auch nachfolgend bezeichnet wird, findet sich in der Übersicht über die wichtigsten Motive und Themen. 715 Paul Bekker deutet den Lauf der tiefen Streicher gar als „Symbol abwehrenden Trotzes gegen die von oben her androhende Entwicklung: Motiv des Widerspruches“ (Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 114). Daraus lässt sich wiederum schließen, dass zumindest an dieser Stelle Leittönigkeit für Entwicklung und Leittonlosigkeit für Stagnation stehen könnten. 716 Wenngleich eine akkordische Momentaufnahme durchaus möglich ist, sind sowohl der Quartsextakkord als auch die ihm vorangehenden Klänge, der d-Moll-Sekundakkord (c-d-f-a) und der große B-Dur-Septakkord (b-d-f-a), dem großflächigen harmonischen Kontext unterzuordnen und weniger als eigenständige Harmonien zu verstehen. 717 Krummacher, III. Symphonie, S. 63.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Verfahren und nicht zuletzt die beschriebenen tonalen Irritationen sorgen. Hierzu sei angemerkt, dass sich sowohl die lose Fügung heterogener motivischer Elemente als auch das unabgeschlossene und weniger zielgerichtete Moment des Trauermarsches unter dem Feldbegriff von Theodor Schmitt subsumieren lassen. 718 Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht an einem kurzen Ausschnitt des Feldes die dargelegten Untersuchungsergebnisse:
Abbildung 83: Gegenüberstellung von Leittonlosigkeit und Leittönigkeit (T. 45–51)
Der hochschnellende Lauf der tiefen Streicher dringt in T. 53 schließlich erstmals bis zum Grundton d durch, doch diese Stabilisierung wird sofort wieder jäh zunichtegemacht durch den ersten echten Eingriff in die Diatonik. Hierfür nutzt Mahler die gleiche dreiteilige harmonische I-V-I-Formel samt plötzlicher dynamischer Intensivierung wie bereits in den Kopfsätzen der Ersten (T. 37 ff.) und Zweiten (T. 35 ff.). Und hier wie dort ist eine Interpretation des ersten Glieds – in diesem Fall der kleine D-DurSeptnonakkord, der zwar durch seine Alterationen den diatonischen Rahmen sprengt, jedoch faktisch nicht aus der Tonart herausführt 719 – als Dur-Tonika-Septnonakkord, als eine manipulierte Tonika, die aufgrund ihrer chromatischen Schärfung temporär eine Irritation der d-Moll-Tonalität verursacht, derjenigen einer Elision, 720 die im kompositorischen Kontext kaum Aussagekraft besitzt, vorzuziehen. Der besondere Reiz aller
718
Vgl. Schmitt, Der langsame Symphoniesatz, S. 34. Deshalb wird auch die Einschätzung Friedhelm Krummachers, dass eine „Rückmodulation“ (Krummacher, III. Symphonie, S. 63) nach d-Moll erfolgt, nicht geteilt. 720 Vgl. Fürbeth, Ton und Struktur, S. 156. Die Deutung als Elision beruht darauf, dass der kleine D-Dur-Septnonakkord funktionale Eigenschaften innehat und als Dominante nach g-Moll zielt. Anstelle der erwarteten g-Moll-Tonika ertönt jedoch im Anschluss der nach d-Moll weisende Dominantseptnonakkord a-cis-e-g-b. 719
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Analytischer Hauptteil drei Passagen besteht darin, dass es Mahler gelingt, einen traditionell dominantisch konnotierten Klang hinsichtlich seiner Funktion gewissermaßen ins Gegenteil zu verkehren. Nachfolgend werden beide Interpretationen anhand von Graphiken gegenübergestellt.
Abbildung 84: Harmonische Reduktion der T. 53–63 nebst Deutung auf Basis einer Elision
Abbildung 85: Harmonische Reduktion der T. 53–63 nebst Deutung auf Basis der Grundtonfortschreitung
Hervorstechend ist ferner die schiere Länge des Dominantseptnonakkords. Mahler verharrt auf diesem für ganze neun Takte, wodurch der Dominantklang seinerseits eine feldähnliche Qualität erlangt. Dies führt so weit, dass sich mit zunehmender Dauer eine Art Gewöhnungseffekt des Gehörs einstellt und das Bedürfnis nach einer tonikalen Auflösung mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Letztere ereignet sich dann schließlich in T. 63, zugleich die erste echte Kadenz im Satzverlauf. Allerdings wird diese in Mitleidenschaft gezogen, indem der Grundton d sowohl leittönig als auch leittonlos erreicht wird. Alternierten in den Takten zuvor Leittönigkeit und Leittonlosigkeit, lässt Mahler die Töne cis und c nun genau in diesem ersten echten kadenziellen Augenblick miteinander kollidieren, wodurch sich d-Moll als Tonalität auch weiterhin nicht endgültig stabilisieren kann: 721
721
Die Kollision ereignet sich zwischen den tremolierenden zweiten Violinen und Violen und dem wilden Melodielauf der tiefen Streicher.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 86: Irritation der ersten echten Kadenz (T. 62 f.)
An die charakteristische I-V-I-Formel ist eine melodische Entwicklung geknüpft. Nachdem beim Erklingen des Dur-Tonika-Septnonakkords beinahe melodischer Stillstand herrschte, präsentiert Mahler in den melodieführenden Hörnern zunächst mehrere kurzatmige Einwürfe (T. 57 ff.), die dann zu einem erstmaligen größeren melodischen Bogen geformt werden. Dieser ist an das Erklingen der d-Moll-Tonika (T. 63) gekoppelt und beruht größtenteils auf dem chromatischen Durchschreiten des Quintraums (a-d). 722 Nach Constantin Floros liegt dieser Passage ein für Mahler typischer Charakter, ein „instrumentales Rezitativ mit anschließendem Arioso“ 723, zu Grunde. Ebenso lassen sich, mit Friedhelm Krummacher und Claudia Maurer-Zenck, Bezüge zum Weckruf-Thema herstellen. 724 Die Violinen und Violen zeichnen die melodische Kontur der Hörner grob nach und liefern im Zusammenspiel mit den tiefen Streichern und den Fagotten gleichzeitig das harmonische Gerüst der T. 65 ff., das im Kern auf der Progression von Tonika und Dominante beruht. Darin eingebunden ist die transitorisch wirkende Doppeldominante, die wie die Dominante in Gestalt eines verminderten Septakkords auftritt. Die daraus resultierende gesteigerte Chromatik erfüllt dabei eine farbliche und weiter intensivierende Funktion. 725 Erwähnenswert sind nicht zuletzt die kurzzeitige Dur-Aufhellung der Molltonika und das phrygische Moment (der Ton es) am Ende von T. 68. Die exakte harmonische Ausgestaltung der betreffenden Takte wird durch die nachstehende Notengraphik veranschaulicht:
722
Das Durchschreiten von Tetra- und Pentachorden konnte inzwischen mehrfach beobachtet werden (insbesondere im Kopfsatz der Zweiten), so dass dieses als eine für Mahler charakteristische melodische Formel gelten kann. 723 Vgl. Floros III, S. 86. 724 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 64 und Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 306. 725 Sicherlich können der chromatisch absteigenden Melodielinie, die im Stile eines „passus duriusculus“ daherkommt, und der charakteristischen Verschiebung von verminderten Septakkorden (vgl. Kühn, Analyse lernen, S. 73 f.) ihre topische Wirkung nicht gänzlich abgesprochen werden, allerdings ist die Chromatik im vorliegenden Zusammenhang, wie bereits angedeutet wurde, eher als Gegenpol zur vorangehenden prägenden Diatonik bzw. als farbliche Intensivierung zu interpretieren.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 87: Kadenziell ausharmonisierter chromatisch absteigender Pentachord (T. 65–69)
Die aufgestaute dominantische Energie kann sich in Folge abermals nur bedingt entladen, denn auch in T. 68 f. greift Mahler in die Kadenz ein. Es erweist sich als nützlich, hier von zwei interagierenden Ebenen auszugehen, einer Bassebene und einer darüber liegenden Ebene. Dabei zeigt sich, dass eine Auflösung zur Tonika lediglich in der oberen Ebene vollzogen wird und dass die Bassebene dazu quersteht. Der nachfolgende melodische Verlauf der oberen Ebene lässt sich als ein Umkreisen des Grundtons d beschreiben. 726 Die melodieführenden Hörner werden von den Liegetönen (d und f) in den Violen abgestützt, wobei auf die Akkordquinte a und somit auf die Ausbildung eines vollständigen d-Moll-Dreiklangs explizit verzichtet wird, so dass auch dort ein Rest an Unbestimmtheit gewahrt bleibt. Dadurch kann sich die von der Bassebene ausgehende irritierende Wirkung auf die Tonika voll entfalten. Besonders die zweifach exponierte vorhaltsartige Wendung (c-h) rückt die Tonika in ein dissonantes Licht und verzerrt sie beinahe bis zur Unkenntlichkeit. 727 Mit dem Erreichen der VI. Stufe, dem Ton b, wird dann bereits in vertrauteres Terrain zurückgekehrt, ehe die akkordeigenen Töne a, f und d für weitere Klarheit sorgen:
726
Insgesamt geschieht dies auf drei unterschiedliche Arten: diatonisch (e-d), phrygisch (es-d) und leittönig (cis-d). 727 Die Akkorde, die auf den Basstönen c und h gebildet werden, – gemeint sind der Sekundakkord (c-d-f) und der verminderte Dreiklang (h-d-f) – sind weniger als eigenständige Harmonien, sondern im übergeordneten d-Moll-Kontext transitorisch zu deuten, so wie es bereits in T. 39 f. der Fall gewesen ist.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 88: Inszenierung der d-Moll-Tonika in T. 69–80
Bei T. 69–77 handelt es sich somit um eine prolongierte und gleichzeitig inszenierte Tonika, deren Inszenierung darin besteht, dass sie sich mit zunehmender Dauer entzerrt und stabilisiert. Dieser Prozess weist eine eigene Dramaturgie auf, die sich als Spannungsabbau von dissonanteren zu konsonanteren Klangwirkungen beschreiben lässt. Im Augenblick größtmöglicher Stabilität, dem Erreichen des Grundtons d in der Bassstimme, fährt dann allerdings die Trompetenfanfare mit ihrem inszenierten Leitton dazwischen und sorgt dafür, dass wieder einmal keine gänzliche tonikale Beruhigung statthaben kann; weiterhin brodelt es unter der d-Moll-Oberfläche. Dazu gesellt sich ein weiterer Vorhalt in den Holzbläsern und den zweiten Violinen, ein lang ausgehaltener Sextvorhalt, der erst nach nochmaligem Erschallen der markanten Trompetenfanfare zur Quinte a zurückkehrt. In T. 80 ff. erklingt eine für Mahler typische melodische Formel: ein chromatischer Abstieg (d-gis), der von den Streichern tremolierend ausgeführt wird. Auf dem Endpunkt des Abstiegs, dem leittönig zur Quinte wirkenden Ton gis, bleiben die Violen schließlich hängen. Währenddessen erklingt ein weiteres Mal die markante Fanfare, nun jedoch um eine Oktave nach unten versetzt und klangfarblich variiert. 728 Zudem kann die Fanfare nicht mehr wie zuvor zum Grundton d durchdringen, sondern bleibt auf dem Leitton cis hängen. Nach der knapp sechzig Takte andauernden Vorherrschaft der d-Moll-Tonalität erfolgt in T. 83 die erste echte tonale Überraschung. Völlig unerwartet hebt dort die erste Trompete in c-Moll an; 729 als Detail sei erwähnt, dass die Melodiephrase in modifizierter Gestalt im 4. Satz der Dritten (T. 101 ff.) wieder ertönt. 730 Die Wendung nach c-Moll wirkt auch deshalb überraschend, weil die Leittöne cis und gis in den Hörnern, Holzbläsern und Violen anstelle der erwarteten Auflösung in den Grund- und Quintton von d-Moll genau in die entgegengesetzte Richtung chromatisch umgebogen werden, also zum Grund- und Quintton von c-Moll. Im selben Augenblick erklingt der hochschnellende Lauf der tiefen Streicher, der unbeeindruckt an seinem d-aeolischen Tonvorrat festhält und in den Ton d mündet: 728
Die Fanfare ist nun den gestopften Hörnern, Klarinetten und dem Englischhorn anvertraut, wodurch sie nicht mehr so penetrant wirkt. 729 Ein eindeutiges Indiz liefert die aufsteigende c-moll-melodische Tonleiter. 730 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 334.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 89: Chromatisch absteigender Tetra- bzw. Pentachord (T. 79–83)
Aus dieser Diskrepanz bzw. aus der Überlagerung der c-Moll-Oberstimmen und des Basstons d resultiert der Quartseptnonakkord d-g-c-es, der an dieser formalen Nahtstelle als tonales Scharnier fungiert, er nimmt im bisherigen Satzverlauf eine besondere dramaturgische Stellung ein, denn er markiert einen Wendepunkt, bei dem die bislang vorherrschende d-Moll-Tonalität erstmals verlassen und in einen neuen Grundton übergeblendet wird. In ihm spiegeln sich also sowohl d-Moll als auch c-Moll wider, und in beiden Tonalitäten nimmt sich der Akkord als eine deformierte, dissonant geschärfte Tonika aus. 731 Ähnlich wie in T. 53 spielt bei Mahlers Behandlung des Septnonakkords funktionale Logik eine untergeordnete Rolle. Vielmehr gelingt es dem Komponisten, diesem eine ganz eigene Mehrdeutigkeit abzugewinnen und ihn in eine andere Logik zu überführen. Zugleich mit dem Verstummen des Basstons d zwei Takte später (T. 85) sorgt ein Wechsel von Moll nach Dur, an den eine dynamische Zurücknahme geknüpft ist, für eine kurzzeitige Aufhellung. 732 Dann erfolgt eine Sequenz der c-Moll-Takte (T. 83–86) um eine kleine Terz aufwärts, so dass nun als Tonalität es-Moll vorherrscht. Daran schließt sich in T. 91 ff. „ein so unerwarteter wie konsequenter Ausbruch“ 733 an, der die Klimax des bisherigen Satzverlaufs repräsentiert: Die gebündelten dissonanten Klangwirkungen gepaart mit dem sägenden Glissando-Effekt suchen ihresgleichen. Melodisch werden T. 91 ff. durch die markante Trompetenfanfare geprägt. Erstmals im Satzverlauf und im Unterschied zu allen bisherigen Trompetenfanfaren wird nun der gebrochene Molldreiklang zu einem übermäßigen Dreiklang (ges-b-d) abgewandelt. Charakteristisch für die Harmonik ist die Ballung von verminderten Septakkorden
731
In d-Moll ist er Tonikaseptnonakkord mit kleiner None und Quartvorhalt, in c-Moll als Tonika mit deplatzierter None in der Bassstimme zu deuten. 732 Der dabei erklingende C-Dur-Septnonakkord (c-e-g-b-d) weist keinerlei dominantische Eigenschaften auf und ist (ähnlich wie der kleine Septnonakkord in T. 53) als Dur-TonikaSeptnonakkord (mit großer None) zu deuten. 733 Krummacher, III. Symphonie, S. 64.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie und kleinen Septnonakkorden sowohl vertikal als auch horizontal. 734 Obwohl der nun erklingende übermäßige Dreiklang harmonisch mehrdeutig ist, wird dennoch der Ton ges als Grundton wahrgenommen, was auf die Vorgeschichte der Trompetenfanfare innerhalb des Satzes zurückzuführen ist. Insgesamt kann von einer Omnipräsenz des Tons ges in den betreffenden Takten gesprochen werden: Sowohl die Melodik 735 als auch die Harmonik konzentrieren sich darauf. Der Reiz der Passage besteht darin, dass die Leitton-Grundton-Wendung f-ges bzw. der Ton ges in der Trompete immer wieder in ein anderes harmonisches Licht gerückt wird: Innerhalb des kleinen Septnonakkords d-ges / fis-c-es (T. 92) fungiert dieser als Akkordterz, innerhalb des kleinen Septnonakkords f-a-c-es-ges (T. 94) nimmt er die Rolle der kleinen None ein und schließlich tritt er innerhalb des H-Dur- bzw. des Ces-Dur-Dreiklangs als Quinte auf:
Abbildung 90: Erster harmonischer Höhepunkt (T. 90–99)
734
An den Taktschwerpunkten der Bassstimme kristallisiert sich horizontal ebenfalls ein verminderter Septakkord (as-d-as-f-h) heraus. 735 Neben den Trompeten visieren auch die Hörner den Zielton ges an.
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Analytischer Hauptteil Mit der Progression der letzten beiden Klänge, des kleinen Septnonakkords (f-a-c-es-ges) und des Ces-Dur-Dreiklangs, stellt sich eine trugschlüssige Wirkung ein und da sich ab T. 99 die eigentlich erwartete Tonika b-Moll nach und nach herausschält, kann der CesDur-Dreiklang darüber hinaus als Interpolation gedeutet werden. 736 Die soeben beschriebene Passage, die dem von Adorno beschworenen „Klima der absoluten Dissonanz“ 737 nahekommt, bildet den bisherigen Höhepunkt des Satzverlaufes. Bemerkenswert ist dabei, dass Mahler ihre klanglich frappante Wirkung mit traditionellen dissonanten Akkorden erzielt. Zweifellos stellen verminderte Septakkorde und kleine Septnonakkorde typische harmonische Mittel zur Höhepunktgestaltung bei Mahler im Allgemeinen dar, 738 allerdings greift diese bloße Feststellung hier zu kurz. Mahler nutzt diese Akkorde überwiegend entgegen ihrer traditionellen Funktion, bündelt ihre Kräfte auf engstem Raum und stellt sie in den Dienst der für ihn charakteristischen Achsentontechnik. Dadurch erhält die mehrfach ertönende Trompetenfanfare ihren besonders dissonanten Anstrich. Wenngleich sich in T. 91 ff. keine eindeutige Tonalität feststellen lässt, repräsentiert der Ton ges doch den Dreh- und Angelpunkt des musikalischen Geschehens. Und genau dies lässt den Schluss zu, dass der Terzstieg, der sich zuvor von c-Moll nach es-Moll ereignet hat, fortgesetzt wird, wobei die Stufe ges allerdings beinahe zur Unkenntlichkeit verzerrt ist. Dann erfolgt in T. 99 ein plötzlicher Register-Absturz, der den Großteil der involvierten Instrumente tangiert. 739 Während die tiefen Streicher, die Fagotte, die Posaunen und die Basstuba den Ton f erreichen, steuern die bis dahin melodieführenden Trompeten dessen große Septime e an. Noch im selben Takt knüpft Mahler an die kreisende Melodik der T. 57 ff. an und formt, abgestützt von den tremolierenden Streichern und Klarinetten, in den Hörnern eine variierte Fassung. 740 Wenngleich T. 99 ff. insgesamt in b-Moll zu verorten sind, ist die tonale Situation zu Beginn noch doppeldeutig: Sowohl b-Moll als auch f-Moll kommen in Frage. 741 Aus einer b-Moll-Perspektive würden die Töne b-des als Grund- und Terzton und der Basston f als Quintton fungieren. Einzig der Ton e stellte einen diatonischen Fremdkörper dar und wäre am ehesten als chromatische Nebennote der Quinte zu deuten. Bei einer Interpretation in f-Moll erklänge oberhalb des Basstons f, der nun den Grundton repräsentierte, ein verkürzter Dominantseptnonakkord (e-b-des), so dass es sich um einen tonikalen Orgelpunkt handelte. 742 Nicht kadenziell, sondern mittels Tonikalisierung, über die schiere Präsenz der Liegetöne b und des und des achsentonmelodischen Moments der Hörner um den Ton b herum kann sich nach 736
Vor einem b-Moll-Hintergrund ist er als Neapolitaner zu interpretieren. Adorno, Physiognomik, S. 74. 738 Zur Höhepunktgestaltung mittels verminderter und kleiner Septnonakkorde sei auf Constantin Floros (vgl. Floros II, S. 299) verwiesen. 739 Diese Stelle erfüllt im Übrigen die Kriterien eines „Sturzmotivs“ im Sinne von Constantin Floros (vgl. Floros II, S. 219–221). 740 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 298. 741 Dass „der Satz [an dieser Stelle] ruckweise erneut nach b-Moll und dann nach f-Moll zurück[fällt]“ (Krummacher, III. Symphonie, S. 64), ist nicht zutreffend. 742 Der zuvor in b-Moll ‚störende‘ Ton e hat nun Leittonfunktion inne. 737
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie der Beseitigung des Konflikts zwischen den Tönen f und e nach und nach b-Moll als Tonalität festigen. Endgültig klärend wirkt dann der hochschnellende Lauf der tiefen Streicher in Gestalt der melodischen Molltonleiter. Als weiterer Stabilisator fungiert der dabei abgesteckte V-I- bzw. Quart-Rahmen f-b. In T. 105 f. modifiziert Mahler dann den Streicherlauf, indem er eine b-dorische Farbe beimischt. Die enharmonische Umdeutung der Mollterz des zum Ton cis in T. 106 wird im b-Moll-Kontext zunächst nicht akustisch wahrgenommen. Erst durch die leittönige Weiterführung zum Ton d einen Takt später macht sie sich bemerkbar, wobei diese Aufhellung nach Dur für den weiteren Verlauf eine entscheidende tonale Weichenstellung darstellt. Zunächst aber ist die harmonische Situation trotz des nachfolgenden Laufs der tiefen Streicher, der mit seiner aufsteigenden B-Dur-Tonleiter in aller Deutlichkeit nach B-Dur zielt, insgesamt nicht eindeutig. Verantwortlich hierfür sind die beiden tonal mehrdeutigen Quintsextakkorde b-d-f-g und b-cis / des-f-g in T. 108 f.: Sie können sowohl subdominantisch in F-Dur / f-Moll als auch dominantisch in d-Moll interpretiert werden. Bei letzterer Deutung müssen die beiden Quintsextakkorde zu einer Harmonie zusammengefasst werden:
Abbildung 91: Doppeldeutige Quintsextakkorde (T. 108 f.)
Das Gesamtbild wird zusätzlich durch den chromatischen Abstieg über eine Oktave (b-b) in den tremolierenden tiefen Streichern, der einem chromatischen Farbfleck gleicht, verunklart: 743
Abbildung 92: Chromatisch absteigender Octachord (T. 108–110)
743
Inzwischen kann diese chromatische melodische Formel einschließlich ihrer primär farblichen Funktion als eine für Mahler typische bezeichnet werden.
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Analytischer Hauptteil Dann rekurriert Mahler in T. 110 ff. auf die achsentönige Grundidee der T. 91 ff. 744 Dabei wird die insgesamt dreimal ertönende Trompetenfanfare auf drei unterschiedliche Arten harmonisch eingekleidet: Zunächst fungiert ihr Zielton d als Terz des B-DurDreiklangs, dann als Quinte des kleinen g-Moll-Septakkords und schließlich als Septime des terzlosen großen Es-Dur-Septakkords. Diese Akkordfolge ergibt also einen Terzfall mit grundständigen Akkorden. Besonderes Augenmerk verdient das letzte Glied des Terzfalls nebst Fortführung (T. 114 ff.). Bevor in der Trompetenfanfare der Leitton cis zum d weitergeführt wird, erklingt ein übermäßiger Quintsextakkord (es-b-cis), der traditionell doppeldominantisch ist. Er weist nach g-Moll, demnach wären die T. 118 ff., die auf dem Quint-Oktav-Klang (d-a-d) beruhen, dominantisch zu deuten. Von g-Moll kann in den nachfolgenden Takten allerdings keine Rede sein. Vielmehr erfolgt eine Tonikalisierung des Quint-Oktav-Klangs. Unklar bleibt, ob es sich um D-Dur oder d-Moll handelt, und genau diese Neutralität hält die Grundtonalität bis zum Ende des Trauermarschabschnitts subtil in der Schwebe. 745 Der in T. 114 f. erklingende Akkord verhält sich somit doppeldeutig und kann sowohl als großer Es-Dur-Septakkord – dies betont den Terzfall mit grundständigen Akkorden – als auch als doppeldominantisch wirkender übermäßiger Quintsextakkord interpretiert werden, dessen Spannungstöne cis und es sich dann asynchron auflösen. 746
Abbildung 93: Wechselnde harmonische Beleuchtung der d-Moll-Trompetenfanfare mittels Terzfall (T. 110–127)
744
Die auftaktige Dreitonfigur g-a-b in den Hörnern liefert hierfür bereits ein klares Indiz. Die Tonikalisierung traditionell dominantisch konnotierter Klänge bzw. die Uminterpretation von Doppeldominante-Dominante-Wendungen an formalen Nahtstellen konnte inzwischen mehrfach sowohl im Kopfsatz der Ersten als auch insbesondere im Kopfsatz der Zweiten nachgewiesen werden. 746 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 64.
745
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Nach und nach wird die Instrumentation ausgedünnt, bis der leere Quint-Oktav-Klang schließlich vollständig verklungen ist. Beschlossen wird der Trauermarschabschnitt auf ähnliche Weise wie bereits die Introduktion, mit tonhöhenlosen Schlägen der Großen Trommel. Überblickt man den harmonischen Verlauf des Trauermarsches, so ist festzuhalten, dass bis T. 82 eine d-Moll-Tonalität vorherrscht. Diese erfährt allerdings Färbungen und Irritationen unterschiedlicher Art, die letztlich dazu dienen, die makrologische harmonische I. Stufe in einem Schwebezustand zu halten und ihr keine endgültige Stabilität zu verleihen. Bei der Ausgestaltung der Stufe lässt sich eine ähnliche Dramaturgie wie in T. 1–42 des Kopfsatzes der Zweiten beobachten: Der zunächst gesetzte modal-diatonische Schwerpunkt verschiebt sich nach und nach zu einem kadenziellen und erreicht seinen Höhepunkt schließlich in einer inszenierten Kadenz (T. 69 ff.). Eine tonale Wende scheint dann T. 83 zu bringen, da dort erstmals d-Moll verlassen wird. Mit den erschlossenen tonalen Bereichen c-Moll, es-Moll, b-Moll und der dazwischen erklingenden tonal uneindeutigen und inszenierten Stufe ges entfernt sich Mahler darüber hinaus über einen Zeitraum von mehr als dreißig Takten denkbar weit von d-Moll, um dann allerdings in T. 117 ff. doch wieder zu dieser Tonart zurückzukehren und damit einen Kreis zu schließen. Die genannten tonalen Stationen der T. 83–131 ergeben einen im Hintergrund strukturierend wirkenden Terzstieg c-es-ges-b-d:
Abbildung 94: Überblick über die Ausprägung der makrologischen harmonischen I. Stufe (T. 27–127)
In der tonalen Gesamtarchitektur des Satzes ist diese Ausweichung jedoch vernachlässigbar, was bedeutet, dass der gesamte Trauermarschabschnitt von T. 27–131 auf der makrologischen harmonischen I. Stufe basiert. Die in T. 83–109 erschlossenen tonalen Bereiche sind transitorisch zu deuten. In T. 132 ff. tritt ein „neues Klangbild“ 747 ein, das sich hinsichtlich seines Charakters deutlich vom vorangehenden Trauermarsch unterscheidet. Erreicht wird es mittels Rückung, wobei die sich über vier Takte erstreckenden tonhöhenlosen Schläge der
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Analytischer Hauptteil Großen Trommel (T. 128–131) den Tonalitätssprung von d-Moll / D-Dur nach B-Dur entscheidend abfedern. Wie bereits erwähnt wurde, versieht Mahler diese Stelle im Autograph mit dem Eintrag Pan schläft. In Anlehnung daran wird die Passage, die aus einem viertaktigen Vorspann und einer wiegenden Melodie in der Oboe (später in der Solo-Violine) besteht, nachfolgend als Schlaflied-Thema bezeichnet. 748 Die Vorspanntakte erinnern harmonisch an die mystischen Baßharmonien (T. 11–14), 749 was sich daran zeigt, dass auch diese einem achsentontechnischen Grundgedanken und im Kern der Progression von VI. und I. Stufe unterliegen. Präzise ausgedrückt, als I. Stufe und gleichzeitig als Achse fungiert der D-Dur-Dreiklang, der sowohl von der VI. Stufe seiner Varianttonart (B-Dur) als auch von seiner diatonischen VI. Stufe (h-Moll) umgeben ist. Das achsentontechnische Moment scheint zudem dafür zu sorgen, dass D-Dur trotz fehlender kadenzieller Basis als neue Tonalität wahrgenommen wird. Im Unterschied zum Satzbeginn ertönt die Akkordfolge nicht im Bassregister, sondern wird „in höchste Sphären versetzt“ 750 und zart instrumentiert. Der viertaktige Vorspann endet mit einer phrygischen Wendung, 751 die, als Halbschluss interpretiert, h-Moll als Tonart erwarten lässt. Mahler fährt jedoch nicht mit der erwarteten Tonika, sondern mit einem DesDur-Dreiklang fort. Ein weiteres Mal zeigt sich hier seine Vorliebe für Manipulationen halbschlüssiger Wendungen:
Abbildung 95: Phrygische Wendung nebst überraschender Weiterführung (T. 135 f.)
Trotz der Quintbeziehung bzw. syntaktischen Verbindung zwischen den Dreiklängen Fis-Dur und Des-Dur, die lediglich durch Enharmonik, die im Dienste einer vereinfachten Notation steht, kaschiert wird, 752 stehen beide Harmonien und somit auch 748
In der Mahlerforschung finden sich dafür auch noch andere Bezeichnungen, wie bspw. „‚Wanderlied‘-Thema“ (Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 299). 749 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 64 und Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 299. 750 Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 299. 751 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 64. 752 Somit kann Des-Dur als Cis-Dur bzw. Fis-Dur als Ges-Dur verstanden werden.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie beide Unterabschnitte eher disparat nebeneinander. Für diesen Klangeindruck sorgt nicht nur die manipulierte phrygische Wendung, sondern auch die im Anschluss sogleich vorgenommene Tonikalisierung von Des-Dur, die mittels Anpassung der Diatonik und melodischer Kräfte, auf die noch einzugehen ist, vollzogen wird. Des Weiteren markiert die unverbrauchte instrumentale Farbe der Oboe unmissverständlich den Beginn des Schlaflied-Themas. Die Melodie in der Oboe zeichnet sich durch eine kreisende Bewegung um den Ton des, später um den Ton d, und durch ihre achsentonmelodische Anlage aus: Als Achsen fungieren die Töne f und as. Nachgezeichnet wird die melodische Kontur der Oboe von Streichern und Holzbläsern in halben Notenwerten. 753 Nach zwei Takten erfolgt eine Sequenz um einen Ganztonschritt aufwärts, wobei aber die beiden Achsentöne hiervon ausgenommen sind. Tonal lassen sich T. 136–139 in zwei Bereiche untergliedern, die jeweils zwei Takte umfassen: Die ersten beiden Takte sind in DesDur zu verorten, die beiden Sequenztakte weisen hingegen nach Es-Dur. Zwar erklingt Es-Dur faktisch nicht, allerdings künden die beiden funktionalen Signalklänge – der verkürzte Dominantseptakkord mit Quartvorhalt in T. 137 und die Subdominante mit sixte ajoutée in der ersten Takthälfte von T. 138 – von dessen Eintritt. Die zweite Takthälfte, die den Übergang zum zweiten, in D-Dur zu verortenden Teil des SchlafliedThemas repräsentiert, verhält sich ambivalent und bedarf einer detaillierten Untersuchung. Der dort von Mahler notierte übermäßige Quintsextakkord as-h-d-fis ist aus der Es-Dur-Perspektive zunächst einmal als verkürzter Dominantseptnonakkord mit hochalterierter Quinte und Septime in der Bassstimme, also als as-ces-d-fis zu interpretieren. Man könnte ihn auch als halbverminderten Septakkord gis-h-d-fis bzw. als eine nach fis-Moll weisende Subdominante mit sixte ajoutée deuten. Weder die eine noch die andere tonale Richtung wird in T. 140 ff. eingeschlagen. Stattdessen wird mit Hilfe einer Mischung aus Tonzentralität und stufiger Bewegung abwärts überraschend ein D-Dur-Sextakkord erreicht: während die Töne d und fis präsent bleiben, 754 vollziehen die Töne h und as / gis einen Schritt abwärts. 755 Der h-Moll-Dreiklang, der in dem akkordischen Gebilde as / gis-h-d-fis enthalten ist, gestattet noch eine weitere Deutung: vor dem Hintergrund der den Satz prägenden VI-I-Progressionen kann die Progression von h-Moll nach D-Dur ebenfalls als eine solche interpretiert werden:
753
Als Farbnuance schimmern die Triller der Streicher auf (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 64). 754 Die beiden betreffenden Töne gehen von den Klarinetten beinahe unmerklich auf die Flöten über. 755 Eine ähnliche Stelle konnte bereits im Kopfsatz der Zweiten (T. 72–74) festgestellt werden.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 96: Harmonische Reduktion eines Abschnitts des Schlaflied-Themas (T. 136–140)
Wenngleich nahezu alle beteiligten Instrumente im Folgetakt verstummen und durch frische instrumentale Farben ersetzt werden, wird ein vollständiger Schnitt in der Instrumentation durch das erste Fagott vermieden. Aus der Notengraphik geht ferner hervor, dass der auftaktige Einsatz der Solo-Violine, die die Oboe als Melodieträger ablöst, den nächsten Unterabschnitt antizipiert und dabei mit dem Akkord der Holzbläser kollidiert. Die dissonante Reibung zwischen den Tönen a, h und as / gis 756 verstärkt zusätzlich die ambivalente Wirkung der Nahtstelle. Sie erinnert an eine filmische Überblendung von einer Szene in die andere. Zu Beginn der Episode der Solo-Violine kristallisiert sich auf den metrisch betonten Zählzeiten (T. 140 f.) eine für Mahler typische melodische Formel heraus, ein Terzfall mit charakteristischem Gegenschrittmodell: 757
Abbildung 97: Melodischer Terzfall mit charakteristischem Gegenschrittmodell in der Oberstimme (T. 139–141)
Die die Solo-Violine stützenden Akkorde in den Flöten und Streichern gehorchen weniger einer funktionalen als vielmehr einer modalen Logik. Diese äußert sich anhand typischer diatonischer Ajoutierungen, der ausschließlichen Verwendung der D-DurDiatonik und vor allem der Vermeidung klarer Kadenzen: sowohl der Dominante am
756
Eine ähnliche Stelle findet sich am Ende des ersten Satzes der Fünften Symphonie Mahlers, und zwar in T. 396 f. Harmonisch liegt dort eine Progression der Dreiklänge F-Dur und A-Dur vor. Markant ist dabei die auftaktige Trompetenfanfare, die mit ihrem repetierten Ton cis noch innerhalb des F-Dur-Taktes anhebt, was zu einer Kollision mit dem Quintton c führt. 757 Gemeint ist die Intervallfolge von fallender Quarte und steigender Sekunde bzw. die Abfolge der Töne d, a, h und fis.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Ende von T. 143 als auch den beiden Dominantseptakkorden in T. 146 f. wird eine Auflösung in die Tonika verwehrt. 758 Veranschaulichend wirkt die unten folgende Notengraphik. Vor dem Hintergrund der traditionellen Sonatensatzform kommt das SchlafliedThema als „Muster eines liedhaften [und zum Hauptsatz kontrastierenden] Seitensatzes romantischer Konvention“ 759 daher. Hinsichtlich seiner Taktgruppenstruktur könnte es kaum symmetrischer und ‚glatter‘ sein. 760 Doch tatsächlich erweckt das Thema lediglich den „Schein des Vertrauten“ 761, denn je tiefer man unter diese Oberfläche blickt, desto weniger lässt es sich fassen. Der klaren periodischen Gliederung steht eine undurchsichtige Harmonik gegenüber, die nicht Hand in Hand mit dem musikalischen Satzbau geht. 762 Die Frage nach der Tonalität des Schlaflied-Themas lässt sich zwar nicht eindeutig beantworten, allerdings setzt Mahler einen Schwerpunkt auf D-Dur und insgesamt dreht sich das harmonische Geschehen um den Grundton d. Vor allem die T. 136–139 sind nicht eigenständig zu deuten: Die beiden dort angerissenen tonalen Bereiche Des-Dur und Es-Dur liegen halbtönig um den Ton d herum und fungieren gleichsam als Umspielungen. Insgesamt beruht somit auch das Schlaflied-Thema auf der makrologischen harmonischen I. Stufe, so dass kein echter tonaler Kontrast zum Hauptsatz im traditionellen Sinn vorliegt. Letzteres ist nur schwer mit der traditionellen Sonatensatzform vereinbar und spricht gegen eine Deutung des Schlaflied-Themas als Seitensatz. Die Mahlerforschung hält sich hinsichtlich einer formalen und funktionalen Einordnung des Schlaflied-Themas entweder weitgehend bedeckt oder verfährt inkonsequent, so wie Friedhelm Krummacher, der zunächst von einem „scheinbaren Seitensatz“ 763 spricht, um später – das Schaflied-Thema wird in T. 225 ff. noch einmal aufgegriffen – doch vom eigentlichen „Seitensatz“ 764 zu sprechen. Einen der wenigen konkreten Interpretationsvorschläge liefert Paul Bekker. Er deutet das Schlaflied-Thema nicht als Kontrast, sondern als eine (aufgrund des Dur-Charakters) hell strahlende „Ergänzung“ 765 zum vorangegangenen Moll-Trauermarsch, was gleichzeitig eine Zusammengehörigkeit der beiden Abschnitte impliziert. Die nach wie vor vorherrschende makrologische harmonische I. Stufe stützt dabei Bekkers Interpretation. Das auspendelnde Schlaflied-Thema erfährt in T. 148 ein abruptes Ende durch urplötzlich intonierte grelle Signalklänge in den Klarinetten mit aufgerichtetem Schall758
Letzteren beiden folgt jeweils der Septakkord der IV. Stufe. Krummacher, III. Symphonie, S. 64. 760 Vgl. ebd. 761 Ebd. 762 Besonders deutlich wurde dies an allen formalen Nahtstellen bzw. an der Art und Weise, wie Mahler die viertaktigen Gruppen aufeinander folgen lässt: Klärende Kadenzen werden strikt vermieden und durch unkonventionelle syntaktisch abgeschwächte Verknüpfungen ersetzt. 763 Ebd. S. 65. 764 Ebd. S. 66. 765 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 116. 759
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Analytischer Hauptteil trichter im dreifachen forte; in Anlehnung an Constantin Floros soll diese markante Vorschlags- und Umspielungsfigur nachfolgend als Tusch bzw. als Tusch-Motiv bezeichnet werden. 766 Durch den Tusch wird dem Schlaflied-Thema eine abschließende konkrete Ausformulierung verwehrt. 767 Im Manuskript überschreibt Mahler diesen neuen Abschnitt mit „Der Herold“, was programmatisch als Verkündung der Ankunft des Sommers gedeutet werden kann. 768 Diese semantisch wichtige Stelle wird von Mahler durch das Zusammenwirken von Instrumentation und Harmonik inszeniert. Dieses zeigt sich daran, dass die ohnehin schon durchdringenden Klarinetten durch das Verstummen sämtlicher zuvor beteiligter Instrumente zusätzlich exponiert sind. Ferner ist mit dem Schnitt in der Instrumentation ein Bruch auf harmonischer Ebene verknüpft: An die bislang vorherrschende D-Dur-Tonalität wird in T. 148 ff. mittels Rückung Des-Dur parataktisch angehängt: 769
Abbildung 98: Rückung von D-Dur nach Des-Dur (T. 147 f.)
Zwar nutzte Mahler das harmonische Mittel der Rückung bereits dazu, das SchlafliedThema an den Trauermarsch anzuhängen, allerdings könnten die beiden Rückungen hinsichtlich ihrer Wirkung kaum unterschiedlicher sein: Während hier (T. 147 f.) DesDur unvermittelt auf D-Dur folgt, wurde die besondere Wirkung der Rückung, der überraschende Tonalitätssprung, in T. 127–132 durch die interpolierenden tonhöhenlosen Rhythmen der Großen Trommel entscheidend abgeschwächt. Binnen kürzester Zeit stürzt im Anschluss das Register vom grellen Klarinettenklang hinab in dumpfe Bassregionen. In den Violoncelli, dann in den Kontrabässen, erklingen treibende Sechzehntel-Figuren, die von Liegenoten und Marschquarten in Bläsern und 766
Vgl. Floros III, S. 86. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 65. 768 Ein Notenfaksimile der betreffenden Stelle hat dankenswerterweise Constantin Floros abgebildet (vgl. Floros I, S. 236). 769 Dies zeigt sich an der Tritonusrelation zwischen dem letzten Akkord des SchlafliedThemas, dem großen G-Dur-Septakkord, und dem nachfolgenden Des-Dur-Dreiklang. 767
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Pauken abgestützt werden. Das Zusammenspiel von Liegenoten, Marschquarten und der ausgeprägten Diatonik sorgt sowohl für eine rasche Tonikalisierung von Des-Dur als auch für die Artikulation eines modalen Feldes, das sich über die T. 150–158 erstreckt. Hervorzuheben sind die in T. 155 einsetzenden Dreiklangsfiguren in den Kontrabässen, die im weiteren Satzverlauf noch motivisch bedeutsam werden. Nachdem sich bereits kurz vor dem Ende des Feldes der Geräuschanteil aufgrund des tiefen Bassregisters deutlich erhöht hat, geht Mahler dann ähnlich wie in T. 23 ff. in das tonhöhenlose Schlagwerk über, das an „allen Nahtstellen der Form“ 770 zum Einsatz kommt. Hier wie dort hat dieses zudem die Aufgabe, für eine ‚Neutralisierung‘ zu sorgen und tonal gleichsam ‚alles auf Anfang‘ zu setzen. Auch in diesem Abschnitt findet sich keine konkrete melodische Formulierung und ähnlich wie beim Weckruf-Thema zu Satzbeginn verpuffen der anfängliche Impetus und die Aufbruchsstimmung rasch, so dass erneut nicht das gehalten wird, was die Signalklänge des Herolds versprachen: einen neuen konsistenten Abschnitt. Aus dem bisherigen Verlauf der ersten Entwicklungsphase, den die makrologische harmonische I. Stufe dominierte, stechen die Des-Dur-Takte zweifellos heraus. Mit diesen wird temporär neues tonales Terrain erschlossen und dabei äußert sich die Distanz zur Grundtonalität auch auf semantischer Ebene: Die Verkündung der Ankunft des Sommers erfolgt zu diesem Zeitpunkt noch aus einer größeren Entfernung. In der tonalen Architektur des Kopfsatzes hingegen wirken sie eher wie ein Seitenarm, der bereits nach kurzer Zeit wieder versiegt und demnach wiederum eine untergeordnete Rolle spielt. Zweite Entwicklungspartie (T. 164–368): Es erklingt eine variierte und auskomponierte „Wiederholung der [ersten] Entwicklungspartie“ 771. In der Mahlerforschung herrscht weitgehend ein Konsens darüber, dass es sich hierbei nicht um eine Verdopplung der Exposition, sondern um eine doppelte Entwicklung handelt. 772 Untermauert wird diese Einschätzung durch das Festhalten an der makrologischen harmonischen I. Stufe, denn dies spricht ebenfalls gegen die Deutung der T. 27–163 als eine Exposition, die sich traditionell durch den tonalen Kontrast von Haupt- und Seitensatz auszeichnet. Der Trauermarsch wirkt im Vergleich zu seinem Pendant (T. 27 ff.) nun deutlich kompakter. Mahler verzichtet auf einige der Motive und verfährt nicht mehr so bausteinartig wie zuvor. Insgesamt basiert der Abschnitt auf einem homophonen Grundgedanken: die Trauermarschrhythmen fungieren als Begleitung und als harmonischer Unterbau für die melodieführende erste Posaune, an der sich deutlich das rezitativische und wenig später das ariose Moment zeigt. 773 Hervorzuheben ist der Verzicht auf die markante Trompetenfanfare und den hochschnellenden Basslauf, denn damit wird dem zuvor prägenden Konflikt zwischen Leittönigkeit und Leittonlosigkeit aus dem
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Krummacher, III. Symphonie, S. 65. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 299. Vgl. ebd., S. 298. Vgl. Floros III, S. 86.
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Analytischer Hauptteil Weg gegangen. Der soeben beschriebene Verzicht auf die VII. Tonleiterstufe bedeutet aber auch, dass bis T. 172 lediglich mit sechs unterschiedlichen Tonhöhen bzw. mit einer d-Moll-Hexatonik operiert wird. War es zuvor das Alternieren von leittöniger und aeolischer Farbe, ist es nun die unvollständige Diatonik bzw. das Fehlen einer klärenden VII. Tonleiterstufe, was das Feld in der Schwebe hält. Dies zeigt sich sogleich am Septakkord a-e-g-a in T. 167 f., der sowohl als leittonloser Dominantseptakkord als auch als Umspielung des d-Moll-Grundakkords – die Töne e und g fungieren als obere Wechselnoten – interpretiert werden kann. Zusätzlich dazu wird das metrische Gefüge durch forcierte Taktwechsel verunklart. 774 Die T. 172 ff. stellen dann eine Variante der chromatisch durchtränkten und kadenziell geprägten T. 65 ff. dar und mit dieser erlangt das Feld nun eindeutig dominantischen Orgelpunktcharakter. 775 Der Komponist lässt sie jedoch nicht wie zuvor (T. 69 ff.) in die inszenierte Tonika, sondern in den Akkord a-d-e münden, der sich im d-Moll-Kontext als Dominante mit Quartvorhalt ausnimmt. Vor allem wird auf einen die Kadenz endgültig klärenden V-I-Fundamentschritt verzichtet; durch den beibehaltenen Basston a wird die dominantische Spannung des Feldes weiterhin aufrechterhalten. Statt den Quartvorhalt zum Leitton cis aufzulösen, wird er zur aeolischen VII. Stufe c abgesenkt, wodurch jegliche dominantische Wirkung zunichtegemacht wird; gleichzeitig schreitet der Quintton e zum Sextton f aufwärts. Beim in der zweiten Takthälfte von T. 177 ertönenden leeren Quint-Oktav-Klang a-e-a fällt ein Bezug zu d-Moll dann bereits schwer und schließlich kann sich der Grundton a manifestieren, womit man endgültig nicht mehr von einem dominantischen Orgelpunkt sprechen kann. Die Terzlosigkeit des Akkords ist insofern nicht unwichtig, als hypothetisch die Möglichkeit bestünde, mit Hilfe des Tons cis zurück in die Bahnen von d-Moll zu lenken:
Abbildung 99: Zerstörung des dominantischen Orgelpunkts (T. 175–180)
774
Gänzlich neu ist der Wechsel von 3/2- und 2/2-Takte nicht: Er konnte bereits in T. 99 ff. beobachtet werden. 775 Durch Diminution der Melodietöne a und gis werden die T. 65–67 auf zwei Takte gestaucht. Die Harmonisierung der chromatisch absteigenden Melodik bleibt im Kern gleich und unterscheidet sich lediglich marginal.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Während die melodieführende Posaune auf dem Ton a (T. 178 ff.) ausklingt, wird bruchlos in eine Variante der mystischen Baßharmonien, die nun in den Marschkontext eingefügt sind, übergegangen. Wie zu Satzbeginn schweben diese zwischen a-Moll und A-Dur. Nicht zuletzt basieren die T. 164–185, ähnlich wie der Satzbeginn, im Kern auf einer elementaren I-V-Progression. Eine isolierte Betrachtung der den nächsten Unterabschnitt eröffnenden auftaktigen melodischen Wendung der Posaune lässt aufgrund des Quintintervalls a-e den Schluss zu, dass in der A-Tonalität verweilt wird. Doch mit dem Einsatz der Trauermarschrhythmen wird der d-Moll-Kontext wiederhergestellt und der Ton e sogleich in ein anderes harmonisches Licht gerückt: Er dient nicht mehr als Quinton in a-Moll / A-Dur, sondern als Nonvorhalt in d-Moll. 776 Wie zu Beginn der zweiten Entwicklungspartie operiert Mahler lediglich mit einer d-Moll-Hexatonik, doch nutzt er diese nun auf andere Art und Weise: Das d-Moll-Feld wird nun vom Grundton d in der Bassstimme artikuliert und der darüber platzierte verminderte Dreiklang e-g-b verleiht diesem eine tendenziell subdominantische Färbung. 777 Gewissermaßen im allerletzten Moment (T. 192), also kurz vor Beginn des nächsten Unterabschnitts, tritt dann der Leitton cis in der ersten Posaune ein. Und erst dieser bzw. der daraus resultierende verkürzte Dominantseptnonakkord stellt einen eindeutigen funktionalen Zusammenhang her und gestattet eine Deutung der T. 185 ff. als tonikaler Orgelpunkt in d-Moll: 778
Abbildung 100: Tonikaler Orgelpunkt mit hinausgezögertem Leittoneinsatz (T. 189–194)
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Das gleiche Prinzip findet sich bereits im Weckruf-Thema, und zwar in den T. 5–6, nur umgekehrt von d zu a. 777 Der besagte verminderte Dreiklang kann als Mollsubdominante mit Sexte interpretiert werden. 778 Das Hinauszögern des klärenden Leittons bzw. der klärenden Dominantfunktion hat sich bereits im Kopfsatz der Zweiten beobachten lassen, und zwar vor allem bei der dominantischen Orgelpunkt-Episode in T. 89–97.
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Analytischer Hauptteil Eine tonikale Auflösung erfolgt in T. 194 allerdings nur bedingt. Zwar findet sie in den Oberstimmen statt, doch wechselt zugleich die Bassstimme vom Grund- auf den Quintton, wodurch der tonikale Orgelpunkt unmittelbar in einen dominantischen übergeht und echte tonikale Stabilität verwehrt bleibt. Insgesamt können die T. 194 ff. als eine weitere Variante der T. 65 ff. bzw. der T. 172 ff. gedeutet werden. Nach erfolgtem chromatischen Durchschreiten des Quintraums a-d 779 nebst im Kern kadenzieller Harmonisierung und melodischer Fortspinnung in der ersten Posaune oberhalb des nahezu omnipräsenten Liegetons a in der Bassstimme scheint eine Auflösung zur d-MollTonika zum Greifen nah. Doch genauso wie in T. 175 f. wird der Akkord a-d-e, der sich in d-Moll als Dominante mit Quartvorhalt ausnimmt, in T. 200 f. zum Sextakkord a-c-f umgebogen, so dass abermals eine Zerstörung des Orgelpunktfeldes droht:
Abbildung 101: Temporäre Irritation des dominantischen Orgelpunkts nebst inszenierter Kadenz (T. 200–209)
Der entscheidende Unterschied zu T. 175 ff. ist das plötzliche Erklingen der Tonika in der zweiten Takthälfte von T. 202. Dadurch sorgt der Sextakkord a-c-f lediglich für eine temporäre Irritation des Orgelpunkts, indem er die Dominante-Tonika-Progression interpoliert. Der Eintritt der Tonika wird von Mahler gleichsam inszeniert: Sie ertönt im strahlenden Dur-Gewand und wird dynamisch und instrumentatorisch exponiert. Nicht zufällig erfolgen die Manipulation der Dominante und die Inszenierung der Tonika im letztmöglichen Moment des Orgelpunktfeldes. Der kadenzielle Fortgang samt der Durchmischung von D-Dur und d-Moll – diese zeigt sich vor allem an den unterschiedlichen subdominantischen Ausprägungen (Dur-Subdominante in T. 205 und Neapolitaner in T. 206,3) – wird dann immer weiter vorangetrieben, ehe mit der Moll-Tonika in T. 209 ein Ziel- und Ruhepunkt erreicht zu sein scheint. Zeitgleich mit deren Erklingen fährt jedoch die markante Trompetenfanfare dazwischen, sorgt für Unruhe und verhindert letztlich tonikale Entspannung. Dabei bleibt die Fanfare von der Variantentechnik Mahlers ebenfalls nicht unberührt: Der Leitton cis wird nicht wie bisher zum Grundton d weitergeführt, sondern sinkt chromatisch zum Ton c ab. Damit wird das prägende Wechselspiel von Leittönigkeit und Leittonlosigkeit noch einmal sehr plastisch realisiert. Bei ihrem letztmaligen Erklingen innerhalb des Abschnitts (T. 212) scheint der Fanfare, die nun von Posaunen mit Dämpfer intoniert wird, die Kraft
779
Erstmals wird der besagte Quintraum gänzlich chromatisch durchschritten.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie auszugehen, da sie auf dem Leitton cis hängenbleibt. Die sich anschließende, bereits mehrfach erklungene chromatisch absteigende Linie, die von den Celli tremolierend ausgeführt wird und hier wie dort als chromatischer Farbfleck fungiert, mündet in den Grundton d. Ähnlich wie in T. 118 ff. verebbt das I-V-Pendel samt Liegeton d, bis das musikalische Geschehen beinahe vollständig zum Erliegen gekommen ist. Analog zur ersten Entwicklungspartie schließt sich ab T. 225 das Schlaflied-Thema an. Mahler verkürzt es auf zwölf Takte und kleidet es nun in ein dumpfes und mattes Klanggewand. Dies erzielt er dadurch, dass die Melodieführung (nach dem viertaktigen Vorspann) den Celli und Kontrabässen, die im extrem tiefen Bassregister anheben, anvertraut wird. Wie im ursprünglichen Schlaflied-Thema stehen der Vorspann und der liedartige Teil trotz syntaktischer Verknüpfung einander merkwürdig fremd gegenüber. 780 An der formalen Nahtstelle erzeugt Mahler abermals eine Überblendung mit Hilfe der beiden auftaktigen Achtelnoten in den Kontrabässen (f und as), die mit dem noch liegenden Fis-Dur-Dreiklang der Holzbläser kollidieren:
Abbildung 102: Phrygische Wendung nebst überraschender Fortführung (T. 228 f.)
Die Melodik der tiefen Streicher lässt sich als Mischung oder Kombination der beiden Solo-Episoden (Oboe und Solo-Violine) beschreiben, wobei insgesamt festgestellt werden kann, dass mit Hilfe der Variantentechnik eine Angleichung erfolgt. Die Melodieführung übernimmt ab T. 232 die Oboe, zu der sich nach zwei Takten eine Gegenstimme in den tiefen Streichern gesellt. Bei dieser handelt es sich um ein Melodiefragment des Schlaflied-Themas, das sogleich eine Sekunde abwärts sequenziert wird. Eine kontrapunktische Betrachtung der Oboenstimme und der Gegenstimme in den tiefen Streichern lässt einen im Kern abwärts geführten Sextensatz erkennen. Hierbei kann von einem für Mahler typischen Kontrapunkt gesprochen werden: Sämtliche Zusammenklänge resultieren aus der Diatonik. Unangetastet von jeglicher Modifikation
780
Hierzu wird auf die bereits erfolgte detaillierte Untersuchung dieser Takte verwiesen.
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Analytischer Hauptteil bleibt die modale und achsentontechnische Grundidee der Passage. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Schlaflied-Themen besteht letztlich darin, dass in der zweiten Entwicklungspartie (ab T. 229) auf Irritationen verzichtet wird, wodurch sich die Des-Dur-Tonalität festigen kann, ehe in T. 237 eine Variante des HeroldAbschnitts mit seinem charakteristischen Tusch und der sich anschließenden treibenden Sechzehntelmotorik erklingt. Dieser hebt nicht wie zuvor (T. 148 ff.) in Des-Dur, sondern in C-Dur an. Ein weiterer Unterschied zu seinem Pendant besteht darin, dass an der formalen Nahtstelle keine Rückung, sondern eine phrygische Wendung zum Einsatz kommt. Diese wird, wie so oft, auch hier von Mahler manipuliert: Das zunächst halbschlüssig in f-Moll zu deutende C-Dur mündet nicht in die erwartete Tonika, sondern streift stattdessen mit zunehmender Dauer seine dominantischen Eigenschaften ab und verselbständigt sich, bis es sich schließlich als neues tonales Zentrum etabliert hat: 781
Abbildung 103: Phrygische Wendung nebst Tonikalisierung (T. 236 f.)
Ähnlich wie in T. 150 ff. kommen die treibenden Bassfiguren zunächst verheißungsvoll daher, ehe ihr anfänglicher Impetus mehr und mehr verblasst. 782 Allerdings kommt die Musik nun nicht gänzlich zum Erliegen, sondern bleibt als „Musik aus weiter Ferne“ 783 erhalten. Programmatisch handelt es sich um den nahenden Sommer, der nun nicht mehr aufzuhalten ist. Motivisch fügen sich die Musik aus weiter Ferne und der in T. 247 einsetzende Marsch wie aus weiter Ferne aus mehreren Partikeln zusammen, zu denen u. a. der Tusch und die Tonrepetitionen zusammen mit anschließenden Dreiklangsbrechungen zählen. 784 Damit erlangt der Marsch einen ähnlichen bausteinartigen
781
Die Tonikalisierung von C-Dur erfolgt technisch durch die sofortige Anpassung der Diatonik und durch dessen schiere Länge. 782 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 300. Hierzu sei zudem auf Mahlers Partitureintrag „sich gänzlich verlierend“ hingewiesen. 783 Floros III, S. 86. Auch an dieser Stelle sei auf Mahlers Partitureintrag „Wie aus weiter Ferne.“ (T. 247 ff.) hingewiesen. 784 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 66. Die genannten motivischen Bausteine finden sich in der Übersicht über die wichtigsten Motive und Themen.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Charakter wie der trauermarschmäßige Hauptsatz. Die besagten Motivpartikel, die sich motivisch sowohl auf den Hauptsatz als auch auf das Schlaflied-Thema beziehen lassen, prägen dabei nicht nur die nachfolgenden Takte, sondern später auch maßgeblich die Durchführung. 785 Wie Monika Tibbe aufzeigen konnte, findet die markante rhythmische Faktur des Marsches wie aus weiter Ferne später Eingang in das Wunderhorn-Lied Revelge. 786 Als Einstieg in die notwendige feingliedrige Analyse des Marsches wie aus weiter Ferne erweist sich die nachfolgende analytische Partiturreduktion als hilfreich:
Abbildung 104: Analytische Partiturreduktion der T. 249–252
Harmonisch schweben die T. 247 ff. zwischen a-Moll und C-Dur. 787 Eine eindeutige tonale Bestimmung ist deshalb nicht möglich, weil Harmonik und Melodik zumeist an unterschiedlichen Strängen ziehen. In den Bläsern alternieren grundständige a-Mollund C-Dur-Dreiklänge. Somit fungiert der Ton c in der Bassstimme in T. 249 und
785
Vgl. ebd. Vgl. Tibbe, Lieder und Liedelemente, S. 106 f. Monika Tibbe stellt zusätzlich dazu noch weitere Querverbindungen sowohl rhythmischer als auch melodischer Natur zwischen dem Symphoniesatz und dem Lied fest: So finden sich vor allem T. 294 f. und T. 315 ff. aus dem Kopfsatz in T. 57 ff. des Liedes in mehr oder weniger stark abgewandelter Form wieder (vgl. ebd., S. 108). Nachfolgend sei noch auf die Entstehungsdaten des Wunderhorn-Liedes Revelge eingegangen: Sowohl die Fassung für Singstimme und Klavier als auch diejenige für Singstimme und Orchester dürften im Juli 1899 entstanden sein (vgl. NBL, S. 135 und Stark-Voit, Des Knaben Wunderhorn, S. 207 f.). Beide Fassungen erschienen erstmals im Druck bei C. F. Kahnt in Leipzig im Jahre 1905 (vgl. ebd.). 787 Friedhelm Krummacher spricht an dieser Stelle von „tonalen Reibungen“ (ebd., S. 66) zwischen C-Dur und a-Moll. Dies ist insofern unzutreffend, als faktisch kein Konflikt zwischen den genannten Tonalitäten existiert. Zudem spiegelt sich in seiner Charakterisierung die Mehrdeutigkeit der Passage nicht wider. 786
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Analytischer Hauptteil T. 251 temporär sowohl als Grundton in C-Dur als auch als Terzton in a-Moll. 788 Die Melodik der marschmäßigen Bassebene zielt allerdings insgesamt nach C-Dur; hierfür sorgt vor allem der Tetrachord g-c mit seiner innewohnenden V-I-Progression. 789 Auf ein Detail, und zwar auf die Verselbständigung der gebrochenen Dreiklangsfigur c-e-g mit ihrem charakteristischen Rhythmus, bestehend aus zwei Sechzehntelnoten und einer Achtelnote, soll noch eingegangen werden. Mahler entkoppelt die Dreiklangsfigur instrumentatorisch von den Streichern und löst diese gleichzeitig von der pulsierenden Marschrhythmik. Dies zeigt sich bereits beim erstmaligen Erklingen der Dreiklangsfigur in der Piccoloflöte in T. 250, denn Mahler schreibt ihr als einziges Instrument poco accel. vor. Einen Takt später soll sie dann „ohne Rücksicht auf den Takt“ 790 gespielt werden, wodurch sie nun weniger als Marschelement, sondern vielmehr als Naturlaut, als Vogelstimme wahrgenommen wird. 791 Diese primär rhythmisch-metrische Transformation ist zudem mit einem harmonischen Kunstgriff verknüpft: der überraschenden Transposition des gebrochenen C-Dur-Dreiklangs um eine große Sekunde aufwärts. Geht man trotz der bereits beschriebenen tonalen Mehrdeutigkeit der Passage vom Grundton a aus, – dies ist aufgrund des in T. 252 vorliegenden Quintzugs e-a in der Bassstimme möglich – ist der aus der Transposition resultierende D-Dur-Dreiklang als Dreiklang der aufgehellten IV. Stufe zu deuten. Dies weckt Erinnerungen an die T. 22 ff. in der Introduktion des Kopfsatzes der Ersten: Dort waren es D-DurHornquinten, die auf die IV. Stufe deplatziert worden sind. Im Unterschied zu den Hornquinten weist die vogelstimmenähnliche Figur der Piccoloflöte nicht dieselben tonartkonstituierenden Kräfte auf, sondern scheint vor allem farbliche Funktion zu haben. Ein erster Ansatz eines melodischen Gedankens innerhalb des Marsches wie aus weiter Ferne findet sich in T. 254 in den Klarinetten, ehe die hohen Streicher diesen kurze Zeit später weiterführen. Hinsichtlich seines thematischen Stellenwerts und seiner Funktion existieren unterschiedliche Standpunkte in der Mahlerforschung: Während Claudia Maurer-Zenck den melodischen Gedanken der Klarinetten als „eher unauffällige [. . . ] Marschmelodie“ 792 bezeichnet, deklariert ihn Friedhelm Krummacher als „Ausbildung einer kantablen Gegenmelodie“ 793, die „derart eingeführt wird, daß der
788
Selbstverständlich kann die Perspektive gewechselt werden, so dass der Ton a als Grundton in a-Aeolisch und als Sextton in C-Dur angesehen werden kann. Ferner konnten das Mitund Gegeneinander von Horizontale und Vertikale, die Steuerung der Grundtonwahrnehmung mittels Quart- und Quintintervall und die damit verbundenen bitonalen Tendenzen bereits mehrfach im Satzverlauf, insbesondere beim eröffnenden Weckruf-Thema, beobachtet werden. 789 Abermals spielt die Grundtonkraft des Quart- bzw. Quintintervalls die entscheidende Rolle. 790 Dabei handelt es sich um Mahlers vorgesehene Spielanweisung für die Piccoloflöte. 791 Vgl. Eggebrecht, Musik Mahlers, S. 129 ff. Zwar wird die betreffende Stelle von Eggebrecht nicht genannt, allerdings erfüllt sie dessen Kriterien. 792 Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 300. 793 Krummacher, III. Symphonie, S. 66.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Hörer zunächst hier einen in sich konsistenten Seitensatz vernehmen mag.“ 794 Festzustellen ist auch hier, dass der melodische Gedanke zunächst verheißungsvoll anhebt, um sich dann jedoch nach kurzer Zeit im Marschtreiben zu verlieren, ohne feste Konturen angenommen, geschweige denn eine Tonart ausgeprägt zu haben. Spätestens an dieser Stelle kristallisiert sich der satztechnische Kern, auf dem der Marsch wie aus weiter Ferne beruht, heraus: Die Klarinetten, danach die Violinen, die Violen und stellenweise die Bläser fügen sich zu einem dreistimmigen Oberstimmensatz zusammen, der im Wesentlichen auf der Parallelführung von Grund- und vor allem Sextakkorden basiert und weitgehend abgekoppelt von den tiefen Streichern ist. Diese beiden Ebenen ziehen teilweise an unterschiedlichen tonalen Strängen, was sowohl zu reizvollen dissonanten Reibungen als auch zu Mehrdeutigkeit führt. 795 Tonal hebt der T. 254 in f-Lydisch an und führt mittels Kadenz rasch nach C-Dur. Mit dem Einsatz der hohen Streicher zwei Takte später wird der Tonvorrat geringfügig modifiziert (h zu b), wobei zunächst kein tonales Zentrum deutlich hervortritt. Erst der Quintfall in T. 257 – gemeint ist die Progression des F-Dur-Dreiklangs und des großen B-Dur-Septakkords – klärt nach B-Dur. Im Anschluss (T. 258) erklingt in den Bläsern der Tusch, der nicht kadenziell erreicht wird, 796 aber dennoch sogleich tonal klärend wirkt: Seine spezifische Dreiklangsfaktur nebst seinem mehrfachen Erklingen bewirkt eine sofortige Tonikalisierung von a-Moll. Noch im selben Takt entwickelt die Bassstimme ein Eigenleben, was zu dissonanten Reibungen zwischen dieser und dem Tusch führt. Zwei Deutungen scheinen an dieser Stelle möglich: Erstens, die Basstöne auf den metrisch betonten Zählzeiten von T. 258 f. fungieren als Grundtöne, woraus eine mit Hilfe von diatonischen Ajoutierungen angereichtere Akkordprogression resultiert, die sich im Dissonanzgrad steigert, 797 zweitens, der a-Moll-Dreiklang fungiert als Achsenakkord, der von der Bassstimme insgesamt viermal auf unterschiedliche Art und Weise beleuchtet wird, wobei sich ebenfalls der Dissonanzgrad der Zusammenklänge kontinuierlich steigert: 798
794
Ebd., S. 67. Angedeutet hatte sich dieses spezifische Mit- und Gegeneinander bereits zu Beginn des Marsches (T. 247 ff.). 796 Der a-Moll-Dreiklang wird mixturartig, also durch Parallelverschiebung, über einen g-Moll-Dreiklang erreicht. 797 Auf den a-Moll-Dreiklang folgen ein C-Dur-Dreiklang mit hinzugefügter großer Sexte, ein großer F-Dur-Septakkord und schließlich ein großer B-Dur-Septakkord mit hinzugefügter großer None und Undezime. 798 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 67. Beiden Interpretationen gemein ist der modale Grundgedanke. 795
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Abbildung 105: Doppeldeutige achsentönig-modal konzipierte Passage (T. 258 f).
Nach der kompakten d-Moll-Kadenz (T. 260), die wie alle anderen Kadenzen zuvor sogleich nach ihrem Erklingen an stabilisierender Kraft einbüßt, setzt AchteltriolenMotorik ein, die für eine Auflockerung der statischen Marschrhythmik sorgt. An der tonalen Instabilität des Marsches ändert diese nichts, was sich daran zeigt, dass die Frage, ob F-Dur oder b-Lydisch in T. 262 als Tonalität vorliegt, nicht eindeutig beantwortet werden kann. 799 Durch die Einführung des bis dahin nicht verwendeten Tons es und insbesondere des Leittons fis kippt die Tonalität in T. 263 nach g-Moll. Daran schließen sich ein chromatisch eingefärbter Quintfall 800 und eine kompakte nach a-Moll klärende Kadenz an. Erstmals im Marsch wie aus weiter Ferne wird die a-Moll-Tonalität im Übrigen kadenziell ausgeprägt. Mahler nutzt die Quintfallsequenz einmal mehr nicht dazu, neue tonale Gefilde zu erschließen, sondern kehrt zum tonalen Ausgangspunkt zurück:
799
Die ersten Violinen und die Violen zielen auf den Grundton f, die Celli und die Kontrabässe auf den Grundton b. 800 Hervorstechend ist die chromatische Linie der zweiten Violinen.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 106: Ausweichung nach g-Moll, transitorischer Quintfall und klärende a-Moll-Kadenz (T. 263–266)
Auf die in T. 266 erreichte Tonika folgt sogleich eine weitere Kadenz und es scheint, als würde sich der Marsch wie aus weiter Ferne am Abschnittsende kadenziell stabilisieren. Doch ein Blick auf die Beziehung von Melodik und Harmonik in T. 268–272 verrät, dass dieser Schein trügt. Zwar wird in den ersten Violinen ein stabilisierender Quintrahmen durch die größtenteils chromatischen Umspielungen von Grund- und Quintton (a und e) melodisch abgesteckt, allerdings sperrt sich die Harmonik gegen eine weitere kadenzielle Bestätigung. Dass sie weniger auf einem kadenziellen als vielmehr auf einem modalen Grundgedanken beruht, wird nicht nur an der diatonischen Akkordbildung samt Ajoutierungen deutlich, sondern besonders daran, dass Mahler bei sämtlichen melodischen Leitton-Grundton-Wendungen in der Oberstimme einer Dominante-Tonika-Harmonisierung explizit aus dem Weg geht, stattdessen trugschlüssig verfährt oder die Tonika (T. 272,3) dissonant beschädigt. 801 Dadurch verbleibt der Marsch wie aus weiter Ferne bis zuletzt tonal auf wackeligen Beinen. Maßgeblich verantwortlich für den modalen Gesamteindruck ist die Melodik der Bassstimme, die, wie bereits mehrere Male zuvor festgestellt werden konnte, gewissermaßen ein diatonisches Eigenleben führt, teilweise in eine andere tonale Richtung zielt und der leittönig geprägten Oberstimme Leittonlosigkeit entgegensetzt. Aufgrund der Wiederkehr der Umspielungsfiguren in den ersten Violinen kann im Übrigen auch hier von einer Achse, die wechselnde harmonische Beleuchtungen erfährt, gesprochen werden:
801
Der dissonante Ton fis in der Bassstimme ist als Durchgang zu deuten und führt zum Quintton des kleinen C-Dur-Septakkords.
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Abbildung 107: Chromatische Umspielungen in der Oberstimme und modale Harmonisierung (T. 268–272)
Der letzte Takt des Abschnitts (T. 272) dient als Übergang zum nachfolgenden F-DurMarsch: Auf der letzten Zählzeit erklingt überraschend kurz und knapp der klärende Dominantseptakkord. Die tonale Anlage des Marsches wie aus weiter Ferne lässt sich als ‚sternförmig‘ charakterisieren. Im Zentrum steht die Tonalität a-Moll, die sowohl wechselnde diatonische / chromatische Färbungen erhält 802 als auch auf unterschiedliche Art und Weise ausgeprägt wird. 803 Eine Schlüsselrolle kommt dem Tusch-Motiv zu, da es den Drehund Angelpunkt repräsentiert und darüber hinaus als formale Klammer fungiert. 804 Eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft des Tusch-Motivs besteht darin, dass es im Augenblick seines Erklingens das tonale Zepter an sich reißt, nach a-Moll zielt und dies unabhängig davon, ob es syntaktisch oder parataktisch erreicht worden ist. Zwischen den a-Moll-Episoden, die „in varying shades of stability“ 805 in Erscheinung treten, werden immer wieder neue temporäre tonale Zentren mit Hilfe kompakter Kadenzen angerissen, deren Wirkung jedoch bereits unmittelbar nach ihrem Erklingen verblasst. Der diatonische Kern des Marsches spiegelt sich nicht zuletzt in den angesteuerten temporären tonalen Zentren (f-Lydisch, C-Dur, b-Lydisch, d-Moll, F-Dur, g-Moll) vollends wider, denn dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Tonarten der diatonischen Stufen der unterschiedlich eingefärbten a-Moll-Tonalität. In der tonalen Architektur des Kopfsatzes nimmt der Marsch wie aus weiter Ferne die Rolle einer makrologischen harmonischen V. Stufe ein. Seiner tonalen Interpretation als „konsistenter Seitensatz“ stünde nichts im Wege, da die makrologische harmonische V. Stufe ein traditionelles gängiges Terrain für einen Seitensatz ist. Allerdings gelangt auch dieser Abschnitt zu keiner konkreten thematischen Formulierung: Anstelle eines größeren melodischen Bogens wird eine Vielzahl fragmentarischer Einwürfe aneinandergereiht. Programmatisch repräsentiert der in T. 273 anhebende F-Dur-Marsch das Ziel einer Entwicklung, 806 so dass der Marsch wie aus weiter Ferne wiederum als dessen 802 803 804 805 806
Mal wird sie in ein phrygisches, mal in ein leittöniges und leittonloses Licht gerückt. Die Ausprägung der Tonalität erfolgt mal kadenziell, mal mittels Tonikalisierung. Mahler platziert es an den formalen Eckpunkten. Monahan, Symphonic Sonatas, S. 194. Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 300.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Vorbereitung gelten kann, 807 wenngleich sich dies kompositionstechnisch als nicht unproblematisch erweist, da Letzterer thematisch weiterhin eine große Rolle spielt. 808 Nachdem sich das Leben sukzessiv und über mehrere Rückschläge hinweg herausgebildet bzw. der das Leben symbolisierende Sommer sich aus der Ferne allmählich genähert hat, ist nun der Zeitpunkt seiner Ankunft gekommen. Hierzu sei Mahlers enthusiastische Äußerung zitiert: Der Sommer marschiert ein; da klingt es und singt es, wie Du Dir es nicht vorstellen kannst! Von allen Seiten sprießt es auf. 809
Aus der bisherigen d-Moll-Perspektive heraus, die unter anderem Friedhelm Krummacher und Claudia Maurer-Zenck einnehmen, ist der Marsch in der makrologischen harmonischen III. Stufe zu verorten, die den traditionell gängigsten tonalen Bereich für ein Seitenthema in einem Moll-Satz repräsentiert. Umso überraschender ist vor diesem Hintergrund, dass der F-Dur-Marsch von anderen Mahlerforschern als ‚eigentlicher‘ Beginn des Satzes 810 sowie als deutlich hervortretender „Hauptsatz“ 811 gedeutet wird. Denn damit wird F-Dur zur Grundtonart des Satzes erhoben. Wie lässt sich diese Doppelgesichtigkeit, die mögliche Deutung der T. 273 ff. sowohl als Seitensatz in d-Moll als auch als Hauptsatz in F-Dur erklären? Um eine sinnvolle formale Deutung vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund vorzunehmen, bedarf es der Berücksichtigung Mahlers eigener Bezeichnung seiner Dritten sowohl als d-Moll- als auch als F-Dur-Symphonie. 812 Eine kritische Diskussion dieser Diskrepanz hat in der Mahlerforschung kaum stattgefunden. Vielmehr entscheiden sich die Untersuchungen zur Dritten kommentarlos wahlweise für die eine oder andere Interpretation. Die Deutung des Kopfsatzes in F-Dur beruft sich auf den programmatischen Inhalt bzw. auf die Übertragung der von Mahler intendierten zweiteiligen programmatischen Anlage („Einleitung: Pan erwacht“ und „Der Sommer marschiert ein (Bacchuszug)“) auf die formale Disposition; diesen Ansatz verfolgen unter anderem Theodor W. Adorno und Constantin Floros. Demnach fungieren innerhalb des Sonatensatzschemas die T. 1–272 als Einleitung und die T. 273 ff. als Exposition. 813 Auf dieser Grundlage stellt 807
Vgl. ebd. Mahler rekurriert nicht nur im nachfolgenden Marschabschnitt, sondern auch im gesamten weiteren Satzverlauf mehrfach auf die Substanz des Marsches wie aus weiter Ferne. Die Elemente der beiden Märsche greifen ineinander, so dass insgesamt eine Tendenz zur Verschmelzung besteht und sich eine strikte Trennung verbietet (vgl. Monahan, Symphonic Sonatas, S. 193 f.). Das Ineinander der Elemente zeigt sich sogleich an der Umspielungsfigur der Klarinetten, die motivisch dem Marsch wie aus weiter Ferne entstammt und deren Aufgabe es ist, der F-Dur-Diatonik eine chromatische Farbe beizumischen. 809 GMB, S. 192. 810 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 117. 811 Werbeck, Die Sonatenform in Mahlers frühen Symphonien, S. 55. 812 Vgl. Mitchell, Wunderhorn Years, Notenfaksimile vor S. 137. 813 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 109 und Floros III, S. 86.
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Analytischer Hauptteil Adorno fest, dass „das Sonatenschema [. . . ] nur noch dünne Hülle“ 814 ist und dass die „literarische Idee des großen Pan [. . . ] das Formgefühl erobert“ 815 hat. Nicht nur aufgrund des einseitigen Schwerpunkts auf die Programmatik ist diese Interpretation kritisch zu hinterfragen, sondern auch deshalb, weil eine Verortung der Exposition zum genannten Zeitpunkt beträchtliche Konsequenzen für die Deutung des bisherigen tonalen Verlaufs hat: Aus einer F-Dur-Perspektive sind der Marsch wie aus weiter Ferne der makrologischen harmonischen III. und die ihm vorangehenden knapp zweihundertfünfzig Takte der VI. Stufe zuzuschlagen. Thematisch und formal handelt es sich um nichts Geringeres als die Degradierung von zweihundertzweiundsiebzig Takten zu einer Einleitung, die nicht nur sämtliche zentrale Themen enthält, 816 sondern zudem beinahe den dreifachen Umfang der angenommenen Exposition aufweist. Einer der wenigen, der sich intensiv mit dem formalen und tonalen Problemfeld auseinandergesetzt hat, ist Seth Monahan. Er orientiert sich ebenfalls an der Interpretation von Adorno und Floros und differenziert zwischen „introductory sections“ (T. 1–246, T. 369–529 und T. 643–736) und „sonata sections“ (T. 247–368, T. 530–642 und T. 737–863). 817 Erstere erklärt er zu „off tonic“-Bereichen 818 und gliedert diese aus dem F-Dur-Sonatensatzschema aus, um dieses überhaupt erst nachweisen zu können. 819 Eine Erklärung, weshalb der in aMoll zu verortende Marsch wie aus weiter Ferne (T. 247–272) in das Sonatensatzschema bzw. in die Exposition aufgenommen wird, bleibt Monahan schuldig, bzw. er beruft sich auch hier auf den programmatischen Inhalt. Einerseits wird damit ein interessanter neuer Blickwinkel auf die Architektur des Satzes eröffnet, andererseits lässt sich durch das Ausgliedern der „introductory sections“ nur bedingt ein Zusammenhang zu traditionellen langsamen Einleitungen herstellen, die sich (insbesondere bei Mahler) zum Teil stark voneinander unterscheiden. Zudem bleiben auch hier die tonalen Bereiche und deren Proportionen und Gewichtungen weitgehend unberücksichtigt. Um der beschriebenen tonalen Doppeldeutigkeit gerecht zu werden, erfolgt die kompositionstechnische Untersuchung des weiteren Satzverlaufs sowohl aus dem d-Mollals auch F-Dur-Blickwinkel. Erst damit lassen sich alle verbundenen thematischen und formalen Konsequenzen erfassen. Sowohl tonal als auch thematisch liefert der in T. 273 anhebende Marsch das, was der Marsch wie aus weiter Ferne noch vermissen ließ: Er ist tonal stabil und weist klare melodische Konturen auf. Die vorherrschende F-Dur-Tonalität wird kadenziell mittels Tonika-Dominantseptakkord-Pendel eindeutig ausgeprägt. Dabei dient die Marschquarte f-c in den tiefen Streichern und den Fagotten zur Artikulation eines tonikalen Orgelpunkts: 820 814 815 816 817 818 819 820
Adorno, Physiognomik, S. 108. Ebd., S. 109. Vgl. Werbeck, Die Sonatenform in Mahlers frühen Symphonien, S. 55. Vgl. Monahan, Symphonic Sonatas, S. 185 und S. 190. Vgl. ebd., S. 186. Vgl. ebd. S. 179. Erwähnenswert ist dabei der insgesamt unterrepräsentierte Leitton e.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 108: Tonikaler Orgelpunkt und Quintkadenz (T. 272–278)
Thematisch rekurriert Mahler auf das Weckruf-Thema, das vom ersten Horn intoniert wird und nun erstmals in einem Dur-Gewand erklingt. Spätestens hier finden sich deutliche Allusionen zum patriotischen Studentenlied Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand. 821 Die Hörner basieren auf einem Sextensatz, der zusammen mit der Marschquarte das volkstümliche Moment des Liedes unterstreicht. Kurze Zeit später hebt dann eine Variante des Schlaflied-Themas in den Holzbläsern an. Festzuhalten ist, dass innerhalb der klar artikulierten F-Dur-Tonalität bislang kein neues thematisches Material erklingt, und zwar unabhängig von der eingenommenen tonalen Perspektive bzw. einer Deutung als Haupt- oder Seitensatz. Das wirft die Frage nach der formalen Funktion des Marschabschnitts auf. Nach erfolgter Quintkadenz bzw. Ausweichung in die Oberquinttonart C-Dur in T. 277 f. hebt einen Takt später eine Variante des Schlaflied-Themas (in F-Dur) an. Eingebettet in den insgesamt tonal stabilen Marsch verliert es seinen ursprünglichen schwebenden modalen Charakter. Nachdem in T. 283 f. abermals die Quintkadenz erklungen ist, wird danach nicht sogleich nach F-Dur zurückgekehrt, sondern mittels eines zweifachen Quintfalls in der Bassstimme 822 eine viertaktige B-Dur-Episode angeschlossen, in der die Melodie fortgesponnen wird. Nahtlos schließt sich daran wenige Takte später eine weitere Variante des Schlaflied-Themas an, das mit Hilfe der quasi punktierten Rhythmik dem Marschumfeld noch weiter angeglichen wird; dabei streift das Thema seinen ursprünglichen lyrischen Charakter endgültig ab. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die beiden Tonarten B-Dur und F-Dur trotz des bestehenden Quintverhältnisses in keinerlei funktionaler Beziehung zueinander stehen. 823 Beide Tonalitäten nehmen sich jeweils unmittelbar als tonales Zentrum aus. Maßgeblich zu diesem disparaten Höreindruck trägt der Schnitt in der Instrumenta821
Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 67. Gemeint ist die Fortschreitung der Töne c, f und b. 823 Weder wirkt B-Dur subdominantisch in F-Dur, noch wirkt F-Dur dominantisch in B-Dur.
822
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Analytischer Hauptteil tion bei, der die beiden Abschnitte klar voneinander trennt, so dass insgesamt von einer syntaktischen Verknüpfung in Gestalt einer nicht kadenziellen Quintbeziehung gesprochen werden kann. 824 Bis T. 297 artikuliert Mahler mit Hilfe der Marschquarte f-c, die zunächst in den tiefen Streichern, später in den Fagotten und in der Pauke, ertönt, einen tonikalen Orgelpunkt in F-Dur. Nach tonikalem Beginn verunklart sich die tonale Situation ab T. 294 zunehmend, und zwar aufgrund der Verselbständigung von g-Moll oberhalb der Marschquarte f-c, die weiterhin konstant erklingt. 825 Zur genannten Verselbständigung bzw. zur Auskomponierung der II. Stufe tragen der eingeführte Leitton fis, die Fanfarenmelodik 826 der Hörner und Trompeten und die schiere Präsenz des g-Moll-Dreiklangs sowohl vertikal als auch horizontal bei. Nachdem sich das Gewicht immer weiter nach g-Moll verschoben hat, wird der Orgelpunktkontext dann im allerletzten Moment durch eine kompakte F-Dur-Kadenz in T. 297 restituiert:
Abbildung 109: Temporäre Irritation des tonikalen Orgelpunkts (T. 292–297)
In Folge (T. 298–314) rekurriert Mahler in aller Deutlichkeit auf den Marsch wie aus weiter Ferne. Wenngleich einige Unterabschnitte nun in ihrer Reihenfolge vertauscht werden, unterscheiden sich die betreffenden Takte insgesamt lediglich geringfügig von ihren Pendants, was eine detaillierte Untersuchung überflüssig macht und einen Verweis auf die bereits vorliegenden analytischen Ergebnisse gestattet. 827 Nach der a-MollKadenz in T. 314, die den aufgegriffenen Marsch wie aus weiter Ferne beschließt, hängt Mahler mittels Rückung eine vor allem hinsichtlich der Instrumentation stark 824
Innerhalb des Kopfsatzes konnten solche syntaktischen Verknüpfungen u. a. bereits in T. 135 f. festgestellt werden. 825 Zunehmend deshalb, da die g-Moll-Harmonie innerhalb des Sextensatzes in den Oberstimmen zunächst noch als Wechselnotenakkord zum F-Dur-Dreiklang gedeutet werden kann. 826 Insbesondere die Fanfaren der Hörner (T. 294–296) werden im weiteren Satzverlauf noch eine wichtige Rolle spielen. Eine Abbildung findet sich in der Themenübersicht. 827 Die sich sogleich anschließenden T. 298–302 entsprechen T. 262–266, weisen jedoch eine chromatische Intensivierung des Sextensatzes und eine Forcierung der Quintfälle auf. Mit Hilfe Letzterer wird schließlich nach a-Moll in T. 302 geführt.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie intensivierte Variante des F-Dur-Marsches an, die aus dem d-Moll-Blickwinkel als Schlussgruppe daherkommt. 828 Unterstrichen wird das disparate Nebeneinander der zwei eigentlich eng verwandten Tonarten abermals durch einen Schnitt in der Instrumentation. Sowohl das Weckruf-Thema als auch wenig später das Schlaflied-Thema erstrahlen in T. 315 ff. in voller orchestraler Pracht. Gleichzeitig repräsentieren diese in ihrer Wirkung übersteigerten Takte 829 die Klimax des bisherigen Satzverlaufs und scheinen einen Schlusspunkt zu markieren. 830 Harmonisch basieren die betreffenden Takte abermals auf dem Wechsel von Tonika und Dominantseptakkord. Das kadenzielle Grundgerüst bleibt bis T. 320 deutlich erkennbar, ehe die plötzliche Forcierung von Chromatik die Harmonik verunklart. Einen analytischen Zugriff auf die von Vorhalten und Durchgängen durchtränkten Takte erlaubt vor allem die chromatisch aufsteigende Basslinie, die als Folge von Leit- und Grundtönen und damit als Montesequenz gedeutet werden kann. Deren Grundtonfortschreitung lautet g-c, a-d und schließlich h-e. 831 Als kontrapunktisches Gerüst für die Oberstimmen dient ein Dezimensatz. Ausgenommen von der Sequenzmechanik sind die Liegetöne b und g, die in den ersten Violinen und in den Hörnern erklingen und den zuvor ertönenden Dominantseptakkord fortsetzen, nachdem der Dominantgrundton in der Bassstimme mit einem Mal verschwunden ist:
Abbildung 110: ‚Inszenierung‘ der Dominante (T. 319–323)
828
Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 68. Friedhelm Krummacher charakterisiert den Abschnitt als „fatale[. . . ] Übersteigerung des festlichen Klanges“ (ebd., S. 69) und macht hierfür neben der prachtvollen Instrumentation insbesondere die dem Grundakkord F-Dur hinzugefügte große Sexte – gemeint ist der gedehnte Sextvorhalt d-c in den melodieführenden Stimmen – verantwortlich. Seiner Meinung nach geht mit ihr „eine[. . . ] Beschädigung [der] Harmonik“ einher, was satztechnisch jedoch nicht nachweisbar ist. 830 Vgl. ebd., S. 68. 831 Der Ton es muss dabei enharmonisch zum Ton dis umgedeutet werden. 829
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Analytischer Hauptteil Diese Verbindung zum vorangehenden Dominantseptakkord und die tonikale Auflösung 832 in T. 323 liefern letztlich eine Antwort auf die Frage nach der Funktion der sequenziellen Takte: Sie sind in die Dominantfunktion eingewoben und dienen deren Auskomponierung und chromatischer Intensivierung, wodurch die Dominante sowohl inszeniert als auch beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. 833 An dieser Stelle zeigt sich im Übrigen ein weiteres Mal Mahlers Vorliebe, tradierte Sequenzmodelle nicht zu Modulationszwecken zu verwenden. Es folgt eine komprimierte Variante der vorangegangenen Marschtakte mit anschließender chromatischer Basslinienführung und daran wird deutlich, dass Mahler das harmonische Geschehen weiter vorantreibt, was einer Deutung der T. 315 ff. als eine tonal stabilisierende Schlussgruppe entgegensteht. Innerhalb der chromatisch gefärbten Takte kristallisiert sich in der zweiten Takthälfte von T. 325 ein nach g-Moll weisender Dominantseptakkord heraus. Von einer tonikalen Auflösung kann im Anschluss jedoch nur bedingt die Rede sein. Mahler manipuliert die Tonika durch die Tiefalteration der Akkordquinte, zu g-vermindert. Angelangt auf dem Basston g in T. 327 ertönt in den tiefen Streichern und Fagotten „ein Gruß aus der ersten und zweiten Sinfonie“ 834: Die aus drei Viertelnoten und einer Achteltriole bestehende schreitende Bassformel. Ihr sequenzieller Charakter tritt an dieser Stelle (T. 327–330) in Gestalt stufig aufwärts verschobener Septakkorde hervor: Der halbverminderte Septakkord (g-b-des-f) in T. 327 wird einen Takt später zu einem kleinen g-Moll-Septakkord (g-b-d-f) modifiziert, dann wiederholt sich dies um einen Ganztonschritt aufwärts transponiert von a aus:
Abbildung 111: Unkonventionelle Sequenz nebst überraschender Fortführung (T. 327–331)
Aus der Septakkord-Progression resultiert ein temporärer Schwebezustand, in dem sich kein eindeutiges tonales Zentrum ausmachen lässt. Erst der nach D-Dur weisende
832
Wähend Grund- und Terzton der F-Dur-Tonika (über die Töne e und gis) leittönig erreicht werden, wird der Sextvorhalt d bereits im vorangehenden Takt antizipiert. 833 Eine ähnliche Passage konnte in T. 378 ff. im Kopfsatz der Ersten festgestellt werden. 834 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie und gleichzeitig den nächsten Abschnitt eröffnende Quartsextakkord in T. 331 wirkt klärend. Letzterer tritt aber auch überraschend ein, da die Sequenzmechanik nicht ihn, sondern eher einen Akkord auf b oder h erwarten ließe. Dieser Eingriff in die Sequenzmechanik genau an dieser Stelle und die damit verbundene Weiterführung entgegen der Hörerwartung können als eine mögliche Erklärung dafür angeführt werden, dass zwischen dem kleinen a-Moll-Septakkord und dem D-Dur-Quartsextakkord trotz der bestehenden Quintbeziehung und des gemeinsamen Basstons a nur eine schwache syntaktische Verbundenheit besteht. Über dem Basston a artikuliert Mahler ein sich über zwanzig Takte erstreckendes dominantisches Orgelpunktfeld in D-Dur (T. 331–350), das aber an mehreren Stellen verunklart wird. Oberhalb des Basstons intonieren die Posaunen eine Variante des WeckrufThemas, die von den Melodielinien der Holzbläser und von den Hornquinten in den Trompeten und Hörnern kontrapunktiert wird. Auf Letztere bzw. auf das dissonante Akkordgebilde (a-e-fis-d) in T. 331 muss besonderes Augenmerk gelegt werden. 835 Paul Bekker deutet es als Kollision der beiden Hauptfunktionen Dominante und Tonika. 836 Das ist sicher zutreffend, allerdings berücksichtigt er weder die Leittonlosigkeit, die einschließlich bis T. 339 Bestand hat, noch die tendenziell lineare Genese des besagten Akkordgebildes. Denn der dissonante Akkord scheint das Resultat der Überlagerung unterschiedlich fortgeführter Hornquinten zu sein. Bis zur Takthälfte sind die Hornquinten in den Trompeten und Hörnern oktavversetzt aneinander gekoppelt, ehe sie ab der dritten Zählzeit unterschiedliche Wege gehen: Während die Trompeten auf dem Intervall der kleinen Sexte (fis-d) verharren, kehren die Hörner zum Quintintervall (a-e) zurück, woraus letztlich die besagte Kollision resultiert:
Abbildung 112: Kollidierende Hornquinten (T. 331)
835
Mahler selbst weist in der Partitur darauf hin, dass es sich beim notierten Ton a in der zweiten Trompete um keinen Druckfehler handelt. 836 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118.
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Analytischer Hauptteil Ab T. 336 werden die Motivglieder verkürzt und so der Satz verdichtet und gesteigert. 837 Nach neun Takten konsequenter Leittonlosigkeit ertönt in T. 340 schließlich doch noch der bislang ausgesparte Leitton cis, wodurch die T. 331–340 insgesamt erst eindeutig als dominantischer Orgelpunkt in D-Dur interpretiert werden können. Alle Weichen für eine Auflösung in die Tonika sind nun gestellt, doch stattdessen ändert sich einen Takt später schlagartig die Morphologie des Feldes: Bei im Wesentlichen gleichbleibendem diatonischen Tonvorrat und konstant erklingendem Basston a färbt sich das Feld modal ein, was vor allem auf die Sequenzierung der Oberstimmen um eine Terz aufwärts zurückzuführen ist. Das die Grundtonwahrnehmung steuernde Quartintervall wird mitverschoben – anstelle der Quarte d-a erklingt nun die Quarte fiscis –, so dass nun der Grundton fis vorzuherrschen scheint. 838 So überraschend sich die Morphologie des Feldes in T. 341 geändert hat, so überraschend wird in T. 347 der ursprüngliche dominantische Orgelpunktkontext restituiert. Stabilisierend wirkt dabei das kadenzielle Gerüst, das der „zum dreistimmig akkordischen Gesang“ 839 gesteigerten Weckruf-Thema-Variante zu Grunde liegt. Das dominantische Orgelpunktfeld untergliedert sich somit in drei Teile, wobei der mittlere fis-phrygisch angehauchte Abschnitt die beiden anderen interpoliert und das Orgelpunktfeld temporär irritiert. 840 Für eine sinnvolle Deutung des dominantischen Orgelpunkts im vorliegenden Kontext gilt es, sich eine seiner zentralen traditionellen Aufgaben vor Augen zu führen: die Signalisierung und Hinführung zum Seitenthema. Was aus der F-Dur-Perspektive unmittelbar einleuchtet – die nachfolgende Passage hebt im traditionell gängigen tonalen Terrain der makrologischen harmonischen VI. Stufe D-Dur an –, erweist sich aus dem d-MollBlickwinkel mehr als problematisch. Denn damit ist eine Rückkehr zur makrologischen harmonischen I. Stufe verbunden, die sich mit der traditionellen symphonischen Form nicht vereinbaren lässt. Somit greift die d-Moll-Perspektive lediglich bis zu diesem Zeitpunkt und muss danach als unzulänglich bezeichnet werden. 841 Die tonal als Seitensatz daherkommende D-Dur-Passage stellt eine weitere Variante des Weckruf-Themas dar, die über drei Oktaven gespannt von den Streichern zusammen mit den Fagotten, der Tuba und den Hörnern vorgetragen wird. Dabei erhält sie 837
Der Verkürzungsprozess lässt sich sehr gut an den Hornquinten nachvollziehen: Während sie von T. 336–338 jeweils noch einen ganzen Takt einnehmen, werden sie im Anschluss zu einem Takt komprimiert, ehe der durchgehende Achteltriolenrhythmus für die finale Beschleunigung sorgt. 838 Als Tonvorrat kann ein leittönig geschärftes fis-Phrygisch gelten; die leittönige Farbe resultiert aus der chromatischen Umspielungsfigur (g-eis-fis) der zweiten Violinen. Die Beimischung des Leittons in einen phrygischen Tonvorrat scheint ebenso wie die quasi punktierte rhythmische Figur dem Marsch wie aus weiter Ferne zu entstammen. 839 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118. 840 Als Detail sei der Verzicht auf den Leitton cis genau beim Übergang zur D-Dur-Tonika in T. 350 f. bzw. zum nachfolgenden Abschnitt genannt, was allerdings nur eine geringe Abschwächung der syntaktischen Wirkung des Orgelpunkts nach sich zieht. 841 Vgl. Monahan, Symphonic Sonatas, S. 215.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie hymnenhaften Charakter, 842 ehe kurze Zeit später in den Trompeten eine tonleiterartige Gegenstimme hinzutritt. Nach Theodor W. Adorno handelt es sich bei dieser Passage um eine für Mahler typische Formkategorie, und zwar um eine „Erfüllung[. . . ] als Abgesang“ 843. Anders ausgedrückt, es kann dramaturgisch von einem erreichten Zielpunkt und thematisch von einem Resümee gesprochen werden. Und genau diese Charakteristika stehen bezeichnenderweise wiederum quer zu einer Interpretation der Passage als Seitensatz, da innerhalb dieser eben kein neues thematisches Material formuliert und anstelle einer thematischen Entfaltung die Erwartung nach einem Schluss geschürt wird. Seth Monahan spricht zutreffend von einer „desynchronation of thematic and tonal scripts“ 844. Harmonisch lässt sich der „Marschabgesang“ 845 in einen tonikalen (T. 351–356) und in einen dominantischen Bereich (T. 357–361) unterteilen. Klärend wirken hierbei die Liegetöne in den Posaunen und in den hohen Holzbläsern: Der tonikale Bereich wird mit Hilfe der Tonikadreiklangstöne d-fis-a, der dominantische (lediglich) mit dem Ton a abgesteckt. Mit dem Eintritt der Dominante formt sich in den Trompeten dann ein für Mahler charakteristischer Sextensatz aus, der kurze Zeit später von den Violinen, den Oboen und den Klarinetten übernommen wird und schließlich „[ü]ber rhythmischen Relikten des Marsches in den Bässen“ 846 seinem Ziel, der D-DurTonika in T. 362, entgegenschreitet:
Abbildung 113: Manipulierter dominantischer Orgelpunkt (T. 357–362)
In diesen Takten manipuliert Mahler gleich an mehreren Stellen den kadenziellen Prozess. Dabei steht der Einsatz bzw. die Behandlung des Leittons im Vordergrund. 842
Vgl. Floros III, S. 86. Adorno, Physiognomik, S. 60. Eine nähere Beschreibung der Formkategorien Mahlers im Sinne Adornos findet sich in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 844 Monahan, Symphonic Sonatas, S. 192. 845 Adorno, Physiognomik, S. 110. 846 Krummacher, III. Symphonie, S. 69. 843
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Analytischer Hauptteil Innerhalb des akkordischen Trompetensatzes erklingt zweimal der Akkord a-d-e – einmal in T. 357 und einmal in T. 359 –, der sich im D-Dur-Kontext als Dominante mit Quartvorhalt ausnimmt. 847 Anstelle einer Auflösung zum Leitton cis wird der akkordische, im Kern auf Sexten beruhende Satz stufig aufwärts fortgesetzt. 848 Bei der dritten Stelle handelt es sich um den Übergang zur Tonika. Genau in diesem Moment wird der in der Oberstimme erklingende Leitton cis in ein anderes harmonisches Licht gerückt, indem er harmonisch als Quintton von fis-Moll interpretiert wird. Der betreffende Dreiklang der III. Tonleiterstufe interpoliert dabei die Dominante-Tonika-Progression und sorgt für eine temporäre Irritation. Harmonisch liegt somit eine V-III-I-Progression in D-Dur vor, 849 die sogleich an die bereits beschriebenen Irritationen der dominantischen Orgelpunkt-Episode in T. 331–351 erinnert: Was sich dort über einen Zeitraum von zwanzig Takten erstreckt hat, findet nun auf engstem Raum statt. Unmittelbar nach dem Erreichen der Tonika erfolgt urplötzlich ein gewaltiger orchestraler Ausbruch, der den Marsch abrupt beendet und gleichzeitig den Beginn eines „Zusammenbruchsfeld[es]“ 850 markiert. Trotz des motivischen Zusammenhangs zu den hochschnellenden Bassfiguren aus dem trauermarschmäßigen Hauptsatz 851 fällt es schwer, der Passage thematische Qualität zuzugestehen. 852 Sie nimmt sich vielmehr als ein athematischer Fremdkörper innerhalb des bisherigen Satzverlaufs aus. 853 Mahler verfährt innerhalb des bisherigen Satzverlaufs damit insofern konsequent, als das Motto, das sich als Aufbau und Scheitern beschreiben lässt, 854 noch einmal plastisch vor Augen geführt wird: Nahezu jeder thematische Gedanke ist bislang lediglich bis zu einem bestimmten Punkt ausformuliert worden, ehe er durch einen Eingriff gewissermaßen halbfertig und abrupt geendet hat. 855 Paradoxerweise wirkt also gerade das Moment des Überraschenden und Abrupten innerhalb des zerklüfteten Satzes zusammenhangstiftend. 856 Der unvermittelte und größtenteils athematische Ausbruch erinnert zudem an einige Stellen im Kopfsatz von Franz Schuberts Unvollendeter. 857 Harmonisch kann das Zusammenbruchsfeld kadenziell erklärt werden. An der Nahtstelle (T. 362) folgt auf die Tonika der Sextakkord d-f-b, der mit einem Mal die D-Dur-Diatonik sprengt und zur Varianttonart d-Moll führt. Vor allem aufgrund des konstant erklingenden Basstons d ist der Sextakkord weniger als Tonikagegenklang, 847
Dies weckt zudem Erinnerungen an T. 175 f. und T. 200 f. Die chromatisch modifizierte Tonika in T. 358, die in Gestalt des übermäßigen Dreiklangs d-fis-b erscheint, ist ebenfalls aus der Mechanik des Sextensatzes zu verstehen. 849 Eine Deutung als Terzfall ist ebenfalls denkbar. 850 Sponheuer, Logik, S. 147. 851 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118. 852 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 70. 853 Vgl. ebd. 854 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 295. 855 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 71. 856 Vgl. ebd. 857 Ein solch unvermittelter athematischer Ausbruch findet sich bspw. in T. 64 ff. 848
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie sondern vielmehr als Moll-Tonika mit kleiner Sexte zu deuten. 858 Das Alternieren von Molltonika und verkürztem Doppeldominantseptnonakkord bestimmt den Verlauf der T. 362,3–367, ehe in T. 368 der Neapolitaner erklingt, der sowohl den End- als auch den dramaturgischen Höhepunkt der Exposition repräsentiert und sogleich noch einmal im Blickpunkt stehen wird. 859 Die sich anschließende prolongierte Dominante in Gestalt des verminderten Septakkords läutet bereits den Durchführungsteil ein. Zusätzlich zu einer kleingliedrigen kadenziellen Beschreibung lassen sich die T. 362,3– 367 zu einer Harmonie zusammenzufassen. Dabei spielen die beiden Liegetöne d und f, die in den Außenstimmen erklingen und damit das musikalische Geschehen umrahmen, die entscheidende Rolle. Im Übrigen zeigt sich anhand dieser Liegetonkonstellation das spezifisch Feldhafte dieses Zusammenbruchs. Führt man diesen Gedanken konsequent fort, können die betreffenden Takte zu einem auskomponierten und inszenierten Grundakkord zusammengefasst werden. Demnach sind der Sextakkord d-f-b und der verminderte Septakkord gis-h-d-f weniger als eigenständige Harmonien zu betrachten. Vielmehr sind die Töne b, h und gis als diatonische und chromatische Umspielungen des Quinttons a zu verstehen, während Grund- und Terzton (d und f) von d-Moll bereits vorhanden sind. Zu berücksichtigen gilt es zusätzlich den kontrapunktischen Aspekt: Innerhalb des aufgespannten Außenstimmenrahmens (d-f) kommt ein für Mahler charakteristischer Terzensatz zum Einsatz. Aus diesem Zusammenspiel resultiert schließlich das stark dissonante Klangbild:
Abbildung 114: Harmonische Reduktion des Zusammenbruchsfeldes und des Durchführungsbeginns (T. 362–376)
858
Den B-Dur-Sextakkord zunächst als Trugschluss und dann sogleich als Neapolitaner in A-Dur zu interpretieren, wie es Friedhelm Krummacher vorschlägt (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 69), ist nicht sinnvoll. Er entfaltet weder eine trugschlüssige Wirkung aufgrund der fehlenden vorangegangenen Dominante, noch erscheint der Perspektivenwechsel nach A-Dur plausibel. Alle Weichen werden für d-Moll gestellt, so dass von einer A-DurTonalität keine Rede sein kann. 859 Vgl. Floros II, S. 298.
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Analytischer Hauptteil Ein Novum innerhalb des Satzes ist die inszenierte Tonika keineswegs: Auf ähnliche Art und Weise wurde in T. 69 ff. verfahren. Ferner kann von einer Modulation keine Rede sein kann, da ein Bezug zur I. Stufe durch den Liegeton d in der Bassstimme gewährleistet ist und dann die bereits erwähnten kadenziellen Signalklänge ertönen, die in aller Deutlichkeit nach d-Moll zielen. Der Reiz besteht letztlich darin, dass das Tongeschlecht gewaltsam von D-Dur nach d-Moll wechselt. Das Zusammenbruchsfeld im Kopfsatz der Dritten unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von anderen dramaturgisch herausragenden Stellen, wie der Durchbruch (T. 352 ff.) im Kopfsatz der Ersten oder der katastrophenähnliche Höhepunkt (T. 325 ff.) im Kopfsatz der Zweiten. Während in den Kopfsätzen der Ersten und Zweiten die Dominantfunktion die Klimax repräsentiert, ist es im Kopfsatz der Dritten die Subdominante. Mahler hat den Neapolitaner im bisherigen Satzverlauf konsequent ausgespart, um ihn hier als unverbrauchte funktionale Farbe voll und ganz zur Entfaltung kommen zu lassen. 860 Verstärkt wird seine Wirkung durch die Instrumentation, die gezielt die hohen und tiefen Extremregister aufsucht. Nicht zuletzt spielt die Positionierung der inszenierten Kadenz eine entscheidende Rolle. Festzuhalten ist, dass der dramaturgische Höhepunkt im Kopfsatz der Dritten sich nicht am Übergang von der Durchführung zur Reprise ereignet, sondern am Übergang von der Exposition zur Durchführung. Während in den Kopfsätzen der Ersten und der Zweiten die Dominante die Durchführung beschließt und ihre Auflösung in die Tonika Hand in Hand mit dem Eintritt der Reprise geht, markieren im Kopfsatz der Dritten der Neapolitaner das Ende der Exposition und die Dominante den Beginn der Durchführung. Innerhalb des Kadenzgefüges weist der Neapolitaner die größte Spannung auf, so dass die nachfolgende Dominantfunktion, die traditionell die Spannung noch weiter steigern soll, unter dessen Druck zusammenbricht und einen energetischen Spannungsabfall erleidet. 861 Besonders deutlich zeigt sich das Zusammenbrechen der Dominante an der Instrumentation: Mit einem Mal lässt Mahler die beiden Extremregisterregionen verstummen und hinterlässt eine klanglich deutlich schwächere Mittellage. In Folge scheint sich die Dominante erst wieder sammeln zu müssen, 862 um sich in die Tonika in T. 376 aufzulösen, was dann beinahe zu einer unbedeutenden Nebensache wird. Maßgeblich mit Hilfe der Instrumentation gelingt Mahler eine kadenzinterne Schwerpunktverlagerung. Dabei gerät die traditionelle Kadenzlogik ins Wanken, die Verhältnisse von Spannung und Auflösung verkehren sich bis zu einem gewissen Grad. Paradoxerweise werden die beiden Formteile damit sowohl voneinander getrennt als auch miteinander verknüpft: Die Folge Höhepunkt-Zusammenbruch sorgt für eine Zäsur, 863 der gespannte Kadenzbogen hingegen für eine Verbindung. Somit kommt die Kadenz ihrer traditionellen formbildenden Aufgabe nach, wenngleich die Art und Weise, wie dies geschieht, als unkonventionell und originell bezeichnet werden muss. 860 861 862 863
Lediglich in T. 206 blitzte er einmal kurz auf. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 71. Vgl. ebd. Der Doppelstrich am Ende von T. 368 reicht als Indiz nicht aus.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Durchführung (T. 369–642) Unabhängig von der eingenommenen tonalen Perspektive herrscht über die Verortung des Beginns der Durchführung in T. 369 Einigkeit in der Mahlerforschung. Formal weist die Durchführung wiederum eine zweiteilige Anlage auf: Der erste Teil erstreckt sich von T. 369–529, der zweite von T. 530–642. 864 Letzterer lässt sich seinerseits in drei Abschnitte unterteilen. Klärend wirken hierbei nicht zuletzt die programmatischen Beschreibungen und Partitur-Einträge Mahlers.
Erster Durchführungsteil (T. 369–529): Sowohl thematisch als auch tonal – und zwar unabhängig von der Gesamtperspektive – ist der Beginn der Durchführung überraschend, 865 da Mahler ein weiteres Mal auf den d-Moll-Trauermarsch rekurriert und eine sich bis T. 423 erstreckende modifizierte Fassung dessen präsentiert. 866 Aus der d-Moll-Perspektive macht das den Anschein einer „gleichsam erste[n], aufs äußerste variierte[n] Reprise“ 867. Geht man von F-Dur aus, handelt es sich bei dem Trauermarsch um die Einleitung, die zu Beginn der Durchführung wiederkehrt und damit an den Kopfsatz der Ersten erinnert, dessen Durchführung Mahler ebenfalls mit einer variierten Fassung der Introduktion bzw. der Naturlaute-Musik eröffnete. Ähnlich wie im Kopfsatz der Ersten bedeutet der Rekurs auf den Satzbeginn auch hier programmatisch einen „Rücksturz in die Klangvorwelt“ 868. Mahler orientiert sich bei der Trauermarsch-Variante stark an den T. 58–95, und die dort gewonnenen analytischen Resultate besitzen hier also ebenfalls Geltung. Es soll aber auf einige Details eingegangen werden. Erwähnenswert ist in jedem Fall die variierte Behandlung der VII. Tonleiterstufe. Ein Vergleich der T. 375 ff. mit T. 65 ff. zeigt, dass Mahler den hochschnellenden Basslauf modifiziert, indem anstelle der aeolischen Skala nun die melodische Molltonleiter erklingt. In die ‚Inszenierung‘ der Tonika in T. 380– 382 wird im Vergleich zu T. 69 ff. die markante Trompetenfanfare miteingebunden, was zu einer heftigen Kollision der Töne cis und c bzw. der leittönigen und der aeolischen VII. Stufe führt. In T. 398 ff. greift Mahler den aus T. 83 ff. stammenden markanten Terzstieg auf. Im Unterschied zu dort spannt der Komponist mit diesem aber nicht den Bogen zurück zur Grundtonalität. Vielmehr erfährt der Terzstieg ein vorzeitiges Ende, was ab T. 410 deutlich wird: Der dort erklingende H-Dur-/Ces-Dur-Dreiklang geht nicht wie zuvor in eine b-Moll-Episode über, 869 sondern verselbständigt sich 864
Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 301. Vgl. ebd. 866 Vgl. Sponheuer, Logik, S. 147. 867 Adorno, Physiognomik, S. 111. 868 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118. 869 In der Exposition hat der H-Dur-/Ces-Dur-Dreiklang den kleinen Septnonakkord (f-a-c-es-ges) und die b-Moll-Episode interpoliert; dabei entfaltete der Dreiklang trugschlüssige Wirkung. Auch an dieser Stelle ist aus dem tonalen Zusammenhang heraus eine CesDur-Deutung sinnfälliger, wenngleich sie im Anschluss keine Rolle spielt. 865
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Analytischer Hauptteil mittels stabilisierender Liegetonkonstellationen und Anpassung der Diatonik (mittels Tonikalisierung) zu einem modalen Feld. Als Details innerhalb des modalen Feldes sind das Alternieren von H-Dur und E-Dur, das hier als plagale I-IV-I-Wendung zu verstehen ist, 870 und die Vielzahl von chromatischen Umspielungen zu nennen. Ohne klare thematische Konturen angenommen zu haben, verklingt das sich anfangs so verheißungsvoll aufschwingende H-Dur-Feld, 871 bis wieder einmal lediglich das tonhöhenlose Schlagwerk (Große Trommel) vernehmbar ist. Anstelle des Schlaflied-Themas, das analog zum Verlauf der ersten Entwicklungspartie zu erwarten wäre, rekurriert Mahler in T. 424 ff. auf das Rezitativ-Arioso, das der zweiten Entwicklungspartie (T. 166 ff.) entstammt. Dem Komponisten gelingt es, die charakteristische melodieführende Solo-Posaune aus ihrem ursprünglichen Trauermarschumfeld herauszulösen und sie in ein gänzlich neues abgedunkeltes Licht zu rücken. Die Passage gleicht einem Innehalten, einem Sich-gänzlich-Zurücknehmen und sie wirkt umso eindringlicher nach den vorangegangenen zahlreichen Märschen. Zur nun vorherrschenden gedrückten Stimmung tragen das Tempo 872, die geringe Dynamik und insbesondere die Instrumentation bei. 873 Indem sie auf das Wesentlichste reduziert wird, wirkt der Satz im Vergleich zu anderen Stellen beinahe nackt und überaus fragil. Mahler unterstreicht die Stimmung nicht zuletzt mit der einzig für die Solo-Posaune vorgesehenen Spielanweisung „Sentimental“. Daran anknüpfend deutet Paul Bekker die Posaunenstimme als einen „Leidensausbruch der stummen Natur“ 874, der für einen temporären Stillstand der Entwicklung des Lebens sorgt. 875 Darüber hinaus erfüllt das Rezitativ-Arioso aufgrund der beschriebenen Charakteristika die Kriterien für eine Suspension im Sinne Adornos. 876 Harmonisch basiert es zunächst auf einem kadenziellen Grundgedanken, der sich in der Ausprägung der Tonalitäten b-Moll und kurze Zeit später c-Moll widerspiegelt. Auffällig sind die konsequente Leittonlosigkeit der jeweiligen Dominantseptakkorde, die Vielzahl an Vorhalten und die punktuell eingeworfenen Pizzicato-Tupfer der tiefen Streicher:
870 871 872 873 874 875 876
Eine ähnliche plagale Stelle findet sich in den T. 362–371 des Kopfsatzes der Zweiten. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 71. Mahlers Tempoangaben lauten „Zeit lassen.“ und wenig später „Nicht eilen.“. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 71. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118. Vgl. ebd., S. 118 f. Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 301.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 115: Harmonische Reduktion des Rezitativ-Ariosos (T. 423–431)
Ab T. 431 weicht der kadenzielle Grundgedanke dann einem achsentönigen. Dabei wird die kurzatmige, aus drei Tönen bestehende Melodie der Solo-Posaune in Folge dreimal auf unterschiedliche Art und Weise harmonisch beleuchtet: In T. 432 f. wird die melodische Wendung d-c als Nonvorhalt in c-Moll, danach als übermäßiger Quartvorhalt in As-Dur interpretiert. Beim dritten Mal (T. 436 f.) wird der Ton d zum es weitergeführt und als übermäßiger Sekundvorhalt in Ces-Dur gedeutet. Gleichzeitig kehrt Mahler damit in die thematischen Gefilde der ersten Entwicklungspartie (T. 95 ff.) zurück, was vor allem am Registerabsturz der Solo-Posaune deutlich wird. Im Unterschied zur Exposition wird jedoch nicht in b-Moll, sondern in es-Moll fortgefahren und der Nachsatz wird „statt pompös-selbstbewusst nun melancholisch, ja klagend“ 877 vom Englischhorn intoniert, das an die Stelle der Hörner tritt. So sehr das Arioso vor allem aufgrund der stark reduzierten Instrumentation auch aus dem bisherigen Satzverlauf herausfällt, so nahtlos fügt es sich wiederum aufgrund seiner mediantischen Harmonik 878 in diesen ein:
Abbildung 116: Fortsetzung der harmonischen Reduktion des Rezitativ-Ariosos (T. 431–441)
Die T. 450–454 fungieren sowohl als Ausklang der klagenden Episode des Englischhorns als auch vor allem als Vorbereitung für die danach anhebende Variante des 877
Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 302. Die tonalen Stationen c-Moll, As-Dur, Ces-Dur und es-Moll lassen sich abermals als I-VI- bzw. VI-I-Progressionen bzw. als Medianten ersten und zweiten Grades beschreiben.
878
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Analytischer Hauptteil Schlaflied-Themas. Unter Beibehaltung der flirrenden Tremoli und Triller, die nach und nach subtil modifiziert werden, 879 erfolgt innerhalb dieser Takte eine Tonikalisierung von der Grundtonalität d-Moll. 880 Maßgeblichen Anteil an der Tonikalisierung hat neben der sukzessiven Anpassung der Diatonik der Liegeton d in den Kontrabässen. Im vorangehenden es-Moll-Kontext hatte er eine leittönige Wirkung, die nun jedoch mit zunehmender Dauer verblasst. Gleichzeitig verstärkt sich seine Gravitationskraft immer weiter, bis er sich schließlich selbst als neuen Grundton ausnimmt. Einen entsprechenden Rollenwechsel erfährt auch der Ton es: Anfangs ist er noch als Grundton in es-Moll zu deuten, ehe er dann die Rolle der phrygischen Sekunde einnimmt. Der Reiz besteht letztlich darin, dass ein exakter Zeitpunkt des Tonalitätswechsels nicht ausgemacht werden kann, dass die betreffenden Takte temporär zwischen es-Moll und d-Moll schweben. Die tonale Doppeldeutigkeit spiegelt sich auch harmonisch im dMoll-Septnonakkord wider, der als Resultat aus einer vertikalen Zusammenfassung des melodischen Terzfalls in den Streichern (es-c-a-f-d) hervorgeht:
Abbildung 117: Partiturreduktion und harmonische Zusammenfassung der T. 450–454
Ähnlich wie in T. 83 verwendet Mahler den Septnonakkord dazu, um von der Ausgangs- in die Zieltonart überzublenden. Er fungiert als tonal doppeldeutiges Scharnier, repräsentiert in beiden Tonarten eine deformierte Tonika. Die Variante des Schlaflied-Themas zeichnet sich an dieser Stelle vor allem durch ihre Kürze und Kompaktheit aus: Mahler reduziert das Thema um die Hälfte seiner ursprünglichen Länge. Dabei folgt auf den viertaktigen Vorspann (T. 455–459), dem vor allem mit Hilfe des Echotons der Klarinetten eine zusätzliche räumliche Wirkung verliehen wird, 881 sogleich der auf vier Takte reduzierte Nachsatz der Solo-Violine, der das ursprüngliche Schlaflied-Thema beschlossen hatte. 882 Bemerkenswert ist erneut die 879
Dies erzielt Mahler durch eine starke Differenzierung der Streichergruppen. So spielen bspw. die Violen „am Griffbrett“ und die Violinen „am Steg“. Zusätzlich dazu spielen manche Streicher „mit Dämpfer“ und manche ohne. 880 Der Ton es verleiht der Passage eine phrygische Farbe. 881 Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 302. 882 Analog dazu verhalten sich T. 144–147.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Nahtstelle zwischen dem Vorspann und der nachfolgenden Episode, denn Letztere tritt hier wie dort entgegen einer traditionellen Hörerwartung ein. Im Vergleich zu T. 136 ff. und T. 229 ff. folgt auf den dominantisch aufgeladenen Fis-Dur-Dreiklang nun nicht die Oberquinte Cis-Dur / Des-Dur, sondern das terzverwandte D-Dur. Eine Wirkung als Tonikaparallele (in h-Moll) stellt sich dabei nicht ein. Vielmehr nimmt sich D-Dur sogleich als neue Tonika aus, wofür die Tonikalisierung und der formal strukturierend wirkende Schnitt in der Instrumentation sorgen; abgemildert wird der Schnitt durch die ganzen Noten der Tuba. Harmonisch liegt an der formalen Nahtstelle zwischen dem Vorspann und dem eigentlichen Schlaflied-Thema somit erstmals eine Rückung vor. Allerdings existiert in Gestalt der auftaktig einsetzenden Solo-Violine ein den Bruch wenigstens leicht überspielendes Element. Pikant ist dabei, dass sich die Auftaktachtel abermals mit dem Holzbläserakkord reiben, was die Frage aufwirft, inwieweit der dissonierende Auftakt den Tonalitätssprung nicht sogar zusätzlich hervorhebt. Einerseits fällt es schwer, der Solo-Violine syntaktische Eigenschaften zuzugestehen, andererseits ist es deren antizipierendes Moment, das die Wirkung der Rückung entscheidend abdämpft. Sie schafft eine Überblendung der beiden Unterabschnitte: 883
Abbildung 118: Phrygische Wendung nebst überraschender Fortführung (T. 458 f.)
Wie in T. 147 f. lässt Mahler das Schlaflied-Thema dann abrupt abreißen und hängt den nachfolgenden Abschnitt mittels Rückung parataktisch an. 884 Traditionell ist der Rückgriff auf das Schlaflied-Thema innerhalb der Durchführung weniger thematisch 885 883
Zur nachfolgenden Notengraphik sei angemerkt, dass die Bassstimme in der funktionalen Analyse nicht berücksichtigt wird. Auf diese wird später noch in einem größeren Zusammenhang eingegangen. 884 Sowohl in T. 147 f. als auch in T. 462 f. besteht zwischen dem plötzlich endenden SchlafliedThema und dem nachfolgenden Abschnitt eine Tritonusrelation: In T. 147 f. zwischen dem großen G-Dur-Septakkord und dem nachfolgenden Des-Dur-Dreiklang, in T. 462 f. zwischen dem h-Moll-Sextakkord und dem Ton f in den Kontrabässen und der zweiten Harfe. 885 Krummacher, III. Symphonie, S. 71.
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Analytischer Hauptteil als vielmehr tonal bemerkenswert. Mahler lässt es nach wie vor in D-Dur anheben, knüpft damit an die zentralen tonalen Gefilde des Satzbeginns an und verweigert sich einer für traditionelle Durchführungen typischen tonalen Dynamik. Gleichzeitig – und dies ist ganz entscheidend für die tonale Architektur des Satzes – spannt Mahler den Bogen zurück zur makrologischen harmonischen I. bzw. VI. Stufe, die er bereits verlassen zu haben schien. Damit können die Passagen nach dem vorzeitig abgebrochenen Terzstieg – das modal konzipierte H-Dur-Feld, das Rezitativ-Arioso und die klagende Englischhorn-Episode – transitorisch gedeutet und insgesamt unter einer makrologischen I. Stufe zusammengefasst werden. Imitatorisch wird der mittels Vorschlagsnoten geschärfte Ton f durch die geteilten Kontrabässe, Celli und Violen gereicht, 886 wobei jeder Einsatz von den Harfen unterstrichen wird. Gleichzeitig verkürzen sich die Einsatzabstände kontinuierlich, was zu einer Beschleunigung und raschen Verdichtung des Satzes führt. Dass es sich in T. 463–472 insgesamt um ein Feld handelt, wird am artikulierenden Basston f deutlich. Allerdings – dies sei vorweggenommen – stechen die T. 463–481 aus der bisherigen Feldtechnik Mahlers heraus und stellen eine Erweiterung dar. Oberhalb des Basstons formt sich nach drei Takten eine harmonische Komponente aus. Die dort erklingende Progression der beiden übermäßigen Dreiklänge f-a-cis und b-d-fis ist doppeldeutig. Sie kann sowohl als plagale I-IV-Wendung vom Grundton f aus als auch als authentische V-I-Wendung vom Grundton b aus gedeutet werden; der Basston f fungiert demnach sowohl als Grund- als auch Quintton. Blockartig geht der akkordische Grundgedanke von den Violen, Celli und Harfen auf die Violinen und auf einige Holzbläser (auf die Flöten, später auf die erste Oboe) über, die die melodieführende erste Trompete abstützen. 887 Die charakteristische Fanfarenmelodik der Trompete entstammt T. 295 ff. und wird im weiteren Verlauf der Durchführung noch mehrmals aufgegriffen werden. Harmonisch handelt es sich in den Oberstimmen ab T. 470 um einen für Mahler typischen parallelen Sextensatz, der im Wesentlichen auf einer H-Dur-bzw. Ces-Dur-Diatonik beruht und modale Züge aufweist; einzig der Ton g stellt eine optionale chromatische Farbe dar. 888 Der nach wie vor konstant erklingende Basston f ist dabei nicht Bestandteil der Diatonik der Oberstimmen und scheint einem anderen tonalen Bereich zugehörig zu sein. Somit kann an dieser Stelle von einer Aufspaltung der Oberstimmen- und Bassebene gesprochen werden. 889 In den bisherigen modalen Feldern bildete stets die 886
Sowohl der Ton f als auch wenig später der Ton cis werden mit Hilfe von Vorschlagsnoten angesteuert und geschärft. Erwähnenswert sind dabei die dissonanten Rahmenintervalle: die verminderte Quinte (h-f) und die übermäßige Quarte (g-cis). 887 Wenngleich weiter unten noch genauer auf die Instrumentation eingegangen wird, kann bereits an dieser Stelle festgestellt werden, dass sich dieser blockartige Grundgedanke wie ein roter Faden bis T. 481 hindurchzieht. 888 In H-Dur handelt es sich um den Ton g, in Ces-Dur ist er als asas zu lesen. Die Differenzierung der Notation erfolgt aus spielpraktischen Gründen. 889 Diese Auftrennung steht einer prinzipiell möglichen Deutung des Ces-Dur-Dreiklangs als Neapolitaner und des Basstons f als dominantischer Orgelpunkt in b-Moll entgegen.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Diatonik das konstituierende Element, so dass es sich bei dieser Konstellation um eine bislang einmalige in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien handelt. Eine eindeutige tonale Bestimmung dieser feldähnlichen Passage ist unmöglich, und dies unabhängig davon, welcher Ebene das Primat zukommt: Geht man von den Oberstimmen aus, herrscht H-Dur / Ces-Dur als Tonalität vor und der Basston f ist innerhalb dieser als fremdkörperartiger verminderter Quint- bzw. übermäßiger Quartton zu deuten; geht man hingegen vom Basston f als Grundton aus, bewegen sich die Oberstimmen in der Tonart der übermäßigen IV. bzw. der verminderten V. Stufe. Keiner der beiden Perspektiven ist der Vorzug zu geben und genau diese Ambivalenz zeichnet die beschriebene Stelle aus. Als Detail sei der chromatische Übergang von T. 471 zu T. 472 in den Oberstimmen erwähnt. 890 Daran geknüpft ist ein Harmoniewechsel, der den Ton ges als Grundton im letzten Takt des Feldes in den Vordergrund treten lässt. Aus der Modifikation des Tonmaterials 891 resultiert eine unvollständige ges-lydische Skala, deren Charakteristikum – das Tritonusintervall ges-c – vor allem in der Trompete exponiert wird. Gleichzeitig fügt es sich nahtlos in den spröden und dissonanten Kontext ein. Harmonisch lässt sich der Takt zu einem Ges-Dur-Dreiklang zusammenfassen, 892 so dass in den Oberstimmen eine Quintbeziehung zwischen Ces-Dur und Ges-Dur konstatiert werden kann, wenngleich nicht in einem kadenziellen Sinne. Aufrechterhalten bleibt in jedem Fall die prägende Spannung zwischen der Oberstimmen- und der Bassebene:
Abbildung 119: Modal konzipiertes Feld mit signifikanter Aufspaltung der Oberstimmen- und Bassebene (T. 468–472)
890
Gemeint ist die chromatische Verschiebung des verminderten Dreiklangs e-g-cis zum verminderten Dreiklang es-ges-c. 891 Die querständigen Töne g und gis werden getilgt und der Ton h/ces wird durch den Ton c substituiert. 892 Der Sextakkord es-ges-c ist dabei als Vorhaltsakkord zu betrachten: Der Ton c fungiert als übermäßiger Quart-, der Ton es als Sextvorhalt.
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Analytischer Hauptteil Mittels Rückung wird eine komprimierte Variante der soeben beschriebenen zehn Takte angehängt. 893 Eröffnet wird der neue Unterabschnitt in den Oberstimmen vom mehrdeutigen es-übermäßigen Dreiklang, den die mehrfach geteilten Violen und die zweite Harfe intonieren, während die Dynamik weiterhin stark reduziert bleibt. In der Bassstimme erklingt der Ton g, der nun die feldähnliche Passage (T. 473–481) artikuliert. Danach kristallisiert sich der harmonische Kern der Oberstimmen heraus, der als ein Alternieren von H-Dur- und C-Dur-Dreiklängen charakterisiert werden kann. Ähnlich wie in T. 468–472 ist eine eindeutige Tonalitätsbestimmung nicht möglich. Im Unterschied zu vorher kann aber schon in den Oberstimmen allein kein klarer Grundtonbezug hergestellt werden, da sich die beiden Dreiklänge keinen gemeinsamen diatonischen Tonvorrat teilen. Das disparate Nebeneinander der Dreiklänge wird zudem instrumentatorisch durch die deutlichen Registerunterschiede unterstrichen: Während die H-Dur-Dreiklänge von der Piccoloflöte und Es-Klarinette im schrillen und durchdringenden Register intoniert werden, 894 ertönen die C-Dur-Dreiklänge im matten Register der geteilten Violen (später zusammen mit den Celli). Geht man von H-Dur als Tonalität aus, ist der Basston g als fremdartiger tiefalterierter Sextton zu interpretieren. Umgekehrt stellt H-Dur – vom Grundton g aus betrachtet – die Tonart der III. Stufe dar. Aus dem C-Dur-Blickwinkel stellt der Basston hingegen den diatonischen Quintton dar, umgekehrt stellt C-Dur die Tonart der IV. Stufe vom Grundton g aus dar. Wie in den Takten zuvor kann keiner Interpretation der Vorzug gegeben werden; hier wie dort herrscht Ambivalenz. Mit den nachfolgenden vier Takten (T. 478–481) rekurriert Mahler noch einmal auf T. 468 ff., was sich vor allem am Sextensatz der Violinen und der Fanfarenmelodik im ersten Horn zeigt. Letzteres vereitelt mit seinem auftaktigen Einsatz einen gänzlichen instrumentatorischen Schnitt. Des Weiteren bedient er sich nicht (wie in T. 472 f.) einer Rückung, sondern sorgt an der formalen Nahtstelle (T. 477 f.) für eine syntaktische Verknüpfung – zumindest in den Oberstimmen – in Gestalt einer nicht kadenziellen Quintbeziehung: Diese besteht zwischen dem C-Dur- und F-Dur-Dreiklang. Den in f-Lydisch zu verortenden Oberstimmen steht der Basston h gegenüber. Beide Ebenen teilen sich f-Lydisch als gemeinsame Diatonik. Allerdings wirkt die feldartige Passage ähnlich schwebend und ambivalent wie die beiden anderen davor:
893
Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 72. Als Detail sei genannt, dass sich die beiden Holzbläser nicht in das metrische Schema fügen („ohne Rücksicht auf die andern.“) und damit eine Verbindung zu den T. 250–252 herstellen.
894
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 120: Modal konzipiertes Feld mit signifikanter Aufspaltung der Oberstimmen- und Bassebene (T. 478–481)
Geht man von f-Lydisch aus, fungiert der Basston h als übermäßiger Quartton, vom Grundton h aus betrachtet handelt es sich in den Oberstimmen um die Tonart der verminderten Quinte. Als Gemeinsamkeit zwischen den T. 468–472 und T. 478–481 und gleichzeitig als Grund für ihren schwebenden Charakter kann die tritonische Relation zwischen Oberstimmen- und Bassebene festgestellt werden, wenngleich diese hier chromatisch und dort diatonisch erzeugt wird. Angepasst an die vorherrschende Diatonik ertönt in der ersten Klarinette und im ersten Fagott „die liedhafte Zeile des Kernthemas [. . . ], das damit in nächste Nachbarschaft zum Kontext gerät und sich doch fremd von ihm abhebt.“ 895 Einen Wendepunkt bildet der Wechsel vom Basston h zum d in T. 481. Mit ihm werden bereits die Weichen für die nachfolgende in D-Dur anhebende Variante des Schlaflied-Themas gestellt. Harmonisch betrachtet bildet der daraus resultierende kleine d-Moll-Septakkord (d-f-a-c) das Scharnier zwischen f-Lydisch und d-Moll. Dieser verhält sich doppeldeutig und erinnert sogleich an den ebenfalls doppeldeutigen Quartseptnonakkord in T. 83, der dort eine ähnliche Funktion hatte und von d-Moll nach c-Moll überblendete. Die tonale Zielrichtung d-Moll wird im selben Takt dann sogleich durch den Leitton cis bzw. durch den dominantisch wirkenden übermäßigen Dreiklang a-cis-f bestätigt. 896 Instrumentatorisch zeichnet Mahler in T. 463–481 ein fahles und obertonarmes Klangbild. Erzielt wird dieses vor allem durch die vorgeschriebenen Dämpfer für die Streicher, die erste Trompete und später die Hörner. 897 Intendiert ist wie schon des Öfteren die Illusion räumlicher Distanz: Ab T. 467 lautet die Spielanweisung für das gesamte Orchester „Wie aus weitester Ferne.“, was sogleich an den Marsch wie aus weiter
895
Krummacher, III. Symphonie, S. 72. Der Ton es kann als phrygische Farbe innerhalb der Diatonik gedeutet werden. 897 Die Streicher spielen zudem mal sul tasto, mal sul ponticello und die Flöten erklingen in ihrem dunklen und schwachen Register. 896
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Analytischer Hauptteil Ferne denken lässt. Ferner bemerkenswert ist die Unverbundenheit der instrumentalen Register. Das musikalische Geschehen spielt sich überwiegend in einem mittleren Bereich ab. Davon abgekoppelt sind die Kontrabässe und die Tuba in der extremen Tiefe, die Piccoloflöte und die Es-Klarinette in der extremen Höhe. All die genannten instrumentatorischen Feinheiten ergeben ein gespenstisches und zum Teil inhomogenes Klangbild und unterstützen auf ganzer Linie die spröde und ambivalente Harmonik dieser Takte. 898 Wie bereits angedeutet, stechen die soeben beschriebenen feldähnlichen Passagen aus der sonstigen Feldtechnik Mahlers heraus. Erst- und tatsächlich einmalig in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien teilen sich die Oberstimmen und der artikulierende Basston in T. 468–477 nicht denselben diatonischen Tonvorrat als konstituierendes Element modaler Felder. Daraus resultiert eine Aufspaltung und Verselbständigung beider Ebenen, die dabei unterschiedlichen modalen Bereichen zugehörig zu sein scheinen. Zwar sind T. 478–481 dann wieder diatonisch geprägt, allerdings wirken diese Takte aufgrund des Tritonusverhältnisses (h-f) zwischen dem artikulierenden Basston und den Stimmen darüber nicht minder instabil und ambivalent. Abermals hebt dann (T. 482–493) eine Variante des Schlaflied-Themas in D-Dur an. Mahler verkürzt es auf den viertaktigen Vorspann und verzichtet damit nun auf jeglichen melodischen Gedanken. 899 Der Vorspann selbst unterscheidet sich von seinen Pendants vor allem dadurch, dass im letzten Takt anstelle des dominantisch konnotierten Fis-Dur-Dreiklangs eine tendenziell plagale IV-I-Wendung in h-Moll tritt, mit der gleichzeitig ein Verstummen des Liegetons d in der Bassstimme einhergeht. Dass wie an allen formalen Nahtstellen des Schlaflied-Themas auch hier eine ‚glatte‘ syntaktische Verknüpfung vermieden wird, zeigt sich sogleich an der Rückung, mit deren Hilfe in T. 486 überraschend ein C-Dur-Dreiklang angehängt wird. Die Progression der Dreiklänge C-Dur und e-Moll und die nachfolgende sequenzielle Wendung, bestehend aus dem kleinen A-Dur-Septakkord und dem cis-halbverminderten Septakkord, sind (der harmonischen ‚Logik‘ des Vorspanns geschuldet) als VI-I-Wendungen zu deuten. 900 Mit einzuschließen in den Terzfall, der sich an den jeweiligen Taktschwerpunkten herauskristallisiert, ist der Ges-Dur-Dreiklang in T. 488 (hier enharmonisch als FisDur-Dreiklang gedeutet). An die sequenziell geprägten Takte ist zudem eine kontinuierliche Verkürzung des Vorspanns des Schlaflied-Themas geknüpft:
898
Vgl. ebd. Es erklingen weder die Oboe noch die Solo-Violine. 900 Deutlich zeigen sich anhand der Grundtonfortschreitung (c-e und a-cis) der betreffenden Akkorde noch einmal die prägenden mediantischen Beziehungen ersten und zweiten Grades. Es sei noch angemerkt, dass die beiden Septakkorde keine funktionale Wirkung im Kontext entfalten. Sie sind vielmehr funktionsfrei und erinnern sogleich an die modale Behandlung der Septakkorde in T. 140 ff. 899
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 121: Plagale Wendung, Rückung und sequenziell konzipierte VI-I-Progressionen (T. 485–488)
Der besagte Ges-Dur- bzw. Fis-Dur-Dreiklang fungiert darüber hinaus als eine Schnittstelle, da er die soeben beschriebenen mediantischen Takte beschließt und gleichzeitig die nächsten vier Takte, die ausschließlich Quintbeziehungen nutzen, eröffnet. Hervorstechend ist die fanfarenartige Melodie in den Trompeten, mit deren Hilfe den „irisierenden Akkorden der Holzbläser“ 901 samt den Trillern in den hohen Streichern kurzzeitig ein marschmäßiges Moment beigemischt wird. 902 Gleichzeitig signalisieren die Trompeten das Ende des Abschnitts und kündigen einen neuen an. Harmonisch wird der Abschnitt schließlich mit einer Des-Dur-Kadenz beschlossen, ehe mittels nochmaligem Quintfall in die nachfolgende Ges-Dur-Episode übergeleitet wird. Für eine makrologische harmonische Deutung der T. 451–491 spielen die beiden variierten, gestrafften und jeweils in D-Dur anhebenden Fassungen des Schlaflied-Themas, die Mahler gegenüber Natalie Bauer-Lechner „als höchst seltsame, geheimnisvolle Ruhepunkte“ 903 innerhalb des sich mehr und mehr zu einem Sturm steigernden Kopfsatzes bezeichnete, eine Schlüsselrolle. Sie besitzen nicht nur semantische Qualität, 904 sondern wirken auch als die einzig echten verlässlichen tonalen Anlaufpunkte innerhalb der ansonsten undurchsichtigen Passage klärend und gestatten je nach eingenommener tonaler Perspektive eine Subsumierung der betreffenden Takte unter der makrologischen harmonischen I. bzw. VI. Stufe. Die modal uneindeutigen feldähnlichen Takte, die zwischen den beiden Varianten des Schlaflied-Themas ertönen, sind transitorisch zu deuten. Und wenngleich sich Mahler mit diesen (T. 463–481) temporär denkbar weit von der Grundtonalität entfernt und der Passage einen bislang einzigartigen bitonalen Anstrich verleiht, spielen diese Takte in der tonalen Architektur des Satzes dennoch eine untergeordnete Rolle. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Art und Weise, wie der makrologische harmonische Verlauf des Abschnitts im Detail organisiert wird. Dabei kommt in der Bassstimme ein im Hintergrund wirkender Terzfall, an den mehrere kleinformatigere Terzstiege gekoppelt sind, zum Einsatz. Nachvollziehen lässt sich dies
901
Krummacher, III. Symphonie, S. 72. Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 306. 903 NBL, S. 60. 904 Vgl. ebd. Darüber hinaus stellt Mahler den Zusammenhang zwischen „den Ruhepunkten“ und dem 4. Satz der Dritten her (vgl. ebd.). 902
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Analytischer Hauptteil an deren melodischen Verlauf, der sich in drei Dreitongruppen untergliedern lässt: d-fis-a (T. 451–459), h-d-f (T. 460–472) und g-h-d (T. 473–482). Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den soeben beschriebenen melodischen Verlauf der Bassstimme aus der d-Moll-Perspektive:
Abbildung 122: Im Hintergrund wirkender makrologischer harmonischer Terzfall (T. 451–484)
Während sich der Terzfall d-h-g aus den Anfangstönen einer jeden Gruppe zusammensetzt, bildet jede Gruppe für sich einen Terzstieg. Über die zeitliche Dauer der Glieder des Terzfalls und der Terzstiege wird frei verfügt, was sich sowohl an deren unterschiedlichen Längen, die kein Schema erkennen lassen, als auch an der nicht vorgenommenen koordinierten Abstimmung mit der formalen Komponente zeigt. Auch bei der harmonischen Interpretation der Basstöne, die vor allem innerhalb der T. 463– 481 ambivalente Züge annimmt, bleibt Mahler unvorhersehbar. Die Aufspaltung und Verselbständigung der Oberstimmen- und Bassebene, die sich im Satzverlauf mehr und mehr abgezeichnet und in T. 463–481 ihren Höhepunkt erlangt hat, spiegelt sich nicht mehr nur auf einer kleingliedrigen bis mittleren harmonischen Ebene, sondern nun auch auf einer übergreifend architektonischen wider. „Weich und ausdrucksvoll“ 905 hebt im Horn die Melodie an, die in T. 351 ff. den Marschabgesang gebildet hatte. Ähnlich wie beim Rezitativ-Arioso zuvor gelingt es Mahler auch hier, die thematische Substanz aus ihrem ursprünglichen musikalischen Umfeld herauszulösen und in ein gänzlich anderes Licht zu rücken. 906 Als „Lied ohne Worte“ 907 wird sie in ein zartes kammermusikalisches Gewand gekleidet, so dass von einer Transformation der Melodie „in den Gegenpol [ihres originären] Charakters“ 908 gesprochen werden kann. Die sich um das Horn rankenden Melodielinien orientieren sich selbst so sehr an seiner thematischen Faktur, dass sie „eher als Varianten der Kantilene selbst wirken“ 909. Formal weist das Lied ohne Worte eine dreiteilige Anlage auf: T. 492– 905
Dabei handelt es sich um Mahlers Spielanweisung für das Horn. Im weiteren Satzverlauf werden derartige Charakterwechsel noch andere zentrale thematische Gebilde betreffen (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 73). 907 Floros III, S. 86. 908 Krummacher, III. Symphonie, S. 72. 909 Ebd., S. 73. 906
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie 513, T. 514–521 und T. 522–529. Alle drei Abschnitte sind in Ges-Dur zu verorten. Allerdings unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer kompositorischen Ausgestaltung. Der Beginn des ersten Abschnitts basiert harmonisch auf einem Terzfall mit charakteristischem Gegenschrittmodell, das in den Oberstimmen ertönt und mittels Fauxbourdon harmonisiert wird. Mit Hilfe der Sequenz wird zunächst nach as-Moll (T. 495) ausgewichen, ehe mittels eines nochmaligen Terzfalls Fes-Dur erreicht wird, das mit dem Einsatz der Solo-Violine gekoppelt ist. 910 Von dort aus erfolgt ein Terzstieg zurück nach CesDur, dem sich eine Dominante-Tonika-Wendung anschließt, die nach es-Moll zielt:
Abbildung 123: Harmonische Reduktion eines Teilabschnitts des Liedes ohne Worte (T. 492–500) 910
Im as-Moll-Kontext fungiert Fes-Dur als Dreiklang der VI. Stufe.
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Analytischer Hauptteil An die es-Moll-Tonika, die aufgrund ihrer metrisch unbetonten Position (T. 497,4) und des transitorischen Tons c im Horn wenig stabil wirkt, schließt sich ein Quintfall an, 911 dessen Aufgabe darin zu bestehen scheint, sogleich nach es-Moll zurückzuführen und als Tonalität zu bestätigen. Die Erwartung des Eintritts der es-Moll-Tonika wird zusätzlich dadurch geschürt, dass der Leitton d durch den Triller im hohen und durchdringenden Register der Solo-Violine in T. 499 inszeniert wird, was sogleich Erinnerungen an denjenigen in T. 40 im Kopfsatz der Zweiten weckt. Doch eine Auflösung in die Tonika bleibt aus. Stattdessen wird in T. 500 mittels Rückung ein Ges-Dur-Dreiklang angehängt. Die überraschende Wirkung der Rückung wird durch den Bruch in der Stimmführung und den gleichzeitigen Schnitt in der Instrumentation verstärkt. 912 Durch die sofortige Anpassung der Diatonik, durch den Wiedereinsatz der Begleitfiguren in den Violinen und durch die stützenden Liegetöne in den Flöten erfolgt eine Tonikalisierung von GesDur, die den vorangegangenen es-Moll-Bezug vergessen lässt. 913 Mahler rekurriert nun auf den Beginn des Liedes ohne Worte und erreicht entsprechend wieder mittels Terzfällen zunächst as-Moll und danach Fes-Dur. Im Unterschied zum Anfang setzt er den Terzfall nun aber fort und erreicht in T. 506 einen kleinen Des-Dur-Septakkord, der sich sogleich als Dominantseptakkord ausnimmt. Hier kommen unverbrauchte instrumentale Farben zum Einsatz, wobei dem Solo-Cello, das „den Beginn des Hauptthemas in diese Atmosphäre einpass[t]“, 914 das melodische Hauptaugenmerk gebührt. Erneut scheint eine kadenzielle Stabilisierung zum Greifen nah und abermals geht Mahler ihr aus dem Weg. An dieser Stelle wird die Ges-Dur-Kadenz dadurch manipuliert, dass in T. 509 der Ges-Dur-Dreiklang mit seiner kleinen Septime fes ertönt, wodurch er selbst dominantische Wirkung annimmt. 915 Dessen erwartete Auflösung nach Ces-Dur bleibt aber aus. Stattdessen erfolgt ein chromatischer Schritt von ges zu g in der Bassstimme, der einen weiteren Quintfall initiiert. Über einen kleinen Es-Dur-Septnonakkord wird zunächst as-Moll (T. 502 f.) erreicht, ehe nach des-Moll fortgeführt wird. Der soeben beschriebene Quintfall ertönt minimal abgewandelt noch einmal, allerdings um eine
911
Der Quintfall besteht dabei aus dem großen Ges-Dur-Septakkord, dem halbverminderten Septakkord c-es-ges-b, dem übermäßigen Dreiklang f-a-cis und dem B-Dur-Dreiklang, so dass die Grundtonfortschreitung ges, c, f und b lautet. 912 Beides resultiert aus dem großen Registersprung in der Solo-Violine und in der ersten Flöte und dem plötzlichen Aussetzen der zarten Begleitung der Violinen. 913 Ähnlich wurde bereits in T. 458 f. verfahren. 914 Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 303. 915 Eine ähnliche Manipulation konnte bereits in T. 380 des Kopfsatzes der Ersten festgestellt werden.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Quarte abwärts transportiert, 916 ehe der erste Abschnitt mittels einer der ganz wenigen ‚intakten‘, nicht manipulierten Kadenzen bei Mahler beschlossen wird. 917
Abbildung 124: (T. 512–514)
Seltene
traditionelle
Kadenz
Mit der in T. 514 erreichten Tonika beginnt der zweite Abschnitt, der im Vergleich zum ersten in mehrfacher Hinsicht transparenter ist. Er entbehrt weitgehend des zuvor forcierten polyphonen Moments. Harmonisch beruht er ebenfalls über weite Strecken auf Terzfällen: 918
Abbildung 125: Harmonische Reduktion des 2. Abschnitts des Liedes ohne Worte (T. 514–522)
Ein weiterer Unterschied besteht in seinem diatonischen Kern. Als einziger Eingriff in die Ges-Dur-Diatonik ist eine Modifikation des Tons f zum fes in T. 517 zu nennen, 916
Folglich wird über einen kleinen B-Dur-Septnonakkord zunächst nach es-Moll geleitet. Gemäß dem Quintfall zuvor ist nun ein as-Moll-Dreiklang zu erwarten, der zu einem DurDreiklang aufgehellt wird. 917 An dieser Stelle findet sich die für Mahler seltene Kadenzformel, bestehend aus kadenzierendem Quartsextakkord nebst Weiterführung zum Dominantseptakkord und Auflösung zur Tonika. 918 Das Quintverhältnis zwischen den Stationen Ces-Dur und Fes-Dur lässt sich dadurch erklären, dass Mahler den Terzfall an dieser Stelle unterbricht bzw. die gemäß der Terzfalllogik zu erwartende Station as-Moll überspringt. Im Vergleich zum ersten Abschnitt des Liedes ohne Worte wird nun auf die Gegenschrittmechanik verzichtet.
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Analytischer Hauptteil eine Trübung des Dreiklangs der V. Stufe nach des-Moll. Nachdem auf diese Weise kurzzeitig einer Dominantwirkung aus dem Weg gegangen wurde, ertönt bereits wenig später (T. 520–522) eine klärende Kadenz, die von einer Trompetenfanfare zusätzlich unterstrichen wird. Als Detail ist die Erscheinungsform der Dominante zu nennen: Sie erklingt in Gestalt des Dominantseptakkords mit hinzugefügter intensivierender Sexte. Im dritten und letzten Abschnitt verselbständigt sich die Tonika zu einem diatonischen Ges-Dur-Feld, das auf jegliche harmonische Bewegung verzichtet. Die Klarinette übernimmt in ihrem tiefen abgedunkelten Register den Abgesang der Violoncelli. 919 Gleichzeitig werden Terz- und Quintton (die Töne b und des) abwechselnd von tiefen Streichern und Blechbläsern punktuell eingeworfen. Die zunehmende Verdichtung ihrer Einsätze und deren dynamische Steigerung sorgen für ein klangliches Ungleichgewicht innerhalb der zarten und sensiblen Ges-Dur-Fläche und damit für eine zunehmend bedrohliche Atmosphäre. Nicht zuletzt antizipieren sie den letzten großen Teil der Durchführung. 920 Die drei Teile des Liedes ohne Worte sind so konzipiert, dass ihre satztechnische Komplexität kontinuierlich abnimmt. Die Harmonik wird von Abschnitt zu Abschnitt transparenter, die polyphone Dichte nimmt ab. In dramaturgischer Hinsicht lässt sich von einem auskomponierten Morendo sprechen, das dann in den zweiten großen Durchführungsteil, „einen riesenhaften, großartig ungefüg[t]en und ungeglätteten Marschblock“ 921, übergeht. Innerhalb des Satzes nimmt das Lied ohne Worte eine besondere Stellung ein. Friedhelm Krummacher deutet sie gar als „das verborgene Zentrum des Satzes und insbesondere der Durchführung“ 922. Tatsächlich sprechen mehrere Aspekte für Krummachers Vorschlag. Das Lied ohne Worte nimmt im Kopfsatz eine mittige Position ein, thematisch sticht es durch die charakterliche Transformation des Hauptthemas und durch seine Geschlossenheit hervor, 923 es kann sich erstmals vollends entfalten, ohne (abrupte) Eingriffe jeglicher Art befürchten zu müssen. Und hinsichtlich seiner ‚exterritorialen‘ Ges-Dur-Tonalität ragt es aus der Architektur des Kopfsatzes heraus. Entscheidend sind dabei nicht allein die schiere Entfernung von der dominierenden d-Moll-/D-Dur-Tonalität, 924 sondern auch die Loslösung von deren Gravitationskraft. Gemessen an traditionellen Durchführungen ist dies insofern bemerkenswert, als Mahler knapp einhundertdreißig Takte benötigt, um sich von dieser zu lösen. In tonaler Hinsicht ist der eigentliche Beginn der Durchführung somit erst an dieser Stelle (T. 492 ff.) anzusetzen.
919
Vgl. Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 303. Friedhelm Krummacher attestiert den besagten Tönen auftaktige Funktion (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 73). 921 Sponheuer, Logik, S. 148. 922 Krummacher, III. Symphonie, S. 72. 923 Vgl. ebd., S. 72 f. 924 Vgl. ebd., S. 72. 920
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Zweiter Durchführungsteil (T. 530–642): Wie bereits erwähnt, können Mahlers Einträge im Autograph vor allem in diesem Abschnitt sowohl programmatisch als auch formal klärend herangezogen werden. 925 Sie lauten: „Das Gesindel“ (T. 539–582), „Die Schlacht beginnt“ (T. 583–604) und „Der Südsturm“ (T. 605–642). 926 Die vorangestellten einstimmig gehaltenen ersten neun Takte (T. 530–538) fungieren als Einleitung; sie rekurrieren auf thematische Substanz, die in der Durchführung bislang wenig zur Geltung gekommen ist: die charakteristische fanfarenartige Melodik der T. 245 ff. 927 Hier wie dort lässt Mahler sie im tiefen und undurchsichtigen Bassregister anheben, was den Fanfarencharakter bis zu einem gewissen Grad verfremdet. 928 Tonal können T. 530–535 in b-Moll verortet werden. Dabei bringt Mahler unterschiedliche diatonische Färbungen an, indem er zwischen Leittonlosigkeit und Leittönigkeit wechselt und eine phrygische Farbe beimischt. Trotz der syntaktisch schwachen Terzbeziehung zum vorangehenden Abschnitt treten die den zweiten Durchführungsteil eröffnenden Marschtakte dennoch nicht unvorbereitet ein. Als indirektes Bindeglied fungiert der „Terzfall des-b“ 929, der gegen Ende der zarten Ges-Dur-Fläche mehrmals bedrohlich aufblitzt und, wie bereits erwähnt wurde, den Ton b antizipiert. Der in T. 536 horizontal abgebildete Dreiklang der III. Stufe, Des-Dur, kann sich in Folge selbst als neues tonales Zentrum etablieren: Bei gleichbleibender Diatonik erfolgt die Tonikalisierung von des-Mixolydisch durch die Tonrepetitionen nebst anschließender Dreiklangsmelodik. Die genannten charakteristischen melodischen Eigenschaften spielen für den nachfolgenden Verlauf insofern eine wichtige Rolle, als mit jedem neuen Fanfareneinsatz unmittelbar eine bestimmte tonale Richtung verknüpft ist. Der Ton b kehrt als Klammer in Gestalt der nachschlagenden Oktaven wieder. Jedoch unterscheidet sich seine Rolle von der zu Beginn. Er verhält sich doppeldeutig und kann sowohl als Sextton in desMixolydisch als auch als Grundton in b-Phrygisch gedeutet werden. Adorno weist darauf hin, dass die einstimmigen neun Takte sich wie der Beginn eines Fugatos verhalten, 930 das dann aber sogleich durch den Einsatz der mit diatonischen und chromatischen Vorschlagsnoten geschärften Terzenmixturen der Holzbläser, „Das Gesindel“, vereitelt wird. 931 Das Gesindel (T. 539–582) Im Rahmen der Besprechung des programmatischen Inhalts ist bereits auf die mögliche Anspielung auf das gleichnamige Kapitel in Nietzsches Also sprach Zarathustra
925
Vgl. Floros III, S. 88. Die entsprechenden „Notenfaksimilia“ sind dankenswerterweise von Constantin Floros abgebildet worden (vgl. Floros I, S. 235 ff.). 927 Lediglich das zum Naturlaut umgeformte Fanfarenbruchstück aus den T. 249–252 erklang in den T. 473–476 in der Piccoloflöte und der Es-Klarinette. 928 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 73. 929 Ebd. 930 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 110. 931 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 73. 926
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Analytischer Hauptteil hingewiesen worden. Die markante Bezeichnung Gesindel findet sich aber auch in einer Äußerung Mahlers gegenüber Natalie Bauer-Lechner: ‚Der Sommer zieht ein‘ soll das Vorspiel werden. Da brauche ich sogleich ein Regimentsorchester zur Erzielung der derben Wirkung von der Ankunft meines martialischen Gesellen. Es wird wahrhaftig sein, wie wenn die Burgmusik aufmarschierte. Ein Gesindel treibt sich da herum, wie man es sonst nicht zu sehen kriegt. 932
Die von Mahler erwähnte „Burgmusik“ war ein in Wien zum Ende der kaiserlichen und königlichen Monarchie von einer Militärmusikkapelle täglich dargebotenes militärisches Zeremoniell 933, die „Ablöse der kaiserlichen Wache“ 934. Sie war ein starker Zuschauermagnet, allerdings auch ein Anziehungspunkt für Kriminelle, die sogenannten „Pülcher“. 935 Diesen scheint Mahlers Bezeichnung Gesindel zu gelten. Mit ihnen schlägt die Stimmung des Kopfsatzes nun ins Derbe und Groteske um: 936 Schrille Terzenmixturen in den Holzbläsern erklingen über plump nachschlagenden Oktaven 937 nebst Dreiklangsbrechungen in den tiefen Streichern. Tonal lassen sich die genannten Komponenten unter es-Moll subsumieren, wobei der eben noch doppeldeutige Basston b nun als Quintton fungiert. Mit dem Einsatz der Blechbläser (in T. 541), die „Derivate“ 938 des Weckruf-Themas intonieren, geht ein Wechsel des tonalen Zentrums nach as-Moll einher. An dieser Stelle lohnt ein genauer Blick auf die Faktur der Hörner, deren Intervallfolge von Sexte, Quinte und Terz sofort an Hornquinten erinnert. Im Detail zeigen sich jedoch zwei entscheidende Modifikationen: Die für das Dur-Phänomen Hornquinten charakteristischen Intervalle, der großen Sexte und großen Terz, werden durch die kleine Sexte und die kleine Terz ersetzt, so dass faktisch ‚Moll-Hornquinten‘ erklingen:
Abbildung 126: Moll-Hornquinten (T. 540–542) 932
NBL, S. 35. Vgl. Payer, Peter, Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914, Wien: Böhlau Verlag 2018, S. 108. 934 Ebd. 935 Vgl. ebd. 936 Vgl. NBL, S. 56. Paul Bekker (Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 119) charakterisiert diesen Abschnitt als einen „Zug von Poltergeistern, wie eine ins Naturmythische gewandte Walpurgisnacht, voll Freude am derben Lärm, voll boshafter Entfaltung gemeiner Züge des Fruchtbarkeitstriebes.“ 937 Vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 119. 938 Krummacher, III. Symphonie, S. 73. Ein Zusammenhang zu den T. 6–8 ist dabei herstellbar (vgl. ebd.). 933
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Diese Verfremdung der für Mahler typischen Vokabel scheint dazu zu dienen, sie für den vorliegenden grotesken musikalischen Kontext fruchtbar zu machen. Währenddessen schält sich in der Bassstimme, die motivisch auf die Akzente der ausklingenden GesDur-Episode rekurriert und zudem ein achsentöniges Moment aufweist, nach und nach ein as-Moll-Dreiklang heraus; als Achsenton fungiert der Ton es, der eben noch Grundtonfunktion innehatte nun aber Quintton wird. Bereits an dieser Stelle stellt sich ein instabiler Quartsextakkord-Charakter ein. Trotz der zahlreichen chromatischen Farbflecken basiert die Gesindel-Passage auf einem modal-diatonischen Grundgedanken, bei dem funktionale Logik kaum eine Rolle spielt. Die bislang ausschließlich verwendeten Molltonarten werden durch einen zweifachen Quintfall organisiert, der ausgehend von b-Moll über es-Moll nach as-Moll führt. Die Tonalitätswechsel innerhalb des diatonischen Kerns resultieren aus der Anpassung des Tonmaterials und insbesondere aus der die Grundtonwahrnehmung steuernden Melodik. Letztere zeigt sich sogleich an der Repetitionsfigur in T. 544, mit deren Hilfe nach es-Moll zurückgeführt wird. Der nachfolgende Takt, der in ges-Mixolydisch zu verorten ist, wird dann nicht syntaktisch mittels Quintfall erreicht, sondern parataktisch angehängt. Die nachschlagenden Achtel, die soeben noch von den tiefen Streichern ausgeführt wurden, gehen dort an die Blechbläser über. Dies ist insofern erwähnenswert, als Mahler mit dieser für Blechbläser untypischen Begleitfigur dem musikalischen „Bild gewollt ordinäre Farbe“ 939 verleiht. Nicht zufällig erscheint daher auch die Spielanweisung „roh!“. Der derbe Charakter spiegelt sich kurze Zeit später auch in der Harmonik wider, und zwar in Gestalt der abwärts gerichteten Progression der grundständigen Dreiklänge es-Moll, des-Moll, Ces-Dur, Heses-Dur und As-Dur in T. 549 f. Ins Auge stechen dabei die offen zur Schau gestellten Quintparallelen. Primär kommt der mixturartigen Akkordkette im vorliegenden Kontext transitorische Funktion zu, da mit ihrer Hilfe der Quintrahmen es-as ausgefüllt wird:
Abbildung 127: Transitorische mixturartige Akkordkette und Quintfall mit Septakkorden (T. 549–552)
939
Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 119.
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Analytischer Hauptteil Der Zielakkord dieser rohen Progression, As-Dur, ist zugleich Ausgangspunkt für weitere Quintfälle, die in T. 552 nach Ces-Dur führen. 940 An dieser Stelle erweist sich eine Vorausschau bis T. 563 als äußerst nützlich. An den Streichern – streckenweise von den Fagotten unterstützt – ist zu erkennen, dass es sich bei T. 552–563 um eine transponierte und intensivierte Variante der T. 528–538 handelt: 941 Die dem ausklingenden Lied ohne Worte entstammende markante Sprungfigur und die melodischen Figuren der einstimmigen Einleitung heben nun nicht in b-Moll, sondern in es-Moll an. Letztere haben ab T. 552 keine einleitende Funktion mehr inne, sondern bilden das Fundament für die Tusch-Motive, die Terzenmixturen und die Fanfarenfragmente, die immer wieder neu miteinander kombiniert werden. 942 Erwähnenswert ist sicherlich, dass es-Moll nicht kadenziell, sondern mittels Tonikalisierung ausgeprägt wird. Anhand der beschriebenen Transposition wird zudem erkennbar, dass Quintbeziehungen die Harmonik sowohl auf einer kleingliedrigen als auch mittleren Ebene prägen. In T. 563 summieren sich die Stimmen zu einem kleinen Es-Dur-Septnonakkord (es-g-b-des-fes), der sich als Dominante in as-Moll ausnimmt. Doch von einer anschließenden Auflösung in die Tonika kann nur bedingt die Rede sein, da eine solche lediglich in den Oberstimmen vollzogen wird, die Bassstimme den zu erwartenden Fundamentschritt es-as verweigert, um weiterhin auf dem Quintton es zu verharren. Noch im selben Takt (T. 564) scheint die Bassstimme mit ihrem achsentönigen Moment bereits weiter nach es-Moll zu drängen. Unmittelbar danach ereignet sich ein abrupter Wechsel in der Instrumentation: Während das Bassregister mit einem Mal verstummt, setzen im hohen und schrillen Register die Flöten und Es-Klarinetten ein. Ihre charakteristischen Repetitions- und Dreiklangsfiguren klären im Zusammenspiel mit der Trompetenfanfare, die zuletzt in T. 468 ff. zum Einsatz gekommen ist, dann tatsächlich nach es-Moll, um jedoch rasch nach as-Moll zurückzukehren. 943 Ab T. 568 findet eine kontinuierliche Steigerung statt, die in T. 573 kulminiert. Erzielt wird diese durch eine imitatorische Überlagerung der Repetitions- und Dreiklangsfiguren und eine damit einhergehende harmonische Intensivierung:
940
Die Grundtonfortschreitung des Quintfalls lautet as, des, ges und ces. Die Erweiterung von elf auf zwölf Takte resultiert aus dem zusätzlichen T. 554. 942 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 73. 943 Krummacher verortet die Trompetenfanfare erstaunlicherweise in b-Moll. Die Ursache hierfür kann zwar nur vermutet werden, doch aufgrund der unterschiedlichen Trompetenstimmungen (f und b) liegt es nahe, dass er von einer F-Trompete ausgegangen ist, was die Transposition nach b-Moll erklären würde. Tatsächlich aber wird die Fanfare von B-Trompeten ausgeführt. 941
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 128: Partiturreduktion der T. 567–574
Die einzelnen Melodielinien beginnen jeweils auf unterschiedlichen Tönen und weisen aufgrund ihrer charakteristischen melodischen Faktur in unterschiedliche modale Richtungen, 944 as-Dorisch, Ces-Dur und f-Lokrisch. 945 Der nach wie vor gesetzte modale Schwerpunkt zeigt sich daran, dass sich die genannten Tonalitäten denselben diatonischen Tonvorrat teilen. Harmonisch fügen sich die einzelnen Melodielinien zu einem f-halbverminderten Septnonakkord (f-as-ces-es-ges) zusammen, der an dieser Stelle ebenfalls keine funktionalen, sondern farbliche Eigenschaften innehat und zweifellos als ein harmonisches Steigerungsmittel gelten kann. Überboten wird er hinsichtlich seiner Wirkung durch den übermäßigen Dreiklang (ces-es-g), der den diatonischen Rahmen der T. 568 ff. sprengt und gleichzeitig den Abschnitt beschließt. Die nachfolgende Notengraphik veranschaulicht den harmonischen Verlauf der T. 569–574:
944
Friedhelm Krummacher spricht an dieser Stelle von einer „tonale[n] Spreizung“ (Krummacher, III. Symphonie, S. 73). 945 Dass es sich bei Lokrisch um keinen traditionellen Modus handelt, ist an dieser Stelle unerheblich. Es geht um den Grundtonbezug unter Einbeziehung der Diatonik.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 129: Reduktion des ersten harmonischen Höhepunkts im zweiten Durchführungsteil (T. 569–574)
Wie bereits in den Kopfsätzen der Ersten und Zweiten Symphonie verwendet Mahler auch hier Akkorde höherer Terzenschichtung und übermäßige Dreiklänge zur harmonischen Gestaltung eines dramaturgischen Höhepunkts. Diese eigentlich traditionellen dissonanten Klänge wirken bei ihm unverbraucht und entfalten eine besonders frappierende Wirkung, die vornehmlich dadurch erzielt wird, dass er sie über weite Strecken im Satz ausspart und sie dann, bei ihrem Erscheinen, nicht in einen kadenziellen Zusammenhang einbettet, sondern als funktionsfreie und autonome Farbwerte aufblitzen lässt. 946 Von einem Marsch in es-Moll zu sprechen, wie es Constantin Floros tut, 947 greift also insgesamt zu kurz. Vielmehr fällt es schwer, überhaupt eine übergeordnete Tonalität für den Abschnitt auszumachen, da dieser zwischen den modal konzipierten, maßgeblich auf nicht kadenziellen Quintbeziehungen beruhenden tonalen Zentren es-Moll, as-Moll, Ges-Dur und Ces-Dur schwebt und schließlich in einer bitonal angehauchten Passage kulminiert. 948 Urplötzlich reißt der Höhepunkttakt (T. 573) ab und ebenso abrupt werden die zuvor prägenden Gefilde der B-Tonarten verlassen. Als neue Tonalität ist ab T. 574 C-Dur anzusetzen, wenngleich dies lediglich für die Oberstimmen zu gelten scheint. Zunächst jedoch sei der Blick auf die formale Nahtstelle (T. 573 f.) gerichtet. Es stellt sich die Frage, ob irgendeine syntaktische Verbindung zwischen den beiden so heterogenen Abschnitten vorliegt. Eine Deutung der aneinander angrenzenden Akkorde – ces-Übermäßig und C-Dur – als Dominante-Tonika-Progression in C-Dur ist grundsätzlich möglich. 949 946
Vgl. Kurth, Romantische Harmonik, S. 264 ff. Die beschriebene Passage kann ferner die Palette von Klängen zur Höhepunktgestaltung von Constantin Floros ergänzen (vgl. Floros II, S. 296). 947 Vgl. Floros III, S. 87. 948 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 74. 949 Hierzu ist der prinzipiell mehrdeutige übermäßige Dreiklang enharmonisch zu einem g-übermäßigen Dreiklang (g-h-dis) umzudeuten, der funktional als Dominante mit hochalterierter Quinte fungiert.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Diese kadenzielle Deutung bildet den Höreindruck jedoch kaum ab. Vielmehr scheinen die beiden Harmonien disparat nebeneinander zu stehen. Maßgeblich zur Verunklarung der harmonischen Situation trägt die Instrumentation bei. Nahezu alle noch kurz zuvor involvierten Instrumente verstummen abrupt und werden durch frische Klangfarben ersetzt, 950 was eine klare Trennung der beiden Abschnitte zur Konsequenz hat und den übermäßigen Dreiklang als Höhe- und Endpunkt zusätzlich in Szene setzt. Einzig die Oboen überspielen den instrumentatorischen Schnitt und sorgen mit ihrer Auftaktachtelnote bzw. mit ihrer melodischen V-I-Wendung (g-c) für eine Überblendung der beiden ungleichen Abschnitte. Sie können als ein dünnes syntaktisches Bindeglied bezeichnet werden, das gleichzeitig für eine kadenzielle Deutung spricht. Diese Nahtstelle verdeutlicht nicht nur, dass ein Schnitt in der Instrumentation nicht immer vollständig sein muss. Besonders klar werden hier auch die Wechselwirkungen zwischen Form, Harmonik und Instrumentation. Es liegt weder ein traditioneller modulatorischer Übergang noch eine Rückung vor. Vielmehr bewegt sich Mahler zwischen diesen beiden Extremen und genau dies lässt die formale Nahtstelle ambivalent wirken. Als eine Variante der T. 478–481 können T. 574–577 bezeichnet werden: Alle motivischen und thematischen Elemente – die „kantable Hauptsatzvariante“ 951, die kontrapunktisch wirkende Fanfare und der charakteristische Sextensatz in den Violinen – finden sich wieder. Satztechnisch liegt erneut eine modal konzipierte feldähnliche Passage vor, die sich einer eindeutigen Bestimmung entzieht. Artikuliert wird die Passage vom Basston h, der sich mit den Oberstimmen als Tonvorrat eine C-Dur-Diatonik teilt. Gesteht man das Primat der Tonalität den C-Dur-Oberstimmen zu, fungiert der Basston h als Septton. Geht man hingegen vom Grundton h aus, bewegen sich die Oberstimmen in der Tonart der phrygischen / lokrischen II. Stufe. Wieder einmal darf keiner der beiden Interpretationen der eindeutige Vorzug gegeben werden, da genau diese Doppeldeutigkeit ein signifikantes Merkmal der modalen Felder Mahler ist. Mittels chromatischer Tiefalteration der Töne h zu b und d zu des, die gut an den Violinen, Celli und Kontrabässen zu erkennen ist, und sofortiger Anpassung der Diatonik kippt die C-Dur-Tonalität in T. 578 plötzlich nach b-Moll. 952 Hervorzuheben ist der auftaktige Fanfareneinsatz der Klarinetten (Ton b), der in die stark chromatisch gefärbte ‚neue Szene‘ überblendet und dabei mit dem noch zu C-Dur gehörigen Ton h kollidiert. Nach zwei Takten ertönt in den Oboen eine entstellte Variante des Schlaflied-Themas, von dessen ursprünglichem lyrischen Charakter nichts mehr übrig ist. Mahler verzerrt es nicht nur mit Hilfe der „grellen“ 953 Farbe der Oboen und des Einsatzes von Chromatik: Erstmals im Satzverlauf hebt es auch in Moll an. 954 Die insgesamt plötzlich forcierte 950
Der drastische Registersprung in den Kontrabässen beinhaltet ebenfalls einen deutlichen Klangfarbenwechsel. 951 Krummacher, III. Symphonie, S. 74. 952 Tonikalisierend wirken zudem die Fanfaren in den Bläsern. 953 Mahlers Spielanweisung für die Oboen lautet „grell“. 954 Als Detail sei genannt, dass nun der Grund- und der Terzton (die Töne b und des) und nicht wie zuvor der Terz- und der Quintton als Achsentöne fungieren.
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Analytischer Hauptteil Chromatik kontrastiert zur vorangegangenen C-Dur-Diatonik. So überraschend b-Moll eingetreten ist, so abrupt und unerwartet wird es in T. 583 mittels Rückung wieder verlassen. Und ein weiteres Mal kappt Mahler beinahe sämtliche melodische Linienführungen, indem er alle beteiligten Instrumente mit Ausnahme der Fagotte abrupt verstummen lässt und durch frische Klangfarben ersetzt. 955 Wieder sorgt er mittels antizipierender und dissonierender auftaktiger Einsätze für eine Überblendung: Der Ton g der Hörner und der Ton c in den hohen Holzbläsern reiben sich am Ton b. Da der nachfolgende Abschnitt abermals in C-Dur anhebt, kann den chromatisch durchtränkten b-Moll-Takten insgesamt interpolierende Funktion bescheinigt werden:
Abbildung 130: Zusammenfassung des harmonischen Verlaufs der T. 574–583 955
Der drastische Registersprung der Fagotte in das tiefe Register bewirkt ebenfalls einen deutlichen Klangfarbenwechsel.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Die Schlacht beginnt (T. 583–604) Der Unterabschnitt des zweiten Durchführungsteils ist die musikalische Schilderung des Kampfes zwischen Sommer und Winter, wobei der Winter letztlich bezwungen wird. 956 Thematisch kombiniert Mahler das Weckruf-Thema, das von den Posaunen vorgetragen wird, mit den in den hohen Holzbläsern anhebenden Repetitionsfiguren nebst Dreiklangsbrechungen. Durch die sofortige Anpassung der Diatonik und durch die spezifische Melodik der Posaunen und Holzbläser wird C-Dur als Tonalität ausgeprägt und sogleich als solche akzeptiert; kadenzielle Aspekte spielen dabei eine untergeordnete Rolle, abermals handelt es sich um ein modales Feld, das nun vom Quintton g in der Bassstimme artikuliert wird. Die C-Dur-Pfade werden dann ab T. 587 verlassen. Weiterhin präsent bleibt nur der Basston g, der nun von den tiefen Streichern, Fagotten und der zweiten Pauke dynamisch akzentuiert und zusätzlich mittels Vorschlagsnote fis chromatisch geschärft wird. In den Oberstimmen lässt Mahler – ähnlich wie in T. 568 ff. – auch hier mehrere Melodielinien, die jeweils in unterschiedliche tonale Richtungen weisen, einander überlagern. Während das in der dritten Trompete und in den ersten beiden Posaunen ertönende Weckruf-Thema nach d-Moll weist, zielen die Oboen und die B-Klarinetten nach f-Lydisch. Mit dem Einsatz der Flöten und der Es-Klarinetten einen Takt später geht a-Phrygisch einher, ehe dann alle hohen Holzbläser gemeinsam nach b-Lydisch tendieren. Innerhalb der genannten Tonalitäten nimmt der Basston g unterschiedliche Rollen ein: In d-Moll fungiert er als Quart-, in f-Lydisch als Sekund-, in a-Phrygisch als Sept- und in b-Lydisch als Sextton. Umgekehrt kann dem Basston g das Primat des Grundtons zugeschrieben werden, so dass d-Moll die Tonart der V., f-Lydisch die der VII., a-Phrygisch die der II. und b-Lydisch die der III. Stufe repräsentieren. Eine eindeutige Tonalitätsbestimmung erweist sich als unmöglich. In T. 590 wechselt der Basston g zum Ton c, doch tonale Stabilität vermag sich auch mit dieser V-I-Wendung nicht einzustellen. 957 Zwar handelt es sich um das Bassgerüst eines traditionellen dominantischen Orgelpunkts samt Auflösung in die Tonika, doch die Harmonik darüber stellt sich dazu quer. Besonders deutlich zeigt sich dies im Moment des Tonwechsels in der Bassstimme (T. 589 f.): Die V-I-Wendung wird harmonisch eben nicht als klärende Dominante-Tonika-Progression in C-Dur, sondern als Fortschreitung eines kleinen g-Moll-Septakkords in einen a-Moll-Sextakkord interpretiert; der Basston c tritt also nicht als Grund-, sondern als Terzton ein. 958 In T. 591 erfolgt ein abrupter ‚Szenenwechsel‘. Mahler greift übergangslos auf den Marsch wie aus weiter Ferne (T. 289 ff.) zurück. Während die Streicher das (quasi punktierte) rhythmische Gerüst bilden, ertönt in den Hörnern eine weitere Variante des Weckruf-Themas, die von den Fanfaren der Trompeten überlagert wird. 959 Tonal stellt sich an dieser Stelle (T. 591–594) ebenfalls kaum Stabilität ein: Auf den
956 957 958 959
Vgl. NBL, S. 35. Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 74. Entscheidend ist ferner das explizite Verweigern des Leittons h. Die Trompetenfanfare entstammt ebenfalls den T. 289 ff.
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Analytischer Hauptteil doppeldeutigen T. 591 – er schwebt zwischen F-Dur und b-Lydisch – folgt die erste und einzige Quintstiegsequenz in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien Mahlers. Deren harmonische Stationen lauten D-Dur, a-Moll und e-Moll:
Abbildung 131: Quintstiegsequenz (T. 592–594)
Nachdem Mahler Sequenzen bislang äußerst selten zu Modulationszwecken nutzte, kann dem Quintstieg diese Funktion zumindest teilweise zugestanden werden, da die in den hohen Holzbläsern erklingenden Repetitionsfiguren nebst Dreiklangsbrechungen nach e-Phrygisch zielen und damit die mittels der Sequenz erreichte Tonalität fortsetzen. Allerdings intonieren die Posaunen das Weckruf-Thema in C-Dur, woraus eine Überlagerung von e-Phrygisch und C-Dur und damit verbunden insgesamt tonale Uneindeutigkeit resultieren. Nahtlos schließt sich in T. 595 eine Variante der T. 574 ff. bzw. T. 583 ff. an, so dass dem Marsch wie aus weiter Ferne interpolierende Eigenschaften bescheinigt werden müssen. Zwei Takte später (in T. 597 f.) intonieren die Violinen ebenfalls die markante Repetitionsfigur nebst Dreiklangsbrechungen. Während diese nach C-Dur zielen, weisen die hohen Holzbläser zur gleichen Zeit nach a-Aeolisch. Artikuliert wird die feldähnliche Passage vom Basston e, der in C-Dur als Grund-, in e-Phrygisch als Sext- und in a-Aeolisch als Terzton fungiert. Genau wie bei den anderen mehrdeutigen Feldern kann umgekehrt vom Basston als Grundton ausgegangen werden. Dabei repräsentiert C-Dur die Tonart der VI., e-Phrygisch die Tonart der I. und a-Aeolisch die Tonart der IV. Stufe. Zusätzlich verunklarend wirkt die obere ‚schwere‘ Wechselnote (der Ton f) in der Bassstimme. Kurze Zeit später (T. 598–600) kann sich in den Oberstimmen dann a-Moll etablieren. Währenddessen verselbständigt sich die Bassstimme, die soeben noch zwischen den Tönen e und f pendelte, zu einem aufwärts gerichteten chromatischen Linienzug, der in T. 603 in den Ton des mündet. Als Eckpfeiler der Passage (T. 595–603) können demnach die Töne e und des gelten. 960 Den entscheidenden tonalen Wendepunkt ‚auf dem Weg‘ zum Zielton des markiert der T. 601: Dort wird mittels Rückung der a-Moll-Kontext abrupt verlassen und Des-Dur angehängt. Mit Des-Dur wird darüber hinaus die Tonalität antizipiert, mit der der letzte Durchführungsabschnitt (T. 605 ff.) anhebt. Erwähnenswert ist die 960
Die zwischen den Eckpfeilern e und des erklingenden Basstöne färben die Oberstimmen zwar, sind allerdings insgesamt transitorisch zu deuten. Insbesondere die Fortschreitung der Töne fis zu g (T. 599 f.) darf nicht als Leitton-Grundton-Progression fehlinterpretiert werden.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Harmonisierung des chromatisch aufwärts durchschrittenen Tetrachords as-des in der Bassstimme. Dass es sich hierbei nicht um eine V-I-Progression in einem kadenziellen Sinne handelt, zeigt sich daran, dass zwei Des-Durdreiklänge – ein Quartsextakkord und ein Grundakkord – in den T. 601–603 eine Klammer bilden, innerhalb derer die Dreiklänge des-Übermäßig, B-Dur und h-Vermindert transitorisch zu verstehen sind, gleichsam als Zufallsbildungen beim Auskomponieren von Des-Dur:
Abbildung 132: Auskomponierung von Des-Dur (T. 601–603)
Zusammen mit dem Des-Dur-Grundakkord ertönen das Tusch-Motiv (in den Klarinetten und Blechbläsern) und treibende Sechzehntelfiguren (in den Streichern und Fagotten), die sogleich das rhythmische Grundgerüst für den letzten Durchführungsabschnitt bilden werden. Die drei jeweils in C-Dur anhebenden Weckruf-Themeneinsätze (T. 574, T. 583 und T. 595) bilden nicht nur die einzig echten tonalen Orientierungspunkte in dem ansonsten tonal unsteten und mehrdeutigen Abschnitt, sondern wirken zudem formal strukturierend. Darüber hinaus gestatten sie eine Subsumierung des zweiten Unterabschnitts des letzten Durchführungsteils unter der C-Dur-Tonalität. Alle bitonal bzw. bimodal gefärbten, teils fremdkörperartigen Passagen zwischen den C-Dur-Eckpfeilern weisen interpolierende oder transitorische Eigenschaften auf. Aus der d-Moll-Perspektive handelt es sich um die makrologische harmonische VII. und aus dem F-DurBlickwinkel um die V. Stufe, wenngleich sie stark verzerrt auftritt. Die vorliegende Konzeption lässt sich durchaus vergleichen mit den Varianten des Schlaflied-Themas (T. 451 ff.), denen Mahler eine ähnliche tonale und formale Funktion zuwies. Der Südsturm (T. 605–642) Zum dritten und letzten Unterabschnitt des zweiten Durchführungsteils äußerte Mahler gegenüber Natalie Bauer-Lechner: Rasend wälzt sich’s im ersten Satz heran gleich dem Südsturm, der in diesen Tagen hier fegt und der – ich bin des sicher – alle Fruchtbarkeit in seinem Schoße trägt, da er aus fernen fruchtbar-heißen Ländern kommt – anders als der uns Menschen erwünschte Ostwind-Fächler. In einem fortreißenden
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Analytischer Hauptteil Marschtempo braust es immer näher und näher, lauter und lauter, lawinengleich anschwellend, bis sich das ganze Getöse und der ganze Jubel über dich ergießt. 961
Mahler lässt sich bei seiner programmatischen Konzeption von der Naturgewalt inspirieren, die er während seines Aufenthalts in seinem Komponier-Häuschen in Steinbach am Attersee leibhaftig miterlebt hat. Der Südsturm erfüllt dabei eine Doppelfunktion als Lebensbringer und als Zerstörer; er fegt den Winter endgültig hinweg. Zusätzlich zu Mahlers Naturimpression lässt sich abermals ein Bezug zum Kapitel Das Gesindel aus Nietzsches Also sprach Zarathustra erkennen: Und wie starke Winde wollen wir über ihnen leben, Nachbarn den Adlern, Nachbarn dem Schnee, Nachbarn der Sonne: also leben starke Winde. Und einem Winde gleich will ich einst noch zwischen sie blasen und mit meinem Geiste ihrem Geiste den Atem nehmen: so will es meine Zukunft. Wahrlich, ein starker Wind ist Zarathustra allen Niederungen; und solchen Rat rät er seinen Feinden und allem, was spuckt und speit: „hütet euch, gegen den Wind zu speien!“ 962
Die wütend hinwegfegenden Streicher artikulieren im Zusammenspiel mit den tiefen Bläsern und den Pauken ein ambivalentes Feld diatonischer Prägung. Dieses fußt auf dem omnipräsenten Ton des, der zunächst als Grundton in Des-Dur fungiert. Darüber erklingen in T. 609 ff. „Fragmente der Fanfaren- und Marschmotive“ 963, ehe ab T. 622 das Weckruf-Thema in den Vordergrund rückt. Interpunktiert werden die thematischen Elemente durch perkussiv-geräuschhafte, beinahe athematisch wirkende Einwürfe (T. 613 f. und T. 621) und durch die Terzfälle in den tiefen Bläsern, die der ausklingenden Ges-Dur-Episode entstammen und sich seitdem als motivisches Element etablieren konnten. Für die tonale Komponente ist abermals die spezifische melodische Faktur der thematischen Elemente von entscheidender Bedeutung. Sie steuert die Grundtonwahrnehmung und sorgt dafür, dass im Verlauf des letzten Durchführungsabschnitts mehrfach die tonalen Zentren bei nahezu konstanter Diatonik wechseln. Dabei gilt es, die angesteuerten Tonalitäten mit dem artikulierenden Liegeton des in Beziehung zu setzen und die Wechselwirkungen zu beleuchten. Mit dem ersten Einsatz der Hörner und Trompeten (in T. 609) verschiebt sich das tonale Zentrum von Des-Dur nach b-Moll. Bereits einen Takt später kristallisiert sich ges-Lydisch als temporäre Tonalität heraus, ehe mittels Leittönigkeit erneut der Grundton b aufgesucht wird; dies ist im Übrigen die einzige Stelle, die aus der ansonsten strengen Diatonik ausschert:
961 962 963
NBL, S. 60. Nietzsche, Zarathustra, S. 81. Krummacher, III. Symphonie, S. 74.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 133: Analytische Partiturreduktion eines Ausschnitts des Südsturms (T. 608–612)
Nach dem perkussiv anmutenden ‚Zwischenspiel‘ (T. 613 f.) werden sequenzartig zunächst es-Dorisch und dann ges-Lydisch gestreift. Die nächste Fanfare in Hörnern und Trompeten hebt dann abermals in es-Dorisch an und mündet in f-Phrygisch. 964
Abbildung 134: Analytische Partitureduktion eines Ausschnitts des Südsturms (T. 614–619)
Während die Posaunen das Weckruf-Thema in ges-Lydisch (T. 622 ff.) vortragen, blitzt die markante, metrisch weitgehend ungebundene Dreiklangsfigur im schrillen Register der Es-Klarinetten auf. Diese wird kurze Zeit später von der zweiten Pauke aufgegriffen. Beide Male wird damit eine b-aeolische Richtung eingeschlagen. Die markante Dreiklangsfigur kehrt in T. 621 ff. noch mehrmals in den Holzbläsern wieder, weist dabei abwechselnd nach ges-Lydisch und b-Aeolisch und sinkt im Register kontinuierlich abwärts, bis sie schließlich im tiefen Klangbereich der A-Klarinetten nur noch blass und jeglicher Klangkraft beraubt ertönt. Die simultan im Bassregister erklingenden Terzfälle des-b fügen sich in die beiden genannten Tonalitäten konfliktlos ein. Motivisch hat an dieser Stelle insofern eine Angleichung stattgefunden, als der Terzfall sowohl als eigenständiges Motiv, das der ausklingenden Ges-Dur-Episode entstammt, als auch als Abspaltung des Weckruf-Themas interpretiert werden kann. 965
964
Klärend wirken dabei die Quart- und Quintintervalle (f-c) der Blechbläser, die sogleich von den Pikkoloflöten und Oboen aufgegriffen werden. 965 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 74.
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Analytischer Hauptteil Mit Ausnahme der einmaligen leittönigen Färbung in T. 612 beruhen alle innerhalb des Feldes erklingenden Tonalitäten (Des-Dur, b-Aeolisch, ges-Lydisch, f-Phrygisch und es-Dorisch) auf demselben diatonischen Tonvorrat. Der das Feld artikulierende Liegeton des wechselt dabei seine Rolle und fungiert als Grund-, Terz-, Quint-, Sextund sogar als Septton. Geht man umgekehrt vom Basston des als Grundton aus, erklingen in den Oberstimmen die Tonarten der VI. (b-Aeolisch), IV. (ges-Lydisch), III. (f-Phrygisch) und II. Stufe (es-Dorisch). Mahler konzipiert den letzten Durchführungsabschnitt also als ein vom Basston des artikuliertes ambivalentes Feld, das in der tonalen Architektur des Satzes die Rolle der tiefalterierten makrologischen harmonischen I. bzw. VI. Stufe einnimmt. Eine Nachzeichnung des dramaturgischen Verlaufs zeigt, dass der Abschnitt mehr und mehr in Chaos und Gewalt umschlägt, bis er schließlich in Fetzen gerissen und ziel- und ergebnislos in den tonhöhenlosen Marschrhythmen der Kleinen Trommel zum Erliegen kommt. 966 Diese unterstreichen „als gleichsam außer- oder vormusikalisches Sinnbild“ 967 das unkonventionelle Ende des letzten Durchführungsteils, das sich als ein sukzessiver Auflösungs- und Zersetzungsprozess der thematischen Substanz beschreiben lässt. 968 Das unkonventionelle Moment wird vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund noch deutlicher, weil das absolute Gegenteil einer Überleitung zur Reprise vorliegt. 969 Damit geht Mahler noch einen Schritt weiter als an den entsprechenden formalen Nahtstellen der Kopfsätze der Ersten und der Zweiten. Wenngleich sowohl der Durchbruch in der Ersten als auch der katastrophenähnliche Höhepunkt in der Zweiten klanglich herausragende Passagen repräsentieren, sind sie als prolongierte Dominanten nebst Auflösung in die Tonika bei Reprisen-Eintritt dennoch eindeutig der Tradition verpflichtet. Die Nahtstelle zwischen der Durchführung und der Reprise in der Dritten könnte kaum unterschiedlicher und anti-symphonischer sein. Bezeichnenderweise bleibt Mahler mit diesem verstörenden Ende 970 seiner Linie innerhalb des Kopfsatzes treu, einmal mehr zeigt sich überdeutlich „der Verzicht auf alle bewährten Vermittlungskategorien“ 971 zwischen den einzelnen Abschnitten. Abschließend kann für die gesamte Durchführung festgestellt werden, dass sie nur teilweise Durchführungscharakter in einem traditionellen Sinne aufweist, was weniger auf den Umgang mit dem thematischen Material als vielmehr auf die tonale Komponente zurückzuführen ist. Vor allem fällt es schwer, den T. 369–491 aufgrund ihres Festhaltens an der d-Moll-/D-Dur-Tonalität Durchführungscharakter zuzusprechen. Der nachfolgende Verlauf mit seinen zahlreichen wechselnden tonalen Zentren entspricht dann weitaus mehr einer traditonellen Durchführung, wenngleich auch hier harmonisch großflächige Verfahren dominieren. 966
Vgl. Handstein, Jörg, III. Symphonie in d-Moll, in: Gustav Mahlers Sinfonien (Kassel 2001), hrsg. von Renate Ulm, 2. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2002, S. 107. 967 Krummacher, III. Symphonie, S. 74. 968 Ebd. 969 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 108. 970 Vgl. Handstein, III. Symphonie, S. 107. 971 Vgl. Adorno, Physiognomik, S. 108.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Reprise (T. 643–874) Das Weckruf-Thema in den Hörnern wird „unmissverständlich als Reprisenbeginn gehört“ 972. Hinsichtlich der Verortung der Reprise herrscht Konsens in der Mahlerforschung. Hervorzuheben ist, dass überhaupt „erst die Reprise die am Sonatensatz orientierte Analyse des bisherigen Satzverlaufs [bestätigt]“ 973 und den Kopfsatz damit in ein traditionelles Licht rückt, obwohl mehrfach die grundsätzliche Frage nach der Vereinbarkeit der formalen Anlage mit der symphonischen Tradition gestellt werden musste. 974 Genauso „unmissverständlich“ ist mit dem Repriseneinsatz d-Moll und nicht F-Dur als Grundtonalität bzw. makrologische harmonische I. Stufe verbunden, wenngleich die F-Dur-Perspektive später noch relevant sein wird. 975 Die Reprise ist gegenüber der Exposition um mehr als einhundert Takte gekürzt. Sie rekapituliert die Exposition in insgesamt konzentrierterer und klarer strukturierter Form, 976 steht aber zugleich der Exposition und der Durchführung an Vielfältigkeit der Variantentechnik in nichts nach. 977 Wenngleich also größtenteils auf die bereits gewonnenen analytischen Resultate verwiesen werden kann, finden sich immer wieder subtile Modifikationen und Passagen, die es lohnt, im Detail zu beleuchten. Das die Reprise eröffnende Weckruf-Thema entspricht zunächst demjenigen des Satzbeginns, ehe es ab dem Ende von T. 648 modifiziert fortgeführt wird. Im Unterschied zum Satzanfang gelingt es den Hörnern nun, die melodische Barriere (den Ton b’) zu überwinden und über das c bis zum Spitzenton d durchzustoßen. 978 Die akzentuierenden Streicher zusammen mit dem Schlagwerk orientieren sich ebenfalls zunächst an der Introduktion, allerdings intonieren sie in T. 649, in dem gemäß der Satzeinleitung das Quintintervall f-b zu erwarten wäre, das Quartintervall f-c, 979 wodurch sich temporär F-Dur als Tonalität einstellt. Vom Spitzenton d aus erfolgt dann die charakteristische absteigende melodische Linie, die den Raum einer None durchschreitet und in den Ton c mündet. Ein Vergleich mit der Introduktion zeigt, dass bei gleichem diatonischen Tonvorrat eine Terztransposition aufwärts vorliegt. Unberührt davon bleiben die am-
972
Steinbeck, Erste bis Vierte Symphonie, S. 244. Krummacher, III. Symphonie, S. 75. 974 Vgl. ebd. 975 An dieser Stelle erweist sich auch in aller Deutlichkeit Monahans „off tonic“-Interpretation der Einleitung als insuffizient. 976 Vgl. Handstein, III. Symphonie, S. 108. 977 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 75. 978 Letzterer wird mittels zweimaliger stufig aufwärts gerichteter Sequenzierung der charakteristischen Dreitongruppe, bestehend aus zwei Achteln und einer Halben, erreicht (vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 75). Eine Abbildung des modifizierten Weckruf-Themas findet sich in der Übersicht über die wichtigsten Motive und Themen. 979 Vgl. ebd., S. 75. 973
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Analytischer Hauptteil bivalenten Eigenschaften dieser Takte. 980 Angelangt auf dem Zielton c schließt Mahler nicht wie in der Introduktion unmittelbar die mystischen Baßharmonien an, denn sie müssten aufgrund der Terztransposition in c-Moll / C-Dur anheben. Vielmehr erweitert er das Weckruf-Thema um zwei Takte, um in die vertrauten Bereiche des Satzbeginns zurückzukehren und die mystischen Baßharmonien abermals in ihrer angestammten a-Moll-Tonalität erklingen zu lassen. Pikant ist, dass Mahler ohne die ‚Korrektur‘ der Terztransposition genau an dieser Stelle in die F-Dur-Gefilde vorstoßen könnte: Hätte er nämlich c-Moll / C-Dur als Tonalität für die mystischen Baßharmonien ergriffen, so würde der anschließende Trauermarsch in zur Introduktion analoger Quintbeziehung in f stehen. Dieses Detail unterstreicht die tonale Doppelbödigkeit des Satzes ein weiteres Mal. Bei der betreffenden viergliedrigen Dreiklangsprogression (T. 654– 657) fällt auf, dass Mahler nun auf den bislang charakteristischen Moll-Dur-Kontrast verzichtet, indem er beim letzten Akkord nicht in den hellen A-Dur-Dreiklang hinüberwechselt. Dadurch tritt der a-Moll-Dreiklang umso deutlicher als Achsenakkord hervor. 981 Das Festhalten an Moll wirkt sogar noch weiter, denn durch die Etablierung des Tons c verhalten sich die T. 659 ff. nicht mehr mehrdeutig wie ihre Vorgänger (T. 15 ff.), 982 sondern lassen sich unter einem a-dorischen Tonvorrat subsumieren. Der danach einsetzende d-Moll-Trauermarsch erweckt dabei den Anschein, „als wäre er latent immer weitergespielt worden, [um nun] allmählich wieder hörbar“ 983 zu werden. An ihm wird die erwähnte Straffung und Gedrängtheit der Reprise besonders deutlich: Mahler verschmilzt die beiden großen Trauermarsch-Episoden der ersten und zweiten Entwicklungspartie zu einer einzigen. Rasch wird auf die TrauermarschEpisode der zweiten Entwicklungspartie rekurriert, die als Kennzeichen das in den Marsch eingefügte Rezitativ-Arioso der Solo-Posaune aufwies. In Folge wird nicht nur auf die mystischen Baßharmonien verzichtet, sondern auch auf das Schlaflied-Thema, das in T. 702 zu erwarten wäre. An deren Stelle tritt eine Variante des aus T. 424 ff. stammenden, von Vorhalten durchtränkten und instrumentatorisch stark ausgedünnten Rezitativ-Ariosos, hier um gut zwanzig Takte erweitert. Das Fehlen der Spielanweisung „Sentimental“, kann dahingehend gedeutet werden, dass Mahler damit den „tiefen Ernst der Passage“ 984 umso stärker herausstellen möchte. Deutlich erkennbar bleibt der kadenzielle und sich anschließende achsentönige Grundgedanke. Die harmonischen Stationen lauten: d-Moll (T. 703–710), e-Moll (T. 711–716), C-Dur (T. 717–718)
980
Vom zuvor erklingenden Grundton f aus ist die Passage in f-Mixolydisch, vom melodischen Spitzenton d aus in d-Phrygisch und vom Zielton der absteigenden Linie, also vom Ton c aus, in c-Dorisch zu deuten. 981 Der fis-Moll-Dreiklang ist nun als Leihgabe bzw. als VI. Stufe der Varianttonart zu verstehen. 982 In der Einleitung schwebte die betreffende Akkordfolge zwischen a-Mixolydisch und a-Dorisch. 983 Adorno, Physiognomik, S. 109. 984 Krummacher, III. Symphonie, S. 76.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie und Es-Dur (T. 719–721). Ein Vergleich der beiden Rezitativ-Arioso-Passagen erbringt ferner, dass die Version der Reprise um eine große Terz aufwärts transponiert ist. 985 Danach (T. 723) orientiert sich Mahler nicht mehr an der Durchführung, was zunächst einmal daran ersichtlich wird, dass kein Rekurs auf die klagende Englischhorn-Episode erfolgt. Zwar wird die (gemäß der Transposition) zu erwartende tonale Richtung g-Moll (ab T. 723) eingeschlagen – kadenziellen Signalcharakter weisen die Mollsubdominante mit sixte ajoutée (c-es-g-a) in T. 727 f. und der Dominantdreiklang (d-fis-a) einen Takt später auf –, allerdings kann von einer Auflösung in die g-Moll-Tonika im Anschluss keine Rede sein. Stattdessen wird eine Tonikalisierung des dominantisch konnotierten D-Dur-Dreiklangs vorgenommen. Diese erzielt Mahler vor allem mit Hilfe der sich anschließenden V-I-Progression, bestehend aus dem leeren Quint-Oktav-Klang a-e-a und dem D-Dur-Dreiklang mit langer Fermate; ein Rest an Unbestimmtheit bleibt durch das Fehlen des Leittons cis. Ein Blick auf die formalen Eckpunkte des instrumentalen Rezitativ-Ariosos verrät, dass die Harmonien d-Moll und D-Dur eine Klammer bilden. Daraus kann wiederum geschlossen werden, dass der Abschnitt trotz aller internen harmonischen Bewegtheit auf der makrologischen harmonischen I. Stufe steht und Mahler also bis zu diesem Zeitpunkt der Reprise an dieser festhält. Abgesetzt von kurzen Fermaten blitzen im dreifachen piano Motivfetzen in den Celli und Kontrabässen auf, die sich nach zögerlichem Beginn zum tragenden rhythmischen Gerüst des Marsches wie aus weiter Ferne verdichten. 986 Ehe in T. 747 das für diesen charakteristische und in a-Moll zu verortende Tusch-Motiv ertönt, rekurriert Mahler in der einleitenden Einstimmigkeit, die tonal von B-Dur bestimmt ist, auf melodisches Material, das den stürmischen Takten des letzten Durchführungsabschnitts (T. 609 ff.) entstammt. Während es dort von Hörnern und Trompeten in voller Klangpracht vorgetragen wurde, kommt es nun (bedingt durch die tiefen Klangfarben) in einem unheimlichen Gewand daher. 987 Der schwebende modal-diatonische Grundcharakter des Marsches bleibt dabei erhalten. Kurze Zeit später (T. 749) fügt Mahler in den Marsch wie aus weiter Ferne eine Variante des Weckruf-Themas ein, das von den abgedämpften Hörnern intoniert wird. Dabei weist diese nach F-Dur, während die TuschMotive in den Holzbläsern weiterhin auf a-Moll beharren. Aufgrund ihrer Nähe zu T. 307–314 bedürfen die T. 754–761 keiner gesonderten Untersuchung. Hier wie dort beschließt Mahler den Marsch wie aus weiter Ferne mit einer a-Moll-Kadenz, um danach parataktisch den F-Dur-Marschkomplex anzuhängen. Dieser zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass das Weckruf-Thema, das von den Celli und den zweiten Violinen „gesangvoll“ 988 intoniert wird, und das Schlaflied-Thema, das von den Holzbläsern vorgetragen wird, nicht wie in der Exposition (T. 315 ff.) aufeinander folgen, sondern einander überlagern. Die zu Beginn der Untersuchung der Reprise erwähnte Kompakt-
985 986 987 988
Zuvor waren es b-Moll, c-Moll, As-Dur und Ces-Dur. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Mahlers Spielanweisung lautet „gesangvoll“.
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Analytischer Hauptteil heit des Formteils wird auch im weiteren Verlauf maßgeblich durch derartige durchführungsartige thematische Überlagerungen erzielt. Des Weiteren werden Taktgruppen in ihrer ursprünglichen Reihenfolge immer wieder vertauscht und neu zusammengesetzt. Ebenfalls erwähnenswert ist, dass das Schlaflied-Thema in seiner ursprünglichen fragilen und schwebenden Gestalt in der Reprise gänzlich ausgespart bleibt und stattdessen stets in seiner dem Marschcharakter angepassten Form in Erscheinung tritt. Dies mag sich damit erklären lassen, dass es innerhalb der Durchführung in der besagten, gewissermaßen konservierten Gestalt zum Einsatz gekommen ist und daher keiner Rekapitulation bedarf. Letztlich gleichen sich die unterschiedlichen Marschtypen durch die Vielzahl an Überlagerungen, Vertauschungen und Re-Kombinationen einander mehr und mehr an. Nach der Quintkadenz (T. 766 f.) wird, vergleichbar der Exposition (T. 284 f.), nicht sogleich nach F-Dur zurückgekehrt, sondern mittels Fortsetzung des Quintfalls eine viertaktige B-Dur-Episode angeschlossen. Auch diese unterscheidet sich von ihrem Pendant vor allem durch die Einbettung des Schlaflied-Themas in das Marschumfeld, das in den Fagotten und dem ersten Horn anhebt. Während der F-Dur-Marsch in der Exposition unmittelbar danach aufgegriffen wird, wird dessen Wiedereintritt in der Reprise bis T. 778 hinausgezögert. Die „sechs eingeschobenen Takte [. . . ]“ 989 (T. 772–777) werden dabei parataktisch an die B-Dur-Episode angehängt; sie entstammen sowohl tonal als auch motivisch dem Marsch wie aus weiter Ferne. Dort (T. 778) angelangt orientiert sich der Komponist stark an T. 289 ff., so dass auf die bereits vorhandenen Untersuchungsergebnisse verwiesen werden kann. Abermals ist die Einarbeitung des Schlaflied-Themas in das Marschumfeld erwähnenswert: Einmal erklingt es an der markanten dissonanten Stelle, an der sich die Marschquarte f-c mit der darüber erklingenden auskomponierten II. Stufe g-Moll reibt (T. 783–786), einmal ertönt es, intoniert von Fagotten und Hörnern, im chromatischen Gewand innerhalb des Marsches wie aus weiter Ferne (T. 791–796). 990 Der nachfolgende F-Dur-Marsch (T. 799 ff.) entspricht im Wesentlichen demjenigen der T. 315 ff., wenngleich sich dieser im Gegensatz zur Exposition nun nicht zu „jene[r] rauschhafte[n] Übersteigerung“ 991 entfalten vermag. Stattdessen zieht sich Mahler instrumentatorisch zurück, wodurch er eher einen Zusammenhang zum Beginn des F-Dur-Marsches (T. 273 ff.) herstellt. Dafür sprechen zusätzlich die kompakte Dominantseptakkord-Tonika-Wendung (T. 798 f.), die derjenigen in T. 273 f. entspricht, und der sich anschließende kadenziell geprägte Streichersatz, der eine Erweiterung des T. 277 f. (der Quintkadenz) darstellt. Tonal scheint er ebenfalls von F-Dur nach C-Dur zu führen, um jedoch im allerletzten Moment (T. 807) mittels einer knappen Kadenz nach a-Moll umzusteuern. „Mit grossem Ausdruck.“ 992 tragen Hörner, Oboen und Celli in T. 808 ff. dynamisch „gemäßigte Varianten der Kernmelodie im Anschein der stabilisierenden Beru-
989 990 991 992
Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 76. Ferner hebt es an den genannten Stellen jeweils in Moll an. Ebd. Dabei handelt es sich um Mahlers Partitureintrag.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie higung“ 993 vor, während in der Bassstimme eine chromatisch kreisende Gegenstimme erklingt. 994 Tatsächlich kann tonal keine Rede von einer „stabilisierenden Beruhigung“ sein, denn das chromatische Gewand, in das das Weckruf-Thema gehüllt wird, verunklart die tonale Situation. Festzustellen ist zunächst einmal, dass die ersten drei Takte harmonisch auf einem kleinen C-Dur-Septakkord basieren, der sich im F-DurKontext als Dominantseptakkord ausnimmt. Anstelle einer tonikalen Auflösung erfolgt mittels chromatischer Absenkung des Tons e zu es in T. 811 eine Molltrübung, ehe noch im selben Takt der daraus resultierende kleine c-Moll-Septakkord zum verminderten Septakkord (fis-a-c-es) fortgeführt wird. Die charakteristische Folge dieser beiden kadenziellen Signalakkorde bleibt jedoch ohne Konsequenz, da eine Auflösung nach g-Moll ausbleibt. Dass Mahler auch weiterhin entgegen der Hörerwartung verfährt und die Passage tonal in der Schwebe hält, wird daran deutlich, dass Melodik und Harmonik quer zueinander stehen und gewissermaßen an unterschiedlichen Strängen ziehen: Während die Trompetenfanfare 995 in c-Moll zu verorten ist, weist der harmonische Unterbau in Gestalt des kleinen Es-Dur-Septakkords nach As-Dur. Ähnlich dem Beginn der instabilen Episode wird der dominantisch konnotierte Septakkord dann (in T. 813) modifiziert. Der daraus resultierende c-halbverminderte Septakkord (c-es-ges-b) besitzt wiederum Signalcharakter; er kündigt als Mollsubdominante mit sixte ajoutée die Tonart b-Moll an. Hier wie dort halten die kadenziellen Signalklänge nicht das, was sie versprechen, da danach eben nicht das traditionell zu erwartende tonikale Ziel erreicht wird. Um eine kleine Terz aufwärts transponiert hebt die Fanfare dann in den hohen Holzbläsern an und zielt nach es-Moll. Entsprechend der Transposition wird sie harmonisch mit einem kleinen Ges-Dur-Septakkord unterlegt, der nach Ces-Dur weist. Der letzte Takt der achttaktigen Passage lässt sich schließlich zum übermäßigen Quintsextakkord (des-f-as-h) bzw. zum kleinen Durseptakkord (des-f-as-ces) zusammenfassen, wobei die Töne d, fes und g in der ersten Takthälfte als Vorhalte fungieren. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Weckruf-Thema hier erst- und einmalig im Satzverlauf in eine Tristan-ähnliche Harmonik getaucht wird 996:
993
Krummacher, III. Symphonie, S. 76. Zu Beginn ist im Abstand einer Dezime eine zusätzliche Stimme an die Bassstimme gekoppelt, so dass ein paralleler Dezimensatz entsteht. 995 Die Gestalt der Fanfare weist starke Ähnlichkeit zu derjenigen in T. 346–350 auf. 996 Vgl. Kurth, Romantische Harmonik, S. 281 ff. 994
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 135: Weckruf-Thema im Tristan-ähnlichen harmonischen Gewand (T. 807–816)
Die formale Nahtstelle (T. 815 f.) erinnert instrumentatorisch an diejenige in T. 573 f. Beide weisen einen Schnitt in der Instrumentation auf, der aber nicht vollkommen ist. An dieser Stelle ist es die Es-Klarinette, die mit ihrem antizipierenden auftaktigen Einsatz eine schwache Verbindung herstellt und in den nächsten Unterabschnitt überblendet, während alle anderen zuvor beteiligten Instrumente abrupt verstummen und durch unverbrauchte Klangfarben ersetzt werden. Insgesamt spielt die Instrumentation an dieser formalen Nahtstelle eine entscheidende Rolle, denn mit dieser erzielt Mahler eine deutliche Zäsur, die den F-Dur-Grundakkord vom vorangehenden übermäßigen Quintsextakkord (des-f-as-h) bzw. kleinen Durseptakkord (des-f-as-ces) separiert, damit einen funktionalen Zusammenhang vereitelt 997 und es F-Dur ermöglicht, sich schlagar-
997
Die Progression des übermäßigen Quintsextakkords des-f-as-h und des F-Dur-Grundakkords repräsentiert nach Oliver Fürbeth den im 19. Jahrhundert gängigen DoppeldominantTonika-Topos, der das Resultat einer Elision der Dominantfunktion darstellt (vgl. Fürbeth, Ton und Struktur, S. 151–158). An dieser Stelle sei noch einmal prinzipiell auf die funktionale Deutung mittels Elision eingegangen. Im Laufe der kompositionstechnischen Untersuchung der Kopfsätze der ersten drei Symphonien Mahlers sind inzwischen mehrmals Passagen festgestellt worden, die sich damit funktional erklären lassen. Hier wie dort ist diese
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie tig als neue Tonika zu etablieren. 998 Während die akzentuierenden Mehrfachgriffe der zweiten Violinen, Violen und Celli im Zusammenspiel mit den Becken das harmonische und rhythmische Fundament bilden, überlagern sich zwei Dur-Varianten des WeckrufThemas – die eine hebt in den ersten Violinen und Flöten, die andere in den Hörnern an – und die Fanfare in den Es-Klarinetten, deren rhythmische Kontur zusätzlich von der Kleinen Trommel geschärft wird. Die Fanfare, die in Folge von den Violinen imitatorisch aufgegriffen und fortgesponnen wird, hat vor allem die Durchführung ab T. 530 ff. maßgeblich motivisch geprägt. Auch harmonisch lässt sich ein Bezug zum zweiten Teil der Durchführung herstellen, da die harmonische Organisation hauptsächlich auf Quintfällen beruht: eine erste Gruppe mit den Stationen F-Dur, B-Dur und Es-Dur (T. 816–820) und eine zweite mit C-Dur, G-Dur, C-Dur und F-Dur (T. 821– 824). 999 Dass die Quintfälle rein transitorische Funktion besitzen, zeigt sich daran, dass F-Dur sowohl den harmonischen Ausgangs- als auch Zielpunkt und somit eine Klammer bildet. Mit dem Erreichen von F-Dur wird gleichzeitig der nächste Abschnitt eröffnet, der auf das Lied ohne Worte (T. 492 ff.) rekurriert. Vom ursprünglichen lyrischen Duktus des Liedes ohne Worte ist an dieser Stelle jedoch kaum noch etwas übrig. Vielmehr kann es sich – ähnlich wie das Schlaflied-Thema – der immer weiter vorwärts drängenden Kraft des Marsches nicht entziehen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle das Aufgreifen des Terzfalls mit charakteristischem Gegenschrittmodell in der Oberstimme, der mittels Fauxbourdon harmonisiert wird:
Deutung allein im konkreten Kontext jedoch unzureichend und besitzt kaum Aussagekraft. Erst die Berücksichtigung des Umfeldes und die Zusammenschau mehrerer Komponenten (Form, Harmonik und Instrumentation) wirken klärend. Zumal suggeriert der „Doppeldominant-Tonika-Topos“ harmonische Verbundenheit an einer Stelle, die genau einer solchen weitgehend entbehrt. 998 Technisch wird die Tonikalisierung, wie schon des Öfteren, mittels Anpassung der Diatonik und melodischer Kräfte vollzogen. 999 Während in der Durchführung überwiegend Molldreiklänge zum Einsatz kamen, ist an dieser Stelle die Häufung von Durdreiklängen auffällig.
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Analytischer Hauptteil
Abbildung 136: Mittels Fauxbourdon harmonisierter Terzfall mit Gegenschrittmodell in der Oberstimme (T. 823,4–825)
Abgestützt von den Holzbläserakkorden ertönen in den Streichern weiterhin die treibenden Repetitionsfiguren nebst Dreiklangsbrechungen und in den Hörnern das Weckruf-Thema, ehe nach vier Takten die erste Trompete die Rolle des Melodieträgers übernimmt. Im Kern handelt es sich hierbei (T. 828–831) um eine Transposition der T. 488–491 um eine kleine Sekunde abwärts, sprich die betreffenden Takte heben nun in C-Dur an und schließen auch in der genannten Tonart. 1000 Wie in der Durchführung wird auch hier der nächste Abschnitt mittels nochmaligem Quintfall erreicht. Das sich nun zu voller Klangpracht entfaltende F-Dur-Tutti erstreckt sich über T. 832–845 und bildet eine gestraffte Variante der T. 315–330. Nach zwei Takten ereignet sich ein zweifacher Quintfall, der über den kleinen D-Dur-Septakkord zunächst nach g-Moll führt, um sogleich mit einem kleinen c-MollSeptakkord fortzufahren. Letzterer wird dann in der zweiten Takthälfte des T. 836 durch die Hochalteration der Akkordterz zum Dominantseptakkord von F-Dur abgewandelt. Dessen Auflösung wird im Folgetakt jedoch durch einen trugschlüssig wirkenden d-MollDreiklang vereitelt. 1001 Melodisch erinnern die sich um den Liegeton c in den Trompeten und in der zweiten Pauke rankenden charakteristischen chromatischen Linienführungen sofort an T. 321–323 und hier wie dort geht es weniger um eine kleingliedrige harmonische Ausgestaltung, als vielmehr um die chromatische Intensivierung der Dominantfunktion mittels eines Dezimen- bzw. Sextensatzes, der sich abgestützt vom liegenden Dominantgrundton kontinuierlich aufwärts schraubt. 1002 Im Vergleich zur Exposition schwächt Mahler die tonikale Auflösung (T. 840) ab, indem er die inszenierte Dominante nicht in den Tonika-Grundakkord, sondern zunächst in den Tonika-Sextakkord münden lässt. Dadurch gelingt es ihm, den Spannungsbogen weiterhin aufrechtzuerhalten: 1000
Das Lied ohne Worte und die Trompetenfanfare sind in ihrer ursprünglichen Reihenfolge vertauscht. 1001 Der Basston cis und der Ton b sind dabei als Vorhalte zu betrachten. 1002 Im Unterschied zu T. 321 ff. fällt an dieser Stelle eine zusätzliche Interpretation als Montesequenz schwer. Entscheidend ist die kontrapunktische Grundidee.
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Abbildung 137: Trugschusskadenz und ‚Inszenierung‘ der Dominante (T. 832–840)
Ähnlich wie in der Exposition wird kurze Zeit später (T. 842 ff.) g-Moll als tonale Richtung eingeschlagen, ohne die Tonalität im Anschluss zu festigen. Die in T. 844 gemäß der Exposition (T. 327–330) zu erwartende viertaktige Überleitung wird um zwei Takte verkürzt und entbehrt der rhythmischen „Urformel [. . . ]“ 1003. Besonders markant ist der anschließende Verzicht auf die sich über zwanzig Takte erstreckende dominantische Orgelpunkt-Episode, 1004 die gemäß der Exposition (T. 846) zu erwarten wäre. Stattdessen geht Mahler unmittelbar in den Marschabgesang über. Die formale Nahtstelle (T. 845 f.) basiert harmonisch auf der Progression des verminderten Septakkords h-d-f-as und des F-Dur-Quartsextakkords, was traditionell als Doppeldominante-Dominante-Wendung in F-Dur zu interpretieren ist. Der besondere Reiz besteht darin, dass Harmonik und Form an dieser Stelle nicht Hand in Hand gehen. Zu erwarten wäre, dass der neue Abschnitt mit der Tonika anhebt und die besagte Doppeldominante-Dominante-Progression folglich davor erklingt. Mahler deplatziert diese allerdings so, dass der Marschabgesang mit der traditionell auflösungsbedürftigen Dominante mit Quartsext-Vorhalt anhebt, wobei sich der faktisch erklingende F-Dur-Quartsextakkord bemerkenswerterweise sogleich als Tonika ausnimmt. 1005 Dies erzielt Mahler vor allem instrumentatorisch, indem er den Großteil der Instrumente anstelle einer problemlos möglichen stufigen Fortführung einen Sprung vollziehen lässt. Der damit verbundene deutliche Registerwechsel kommt dabei einem Schnitt gleich, sorgt für eine klare Zäsur und lässt die Instrumente mit Beginn des Marschabgesangs ‚frisch‘ wirken. Harmonisch kann an dieser Stelle von einer Dekonstruktion der Doppeldominante-Dominante-Progression gesprochen werden. Bis zu diesem Zeitpunkt orientiert sich Mahler trotz aller Straffungen und Variantenbildungen tonal immer noch an der Exposition. Erst dreißig Takte vor dem Satzende beschreitet er mit dem Erklingen des Marschabgesangs in F-Dur einen ande-
1003
Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 118. Harmonisch wiederum ähneln sich die Überleitungstakte aufgrund der Häufung von Septakkorden: Auf den g-halbverminderten Septakkord folgen ein kleiner B-Dur-Septakkord und ein verminderter Septakkord gebildet auf dem Ton h. 1004 Gemeint sind die T. 331–350. 1005 Genau so verfährt Mahler in T. 303 f. im Kopfsatz der Zweiten.
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Analytischer Hauptteil ren tonalen Weg. Daher kann der T. 846 als Schlüsselstelle bezeichnet werden: Dort ereignet sich die für eine F-Dur-Deutung des Kopfsatzes essenzielle tonale Angleichung des Seitensatzterrains an die Grundtonart F-Dur. 1006 Harmonisch unterscheidet sich der Marschabgesang von seinem Pendant (T. 351 ff.) nur geringfügig, so dass auf die bereits vorliegenden Untersuchungsergebnisse verwiesen werden kann. Als lohnenswert erweist sich allerdings eine genaue Betrachtung des anschließenden Zusammenbruchsfeldes (T. 857–875). Wie am Ende der Exposition ragt auch hier (T. 863) der Neapolitaner (b-des-ges) als harmonischer Höhepunkt heraus. Im Unterschied zur Exposition verunklart sich jedoch mit dem Einsatz der Fanfaren und vor allem der Hornquinten in den Blechbläsern noch im selben Takt die kadenzielle Situation. Denn diese verstärken weniger die subdominantische Funktion des Neapolitaners im F-Dur-/f-Moll-Kontext, als dass sie aufgrund ihrer tonartkonstituierenden Eigenschaften vielmehr tonikalisierend wirken, so dass sich Ges-Dur als Tonalität zu festigen beginnt. Gänzlich neu ist dieser Kunstgriff mittels Hornquinten nicht. Im Unterschied zu ähnlichen Passagen werden die Hornquinten nun jedoch nicht auf die IV. Stufe, sondern auf die tiefalterierte II. Stufe der vorherrschenden Tonalität (de-)platziert, was ihre exterritoriale Wirkung zusätzlich verstärkt. 1007 Ein traditioneller kadenzieller Kontext wird dann endgültig dadurch zerstört, dass anstelle der zu erwartenden Dominante mittels Rückung ein G-DurDreiklang angehängt wird, um einen Takt später nicht minder abrupt zum F-DurGrundakkord zu gelangen. 1008 Mahler drückt dem Schluss des Satzes mit Hilfe einer harmonisch eigenwilligen, auf Rückungen basierenden Wendung, die durch das Orchestertutti vollends exponiert wird, einen „ausgesprochen ironisch [. . . ]“ 1009 wirkenden Stempel auf. Diese Wendung ist das Gegenteil einer fulminanten Schlusskadenz: 1010
Abbildung 138: ‚Anti-Kadenz‘ am Satzende
1006
Vgl. Monahan, Symphonic Sonatas, S. 199. Die Deplatzierung von Hornquinten auf die IV. Stufe konnte bereits in Das klagende Lied (vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 172) und in T. 22 ff. des Kopfsatzes der Ersten festgestellt werden. 1008 Vgl. Krummacher, III. Symphonie, S. 77. 1009 Maurer-Zenck, Dritte Symphonie, S. 305. 1010 Vgl. ebd. 304 f. 1007
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Dass „[a]uch hier [. . . ] kein Ziel erreicht, sondern Durchbruch als Abbruch vollzogen“ 1011 wird, erweist sich vor dem Hintergrund der poetischen Grundidee des Satzes (und dessen unsteten Verlaufs) nur allzu konsequent: Die natürliche nichtlineare Entwicklung des Lebens kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen sein und bedarf weiterer evolutionärer Anläufe – der nachfolgenden Sätze –, um dann erst in der „göttlichen Liebe“ (Finalsatz) zu gipfeln. Damit fügt sich die Schlusswendung des Kopfsatzes der Dritten nahtlos in die Reihe derjenigen der Ersten und Zweiten ein. Auch dort schließt Mahler spröde und unkonventionell.
Form und makrologische harmonische Architektur des Kopfsatzes der Dritten Diese Conclusio basiert auf den bereits erfolgten ausführlichen Zwischenzusammenfassungen, die hier nicht mehr wiederholt werden. Die vorliegende Untersuchung, die auf der Grundlage von Mahlers Bezeichnung seiner Dritten sowohl als d-Moll- als auch als F-Dur-Symphonie erfolgte, hat aufzeigen können, dass der Kopfsatz eine einzigartige doppelbödige tonale Architektur besitzt. In der Gesamtschau kann festgestellt werden, dass dem Kopfsatz „das Sonatenschema“ in Gestalt von zwei „dünne[n] Hülle[n]“ zu Grunde liegt. 1012 Da mit beiden tonalen Perspektiven jeweils lediglich bis zu einem bestimmten Punkt gelangt werden kann, ist eine Betrachtung aus beiden Blickwinkeln für eine sinnvolle Interpretation unumgänglich. Weshalb sich der Komponist für die Bezeichnung d-Moll-Symphonie entschieden hat – dass er die F-Dur-Bezeichnung seiner Dritten (Manuskript 1896) letztlich nicht beibehalten hat, stellt sicherlich kein Versehen dar, wie Peter Franklin meint 1013 –, lässt sich anhand des Kopfsatzes allein nicht klären. Allerdings erscheint d-Moll als übergeordnete Tonart der Symphonie insofern sinnfälliger, als der Finalsatz in D-Dur zu verorten ist, die beiden Ecksätze dann also auf demselben Grundton basieren und sich eine Klammer über das Werk hin ergibt; es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich erst mit dem Finalsatz eine Balance zum überdimensionalen Kopfsatz einstellt. Zur Darstellung der programmatischen Grundidee des Kopfsatzes, der nichtlinearen Entwicklung des Lebens, dekonstruiert Mahler weitgehend die traditionelle Einheit von Tonalität, Thematik und Form. Das dekonstruierende Moment spiegelt sich sowohl in der „Deformation der Thematik“ 1014 als auch im „Verzicht auf alle bewährten Vermittlungskategorien“ 1015 wider. Entzünden können sich die beiden genannten Aspekte 1011
Steinbeck, Erste bis Vierte Symphonie, S. 244. Die Formulierung erfolgt in Anlehnung an Adornos Einschätzung, dass „das Sonatenschema wirklich nur noch dünne Hülle über dem inwendigen, ungebundenen Formverlauf“ ist (Adorno, Physiognomik, S. 108). 1013 Vgl. Franklin, Peter, Mahler, Symphony No. 3, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1991, S. 78 und S. 92. 1014 Krummacher, III. Symphonie, S. 78. 1015 Adorno, Physiognomik, S. 108. 1012
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Analytischer Hauptteil allerdings erst am traditionellen symphonischen Gerüst, das – und dies ist der Reiz des Satzes in tonaler Hinsicht – in Gestalt von zwei „dünnen Hüllen“ in Erscheinung tritt. Einerseits zeigt sich die Entstellung und Verzerrung von Sonatensatzcharakteristika besonders deutlich: das Fehlen eines traditionellen Themendualismus (trotz eines stellenweisen Vorhandenseins des dazu erforderlichen tonalen Gerüsts sowohl in d-Moll als auch F-Dur), andererseits auch deren überdeutliche Inszenierung, beispielsweise durch die unmissverständliche Reprise. 1016 Wenngleich kein eigentlicher Seitensatz zu identifizieren ist, handelt es sich aber auch nicht um eine monothematische Anlage. Im Gegenteil ist eine Vielzahl von motivisch-thematischen Gedanken auszumachen. Aufgrund der Dominanz der Marschcharaktere ist es vielmehr angemessen, von einer „Monocharakteristik“ zu sprechen. 1017 Es scheint, „als ob das musikalische Subjekt mit einer Kapelle mitzöge, die allerhand Märsche nacheinander spielt“ 1018, ehe schlagartig in T. 362–368 „die gesamte Marschmusik zusammenbricht.“ 1019 Insgesamt wird deutlich, dass man der motivisch-thematischen Komponente des Kopfsatzes der Dritten mit traditionellen Maßstäben nicht beikommen kann. Vielmehr wird eine programmatische Grundidee realisiert, die Paul Bekker zutreffend folgendermaßen charakterisiert: „Der Begriff des periodisch geschlossenen Themas wird hier hinfällig, der ganze Satz ist dauerndes thematisches Gebären.“ 1020 Dass die doppelbödige tonale Anlage programmatisch motiviert ist – entsprechend der Polarität von Winter und Sommer beispielsweise –, ist nicht von der Hand zu weisen, kann letzlich aber nicht nicht eindeutig bejaht werden. Man stelle sich vor, dass der Satz in düsterem d-Moll endet, was einem ‚Sieg des Winters‘ gleichkäme und eine weitere Entwicklung des Lebens (in den nachfolgenden Sätzen) verhindern würde. Bei der makrologischen harmonischen Ausgestaltung geht Mahler im Kopfsatz der Dritten noch einen Schritt weiter als zuvor, indem bestimmte tonale Bereiche überdimensional prolongiert werden. Dabei werden makrologische harmonische Stufen teilweise fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Dies wird mit Hilfe transitorischer und interpolierender Passagen erzielt, die innerhalb einer makrologischen harmonischen Stufe eine temporäre (teils maximale) Entfernung zum tonalen Ausgangspunkt herstellen, um schlussendlich zu diesem zurückzukehren. Dies betrifft insbesondere die d-Moll-/D-Dur-Bereiche, die in der Architektur des Kopfsatzes ein disproportionales Übergewicht besitzen, ohne dabei an Spannung und Abwechslung einzubüßen. Mahler bestreitet mit der genannten Tonalität ungefähr drei Viertel der Exposition (T. 1–
1016
Vgl. Werbeck, Die Sonatenform in Mahlers frühen Symphonien, S. 59. Vgl. Maurer-Zenck, Claudia, Die „dünne Hülle“ über dem Kopfsatz der Dritten Symphonie, in: Gustav Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts. Referate des Bonner Symposiums 2000 (Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 5), hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Frankfurt a. M.: 2001, S. 86. 1018 Adorno, Physiognomik, S. 110. 1019 Ebd. 1020 Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 116. 1017
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie 246 und T. 331–368) und nutzt sie darüber hinaus als tonale Klammer, woraus eine untypische und unkonventionelle tonale Symmetrie innerhalb der Exposition resultiert, und zwar perspektivenunabhängig: Geht man von d-Moll als Grundtonalität aus, liegt der Exposition ein makrologisches harmonisches I-V-III-I-Gerüst zu Grunde, nimmt man hingegen F-Dur als übergeordnete Tonalität an, basiert die Exposition auf einer makrologischen harmonischen VI-III-I-VI-Progression. Die Dominanz von d-Moll / D-Dur bleibt bis T. 492 ungebrochen: Auch der erste Durchführungsteil beruht überwiegend auf der genannten Tonalität und erfüllt aufgrund harmonischen Stillstands kaum Kriterien einer traditionellen Durchführung. Auch hier entstellt der Komponist die makrologische harmonische Stufe stark und bis an die Grenzen zur Bitonalität. Nach der Vorherrschaft von d-Moll / D-Dur hebt sich das zwischen den beiden Durchführungsteilen eingeschobene, in Ges-Dur ertönende Lied ohne Worte (T. 492–529) umso mehr vom bisherigen Satzverlauf ab und kommt einem unberührten latenten Zentrum gleich. Ein Maximum an Verzerrung erzielt Mahler schließlich im zweiten Durchführungsteil, insbesondere im Abschnitt Die Schlacht beginnt. Dort (T. 574–600) wird an den Pfeilern der zu Grunde liegenden makrologischen harmonischen VII. Stufe, den C-Dur-Weckrufen, durch bitonale Überlagerungen gesägt, bis die C-Dur-Tonalität zu kollabieren droht. Am letzten Durchführungsabschnitt (Der Südsturm) zeigt sich schließlich noch einmal in aller Deutlichkeit Mahlers Präferenz für harmonisch großflächige Verfahren: Diesen bestreitet er mit einem ambivalenten Feld, das aber zur Gänze vom Basston des artikuliert wird. Das vordergründig inszenierte musikalische Chaos unterliegt im Hintergrund wiederum einer klaren makrologischen harmonischen Organisation. Die anfangs klar nach d-Moll weisende Reprise schließt bemerkenswerterweise in F-Dur. Wenngleich damit am Ende des Satzes nur sehr bedingt ein Gegengewicht zum übermächtigen d-Moll-/D-Dur-Bereich geschaffen wird, zeigt sich doch die zweite „dünne Hülle“, die über dem Kopfsatz der Dritten liegt, und damit verbunden die Vermeidung einer traditionellen tonalen Symmetrie. Nachdem eine solche von Mahler untypischerweise in der Exposition geschaffen wurde, lässt sich folgern, dass Exposition und Reprise in tonaler Hinsicht gewissermaßen vertauscht sind: 1021 Schlösse die Exposition in F- und die Reprise in D-Dur, so genügte die übergreifende Satzarchitektur trotz aller Besonderheiten viel eher einem traditionellen Verlauf in d-Moll.
1021
Vgl. Marvin, William, Mahler’s Third Symphony and the Dismantling of Sonata Form, in: Keys to the Drama: Nine Perspectives on Sonata Form, hrsg. von Gordon Sly, New York: Ashgate 2009, S. 58 ff., zit. nach Monahan, Symphonic Sonatas, S. 186–188.
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Analytischer Hauptteil
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Abbildung 139: Überblick über die Architektur des Kopfsatzes der Dritten
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Abbildung 139 (Fortsetzung)
Analytischer Hauptteil
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Abbildung 139 (Fortsetzung)
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Abbildung 139 (Fortsetzung)
Analytischer Hauptteil
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Abbildung 139 (Fortsetzung)
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
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Abbildung 139 (Fortsetzung)
Analytischer Hauptteil
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Abbildung 139 (Fortsetzung)
Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Auswahl der wichtigsten Motive / Themen und deren Umformungen Weckruf-Thema und Weckruf-Themenvarianten
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Analytischer Hauptteil Mystische Baßharmonien
Trauermarschpartikel
Markante Trompetenfanfare
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie Hochschnellender Basslauf
Instrumentales Rezitativ und Arioso
Schlaflied-Thema
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Analytischer Hauptteil
Tusch-Motiv
Marsch wie aus weiter Ferne
Repetitions- und Dreiklangsfiguren
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Zum Kopfsatz der Dritten Symphonie
Weitere Fanfaren
Terzfall-Motiv
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Ziel der vorliegenden kompositionstechnischen Untersuchung war es, Mahlers Strategien zur makrologischen harmonischen Ausgestaltung der Kopfsätze der ersten drei Symphonien zu beleuchten und zu systematisieren, um schließlich Aussagen über die tonale Architektur der jeweiligen Kopfsätze treffen zu können. Eine überragende Rolle bei der makrologischen harmonischen Ausgestaltung spielen tonale und modale Felder. Bereits ein einzelnes Feld kann ausreichen, eine makrologische harmonische Stufe zu definieren. Im Sinne der Fragestellung ist es daher zweckmäßig, mit der Systematisierung von Feldern zu beginnen. Es folgen die Besprechung von Kadenzen, Satzmodellen und Sequenzen, nicht kadenziellen syntaktischen Verknüpfungen, parataktischen Reihungen, Überblendungen und der Versuch eines Modulationsbegriffs bei Mahler, ehe auf für den Komponisten charakteristische achsentontechnische Verfahren eingegangen wird. Ausgehend davon wird sich dann dem Aufbau und der Konzeption einer makrologischen harmonischen Stufe zugewandt.
Generierung von tonalen und modalen Feldern Den Ausgangspunkt bildeten die traditionellen Bordun- und Orgelpunktfelder. Im Verlauf der Untersuchung sind dann Feldtypen hinzugekommen, die weder mit dem Bordun- noch mit dem Orgelpunktbegriff hinreichend erfasst werden konnten. Um dieser speziellen Situation bei Mahler gerecht zu werden, wurde ein neuer Terminus technicus notwendig: Aufgrund ihrer spezifischen Faktur werden diese Felder als ‚modale Felder‘ bezeichnet. Insgesamt kann also zwischen tonalen Orgelpunktfeldern, modalen Feldern und Bordunfeldern differenziert werden. Letztere können sowohl tonale als auch modale Anteile besitzen. Angesichts der Komplexität einiger modaler und ambivalenter Felder sei hier generell auf die Untersuchungsergebnisse im analytischen Hauptteil verwiesen.
Bordunfelder Im terminologischen Kapitel ist der Bordun als modales Phänomen definiert worden, das untrennbar mit spezifischen Liegetonkonstellationen und der semantischen Konnotation von pastoraler Idylle verbunden ist. Aufgrund seiner spezifischen Semantik handelt es sich beim Bordun ferner prinzipiell um ein durales Phänomen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass dieser Bordunbegriff erweitert werden muss, da Bordunfelder sowohl modal als auch tonal ausgeprägt werden können und damit eine Art Schnittmenge zwischen tonalen und modalen Feldern bilden. Unberührt davon bleibt ihr charakteristischer diatonischer Kern. In ihrem jeweiligen musikalischen Umfeld entfalten Bordunfelder größtenteils syntaktische Wirkung. Lediglich einmal, und zwar 262
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Generierung von tonalen und modalen Feldern im Durchführungsteil des Kopfsatzes der Ersten (T. 242 f.), reiht Mahler mit Hilfe einer Rückung Bordunfelder parataktisch aneinander. 1022 Zusätzlich zur Kadenz – der idealtypischen und in ihrer Wirkung stärksten syntaktischen Verknüpfung – nutzt Mahler im Allgemeinen auch syntaktische Verknüpfungen, die nicht auf kadenziellen Prinzipien beruhen. Speziell im Kontext der Bordunfelder ist auffällig, dass syntaktische Verknüpfungen in ihrer Wirkung oftmals abgeschwächt auftreten, indem Mahler diese manipuliert; Details sind der später erfolgenden Besprechung von Mahlers Manipulationstechniken zu entnehmen. Die charakteristischen Liegetonstrukturen in Gestalt von simultan erklingenden, ausgehaltenen Tönen (Bordunquinten) im Bassbereich dominieren auch in den untersuchten Kopfsätzen. 1023 Des Weiteren hat sich vor allem im Kopfsatz der Ersten gezeigt, dass die das Bordunfeld artikulierenden Liegetöne nicht nur in Gestalt von ausgehaltenen Liegenoten, sondern auch rhythmisiert auftreten können. Aus solchen Rhythmisierungen können sich wiederum Ostinati entwickeln. Unabhängig von der rhythmischen Ausgestaltung fungieren die Borduntöne im jeweiligen modalen oder tonalen Kontext als Grund- und / oder als Quintton. Bordunfelder sind nicht eigentlich als technische Gegenstücke zu Orgelpunktfeldern zu interpretieren. Im Gegenteil weisen Bordun- und Orgelpunktfelder sogar technische Gemeinsamkeiten auf. Das Distinktionsmerkmal von Bordunfeldern besteht darin, dass sie den einzigen Feldtyp repräsentieren, in dem technische Merkmale und semantischer Gehalt eine untrennbare Einheit bilden.
Verwendung von Bordunfeldern Hinsichtlich der Verwendung von Bordunfeldern in den Kopfsätzen der Symphonien I-III ist eine klare quantitativ abnehmende Tendenz erkennbar. Während der Kopfsatz der Ersten zu einem erheblichen Teil auf Bordunfeldern beruht, 1024 kommen sie im Kopfsatz der Zweiten bereits weit weniger zum Einsatz. 1025 Im Kopfsatz der Dritten wird schließlich gänzlich auf Bordunfelder verzichtet.
1022
Auf den besonderen Stellenwert der betreffenden Rückung innerhalb des Satzes ist im analytischen Hauptteil eingegangen worden. 1023 Deutlich weniger häufig ertönen die artikulierenden Liegetöne in einem mittleren Klangbereich. Dies ist dann der Fall, wenn die Melodie in die Bassstimme verlagert wird. Als ein seltenes Beispiel können hierfür die T. 384 ff. im Kopfsatz der Ersten angeführt werden. 1024 Dort bestreitet Mahler die Exposition (T. 63–162) größtenteils mit Bordunfeldern. Weitere Bordunfelder finden sich im zweiten Durchführungsteil, und zwar in T. 218–250 und T. 279–300. In der Reprise erklingen ab T. 363 dann wieder vermehrt Bordunfelder. 1025 Im Kopfsatz der Zweiten erscheinen zwei ausgedehnte Bordunfelder im ersten Durchführungsteil: einmal zu dessen Beginn (T. 129–146) und einmal an dessen Ende (T. 226– 243). Ein weiteres Bordunfeld erklingt in T. 370–391.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Manipulation von Bordunfeldern Aufgrund der charakteristischen Untrennbarkeit von musikalischer Faktur und Semantik reagieren Bordunfelder prinzipiell sensibel auf Modifikationen: Zu starke Eingriffe in das durale Phänomen Bordun beeinträchtigen bereits die semantische Funktion. Daher wundert es nicht, dass lediglich zwei Strategien zur Modifikation festgestellt werden konnten: die Molltrübung und die temporäre Irritation von Bordunfeldern durch Chromatik. Molltrübung von Bordunfeldern Am Ende eines Bordunfeldes wird überraschend die Dur- zur Mollterz abgesenkt, so dass es in die Varianttonart kippt. Semantisch gehen damit sowohl eine Verfinsterung als auch eine Signalisierung des Endes des idyllischen Naturbildes einher. Die Molltrübung kündigt einen neuen Abschnitt an, dessen tonale Weichen durch diese bereits gestellt worden sind. Ein ikonisches Beispiel findet sich im Kopfsatz der Zweiten, T. 143 ff. 1026 Temporäre Irritation von Bordunfeldern durch Chromatik Erzielt wird eine temporäre Irritation eines Bordunfeldes durch den Eingriff in die vorherrschende Diatonik mittels Chromatik. Dabei wird der das Feld artikulierende Basston beibehalten. Die forcierte Chromatik in den Oberstimmen führt zu einer vorübergehenden modalen Verunklarung und lässt mit zunehmender Dauer die charakteristischen Eigenschaften des Bordunfeldes verblassen; zwangsläufig stellt sich auch die Frage nach der tonalen Rolle des artikulierenden Basstons. Schließlich wird der Bordunzusammenhang zusammen mit der Ausgangstonalität des Feldes durch die Rückkehr zur Diatonik wiederhergestellt, so dass sich die Situation in Wohlgefallen auflöst. Der irritierenden Chromatik können demnach transitorische Eigenschaften bescheinigt werden. Das einzige Beispiel findet sich im Kopfsatz der Zweiten, T. 372 ff.
Orgelpunktfelder In der Forschung wurde bereits darauf hingewiesen, dass tonikale und dominantische Orgelpunktfelder bei Mahler grundsätzlich nicht mehr an ihre traditionell angestamm-
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Weitere Moll-Trübungen von Bordunfeldern treten im Kopfsatz der Ersten in T. 298 ff. und im Kopfsatz der Zweiten in T. 384 ff. auf. Eine Molltrübung im weiteren Sinne ereignet sich in den T. 251–256 des Kopfsatzes der Ersten. Dort erhält das den betreffenden Takten vorangegangene Des-Dur-Bordunfeld bei gleichbleibendem Basston des einen b-aeolischen Anstrich, was zu einer Änderung der Morphologie und zu einer Moll-Färbung des Feldes führt; dabei wechselt der Basston seine Rolle vom Grund- zum Terzton.
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Generierung von tonalen und modalen Feldern ten formalen Positionen gebunden sind. 1027 Orgelpunkte können zwar, müssen aber nicht an diesen Stellen erklingen und sind umgekehrt potenziell in jedem Moment des Satzfortganges einsetzbar. Unberührt davon bleibt ihre tonartausprägende Eigenschaft und syntaktische Wirkung im jeweiligen musikalischen Umfeld. Die Untersuchung hat ergeben, dass Mahler Orgelpunkte nur selten traditionell verwendet und größtenteils manipuliert. Eine der wenigen Orgelpunkt-Passagen, die sämtliche traditionelle Kriterien erfüllt, findet sich im Kopfsatz der Zweiten, T. 320–329. Es handelt sich um einen massiven dominantischen Orgelpunkt. Die Wirkung ist äußerst gewaltsam. Mit der Auflösung in die Tonika tritt die Reprise ein. 1028
Verwendung von Orgelpunktfeldern Im Gegensatz zu Bordunfeldern sind Orgelpunktfelder in allen drei untersuchten Kopfsätzen vertreten. Hinsichtlich ihrer Verwendung halten sie sich dabei prozentual die Waage. Bemerkenswert ist der enorme Facettenreichtum, den Mahler dem tradierten Phänomen Orgelpunkt immer wieder aufs Neue abgewinnt. 1029
Manipulation von Orgelpunktfeldern Durch gezielte Eingriffe werden die tonal klärenden und syntaktischen Eigenschaften von Orgelpunkten vorübergehend verschleiert. Nicht selten führt dies bis an die Grenze der Erkennbarkeit. Sie bieten insgesamt mehr Spielraum für Modifikationen als die sensiblen Bordunfelder und es ist nicht übertrieben, bei Mahler von einer systematischen Befragung aller Orgelpunkt-Komponenten zu sprechen.
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Vgl. Danuser, Mahler und seine Zeit, S. 95. Tonikale Orgelpunkte haben ihren festen Platz am Anfang und / oder Ende eines Stückes, dominantische Orgelpunkte vor dem Eintritt des Seitensatzes und / oder der Reprise. 1028 Pikant ist dabei seine gleichzeitige dramaturgische Funktion als nicht enden wollender katastrophenähnlicher Höhepunkt. 1029 Im Kopfsatz der Ersten konnten in T. 117–128, T. 257–268, T. 380–384 und T. 400– 411 dominantische Orgelpunkt-Passagen und in T. 440–Ende ein tonikaler Orgelpunkt festgestellt werden. Im Kopfsatz der Zweiten erscheinen in T. 31 ff. – analog dazu verhalten sich die T. 347 ff. in der Reprise – und in T. 212–216 tonikale Orgelpunkte. Dominantische Orgelpunkte kommen in T. 89–97, T. 117–121, T. 196–199, T. 200 ff., T. 291– 304 und, wie bereits erwähnt wurde, in den T. 320–329 zum Einsatz. Im Kopfsatz der Dritten sind tonikale Orgelpunkte in T. 185–193 und insbesondere innerhalb des F-DurMarsches (T. 273 ff.) vorzufinden; analog dazu verhalten sich die T. 762 ff. in der Reprise. Dominantische Orgelpunkte liegen den T. 164–176 (analog dazu die T. 683–695), T. 194– 202, T. 331–351 und T. 359–362 (analog dazu die T. 854–857) zu Grunde.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Temporäre Irritation durch den verzögerten Eintritt des Leittons Erzielt wird die vorübergehende Uneindeutigkeit des Orgelpunktfeldes durch das Aussparen des Leittons, oft gedehnt bis zum allerletzten Moment. Nachdem zu Beginn ein orgelpunkttypisches Signal, wie bspw. der kadenzierende Quartsextakkord, gesetzt worden ist, verunklart sich mit zunehmender Dauer der Leittonlosigkeit die tonale Zielrichtung. Damit verbunden schwinden auch die syntaktischen Kräfte. Die sich zunehmend verlierende Wirkung des Orgelpunkts wird erst durch den (Wieder-)Eintritt des Leittons am Ende des Feldes schließlich wiederhergestellt. Ein ikonisches Beispiel findet sich im Kopfsatz der Zweiten, T. 89 ff. 1030 Temporäre Irritation durch die Verzögerung der tonikalen Auflösung Bei der Verzögerung der tonikalen Auflösung mündet die Dominantfunktion nicht unmittelbar in die Tonika. Umgangen wird sie mit Hilfe eines traditionellen Trugschlusses oder einer anderen, unkonventionelleren Fortführung. Für ersteren Fall bieten die T. 291 ff. im Kopfsatz der Zweiten ein instruktives Beispiel: Dort wird die Auflösung zur Tonika zunächst vorenthalten, sie wird sogar zweimal trugschlüssig hinauszuzögert, ehe sie sich beim dritten Anlauf endlich ereignet. Für den zweiten Fall sind die T. 331– 351 im Kopfsatz der Dritten als Beispiel repräsentativ: Das erklingende dominantische Orgelpunktfeld mündet dort zunächst nicht in die Tonika, sondern ändert bei gleichbleibendem Basston seine Morphologie und erhält vorübergehend eine modale Färbung, ehe sich der dominantische Orgelpunktkontext wieder einstellt und schließlich eine Auflösung in die Tonika erfolgt. 1031 Temporäre Irritation durch die Verunklarung der tonikalen Auflösung Neben der Verzögerung der tonikalen Auflösung kann dieselbe auch auf verschiedene Weise verunklart werden. Beispielhaft sind vor allem T. 375–384 im Kopfsatz der Ersten. Mahler lässt den dominantischen Orgelpunkt nicht in die Tonika münden, sondern in den kleinen Tonikaseptakkord. Dieser initiiert einen weiteren dominantischen Orgelpunkt, an dessen Ende jedoch keine klare Auflösung in die Tonika vollzogen wird. Die anvisierte Tonalität erlangt vielmehr erst allmählich Stabilität. Als weiteres Beispiel können im Kopfsatz der Dritten T. 185–194 angeführt werden. Dort handelt es sich um einen tonikalen Orgelpunkt, oberhalb dessen die Dominante in Gestalt des verminderten Septakkords ertönt. Diese löst sich in den Oberstimmen zur Tonika auf,
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Als weitere Beispiele sind im Kopfsatz der Ersten die T. 443–Ende und im Kopfsatz der Dritten die T. 185–193 und T. 331–340 zu nennen. 1031 Als weitere Beispiele sind T. 359–362 (analog dazu T. 854–857) im Kopfsatz der Dritten zu nennen. Sie repräsentieren jeweils einen dominantischen Orgelpunkt und zeichnen sich dadurch aus, dass unmittelbar vor dem Eintritt der Tonika harmonisch eine Interpolation mit Hilfe des Dreiklangs der III. Stufe erfolgt. Gleichzeitig wird der in der Oberstimme zu verortende Leitton, der Bestandteil dieses Dreiklangs ist, in ein gänzlich anderes Licht gerückt.
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Generierung von tonalen und modalen Feldern während der tonikale Orgelpunkt genau in diesem Augenblick in einen dominantischen übergeht, so dass auch hier tonikale Stabilität verwehrt bleibt. 1032 Zerstörung des Orgelpunktkontextes durch die Substitution des Leittons Der Verzicht auf den Leitton bzw. die Substitution des Leittons innerhalb eines Orgelpunktfeldes kann zur Zerstörung des Feldes führen. Im Rahmen der Untersuchung konnten im Wesentlichen zwei derartige Passagen festgestellt werden, die sich hinsichtlich des Zeitpunkts der Substitution voneinander unterscheiden. In T. 200 ff. des Kopfsatzes der Zweiten wird der Leitton, der zu Beginn des dominantischen Orgelpunktfeldes innerhalb des Dominantseptakkords erschienen ist, unmittelbar nach seinem Erklingen aus dem weiteren Feldverlauf verbannt und durch die aeolische VII. Stufe ersetzt; harmonisch erhält der Akkord der V. Stufe somit anstelle der Dur- eine Mollterz. Indem die anfänglich dominantische Wirkung rasch erlischt, schält sich ein modales Feld heraus. Der konstant erklingende und das Feld artikulierende Basston hat nun eine veränderte Funktion: Fungierte er eingangs als Dominantgrundton, nimmt er sich nach und nach als Grundton des modalen Feldes aus. In T. 164–176 des Kopfsatzes der Dritten liegt ein dominantischer Orgelpunkt vor, der sich auch nach mehreren Anläufen nicht in die Tonika aufzulösen vermag. In T. 175 f. erklingt dann noch einmal ein charakteristisches kadenzielles Signal in Gestalt der Dominante mit Quartvorhalt, doch anstelle der erwarteten Fortführung werden der Quartvorhalt in die aeolische VII. Stufe und die Quinte zur Sexte weitergeführt. Nach diesem Eingriff kann von einem dominantischen Orgelpunkt nicht mehr die Rede sein. 1033 Temporäre Irritation durch die Auskomponierung einer diatonischen Nebenstufe Im Kopfsatz der Dritten liegt T. 289–297 (analog dazu die T. 781–786) ein tonikaler Orgelpunkt in F-Dur zu Grunde. Auffällig dabei ist, dass sich Mahler nach tonikalem Beginn von der vorherrschenden Tonart entfernt und nach und nach die Tonart der diatonischen II. Stufe, also g-Moll, tonikalisiert. Dies geschieht oberhalb der Marschquarte f-c in der Bassstimme, die den tonikalen Orgelpunkt artikuliert und bis zum Ende der Passage konstant erklingt. Die Kollision der g-Moll-Oberstimmen und der nach wie vor nach F-Dur weisenden Marschquarte führt zu einer fortschreitenden Verunklarung des Orgelpunkts. Erst im allerletzten Moment erfolgt eine Klärung mittels einer kompakten Dominantseptakkord-Tonika-Wendung nach F-Dur, so dass die Tonika eine Klammer
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Gleichzeitig kann man an dieser Stelle auch von einer Hinauszögerung sprechen. Analog dazu verhalten sich T. 683–695. Die T. 185–202 ähneln der soeben beschriebenen Passage stark, unterscheiden sich allerdings in einem entscheidenden Punkt von ihr: nachdem die Auflösung zur Tonika ähnlich wie zuvor nicht vonstattenging, setzt Mahler in T. 200 abermals die Dominante mit Quartvorhalt als charakteristischen Signalklang, um sie sogleich auf dieselbe Art und Weise zu manipulieren. Doch dieses Mal resultiert aus der Substitution des Leittons keine Zerstörung, sondern lediglich eine Irritation des Orgelpunktfeldes, da unmittelbar danach doch noch die ersehnte Tonika ertönt.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse bildet und der tonikale Orgelpunktkontext insgesamt gewahrt bleibt. Hierzu sei angemerkt, dass das Aufsuchen anderer harmonischer Regionen in den Oberstimmen bei gleichzeitigem ostentativ liegenbleibenden Basston ein wesentliches Charakteristikum von Orgelpunkten darstellt. Der feine, aber entscheidende Unterschied zu traditionellen Orgelpunkten besteht an dieser Stelle darin, dass oberhalb der Bassebene lediglich eine einzige harmonische Stufe anvisiert und auskomponiert wird und dass ihre schiere Präsenz mit zunehmender Dauer zu einem Ungleichgewicht führt. Umso überraschender wirkt dann die bis zum allerletzten Augenblick hinausgezögerte kadenzielle Klärung.
Modale Felder Die modale Konzeption dieses Feldtyps spiegelt sich in seiner im Kern diatonischen Anlage bei nicht kadenzieller Ausprägung wider. Letztere zeichnet sich primär durch melodische Mechanismen aus, zu denen Liegetonkonstellationen, Figurationen und achsentontechnische Verfahren zählen. Zudem spielen Quart- und Quintintervalle mit ihrer innewohnenden Grundtonkraft eine überragende Rolle. Die das Feld artikulierenden Liegetonstrukturen ertönen überwiegend im Bassbereich, können allerdings wie bei den Bordunfeldern auch in einer Mittellage erscheinen. Des Weiteren ist modalen Feldern und Bordunfeldern gemein, dass sie sowohl syntaktisch als auch parataktisch erreicht oder verlassen werden können. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass mit einem modalen Feld keine semantische Konnotation einhergeht. Als Konsequenz daraus sind sowohl durale als auch mollare Tonalitäten möglich. Bei der Ausgestaltung von modalen Feldern spielen darüber hinaus wechselnde skalare Färbungen des diatonischen Tonmaterials, aber auch chromatische Schattierungen eine entscheidende Rolle. Herausragend ist dabei das Alternieren von Leittönigkeit und Leittonlosigkeit; stellenweise findet sogar eine Kollision der leittönigen und der aeolischen VII. Stufe statt. Mit Hilfe dieser wechselnden Färbungen wird ein modales Feld immer wieder aufs Neue beleuchtet und gleichzeitig in der Schwebe gehalten. Ein zentrales Merkmal von modalen Feldern ist die mögliche Rollenvielfalt der das Feld artikulierenden Liegetöne: Diese können als Grund- oder Quintton fungieren, müssen es allerdings nicht. Im Vergleich zu Bordun- und Orgelpunktfeldern können sie zusätzlich dazu die Rolle des Terz-, Quart-, Sext- und sogar des Septtons einnehmen und somit in Gestalt beinahe jeder beliebigen diatonischen Stufe das Feld artikulieren; lediglich der Sekundton war in den betreffenden Kopfsätzen nicht nachzuweisen. Die Frage, ob Mahler den Sekundton im Rahmen von modalen Feldern in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien gezielt ausspart, kann nicht eindeutig beantwortet werden, zumal er diesen, wie Oliver Korte feststellen konnte, bereits im Wunderhorn-Lied Das irdische Leben zum Einsatz gebracht hat. 1034 Allerdings lässt sich der Sekundton als artikulierender Basston stellenweise in
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Im Wunderhorn-Lied Das irdische Leben – die Klavierfassung ist vor der Dritten entstanden (1892 oder 1893) – sind dahingehend die T. 37–39 zu nennen: dort stehen sich der
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Generierung von tonalen und modalen Feldern ambivalenten Feldern der betreffenden Kopfsätze nachweisen, auf die später eingegangen wird. Diese zusätzlichen Möglichkeiten, ein modales Feld zu artikulieren, unterscheiden sich allerdings deutlich von den anderen hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Feld. Grundsätzlich bedingen die Oberstimmen- und die Bassebene einander und können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Hierbei kann festgestellt werden, dass ein modales Feld dann am stabilsten wirkt, wenn der artikulierende Liegeton gleichzeitig den Grundton des vorherrschenden Modus repräsentiert. Nimmt er die Rolle des Quint- oder Terztons ein, „stellt sich [bereits] eine subtile Verunsicherung, ein modaler Schwebezustand ein.“ 1035 Durch den Einsatz des Quart-, Sext- oder Septtons als artikulierender Basston verstärkt sich dieser deutlich und das Verhältnis von Oberstimmenund Bassebene verunklart sich insgesamt. Das bedeutet, dass das Primat des Modus nicht nur den Oberstimmen allein zugestanden werden darf. Gleichzeitig gilt es, deren Rolle vom Basston aus, der dabei den Grundton repräsentiert, zu betrachten. Keiner der beiden Interpretationen darf letztlich der Vorzug gegeben werden. Vielmehr ist es ein Wesenszug der modalen Felder Mahlers, dass sie sich nicht gänzlich fassen lassen und sich ambivalent verhalten.
Verwendung von modalen Feldern In allen drei Kopfsätzen sind modale Felder vertreten. Im Kopfsatz der Ersten bildet ein modales Feld mollarer Prägung (f-Moll) die Grundlage für den düsteren letzten Durchführungsabschnitt (T. 305–351). Es ist nicht nur das erste modale Feld in den Symphonien Mahlers, sondern gleichzeitig auch das umfangreichste der drei untersuchten Kopfsätze. Darüber hinaus weist es bereits einen Großteil der soeben genannten Gestaltungsweisen auf. 1036 Im Kopfsatz der Zweiten repräsentieren die T. 1–30 und analogen T. 329–346 modale Felder mollarer Prägung (c-Moll). 1037 Die drei weiteren modalen Felder im Kopfsatz der Zweiten, T. 80–86 (g-Moll), T. 175–185 (cis-Moll) und T. 189–195 (fisMoll mit Basston d), entsprechen einander thematisch, unterscheiden sich jedoch in
das modale Feld artikulierende Liegeton b in der Bassstimme und die in den Oberstimmen erklingenden Dreiklänge ces-Moll und Heses-Dur / A-Dur gegenüber (vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 180). 1035 Ebd., S. 185. 1036 Hierzu zählen insbesondere die streckenweise Artikulation des Feldes durch den Sextund Septton in der Bassstimme, die Zentrierung des Grundtons mittels ausgehaltener Noten, achsentöniger Verfahren und Umspielungen sowie insgesamt wechselnde diatonische und chromatische Schattierungen. 1037 Beide zeichnen sich durch das Alternieren von Leittönigkeit und Leittonlosigkeit aus und werden vom Quintton, der sich in einer Mittellage befindet, artikuliert.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse ihrer unterschiedlichen diatonischen bzw. chromatischen Ausgestaltung, das gleiche thematische Material wird dreimal unterschiedlich beleuchtet. 1038 Der Kopfsatz der Dritten ragt insofern heraus, als dort die meisten modalen Felder auftreten und Mahler noch vielfältiger mit unterschiedlichen artikulierenden Liegetonkonstellationen verfährt. Das modale Feld mollarer Prägung (d-Moll) in T. 27–52 wird erstmals von einem vollständigen Dreiklang artikuliert. Wie so oft ist das Alternieren von Leittönigkeit und Leittonlosigkeit eine zentrale Strategie der modalen Irritation. 1039 Zwei modale Felder duraler Prägung (Des-Dur und C-Dur), die einander hinsichtlich ihrer motivischen und diatonischen Faktur entsprechen, finden sich in T. 150–158 und T. 239–246. Feldähnliche Eigenschaften verleiht Mahler dem in T. 225–227, T. 451– 457 und später in T. 482–484 jeweils in D-Dur anhebenden Vorspann des SchlafliedThemas, indem er diesen mit dem Liegeton d in den Kontrabässen unterlegt. Dies ist deshalb problemlos möglich, da der Ton d innerhalb der modalen Akkordfolge bereits als Achsenton fungiert. Ein weiteres modales Feld duraler Prägung (H-Dur) mit chromatischen Schattierungen findet sich dann in T. 410–422. 1040 Eine Besonderheit stellen die T. 463–477 im Kopfsatz der Dritten dar, weil der Basston nicht Bestandteil des diatonischen Tonvorrates der Oberstimmen ist. Das unterscheidet das Feld von sämtlichen bisherigen Feldkonstellationen. Bass und Oberstimmen scheinen unterschiedlichen modalen Bereichen anzugehören, was eine Aufspaltung und bitonale Verselbständigung beider Ebenen bedeutet. 1041 Wenn es auch schwerfällt, von echter Bitonalität zu sprechen, rückt Mahler doch mit der beschriebenen Erweiterung seiner Feldtechnik bis an die Grenze zu dieser heran. Gleichzeitig kann von einer Schnittmenge zwischen modalen und ambivalenten Feldern gesprochen werden. Ähnlich frappant klingen die beiden feldartigen Passagen in T. 478–480 und T. 574–577. Zwar weisen auch diese ein charakteristisches Spannungsverhältnis zwischen der Oberstimmen- und Bassebene auf, allerdings unterscheiden sie sich grundsätzlich durch ihre diatonische Konzeption von T. 463–477. Nicht zuletzt heben sich die T. 463–480 und die T. 574– 577 von den bislang besprochenen Feldern dadurch ab, dass sie deutlich kompakter daherkommen oder kürzere Passagen innerhalb von Feldern bilden.
1038
Zusätzlich zur Schwerpunktverlagerung von Diatonik zu Chromatik und einer damit verbundenen dramaturgischen Steigerung unterschieden sich die T. 189–195 von den anderen beiden dadurch, dass sie nicht vom Grundton, sondern vom Sextton d in der Bassstimme artikuliert werden. 1039 In der Bassstimme bzw. unterhalb des artikulierenden Dreiklangs, der sich in einer Mittellage befindet, erfolgt in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen ein Wechsel von Grund- und Quintton. 1040 Als Detail ist die Interpolation des H-Dur-Feldes mittels des E-Dur-Dreiklangs zu nennen, so dass eine plagale I-IV-I-Wendung vorliegt. 1041 Vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 186.
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Generierung von tonalen und modalen Feldern
Ambivalente Felder Hierbei handelt es sich um Felder mit diatonischem Kern, die charakteristische Merkmale der zuvor beschriebenen Felder aufweisen, sich jedoch, und darin besteht der besondere Reiz, einer eindeutigen Bestimmung entziehen. Mahler erzielt Mehrdeutigkeit hauptsächlich durch den Wechsel charakteristischer Signalklänge. Lediglich einmal, im Kopfsatz der Dritten, ist die Überlagerung bzw. die Simultaneität unterschiedlicher Signalklänge oberhalb eines artikulierenden Liegetons zu beobachten. Zu den Signalklängen zählen melodisch insbesondere die grundtonmanifestierenden Quartund Quintintervalle und harmonisch charakteristische Kadenz-Akkorde, bspw. der Dominantseptakkord oder die Subdominante mit sixte ajoutée. Des Weiteren spielen auch hier Leittönigkeit und Leittonlosigkeit und deren Alternieren eine entscheidende Rolle. Die wechselnden Signalklänge können jeweils in unterschiedliche tonale und modale Richtungen weisen, müssen es aber nicht. Somit kann zwischen solchen ambivalenten Feldern differenziert werden, die sich aufgrund wechselnder Signalklänge einer eindeutigen Bestimmung des Feldtyps entziehen, aber für die Dauer ihres Erklingens eine konstante Tonalität aufweisen, und solchen, die sich sowohl hinsichtlich des Feldtyps als auch der Tonalität mehrdeutig verhalten. Nicht zuletzt spielt die Konnotation, die mit den gesetzten Signalklängen einhergeht, eine ganz entscheidende Rolle bei der Erzeugung von Mehrdeutigkeit. Präzise ausgedrückt, sie schüren beim Hörer eine gewisse Erwartung hinsichtlich ihrer Fortführung. Und genau damit betreibt Mahler ein reizvolles Spiel: Er setzt melodische und / oder harmonische Signale und führt sie dann oftmals entgegen einer traditionellen Hörerwartung fort.
Verwendung von ambivalenten Feldern Im Kopfsatz der Ersten finden sich zwei ausgedehnte ambivalente Felder in T. 1–62 und T. 163–206, die sich jeweils sowohl einer eindeutigen Zuordnung zu einem bestimmten Feldtyp als auch einer eindeutigen tonalen / modalen Bestimmung entziehen. 1042 Bemerkenswert ist dabei zweifellos, dass Mahler gleich in seinem symphonischen Einstiegswerk nicht nur eines seiner umfangreichsten, sondern auch komplexesten Felder im gesamten symphonischen Schaffen generiert. Im Kopfsatz der Zweiten repräsentieren T. 97–116 (Tonart g-Moll) und T. 392–445 (Tonart c-Moll) ebenfalls ausgedehnte ambivalente Felder, innerhalb derer Mahler mit wechselnden Signalklängen immer wieder für neue modale und tonale Färbungen sorgt, ohne dabei allerdings die Tonalität des jeweiligen Feldes in Frage zu stellen.
1042
Mit den wechselnden melodischen und harmonischen Signalklängen ändert sich temporär mehrmals die Morphologie des Feldes, so dass es mal mehr tonale, mal mehr modale Anteile aufweist und sich zwischen den Polen Tonalität und Modalität bewegt. Wie aufgezeigt werden konnte, sind zum Teil bis zu drei Deutungen möglich.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Ein sich über knapp vierzig Takte erstreckendes ambivalentes Feld bildet den dritten Abschnitt des zweiten Durchführungsteils (T. 603–642) im Kopfsatz der Dritten. Dieses entzieht sich sowohl einer eindeutigen Bestimmung des Feldtyps als auch einer eindeutigen Bestimmung der Tonalität. Im Unterschied zu den beiden Feldern im Kopfsatz der Ersten, bei denen sowohl melodische als auch harmonische Signalklänge wechseln, lässt Mahler hier schwerpunktmäßig melodische Kräfte walten. 1043 Die Überlagerung mehrerer Melodielinien, die jeweils in unterschiedliche tonale / modale Richtungen weisen, oberhalb eines artikulierenden Liegetons konnte lediglich an zwei Stellen, und zwar in T. 583–589 und T. 595–600 im Kopfsatz der Dritten, festgestellt werden. Aus der Simultaneität der (melodischen) Signalklänge resultiert im Zusammenspiel mit dem artikulierenden Basston faktisch Bitonalität. Aufgrund der modal-diatonischen Prägung der beiden Passagen scheint es an dieser Stelle ebenfalls legitim, von Bi- oder gar Polymodalität zu sprechen.
Kadenzen Der Großteil der Kadenzen in den Kopfsätzen der Symphonien I-III zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Kürze und Kompaktheit aus. Längere kadenziell geprägte Passagen kommen weit seltener zum Einsatz, genießen dann jedoch zumeist einen besonderen Stellenwert im musikalischen Umfeld. 1044 Insgesamt werden Kadenzen signifikant oft mehr oder weniger stark manipuliert. Einige Manipulationstechniken ähneln dabei denjenigen, die auch im Rahmen von Orgelpunktfeldern zum Einsatz gekommen. Auch konnten Kombinationen von Manipulationen festgestellt werden sind. Damit gelingt es Mahler, der Kadenz als konstituierendem Element dur-moll-tonaler Musik par excellence, einen bemerkenswerten Facettenreichtum abzugewinnen und ihr, pointiert ausgedrückt, im Zuge einer eigentlich ihre essenziellen Elemente subversierenden Dekomposition neues Leben einzuhauchen.
Methoden der Kadenzmanipulation Tonikalisierung dominantisch konnotierter Klänge Diese Manipulationsmethode konnte in allen drei Kopfsätzen festgestellt werden und besitzt insgesamt eine überragende Bedeutung für Mahlers Kadenzbehandlung. Hierbei geht es darum, dass traditionell halbschlüssig konnotierte Wendungen, insbesondere die
1043
Bemerkenswert ist der rasche Rollenwechsel des Basstons, der das Feld mal als Grund-, Terz-, Quint-, Sext- und Septton artikuliert. 1044 Während klassische Musik maßgeblich kadenziell geprägt ist, verhält es sich bei Mahler somit geradezu umgekehrt.
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Kadenzen Folge Doppeldominante-Dominante und phrygische Wendungen, entgegen der traditionellen Hörerwartung behandelt werden. 1045 Statt einer erwarteten Weiterführung zur Tonika wird der Akkord der V. Stufe – hierbei kann es sich um den vollständigen Dominantdreiklang, einen ‚geschlechtsneutralen‘ Quint-Oktav- oder auch lediglich nur um einen Oktavklang handeln – durch Anpassung der Diatonik und durch melodische Mechanismen tonikalisiert, also letztlich in die Oberquinttonart der eigentlich erwarteten Tonart moduliert. Reizvoll ist dabei der temporäre tonale Schwebezustand, der daraus resultiert, dass es sich bei der Tonikalisierung um einen graduellen Prozess handelt und ein exakter Zeitpunkt des Wechsels von der alten zur neuen Tonart nicht bestimmt werden kann. 1046 Inszenierung von Kadenzen Mahler gelingt es, manche Kadenzen besonders frappant wirken zu lassen. Die Inszenierung von Kadenzen wird zunächst einmal dadurch erreicht, dass ein Kadenzglied – dies kann die Tonika, die Dominante oder die Subdominante sein (wobei ein klarer Schwerpunkt auf den ersten beiden Funktionen liegt) – herausgelöst und in seiner Wirkung übersteigert wird. 1047 Dies geschieht in beinahe allen Fällen erstens mittels Prolongation und zweitens dissonanter Schärfung der betreffenden Funktion. Maßgeblich zur Inszenierung einer Kadenz tragen ferner eine dynamische und instrumentatorische Intensivierung bei. Inszenierte Kadenzen stechen besonders dann heraus, wenn zuvor über einen längeren Zeitraum hinweg weitgehend auf Kadenzen verzichtet worden ist. Als ikonische Beispiele können im Kopfsatz der Ersten T. 348–358, im Kopfsatz der Zweiten T. 39–41 (analog dazu T. 355–357) und im Kopfsatz der Dritten T. 362 ff. (analog dazu T. 857 ff.) angeführt werden. 1048
1045
Das Verfahren entgegen der traditionellen Hörerwartung stellt selbstverständlich eine allgemeine Tendenz in der Musik der Spätromantik dar. Eine Ausnahme stellen die T. 279 ff. im Kopfsatz der Ersten dar: Dort ereignet sich eine Tonikalisierung der Subdominante. 1046 Als Beispiele können im Kopfsatz der Ersten T. 71–75 und T. 203–207, im Kopfsatz der Zweiten T. 79 f., T. 123–127, T. 178 f. und T. 205 f. und im Kopfsatz der Dritten T. 114– 118, T. 236 f. und T. 727–736 genannt werden. 1047 Theodor W. Adornos allgemeine Feststellung über Mahlers „Ton“ (Adorno, Physiognomik, S. 34) trifft es an dieser Stelle genau: „Damit er überhaupt noch in tonalen Mitteln laut werde, muß er einzelne herausbrechen, sie zur überwertigen Idee steigern, so sehr zu Ausdrucksträgern sie verhärten, wie das umgebende System sich verhärtete.“ 1048 Als weitere Beispiele können im Kopfsatz der Ersten T. 129–135 (analog dazu T. 269– 273 und T. 412–416) und T. 203–207 angeführt werden. Im Kopfsatz der Dritten sind die T. 65 ff. (analog dazu T. 378 ff.), T. 202–209 und T. 319–323 (analog dazu T. 832–840) zu nennen.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Eliminierung und Substitution des Leittons Die leittonlose Gestaltung einer Kadenz kann als ein vor allem im Kopfsatz der Ersten präferiertes Mittel zur Kadenzmanipulation gelten. 1049 Sie spielt im Kopfsatz der Zweiten hingegen überraschenderweise gar keine Rolle. Vereinzelt beobachtet werden konnte diese Manipulationsmethode dann wiederum im Kopfsatz der Dritten. 1050 Beim Großteil der leittonlosen Kadenzen verzichtet Mahler ganz auf eine VII. Tonleiterstufe. Lediglich einmal – im Kopfsatz der Ersten (T. 107–109) – wird der Leitton durch die abgesenkte VII. Stufe ersetzt. Die Vielfalt an dominantischen Erscheinungsformen bleibt davon unberührt, Dominanten treten auch weiterhin bspw. mit Quartvorhalt (wohlgemerkt ohne dessen Auflösung) oder in Gestalt eines Dominantseptakkords auf; verbindlich bleibt die Leittonlosigkeit. In den meisten Fällen wird der fehlende Leitton nach erfolgter Kadenz zur eindeutigen tonalen Klärung rasch nachgereicht. Kadenzen mit dem Dur-Tonika-Septnonakkord als Antepenultima In allen drei Kopfsätzen konnte eine ungewöhnliche, bei Mahler aber charakteristische Kadenzformel festgestellt werden (Erste T. 37–40, Zweite T. 35–41, Dritte T. 53–65). Sie ist dreigliedrig und basiert auf einer I-V-I-Grundtonprogression. Signifikant ist der auf der drittletzten Position erklingende kleine Dur-Septnonakkord, der traditionell dominantisch zu interpretieren wäre und hier also eine Ausweichung in die Subdominante signalisierte. Da Letztere nicht vollzogen wird und stattdessen über die Dominante, die ebenfalls in Gestalt eines kleinen Septnonakkords auftritt, zum Tonikadreiklang geführt wird, ist das erste Kadenzglied bzw. der betreffende kleine Dur-Septnonakkord im Kontext eben nicht als Zwischendominante, die ihr vermeintliches Ziel nicht erreicht, sondern als Dur-Tonika-Septnonakkord, mithin als chromatisch geschärfte Tonika zu interpretieren, die eine temporäre Irritation der Tonart verursacht. Für die Fortschreitung vom Dur-Tonika-Septnonakkord zur Dominante ist im Kopfsatz der Ersten und Dritten eine chromatische Stimmführung der Oberstimmen charakteristisch. In allen drei Kopfsätzen ragt die beschriebene Kadenz als ‚chromatischer Stachel‘ aus dem jeweils bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden diatonischen Umfeld heraus und ist mit einem Crescendo und einer instrumentatorischen Intensivierung verbunden. Irritation durch Vorenthaltung der erwarteten tonikalen Auflösung Die konsequente Verweigerung der Auflösung in die Tonika oder in einen Tonikavertreter führt zu einem Abbruch der Kadenz. Ein solch abruptes Ende einer Kadenz, das mittels Rückung oder einer unkonventionellen Stimmführung erzielt wird, ist im Kopfsatz der Ersten, T. 269–273, der Zweiten in T. 73 f. und T. 196–199 sowie der
1049
Dort finden sich leittonlose Kadenzen in T. 35 f., T. 90–92 (analog dazu T. 370–372), T. 107,3–109 und in T. 352–358, dem Durchbruch. 1050 Im Kopfsatz der Dritten sind die T. 423–430 (analog dazu T. 710–714) zu nennen.
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Kadenzen Dritten, T. 135 f., T. 228 f., T. 458 f. und T. 499 f. zu beobachten. 1051 Unterstrichen wird ein solch abruptes Ende oftmals durch einen Schnitt in der Instrumentation. Interpolation der Dominante-Tonika-Progression Diese Manipulationstechnik besteht in der Platzierung eines ‚Fremdkörpers‘ in die Progression von Dominante und Tonika. Sie konnte in T. 90–92 (analog dazu T. 370–372) im Kopfsatz der Ersten und in T. 94–99 im Kopfsatz der Dritten festgestellt werden. Modifikation traditioneller Stimmführung Weitere Manipulationen betreffen die melodische Komponente einer Kadenz. Manche sind subtil, andere wiederum forciert. So verschwindet in T. 36 des Kopfsatzes der Ersten die Vorenthaltung eines zu erwartenden Fundamentschritts (V-I) beinahe unmerklich im Sog des ambivalenten Feldes. 1052 In T. 107–110 desselben Satzes steht ebenfalls der Fundamentschritt in der Bassstimme im Fokus. Hier zögert Mahler die Auflösung in den Grundton hinaus und sorgt damit für einen kurzzeitigen Schwebezustand, da in den Oberstimmen bereits vor dem Eintritt des Grundtons in der Bassstimme die Tonika erreicht wurde. An dieser Stelle zeigt sich zudem, dass die Auflösung der Septime des Dominantseptakkords ebenfalls nicht in der Stimme vollzogen wird, in der sie erwartet wird. Beinahe unmerklich verschwindet sie in den Violen, wird aber vom 3. Horn aufgegriffen und traditionell aufgelöst. Das dekonstruierende Moment in der Stimmführung zeigt sich ferner in T. 114–118 des Kopfsatzes der Dritten. Dort werden die beiden Spannungstöne des übermäßigen Quintsextakkords in den Außenstimmen asynchron aufgelöst. Im Kopfsatz der Zweiten konnten dann zwei Passagen (T. 79 f. und T. 291–294) festgestellt werden, in denen eine unkonventionelle Dissonanzbehandlung dynamisch und instrumentatorisch mittels des Einsatzes der Trompeten exponiert wird: In beiden Fällen liegt eine Doppeldominante-Dominante-Wendung vor und die Septime der Doppeldominante wird nicht stufig abwärts aufgelöst, sondern im Sprung zum Grundton der Dominante weitergeführt. 1053
Funktion von Kadenzen Traditionelle Funktion Unabhängig von der Vielfalt der Kadenzerscheinungen bei Mahler kann festgestellt werden, dass Kadenzen ihre zentralen traditionellen Aufgaben – die eindeutige Ausprägung
1051
An einigen der genannten Stellen (T. 135 f., T. 228 f. und T. 458 f.) wird zudem noch einmal Mahlers variantenreiche Behandlung der phrygischen Wendung deutlich. 1052 Der erwartete Fundamentschritt wird von den über mehrere Oktaven gespannten Liegetönen der Streicher gewissermaßen ‚verschluckt‘. 1053 Die besondere Wirkung einer unkonventionellen Dissonanzbehandlung kann instrumentatorisch ferner durch die für Mahler typische Schnitt-Technik unterstrichen werden.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse einer Tonart und die formale Strukturierung – zweifelsfrei erfüllen. Dies gilt sowohl für Kadenzen innerhalb als auch außerhalb eines Feldes. Wie aufgezeigt werden konnte, nimmt Mahler maßgeblich Einfluss auf die syntaktische Wirkung von Kadenzen. Deren Abschwächung dient primär dazu, deutliche Zäsuren zu vermeiden und so eine vorherrschende Tonalität nicht vollkommen zu erden. Kadenzen als Modulationsmittel In allen drei Kopfsätzen moduliert Mahler mittels (manipulierter) Kadenzen. Bei der Modulation mit Hilfe von Ganzschlusskadenzen kann festgestellt werden, dass in den meisten Fällen eine Quintbeziehung, weit weniger oft eine Terzbeziehung, zwischen Ausgangs- und Zieltonart besteht. Dies gilt vor allem für den Kopfsatz der Ersten. 1054 Im Kopfsatz der Zweiten bedient sich Mahler auffallend oft tonikalisierter Halbschlusswendungen, insbesondere der phrygischen Wendung, um sowohl nah verwandte als auch weit entfernte Tonalitäten zu erreichen. 1055 Dies stellt nicht nur eine Erweiterung hinsichtlich des Umgangs mit Kadenzen dar, insgesamt ist zu attestieren, dass sich in diesem Satz die Tonartwechsel verkomplizieren. 1056 Vereinzelt erscheinen auch im Kopfsatz der Dritten modulierende Ganzschlusskadenzen. Dazu zählt insbesondere der Übergang vom Marsch wie aus weiter Ferne zum F-Dur-Marsch, und damit von a-Moll nach F-Dur in T. 272 f. (und analog T. 799 f.). 1057 Gleichzeitig zeigt sich in diesem Satz aber auch, dass Kadenzen als Modulationsmittel insgesamt eine untergeordnete Rolle spielen. Die Tendenz der Verkomplizierung von Modulationen setzt sich fort und dabei beschreitet Mahler mehr und mehr unkonventionelle Wege. Es kann abschließend noch einmal betont werden, dass sich alle Kadenzen durch ihre außerordentliche Kürze und Kompaktheit auszeichnen, wodurch sie und der mit ihnen verbundene Tonartwechsel nicht selten abrupt wirken. Pointiert ausgedrückt: Der Hörer wird vor vollendete Tatsachen gestellt und muss die neue Tonart schlicht akzeptieren. Gleichzeitig führt dies auch dazu, dass der erlebte Unterschied zwischen nah und entfernt verwandten Tonalitäten kleiner wird. Kadenzen als Mittel zur Höhepunktgestaltung Zur Gestaltung von dramaturgischen Höhepunkten bedient sich Mahler oftmals inszenierter Kadenzen. Welche Durchschlagskraft diese in ihrem jeweiligen musikalischen Umfeld entfalten können, wird am Durchbruch im Kopfsatz der Ersten (T. 352–358) und am Zusammenbruchsfeld im Kopfsatz der Dritten (T. 362–4368) deutlich.
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Gerade in der Exposition werden die in einer Quintbeziehung stehenden Bordunfelder mittels solcher Kadenzen verknüpft. 1055 Als Beispiel sei T. 178 f. angeführt: Dort wird mit Hilfe der phrygischen Wendung und anschließender Tonikalisierung von D-Dur nach cis-Moll moduliert. 1056 Anstelle der erwarteten g-Moll-Tonika wird in T. 73 f. mittels unkonventioneller Stimmführung As-Dur erreicht. 1057 Als zusätzliches Beispiel können T. 423–431 (analog dazu T. 710–718) genannt werden.
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Kadenzen Kadenzen als Kontrast zu Feldern Außerhalb von Feldern heben sich Kadenzen, die dabei nicht selten im Zusammenspiel mit Sequenzen erklingen, durch ihre harmonische Kleingliedrigkeit und durch ihren beschleunigten harmonischen Rhythmus von den harmonisch großflächigen Feldern ab und bilden damit einen Kontrast. Ferner zeigt sich insbesondere im Kopfsatz der Zweiten, dass semantisch aufgeladene Passagen, wie bspw. das Kreuzmotiv 1058, gerade nicht innerhalb eines Feldes erklingen und sich durch ihre kadenzielle Konzeption zusätzlich von ihrem jeweiligen musikalischen Umfeld absetzen. Im riesenhaften Kopfsatz der Dritten sind es gar ganze Formabschnitte, wie der Marsch wie aus weiter Ferne oder der F-Dur-Marsch, die maßgeblich kadenziell geprägt sind, um sich dadurch von den umgebenden modalen und ambivalenten Passagen und Feldern abzusetzen. Im Rahmen der Besprechung von Kadenzen soll abschließend auf ein kadenzähnliches Phänomen eingegangen werden, eine für Mahler typische Vokabel im Sinne von Hans Heinrich Eggebrecht: die Hornquinten. 1059 Zur Verwendung von Hornquinten Als signifikante Merkmale von Hornquinten sind ihre spezifische Intervallfolge von kleiner Sexte, reiner Quinte und großer Terz und ihre tonartmanifestierenden Eigenschaften zu nennen. Die Ausprägung einer Tonart betrifft Durtonarten, so dass es sich bei Hornquinten grundsätzlich um ein Dur-Phänomen handelt. In allen drei Kopfsätzen konnten Hornquinten festgestellt werden, wenngleich eine klar absteigende quantitative Tendenz von Kopfsatz zu Kopfsatz erkennbar ist. 1060 Größtenteils nutzt Mahler Hornquinten in traditioneller Weise, also zur Stabilisierung einer bereits vorherrschenden Tonart. Auffallend oft geschieht dies im Rahmen der musikalischen Darstellung von Naturbildern. Ein besonderer Kunstgriff Mahlers, auf den Oliver Korte bereits in seiner Untersuchung von Mahlers Das klagende Lied aufmerksam gemacht hat, 1061 konnte auch in T. 22–26 im Kopfsatz der Ersten nachgewiesen werden: die Deplatzierung von Hornquinten auf die IV. Stufe der vorherrschenden Tonalität. 1062 Im Kopfsatz
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Zur Definition des „tonischen Symbols des Kreuzes“ sei auf Constantin Floros verwiesen (vgl. Floros II, S. 243). 1059 Aus kadenzieller Perspektive liegt Hornquinten eine Tonika-Dominante-Tonika-Progression zu Grunde, wobei die Dominante leittonlos erklingt. 1060 Hornquinten konnten im Kopfsatz der Ersten in T. 36 f., T. 45 f., T. 156–159, T. 323 f. und beim Durchbruch (T. 352 ff.) festgestellt werden. Im Kopfsatz der Zweiten erscheinen sie in T. 48–51, T. 139 f., T. 119–121, T. 138–140, T. 229 ff. und in T. 366–368. Im Kopfsatz der Dritten erklingen Hornquinten in T. 206, T. 331 ff., T. 540–542 und in den T. 863– 491. 1061 Vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 172. 1062 Im Unterschied zu Das klagende Lied geht mit den deplatzierten Hornquinten im Kopfsatz der Ersten ein zusätzliches doppelbödiges Moment einher, da sie zeitweise tonal noch dem alten, motivisch jedoch bereits dem neuen Unterabschnitt zugehörig sind..
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse der Dritten geht Mahler noch einen Schritt weiter und nimmt an den wenigen dort erklingenden Hornquinten Modifikationen vor, die bislang noch nicht zum Einsatz kamen: In T. 331–340 lässt er zwei im Abstand von einer Oktave erklingende Hornquinten-Passagen, eine in den Hörnern und eine in den Trompeten, miteinander kollidieren. 1063 Eine weitere markante Modifikation erfährt die Vokabel in T. 540– 542, wo die charakteristische Intervallfolge in den Hörnern so abgewandelt wird, dass faktisch Moll-Hornquinten erklingen. 1064 Ein bemerkenswertes Beispiel findet sich im Kopfsatz der Dritten. Hier wird mit Hornquinten der Neapolitaner auskomponiert, einmal äußerst kompakt in T. 206 und einmal etwas gestreckter in T. 863–865. In letzterem Fall (vorherrschende Tonart F-Dur) kann gleichzeitig von einer Deplatzierung der Hornquinten auf die tiefalterierte II. Stufe (Ges-Dur) gesprochen werden.
Satzmodelle und Sequenzen In allen drei Kopfsätzen spielen Satzmodelle eine Rolle, wobei zuallererst betont werden muss, dass Mahler den Fundus tradierter Schemata bei Weitem nicht ausschöpft. Er lässt deutliche Präferenzen erkennen. Im Hinblick auf die Dichte an Satzmodellen gestaltet er die drei Kopfsätze sehr unterschiedlich. Der Kopfsatz der Zweiten weist die höchste Dichte und derjenige der Ersten die geringste auf. Nachfolgend werden Satzmodelle – größtenteils handelt es sich hierbei um Sequenzen – geordnet nach ihrer quantitativen Verwendung besprochen. Vorab sei noch darauf hingewiesen, dass diese ebenso wie Kadenzen sowohl innerhalb als auch außerhalb eines Feldes auftreten können.
Verwendung von Satzmodellen und Sequenzen Fauxbourdon und paralleler Sextensatz Mahler verwendet den Fauxbourdon und den parallelen Sextensatz enorm vielfältig und ausgiebig. Fauxbourdons erscheinen in diatonischer und chromatischer, synkopierter und nicht synkopierter sowie auf- und absteigender Gestalt. Oftmals sind auch Sextensätze so mit einer dritten Stimme versehen, dass sich Sext- und Quartsextakkorde durchmischen. In T. 192 ff. des Kopfsatzes der Ersten findet sich ein ikonisches Bei-
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Eine derartige Kollision findet sich auch schon bei Beethoven, und zwar gegen Ende (T. 227 ff.) des Kopfsatzes der Klaviersonate Nr. 26 Op. 81a. 1064 Dass die Moll-Hornquinten zu Beginn des grotesken zweiten großen Durchführungsteils, den Mahler im Autograph mit dem Eintrag „Das Gesindel“ versieht, erklingen, scheint dabei nicht zufällig und lässt den Schluss zu, dass die Verfremdung der Vokabel vor allem programmatisch motiviert ist. Allerdings ist auch festzustellen, dass Moll-Hornquinten kein Novum darstellen. Bereits Franz Schubert verwendet diese auffallend oft.
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Satzmodelle und Sequenzen spiel eines diatonischen Fauxbourdon. 1065 Beinahe alle genannten Erscheinungsformen eines Fauxbourdons treten im Kopfsatz der Zweiten auf: Ein diatonischer erklingt in T. 10 ff., ein chromatisierter in T. 260 f., ein chromatisch gefärbter mit 7-6-Konsekutive in T. 377–384 und ein diatonisch-chromatisch durchmischter in T. 401–404. 1066 Im Kopfsatz der Dritten sind ganze Formteile maßgeblich von parallelen Sextensätzen geprägt, darunter der Marsch wie aus weiter Ferne (T. 254 ff.), der F-Dur-Marsch (T. 273 ff.) und ihre Pendants im weiteren Satzverlauf. 1067 Nicht nur die Erscheinungsformen paralleler Sextensätze bei Mahler, sondern auch deren Funktion und Wirkung im musikalischen Umfeld sind extrem divers. In den meisten Fällen treten sie innerhalb von Feldern auf. Innerhalb von Orgelpunktfeldern dienen sie zur Intensivierung der jeweils prolongierten Funktion – dasselbe gilt in inszenierten Kadenzen –, wobei sie gerade in dominantischen Orgelpunkten oftmals in einem chromatischen Gewand erscheinen. 1068 In Bordun- und Orgelpunktfeldern können sie auch das volksmusikalische Moment der Musik Mahlers betonen, indem sie volkstümliche Musizierpraxis aufrufen, 1069 wobei sich hier wiederum ein klarer diatonischer Schwerpunkt zeigt. 1070 In ambivalenten und modalen Feldern können Sextensätze als Mittel zur (zusätzlichen) Verunklarung der tonalen Situation dienen. 1071 In einigen wenigen Fällen treten Sextensätze auch außerhalb von Feldern auf. Dort kann ihnen interpolierende,
1065
Des Weiteren konnten innerhalb dieses Satzes ein chromatisch angehauchter aufsteigender Fauxbourdon mit 5-6-Konsekutive in T. 120–123, ein ebenfalls chromatisch geprägter in T. 131–134 (analog dazu T. 271–273) und zwei äußerst knapp gehaltene diatonische in T. 140 (analog dazu T. 425) nachgewiesen werden. 1066 Als weitere Fauxbourdon-Passagen sind T. 89–96, T. 104–108, T. 186–188, T. 200 ff., T. 295 ff. und T. 372–376 zu nennen. 1067 Weitere Passagen im Kopfsatz der Dritten, die maßgeblich auf Sextensätzen beruhen, finden sich in T. 359–362, T. 466–481, T. 492–495 (Fauxbourdon), T. 574–577 und T. 824 f. (Fauxbourdon). 1068 Ein ikonisches Beispiel für die chromatische Intensivierung eines dominantischen Orgelpunkts stellen die T. 295 ff. im Kopfsatz der Zweiten dar. 1069 Hierzu kann auf die Ausführungen von Oliver Korte zur alpenländischen Musizierpraxis bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verwiesen werden (vgl. Korte, Bordun und Parallelensatz, S. 164 f.). 1070 Als Beispiele können der innerhalb des A-Dur-Bordunfeldes erklingende Fauxbourdon in T. 143–145 im Kopfsatz der Ersten und der Sextensatz in den Hörnern (im Zusammenspiel mit der an das patriotische Lied Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand erinnernden Melodie), der oberhalb des tonikalen Orgelpunkts in T. 273 ff. im Kopfsatz der Dritten ertönt, angeführt werden. 1071 Dass hierbei die Dosierung von Leittönigkeit und Leittonlosigkeit eine überragende Rolle spielt, lässt sich sehr gut anhand des Fauxbourdons aufzeigen, der in das zu Beginn der Durchführung des Kopfsatzes der Ersten (T. 192–198) ertönende ambivalente Feld eingebettet ist.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse transitorische und (zum Teil) verunklarende Funktion bescheinigt werden. 1072 Ferner stellt der dreistimmige Fauxbourdon ein Mittel zur Harmonisierung von melodischen Terzfällen mit charakteristischem Gegenschrittmodell und absteigenden Tetrachorden in der Oberstimme dar. 1073
Absteigende Tetrachorde Mahler bedient sich sowohl diatonisch als auch chromatisch absteigender Tetrachorde. Auffällig ist, dass sie größtenteils melodisch genutzt werden und einer traditionellen kleingliedrigen Ausharmonisierung zumeist aus dem Weg gegangen wird. Besonders deutlich zeigt sich dies an absteigenden Tetrachorden in der Bassstimme, die explizit nicht harmonisiert werden. 1074 Absteigende Tetrachorde erscheinen ebenso in der Oberstimme und oft in Gestalt von Ostinati, die wiederum zur Artikulation eines Feldes genutzt werden können. Darüber hinaus gebraucht Mahler Tetrachorde zu (harmonisch) strukturierenden Zwecken: Mit ihrer Hilfe steckt er insbesondere I-V-Rahmen ab, was sowohl innerhalb eines Taktes als auch über mehrere Takte hinweg strukturierend wirken kann und die Harmonik auf einer mittleren Ebene organisiert. Diese Charakteristika sind z. B. im Kopfsatz der Zweiten, T. 97 ff., in ikonischer Weise zu beobachten. 1075 Zusätzlich zu absteigenden Tetrachorden konnten auch größere chromatisch abwärts durchschrittene Tonräume, wie Penta- und Octachorde, ausgemacht werden. 1076 Hinsichtlich ihrer Behandlung unterscheiden sie sich nicht prinzipiell von den Tetrachorden. 1077 Abschließend kann festgestellt werden, dass absteigende Tetra-,
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Interpolierende Eigenschaften weist der zwischen den beiden Marschabschnitten platzierte Fauxbourdon in T. 186–188 im Kopfsatz der Zweiten auf. Transitorisch wirkt der im selben Satz ertönende chromatisierte Fauxbourdon in T. 259 f., dem sich eine klärende Kadenz anschließt. 1073 So verfährt Mahler in T. 492 ff. und T. 824–826 im Kopfsatz der Dritten. 1074 Damit meidet Mahler gleichzeitig die Standard-Harmonisierung mittels eines Fauxbourdons. 1075 Erwähnenswert ist, dass der in der Oberstimme zu verortende und im Kern chromatisch absteigende Tetrachord mittels Fauxbourdon harmonisiert wird. 1076 Als ikonisches Beispiel für einen chromatisch absteigenden Pentachord, der in der Oberstimme zu verorten ist und eine Harmonisierung auf Basis eines Tonika-DominantePendels aufweist, können die T. 65 ff. (und eine Vielzahl von analogen Passagen) im Kopfsatz der Dritten angeführt werden. Ein ikonisches Beispiel für einen melodisch genutzten chromatisch absteigenden Octachord repräsentieren die T. 248–253 im Kopfsatz der Zweiten. 1077 Es sei noch darauf hingewiesen, dass der mit Hilfe von Tetra-, Penta- und Octachorden abgesteckte Rahmen kein starres Korsett darstellt. Das bedeutet einmal, dass der jeweilige Tonraum nicht vollständig ausgefüllt sein muss, und einmal, dass der abgesteckte Rahmen sogar gesprengt werden kann, wie bspw. in T. 115–118 des Kopfsatzes der Dritten.
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Satzmodelle und Sequenzen Penta- und Octachorde im Kopfsatz der Ersten kaum eine Rolle spielen. 1078 Im Kopfsatz der Zweiten hingegen lässt sich eine Vielzahl nachweisen, vor allem Tetrachorde. 1079 Ähnlich oft finden sie sich im Kopfsatz der Dritten, wenngleich im Unterscheid zur Zweiten verstärkt absteigende Penta- und Octachorde zu beobachten sind. 1080 Terzfallsequenzen Bei den in allen drei Kopfsätzen anzutreffenden Terzfallsequenzen kann zwischen solchen mit und ohne charakteristischem Gegenschrittmodell 1081 unterschieden werden. Bei denjenigen mit Gegenschrittmodell fällt auf, dass Mahler die traditionellste Erscheinungsform – hier ist das Gegenschrittmodell, das mit Grundakkorden harmonisiert wird, in der Bassstimme zu verorten – meidet. Terzfallsequenzen mit einem klar erkennbaren Gegenschrittmodell in der Bassstimme finden sich in den Kopfsätzen der Symphonien I-III nicht. Dies ist insofern bemerkenswert, als Mahler in späteren Werken, allen voran in der Neunten Symphonie, diese Scheu ablegt und regelrecht umgekehrt verfährt. 1082 Ähnlich wie bei den absteigenden Tetrachorden fällt eine melodische Verwendung des Gegenschrittmodells auf. Dessen Platzierung in die Oberstimme kann im Kopfsatz der Dritten in T. 140 f., T. 492–529 und T. 824 f. beobachtet werden. Erwähnenswert ist bei den beiden zuletzt genannten Passagen die Harmonisierung mittels Fauxbourdon. Die rein melodische Verwendung des Gegenschrittmodells (ohne Harmonisierung), wie sie so charakteristisch in der Introduktion des Kopfsatzes der Ersten erscheint, stellt einen Einzelfall dar und wirft darüber hinaus die Frage auf, ob der Terminus Terzfallsequenz überhaupt greift. Unter den wenigen zum Einsatz kommenden Terzfallsequenzen ist sicherlich diejenige besonders hervorzuheben, welche die harmonische Grundlage der semantisch wichtigen Dies irae-Passage in T. 270–275 bildet. 1083 1078
Einzig das sich aufwärts schraubende chromatische Bassmotiv beim Übergang zum Hauptsatz wäre hier zu nennen. 1079 Als weitere Beispiele im Kopfsatz der Zweiten sind die T. 39–41, T. 80 ff., T. 131–134, T. 179 ff., T. 300–303, T. 372–376 und die T. 401–404 zu nennen. 1080 Im Kopfsatz der Dritten können die T. 53–56, T. 78–83, T. 108–110, T. 115–117, T. 214–217, T. 580–582, T. 782–786 und die T. 790–796 als weitere Beispiele angeführt werden. 1081 Gemeint ist die charakteristische Intervallfolge von fallender Quarte und steigender Sekunde. 1082 In diesem Zusammenhang wurde bereits auf die Untersuchung der Neunten Symphonie Mahlers von Christian Utz hingewiesen (vgl. Utz, Neunte Symphonie, S. 336–338). 1083 Es sei noch darauf hingewiesen, dass eine eindeutige Differenzierung zwischen Terzfallsequenzen und harmonischen Terzfällen – dasselbe gilt für Terzstiegsequenzen und harmonische Terzstiege – nicht immer problemlos war. Diese stellte vor allem in den Kopfsätzen der Zweiten und der Dritten eine Herausforderung dar, da dort mediantische harmonische Beziehungen bei Mahler insgesamt überragende Bedeutung besitzen.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Terzstiegsequenzen Wie bei den Terzfallsequenzen kann bei den Terzstiegsequenzen zwischen solchen mit und ohne Gegenschrittmodell 1084 unterschieden werden. Im Gegensatz zu den Terzfallsequenzen konnte eine rein melodische Verwendung des Gegenschrittmodells ebenso wenig festgestellt werden wie dessen Platzierung in die Oberstimme. Mahler verfährt mit Terzstieg- noch sparsamer als mit Terzfallsequenzen, allerdings lässt er die wenigen Fälle umso deutlicher herausstechen und scheut dabei auch nicht das charakteristische Gegenschrittmodell im Bass, bspw. im Kopfsatz der Ersten, T. 298– 305 und in der Zweiten, T. 52–62. 1085 In Letzterer sind nicht nur die Auskomponierung und damit verbunden die Prolongation der einzelnen Sequenzglieder bemerkenswert. Besonders hervorzuheben ist die Funktion der Sequenz, denn sie ordnet maßgeblich die Harmonik des Seitenthemas. Weit über traditionelle Grenzen hinaus geht Mahler dann im Kopfsatz der Dritten, T. 82–118 (und analog T. 398–410): Die anfangs deutlich erkennbare Terzstiegsequenz (ohne Gegenschrittmodell) verunklart sich mit zunehmender Dauer derartig, dass es ab T. 91 schwerfällt, überhaupt noch von einer Sequenz zu sprechen. Allerdings bleibt trotz der chromatischen Verzerrung und Auskomponierung der Sequenzglieder, die dabei eine eigene Dimension erlangen, weiterhin die Mechanik des Terzstiegs erhalten. Quintfall- und sonstige Sequenzen Bei der Verwendung von Quintfallsequenzen mit ihren traditionell vielfältigen Erscheinungsformen hält sich der Komponist insgesamt zurück, und wenn er sie verwendet, dann meist kurz und kompakt. Im Kopfsatz der Ersten konnte lediglich eine Quintfallsequenz mit Septakkorden in T. 395–401 festgestellt werden. Im Kopfsatz der Zweiten spielt dieser Sequenztyp ebenfalls eine untergeordnete Rolle: In T. 158 f. finden sich eine knapp gehaltene Quintfallsequenz, die direkt an den soeben besprochenen Terzstieg in T. 156–158 anschließt, und ein nicht minder kompakter Quintfall mit Septakkorden in T. 268 f. 1086 Im Kopfsatz der Dritten konnten Quintfallsequenzen, bestehend aus einer Mischung aus Grund- und Septnonakkorden mit teils zusätzlicher chromatischer Schärfung, in T. 264 f. (analog dazu T. 298–301 und T. 787–790), in T. 498 f. und in den T. 509–511 festgestellt werden. Abschließend wird noch auf sonstige Sequenzen eingegangen, darunter zwei Montesequenzen im Kopfsatz der Ersten, T. 378–383 und im Kopfsatz der Dritten, T. 321– 323. Die einzige Quintstiegsequenz findet sich im Kopfsatz der Dritten, T. 592–594.
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Die Intervallfolge lautet nun fallende Sekunde und steigende Quarte. Zu ergänzen ist noch der knapp gehaltene Terzstieg in T. 156–158 im Kopfsatz der Zweiten. 1086 Der T. 290 basiert harmonisch zwar auf Quintfällen, allerdings fällt es an dieser Stelle schwer, von einer Sequenz zu sprechen. 1085
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Satzmodelle und Sequenzen Sequenzen unkonventioneller Art erscheinen im Kopfsatz der Zweiten, T. 262–267 und T. 316–320 sowie im Kopfsatz der Dritten, T. 327–331. Ihnen gemein ist eine eigenwillige stufige Konzeption.
Funktion von Satzmodellen und Sequenzen bei Mahler Im 19. Jahrhundert werden Sequenzen hauptsächlich zu Modulationszwecken genutzt. Innerhalb der traditionellen Sonatensatzform erfüllen sie vor allem zwei Aufgaben: Sie dienen als modulatorische Überleitungen hin zum Seitenthema und zur Erzeugung tonaler Dynamik in der Durchführung. Überraschenderweise nutzt Mahler Sequenzen zumeist gerade nicht zur Modulation. So weit seine Musik sich auch vermittels Sequenzen von der Ausgangstonalität entfernt, so konsequent kehrt sie doch bereits nach relativ kurzer Zeit wieder dorthin zurück. Die Sequenzen haben bei Mahler ganz und gar transitorische Funktion. Das musikalische Geschehen dreht sich tonal gleichsam einmal um die eigene Achse. Und selbst wenn nach einer Sequenz eine neue Tonalität erreicht wird, resultiert diese nicht aus der Sequenzmechanik. Insofern spielen Sequenzen in der tonalen Architektur der Kopfsätze keine Rolle. Zu den Funktionen von Sequenzen im Kontext der tonalen und modalen Felder zählt die Beschleunigung des harmonischen Rhythmus, also eine vorübergehende Auflockerung der harmonischen Statik, die die harmonisch großflächigen Felder prinzipiell auszeichnet. Sie ist oftmals mit einem chromatischen Anstrich verbunden, der gerade bei ansonsten diatonisch geprägten Feldern heraussticht. Außerhalb von Feldern werden Sequenzen (oftmals im Zusammenspiel mit Kadenzen) für eine kleingliedrige harmonische Ausgestaltung genutzt, 1087 die der harmonischen Großflächigkeit der Felder gegenübersteht. 1088 Des Weiteren nutzt Mahler Sequenzen zur Intensivierung und Auskomponierung von Dominantfunktionen. Hierfür kommen chromatisch geprägte parallele Sextensätze – dies stellt vor allem im Rahmen von Orgelpunkten ein traditionelles Mittel dar – und (die beiden bereits erwähnten) Montesequenzen zum Einsatz; Letztere verschmelzen mit der Dominantharmonie. 1089
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Als ikonische Beispiele können hierfür T. 270 ff. im Kopfsatz der Zweiten und T. 492 ff. im Kopfsatz der Dritten genannt werden. 1088 Lediglich ein einziges Mal verwendet Mahler in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien eine Sequenz zur Verbindung zweier Felder, und zwar in T. 298 ff. im Kopfsatz der Ersten. Dort werden das F-Dur-Bordunfeld und das modal konzipierte düstere f-MollFeld mit Hilfe einer Terzstiegsequenz verbunden. Da beide Felder den gleichen Grundton aufweisen, fällt es jedoch schwer, von einer Modulation zu sprechen. Entscheidend scheint vielmehr die der Sequenz vorangegangene Molltrübung des Bordunfeldes zu sein. 1089 Wenngleich es sich trotz aller Ähnlichkeit in T. 837–840 im Kopfsatz der Dritten nicht um eine Montesequenz handelt, können diese Takte zu den soeben genannten Passagen gezählt werden. Zum Zwecke der Intensivierung der dort erklingenden Dominante erklingt
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
Nicht kadenzielle syntaktische Verknüpfungen In den untersuchten Kopfsätzen finden sich zusätzlich zu den vielfältigen kadenziellen Erscheinungsformen syntaktische Verknüpfungen, die nicht auf einem kadenziellen Grundgedanken beruhen. Hierbei ist im Wesentlichen zwischen nicht kadenziellen Quintbeziehungen und tonzentralen Verfahren zu differenzieren. Beide Arten der Verknüpfung können auch in Kombination auftreten.
Nicht kadenzielle Quintbeziehungen Hierbei handelt es sich um harmonische Ober- oder Unterquintbeziehungen, bei denen keine kadenziellen Kräfte wirken. Bemerkenswert dabei ist, dass die erreichte neue Tonart dennoch von Anfang an als solche akzeptiert wird. Ihre sofortige Tonikalisierung ist insbesondere auf die Instrumentation zurückzuführen, auf Mahlers Schnitt-Technik. Mit ihr erzielt er eine klare Zäsur, die sich instrumentatorisch darin äußert, dass mit dem Eintritt der neuen Tonart zuvor beteiligte Instrumente abrupt verstummen und frische Klangfarben an ihre Stelle treten. Im Kopfsatz der Ersten kommen nicht kadenzielle Quintbeziehungen kaum vor, auch im Kopfsatz der Zweiten spielen sie eine untergeordnete Rolle (lediglich in T. 188 f. findet sich eine derartige Verknüpfung). Am häufigsten verwendet Mahler nicht kadenzielle Quintbeziehungen im Kopfsatz der Dritten. Exemplarisch seien T. 23–27 und T. 135 f. genannt. 1090 Beide Passagen zeichnen sich durch eine zusätzliche ‚Variable‘ aus: In T. 23–27 kaschiert das tonhöhenlose Schlagwerk die Quintbeziehung, in T. 135 f. liegt eine halbschlüssig konnotierte phrygische Wendung vor, die die beschriebene syntaktische Verknüpfung noch überraschender wirken lässt. 1091
Tonzentrale Verfahren Mit Hilfe eines Liegetons (seltener mit zwei Tönen) wird eine syntaktische Verbindung hergestellt, ehe die Zieltonalität mittels Tonikalisierung oder Kadenz gefestigt wird. Im Kopfsatz der Ersten konnte lediglich einmal (in T. 348 ff.) eine solche Verknüpfung mittels Tonzentralität beobachtet werden. 1092 Eine syntaktische Verknüpfung ein sequenziell konzipierter, chromatisch aufwärts gerichteter Dezimen- bzw. Sextensatz um den Dominantgrundton herum. 1090 Analog zu T. 23–27 verhalten sich T. 183–185, T. 666–671 und T. 702–704. Als Pendant zu T. 135 f. kann T. 228 f. gelten. 1091 Als weitere Beispiele im Kopfsatz der Dritten können T. 487 f., T. 490 f. und T. 816– 823 angeführt werden. 1092 Dort war es der innerhalb des funktionsfreien verminderten Septakkords exponierte Ton a, der diesen mit der inszenierten Dominante, den Durchbruchsfanfaren, verbunden hat.
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Nicht kadenzielle syntaktische Verknüpfungen mittels eines gemeinsamen Tons findet sich im ersten Durchführungsteil des Kopfsatzes der Zweiten in T. 195 f. 1093 Tonzentrale Verfahren dienen in diesem Satz auffallend häufig der Herstellung von Terzbeziehungen (Medianten ersten und zweiten Grades), was insofern bemerkenswert ist, als den Terzbeziehungen, welche grundsätzlich kaum syntaktische Wirkung besitzen, diese dadurch nun zuwächst. Besonders gut lässt sich dies an den T. 45–48 und T. 222 f. nachvollziehen. 1094 Auch im Kopfsatz der Dritten kommen tonzentrale Verfahren zur syntaktischen Verknüpfung zum Einsatz, bspw. in T. 139 f., T. 223–225 und T. 529 f. 1095 Ähnlich wie zuvor bei den nicht kadenziellen Quintbeziehungen nimmt Mahler auch hier mit Hilfe der Instrumentation Einfluss auf die syntaktische Verknüpfung. Dabei kann er das tonzentrale Moment in Gestalt ausgehaltener Töne unterstreichen oder mittels Pausen und / oder durch einen instrumentatorischen Schnitt schwächen.
Kombinationen von nicht kadenziellen Quintbeziehungen und tonzentralen Verfahren Beide Techniken treten beim Übergang von der Exposition zur Durchführung (T. 116 f.) im Kopfsatz der Zweiten kombiniert auf. 1096 Alle weiteren Passagen finden sich im Kopfsatz der Dritten. Zu nennen sind T. 183–185, die formale Nahtstelle zwischen den auf dem Grundton a ausklingenden mystischen Baßharmonien und dem d-Moll-Trauermarsch. 1097 Noch einmal bedient sich Mahler der betreffenden Kombination in T. 330 f., um dort in eine ausgedehnte dominantische D-DurOrgelpunktepisode überzugehen. 1098 Nicht zuletzt spielen Kombinationen von nicht1093
Als tonzentrales syntaktisches Bindeglied fungiert der Basston d, der die feldähnliche und modal konzipierte fis-Moll-Passage und den orchestralen Ausbruch in g-Moll miteinander verbindet. 1094 In T. 45–48 wird mit Hilfe einer Mischung aus Tonzentralität und eines zweifachen Terzfalls von c-Moll nach Fes-Dur / E-Dur moduliert. In T. 222 f. ist das einsetzende CesDur aufgrund der vorangehenden es-Moll-Tonalität zunächst als VI. Stufe wahrzunehmen, ehe es tonikalisiert wird. 1095 In T. 139 f. zeigt sich das tonzentrale Moment daran, dass die Flöten die Töne d und fis von den Klarinetten übernehmen. In T. 223–225 bildet der Liegeton d in der Bassstimme das syntaktische Bindeglied. Bevor der Ton b den b-Moll Abschnitt in T. 530 eröffnet, wird er innerhalb der Ges-Dur-Fläche zuvor derartig exponiert, dass er omnipräsente Wirkung entfaltet und beide Abschnitte als Quasi-Liegeton miteinander verbindet. 1096 Die dort ertönenden Tonalitäten g-Moll und C-Dur stehen im besagten Quintverhältnis und sind durch den Liegeton g in der Bassstimme miteinander verbunden. 1097 Das tonzentrale Moment zeigt sich daran, dass die ab T. 184 melodieführende Posaune den Ton a der Pauke aufgreift. 1098 Ein Quintverhältnis besteht zwischen dem kleinen a-Moll-Septakkord, der das letzte Glied einer unkonventionellen Sequenz bildet, und dem D-Dur-Quartsextakkord, der den Orgelpunkt eröffnet. Tonzentrale Funktion kommt dem Liegeton a in der Bassstimme zu.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse kadenziellen Quintbeziehungen und tonzentralen Verfahren für die Harmonik der T. 530 ff. eine überragende Rolle. Zur Verwendung nicht kadenzieller syntaktischer Verknüpfungen Überblickt man Mahlers Einsatz von nicht kadenziellen syntaktischen Verknüpfungen von Kopfsatz zu Kopfsatz, ist eine klare Steigerung erkennbar: Während im Kopfsatz der Ersten trotz aller Manipulationen immer noch problemlos von konventionellen syntaktischen Verbindungen in Gestalt von Kadenzen gesprochen werden kann, distanziert sich Mahler im Kopfsatz der Zweiten bereits allmählich von kadenziellen Verknüpfungen, um schließlich im Kopfsatz der Dritten mit einer Reihe von unkonventionellen Verbindungen zu arbeiten, die die Übergänge teils merklich verkomplizieren.
Parataktische Reihungen In den Kopfsätzen der ersten beiden Symphonien hält sich Mahler beim Gebrauch von Rückungen eher zurück: Rückungen treten im Kopfsatz der Ersten an zwei Stellen (T. 242 f. und T. 273), im Kopfsatz der Zweiten an drei (T. 62 und T. 290 f.) auf. Der Kopfsatz der Dritten weist mit knapp zwanzig Rückungen die größte Anzahl auf. Als ikonische Beispiele können T. 147 f., T. 485 f., T. 600 f. und T. 865–867 angeführt werden. 1099 Bei den nachfolgenden Passagen – T. 127–132, T. 156–164, T. 422–424 und T. 638–643 – handelt es sich harmonisch ebenfalls um Rückungen, die sich allerdings zusätzlich dadurch auszeichnen, dass zwischen Ausgangs- und Zieltonalität tonhöhenloses Schlagwerk (die Kleine und überwiegend Große Trommel) erklingt. Der Schlagwerk-Einschub verhindert zunächst einmal das unmittelbare Aufeinanderfolgen von Ausgangs- und Zieltonalität. Dabei schwindet mit zunehmender Dauer der Tonhöhenlosigkeit der Bezug zur Ausgangstonalität beim Hörer, was schließlich dazu führt, dass der besondere Effekt einer Rückung – der abrupte und überraschende Tonalitätssprung – durch das tonhöhenlose Schlagwerk entscheidend abgefedert wird.
Überblendungen Im terminologischen Kapitel wurde dargelegt, dass sich manche formale Nahtstellen bei Mahler insofern nicht mit traditionellen Termini fassen lassen, als dort zwei Abschnitte bzw. Unterabschnitte weder eindeutig auf einem syntaktischen Bindeglied beruhen noch parataktisch aufeinander folgen. In den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien finden sich einige Stellen, bei denen es angemessen ist, das Zusammenspiel von Melodik, Harmonik und Instrumentation mit der Überblendung zweier Szenen in einem Film zu vergleichen. 1099
Weitere Rückungen konnten in T. 310 f., T. 314 f., T. 462 f., T. 472 f., T. 485 f., T. 499 f., T. 544 f., T. 736 f., T. 761 f., T. 771 f. und in T. 777 f. festgestellt werden.
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Überblendungen
Überblendung mittels doppeldeutiger Septnonakkorde Ausschließlich im Kopfsatz der Dritten sind an gewissen formalen Nahtstellen doppeldeutige Septnonakkorde zu finden. Sie resultieren aus der Überlagerung der dort erklingenden Oberstimmen und des Liegetons in der Bassstimme. Dabei ragt Letzterer entweder als Relikt der alten Tonart in die neue hinein oder er antizipiert die neue Tonart noch im alten Terrain. Die Doppeldeutigkeit der Septnonakkorde besteht darin, dass sie die Grundharmonien sowohl der Ausgangs- als auch der Zieltonart enthalten, wobei kadenzielle Logik keinerlei Rolle spielt. Reizvoll bei der Überblendung ist der temporäre tonale Schwebezustand bis zur Stabilisierung der Zieltonalität. 1100
Überblendung mittels antizipierender Auftakte Ebenfalls ausschließlich im Kopfsatz der Dritten finden sich an formalen Nahtstellen markante Auftaktbildungen, mit deren Hilfe eine minimale Überlappung zweier Abschnitte erzielt wird. Während die Tonalität des alten Abschnittes noch gilt und erklingt, antizipiert der Auftakt bereits die neue. Bemerkenswert sind dabei die Wechselwirkungen zwischen der melodischen Komponente Auftakt, der Harmonik und der Instrumentation. Zunächst einmal ist zwischen konsonierenden und dissonierenden Auftakten zu differenzieren. Konsonierende Auftakte, die gleichzeitig für eine Verknüpfung der aufeinanderfolgenden Abschnitte sorgen, finden sich an den formalen Nahtstellen in T. 573 f. und in T. 815 f. Allerdings unterscheiden sich die beiden Passagen harmonisch grundsätzlich voneinander: während sich in T. 573 f. ein syntaktischer Zusammenhang in Gestalt einer Quintbeziehung herstellen lässt, läge in T. 815 f. ohne den verbindend wirkenden auftaktigen Einsatz der Es-Klarinette harmonisch eine Rückung vor. Unabhängig davon besteht der besondere Reiz bei beiden Stellen darin, dass die Auftakte die einzigen Bindeglieder überhaupt bilden und ansonsten ein radikaler Schnitt in der Instrumentation vollzogen wird. Hier wird deutlich, dass auch das kleinste musikalische Gebilde entscheidende Wirkung im musikalischen Umfeld entfalten kann. Dissonierende Auftakte liegen in T. 139 f., T. 228 f., T. 458 f., T. 577 f. und T. 582 f. vor. Deren Wirkung auf die beiden erstgenannten formalen Nahtstellen, bei denen syntaktische Kräfte in Gestalt von Tonzentralität bzw. nicht kadenziellen Quintbeziehungen walten, lässt sich als verunklarend und sogar beschädigend charakterisieren. Weit weniger klar ist die Rolle des dissonierenden Auftakts bei der in T. 458 f. ertönenden Progression der Dreiklänge Fis-Dur und D-Dur, die keine syntaktischen Eigenschaften aufweist und
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In T. 83 f. (analog dazu T. 398 f.) überblendet Mahler mit Hilfe des Quartseptnonakkords d-g-c-es von d-Moll nach c-Moll, in T. 451 ff. wird mittels des d-Moll-Septnonakkords d-f-a-c-es ein fließender Übergang von es-Moll nach d-Moll erzeugt und in T. 481 ff. nutzt der Komponist den kleinen d-Moll-Septakkord d-f-a-c, um von f-Lydisch nach d-Moll zu gelangen.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse harmonisch als Rückung oder als Überblendung der beiden genannten Dreiklänge (im Sinne Hauptmanns / Polths) gedeutet werden kann. Ähnlich uneindeutig verhält es sich dann in T. 577 f. und T. 582 f., in denen sich harmonisch insgesamt zwei Rückungen – eine von C-Dur nach b-Moll und eine von b-Moll zurück nach C-Dur – ereignen, gleichzeitig jedoch die drei Unterabschnitte mit Hilfe von dissonierenden Auftakten gekoppelt werden. Die Frage, inwieweit die dissonierenden Auftakte die sich jeweils ereignende harmonische Rückung unterstreichen oder ihr entgegenstehen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits fällt es schwer, den Auftakten syntaktische Eigenschaften zu bescheinigen, andererseits ist es deren antizipierendes Moment, das den Tonalitätssprung entscheidend abfedert, womit diese Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann. Eine konsonante Überblendung, die einer filmischen tatsächlich am nächsten kommt, findet sich im Kopfsatz der Zweiten, T. 242–246. Es handelt sich um den kaum wahrnehmbaren flüsterleisen Paukenwirbel auf dem Ton h/ces, der den letzten, pastoral gehaltenen Abschnitt des ersten Durchführungsteils (H-Dur) beschließt und als Nachhall dessen in den plötzlichen, den zweiten Durchführungsteil eröffnenden orchestralen Ausbruch (es-Moll) hineinragt. Harmonisch kann somit von einer Überblendung der Dreiklänge Ces-Dur und es-Moll gesprochen werden. Wenngleich es sich weder um ein harmonisches noch melodisches Phänomen handelt, soll im Rahmen von Überblendungen auf die besondere Rolle des tonhöhenlosen Schlagwerks im Kopfsatz der Dritten eingegangen werden. Mahler nutzt dieses nicht nur zur Markierung des Anfangs / Endes formaler Abschnitte, sondern erzielt vor allem mit Hilfe der Großen Trommel subtile Überblendungen, bspw. in T. 25–27 (und analog T. 669–671): dort antizipiert die Große Trommel mit ihrem charakteristischen Rhythmus bereits die nächste ‚Szene‘, den Trauermarsch. Zwei stark geräuschhafte Überblendungen finden sich dann noch in T. 423 und in T. 642: In T. 423 fungiert der flüsterleise Wirbel der Großen Trommel als tonhöhenloser Ausklang des modal konzipierten H-Dur-Feldes und blendet in das Rezitativ-Arioso über, in T. 642 – der Nahtstelle zwischen Durchführung und Reprise – ist es dann die Kleine Trommel, die diese Aufgabe übernimmt. Die einzige echte Abblende in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien findet sich in T. 388–392 im Kopfsatz der Zweiten: Dort wird nach mehrmaligem Dur-MollWechsel (E-Dur / e-Moll) der Satz so weit zersetzt, bis in T. 391 allein noch der Ton es in den ersten Violinen übrig ist, welcher dann „bis zum gänzlichen Aufhören“ diminuieren soll. Mit Hilfe des Terminus Überblendung konnte somit eine ganze Reihe von unkonventionellen und mehrdeutigen formalen Nahtstellen bei Mahler beschrieben und systematisiert werden. Während im Film Überblendungen eine syntaktische Verbindung zwischen zwei Szenen repräsentieren, 1101 kann ihre Rolle bei Mahler an einigen 1101
Vgl. Monaco, James, Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien (2009), deutsche Fassung hrsg. von Hans-Michael Bock, 5. Auflage, Hamburg: Rowohlt 2017, S. 242.
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Zum Modulationsbegriff bei Mahler Stellen nicht eindeutig geklärt werden. Dies betont jedoch nur, mit welcher Finesse der Komponist an formalen Nahtstellen verfährt.
Zum Modulationsbegriff bei Mahler Ein traditioneller Modulationsbegriff, der ein möglichst elegantes Überleiten von der Ausgangs- in die Zieltonart beinhaltet, greift bei Mahler am ehesten noch im Kopfsatz der Ersten. Ansonsten bestätigen die gewonnenen Untersuchungsergebnisse die Einschätzung Adornos, dass Mahler „unmerklich-glatte[. . . ] Modulationen“ 1102 scheut. Ein erwähnenswertes Detail ist sicherlich, dass auch enharmonische Modulationen kaum eine Rolle spielen. Die Untersuchung hat aber auch ergeben, dass sich Mahler oftmals genau zwischen den beiden Extremen ‚glatte‘ Modulation und Rückung bewegt und es ihm gelingt, Tonartwechseln immer neue Facetten abzugewinnen. Mal weisen sie mehr Anteile eines traditionellen Modulationsvorgangs auf, mal haftet ihnen ein gewaltsames Moment an, so dass sich eine eindeutige Zuordnung zum einen oder zum anderen daher oftmals verbietet. Nahezu allen Tonartwechseln gemein ist eine bemerkenswerte Kompaktheit. Der eigentliche Wechsel vollzieht sich abrupt und binnen kürzester Zeit, was Ausgangs- und Zieltonart oftmals merkwürdig fremd nebeneinander stehen lässt. Proportional stellt dies den Gegenpol zu Mahlers harmonisch großflächigen Feldern dar. Gerade bei eng verwandten Tonarten, die prinzipiell nur eine geringe Modifikation der Diatonik erfordern, sorgt Mahler immer wieder für merkliche Komplikationen, indem er vor allem kadenzielle Signalklänge entgegen einer traditionellen Hörerwartung behandelt und nicht selten tonzentrale Verfahren zur syntaktischen Verknüpfung einsetzt. Anders herum verhält es sich mit wenig verwandten Tonarten. Um diese zu erreichen, kommen bevorzugt Rückungen zum Einsatz, was ihre besondere Wirkung im Kontext zusätzlich verstärkt. Besonders hervorzuheben sind die (nicht kadenzielle) Tonikalisierung der Zieltonart und die Rolle der Instrumentation. Bislang hat die Mahlerforschung bei der Untersuchung von Mahlers Instrumentation das analytische Moment, die Hervorhebung von Linien, räumliche Aspekte, Semantik, Symbolik und den Einsatz von (besonderen) Instrumenten und deren Spieltechniken in den Vordergrund gerückt. Das Zusammenwirken von Instrumentation, Harmonik und Form spielte hingegen eine untergeordnete Rolle. Dieses Zusammenspiel zeigt sich gerade im Rahmen von Modulationen besonders deutlich, da sich Mahler damit zusätzlichen Gestaltungsspielraum verschafft. Mit Hilfe der Instrumentation kann der Komponist einen Tonartwechsel hervorkehren, aber auch kaschieren. Dabei gebührt der für Mahler charakteristischen Schnitt-Technik besonderes Augenmerk: Ein abrupter Klangfarbenwechsel und damit verbunden die Herausstellung einzelner Melodielinien dient der Schärfung harmonischer Vorgänge und der besonderen Markierung formaler
1102
Adorno, Physiognomik, S. 42.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Abschnitte. 1103 Die Schnitt-Technik hat aber auch dekonstruierende Wirkung, wenn sie eigentlich eng verwandte Tonalitäten mit einem Mal fremd und unverbunden wirken lässt.
Mahlers Achsentontechnik Einen wertvollen Breitrag zur Untersuchung der Harmonik Mahlers lieferte Theodor Schmitt mit dem von ihm geprägten Begriff der „Achsenharmonik“ 1104. Er beschreibt Akkordprogressionen, die weniger auf funktionaler Logik als auf einer Art Achsentonlogik basieren, die sich darin äußert, dass ein Ton zum Dreh- und Angelpunkt eines harmonischen Geschehens wird. Gleichzeitig erfährt dieser selbst immer wieder neue wechselnde harmonische Beleuchtungen. Die kompositionstechnische Untersuchung hat ergeben, dass Schmitts Begriff der Achsenharmonik allgemeiner als Achsentontechnik gefasst werden muss, da achsentönige Verfahren sowohl melodisch als auch harmonisch bei Mahler in Erscheinung treten können. Grundsätzlich lassen sich die melodische und harmonische Komponente nur schwer voneinander trennen, da sie sich gegenseitig bedingen und darüber hinaus stets das musikalische Umfeld berücksichtigt werden muss. Allerdings lassen sich gewisse Schwerpunktsetzungen erkennen, was eine Systematisierung erleichtert. Somit kann zunächst einmal zwischen schwerpunktmäßig achsentonmelodischen und schwerpunktmäßig achsentonharmonischen Passagen differenziert werden, ehe auf die Interaktion bzw. auf Wechselwirkungen von Melodik und Harmonik eingegangen wird. Festzuhalten gilt es zudem, dass die Anzahl von Achsentönen variieren kann, wobei ein einzelner Achsenton den häufigsten Fall darstellt. Achsentontechnische Verfahren konnten in allen drei Kopfsätzen nachgewiesen werden: In den Kopfsätzen der Ersten und Zweiten äußerten sie sich primär melodisch und kamen innerhalb von Feldern zum Einsatz, im Kopfsatz der Dritten formt sich dann zusätzlich dazu eine harmonische Komponente aus, wobei die Bindung an Felder entfällt. Bereits an dieser Stelle kann von einer Entwicklung der Achsentontechnik gesprochen werden, die im Kopfsatz der Dritten ihren (vorläufigen) Höhepunkt findet. 1105
Achsentonmelodische Verfahren im Dienste der Motiv- und Themenbildung Achsentontechnische Verfahren spielen bei der Melodiebildung Mahlers eine überragende Rolle. Dies zeigt sich sogleich daran, dass einige der zentralen Motive und 1103
Vgl. Jost, Mahlers Orchesterklang, S. 121. Ferner hat die Untersuchung ergeben, dass nicht immer ein vollständiger Schnitt vorliegen muss. 1104 Schmitt, Der langsame Symphoniesatz, S. 86 ff. 1105 Achsentontechnische Verfahren ziehen sich wie ein roter Faden durch Mahlers symphonisches Schaffen und kommen auch in späteren Werken zum Einsatz. Exemplarisch seien T. 31 ff. im 2. Satz der Fünften und T. 104 ff. im Finalsatz der Sechsten genannt.
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Mahlers Achsentontechnik Themen – in allen drei Kopfsätzen – auf einem achsentönigen Grundgedanken beruhen. Der Achsenton nimmt dabei größtenteils die Rolle des Grund- oder Quinttons im tonalen Kontext ein. Als ikonische Beispiele sind das Seufzermotiv und später das Seufzerthema im Kopfsatz der Ersten, die fächerartige Figur in T. 80 ff. des Kopfsatzes der Zweiten und die markante Trompetenfanfare in T. 31 ff. des Kopfsatzes der Dritten zu nennen.
Achsentonmelodische Verfahren innerhalb von Feldern Für die Faktur eines Feldes spielen achsentonmelodische Aspekte insofern eine Rolle, als damit die für Felder charakteristischen Liegetonkonstellationen eine Doppelfunktion erlangen können: Sie artikulieren dann das jeweilige Feld und dienen gleichzeitig als Achsenton, der als melodischer Dreh- und Angelpunkt fungiert. Als ikonische Beispiele können im Kopfsatz der Ersten T. 334 ff., im Kopfsatz der Zweiten T. 145 ff. und im Kopfsatz der Dritten T. 603 ff. angeführt werden.
Achsentonharmonische Verfahren Einige wenige Passagen im Kopfsatz der Dritten zeigen achsentönige Verfahren beinahe ausschließlich harmonisch. Gleich zu Beginn des Satzes (T. 11–14) ist es ein einzelner Achsenton, der Liegeton a, der die VI-I-Akkordprogressionen in a-Moll und A-Dur organisiert. Er ist in jedem Akkord enthalten und wechselt dabei seine Rolle zwischen Grund- und Terzton. Ähnlich verhält es sich in T. 132–134, in denen der quasi omnipräsente Ton d die Grundlage für die VI-I-Akkordprogressionen in d-Moll und D-Dur bildet. 1106 Schließlich kommt in T. 14–23 dann ein Akkord – der leere Quintoktavklang a-e-a – zum Einsatz, der durch seine regelmäßige Wiederkehr als Achse innerhalb der modalen Akkordfolge fungiert.
Interaktion von Achsentonmelodik und -harmonik im Kopfsatz der Dritten Wie bereits angedeutet wurde, erlangt die Achsentontechnik im Kopfsatz der Dritten eine neue Qualität. In diesem Satz scheinen insgesamt Möglichkeiten im Umgang mit achsentönigen Verfahren ausgelotet zu werden. In allen Fällen geht es im Kern um die wechselnde Beleuchtung eines konstant erklingenden oder regelmäßig wiederkehrenden melodischen oder harmonischen Elements. Ein solches Element bzw. eine solche Achse kann in Gestalt eines einzelnen Tons, zweier Töne, eines Dreiklangs und auch einer melodischen Formel auftreten. Einen besonderen Reiz stellen dabei diejenigen
1106
In beiden Fällen resultieren daraus Medianten ersten und vor allem zweiten Grades.
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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse achsentönigen Passagen dar, in denen Melodik und Harmonik gewissermaßen an unterschiedlichen Strängen ziehen und damit quer zueinander stehen, was eine temporäre Mehrdeutigkeit zur Folge hat. Ein ikonisches Beispiel für zwei Achsentöne, um die sich eine Melodie rankt und deren Rolle sich im wechselnden tonalen Umfeld ändert, ist der Beginn des Schlafliedthemas im Kopfsatz der Dritten, T. 136–139. Eine Achse in Gestalt einer wiederkehrenden melodischen Formel bildet die markante Trompetenfanfare in den Trauermarschteilen des Satzes. Mahler nutzt ihre einzigartigen melodischen Eigenschaften, die unverkennbare Leitton-Grundton-Wendung, um unabhängig vom Umfeld in eine gewisse tonale Richtung zu weisen. Der besondere Reiz besteht darin, wie die Fanfare und das jeweilige tonale Umfeld aufeinander reagieren. Die Fanfare kann sich problemlos einfügen und darüber hinaus tonal klärend wirken, wie in T. 31 ff., sie kann aber auch als einziger Orientierungspunkt in einem ansonsten völlig verzerrten und unklaren tonalen Umfeld (T. 91–95) herausragen. Gleichzeitig wirkt sich das wechselnde tonale Umfeld auf die Fanfare selbst aus. Dabei wird sie immer wieder in ein neues harmonisches Licht gerückt und unterschiedlich eingefärbt. 1107 Eine Achse in Gestalt eines vollständigen Dreiklangs stellt das Tusch-Motiv im Marsch wie aus weiter Ferne dar. Mit diesem wird zunächst sogar noch deutlicher als mit der markanten Trompetenfanfare eine tonale Richtung (a-Moll) eingeschlagen. Doch auch hier stellt sich vor allem durch die querständige melodische Konzeption der Bassstimme rasch eine tonale Verunsicherung ein, was zu immer wieder neuen wechselseitigen Beleuchtungen beider Ebenen und charakteristischen, teils bitonalen Reibungen führt.
Aufbau und Konzeption einer makrologischen harmonischen Stufe Wie bereits am Beginn der Zusammenfassung erwähnt wurde, kann eine makrologische harmonische Stufe bereits durch ein einzelnes Feld definiert werden. Dies stellt einerseits den einfachsten Fall dar, andererseits bestehen zwischen Feldern hinsichtlich ihrer zeitlichen Ausdehnung und ihrer Komplexität zum Teil große Unterschiede. 1108 Vor allem im Kopfsatz der Ersten tendiert Mahler auffallend oft dazu, eine makrologische harmonische Stufe durch ein einzelnes Feld zu artikulieren, wodurch der Satz gleichzeitig die höchste Dichte an Feldern von allen drei Kopfsätzen aufweist. Je nach Umfang und Komplexität weist eine makrologische harmonische Stufe bzw. das Feld,
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Zusätzlich zu den genannten Passagen können die T. 110–117 angeführt werden, wo sie mittels eines Terzfalls dreimal unterschiedlich harmonisch interpretiert wird. 1108 Hierzu wirkt der Vergleich des ambivalenten Feldes, das der Introduktion des Kopfsatzes der Ersten zu Grunde liegt, mit einem der zahlreichen Bordunfelder in der Exposition sogleich klärend.
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Aufbau und Konzeption einer makrologischen harmonischen Stufe das diese definiert, eine spezifische Dramaturgie auf. Eine dieser Dramaturgien kann als ein kontinuierlicher Steigerungsprozess beschrieben werden. Dabei wird zu Beginn des Feldes ein modal-diatonischer Schwerpunkt gesetzt, der sich allmählich zu einem tonalchromatischen verlagert. Hierzu zählen insbesondere die T. 1–62, T. 163–207 und T. 305–351 im Kopfsatz der Ersten. Das dramaturgische Gegenstück beinhaltet einen sukzessiven Auflösungsprozess, ein quasi auskomponiertes Morendo. Einen solchen weisen die T. 603–642 im Kopfsatz der Dritten und größtenteils auch die T. 392–445 im Kopfsatz der Zweiten auf. Eine weitere Möglichkeit, eine makrologische harmonische Stufe zu artikulieren, besteht in der Verknüpfung von mehreren unterschiedlichen Feldern gleicher Tonalität. Auf diese Weise verfährt Mahler in T. 80–116 des Kopfsatzes der Zweiten: Auf das modal konzipierte Feld (T. 80–88) folgen ein dominantischer Orgelpunkt (T. 89– 96) 1109 und schließlich ein ambivalentes Feld (T. 97–116), wobei alle drei Felder in g-Moll zu verorten sind. 1110 Eine makrologische harmonische Stufe kann sich aber auch aus mehreren Komponenten, sprich aus einer Abfolge von Feldern, Kadenzen und Sequenzen, zusammensetzen. Hierbei folgt Mahler mehrfach einer ähnlichen, auf Steigerung angelegten Dramaturgie, wie sie bereits bei einigen Feldern feldintern festgestellt und beschrieben wurde: Er verschiebt den anfänglich gesetzten modal-diatonischen Schwerpunkt nach und nach zu einem tonal-chromatischen. Diesen Verlauf weisen die T. 110–135 im Kopfsatz der Ersten, T. 1–42 und T. 127–171 im Kopfsatz der Zweiten und T. 27–82 im Kopfsatz der Dritten auf. 1111 Einmal, im Kopfsatz der Dritten, T. 492–529, verkehrt Mahler den dramaturgischen Verlauf: Das dreiteilig konzipierte Lied ohne Worte entzerrt sich von Abschnitt zu Abschnitt, bis schließlich lediglich ein stehender Klang übrigbleibt. Eine eher locker gefügte Konzeption zeigt sich bei der Ausgestaltung der makrologischen harmonischen III. Stufe in T. 244–319 im Kopfsatz der Zweiten, wo Mahler die vorherrschende es-Moll-Tonalität immer wieder durch wechselnde diatonische und chromatische Färbungen in ein anderes Licht rückt und stellenweise Abzweigungen nach b-Moll vornimmt, die jedoch gesamtarchitektonisch nicht ins Gewicht fallen. Im epischen Kopfsatz der Dritten werden dann hinsichtlich des Aufbaus und der Konzeption einer makrologischen harmonischen Stufe neue Wege beschritten. Von überragender Bedeutung sind die bereits ausführlich beschriebenen transitorischen und interpolaren Aspekte, mit deren Hilfe sich Mahler innerhalb einer makrologischen harmonischen Stufe temporär denkbar weit vom tonalen Ausgangspunkt entfernt, die Stufe damit extrem dehnt und beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Zwar haben sich diese Strategien bereits in den anderen beiden Kopfsätzen angedeutet, wirklich konsequent mit ihnen verfährt Mahler allerdings erst hier.
1109
An dieser Stelle zeigt sich der soeben beschriebene instrumentatorische Kunstgriff Mahlers ebenfalls sehr deutlich. 1110 Zudem unterliegt das ambivalente Feld ebenfalls einem sukzessiven Auflösungsprozess. 1111 Analog dazu verhalten sich T. 164 ff. und T. 671 ff.
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Schlussüberlegungen und Ausblick Jeder der drei untersuchten Kopfsätze zeichnet sich durch eine einzigartige makrologische harmonische Architektur auf. Bemerkenswert ist dabei, dass alle Kopfsätze ein ähnliches und vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund scheinbar konventionelles Grundgerüst, bestehend aus den makrologischen harmonischen Stufen I, III und V, aufweisen. Entscheidend ist jedoch Mahlers Interpretation, die sich nicht nur von Kopfsatz zu Kopfsatz maßgeblich unterscheidet, sondern auch traditionelle Grenzen teils weit überschreitet. Das besagte Gerüst repräsentiert vielmehr das Gerippe, das von der Tradition übriggeblieben ist. Die individuellen architektonischen Grundprinzipien spiegeln sich sowohl in den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bei der Ausgestaltung einer makrologischen harmonischen Stufe als auch in den Beziehungen zwischen den makrologischen harmonischen Stufen wider. Umso spannender ist daher die grundsätzliche Frage, was auf die monumentale und kosmologische Dritte Symphonie überhaupt folgen kann. Soll der Kopfsatz der nächsten Symphonie die Marke von tausend Takten überschreiten und das Werk nun sieben oder sogar acht Sätze aufweisen? Festzustellen ist, dass für Mahler mit dem „Monstrum“ makrologisch harmonisch ein Extrempunkt erreicht war, nach dem eine nochmalige Steigerung utopisch gewesen wäre. Mit der Vierten, die ursprünglich als „Humoreske“ geplant war, 1112schlug er neue Wege ein. Die Vierte ist ein durch und durch doppelbödiges Werk. Den konzeptionellen Ausgangs- und Zielpunkt bildet dabei der Finalsatz Das Himmlische Leben, der gleichzeitig der kürzeste Satz in der Vierten ist. 1113 Und genau darin besteht Mahlers Kunstgriff. Entgegen der Entwicklungstendenz im 19. Jahrhundert, Symphonien steigernd anzulegen, sie also im Finale zu ihrem Höhepunkt zu führen, verfährt Mahler genau anders herum, und es ist schließlich der ‚zusammengeschrumpfte‘ Finalsatz, der die Idee, eine Symphonie in ihrem Finale kulminieren zu lassen, gewissermaßen ad absurdum führt. 1114 In Das Himmlische Leben, schlüpft Mahler einerseits in die Rolle
1112
Die Bezeichnung der Vierten als Humoreske seitens des Komponisten findet sich in einem Skizzenblatt (vgl. Bekker, Mahlers Sinfonien, S. 145). Ferner geht daraus hervor, dass Mahler die einzelnen Sätze mit Titeln versah, wenngleich die Reihenfolge der Sätze auf dem Skizzenblatt nicht der endgültigen Fassung entspricht. Hierzu sei angemerkt, dass Mahler nach der Fertigstellung der Vierten „[v]on einer Benennung des Werkes in den einzelnen Sätzen, wie in früheren Zeiten, [. . . ] nichts mehr wissen [wollte]“ (NBL, S. 163), also Abstand von jeglichen Wegtafeln nahm. 1113 Vgl. Steinbeck, Erste bis Vierte Symphonie, S. 252. Während der Finalsatz Das Himmlische Leben bereits Anfang des Jahres 1892 komponiert worden ist, sind die ersten drei Sätze der Vierten in den Sommermonaten der Jahre 1899 und 1900 entstanden (vgl. Hein, Vierte Symphonie, S. 355). 1114 Vgl. ebd., S. 253.
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Schlussüberlegungen und Ausblick eines naiven Kindes 1115, andererseits versucht er „von überlegener Warte aus in Humor oder Ironie mit [der Welt] fertig zu werden“ 1116. Mahler überbietet die monumentale Dritte nicht mit einem ‚noch mehr‘ an Material, sondern mit einem „Als Ob von der ersten bis zur letzten Note.“ 1117 Er kreiert mit seiner Vierten einen „humoristisch-ironischen Kunststil“ 1118 und gleichzeitig eine „‚Anti-Symphonie‘“ 1119, die nichts weniger als einen Gegenentwurf zur symphonischen Tradition darstellt, der wiederum zukunftsweisend für die Gattung ist. 1120 Innerhalb der „dem Inhalt und Aufbau nach [. . . ] in sich geschlossene[n] Tetralogie“ 1121 fungiert die Vierte als „Abschluß“ 1122 und genießt die Stellung des programmatischen Zielpunkts der frühen Symphonien Mahlers. 1123 Gleichzeitig wird jedoch signifikant von den bis dahin festzustellenden Tendenzen und Strategien in der makrologischen harmonischen Ausgestaltung abgewichen; es kann konstatiert werden, dass es sich hinsichtlich der programmatischen Konzeption um eine Tetralogie und makrologisch-harmonisch um eine Trilogie handelt. Wenngleich sich die vorliegende kompositionstechnische Untersuchung auf die Kopfsätze der Symphonien I-III konzentriert hat, besitzen die gewonnenen Resultate weit darüber hinaus Geltung für das symphonische Schaffen Mahlers. An Mahlers musikalischer Sprache wurden Charakteristika herausgearbeitet, die sich in mehr oder weniger veränderter und weiterentwickelter Form bis zur Zehnten Symphonie verfolgen lassen. Bevor dies anhand mehrerer stichprobenartiger Analysen demonstriert wird, soll auf prinzipielle Probleme und Herausforderungen makrologischen harmonischen Komponierens eingegangen werden. Die untrennbare Einheit von episch-romanhafter Konzeption und makrologischer Harmonik zieht zu deren Entfaltung zwangsläufig eine groß dimensionierte formale Anlage nach sich, Konzentratformen verbieten sich von vornherein. 1124 Die technischen Voraussetzungen hierfür bilden die Variantentechnik in Verbindung mit einer harmonischen Großflächigkeit, die das Resultat der Affinität Mahlers zu ausgedehnten tona1115
Vgl. Hein, Vierte Symphonie, S. 371 f. NBL, S. 95. 1117 Adorno, Theodor W., Mahler. Wiener Gedenkrede (1960), zuerst in: Neue Zürcher Zeitung 1960, zit. nach dem Wiederabdruck in: Gustav Mahler, Tübingen: Wunderlich Verlag 1966, S. 194. 1118 NBL, S. 95. 1119 Steinbeck, Erste bis Vierte Symphonie, S. 253. 1120 Vgl. ebd. 1121 NBL, S. 164. 1122 NBL., S. 164. 1123 In der Ersten geht es um die „Idee der Transzendenz“, in der Zweiten um „Fragen nach dem Sinn der Existenz“, in der Dritten widmete sich Mahler evolutionistischen und kosmologischen Fragen, wobei er die göttliche Liebe als höchste Stufe betrachtet und in der Vierten wird das „Leben nach dem Tode“ thematisiert (vgl. Floros, Relevanz der Programme, S. 401). 1124 Vgl. Lichtenfeld, Klangflächentechnik, S. 123. 1116
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Schlussüberlegungen und Ausblick len und modalen Feldern ist. Gemessen an traditionellen Kriterien werden innerhalb der symphonischen Form vor allem die Durchführungsteile stets problematisch sein, weil die genannten Mittel wenig geeignet sind, harmonische Dynamik und gerichtete prozesshafte motivische und thematische Arbeit zu generieren. 1125 Vielmehr führt das Zusammenspiel von andauernder Variantentechnik und harmonischer Großflächigkeit zu einer Angleichung der Formteile, wodurch sich Durchführungsabschnitte nicht mehr so deutlich von der Exposition und Reprise abheben. Ebenfalls nicht unproblematisch verhalten sich vor einem traditionellen symphonischen Hintergrund Orgelpunkte. Indem Mahler ihnen „formale Ubiquität“ 1126 zugesteht, büßen sie ihre traditionellen Funktionen ein und stellen innerhalb des Fundus von tonalen und modalen Feldern eine von mehreren möglichen Ausprägungen – eine dur-moll-tonale – dar. Formal-dramaturgisch kann dies zu Irritationen führen, da Orgelpunkte traditionell eine ganz bestimmte Erwartung schüren – bspw. den Eintritt des Seitensatzes –, die jedoch gegebenenfalls unerfüllt bleibt. Positiv gewendet ermöglicht dies Mahler wiederum ein reizvolles Spiel mit der traditionellen Hörerwartung. Im Verlauf der Untersuchung wurden nur an einigen entscheidenden Punkten kontrapunktische Prinzipien näher beleuchtet. Eine umfassendere Untersuchung der Linearität bei Mahler, inbesondere in Verbindung mit seiner spezifischen Instrumentationstechnik steht allerdings noch aus und könnte möglicher Gegenstand zukünftiger Forschung sein. Weit über die Kopfsätze der ersten drei Symphonien hinaus genießen Orgelpunkte im symphonischen Schaffen Mahlers eine überragende Bedeutung. Weiterhin bleibt eine Scheu des Komponisten vor einem traditionellen Gebrauch zu beobachten, betont traditionelle Positionierungen, wie im Kopfsatz der Sechsten mit seinem eröffnenden tonikalen Orgelpunkt sind eher selten. Insgesamt ist es nicht übertrieben, von einer schier unüberschaubaren Vielzahl und Mannigfaltigkeit von manipulierten Orgelpunkten zu sprechen. Ein ikonisches Beispiel bietet der 2. Satz der Fünften, T. 65–74. Er zeichnet sich durch eine einzigartige Überlagerung eines „noch gerüsthaft existente[n]“ 1127 Sonatenschemas und einer peripetalen Anlage aus. 1128 Zusätzlich dazu fließen Elemente des 1. Satzes ein, so dass man insgesamt von drei ineinandergreifenden Ebenen sprechen kann. 1129 Diese Überlagerung spiegelt sich auch in der betreffenden Orgelpunktpassage wider: Sie signalisiert den Eintritt des Seitensatzes und repräsentiert zugleich das „1. Zusammenbruchsfeld“. 1130 Als erwähnenswertes Detail ist die dem Orgelpunkt vorausgehende achsentönige Figur in den Posaunen zu nennen, die motivisch dem Satzbeginn
1125
Vgl. ebd. Danuser, Mahler und seine Zeit, S. 95. 1127 Sponheuer, Logik, S. 224. 1128 Vgl. ebd., S. 224 ff. 1129 Vgl. Celestini, Federico, Fünfte Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 2, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011, S. 15 f. 1130 Sponheuer, Logik, S. 226. 1126
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Schlussüberlegungen und Ausblick entstammt und die die a-Moll-Tonalität auf nicht kadenzielle Art und Weise eindeutig artikuliert. Der Orgelpunkt selbst weist dominantische Funktion auf und zielt insgesamt nach f-Moll. 1131 Federico Celestini stellt zutreffend fest, dass der mehrmals intonierte Quartsextvorhalt keine Auflösung erfährt, 1132 allerdings reicht die Bemerkung nicht hin, die gravierenden Konsequenzen für den Orgelpunkt und sein Umfeld zu fassen. Die Verweigerung des klärenden Leittons e sorgt im Zusammenspiel mit der Ausdünnung der Instrumentation für ein kontinuierliches Schwinden der syntaktischen Kräfte des Orgelpunkts, bis dessen Wirkung schließlich ergebnislos verpufft ist. Einzig der flüsterleise Paulenwirbel auf dem Dominantgrundton c bleibt als Relikt des Zusammenbruchs übrig. Dann, inzwischen mehr überraschend als erwartet, hebt in T. 74 ff. doch noch der Seitensatz an. Dieser greift thematisches Material aus dem 1. Satz (T. 323 ff.) auf 1133 und ist in f-Moll zu verorten. Entscheidend ist, dass der Seitensatz eben nicht aus der Logik des Orgelpunkts heraus erreicht wird, sondern mit Hilfe des überblendenden Paukenwirbels auf auch nicht kadenzielle Weise syntaktisch verknüpft wird. 1134 Auch die f-Moll-Tonalität wird nicht mittels Kadenzharmonik ausgeprägt, sondern unter der Prämisse der Leittonlosigkeit tonikalisiert, wodurch auch hier ein Rest an Unbestimmtheit gewahrt bleibt. Anhand der Kopfsätze konnte aufgezeigt werden, dass Mahler Bordunfelder vor allem in der Ersten und Zweiten nutzte, um auf diese dann in der Dritten bereits weitgehend zu verzichten. Zwar lassen sich nach der Dritten immer wieder vereinzelt Bordunpassagen, wie bspw. im Finalsatz der Fünften, T. 24–29 lokalisieren, allerdings besitzen diese keineswegs mehr das Gewicht und die herausragende Stellung wie in den frühen Symphonien. Umso bemerkenswerter ist dann der exzessive Einsatz der Borduntechnik in Mahlers letzter vollständiger Symphonie, der Neunten, im 2. Satz. Die entscheidenden Kriterien für einen Bordun sind durch den heiteren C-Dur-Charakter, die markanten Bordunquinten in den Celli (T. 10 ff.) und Mahlers Spielanweisung „wie Fiedeln“ für die zweiten Violinen, die einen direkten Bezug zur volkstümlichen Musizierpraxis herstellen, in aller Deutlichkeit erfüllt. 1135 Zusätzlich zum ‚BordunGrundtyp‘ kommen beide bislang festgestellten Möglichkeiten der Manipulation von Bordunfeldern in modifizierter Form zum Einsatz. Am Ende des Satzes (T. 572) ereignet sich eine Moll-Trübung, die jedoch im Gegensatz zu den Kopfsätzen der Ersten und Zweiten nur vorübergehend ist. Bildhaft ausgedrückt, die ‚finsteren Wolken‘ verziehen 1131
Der zu Beginn des Zusammenbruchs platzierte Quartsextakkord (c-f-a) weist streng genommen zunächst nach F-Dur. 1132 Vgl. Celestini, Fünfte Symphonie, S. 17. 1133 Vgl. ebd. 1134 Beim in den nächsten Abschnitt überblendenden Paukenwirbel werden sogleich Erinnerungen an den Übergang vom ersten zum zweiten Durchführungsteil im Kopfsatz der Zweiten wach, wenngleich es sich dort im Detail technisch anders verhält. 1135 Die Doppelbödigkeit dieses Satzes, dessen „Ton [. . . ] keiner von Parodie sondern eher nochmals der eines Totentanzes [ist], wie er gelassener in der Vierten angeschlagen war“ (Adorno, Physiognomik, S. 209), kann im Rahmen des Ausblicks vernachlässigt werden.
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Schlussüberlegungen und Ausblick sich in T. 599 wieder, die Situation löst sich in Wohlgefallen auf. Ebenfalls gegen Ende des Satzes (T. 566–569) findet sich eine temporäre Irritation des Bordunfeldes mittels Chromatik: Hierfür nutzt Mahler eine Progression chromatisch aufwärts verschobener Septakkorde, 1136 mit deren Hilfe er sich temporär weit vom tonalen Ausgangspunkt C-Dur entfernt und gleichzeitig den Bordun beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, um jedoch bereits kurze Zeit später wieder dorthin zurückzukehren, so dass den betreffenden Septakkorden innerhalb des Bordunfeldes transitorische Funktion zugesprochen werden kann. Ebenso wie Orgelpunkte spielen modale Felder im gesamten symphonischen Schaffen Mahlers eine herausragende Rolle. Ein sich über mehr als vierzig Takte (T. 229– 270) erstreckendes modales Feld liegt dem Beginn der Durchführung des Finalsatzes der Sechsten zu Grunde. 1137 An der syntaktischen Nahtstelle (T. 228 f.) manipuliert Mahler die Kadenz, indem er für eine Irritation der tonikalen Auflösung sorgt: Die nach D-Dur zielende Dominante in Gestalt einer Mischung aus Dominantseptakkord und übermäßigem Dreiklang löst sich nicht in die erwartete Tonika auf, sondern in den Terzquartakkord d-f-g-b, der dann das modale Feld eröffnet. Dessen tonikale Funktion schwindet nicht nur mit zunehmender Dauer, insgesamt stellt sich ein tonaler Schwebezustand zwischen d-Aeolisch und g-Dorisch ein, so dass der das Feld artikulierende Basston d sowohl als Grund- als auch als Quintton fungiert. Thematisch handelt es sich bei diesem Abschnitt um einen Rekurs auf die Einleitung des Finalsatzes. 1138 Mit dem Erklingen der Herdenglocken in T. 239 „als Klangsymbol ‚weltferner Einsamkeit‘“ 1139 gesellt sich mit dem Ton cis der Leitton von d-Moll hinzu, ohne jedoch für eine tonale Klärung zu sorgen. Vielmehr stellt er eine optionale chromatische Farbe innerhalb der strengen Diatonik dar. Aus dem mixturartigen Sextensatz der ersten Violinen heraus erschließt sich Mahler in T. 247–249 mit den Dreiklängen Des-Dur und Ges-Dur dann mit einem Mal tonales Terrain, das sich mit dem weiterhin konstant erklingenden Basston d aufs Schärfste reibt. 1140 Diese Verselbständigung der Oberstimmen führt temporär zu einer Aufspaltung von Bass- und Oberstimmenebene und faktisch zu Bitonalität, wie es bereits in T. 468 ff. und T. 478 ff. des Kopfsatzes der Dritten festgestellt wurde. Doch bereits unmittelbar danach (T. 250–253) wird nicht minder überraschend zu milder Diatonik zurückgekehrt, wobei sich G-Dur als Tonalität her-
1136
Gut nachvollziehen lässt sich die betreffende Progression anhand der Hörner. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen, dass innerhalb der Mahlerforschung kein Konsens über eine Gliederung der Durchführung herrscht (vgl. Sponheuer, Logik, S. 314– 317). Im Rahmen des Ausblicks kann dieses Problemfeld jedoch vernachlässigt werden. 1138 Vgl. Floros III, S. 179. 1139 Floros II, S. 323. 1140 Besonders deutlich wird dies aus einer Des-Dur-Perspektive, da dem Basston d die Rolle des übermäßigen Primtons zukommt. Auch umgekehrt verhält es sich ähnlich konfliktuös: Gesteht man dem Basston das Primat des Grundtons zu, ist der Des-Dur-Dreiklang als Akkord der tiefalterierten I. Stufe zu deuten. 1137
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Schlussüberlegungen und Ausblick ausschält. 1141 Mit dem Einsatz des tiefen Glockengeläutes, das als „Klangsymbol für die Ewigkeit“ 1142 fungiert, verschiebt sich der tonale Schwerpunkt dann nach d-Moll, wobei Kadenzen nach wie vor keine Rolle spielen. Prägend für den weiteren Verlauf ist das Alternieren einer achsentönigen melodischen Figur in den tiefen Streichern, die den Grund- und Terzton (d und f) akzentuieren, und einer auftaktigen sequenziell konzipierten melodischen Formel in den hohen Holzbläsern, die ebenfalls größtenteils den Ton d fokussiert. 1143 Kurzzeitig verleiht Mahler dem Feld mit Hilfe des von den hohen Holzbläsern intonierten verminderten Septakkords e-g-b-cis in T. 265 den Anstrich eines tonikalen Orgelpunkts, um es dann an seinem Ende in eine ganz andere Richtung zu lenken. Dort findet sich eine der seltenen Passagen, in denen das enharmonische Potential des verminderten Septakkords ausgeschöpft wird, um überraschend nach Fis-Dur vorzustoßen; 1144 in den Kopfsätzen der ersten drei Symphonien spielte Enharmonik überhaupt keine Rolle. Mit Hilfe des verminderten Septakkords, der als harmonisches Mittel der Höhepunktgestaltung nicht zufällig an der formalen Nahtstelle platziert ist, 1145 rückt Mahler den dominierenden Ton d beim insgesamt vierten Anlauf in ein gänzlich anderes Licht: Diente dieser bislang vor allem als Grund- und / oder Quintton, nimmt er innerhalb des verminderten Septakkords eis-gis-h-d die Rolle des verminderten Septtons ein. Wenngleich die Dimensionen der ambivalenten Felder in den frühen Symphonien in den späteren nicht wieder erreicht werden, spielen mehrdeutige Feldpassagen im symphonischen Schaffen Mahlers weiterhin eine gewichtige Rolle. Ein ikonisches Beispiel bieten die T. 104–119 im Kopfsatz der Neunten. Formal zu verorten ist die Passage am Ende der Exposition bzw. zu Beginn der Durchführung. 1146 Am Anfang der Passage scheint sich die zuvor mehrfach irritierte B-Dur-Tonalität nun doch noch stabiliseren zu können. 1147 Allerdings manipuliert Mahler den zu Grunde liegenden tonikalen Orgelpunkt, indem er diesen nicht in den Tonikagrundakkord, sondern in die Tonika mit Sexte münden lässt. Letztere ist mit einem g-Moll-Sextakkord gleichzusetzen und stellt alles andere als einen Zielpunkt dar. Gleichzeitig kommt der Orgelpunkt genau an dieser Stelle zum Erliegen und hinterlässt die Hörerschaft am Ende der Exposition im Ungewissen. Vom Tutti bleiben lediglich die Pauke und die Kontrabässe übrig, die weiterhin konstant den Basston b intonieren, bis sich in T. 108 die Hörner mit ihrem „charakeristische[n] symmetrische[n] Leitrhythmus“ 1148 dazugesellen und gleich1141
Ehe sich G-Dur herausschält und der Basston d demnach als Quintton fungiert, reibt sich der den Unterabschnitt eröffnende C-Dur-Dreiklang mit dem Bassfundament. 1142 Floros II, S. 319. 1143 Fasst man die Ankertöne beider Melodielinien zusammen, erhält man einen vollständig abgebildeten d-Moll-Dreiklang. 1144 Enharmonisch umgedeutet werden die Töne f-as-ces-d zu eis-gis-h-d. 1145 Vgl. Floros II, S. 296 ff. 1146 Vgl. Floros III, S. 272 f. 1147 Vgl. Utz, Mahlers Neunte, S. 305 f. 1148 Ebd., S. 306.
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Schlussüberlegungen und Ausblick zeitig die Durchführung eröffnen. 1149 Auf einen Kunstgriff, der aus den T. 180 ff. des Kopfsatzes der Ersten bekannt ist, greift Mahler dann kurze Zeit später zurück: die Unterterzung. Hier wie dort lässt sich die Frage, welchem der beiden Liegetöne das Primat des Grundtons zugestanden werden kann, nicht beantworten, zumal lediglich zwei unterschiedliche Tonhöhen erklingen. Prägend für den nachfolgenden Verlauf ist das Alternieren von Pauke und Hörnern, später von Trompeten und Hörnern. Allesamt greifen sie das „Dreitonmotiv“ 1150 des Satzbeginns auf, weisen aber jeweils in unterschiedliche tonale Richtungen. Tonal lassen sich die T. 111–114 als ein Schwebezustand zwischen ges-Lydisch und es-Moll beschreiben. Das plötzliche Wegbrechen des Liegetons b und der Einsatz der Trompeten in T. 115 führen im Zusammenspiel mit den Hörnern dann zu einem Schwebezustand zwischen ces-Lydisch und es-Moll. Schließlich formt sich in T. 117 ein verminderter Septakkord (a-c-es-ges) heraus, der zunächst dominantische Funktion in B-Dur / b-Moll aufzuweisen scheint, um sich dann jedoch überraschenderweise nach g-Moll aufzulösen. Erzielt wird diese Wirkung durch eine für Mahler seltene enharmonische Modulation: Der Basston ges wird enharmonisch zum Leitton fis umgedeutet. Diese stichprobenartigen Analysen mögen genügen, um die enorme Reichweite der in den Kopfsätzen der Symphonien I-III festgestellten Strategien auch für Mahlers weiteres symphonisches Schaffen zu illustrieren. Es finden sich aber auch entgegengesetzte Tendenzen, beispielsweise im Kopfsatz der Siebten, in dem auf bemerkenswerte Art und Weise die sonst so ausgiebig genutzte Feldtechnik ausgespart bleibt. Zusätzlich zu neuen Erklärungsmodellen wäre es eine durch zukünftige Forschungsvorhaben zu Mahlers Kompositionstechnik zu beantwortende Frage, wie er die in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeiteten kompositorischen Strategien in seinem späteren Schaffen weiterentwickelt.
1149 1150
Vgl. Floros III, S. 272 f. Floros III, S. 273.
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Anhang
Abkürzungsverzeichnis Floros I Floros II
Floros III GMB NBL
GA NGA
Floros, Constantin: Gustav Mahler I. Die geistige Welt in systematischer Darstellung (Wiesbaden 1977), 2. Auflage, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1987 Floros, Constantin: Gustav Mahler II. Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts in neuer Deutung. Zur Grundlegung einer zeitgemäßen musikalischen Exegetik (Wiesbaden 1977), 2. Auflage, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1987 Floros, Constantin: Gustav Mahler III. Die Symphonien, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1985 Blaukopf, Herta (Hg.): Gustav Mahler Briefe (Wien 1982), Neuausgabe, zweite, nochmals revidierte Auflage 1996, Wien: Zsolnay 1996 Killian, Herbert (Hg.): Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie BauerLechner, mit Anmerkungen und Erklärungen von Knud Martner, revidierte und erweiterte Auflage, Hamburg: Wagner 1984 Gustav Mahler, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler-Gesellschaft, Wien 1960 ff. Gustav Mahler, Sämtliche Werke. Neue Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler-Gesellschaft, Wien 2010 ff.
Erläuterungen zu den Notengraphiken Zur graphischen Veranschaulichung komplexer musikalischer Zusammenhänge werden harmonische Reduktionen und analytische Partiturreduktionen der betreffenden Passagen erstellt; ergänzend treten Kombinationen beider, Partiturreduktionen und hypothetische Fortführungen, die dem Original gegenübergestellt werden, hinzu. Bei harmonischen Reduktionen steht die harmonische Essenz einer Passage im Fokus; andere Parameter (Rhythmik, Dynamik, Instrumentation etc.) spielen dabei eine untergeordnete Rolle bzw. werden ausgeklammert; zur Differenzierung und Hierarchisierung bestimmter Bereiche innerhalb einer harmonischen Reduktion werden ferner unterschiedliche Notenkopfgrößen verwendet. Bei analytischen Partiturreduktionen wird der Partiturausschnitt in komprimierter Form abgebildet und analytisch beleuchtet. 301
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Anhang Unterhalb der Notensysteme werden (in den meisten Fällen) neben der vorherrschenden Tonart Funktionssymbole (zur analytischen Darstellung kadenzieller Passagen) und Stufensymbole (zur Beschreibung modaler Passagen) angegeben. Zur analytischen Beschreibung und Erklärung von Satzmodellen / Sequenzen werden die Grundtonfortschreitung und / oder eine Generalbassbezifferung angeführt. Oberhalb der Notensysteme und / oder dazwischen finden sich analytische Erläuterungen und Taktangaben. Handelt es sich bei der betreffenden Passage um ein Feld, wird dies mit Hilfe der nachfolgenden Abkürzungen gekennzeichnet: Ton. Org. Dom. Org. Bordun Mod. Fd. I, V etc.
Beispiel: Mod. Fd.: III
Tonikaler Orgelpunkt Dominantischer Orgelpunkt Bordunfeld Modales Feld Stufensymbole repräsentieren den das jeweilige Feld artikulierenden Basston und dessen Rolle innerhalb der vorherrschenden Tonalität auf (I = Grundton, V = Quintton etc.). Eine Linie, die an das Stufensymbol anschließt, markiert den Geltungsbereich des jeweiligen Feldes; es sei angemerkt, dass eine solche Linie auch zur Markierung des Geltungsbereichs einer Funktion verwendet wird. Hierbei handelt es sich um ein modales Feld, das vom Terzton des vorherrschenden Modus in der Bassstimme artikuliert wird.
Erläuterungen zu den Übersichten über die Architektur der Kopfsätze Die graphischen Übersichten über die makrologische harmonische Architektur der Kopfsätze der ersten drei Symphonien werden am Ende der vorliegenden Arbeit im Rahmen der Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse präsentiert. Aufgrund der Komplexität der Graphiken ist es notwendig, deren Aufbau an dieser Stelle zu erklären: – – – – – – – –
Großformale Abschnitte und Sonatensatzkategorien Charaktere (Marsch, Choral etc.) Wichtige Motive und Themen Wichtige harmonische Ereignisse (modulatorische Überleitungen, Kadenzen etc.) Tonale und modale Felder Vorherrschende tonale Bereiche Makrologische harmonische Stufen mit Angabe der Grundtonart Taktleiste
Es ist darauf hinzuweisen, dass stellenweise Überschneidungen zwischen den einzelnen Ebenen bestehen können. Zur Hierarchisierung der makrologischen harmonischen Stufen und der tonalen Bereiche werden unterschiedliche Schriftgrößen verwendet. Ferner sind in der Übersicht über die Architektur des Kopfsatzes der Dritten aufgrund dessen einzigartiger tonaler Doppelbödigkeit (d-Moll und F-Dur) zwei Per302
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Verwendete Ausgaben spektiven notwendig. Da jedoch mal die eine, mal die andere zu präferieren ist, wird die jeweils zu vernachlässigende Perspektive mit Hilfe von eckigen Klammern ([. . . ]) gekennzeichnet. Die nachfolgende Legende liefert eine Übersicht über die verwendeten Abkürzungen: Ton. Org. Dom. Org. Kad. Man. Insz. Üb. Tonz. Rü. Übbl. Tonikal. Tonz.→Tonikal. Hs.→Tonikal. N.k.Q.→Tonikal.
Tonikaler Orgelpunkt Dominantischer Orgelpunkt Kadenz Manipuliert Inszeniert Überleitung in eine neue Tonart Tonzentralität Rückung Überblendung von der Ausgangs- in die Zieltonart Tonikalisierung der erreichten Tonart (nicht kadenziell) Tonzentrales Bindeglied zwischen Ausgangs- und Zieltonart mit anschließender Tonikalisierung Letzterer Halbschlusswendung mit anschließender Tonikalisierung des Akkords der V. Stufe, der dadurch zur neuen Tonika wird Nicht kadenzielle Quintbeziehung zwischen Ausgangs- und Zieltonart mit anschließender Tonikalisierung Letzterer
Verwendete Ausgaben Für die Untersuchung der Werke Gustav Mahlers wurden die Texte der Kritischen Gesamtausgabe (Gustav Mahler, Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler-Gesellschaft, Wien 1960 ff.) und der Neuen Kritischen Gesamtausgabe (Gustav Mahler, Sämtliche Werke. Neue Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler-Gesellschaft, Wien 2010 ff.) verwendet. 1 Die verwendeten Ausgaben für Werke anderer Komponisten werden beim jeweiligen Komponist aufgeführt.
Werke von Gustav Mahler Symphonie Nr. 1 Mahler GA, Band I, verbesserte Ausgabe, hrsg. von Sander Wilkens, Wien: Universal Edition 1992 (UE 13820) 1
Es sei darauf hingewiesen, dass die im Rahmen der Neuen Kritischen Gesamtausgabe Ende des Jahres 2019 erscheinende Publikation der Symphonie Nr. 1 (in vier Sätzen) nicht mehr berücksichtigt werden konnte.
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Anhang Symphonie Nr. 2 Mahler NGA, Band II, hrsg. von Renate Stark-Voit und Gilbert Kaplan, Wien: Universal Edition 2010 (UE 33882a) Symphonie Nr. 3 Mahler GA, Band III, hrsg. von Erwin Ratz und Karl Heinz Füssl, Wien: Universal Edition 1974 (UE 13822) Symphonie Nr. 4 Mahler GA, Band IV, hrsg. von Erwin Ratz,Wien: Universal Edition 1963 (UE 13823) Symphonie Nr. 5 Mahler NGA, Band V, hrsg. von Reinhold Kubik, Frankfurt am Main u. a.: C. F. Peters 2002 (EP 10800) Symphonie Nr. 6 Mahler NGA, Band VI, hrsg. von Reinhold Kubik, Frankfurt am Main u. a.: C. F. Peters 2010 (EP 11210) Symphonie Nr. 9 Mahler GA, Band X, hrsg. von Erwin Ratz, Wien u. a.: Universal Edition 1969 (UE 13825) Lieder eines fahrenden Gesellen (Gesänge für eine Singstimme mit Orchester) Mahler GA, Band XIV Teilband 1, hrsg. von Zsoltan Roman, Wien u. a.: Josef Weinberger 1982 (J. W. 4296) Des Knaben Wunderhorn (Gesänge für eine Singstimme mit Orchesterbegleitung) Mahler NGA, Band XIV Teilband 2, hrsg. von Renate Stark-Voit, Wien u. a.: Universal Edition 2010 (UE 33902) Totenfeier (Symphonische Dichtung für großes Orchester) Mahler GA, Supplement Band 1, hrsg. von Rudolf Stefan, Wien: Universal Edition 1988 (UE 13827) Das klagende Lied (Erstfassung von 1880 in drei Sätzen) Mahler NGA, Supplement Band 4, hrsg. von Reinhold Kubik, Wien u. a.: Universal Edition 2011 (UE 33891)
Werke von Ludwig van Beethoven Symphonie Nr. 3 Es-Dur, op. 55 „Eroica“, Studienpartitur, Bärenreiter Urtext (11. Auflage), hrsg. von Jonathan Del Mar, Kassel u. a.: Bärenreiter 2017 (TP 903) Symphonie Nr. 5 c-Moll, op. 67, Studienpartitur, Bärenreiter Urtext (11. Auflage), hrsg. von Jonathan Del Mar, Kassel u. a.: Bärenreiter 2018 (TP 905) Symphonie Nr. 6 F-Dur, op. 68 „Pastorale“, Studienpartitur, Bärenreiter Urtext (10. Auflage), hrsg. von Jonathan Del Mar, Kassel u. a.: Bärenreiter 2015 (TP 906) Symphonie Nr. 7 A-Dur, op. 92, Studienpartitur, Bärenreiter Urtext (10. Auflage), hrsg. von Jonathan Del Mar, Kassel u. a.: Bärenreiter 2018 (TP 907) Symphonie Nr. 9 d-Moll, op. 125, Studienpartitur, Bärenreiter Urtext (11. Auflage), hrsg. von Jonathan Del Mar, Kassel u. a.: Bärenreiter 2017 (TP 909) Grande Sonate pathétique c-Moll, op. 13, in: Klaviersonaten Band I, Studien-Edition, Urtext, hrsg. von Bertha Antonia Wallner München: Henle Verlag 2002 Sonate d-Moll, op. 31/2, in: Klaviersonaten Band II, Studien-Edition, Urtext, hrsg. von Bertha Antonia Wallner München: Henle Verlag 2002
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Verwendete Ausgaben Grande Sonate C-Dur, op. 53, in: Klaviersonaten Band II, Studien-Edition, Urtext, hrsg. von Bertha Antonia Wallner München: Henle Verlag 2002 Sonate für Klavier Es-Dur op. 81a „Les Adieux“, Bärenreiter Urtext (1. Auflage), hrsg. von Jonathan Del Mar, Kassel u. a.: Bärenreiter 2017 (BA11808)
Werke von Anton Bruckner Symphonie Nr. 2 c-Moll, 2. Fassung 1877, Anton Bruckner Gesamtausgabe, hrsg. von William Carragan, Wien: Musikwissenschaftlicher Verlag der Int. Bruckner-Gesellschaft Wien 2008 Symphonie Nr. 4 Es-Dur („Romantische“), 1. Fassung 1874, Anton Bruckner Gesamtausgabe, hrsg. von Leopold Nowak, Wien 2002 Symphonie Nr. 7 E-Dur, Anton Bruckner Gesamtausgabe, hrsg. von Leopold Nowak, Wien 2008
Werke von Franz Schubert Sinfonie Nr. 7 h-Moll, D 759 „Unvollendete“, Studienpartitur, Urtextausgabe (7. Auflage), hrsg. von Werner Aderhold, Kassel u. a.: Bärenreiter 2016 (TP 407) Sinfonie Nr. 8 C-Dur, D 944 „Die Große“, Studienpartitur, Urtextausgabe (5. Auflage), hrsg. von Werner Aderhold, Kassel u. a.: Bärenreiter 2018 (TP 408)
Werke von Richard Wagner Die Walküre – Klavierauszug zu zwei Händen mit Hinzufügung des Gesamttextes und der szenischen Bemerkungen von Richard Kleinmichel, Mainz u. a.: Schott 1895 Die Walküre WWV 86 B, Eulenburg Studienpartituren, hrsg. von Christa Jost, London u. a.: Eulenburg 2009
Werke von Johannes Brahms Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68, nach der neuen Brahms-Gesamtausgabe, Studien-Edition, hrsg. von Robert Pascall, München: Henle Verlag 2002 Akademische Festouvertüre c-moll Op. 80, Urtext nach der Brahms-Gesamtausgabe der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Studienpartitur, Breitkopf & Härtel 1997 Sonate für Klavier und Violoncello F-dur op. 99, Urtextausgabe, hrsg. von Egon Voss und Johannes Behr, München: Henle Verlag 2012
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Anhang
Sonstige Maßmann, Hans Ferdinand: Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand, in: Liederweisen zum Teutschen Liederbuch für Hochschulen, Stuttgart: J. B. Metzler’sche Buchhandlung 1823, S. 32 (Nr. 86)
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1960. Adorno, Theodor W.: Mahler. Wiener Gedenkrede (1960), zuerst in: Neue Zürcher Zeitung 1960, Wiederabdruck in: Gustav Mahler, Tübingen: Wunderlich Verlag 1966, S. 189–215. Aerts, Hans: ‚Modell‘ und ‚Topos‘ in der deutschsprachigen Musiktheorie seit Riemann, in: ZGMTH – Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, 4. Jahrgang 2007, Ausgabe 4/1– 2: Satzmodelle, hrsg. von Hans Ulrich Fuß und Oliver Schwab-Felisch, Hildesheim: Olms 2007. Amon, Reinhard: Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren für Funktionen, Stufen und Jazzakkorde, Wien: Doblinger / Metzler 2005. Amon, Reinhard: Lexikon der musikalischen Form. Nachschlagewerk und Fachbuch über Form und Formung der Musik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien: Doblinger 2011. Baur, Vera: I. Symphonie in D-Dur (Titan), in: Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung – Deutung – Wirkung (Kassel 2001), hrsg. von Renate Ulm, 2. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2002. Beiche, Michael: Polytonalität, in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart: Steiner 1995. Bekker, Paul: Gustav Mahlers Sinfonien (Berlin 1921), Reprint, Tutzing 1969. Blaukopf, Herta (Hg.): Gustav Mahler Briefe (Wien 1982), Neuausgabe, zweite, nochmals revidierte Auflage 1996, Wien: Zsolnay 1996 (in der vorliegenden Arbeit als: GMB). Blaukopf, Herta (Hg.): Gustav Mahler. Unbekannte Briefe, Wien: Zsolnay 1983. Budday, Wolfgang: Harmonielehre Wiener Klassik. Theorie – Satztechnik – Werkanalyse, Stuttgart 2002. Celestini, Federico: Fünfte Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 2, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011 Christensen, Thomas: The „Règle de l’Octave“ in Thorough-Bass Theory and Practice, in: Acta Musicologica Bd. 64, Nr. 2, 1992. Dahlhaus, Carl: Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität (Kassel 1967), 2., unveränderte Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 1988. Dahlhaus, Carl: Analytische Instrumentation. Bachs sechsstimmiges Ricercar in der Orchestrierung Anton Weberns, in: Bach-Interpretationen, hrsg. von Martin Geck, Göttingen 1969. Dahlhaus, Carl: „Tristan“-Harmonik und Tonalität, in: Melos / Neue Zeitschrift für Musik 03/1978. Dahlhaus, Carl: Tonalität, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil Band 9, zweite, neubearbeitete Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u. a.: Bärenreiter / Metzler 1998. Danuser, Hermann: Gustav Mahler und seine Zeit (1991), 2., korr. Auflage, Laaber 1996.
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Literaturverzeichnis Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (1886), zit. nach der vollständigen Ausgabe nach dem Text der Ausgabe Leipzig 1891, 6. Auflage, Goldmann Verlag 1986. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, zit. nach der vollständigen Ausgabe nach dem Text der Ausgabe Leipzig 1895, Neuauflage, Goldmann Verlag 1999. Nowak, Adolf: Mahlers geistige Welt, in: Mahler Handbuch, hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Stuttgart und Weimar 2010. Payer, Peter: Der Klang der Großstadt: Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914, Wien: Böhlau Verlag 2018. Polth, Michael: Zum Verhältnis von Harmonik und Instrumentation ‚vor Wagner‘, in: ZGMTH – Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie, 11. Jahrgang 2014, Ausgabe 11/1: Instrumentation, hrsg. von Christoph Hust, Michael Polth u. a., Hildesheim: Olms 2016. Riemann, Hugo: Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre, 8. Auflage, Berlin: Hesse 1920. Hierzu sei angemerkt, dass die 1. Auflage unter dem Titel Katechismus der Harmonielehre (1889) erschienen ist. Die 2.–4. Auflage trägt den Titel Katechismus der Harmonieund Modulationslehre. Ab der 5. Auflage lautet der Titel dann Handbuch der Harmonie- und Modulationslehre. Roch, Ekkehard: Erste Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011. Rosen, Charles: Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven (Kassel 1983), 5. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2006. Schenker, Heinrich: Neue musikalische Theorien und Phantasien I. Harmonielehre, Stuttgart 1906. Schenker, Heinrich: Neue musikalische Theorien und Phantasien III. Der freie Satz (Wien 1935), zweite Auflage, hrsg. und bearb. von Oswald Jonas, Wien: Universal Edition 1956. Schmidt, Martin Christian: II. Symphonie in c-Moll, in: Gustav Mahlers Sinfonien (Kassel 2001), hrsg. von Renate Ulm, 2. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter 2002. Schmidt-Beste, Thomas: Die Sonate. Geschichte – Formen – Ästhetik, Kassel u. a.: Bärenreiter 2006. Schmierer, Elisabeth: Lieder eines fahrenden Gesellen, in: Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011. Schmitt, Theodor: Der langsame Symphoniesatz Gustav Mahlers. Historisch-vergleichende Studien zu Mahlers Kompositionstechnik, München: Fink 1983. Schnebel, Dieter: Über Mahlers Dritte, in: Mahler – eine Herausforderung. Ein Symposion, hrsg. von Peter Ruzicka, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1977. Schönberg, Arnold: Harmonielehre (Wien 1911), 3., vermehrte und verbesserte Auflage, Wien: Universal Edition 1922. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (Leipzig: F.A. Brockhaus 1859), zit. nach der Neuedition der dritten, verbesserten und beträchtlich vermehrten Auflage des I. Bandes, Zürich: Haffmans Verlag 1988. Specht, Richard: Gustav Mahler, erste bis vierte Auflage, Berlin und Leipzig: Schuster & Loeffler 1913. Sponheuer, Bernd: Logik des Zerfalls. Untersuchungen zum Finalproblem in den Symphonien Gustav Mahlers, Tutzing 1978.
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Anhang Stark-Voit, Renate: Des Knaben Wunderhorn, in: Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 1, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011. Steinbeck, Wolfram: Erste bis Vierte Symphonie, „Eine durchaus in sich geschlossene Tetralogie“, in: Mahler-Handbuch, hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Stuttgart und Weimar 2010. Stenger, Alfred: Die Symphonien Gustav Mahlers. Eine musikalische Ambivalenz, Wilhelmshaven: Noetzel 1995. Stephan, Rudolf: Gustav Mahler. II. Symphonie c-moll (= Meisterwerke der Musik, Heft 21), München 1979. Storjohann, Helmut: Die formalen Eigenarten in den Sinfonien Gustav Mahlers, Hamburg 1954. Tibbe, Monika: Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniesätzen Gustav Mahlers, hrsg. von Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan, München 1971, (Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten 1). Tischler, Hans: Die Harmonik in den Werken Gustav Mahlers, Wien 1937. Ünlü, Altug: Gustav Mahlers Klangwelt. Studien zur Instrumentation, Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2006. Utz, Christian: Neunte Symphonie, in: Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke. Band 2, hrsg. von Peter Revers und Oliver Korte, Laaber 2011. Werbeck, Walter: Die Sonatenform in Mahlers frühen Symphonien, in: Gustav Mahler und die Symphonik des 19. Jahrhunderts. Referate des Bonner Symposiums 2000 (Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 5), hrsg. von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck, Frankfurt a. M.: 2001.
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Danksagung Zuallererst möchte ich Prof. Dr. Oliver Korte, meinem Doktorvater, meinen tiefsten Dank aussprechen. In jeder Phase der Arbeit ist er für mich da gewesen und stand mir sowohl fachlich als auch menschlich mit Rat und Tat zur Seite. Mein aufrichtiger Dank gebührt der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Unterstützung und Förderung meiner Dissertation. Des Weiteren möchte ich mich ganz herzlich bei den Professoren/-innen und Doktoranden/-innen des Kolloquiums der Musikhochschule Lübeck bedanken. Die ertragreichen Diskussionen, die zahlreichen Anregungen und die stets konstruktive Kritik waren von immensem Wert für den Fortgang der Arbeit. Nicht zuletzt danke ich ganz besonders meiner geliebten Frau Vanessa und meinen geliebten Eltern Traudl und Theo, die mich über die lange Zeit begleitet, immer unterstützt und motiviert haben. Dafür bin ich euch auf ewig dankbar.
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