Vision [1 ed.]
 9783737012294, 9783847112297

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Diagonal Zeitschrift der Universität Siegen

Jahrgang 2020

Herausgegeben vom Rektor der Universität Siegen

Gero Hoch / Hildegard Schröteler-von Brandt / Angela Schwarz / Volker Stein (Hg.)

Vision

Mit 51 Abbildungen

V&R unipress

Inhalt

Gero Hoch / Hildegard Schröteler-von Brandt / Angela Schwarz / Volker Stein Vom Traum zur Brücke in die Zukunft: Editorial »Vision« . . . . . . . .

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Petra Lohmann Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins. Fichte im Spiegel der Kritik Schopenhauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Nielsen-Sikora Geschichte als Vision. Zur Wiederentdeckung des Menschen im geschichtsphilosophischen Werk von Walter Benjamin . . . . . . . . . . .

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Jörg M. Wills Mathematik und Vision: Von Kepler über Gauß bis zur Wurstkatastrophe

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Hildegard Schröteler-von Brandt Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts – zwischen Vision und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Angela Schwarz Traumstädte von morgen: Visionen von der Stadt der Zukunft in den USA zwischen 1880 und 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tanja Kilzer Ein symbolträchtiger Ausstellungsbau für technische Visionen – Das Ford Building auf der California Pacific International Exposition 1935/36 und das Wandgemälde »March of Transportation« des Künstlers Juan Larrinaga in seinem Innenraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Eva von Engelberg-Docˇkal Visionen simultaner Geschichten: Historisierende Stadtinseln . . . . . . . 125 Arnd Wiedemann / Jan-Philipp Dielmann Die Route wird berechnet – Mit welchen Visionen Google, Amazon, Facebook und Apple unsere Gegenwart und Zukunft formen . . . . . . . 139 Anna Feldhaus / Nicolas Mues / Tobias M. Scholz / Carolin Uebach / Lisa Völkel Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen – Implikationen für das strategische Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Michael Knop / Henrik Freude / Marius Mueller / Regina Gassert / Sebastian Weber / Caroline Ressing / Charles Christian Adarkwah / Bjoern Niehaves Die Vision digitalisierter Gesundheit – eine sensorische Revolution . . . . 179 Markus Kötter Status quo und Veränderungsbedarfe in der Englischlehrerbildung und guter Englischunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Markus Schaal Raum für eine eigenständige Kindheit in der Stadt? Zukunftsvisionen für eine unabhängige Mobilität von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Yasemin Niephaus / Jan David Hesmer / Mira Hölzemann / Constantin Senst Soziale Arbeit: Visionen für eine solidarische Gesellschaft . . . . . . . . . 245 Gustav Bergmann Eine Reise nach Gustonien. Eutopische Visionen einer mitweltgerechten Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Niko Paech Aus der Pandemie lernen: Zukunftsbeständigkeit durch Selbstbegrenzung 291

Gero Hoch / Hildegard Schröteler-von Brandt / Angela Schwarz / Volker Stein*

Vom Traum zur Brücke in die Zukunft: Editorial »Vision«

Vision geht auf das lateinische »visio« zurück und steht dort für »Sehen«, »Anblick«, »Erscheinung«. Die Aufnahme optischer Reize aus der realen Welt oder die gedankliche Vorstellung von etwas Sichtbarem, das man sich vor Augen führt, ist hier nur der Anfang. Vision geht viel weiter, indem sie die innere interpretative Transformation des wie auch immer »Gesehenen« in eine gegenwartsbezogene Erscheinung oder in eine zukunftsbezogene Vorstellung mit umfasst. Man ahnt: Vision ist ähnlich fundamental wie das Sehen selbst. Die unmittelbare Verwendung des Konzepts Vision in vielen lebensweltlichen Kontexten liegt nahe und erscheint beinahe normal – so normal, dass man dies gar nicht mehr in Frage stellt. Oder etwa doch? Was genau hat Helmut Schmidt zu seiner bekannten Aussage gebracht, »wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«? Die Anwendungsbreite des Wortes Vision ist immens. So wird darunter religionswissenschaftlich eine als Wirklichkeit empfundene visuelle Wahrnehmung verstanden, die eine Schau des Göttlichen impliziert und ernsthaft zu deuten ist, als Verheißung oder als Warnung. In anderen, stärker den Naturwissenschaften zuneigenden Bereichen gilt eine Vision als vorbereitender Gedankengang mit lediglich begrenzter Nützlichkeit im Hinblick auf abgesichertes Wissen. Und in der Politik mögen Visionen insbesondere dann kontraproduktiv erscheinen, wenn sie stark abweichenden realpolitischen Gegebenheiten gegenübergestellt werden. Die Wirtschaftswissenschaften hingegen verwenden den Visionsbegriff

* Univ.-Prof. Dr. Gero Hoch, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), vormals Lehrstuhl für Unternehmensrechnung. Univ.-Prof. Dr.-Ing. Hildegard Schröteler-von Brandt, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), vormals Department Architektur, Stadtplanung und Planungsgeschichte. Univ.-Prof. Dr. Angela Schwarz, Universität Siegen, Fakultät I (Philosophische Fakultät), Geschichte – Neuere und Neueste Geschichte. Univ.-Prof. Dr. Volker Stein, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement und Organisation.

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vornehmlich als hilfreiches Konzept, als Vorstellung von der Zukunft im Rahmen strategischer Führung: »To choose a direction, a leader must first have developed a mental image of a possible and desirable future state of the organization. This image, which we call a vision, may be as vague as a dream or precise as a goal or mission statement. The critical point is that a vision articulates a view of a realistic, credible attractive future for the organization, a condition that is better in some important ways than what now exists. … With a vision, the leader provides the all-important bridge from the present to the future of the organization.« (Bennis/Nanus 1985, S. 89)

Vision als »Brücke in die Zukunft« – dieses Bild ist bereits eine Vision in sich. Zumindest für Unternehmen gibt die visionsinhärente Vorstellung eines Weges samt Ziel die Orientierung vor, sich auf eben jenen imaginierten Weg zu begeben. Vision wird zur Mission und, verbunden mit dem Vertrauen in selbsterfüllende Prophezeiungen, konkret handlungsleitend. Kein Planungsprozess ohne eine Vorstellung vom Ziel, eben einer Vision im weitesten Sinne – und Vision scheint tatsächlich eine Kraftquelle zu sein: Der Unternehmenswert von über Jahrzehnte hinweg als visionär geltenden Unternehmen – so die Untersuchung von Collins und Porras (2005, S. 1–6) über den Zeitraum von 1929 bis 1990 hinweg – stieg merklich stärker als der von ähnlich erfolgreichen Konkurrenzunternehmen. Doch Visionen sind eben noch keine Realität, und so manches Unternehmen hat sich in der Erreichbarkeit seiner Visionen massiv getäuscht. Mehr noch: Um bereits kommunizierte, aber unrealisierbare Visionen öffentlich aufrechtzuerhalten, wurde sogar zum Mittel des Wirtschaftsbetrugs gegriffen: Vision scheint tatsächlich zum extremen Legitimationsdruck werden zu können. Visionen davon, in welche Richtung sich etwas ändern könnte oder sollte, wie es in einer nahen oder ferneren Zukunft aussehen könnte, begleiten die Menschheit schon sehr lange: das bessere Gemeinwesen, die stabilere Wirtschaft, die sozial gesehen gerechtere Gesellschaft, die schlagkräftigere Armee, die besseren Menschen und viele andere Bereiche gerieten dabei in den Blick (Clarke 1993; Minois 1998). Im frühen 16. Jahrhundert gab der englische Staatsmann Thomas Morus der Vision einer idealen Gesellschaft einen Namen, der seitdem mit visionären Konzepten verbunden wird: Utopia, was Nirgendwo bedeutet. Alle bis in das 19. Jahrhundert hinein folgenden Visionen solcher Gemeinwesen befanden sich an einem fiktiven Ort irgendwo in der zeitgenössischen Welt (Saage 1991). Mit der Industrialisierung und der raschen Umgestaltung des Alltags wandelte sich die utopische Vision. Sie wurde stärker von Wissenschaft und Technik durchsetzt, vor allem aber von einer bloß räumlich fernen zu einer räumlich und nun auch zeitlich weit entfernten Realität, eben einer in der Zukunft gelegenen (Koselleck 1982). Jules Verne und H. G. Wells zählten am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert zu den populärsten Schriftstellern, die,

Vom Traum zur Brücke in die Zukunft: Editorial »Vision«

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ganz den brennenden Fragen ihrer Zeit entsprechend, im neuen Science FictionGenre Visionen von technischen Möglichkeiten des Transports, sei es die Fahrt in den Tiefen des Meeres oder der Flug über die Grenzen der Stratosphäre hinaus bis zum Mond, aber auch von einer Degeneration der Menschheit oder der Entwicklung von Waffen mit gigantischem Zerstörungspotenzial entwarfen. Im 20. Jahrhundert entstanden vermehrt literarische Visionen, die mehr an Schreckensbilder und Warnungen an die Menschen ihrer Entstehungszeit als an Entwürfe idyllischer Zukunftsrealitäten erinnerten: Aldous Huxleys Brave New World (1932), George Orwells 1984 (1949) oder Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep (1968), das verfilmt unter dem Titel Blade Runner 1982 eine düstere Vision der urbanen wie der menschlichen Zukunft zeichnete. Je nach Epoche faszinierten bestimmte Fragen in besonderer Weise, etwa die von Wells um 1900 bearbeitete Furcht vor einer physischen und moralischen Degeneration des Menschen. Manche Fragen zogen und ziehen sich durch die Zeiten, darunter die zentralen Fragen nach dem Leben in der Zukunft, was Bereiche wie Essen, Arbeiten, Wohnen, Mobilität, Kommunikation und Unterhaltung mit einschließt, sowie die alles überspannende Frage nach dem Menschen der Zukunft. Wie viel genetisch veränderte Anteile und wie viel Technologie werden in einem Menschen in fünfzig, einhundert oder mehr Jahren stecken? Wo hört der Mensch auf und fängt der kybernetische Organismus, der Cyborg, an (Haraway 1991)? Wie werden Individuum, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat miteinander funktionieren? Viele dystopische Visionen dieser Zukunft, so wie sie die Populärkultur seit Jahrzehnten beherrschen, führen uns faschistoide Staatswesen mit dem Ziel der totalen Kontrolle über die Bürgerinnen und Bürger oder, seit einigen Jahren, vermehrt Klimakatastrophen globalen Ausmaßes vor Augen. Visionen oder Angstbilder von der Zukunft erfüllen dabei immer den Zweck, gegenwärtige Bedingungen in eine noch nicht eingetretene künftige Welt weiterzudenken, Gedankenspiele anzustellen, eine Entwicklung zum Besseren oder zum Schlechteren zu visualisieren und dabei zu definieren, was »besser« und »schlechter« dabei jeweils bedeuten kann. Visionen blieben längst nicht immer nur Gedankenspiele. In der Politik spielen sie eine wichtige Rolle, indem sie die Basis für Strategien der Gestaltung und deren Aushandlungen abgeben (Windfuhr 2018). Dass solche Zukunftskonzepte nicht zwangsläufig in eine lichtere Zukunft führen mussten und müssen, belegen zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit der Menschheit. Selbst Visionen dieser Art wurden und werden als Fortschritt präsentiert und mitunter zeitweilig als solche akzeptiert. Das verweist wiederum auf den Gegenwartscharakter der Zukunftsvorstellungen. Um ein Beispiel etwas näher einzuordnen: In dieser Ausgabe von DIAGONAL beschäftigen sich einige Beiträge mit der historischen Entwicklung der städtebaulichen Utopien von der Frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert. Es wird

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deutlich, dass sich anlässlich bedeutender gesellschaftlicher Transformationsprozesse und technologischer Umbrüche die Herausbildung von visionären Vorstellungen vervielfachte und dies wiederum den gesellschaftlichen Diskurs öffnete. Der Übergang vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit im Zeichen des Humanismus und der Aufklärung führte zu einer Vielzahl von Idealstadtvorstellungen. Die neue gesellschaftliche Ordnung sollte einerseits ihren Ausdruck in einer neuen räumlichen Ordnung finden, andererseits sollten Architektur und Städtebau selbst die Kraft besitzen, die gesellschaftsverändernde Ordnung zu unterstützen und durch das reale Sein ein neues Bewusstsein zu schaffen. Mit ihren Stadtvisionen wollten die Utopisten die Gesellschaft aus der Enge des Mittelalters lösen und die säkularen durch die weltlichen Mächte ersetzen. Im Übergang vom Absolutismus zum Industriezeitalter im 19. Jahrhundert beschäftigten sich die Stadtvisionen erneut mit den gesellschaftlichen Veränderungen und griffen die sich herauskristallisierenden Konflikte wie die soziale Ungerechtigkeit, die gravierende Wohnungsnot oder die unzureichende hygienische und gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung auf. Im 20. Jahrhundert führte der erneute Transformationsprozess einer fordistisch dominierten Produktions- und Lebensweise die Stadtvisionäre zum Einsatz neuer Technologien mit der Hoffnung auf eine menschlichere Gestaltung der Umwelt. Im Duktus der Moderne und ihrer Zukunftsvisionen wurden im Städtebau und in der Architektur visionäre Raum-Bilder aufgestellt, darunter die »Industriestadt« von Tony Garnier (1918) oder die »Stadt der Zukunft für 3 Millionen Einwohner« von Le Corbusier (1922). Sie alle verwiesen in eine rational gestaltete, weitgehende Typisierung der räumlichen Lösungen unter der Zielsetzung der Funktionstrennung und einer autogerechten Stadt. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen sich vor der zunehmenden ökologischen Krise umfassende visionäre Konzepte der nachhaltigen und resilienten Stadtentwicklung. Smart City-Konzepte und die 17 Ziele der Nachhaltigkeit der UN (2015) sind in ihren konkreten Umsetzungsprojekten oft noch mehr Vision als Wirklichkeit, weisen aber erneut einen Weg in die Zukunft. Die durch die Corona-Pandemie ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen kurbeln aktuell die Zukunftsvisionen noch einmal verstärkt an. Wie können in einer Nach-Corona-Zeit (Horx 2020) einerseits die in der Krise entwickelten Lösungsansätze weiter bestehen? Welche strukturellen Veränderungen sind andererseits in den durch die Krise aufgezeigten Problemlagen nötig? In der Stadtentwicklung etwa wird bereits die Frage nach einer größeren Regionalisierung erneut gestellt. Die vermehrte Akzeptanz der öffentlichen Steuerung und der Gemeinwohlorientierung sowie die in der Krise beobachteten agilen, schnellen Handlungen der öffentlichen Verwaltungen sollen in zukünftige Strukturen einfließen. Die Visionen der Stadt 2030 werden daher heute anders formuliert werden müssen als noch vor einem Jahr. Wie wir arbeiten werden,

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lässt sich mit den bisherigen Überlegungen zu Arbeit 4.0 auch nicht mehr angemessen konzipieren: So werden sich Arbeitsflexibilität, Arbeitszeiten und Arbeitsorte ebenso verändern wie die Arbeitsinhalte selbst. Selbst Grundlegendes wie das Demokratieverständnis ist Gegenstand visionsbezogener Diskurse: Zurück in eine wie auch immer zu verstehende Vergangenheit oder hin zu einer wie auch immer zu gestaltenden, vollkommen neu zu denkenden Zukunft? Die einzelnen Beiträge dieses Bandes folgen den Menschen, die in Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft schauen wollten und wollen, folgen ihren Visionen und Überbrückungen des Schon-nicht-Mehr und Noch-Nicht, jenes fragilen Zwischenraums zwischen Gegenwart und einer Zukunft, die noch nicht Gegenwart geworden ist. Die Abfolge der Beiträge orientiert sich an einer zeitbezogenen Logik, die das Früher, Heute und Morgen eher als eine Einheit denn als einen Dreischritt versteht: – Die Nacherzählung vergangener Visionen beginnt im literarisch-philosophischen Feld mit Johann Gottlieb Fichte (Lohmann) und Walter Benjamin (Nielsen-Sikora), um dann über die Mathematik (Wills) zur Architektur zu kommen. Darin werden sozialutopische Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts (Schröteler-von Brandt), Visionen zur Stadt der Zukunft in den USA des 19. und 20. Jahrhunderts (Schwarz) sowie das Ford Building als Ausdruck technischer Visionen (Kilzer) analysiert. – Die Beschreibung gegenwärtiger Visionen beginnt ebenfalls in der Architektur, wo zunächst historisierende Stadtinseln (Engelberg-Docˇkal) als Beispiele von Geschichtsvisionen gezeigt werden. Es folgen Untersuchungen zu Visionen heutiger Unternehmen (Wiedemann/Dielmann) sowie der wettbewerbliche Kampf zwischen Unternehmensvisionen (Feldhaus/Mues/Scholz/Uebach/Völkel). – Die Erstellung von Visionen für die Zukunft bezieht sich auf sie sensorische Revolution hin zu einer digitalisierten Gesundheit (Knop/Freude/Mueller/ Gassert/Weber/Ressing/Adarkwah/Niehaves), dann auf die Englischlehrerbildung und guten Englischunterricht (Kötter). Es folgen Ausführungen zur unabhängigen Mobilität von Kindern (Schaal) und zu einer Sozialen Arbeit, die Beiträge zu einer solidarischen Gesellschaft leistet (Niephaus/Hesmer/ Hölzemann/Senst), dann Visionen eines mitweltgerechten Lebens (Bergmann) sowie eines selbstbegrenzten Lebens (Paech). Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die alle der Universität Siegen angehören, hoffen, ihren Leserinnen und Lesern viele spannende, brückenbildende, visionäre Ideen vorzustellen und mit der Ermunterung zu visionärem Denken Impulse für ihr eigenes Leben geben zu können!

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Gero Hoch / Hildegard Schröteler-von Brandt / Angela Schwarz / Volker Stein

Literatur Bennis, Warren/Nanus, Burt (1985): Leaders. The Strategies for Taking Charge. New York, NY. Clarke, Ignatius F. (1993): Voices Prophesying War. Future Wars 1763–3749. New York, NY. Collins, Jim/Porras, Jerry I. (2005): Built to Last: Successful Habits of Visionary Companies. 10th Anniversary Edition. London. Dick, Philip K. (1968): Do Androids Dream of Electric Sheep? Garden City, NY. Garnier, Tony (1918): Une cité industrielle. Étude pour la construction des villes. Paris. Haraway, Donna J. (1991): Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York, NY. Horx, Matthias (2020): Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert. Berlin. Huxley, Aldous (1932): Brave New World. London. Koselleck, Reinhart (1982): Die Verzeitlichung der Utopie. In: Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.), Utopieforschung. Inerdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Band 3, Stuttgart, S. 1–14. Le Corbusier (1922): Ville contemporaine de trois millions d’habitants. http://www.fond ationlecorbusier.fr/corbuweb/morpheus.aspx?sysId=13&IrisObjectId=6426&sysLangu age=en-en&itemPos=214&itemSort=en-en_sort_string1%20&itemCount=216&sysPa rentName=&sysParentId=65 (zuletzt abgerufen am 30. 07. 2020). Minois, Georges (1998): Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen. Düsseldorf, Zürich. Orwell, George (1949): Nineteen Eighty-Four: A Novel. London. Saage, Richard (1991): Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt. United Nations (2015): Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development. A/RES/70/1, New York. https://sustainabledevelopment.un.org/content/d ocuments/21252030 %20Agenda%20for%20Sustainable%20Development%20web.pdf, 15. 10. 2015 (zuletzt abgerufen am 30. 07. 2020). Windfuhr, Manfred (2018): Zukunftsvisionen. Von christlichen, grünen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen. Bielefeld.

Petra Lohmann*

Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins. Fichte im Spiegel der Kritik Schopenhauers »Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! Mit entblößtem Haupte zu stehen / Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen.« (Hölderlin, »Wie wenn am Feiertage«; StA II, 119–120)

1.

Das »Gesicht« und die »spekulative Stimmung« des Philosophen »Es ist die Sache des Genies, durch dunkles Gefühl der Nothwendigkeit auf den richtigen Weg zur deütlichen Einsicht in den Grund der Nothwendigkeit geleitet zu werden. Nur muß man nicht bey dem dunklen Gefühl stehen bleiben wollen, sondern es erhellen, so weit es möglich ist. […] Aber so viel gehet daraus doch sicher hervor – daß die schärfste Untersuchung alles menschlichen Wissens sich zulezt doch in Einen Punkt – endet, der nicht bewiesen werden kann, sondern bloß auf Glauben angenommen werden muß. Es ist aber nothwendig hinzuzusetzen, dass sich dem Philosophen [und dem Künstler] für diesen Punkt kein aüsserer Glaubensgrund unterschieben lasse.« (Fichte 1996, S. 157– 159)

»Dunkles Gefühl« und »Glauben« sind vermögenstheoretische Äußerungen des Bewusstseins, die bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), dem Genie, Philosophen und Künstler, für das Unbewusste stehen, das sich als innerer »Wahrheitssinn« (GA I/2, S. 143) äußert. Das solchermaßen bestimmte Unbewusste ist bei Fichte der Bewusstseinsmodus der Vision. Visionen manifestieren sich bei Fichte als gefühlte Offenbarungen und Ideen im Sinne eines inwendigen Sehens von vagen, ahnungsvollen Bildern, die sich als »Noch-nicht-Bewußte[s]« (Völmicke 2005, S. 15) in einer nicht reflexiv bestimmten, kontemplativen Sehnsucht (Streben) des Philosophen und des Künstlers nach der intelligiblen Welt niederschlagen (Hammacher 2009, S. 10). Visionen sind bei ihm Triebkräfte der Selbstobjektivierung des Bewusstseins. Fichte nennt * Prof. Dr. Petra Lohmann, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Lehrgebiet Architekturtheorie.

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Petra Lohmann

Visionen in Anlehnung an Martin Luther (1483–1546) »Gesichte« (vgl. Lauth 2001, S. 68; Kreuzer 2001, Sp. 1068–1071), ein Ausdruck, der im Folgenden beibehalten werden wird und der zum Schluss des Beitrags über den rein philosophischen Kontext hinausgehend auf die Architektur bezogen wird, um daran zu zeigen, wie in der zeitgenössischen Rezeption Fichtes Bestimmung des Gesichts in der ästhetischen Lebenspraxis kultivierende Anwendung findet. Gesichte – soviel lässt sich vorblickend festhalten – sind bei Fichte prärationale Ahnungen dessen, was sein soll, und das meint bei ihm einer der Willkür entgegengesetzten moralisch-religiös geprägten Freiheit im Sinne der Selbstunterwerfung unter das Sittengesetz, das in seiner Philosophie gleichermaßen Prinzip des Realitätsbewusstseins sowohl seiner Sachhaltigkeit und als auch seiner Sittlichkeit nach ist. Die Gemeinschaft der Subjekte, die im Horizont dieses Gesichts handeln, bezeichnet Fichte als »Synthesis der GeisterWelt« (GA I/5, S. 354), unter der er, abstrakt als Summe der absoluten Vernunft genommen, auch Gott versteht. Von dieser Bestimmung des Gesichts soll in diesem Beitrag gezeigt werden, wie sie als Widerlegung der Kritik an Fichtes Philosophie als hypertroph herangezogen werden kann. Diese Kritik macht eine der großen Streitsachen des Deutschen Idealismus aus (Jaeschke 1993, S. 3–46). Berühmt ist dafür Friedrich Heinrich Jacobis (1793–1819) sogenanntes Strickstrumpfgleichnis, nach dem Fichtes Philosophie des Absoluten zufolge die Freiheit grenzenlos agiert und das gesamte Realitätsbewusstsein des Ich von sich selbst und der Welt nichts anderes als ein »reales Nichts« beziehungsweise »ein Nichts der Realität« (GA III/3, S. 236) sei: Das Ich spinnt die Welt aus sich »in einem einzigen Faden« (Zoeppritz 1869, S. 200) heraus. Demgegenüber soll hier gezeigt werden, dass Fichtes Philosophie des Absoluten im Lichte des Gesichts zweifellos »Radikalbesinnung« (Lauth 1964, S. 254) auf die Freiheit des Menschen ist, dass er aber die »Gefahr« der »spekulativen Stimmung« (GA II/5, S 75) des Philosophen, sich vom Leben abzuwenden und sich im »systematische[n …] Hineinschauen des Geistes in sich selbst« (GA II/5, S. 377) zu verlieren, sehr wohl erkennt. Dementsprechend heißt es im Brief Fichtes an Jacobi vom 30. 08. 1795: »Wozu ist denn nun der speculative Gesichtspunkt, und mit ihm die ganze Philosophie, wenn sie nicht für’s Leben ist? Hätte die Menschheit von [der] verbotenen Frucht nie gekostet, so könnte sie der ganzen Philosophie entbehren. Aber es ist ihr eingepflanzt, jene Region über das Leben hinaus, nicht bloß in dem reflectirten Lichte, sondern unmittelbar erblicken zu wollen«. Deshalb – so Fichte – »fingen [wir] an zu philosophiren aus Uebermuth, und brachten uns dadurch um unsere Unschuld; […] erblickten unsere Nacktheit, und philosophiren seitdem aus Noth für unsere Erlösung« (GA III/2, S. 392–3). Und Erlösung – so könnte man ergänzen – setzt voraus, immer »daran zu erinnern, dass das Wissen nicht sein letzter Zweck« ist, sondern im Gesicht und damit im Glauben, beziehungsweise prärationalen Wahrheitsgefühl

Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins

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aufgehoben ist. Das Gesicht ist für Fichte die zentrale Denkfigur, mit der er gegen Jacobis Vorwurf angehen kann. Im Rückgriff auf das Gesicht kann er zeigen, dass im Gelehrten »die Philosophie« zwar »Schöpfer des Seyns« (SW IV, S. 388–389) ist, dies aber nicht in einer linearen Deduktion, die in der vollständigen Durchdringung des Seinsgrundes gipfelt, sondern vielmehr durch einen durch das Gesicht geleiteten »hiatus irrationalis« (GA II/8, S. 248–249) motiviert ist, von dem her der Gelehrte das »Prinzip des Lebens und Bewußtseyns« (GA I/2, S. 406) setzt. Die Darlegung der Fichteschen Position, für die das Gesicht zwingend ist, vollzieht sich hier mittels der Konfrontation der Position Arthur Schopenhauers (1788–1860) (vgl. D’Alfonso 2006, S. 201–211), weil dieser nicht nur ausdrücklich eine Philosophie des Unbewussten, das ist – wie oben erwähnt – der Modus, in dem bei Fichte dem Bewusstsein Gesichter erscheinen, entwickelt hat, sondern auch auf der Grundlage des »Allerealste[n]« (Vaihinger 1878, S. 312) eine Jacobi sehr ähnliche Kritik an Fichtes Idealismus äußert. Dies geschieht in zwei Abschnitten. Im ersten Abschnitt wird Fichte mit Schopenhauer in einen philosophiehistorischen Bezugsrahmen zum Begriff des Unbewussten gestellt. Der zweite Abschnitt rekonstruiert die Fichtesche Widerlegung der Schopenhauerschen Kritik. Der Schluss des Beitrags kontrastiert die Positionen, die Fichte und Schopenhauer jeweils zum Grund des Bewusstseins annehmen und zeigt auf, dass für Fichte Bewusstsein ohne Gesichte eine reductio ad absurdum ist.

2.

Unbewusstes und Gesicht im zeitgenössischen Diskurs

Der »historische und systematische« Anfang der »philosophischen Theorie des Unbewussten« (Ellenberger 1922, S. 62–64; Mies/Brandes 2010, S. 2820–2821) hebt Dieter Sturma zufolge mit der »frühe[n] Kritik an der […] Subjektivitätstheorie Descartes« (1596–1650) an. Damit verbinden sich für ihn »Thesen« wie diese, dass »Selbstbewusstsein [nicht mehr länger] der Modellfall einer klaren und deutlichen Erkenntnis« ist, »dass Wahrheitsansprüche [nicht] allein über epistemologische beziehungsweise subjektivitätstheoretische Reflexionsweisen einlösbar« sind und dass »die Erkenntnis des Mentalen epistemologischen Vorrang vor der Erkenntnis des Gegenständlichen« (Sturma 1990, S. 193–202) hat. Für Hartmut und Gernot Böhme ist in der Fortführung dieser Kritik »mit Freud […] ein Reflexionstyp ins europäische Denken gekommen, der einen Großteil dessen, was sich Philosophie nennt, naiv erscheinen lässt«. Seit Freud (1856–1939) ist für sie »keine Bewußtseinsphilosophie mehr sinnvoll, die nicht zugleich eine Philosophie des Unbewussten ist«. Demnach »kann keine Bestimmung von Rationalität mehr als adäquat akzeptiert werden, die Rationalität nur immanent, d. h. durch logische Strukturen oder Argumentationsprinzipien

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Petra Lohmann

bestimmt […]« und nicht auch »ihre[…] Beziehung zum ›Irrationalen‹« berücksichtigt. Eine solchermaßen vereinseitigende »Selbstbestimmung der Vernunft« schließt »ihr Verhältnis zu dem Anderen, was nicht Vernunft ist« (Böhme/ Böhme 1985, S. 11), aus. Die Böhmes bestimmen daher das aufklärerische »Unternehmen« als »das einer Grenzziehung mit Totalitätsanspruch«. Die »Vernunft [macht…] nicht nur Beherrschung und Kontrolle« möglich, sondern sie ist »selbst […] Beherrschung und Kontrolle«. In diesem Kontext verstehen sie Vernunft als »eine ständige Zensur«, die »dafür sorg[t], dass das Andere die […] Ordnung […] der Rationalität nicht durcheinanderbringt«. Doch »Philosophie nach Freud weiß […], was die Vernunft wert ist«. Das heißt für die Böhmes zwar »nicht«, dass sie nun »einfach für das Irrationale plädieren« wird, aber sie »weiß« jetzt, »was die Vernunft nur wert ist«. Ihrer Auffassung nach wird man deshalb die »Vernunft nicht mehr ohne die Angst, die sie zu bannen sucht, ohne den Herrschaftsanspruch, der mit ihr verbunden ist, ohne die Ausgrenzung des Anderen [, d. h. des Unbewussten] sehen« (Böhme/Böhme 1985, S. 12–13) können. Während es Matthias Koßler zufolge »in der Forschung […] weitgehend unbestritten [ist], dass mit der Philosophie Schopenhauers ein bedeutender Schritt zur Entwicklung einer Theorie des Unbewußten verbunden ist, die in der Psychoanalyse eine klassische Gestalt erhalten hat« (Koßler 2005a, S. 180), würde man für Fichtes Bezug auf das Unbewusste einen solchen Vorbildcharakter für einen Anknüpfungspunkt an die Naturwissenschaften eher nicht vermuten. Man schränkt Fichte zu sehr auf das rein Spekulative und Weltabgewandte ein. So interpretiert beispielsweise Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) das transzendentale Denken »einer sich selbst und darin die Welt reflexiv durchdringenden Vernunft« (Völmicke 2005, S. 16) als »konsequente[n …] Idealismus«, der »die Welt aller Undurchdringlichkeit und Transzendenz« (Merleau-Ponty 1966, S. 8) entledigen will. Odo Marquard erkennt zwar immerhin an, dass das Unbewusste bei Fichte eine Rolle spielt, die er durchaus in Richtung Freud und Psychoanalyse öffnet, deutet aber in seiner Kritik dennoch die »idealistische Thematisierung des Unbewussten« lediglich als »Indiz« für die »Ohnmacht der transzendentalen Vernunft« (Marquard 1987, S. 99, vgl. S. 95–99) »vor einer sich ihr entziehenden Instanz« (Völmicke 2005, S. 17). Denn der Kern der spekulativen Systemkonzeption Fichtes basiert auf der Überzeugung, mit »der durch ihre Durchsichtigkeit für sich selbst charakterisierten Vernunft eine sichere Grundlage der Weltund Selbsterkenntnis auf den Begriff gebracht zu haben« (Völmicke 2005, S. 16). Angesichts solcher Kritik »wächst der Verdacht, jede im idealistischen Geist konzipierte Vernunftphilosophie könne sich nur um den Preis des Selbstwiderspruchs auf die Rede vom Unbewussten einlassen« (Völmicke 2005, S. 16). In dieser Denkrichtung stehen die schon zitierten Brüder Böhme. Sie »verstehen neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie als grandiose Selbstermächtigung« der

Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins

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Vernunft, durch die »ein Emanzipationsprogramm zugleich mit einem Programm der Verdrängung ins Werk gesetzt wird«. Für die Böhmes wird zwar »nach den extremen Überlastungen des Cogito seit Descartes bei Fichte erstmals wieder tentativ der Gedanke versucht, das, was der Mensch ist, in Bezug zu denken auf das, was er nicht ist: das Nicht-Ich« beziehungsweise auf das, was er nicht rational durchdringen kann, könnte man ergänzen; das aber »nur« – wie sie sagen – , »um diesen sogleich wieder jede Autonomie und Signifikanz zu rauben« (Böhme/ Böhme 1985, S. 124). Solche Kritik an Fichte hat Tradition und fängt schon bei seinen Schülern an. So wie für Johann Friedrich Herbart (1776–1841) Fichtes Ansichten über die Selbstständigkeit der Ichheit »das vollkommenste Widerspiel der Wahrheit« (Hartenstein 1851, S. 152) sind, so polemisiert Schopenhauer, Fichtes Auffassung von der objektiven Welt könne als praktische Überzeugung »nur im Tollhaus« (W I, S. 163) gefunden werden. In der Gegenwart gipfelt diese Kritik an Fichte im Verständnis seiner Philosophie als »Philosophie im Spekulum des Narziß« (Böhme/Böhme 1985, S. 127), wie das bei Horst Eberhard Richter der Fall ist (Richter 1979, S. 49). Diese zum Teil sehr einseitigen und unrechtmäßig harschen Verurteilungen der Philosophie Fichtes erschweren eine neutrale Auseinandersetzung mit seinem Begriff des Unbewussten, weil das Unbewusste eine für das Wissen unverfügbare Sphäre beinhaltet, die Fichte im Rahmen dieser Kritik abgesprochen wird. Dementsprechend gering ist der Widerhall im Forschungsdiskurs. Mit Martin Bartels, Oskar Buncsak und allen voran mit Elke Völmicke (Bartels 1976, S. 24–32; Buncsak 1983; Völmicke 2005, S. 80–117; vgl. ferner Lütkehaus 2005; Sziede/Zander 2015) lässt sich im Folgenden zeigen, dass Fichte zwar keine ausdrückliche Philosophie des Unbewussten entwickelt hat und dass für Fichte noch viel mehr gilt, was Matthias Koßler für Schopenhauer veranschlagt: Das Unbewusste ist bei Fichte kein »einheitlich[er]« und vor allem kein »terminologisch[er]« Begriff (Koßler 2005b, S. 54). Zudem haben Fichtes Bezüge auf das Unbewusste auch nicht die Deutlichkeit und die thematische Bandbreite, die bei Schopenhauer vorliegt. Dennoch lässt sich nicht nur entgegen dieser Einschränkungen zeigen, dass das Unbewusste in seiner Eigenschaft als Modus des Bewusstseins des Gesichts für Fichtes Philosophie zwingend ist, sondern mit diesem Nachweis lässt sich zugleich gegen die eingangs geschilderte Kritik an Fichte angehen. Als ein im Folgenden noch zu konkretisierendes Vorverständnis des Unbewussten ist hier festzuhalten, dass es etwas Unbewusstes als Verneinung des Bewusstseins, beziehungsweise von etwas, das niemals zum Bewusstsein kommt, bei Fichte nicht gibt (vgl. GA IV/I, S. 196). Das Unbewusste ist bei ihm demnach keine »Gegeninstanz« (Völmicke 2005, S. 14) zum Bewussten, sondern es ist das dem Wissen vorgängige Präbewusste, dessen das Bewusstsein bedarf, um sich von ihm aus zu verstehen. Es ist die Quelle, aus der das sich selbst objektivierende

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Subjekt das Gesicht der Freiheit als das Woraufhin seines Lebens entwickelt. Daraus resultiert für Fichte ein Bezugsrahmen der Bestimmung des Unbewussten, der sowohl formale als auch faktische Aspekte des Unbewussten umfasst. Fichte unterscheidet zwischen der Funktion des Unbewussten für den Aufbau des Systems der Wissenschaftslehre und der Funktion des Unbewussten als Bewusstseinsmodus für die Genese der Selbstobjektivation und des damit einhergehenden Realitätsbewusstseins des Ich. Was das Erstere angeht, so kommen hier die Bedeutung des Unbewussten für die Form der Wissenschaftslehre beziehungsweise dem Bezug des Ich zum Prinzip und die sich daraus ergebenden Rückschlüsse für sein Philosophieverständnis zum Tragen. Damit lässt sich gegen den Vorwurf Schopenhauers, Fichtes System sei dogmatisch, angehen. Dafür ist das Unbewusste als »methodisches Hilfsmittel« (Völmicke 2005, S. 19) zu erweisen, sich dem Absoluten als Prinzip des Systems anzunähern, weil für Fichte das Absolute nur in seiner bedingenden Funktion fassbar sein kann und als solches nie direkt als Ganzes zu objektivieren, sondern nur tendenziell im Gesicht zu erfassen ist. Das Unbewusste fungiert hier auf rationaler Ebene als logische Denkfigur. Was das Letztere angeht, so kommt hierin das Unbewusste als empirisches Phänomen des wirklichen Bewusstseins zum Tragen. Das heißt für Fichte, es als Produkt der »Selbstauslegung des Bewusstseins« (Völmicke 2005, S. 14) zu thematisieren im Sinne eines Bewusstseinszustandes, den es in lebenspraktischer Hinsicht graduell zunehmend mit Blick auf die Intensivierung des Gesichts zu erhellen gilt. Daran lässt sich zeigen, dass Fichte mit seiner Bestimmung des Realitätsbewusstseins keine Allmachtsphantasien (vgl. Richter 1979, S. 25–26) hegt. Denn das Gesicht gewährleistet die »Form« einer »Selbstbeziehung« im Realitätsbewusstsein, für die gerade weder in Rücksicht des eigenen Seins noch des unvorgängigen Prinzips seines Seins gilt, dass erkennendes Selbstbewusstsein »unmittelbare Selbsttransparenz und Evidenz« (Völmicke 2005, S. 9) im Sinne totaler Selbst- und Weltbeherrschung ist. Letztere ist im Sinne des Sittengesetzes ein Gesicht, dessen Realität nicht gegeben, sondern aufgegeben ist.

3.

Fichte und Schopenhauer

Die Schriften, die zu Fichtes Bestimmung des Unbewussten im Folgenden herangezogen werden, sind neben der Schopenhauer-Nachschrift der Fichteschen Thatsachen des Bewußtseins (1811) Fichtes Wissenschaftslehren 1794, 1801 und 1804, seine Logikvorlesungen 1793/7 und 1812, sein Sonnenklarer Bericht (1801), sein Diarium III (1813/1814) sowie seine Bestimmung des Menschen (1800). Auf der Grundlage dieser Texte gliedert sich die Darstellung von Fichtes Position im Spiegel der Kritik Schopenhauers in folgende Punkte: Zunächst geht es

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darum, die Ausgangssituation der Fichteschen Bezüge auf das Unbewusste zu klären. Dazu wird eine Stelle aus der genannten Schopenhauer-Nachschrift herangezogen, in der es heißt: »jedes eigentliche Ich ist an sich dem andern gleich« (Thatsachen, S. 17). Dieses Zitat verdeutlicht den allgemeinen Charakter von Fichtes Begriff des Unbewussten. Darin unterscheidet er sich von Schopenhauer. Während es bei Sigmund Freud in einem Brief vom 27. 01. 1925 an Hans Vaihinger (1852–1933) heißt, Schopenhauer habe der Psychoanalyse »in mehrfacher Hinsicht vorgearbeitet, besonders durch die zwar nicht von ihm ausdrücklich formulierte, aber doch aus seinen Voraussetzungen sich ergebende Lehre von dem Unbewussten im menschlichen Seelenleben« (Fichtner 1994, S. 60–62; vgl. ferner Vaihinger 1923, S. 189–190; Gödde 2010, S. 19–36), fehlt bei Fichte die auf eine bestimmte Ausprägung des Bewusstseins bezogene Konkretion des Unbewussten (vgl. Marquard 1987, S. 229) – wie etwa bei Schopenhauer mit seinen psychopathologisch deutbaren Bestimmungsstücken des Unbewussten. Es geht demnach bei Fichte weder – wie etwas später etwa bei Carl Gustav Carus (1789–1869) – um Passagen, die Grenzüberschreitungen aus dem Unbewussten in das Bewusste und umgekehrt markieren sowie um die Transformationen, die die Vorstellungen dabei erleiden (Carus 1846), noch wie bei Jean Paul (1763–1825) um die Entdeckung des »innern Afrika«, als ungeheures riesiges Reich des Nicht-Wissens (vgl. Paul 1987, S. 1182; Lütkehaus 2005, S. 1), sondern bei Fichte geht es – wie fast immer, so auch im Fall des Unbewussten – um die Frage nach den Bedingungen von Bewusstsein überhaupt. Im Unbewussten manifestiert sich das Gesicht und wirkt präreflexiv als Triebfeder und Woraufhin der Entwicklung von Bewusstsein, das im Sittengesetz beziehungsweise der Synthesis der Geisterwelt gipfelt. Das soll in den auf die Schilderung der Ausgangssituation der Fichteschen allgemeinen Bestimmung des Unbewussten im Spiegel der Kritik Schopenhauers folgenden beiden Punkten vor allem zu den faktischen Aspekten des Unbewussten deutlich werden, in denen sich bei Fichte das Gesicht als Konstituens und als Kriterium des Realitätsbewusstseins erweist. Das sich an diesen beiden Aspekten abzeichnende Fichtesche Modell des Unbewussten verdeutlicht das Gesicht als »Glaube« (GA I/2, S. 429), das heißt als inneres, gefühltes Für-wahr-Halten der Realität. Zusammengefasst ist das Gesicht in theoretischer, erkennender und praktischer, sittlicher Hinsicht konstitutiv für die Lebenskraft als ratio und als Sollen beziehungsweise Ziel des Realitätsbewusstseins: ohne Gesichte kein Wissen vom Leben und kein moralisches Leben – eine Haltung, die der Architekt Karl Friedrich Schinkel für die Wirkung seiner Architektur veranschlagt.

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4.

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Das Unbewusste als allgemeine Voraussetzung des Bewusstseins

Bezeichnend für die Ausgangssituation der Bestimmung von Fichtes Begriff des Unbewussten ist die Stelle der Schopenhauer-Nachschrift von Fichtes »Thatsachen des Bewußtseins«, in der Fichte zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung unterscheidet: »Wahrnehmung« ist entweder »Aeußere«, wie zum Beispiel »Geschichte und Untericht« oder »innere«, wie »z. B. Träume, […], Wansinn, subjektive Ansicht oder Meynung«. Beide lassen »sich historisch wohl mittheilen«, aber im Unterschied zu den äußeren Wahrnehmungen lassen sich die inneren Wahrnehmungen »von Träumen, [… und] Wahnsinn […] nicht willkührlich wiederholen und bestätigen. […] Indessen ist jedes Ich an sich dem andern gleich und muß dieselben Modifikationen erleiden können.« Für Schopenhauer ist »dies ist dunkel und nicht hinlänglich erklärt« (Thatsachen, S. 17). Fichte entgegnet: »Man hat mir hingegen eingewandt dass Originalität und Genie besonders Modificierte Ichs wären. Ich muß dabey bemerken dass nicht jede Originalität Genie sondern oft Wahnsinn ist. Beyde weichen ab vom gewöhnlichen Standpunkt des Menschen: Genie oder Poesie, ist göttlich und weit über jenen Standpunkt erhaben: Wahnsinn ist thierisch und steht unter jenem Standpunkt« (Thatsachen, S. 18). Schopenhauer entwickelt bekanntlich in seiner Kritik an dieser Stelle sowie in der Welt als Wille und Vorstellung (vgl. W I, § 36) seine Theorie des Wahnsinns, die Freud als Vorwegnahme seiner Verdrängungstheorie (vgl. Gödde 2009) betrachtete: »Wenn nun ein solcher Kummer, ein solches schmerzliches Wissen oder Andenken so qualvoll ist, dass es schlechthin unerträglich fällt, und das Individuum ihm unterliegen würde, – dann greift die dermaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn als zum letzten Rettungsmittel des Lebens: der so sehr gepeinigte Geist zerreißt nun gleichsam den Faden seines Gedächtnisses, füllt die Lücken mit Fiktionen aus und flüchtet so sich gleichsam von dem seine Kräfte übersteigenden geistigen Schmerz zum Wahnsinn« (W II, S. 227–228; Gödde 2012a, S. 9). Günter Gödde zufolge steht dabei bei Schopenhauer der »unbewusste Wille« im Hintergrund. Er ist »das eigentlich bestimmende Kraftzentrum im Seelenleben, das dadurch auf den Intellekt einwirkt, das ›er ihm gewisse Vorstellungen verbietet, gewisse Gedankenreihen gar nicht aufkommen läßt‹, bisweilen den Intellekt ›zügelt‹ und ihn zwingt, sich auf andere Dinge zu richten« (W II, S. 227–228; vgl. Gödde 2012b, S. 20–22). Eine solche psychopathologische Perspektive des Unbewussten sucht man in Fichtes Modell des Unbewussten vergebens. Der allgemeine Grundgedanke, von dem her bei Fichte der Begriff des Unbewussten angegangen werden kann, lautet vielmehr: »Indessen ist jedes eigentliche Ich an sich dem andern gleich und muß dieselben Modifikationen erleiden können« (Thatsachen, S. 17). Es geht bei

Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins

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Fichte in diesem Kontext zunächst um die Klärung allgemeiner Voraussetzungen der Wahrnehmung beziehungsweise des Realitätsbewusstseins und der Form des Systems, in dem sie entwickelt werden. Fichte führt dafür zwei Reflexionsreihen an: für das Ich und für den Philosophen oder anders mit seinen Worten gesagt: »Jenes Auge ist das empirische; dieses das wissenschaftliche; Jenes vernehmend, dies verstehend« (SW IX, S. 127). Es gibt demnach ein existentielles und ein spekulatives Motiv des Unbewussten beziehungsweise des Gesichts, das heißt als Faktum des unmittelbaren Lebens im Sinne eines natürlichen Vertrautseins mit der Welt und als konstruktives Bestimmungsstück der genetischen Rekonstruktion des Bewusstseins durch den Philosophen (vgl. Buncsak 1983, S. 148– 150; Frank 2002, S. 144; Frank 2015, S. 14–40). Diese Motive des Unbewussten dienen Fichte dazu, ein präbewusstes Produzieren der Realität der Außenwelt denken zu können, deren Sachhaltigkeit dem wahrnehmenden Ich als gegeben erscheint und darüber hinaus auch dazu, dass Selbst- und Realitätsbewusstsein in einem Unverfügbaren zu gründen, um so allererst die Freiheit dieser Bewusstseinsformen im philosophischen System gewährleisten zu können. Für Schopenhauer stellen sich diese Ansinnen in seiner Fichte-Kritik in seinen Ausführungen zu »Über Fichte überhaupt« durchgehend negativ dar: Fichtes Bestimmung des Realitätsbewusstseins zugrunde liegende These: »Es wird in der That das Objekt construiert, ohne Bewußtseyn« (GA II/17, S. 72) bezeichnet Schopenhauer als »Fichtes bleiernes Märchen« (Studienhefte, S. 341). Vielmehr habe Fichte die »Philosophie […] angesehen als die Kunst die Welt, wie jedes Geräth, dem Verstande genügend und allen seinen Fragen genugthuend zu erklären, und […] wie die Dogmatiker gesucht eine Welt nach seinen (des Verstandes) Gesezzen zu bauen« (Studienhefte, S. 356). Die systematische Rekonstruktion des Realitätsbewußtseins von einem »Princip«, das »nur gedacht oder intelligirt« (GA II/12, S. 65) werden kann, aber sonst unbedingt und unverfügbar ist, ist für Schopenhauer »ein transcendenteres Unternehmen als je irgend eine Dogmatik gewagt hat« (Studienhefte, S. 357).

5.

Das Gesicht als Konstituens des Realitätsbewusstseins

Gegen Schopenhauers Kritik ist zunächst Fichtes Bestimmung des Unbewussten und seine damit verbundene Auffassung vom Gesicht anzuführen. Schopenhauer verkennt, dass Fichte das Unbewusste benötigt, um von ihm her bewusste Phänomene des empirischen Bewusstseins zu erklären. Das Unbewusste bezieht sich bei ihm auf diejenigen Handlungen, die in der Rekonstruktion des empirischen Bewusstseins als diesem zugrundeliegend gedacht werden müssen und daher selbst nicht bewusst werden. Für Fichte gilt, »daß ein Ich, und daß etwas ihm entgegengesetztes, ein Nicht-Ich sey, geht schlechthin allen wahrnehmbaren

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Operationen des Gemüths d. h. des wirklichen Bewußtseyns voraus; und dadurch werden sie erst möglich.« Dieses »ursprüngliche Setzen […] Gegensetzen, und Theilen« ist nach Fichte »kein Denken, kein Anschauen, kein Empfinden, kein Begehren, kein Fühlen[, …] sondern es ist die gesammte Thätigkeit des menschlichen Geistes, die keinen Namen hat, die im Bewußtseyn nie vorkommt, die unbegreiflich ist; weil sie das durch alle besondre [u. lediglich insofern ein Bewußtseyn bildende] Akte des Gemüths bestimmbare, keineswegs aber ein bestimmtes ist« (GA III/2, S. 344). Diese Konstruktionsfigur des Verhältnisses von Bestimmbaren und Bestimmten führt Fichte auch für das faktische Bewusstsein an. Darunter versteht er einerseits »ein vollständiges System«, in dem »kein einzelner Theil desselben seyn kann, ohne daß alle übrigen« (SW II, S. 398) sind; andererseits aber nur dann etwas für das Ich ist, wenn »es durch einen freyen Akt seiner eignen Selbstthätigkeit mit Bewußtseyn gesetzt wird« (SW IX, S. 344). Bei Fichte ist das »faktische Bewusstsein« demnach ein System von sich selbst »gegenseitig bedingen[den]« Bestimmungsstücken. Insofern ist ein je für sich reflektiertes Bestimmungsstück immer zugleich »als mitbedingt durch alle anderen notwendig anzunehmenden«, ihrerseits jedoch »nicht reflektierten unbewussten Bestandteile des faktischen Bewusstseins« zu denken. Diese unbewussten Voraussetzungen »sind transzendental gesehen […] kein an sich Seiendes, von dem aus« die konkreten Bestimmungsstücke des Bewusstseins »abgeleitet werden könnte[n]«, sondern es ist umgekehrt. Das »Unbewusste [wird …] aufgrund notwendiger Denkgesetze zur Erklärung der wirklichen Erfahrung« der einzelnen Bestimmungsstücke des Bewusstseins angeführt. Es wird erst von der »wirklichen Erfahrung aus« verständlich und ist deshalb »selbst keine Erfahrung im strikten Sinne« (Buncsak 1983, S. 151). Für Fichte heißt das: »es ist etwas ohne Bewußtseyn in uns lediglich, inwiefern etwas mit Bewußtseyn in uns ist, zur Erklärung deßelben Bewußten in uns, als Grund« (GA II/4, S. 96). Die für Fichte der wirklichen Erfahrung eines Einzelnen zugrunde liegende Handlung ist das unbewusste Produziren des Anschauungsbildes der Welt der Dinge infolge des Übertragens der Realität durch das Ich auf das Nicht-Ich. Das geschieht präbewusst und »deshalb nehmen wir alle eine Welt ausser uns ohne unser Zuthun an«, obwohl »von ausen […] in das vernünftige Wesen nichts hinein[kommt]« (GA IV/2, S. 86). Selbst von der Kraft, das heißt dem »Erkenntnistrieb« (SW VII, S. 278), der die dieser Erfahrung zugrunde liegt, sagt Fichte, dass er »immerfort […] unsichtbar und unbewußt« (SW VII, S. 118) wirkt und dass er sich erst im Nachhinein »durch seine Wirkung« (GA II/5, S. 70), das heißt die zunehmende Aneignung des Nicht-Ich durch das Ich erschließt. Maßgeblich sind für diese theoretische Bedeutung des Unbewussten bei Fichte die Bestimmungen des Leibes als System der Sensibilität (vgl. Schöndorf 1982, S. 145; Zöller 2001, S. 97–112) und des Gefühls im Sinne des Glaubens als Grund

Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins

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allen Realitätsbewusstseins (vgl. Lohmann 2002). Die Erkenntnis der Realität ist daher für Fichte ein Gesicht im Sinne eines Für-wahr-Haltens. Die Dinge erscheinen dem Ich als von ihm unabhängig. Tatsächlich hat es sie präbewusst gesetzt. In Rücksicht auf die praktische Vernunft geht es beim Unbewussten darum, dass in der Wissenschaftslehre »gar nicht die Rede von dem im wirklichen Bewußtseyn gegebenen Ich [ist,] sondern von einer Idee [, d. h. eines Gesichts] des Ich, die seiner praktischen unendlichen Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß« (SW I, S. 277). Das durch das Gesicht gegebene Zielbild eines entsprechenden Handelns ist, die Objektwelt in vollkommener Übereinstimmung mit der Selbstbestimmung des Ich zu gestalten. Es hat den Status des ›als ob‹ und tritt im Bewusstsein auf als Bild vom Wirken eines »absoluten Ich«. »Das individuelle Ich ist sich angesichts der Idee« beziehungsweise des Gesichts »eines absolut vollkommenen Ichs« jedoch »keineswegs unmittelbar bewußt, wie diese Idee in ihm zustande kommt.« Dennoch »ist sie Teil des Bewußtseins und erscheint insofern nicht ohne dessen Mitwirkung. Wenn aber diese Mitwirkung des individuellen Bewußtseins ohne dessen Kenntnis geschieht, so muß es sich um eine Aktivität des Bewußtseins handeln, die zwar zur Bewußtheit jener Idee führt, nicht aber selber reflexiv mit bewußt gemacht ist. Fichte nennt diese Tätigkeit bekanntlich das Streben« (Widmann 1982, S. 51). Das Streben ist die Kraft, durch die sich aus dem Unbewussten heraus Gesichte entwickeln, um dann im Leben zu Handlungsmotiven zu werden, wie in diesem Fall der Loslösung von den widersinnige Neigungen und Begierden verursachenden Objekten hin zur völligen Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst, das heißt dem Gesicht der absoluten Freiheit des Sittengesetzes, was sich für das Ich im Gefühl der »Vollendung« (GA I/2, S. 450) manifestiert.

6.

Das »Gesicht« als Kriterium des Realitätsbewusstseins

Während man in den vorhergehenden Ausführungen zur Rolle des Unbewussten in der Genese des Realitätsbewusstseins durchaus Anleihen Schopenhauers an Fichte erkennen kann, wie zum Beispiel die von Fichte vorbereitete »Wende zum Leib«, die bei Schopenhauer zum Konzept des Selbstbewusstseins als leibliches Bewusstsein führt, das er als »Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung« (vgl. Koßler 2005a, S. 180, 187) bestimmt, so weichen beide darin, was das Verhältnis des Ich zu seinem Grund sowie den Grund selbst angeht, voneinander ab. Bei Fichte spielt das Unbewusste in Bezug auf das Gesicht der absoluten Freiheit und damit auf den Grund des Ich folgende Rolle: Statt wie Schopenhauer mit dem Primat des Willens zum Leben auf einen irrationalen über alles Bewusstsein hinausliegenden Ursprung der Realität im Wissen zu schließen (vgl. W

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II, Kap. 19), dessen bewusstes Akzidenz der Intellekt ist (vgl. W II, S. 410 u. S. 279; Hitschmann 1913, S. 128; Gellert 1978, S. 173; Horkheimer 1985, S. 454–456; Gödde 2012a, S. 2), und damit von einer prinzipiellen Lebens- und Bewusstseinsimmanenz auszugehen, die seiner Auffassung nach »weit entfernt [davon ist], wie das [Fichtesche] Absolutum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Ausdrücke mehr, ein reiner Wortschall zu seyn, das Allerrealste ist, was wir kennen« (W II, S. 399–400; vgl. Groß 1998) – verhält es sich bei Fichte in Rücksicht des Grundes mit seiner Unterscheidung zwischen Gedankenprinzip und Lebensprinzip anders. Nicht der Grund selbst ist unbewusst, sondern die Beziehung des Ich zum Grund als Gedankenprinzip ist durch das Unbewusste getragen, indem es einerseits einen Grenzpunkt des Denkens des absoluten Seins markiert und andererseits in Rücksicht auf den Grund als Lebensprinzip als ein Streben des lebendigen Ich auf das niemals gegebene, sondern immerzu aufgegebene Gesicht der beiden Prinzipien zu einer Einheit des »Lebens und Bewußtseyns« als angestrebte »Vollendung« (GA I/2, S. 449) seiner Selbstobjektivation motiviert: Fichte geht in den »Thatsachen des Bewußtseyns« davon aus, dass »der Anfang des Wissens […] reines Seyn [ist]; wo [ jedoch] das Wissen schon ist, ist sein Seyn« (SW II, S. 63). »Das reine Sein ist der Halt und Leben gewährende Anfang des Wissens« (Janke 1970, S. XIV), den das Ich im und durch das Wissen niemals ganz erschließen kann. »Das ganze System des Wissens, vom Saz an ›Ich bin‹: ist verfallen, und abgezogen zur bloßen Bedingung eines anderen höher und wahren Wissens: ist blos da um ein Bild zu geben eines Ich, damit dies im Bild durch ein andres Wissen übertragen werde in die Region zu der keine Anschauung gelangt« (GA II/12, S. 70). Der Zugang dazu erfolgt durch das Gesicht (vgl. GA II/12, S. 74). Auf die Frage, »wie das absolute Seyn sichtbar werde« (GA II/12, S. 77), antwortet Fichte, »das Absolute wird sichtbar durch das Handeln des Ich« (GA II/12, S. 77), das sich im »Gewissen« (GA II/12, S. 77), das heißt dem Gefühl für das Wahre und Gute, äußert und dem Ich darin als Aufgabe erscheint (vgl. GA II/3, S. 359). So ist für ihn der »Sitz der alleinigen Kenntniß und Wahrheit« genau bestimmt, er »liegt im sittlichen Charakter« (GA II/12, S. 77). Das heißt, der Grund des Ich ist für Fichte »nicht […] als ein in der Analyse isolier[ter] und objektivierbarer Anfang« (Völmicke 2005, S. 20) zu verstehen. Er ist nicht vollends deduzierbar, sondern nur nachvollziehbar, und das im Sittengesetz. »Darum gleitet« für Wolfgang Janke »die Wissenschaftslehre [auch] nicht in die traditionelle Metaphysik zurück, welche die Welt von Gott als dem« »absolute[n] Seyn« (GA II/12, S. 165) »ableitet«. Dieses »kommt als Prinzip der Weltkonstitution überhaupt nicht in Betracht; denn das absolute Wissen« weiß diesbezüglich um sein »Nichtwissen« (Janke 1970, S. XIV). Es kann in Rücksicht des »absolute[n] Seyn[s]« »nichts Bewahrheiten« (SW II, S. 195), »weil es alles Seiende zum Faktischen und Entgegenliegenden« und damit Endlichen »ob-

Das »Gesicht« als Konstituens des Bewusstseins

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jektiviert« (Janke 1970, S. XV). Dennoch entwirft sich die »Reflexion« die Vorstellung von einem »absolute[n] Seyn« als ihrem Grund, – dass aber nur so – »daß das vorausgesetzte Ansich« des »absolute[n] Seyn[s]« (GA II/12, S. 165) »allein als das im Bild Nicht-Anwesende (als Nicht-Wissen) begreiflich wird« (Janke 1970, S. XIV). Es ist »die leere Stelle jenseit[s] des Ich« (GA II/12, S. 81). Wissenschaftslehre ist damit – so Wolfgang Janke – »transzendental-kritische docta ignorantia« (Janke 1970, S. XIV). Dem ohne auf das Unbewusste und die Gesichte zu achtende auf völlige Selbstaufklärung ausseiende Selbstbewusstsein fehlt die »freie Gelassenheit« (Janke 1970, S. XV), die Übereinstimmung von Bewusstsein und seinem Gegenstand als Aufgabe zu verstehen, die ständig neu angegangen werden muss. Diese Art von Selbstaufklärung liefe tatsächlich auf die Gefahr des Nihilismus hinaus. Das Unbewusste und das Gesicht hingegen schützen davor, weil sie einen Rest Unverfügbares, das nicht von der Selbstaufklärung eingeholt werden kann, garantieren. »Wahre Einsicht« akzeptiert diesen Stand zum Unverfügbaren und äußert sich als ein Tun, dass sich »nicht als affirmativ, erschaffend die Wahrheit, sondern nur als negativ, abhaltend den Schein« (GA I/6, S. 143) realisiert. »Solche Grundlegung der Wahrheit« ist dynamisch und offen und sie schützt – so Wolfgang Janke – geradezu vor »maßloser« (Janke 1970, S. XV) Selbstüberschätzung eines abgeschlossenen, das heißt rational völlig durchsichtigen Gedankens. Vielmehr ist die im Begriff des Unbewussten liegende Negation des Wissens für das Ich affirmativ und motivierend. Es wird nicht per Begriff, das heißt Gesetz genötigt, sondern es fühlt, beziehungsweise ahnt mittels des Gesichts, dass es richtig ist, sich in der Lebenspraxis der unendlichen Aufgabe zu stellen, die lautet: sein Realitätsbewusstsein zu bilden, beziehungsweise sich selbst zu objektivieren und dabei die Bildung des Realitätsbewusstseins in den Horizont der interpersonalen Praxis des Sittengesetzes zu stellen, um sich damit immer mehr dem unvorgängigen, absoluten Grund seines Bewusstseins anzunähern. Um auch noch den letzten Anschein von Hybris zu tilgen, heißt es bei Fichte dazu, dass dieser »letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muss, so lange der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn« und er »nicht Gott werden soll« (GA I/3, S. 40). Die durch das Unbewusste initiierte »Nähe und Ferne« zum »unvordenkliche[n] Sein« ist vielmehr das »Maß für die Wahrheit alles Wirklichen« (Janke 1970, S. XV) und damit auch der Philosophie. Deshalb ist für Fichte eine Anforderung an das System abzulehnen, die »die Möglichkeit eines restlosen Begreifens im Sinne der Deduktion des Wissens aus seinem unwandelbaren Grund« des Wissens veranschlagt. Denn der Bezug auf das Unbewusste und auf das im Gesicht ›nur‹ Erahnte jenseits des Wissens gewährleistet, dass der »Letztbegründungsgedanke« des Systems nicht vom Gedanken der »Abgeschlossenheit, sondern vielmehr vom Theorem der Konti-

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nuität« (Völmicke 2005, S. 20) und der »Dynamik« (Völmicke 2005, S. 22) lebt, sich dem »absolute[n] Seyn« (SW II, S. 199) offen und frei anzunähern. Darin besteht bei Fichte der Sinn der Selbstobjektivation des Ich. Deshalb gehört es zwingend zum Gesicht, unerfüllbar zu sein. Zusammenfassend zeigt sich daran auch nochmal die Mehrfachbedeutung des Unbewussten bei Fichte. Einerseits ist es notwendige Bedingung für Erkenntnis und andererseits ist die in ihm »liegende Verneinung« des Wissens des »absolute[n] Seyn[s]« (SW II, S. 199) als eine »Bejahung« (Völmicke 2005, S. 19) zu verstehen, die sich im Gesicht für das Individuum in der Lebenspraxis als Aufgabe seiner Selbstobjektivation und damit unendlichen Annäherung an das absolute Sein darstellt. Damit verlagert sich nicht nur die Begründung des Realitätsbewusstseins ins Sittliche, sondern angesichts der skizzierten Rolle des Unbewussten zeigt sich in eins auch der Widersinn einer Fichte unterstellten Allmachtsphantasie (vgl. Richter 1979, S. 25–26), denn die aus der Triebfeder des Unbewussten hervorgehenden Gesichter erfüllen sich nach Fichte nie absolut und so verkehrt sich ihre Einschränkung ins Positive: Gesichter bleiben für immer aufgegeben und nur so ist es möglich, die Lebenskraft des Bewusstseins aufs immer Neue zu affizieren. Darin besteht die lebensstiftende Leistung des Gesichts: Ein Bewusstsein ohne Gesichter ist tot. Die Wirkungsmächtigkeit der Fichteschen Philosophie des Gesichts im Übergehen des Geistes in das Materiale der Lebenswelt lässt sich abschließend in Anlehnung an das Eingangszitat an einem zeitgenössischen Rezeptionsbeispiel aus dem Bereich der Architektur zeigen. Der Architekt Karl Friedrich Schinkel, der ein ausgezeichneter Kenner der Fichteschen Philosophie war (vgl. Lohmann 2010), hat einen Auszug aus Fichtes Anweisung zum seligen Leben (1806) als Wahlspruch für seine Familie herangezogen und diesem Wahlspruch mit seiner Architekturphantasie mit dem Titel Allegorische Darstellung der Wissenschaft und Religion als Segnungen des Friedens (o. J.) ein sinnliches Bild der Fichteschen gradativen Selbstobjektivation des Ich gegeben, die im Gesicht der Synthesis der Geisterwelt gipfelt (Abb. 1): »Unser Geist ist nicht frei, wenn er nicht Herr seiner Vorstellungen ist; dagegen erscheint die Freiheit des Geistes bei jeder Selbstüberwindung, bei jedem Widerstande gegen äußere Lockung, bei jeder Pflichterfüllung, bei jedem Streben nach Besseren und bei jeder Wegräumung eines Hindernisses zu diesem Zweck. Jeder freie Moment ist ein seliger.« (Schinkel nach Wolzogen 1982, S. I/XXIII)

Mit Schinkels Anlehnung an Fichte lässt sich abschließend Fichtes Verständnis von Vision oder, wie es bei ihm heißt, Gesicht, folgendermaßen zusammenfassen: Über die rein wissenschaftsinterne Bestimmung von Gesicht hinausgehend, verbindet er mit dem Gesicht die lebenspraktische Auffassung, dass jeder Mensch vermögenstheoretisch die Fähigkeit besitzt, über die Realität hinausge-

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Abb. 1: Karl Friedrich Schinkel: Allegorische Darstellung der Wissenschaft und Religion als Segnungen des Friedens. Zeichnung/Feder/Tusche, o. J. (Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, http://schinkel.smb.museum/index.php?view_type=2&object_id=1503859&leftm enu_id=2, gemeinfrei)

hend Zukunftsbilder zu erahnen und zu entwerfen. Diese Zukunftsbilder versteht Fichte als Medien der Selbstbildung des Individuums. Schinkel hat mit seiner Architektur, die er als »Symbol des Lebens« (Mackowsky 1922, S. 192) verstand, Fichtes Auffassung vom Gesicht in die gesellschaftliche Praxis überführt. Ausgehend vom Zustand der untersten Stufe einer rohen Sinnlichkeit entwickelt sich in seiner gezeigten Architekturphantasie die Gesellschaft auf der mittleren Stufe zu einer zwar intellektuell, aber noch hierarchisch geprägten Interpersonalität, um dann auf der Stufe ihrer höchsten Ausprägung, auf der der Gesetzgeber als Gleicher unter Gleichen wirkt, dem Gesicht der intelleigiblen Welt Wirklichkeit zu verleihen. Gesichter dienen somit dem Philosophen wie dem Architekten als Medien, mittels deren die und der Einzelne in Rücksicht auf sich und auf die Gesellschaft Idealvorstellungen entwirft, von denen her und auf die hin sie beziehungsweise er sich in Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen entwickelt. Gesichter sind für beide – Philosophen wie Architekten – Impuls und Instanz des eigenen Lebensetwurfs.

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Petra Lohmann

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Jürgen Nielsen-Sikora*

Geschichte als Vision. Zur Wiederentdeckung des Menschen im geschichtsphilosophischen Werk von Walter Benjamin »Wie ich mir mechanisch eine neue Cigarette drehe und die braunen Stäubchen mit feinem Prickeln auf das weißgelbe Löschpapier der Schreibmappe niedertaumeln, will es mir unwahrscheinlich werden, daß ich noch wache. Und die feuchtwarme Abendluft, die durch das offene Fenster neben mir hereingeht, die Rauchwölkchen so seltsam formt und aus dem Bereich der grünbeschirmten Lampe ins Mattschwarze trägt, steht es mir fest, daß ich schon träume.« (Thomas Mann 1893/2004, »Vision«)

1.

Die Felder der Geschichte

»Die Felder der Geschichte liegen voller Steine, die von wackeren Steinmetzen geklopft wurden und dann nutzlos liegenblieben« (Febvre 1988, S. 13–14). Mit diesen Worten kritisierte Lucien Febvre 1933 in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Historiker vorangegangener Epochen und ihren Glauben an die historische Tatsache an sich, »das vermeintliche Atom der Geschichte« (Febvre 1988, S. 12). Febvre deutete die Historiografie als eine Welt der Ruinen. Dem vom naturwissenschaftlichen Geist beherrschten Geschichtslabor, das trotz Einsturzgefahr weiterhin bloß Faktengeschichte betreibe, warf er vor, in Aschen zu stochern, »von denen die einen längst erkaltet, die anderen noch warm sind – aber Asche allemal, erloschener Rest verzehrter Existenzen« (Febvre 1988, S. 16). Dem erloschenen Rest stellte er in seinem Vortrag mit dem Titel »Ein Historiker prüft sein Gewissen« die Geschichte als eine Wissenschaft vom Menschen gegenüber und warb für einen kompletten Neubau der historischen Forschung. Es sei, so Febvre (1988, S. 18), die Aufgabe des Historikers, den Menschen wiederzufinden. Den Menschen wiederfinden – dieses Losungswort der Annales-Schule galt seinerzeit ebenso für die am bonum humanum ausgerichtete Geschichtsphilosophie Walter Benjamins. Sein Werk, insbesondere die Passagenarbeit (GS V.I und V.II) und die Thesen der späten 1930er Jahre, versuchten, diesem Anspruch einer anderen Geschichtsschreibung gerecht zu werden.

* Prof. Dr. Jürgen Nielsen-Sikora, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Hans Jonas-Institut Siegen.

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Die Thesen zum Begriff der Geschichte sollen im Folgenden betrachtet werden, um das darin enthaltene kritische Ferment freizulegen. Hierbei sollen Benjamins geschichtsphilosophische Arbeiten der 1930er Jahre im Mittelpunkt stehen, weil sie für die Frage nach den Anforderungen an eine neue Historiografie maßgeblich sind. Sie zielten nur scheinbar auf das 19. Jahrhundert mit seinem Epizentrum Paris – in erster Linie müssen sie als zeit- und methodenkritische Arbeiten gelesen werden. In ihnen verwarf Walter Benjamin den seinerzeit vorherrschenden Glauben an einen homogen verlaufenden Fortschritt in der Geschichte und exemplifizierte dies anhand seiner Darstellung der Stadt Paris. Paris galt als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, in der die Passagen und Boulevards, die Panoramen und Katakomben, die Barrieren und Faubourgs die Rückstände einer Traumwelt bildeten. Es war das Paris der Weltausstellung und der Barrikaden, der Fotografie und der Reklame, geprägt von Georges-Eugène Haussmanns klassizistischer Boulevardisierung, die Benjamins Interesse weckte. In Paris entstanden die Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, bildeten sich jene Phänomene und Charakteristika heraus, die das Wesen der Moderne ausmachten: Urbanisierung, Migration und Schnelllebigkeit. Paris war der Mittelpunkt eines Jahrhunderts, in dem sich Luxus und Gafferei ebenso entwickelten wie die kapitalistische Ökonomie, die Technisierung, das allgemeine Lesevermögen, die Daguerreotypie, der Film, neue Formen der Kriegsführung, Röntgenstrahlen, die Zerstreuung, der Asphalt und die Bürgersteige, die Gasbeleuchtung, die Nationalstaaten und eine radikale Abkehr von der klassischen Malerei. Das 19. Jahrhundert blieb nichtsdestotrotz gefangen im mythischen Glauben an eine Industriegesellschaft, die das stürmische Wachstum in der Schwerindustrie, dem Maschinenbau, der Chemie, der Elektroindustrie und der Wissenschaft mit einem neuen Machtstreben der europäischen Staatenwelt verquickte (vgl. Osterhammel 2009).

2.

Der blutige Nebel des 19. Jahrhunderts

Der Flaneur als paradigmatischer Anti-Held dieser Welt erblickte »eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war«, um nun unter freiem Himmel zu stehen, »in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper« (Benjamin 1977, S. 291). Benjamin begann ab 1933, seine Eindrücke der Großstädte und des modernen Lebens zu schildern. Von Selbstmordplänen ergriffen, war er aus Deutschland geflohen, zunächst nach Ibiza, sodann nach Paris. Von dort ging zu jener Zeit ein erheblicher Teil der politischen und kulturellen Mobilisierung

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gegen den Nationalsozialismus aus. Der von Ehrenburg, Malraux, Gide und anderen einberufene Kongreß zur Verteidigung der Kultur etwa versammelte Autorinnen und Autoren aus allen Enden der Welt. Doch Benjamin selber beteiligte sich kaum an solchen kulturpolitischen Maßnahmen. Er blieb seiner Überzeugung treu, ein Intellektueller zwischen allen Fronten zu sein, obwohl er in einem Brief an Werner Kraft im Oktober 1935 schrieb, die Einleitung in seine Passagenarbeit sei ein »eminent politisches Werk, das ganz und gar auf die Gegenwart bezogen« sei, auch wenn es den »Blutnebel des 19. Jahrhunderts« untersuche. Er bemühe sich, so heißt es weiter in dem Brief, sein Teleskop durch diesen Nebel hindurch »auf eine Luftspiegelung des neunzehnten Jahrhunderts zu richten, welches ich nach den Zügen mich abzumalen bemühe, die es in einem zukünftigen, von Magie befreiten Weltzustand zeigen wird. Natürlich muß ich mir zunächst dieses Teleskop selber bauen …« (Benjamin 2000, S. 193). Warum aber richtete Benjamin von 1933 bis 1940, in jenen entscheidenden Jahren, wo ihm der Boden unter den Füßen brannte, sein Fernglas mit solcher Hartnäckigkeit auf den blutigen Nebel eines 19. Jahrhunderts, das sich allmählich entfernte? Es ging ihm darum, die Spitze des historischen Blickes so zu stählen, dass diese Zeit auf die Tagesordnung der aktuellen (auch politischen) Diskussionen kommt, sowie darum, »die Gegenwart um so sicherer mitten ins Herz« (ebd.) zu treffen. Denn besagter Blutnebel wurde im Februar 1939 immer dichter. So wurde von der Gestapo für Benjamin die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft mit der Begründung beantragt, er sei für die 1936 von Bert Brecht, Willi Bredel und Lion Feuchtwanger in Moskau gegründete Monatsschrift »Das Wort« als Mitarbeiter tätig gewesen und befinde sich derzeit in Paris, »wohin er aus Palma di Mallorca geflüchtet« (Werkbund-Archiv 1990, S. 36) sei. Tatsächlich war seine Mitarbeit an der Zeitschrift äußerst problematisch, denn er hatte größte Schwierigkeiten, seine Arbeiten dort unterzubringen, weil sie bei der Redaktion auf heftige Kritik stießen. Kurz nach der Aktion der Gestapo teilte auch Max Horkheimer seinem Mitarbeiter mit, die bislang in regelmäßigen Abständen eingegangenen Geldzahlungen, die Benjamin für seine Arbeiten für das Institut für Sozialforschung erhalten hatte, endgültig einstellen zu müssen. Benjamin, der in diesen Tagen nicht nur an den Passagen, sondern auch an einer Neufassung der »Berliner Kindheit« arbeitete, quälten zusätzlich gesundheitliche Probleme und der Ärger mit der Bürokratie bei dem Versuch, sich in Frankreich einbürgern zu lassen (vgl. van Doorn 2001; van Reijen 2001; Palmier 2009; Eiland/Jennings 2016; Jäger 2017). In diese Zeit fiel schließlich auch der in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 in Moskau von dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und

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dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare Wjatscheslaw Molotow unter den Augen des Generalsekretärs der KPdSU, Josef Stalin, unterzeichnete und unter dem Begriff »Hitler-Stalin-Pakt« bekannt gewordene deutsch-sowjetische Nichtangriffs-Vertrag. In der Folge veröffentlichte die Moskau-orientierte KPD, die ihr Zentrum in Paris aufgeschlagen hatte, einen Aufruf an die Deutsche Arbeiterschaft, mit dem Hitler-Staat zusammenzuarbeiten. Der Schock, der seit den letzten Augusttagen 1939 allgemeine Wurzeln schlug, erfasste auch den damals 47-jährigen Benjamin, Mitglied des von Georges Bataille gegründeten Collège de Sociologie und freier Mitarbeiter des von Horkheimer und Adorno geführten Instituts für Sozialforschung. Sein letzter Text, den er in jenen Pariser Tagen begann, bevor er Ende September 1940 an der französisch-spanischen Grenze in Portbou starb, trägt den Titel »Über den Begriff der Geschichte« (WuN 19), eine in loser Abfolge von Thesen formulierte Arbeit, in der sein gesamtes Geschichtsverständnis kulminiert. Benjamin arbeitete die Winter- und Frühjahrsmonate des Jahres 1940 an dem als eine Art konzeptionelles Vorwort der Passagenarbeit gedachten Traktat.

3.

Die Zeit der Hölle

Das philosophische Fundament seiner Thesen bildet der historische Materialismus mit seinem Ahnherrn Karl Marx. Marx definierte als Programm des Histomat, die Philosophie müsse die Welt aus dem Traume über sich selbst aufwecken. Nicht nur Benjamins geschichtsphilosophische Thesen, auch die Passagenarbeit nehmen Marx und seine politische Ökonomie in Beschlag. Der Histomat bildet hierbei den Hafen, von dem aus Benjamin die Torpedoboote seiner Gesellschaftskritik in See stechen lässt: Das Buch X der Passagenarbeit hat den Gründervater des Kommunismus zum Thema und hebt an mit Zitaten über die Industrie, die Armut, die kapitalistische Wirtschaft und das falsche Bewusstsein. Am Ende schlägt das Kapitel einen Bogen zum Wesen der Ware, die ihren Herstellungsprozess deshalb verschweigt, weil sie nur so zum Fetisch aufsteigen kann. Benjamin stellt sodann als die Erfahrung seiner eigenen Generation heraus, »daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird« (X 11a, S. 3). Er ist und bleibt das ewig Junge, das sich stets neu reproduziert. Der Kapitalismus, so Benjamin, habe die mythischen Kräfte reaktiviert. Nur die müßigen Götter, die Kapitalisten können es sich noch leisten, nicht für ihren Bedarf, sondern allein für den Profit Waren zu produzieren. Sie leiden bloß noch, wie Marx wusste, am toten Mammon, in dessen Innerem die Hölle tobt. Benjamin versucht, diesen vom Kapitalismus getragenen Glauben an Fortschritt und Entwicklung als Kehrseite der Moderne zu entlarven. Sein Versuch gipfelt in dem

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Satz: »Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos« (Benjamin, X 11a., K6, vgl. S1,4 und 1,5). Die Moderne hat demnach ein Bild vom Menschen gezeitigt, das durch ein Ineinander von Mythos und Progression geprägt ist. Die europäische Moderne – hier tritt ihr allegorisches Wesen zutage – überblendet den Mythos und legt sich wie eine Holzlasur über alles Archaische. Sie ist eine Art Palimpsest der Geschichte, in welchem sich die Schichten gegenseitig durchdringen. Benjamin aber bleibt nicht bei Marx stehen. Denn dem Marxismus stellt er die Theologie zur Seite. Nur im Verbund der beiden, so Benjamin, sei es möglich, die Welt aus dem Traume über sich selbst zu erwecken. In den geschichtsphilosophischen Thesen präsentiert er die Theologie als den Zwerg an der Seite des Histomat. Dieser Zwerg, dessen Tod im 19. Jahrhundert bereits proklamiert worden war und den Benjamin revitalisiert, ist für ihn Garant eines wirklichen Umsturzes der herrschenden Verhältnisse – könne die Geschichte doch nicht atheologisch begriffen werden. Denn nur weil Gott im 19. Jahrhundert für tot erklärt worden war, schien es überhaupt möglich, dass Europa auf eine von Benjamin so apostrophierte »Zeit der Hölle« zusteuerte: »Das Moderne, die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diesem Gebiete gibt. Es handelt sich (…) darum, daß das Gesicht der Welt (…) gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert (…) Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle und die Neuerungslust des Sadisten. Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen dies »Moderne« sich ausprägt, heißt die Hölle darstellen.« (Benjamin, Go, 17)

Sein dringendstes Anliegen war es, diese Zeit zu beenden. Doch wie und mit Hilfe welcher theoretischen Mittel? Schon die Mitte der 1920er Jahre entstandene, seiner Liebe Asja Lacis gewidmete und 1928 erschienene »Einbahnstraße« (WuN 8) führte die Bemerkung mit sich, alle entscheidenden Schläge müssten mit der linken Hand, das heißt marxistisch, geführt werden. Nun, in den Thesen, stellte Benjamin seiner Maxime, die Geschichte gegen den Strich bürsten zu wollen, die jüdische Mystik beiseite, die letzten Endes die Last der Legitimation trägt. Vorbereitet hatte er diese theoretische Grundlage schon in seinen Reflexionen zur Aufgabe des Übersetzers sowie in dem von Adorno sogenannten Theologischpolitischen Fragment der frühen 1920er Jahre (Benjamin 1992, S. 132–133; Weigel 2008; Steinweg 2020). Sichtlich beeinflusst von Franz Rosenzweigs Schrift Der Stern der Erlösung (1996), die 1921 erschien, heißt es in dem Fragment, erst der Messias vollende alles historische Geschehen, wie er zudem die Beziehung des historischen Geschehens zur Erlösung selbst initiiere. Die Geschichte, so Benjamin gegen den universalhistorischen Anspruch, sei keineswegs in der Lage, sich auf den Messias zu beziehen, weil sie endlich und Teil der Naturgeschichte des Menschen sei. Eine Beziehung kann allein der Messias stiften. Erlösung und Vollendung innerhalb der Geschichte sind aus diesem Grunde zu denken un-

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möglich. Somit fällt auch die paulinische Erwartung auf die Ankunft des Messias weg, und das Reich Gottes ist nicht länger Telos historischer Dynamik, bricht doch der Messias die Geschichte ein für alle Male ab (Kaulen 2000, S. 619–664).

4.

Zur Allegorie des Engels

Benjamin geht es also bereits in dem zweiseitigen Fragment vor der Folie der Marxschen Philosophie in erster Linie um die Mobilmachung des Glaubens in einer profanen Welt: »Mein Denken«, schreibt er, »verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben« (N7a, S. 7). Es geht ihm um die Rettung dessen, was anders für immer verloren wäre; um eine Kritik an der permanenten Katastrophe, an der Verstümmelung und Deprivation des Lebens. Diese Bergung des Vergessenen kann nur gelingen, wenn der Kritiker das gleichgültig dahinfließende Kontinuum der Zeit aufsprengt und in Bildern und Fragmenten aufscheinende Wahrheiten gegen eine falsche Totalität verteidigt (paraphrasiert nach Palm 2018). Das Bild vom »Engel der Geschichte« aus den geschichtsphilosophischen Thesen bringt ein solches Geschichtsverständnis plastisch zum Ausdruck. In der bekannten neunten These heißt es: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (Benjamin, WuN, Bd. 19, IX)

Nach Aussagen des Talmuds werden die Engel von Gott geschaffen. Vor ihm singen sie ihren Hymnus und vergehen anschließend im Nichts. Der Engel ist aber auch Bote. Im Judentum besitzt ein jeder Mensch einen persönlichen Engel, der das geheime Selbst symbolisiert (Scholem 1972). Walter Benjamin verbannt diesen Engel nun in ein Bild, in dem es diesem unmöglich wird, seinen Hymnus abzusingen und zu vergehen. Der Blick des Engels kann deshalb nicht loslassen von dem, was war. Damit jedoch bleibt auch seine angelische Mission letzten Endes unerfüllt.

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Auf der anderen Seite eröffnet die Situation des Engels auch neue Perspektiven auf die Geschichte als Katastrophengeschichte (N9a, 1). Denn für Benjamin hat der Begriff des Fortschritts sein Fundament in der Katastrophe. Diese abzuwenden muss der Engel scheitern. So gilt der Fortschritt schlussendlich als Ursache des angelischen Scheiterns: Der Engel versagt an der Aufgabe, dem Trümmerberg, den Moderne und Fortschritt mit sich bringen, Einhalt zu gebieten. Er kann die Flügel nicht mehr schließen, weil eine solche Tat die Ankunft des Messias erfordern würde (vgl. Gagnebin 2006, S. 284–300; Voigt et al. 2019). Der Engel dient Benjamin als Allegorie der Kritik an der Idee von Kontinuität, Kausalität und Fortschritt in der Geschichte, insbesondere im Prozess der Moderne. Durch ihn verweist er auf die Krise, die Brüche und Risse dieser Moderne. Das Bild einer homogen verlaufenden Entwicklung sowie die Idee einer geschichtsimmanenten Vernunft werden mit Hilfe dieser allegorischen Darstellung dekonstruiert. Denn es genügt nun nicht mehr, die Masse der Fakten zu rekonstruieren. Im Gegenteil: Sie bilden nur noch die Last der ersten Schale auf der Waage der Geschichte. Die andere Schale birgt die Erkenntnis der Gegenwart: »Während auf der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und nicht zahlreich genug versammelt sein können, dürfen auf der zweiten nur einige wenige schwere, massive Gewichte liegen.« (Benjamin, N6, 5).

Es reicht deshalb auch nicht hin, sich bloß in die Sieger einzufühlen. Die Geschichte der Besiegten muss einer anderen Logik folgen als alle traditionelle Historiografie. Ihr geht es nämlich um Frakturen, Leerräume und Zäsuren, um den »Abfall der Geschichte« (Vgl. N2, 6 und 7), sowie um das dialektische Spannungsverhältnis von Vergangenheit einerseits und Gegenwart/Zukunft andererseits. Die Situation des Engels der Geschichte bringt hierbei der von Benjamin hoch geschätzte Franz Kafka mit seiner Parabel »Er« sehr gut zum Ausdruck: »Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick – dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war – aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.« (Kafka 1980, S. 222).

Er, nämlich der Engel, ist der emblematische Prototyp des Entsetzens, welches mit dem neuen Geschichtsverständnis einhergeht. Die Trümmer, auf die er blickt, erhalten ihren Sinn aber erst durch unser gegenwärtiges Bewusstsein.

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Denn alle Geschichte, so Benjamin, wie in einem Brennpunkt gesammelt, ruht in der Gegenwart als eines latent vollkommenen Zustands. Benjamin spitzt insofern Johann Gustav Droysens Gedanken einer politischen Gegenwart der Geschichte weiter zu. Die weit aufgerissenen Augen des Engels bilden hierbei das Oneiroskop, dessen Brennweite auf das 19. Jahrhundert eingestellt ist. Die unbewältigte Vergangenheit prägt die unmittelbare Gegenwart. Sie birgt den Sprengstoff, der zur Entzündung gebracht werden will, soll nicht nur der Dämmerzustand vorangegangener Generationen beendet, sondern auch die Gegenwart verändert werden. Die Jetzt-Zeit, so nennt sie Benjamin in seinen Thesen, ist die Schwelle, auf der wir innehalten müssen, um nichts verloren zu geben, um die Namenlosen nicht zu vergessen, das Unsagbare auszusprechen, das Anonyme.

5.

Eingedenken

Es geht ihm mithin um die Stillstellung der Gegenwart; um das, was er in Auseinandersetzung mit Brechts Vorstellung eines »Epischen Theaters« als »Eingedenken« (Konvolut K) bezeichnet. Dessen Intention ist ein geschärftes Bewusstsein für die Krisen, in die die Subjekte der Geschichte vor allem durch den Prozess der Moderne eingetreten sind. Eingedenken hebt in diesem Sinne ab auf eine die Gegenwart transformierende, sozialkritische Erinnerung: »Dieses Theater ist auf ganz andere Art mit dem Zeitverlaufe im Bund als das tragische. Weil die Spannung weniger dem Ausgang gilt als den Begebenheiten im einzelnen, kann es die weitesten Zeiträume überspannen.« (Benjamin 1988, S. 345)

Und so wird der Vergangenheit sich zugewandt, um ihr ein Mahl zu rüsten und die Gegenwart zu befreien. Im Eingedenken verschmelzen, wie Giorgio Agamben (2003) zu Recht feststellt, das paulinische ho nyn kairos mit der Apokatastasis pantou, der Wiederherstellung aller Dinge am Ende der Zeiten, die Clemens von Alexandrien und Origines als Erste durchbuchstabiert haben. Das heißt nichts anderes, als dass mit Hilfe der Technik des Eingedenkens die Jetzt-Zeit herangeführt wird an die Wiederversöhnung des Menschen mit Gott. So ist die Idee der Apokatastasis zielführend bei dem Versuch Benjamins, die Überlieferung dem Konformismus abzugewinnen. Denn gerade der Konformismus steht für Benjamin im Begriff, die Überlieferung zu überwältigen. Er spricht in diesem Zusammenhang von dem unwiederbringlichen Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu schwinden drohe. Daraus ergibt sich für ihn die Forderung, die Siege der Herrschenden infrage zu stellen: »Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den fixen Punkt das ›Gewesene‹ und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll dieses Verhältnis umgekehrt, und das Ge-

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wesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewusstseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustellen ist Sache der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exemplarische Fall des Erinnerns: der Fall, in welchem es uns glückt, des Nächsten, Banalsten, Naheliegendsten uns zu erinnern. (…) Es gibt Noch-nicht-bewusstes-Wissen vom Gewesenen, dessen Förderung die Struktur des Erwachens hat.« (Benjamin, K1, S. 2)

Die Forderung, den Dämmerzustand der Erkenntnis zu überwinden und tiefer einzudringen in die Geschichte des Menschen, um ihn auf diese Weise wiederzuentdecken, ist auf wissenschaftstheoretischer Ebene gegen den Historismus des 19. Jahrhunderts und seine wirkungsmächtigen deutschen Vertreter gerichtet. Denn Empathie mit den Siegern bedeute Einwilligung in die herrschenden Zustände, die ihre Beute als Triumphzug mit sich führen. Jene Beute ist nichts anderes als die europäische Kultur, welche nicht ohne Grauen bedacht werden könne, seien die Dokumente der Kultur doch auch immer, so Benjamin: Dokumente der Barbarei. Und so lehre die Tradition der Unterdrückten, dass der Ausnahmezustand die Regel ist. Es sei nun – so Benjamin im Anschluss an die Schule der Annales, insbesondere Marc Blochs »regressive Methode« (vgl. Burke 2004, S. 19–42), die vorsieht, die Geschichte rückwärts zu lesen – es sei die Aufgabe historischer Arbeiten, zu einem Begriff der Geschichte zu kommen, der diesem Zustand gerecht werde. Ob dies nun durch eine namenlose Geschichtsschreibung zu erreichen sein mag, oder ob es gilt, den Namenlosen zu ihrem Recht zu verhelfen – beide Forderungen grenzen sich radikal von jeder historischen Gepflogenheit jener Zeit ab und fragen, wie zuletzt Pierre Nora mit seinem Konzept der Erinnerungsorte (2005), welchen Gebrauch die Gegenwart denn eigentlich von der Geschichte macht.

6.

Die Dialektik durchwühlt die Dinge

Walter Benjamin selbst trug seine Kritik mehr oder weniger als Pauschalangriff gegen eine Denkrichtung vor, die in dieser Einheitlichkeit nie existiert, und von Herder bis Droysen nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch äußerst heterogene Charaktere herausgebildet hat. Er nutzte diesen Generalangriff in erster Linie, um seine Forderung zu stützen, es gelte, aus dem höllischen 19. Jahrhundert, das viele seiner Zeitgenossen für modern hielten, aufzuwachen. Diese Moderne, und mit ihr der Historismus, blieben letztlich Traumformen, Projektionen auf Immergleiches, Uraltes, Archaisches und Mythisches. Darin sah Benjamin die »Urgeschichte der Moderne« aufscheinen. Sie sei aber nichts anderes als das phantasieloseste, wenn auch faszinierendste Zeitalter bis dato gewesen. Diesem Zeitalter stellte er in seiner eigenen Philosophie ein kommendes

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Erwachen gegenüber, das »wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traums« (K1, S. 2) stehe. Benjamin nutzte solche Metaphern als Denkbilder; als eine Verknüpfung sprachlicher und bildlicher Ausdrucksform vergangenen und vergegenwärtigten Denkens; ein Denk-Prozess, der in sich nicht abschließbar ist und für den er häufig den Begriff »dialektisches Bild« (Hillach 2000) heranzog, ohne seine Vorliebe für bildliches Denken explizit, geschweige denn erkenntnistheoretisch zu erörtern. Am ehesten wird sein Bild-Konzept an einer Stelle der Passagenarbeit deutlich, in der er davon spricht, im dialektischen Bild »steckt die Zeit. Sie steckt schon bei Hegel in der Dialektik. Diese Hegelsche Dialektik kennt aber die Zeit nur als eigentlich historische, wenn nicht psychologische, Denkzeit. Das Zeitdifferential, in dem allein das dialektische Bild wirklich ist, ist ihm noch nicht bekannt. Versuch, es an der Mode aufzuzeigen. Die reale Zeit geht in das dialektische Bild nicht in natürlicher Größe – geschweige denn psychologisch – sondern in ihrer kleinsten Gestalt ein« (I Qo, 21). Noch deutlicher wird dies an einer anderen Stelle der Passagenarbeit, in der Benjamin schreibt: »Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung.« (Benjamin, N10a, 3)

Das dialektische Bild ist ein Paradoxon der Erkenntnis. Denn Bildlichkeit setzt Abgeschlossenheit und Materialität voraus; Dialektik ist ein kommunikativer Prozess, der grundsätzlich unabgeschlossen bleiben muss, wenn er anders nicht zur Doktrin werden will (Hillach 2000) . Benjamin geht es im Oxymoron des dialektischen Bildes um, wie Ansgar Hillach zu Recht betont hat, die »Umgestaltung der phantasmagorischen Welt zur menschlichen Wirklichkeit, deren initiativer Ort die Jetztzeit, der Akt der Bewußtwerdung sein muß … Ganz offenbar sucht Benjamin das Problem historischer Differenz im Gegenwärtigen … mit der Ereignisstruktur der Wahrnehmung zu verklammern. Wirklichkeit, die Wirklichkeit der dialektischen Geschichts- als Gegenwartserkenntnis, findet Benjamin … in der kleinsten, blitzhaft erhellenden Zeitdifferenz des Jetzt von dem Jetzt, das aufscheint in einem Zitat oder Zeugnis der Vergangenheit.« (Hillach 2000, S. 188–189)

Die Dialektik durchwühle die Dinge und revolutioniere sie, schreibt Benjamin in den Passagen; sie wälze das Oberste zu unterst und stürze alles um. Die neu gewonnene Aktualität des Geschichtlichen führt zu neuen Entscheidungskompetenzen, und das dialektische Bild wird in diesem Sinne zum Gerichtshof der Geschichte, der das Verlorengegangene erinnert und sich dadurch gegen die Siege alles Bestehenden wendet. Jürgen Habermas (1972) ist insofern zuzustimmen, wenn er behauptet, es gehe Benjamin über das bloße Auffinden dialektischer Bilder hinaus darum, diese sogleich zu dechiffrieren und die zerstörerische Repetition durch Rekurs auf Ursprünglichkeit zu unterbinden, um

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letztlich die herrschende Geschichtsschreibung zu dekonstruieren und das Denken (über die Vergangenheit) zum Stillstand zu bringen.

7.

Erfinder einer besseren Zukunft

Mit diesem geschichtstheoretischen Unterfangen stellte sich Benjamin sowohl gegen den Determinismus der historistischen Fortschrittsideologie als auch gegen das Ideal des scheinbar interesselosen Charakters des Historikers. Er wollte sowohl die Beziehung der historischen Subjekte zu ihrer Gegenwart neu denken als auch die Beziehung der gegenwärtigen Subjekte in Bezug auf ihre Geschichte. Dieses dialektische Geschichtsverständnis nahm zwar auf der einen Seite erneut die hegelsche Philosophie in sich auf, verwarf sie aber dort, wo es dem Historismus bloß um Vergegenwärtigung ging, das heißt um den Beutezug des Historikers, der die Geschichte als kanonisiertes Inventar des Menschen allenthalben zur Schau stellt. Siegfried Kracauer hat dies Ende der 1960er Jahre in Anlehnung an seinen Freund als Versuch gedeutet, das Selbstverständnis des Historikers als bloßem, positivistisch vereinnahmten »Aufzeichnungsinstrument« (Kracauer 2009), das eine Masse aus Daten und Fakten passiv und leidenschaftslos schlicht registriere, zu diskreditieren. Gegen Historismus und Positivismus erklärte Benjamin den Historiker zum Richter über die Vergangenheit einer Menschheit, die sich nicht, wie noch bei Hegel, von der Geschichte richten lässt. Auch gegenüber der Einfühlung in vergangene Epochen inklusive ihrer kritiklosen Bestätigung sowie die nicht weiter hinterfragte Fortschreibung der Geschichte richtete sich Benjamins Ansatz. Nicht Handlanger der herrschenden Verhältnisse, sondern Erfinder einer besseren Zukunft und Erneuerer politisch sinngeronnener Zustände soll der Historiker in den Augen Benjamins sein. Insofern sind die Thesen, in schwierigsten persönlichen und gesellschaftlichen Zeiten verfasst, nicht zuletzt die Skizze einer politischen Theorie, deren ethisches Implikat lautet, die Namenlosen als herausragende Geschichtssubjekte nicht der Vergessenheit preiszugeben. Wer hingegen nur Fakten rekonstruiere, erkläre sein Einverständnis mit dem historischen Verlauf. Bei Benjamin ist die Auflehnung gegen dieses Einverständnis im Zuge seiner »Penelopearbeit des Eingedenkens« (Lemke 2005) überall zu spüren: In seinen Schriften setzt er zum Sprung an, sprengt traditionalistische Geschichtsbilder und ist mit aller Kraft bemüht, den Weg zum vergessenen Denken wieder frei zu legen. So regte sich in ihm gegen Droysens Idee, Denkmäler als historische Quellen zu betrachten, Widerwille. Denn es ging ihm vielmehr um die Risse in diesen Denkmälern, um die Läsionen der Welt, um die unsicheren Orte, um das Unabgeschlossene, das die Institutionen der Macht nicht verbürgen

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können. Es sind das Barockmotiv des Verfalls wie auch die messianische Wiederherstellung des Zerstörten, die Benjamin hierbei fokussierte und sie gegen die Schule des Historismus als Trumpf im Ärmel des Historikers ausspielte (vgl. Nitsche/Werner 2019).

8.

Was bei Benjamin von Droysen übrigbleibt

Benjamins Angriff zielte in erster Linie auf Leopold von Ranke und seinen Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl, Heinrich von Treitschke. Von Johann Gustav Droysen war er, wie ich abschließend ausführen möchte, zumindest in einigen Punkten seiner Überlegungen nicht allzu weit entfernt. So ging Droysen in seiner »Historik« (2008) zunächst von einem steten Werden allen Seins aus. Die Geschichte ist bei Droysen Bedingung dessen, was ist, und die gegenwärtige Welt führt alles Vorangegangene fort und weist zugleich auf Folgendes hin. So wird die Vergangenheit zum Indize der Zukunft. Droysen legte dem Menschheitsprozess hierbei ein Kontinuitätsprinzip zugrunde: Das, was ist, ergänzt alles Gewesene durch neuere Entwicklung. Hieraus ergibt sich eine unendliche Folge historischer Abläufe, die sich in der Gegenwart als rastloses Nebeneinander präsentiert. Geschichte ist dementsprechend die Gesamtheit der Erscheinungen des Werdens. Mit Hegel unterstellte er der Geschichte ein stetes Streben nach Vollkommenheit. Geschichte war ihm in erster Linie Bewegung der sittlichen Welt zur Absolutheit. Die sittliche Welt ist die Welt des Menschen, ein endloses Durcheinander von Zuständen, Interessen und Konflikten inklusive aller technischen, religiösen, politischen, sozialen und rechtlichen Gesichtspunkte. Der sittliche Kosmos, diese von Menschen gemachte Welt ist das Material, aus dem Geschichte gemacht wird. Das Wesen dieser Welt ist geprägt durch den Willen und das Wollen der verschiedenen Epochen, die es zu verstehen gilt, will Geschichtsschreibung dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügen. Hierbei ging es Droysen nicht darum, die Vergangenheit wiederherzustellen, sondern vielmehr darum, gegenwärtige Vorstellungen über sie zu begründen, zu erweitern und gegebenenfalls zu korrigieren, sprich: Welt zu bilden. Doch nur all jene Dinge, die von der Vergangenheit im Hier und Jetzt noch empirisch fassbar sind, können eine Antwort auf die Frage nach dem, was war, geben. Geschichtsschreibung ist somit empirische Wissenschaft, deren Material das ist, was noch »unvergangen« genannt werden darf. So sollte das historische Wissen auf sichere empirische Grundlagen gestellt und von Spekulationen und Mutmaßungen unabhängig gemacht werden. Der Historismus verabschiedete insofern die »Kunstlehre des Schreibens« zugunsten einer »Methodenlehre des Erkennens« (Jäger/Rüsen 1992; vgl. Babe-

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rowski 2005, Kap. 3), in der größtmögliche Unparteilichkeit ein regulatives Ideal historischer Forschung markiert. Droysen ging es aber auch um die Wirkungen und Entwicklungen der analysierten Ereignisse, denn die Bedeutsamkeit der Dinge sei erst durch ihre Folgen und Einflüsse wirklich verstehbar. Einen absoluten Anfang zu finden, an dem es in Bezug auf ein bestimmtes Thema anzusetzen gelte, gibt es jedoch ebenso wenig wie ein absolutes Ende der Geschichte. Zumindest hat die Geschichtswissenschaft als empirische Forschung keine Möglichkeiten, zu einem originären Punkt durchzudringen. So bleiben allerdings notgedrungen blinde Flecken in allen Vorstellungen über die Vergangenheit bestehen. Diese Vorstellungen sind niemals absolut kongruent mit den Inhalten, den die Dinge einst hatten, als sie noch nicht Geschichte, sondern tatsächlich lebendige Gegenwart waren. Droysen suchte dementsprechend nach relativen Anfängen, das heißt als Historiker setzte und konstruierte er, ähnlich wie bei Benjamins »Tigersprung ins Vergangene«, den Beginn einer historischen Erzählung ohne auf einen wahren Ursprung stoßen zu können. Als Historiker interpretierte Droysen von dort ausgehend die historischen Materialien, die ihm zur Verfügung standen, die historischen Bedingungen, unter denen das Ereignis stattfand, den Willen und das Wollen der in das Ereignis involvierten Protagonisten sowie die Ideen, die ihrem Handeln zugrunde lagen. Schließlich fragte Droysen nach dem Einfluss des historischen Materials auf die Gegenwart als Summe der Geschichte. Die Fülle des historischen Materials diente also letztlich der Aufklärung der Gegenwart, die wiederum den Blick auf das Material bestimmte. Droysens Blick richtete sich hierbei nicht allein auf das Tun und Leiden bestimmter Personen, sondern er war bemüht, die Motive vieler Einzelner zu analysieren und zu beurteilen. Denn es sei seine Aufgabe, die sittliche Welt in Bewegung zu erforschen. Und Veränderungen dieser Welt vollzögen sich nun einmal durch Willensakte, die es zu bestimmen gelte. Jedoch rechnete der Historismus in der Lesart Droysens jenseits einer bloßen Fortschrittsgläubigkeit mit einer Lücke im Prozess historischen Verstehens. Droysens historisch-anthropologischer Zusatz hob deshalb hervor, der Mensch werde erst Mensch durch sein Bemühen, den anderen zu verstehen sowie durch das Verstandenwerden durch andere. Im Menschen spiegele sich – eine typische Überzeugung für das 19. Jahrhundert – die ganze Menschheit, die der Einzelne durch sein Leben fortschreibe: epidosis eis auto, Zuwachs ins Selbe nannte er dies, und konstatierte mit Aristoteles und Augustinus, jeder Mensch sei insofern sowohl ein Neuanfang als auch die Summe der bisherigen Geschichte.

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9.

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Das Menschenbild Droysens war Benjamin nicht ganz fremd. Auch er sah in der Vergangenheit nicht etwas ein für alle Mal Gegebenes, sondern vielmehr etwas Unvollkommenes, eine nicht verwirklichte Utopie, eine Vision, die er mit Kafka und Bloch als historische Kategorie des Prinzips Hoffnung fasste, eine Hoffnung, die als Funke vergraben der Geschichte immanent sei. Es gelte, so Benjamin, sie inmitten der Gegenwart wie Zitate im Text zu entzünden. »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben« (Benjamin 1977, S. 135), heißt es in Goethes Wahlverwandtschaften. Sein historisch-visionärer Ansatz, der den Sturm der Geschichte zwecks Wiederentdeckung des Menschen ein letztes Mal aufzusprengen sich mühte, ist immer auch Kritik an den sozialen Umständen der Zeit und ein bewegendes Zeugnis jüdischer Geschichtsbetrachtung, wie sie in der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit auf eine Zukunft hin selbst die jüdische synagogale Predigt bestimmte (vgl. Habermas 1977). Und so bleibt Benjamin gerade deshalb bis heute hochaktuell, weil die Felder der Geschichte noch immer voller Steine liegen, die es beiseite zu räumen und Geschichte so als Vision zu begreifen gilt.

Appendix Der Gedenkstein im spanischen Portbou ist von Kieselsteinen umsäumt, einige von ihnen sind – einer alten jüdischen Tradition folgend – an der Oberkante des Steins und dem dahinter liegenden Felsbrocken zu kleinen Haufen aufgetürmt. Unter der Gravur mit dem Namen »Walter Benjamin« findet sich ein Zitat aus der siebten These über den Begriff der Geschichte. Zwei Fehler haben sich in den Satz eingeschlichen. Dass ausgerechnet das Wort »Barbarei« falsch geschrieben wurde, gibt dem Andenken einen bitteren Beigeschmack. Eine spanische Übersetzung schließt die Erinnerung an den Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin ab. In Portbou nahm er sich, 48 Jahre alt, auf der Flucht vor den Nazis am 26. September 1940 das Leben. Für die 12 Kilometer Fußweg von Banyuls-sur-Mer in Frankreich nach Portbou über die Pyrenäen gibt Google Maps knapp drei Stunden an. Heute gibt es dort einen Walter-Benjamin-Pfad, den man beschreiten kann und der den Wanderer vergessen lässt, dass der herzkranke Kritiker sich diesen Weg mit seinen Gefährten zu großen Teilen durch Gestrüpp und Geröll erst erarbeiten musste. Wer von Banyuls-sur-Mer mit dem Auto die Küste entlang über die Berge fährt, passiert nach etwa einer halben Stunde die französisch-spanische Grenze auf einem Hochplateau mit niedergerissenen Schlagbäumen und einem herun-

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tergekommenen Grenzhäuschen voller Graffiti, ein recht trostloser Anblick. Was dann folgt, gleicht einer Zeitreise in die Vergangenheit. In Spanien werden die Straßen schmaler, steiler, kurvenreicher, wilder. In der Hoffnung, dass nun kein Auto mehr aus entgegengesetzter Richtung kommt, erreicht man nach ein paar Minuten Portbou und ist erstaunt, wie unaufgeregt es hier zugeht. In dieses gewiss nicht ganz leicht zu erreichende Örtchen verlieren sich nicht allzu viele Touristen. In der Bucht lädt ein größeres Café zum Verweilen ein. Die mobile Imbissbude am Strand versorgt eine Handvoll Menschen mit Snacks. Nichts gleicht hier den beinahe schon mondän anmutenden Badeorten, die nur wenige Kilometer entfernt an der französischen Küste Menschen aus ganz Europa anlocken. Die Gedenkstätte für Benjamin muss man suchen. Die Hinweisschilder sind so winzig wie seine Handschrift. Von einem Schotterparkplatz aus geht es zur Steilküste hinauf. Hier oben herrscht beinahe gespenstische Stille. Eine leichte Brise, ein paar Vögel, das Meer, vom Passagen-Denkmal aus betrachtet, die Frühjahrssonne am Ende einer Welt, die sonst nirgends so friedlich scheint. Unter dem Namen »Benjamin Walter« ist er zunächst katholisch begraben worden, ehe man sich bewusst wurde, wer der Tote tatsächlich ist. Über den kleinen jüdischen Friedhof gehend erreicht man heute, in einer unscheinbaren Ecke gelegen, den schmucklosen Gedenkstein. Ich bin ganz allein hier oben. Die wohltuende Stille und der traumhafte Blick über das Meer sind unbeschreiblich. Man kann gar nicht anders, als unmittelbar das Zwiegespräch mit Walter Benjamin zu suchen.

Literatur Agamben, Giorgio (2003): Die kommende Gemeinschaft. Berlin. Baberowski, Jörg (2005): Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München. Benjamin, Walter (1977): Erfahrung und Armut. Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, herausgegeben von Theodor W. Adorno. Frankfurt am Main. Benjamin, Walter (1982): Das Passagen-Werk (=Gesammelte Schriften. Band V.I und V.II). Frankfurt am Main. Benjamin, Walter (1988): Was ist das epische Theater? In: Benjamin, Walter (Hrsg.), Ausgewählte Schriften 2. Angelus Novus. Frankfurt am Main, S. 344–351. Benjamin, Walter (1992): Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Stuttgart. Benjamin, Walter (2000): Gesammelte Briefe, herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lönitz. Frankfurt am Main. Benjamin, Walter (2009): Einbahnstraße. Werke und Nachlaß (WuN), Band 8, herausgegeben von Detlev Schöttker. Frankfurt am Main.

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Benjamin, Walter (2010): Der Begriff der Geschichte. Werke und Nachlaß (WuN). Kritische Gesamtausgabe Band 19, herausgegeben von Gerard Raulet. Frankfurt am Main. Burke, Peter (2004): Die Geschichte der »Annales«. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung. Berlin. Droysen, Johann Gustav (2008): Historik. Historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von Peter Leyh und Horst W. Blanke. Stuttgart-Bad Cannstatt. Eiland, Howard/Jennings, Michael W. (2016): Walter Benjamin – A Critical Life. Cambridge, MA. Febvre, Lucien (1988): Das Gewissen des Historikers. Berlin. Gagnebin, Jeanne Marie (2006): Über den Begriff der Geschichte. In: Lindner, Burckhart (Hrsg.), Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar, S. 284–300. Habermas, Jürgen (1972): Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins. In: Unseld, Siegfried (Hrsg.), Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt am Main, S. 173–224. Hillach, Ansgar (2000): Dialektisches Bild. In: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hrsg.), Benjamins Begriffe. Frankfurt am Main, S. 186–229. Jäger, Friedrich/Rüsen, Jörn (1992): Geschichte des Historismus. München. Jäger, Lorenz (2017): Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten. Berlin. Kafka, Franz (1980): Er. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920. In: Kafka, Franz, Sämtliche Erzählungen. Hamburg 1980, S. 216–222. Kaulen, Heinrich (2000): Rettung. In: Opitz, Michael/Wizisla, Erdmut (Hrsg.), Benjamins Begriffe. Frankfurt am Main, S. 619–664. Kracauer, Siegfried (2009): Geschichte. Vor den letzten Dingen. (=Werke Band 4). Frankfurt am Main. Lemke, Anja (2005): Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«. Würzburg. Mann, Thomas (1893/2004): Vision. In: Reed, Terence J. (Hrsg.), Thomas Mann. Frühe Erzählungen 1893–1912. Frankfurt am Main, S. 11–13. Nitsche, Jessica/Werner, Nadine (Hrsg.) (2019): Entwendungen: Walter Benjamin und seine Quellen. Paderborn. Nora, Pierre (Hrsg.) (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. München. Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München. Palm, Goedart (2018): Walter Benjamin. Der Denker zwischen Saturn und Mickey Mouse. www.goedartpalm.de/walter_benjamin.htm, 05. 06. 2018 (zuletzt abgerufen am 30. 07. 2020). Palmier, Jean-Michel (2009): Walter Benjamin. Frankfurt am Main. Rosenzweig, Franz (1996): Der Stern der Erlösung. Frankfurt am Main. Scholem, Gershom (1972): Walter Benjamin und sein Engel. In: Unseld, Siegfried (Hrsg.), Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt am Main, S. 87–138. Steinweg, Marcus (2020): Benjamin. Berlin. van Reijen, Willem/van Doorn, Herman (2001): Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Frankfurt am Main. Voigt, Frank/Papadakis, Nicos Tzanakis/Loheit, Jan/Baehrens, Konstantin (Hrsg.) (2019): Material und Begriff. Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins. Hamburg.

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Weigel, Sigrid (2008): Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frankfurt am Main. Werkbund-Archiv (1990): Aktenblatt der Gestapo vom 23. 2. 1939. In: Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Theoretiker der Moderne. Ausstellungsmagazin. Berlin.

Jörg M. Wills*

Mathematik und Vision: Von Kepler über Gauß bis zur Wurstkatastrophe

1.

Einleitung

Mathematik und Vision, passt das eigentlich zusammen? Mathematik ist der Inbegriff strenger Logik: Eins und eins ist zwei, ein Punkt ist ein Punkt, ein Kreis ist ein Kreis. Wo bleibt da Platz für Kreativität, geschweige denn für Visionen? Seit dem axiomatischen Aufbau der elementaren Geometrie durch Euklid gilt Mathematik als das Vorbild für andere Wissenschaften, sich präzise und alternativlos zu positionieren. Also keine Visionen? Aber doch! Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ein Axiomensystem aufzustellen, und davor braucht es Phantasie, Kreativität und Visionen, um den Start und das Ziel festzulegen, ähnlich wie vor der Komposition einer Sinfonie oder eines (klassischen) Gemäldes eine Idee da ist. Schülerinnen und Schüler und auch Studierende merken davon nichts oder fast nichts, weil sie fertige Theorien oder Ansätze davon lernen müssen. Allenfalls im Übungsbetrieb spüren sie einen Hauch von Kreativität. Die Aufgabe der Lehre ist es, längst bekannte Inhalte zu vermitteln, die später im Beruf gebraucht werden können (oder könnten). Die Mathematik als nützliche, aber nicht unbedingt kreative Hilfswissenschaft: So stellt sie sich den meisten Studierenden der Ingenieurwissenschaften, der Architektur, der Naturwissenschaften und der Wirtschaftswissenschaften dar, und sogar bei Studierenden der Physik und der Mathematik sowie der Informatik ist es nicht viel anders. Ich will in diesem Beitrag auf das Werden, das Entstehen mathematischer Theorien eingehen, bei denen Phantasie, Kreativität und Visionen benötigt werden. Sieben Themen sind mir eingefallen, aber aus Platzgründen beschränke ich mich auf drei. Die vier anderen sollen aber wenigstens erwähnt werden: Es sind Galois’ Schöpfung der modernen Algebra, Cantors Entdeckung der Men* Univ.-Prof. em. Dr. Dr. h.c. Jörg M. Wills, Fakultät IV (Naturwissenschaftlich-Technische Fakultät), vormals Mathematik – Geometrie.

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genlehre, Gödels Kritik an den Fundamenten der Mathematik und Turings Grundlagenforschung zur Informatik, der (über-)mächtigen Tochter der Mathematik. Die drei ausgewählten Themen werden in den nächsten drei Abschnitten skizziert. Danach verlasse ich die Champions-League und komme auf die unzähligen Probleme und Vermutungen zu sprechen, bei denen Phantasie und Kreativität gefordert sind und in einigen Fällen auch Visionen. Der Beitrag schließt mit einem eher kleinen, aber schwierigen und trotzdem gut verständlichen Problem, das einen außergewöhnlichen Namen trägt.

2.

Kepler und Newton

Die folgenreichste Vision von Mathematik und Physik war wohl die Entwicklung der Himmelsmechanik und die Erkenntnis, dass es dieselbe Kraft ist, die die Planeten um die Sonne kreisen und den Apfel vom Baum zu Boden fallen lässt. Es ist dasselbe Gesetz, nach dem Satelliten um die Erde, zum Mond und zu ferneren Himmelskörpern fliegen. Kopernikus war der erste, der die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt rückte und das heliozentrische Weltbild kreierte. Galilei und Giordano Bruno folgten ihm gegen den bekanntlich erbitterten Widerstand der Kirche. Der Visionär Kepler machte die nächsten Schritte. Dabei ist bemerkenswert, dass Kepler noch an der Schwelle zur modernen Wissenschaft stand: Seine erste Version von der Sonne und den sie umkreisenden Planeten, die »Harmonici Mundi« (Abb.1), ließ die Planeten auf Kugelschalen um die fünf Platonischen Körper kreisen – eine schöne Vision in Richtung der alten Griechen und nicht nur zeitlich, sondern auch wissenschaftlich ein Rückschritt.

Abb. 1: Keplers Harmonici Mundi: Harmonisch, aber nicht korrekt (Grafik: https://www.johan neskepler.info/wp-content/uploads/harmonice_mundi.jpg, zuletzt abgerufen am 30. 07. 2020)

Mathematik und Vision

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Derselbe Johannes Kepler hatte dann ein paar Jahre später die richtige moderne Vision. Basierend auf den Beobachtungen des dänischen Astronomen Tycho Brahe fand er die nach ihm benannten drei Keplerschen Gesetze, die die wesentliche Vorstufe zu Newtons Himmelsmechanik waren. Isaac Newton, einer der größten Geister der Menschheitsgeschichte hat seinerseits nicht nur diese physikalische Theorie aufgebaut, sondern auch die zugehörige mathematische Theorie, die Analysis (oder auch Infinitesimalrechnung), gleichzeitig und unabhängig von Leibniz – eine visionäre Großtat.

Abb. 2: Johannes Kepler (Grafik: Claus Grupen)

3.

Euklid und Gauß

Wie eingangs erwähnt, hatte Euklid die elementare Geometrie axiomatisch aufgebaut: auf Axiomen und Postulaten, die als unumstößliches Fundament dienten. Und er hat darauf die gesamte Theorie errichtet. Unter diesen Axiomen war eines, das nicht ganz so selbstverständlich war wie die anderen und doch offenbar unersetzlich, das Parallelenaxiom: Zu einer Geraden und einem Punkt, der nicht auf der Geraden liegt, gibt es genau eine Gerade durch diesen Punkt, die parallel zu der ersten Geraden liegt (wir denken an zwei parallele Gleise). Offensichtlich richtig, aber nicht so einfach wie gewünscht: Schon Euklids Zeitgenossen hatten versucht, dieses Axiom zu ersetzen oder wegzulassen. Vergebens. So blieb es 2000 Jahre. Dann kam Gauß. Auch er versuchte erst, das Axiom zu vereinfachen. Dann kam ihm die visionäre Idee: Er nahm an, dass durch den Punkt nicht eine, sondern keine parallele Gerade geht. Oder sogar mehrere. Beides widerspricht total unserer Anschauung. Aber rein logisch ergab sich ein neues Gedankengebäude – die Nichteuklidische Geometrie war geboren. Es war

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so visionär und zugleich so verrückt, dass Gauß seine Ideen geheim hielt. Er wollte sich nicht lächerlich machen. Jahre später entdeckten unabhängig voneinander Janos Bolyai und Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski die Nichteuklidische Geometrie neu.

Abb. 3: Euklid (Grafik: Claus Grupen)

Da Gauß seine Ergebnisse nie publiziert hat, gab es lange Zeit zwischen Ungarn, Russland und Deutschland Diskussionen über die Urheberschaft. Dabei ist die Antwort recht einfach: Es ist eine Europäische Entdeckung. Und warum war diese visionäre Entdeckung so wichtig? Von hier führt ein direkter Weg über andere große Mathematiker (wie Bernhard Riemann) zu Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, die das Newtonsche Weltbild ergänzt und verfeinert.

4.

Kepler und Gauß

Meine dritte visionäre Geschichte beginnt wieder mit Johannes Kepler. Im Jahr 1611 schrieb er ein Büchlein mit dem Titel »Über die sechseckige Gestalt des Schnees«. Es war die Zeit, in der man sich Gedanken über den atomaren Aufbau der Materie machte, immerhin fast 400 Jahre vor der Entdeckung der Röntgenstrahlen und dem Bohrschen Atommodell. Kepler hat viele Dinge visionär vorhergesagt, darunter die dichteste regelmäßige (gitterförmige) Kugelpackung, so wie Goldatome gelagert sind. Dieses Problem hat später Gauß gelöst. Ein anderes, eng verwandtes Problem, dass keine unregelmäßige Kugelpackung dichter gepackt sein kann, die sogenannte »Keplersche Vermutung«, wurde erst 1998 durch Tom Hales bewiesen, und der lange und schwere Beweis brauchte etwa 20 Jahre, bis er durch andere Mathematiker in eine lesbare Form gebracht wurde. Die gitterförmigen Kugelpackungen aber nahmen nach Gauß

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Abb. 4: Carl Friedrich Gauß (Grafik: Claus Grupen)

richtig an Fahrt auf. In immer höheren Dimensionen fand man dichte und dichteste Kugelpackungen und reizvolle Querverbindungen zu anderen mathematischen Teildisziplinen. Darüber hinaus sind diese hochdimensionalen Kugelpackungen nützlich in der Codierungstheorie, der zeit- und kostensparenden Nachrichtenübermittlung. Dass mit abstrakter Mathematik viel Geld verdient werden kann, hat Kepler sicher nicht vorhergesehen.

5.

Hilberts 23 Probleme

Neben diesen großen Themen und Problemen gibt es in der Mathematik unzählige kleinere und kleine Probleme, zu deren Lösung Scharfsinn, Kreativität und manchmal auch visionäres Denken nötig ist. Schon die alten Griechen kannten schwierige mathematische Probleme wie die Quadratur des Kreises, die Verdopplung des Würfels und die Irrationalität von Zahlen wie der Kreiszahl Pi. In der Neuzeit, etwa ab dem 17. Jahrhundert, nahm die Zahl der offenen Probleme überhand. Unwichtige Probleme verschwanden nach einiger Zeit wieder in Archiven oder Depots oder wurden einfach wieder vergessen; ein Schicksal ähnlich dem vieler Gemälde, Bücher oder Kompositionen. Die berühmteste aller Problemsammlungen sind Hilberts 23 Probleme. David Hilbert, der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit, hatte einige seiner 23 Probleme auf dem Pariser Weltkongress 1900 vorgetragen. Fast alle von ihnen wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts gelöst, und ihre Lösungen und ihre Konsequenzen bestimmten die Mathematik des 20. Jahrhunderts mit. Zum Jahrtausendwechsel 1999 wurde nach Hilberts Vorbild eine Liste von sieben »Milleniums-Problemen« von einigen der bedeutendsten Mathematiker unserer Zeit aufgestellt. Zwei der sieben Probleme sind angewandt: Eines betrifft den Verlauf realer Wellen – ein unglaublich schwieriges Problem, über das jeder

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Abb. 5: David Hilbert (Grafik: Claus Grupen)

Strandspaziergänger schon mal sinniert hat. Ein zweites, das sogenannte P-NPProblem aus der Komplexitätstheorie, betrifft die Laufzeit von Computern, und bei seiner Lösung geht es um unglaublich viel Geld. Die anderen fünf Milleniumsprobleme sind aus der reinen Mathematik; ich versuche erst gar nicht, sie zu erklären. Unter den vielen weniger prominenten Problemen gibt es quasi einen Wettlauf um die Gunst der Forscherinnen und Forscher, die diese lösen sollen. Und ein Mittel, um Aufmerksamkeit dafür zu erregen, ist neben der Qualität des Problems ein attraktiver und zugleich passender Name. Ich habe daher abschließend ein ungelöstes Problem ausgesucht, das durch einen ungewöhnlichen, aber passenden Namen auffällt.

6.

Die Wurstkatastrophe

Es geht um die dichteste Packung von endlich vielen Kugeln im realen 3-dimensionalen und auch in höherdimensionalen Räumen (Leppmeier 1997). Dabei wird das Volumen der konvexen Hülle minimiert, die man sich als eine straffe Klarsichtfolie vorstellen kann (Abb. 6). Als Varianten kann man auch dickere Ummantelungen zulassen (Abb. 8). Aber wir bleiben vorerst bei der Klarsichtfolie: In der Ebene (Bierdeckel auf Tischplatte) ist das Problem eher konventionell und wenig aufregend. Ganz anders in höheren Dimensionen: Mitte der 1970er Jahre stellte der bedeutende ungarische Mathematiker Laszlo Fejes Tóth (1975) die Vermutung auf, dass in allen Dimensionen ab 5 und für alle Kugelanzahlen die lineare Packung optimal ist, bei der die Kugelmittelpunkte auf einer Geraden liegen. Weil diese Packung wie eine ungarische Salami aussieht, nannte Fejes Tóth dies die Wurst-Vermutung (»sausage conjecture«, Abb. 6). Dieses schwierige Problem ist inzwischen für alle Dimensionen ab 42 gelöst (Betke/Henk 1998). Für die Dimensionen 5 bis 41 ist es noch ungelöst. Dabei scheint die Dimension 5 am schwierigsten zu sein. Und die Dimensionen 3 und 4?

Mathematik und Vision

55

Abb. 6: Wurstpackung mit dünner Folie (Foto: Peter Scholl)

Man hat bewiesen (Betke/Gritzmann/Wills 1982), dass in diesen Dimensionen für kleine Kugelanzahlen die Wurstpackung optimal ist, und dann ab einer bestimmten Zahl die optimale Packung überganglos ein Kugelhaufen (ein Cluster) wird. Im realen 3-dimensionalen Raum findet dieser Wechsel bei 56 Kugeln statt (Abb. 7): ein beachtlicher Sprung von der Wurst zum Cluster, aber noch keine Katastrophe.

Abb. 7: Dichte Packung (Cluster) von 56 Kugeln (Foto: Peter Scholl)

Im 4-dimensionalen Raum liegt dieser Sprung irgendwo zwischen 300.000 und 400.000 Kugeln (den genauen Wert kennt man nicht). Dieser Sprung ist jedoch beachtlich, und so hat sich der Name »Wurstkatastrophe« (sausage catastrophe) ergeben (Freistetter 2019). Durch Änderung der Verpackungsdichte (Abb. 8) kann man in allen Dimensionen Wurstkatastrophen erzeugen; auch beliebig große Katastrophen. Dabei gilt im Wesentlichen: Je höher die Dimension, desto größer die Katastrophe. Das klingt alles recht unheimlich und bedrohlich. Aber keine Angst! Wir befinden uns nicht in der realen Welt, sondern in abstrakten Räumen. Es ist alles nur Vision.

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Jörg M. Wills

Abb. 8: Kugelpackung mit dicker Ummantelung (Foto: Peter Scholl)

Literatur Betke, Ulrich/Gritzmann, Peter/Wills, Jörg M. (1982): Slices of L. Fejes Tóth’s Sausage Conjecture. Mathematika 29 (2), S. 194–201. Betke, Ulrich/Henk, Martin (1998): Finite Packings of Spheres. Discrete Computational Geometry 19 (2), S. 197–227. Fejes Tóth, Laszlo (1975): Research Problem, Sausage Conjecture. Periodica Mathematica Hungarica 6 (2), S. 197–199. Freistetter, Florian (2019): Die Wurstkatastrophe. In: Spektrum der Wissenschaften 42 (1), S. 77. Leppmeier, Max (1997): Kugelpackungen von Kepler bis heute. Braunschweig.

Danksagung Ich danke Herrn Kollegen Prof. Dr. Claus Grupen sehr für wertvolle Hinweise und für die schöne Bebilderung des Beitrags.

Hildegard Schröteler-von Brandt*

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts – zwischen Vision und Wirklichkeit

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts verstanden sich als Gegenentwürfe und kritische Antwort auf die räumlichen und sozialen Herausforderungen der Industrialisierung. Sie waren nicht nur Ausdruck neuer räumlicher Strukturen – unter weitgehender Anerkennung der Möglichkeiten und Chancen der Industrialisierung –, sondern zugleich visionäre Wunschvorstellungen und Modelle für neue, kollektiv organisierte Lebens- und Gesellschaftsentwürfe (Kieß 1991; Eaton 2003; Nerdinger 2006). Diese oft fantastisch erscheinenden Zukunftskonzepte wurden als realisierbare Utopien entworfen, das heißt sie wurden auf ihre Verwirklichung hin durchdacht. Der Beitrag geht den zwei bedeutenden sozialutopischen Modellen von Robert Owen (1771–1858) und François Marie Charles Fourier (1772–1837) nach, die visionäre Zukunftsentwürfe und reale Experimentierfelder im frühen 19. Jahrhundert beziehungsweise Vorreiter für gemeinschaftsorientierten Wohnungs- und Städtebau wurden.

1.

Vorläufer der sozialutopischen Modelle

Die Stadt ist von alters her die geeignete Projektionsfläche für visionäre Vorstellungen. Die weltliche Ordnung der Stadt wurde schon früh als Gegenbild zum himmlischen Jerusalem konzipiert. Die Verbindung zwischen den Utopien und dem städtischen Gemeinwesen gründete sich auf die Vorstellungen von Platon vom idealen Stadtstaat in der Politeia (Krau 2006, S. 77), die durch den Rückgriff auf die antiken Schriften ab dem 13. Jahrhundert zur Grundlage für die Vorstellungen einer rationalen Gestaltung des Zusammenlebens auch in späteren Zeiten wurde. * Univ.-Prof. Dr.-Ing. Hildegard Schröteler-von Brandt, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), vormals Department Architektur, Stadtplanung und Planungsgeschichte.

58

Hildegard Schröteler-von Brandt

Es lässt sich feststellen, dass utopische Stadt- und Lebensmodelle insbesondere zu Zeiten gesellschaftlicher Transformationen mit weitreichenden politischen, sozialen oder technologischen Veränderungen entwickelt wurden und werden. Die Neuzeit ab dem 15. Jahrhundert wurde zum Ausgangspunkt besonders zahlreicher utopischer Stadt- und Gesellschaftsentwürfe. Hierbei sollen die geometrischen Formen von Quadraten, Rechtecken oder dem Kreis in nahezu allen Idealstadtentwürfen den Anspruch an eine rationale Gestaltung und Ordnung der Welt unter Anerkennung der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten widerspiegeln. Die Stadtutopien wurden sowohl zeichnerisch als auch literarisch oder in einer Kombination von beidem veröffentlicht. Die in Plänen festgehaltenen Modelle und die »Verräumlichung« der Vorstellungen bedienten sich seit der Renaissance der neuen Möglichkeiten der perspektivischen Zeichnung und damit der vorweggenommenen Darstellung der Wirklichkeit. Viele Idealstadtmodelle wurden erdacht, gezeichnet, beschrieben und blieben zumeist ein visionärer Vorgriff auf die Zukunft; nur wenige wurden tatsächlich umgesetzt (Kruft 1990). So beschrieb Thomas Morus – Lordkanzler im englischen Parlament – in seinem Buch Utopia (1516) nicht eine reale Welt, sondern er entwarf vor dem Hintergrund der Stagnation der mittelalterlichen Zunftwirtschaft und dem niedergehenden Feudalsystem ein neues Gesellschaftsbild und verknüpfte dies mit dem Entwurf eines neuen Stadtsystems auf dem Inselstaat Utopia (siehe Schwarz in diesem Band). Aufbauend auf der Analyse der zeitgemäßen Probleme der städtischen Entwicklungen beschrieb er den Aufbau der neuen Siedlungen bis ins Detail, wie zum Beispiel den Hausbau oder die Wasser- und Abwasserversorgung. Weitere bekannte utopische Entwürfe der Neuzeit sind beispielsweise Sforzinda von Antonio Averlino (1465), die Stadt des Königs von Albrecht Dürer (1527) oder die Sonnenstadt von Tommaso Campanella (1602). Viele dieser Entwürfe orientierten sich an der wachsenden Bedeutung der Landesfürsten und ihrer absolutistischen Systeme sowie an den neuen wehrtechnischen Anforderungen der Stadtbefestigungen. Utopische Entwürfe verstehen sich bis heute oft als eine Art Musterlösung, die – weltweit einsetzbar – für alle Anwendungen unabhängig vom jeweiligen lokalen Kontext nutzbar ist. An dieses breite Repertoire der Idealstadtentwürfe und literarisch gefassten Ausarbeitungen konnten die Utopisten im frühen 19. Jahrhundert anknüpfen; allerdings unter gänzlich neuen gesellschaftlichen Bedingungen.

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts

2.

59

Gesellschaftliche Transformationsprozesse im 19. Jahrhundert

Mit der französischen Revolution 1789 und den anschließenden gesellschaftlichen Veränderungswellen in Europa wurde die ökonomische, politische und soziale Basis für die sich bereits im 18. Jahrhundert zeigenden Industrialisierungstendenzen gelegt. Die feudale, absolutistische Vorherrschaft brach Stück für Stück zusammen. Mit der beginnenden Gewerbe- und Handelsfreiheit und der Durchsetzung der Privatwirtschaft erlebten die einzelnen Staaten Europas bahnbrechende Neuerungen und eine ungeheure dynamische gewerbliche Entwicklung. Die Befreiung des Grundbesitzes von den »Fesseln« des landesfürstlichen Obereigentums beschleunigte die bauliche Entwicklung und das Stadtwachstum. Die Agrarreformen und die Industrialisierung lösten in Europa zu Ende des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein Bevölkerungswachstum von bislang unbekanntem Maß aus. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die nun fast durchweg mit fossilen Brennstoffen betriebene Dampfmaschine Motor der ökonomischen Entwicklung, die nun unabhängig von natürlichen Gegebenheiten der Energieerzeugung, etwa Wasserkraft, die zunehmenden Zentralisierungsprozesse weiter begünstigte. Die Abwanderung vieler Menschen von Land in bestehende und viele sich erst neu bildende Städte, die sich zumeist zu Regionen mit bestimmten vorherrschenden Industriezweigen ausweiteten, trieb die Verstädterung und räumliche Zentralisierung noch weiter voran. Die Verstädterung, das heißt die Zunahme und Konzentration von Menschen in einem Raum, sowie die Zunahme der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen stieg rasant an. 1871 lebten circa ein Drittel der deutschen Bevölkerung in Städten und zwei Drittel in ländlichen Gemeinden. Um 1910 hatte sich dieses Verhältnis nahezu umgekehrt (Häußermann/Siebel 2004, S. 20). Großbritannien hatte diesen Schritt zur städtischen Gesellschaft, also zu einer, in der mehr als die Hälfte in Städten leben, bereits 1851 vollzogen (siehe Schwarz 2013, S. 55). Innerhalb der Städte fanden weitreichende Umschichtungen der Bevölkerung statt – die ehemals bürgerlich dominierte Stadtbevölkerung wurde zunehmend proletarischer. Die sozialen und kulturellen Umformungsprozesse veränderten die Lebenswirklichkeit aller Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner. Die Städte mussten zunehmend mehr Menschen aufnehmen, was das Konzept des »overcrowding«, der Überfüllung, entstehen ließ; die Bebauungsdichte nahm zu, Überbelegung der Wohnungen war an der Tagesordnung und an den Rändern der Stadt stieg die Zahl provisorischer Behausungen. Der billigste Wohnraum war der in unmittelbarer Nähe der Fabriken, was einer starken Durchmischung von

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Hildegard Schröteler-von Brandt

Produktionsbetrieben und Wohnungen Vorschub leistete. Die fehlende Wasserund Abwasserversorgung führte zu immer neuen Ausbrüchen von Epidemien, wie beispielsweise die Choleraepidemien. So verfügte die Stadt Paris zum Beispiel bis in die 1860er Jahre in ihrem Zentrum weder über eine Wasser- noch über eine Abwasserleitung (Schröteler-von Brandt 2014, S. 117). Während zahllose Spekulanten von der Wohnungsnot profitierten und soziale wie hygienische Probleme ignorierten – eklatante Beispiele sammelte Friedrich Engels in den 1840er Jahren bereits für sein Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) –, nahmen einige die Probleme ernst und setzten sich mit der neuen Lebenswirklichkeit und insbesondere der sozialen Ungerechtigkeit auseinander.

3.

Exkurs: Modelle von Stadtutopien

Die Utopiemodelle können nach Seng/Saage (2012, S. 9) in »herrschaftsbezogene (archistische) und […] herrschaftsfreie (anarchistische) Utopien« von Stadt und Architektur eingeteilt werden. Bei den herrschaftsbezogenen Modellen unterwerfen sich die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft einer »Herrschaft«, weil sie hier Schutz finden und entsprechender Fürsorge bedürfen. In diesen Modellansatz ist ein Staat mit einer starken und allumfassenden Gewalt vorhanden, der die Beziehung der Einzelnen in allen Einzelheiten regelt. Dieses Modell wird aus der europäischen Antike hergeleitet und bezieht sich auf die bereits erwähnten Lehre Platons in der Politeia (Seng/Saage 2012, S. 11). Bei der anarchistischen, herrschaftsfreien Utopie wird von einem kooperativen Verhältnis der Menschen untereinander und in Harmonie mit der äußeren Natur ausgegangen. So benötigt dieses utopische Gemeinwesen weniger institutionelle Zwänge oder Repressionen. Bewegt man sich entlang dieser zwei Modellvorstellungen, so sollte in der Frühen Neuzeit nach Seng/Saage (2012, S. 16) und im Rückgriff auf antike Denkstrukturen die anarchistische Utopie zum Beispiel in dem Modell von Thomas Morus (1478– 1535) Utopia ihren besonderen Ausdruck finden; ebenso von Tommaso Campanella (1568–1639) mit seinem Modell der Sonnenstadt sowie Christianopolis von Johann Valentin Andreae (1586–1619). Die anarchistischen Utopien traten nach Seng/Saage (2012) verstärkt ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf, mit einer verstärkten Tendenz zu Naturutopien, der Hinwendung zum einfachen Leben und der Propagierung ursprünglicher Architekturformen und naturnaher Materialien. So konnte beispielsweise das Ideal des »kleinen Häuschens mit Garten« von Ebenezer Howard Ende des 19. Jahrhunderts oder sogar das Modell »Ökotopia« aus den 1970er Jahren an diese frühen Naturutopien anknüpfen.

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts

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Zwischen diesen beiden Modellen gibt es einen großen Anteil an Mischmodellen. Als Mischform führen Seng/Saage zum Beispiel das später vorgestellte, von Charles Fourier entwickelte genossenschaftliche Modell und sein kollektivistisches Projekt vom Umbau der Zivilisation an. Auch Eaton (2003) greift auf eine Differenzierung der utopischen Entwürfe zurück und unterscheidet in Modelle einer gesellschaftlich re-aktiven und einer gesellschaftlich aktiven idealen Stadt. Die re-aktive Stadt wird errichtet, »um die bestehende gesellschaftliche Ordnung widerzuspiegeln« (Eaton 2003, S. 12), die aktive ideale Stadt soll eine neue Ordnung mittels ihrer architektonischen Gestalt erzeugen und damit den Raum vorgeben, aus dem erst eine neue Gesellschaftsund Lebensweise entstehen kann; Städtebau und Architektur fungieren hier als »Erzieher«. Die Vorschläge für die neuen Stadt- und Siedlungsstrukturen ab dem 19. Jahrhundert wurden vielfach als Reformansätze aufgefasst, die nicht das bestehende neue System infrage stellten, sondern einzelne Verbesserungsmaßnahmen vorschlugen, wie beispielsweise die Reformansätze des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Vorschlägen von Ebenezer Howard (1850–1928) für eine Gartenstadt, Tony Garnier (1869–1948) für eine Cité Industrielle oder Arturo Sotia y Mata (1844– 1920) für eine Bandstadt. Radikalere Utopien fußten auf der grundlegenden Kritik am Privateigentum und schlugen neue gemeinschaftliche und genossenschaftliche Organisationsformen vor.

4.

Die grundlegenden sozialutopischen Stadtmodelle von Robert Owen und Charles Fourier

Die bedeutendsten räumlichen, sozialen und politischen Utopien im Übergang zum 19. Jahrhundert entwickelten Robert Owen und Charles Fourier. Ihre Zukunftsentwürfe für die Industriestädte des neuen Zeitalters akzeptierten im Grundsatz die neue technologische Entwicklung und wollten diese für die Entfaltung einer besseren und harmonischen Gesellschaft nutzen. In ihren grundlegenden Analysen deckten sie die moralische und materielle Misere auf und wollten sie mit »denkender Vernunft« beseitigen. Ihre Vorstellung der Zivilisation war von dem Gedanken der menschlichen »Vervollkommnungsfähigkeit« (Engels 1891/1973, S. 59) geleitet. In ihren Konzepten spiegelte sich die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht so weit entwickelte industrielle Produktivität wider, sodass die Ausrichtung auf die landwirtschaftliche Produktivität einen größeren Stellenwert einnahm. Ihre räumlichen Modelle waren dennoch als urbane Lebensformen auf dem »industrialisierten Land« gedacht.

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Hildegard Schröteler-von Brandt

Die theoretischen Überlegungen der beiden Verfasser stießen wichtige Diskussionsprozesse an und fanden Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs von Politik, Philosophie und Literatur. Mit ihren Theorien werden sie auch den Frühsozialisten zugeordnet.

4.1

Das Modell von Robert Owen

Robert Owen war schon in sehr jungen Jahren als selbstständiger Unternehmer und Betreiber einer Baumwollspinnerei erfolgreich und erwarb 1800 mit anderen Teilhabern in der Nähe der schottischen Kleinstadt Old Lanark eine Baumwollspinnerei. Dort führte er tiefgreifende Veränderungen hinsichtlich der Arbeitsweisen durch, darunter die Begrenzung der Arbeitszeit in der Spinnerei auf elf Stunden, die Abschaffung der Kinderarbeit und stattdessen die Einführung von Unterricht. Die Arbeiterfamilien lebten in Wohngemeinschaften zusammen (Abb. 1). Ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts war das umfassende Bildungs- und Erziehungsprogramm. Owen sah in seiner Fabriksiedlung ein Sozialexperiment und wollte durch bessere Umwelt- und Lebensbedingungen erzieherisch auf die vermeintlich ungebildete, »verderbte« und sittenlose Arbeiterschaft einwirken (Lampugnani 2017, S. 226). Die Erziehung von Kleinkindern in Lernanstalten sah er als das wirksamste Mittel für diese Um-Bildung an. 1816 gründete er in New Lanark die »Institution for the Formation of Character« (Lampugnani 2017, S. 228). Leitmotiv von Owen war die Annahme, den menschlichen Charakter durch Pädagogik und durch die Verbesserung von Umfeld und Milieu verändern zu können. Owens Bedeutung für die Diskussion der Zeit lag nicht nur in seinem theoretischen Konzept, sondern in den zugrunde liegenden Analysen der Ursachen zur Lage der Armen und in der großen Verbreitung dieser Analysen in zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen. So prangerte er schon früh den Manchesterkapitalismus an und schlug »genossenschaftlich organisierte Gemeinschaften mit landwirtschaftlicher und manufaktureller Produktion« (Kieß 1991, S. 108) vor. Sie sollten in autonomen Gemeinwesen mit bis zu 1.200 Mitgliedern organisiert sein, gleichberechtigt zusammenleben und einen gemeinsamen Güterbesitz haben. In New Lanark hatte er bereits seine Fabrikbauten mit einem Arbeiterdorf umgeben und mit Versorgungseinrichtungen ausgestattet. In seiner Mustersiedlung mit etwa 2.500 Einwohnerinnen und Einwohnern erreichte er mit der Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituationen eine deutliche Reduzierung von Armenpflege und Wohltätigkeitsbedürfnissen wie auch die Verminderung von Alkoholismus und Gewalt (von Beyme 2012, S. 67). Die Straßen und die

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Abb. 1: New Lanark in Schottland um 1820 (Kieß 1991, S. 105)

Wohnungen waren sauber, und er sah sich in seiner erzieherischen Wirkung auf die Arbeiterschaft bestätigt. Owen ließ sich zeitweise in Nordamerika nieder und erwarb 1825 eine 8.000 ha große Fläche der Rappistengemeinde Harmony in Indiana mit circa 200 bestehenden Häusern und einigen sozialen Einrichtungen. Orientiert an seinen Idealen einer friedlichen und menschlichen Gemeinschaft sollte hier die neue Stadt New Harmony entstehen. Die sich abzeichnenden neuen Produktivkräfte wollte Owen für eine gesellschaftliche Neubildung mit der Ausrichtung auf eine »gemeinsame Wohlfahrt aller« (Engels 1891/1973) nutzen. In Vortragsreisen

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warb Owen enthusiastisch für dieses neue Arbeits- und Lebensmodell. New Harmony sollte ein Beispiel für die soziale Gleichheit, für Konsum- und Produktivgenossenschaften und für Gedanken- und Religionsfreiheit sein. Er versprach eine existenzielle Sicherheit der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder durch ein – zu Beginn von ihm finanziertes – Kreditsystem und pädagogische Experimente. New Harmony war weitgehend auf kollektive Landwirtschaft aufgebaut und, anders als bei New Lanark, weniger industriell geprägt. In der Praxis war das Modell problembehaftet. Es fehlten Kriterien für die Aufnahme der Mitglieder sowie Strukturen und Regeln für die Erprobung des neuen Arbeits- und Lebensmodells. Das Projekt New Harmony scheiterte letztlich an der sozialen Utopie des Zusammenlebens und einer mit gleichen Rechten und Pflichten versehenen Gemeinschaft. Die Idee wurde immer mehr verwässert, die Gemeinschaft zersplitterte sich zunehmend in Einzelgruppierungen und 1827 verließ Owen, finanziell ruiniert, das Projekt. Trotz seines hohen Bekanntheitsgrades, der sehr intensiven Vortragstätigkeit und der zahlreichen Veröffentlichungen stieß das Programm politisch nicht auf Widerhall. Seine Kritik an den sozialen Verhältnissen wurde in den öffentlichen Diskursen aufgenommen, doch in seinen Forderungen nach einer neuen sozialen Ordnung ging Owen für viele zu weit. Die politischen Kreise erkannten, dass es nicht um die »Einrichtung von Armenkolonien« ging, sondern um ein »neues soziales und kommunitäres Gesellschaftssystem« (Kieß 1991, S. 109). Um Zustimmung zu seinem Modell zu erhalten und die wohlhabenden Klassen für Investitionen zu gewinnen, erkannte er 1832 die soziale Schichtung der Gesellschaft an und rückte von seinem Gleichheitsmodell ab. 4.1.1 Die räumliche Vision von Owen Die erste Vision eines räumlichen Bildes ging über die Verwirklichung in New Lanark hinaus. Seine ideale Stadt war als offene Hofanlage konzipiert. An drei Seiten waren Baukörper für die Vier-Zimmer-Wohnungen der Familien und an der vierten Seite war ein Haus für separate Kinderschlafräume vorgesehen. In der Mitte des Hofes waren Einzelbauten für die Gemeinschaftseinrichtungen, wie Zentralküche und Speiseraum, platziert sowie Raum für Schulen, Turn- und Spielplätze vorhanden. Die Hofanlage wurde von den Gewerbebetrieben und von den landwirtschaftlichen Flächen sowie Bauernhöfe umgeben. Dabei handelte es sich um den idealtypischen Entwurf einer ländlichen Siedlung, die fern ab von der Großstadt Fabrik- und Landarbeit »versöhnen« sollte. Owen und seine Architekten entwickelten das Konzept für New Harmony weiter. Die Hofanlage wurde aufgegriffen (Abb. 2), bildete jedoch eine geschlossene, quadratische Anlage von 305 m Seitenlänge mit einem fast festungsartigen Aussehen und einer neogotischen Architektursprache. Die Anlage

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enthielt Zwei-Zimmer-Wohnungen sowie Schlafsäle für Kinder und unverheiratete Erwachsene. Die Dienstleistungen wie Speisesäle, Bäder, Bäckereien, Wäschereien, Büros etc. befanden sich in der Mitte der Hofanlage (Lampugnani 2017, S. 230). Hinzu kam ein sehr modernes Heizungs- und Lüftungssystem, unterirdisch angelegt. Die einzelnen Siedlungseinheiten plus Umland sollten zwischen 243 und 748 ha groß sein und aneinandergereiht werden. Die Umweltund Stadtgestaltung spielte eine zentrale Rolle bei der »Charakterbildung« der Bewohnerschaft. »Die ausgeglichene Kombination von Industrie und Landwirtschaft, die Kooperation der Gesellschaftsmitglieder, die Beschränkung auf überschaubare, in lockerem Verband assoziierte Siedlungsgemeinschaften, die Zusammenfassung in geschlossenen Gebäudekarees, das alles schien ihm jenen großen ökonomischen Überschuss zu garantieren, mit dem nicht nur die Versorgung jedes einzelnen gesichert, sondern auch noch Vorratswirtschaft und gegenseitiger Güteraustausch ermöglicht werden sollte.« (Kieß 1991, S. 115)

Abb. 2: New Harmony (Kieß 1991, S. 113)

4.1.2 Owen und die Folgen Die neue Stadt New Harmony wurde nicht realisiert, doch die Ideen von Owen blieben nicht ohne Folgen. 1842 etwa griff der für die erste Jahrhunderthälfte wohl einflussreichste Reformer der britischen Gesundheits- und Hygienebewegung Edwin Chadwick in seinem Bericht über die sanitären Verhältnisse der arbeitenden Bevölkerung in Großbritannien die Vorschläge für Häuser und kleine Etagenwohnungen sowie Gemeinschaftsräume als mögliche Lösungen der dargestellten Probleme auf (Lampugnani 2017, S. 232). Mit diesem der Regierung vorgelegten Bericht erhielten die Ideen eines Visionärs politische Tragweite. 1849 wurde von James Silk Buckingham eine gleichberechtigte Lebensgemeinschaft mit Manufaktur und landwirtschaftlichen Betrieben als eine Art

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solidarischer Produktionsgemeinschaft entwickelt, die als Modell der ständigen Konkurrenz und dem Wettbewerbsverhalten der Wirtschaft entgegengestellt werden sollte. Buckingham legte ebenfalls ein räumliches Bild einer Idealstadt vor (Abb. 3). Er knüpfte nicht an die kompakte Hofanlage von Owen an, sondern an die Idealstadttypen der Renaissance, wie das von Heinrich Schickhardt (1558– 1635) realisierte Modell von Freudenstadt oder das Modell Stadt des Königs von Albrecht Dürer. Es sollte ein neues Nebeneinander einer Fabrik- und einer Wohnstadt entstehen. Ähnlich wie bei Albrecht Dürer wurde die Stadt in einzelne funktionale und soziale Zonen eingeteilt, wobei die Stadtmitte insbesondere für die reichere Bevölkerung vorgesehen war und die ärmere Bevölkerung wie im Mittelalter am Rande angesiedelt wurde. Neue bauliche Elemente, wie die Anlage von Glaspassagen als neue öffentliche Räume, verwiesen bereits auf eine Einbettung in die aktuellen baulichen Entwicklungen, wie auf den in der Weltausstellung in London 1851 gezeigten Kristallpalast.

Abb. 3: Vogelperspektive der Siedlung Victoria von James Silk Buckingham um 1849 (Eaton 2003, S. 145)

Die Erkenntnisse von Owen flossen ebenfalls 1848 in die Veröffentlichungen von V. A. Huber zur sozialen Frage in Deutschland und die Konzeption und Umsetzung von genossenschaftlichen Organisationen ein. Viele der räumlichen Prinzipien wurden beim Bau der Arbeiterkolonien von Saltaire, Port Sunlight oder Bournville in Großbritannien sowie beim Werkswohnungsbau der Montanindustrie im Ruhrgebiet angewandt (Reinborn 1996, S. 42; Schröteler-von Brandt 2014, S. 132).

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts

4.2

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Das Modell von François Marie Charles Fourier

Das zweite bedeutende sozialutopische Projekt stammt von François Marie Charles Fourier. Bei seiner Arbeit als Handelsgehilfe in der rasant wachsenden Industriestadt Lyon sah er sich schon früh mit den Widersprüchen des aufkommenden Industriezeitalters konfrontiert, was dazu führte, dass er sich intensiv mit der Analyse der sozio-ökonomischen Verhältnisse beschäftigte. In einer ersten Veröffentlichung seiner sozialen Theorie 1808 setzte er an den verschiedenen »Leidenschaften« der Menschen an und wies den sich daraus entwickelnden Motivationen und Fähigkeiten eine zentrale Rolle zu. Diese sozialtheoretischen Grundlagen sollen hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden (siehe ausführlich bei Kieß 1991, S. 117). Interessant ist beispielweise, dass er bereits Kritik an dem Geschlechterverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft und der Stellung der Frauen übte. Seine Hauptziele waren die landwirtschaftliche Kollektivbildung und die Brechung der Handelsmonopole sowie die Abschaffung von Armut oder Arbeitslosigkeit durch eine steigende Produktivität. In seinen Produktionsgemeinschaften waren, anders als in Owens genossenschaftlichen Kommunen, die sozialen Schichten oder das Privateigentum nicht abgeschafft, sondern das Eigentum sollte gesellschaftlich eingebunden sein: »Die neue Gesellschaftsordnung sollte den Konflikt der Menschen mit der Natur einerseits und den herkömmlichen Gesetzen der Moral andererseits ein für alle Mal lösen und dabei zugleich die Produktivität derart steigern, dass schließlich alle in größtem Wohlstand leben können.« (von Beyme 2012 S. 73)

Die ökonomische Wirkung zur Erlangung seines Hauptziels, der Glückseligkeit der Bewohnerinnen und Bewohner, sah Fourier in der genossenschaftlichen Organisationsform. Auf der Grundlage der Kritik an der Bodenspekulation in den Städten, die er als Ursache für die unmenschlichen Lebensverhältnisse ansah, sollten in seiner Modellstadt eine genossenschaftliche Selbstorganisation vorherrschen und der gemeinsam erzielte Gewinn auf alle umgelegt werden. 4.2.1 Die räumliche Vision von Fourier Fourier kritisierte sowohl die Schachbrettsiedlungen der Neuzeit mit ihren kleinen Einzelhäusern als auch die Konzentration der Bevölkerung in großen Städten. In einem ersten räumlichen Modell, der Stadt des Garantismus, sollte eine kompakte Ansiedlung in radialer Form mit drei konzentrischen Bereichen entstehen: Innenstadt, Vorstädte und Fabriken (Abb. 4). Die Zonen sollten jeweils durch Hecken, Rasen- und Baumpflanzungen getrennt werden. In der Innenstadt sollten 50 % der Fläche als Freifläche gesichert werden. Die Beschränkung der überbaubaren Grundstücksfläche in den Vororten sollte noch

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größer sein. Die mehrgeschossigen »Großbauten« mit bis zu 100 Haushalten sollten der Isolation der Einzelnen entgegenwirken. Mit einer großen Anzahl von Monumenten oder besonderen Anforderungen an die Fassadengestaltung knüpfte Fourier an barocke Stadtbauprinzipien an – auch als Gegenpol zu der schematischen, eintönigen Bauweise der frühen Arbeiterwohnungen. Der Vorschlag von Fourier ging sogar so weit, »Stadtverschönerung und Stadthygiene (als ein) brauchbares Mittel (zu sehen) …, um stufenweise zu einer Vergesellschaftung und danach zur universellen Einheit zu gelangen«, forderte gar eine »Garantie des visuellen Vergnügens« (Kieß 1991, S.120) ein. Die Bedeutung von Architektur und Gestaltung nahm folglich einen großen Stellenwert ein, zumal Fourier in der Architektur eine besondere Suggestivkraft für die Umformulierung einer »neuen Gesellschaft in einer universellen Harmonie« (Lampugnani 2017, S. 237) sah.

Abb. 4: Stadt des Garantismus von Charles Fourier (Eaton 2003, S. 129)

Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte er für die Stadt des Garantismus eine besondere Form einer genossenschaftlichen Mustergemeinschaft: das Phalanstère. Diese Mustergemeinschaft sollte idealerweise 1.500 bis 1.600 Mitglieder haben. Die Überwindung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land erhoffte er durch die landwirtschaftliche und gewerblich-manufakturelle Produktionsweise zu erreichen. Ausgehend von diesen Mustersiedlungen sollten sich die Phalansterien immer weiter verbreiten. In den Grundrissen für das Phalanstère bildete er den neuen Gemeinschaftsgeist ab. Im Mittelpunkt stand ein palastartiger, sechsstöckiger Baukörper mit einer imposanten Gesamtlänge von 1.200 m Länge; umgeben von Einzelbauten für die

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Manufakturen, Ställe, Getreidespeicher, Werkstätten, Kirche und Opernhaus (Abb. 5). Im Erdgeschoss befanden sich die Gemeinschaftseinrichtungen, Bibliothek und Speisesäle. Ab dem ersten Obergeschoss waren einzelne Wohnungen mit unterschiedlichen Wohnungsgrößen angeordnet. Als kommunikationsförderndes Element gab er innenliegende Galerien zur Erschließung der einzelnen Wohnungen vor. Ikonographisch bezog sich der Palastbau auf die Schlossarchitektur; durch die innere Aufteilung sollte jedoch das neue Gemeinschaftsleben gefördert werden.

Abb. 5: Schaubild eines Phalanstère (Kieß 1991, S. 124)

4.2.2 Fourier und die Folgen Die Umsetzung der Phalanstère von Fourier scheiterte an der Finanzierung, da er selbst mittellos war und die Projekte nicht durchführen konnte. Nach seinem Tod 1837 wurden seine Ideen von verschiedenen sozialen Institutionen und von seinem Schüler Victor Prosper Considerant (1808–1893) weiter propagiert. Ähnlich wie Owen suchte Considerant 1850 nach Unterstützern in Nordamerika und in Texas; auch er scheiterte dort 1863 endgültig an der fehlenden Finanzierung. In den USA wurden dennoch 40 bis 50 an den Ideen von Fourier angelehnte Siedlungsprojekte realisiert (Kieß 1991, S. 128). Einem anderen Anhänger war mehr Glück beschert: André Jean Baptiste André Godin (1817–1888) gründete 1846 in Guise in Nordfrankreich eine Fabrik für Öfen und Küchenherde. 1859 begann er mit dem Bau eines der Fabrik zugewandten »Sozialpalastes«, welcher dem Phalanstère nachempfunden war und den er Familistère nannte. Die bauliche Dimension war geringer als bei Fouriers Phalanstère und auch die Vielfalt der Ausstattungen reduziert. So bestand der Mittelpunkt der Wohnanlage aus drei Flügeln von insgesamt einer Front von 180 m – einem Sechstel der ursprünglichen Größe des Phalanstère (Abb. 6). In dem realisierten Projekt

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wurde der Innenhof mit einer für die damalige Zeit hochmodernen Glaskuppel überdacht. Die Wohnungen wurden durch Galerien/Laubengänge erschlossen. In den Gebäudeecken befanden sich die Toiletten, die Treppenhäuser, die Wasseranschlüsse und die Müllschächte (Abb. 7). Insgesamt gab es über alle Etagen 465, additiv aneinandergereihte Wohneinheiten. Zwei kleinere Wohnungen konnten jeweils zusammengelegt werden.

Abb. 6: Familistère von André Godin (Kieß 1991, S. 126)

Das Familistère verstand sich als ein an den Ideen von Fourier nur »angelehntes« Objekt. Godin ging bei der Verwirklichung nicht von der Idealform der baulichen Gestaltung und auch nicht von der Umsetzung der komplizierten Sozialtheorie Fouriers oder dem Aufbrechen von Familienstrukturen aus. Die sozialen Einrichtungen und die Berücksichtigung der Pädagogik hingegen wurden im Familistère aufgegriffen. In der Geschäftsführung des Betriebes blieb Godin souverän. Er zeigte sich in einer Art »fürsorglicher« Fabrikherr und verfolgte eher eine »gesellschaftlich konservative … Spielart« (Lamgugnani 2017, S. 245) im Kontext der mittlerweile entstehenden Werkssiedlungen/Company Towns. Einen Teil der Arbeiterschaft beteiligte er an seinem Unternehmen und die Assoziation von Godin überdauerte noch bis 1968.

5.

Die Bedeutung der Stadtutopien von Owen und Fourier für die städtebauliche Entwicklung

Die Konzepte von Owen und Fourier prägten normative Vorgaben und Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit und Glück. Diese auf die »Glückseligkeit« der Menschen ausgerichteten Orientierungsleitlinien sollten durch eine gerechte Gesellschaftsordnung, die auch das Wohlergehen der Menschen in materieller Hinsicht im Blick haben würde, umgesetzt werden. Neben ihrer gesellschaftskritischen Haltung vertraten sie neue Denkansätze in Architektur und Städtebau jenseits der herkömmlichen Muster. Owen und Fourier sprachen der Raumgestaltung und der Architektur eine suggestive,

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Abb. 7: Grundrissausschnitt Familistère (Kieß 1991, S. 127)

verändernde Kraft zu, um die Gesellschaft in eine neue sozietäre Gesellschaftsordnung zu transformieren, und wiesen damit der Wirkung des gestalteten Raumes die Rolle eines »Erziehers« zu. Neue gemeinschaftliche Lebensformen benötigten neue Raummuster. So stellte Fourier sich beispielsweise neue Funktionsabläufe und Raumformen in seinem Phalanstère vor sowie gemeinschaftsbildende Angebote mit Bibliothek, Sporthalle, Wäschereien oder Speisesäle. Die Grundriss- und Gebäudeformen sollten gruppendynamische Belange

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der Gemeinschaft fördern, zum Beispiel durch die Anlage von Höfen und Galerien. Die visionären Wunschträume der beiden Utopisten stießen in der Wirklichkeit auf Gegenwehr. Die gesellschaftspolitische Situation zur Zeit der beiden Protagonisten und die fehlende Unterstützung durch breite politische Strömungen verhinderten die Umsetzung. In ihrem Ansinnen, die soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen, mussten beide Protagonisten als Wegbereiter einer Revolution verstanden werden. Die frühen Sozialutopien stellten jedoch zweifelsohne wichtige Experimentierfelder sowohl hinsichtlich ihrer idealtypischen Visionen als auch hinsichtlich des Erfahrungsgewinns bei den wenigen verwirklichten Projekten dar. In den politischen Debatten Ende des 19. Jahrhunderts mit den Forderungen nach Wohnungs- und Städtebaureformen wurden Teile der Ideen aufgenommen, ohne die weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen der sogenannten »Frühsozialisten« aufzugreifen. So wurde die in beiden Konzepten favorisierte gemeinschaftliche Nutzung in den Genossenschaftsprojekten des 20. Jahrhunderts fortgeführt. Um 1900 entwickelte Howard in seinem Konzept der Gartenstadt zugleich einen bodenreformerischen Ansatz und favorisierte das genossenschaftliche Prinzip der gemeinschaftlichen Bodennutzung unter Ausschaltung der Bodenspekulation. Der Boden verblieb im Besitz der Genossenschaft bei gleichzeitigem privatem Hausbesitz, ähnlich eines Erbpachtsystems. Auch mannigfaltige Projekte der Weimarer Republik versuchten, mit gemeinnützigem und genossenschaftlichem Wohnungsbau die drängende Wohnungsfrage zu lösen. Insbesondere der Wiener Gemeindewohnungsbau der 1930er Jahre und das geltende Prinzip einer sozialen Wohnungsbauförderung in Österreich erwiesen sich bis heute als leistungsfähig hinsichtlich der Bereitstellung erschwinglicher Mietwohnungen: Sie gewährleisten einerseits einen sozial gerechten Zugang zum städtischen Boden und eröffnen andererseits neue Gestaltungsmöglichkeiten wie gemeinschaftsorientierte Einrichtungen im Quartier oder neue gemeinschaftliche Wohnformen (z. B. Neue Seestadt Aspern in Wien). Die bereits von Owen und Fourier erkannte Problematik der ungezügelten Bodenpreisentwicklung wird in den wachsenden Großstädten heutzutage erneut sichtbar; sie führt zu fehlenden Angeboten an preisgünstigen Wohnungen und verstärkt zunehmend die soziale Segregation. Aktuell werden so auch in Deutschland wieder genossenschaftliche Modelle und gemeinschaftliche Baugruppenmodelle initiiert. In vielen Städten werden solche Ansätze unterstützt, um durch die gemeinschaftlichen Projekte eine preisgünstigere und sichere Wohnungsversorgung wie auch eine nachbarschaftliche Unterstützung zu gewährleisten.

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts

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Abb. 8: Gartenstadtmodell von Ebenezer Howard um 1900 (Eaton 2003, S. 149)

Die Kritik an dem ungesteuerten konzentrischen Wachstum der Industriestädte, den unhygienischen Wohnverhältnissen sowie der Verkehrs- und Umweltbelastung fand ihren Ausdruck in den Vorschlägen einer neuen räumlichen Organisation und der Urbanisierung des ländlichen Raumes. Neben dem Grundsatz der gemeinschaftsorientierten Modelle stellten Owen und Fourier notwendige Veränderungen bezüglich der zunehmenden Zentralisierung der Großstädte heraus. Ihre Konzepte konzentrierten sich auf die Ent-Dichtung des Siedlungsraumes. Das Modell des konzentrischen Stadtwachstums wurde im 19. Jahrhundert immer problematischer und im Zuge der wachsenden Verkehrsangebote durch die Bahn wurde die De-Zentralisierung auch möglich. So schlug Howard um 1900 in seinem Gartenstadtkonzept eine dezentrale Siedlungsstruktur mit bis zu 32.000 Einwohnern vor. Neben der Wohnfunktion sollten vielfältige infrastrukturelle Einrichtungen und eine gewerblich-industrielle Produktion vorhanden sein sowie durch die zugeordneten landwirtschaftlichen Produktionsflächen eine direkte Versorgung der Menschen in der Gartenstadt erfolgen (Abb. 8). In den heutigen Nachhaltigkeitsdebatten spielt die Verkürzung der Wege zwischen der Produktion und den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine zentrale Rolle – so beispielsweise in der »Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt« (BMUB 2007; Bremer 2019) sowie in den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (United Nations 2015). Nicht zuletzt

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sorgt die derzeitige Corona-Krise dafür, dass die Sensibilisierung für lokale Wirtschaftskreisläufe wächst.

Literatur BMUB (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Stadtentwicklung) (Hrsg.) (2007): LEIPZIG CHARTA zur nachhaltigen europäischen Stadt. https://www.bmi.bu nd.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/bauen/wohnen/leipzi g-charta.pdf;jsessionid=D9B95CB7473A7017DA50EA505E603CDF.1_cid373?__blob=p ublicationFile&v=2, 25-05-2007(zuletzt abgerufen am 30. 07. 2020). Bollerey, Franziska (2012): Sozialer Protest. Formal konkretisiert – utopisch verklärt. In: Nerdinger, Wilfried (Hrsg.), Manifest zur Veränderung der Gesellschaft. Berlin, S. 90– 129. Bremer, Astrid (2019): Neue urbane Quartiere – Ausdruck einer verfehlten Wachstumspolitik? In: Hoch, Gero/Schröteler-von Brandt, Hildegard/Schwarz, Angela/Stein, Volker (Hrsg.), Fehler. DIAGONAL Heft 40. Göttingen, S. 211–220. Eaton, Ruth (2003): Die ideale Stadt. Von der Antike zur Gegenwart. Berlin. Engels, Friedrich (1845): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Leipzig. Engels, Friedrich (1891): Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Nachdruck 1973. Berlin. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (2004): Stadtsoziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main. Kieß, Walter (1991): Urbanismus im Industriezeitalter. Von der klassizistischen Stadt zur Garden City. Berlin. Krau, Ingrid (2006): Utopie und Ideal – in Stadtutopie und Idealstadt. In: Nerdinger, Wilfried (Hrsg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. München, S. 75–82. Kruft, Hanno-Walter (1990): Utopie und Idealstadt. In: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.), »Klar und lichtvoll wie eine Regel« – Planstädte der Neuzeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Karlsruhe, S. 31–38. Lampugnani, Vittorio Magnago (2017): Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika. Berlin. Morus, Thomas (1516): De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia [Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia]. Löwen. Übersetzt von Hermann Kothe, 2009. Köln. Nerdinger, Wilfried (Hrsg.) (2006): Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. München. Reinborn, Dietmar (1996): Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart. Schröteler-von Brandt, Hildegard (2014): Stadtbau- und Stadtplanungsgeschichte. Eine Einführung. 2. Aufl. Wiesbaden. Schwarz, Angela (2013): Industrielle Revolution – Industrialisierung. Schwalbach/Taunus. Seng, Eva-Maria/Saage, Richard (2012): Utopie und Architektur. In: Nerdinger, Wilfried (Hrsg.), Manifest zur Veränderung der Gesellschaft. Berlin, S. 10–37.

Die sozialutopischen Stadtmodelle des 19. Jahrhunderts

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United Nations (2015): Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development. A/RES/70/1, New York. https://sustainabledevelopment.un.org/content/d ocuments/21252030%20Agenda%20for%20Sustainable%20Development%20web.pdf, 15. 10. 2015 (zuletzt abgerufen am 30. 07. 2020). von Beyme, Klaus (2012): Der Frühsozialismus und die Stadtplanung. In: Nerdinger, Wilfried (Hrsg.), Manifest zur Veränderung der Gesellschaft. Berlin, S. 64–87.

Angela Schwarz*

Traumstädte von morgen: Visionen von der Stadt der Zukunft in den USA zwischen 1880 und 1930

1.

Städtewachstum und Visionen von der Stadt der Zukunft: Die USA zwischen 1880 und 1930

Sich auszumalen, wie eine künftige ideale Welt oder einfach die Welt von morgen aussehen könnte, hat Menschen schon immer fasziniert (siehe Schröteler-von Brandt in diesem Band). Im 19. Jahrhundert erreichte diese Faszination mit der raschen Ausweitung wissenschaftlicher Kenntnisse und der Entwicklung neuer Technologien neue Dimensionen. Aus der Erfahrung der Gegenwart mit all ihren Besonderheiten ging eine intensivierte Beschäftigung mit der Zukunft hervor. Wie würden die Menschen in fünfzig, hundert oder noch mehr Jahren leben? Wie würden sie arbeiten, wie wohnen, wie ihr Gemeinwesen organisieren? Welche Neuerungen würden Wissenschaft und Technik hervorbringen, um der ihnen zugedachten oder von ihnen übernommenen Rolle eines Motors der Entwicklung gerecht zu werden? Das rapide Wachstum der Städte seit dem frühen 19. Jahrhundert, wie auch der Umstand, dass, wie der Stadthistoriker Lewis Mumford es formuliert hat, das Denken erst in der Stadt Gestalt annimmt (Mumford 1946, S. 5) und nur dort sich voll entfalten kann, haben dazu geführt, dass sich die zukünftige Lebenswelt des größten Teils der Menschheit kaum anders als urban vorstellen ließ. Bis in unsere Zeit, in der erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten lebt (seit 2008) und in der neben den Erfahrungsraum der Großstädte und Metropolen des frühen Industriezeitalters der der Megastädte des späten 20. Jahrhunderts getreten ist, hat sich an dieser Blickrichtung wenig geändert. Gewandelt hat sich hingegen das früher weit verbreitete, wenngleich nicht bei allen vorhandene Vertrauen darauf, die aktuellen Probleme würden in einer Stadt der Zukunft überwunden sein. Anonymität und Isolation, Überfüllung, soziale Probleme und Massenelend, ethnische Konflikte, Kriminalität, Umweltverschmutzung, Schat* Univ.-Prof. Dr. Angela Schwarz, Universität Siegen, Fakultät I (Philosophische Fakultät), Geschichte – Neuere und Neueste Geschichte.

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tenseiten der Agglomeration, wie sie aus Städten wie Tokio, Jakarta, New York oder Mexiko City bekannt sind, beherrschen viele der jüngeren Vorstellungen vom urbanen Lebensraum der Zukunft. Zu einem beachtlichen Teil stellen sich die heutigen Visionen weniger als hoffnungsvolle Ausblicke auf eine bessere Welt von morgen als vielmehr als Alpträume dar, die Realität geworden sind. Auf dem Weg der populären Kultur, unter anderem durch Filme, Science Fiction-Literatur, Comics, haben sie weite Verbreitung gefunden. Aus der Kategorie der Science-Fiction-Filme braucht man sich nur die beängstigende Enge überfüllter Städte ins Gedächtnis zu rufen, wie sie 1973 in Soylent Green für die kommende Dekade vorhergesagt wurde, die düstere Vision vom Moloch Los Angeles in Ridley Scotts Blade Runner (1982), das Wirrwarr der Verkehrsströme in den Hochhausschluchten in The Fifth Element (1997), die scheinbar so rationale und dennoch inhumane Lebenswelt in Gattaca (1997) oder die weitgehend zerstörte Erde in Elysium (2013), die menschenwürdiges Leben nur noch wenigen Glücklichen auf einer in eine gigantische Raumstation im All verlagerte (Garten-)Stadt erlaubt (Abb. 1). Denkt man an diese oder andere pessimistische Entwürfe, lässt sich der verschiedenen Urheberinnen und Urhebern zugeschriebene Seufzer, die Zukunft sei auch nicht mehr das, was sie einmal war, mühelos auf die Zukunft der Städte oder genauer auf die Visionen von ihr anwenden. Denn ob dunkel, lärmend, chaotisch oder geordnet, sauber, rational: Fast immer wieder erscheint der urbane Lebensraum künftiger Generationen in diesen jüngeren Vorstellungen dystopisch.

Abb. 1: Elysium (USA, 2013), Regie: Neill Blomkamp, Edition: Elysium, Sony Pictures Home Entertainment, Nr. 0373062, DVD, 2013, 00:12:38. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Firma Sony Pictures Entertainment. © 2013 MRC II Distribution Company L.P. All Rights Reserved. Courtesy of Columbia Pictures

Natürlich besteht neben dem Pessimismus nach wie vor die Hoffnung auf Lösung der Probleme, in der populären Kultur ebenso wie in den Konzepten von Stadtplanung und Architektur. Aus dem Science-Fiction-Genre drängt sich das

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Beispiel Star Trek auf, eine Art Verlängerung des Prinzips Hoffnung in eine dank zahlreicher Technologien verbesserte Zukunft. Vertrauen auf das Potenzial von Rationalität und Technik zeichnen ebenso die realitätsnäheren Projekte im gegenwärtigen Städtebau – obschon manche Entwürfe für Wolkenkratzer wie Architekturphantasien eines ungebrochenen Fortschritts- und Technikglaubens anmuten. In der öffentlichen Diskussion herrscht hingegen größere Skepsis vor. Größe, Symmetrie und Technisierung werden nicht mehr automatisch mit Fortschritt gleichgesetzt. Einige der um die Wende ins neue Jahrtausend in großer Zahl vorgebrachten Prognosen für das 21. Jahrhundert oder gleich für das gesamte 3. Jahrtausend waren und sind voller Zweifel darüber, ob sich die negativen Züge des Lebensraumes Stadt, in dem sich die meisten Probleme niederschlagen, mit denen sich die Menschheit gegenwärtig konfrontiert sieht, überhaupt lösen lassen. War das zu Beginn jener Entwicklung ähnlich, die neben der industrialisierten Großstadt und Metropole die Megalopolis hervorbrachte? Überwogen die pessimistischen Stimmen bei den visionären Entwürfen, als Millionen von Menschen erstmals in der Geschichte mit dem Phänomen der modernen Großstadt konfrontiert waren, lernen mussten, in ihr zu leben? Die Schwierigkeiten, die zur modernen Stadt gehörten, konnten Anlass genug geben, ein Lamento anzustimmen, zumal der unablässige Zustrom von Menschen in eine Stadt dort alle Faktoren der urbanen Existenz um ein Vielfaches potenzierte. Welche Vorstellungen entwickelte das späte 19. und frühe 20. Jahrhunderts davon, wie das Leben in der (Groß-)Stadt einmal aussehen könnte? Solche Fragen gewinnen nicht nur aus dem Vergleich der damaligen mit den heutigen Konzepten und Wertungen, sondern ebenso durch die Einbindung der Vorstellungen in den historischen Kontext ihren Reiz. Zeitgenössische Großstadterfahrung und die Ausgestaltung der Zukunftsentwürfe hingen eng zusammen. Im Folgenden werden einige dieser Vorstellungen beschrieben, die in den Jahren zwischen etwa 1880 und 1930 in den Vereinigten Staaten von Amerika formuliert wurden. Es lässt sich schnell erklären, warum der Blick auf die USA und auf jene fünfzig Jahre naheliegt. Die Urbanisierung verlief in den USA nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865 in einem Tempo und Ausmaß, das die früheren oder zeitlich parallelen Erfahrungen in Europa in den Schatten stellte. Die technische Seite nahm dabei eine besondere Rolle ein, zumal sie den US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern die Grundlage dafür lieferte, die Distanz zur vermeintlich korrumpierten alten Welt jenseits des Atlantiks zu erhöhen und dem nationalen Selbstbild einen wichtigen Aspekt hinzuzufügen. Die Vorliebe für innovative Technologien wurde als amerikanische Eigenheit, bestimmte Technologien und Modelle als eigenständiger kultureller Beitrag der USA zur Kultur der Menschheit verstanden (Hughes 1989; Nye 1994). Im Städtebau galt der Wolkenkratzer als ein solches amerikanisches Spezifikum.

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Das halbe Jahrhundert nach 1880 gilt allgemein als Epoche des »Aufbruchs in die Modeme« (Nitschke et al. 1990). Für die Visionen von der Stadt der Zukunft markieren die 1880er Jahre mit der Fertigstellung des ersten Hochhauses und der raschen Vervielfältigung des Modells in der Folgezeit den Anfang eines neuen Entwicklungsstadiums. Es erreichte sein Ende oder besser einen tiefen Einschnitt in den 1930er Jahren, als nach einem neuen Höhepunkt in den 1920er Jahren die Weltwirtschaftskrise die ökonomischen Mittel, den Zukunftsoptimismus und das Vertrauen auf eine segensbringende technische Entwicklung deutlich, wenngleich nur für begrenzte Zeit, schwinden ließen.

2.

Rapides Wachstum und die Folgen

1867 hatte der einflussreiche New Yorker Redakteur Horace Greeley festgestellt, es könnten nicht alle in Städten leben, doch scheine es, als seien alle entschlossen, es zu tun (Greeley 1867, S. 4). Tatsächlich setzte in den USA nach dem amerikanischen Bürgerkrieg ein ungeahntes Wachstum der Städte ein. Vor allem die Industriestädte wuchsen so rapide an, in der Fläche, in der Höhe, an Menschen, dass die Urbanisierung wohl mehr als jeder andere Umstand des nationalen Lebens die soziale und ökonomische Entwicklung der Epoche charakterisierte. Es ließ sich nicht übersehen, dass die Konzentration der Bevölkerung in Städten, wie ein Zeitgenosse stellvertretend für viele schrieb, anzusehen war als »the most remarkable social phenomenon of the present century« (Weber 1899, S. 1) war. Mit ihr stellte sich ein völlig neues Problem, das nicht nur die Städter, sondern alle Menschen im Land anging: »What shall we do with our cities? What will our great cities do with us? […] For the question involved in these two questions does not concern the city alone. The whole country is affected […] by the condition of its great cities.« (Abbott 1897, S. 40)

Eigenes Bevölkerungswachstum und noch mehr die Einwanderung aus Europa ließen die Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten von der Zeit des Bürgerkrieges bis 1920 um das Dreifache auf über 90 Millionen steigen. 1910 lebten zweimal so viele Menschen auf dem Land wie 1860, aber sieben Mal so viele in den Städten. Zehn Jahre später wurde die magische Marke von 50 % überschritten, als erstmals in den USA mehr Menschen ihr Zuhause in Städten als auf dem Land hatten. Als Stadt galt der für die Volkszählung zuständigen Bundesbehörde, dem Census Bureau, alle Städte mit mindestens 2.500 Einwohnerinnen und Einwohnern und alle noch nicht inkorporierten Regionen, also solche ohne Stadtverwaltung, in denen pro Quadratmeile mindestens 2.500 Menschen lebten. Auf dieser Definitionsgrundlage kam die Behörde zu dem Ergebnis, dass aus ehemals 392 als urban verstandenen Orten im Jahr 1860 bis 1890 1.348, bis 1920 sogar 2.722

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wurden. Noch spektakulärer fiel das Wachstum der Großstädte aus. Von gerade einmal neun Städten mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern stieg die Zahl bis 1890 auf 28 und bis 1920 sogar auf 68 an (Mohl 1985, S. 12). Der Prozess verteilte sich allerdings nicht gleichmäßig über das gesamte Land, sondern konzentrierte sich in einzelnen Regionen, am auffälligsten im Nordosten der USA, dem industriellen Kernland der Nation. 1920 befanden sich dort noch immer 16 der 25 beziehungsweise 9 der 10 größten Städte. Als Prototypen der neuen Stadt machten die beiden bevölkerungsreichsten Städte des Landes im In- und Ausland von sich reden. Die eine, New York, hatte mit ihren 3,5 Millionen Menschen im Jahr 1900 in wenigen Jahren den Aufstieg zur zweitgrößten Stadt der Welt vollzogen. Auf New Yorks Lower East Side fand sich die am dichtesten besiedelte Region der Welt (Foster 1981, S. 10). Und dennoch nahm der Zustrom neuer hoffnungsvoller Städter und mit ihm das Tempo des Wandels nicht ab. New York, so beschrieb es John Jay Chapman, verwandle sich so schnell, dass ein Mensch in seinen unterschiedlichen Lebensabschnitten jeweils eine andere Stadt vor sich habe, obschon er doch immer die gleiche Straße aufsuche (Chapman 1909, S. vi). Große Aufmerksamkeit zog auch die zweitgrößte Stadt des Landes auf sich, Chicago. Die Metamorphosen, die es im letzten Jahrhundertdrittel durchlief, sind bestenfalls andeutungsweise mit dem Hinweis beschrieben, dass die Stadt in den dreißig Jahren bis 1890 seine Einwohnerzahl verzehnfachte. Drei Jahrzehnte später lebten mit 2,7 Millionen noch einmal fast dreimal mehr Menschen in der Stadt als vor der Jahrhundertwende. »Wie durch Zaubermacht«, so empfand es ein deutscher Beobachter, sei diese »Wunderstadt« innerhalb kürzester Zeit »in die Reihe der Weltstädte« (Seeger 1892, S. vi) getreten. Die Bautätigkeit konnte kaum mit dem ununterbrochenen Zustrom von Menschen Schritt halten. Allerdings ließen sich die Städte dank neuer Technologien im letzten Fünftel des Jahrhunderts in der Fläche und in der Höhe ausweiten. Neue Transportmöglichkeiten wie Busse, Straßen- und Untergrundbahnen und nach der Jahrhundertwende das Automobil trieben die Ausbildung der Vororte voran. Wohnen und Arbeiten wurden zunehmend auf separate Bezirke aufgeteilt. Auch die relative Nähe von reich und arm, die die Städte früher gekennzeichnet hatte, ließ sich nun aufheben. Neue Linien begannen, sich durch das Gesicht der Stadt zu ziehen: die Linien der neuen Verkehrswege. Zugleich konnten die Häuser mit Hilfe der neu entwickelten Stahlskelettbauweise beginnen, nach den Wolken zu greifen. In Chicago, nicht in New York, stand 1885 das erste mit einem solchen Skelett errichtete Gebäude. Allerdings ragte das Horne lnsurance Building mit seinen gerade einmal zehn Stockwerken nicht allzu hoch auf, um der Bezeichnung vom Wolkenkratzer, als dessen erste Ausdrucksform es gilt, nach heutigen Maßstäben gerecht zu werden (Larson 1987, S. 39). Die Technik für eine beinahe beliebige Aufstockung war damit

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jedoch vorhanden, ergänzt um die nicht unerhebliche Verbesserung des 1871 erstmals genutzten elektrischen Aufzugs. Zugleich machte die Verteuerung des Bodens in den Stadtzentren eine effizientere Ausnutzung des Baugrundes erforderlich, was wiederum auf ein Bestreben von Architekten traf, die Städte, ihre »Skyline« völlig neu zu gestalten. Für die Mehrzahl der Menschen in der Stadt lagen allerdings andere Probleme näher als die Form der Skyline, nicht zuletzt angesichts der Unfähigkeit und zum Teil Unwilligkeit von Stadtplanung und Wohnungsbau, mit dem Zustrom in die Städte Schritt zu halten. In den Wohnvierteln der Unterschichten waren enge, dunkle, schlecht oder gar nicht belüftete Räume in dicht aneinander gebauten Mietskasernen die Regel, Überfüllung in Häusern und ganzen Stadtteilen, minimale Vorkehrungen für Wasserver- und -entsorgung sowie Müllbeseitigung mit der unausweichlichen Konsequenz schlechter oder sogar katastrophaler hygienischer Verhältnisse. Im Zusammenspiel mit den Nebenerscheinungen der Industrieproduktion gaben die Abfälle den Großstädten besonders in warmen Sommern eine ganz eigene Aura. Die Chicago Times bezeichnete sie 1880 vergleichsweise nüchtern mit dem Wort vom »solid stink«. Der Essayist Henry Louis Mencken verglich den Geruch in seiner Stadt Baltimore anschaulicher mit dem von einer Milliarde Stinktiere (Mencken 1940, S. 70). Zu den äußeren Bedingungen des städtischen Wohnens traten in einem Bevölkerungsteil, der die Konjunktureinbrüche als erstes zu spüren bekam, Massenelend, soziale und ethnische Konflikte, Alkoholismus, eine hohe Kriminalitätsrate und eine deutlich gestiegene Selbstmordrate hinzu. Erst allmählich nahmen die bessergestellten Städterinnen und Städter die Verhältnisse in den ärmeren Stadtvierteln oder Slums zur Kenntnis. Dafür engagierte sich ab 1880er Jahren eine Vielzahl Akteurinnen und Akteuren aus den Bereichen Sozialreform, Politik mit Reformansätzen, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur, Journalismus, die die Missstände in Wort und mitunter auch im Bild anprangerten. Sie wollten eine breite Basis für den Impuls schaffen, das städtische Lebensumfeld für alle seine Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern. Denn an der grundsätzlichen Möglichkeit, die Stadt menschenwürdiger zu gestalten, zweifelten nur wenige von ihnen. So konvergierte also in den Dekaden des größten Städtewachstums, den Dekaden um die Wende ins 20. Jahrhundert, eine Reihe von Entwicklungen und Strömungen, die den idealen Nährboden für Entwürfe von einer Stadt der Zukunft abgaben, die mehrheitlich von einer Besserung als von einer Verschlechterung des Status quo ausgingen. Denn den selbst erlebten Transformationen und öffentlich diskutierten Missständen trat ein Vertrauen auf die Kontinuität des Fortschritts und die Möglichkeiten eines erweiterten wissenschaftlich-technischen Wissens, auf Rationalität und die Fähigkeiten des Experten an die Seite, Auswege aus dem gegenwärtigen Dilemma aufzuzeigen. Stetig wuchs gerade in

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den Vereinigten Staaten die Begeisterung für eine in alle Lebensbereiche vordringende Rationalität und eine Technik, die ein Hemmnis der Gestaltung nach dem anderen überwand und viele weitere zu überwinden versprach. Es kam nicht von ungefähr, dass in einem solchen Klima die Science Fiction entstand beziehungsweise florieren konnte. Visionäre und stärker pragmatisch ausgerichtete Planerinnen und Planer konnten, wenn sie ihre Traumstadt der Zukunft in Schriften und Bildern Gestalt annehmen ließen, bei den Menschen mit einem erhöhten Interesse rechnen.

3.

Verschiedene Visionäre – wiederkehrende Elemente in den Visionen

Wer den Verheißungen der Abbildung aus dem populären Science Fiction-Magazin »Amazing Stories« Glauben schenken mochte (Abb. 2), der konnte Ende der 1930er Jahre damit rechnen, dass die Städte künftig trotz fortgesetzten Wachstums nicht nur alle früheren Probleme, sondern auch noch die Trennung von Stadt und Land überwunden haben und damit die Vorteile von beiden vereint haben würden. Viele der Themen, die die Stadtentwürfe seit den 1880er Jahren beschäftigten, fanden in dieser Vision noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihre Lösung. Größe und vor allem Höhe der Gebäude würden den Bewohnerinnen und Bewohnern eine »gesunde Atmosphäre«, wie es im Bildtext hieß, garantieren, während Lärm und Luftverschmutzung durch den Einsatz effizienter Technologien kein Problem mehr seien. Die Distanz zum Land lasse sich kaum mehr als solche bezeichnen, da differenzierte Transportsysteme dafür Sorge trügen, die außerhalb des inneren Kerns lebenden Menschen von der Wolkenkratzerstadt in helle und luftige Vororte oder gar ins Heim in ländlicher Umgebung zu bringen. Symmetrie, Ordnung, Harmonie der physischen Welt spiegelten sich im Gemeinwesen wider. Jeder könne darin sein Potenzial ausschöpfen und seinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Eine Kluft zwischen zwei sozial und räumlich getrennten Gruppen, »denen da oben« und »denen da unten«, werde es wiederum aufgrund leistungsfähigster Organisationsstrukturen und Technologien nicht in einer Weise geben, dass die gesellschaftliche Stabilität – und damit die Effizienz des rational strukturierten Gemeinwesens – gefährdet würde. Gelenkt von Fachleuten würden Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ohne Verschwendung von Energien als harmonisches Ganzes funktionieren. In solchen Vorstellungen lassen sich leicht die Probleme wiedererkennen, die in der Zeit als die dringlichsten wahrgenommen wurden, selbst das Vertrauen in das Lösungspotenzial der Technik und die Erwartung, dass sich die bekannte Welt ohne Brüche weiterentwickeln, das heißt verbessern würde. Die beiden

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Abb. 2: Julian Krupa: Cities of Tomorrow, in: Amazing Stories, Bd. 13, Nr. 8, 1939, Backcover. Bildvorlage: Nutzer ›Sketch the Cow‹: Amazing Stories v13n08 (1939 08) (cape1736), in: Internet Archive, Sammlung: Amazing Stories Magazine; The Pulp Magazine Archive, 01.05. 2017, https://ar chive.org/details/Amazing_Stories_v13n08_1939-08_cape1736 (Stand: 21.08. 2020). Die Druckvorlage wurde freundlicherweise bereitgestellt vom Internet Archive, http://www.archive.org (zuletzt abgerufen am 21. 08. 2020)

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wichtigsten Merkmale eines gewandelten Stadtbildes, die in Entwürfen seit den 1880er Jahren die größte Aufmerksamkeit auf sich zogen, stehen auch in Julian Krupas Darstellung im Vordergrund: Größe und Anordnung der Gebäude sowie Transport und Kommunikationssysteme, also der Wolkenkratzer und das Netz der Verkehrsadern auf dem Boden und in der Luft. Das Bild von 1939 kann somit als ein Resümee der Ideen und Entwürfe gelesen werden, die in dem halben Jahrhundert bis zur Weltwirtschaftskrise die Diskussion um die künftige Gestalt der Städte in den USA beherrschten. Drei Gruppen von »Propheten«, deren Visionen vorgestellt werden sollen, taten sich in dieser Diskussion besonders hervor: Verfasser technologischer Utopien – die hier untersuchte Gruppe bestand nur aus Männern –, eine Gruppe von Zeichnerinnen und Zeichnern, die Vorstellungen aus solchen Utopien, aus (Science Fiction-)Literatur und Stadtplanung im Bild veranschaulichten oder satirisch überspitzten, und schließlich die Architektinnen und Architekten, von denen die nach dem Ersten Weltkrieg aktiven als Initiatoren eines innovativen Konzepts herausragen. Alle drei Gruppen waren über den gesamten Zeitraum – und darüber hinaus – aktiv, obwohl jede von ihnen deutliche Schwerpunkte in einzelnen Phasen setzte. Eine Hochzeit für die technologischen Utopien lag vor der Jahrhundertwende, die Zeichnungen erfreuten sich besonders nach dem Übergang ins neue Jahrhundert großer Popularität und die Stadtplanung erreichte in den 1920er Jahren, als so vieles möglich, plan- und machbarer schien, große Breitenwirkung. Sie alle kreierten, mit Ausnahme vielleicht der Karikaturisten, Visionen, die ihnen als Träume, nicht Alpträume von der Stadt der Zukunft galten.

4.

Die Visionen der Verfasser technologischer Utopien

Die Verfasser technologischer Utopien, etwa fünfundzwanzig Personen, die zwischen 1883 und 1933 ihre Ideen publizierten (Segal 1985, Kapitel 2; Segal 1986), waren nicht etwa misstrauisch beäugte Sonderlinge am Rande der Gesellschaft, sondern als Unternehmer, Ingenieure oder Erfinder erfolgreiche und integrierte US-Bürger. Sie wollten die Gesellschaft nicht etwa umstürzen, sondern deren Missstände beheben. Das ließ sich nach ihrer Ansicht durch Fortschritt, das hieß für sie durch technischen Fortschritt, bewerkstelligen. Sie nutzten die utopische Darstellung als eine Form, in die sich ihre als Blaupausen für eine kommende Realität gedachten Zukunftsvisionen kleiden ließen (Roemer 1976, S. 3). Ihnen ging es also nicht darum, Luftschlösser zu bauen, um eine – imaginäre – Flucht aus einer ungeliebten Gegenwart zu ermöglichen, sondern darum, möglichst wirklichkeitsnahe Vorhersagen über die urbane Welt von morgen und übermorgen zu machen. Sie kamen zu ihren Annahmen, indem sie

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von ihrer Gegenwart extrapolierten und sich von der Überzeugung leiten ließen, die Technik werde schließlich fast alle gegenwärtigen Probleme lösen. Die Verwirklichung ihrer Vorstellungen erwarteten sie nicht etwa in einer weit entfernten Zukunft, sondern innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne von dreißig, fünfzig oder hundert Jahren. Den Menschen ihrer Zeit versprachen sie, die neue Welt Amerika würde eine wahrhaft schöne neue Welt. Kein Gegensatz sollte mehr bestehen zwischen Industrie und Wildnis, Technik und Natur (Marx 1967), vielmehr wäre er aufgehoben in einer zum Garten verwandelten und durch Technik modernisierten Wildnis, einer gezähmten Wildnis, die in der Stadt, als neue Stadt existieren würde (Schwarz 2005). Nicht Chaos, sondern Harmonie würde hier herrschen. Die Technikbegeisterten der Jahrhundertwende hatten sich damit vom Jeffersonschen Ideal der Bauernrepublik autonomer Gemeinden verabschiedet und sich ganz dem Bild verschrieben, das die USA als industrialisierten »Garten« wahrnahm. Über die gesamte Breite des Kontinents würde sich künftig eine Megalopole an die andere reihen. Wüsten, Kältezonen, Regionen mit heftigen Regenfällen hätten ihre Schrecken verloren, da entsprechende Technologie für ein angenehmes und in Amerika wie überall auf der Welt fast einheitliches Klima sorgen würde. Umweltprobleme wären auf die gleiche Art beseitigt, sodass selbst die Agglomeration von Tausenden von Menschen in einem Gebäude und von Millionen in einer Stadt mit sauberer Luft, sauberem Wasser und geringer Lärmbelästigung einhergehen könnte. Die Stadt selbst sollte durch ihre physische Gestalt, durch Größe, Bauart und Anordnung der Gebäude ein Gefühl der Ordnung vermitteln. Nicht alle Entwürfe sahen dafür eine so strenge Konstruktion vor, wie sie das Modell von King Camp Gillette aus dem Jahr 1894 (Abb. 3) aufweist. Vielmehr dachten nicht wenige an eine Mischung von unterschiedlich gestalteten Gebäuden, die in der Gesamtschau allerdings ein ordentliches Muster ergeben sollten – etwa durch Anordnung in Pyramidenform mit den schlankesten und höchsten Gebäude im Zentrum, den niedrigsten und großflächigsten an der Peripherie. Außer Frage stand für die Zeitzeugen der neuen Wolkenkratzerarchitektur, dass nicht tiefe und düstere Häuserschluchten, sondern breite Fußwege, luftig-grüne Parks und Plätze zu dominieren hatten, während der in der eigenen Gegenwart überall erlebte Konflikt zwischen Fußgängerstrom und Fahrzeugverkehr durch geschickte Platzierung von breiten Straßen, Brücken, Tunneln und Fußgängerwegen überwunden wäre. Bewegung und Kommunikation auf allen Ebenen lautete eine immer wiederkehrende Vorhersage. In einer Welt, die Distanz praktisch eliminiert habe (Clough 1923, S. 40), könnten Menschen auf dem Boden, in der Luft, unterirdisch hin und her pendeln, mit Autos, Zügen, Schiffen, Luftschiffen und Flugzeugen, auf Laufbändern. Der gesamte Transport von Waren aller Art und Postsen-

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Abb. 3: King C. Gillette: The Human Drift, Boston, MA [1894], S. 102. Bildvorlage: Nutzer ›John Mark Ockerbloom‹: The Human Drift. By Gillette, King C. (King Camp), 1855–1932, in: Internet Archive, Sammlung: Community Texts, 29. 06. 2016, https://archive.org/details/TheHumanDrift (Stand: 21. 08. 2020). Die Druckvorlage wurde freundlicherweise bereitgestellt vom Internet Archive, http://www.archive.org (zuletzt abgerufen am 21. 08. 2020)

dungen würde durch unterirdische Tunnel und pneumatische Röhren abgewickelt werden, sodass die Städterinnen und Städter endlich frei sein könne von den »annoyances of housekeeping« (Gillette 1894, S. 89) und, da die überirdischen Straßen dann allein dem Personenverkehr gehörten, von den Gütertransportern, die in der täglich erlebten Realität das Fortkommen behinderten. Die einzelnen Entwürfe dieser Gruppe von Visionären zeichneten sich durch eine seltsame Mischung aus Konkretion und Abstraktheit aus. Konkret und mitunter sehr detailliert waren die Beschreibungen von Gebäuden und ihrer Einrichtung, die die Haushaltsausstattung mit zum Teil noch gar nicht erfun-

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denen Geräten wie Spülmaschine oder Staubsauger einschloss. Abstrakt blieben sie dagegen nicht nur in der Beschreibung, wie die künftige Technologie, sondern auch wie das künftige Gemeinwesen Megalopolis funktionieren sollte. Dass beide funktionieren würden, und zwar reibungslos und harmonisch, stand für die Verfasser technologischer Utopien außer Zweifel. Zwei Beispiele seien herausgegriffen. Für den Erfinder und Rasierklingenhersteller King Camp Gillette bestand die ideale urbane Welt aus einer einzigen Metropole, gebildet von 36.000 Türmen nach dem oben abgebildeten Modell (Abb. 3), errichtet in der Nähe der Niagarafälle. Dort sollte der größte Teil der USBevölkerung, nach zeitgenössischen Schätzungen waren das 60 Millionen Menschen, künftig leben. Die in den 1890er Jahren diskutierte »City Beautiful« schien dem Unternehmer in dem geschlossenen ästhetischen Entwurf der Gebäude, der mit dem ungeordneten Nebeneinander von Gebäudeformen in der real existierenden Stadt aufräumen würde, und dem großzügigen Angebot von parkähnlichen Räumen zwischen den Türmen verwirklicht. Gillette sah seine Vision zugleich als Vollendung jener Pläne, die die zeitgenössische Gartenstadtbewegung, obschon mit Einfamilien- oder kleinen Mehrfamilienhäusern, verfolgte: die Verschmelzung der Vorzüge von Stadt und Land. Nach seiner Vorstellung leistete das die grüne Megalopolis, der kommende urbane Garten Eden. Die Entscheidung für den Kreis als Gebäudegrundriss kam nicht von ungefähr. So manchem Technikenthusiasten galt der Kreis als Inbegriff von Ordnung und vollendeter Harmonie. Der Geschäftsmann Charles W. Caryl nutzte ihn gar als Planungsgrundlage für eine gesamte Stadt, wobei er das zu der Zeit auch in den USA diskutierte Konzept der Flächennutzungsplanung mit der Trennung von Zonen für jeweils eine Funktion wie Wohnen oder gewerbliche Nutzung auf die Spitze trieb (Roemer 1976, S. 161–162). Aber nicht Hinweise auf die Rigidität eines inflexiblen Bebauungsplanes oder auf die Monotonie der Einheitskonstruktion lagen ihm am Herzen, sondern, wie schon zuvor Gillette, der Entwurf der zu verwirklichenden »Traumstadt«. Wie in Planungen des Barock resultierte die Ordnung aus der Symmetrie der Anordnung von Gebäuden und Straßen. Wie im Barock sollte in dieser allerdings technikgesättigten Stadt der Zukunft jeder wissen, wo sein Platz ist. Caryl gehörte zu den Visionären, die beides wollten, (technologische) Innovation und Erhalt des (gesellschaftlichen) Status quo. Seine Entwürfe und die anderer erklärten, dass dies erreichbar sei.

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5.

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Die Visionen der Zeichnerinnen und Zeichner

Zwischen der Gruppe der Gillettes, Caryls, Olerichs, Thurstons und der der Illustratorinnen und Illustratoren, die die Visionen in Bildern umsetzten, waren die Grenzen fließend. Einige derer, die Zeichnungen anfertigten, bildeten eigene Vorstellungen von der Stadt der Zukunft ab, andere illustrierten die Ideen aus dem Bereich Stadtplanung oder der Science-Fiction-Literatur. Seit dem späten 19. Jahrhundert regten Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Phantasie der Illustratorinnen und Illustratoren an, darunter Autoren wie Jules Verne, der in den USA äußerst einflussreiche Edward Bellamy oder der jenseits des Atlantiks ebenfalls sehr populäre H.G. Wells. Wells unterwies sein US-amerikanisches Publikum sogar darin, wie es zu eigenen Zukunftsentwürfen kommen könne: Dazu sei die Gegenwart zum Ausgangspunkt zu nehmen und dann seien alle Gegebenheiten mit drei zu multiplizieren (Wells 1906, S. 11–12). In der Tat vermitteln viele Darstellungen den Eindruck, als hätten die Zeichnungen aktuelle Trends nur potenziert: mehr Menschen, mehr Stockwerke, mehr Verkehr, deshalb dichtere Bebauung und Vervielfachung der Verkehrsebenen. Mitunter konnte die Überschaubarkeit, von der die Technikadepten träumten, dabei verloren gehen. In den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts trafen die Bilder auf ein besonders aufnahmewilliges Publikum (Willis 1986, S. 167–169). Immer mehr Zeichnerinnen und Zeichner entdeckten, dass sich mit visualisierten Prognosen über die Folgen einer entfesselten Technik Geld verdienen ließ. Die beliebteste der Bilderfolgen aus dem Stadtführer von Moses King, »King’s Views of New York«, erschien in mehreren Überarbeitungen zwischen 1908 und 1915. In der Version von 1911/12 (Abb. 4) waren die Luftschiffe auf den Bildern von 1908 bereits durch Flugzeuge ersetzt. Ähnlich aufgebaut waren die Darstellungen von Louis Biedermann für New Yorker Zeitungen und Zeitschriften. Ein Bild von ihm aus dem Jahr 1916 gab den Blick auf die oberen Etagen einer imaginären Zukunftsmetropole wieder (Abb. 5): Hochhausdächer, Landeplätze für Luftfahrzeuge, das Netz der Straßen und Eisenbahnlinien aus der Vogelperspektive. Die Ordnung durch Symmetrie, die die Rationalisten planten, hatte hier in einer nur leichten Modifizierung dessen Platz gemacht, was man aus der eigenen, der realen Stadt kannte: Pluralität der Formen und ein Durcheinander von Wegen. Die Gegenwart gab sehr weit vor, was der Blick in die Zukunft enthüllen würde. Vieles wirkt wie eine simple Vervielfachung dessen, was das tägliche Erleben in der Großstadt bereithielt. Die ausgewählten Abbildungen bieten repräsentative Beispiele eines Genres, das mit der Variation bestimmter, durchgängiger Motive operierte: immer wieder eine Aufstockung der schon errichteten Hochhäuser und eine weitere Aufspal-

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Abb. 4: Moses King: King’s View of New York. 1911. 1912, New York, NY 1911, Frontcover. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Signatur: 41 A 311

tung der schon in zwei oder drei Level aufgeteilten Verkehrsebenen. Die Wiederholung der Motive provozierte geradezu die Überzeichnung. Harry Grant Dart machte sich das zunutze und verdiente viel Geld damit, die Menschen mit Bildern von wagemutigen Konstruktionen zu amüsieren (Abb. 6), durch die sich in schwindelnder Höhe aberwitzige Fahrzeuge wie fliegende U-Boote und Busse auf zwei Rädern ebenso »normal« zu bewegen schienen wie die abgebildeten Menschen in der Kleidung des späten 19. Jahrhunderts. Selbst der Sport, etwa das Baseballspiel, könnte auf seine Bodenhaftung verzichten und in die Wolken transferiert werden. Mit ernst gemeinten Entwürfen hatte das jedoch nicht mehr viel zu tun. Ebenso fehlte den Illustratoren der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts die wirklich neue Idee, die Planung, die sich nicht mehr nach dem Alten und den

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Vorbildern in Europa richtete wie in der amerikanischen Architektur der Zeit noch üblich.

Abb. 5: Louis Biedermann: FUTURISTIC CITY. A city of the future, Zeichnung, 1916. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Alamy, Bild-Nr. FF8MWX. © Bildvorlage: Granger Historical Picture Archive/Alamy Stock Foto

Abb. 6: [Harry Grant Dart:] What’s to hinder? New York’s Summer Resort, in: LIFE, Bd. 56, Nr. 1452, 25. 08. 1910, S. 308f.

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Die visuelle Umsetzung der Stadtvisionen stieß nicht nur in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts auf großes Interesse. Im Internet finden sich viele weitere Abbildungen der Zeit, die die Verkehrsführung auf mehreren Ebenen betonten (z. B. Zierott 2004). Dass sich ihre Attraktivität bis heute fortsetzt, belegen etwa Steampunk-Umsetzungen aus der jüngsten Zeit (z. B. Tiffany 2018), die moderne Elemente mit denen des viktorianischen Zeitalters zu einem »Retro-Futurismus« (Schwan 2010) verknüpfen.

6.

Die Visionen der Architektinnen und Architekten

Das Konzept der Metropole, das die gestalterischen Möglichkeiten voll ausschöpfte, die Wolkenkratzer und Automobil gaben, begann nach dem Ersten Weltkrieg die Überlegungen über eine Stadt der Zukunft zu beherrschen. Die USBürgerinnen und US-Bürger nahmen nun den industrialisierten, zentralisierten, säkularisierten und urbanisierten Raum als dominante Lebenswirklichkeit für die meisten Menschen in ihrem Land wahr (Leuchtenburg 1958, S. 43). Frederick Winslow Taylors (2011) Idee, die Dauer von Arbeitsschritten in der Industrieproduktion zu messen und möglichst effizient zu gestalten, fortschreitende Mechanisierung und schließlich die Fließbandarbeit verliehen rationaler Planung und Leistungsmaximierung einen enormen Stellenwert. Die Idee strahlte weit über die Wirtschaft hinaus. Zugleich pries eine professionalisierte Stadtsoziologie das Konzept der gelenkten Flächennutzung (zoning) als das langersehnte Instrument, mit dem sich nicht nur Ordnung in den Expansionsprozess bringen, sondern das Wachstum überhaupt kontrollieren ließ. Dies war die große Stunde von Architektur und Stadtplanung (vgl. allgemein dazu Ward 2002; Hall 2014). Aus den »Zoning Laws« leiteten die Akteurinnen und Akteure Maßstäbe für die Konstruktion von Wolkenkratzern ab, die, schlicht und symmetrisch in der Form, nur sparsam, wenn überhaupt mit Ornamenten verziert sein sollten, was den Gebäudetyp ihrer Ansicht nach zu einem unverwechselbar amerikanischen machte: zum steingewordenen Ausdruck einer wunderbaren (urbanen) Zukunft der Menschheit. Zahllose Planungen und Entwürfe entstanden in diesen Jahren, in Fachkreisen und einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. In Zeiten wachsender Motorisierung, fast grenzenlosen Vertrauens in das Expertentum und scheinbar unbegrenzt zunehmender Ausweitung des Aktienmarktes und damit der Spekulationswut waren viele neugierig darauf, wie es wohl weitergehe. Nicht umsonst zeigten sich die Menschen in der Zeit fasziniert von Szenarien in Filmen – klassisch Fritz Langs Metropolis von 1927, der für die Bühnenbilder auf Zeichnungen unter anderem von Louis Biedermann zurückgriff – und Modellen in größerem Maßstab, wie sie etwa auf der New Yorker Weltausstellung 1939 gezeigt wurden (Schwarz 2009). Die Archi-

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tekten bedienten diese Neugier, indem sie vier verschiedene Typen von Stadtbildern zugrunde legten (Willis 1986, S. 172–174). Dabei dominierte eine Gebäudeform, die aus einem Turm umgeben von niedrigeren Gebäudeteilen gebildet wurde. Ähnlich wie bei King C. Gillette sollte sich die Stadt aus einer größeren Anzahl solcher Gebäudekomplexe zusammensetzen. Architekt und Visionär Hugh Ferriss ließ sich in seinen Vorstellungen monumentaler Strukturen von der Form von Kristallen anregen (Abb. 7) und griff damit heutigen Visionen vom Super-Wolkenkratzer mit 500 Stockwerken und einer Höhe von eineinhalb Kilometern vor. Francisco Mujica orientierte sich für seine Stadt im »neo-amerikanischen Stil« an der präkolumbianischen Architektur (Mujica 1929). Wie schon in Entwürfen etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts sollte auch bei ihm der Verkehr zwischen den Gebäudekomplexen auf mehreren Ebenen fließen (Abb. 8). Weit seltener waren Variationen eines zweiten Typs, die von einer Konzentration der Wolkenkratzer im Stadtzentrum ausgingen. Sie stammten von Architekten, die in der ästhetischen Geschlossenheit einer zu ihrer Peripherie hin flacher bebauten Metropole mit strenger Funktionstrennung die Voraussetzung für größere Harmonie und mehr Menschlichkeit in der Stadt wie in der Gesellschaft insgesamt sahen. Ein weiteres Konzept ordnete einzelne Türme in größeren, regelmäßigen Abständen zueinander an. Sie sollten sowohl großzügige Grünflächen zur Integration einer, wie es aus heutiger Perspektive erscheint, taylorisierten Wildnis in die Metropole ebenso wie Raum für ungehindert fließende Verkehrsströme bieten. Ferriss konzipierte nach diesem Muster 1924 seine »City of Needles« (Ferriss 1929). Der französische Architekt Le Corbusier nutzte es in seiner Suche nach einer urbanen Form, die dem Maschinenzeitalter und seinem Tempo angemessen sein würde. Eine eher selten verfolgte Idee bildete die Konzentration einer gesamten Stadt auf ein einziges, riesenhaftes Gebäude, die Megastruktur. Sie wurde in den 1920er und frühen 1930er Jahren noch eher in die Science Fiction verwiesen, als in die ernsthafte Planung einbezogen – obwohl es etwa von Le Corbusier aus dem Jahr 1931 einen Entwurf für eine Megastruktur für 220.000 Menschen gibt. Megastrukturen erhielten die Form schwebender Gebilde in den Wolken oder beweglicher Konstruktionen auf Stelzen, die es erlaubten, auf Wunsch die ganze Stadt »umziehen« zu lassen. Danach erlangte die Megastruktur erst in den 1960er Jahren und, wenn man an die Planungen für die Pyramidenstadt TYR 2004 für eine Million Menschen auf dem Meer vor Tokio denkt, an der Wende ins 21. Jahrhundert wieder verstärkt die Aufmerksamkeit der Architektinnen und Architekten (Banham 1990). Aus jedem dieser Entwürfe spricht ein grenzenlos anmutender Optimismus, ein in der heutigen Betrachtung erstaunliches Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, die Probleme der Stadt in den Griff bekommen zu können. Zu einem

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Abb. 7: Hugh Ferriss: The Metropolis of Tomorrow, New York, NY 1929, S. 108. Bildvorlage: Nutzer ›associate-jenna-risano‹: The metropolis of tomorrow. By Ferriss, Hugh, in: Internet Archive, Sammlung: Whitney Museum of American Art; Guggenheim – Whitney Art Resources from the Mid-20th Century; American Libraries, 17. 10. 2012, https://archive.org/details/metto mo00ferr (Stand: 21. 08. 2020). Die Druckvorlage wurde freundlicherweise bereitgestellt vom Internet Archive, http://www.archive.org (zuletzt abgerufen am 21. 08. 2020)

Teil erklärte er sich aus der bislang ungeahnten gestalterischen Freiheit, die mit den Veränderungen von Flächennutzungsplänen über neue Baumaterialien bis zu neuen Transport- und Kommunikationstechnologien gegeben waren. Das öffnete jenen Akteurinnen und Akteuren, die sich stärker von traditionellen Entwürfen lösen wollten, ein weites Feld. Diejenigen, die es betraten, begeisterten wiederum andere für die Idee. Dabei war für sie längst alltäglich, was die Menschen an der Jahrhundertwende noch als wundersam oder kurios bestaunt hatten. So konnte es in den Zukunftsentwürfen als ein Instrument eingeplant werden, das dem Individuum mehr Freiheiten und der Gesellschaft mehr Ge-

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Abb. 8: Francisco Mujica: History of the Skyscraper, Paris 1929, Tafel CXXXIV

rechtigkeit und Demokratie garantieren würde. Ziel allen Denkens und Handelns bildete die »rationale Stadt«, denn sie verkörperte die Überwindung aller Probleme. Aus heutiger Sicht muten viele der Erwartungen von damals mindestens naiv an. Keine Gefahr wurde darin gesehen, dass der Grundriss für die »Traumstadt« mehr und mehr einem technischen Schema zu ähneln begann (Mansfield 1990, S. 67–69), keine Gefahr – vielmehr ein Gewinn – darin, dass die Stadt als »Wohnmaschine« dargestellt wurde. Die Visionäre der modernen Wolkenkratzer-Stadt sahen die Homogenität des Entwurfs, die endlos erscheinenden vertikalen und horizontalen Achsen und nicht selten monumental wirkenden Gebäuderechtecke ausschließlich als Vorzug an und glaubten, dass in dreißig, fünfzig oder hundert Jahren viele oder gar alle ihrer Ideen Wirklichkeit sein würden. An den Erfahrungen der weniger aufwendig konzipierten Trabantenstädten der jüngeren Zeit fallen eher die erschreckende Monotonie und Überdimensioniertheit als der ästhetische Gewinn durch die klare Linie auf – was Ingenieure wie Thurston oder Architekten wie Ferriss oder Mujica nicht so wahrnahmen: Der menschliche Maßstab schien darin keine Rolle mehr zu spielen – eine Kritik, die übrigens bereits in den 1920er Jahren geäußert wurde (Mumford 1926, S. 270–271).

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7.

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Die Zukunft wird schön

Als im späten 19. Jahrhundert die Erfahrung, mit zehntausenden, hunderttausenden oder gar millionen Anderen in einer Stadt leben zu müssen, für einen rasch wachsenden Teil der US-Bevölkerung zur Regel wurde, traten Technikbegeisterte und Effizienzapostel auf den Plan, die vorhersagten, die Amerikanerinnen und Amerikaner würden in nicht allzu ferner Zukunft in diesem urbanen Raum nicht nur bestehen, sondern sogar gut leben können. Wo sonst war die Vision einer Perfektionierung der Menschheit durch unbegrenzten – technischen – Fortschritt besser aufgehoben als im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«? Ingenieurskunst, Unternehmertum, Architektur, Illustration, Soziologie und Stadtplanung ließen vor den Augen der Menschen damals einen aus ihrer Sicht verlockenden Traum von der Stadt der Zukunft entstehen, in der nicht nur die typisch urbanen, sondern zugleich alle gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme gelöst sein würden. Dazu bedürfe es, so versicherten sie mit fester Überzeugung, nur einer steten Weiterentwicklung der Technik und Verbesserung, das heißt weiterer Rationalisierung, des urbanen Lebensraums. Die Stadt firmierte in ihren Entwürfen als eine Art Mega-Maschine, die nur richtig konstruiert und gewartet werden musste, um alles das hervorbringen beziehungsweise beherbergen zu können, wovon eine problembeladene Gegenwart träumte: den menschenwürdigen Lebensraum, das freie Individuum im effizienten Gemeinwesen, die gerechte Gesellschaft, letztlich eine bessere Menschheit. Im Rückblick erstaunt wohl am meisten, wie groß das Vertrauen in das Potenzial der Technik war, das die Blicke in die Zukunft vor rund hundert Jahren charakterisierte. Einige der Vorhersagen sind Wirklichkeit geworden und inzwischen längst alltäglich, vom technisch verbesserten Haushalt mit Spülmaschine und Kühlschrank über die Vervielfältigung der Verkehrsebenen bis zum Wolkenkratzer mit mehreren hundert Stockwerken. Andere Technologien, die selbst in den Jahren noch niemand vorhersagen konnte, sind hinzugekommen. Dennoch wäre heute wohl kaum noch die Behauptung konsensfähig, der Mensch habe sich dadurch zu einem – sozial und moralisch – besseren Wesen entwickelt. Für die vorgestellten Visionärinnen und Visionäre in den USA der rund fünfzig Jahre vor der »Großen Depression« und ihre Träume von der Zukunftsstadt stand das jedoch außer Frage: Utopia, die Idee von der idealen Welt im Nirgendwo, die seit Jahrhunderten Menschen zu Gedankenspielen angeregt hatte, besaß für sie einen festen Platz, eben in der künftigen Megalopolis (amerikanischen Typs).

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Tanja Kilzer*

Ein symbolträchtiger Ausstellungsbau für technische Visionen – Das Ford Building auf der California Pacific International Exposition 1935/36 und das Wandgemälde »March of Transportation« des Künstlers Juan Larrinaga in seinem Innenraum »Vision without execution is just hallucination.« (Henry Ford)

1.

Einleitung

Das Ford Building (Abb. 1) auf der California Pacific International Exposition 1935/36 im kalifornischen San Diego, das im technisch anmutenden Stil der Stromlinien Moderne errichtet wurde, gilt als einer der letzten, heute noch existierenden Ausstellungsbauten der 1930er Jahre in den Vereinigten Staaten. Errichtet in einer Epoche, die von großer wirtschaftlicher Not und zugleich einer immanenten Technologiebegeisterung geprägt war, stellt es vor allem durch seine industrielle, aerodynamische Formsprache ein sprichwörtliches Kind seiner Zeit dar, in der von einem Großteil der Bevölkerung technische Innovationen und zukunftsträchtige Visionen als wirkungsträchtiger Weg aus der Krise gesehen wurden. Vor allem das Automobil und seine technischen Weiterentwicklungen wurden zu einem Symbol dieser Vision und zum sprichwörtlichen Motor in die Zukunft, der auf großflächigen Ausstellungen mit internationalem Charakter von ihren Herstellern eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde. Insbesondere der Ford Konzern machte auf den großflächigen internationalgehaltenen (Welt-) Ausstellung dieser Zeit, durch seine auffälligen Bauten und den spektakulären Präsentationen, die in diesen stattfanden, von sich reden. In diesem Beitrag soll ein Portrait dieser eindrucksvollen Zeit, die trotz Krise voller Erfindergeist war und trotz Mangel und Not mit neuen technischen Visionen und Innovationen aufwartete, gezeichnet werden. Dies geschieht am Beispiel des Ford Buildings, anhand seiner symbolträchtigen Architektursprache, die die technische Begeisterung der Zeit in sich einfängt, anhand der Ausstellung in seinem Inneren, die vom technischen Erfindergeist und neuen Ideen * Tanja Kilzer, M.A. M.A., Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Department Architektur – Architekturgeschichte.

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Abb. 1: Das Ford Building auf der California Pacific International Exposition 1935/36 (entnommen aus Pescador et al. 2010, S. II)

geprägt wurde ebenso wie anhand der Wanddekoration im Inneren des Baus, die von Juan Larrinaga gemalt wurde und ein eindrucksvolles Bild über die Geschichte der Transportmittel, das Verständnis des Fortschritts und zugleich eine spannende technologische Zukunftsvision in sich vereint. Im letzten Kapitel wird noch kurz auf die Umnutzung des Baus nach der Ausstellung eingegangen.

2.

Zwischen Großer Depression, Stromlinien-Architektur und Technikbegeisterung – Die 1930er Jahre in den Vereinigten Staaten

Die 1930er Jahre in den Vereinigten Staaten wurden maßgeblich durch die Große Depression geprägt, die mit dem Börsencrash Ende Oktober 1929 begann und die Zeit des Aufschwungs der Goldenen Zwanziger mit einer scharfen Zäsur beendete (vgl. Heideking 2006, S. 379). Der finanzwirtschaftliche Rückschlag traf die amerikanische Wirtschaft mit voller Härte, die mit scharfen Entlassungsmaßnahmen reagierte. Auf dem Höhepunkt der Krise 1932/33 gingen etwa ein Viertel

Ein symbolträchtiger Ausstellungsbau für technische Visionen

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der arbeitsfähigen Bevölkerung keiner Arbeit nach, während der Außenhandel, das Bruttosozialprodukt ebenso wie das private Einkommen sich bis ins Jahr 1933 halbieren sollten (vgl. Heideking 2006, S. 382). Die Investitionen sanken von zehn Milliarden Dollar im Jahre 1929 auf eine Milliarde im Jahre 1932, wie auch fast alle Bautätigkeiten stetig immer mehr zum Erliegen kamen. Trotz der prekären Situation fielen die Preise für landwirtschaftliche Produkte lediglich um 6 %, sodass viele Menschen Hunger litten und auf die Armenhilfe der Gemeinden sowie privater Wohltäter angewiesen waren (vgl. Heideking 2006, S. 382). Anhaltende Dürren, die mit dem Phänomen von verheerenden Staubstürmen eintraten und in die amerikanische Geschichte als »Dust Bowl« eingingen, verwüsteten darüber hinaus den Mittleren Westen (Abb. 2), was zahlreiche Menschen zwang, ihre Heimat zu verlassen und einer ungewissen Zukunft in einem anderen Bundesstaat, meist dem idealisierten Kalifornien, entgegenzusehen (Gregory 1989, S. 11).

Abb. 2: Schäden durch den Dust Bowl in South Dakota, 1936 (Sloan, https://commons.wikimedia. org/wiki/File:Dust_Bowl_-_Dallas,_South_Dakota_1936.jpg, gemeinfrei)

Erst durch die Sozial- und Wirtschaftsreformen des Präsidenten Franklin D. Roosevelt, die in Einklang mit den, trotz der Depression aufrechterhaltenen, vertrauten Werten zahlreicher Amerikaner von Individualismus, Eigeninitiative und Mobilität standen, konnte sich das Land nach und nach erholen (vgl. Hei-

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deking 2006, S. 395).Während dieser Ära wurden vor allem Technologie und Wissenschaft als notwendige Institutionen zur Bekämpfung der Krise von der Bevölkerung angesehen (Gelernter 1999, S. 249). Allen voran standen dabei die neuen Entwicklungen im Bereich des Automobils im Fokus, das trotz Geldnot zum Statussymbol und Kultobjekt avancierte (Wilson 1986, S. 26). Ungeachtet der gravierenden finanziellen Schwierigkeiten besaß um 1935 jede zweite amerikanische Familie ein Automobil, das fortwährend auch kostengünstiger produziert wurde (Young/Young 2002, S. 232). Aerodynamische, technisch wirkende Formen, die vorrangig bereits seit den späten 1920er Jahren im Bereich der Industrie ebenso wie im Schiff-, Zug- und Flugzeugdesign eingesetzt wurden, übertrugen zahlreiche Designer und Designerinnen, den Hoffnungen und dem Geist der Zeit entsprechend, auf unterschiedliche Produkte des täglichen Lebens, wie Toaster oder Staubsauger. Die Stromlinienform entwickelte sich zum favorisierten Gestaltungselement, das neben der Technologie zum designtechnischen Sinnbild für die Vision eines baldigen wirtschaftlichen Wiederaufschwungs wurde (Gelernter 1999, S. 249). Auch im Bereich der Architektur setzte sich die Stromlinienform durch und begründete den sogenannten Stil der Stromlinien-Moderne in den Vereinigten Staaten, der den opulenten Stil des Art Déco ablöste und ein technisiertes, schlichtes Design mit aerodynamischen Formen, horizontalen Bändern und abgerundeten Ecken verbindet (Whiffen/Koeper 1981, S. 332) sowie den Bauten ein maschinelles Erscheinungsbild verleiht. Als beliebter Stil, verwendet beim einfachen Haus über Bahnhöfe bis hin zu Hotel- und Bürobauten, erfreute er sich gerade im Bereich der Messe- sowie Ausstellungsbauten einer enormen Popularität und wurde vornehmlich von technischen Unternehmen zur Präsentation ihrer neuesten visionären Innovationen eingesetzt. In zahlreichen Städten in den USA fanden, während jener Ära der Depression, Ausstellungen und Messen statt, wie beispielhaft die Weltausstellung in Chicago 1933/34 oder New York 1939/40, die sich einer großer Beliebtheit erfreuten und als wirtschaftlicher Motor der Städte dienten. Im Jahre 1935/36 fand auch in der kalifornischen Stadt San Diego eine wichtige Ausstellung statt: die California Pacific International Exposition, die die gravierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Stadt durch die Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten lösen sollte (vgl. Pescador et al. 2010, S. 9). Als Ausstellungsfläche wurde der Balboa Park gewählt, in dem zahlreiche bereits bezugsfertige Ausstellungsbauten aus der Zeit der Panama-California Exposition von 1915/16 standen. Neben diesen Bauten sollten weitere Ausstellungsbauten entstehen, wobei das heute noch existente Ford Building ein eindrucksvolles Bild der technischen Visionen der Zeit bietet sowie als architektonischer Zeuge den speziellen Zeitgeist dieser Ära, die geprägt war von Mangel sowie einem beständigen Glauben an die Technologie, welche den Weg in eine bessere Zukunft eröffnen sollte, einfängt.

Ein symbolträchtiger Ausstellungsbau für technische Visionen

3.

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Ein Motor für die Zukunft – Das Ford Building in San Diego

Die Ford Motor Company entschied erst im Februar 1935, drei Monate vor dem eigentlichen Ausstellungsbeginn, sich mit einem eigenen Bau an der California Pacific International Exposition zu beteiligen, in dem die neue V8-Reihe des Konzerns einem interessierten Publikum präsentiert werden sollte (vgl. Pescador et al. 2010, S. 10). Insgesamt investierte das Unternehmen eine Summe von 2 Millionen US-Dollar und beauftragte den Designer und Architekten Walter Dorwin Teague, der sich vor allem durch seine Designstudien für die Firma Kodak später einen Namen machen sollte (vgl. West 2000, S. 109), einen passenden Bau zu schaffen (vgl. Amero 2020). Anders als die übrigen Bauten der Ausstellung sollte das Ford Building nicht in Holzrahmenkonstruktionsweise errichtet werden, sondern als ein mit Zementputz umgebener Stahlbetonbau hergestellt werden, der auf einem Stahlbetonfundament aufsitzt (vgl. Pescador et al. 2010, S. 10). Obwohl Henry Ford gerne einen Bauplatz südlich des OrgelPavillons gesehen hätte, um eine passende orchestrale Begleitung ins Ausstellungskonzept des Baus miteinfließen zu lassen (vgl. Requa 1937, S. 135), entschied Richard Requa, der leitende Architekt der Ausstellung, den Bau an das Südende des Ausstellungsgeländes zu setzten, da an jener Stelle bereits andere moderne Bauten, wie der Standard Oil Tower, geplant waren (Abb. 3). Requa bezweckte durch die Anordnung, dass Besuchende, während sie durch die Ausstellung flanierten, die verschiedenen Architekturstile des amerikanischen Südwestens durchwandern und eine Entwicklung dieser bewusst wahrnehmen konnten (vgl. Requa 1937, S. 51). Das Südende des Parks sollte symbolisch dabei die aktuellsten sowie zukunftweisenden Ideen und Visionen der modernen Architektur darstellen (vgl. Pescador et al. 2010, S. 10). Das Ford Building stellte in seinen ersten Entwürfen eine Rotunde mit einem mehrstöckigen Turm dar. Als sich jedoch der nahegelegene Flughafen meldete, dass der kolossale Turm in einer Einflugschneise läge und ebenso Henry Ford die Maße des Baus deutlich verkleinert wünschte, mussten Requa und sein Team ein vollständig neues Konzept vorlegen. Sie gestalteten den Bau in einer neuen Form, die als eine Anlehnung an das Ford V8-Logo (Abb. 4) interpretiert werden kann, das perfekt zum Ausstellungsinhalt passt: Es besteht aus einer Acht in Form von einem größeren und einem kleineren Kreis sowie einem V, dessen Schenkel durch den größeren Kreis hindurchschneiden, um kurz hinter ihm zusammenzulaufen. Architektonisch wurden eine Rotunde gestaltet (Abb. 5), in der die Ausstellung in Form eines Rundgangs betrachtet werden konnte, und zugleich ein großer offener Platz in deren Inneren angeordnet, der mit seiner Brunnengestaltung, ebenfalls in V8-Symbol Form, zum Entspannen und Verweilen einladen sollte. Die große Rotunde fungiert symbolisch als der große Kreis der Acht, während eine rundliche Ausformung am Nordende des Baus als Eingangsfoyer

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Abb. 3: Heutiger Plan des Balboa Park. Das Ford Building befindet sich am südlichen Ende des Parks sowie des ehemaligen Ausstellungsgeländes (markiert) (OpenStreetMap contributors, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Balboa-park-full.png, gemeinfrei)

kreiert wurde, die die kleinere Rundung der Acht symbolisiert. Das angedeutete V beginnt am Südende des Baus und zieht sich imaginär, durch die Anordnungen von Bänken sowie dem V8-Brunnen im inneren Platz, scheinbar bis zum Eingangsbereich hinunter. Der zentrale Ausstellungsinhalt, die neuen Automobile des Ford-Konzerns und die V8-Technologie, zeigte sich so in Einklang mit der Form des Baus, die von oben betrachtet selbst zur großflächigen Werbefläche wurde, die bereits von den Reisenden, die sich in einem im Landanflug befindlichen Flugzeug befanden, deutlich wahrgenommen werden konnte, bevor sie der Ausstellung möglicherweise einen Besuch abstatteten. Die Außenfassade des Baus (Abb. 6) sowie seine Formsprache ist in den klassischen Formen der Stromlinien-Moderne gehalten. Sie besticht durch einfache und klare Formen, wobei die typische Abrundung der Ecken und Kanten

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Abb. 4: Das V8-Logo, Schematische Zeichnung (Grafik: Tanja Kilzer)

Abb. 5: Der Grundriss des Ford Buildings verdeutlicht seine charakteristische Form mit Anlehnung an das V8-Logo (entnommen aus Pescador et al.2010, S. 13)

durch die gewählte Grundrissform beinahe schon ad absurdum geführt wird. Auf Fenster wurde fast vollständig verzichtet. Lediglich im Eingangsbereich findet sich eine großflächige Fensterfront, die die Gäste einladend begrüßt, ebenso wie zwei weitere Fensterfronten zum Innenhof des Gebäudes vorliegen. Ornamente

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sowie Bauschmuck wurden nur sparsam eingesetzt. Vor allem die größere Rundung besticht durch eine einheitliche Fläche, die lediglich durch angedeutete vertikal hervortretende Elemente ebenso wie durch horizontale schmale Bänder im oberen Bereich begleitet wird, die dem Gebäude einen aerodynamischen Charakter verleihen.

Abb. 6: Das Ford Building aus der Vogelperspektive. Deutlich zeigt sich die Formsprache der Stromlinien-Moderne am Eingangsbereich und der großen Rotunde (entnommen aus Pescador et al. 2010. S. 60)

Als Grundfarbe wurde ein heller, leuchtender Weißton gewählt, der im Bereich des Eingangsforums von blauen Streifen begleitet wurde. Die blauen Streifen wurden als schlichter Schmuck herausgearbeitet und traten deutlich räumlich als vortretendes strukturelles, rohrförmiges Element hervor, das den industriellen sowie technologischen Charakter des Baus betonte. In großen roten Neonlettern stand der Name des Konzerns auf allen vier Seiten des Eingangsforums. Bei Dunkelheit wurde der Bau durch unterschiedliche Leuchtmittel illuminiert, die

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jedoch nach der Ausstellung wieder entfernt wurden (vgl. Pescador et al. 2010, S. 21). Hinter den Bau befand sich eine Terrasse, von der aus die Besuchenden von 60 m Höhe auf eine heute nicht mehr existente Teststrecke blicken konnten, die hinter dem Bau angelegt wurden war (vgl. Pescador et al. 2010, S. 19). Die Teststrecke trug den Namen »Roads of the Pacific« und führte an unterschiedlichen gartenkünstlerisch gestalteten Arealen vorbei, die verschiedene Landstriche entlang der amerikanischen Pazifikküste sowie unterschiedliche historische Epochen symbolisch darstellten (vgl. Pescador et al. 2010, S. 18). Die Gäste konnten auf der Strecke mit technisch visionären Prototypen der V8-Reihe, die erst in späteren Jahren zu erwerben waren, ebenso wie mit aktuellen Ford-Modellen fahren (vgl. Pescador et al. 2010, S. 18), wobei sie, ähnlich wie bei einer ausgestalteten Freizeitparkattraktion, die Geschichte des Landstrichs in einem Mobil der nahen Zukunft beziehungsweise der Gegenwart auf sich einwirken lassen konnten. In dieser Verbindung entstand eine zeitliche Verknüpfung von Historie und zugleich baldiger Zukunft, die nochmals durch das unterschiedliche Ausstellungskonzept von 1935 und 1936 im Inneren des Baus verstärkt wurde. So konnten die Gäste im Jahre 1935 die Fertigung sowie den Designprozess der aktuellen Ford-Modelle sowie Prototypen in einzelnen Schritten bestaunen. Als zukunftweisende Technologien und technische Visionen in Szene gesetzt, konnten sie auf unterschiedliche Herstellungsprozesse, wie die Fertigung eins neuen Sicherheitsglases, das Unfallschäden minimieren sollte, sowie die nachhaltige Verwendung von Sojabohnen zur Herstellung von zahlreichen Plastikteilen und Oberflächen im Inneren der Wagen (vgl. Pescador et al. 2010, S. 18) einen Blick werfen, die in jener Zeit als zukunftweisend und visionär gewertet werden können. Der Kern der Ausstellung bildete die Vorführung der V8-Motortechnologie (vgl. Pescador et al. 2010, S. 15), die über 30 Jahre aktuell bleiben sollte (von Frankenberg/Neubauer 1999, S. 276) und im wörtlichen und übertragenen Sinne als Beschleuniger der Wirtschaft sowie als wichtige Entwicklung für die Autoindustrie präsentiert wurde. Insgesamt besuchten über 2,5 Millionen Menschen die Ausstellung aus dem Jahre 1935 im Ford Building und 480.000 Personen unternahmen eine Fahrt auf der Teststrecke, bevor im Jahre 1936 das Thema der Ausstellung geändert und der Fokus nun auf die Geschichte der Transportmittel mit großem Augenmerk auf das Automobil gelegt wurde. Das Ford Building zeigt sich als würdevoller, architektonischer Vertreter einer technikaffinen Gesellschaft, die ihre Hoffnung und zukünftigen Visionen im Bereich der technischen Innovation suchte. Das uneingeschränkt technisierte Design des Ausstellungsbaus vereinigte sich dabei vollständig mit seinem Ausstellungsinhalt, sodass der gewählte Architekturstil als passend gewählt bezeichnet werden kann und zugleich den Inhalt unterstützt. Jedoch geht das Ford

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Building durch seinen symbolhaften Grundriss noch einen Schritt weiter: Durch seine Gestaltung in Form des V8-Symbols, das wiederum die Baustruktur des V8Motors in seinen Grundzügen wiedergibt, wird der Bau selbst zum großflächigen ausdrucksstarken Symbol eines Corporate Design.

4.

Die Wandmalerei »March of Transportation« – Von der Vergangenheit in die Zukunft der Transportmittel

Nachdem das Ford Building im Zuge der Verlängerung der California Pacific International Exposition auf den Namen »Palace of Transportation« umgetauft wurde (vgl. Pescador et al. 2010, S. 22) und eine historische Ausstellung in das Gebäude einzog, sollte auch die malerische Ausgestaltung des Baus thematisch angepasst werden. Der Künstler Juan Larrinaga, der als künstlerischer und technischer Leiter der Exposition tätig war und sich darüber hinaus einen Namen im Bereich der Set- und Kulissengestaltung für mehrere Hollywoodfilme (u. a. King Kong 1933) gemacht hatte (vgl. Requa 1937, S. 40, Morton 2005, S. 13), widmete sich persönlich der anspruchsvollen Aufgabe, ein passendes Wandgemälde zu kreieren, das mit einer Höhe von ungefähr 6 m (20 Fuß) sowie einer Länge von etwa 137 m (450 Fuß) als die größte Wandmalerei der westlichen Hemisphäre gilt (vgl. Benton 2014, S. 71) und die Mauer des inneren Rings des Gebäudes schmückt. Larrinaga, der in verschiedenen dekorativen Künsten, der Malerei und im Bühnenbau ausgebildet war und sich als versierter Gestalter von optischen Effekten verstand, sodass er unter anderem durch den Einsatz von gezielten zeichnerischen Lichteffekte seinen Werken eine realistische sowie körperliche Wirkung verleihen konnte (vgl. Requa 1937, S. 40), entschied sich dazu, thematisch die historische Entwicklung unterschiedlicher Verkehrs- und Transportmittel bis ins Jahr 1935 nachzuzeichnen und zugleich seine persönliche Vision der Zukunft festzuhalten. Das Werk, das den klangvollen Namen »March of Transportation« (Abb. 7) tragen sollte, begleitete die Besucher während ihres Rundgangs durch die Ausstellung und fungierte als historische Zeitleiste, die die technische Entwicklung neben den ausgewählten Ausstellungsstücken nochmals breiter illustrierte und in einen internationalen Kontext stellte. Durch den Zusammenhang von Ausstellungsstücken und malerischer Ausgestaltung, fungierte das Werk nicht nur lediglich als stimmungsvolle Dekoration, sondern zugleich als wissensvermittelndes Anschauungsmaterial und im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als Hommage an den ohne Unterbrechung voranschreitenden technischen Fortschritt, der im Sinne des damaligen Zeitgeistes, als wichtiger Motor für eine sprichwörtlich strahlende Zukunft wahr-

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Abb. 7: Wandmalerei »March of Transportation«, Juan Larrinaga, 1936, Ford Building (entnommen aus Pescador et al. 2010, S. 24)

genommen wurde und sich vor allem symbolisch im Automobil und weiteren Transportmitteln manifestierte. Die Malerei wurde auf einer Grundierung aus Hasenleim aufgetragen (vgl. Pescador et al. 2010, S. 24) und weist heute nach ihrer Restaurierung im Jahre 1979, die von dem Künstler Thomas Parker Emery sowie seinen Assistenten Gwen Pendergast, Michael Dunham und Angela Tang (vgl. Pescador et al. 2010, S. 36) durchgeführt wurde, einen dunklen, gelblichen Hintergrund auf, der monochrom die gesamte Fläche einnimmt und von einem braunen, abschließenden Schmuckband im oberen und unteren Bereich umschlossen wird. Über die gesamte gelbliche Fläche angeordnet, finden sich zum Teil in mehreren Reihen übereinander und in unregelmäßigen Abständen angeordnete, isolierte Einzelbilder von unterschiedlichen Verkehrs- und Transportmitteln, deren Einsatzgebiete im Wasser, zu Lande und sogar in der Luft liegen. Auffällig zeigt sich, dass keine räumliche Differenzierung bezüglich ihres Anwendungsbereichs vorliegt, sodass Automobile ebenso wie Schiffe oder Flugkörper scheinbar schwebend über anderen Transportmitteln dargestellt wurden, wodurch der wissensvermittelnde Schaubildcharakter des Bildes betont wird. Verbindend zeigt sich indes die Fortbewegungsrichtung der jeweiligen Verkehrsmittel: Alle Einzelbilder sind so gestaltet worden, dass ihre Front durchwegs nach rechts ausgerichtet ist und somit ein Fahrt- beziehungsweise Bewegungsverlauf in diese Richtung impliziert wird. Durch diese Gestaltung, die sich bereits auf den ersten

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Blick erschließt, wird anhand der dargestellten fortschreitenden technischen Entwicklung ein indirekter Zeitstrahl imaginiert, der, trotz keiner konkreten zeitlichen Datenangaben, als zeitliche Entwicklungslinie wahrgenommen wird. Zugleich verdeutlicht die Anordnung, dass es keinen Weg zurück auf dieser Linie geben kann und der Fortschritt ebenso wie die technische Entwicklung nicht das Ziel, sondern einen fortschreitenden Prozess darstellt, der nicht in einer einzelnen visionären Zukunft endet, sondern immer weiter führt und neue technische Visionen hervorbringt, die möglicherweise von uns, heute, noch nicht einmal imaginiert werden können. Der Begriff »March« (dt. Marsch) im Namen des Kunstwerks verdeutlich darüber hinaus nochmals die Linearität dieses Gedankenguts und zugleich die Anstrengungen, die zweifelsohne mit dem Wort »Marsch« impliziert werden, die jede Entwicklungsstufe durchläuft, um neue innovative, technische Mittel zu erzeugen. Larrinagas Interpretation dieses langen und mitunter steinigen Weges beginnt im Paläolithikum. Eine braungebrannte männliche ebenso wie eine weibliche Gestalt in klischeehaft urzeitlicher Gewandung mit einem Kleinkind auf dem Arm schreiten lediglich zu Fuß voran. Um sie herum Jagdszenen, die vor allem durch den rein körperlichen Transport der Beute per Hand oder mit einfachen Hilfsmitteln wie Stöcken auffallen. Es folgen Darstellungen von Männern und Frauen auf einfachen Holzflößen sowie auf Transporttieren wie Lamas oder Eseln. Auffällig zeigen sich bereits an jener Stelle der Einbezug unterschiedlicher Kulturkreise ebenso wie die Darstellung von männlichen und weiblichen Figuren, sodass bewusst die gesamte Welt vom Künstler in den Fokus genommen und somit die technische Entwicklung als internationale Leistung dargestellt wurde, während zugleich, durch den Einbezug beider Geschlechter, interpretativ geschlechtsneutral, der gesamten Menschheit diese technologische Entwicklung zugesprochen werden kann. Nach der Nutzbarmachung einzelner Tiere als Zug- und Transportmittel für Waren in verschiedenen kulturellen Kontexten wendet sich Larrinagas Gemälde den antiken Hochkulturen zu. Einfach erkennbar durch typische dekorative Gestaltungsmittel, bekannte gezeichnete Kunstgegenstände und typisierte Kleidungsstile, lassen sich die jeweiligen Bilder historisch einordnen. Von den assyrischen Jägern auf ihren Streitwagen über den Transport einer kolossalen Pharaonenskulptur bis hin zur römischen Galeere und den Drachenbooten der Wikinger wird die Entwicklungslinie konsequent weitergezogen. Sänften auf prächtig geschmückten Elefanten, die von Figuren in klischeehafter, indischer Kleidung geführt werden, Ochsen- und Pferdekarren sowie eine chinesische Dschunke führen das Wandgemälde weiter fort, bevor es mit der Darstellung eines Schiffes, das aufgrund seiner kreuzförmigen Verzierungen an seinem Hauptsegel und Nebensegel, als »Santa Maria« – jenem Schiff, mit dem Christoph

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Kolumbus den amerikanischen Kontinent entdeckt hatte – interpretiert werden kann, das Mittelalter hinter sich zurücklässt. Die Frühe Neuzeit wird gestalterisch durch eine figurative Darstellung von Leonardo Da Vinci eingeläutet, die an das bekannte Selbstportrait angelehnt wurde und in ihrer linken Hand, gut sichtbar, den Betrachtenden schematische Pläne von unterschiedlichen Flugobjekten präsentiert. Als einzige Darstellung einer identifizierbaren, historisch verbürgten Person, die nicht lediglich nur als Staffage fungiert, zeigt sich indirekt die Wichtigkeit seiner Entwürfe und technischen Visionen für die zukünftige Entwicklung neuer Maschinen und Transportgeräte, während seine Darstellung zugleich als wirkungsvolle Stellvertreterfigur für den Mensch und sein Einfallsreichtum an sich betrachtet werden kann, durch dessen Ideen und Visionen erst ein weiterer Fortschritt ermöglicht wird. Umgeben wird er von Transportmitteln seiner Zeit, zu denen unter anderem die reich verzierte Kutsche eines Adeligen und ein prächtiges Transportschiff einer höhergestellten Persönlichkeit gehören. Eine erneute zeitliche Wende vollzieht sich durch die nächsten Einzelbilder von zwei Schiffen, eine Galeone und ein Handelsschiff, die als Vertreter der Transportmittel zur See des 17. und frühen 18. Jahrhunderts angesehen werden können. Sie zeichnen sich gestalterisch durch eine kolossale Größe aus, die sich über die gesamte Höhe der Wandmalerei zieht und, ähnlich wie die figurative Darstellung Da Vincis, als scheinbare Begrenzung oder Abgrenzung interpretiert werden können, die eine neue Ära einleiten, hier in Form von der ersten Darstellung eines Fluggeräts, die auf die beiden Schiffsdarstellungen folgt. Während im unteren Bildbereich eine Person in einer Sänfte von zwei männlichen Figuren mit Perücken und Kleidermode des Rokokos getragen wird und eine Kutsche mit Pferdegespann dargestellt wurde, zeigen sich im oberen Bildbereich die ersten menschlichen Flugversuche. Ein Mann erhebt sich mit einer Papierkonstruktion in die Lüfte und zwei Ballone scheinen über der Kutsche zu schweben. In bunten Farben und mit reichlich ornamentaler Verzierung zeigt sich einer von ihnen im Stil der Montgolfière, jenes Heißluftballons, mit dem der erste bemannte Ballonflug im Jahre 1783 erfolgte (McCloy 1952, S. 15). Nach dem klar zuordbaren historischen Ereignis, das als Meilenstein der Luftfahrt angesehen werden kann, erfolgt eine breitere Anordnung der einzelnen Darstellungen in vier übereinander angeordneten Reihen. Durch die neue Aufteilung, in der die einzelnen Transportmittel typologisch weiterhin unsortiert dargestellt werden, zeigen sich die Beschleunigung des Erfindergeistes und die schnellere Weiterentwicklung im Bereich des Transportwesens mit dem Beginn des industriellen Zeitalters. Vom Laufrad des Herrn von Drais über das erste Dampfschiff und den wildwestlichen Planwagen bis hin zur Dampflokmotive und dem ersten Automobil wird kleinschrittig die Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert dokumentiert. Zeppeline und Propellerflugzeuge haben die ersten Luftschiffe abgelöst und bevölkern den

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Himmel, während sich Frachtschiffe über das Meer fortbewegen und unterschiedliche Automodelle bis in die 1930er Jahre den rapiden Fortschritt darstellen. Als weiteres historisches Ereignis ist die erste Expedition zur Antarktis von 1912 festgehalten, die zugleich symbolisch als Darstellung des menschlichen Vermögens interpretiert werden kann, auch die letzten unbekannten Stellen der Erde zu erforschen und sie durch die neuen technischen Möglichkeiten überhaupt erst zu erreichen. Als letzte Etappe der scheinbaren Zeitleiste hielt Larrinaga die aktuellen Fahrzeuge und Verkehrsmittel der 1920er und 1930er Jahre fest. Stromlinienförmige Züge ebenso wie Autos prägen das Bild und werden begleitet von Wasserflugzeugen, Rennbooten und schweren Kreuzfahrtschiffen. Doch Larrinaga beendete sein Werk nicht mit der zeitgenössischen Entwicklung, sondern wagte einen Blick in eine visionäre Zukunft. Der Künstler entschied sich, zur Darstellung seiner eigenen Zukunftsvorstellung (Abb. 8) von dem bisherigen, eher linearen Darstellungsstil abzuweichen und kreierte das Bild einer städtischen Landschaft, die von Wolkenkratzern dominiert wird, die bis in den Himmel hineinreichen. Technisch, strukturiert wirkt die Architektur, die wenig bis gar keine Verzierungen und Ornamentik aufweist und vor allem durch die zur damaligen Zeit sehr populäre stromlinienförmige Formgebung auffällt. Die gemalten Wolkenkratzer durchbrechen dabei an Höhe die Maße der Wandmalerei, indem sie sich vermeintlich endlos weiter nach oben erstrecken – ein Effekt, der durch die gemalte Formgebung maßgeblich unterstützt wird und die enormen Dimensionen der von Larrinaga imaginierten Hochhäuser betont. Larrinagas imaginierte Stadt der Zukunft lehnt sich dabei gestalterisch an die damaligen Entwicklungen innerhalb amerikanischer Großstädte an, die bereits seit den 1920er Jahren beobachtet werden konnten: In die Höhe strebende Wolkenkratzer, die sich, gestalterisch teilweise stark vereinfacht, an den zeitgenössischen Hochhausbauten anlehnen – wie unter anderem an das Rockefeller Center –, dominieren das Bild und verweisen indirekt auf die vom Künstler erwarteten weiteren technischen Entwicklungen innerhalb des Hochhausbaus, während er dem gestalterischen Baustil seiner Zeit treu bleibt. Zum Ende der 1920er Jahre machte die Technik innerhalb des Wolkenkratzerbaus zahlreiche Fortschritte. Ingenieure und Architekten experimentierten an neuen Belastungsmethoden sowie an der Entwicklung neuer Innovationen, die die Skelettbauweise noch weiter verbessern sollten, sodass es keine Unmöglichkeit mehr war, Gebäude mit über 100 Stockwerken zu errichten (vgl. Bennett 1995, S. 56). In den Himmel strebende Bauten prägten das städtische Bild innerhalb der USA und galten als fortschrittlich und modern (Abb. 9). Trotz des Börsencrashs und der schweren auf ihn folgenden wirtschaftlichen Depression wurden zahlreiche Wolkenkratzer, die zum Ende der 1920er Jahre geplant wur-

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Abb. 8: Die Zukunftsvision von Juan Larrinaga. Ausschnitt der Wandmalerei »March of Transportation« (entnommen aus Benton 2014, S. 71)

den, in den frühen 1930er Jahren fertiggestellt (vgl. Bennett 1995, S. 57). An Höhe und Gesamtfläche stellten sie zahlreiche zuvor erfolgreich umgesetzte Bauprojekte in den Schatten, waren Symbole der finanziellen Potenz und fungierten als Wahrzeichen für eine baldige Überwindung der schwierigen wirtschaftlichen Lage (Sheppard 1996, S. 45). So entstand im Jahre 1930 das Manhattan Bank Building, das mit einer Gesamthöhe von 283 m den Titel höchstes Gebäude der Welt nur wenige Wochen innehielt, bevor es vom 319 m hohen Chrysler Building überflügelt wurde (vgl. Bennett 1995, S. 57), nur um kurz darauf erneut den prestigeträchtigen Titel abgeben zu müssen. Vor allem das im Eiltempo hochgezogene Empire State Building mit einer Höhe von 381 m, seiner prächtigen Fassade sowie seinen reichausgestatteten Innenräumen, sollte die New Yorker Bevölkerung auf bessere Zeiten hoffen lassen und ein Symbol des bald wiedereinkehrenden wirtschaftlichen Erfolgs werden (vgl. Sheppard 1996, S.45).

Abb. 9: Luftansicht von New York, 1930, mit zeitgenössischen Zeppelin USS Los Angeles (ZR-3) (USN, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Uss_los_angeles_airship_over_Manhattan.jpg, gemeinfrei)

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Larrinagas Zukunftsvision orientiert sich stark an dem symbolhaften Charakter dieser Bauten. In seiner Vision wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seiner Epoche scheinbar erfolgreich gelöst. Neue, immer höhere Wolkenkratzer sind entstanden, ebenso wie weitere Bauten mit industriellem Charakter. Weißlich blaue Dampfwolken erheben sich in den Himmel und kreieren die Vorstellung eines scheinbar florierenden wirtschaftlichen Systems sowie einer finanzstarken Gesellschaft. Die dargestellten Transportmittel zeigen sich vielseitig und können als Beleg für den Erfindergeist aufgefasst werden, der die zeitgenössische Gesellschaft aus der Krise und nach der allgemein vorherrschenden Meinung der Bevölkerung in die Zukunft befördern können sollte. Die Gestaltung der Verkehrsmittel zeigt sich denkbar unterschiedlich. Während vor allem die Automobile ebenso wie ein groß ins Bild gerückter Autobus sich durch eine starke Anlehnung an die Stromlinienform auszeichnen, zeigen sich vor allem im Bereich der Luftfahrzeuge neuartige Formen und Gestaltungen. Mehrere runde Flugobjekte erheben sich in den Himmel, die von einem waagerechten Propeller angetrieben und in der Luft gehalten werden. Kleine Fenster umgeben den unteren Flugkörper, der mehrere Ebenen aufzuweisen scheint. Auf den ersten Blick scheint eine Anlehnung an die heutige Vorstellung der sogenannten »fliegenden Untertassen« wahrscheinlich, jedoch wurde unser heutiges Bild dieser vermeintlich unbekannten Flugobjekte weitgehend erst durch die zahlreichen mutmaßlichen ersten modernen UFO- Sichtungen in der Zeit der 1940er Jahre (vgl. Latagliata 2010, S. 16) ebenso wie durch zahlreiche mit diesen in Zusammenhang stehenden Verschwörungstheorien geprägt. Die Scheibenform gilt seit dem Ende der 1940er Jahre als die am häufigsten beobachtete strukturelle Form von sogenannten UFOs (vgl. Latagliata 2010, S. 32), sodass eine Anlehnung an diese Sichtungen aufgrund des Entstehungsdatum der Malerei ausgeschlossen werden kann. Wahrscheinlicher scheint eher, dass Juan Larrinaga die Inspiration für seine visionären Transportmittel, zu denen neben den bereits beschriebenen Objekten eine Rakete, die mit einer Kanone in die Luft geschossen wird, und ein in den Vordergrund tretendes Flugzeug gehören, in der frühen Science-Fiction-Literatur des 19. Jahrhunderts sowie frühen 20. Jahrhunderts, den ersten ScienceFiction-Filmen seiner Zeit und möglicherweise in zeitgenössischen technischen Innovationen fand. Gerade das Science-Fiction-Genre erfreute sich in den 1930er Jahren im Zuge zahlreicher populärer Zeitschriften und Hefte mit mehreren Kurzgeschichten verschiedener Autoren (vgl. Ashley 2000, S. VIII), die als sogenannte Pulp-Literatur verstanden und kostengünstig von einer meist jungen Leserschaft erworben wurden, in den Vereinigten Staaten einer großen Beliebtheit, ebenso wie Filme mit einem futuristischen Setting (vgl. Telotte 1999, S. 99) sowie die großen Klassiker des Science-Fiction-Romans.

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Die bekanntesten Werke, die dem Science-Fiction-Genre zugeordnet werden können und bereits in den 1930er Jahren als Klassiker galten, stellen die Romane des französischen Schriftstellers Jules Verne und des englischen Romanautoren Herbert George Wells dar (vgl. Roberts 2016, S. 183). Die Romane von Jules Verne, die sich speziell mit der Himmels- und Raumfahrt in einem Fluggerät beschäftigen, sind dabei die Werke »De la Terre à la Lune« aus dem Jahre 1865 und dessen Fortsetzung »Autour de la Lune« von 1870 ebenso wie das Buch »Robur-leconquérant« und dessen Fortsetzung »Maître du Monde« aus dem Jahren 1886 und 1904. Während die beiden ersten Romane sich mit der Reise ins All sowie deren aufwendige Vorbereitung beschäftigen (Roberts 2016, S. 189), steht im Zentrum der Handlung der beiden zuletzt genannten Werke ein futuristisches Luftschiff mit Rotorantrieb (vgl. Roberts 2016, S. 198). Betrachtet man das Titelblatt der französischen Originalausgabe von »Robur-le–conquérant« mit einer Illustration des Malers Léon Benett (Abb. 10), die das fragliche Luftschiff abbildet, so besticht die Darstellung des Gefährts durch die Vermischung eines hochseetauglichen, modernen Dampfschiffrumpfs mit zahlreichen Propellern und Rotoren, die auf hohen Aufbauten in einer Reihe auf dem Deck angeordnet wurden. Trotz der wenigen Ähnlichkeit zu dem Flugobjekt auf der Wandmalerei findet sich in der Konstruktion eine entscheidende Parallele in den Rotoren, die, ähnlich wie bei einem heutigen Hubschrauber, über dem Objekt angeordnet wurden. Doch Jules Verne war nicht der Erste, der Flugobjekte jener Art imaginierte. Bereits auf Zeichnungen von Leonardo Da Vinci aus dem Jahre 1483 (vgl. McGowen 2005, S. 1) findet sich eine ähnlich anmutende Flugmaschine (Abb. 11) wieder mit einem waagerecht über dem Objekt platzierten Antrieb. Bei einem direkten Vergleich des gezeichneten Objekts mit dem gemalten Flugobjekt von Larrinaga zeigt sich eine markante Ähnlichkeit in Form und Gestaltung, mit der nicht einmal die zeitgenössische technische Umsetzung der Hubschraubermodelle der 1930er Jahre mithalten kann. Zu jener Zeit steckte die Entwicklung eines Transportmittels, das zu einem Vertikalflug fähig war, trotz langen Jahren der Forschung noch immer in den Kinderschuhen und war gekennzeichnet durch zahlreiche Experimente (vgl. McGoven 2005, S. 1–14). Die Koaxial-Maschine von Louis Charles Breguet, die mit ihren Rotorblättern sowie ihrer aerodynamischen Formgebung auffällt und bereits starke Ähnlichkeit zu der heute allgemein verbreiteten Helikopterform aufweist (Abb. 12), gilt als einer der bekanntesten Hubschrauberprototypen jener Ära. Breguets Maschine konnte insgesamt 62 Minuten in der Luft bleiben und legte dabei eine Strecke von 44 km zurück (vgl. McGoven 2005, S. 9). Die Präsentation seiner Maschine im Jahre 1935 stellt die erste vollständige Vorführung eines funktionstüchtigen Hubschraubers (Adams 2016, S. 805) dar. Larrinaga kann demnach im Jahre 1936, als die Malerei entstand, durchaus über die neusten Entwick-

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Abb. 10: Titelblatt der französischen Originalausgabe von »Robur-le-conquérant« mit einer Illustration des Malers Léon Benett, 1886 (Léon Benett creator QS:P170,Q966547, https://com mons.wikimedia.org/wiki/File:Robur_1.jpg, gemeinfrei)

Abb. 11: Schematische Darstellung der Flugmaschine von Leonardo Da Vinci (Angelus (talk), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Science_history_icon.svg, gemeinfrei)

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lungen im Bereich der Hubschraubertechnik im Bilde gewesen sein, jedoch legt vor allem seine zeichnerische Umsetzung eher eine Orientierung an den visionären Flugmitteln Leonardo Da Vincis nahe. Seine zuvor ausgeführte, figürliche Umsetzung des Malers und Erfinders kann darüber hinaus als weiteres Indiz für diese These gewertet werden, vor allem, wenn man sich bewusst wird, dass Larrinaga seine Da Vinci-Figur mit Plänen von ähnlichen visionären Flug- und Transportmitteln ausstraffierte, die die Figur dem Betrachtenden auffällig präsentiert.

Abb. 12: Modell des Hubschraubers von Breguet, 1935 (Hubschraubermuseum Bückeburg. Cornu1907, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ModellBreguetDorandGyroplaneLaborat oireHubMus1zu11.jpg, gemeinfrei)

Wenden wir uns von den runden Flugobjekten auf dem Wandgemälde ab und der Rakete zu, die auf dem Bild aus einer Kanone geschossen wurde, so fällt auf, dass gerade jenes Motiv den Romanen von Jules Verne und den frühen ScienceFiction-Filmen entstammt. Im Roman »De la Terre à la Lune« beschreibt Verne eine große Kanone, die ein Flugobjekt in Form eines zylindrisch-konischen Behältnisses ins All schießt (vgl. Verne 1865, Druckausgabe 2019: S. 6). Im Wandgemälde zeigt sich die große Kanone als technisch gut ausgestattetes Gerät mit zahlreichen Zahnrädern, Hebeln und Justierhilfen, die schräg in Richtung Himmel gerichtet und in direkter Beziehung zu einem langgezogenen raketenhaften Flugobjekt steht, das eine Rauchwolke auf seinem Flug in den Himmel hinter sich herzieht und somit auch den Erfolg des Unterfangens demonstriert. Trotz zahlreicher Fortschritte im Bereich der Raketentechnik in den 1920er und 1930er Jahren sowie dem Glauben an die Möglichkeit der bemannten Raumfahrt, der stark von der Herausgabe der Monographie »Die Rakete zu den Planetenräumen« des Physikers Hermann Oberth aus dem Jahre 1923 beeinflusst wurde und zur Initialzündung des Raumfahrtenthusiasmus werden sollte (vgl. Brandau

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2019, S. 27), nimmt Larrinagas Darstellung einer Kanonen-Rakete eher phantastische Züge an, die sich an der Belletristik anstatt der Forschung orientieren. Neben der Kanonen-Rakete in Jules Vernes Roman, die der Lesende sich selbst vorstellen musste oder durch Buchillustrationen präsentiert bekam, nahm der Film »Le Yoyage dans la Lune« von Georges Méliès aus dem Jahre 1902, der eine große Wirkung auf den späteren US-amerikanischen Film ausüben sollte (vgl. Solomon 2011, S. 1) und lose auf Vernes Roman und dem Buch »Die ersten Menschen auf dem Mond« von H.G. Wells sowie weiteren Quellen beruht (Solomon 2011, S. 15), das Motiv auf. In einer Filmszene wird die Kanone präsentiert, mit dessen Hilfe das Raumschiff zum Mond geschossen werden soll und zugleich mit diesem beladen wird (Abb. 13). Der Film sollte, aufgrund seiner bahnbrechenden cineastischen und bühnentechnischen Effekte, die noch Jahrzehnte nach der Erstausstrahlung des Films zahlreiche Filmemacher inspirierten, Filmgeschichte schreiben und Méliès zum Vater der cineastischen Spezialeffekte machen (vgl. Freeman 2016, S. 172). In dem Film wurde zum ersten Mal auf Matte Paintings, gemalte Kulissen auf Glasplatten, zurückgegriffen (vgl. Freeman 2016, S. 172), mit dessen Hilfe Handlungen an fiktiven oder unzugänglichen Orten in Filmen ermöglicht wurden und auf die noch bis in die heutige Zeit in Verbindung mit digitaler Technik zurückgegriffen wird (von Kap-herr 2017, S. 113–116).

Abb. 13: Die Weltraum-Kanone. Szene aus dem Film »Le Yoyage dans la Lune« von Georges Méliès aus dem Jahre 1902 (gemeinfrei)

Juan Larrinagas berufliche Profession als Kulissenmaler beim Hollywoodfilm mag durchaus als Indiz herhalten, dass er jenen Film kannte und das futuristi-

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sche Motiv eines per Kanone möglichen Weltraumflugs, inspiriert durch jene Quellen (Film und Buch), indirekt oder bewusst in seine Zukunftsvision mit einfließen ließ. Das Letzte von Larrinaga festgehaltene Flugobjekt mag für den heutigen Betrachtenden am wenigstens wie ein Transportmittel der Zukunft erscheinen, sondern auf den ersten Blick Assoziationen mit militärischen Düsenflugzeugen der heutigen Zeit hervorrufen. Dies mag vor allem auf die markante Flugzeugnase des gemalten Objekts zurückzuführen sein, die ähnlich aufgrund der aerodynamischen Bedingungen beim Düsenjägerbau, beispielhaft bei dem deutschen Jagdbomber Panavia Tornado, bis in die heutige Zeit eingesetzt wird. Das Heck des Flugzeugs in Larrinagas Zeichnung scheint von zeitgenössischen Passagierflugzeugen inspiriert. So ist eine Ähnlichkeit mit dem Heck der DC-3, die 1935 ihren Jungfernflug antrat (Kopenhagen 2000, S. 495) und somit als hochmodern zu jener Zeit galt, festzustellen. Larrinagas Zukunftsvision des Passierflugzugs besteht somit aus einer Mischung der technischen Innovationen seiner Zeit mit fantastisch anmutenden Formen und zugleich einer aerodynamischen Nase, die er möglicherweise aus dem Bereich von Raketendarstellungen aus der ScienceFiction auf den Flugzeugbau übertragen hat. Larrinagas gemalte Zukunft zeigt sich in einem denkbar positiven Licht. Die gemalte Architektur ebenso wie die von ihm ersonnenen Transportmittel stehen in einem engen kulturellen Kontext zu seiner Zeit und spiegeln zugleich Wünsche und Hoffnungen der Wissenschaft wieder wie auch beliebte und bekannte Motive aus der damaligen populären Welt der Science-Fiction. Larrinagas Zukunftsvision zeigt sich somit als Kind seiner Zeit, die eindrucksvoll den Zeitgeist der US-amerikanischen 1930er Jahre einfängt und dem Betrachtenden mit einem hoffnungsspendenden Optimus eine mögliche technologisch weiterentwickelte Zukunft vor Augen führt, die, anders als beispielhaft im Film Metropolis, keine sichtbaren dystopischen Züge aufweist.

5.

Von der Ausstellungsfläche zum Air & Space Museum – Neue Nutzungs-Visionen und die Umsetzungsschwierigkeiten

Seit dem Ende der California Pacific International Exposition diente der Bau mannigfaltigen Zwecken und sollte die Fantasie vieler Organisationen sowie Kunstschaffender zur Erschaffung teils kühner Nutzungsvisionen anregen, wie es Pescador et al. (2010, S. 27–29) illustrieren: Zur Zeit des Zweiten Weltkrieg wurde der großflächige Bau als National Guard Building deklariert und als Lager für Flakartillerie, LKWs und Suchscheinwerfer vom 251. National Guard Artillery Regiment genutzt, bis die Truppe im Jahre 1940 nach Hawaii verschifft wurde

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und eine Schule zur Ausbildung von Flugzeugkonstrukteuren und -konstrukteurinnen in dem Gebäude eingerichtet wurde. Zeitgleich hielt die Civil Air Patrol, eine zivile Einheit der Air Force, Kurse in dem Bau ab, bevor, mit dem Ende des 2. Weltkriegs, der US-amerikanische Flugzeughersteller Convair Interesse an der Nutzung des Gebäudes äußerte. 1947 wurde der Bau in Folge seines Leerstands als Lagerhalle für eine Flugzeugausstellung, die im Balboa Park geplant war, genutzt, während wenig später die National Rifle Association die Räumlichkeiten als Schießstand nutzen wollte. Diese und auch weitere Nutzungsideen, wie ein Umbau zur Rollschuhbahn, zur öffentlichen Bibliothek oder zu einem Aquarium (Amero 2020) scheiterten aufgrund der hohen Betriebskosten des großflächigen Gebäudes sowie möglicher hoher Umbaukosten (vgl. Pescador et al. 2010, S. 28). Primär wurde der Bau weiterhin über die 1950er Jahre hinweg als Lagerhalle genutzt. Zeitweise diente das Gebäude in den 1960er und frühen 1970er Jahren dem Künstler Salvador Torres für Ausstellungszwecke und wurde als künstlerisches Zentrum umgebaut (vgl. Fallon 2004, S. 65–67). Nach zahlreichen Restaurierungsversuchen sowie auch Abrissszenarien des immer mehr verfallenen Gebäudes, das 1973 ins National Register of Historic Places aufgenommen wurde, konnte das Ford Buildung mit dem Einzug des Air & Space Museums 1980 gerettet werden. In Erinnerung an seine Geschichte und ursprüngliche Funktionen sind neben der Geschichte der Luft- und Raumfahrt auch historische Automobile von Ford ausgestellt. 2000 wurde der Innenhof des Gebäudes zum Schutz überdacht (Abb. 14 und 15).

Abb. 14: Die heutige Ansicht des San Diego Air & Space Museum (Foto: Tanja Kilzer)

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Abb. 15: Die heutige Ansicht des San Diego Air & Space Museum. Der Innenhof wurde 2000 zum Schutz überdacht. Die Form des V8-Brunnen in seinem Inneren wurde auf das Dach aufgebracht, sodass seine Form aus der Luft sichtbar bleibt und in Relation zu der Gebäudeform immer noch dazu beiträgt, dass ein V, das die beiden Kreise schneidet, imaginiert werden kann (Phil Konstantin (Philkon), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SanDiegoAirSpaceMuseumByPhil Konstantin.jpg, gemeinfrei)

Die Wandmalerei »March of Transportation« des Künstlers Juan Larrinagas begleitet dabei, ähnlich wie bereits zu Zeiten der California Pacific International Exposition, die heutigen Museumsbesucherinnen und Museumsbesucher, die im Rahmen der Ausstellung die Geschichte der Luft- und Raumfahrt abschreiten, und bereichert sie um eine Darstellung der generellen Entwicklung der Transportmittel. Auffällig zeigt sich dabei, dass einige der von Larrinaga erdachten, damaligen zukünftigen Verkehr- und Flugmittel heute teilweise in ähnlicher Form selbst zu geschichtlichen Exponaten und Bestandteilen der Luft- und Raumfahrtgeschichte geworden sind – ein Hinweis darauf, dass Zukunftsvisionen, die scheinbar zu ihrer Entstehungszeit lediglich Science-Fiction-Vorstellungen darstellen, selbst eines Tages zu Geschichte werden können.

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Eva von Engelberg-Docˇkal*

Visionen simultaner Geschichten: Historisierende Stadtinseln

Visionen richten sich nicht allein auf Zukünftiges, sondern ebenso auf die Vergangenheit. Dies gilt in besonderer Weise für die Moderne, die parallel zu Fortschrittsdenken und Innovationsanspruch auf die Geschichte rekurrierte. Das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Wissenschaften, der Ökonomie und der rasanten technischen Entwicklungen fand seinen architektonischen Ausdruck im Historismus mit seinen – auf der modernen Bauforschung basierenden – NeoStilen. Neu waren die Vorstellung einer linearen Geschichtsentwicklung und die aus der wissenschaftlichen Distanz heraus entstandene reflexive Haltung gegenüber der Vergangenheit. Mit Hilfe der noch jungen Disziplin der Architekturgeschichte und der von ihr konstruierten Stilepochenfolge wurde die Historie zur Inspirationsquelle und zum Fundus des zeitgenössischen Bauens. So besteht die Vision des Architekten in Thomas Coles berühmten Gemälde The Architect’s Dream von 1840 aus einer Kompilation von Bauwerken unterschiedlichster Stile (Abb. 1). Der mit dem Maler befreundete Poet William Cullen Bryant deutete das Bild als »an assemblage of structures, Egyptian, Grecian, Gothic, Moorish, such as might present itself to the imagination of one who had fallen asleep after reading a work on the different styles of architecture.« (zitiert nach Noble 1965, S. 213). Der Traum erscheint hier als Blick in die Geschichte in Form einer Zusammenschau imaginierter Bauwerke verschiedenster Epochen und unterschiedlichster Orte. Vergleichbare Geschichtsvisionen finden sich auch in der Architektur. Der Beitrag thematisiert dieses Phänomen und fragt anhand ausgewählter Beispiele nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der zeitlichen Entwicklung seit der Moderne. Im Zentrum der Betrachtung steht das in den 1970er Jahren präsentierte Konzept des Stadtarchipels, das ein neues postmodernes Geschichtsverständnis inklusive einer veränderten Bezugnahme auf historische Vorbilder markiert. * Univ.-Prof. Dr. Eva von Engelberg-Docˇkal, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Department Architektur – Architekturgeschichte.

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Abb. 1: The Architect’s Dream von Thomas Cole 1840 (Toledo Museum of Art, Ohio; https://up load.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6c/Thomas_Cole_-_Architect%E2%80%99s_Drea m_-_Google_Art_Project.jpg, gemeinfrei, zuletzt abgerufen am 28. 06. 2020)

1.

Gebaute Geschichtsvisionen

Geschichtsvisionen in der Art von Coles Traumbild kannte man bereits aus den Landschaftsparks des 18. Jahrhunderts mit ihren historisierenden und »exotischen« Staffagebauten in Form antikisierender Tempel, mittelalterlicher Kirchenruinen und chinesischer Pagoden. Den Besucherinnen und Besuchern dieser Kunstwelten bot sich dabei anhand der Abfolge inszenierter Gartenbilder die Möglichkeit einer imaginierten Reise durch ferne Zeiten und fremde Länder. Eine Popularisierung dieser Erlebniswelten brachte das 19. Jahrhundert mit seinen Freizeitparks, wie dem 1843 eröffneten Tivoli in Kopenhagen, und den großen Kunst- und Gewerbeausstellungen (vgl. Schwarz 2017). Auf der Pariser Weltausstellung von 1878 konnten die Teilnehmerländer die Eingänge zu ihren Abteilungen im Innenhof des Industriepalastes durch Nachbildungen historischer Bauwerke oder freie architektonische Kompositionen im jeweils nationaltypischen Baustil gestalten (Wörner 1999, S. 28). Die Architektur der Rue des Nations (Abb. 2) wurde damit selbst zum Ausstellungsobjekt und zu einer Hauptattraktion dieser internationalen Leistungsschau. Mit den Weltausstellungen in Paris 1889 und Chicago 1893 etablierte sich das Format der Nationenpavillons und erhielt die Pariser Rue des Nations des Jahres 1900 schließlich ihren prominenten Standort am Quai d’Orsay (Wörner 1999, S. 33, 35).

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Abb. 2: Rue des Nations, Weltausstellung Paris 1878. Simon de Vandière. L’Exposition universelle de 1878 illustrée. Paris: Calmann Lévy, 1879, S. 73

2.

Exotische und historisierende Ensembles

Parallel zu diesen Kompilationen heterogener Einzelbauten entstanden auch thematisch zusammengehörige Ensembles. Ein frühes Beispiel ist der »parc étranger« auf der Pariser Weltausstellung von 1867 mit einem französischen, englischen, deutschen und belgischen Viertel sowie diversen nationalen Dörfern (Wörner 1999, S. 50, 54). Die ebenfalls präsentierten ägyptischen Szenerien bildeten den Auftakt für die prominenten Kairoer Straßenzüge späterer Ausstellungen (Weyand 2013, S. 337). In einer ähnlichen Weise exotisch galten Orte vergangener Zeiten. Als (verkleinerter) Nachbau eines konkreten historischen Ensembles entstand 1889 das Quartier der Bastille (Wörner 1999, S. 66). Eine Neuerung markierten Ende des 19. Jahrhunderts die Nachbildungen ganzer Altstadtviertel, darunter »Alt-Wien« (Wiener Musik- und Theaterausstellung, 1892), »Old-Vienna« (Weltausstellung Chicago, 1893), »Oud-Antwerpen« (Weltausstellung Antwerpen, 1894), »Alt-Berlin« (Berliner Gewerbeausstellung, 1896) und »Vieux-Paris« (Weltausstellung Paris, 1900). Dabei kamen historische Baumaterialien, im Einzelfall auch authentische Einrichtungen zur Anwendung und wurden sogar Originalgebäude in Gänze transloziert (Wörner 1999, S. 49–

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123; Schwarz 2017, S. 53–54). Parallelphänomene bilden die ab den 1890er Jahren gegründeten Freilichtmuseen mit ihren translozierten historischen Bauten, die zu neuen Ensembles – vermeintlich historischen Dorfkernen oder ländlichen Szenen – komponiert wurden. Wie in den exotischen und historisierenden Ensembles der Weltausstellungen unterstützten kostümierte Darstellerinnen und Darsteller das »Eintauchen« in die fremde Welt. Der Reiz lag dabei im Zusammenwirken von Künstlichkeit und Authentizitätsanspruch (vgl. Weyand 2011, S. 332–336). So sprach Alfred Kerr von Alt-Berlin als einem »Meisterwerk moderner Bau- und Imitationskunst« und betonte: »Es ist eine unglaubliche Illusion« (zitiert nach Weyand 2011, S. 335).

3.

Traditionsinseln

Gebaute Visionen historischer Ensembles finden wir zur selben Zeit auch im realen städtischen Raum, und zwar im Kontext der sogenannten Altstadtsanierungen, bei denen es sich in Wirklichkeit um weitreichende Eingriffe samt Gebäudeabrissen und Neubauten handelte. So wurde 1906 in Stuttgart ein etwa 10 % der mittelalterlichen Stadtfläche umfassendes Quartier abgebrochen und in abweichenden Gebäudezuschnitten, Konstruktionen und Materialien, aber in historisierenden Formen neu errichtet (Langner 1994), welches auf Postkarten als »Altstadt« firmierte (Engelberg-Docˇkal 2019, S. 123; Abb. 3). Auch bei »Altstadtsanierungen« der 1920/30er Jahren kamen im größeren Umfang Neubauten zum Tragen, etwa im Gebiet um Groß St. Martin in Köln (Vinken 2010, S. 137–139; 2016, S. 20) oder im Quartier um die Ballhofstraße in Hannover (Zalewski 2015, S. 63). Durch die Konzentrationen erhaltener, translozierter oder historisierend neu errichteter Bauten entstanden vielfach sogenannte Traditionsinseln als gezielt homogenisierte und vereinheitlichte Ensembles (vgl. Dorn 2018, S. 165–167). Zu den nicht realisierten Planungen zählt die Neubebauung der Hamburger Cremoninsel mit historischen Gebäuden und Baufragmenten von verschiedenen anderen Orten der Stadt (Pusback 2006, S. 156–166; Just 2018, S. 58, 59). Im Zuge des modernistischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Konzept der Traditionsinsel eine Blüte. Ein prominentes Beispiel bilden Kramerstraße und Holzmarkt in Hannover, wo ein derartiges Ensemble aus erhaltenen und baulich angepassten sowie translozierten Bauten entstand (Dorn 2018). Kennzeichnend für die Traditionsinsel ist neben ihrer gestalterischen Homogenität die kontrastierende Setzung zur modernistischen Stadt, als deren (künstlich geschaffenes) Gegenbild sie auftritt (Vinken 2006, S. 190–193; vgl. Dorn 2018, S. 174, 177). Entsprechend erwuchs ab den 1960er Jahren im weitgehend modernistisch wiederaufgebauten Hamburg das Ensemble an der Peterstraße mit neu errichteten, zum Teil kopierten »Alt-Hamburger«

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Abb. 3: Stuttgart, »Altstadt«, Postkarte, nach 1909 (Bildquelle: Archiv der Verfasserin)

Bauten. Die Nordseite zeigt ein einheitlich geschlossenes Bild aus detailliert nachgebauten Fassaden Hamburger Barockhäuser (Abb. 4), während die jüngeren Bauten in der angrenzenden Neanderstraße in frei historisierenden Formen entstanden (Just 2018, S. 62–70). Ein Parallelphänomen bilden Ensembles städtischer Gebäude in den Freilichtmuseen. Hierzu zählen die in den 1960er Jahren aus Antwerpen translozierten und in Bokrijk (Belgien) zu einem fiktiven Marktplatz komponierten Stadthäuser sowie die aus Nachbauten zerstörter Gießener Stadthäuser gestaltete Marktfront des Hessenparks in Neu-Anspach (Abb. 5).

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Abb. 4: Nördliche Peterstraße, Hamburg, mit in den 1970er Jahren nachgebauten Fassaden barocker Bürgerhäuser (Foto: Eva v. Engelberg-Docˇkal 2017)

4.

Plurale Geschichtsvisionen: Oswald Mathias Ungers’ Konzept des Stadtarchipels

Einen neuen Ansatz markierte das 1977 von Oswald Mathias Ungers und seinen Kollegen publizierte Manifest »Die Stadt in der Stadt – Berlin das grüne Stadtarchipel«. Vorausgegangen waren mehrere abweichende Fassungen der Schrift, weitere veränderte Ausgaben folgten (vgl. die kritische Edition Hertweck/Marot 2013), ebenso 1978 eine italienische und englische Publikation unter dem Titel »Le città nella città« beziehungsweise »Cities within the city« (Ungers 1978). Die Verfasser reagierten mit ihrem Manifest auf den prognostizierten Rückgang der

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Abb. 5: Hessenpark, Nordzeile des Marktplatzes, Nachbauten kriegszerstörter Häuser aus Gießen, 2001–2003 (Foto: Eva v. Engelberg-Docˇkal 2017)

Bevölkerungszahlen im Westteil der Stadt und plädierten für den Teilabbruch nicht mehr benötigter Areale. Die verbleibenden und baulich zu vervollständigen Quartiere erschienen dabei als Inseln in einem von der Natur zurückeroberten beziehungsweise neu gestalteten »grünen Raster«. An Stelle der singulären isolierten Traditionsinsel in der modernen Stadt trat somit die Stadt als Gesamtgebilde im Sinne eines Archipels mit zahlreichen Inseln unterschiedlichen Charakters. Die Bezeichnung der von Peter Riemann 1977 erstellten »analytischen Karte« als, laut Hertweck/Marot (2013), »Islands (Minicities)« (Abb. 6) folgt in der Pluralverwendung dem Konzept des Stadtarchipels (vgl. die Titel der Übersetzungen; »Städtenetz en miniature«: Cepl 2007, S. 347). Die bewusst ausgesuchten Quartiere sollten unterschiedlichen Charakter haben und auf verschiedene historische Vorbilder zurückgreifen. Die Inseln im grünen Stadtarchipel erscheinen »als Konstellation in einer großen Parklandschaft« und folgen dabei den Prinzipien der Sammlung mit sich ergänzenden Elementen (Kühn 2006, S. 70; Cepl 2007, S. 351, 355). Tatsächlich beriefen sich die Verfasser des Manifests auf die Havellandschaft Friedrich Wilhelms IV. mit ihrer Auswahl von Bauten unterschiedlicher historischer Referenz. So besagt These 9 »Die Transformation der Stadt durch die Geschichte«: »Geschichtlich gesehen, transformiert das Modell auch das von Wilhelm IV. [sic] entworfene Konzept für die Havellandschaft zwischen Berlin und Potsdam. Hier entstand im 19. Jahrhundert eine humanistische Bildungslandschaft mit geschichtlichen Erinnerungsstücken aus unterschiedlichen Stilepochen, in der das romantische Schlossfragment der Pfaueninsel, die neoklassizistische Heilandskirche, die an islamische Architektur erinnernde Landschaftskirche St. Peter und Paul, die klassizistischen Objekte des

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Abb. 6: Karte West-Berlin mit Beschriftung »Islands (Minicities)«, Peter Reimann, 1977 (entnommen aus Bilder einer Ausstellung: Hertweck/Marot 2013, S. 48)

Glienicker Parks, das neogotische Schloss Babelsberg, Stülers im spätitalienischen Stil konzipierte Hofgärtner- und Maschinenhaus und schliesslich die klassizistischen Denkmäler in Potsdam als spezielle Orte eingelagert sind und ein Archipel von Architekturereignissen bilden. Die Gestaltung der Havellandschaft enthält den Schlüssel für die Idee von Berlin als einem Archipel von vielen Orten und Plätzen.« (Ungers 1977, Erläuterung These 9: zitiert nach Hertweck/Marot 2013, S. 121, 122)

Entsprechend den »architektonischen Erinnerungsstücken eingelagert in die Havellandschaft« (Ungers 1977) wurden einzelne als Vorbilder dienende städtebauliche Lösungen oder Einzelwerke der Architekturgeschichte ausgewählt und in den Archipel West-Berlins übertragen. Dabei erscheint die Architekturmoderne der 1920/30er Jahre ganz selbstverständlich als Teil dieser Vergangenheit, aus deren Fundus man sich frei bedienen kann. So führt die »Wiederentdeckung bewährter Prinzipien« (Schlussfolgerung These 10) zu einem Rückgriff auf den barocken Stadtplan von Karlsruhe wie auf die Planung der modernen Bandstadt Magnitogorsk (Schlussfolgerung These 6). Als Referenzen dienten zudem kanonische Projekte der Architekturmoderne wie El Lissitzkys Entwurf des Wolkenbügels und Le Corbusiers Projekt für Algier, die laut Hertweck/Marot (2013) in Riemanns Skizzen präsentiert wurden (Abb. 7). Entstehen sollten schließlich nach einem nicht ausgeführten Entwurf von Iwan Iljitsch Leonidov ein Kulturpalast und nach Mies van der Rohes Hochhausentwurf ein Mehrzweckcenter (Particular Projects: Schreibmaschinenmanuskript Rem Koolhaas mit Korrekturen von Ungers: A’’: Hertweck/Marot 2013, S. 20, 21): »It would therefore be possible to realise projects that were proposed for other parts of the world, but were, for whatever reason aborted, in retrospect.« (Manuskript A’’, S. 3: Hertweck/Marot 2013, S. 17; vgl. Marot 2013, S. 42, 43; Fischer 2018, S. 290)

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Damit besitzt das Manifest einen in der Architekturhistoriographie häufig marginalisierten Aspekt: den dezidiert eklektischen Rückgriff auf historische Vorbilder unterschiedlicher Epochen bis hin zur »retrospektiven« Realisierung von bis dato nicht realisierten Bauprojekten der Vergangenheit. Das Konzept des Stadtarchipels zeigt also einen eindeutig historisierenden Ansatz bei einem zugleich weit gespannten zeitlichen Bezugsrahmen (vgl. Cepl 2007, S. 352) gleichwerter Zeitphasen (Hertweck 2013, S. 60). Auch wenn für Ungers – anders als bei Thomas Cole und Friedrich Wilhelm IV. – weniger die verschiedenen Stile das Faszinosum ausmachten und sein Interesse eher auf den Typologien und städtebaulichen Strukturen lag (vgl. Cepl 2007, S. 354), so übernimmt er mit den einzelnen Lösungen doch auch deren zeitlich gebundenen Gestaltungen. Die Zukunftsvision der (erwartet schrumpfenden) Stadt West-Berlin ist damit zugleich ein Blick in die Architekturgeschichte. Eine Neuartigkeit bildet mit der Absetzung von der vereinheitlichten Stadt der Moderne der Gesamtcharakter des zersplitterten multipolaren »Archipels« mit der dezidierten Vielfalt seines »pluralistischen Systems« (Ungers 1977), dessen Teile aber dennoch – wie in einer Sammlung – ergänzend aufeinander bezogen sind. Die Moderne erscheint damit überwunden und so als eine historische Epoche, auf deren architektonische Werke man zugleich frei zurückgreifen kann. Dennoch zeigt das postmoderne Konzept des Stadtarchipels – hier am Beispiel West-Berlins – in einigen Aspekten Ähnlichkeiten mit seinen historischen Vorläufern in der Moderne. Dies gilt für die Landschaftsparks mit ihren im Naturraum inszenierten Staffagebauten, etwa die Havellandschaft Friedrich Wilhelms IV, auf die sich das Manifest explizit berief, wie auch die großen Ausstellungen des 19. Jahrhunderts mit ihren historisierenden und exotischen Ensembles. Für diese wie das Stadtarchipel gilt, was Michel Foucault 1967 als »Heterotopie« beschrieb: »de juxtaposer en un seul lieu reel plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles.« (Foucault 1967 zur Berliner Gewerbeausstellung 1896, zitiert nach Weyand 2013, S. 336)

1896 sprach Georg Simmel nach seinem Besuch der Berliner Ausstellung von einem besonderen »eigenartigen Stil« der Architektur, welcher mit seinen »heterogenen Eindrücken« das moderne Bedürfnis nach »Mannigfaltigkeit« bediene und zugleich als zusammengehörig erscheinen lasse (Weyand 2013, S. 330, 332). Nicht zufällig fällt dann auch in die Zeit des Stadtarchipels das erneute und gesteigerte Interesse an (den als Institution im 19. Jahrhundert begründeten) Freilichtmuseen sowie Themenparks.

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Abb. 7: Skizzen der historischen Bezugsobjekte zum Stadtarchipel, Peter Reimann, 1977 (entnommen aus: Bilder einer Ausstellung: Hertweck/Marot 2013, S. 51)

5.

Geschichtsvisionen in der postmodernen Stadt

Das Manifest war ursprünglich als Leitlinie für die Internationale Bauausstellung in West-Berlin gedacht (Marot 2013, S. 7). Das als ein Konkurrenzprojekt verstandene Nikolaiviertel in Ost-Berlin (Wettbewerb 1979; 1980–86), das als neues historisierendes Ensemble ein touristisches Highlight im Zentrum der »Hauptstadt der DDR« schuf, ist vor dem Hintergrund dieser Ideen zu sehen: So präsentierte sich das Areal um die Nikolaikirche mit Vorliebe vor der markanten Hochhausreihe der Fischerinsel oder in Zusammenschau mit dem nahegelegenen modernistischen Fernsehturm (Engelberg-Docˇkal 2019, S. 124, 125). Das Konzept des Stadtarchipels behielt über die politische Wende hinweg Bedeutung. 1991 fand es Aufnahme in die Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums »Berlin morgen. Ideen für das Herz einer Großstadt« mit dem Plädoyer, historische Projekte als Modelle in Form »retroaktiver« Architektur zu nutzen. Das durch die Stadtinseln zu schaffene erhöhte Angebot und die Wahlfreiheit erschienen dort als ein der zeitgenössischen Individualgesellschaft ent-

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sprechendes Konzept (Ungers 1991, S. 162, 163). Im Zuge der Neukonzeptionen der wiedervereinten Stadt wurden bereits bestehende Stadtinseln, wie das noch junge Nikolaiviertel, durch weitere historisierende Quartiere ergänzt: Beim Potsdamer Platz griff man auf die Architektur des großstädtischen Berlin der »Goldenen Zwanziger Jahre« zurück, inklusive des rekonstruierten Verkehrsturms von 1924, während der Wiederaufbau des Pariser Platzes mit dem neuen Hotel Adlon und den Schmuckbeeten samt Brunnen und Fontänen dem Leitbild der Kaiserzeit folgte (Engelberg-Docˇkal 2019, S. 126, 127). Schon 1985 hatte Ungers sein Konzept des Stadtarchipels auf Frankfurt am Main übertragen, wiederum mit unterschiedlichen historischen Bezugnahmen (Ungers 1985; Bideau 2018). Frankfurt besaß mit dem Dom-Römerberg-Bereich (Wettbewerb 1979; 1981–1986) bereits ein der Hochhaus-Skyline des Bankenviertels gegenüber gestelltes historisierendes Neubauareal. Als weitere, bis dato jüngste »Stadtinsel« folgte die sogenannte Neue Altstadt (2012–2018). Wie die 1906 errichtete Stuttgarter »Altstadt«, welche nur einen kleinen Teil der historischen Kernstadt umfasst, bildet auch die aus 35 Häusern bestehende »Altstadt« eine »Stadt in der Stadt« (Engelberg-Docˇkal 2019, S. 129) entsprechend den Minicities des Stadtarchipels (Abb. 8).

Abb. 8: Frankfurt am Main, »Neue Altstadt«, Eröffnung im September 2018 (Foto: Eva v. Engelberg-Docˇkal 2018)

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Großstädte wie Berlin und Frankfurt zeigen eine zumindest partielle Umsetzung dieses, dem holistischen Stadtmodell der Moderne entgegentretenden Konzepts. Die einzelnen Inseln oder Minicities sind dabei – nicht zuletzt durch die Bezugnahme auf konkrete historische Vorbilder der Stadt – spezifisch, nicht jedoch das zugrundliegende pluralistische Konzept (dagegen die Inszenierung des Kontrastes als Spezifika der Stadt Frankfurt am Main: Richter 2014, S. 262). Der historisierende Ansatz einschließlich des formalen Rückgriffs auf die Architekturmoderne ist ein zentraler Aspekt dieser zeitgenössischen, simultanen Geschichtsvisionen ermöglichenden Konzepts. Anders als die isolierte Traditionsinsel innerhalb der modernistischen Stadt bieten die Minicities eine Collage verschiedener »möglicher« Vergangenheiten als gleichberechtigt nebeneinanderstehende Narrative (Engelberg-Docˇkal 2019, S. 129). Die gewollte Zusammenschau dieser Geschichtsvisionen und die Möglichkeit des beliebigen Wechsels zwischen diesen historisierenden Orten stehen für ein plurales postmodernes Geschichtsbild. Grundlage bildet die Erkenntnis der Zeitgebundenheit und Subjektivität von Geschichte, die somit nur in der Mehrzahl als Geschichten zu denken ist und sich entsprechend in den Minicities spiegelt. Mit dieser Reflexion veränderte sich auch das Verhältnis zu den Vorbildern, die nun ihre normative Gültigkeit verloren hatten, einschließlich der Werke der Architekturmoderne. Fast genau 100 Jahre nach der Pariser Rue des Nations präsentierte 1980 die erste Architekturbiennale in Venedig die »strada novissima« in der Corderie des Arsenale mit ihren von den Teilnehmern individuell gestalteten Eingangsfassaden der einzelnen Ausstellungsräume. Auch diese erzeugten in ihren unterschiedlichen historisierenden Architektursprachen ein mannigfaltiges »Straßenbild«. Anders als im Paris des Jahres 1878 finden sich nun jedoch auch verfremdete bis ironisierende Bezugnahmen, etwa die stark verkleinerte »retrospektive« Umsetzung von Adolf Loos’ kanonischem Entwurf für den Sitz der Chicago Tribune (1922) in der Gestaltung seines Landsmanns Hans Hollein.

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Visionen simultaner Geschichten: Historisierende Stadtinseln

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Eva von Engelberg-Docˇkal

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Arnd Wiedemann / Jan-Philipp Dielmann*

Die Route wird berechnet – Mit welchen Visionen Google, Amazon, Facebook und Apple unsere Gegenwart und Zukunft formen

1.

Einleitung

Google, Amazon, Facebook, Apple – kurz: GAFA. Vier Unternehmen, die wesentliche Teile der weltweiten, digitalen Infrastrukturen kontrollieren und mit ihren Produkten und Dienstleistungen tief in das tägliche Leben von Milliarden Menschen eindringen (Monopolkommission 2015, S. 31). Sie kontrollieren, wie wir online kommunizieren, was wir sehen, teilen und einkaufen. War das der Plan der Gründer, als sie mit ihren Unternehmen, teilweise vor gerade einmal 16 Jahren, in Garagen und WG-Zimmern den Geschäftsbetrieb aufnahmen? Welche Vorstellungen haben die jetzigen CEOs der Milliardenkonzerne, die es geschafft haben, hunderttausende Mitarbeiter zu begeistern, mit ihnen an der Erfüllung ihren Visionen zu arbeiten? An diesem Punkt setzen wir an und wollen herausfinden, mit welchen Visionen die GAFA-Konzerne in kürzester Zeit die Gegenwart der Gesellschaft formten und welche Pläne sie für die Zukunft haben.

2.

Vision im unternehmerischen Kontext

2.1

Die Unternehmensvision als Kompass des unternehmerischen Handelns

Jedes Unternehmen verfolgt Ziele. Dabei kann es sich um kurzfristige Ziele, zum Beispiel unterjährige finanzielle Größen wie Umsatz oder Gewinn, handeln, aber auch um langfristige. Um die zeitlich weiter entfernten Ziele zu erreichen, helfen Strategien, die, mit der gebotenen Weitsicht, die Richtung der unternehmerischen Tätigkeit im Wettbewerb lenken (Bra˘tianu/Ba˘la˘nescu 2008, S. 19–20). * Univ.-Prof. Dr. Arnd Wiedemann, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Finanz- und Bankmanagement. Jan-Philipp Dielmann, M.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Finanz- und Bankmanagement.

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Voraussetzung hierfür ist die Beantwortung der Frage, welchen zukünftigen Zustand das Unternehmen in seinem Wettbewerbsumfeld einnehmen soll – mit anderen Worten: eine Vision (El-Namaki 1992, S. 25). Die wissenschaftlichen Meinungen darüber, wie die Vision im unternehmerischen Kontext definiert ist, was sie charakterisiert und welchen Wertbeitrag sie leistet, sind vielfältig (Kantabutra 2008, S. 129). In der Literatur zur »charismatischen Führung« wird zum Beispiel die Vision als ein Ideal beschrieben, das die gemeinsamen Werte, nach denen eine Organisation streben sollte, widerspiegelt – Werte, die durch eine charismatische Führungsperson vorgelebt werden (Shamir et al. 1993, S. 583) und die Mitarbeiter begeistern, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten (Kantabutra 2008, S. 129). Eine weitere Definition beschreibt die Vision als ein ideales und einzigartiges Zukunftsbild des Gemeinwohls (Kouzes/Posner 2012, S. 104). Zu den Gemeinsamkeiten der Definitionen zählt, dass es bei einer Vision immer um eine wünschenswerte Zukunft geht. Sie ist notwendig für den Führungsprozess, um andere dazu zu bringen, auf ein gemeinsames Ziel hin zu arbeiten. Sie dient zur Orientierung für die Mitarbeiter und ist ein wichtiger Bestandteil der Unternehmensplanung (Kantabutra 2008, S. 130). Aus den verschiedenen Forschungsperspektiven lassen sich die folgenden Attribute für eine »gute« Vision extrahieren: Kürze, Klarheit, Zukunftsorientierung, Stabilität, Herausforderung, Abstraktheit, Begehrlichkeit und die Fähigkeit zur Inspiration (Kantabutra 2008, S. 131). Kommuniziert und ausgedrückt wird die Vision in einer einfachen und prägnanten Visionserklärung (englisch: vision statement). Durch ihre motivierende und zielformende Natur ist die Visionserklärung ein hilfreiches Werkzeug, um die Prioritäten innerhalb eines Unternehmens auf lange Sicht ergebnisorientiert auszurichten (Bowen 2018, S. 3). Neben den festgelegten Zielen hat die Vision auch besonderen Einfluss auf die Unternehmenskultur, da ihr die ethischen Kernwerte einer Organisation zugrunde liegen und diese durch die Visionserklärung nachhaltig zum Ausdruck gebracht werden können (Bowen 2018, S. 1–2). So zahlt eine klar formulierte Unternehmensvision ein auf das Wachstum, die finanzielle Leistung, die Sichtbarkeit und den Marktanteil eines Unternehmens (Chun/Davies 2001, S. 317). Um die Visionen der GAFA-Konzerne für »unsere« Zukunft zu analysieren, folgen die weiteren Ausführungen der Definition von Kouzes/Posner (2012), die über die Zukunftsvorstellungen des Unternehmens hinausgeht und auch den gesellschaftlichen Aspekt mitberücksichtigt.

Die Route wird berechnet

2.2

141

Der Weg zum Ziel: die Unternehmensmission

Während sich die Unternehmensvision der Frage widmet, wo und wofür ein Unternehmen in Zukunft stehen will, zeigt die Unternehmensmission den Weg auf, wie das Unternehmen dorthin gelangen will. Wie bei der Vision bestehen auch beim Begriff der Mission unterschiedliche Auffassungen in der wissenschaftlichen Literatur. Gemäß Collins und Porras (1991, S. 42) übersetzt die Mission die abstrakte Vision in greifbare Ziele, unter denen sich alle Anstrengungen eines Unternehmens vereinen lassen; sie soll die Beteiligten fordern, aber gleichzeitig auch erfüllbar sein. Eine alternative Ansicht bezeichnet die Mission im Unternehmenskontext als den grundlegenden Zweck des Unternehmens, den Grund für die Existenz (Salem Khalifa 2012, S. 242). Eine weitere Definition bezieht explizit die Stakeholder eines Unternehmens mit ein und sieht die Mission als allgemeinen Ausdruck des übergeordneten Zwecks, der im Idealfall mit den Werten und Erwartungen der wichtigsten Stakeholder übereinstimmt. Darüber hinaus setzt sich die Mission auch mit dem Tätigkeitsbereich und den Beschränkungen des Unternehmens auseinander (Cornelissen 2008, S. 24). Analog zur Vision kann auch die Mission über ein Mission Statement kommuniziert werden. Während die Vision eher abstrakt gehalten ist, ist die Mission deutlich konkreter und spezifischer formuliert. Sie benennt die eigenen Wettbewerbsvorteile und richtet sich an den Werten und Erwartungen der Stakeholder aus (Bra˘tianu/Ba˘la˘nescu 2008, S. 21–22). Die Basis für den Inhalt eines Mission Statements bilden, wie schon bei der Vision, die ethischen Werte des Unternehmens (Bowen 2018, S. 7). Damit das Mission Statement seinen Zweck erfüllt, muss es die Vision des Unternehmens widerspiegeln, die zentralen ethischen Unternehmenswerte berücksichtigen und durchführbar sein. Verständliche und prägnante Formulierungen stellen sicher, dass es die gewünschte Wirkung auf die Stakeholder ausübt (Bra˘tianu/Ba˘la˘nescu 2008, S. 22). In einem Leitbild lassen sich anschließend die Werte und Normen, die gelten sollen, explizit zum Ausdruck bringen. Häufig wird dabei auf die folgenden neun Kategorien eingegangen: Zielmärkte, Hauptprodukte/Dienstleistungen, wirtschaftlichen Ziele, technologischer Vorsprung, geographischer Wirkungsbereich, Unternehmensphilosophie sowie -identität, Reputation und Anliegen der Mitarbeiter (Bowen 2018, S. 5). Mit Hilfe eines Mission Statements kann ein Unternehmen die Beziehung zu seinen Stakeholdern verbessern und deren Vertrauen in und Verständnis für Entscheidungen stärken (Bowen 2018, S. 7–8). Besonders die motivierende und vereinigende Wirkung auf die Mitarbeiter soll eine höhere Produktivität zur Folge haben (Anderson/Jamison 2015, S. 4–5). Daneben dient das Mission Statement als Basis für den unternehmerischen Strategieprozess (Pearce II/David 1987, S. 109).

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Aufgrund des weiten Adressatenkreises hat auch die öffentliche Meinung einen Einfluss darauf, wie ethische Unternehmenswerte, auch als Basis für das Mission Statement, gesehen und von einem Unternehmen artikuliert werden (Anderson/Jamison 2015, S. 2). Dies darf aber nicht dazu führen, dass das Mission Statement primär durch die öffentliche Meinung beeinflusst wird: Vielmehr muss die Mission in einem analytischen Vorgehen an den Kernkompetenzen, Werten und Zielen des Unternehmens ausgerichtet werden (Bowen 2018, S. 6). Wie schon beim Visionsbegriff, der in diesem Beitrag über das Selbstbild des Unternehmens hinausgeht, wird auch der Missionsbegriff Cornelissen (2008) folgend so gewählt, dass er über die reine Selbstreflexion des Unternehmens hinausgeht und die Gesellschaft, das heißt »uns«, als Stakeholder ebenfalls berücksichtigt.

2.3

Bildung einer Corporate Identity durch die Außenkommunikation von Vision und Mission

Neben der strategischen Basis und Orientierung, die Vision und Mission innerhalb eines Unternehmens bieten, eignen sie sich zugleich auch als wertvolles Instrument für den Aufbau und die Pflege der Unternehmensidentität (englisch: corporate identity) gegenüber den verschiedenen Anspruchs- und Interessengruppen (englisch: stakeholder). Die Corporate Identity hilft, das Unternehmen von anderen Unternehmen abzugrenzen, indem es die Werte und den (Kern-) Charakter betont und dadurch Individualität und Identität generiert (Ingenhoff/ Fuhrer 2010, S. 84–85). Die Bedeutung einer klar definierten Unternehmensidentität wird immer wichtiger, denn der Fokus der Kunden verschiebt sich zunehmend von Produkten hin zur Marke und ihrem Image. Die Corporate Identity stellt damit einen immateriellen Vermögensgegenstand für ein Unternehmen dar (Miao 2019, S. 2). Die inhaltlichen und konzeptionellen Überschneidungen von Vision, Mission und Corporate Identity legen ihre Kombination nahe, um Synergieeffekte zu generieren und eine kohärente Selbst- und Fremdwahrnehmung des Unternehmens zu erreichen. Ein ganzheitlicher Ansatz, in dem das Vision Statement und das Mission Statement in die Corporate Identity einfließen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, den gewünschten (positiven) Eindruck bei den Stakeholdern zu hinterlassen (Spear 2017, S. 172). Um das Unternehmensbild wirksam nach außen zu kommunizieren, gilt es, den Inhalt sorgsam auf die Adressaten abzustimmen. Um alle Stakeholdergruppen zu berücksichtigen, müssen eine inhaltliche Balance zwischen interner und externer Perspektive gefunden und die relevanten Faktoren und Vorteile für die jeweiligen Interessengruppen herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck

Die Route wird berechnet

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werden zuerst die Schlüssel-Stakeholder identifiziert. Die Mitarbeiter und Kunden gehören immer dazu (Spear 2017, S. 172). Als Kommunikationskanal für die Corporate Identity kann insbesondere die Website eines Unternehmens genutzt werden (Ingenhoff/Fuhrer 2010, S. 84). Daneben bietet in den USA das 10K-Formular für Jahresabschlüsse und hier speziell die Kategorie »Item 1 – Business« einen geeigneten Ausgangspunkt, um einen Überblick über das berichtende Unternehmen zu erhalten (U.S. Securities and Exchange Commission 2011). Die Analyse der Veränderungen der Visionen und Missionen der GAFAKonzerne im Zeitverlauf basiert in diesem Beitrag auf den 10-K-Jahresabschlüssen.

3.

GAFA – Vier große Brüder in Zeiten der Internetökonomie

3.1

The Winner Takes It (Almost) All – Marktkonzentration in der Internetökonomie

Der Marktplatz »Internet« stellt Unternehmen seit Jahren in vielen Bereichen vor große Herausforderungen. Veränderungen von Kostenstrukturen, neue Geschäftsmodelle und schnellere Innovationszyklen verändern in immer kürzeren Abständen das Feld, auf dem die Marktteilnehmer agieren (Gawer/Cusumano 2014, S. 421). Um in dieser Wettbewerbsumgebung nachhaltig erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen nicht nur innovativ und kundenorientiert sein, sondern sie müssen auch die Mechanismen des neuen Marktes zu ihren Gunsten einsetzen, um nicht abgehängt zu werden (Haucap/Heimeshoff 2014, S. 60). Die GAFA-Konzerne setzen stark auf die Konzentrationsbewegung in der Plattformökonomie. Diese wird von fünf Faktoren getrieben: Netzwerkeffekte, Skaleneffekte, Beschränkung der Nutzung, Plattformdifferenzierung sowie die Möglichkeit zum Multihoming und damit verbundene Lock-In-Effekte (Evans/ Schmalensee 2008, S. 679). Die Netzwerkeffekte lassen sich in direkte und indirekte Effekte unterteilen (Kuchinke/Vidal 2016, S. 582). Direkte Netzwerkeffekte stehen in unmittelbarem Bezug zur Größe des Netzwerks und beschreiben den steigenden Nutzen eines Kunden aus der Bereitstellung eines Dienstes in Abhängigkeit von der Gesamtzahl der Nutzer: Je mehr Personen ein Telefon besitzen, desto größer ist der Nutzen eines Telefons. Der Netzwerkeffekt ist besonders im Bereich der sozialen Netzwerke von hoher Bedeutung (Monopolkommission 2015, S. 33). Indirekte Netzwerkeffekte treten bei zwei- beziehungsweise mehrseitigen Plattformen durch das Agieren unterschiedlicher Nutzergruppen, beispielsweise Käufer und Verkäufer auf der Handelsplattform eBay, auf. Durch mehr Käufer steigt der Nutzen für andere Käufer nur mittelbar. Unmittelbar profitieren von

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mehr Käufern zunächst die Verkäufer, da die Menge potenzieller Kunden zunimmt. Der mittelbare Effekt für die Käufer entsteht, wenn die größere Kundenzahl wiederum neue Verkäufer anlockt, sodass das Angebot steigt (Monopolkommission 2015, S. 33). Skaleneffekte bezeichnen Größenvorteile, die Unternehmen ab einem gewissen Punkt des Wachstums erzielen. Digitale Geschäftsmodelle fußen oft auf vergleichsweise hohen Fixkosten für die Bereitstellung von Infrastrukturen, die weitestgehend unabhängig von der Nutzungsintensität sind. Die Erhöhung der Nutzerzahlen wirkt sich daher kaum auf die Kosten aus (Evans/Schmalensee 2008, S. 679). Plattformen profitieren darüber hinaus von internen Synergieeffekten und der Weiterverwertungsmöglichkeit bereits entwickelter digitaler Ressourcen wie auch selbst entwickelter Algorithmen (Gawer/Cusumano 2014, S. 419). Während die oben genannten Mechanismen eine Marktkonzentration unter den Plattformen begünstigen, wirkt die Nutzungsbeschränkung dem entgegen. So kann, entweder aufgrund von Kapazitätsengpässen oder einer bewussten Segmentierung der Kundengruppe, die Größe einer Plattform klein gehalten werden. Denkbar ist zum Beispiel die Einschränkung von Platz für Werbeanzeigen innerhalb der Plattform, um die Nutzererfahrung nicht negativ zu beeinflussen (Monopolkommission 2015, S. 36–37). Ein weiterer Faktor, der der Marktkonzentration entgegenwirken kann, ist die Plattformdifferenzierung. Ähnlich wie die selbst gewählte Nutzungsbeschränkung kann eine Plattform, angelehnt an die Nutzerinteressen, die Qualität und Breite ihres Angebotes so anpassen, dass es für die eigene Zielgruppe besonders attraktiv ist, wodurch Nutzer, die dieses Angebot nicht wahrnehmen möchten, andere Anbieter aufsuchen (Evans/Schmalensee 2008, S. 680). Der letzte Faktor adressiert die Möglichkeit, mehrere ähnliche Plattformen simultan zu nutzen (»Multihoming«) oder den Wechsel einer Plattform zugunsten eines Konkurrenten mit hohen Kosten zu belegen (Monopolkommission 2015, S. 37–38). Diese Wechselkosten werden auch als Lock-in-Effekte bezeichnet und sind nicht nur rein monetärer Natur (Dolata 2015, S. 511). Alle Anbieter versuchen, ihre Plattformen so zu gestalten, dass die Nutzer auf allen Marktseiten dauerhaft und umfassend an sie gebunden werden. So sind Käufe aus Apples App Store nicht auf ein Smartphone mit Google Android-Betriebssystem übertragbar (und umgekehrt). Daneben stellt auch eine gänzlich unterschiedliche Benutzeroberfläche und eine komplizierte Migration von persönlichen Daten auf ein Gerät eines anderen Anbieters eine hohe Wechselhürde dar. Unabhängig von den Besonderheiten des Marktplatzes »Internet« kommt den GAFA-Konzernen ihre hohe Finanzkraft zu Gute, die sie in die Lage versetzt, die eigenen technischen und logistischen Infrastrukturen zu stärken, hohe Investitionen in Forschung und Entwicklung zu tätigen und sich durch Beteiligungen

Die Route wird berechnet

145

und Akquisitionen in neue Geschäftsfelder »einzukaufen«, um dadurch ihre Geschäftsmodelle laufend zu erweitern (Dolata 2015, S. 512–513).

3.2

GAFA – ihre Geschäftsmodelle und aktuelle Marktpositionen

Google, Amazon, Facebook und Apple haben sich durch Ausnutzung der plattformökonomischen Marktmechanismen in den vergangenen Jahren herausragende Stellungen in ihren Geschäftsbereichen erarbeitet. Auch wenn sie unterschiedliche Geschäftsmodelle verfolgen, lassen sich doch Gemeinsamkeiten erkennen, die ihnen diese Marktmacht ermöglichen. Sie agieren auf mindestens zweiseitigen Märkten in eigens entwickelten Ökosystemen, sind Innovationstreiber und nehmen in ihren Kernaktivitäten quasi-monopolistische Stellungen ein (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 127). Neben der Dominanz dieser vier Konzerne über wesentliche Angebote und Plattformen im Internet regeln sie als Betreiber von zentralen Infrastrukturen auch die Zugänge zum Netz, formen die Kommunikationsmöglichkeiten der Nutzer und prägen als große Arbeitgeber maßgeblich die Arbeitsbedingungen der Branche (Dolata/Schrape 2018, S. 101). Durch den hohen Innovationsdruck in ihren Branchen sind die GAFA-Konzerne gezwungen, ihre Geschäftsmodelle laufend zu verändern und zu erweitern (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 128). Die folgende Betrachtung stellt somit nur eine Momentaufnahme dar. Google bietet in seinem Kerngeschäft Unternehmen die Möglichkeit, online unterschiedliche Arten von Werbung zu platzieren. Dies kann innerhalb von Google-Produkten geschehen (Google Suche, Gmail oder Youtube) oder auf Drittanbieter-Websites, die mit Google kooperieren (Alphabet Inc. 2020, S. 6). Weitere Kernprodukte sind das Android-Betriebssystem (inkl. Google Wallet für den bargeldlosen Zahlungsverkehr) für Smartphones (damit verbunden der App Store Google Play Store), der Chrome Browser, der E-Mail-Dienst Gmail, der Cloudservice Google Drive, der Kartendienst Google Maps sowie die Musik- und Videoplattform Youtube. Alle Dienste zusammen werden monatlich von über einer Milliarde Menschen genutzt (Alphabet Inc. 2020, S. 5). Mit der cloudbasierten Videospielplattform Google Stadia trat Google zudem Ende 2019 in den Gaming-Markt ein. Durch die ständige Erweiterung der Produktpalette kann Google neben den Werbeeinnahmen weitere Erlöse generieren. Zu nennen sind die monatlichen Einnahmen aus den Abonnement-Diensten wie Google Cloud und Youtube, aber auch die Verkaufserlöse aus dem Google Play Store (Alphabet Inc. 2020, S. 28). Die geräteübergreifende Integration aller Dienste gepaart mit der Vormachtstellung im Internet in den Sektoren Suchmaschinen, mobile Betriebssysteme

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und Plattformen für Content Creator kreiert starke Netzwerkeffekte und bildet den aktuellen, produktbezogenen Kern von Googles Stärke (Dolata 2015, S. 511). Auch Amazon profitiert von Netzwerkeffekten. Auf seiner Internetseite bietet der Konzern ein geschlossenes Ökosystem aus zusammenhängenden Dienstleistungen an (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 131). Kunden können auf der Plattform direkt bei Amazon oder bei Dritthändlern einkaufen, welche dafür eine Provision an Amazon zahlen. Darüber hinaus bietet Amazon, wie Google, einen Abonnement-Service, der neben kostenlosen und schnelleren Lieferungen unter anderem auch den Zugang zum unternehmenseigenen Musik- und VideoStreaming-Service bietet (Amazon.com Inc. 2020, S. 43). Amazon bündelt ein breites Angebot an Leistungen komfortabel an einem einzigen Ort. Derzeit wird noch der Großteil der Einnahmen des Konzerns durch den Verkauf von Gütern und Services über die zentrale Handelsplattform generiert, aber das Geschäftsmodell entwickelt sich immer weiter. Mit Amazon Web Services wird das Erlösmodell um ein Cloud- & Server-Hosting-Angebot erweitert, das ein Umsatzwachstum von knapp 30 % im letzten Geschäftsjahr aufweist und zu den größten Anbietern in diesem Sektor zählt (Amazon.com Inc. 2020, S. 24). Daneben fasst Amazon mit Amazon Original Movies auch Fuß im Bereich der Film- und Serienproduktion, um den eigenen Streamingdienst nachhaltig erfolgreich zu platzieren (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 135). Im Bereich Gaming positioniert sich Amazon durch die Akquisition von Twitch.tv als größte Streaming-Plattform im Bereich Videospiele. Im Mai 2020 veröffentlichte das eigens gegründete Entwicklungsstudio Amazon Games zudem sein erstes selbstentwickeltes Videospiel. Neben der Erweiterung des Geschäftsmodells durch eigene Gründungen ist die Übernahme fremder Unternehmen ein weiteres Strategieelement, mit dem die GAFA-Konzerne ihre Leistungsportfolien erweitern. So kaufte Facebook unter anderem 2012 die Plattform »Instagram« für 1 Milliarde USD und 2014 den Messenger-Dienst »WhatsApp« für 19 Milliarden USD (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 133). Facebook bietet seine Dienste für den privaten Endverbraucher kostenlos an. Erlöse werden nahezu ausschließlich über Werbung auf den unterschiedlichen Plattformen generiert. Facebooks Stärke ist die sowohl breite als auch tiefe Datenbasis, die durch die Nutzerprofile gewonnen wird. Dadurch ist ein sehr genaues Targeting möglich, nach dem Werbekunden ihre Anzeigen steuern (Facebook Inc. 2020, S. 7). Als Anbieter sozialer Netzwerke profitiert Facebook besonders von den Netzwerkeffekten, da sich die hohe Nutzerzahl positiv auf die Attraktivität der Angebote auswirkt. Im Geschäftsmodell von Apple findet Werbung im Produktportfolio nicht statt. Der Konzern erwirtschaftet den Großteil seiner Umsätze über den Verkauf der eigenen Produkte, namentlich iPhone, Mac, iPad und Wearables/Accessoires (Apple Inc. 2019, S. 37). Diese Produkte dienen als Grundstein für ein ge-

Die Route wird berechnet

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schlossenes Ökosystem, in dem Apple diverse digitale Produkte und Dienstleistungen anbietet. So dient der App Store als zentraler Marktplatz für die Software der mobilen Endgeräte (iPhone und iPad). Analog dazu bietet der MacApp Store ein, teilweise überschneidendes, Angebot für die PC-Produkte. Hinzu kommen Abonnements für Apple Music (Musikstreaming), Apple TV (Filmund Serienstreaming) und Apple Arcade (Videospiele). Darüber hinaus tritt Apple mit Apple Pay wie Google auch als Akteur im Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs auf (Apple Inc. 2019, S. 2). Dadurch, dass alle Dienste nur auf Apple-Geräten nutzbar sind, profitiert Apple in besonderem Maße von Lock-InEffekten, im speziellen den Wechselkosten, die ein Nutzer hat, wenn er zu einem Wettbewerber mit Android Smartphone wechselt, da Käufe aus dem Apple App Store nicht übertragen werden können. Darüber hinaus ist auch die Übertragung von persönlichen Daten wie Fotos auf ein systemfremdes Gerät sehr umständlich (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 131). Dank der strategischen Nutzung internetökonomischer Mechanismen und dem schrittweisen Aufbau eigener, geschlossener Ökosysteme erschweren die GAFA-Konzerne potenziellen Wettbewerbern das Erschließen von Marktanteilen, da diese nicht mehr nur mit einzelnen Dienstleistungen konkurrieren, sondern ebenfalls Plattformen und darauf abgestimmte Komplementärgüter anbieten müssen (Gómez-Uranga et al. 2016, S. 131). Diese hohen Markteintrittsbarrieren haben eine Konzentration der wichtigsten Internetdienste zur Folge. So verfügt der Alphabet-Konzern mit Google über einen Marktanteil von über 83 % im weltweiten Suchmaschinenmarkt (netmarketshare 2020) und ist damit mit weitem Vorsprung führend in seinem Kernmarkt. Diese Position bildet die Basis für die Dominanz im Bereich der Online-Werbung, die mit 134 Mrd. USD 83,9 % zum Gesamtumsatz von Google beträgt (Alphabet Inc. 2020, S. 29). Facebook Inc. verzeichnet auf dem namensgebenden sozialen Netzwerk täglich 1,66 Mrd. aktive Personen. Monatlich nutzen sogar 2,5 Mrd. verschiedene Menschen das soziale Netzwerk (Facebook Inc. 2020, S. 44). Betrachtet man zusätzlich den akquirierten Messenger-Dienst WhatsApp und die ebenfalls zugekaufte Fotoplattform Instagram, nutzen täglich 2,26 Mrd., monatlich bis zu 2,89 Mrd. verschiedene Menschen einen der Dienste von Facebook (Facebook Inc. 2020, S. 49–50). Im Vergleich dazu kommen die Konkurrenten Snapchat, TikTok und Twitter zusammen nur auf 1,5 Mrd. monatliche aktive Nutzer (statista 2020a). Auf dieser breiten Nutzerbasis fußt mit 69,6 Mrd. USD nicht nur 98,5 % des Gesamtumsatzes von Facebook, sondern auch der zweitgrößte Marktanteil im Bereich der Online-Werbung (Facebook Inc. 2020, S. 86). Amazon beherrscht den US-amerikanischen Heimatmarkt mit einem Marktanteil am Online-Handel von 37 % (Day/Soper 2019). In Deutschland sind die Wettbewerbshüter bereits aufmerksam geworden, denn der Markanteil von Amazon am Online-Handel lag hierzulande 2018 bei circa 50 %, wodurch der

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Konzern auch einen starken Einfluss auf den nicht-digitalen Einzelhandel hat (Heide et al. 2018). Während die genannten drei Akteure über dominierende Marktstellungen verfügen, wirkt der Marktanteil von 27 % von Apples iOS bei den mobilen Betriebssystemen auf den ersten Blick wenig beeindruckend, denn neben dem Suchmaschinenmarkt setzt Google mit seinem Android-OS und einem Markanteil von 72 % auch in diesem Sektor den Maßstab (statista 2020b). Betrachtet man jedoch den weltweiten Umsatz, der in den entsprechenden App Stores generiert wird, kann sich Apples App Store mit 25,5 Mrd. USD gegenüber Googles Play Store mit 14,2 Mrd. USD im ersten Halbjahr 2019 deutlich absetzen (Nelson 2019). Die starken Marktpositionen schlagen sich auch in der Bewertung der Unternehmen an der Börse nieder. Amazon und Apple sind alleine schon mehr wert als alle 30 DAX-Unternehmen zusammen (Tab. 1). Börsenwert in Mrd. EUR

Google 818

Apple 1.250

Facebook 597

Amazon 1.090

DAX 990

Tab. 1: Börsenwerte der GAFA-Konzerne und des DAX, Stand 28. 05. 2020

Der Vergleich mit dem, am Börsenwert gemessen, aktuell wertvollsten deutschen DAX-Konzern SAP (Stand 28. 05. 2020) zeigt zudem auf, wie stark die GAFAKonzerne, trotz ihres teilweise kurzen Bestehens, bereits gewachsen sind (Tab. 2). Gründungsjahr (Börsengang) Google Apple

1998 (1998) 1976 (1980)

Facebook 2004 (2012) Amazon 1994 (1997)

Mitarbeiter Umsatz Gewinn nach (in Mrd. USD) Steuern (in Mrd. USD) 118.899 161,9 34,3 137.000 260,2 55,3 44.942 798.000

70,7 280,5

18,5 11,6

SAP 1972 (1988) 100.330 30,4 3,8 Tab. 2: Unternehmenskennzahlen der GAFA im Vergleich zu SAP (Geschäftsjahr 2019), entnommen aus den jeweiligen Jahresabschlüssen, Umsatz und Gewinn von SAP wurden mit dem Wechselkurs vom 31. 12. 2019 umgerechnet (SAP Investor Relations)

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149

4.

Visionen und Missionen der GAFA-Konzerne im Zeitverlauf

4.1

G – Von Haus aus unkonventionell

Zur Betrachtung der Veränderungen der Vision und Mission von Google wurden die Jahresabschlüsse der Geschäftsjahre 2004–2019 aus dem Archiv der amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde betrachtet. Auf die Jahresabschlüsse der Jahre 1998–2003 bestand kein Zugriff. Dennoch lässt sich festhalten, dass die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin bereits von Beginn an eine Vision vor Augen hatten: »Google is not a conventional company. We do not intend to become one.« (Alphabet Inc. 2016, S. 1). Mit diesem Vision Statement wandten sich die beiden bereits 1998 in ihrem Founders’ Letter an die Investoren. Der Founders’ Letter ist kein inhaltlicher Bestandteil des 10-K-Jahresabschlusses. Google ist sich seiner Wurzeln jedoch sehr bewusst und zitiert diese Passage in allen Jahresabschlüssen seit dem Geschäftsjahr 2015. In den Jahren 2004–2014 enthielt der Jahresabschluss kein Vision Statement. Grund für die Aufnahme des Zitats in eben diesem Jahr könnte Googles Umstrukturierung und Umfirmierung in »Alphabet« sein. Der Bezug auf das Statement der beiden Gründer erhält so die Identität des Unternehmens. Mit der neuen Konzernstruktur wurde außerdem die Vision erweitert. Von 2016 bis 2018 wurde neben der ursprünglichen Vision ein erweitertes Vision Statement verfasst: »Our vision is to remain a place of incredible creativity and innovation that uses our technical expertise to tackle big problems«. Im Gegensatz zum Vision Statement hat Google in den Jahren 2004–2013 seine Mission klar formuliert: »Our mission is to organize the world’s information and make it universally accessible and useful.« Die Maxime, einen freien und flächendeckenden Zugang zu Informationen zu ermöglichen, wurde in den Folgejahren immer wieder leicht angepasst. So wurde die explizite Formulierung »our mission is […]« gestrichen und Googles Zielvorstellung zergliedert. 2014 stellte man, wie ein Jahr später bei der Vision, den Bezug zum ersten Shareholderletter des Unternehmens her: »[…] our goal is to … develop services that significantly improve the lives of as many people as possible« (Google Inc. 2015, S. 1). Googles weiterentwickelte Mission geht somit über das hinaus, was die vorangegangenen zehn Jahre für sich alleine stand. Der ursprüngliche Teil der Mission findet sich in den Jahren 2014 und 2015 unter dem Oberpunkt »Serving Our Users« im Jahresabschluss wieder: »Ultimately, we want you to have speedy, secure access to whatever you need, wherever you happen to be, and on whatever device you may be using at the time« (Alphabet Inc. 2016, S. 2). Und auch die verbleibenden fünf Milliarden Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch keinen Zugriff auf das Internet hatten, hat Google im Blick. Unter der Überschrift

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»Bringing the Next 5 Billion Online« subsumiert der Konzern sein Ziel, das Internet für die ganze Welt bereitzustellen (Alphabet Inc. 2016, S. 2). In den Jahresabschlüssen der Geschäftsjahre 2016–2018 kehrt Google zur expliziten Formulierung der Mission zurück: »Google’s mission to organize the world’s information and make it universally accessible and useful has always been our North Star, and our products have come a long way since the company was founded nearly two decades ago« (Alphabet Inc. 2019, S. 4). Durch diese Formulierung wird die Fokussierung auf das Kerngeschäft unterstrichen und gleichzeitig wird der Entwicklung des Unternehmens Rechnung getragen. Im Jahresabschluss des Geschäftsjahres 2019 wird die Konsistenz von Googles Mission seit der Gründung noch deutlicher: »Today, our mission to organize the world’s information and make it universally accessible and useful is as relevant as it was when we were founded in 1998«, überschrieben ist dieses Mission Statement mit »Access and technology for everyone« (Alphabet Inc. 2020, S. 5). Mit Blick auf die bereits gewonnenen Nutzer hält Google zudem Folgendes fest: »We have always been a company committed to building products that have the potential to improve the lives of millions of people« (Alphabet Inc. 2020, S. 5), was mit der breiten Produktpalette, die heute bei den Nutzern in den Alltag integriert ist, untermauert wird.

4.2

A – Den Kunden immer fest im Blick (?)

Die Analyse der Visions- und Missionskommunikation von Amazon beruht auf den Jahresabschlüssen der Geschäftsjahre 1997–2019, sodass eine Betrachtung ab dem Zeitpunkt des Börsengangs möglich ist. Enthält der Jahresabschluss 1997 noch keine Passage zur Unternehmensvision, werden die Formulierungen in den darauffolgenden Jahren bis heute regelmäßig, meist in Ein- beziehungsweise Zwei-Jahreszyklen, leicht überarbeitet. 1998 formulierte Amazon erstmals ein explizites Vision Statement: »The Company’s objective is to become the best place to buy, find and discover any product or service available online« (Amazon.com Inc. 1999, S. 1). Wie schon die Google-Gründer, hatte auch Jeff Bezos vor über 20 Jahren eine klare Vision, welche Rolle sein Unternehmen zukünftig einnehmen soll. In den Folgejahren wurde dieses Statement sukzessive erweitert. Zunächst um ein klares Bekenntnis zur Kundenfokussierung: »Amazon.com seeks to be the world’s most customer-centric company where customers can find and discover anything they may want to buy online« (Amazon.com Inc. 2000, S. 1). Später kamen weitere strategische Komponenten wie die Produktpalette »We seek to offer Earth’s biggest selection …« (Amazon.com Inc. 2003, S. 1) und die Preise hinzu: »…, and

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endeavor to offer customers the lowest possible prices« (Amazon.com Inc. 2005, S. 3). Im Geschäftsjahr 2007 hat Amazon die Vision, das größte Produktportfolio der Welt zu bieten, nach eigener Aussage Wirklichkeit werden lassen: »We offer Earth’s Biggest Selection and seek to be Earth’s most customer-centric company for three primary customer sets: consumer customers, seller customers and developer customers« (Amazon.com Inc. 2008, S. 3). Zudem wurden aus strategischer Perspektive erstmals die Kundengruppen definiert, die erreicht werden sollen. 2010 zeigte man sich wieder defensiver: »We seek to be Earth’s most customer-centric company for three primary customer sets: consumers, sellers, and enterprises« und hat die strategischen Kundengruppen neu geordnet (Amazon.com Inc. 2011, S. 3). Im Hinblick auf die Zukunftsvorstellung des eigenen Unternehmens als Teil der Vision könnte die Umformulierung dahingehend gedeutet werden, dass Amazon seine Ziele erweitert hat, um weiterhin einen intrinsischen Antrieb für Verbesserung und Veränderung zu haben, getreu dem Motto Stillstand bedeutet Rückschritt. Auch in den Folgejahren scheint die Segmentierung der Kundengruppen Amazon zu beschäftigen. 2011 erweiterte man die Kundengruppen um »content creators« (Amazon.com Inc. 2012, S. 2), bevor 2013 auch die geographische Segmentierung Teil der Unternehmensvision wird: »… In each of our two geographic segments, we serve our primary customer sets, consisting of consumers, sellers, enterprises, and content creators« (Amazon.com Inc. 2014, S. 3). Seit 2014 zeigt man sich sehr konsistent. Die bis heute gültige Vision lautet »We seek to be Earth’s most customer-centric company. We are guided by four principles: customer obsession rather than competitor focus, passion for invention, commitment to operational excellence, and long-term thinking. In each of our two geographic segments, we serve our primary customer sets, consisting of consumers, sellers, enterprises, and content creators« (Amazon.com Inc. 2015, S. 3) und erweitert die bisherige, ideale Zukunftsvorstellung um ein Value Statement, das die Prinzipien des Konzerns öffentlichkeitswirksam zusammenfasst. Wie schon das Vision Statement befindet sich auch die Missions-Kommunikation von Amazon, im Detail, in einem Wandel. Vorab ist festzuhalten, dass in keinem Jahresabschluss das Wort »Mission« selbst gebraucht wird. Das erste Jahr an der Börse wurde mit folgendem Statement beendet: »Amazon.com strives to offer its customers compelling value through innovative use of technology, broad selection, high-quality content, a high level of customer service, competitive pricing and personalized services« (Amazon.com Inc. 1998, S. 1). Die hier genannten Bestandteile finden sich teilweise erst Jahre später in ähnlicher Form auch im Vision Statement wieder. Von 1998–2001 enthält der Jahresabschluss keine Aussagen zur Mission, bevor im Geschäftsjahr 2002 der Fokus insbesondere auf die Kostenführerschaft gelegt

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wurde: »We endeavor to offer our customers the lowest possible prices. We strive to improve our operating efficiencies and to leverage our fixed costs so that we can afford to pass along these savings to our customers in the form of lower prices« (Amazon.com Inc. 2003, S. 1). Auch hier wurde ein Jahr später nachjustiert. Da der Weg allein über den günstigsten Preis nicht zur Vision der absoluten Kundenzentrierung passte, wurde das bisherige Statement erweitert: »Our software engineers, computer scientists, and management team focus on continuous innovation to provide further convenience for our customers« (Amazon.com Inc. 2004, S. 4). Aus dem Statement lässt sich außerdem ableiten, dass Amazon vor allem seine Mitarbeiter und nicht die konzerneigene Technologie als den entscheidenden Hebel ansieht, das Unternehmen weiterzuentwickeln. Diese Kombination hatte bis zum Geschäftsjahr 2008 Bestand, als der Service Amazon Prime die Mitarbeiter aus dem Mission Statement verdrängte: »We strive to offer our customers the lowest prices possible through low everyday product pricing and free shipping offers, including Amazon Prime, and to improve our operating efficiencies so that we can continue to lower prices for our customers« (Amazon.com Inc. 2009, S. 3). Amazon konzentrierte sich in den folgenden zehn Jahren wieder ausschließlich auf den Preisaspekt. Eine einzige Anpassung erfolgte im Geschäftsjahr 2013, als der Prime Dienst wieder aus dem Statement gestrichen wurde. Im aktuellen Berichtsjahr hat Amazon das Statement nochmals angepasst und um Aspekte der Nutzerfreundlichkeit und des Kundenservice erweitert: »We seek to offer our customers low prices, fast and free delivery, easy-to-use functionality, and timely customer service« (Amazon.com Inc. 2020, S. 3).

4.3

F – Power to the people

Die vorliegenden Jahresabschlüsse von Facebook Inc. reichen zurück bis in das Jahr 2012, dem Jahr des Börsengangs. Seitdem ist Facebooks Vision »We believe that we are at the forefront of enabling faster, easier, and richer communication between people and that Facebook has become an integral part of many of our users’ daily lives« deutlich zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt konnte Facebook bereits berichten, dass täglich mehrere hundert Millionen Nutzer die Plattform besuchen (Facebook Inc. 2013, S. 1). Auffallend ist zudem, dass im ersten Halbsatz explizit der Begriff »people« genutzt wird. Im Gegensatz zu Amazon, die eine kundenzentrierte Vision (»customercentric«) formulieren, beschränkt sich Facebook hier nicht und lässt so implizit Raum dafür, potenziell als Kommunikationsdienstleister für alle Menschen der Welt zu agieren. Im Jahr danach wurde der zweite Halbsatz, der sich auf die Nutzer bezieht, entfernt: »We build technology to enable faster, easier and richer

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communication. Hundreds of millions of people use Facebook’s websites and mobile applications every day to stay connected with their friends and family, to discover and learn what is going on in the world around them, and to share and express what matters to them to the people they care about« (Facebook Inc. 2014, S. 7). Darüber hinaus wurde die Rolle von Facebook als Mittel zur Kommunikation weiter ausgebaut. Neben der Möglichkeit, zu entdecken, was auf der Welt passiert, positioniert sich das Unternehmen auch als Übermittler für private und persönliche Kommunikation. Im darauffolgenden Jahr finden auch die einzelnen Produkte (Facebook, WhatsApp, etc.) Platz im Vision Statement, das um die Bandbreite der Kommunikationsmöglichkeiten erweitert wurde: »Our top priority is to build useful and engaging products that enable people to connect and share through mobile devices and personal computers. We also help people discover and learn about what is going on in the world around them, enable people to share their opinions, ideas, photos and videos, and other activities with audiences ranging from their closest friends to the public at large, and stay connected everywhere by accessing our products, including: […]« (Facebook Inc. 2015, S. 5). Diese Vision hat bis zum aktuellen Geschäftsbericht bestand, in dem das Statement lediglich um die Oculus-Hardware (Virtual Reality) und die dazugehörigen Möglichkeiten zur Kommunikation erweitert wurde (Facebook Inc. 2020, S. 7). Im Gegensatz zur Vision ist Facebooks Mission seit 2012 in einem klaren Mission Statement ausformuliert: »Our mission is to make the world more open and connected« (Facebook Inc. 2013, S. 1). Bereits im nächsten Jahr wurde das Statement erweitert: »Our mission is to give people the power to share and make the world more open and connected« (Facebook Inc. 2014, S. 7). Impliziert das erste Mission Statement noch, dass Facebook selbst die Welt offener und verbundener gestalten will, positioniert sich der Konzern in den darauffolgenden Jahren als Werkzeug zur Befähigung der Menschen, dies umzusetzen. Im Jahr 2017, als Facebook wegen des Cambridge Analytica Skandals im Zentrum der Öffentlichkeit stand, wurde das Mission Statement erneut angepasst: »Our mission is to give people the power to build community and bring the world closer together« (Facebook Inc. 2018, S. 5). Facebook sieht sich darin weiterhin als Plattform, aber nicht als Umsetzer. Der Fokus hat sich zur Entwicklung von Gemeinschaften und zum Zusammenrücken der Gesellschaft verschoben.

4.4

A – Too cool for school

Mit einer Historie beginnend im Jahr 1994 ist die Datengrundlage für Apple die größte in diesem Beitrag. Trotz dieser umfangreichen Grundlage gelang es nicht, ein Vision Statement aus den Veröffentlichungen zu entnehmen – Apple kom-

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muniziert keine Vision in seinen Jahresabschlüssen. Bis zum Geschäftsjahr 2001 sucht man auch nach einem Mission Statement vergeblich. Dann äußert sich Apple folgendermaßen: »Apple is committed to bringing the best possible personal computing experience to students, educators, creative professionals, businesses and consumers around the world through its innovative hardware, software, and Internet offerings« (Apple Computer Inc. 2001, S. 1). Unterstellt man bei der Reihenfolge auch gleichzeitig eine priorisierende Rangfolge, liegt der Fokus von Apple um die Jahrtausendwende im Besonderen auf dem Bereich der Bildung. Diese These wird dadurch gestützt, dass ab dem Geschäftsjahr 2002 bis einschließlich 2018 jeder Jahresabschluss den folgenden Absatz enthielt: »The Company believes that effective integration of technology into classroom instruction can result in higher levels of student achievement, especially when used to support collaboration, information access, and the expression and representation of student thought and ideas« (Apple Computer Inc. 2002, S. 2). Im weiteren Verlauf der Jahre wird an Apples Mission Statements die schrittweise Erweiterung des Geschäftsmodells deutlich. So wurden 2003 Peripheriegeräte, der Mac und der iTunes Music Store dem ansonsten identischen Mission Statement hinzugefügt (Apple Computer Inc. 2003, S. 1). Apple stand mit dem iPod fest im Markt und hat darüber hinaus sein Kundenportfolio auf Regierungsbehörden ausweiten können, was ebenfalls ins Mission Statement übertragen wurde: »The Company is committed to bringing the best personal computing and portable digital music experience to students, educators, creative professionals, businesses, government agencies, and consumers through its innovative hardware, software, peripherals, services, and Internet offerings« (Apple Computer Inc. 2006, S. 1). 2007 stellte Apple mit dem iPhone den gesamten Mobilfunkmarkt auf den Kopf, was sich ebenfalls im Mission Statement niederschlägt: »The Company is committed to bringing the best personal computing, portable digital music and mobile communication experience to students, educators, creative professionals, businesses, government agencies, and consumers through its innovative hardware, software, peripherals, services, and Internet offerings« (Apple Inc. 2007, S. 1). Zwei Jahre später, im Geschäftsjahr 2009, wird auch dieses Mission Statement ergänzt, da Apple nun auch portable, digitale Videoangebote für den Massenmarkt anbietet (Apple Inc. 2008, S. 1). Der Jahresabschluss 2010 stellt eine Entschlackung des Mission Statements dar. Für die nächsten acht Jahre formuliert Apple seine Mission so: »The Company is committed to bringing the best user experience to its customers through its innovative hardware, software, peripherals, services, and Internet offerings« (Apple Inc. 2010, S. 1). Im Jahr 2019 findet sich im Jahresabschluss erstmals kein

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Mission Statement mehr, der 2002 eingeführte Fokus auf Bildung ist ebenfalls nicht mehr vorhanden. Auch wenn Apple keine Vision schriftlich in den Jahresabschlüssen veröffentlicht, soll dennoch die Unternehmensvision, wie sie von Unternehmensgründer Steve Jobs formuliert wurde, der Vision des derzeitigen Apple CEOs Tim Cook gegenübergestellt werden. Steve Jobs formulierte in den 1980er Jahren seine Vision für Apples Rolle in der Gesellschaft kurz und bündig: »To make a contribution to the world by making tools for the mind that advance humankind« (Farfan 2019). Er sah Apple Computer Inc. als ein Werkzeug, das der Menschheit dabei helfen soll, sich weiterzuentwickeln. Tim Cooks letzte Äußerung über Apples Rolle aus dem Jahr 2016 lautet wie folgt: »For us, the most important thing we can do is raise people up, that is either by giving the ability to do things they could not otherwise do, allow them to create things they couldn’t otherwise create. It’s about giving them tools, it is about empowering people. I think to me that is the primary objective of technology – for you to live better, longer« (Farfan 2019). Tim Cook teilt in seiner Vision die Ansichten von Steve Jobs bezüglich Apples Rolle in der Gesellschaft. Er führt diese jedoch spezifischer aus und verdeutlicht dadurch, welchen Beitrag Apple mit seinen Produkten leisten kann.

5.

Fazit

Das Internet hat unsere Welt verändert. Wesentliche Treiber dabei waren und sind Google, Amazon, Facebook und Apple. Faszinierend zu beobachten ist, dass die heutigen Visionen der GAFA-Konzerne sich nur in Nuancen von ihren Visionen zu Gründungszeiten unterscheiden. Sofern dies der Fall ist, dann wurden sie lediglich erweitert. So fokussiert sich Googles Vision besonders auf die eigene Unternehmenskultur, mit deren Hilfe bedeutsame Probleme unserer Zeit angegangen werden sollen. Amazon ist weiterhin auf dem Weg, das kundenorientierteste Unternehmen der Welt zu werden, Facebook arbeitet an seinem Status als weltweiter Kommunikationsdienstleister und Apple möchte Menschen dazu befähigen, Dinge zu tun und zu kreieren, die sonst nicht möglich wären. Diese hehren Ziele können und müssen auch kritisch betrachtet werden. Die Macht über Informationen und Infrastruktur, die bei den GAFA-Konzernen liegt, war in der Vergangenheit schon mehrfach Grundlage für Rufe nach Regulierung, teilweise auch nach Zerschlagung, besonders in Bezug auf den Datenschutz. Die Diskussion hierum erhielt nicht zuletzt durch den Cambridge Analytica-Skandal Aufwind. Die Analyse der Mechanismen der Internet- und Plattformökonomie und auch die Börsenwerte der vier Unternehmen zeigen, dass der Markt eine klare Tendenz zur Konzentration hat, der andere westliche »Marktbegleiter« derzeit

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nicht entgegenwirken können. Potenziell ernstzunehmende Konkurrenten sind nur im Fernen Osten zu finden. In China haben sich bereits Pendants zu den GAF(A)-Unternehmen so stark etabliert, dass sie es ebenfalls zu einem eigenen Akronym gebracht haben. Die BAT-Konzerne, bestehend aus dem GoogleSubstitut Baidu, dem Amazon-Konkurrenten Alibaba und dem sozialen Netzwerk Tencent, haben ihren Heimatmarkt – auch dank der durch die chinesische Regierung verhängten Wettbewerbsverbote für Google und Facebook – fest in der Hand. Darüber hinaus ist Alibaba nachhaltig bestrebt, seinen Einfluss über die Landesgrenzen hinweg auszubauen. Alle drei Plattformen sind in das Sozialkredit-System Chinas, eine umfassende staatliche Überwachung, integriert. Die Beteiligung an diesem System ist in keinem der Vision Statements verankert, es sei denn, man interpretiert dieses Vorgehen als »soziale Verantwortung«, der sich Tencent verschrieben hat. Diese Instrumentalisierung von Unternehmen durch den Staat verdeutlicht, dass die Machtpositionen, die die GAFA-Unternehmen in der westlichen Welt innehaben, und ihre Bestrebungen, diese global auszubauen, unweigerlich Fragen aufwerfen, ob und inwieweit ihre Praktiken, die die Gesellschaft in vielfältigster Weise betreffen, auch kritisch zu betrachten sind. Gerade in den aktuellen Zeiten kommen ihre Visionen stärker zum Tragen als je zuvor. George Orwell zeichnet in seinem Roman 1984 ein düsteres Weltbild, geprägt von Überwachung und Lügen, die zur Wahrheit umgeschrieben werden. Die Parallelen zu unserem Alltag sind deutlich zu erkennen, spätestens, seit wir uns im »postfaktischen Zeitalter« befinden, in dem der Aluhut eine Renaissance als modisches Accessoire erlebt. Damit einher geht in Orwells Dystopie die Oppression zwischenmenschlicher Gefühle wie Solidarität, Empathie und Liebe durch die Obrigkeit. Doch die aktuelle Nachrichtenlage, die geprägt ist von Menschen, die weltweit so nachhaltig, so laut und so deutlich wie noch nie ihre Unterstützung für die »Black Lives Matter«-Bewegung in den USA kundtun, katalysiert durch Bilder, Videos und Postings in den sozialen Medien, zeigt, dass unsere Gesellschaft immer wieder den Mut und Antrieb findet, für ihre Rechte einzustehen. Die GAFA-Konzerne mögen derzeit die vier großen Brüder sein, die uns beobachten und dabei übermächtig wirken, doch jüngere Geschwister wachsen, werden stärker und lernen, wie sie sich verteidigen können. Google, Amazon, Facebook und Apple müssen sich daher ihrer Stellung und der damit einhergehenden Verantwortung bewusst sein. Sie sollten und müssen abwägen, welchen Idealen sie sich verpflichtet fühlen. Sie sollten ihre Visionen, insbesondere oder gerade auch unter Beachtung der damit verbundenen Gefahren, entlang der Leitlinien einer modernen Risk Governance (siehe hierzu Stein/Wiedemann 2016; Hiebl et al. 2018; Stein/Wiedemann/Bouten 2019) aus stakeholderorientierter Perspektive hinterfragen, um ihren Beitrag zum Ge-

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meinwohl, den sie alle in ihren Visionen zum Ausdruck bringen, tatsächlich auch zu leisten.

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Die Route wird berechnet

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Anna Feldhaus / Nicolas Mues / Tobias M. Scholz / Carolin Uebach / Lisa Völkel*

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen – Implikationen für das strategische Management

1.

Einleitung

Vision ist ein Wort, das im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext oft und schnell verwendet wird: Es soll aussagen, wofür ein Unternehmen steht und wohin der Weg gehen soll (Mirvis et al. 2010, S. 316). Dabei tun sich Unternehmen schwer, ihre Vision präzise zu definieren und zu formulieren (Peters/Waterman 1982, S. 107). Denn dies benötigt ein klares Verständnis über das Unternehmen, dessen Vergangenheit sowie dessen Weg in die Zukunft. Eine Vision kann, wie nachfolgendes Beispiel der Wikipedia-Organisation zeigt, wie folgt formuliert sein: »Imagine a world in which every single person is given free access to the sum of all human knowledge« (Wikipedia o. J.). Hier wird deutlich, wofür Wikipedia steht (Sinn), was es antreibt (Motivation) und wie es zur Erreichung seiner gemeinsamen Vision vorgeht (Handlung). Das Ziel ist visionär in einer Form, dass es herausfordernd zu erreichen ist, aber bereits der Weg dorthin erstrebenswert erscheint. Eine solche Formulierung fördert den Zusammenhalt innerhalb des Unternehmens. Doch eine Vision ist nicht losgelöst von der Umwelt, wird nicht am Reißbrett erarbeitet und dann »einfach« implementiert (Kelly 2000, S. 96–99). * Dr. Anna Feldhaus, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement und Organisation. Nicolas Mues, M.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement und Organisation. Dr. Tobias M. Scholz (Akademischer Rat), Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement und Organisation. Carolin Uebach, B.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement und Organisation. Lisa Völkel, B.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalmanagement und Organisation.

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Die Identifikation von möglichen Visionen ist komplex und aufwendig, denn jedes Unternehmen besitzt zwar eine Mission, die Vision muss jedoch erst gefunden werden, denn sie ist verbunden mit dem Kern des Unternehmens und damit auch mit dem langfristigen und dem nachhaltigen Wachstum (Rigby/Tager 2008, S. 26). Ein wichtiger Aspekt bei der Visionsfindung ist die Konkurrenz, die oft vernachlässigt wird, denn eine Vision ist auch eine Abgrenzung zu anderen. Wenn ein Unternehmen Weltmarktführer werden will, dann wird ganz klar in der Vision verankert, man wolle besser sein als die Konkurrenz. Das wiederum bedeutet, jede Veränderung im Unternehmensumfeld wird eine Auswirkung auf die eigene Vision sowie auf den intern und extern induzierten visionären Wandel haben. Die Konkurrenz dient als Impuls (Flynn et al. 2003, S. 427–428). Vision ist aufgrund ihrer Langfristigkeit ein evolutionäres Konstrukt, das der organisationalen Ökologie zugeschrieben werden kann. Kenneth Boulding spricht konsequenterweise von »evolutionary vision« (Boulding 1978 zitiert in Jantsch 1980, S. V), seine Frau Elise Boulding geht sogar noch einen Schritt weiter und formuliert, dass die Vision die unternehmerische Realität bestimmt (Boulding, E. 1980, S. 441). Wenn man in der Historie von Unternehmen und Branchen schaut, dann erkennt man oft ein visionäres Wettrüsten. Beispielsweise stehen Boeing und Airbus im Wettbewerb und wer vorne liegt und seine Vision der Marktführerschaft erreicht hat, kann »durchschnaufen«, der andere muss sich verändern, um die Marktführerschaft erneut zu übernehmen (White et al. 2007, S. 185). Es findet also ein Kampf der Visionen zwischen Unternehmen statt. Dieser Kampf begleitet Unternehmen teilweise jahrzehntelang. Nennenswerte Kämpfe sind Adidas vs. Nike und McDonalds vs. Burger King. In ihnen sieht man, dass es Phasen gibt, in denen das eine Unternehmen vorangeht und das andere Unternehmen folgt. Beispielsweise hatte Adidas in den 1990er Jahren einen Durchhänger und Nike entflog mit Michael »Air« Jordan dem Konkurrenten. Manchmal greifen Unternehmen zu rabiaten Mitteln wie der Abwerbung zentraler Akteure: So ist Kayne West von Nike zu Adidas gewechselt (Kevdes 2017) und hat damit Adidas die Möglichkeit gegeben, aufzuholen. Diese langjährigen Kämpfe haben diese Unternehmen jedoch immer angetrieben, sich zu wandeln. Zugleich hat dieser Wettbewerb auch dazu geführt, dass die Vision sehr viel klarer und präziser beschrieben werden kann. Dunkin’ Donuts beispielsweise sagt von sich selber, dass sie »America’s Favorite Coffee« sein wollen, was als eine Attacke auf Starbucks angesehen werden kann. Der Kampf zwischen Unternehmen kann also sinnstiftend sowie motivierend sein und zu Handlungen antreiben. Diese Kämpfe der Visionen zwischen Unternehmen werden nachfolgend anhand der Beispiele Ryanair und Southwest Airlines, PepsiCo und Coca-Cola, Rügenwalder Mühle und Wiesenhof sowie Apple und Microsoft erarbeitet. Das

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen

163

Beispiel Ryanair und Southwest Airlines macht deutlich, dass es nicht immer nur ein direkter Kampf sein muss – die regionalen Märkte beider Unternehmen unterscheiden sich –, sondern dass Unternehmen auch im indirekten Wettbewerb der Visionen stehen können: Ryanair hat sich an der Vision von Southwest Airlines bedient und diese angepasst. PepsiCo und Coca-Cola sind ein Paradebeispiel für den Kampf gegeneinander durch ihre gesamte Unternehmensgeschichte hindurch. Rügenwalder Mühle und Wiesenhof sind in einer ähnlichen Branche, doch hier ist zu erkennen, dass sich der Kampf verlagert; die sich wandelnde Vision führt dazu, dass sich beide voneinander entfernen und bald nicht mehr als direkte Konkurrenten angesehen werden können. Apple und Microsoft sind Konkurrenten schon seit Anbeginn beider Unternehmen, doch gleichzeitig sind sie auch Partner, die sich gegenseitig benötigen. Der freundliche Wettbewerb treibt beide Akteure an, sich zu verändern. Ziel dieses Beitrags ist es, darzustellen, wie Vision in der Literatur definiert ist und wie der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen in der Praxis ausgestaltet wird. Weiterhin werden verschiedene Varianten des Kampfes kategorisiert und Implikationen für das strategische Management abgeleitet.

2.

Theoretische Grundlagen zur Vision

Ziel einer Vision ist es, ein gemeinsames und zukunftsweisendes Verständnis innerhalb und außerhalb des Unternehmens von der grundlegenden Orientierung des Unternehmens zu erstellen (Greiner/Huber 2000, S. 21). Damit wird bereits durch die Vision ein von Idealen und Werten getragener Leitgedanke zur Erreichung des zukünftigen Ziels suggeriert (Niedermair 2000, S. 11). Präzise formuliert ist »eine Vision ein Abbild einer zukünftigen Wirklichkeit, die durch ein Unternehmen angestrebt wird« (Müller-Stewens/Lechner 2011, S. 225). Die Realisierung der formulierten Vision bedeutet gleichzeitig, dass eine Anschlussvision formuliert werden muss. Damit hat eine Vision ein »Verfallsdatum«, das natürlich ex-ante kaum bestimmbar ist. Visionen lassen sich zunächst gemäß ihrer Innen- und Außenfokussierung einteilen (Hinterhuber/Krauthammer 1996; Coenenberg/Salfeld 2007, S. 26–28): Bei einer innenfokussierten Vision richtet sich das Unternehmen primär an den unternehmensinternen Stakeholdern und den Zielen des Geschäftsmodells aus, eine außenfokussierte Vision hingegen bezieht sich vor allem auf das äußere Umfeld, also die Marktbedingungen und die externen Stakeholder des Unternehmens, welchen bei der Formulierung der Vision ein höherer Stellenwert beigemessen wird.

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In Bezug auf die Implementierung einer Vision kommt es dann auf den Inhalt an, für den Schuh et al. (2011, S. 68) vier Alternativen benennen: (1) Zielfokussierte Visionen zeigen Ziele auf, welche durch die Vision erreicht werden sollen. Dazu werden konkrete quantitative und/oder qualitative Zielerreichungsgrade formuliert. Beispiel: Wal-Mart 1990: »Wir wollen ein 125 Mrd. US-Dollar Unternehmen bis zum Jahre 2000 werden« (Oehlrich 2019, S. 32). (2) Feindfokussierte Visionen werden formuliert, um einem Konkurrenten einen Schritt voraus zu sein. Beispiel: Nike 1960: »Crush Adidas« (Oehlrich 2019, S. 33). (3) Rollenfokussierte Visionen dienen zum Aufbau eines Vorbildcharakters, um aus der Vielzahl an Unternehmen herauszubrechen. Beispiel: WatkinsJohnson 1996: »Wir wollen in 20 Jahren so respektiert werden wie es HewlettPackard heute wird« (Oehlrich 2019, S. 33). (4) Wandelfokussierte Visionen dienen zur Umsetzung eines Wandels im Unternehmen. Die formulierte Vision startet einen Transformationsprozess zur Umstrukturierung des Unternehmens, daher wird diese Art der Vision häufig bei größeren und älteren Unternehmen umgesetzt. Beispiel: Rockwell 1995: »Wir wollen von einem Hersteller von Verteidigungsprodukten zu dem am besten diversifizierten Hochtechnologieunternehmen werden« (Oehlrich 2019, S. 33). Schließlich resultieren aus einer Vision drei mögliche Wirkungen (Oehlrich 2019, S. 32): (1) Sinnstiftende Wirkung: Die Aufgabe einer Vision ist die Schaffung einer gemeinsamen Identität, und das nicht nur innerhalb des Unternehmens, zwischen Mitarbeitern und Führungskräften, sondern auch außerhalb des Unternehmens. Zukunftsweisende Entwicklungen werden intern und extern transparent dargestellt und zur Umsetzung freigegeben. (2) Motivierende Wirkung: Erwecken eines gemeinsamen Gedankens, um damit den Beitrag zum Unternehmenserfolg transparent zu gestalten. Darüber hinaus erfolgt eine Sensibilisierung für die Entwicklung des Unternehmens und für den zu leistenden Beitrag des einzelnen Individuums. Das steigert das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums zum Unternehmen und die Motivation, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. (3) Handlungsleitende Wirkung: Die Vision hat eine Wirkungsmacht auf die Handlungen von Individuen innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Im Fokus steht hier besonders das eigenverantwortliche Handeln des Individuums zur Erreichung des durch die Vision formulierten zukünftigen Idealzustandes.

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen

165

Auf der Basis dieses theoretischen Rahmens ist es die Zielsetzung des vorliegenden Artikels, dies anhand von praktischen Fallbeispielen zu illustrieren, um für einen differenzierten Umgang mit Visionen zu sensibilisieren.

3.

Kategorisierte Fallbeispiele

3.1

Zielfokussierte Visionen – Southwest Airlines vs. Ryanair

Als Rollin King und sein Geschäftspartner Herbert »Herb« D. Kelleher 1967 die Air Southwest Inc. gründeten, befand sich die Luftfahrtindustrie in einer Krise. Auch die ersten Jahre der jungen Fluglinie mit Sitz in Dallas, Texas, waren aufgrund strikter Regulierungen und gerichtlichen Auseinandersetzungen mit anderen Wettbewerbern beschwerlich (Stahlhofer/Schmidkonz/Kraft 2018, S. 46; Krebs/Williams 2018, S. 94). Speziell für ein neu gegründetes Unternehmen in einem umkämpften Markt ist es anfangs entscheidend, dass eine Vision formuliert wird, die zum einen eindeutig und verständlich ist und zum anderen einen langfristigen Entwicklungspfad mit klaren Zielsetzungen aufzeigt. Southwest Airlines Co., wie das Unternehmen Kellehers von 1971 an hieß, suchte eine zielfokussierte Vision, die den Mitarbeitern einen klaren Entwicklungspfad verdeutlicht mit einem Ziel, welches gleichermaßen ambitioniert wie erreichbar wirkt. Kelleher, der in den folgenden Jahren prägend für die junge Airline sein sollte, formulierte nicht nur ein Ziel, sondern gleich drei. So lautet die Vision bis heute: »To become the world’s most loved, most flown, and most profitable airline« (Southwest Air, 2020). Hinsichtlich der eingangs angeführten Wirkungen einer Vision kann aus heutiger Sicht davon ausgegangen werden, dass die Vision von Kellehers Airline sowohl sinnstiftend als auch motivierend und handlungsleitend gewirkt hat. Dies ist vor allem auf die Vorbildfunktion Kellehers zurückzuführen. Dieser betonte stets, dass die Mitarbeiter der entscheidende Wettbewerbsvorteil seien (Stahlhofer/Schmidkonz/Kraft 2018, S. 46) und der erste Kunde stets der eigene Mitarbeiter (Mayfield/Mayfield/Sharbrough III 2015, S. 111). Ihm zufolge sei der größte Wettbewerbsvorteil bei den Mitarbeitern zu finden, sofern diese loyal seien und sich den Unternehmenswerten verbunden fühlten (Gallo 2014). Durch dieses Verhalten Kellehers wurde der Vision Nachdruck verliehen. Eine gemeinsame Identität wurde gestärkt. Ebenso wurde das Zugehörigkeitsgefühl der Mitarbeiter gesteigert und dadurch, dass Kelleher selbst vorlebte, wie wichtig ihm ein respektvoller Umgang mit seinen Mitarbeitern war, wurde diesen veranschaulicht, wie sie im Berufsalltag zu handeln haben. Nach außen hin wirkte die Vision ebenfalls authentisch. So ist das Tickersymbol an der Börse »LUV«, die

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Airline startete ihren Betrieb vom Dallas Love Field Airport und besitzt als Logo ein Herz. Die Vision von Southwest wirkt auf den ersten Blick höchst ambitioniert. Die zeitgleiche Erreichung aller drei Bestandteile scheint beinahe unmöglich, da der Anspruch der Profitabilität und der Führerschaft bei den Buchungen im Gegensatz zur »Liebe« stehen könnte, da Service-Leistungen eingespart werden könnten. Als Kelleher aber 2019 starb, wurde ersichtlich, dass die Airline tatsächlich alle drei Elemente der Vision erreicht hatte. 18 Jahre nach Southwest Airlines und wurde mit Ryanair in Europa eine Airline gegründet, die heutzutage als der Low-Cost-Carrier schlechthin gilt. Die Niedrigpreisstrategie des CEOs Thomas O’Learys ist so strikt, dass er 2016 verkündete: »I have this vision that in the next five to ten years that the air fares on Ryanair will be free« (zitiert nach Topham 2016). Doch Ryanair war nicht von Beginn an einzig auf dieses Ziel ausgerichtet. Tatsächlich besteht eine Verbindung zwischen Ryanair und Southwest Airlines. Als Herb Kelleher 2019 verstarb, trauerte auch O’Leary: »Herb war der Großmeister Yoda der Low-Cost-Carrier. Ohne Herb würde es kein Ryanair geben« (The Irish Times 2019). Andere sprechen gar davon, O’Leary habe Ryanairs Vision sozusagen bei Kelleher entnommen (Carayol 2004). Zwar verfolgte auch Southwest eine ähnliche Strategie, aber Ryanair ging noch viel weiter (Diaconu 2012 S. 345), verlangte sogar für Rollstühle im Flugzeug Zusatzzahlungen. Vom Ziel der möglichst hohen Beliebtheit entfernte Ryanair sich bewusst. 2013 wurde die Airline zur unbeliebtesten in England gewählt (Thomas 2015, S. 1). Die übergeordnete, schier unmögliche Vision O’Learys, dass Ryanair seine Umsätze ausschließlich durch Gewinnbeteiligungen der Flughäfen und nicht auf klassischem Wege mit Flugpreisen macht, wirkt dagegen mittlerweile nicht mehr ganz so unerreichbar. Tatsächlich gilt Ryanair als profitabelste Airline der Welt, doch ebenso auch als »gemeinste« Fluggesellschaft (Boru 2006, S. 52). Gemessen an der Passagierzahl ist Ryanair die größte Airline Europas (Thomas 2015, S. 2). Doch nicht nur die Kunden beschweren sich wiederholt, auch die Belegschaft übt Kritik. Dies ist verständlich, wenn Michael O’Leary seine Mitarbeiter als größten Kostenfaktor und »faule Bastarde« bezeichnet (Espiner 2019). Zwar steigert dies nicht die Anerkennung bei Kunden und Mitarbeitern, doch erfüllt dies zumindest die Funktion, den Beteiligten in aller Transparenz zu vermitteln, dass es Ryanair weder um große Beliebtheit geht noch dass eine starke Mitarbeiterbindung geschaffen werden soll. Michael O’Learys Führungsstil sowie seine Vision funktionieren in der Hinsicht hocheffektiv, dass das Ziel, die günstigste Airline auf dem Markt zu sein, zweifelsohne erreicht wurde. Beide zielfokussierten Visionen zeigen nicht nur auf, wie auf unterschiedliche Weise ein Ziel erreicht werden kann, sondern verdeutlichen auch, dass eine Vision eng mit der Führungspersönlichkeit verbunden ist. Sowohl Herb Kelleher als

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen

167

auch Michael O’Leary verkörpern die Visionen ihrer Unternehmen exemplarisch. O’Leary wird mitunter als Kriegstreiber bezeichnet, um seine tyrannische zielfokussierte Vision umzusetzen. Dies steht in klarer Abgrenzung zu Kelleher, der bekannt dafür war, vor keiner Umarmung zurückzuschrecken, um seine liebende zielfokussierte Vision umzusetzen. In enger Beziehung zur zielfokussierten Vision steht die Fokussierung der Vision. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass der Kampf der Vision auf unterschiedlichen Fokussierungsebenen ausgetragen wird: Southwest Airlines ist von einer Außenfokussierung geprägt, da die Meinung der Kunden und das Image der Airline einen wichtigen Beitrag darstellen. Dem steht die Fokussierung von Ryanair gegenüber, welche mehr eine Innenfokussierung aufweist. Die Innenfokussierung wird durch den internen Kostenfaktor und die Erhöhung des Gewinns dominiert. Die Außenfokussierung wird entsprechend bewusst vernachlässigt.

3.2

Feindfokussierte Visionen – PepsiCo vs. Coca-Cola

Der globale Softdrink-Markt wird vor allem von zwei Unternehmen dominiert: Coca-Cola und PepsiCo. Beide gehörten nicht nur 2019 zu den wertvollsten Softdrink-Marken, sondern waren auch 2017/2018 die Unternehmen mit den meisten Marktanteilen im Markt für Erfrischungsgetränke in den USA (Statista 2019, S. 5; 9). Aus diesen sich doch eigentlich so ähnlichen Cola-Getränken und deren Unternehmen entwickelte sich ein Kampf, der Raum und Zeit überspannt, auf unterschiedlichen Schlachtfeldern geschlagen wird und sogar Nationen spaltet (Colvin et al. 2013). Dieser Krieg der Cola-Giganten ist jedoch noch immer nicht final gewonnen und drückt sich überdies in der Vision der Unternehmen aus. Die Vision der The Coca-Cola Company ist detailliert: »Our vision is to craft the brands and choice of drinks that people love, to refresh them in body and spirit. And done in ways that create a more sustainable business and better shared future that makes a difference in people’s lives, communities and our planet« (The Coca-Cola Company o. J.). Diese Vision, so The Coca-Cola Company (o. J.), besteht aus den drei Pfeilern »loved brands«, »done sustainably« und »for a better shared future«. Die Vision umfasst die drei Wirkungen: Die sinnstiftende Wirkung ist vor allem in dem ersten Pfeiler der »loved brands« zu finden. Ziel ist es darin, bedeutende Marken zu schaffen, die von den Menschen geliebt werden und sie auf unterschiedlichen Ebenen erfrischen. Die The CocaCola Company zeigt so, dass sie vor allem auf die Individuen fokussiert ist und die einzelne Person im Mittelpunkt steht. So bildet sich eine gemeinsame Identität, die auch über die unterschiedlichen Coca-Cola Marken ausgedrückt wird. Der zweite Pfeiler »done sustainably« spiegelt vor allem die motivierende

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Funktion wider. Hier bezieht sich die The Coca-Cola Company darauf, dass durch die Handlungen des Unternehmens eine nachhaltige Entwicklung des gesamten Planeten erreicht werden soll. Somit wird eine Sensibilisierung des Einzelnen für das Thema der Nachhaltigkeit erreicht. Das zuvor erzielte Zugehörigkeitsgefühl kann außerdem auf diese Weise weiter gesteigert werden. Der dritte Pfeiler »for a better shared future« zeichnet zuletzt die handlungsleitende Funktion ab. The Coca-Cola Company geht, ergänzend zur Vision, in diesem Pfeiler darauf ein, dass das Unternehmen handelt, um die Leben der Einzelnen zu verbessern. Denn all die Personen, sei es Mitarbeiter, Investoren oder die Kunden, seien die Heimat von Coca-Cola (The Coca-Cola Company o. J.). Somit wird hervorgehoben, dass durch einzelne Taten eine Verbesserung für die Gesamtheit erzielt werden kann und dies die oberste Priorität für das Unternehmen ist. Die verschiedenen Komponenten der Vision zeigen sich besonders deutlich in den einzelnen Pfeilern, welche eng miteinander verbunden sind. So ist das Ziel, eine Verbesserung für den Einzelnen zu erzielen. Diese Verbesserung soll zusätzlich auf einer besonders nachhaltigen Art und Weise stattfinden. Die Vision von PepsiCo fällt etwas kürzer aus: »Be the global leader in convenient foods and beverages by winning with purpose« (PepsiCo 2020). Diese Vision wird von PepsiCo noch präzisiert, demnach soll eine nachhaltige Marktführerschaft gewonnen werden, welche sich ebenso positiv auf den Planeten und die Individuen auswirkt (PepsiCo 2020). Besonders im Punkt der Nachhaltigkeit zeigt sich die sinnstiftende Wirkung dieser Vision: PepsiCo zeigt, dass sie ein klar wirtschaftlich orientiertes Ziel haben, das jedoch soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt. So entsteht für die Personen in- und außerhalb des Unternehmens eine gemeinsame Identität und es wird klar, woran sich zukünftige Entwicklungen orientieren. Die Nachhaltigkeit allein steht jedoch nicht im Fokus, es soll insbesondere die Marktführerschaft erreicht werden. Daraus speist sich die motivierende Wirkung der Vision. Es wird klar, was das gemeinsame Ziel des Unternehmens ist und wie ein Beitrag zum Unternehmenserfolg geleistet werden kann. Eng damit verbunden ist die handlungsleitende Wirkung, denn alle möglichst nachhaltigen Handlungen sind darauf auszurichten, dass eine Marktführerschaft erreicht werden kann. Besonders in der Vision von PepsiCo wird ersichtlich, dass diese auch heute noch feindfokussiert ist. Auch wenn kein direkter Bezug zur The Coca-Cola Company hergestellt wird, so ist die Vision doch darauf ausgelegt, den Konkurrenten zu übertreffen. Dies ist jedoch nicht neuartig: Schon im Jahr 1950 war PepsiCo sehr auf Coca-Cola als Rivalen konzentriert. So lautete das Motto des damaligen Marketingleiters Alfred Steele: »Beat Coke« (Yoffie/Slind, S. 6). Während PepsiCo den Rivalen direkt adressierte, ging The Coca-Cola Company den entgegengesetzten Weg und weigerte sich, den Rivalen beim Namen zu nennen. So war PepsiCo stets nur »der Imitator« oder »der Feind« (Colvin et al. 2013). Heut-

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen

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zutage lässt sich in der Vision der The Coca-Cola Company kein Bezug auf mehr auf PepsiCo erkennen. Damit hat sich über die Zeit die indirekt feindfokussierte Vision zu einer abgewandten feindfokussierte Vision verändert, bei der die Feindschaft ruht oder vollständig aufgegeben wird. Der Schwerpunkt der Fokussierung liegt daher nicht mehr auf dem Konkurrenten, sondern auf dem Konsumenten und dem wahrgenommenen Image von außen. Anders sieht es jedoch bei der Vision der PepsiCo aus: Das Ziel ist es, den Feind Coca-Cola zu schlagen. Attackierte gerade PepsiCo den Konkurrenten zu Beginn noch direkt, so ist dies heute nur noch indirekt zu erkennen (PepsiCo 2019). Somit ist vielmehr von einer schleichenden feindfokussierten Vision auszugehen, in der es dem Kunden selbst überlassen bleibt, den Konkurrenten zu analysieren. Da das eindeutige Ziel der Marktführerschaft vorliegt, ist der Fokus der Vision mehr nach innen gerichtet. Ausgehend von der Begrifflichkeit »feindfokussierte Vision« ist der Kampf der Visionen im dargestellten Beispiel nur bedingt vorhanden. Vielmehr liegt mittlerweile – und dies ist das Ergebnis einer evolutionären Visionsentwicklung in einer Gesellschaft, die ihre Akzeptanzmuster verändert – ein indirekter einseitiger Kampf vor, der von der Gegenseite wahrgenommen und geduldet wird.

3.3

Wandelfokussierte Vision – Rügenwalder Mühle vs. Wiesenhof

Fleisch, insbesondere Wurst, erfreute sich in Deutschland schon immer großer Beliebtheit und wurde in hohen Mengen konsumiert (Rauffus/Röben/Esch 2009, S. 42). 2019 lag der Fleischkonsum bei 59,5 kg pro Kopf (Statista 2020). Im Laufe der letzten Jahre wurde jedoch die Kritik an Fleischproduktion, Tierhaltung sowie am Fleischkonsum zunehmend lauter (Hilbig 2018, S. 71). Somit sind am Markt etablierte Fleischproduzenten vermehrt gefragt, (pflanzliche oder vegetarische) Fleischalternativen und neue Herangehensweisen in der Verarbeitung zu entwickeln. Dieser Wandel der Nachfrageseite bewegte das Management der Rügenwalder Mühle, ein traditionsreiches Unternehmen, welches seit über 180 Jahren Fleischfertigprodukte produziert und unter anderem stark auf BioFleisch setzt (Hilbig 2018, S.71). Einerseits verwendete das Management viel Kraft darauf, die Mitarbeiter von einem solchen Wandel zu überzeugen. Andererseits formulierten sie eine durchweg neue Vision, welche das Unternehmen nachhaltig verändern und einen Transformationsprozess hervorrufen sollte: »Gemeinsam die Ernährung der Zukunft gestalten. Neben Fleisch auch immer mehr aus Pflanzen. Lecker und nachhaltig!« (Rügenwalder Mühle o. J.). Alle gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen sollen der Vision der Rügenwalder Mühle gerecht werden. Hierzu umfasst sie alle drei Wirkungen einer Vision. Eine sinnstiftende Wirkung erfährt sie durch den Aspekt »Gemeinsam die Ernährung der Zukunft gestalten«. Darin sieht Rügenwalder Mühle

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die Aufgabe, mit innovativen Lösungen den Klimawandel zu bekämpfen und alternative Ernährungsmöglichkeiten zu entwickeln. Es werden nicht nur unternehmensintern die Mitarbeiter, sondern auch externe Stakeholder angesprochen. Die Unterstützung dieses Unternehmens folgt somit einer tiefergehenden Sinnhaftigkeit und schafft eine Identität. Die motivierende Wirkung findet sich in der gesamten Vision wieder. Der Gemeinschafts- und Nachhaltigkeitsgedanke wird bei der Rügenwalder Mühle groß geschrieben. Zwar wird das Sortiment bis Ende 2020 aus 40 % fleischfreien Produkten bestehen, dennoch erachten sie es als ein Ziel, ihr Fleischsortiment stetig zu verbessern. Nicht nur bestehende Kunden, sondern auch neue Kunden könnten sich mit dem Unternehmen identifizieren und dessen Herangehensweise als Motivation sehen, sich selbst ebenfalls mit alternativen Ernährungsmöglichkeiten zu befassen. Die handlungsleitende Wirkung geht einher mit den zuvor genannten Aspekten: Für die Rügenwalder Mühle ist klar, dass sie immer mehr pflanzliche Produkte in ihr Sortiment aufnehmen werden, und das »lecker und nachhaltig«. Mit bereits zu verschreibenden Erfolgen wie beispielsweise Auszeichnungen durch PETA Deutschland oder Stiftung Warentest erhalten die Produkte des Branchenpioniers seit Beginn der Markteinführung Legitimation. Diese Erfolge in Kombination mit Schlagworten wie »gemeinsam«, »gestalten« und »nachhaltig« motivieren Mitarbeiter wie auch Kunden dazu, die Produkte weiterzuentwickeln sowie die Produkte zu kaufen und selbst den Wandel zu akzeptieren (Rügenwalder Mühle o. J.). Schnell wird deutlich, dass die Vision der Rügenwalder Mühle auf zwei Pfeilern aufbaut: Nachhaltigkeit zugunsten des Planeten und Gestaltung der Ernährung der Zukunft. Beide fokussieren sich auf zwei grundlegende Wandeltendenzen: Klima- und Ernährungswandel. Nicht jedes fleischproduzierende Unternehmen verankert den äußeren Wandel sichtbar in seiner Vision, sondern entwickelt alternative Herangehensweisen. Wiesenhof ist seit Jahren Deutschlands führender Geflügelhersteller (Wiesenhof o. J.). Sein Leitsatz lautet: »Wir tun mehr« (Wiesenhof o. J.). Dieser wird begleitet von einem weiteren Statement: »Leidenschaft und Verantwortung für Tier und Umwelt« (Wiesenhof o. J.). Auch wenn der Leitsatz verhältnismäßig kurz angesetzt ist, können die verschiedenen Kategorien einer Vision erkannt werden. »Wir tun mehr« bezieht sich im besonderen Maße darauf, dass sich Wiesenhof für eine artgerechte Haltung der Tiere sowie für Sicherheit, Qualität und Nachhaltigkeit einsetzt. (Wiesenhof o. J.). Eine sinnstiftende Wirkung besteht in dem Wort »wir«, welches eine gemeinsame Identität innerhalb des Unternehmens entstehen lässt. Weiterhin wird die motivierende Wirkung dadurch hervorgerufen, dass Mitarbeiter sowie Konsumenten das innere Gefühl erlangen, sie leisteten einen Beitrag zu etwas Größerem, zu einem höher angesetzten Ziel. Letztlich spiegelt der Leitsatz auch die handlungsleitende Wirkung wider, indem das »Wir tun mehr« eine Zukunftsperspektive enthält: Nicht nur jetzt, sondern

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen

171

auch in Zukunft will Wiesenhof mehr für Tier und Umwelt erreichen. Daran sollen Mitarbeiter und Stakeholder kontinuierlich arbeiten. Auch wenn der Leitsatz sowie die von Wiesenhof veröffentlichte Kommunikation eine Nachhaltigkeitsperspektive in Form des traditionellen und schonenden Produktionsprozesses zum Inhalt haben, richten das Unternehmen dennoch seine Vision nicht konkret auf den externen Klima- oder Ernährungswandel aus. Aufgrund des Traditionsaspektes erfolgt die Fokussierung der Vision und des Wandels auf das Innere des Unternehmens. Dort investiert Wiesenhof in alternative Fleischprodukte. Auch wenn das Sortiment bislang aus verhältnismäßig wenigen Fleischersatzprodukten besteht, wurde Anfang 2020 bekannt, dass Wiesenhof die Firma Foods United nicht nur mit Finanzinvestitionen, sondern auch in Produktion und Vertrieb unterstützen wird. Foods United setzt es sich zum Ziel, Marktführer für Fleischlos-Fleisch zu werden (Dierig 2020). Die Rügenwalder Mühle hingegen setzt durch die Verankerung des gesellschaftlichen Wandels in ihrer Vision und durch eine klar außenfokussierte Kommunikation ein deutlicheres Statement.

3.4

Rollenfokussierte Vision – Apple vs. Microsoft

Mit der Zeit wandeln sich viele Unternehmen und mit ihnen auch ihre Konkurrenz. Eine der berühmtesten Geschichten von Unternehmen, die gegeneinander und zugleich miteinander arbeiteten, ist Microsoft und Apple. Die Gründung von Microsoft (1975) ging mit der Vision »Ein Computer auf jedem Schreibtisch und in jedem Zuhause« einher (Von Kopp 2017, S. 53). Diese Vision erzeugte von Anfang an eine sinnstiftende Wirkung, zumindest bei einem kleinen Teil der Gesellschaft, die den Nutzen eines Computers auf Anhieb verstand. Wer sich durch die Vision angesprochen fühlte, wurde in seiner intrinsischen Motivation bestärkt, sich einen Computer von Microsoft zu kaufen. Die ausstehende handlungsleitende Wirkung für das Unternehmen ergibt sich aus der visionsgetriebenen Weiterentwicklung des Computers und damit idealerweise der Versorgung aller Haushalte. Die heutige Vision von Microsoft ist »to help people and businesses throughout the world realize their full potential« (Janssen/Sen/Bhattacharya, 2015, S. 184). Erkennbar ist, dass Microsoft sich im Vergleich zur ursprünglichen Vision nicht mehr nur auf die Haushalte reduziert, sondern auch wirtschaftliche Organisationen weltweit einbezieht – »people and business throughout the world«. Die hohe Anzahl von Microsoft-Produkten in Haushalten und Unternehmen zeigt den Erfolg der sinnstiftenden Wirkung nach außen. Die motivierende Wirkung entsteht durch »to help … realize«: Konsumenten nehmen die Vielzahl an Produkten von Microsoft an und implementieren diese in ihren Arbeitsalltag. Die motivierende Wirkung wird mit der

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technologischen Entwicklung und dem erkennbaren Mehrwert für die Gesellschaft gesteigert. Dies impliziert dann die handlungsleitende Wirkung der Vision, welche sich im »full potential« widerspiegelt. Gemeint ist die Handlung innerhalb des Unternehmens Microsoft, auch zukünftig zu wachsen; aber auch die Handlung außerhalb des Unternehmens und damit einer weiteren unterstützenden Funktion zur Erreichung von individuellen und organisationalen Potenzialen. Die Vision von Apple lässt sich auf den Slogan »Think Different« zurückführen, der 1997 das Unternehmen wieder auf seinen historischen Kern zurückgebracht hat. Apple wollte schon immer die Welt verändern und Wandel initiieren. Das erkennt man an der Aussage von Steve Jobs, warum er mit Steve Wozniak Apple gegründet hat: »We started out to get a computer in the hands of everyday people, and we succeeded beyond our wildest dreams« (Jobs in Fell/ Sun, o. J.). Hier erkennt man die sinnstiftende sowie die motivierende Wirkung. Auch in 1997 in der Werbung zu Think Different umschreibt Apple sich und ihre Zielgruppe als »the people who are crazy enough to think they can change the world are the ones who do«. In einer Ansprache an Absolventinnen und Absolventen der Stanford Universität wurde auch die Wurzel dieser Vision deutlich: Sie stammt aus dem Whole Earth Catalog, der mit dem Spruch »Stay hungry, stay foolish« endete (Stanford Report 2005). Die Vision von Steve Jobs für Apple basierte auf seiner Lebensphilosophie und kulminierte in dem Mantra von Think Different, welches noch heute vorherrscht. Dass Apple anders tickt, eben weil Steve Jobs anders war, wurde auch deutlich, als John Sculley in den 1980er Jahren CEO bei Apple war: Für ihn war Apple eine Gruppe von Nonkonformisten ohne Vertrauen und ohne Respekt (Sculley/Byrne 1989, S. 287). Der Sinn wurde lange Zeit durch Steve Jobs gestiftet und er symbolisierte bis zu seinem Rausschmiss die handlungsleitende Wirkung bei Apple. Bei seiner Rückkehr wurde ihm bewusst, dass Apple eine Vision benötigt, die ohne ihn funktioniert. Deshalb gab er seinem Unternehmen die »Think Different« Strategie, Apple als etwas Einzigartiges darzustellen. Jedoch war es Jobs Nachfolger Tim Cook, der die Vision in das Unternehmen verankert und vor allem gelebt hat, denn Tim Cook fokussiert sich stark auf die Unternehmenskultur (Scholz/Scholz 2019, S. 328). Genau aus diesem Grund wählte Jobs sich seinen Nachfolger als einen »insider who ›got‹ Apple’s culture, and he believed there was no one who fit the bill more perfectly than Cook« (Kahney 2019, S. 3). Tim Cook hatte bereits die sinnstiftende Wirkung verinnerlicht, wurde dadurch motiviert und konnte dies in eine handlungsorientierte Funktion übersetzen. Über die Zeit hat sich die Rolle von Apple verändert und somit wurde auch die Vision neu interpretiert. Apple hat sich von Nonkonformisten zu einem Unternehmen entwickelt, das Konformismus nachhaltig mitgestaltet. Doch der Sinn dabei bleibt, die Welt zu verändern und – unter Tim Cook sehr viel stärker als unter seinen Vorgängern –, die Welt zu verbessern.

Der Kampf der Visionen zwischen Unternehmen

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Die motivierende Wirkung fordert weiterhin neue Ideen und neue Konzepte ein, auch wenn die Strahlkraft hierfür nicht mehr so groß ist wie unter dem charismatischen Steve Jobs. Gerade bei Apple und Microsoft ist zu erkennen, dass sich über die Zeit die Rollen grundsätzlich verändert haben. Apple und Microsoft waren lange Zeit Konkurrenten, aber eher deshalb, weil sie zur ähnlichen Zeit ähnliche Ideen hatten. Die Nicht-Feindschaft führte auch dazu, dass Microsoft einst Apple rettete, um Monopol-Vorwürfen gegen sich selbst zu entgehen (Ehrmann 2017). Die Vision von Apple ist stark an Steve Jobs gebunden und hat dementsprechend die Zeiten überdauert. Gerade die enge Verbindung zwischen der Führungskraft und der aufgestellten Vision verweist auf die Innenfokussierung. Die Rolle, die Apple auf dem IT-Markt hat, hat sich jedoch maßgeblich verändert. Deshalb ist die allgemeinere Vision »Think Different« dort scheinbar anpassungsfähiger als die präzisere, aber außenfokussierte Vision von Microsoft. Microsoft musste deshalb im Laufe seiner Entwicklung seine Vision an die geänderten externen Einflussfaktoren anpassen.

4.

Implikationen für das strategische Management

Durch die dargestellten Beispiele wird deutlich, wie wichtig eine Vision für Unternehmen ist und wie die Vision der Konkurrenz Einfluss auf die eigene Vision haben kann (Tremetzberger/Zehetner 2000, S. 58). Ryanair wurde von Southwest Airlines inspiriert. Coca-Cola und PepsiCo sind durch den Konkurrenzkampf auch in einen Kampf der Visionen übergegangen. Rügenwalder Mühle und Wiesenhof diversifizieren sich immer mehr und entfernen sich voneinander. Microsoft und Apple waren Konkurrenten und sind mit der Zeit dennoch als Verbündete immer abhängiger voneinander geworden. Visionen machen insgesamt einen wichtigen Bestandteil einer professionellen Unternehmensstrategie aus, vor allem weil sie implizit im Unternehmen verankert sind, selbst wenn sie nicht explizit formuliert werden. Werden die Beispiele auf einer übergeordneten Ebene betrachtet, so stellt sich die Kategorisierung in Innen- vs. Außenfokussierung, Inhalt und Wirkungen als sinnvoll heraus, um Visionen differenziert zu beschreiben. Das strategische Management kann eine Vision schrittweise analysieren und dabei in den Kontext der Umfeldbedingungen, der Unternehmensziele und der Implementierungsprozesse integrieren. Im Detail wird offengelegt, wie ein Unternehmen in der Vergangenheit visionsbezogen agiert hat: Wie stark lag der Fokus auf der Gesellschaft oder auf den eigenen Traditionen? Wie ging man mit der Konkurrenz um, kopierte man deren Vision oder versuchte man, sich als Konkurrenz bewusst abzugrenzen? Wie ging

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man mit der eigenen Rolle um, musste die Vision weiter angepasst werden und war das Unternehmen dazu fähig? Diese Erfahrungen lassen sich für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft nutzen, um die intendierten Wirkungen zielgenauer zu erreichen: Sinn stiften, Handlungen leiten und Motivation erzeugen. Ihre Bewährung erfährt eine Vision in der marktlich-wettbewerblichen Konkurrenz, zugleich initiiert dieser Wettbewerb eine Dynamik der Visionsanpassung und -evolution. Deutlich wird damit für das strategische Management, dass mit der Formulierung und Kommunikation der Vision die Arbeit nicht aufhört, sondern erst richtig beginnt. Die Vision wird nicht nur innerhalb des Unternehmens diskutiert, sie wird auch von der Konkurrenz gesehen und in unterschiedlicher Weise bekämpft, was im Idealfall wiederum die Vision im eigenen Unternehmen stärkt. Die Auseinandersetzung mit der Vision ist die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft, und eine die Unternehmensidentität authentisch reflektierende Vision trägt zur Verbesserung der Überlebensfähigkeit eines Unternehmens bei.

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Michael Knop / Henrik Freude / Marius Mueller / Regina Gassert / Sebastian Weber / Caroline Ressing / Charles Christian Adarkwah / Bjoern Niehaves*

Die Vision digitalisierter Gesundheit – eine sensorische Revolution

1.

Einleitung

Trotz multipler Definitionen der Begrifflichkeit Vision ist den verschiedenen Deutungen des Wortes, von der religiös gefärbten Interaktion mit göttlichen Entitäten bis zum strategic alignment von Organisationen, eines gemeinsam: der direkte Bezug zu einem der ureigenen menschlichen Sinne. Der Visionär erstellt typischer Weise Bilder vor seinem inneren Auge und projiziert diese in die Realität. Die Formierung bildlicher Strukturen und eine Art der visuellen Manifestierung scheinen für die Vision dem Worte nach essenziell. Die Sinnhaftigkeit visionärer Ideen und Differenzierfähigkeit seiner selbst stellt dabei übrigens die Voraussetzung zur Abgrenzung von pathologischen Erscheinungsformen dar. Ob noch Vision oder schon Halluzination vorliegt, ist Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Deutung. Gerade im Bereich der Gesundheit entwickelt die technologische Erweiterung unserer sensorischen Fähigkeiten dabei interessanter Weise eine gewaltige Relevanz. Mit ihrer Digitalisierung geht die Extension physiologischer Grenzen einher und rekurriert so im zweifachen Sinne * Michael Knop, M.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Dr. Henrik Freude, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Marius Müller, M.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Regina Gassert, B.A., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Sebastian Weber, M.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Caroline Reßing, M.Sc., Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik. Dr. Dr. med. habil. Charles Christian Adardkwah, Universität Siegen, Fakultät V (Lebenswissenschaftliche Fakultät), Vertretungsprofessor, Professur für Vergsorgungsforschung. Univ.-Prof. Dr. Dr. Björn Niehaves, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik.

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Knop / Freude / Mueller / Gassert / Weber / Ressing / Adarkwah / Niehaves

auf die Begrifflichkeit Vision. Im übertragenen Sinne zeichnet dieser Beitrag daher Szenarien hypothetischer, zukünftiger Realitäten einer digitalisierten Gesundheitsversorgung. Im wörtlichen Sinne wird jedoch auch die Modulation unserer menschlichen Wahrnehmung beschrieben, die mit immer fortschrittlicheren Technologien einhergeht und ersteren Sinn überhaupt erst ermöglicht. Technologien und ihre derzeit sehr prominenten digitalen Erscheinungsformen können als Anpassungsversuche an bestimmte Umweltkonfigurationen, gern als Herausforderungen beschrieben, verstanden werden (Fabris 2018). Im deutschen Gesundheitswesen resultieren diese Herausforderungen insbesondere aus dem Streben nach der umfänglichen Synthese effizienter Behandlungsprozesse und einer an Patientinnen- und Patientenbedürfnissen ausgerichteten Versorgung unter Berücksichtigung von Entscheidungen der Ressourcenallokation. Erschwerend zeigen sich in der ambulanten Versorgung ein Mangel an Fachkräften und eine Überalterung der Ärzteschaft. In einer repräsentativen ländlichen Musterregion waren knapp 50 % der niedergelassenen Hausärzte und Hausärztinnen über 55 Jahre alt, etliche davon bereits im Rentenalter. Viele gingen nicht davon aus, dass ihre Praxen nach dem altersbedingten Ausscheiden wiederbesetzt werden können (Adarkwah et al. 2019a). Auch in der Disziplin der Pflege existiert bekanntlich eine personelle Mangelsituation. Gerade dort wird deutlich, dass Personalmängel aber nicht zwangsläufig plötzlich auftretende Phänomene moderner Versorgung darstellen, sondern sich als Jahrzehnte andauernde Zustände manifestieren können, denen lediglich mit zeitabhängiger sozialer oder dinglicher Technik begegnet wird, etwa mit der Ideologisierung weiblicher Aufopferungsbereitschaft und der damit einhergehenden arbeitsspezifischen Disziplinierung bestimmter gesellschaftlicher Merkmalsträgerinnen (Kellner 2011). Die Dissemination digitaler Technologien ist somit möglicherweise ein revolutionäres systemisches Programm, jedoch nur im angepassten Modus übergeordneter Bewältigungsstrategien. Auch die Veränderung von Patientencharakteristika und ihre Berücksichtigung in der medizinischen und pflegerischen Versorgung fallen in das Spektrum herausfordernder Entwicklungen. Mittlerweile stellen 75- bis 80-Jährige den größten Anteil der Patientinnen und Patienten mit stationärem Aufenthalt dar (DESTATIS 2017) und die Anzahl an Nebendiagnosen steigt. Obwohl die durchschnittliche Verweildauer von Patientinnen und Patienten seit 2005 um dirca 25 % gesunken ist (DESTATIS 2018b), ist die Anzahl der Fälle um circa 12 % gestiegen (DESTATIS 2018a). Insbesondere für klinisches Fachpersonal bedeutet das eine Behandlung von mehr Fällen mit komplexeren Verläufen in weniger Zeit. Im Vergleich zu den OECD-Mitgliedsstaaten ist Deutschland allerdings bei allen Umständen noch gut im klinischen Bereich ausgestattet. Die Versorgungsdichte von Intensivbetten in Krankenhäusern stellt insbesondere vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie eine relevante Vergleichsgröße dar. Hier führt Deutschland das Ranking

Die Vision digitalisierter Gesundheit – eine sensorische Revolution

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mit circa 34 Betten auf 100.000 Einwohnern vor Österreich und den Vereinigten Staaten an. Auch hinsichtlich der generellen Versorgungsdichte von Krankenhäusern liegt Deutschland (6 Betten auf 1.000 Einwohner) mit Japan und Südkorea unter den drei Vorreitern (DESTATIS 2020). Trotz der im Vergleich umfangreichen klinischen Ausstattung droht in Folge des demografischen Wandels jedoch eine Unterversorgung, insbesondere in ländlichen Gebieten. Nicht nur der bereits erwähnte Rückgang von Personal in Gesundheitsberufen lässt darauf schließen (Thommasen et al. 2001), sondern auch die altersbedingte Multimorbidität (Demiris/Hensel 2008). An digitale Technologien wird in dieser problemzentrierten Gemengelage der Anspruch gestellt, Mehrwerte für Gesundheitssysteme zu schaffen und bei sinkenden Kosten die Qualität der Versorgung zu verbessern. Prominent in der Wissenschaft vertreten, nehmen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) dabei meist die Rolle naheliegender und niedrigschwelliger Lösungen ein (Krick et al. 2019). IKTs umfassen eine Vielzahl von Technologien, die relevante Informationen zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation bereitstellen oder dokumentieren. Innerhalb der ärztlichen Versorgung zählen dazu elektronische Patientenakten, Teilbereiche von Krankenhausinformationssystemen (KIS) oder Entscheidungsunterstützungssysteme. Durch die erheblichen Datenmengen, die Krankenhäuser generieren, lassen sich in Kombination mit Künstlicher Intelligenz (KI) Vorhersagen über den Krankheitsverlauf oder die Verweildauer von Patienten treffen. Immer ausgefeiltere Sensorik unterstützt digitale Systeme mit der Messung von Verhalten, Bewegungen oder ähnlichem, sodass sich präzisere Aussagen über Diagnostik und Therapieverläufe treffen lassen (Maron/Jones 2018). Die fortschreitende Verfügbarkeit von Technologien ermöglicht den Einsatz von Telemedizinsystemen, die sich durch bild- und tongestützte Konsultationen in Echtzeit auszeichnen (McConnochie 2019). Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) oder Mixed Reality (MxR) werden im medizinischen Bereich für Bildungs- und Trainingszwecke, chirurgische Simulationen, neurologische Rehabilitation oder Psychotherapie eingesetzt. Patientinnen und Patienten können mit robotischen Exoskeletten einfacher angehoben oder verlagert werden, sodass Pflegekräften insbesondere physische Arbeiten erleichtert (Hu et al. 2011) oder durch weiterführende Funktionen wie partielle Körperpflege, Türen öffnen oder Objekte greifen gänzlich abgenommen werden (Hirose et al. 2012; Joseph et al. 2018). In der (Re)Kombination dieser unterschiedlichen digitalen Technologien und ihrer Synthese entstehen darüber hinaus weit umfassendere Anwendungsmöglichkeiten, die zu physiologischen, psychischen, sozialen und organisatorischen Zwecken eingesetzt werden. Indem Daten und ihre Strukturen automatisiert bearbeitet, verwertet und zu den Grundlagen von Entscheidungen addiert werden, indem die Realität um digitale Entitäten erweitert oder sogar ersetzt wird

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und indem komplexe Zusammenhänge messbar und quantifizierbar gemacht werden, wird eine digitale, sensorische Restrukturierung der gesundheitlichen Versorgung kreiert. Das digital katalysierte Sichtbarwerden bisher unentdeckter oder unbekannter Objekte und die Möglichkeit, damit zu interagieren, manifestieren sich als eine zentrale Vision dieser Entwicklung.

2.

Realität und Vision – ein Einblick in digitale Technologien der zukünftigen Gesundheitsversorgung

Für das Formulieren einer visionären Idee eignen sich als Grundlage unterschiedliche digitale Technologien und ihre zukünftigen Entwicklungen. Zwar sind in der vergangenen und gegenwärtigen Forschung bestimmte thematische Konzentrationen zu erkennen, wie etwa die Prominenz von IKTs, Robotik und Sensorik in pflegerischen Settings, die Effektivität und Effizienz bestimmter Technologien lässt sich jedoch momentan kaum kontextunabhängig abschätzen (Krick et al. 2019). Während eine detaillierte Betrachtung aller relevanten technologischen Entfaltungen somit klar den Rahmen dieses Beitrags überschreitet, konzentriert sich dieser im Folgenden exemplarisch auf drei digitale Entitäten, die sich aufgrund ihrer (1) gerade erst in der Expansion befindlichen Anwendung, (2) vielfältigen, uneinheitlichen und kontextabhängigen Erscheinungsformen, sowie ihrer (3) Integrations- und Konnektivitätsfähigkeiten mit anderen Technologien hervorragend für visionäre Konzipierungen eignen.

2.1

Telehealth

Im weiteren Sinne erheben Telehealth-Technologien als Teil des Sammelbegriffs der IKT den Anspruch drängende Probleme aktueller Gesundheitsversorgung zu adressieren. Anders als verwandte Begrifflichkeiten, wie beispielsweise Telemedizin (auf ärztliche Nutzung gerichtet) oder Telecare (auf pflegerische Nutzung gerichtet), umfasst Telehealth das Aufbieten gesundheitlicher Leistungen, unabhängig vom Erbringer der Leistung, jedoch unter Nutzung von IKTs (World Health Organization 2010). Dabei liegt die besondere Eigenschaft dieser Leistungen in ihrer Fähigkeit, physiologische Distanzen durch digitale Nähe zu überbrücken (Weinstein et al. 2008). Vor dem Hintergrund bereits erwähnter Herausforderungen, wie der Mangel an Fachkräften oder die zunehmende Knappheit primärärztlicher Versorgung, entwickelt Telehealth daher eine potenziell hohe Relevanz.

Die Vision digitalisierter Gesundheit – eine sensorische Revolution

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Eine gängige Manifestierung des etwas allgemein formulierten Begriffs findet sich momentan vor allem in audiovisuellen Anwendungen zur reinen Kommunikation, besonders für die medizinische Versorgung. Hervorzuhebende Hürden sind dabei vor allem die Bereitstellung von Breitbandverbindungen in ländlichen Gebieten und die Grenzen von physiologischer Interaktion. Audiovisuelle Anwendungen der Telemedizin tragen im Vergleich mit Telefonaten oder dem Kontakt über Dritte zu einer relativen sensorischen Erweiterung bei. Der Einbezug von weiteren medizinischen Fachpersonen zu digitalen Visiten durch Ärzte und Ärztinnen ist in diesem Kontext von besonderem Interesse, da so erste Ansätze kreiert werden, die die Qualität medizinischer Versorgung im besten Fall konstant halten, jedoch die persönliche Anwesenheit von Ärzten und Ärztinnen nicht mehr voraussetzen. Zukünftig stellt die Kombination audiovisueller Systeme mit sensorischen Messungen von Patientendaten sicherlich einen besonderen Reiz dar. Eingebettet in Smarthome-Technologien (Maiolo et al. 2003), verbunden mit cloudbasierten Patientenakten und unterstützt durch automatisierte Datenanalysen, sind Telehealth-Anwendungen potenziell in der Lage, gesundheitliche Versorgung sehr individuell zu gestalten und gleichzeitig breit verfügbar zu machen (Dinesen et al. 2016). Die in Abb. 1 dargestellten Anwendungsszenarien bilden dabei lediglich Grundeinheiten und sind theoretisch beliebig erweiterbar oder kombinierbar.

Abb. 1: Grundeinheiten telemedizinischer Anwendungen (angelehnt an Tuckson/Edmunds/ Hodgkins 2017)

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Zuletzt beeinflussen die Entwicklungen im Bereich persönlicher, privater Gesundheitstechnologien, wie etwa Smart Watches oder Smartphone integrierte Gesundheits-Apps, auch die von Telehealth-Technologien (Mischak 2017). Die Echtzeitmessung und Anhäufung individueller Gesundheitsdaten lässt relevante Informationen unseres gesundheitsbezogenen Verhaltens immer granularer werden. Es resultiert im Bereich Telehealth parallel zu anderen Technologiebereichen eine Erwartung von bequemen, flexiblen und räumlich unabhängigen Leistungen. So funktional eine so geartete Versorgung auch erscheint, tauchen dabei unweigerlich die Fragen nach dem Wert zwischenmenschlicher Beziehung und der Relevanz von leiblichem Kontakt auf (Knop et al. 2020). Zukünftige Szenarien können daher in viele Richtungen gedacht werden. Es scheint bei allen Unsicherheiten jedoch durchaus möglich, dass bestimmte, differenzierte Interaktionen von Versorgenden und zu Versorgenden zunehmend digitalisiert werden und den dafür notwendigen Aushandlungsprozess individuell mitgestalten.

2.2

Künstliche Intelligenz

Die Bemühungen um KI, sprich die Erstellung von einem Computersystem beziehungsweise -programm, das intellektuelle Aufgaben eines Menschen automatisiert, existieren schon seit den 1950er Jahren (Turing 1950; McCarthy 2007). Entsprechend alt sind grundlegende Konzepte, auf denen viele heutige Verfahren basieren, wie jene aus dem Bereich des maschinellen Lernens (Rosenblatt 1958). Aufgrund sehr hoher Erwartungen an eine KI und mangelnder Rechenleistung gab es in der Vergangenheit jedoch immer wieder Rückschläge (sogenannte KI-Winter), in denen die Forschung aufgrund mangelnder Forschungsgelder einbrach (Hendler 2008). Mit der Zunahme der Rechenleistung, optimierter Verfahren und verbesserter Datengrundlage konnten jedoch nach und nach vorliegende Probleme gelöst werden. So gelang es, dass KI-Anwendungen bedeutende Fortschritte im Verständnis und der Manipulation von Daten verzeichnen konnten (Russakovsky et al. 2014). Diese Fortschritte führten in vielen Bereichen zu Erfolgen. Das Programm AlphaGo konnte beispielsweise im komplexen Spiel Go, das im Vergleich zu Spielen wie Schach aufgrund der größeren Spielfeldgröße und der damit einhergehenden Zugmöglichkeiten nicht mit Brute-Force-Algorithmen lösbar ist, den weltbesten menschlichen Spieler besiegen (Silver et al. 2017). Analog konnten auch im Bereich des Gesundheitswesens und der Medizin durch die große Verfügbarkeit von Daten enorme Fortschritte erzielt werden (Esteva et al. 2019). Im Gegensatz zur ersten Generation von KI-Systemen in dieser Domäne, welche sich auf die Organisation medizinischen Wissens durch Experten und auf die Formulierung von Entscheidungsregeln stützt (Buchanan/

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Duda 1983), nutzen heutige KI-Systeme Methoden des maschinellen Lernens, die komplexe Interaktionen berücksichtigen können, um automatisiert Muster aus den Daten zu erkennen. Aktuelle Anwendungen zeigen, dass diese KI-Systeme maßgeblich zu einer Verbesserung in den Bereichen der Diagnose, Prognose und Entscheidungsunterstützung beitragen. So hilft KI in der Intensivmedizin, Herzinfarkte genauer zu diagnostizieren (Than et al. 2019) oder genauer vorherzusagen, ob während einer Narkose ein Sauerstoffmangel zu erwarten ist (Luundberg et al. 2018). Auch im organisatorischen Bereich ermöglicht KI Vorhersagen über den Krankheitsverlauf oder die Verweildauer von Patienten (Rajkomar et al. 2018). Bisher werden diese Daten jedoch oft lediglich fallbezogen erhoben und nicht übergreifend genutzt. Auch werden organisationale Faktoren wie die personale Ausstattung, Art der Schichtsysteme oder Qualifikation des Fachpersonals noch nicht berücksichtigt (Sotoodeh/Ho 2019), sodass sich aus Datensätzen zwar Tendenzen zur Entscheidungsunterstützung ableiten lassen, aber nicht immer Verhaltensänderungen der betroffenen Akteure entstehen (Launay et al. 2018). Daher bieten sich durch die zunehmende Verfügbarkeit von Daten auch in der Zukunft noch viele weitere Potenziale der Unterstützung, da Computer in puncto Geschwindigkeit, Präzision und einer nahezu unbegrenzten Aufnahme von Informationen dem menschlichen Gehirn überlegen sind. Neben diesem Erfolg beim Einsatz und den vielversprechenden Potenzialen von heutigen KI-Ansätzen gibt es jedoch noch nicht ausreichend adressierte gesellschaftliche Fragestellungen (Vellido 2019). Vor diesem Hintergrund wurden von der europäischen Kommission Richtlinien für eine vertrauenswürdige KI vorgestellt (European Commission 2019). Eine solche KI sollte unter Beachtung gesetzlicher Bestimmungen, ethisch reflektiert und technisch robust sein. Insbesondere im medizinischen Kontext ist die Vertrauenswürdigkeit in die KI von hoher Relevanz, da getroffene Entscheidungen großen Einfluss auf Menschen und ihr Leben haben. Bisherige Lösungen erfüllen jedoch selten diese Anforderungen. Eine altbekannte Limitierung bei vielen heutigen KI-Ansätzen liegt in der Erklärung der Entscheidungsfindung (Core et al. 2006). Selbst mit einem hochdifferenzierten Verständnis der mathematischen Grundlagen der KIAnsätze ist es schwierig oder unmöglich, den internen Prozess zur Entscheidungsfindung zu verstehen, weswegen man zurecht von sogenannten Black-BoxModellen spricht. Die Erklärbarkeit des Entscheidungsprozesses erweist sich jedoch als eine wichtige Akzeptanzkomponente. Wird das medizinische Personal durch hochentwickelte KI-Systeme unterstützt und in einigen Fällen sogar überstimmt, ist es aus ethischer Perspektive naheliegend, dem menschlichen Experten dennoch die Möglichkeit zu geben, den KI-Entscheidungsprozess zu verstehen, nachvollziehen zu können und bei Bedarf zu gestalten. Weitere Entwicklungen können diese Aspekte einer vertrauenswürdigen KI verbessern und so die Akzeptanz für KI-Systeme stärken, damit generierte Vorteile in den Vor-

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dergrund treten. Gerade die in diesem Bereich formulierten hohen Erwartungen verursachen oftmals eine meinungstechnische Polarisation. In keinem anderen technologischen Entwicklungsfeld ist daher momentan der Grundgedanke einer kollaborativen Interaktion von Mensch und Maschine so essenziell. Für die Zukunft bleibt festzustellen, dass sich das Thema KI durch enorme Potenziale und ausführliche Diskussionen auszeichnen wird.

2.3

Virtuelle und erweiterte Realitäten

Die Themen virtuelle Realität (engl.: Virtual Reality; VR) und erweiterte Realität (engl.: Augmented Reality; AR) haben mit der Verfügbarkeit der Oculus Rift (Gleasure/Feller 2016) und des Hypes über Pokémon Go (Ahn 2016) Popularität und einen weltweiten Bekanntheitsgrad im Jahr 2016 erreicht. VR-Technologien nutzen sogenannte Head-Mounted Displays (HMD), welche dem Nutzer erlauben, in eine digitale, simulierte und virtuelle Welt einzutauchen (Mills/Noyes 1999). Hierbei werden in der VR-Brille mittels eines integrierten Bildschirms Videos und Bilder in einem dreidimensionalen Format gezeigt, welche sich den Augen- und Kopfbewegungen durch integrierte Sensoren und eines Trackingsystems einer Nutzerin oder Nutzers anpasst. Zusätzlich kann durch den Einsatz von Controllern innerhalb der VR-Umgebung mit virtuellen Objekten und Personen realitätsnah und in Echtzeit interagiert werden (Khalifa/Shen 2004; Martín-Gutiérrez et al. 2017; Seibert/Shafer 2018). Diese Eigenschaften erlauben einer Nutzerin oder einem Nutzer ein immersives Erlebnis, einen Zustand, in dem eine Person in eine Aufgabe, eine Aktion oder Umwelt vertieft ist, während weitere von außen kommende Distraktoren ausgeblendet oder ignoriert werden (Agarwal/Karahanna 2000). Mittels der Charakteristika einer VR-Brille wird dieser Zustand durch das Ausblenden der physischen Welt und dem Ersetzen durch eine virtuelle Umgebung ermöglicht (Kampling 2018a; 2018b). AR-Technologien hingegen ergänzen die physische, echte Welt durch virtuelle 2D- oder 3D-Elemente (Milgram/Kishino 1994). Einerseits ist dies, wie im Fall von Pokémon Go, über ein externes mobiles Endgerät, zum Beispiel ein Smartphone oder Tablet, und die integrierte Kamera möglich. Andererseits können durch eine AR-Brille, wie Google Glasses, virtuelle Einblendungen direkt in das Sichtfeld der Nutzerin oder des Nutzers eingebracht werden. Dabei werden zusätzliche nützliche Informationen bereitgestellt, sobald dies durch die Nutzerin oder den Nutzer gewünscht ist. Eine weitere Abstufung der erweiterten Realität ist die gemischte Realität (engl.: Mixed Reality; MxR), welche ähnlich zu einer AR-Technologie ebenfalls echte Realität durch virtuelle Elemente ergänzt. Die Besonderheit besteht jedoch in der Möglichkeit, mit den erzeugten virtuellen

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Elementen zu interagieren; Silva et al. (2018, S. 423) fassen diese drei erwähnten Technologien wie folgt zusammen: (1) Virtual Reality: »digital replaces physical« (2) Mixed Reality: »digital integrates with physical« (3) Augmented Reality: »digital separated from physical« VR- und AR-Technologien werden bereits zahlreich im Gesundheitskontext eingesetzt. Ein Fokus liegt hierbei im Rahmen von VR-Systemen auf Ausbildungs- und Trainingsszenarios für medizinische Fachkräfte (Müns/Meixenberger/Lindner 2014). Bei der Nutzung von AR-Technologien (Abb. 2) stehen Diagnostik, Therapie und Rehabilitationsmaßnahmen im Vordergrund (Silva et al. 2018). Mittels einer VR-Umgebung können angehende Chirurginnen und Chirurgen von der Visualisierung und Simulation des menschlichen Körpers und dessen Eigenschaften profitieren, da das innere einer potenziellen Patientin oder Patienten sichtbar gemacht werden kann. Darauf aufbauend kann innerhalb der VR-Umgebung mit dieser virtuellen Person auf medizinischer Ebene interagiert werden. Mögliche Vorteile bestehen darin, dass Medizinstudierende bei Fehlern niemanden verletzten und gleichzeitig Erleben von möglichen Konsequenzen stattfindet (Müns et al. 2014). Zum jetzigen Zeitpunkt finden viele dieser Trainings- und Ausbildungsmaßnahmen im Rahmen kontrollierter Umgebungen statt und weisen die Problematik auf, dass bestehende Technologien zwar Interaktionen durch Controller erzeugen können, weitaus realistischere Interaktionen durch den direkten Einsatz der menschlichen Hände aber nur mit weitaus größerem technologischen Aufwand generierbar sind. Das eigentliche Lernerlebnis ist somit begrenzt und kann in der Regel nur spezifische Einblicke gewähren (Kampling 2018b). In Zukunft können die Erlebnisse und Trainings mittels Weiterentwicklungen für VR-Brillen mit hoher Sicherheit verbessert werden, beispielsweise durch ein sensorisch unterstütztes Tracking der Handbewegungen oder durch taktile Sensorhandschuhe (Freude et al. 2020). Neben edukativen Anwendungsmöglichkeiten weisen VR-Technologien und ihre zunehmende besser werdende Bildschirmauflösung in Zukunft ebenfalls Potenziale für psychotherapeutische und ernährungsbedingte Behandlungen auf. Im Rahmen von Konfrontationstherapien können Ängste in einem virtuellen Szenario adressiert werden (Gerardi et al. 2010). So können Menschen ihre Spinnenphobie mit virtuellen Spinnen trainieren oder an Höhenangst Leidende langsam und zunehmend höhere virtuelle Gegenden erleben. Patientinnen und Patienten können so kontrolliert mit ihren Ängsten konfrontiert werden und ein Bewusstsein dafür entwickeln. Innerhalb von Therapien von Essstörungen oder Adipositas können VR-Umgebungen dabei helfen, virtuelle Abbildungen von menschlichen Körpern zu konstruieren (sogenannte Avatare). Patientinnen und Patienten wird es so ermöglicht, sich mit diesen für ein besseres Ess- und Er-

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Abbildung 2: VR, AR und MxR in der kardialen Elektrophysiologie (angelehnt an Silva et al. 2018)

nährungsverhalten auseinanderzusetzen (Riva 2011). Andere Ansätze zielen auf die interaktiven Möglichkeiten einer VR-Brille und -Umgebung für ein besseres Ernährungs- und Bewegungsverhalten ab (Ressing et al. 2020; Weber et al. 2020). Hierbei steht dann beispielsweise der Zusammenhang von zugenommenen Kalorien und der erforderlichen sportlichen Kompensation innerhalb eines VRTrainingsszenarios im Vordergrund. Im Kontext von AR-Anwendungen befindet sich die Medizin in der Anfangsphase. Es gibt bereits Ansätze für Diagnostik, Therapie und Rehabilitation, diese fokussieren jedoch hauptsächlich visuelle Aspekte (Silva et al. 2018). Im Vordergrund stehen hierbei pre-prozedurale und intra-prozedurale Aspekte. Ersterer zielt auf die Sichtbarmachung verschiedener medizinischer Faktoren ab und ist unweigerlich mit einer Optimierung vorhandener Diagnostik verknüpft (Stanford Children’s Health 2017). Intra-prozedurale Elemente stellen hingegen zusätzliche Informationen wie die Herzfrequenz einer Patientin oder eines Patienten bereit, die für das medizinische Personal eingeblendet werden (Riva 2017)

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oder während eines chirurgischen Eingriffs minimal invasive Eingriffe ermöglichen (Mishra 2017). AR-Technologien zeigen somit bereits ein breites Spektrum an medizinischen Möglichkeiten auf, welches es zukünftigen Ärztinnen und Ärzten erlauben wird, die medizinische Versorgung zu verbessern und die Gesundheit zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass weitere zukünftige Entwicklungen und Innovationen eine höhere Transparenz und Verbesserung der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation ermöglichen.

3.

Soziale Aspekte digitaler Technologien in der Gesundheitsversorgung

3.1

Das trilaterale Setting: Arzt, Patient, Technologie

Während die traditionelle Gesundheitsversorgung meist bilaterale Arzt-Patienten-Interaktionen umfasst (Hojat et al. 2010), so hält mit der Digitalisierung versorgungspraktischer Prozesse ein dritter Akteur in Form digitaler Technologien Einzug in dieses Interaktionsgeflecht (van Woerkum 2003). Ärzte sowie Patienten interagieren zunehmend mit solchen Technologien, um Behandlungen teilweise oder vollständig digital durchzuführen. Ein trilaterales Versorgungsszenario (Abb. 3) entsteht.

Abbildung 3: Das trilaterale Setting (angelehnt an Mueller/Heger/Kordyaka/Niehaves et al. 2019a)

Digitale Technologien nehmen somit eine Mediatorrolle ein und ersetzen in manchen Fällen den direkten Arzt-Patienten-Kontakt. Während diese Veränderungen gewisse Vorteile, beispielsweise durch die Freisetzung ärztlicher Res-

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sourcen, mit sich bringt, so wirft die Digitalisierung auch neue Fragestellungen auf, denen sich die Forschung und Gesundheitswirtschaft stellen müssen. Während es traditionell ausreichte, zwischenmenschliches Vertrauen und Compliance aufzubringen (Kim/Kaplowitz/Johnston 2004), so bedingen neue digitale Szenarien ein erhöhtes Maß an Vertrauen, Kompetenz und Motivation hinsichtlich der Nutzung medizintechnischer Systeme (Mueller/Knop/Ressing et al. 2020). Neben der Ärzteschaft als bisher primäre Quelle für medizinische Informationen und Expertise etablieren sich innovative Technologien, bspw. in Form KI-gestützter Entscheidungs- und Informationssysteme, als zusätzlicher Ratgeber für Patienten (Mueller/Heger et al. 2019). Bereits jetzt sind algorithmisch gesteuerte Systeme in der Lage, Diagnosen und Behandlungsempfehlungen basierend auf großen Datenmengen und Symptomen zu stellen. Auf der Kehrseite sind solche Systeme allerdings auch fehleranfällig. Digital bereitgestellte Informationen können konträr zur Einschätzung ärztlicher Expertise oder der Selbsteinschätzung von Patientinnen und Patienten stehen, was zu Unbehagen oder gar Misstrauen führen kann (van Woerkum 2003). Dies erfordert auf allen Seiten ein erhöhtes Maß an technischem sowie medizinischem Know-how und an entsprechender Handlungsfähigkeit.

3.2

Der aktive Patient

Als Resultat digitaler Wandlungsprozesse erfährt die Rolle der Patientin und des Patienten als Konsumierende(r) von Gesundheitsdienstleistungen einen Umbruch (Osei-Frimpong/Wilson/Lemke 2018). Die Wissenschaft spricht hierbei von »Patient Empowerment« beziehungsweise »Activation«. Gemeint ist damit die Befähigung der Patientinnen und Patienten, einen aktiven Beitrag zur Gesundheitsversorgung und laufenden Behandlungen zu leisten sowie die eigene Gesundheit kompetenter bewerten zu können (Risling et al. 2017). Patientinnen und Patienten werden durch den Einsatz digitaler Technologien dazu befähigt, ihren eigenen Gesundheitszustand zu kontrollieren, Vitalparameter zu überwachen (Misra et al. 2015), Informationen über Krankheiten und Behandlungsverläufe zu recherchieren (Ahmad et al. 2006), und eigenständig therapeutische Maßnahmen zu ergreifen (Risling et al. 2017). Hierbei können eine Vielzahl technischer Lösungen zum Einsatz kommen, von der Gesundheits-App (Cafazzo et al. 2012), über virtuell unterstützte Rehabilitationsübungen (Ananthanarayan et al. 2013), bis hin zu tragbaren Sensoren, mit deren Hilfe körpereigene Werte wie Blutdruck und Puls erfasst werden können (Pantelopoulos/ Bourbakis 2010). Dadurch sind Patientinnen und Patienten verstärkt dazu in der Lage, Erwartungen und Wünsche hinsichtlich potenzieller Behandlungen zu

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formen, was zu einer erhöhten Kontrolle über die eigene Gesundheit sowie individuelle Entscheidungsprozesse führen kann (Castro et al. 2016). Gleichzeitig entstehen durch den Einsatz digitaler Gesundheitstechnologien neue patientenseitige Verantwortungen. Empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich Patientinnen und Patienten, welche bereits Erfahrungen im Umgang mit telemedizinischen Systemen in der primärärztlichen Versorgung gesammelt haben, ihrer Rolle in einer digitalisierten Gesundheitsversorgung bewusst sind. So wird es von jenen als ihre Aufgabe wahrgenommen, digitale Sprechstunden vorzubereiten und nur dann in Anspruch zu nehmen, wenn sie als sinnhaft empfunden werden. Aufgrund der Niedrigschwelligkeit digitaler Angebote und der einfachen Inanspruchnahme virtueller Sprechstunden kann die Gefahr einer überhöhten Nutzung entstehen. Um dem entgegenzuwirken, sei es die Verantwortung der Patientinnen und Patienten, ihren Gesundheitszustand sowie potenzielle Behandlungsmaßnahmen a priori einzuschätzen und entsprechend zu handeln (Mueller 2020). Trotz des erhöhten Maßes an Verantwortung bezüglich der Inanspruchnahme digitaler Versorgungsangebote fallen der Patientin und dem Patienten bekannte sowie neue Freiheiten zu. Befragungen mit Patientinnen und Patienten haben gezeigt, dass die Nutzung digitaler Angebote weiterhin auf dem Konzept der Freiwilligkeit basieren sollte. Der physische Kontakt mit der Hausärztin oder dem Hausarzt wird weiterhin als hohes Gut eingeschätzt und sollte nicht durch digitale Ansätze ersetzt werden. Dennoch geben die Befragten an, dass telemedizinische Behandlungen unter bestimmten Umständen obligatorisch sein können. Hierbei spielt die Rolle der Ärztin oder des Arztes als Vertrauensperson eine wichtige Rolle. So scheinen Patientinnen und Patienten bereit zu sein, auf ihre freiwillige Teilnahme an digitalen Angeboten in Teilen zu verzichten, wenn ihnen ihre Ärztin oder ihr Arzt dazu rät und die Vorteile deutlich macht (Mueller/ Knop/Niehaves/Adarkwah 2020). Dies wird vor allem dann wichtig, sobald es zu regionalen Engpässen in der Patientenversorgung kommt. Aufgrund hoher Patientenzahlen und dem Ausfall vieler Ärztinnen und Ärzte bei ausbleibender Nachfolge wird das Patientenvolumen pro Ärztin oder Arzt steigen (Adarkwah et al. 2019b). Digitale Behandlungsansätze können hier entlastend wirken, bedingen aber die Kooperation der Patientenschaft. Folglich ist anzunehmen, dass zukünftige Versorgungsszenarien ein Balanceakt zwischen freiwilliger und obligatorischer Nutzung telemedizinischer Angebote sein werden.

192 3.3

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Akzeptanz und Ablehnung digitaler Technologien

Eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen hat sich mit der anwenderseitigen Akzeptanz digitaler Technologien befasst. Etablierte Modelle wie das »Technology Acceptance Model« (Davis 1989) wurden herangezogen, um das Technologieadaptionsverhalten der Nutzer und damit zusammenhängende Einstellungen zu untersuchen. Hierbei liegt der Fokus unter anderem auf Variablen wie der wahrgenommenen Nützlichkeit des Systems sowie sozialer Einflussfaktoren. Aktuell stellt der Kontext der primärärztlichen Versorgung ein Forschungsfeld dar, welches kaum von wissenschaftlichen Untersuchungen adressiert worden ist. Während das Thema der Akzeptanz telemedizinischer Lösungen bereits vielfach im Rahmen spezieller Indikationen beleuchtet wurde, so fehlt es an dedizierten Studien in der hausärztlichen Versorgung. Die Notwendigkeit wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, welchen Einfluss die hausärztliche Versorgung auf die Gesundheit der Bevölkerung hat. Abseits von speziellen Indikationen besteht der Bedarf eines Großteils der Patientinnen und Patienten in der Behandlung »alltäglicher« oder mindergravierender Erkrankungen, sodass eine ärztliche Konsultation in unregelmäßigen, bedarfsbedingten Abständen stattfindet. Erste empirische Studien, welche sich gezielt mit dem digitalen primärärztlichen Kontext befassen, zeigen Faktoren auf, welche die Akzeptanz von Telemedizin in der hausärztlichen Versorgung bedingen (Mueller/Knop/Niehaves et al. 2020; Mueller/Knop/Ressing et al. 2020). 3.3.1 Patientenseitige Akzeptanz digitaler Technologien in der Versorgung Auf Seiten der Patientinnen und Patienten lassen sich Faktoren bezüglich der Einstellung und Erwartungen hinsichtlich des Einsatzes von Telemedizin, des Einflusses von digitalen Lösungen auf zwischenmenschliche Interaktion sowie der patientenseitigen Rechte und Pflichten finden. Zudem spielen soziale Faktoren in Form sozialen Drucks und der Einflussnahme auf Peers eine wichtige Rolle. Neben der Nützlichkeit und Handhabung telemedizinischer Systeme spielen Sicherheitsaspekte eine Rolle in der Nutzungsabsicht von Patientinnen und Patienten. Interessant ist hierbei, dass etwaige Sicherheitsbedenken mit der wiederholten und als erfolgreich empfundenen, telemedizinischen Behandlung abzunehmen scheinen. Patientinnen und Patienten, welche eine digitale Behandlung erfahren haben, scheinen die wahrgenommenen Mehrwerte (z. B. Zeitersparnis) über etwaige Sicherheitsrisiken zu stellen. Ferner ist für sie der persönliche Kontakt zur Hausärztin oder zum Hausarzt elementar. Wie bereits beschrieben kann das gegenseitige Vertrauen die Nutzungsintentionen steigern, sofern die Technologie beworben beziehungsweise empfohlen wird. Zudem sind Patientinnen und Patienten mit telemedizinischen Erfahrungen verstärkt dazu in

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der Lage abzuschätzen, in welchen Situationen digitale Behandlungsansätze zielführend sind, beziehungsweise wann ein physischer Kontakt notwendig ist. Die Option eines Treffens vor Ort sollte bestehen bleiben. Nichtsdestotrotz deuten erste Ergebnisse darauf hin, dass virtuelle Sprechstunden ähnlich wahrgenommen werden wie Sprechstunden vor Ort. Auch im digitalen Umfeld kann demnach eine persönliche und vertraute Kommunikation stattfinden. In Bezug auf soziale Einflussfaktoren auf die Technologieakzeptanz deutet die Empirie darauf hin, dass Nutzerinnen und Nutzer von Telemedizin, beispielsweise in Form von Videosprechstunden, eine Vorreiterstellung innerhalb ihres sozialen Systems einzunehmen scheinen. Patientinnen und Patienten nehmen demnach Einfluss auf Familie und Bekannte, indem sie digitale Behandlungserfolge kommunizieren. Demnach ist abzusehen, dass die patientenseitige Nutzungsintention unter anderem von den Erfahrungen sozialer Peers abhängig ist (Mueller/Knop/Niehaves et al. 2020). 3.3.2 Ärzteseitige Akzeptanz digitaler Technologien in der Versorgung Auf Seiten der Ärzteschaft spielen weitere Aspekte der Technologieakzeptanz eine wichtige Rolle. So werden »aktive« und informierte Patientinnen und Patienten begrüßt, welche eine eigenverantwortliche und motivierte Haltung gegenüber ihrer eigenen Gesundheit einnehmen. Dieses Phänomen kann durch unabhängig, digitale Technologien unterstützt und herbeigeführt werden. Auf diese Weise können Therapieprozesse optimiert und die Compliance der Patientinnen und Patienten gesteigert werden. Die ärztliche Konsultation wird perspektivisch nicht oder seltener aufgeschoben. Daneben können unabhängige Messungen (beispielsweise via Biosensorik) oder Informationen fehlinterpretiert werden oder zu patientenseitigen Ängsten und Erwartungen führen. Dadurch kann für Ärztinnen und Ärzte ein erhöhter Aufwand zur Auflösung dieser Ängste und Fehlinformationen entstehen. Einen weiteren Faktor in der Technologieakzeptanz von Ärztinnen und Ärzten bilden die Patientinnen und Patienten und deren Kompetenzen im Umgang mit der Technik. Mangelnde technische Affinität und Bereitschaft wird oftmals seitens der Ärzteschaft als Grund genannt, von der Anwendung telemedizinischer Lösungen abzusehen. Zudem ergab eine Befragung, dass die Anwendbarkeit solcher Systeme durch die Art der zu behandelnden Krankheit limitiert sei. In einfachen Fällen und Therapieverläufen (z. B. bei einer Erkältung) seien technologische Lösungen durchaus sinnvoll und akzeptabel, vorausgesetzt, die betroffene Patientin oder der betroffene Patient verfügt über die notwendige Bereitschaft und Kompetenz. Als weiteren Punkt nennen die Befragten die Notwendigkeit und Aufrechterhaltung des persönlichen Kontaktes zur Patientin oder zum Patienten. Ärztinnen und Ärzte verdeutlichen, dass sie Wert auf das

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gesamte Erscheinungsbild und Verhalten der Patientin oder des Patienten legen. Es sei wichtig zu sehen, wie sich diese bewegen und präsentieren. Diese Eigenschaften seien nur begrenzt virtuell abbildbar, sodass eine persönliche Konsultation weiterhin unabdingbar sei. Folglich umfasst ein zukünftiges digitales Versorgungssetting digitale sowie analoge und physische Prozesse (Mueller/ Knop/Ressing et al. 2020). 3.3.3 Neue Ansätze in der Akzeptanzforschung Neben den etablierten Ansätzen der Akzeptanzforschung erhalten stetig neue wissenschaftliche Konzepte Einzug in Studien. Einen vielversprechenden Ansatz stellen sogenannte kognitive Biases (engl.: Cognitive Bias) dar, welche auf dem Konzept der beschränkten Rationalität (engl.: Bounded Rationality) beruhen (Kahnemann 2003). Das Konzept besagt, dass die Rationalität hinter Entscheidungen aufgrund von unvollständigen Informationen, kognitiven Einschränkungen und Heuristiken in der Entscheidungsfindung limitiert ist. Kognitive Biases tauchen in Form der Aufrechterhaltung des bereits Erreichten beziehungsweise Etablierten (»Status Quo Bias Perspective«; SQBP) auf, selbst dann, wenn bessere oder performantere Lösungen verfügbar sind (Lee/Joshi 2017). Ein Beispiel hierzu wäre die Fortführung einer oftmals aufwendigen, handschriftlichen Dokumentation angesichts der Verfügbarkeit digitaler, effizienterer Lösungen. Das etablierte System, die damit zusammenhängende Erarbeitung von Routinen und Expertise, sowie die erwarteten Kosten eines Umstiegs auf digitale Prozesse können in der Entscheidungsfindung dazu führen, den Status quo nicht zu verlassen und auf etwaige Gewinne zu verzichten. Auf dieser Basis wurden erste Modelle aufgestellt, welche alternative Erklärungsansätze des Technologieakzeptanzverhaltens untersuchen (Mueller/Oschinsky et al. 2019). Hierbei soll untersucht werden, welchen Effekt die verschiedenen Dimensionen (z. B. organisationale und soziale Normen) der SQBP auf Nutzungsintentionen von Akteuren im Gesundheitswesen haben. Erste empirische Umfrageergebnisse einer noch laufenden Studie deuten darauf hin, dass ein Teil der Ärzteschaft jene Technologien als nützlich erachtet, welche sie bereits kennen und im beruflichen Alltag einsetzen. Die Orientierung am Status quo des eigenen Handelns, insbesondere angesichts des schnellen technologischen Fortschritts, ist in wissenschaftlichen Untersuchungen belegt und gilt als verzerrender Faktor für die Adoption innovativer Technologien. Zudem ist anzunehmen, dass die Energie, welche zur Erreichung des Ist-Zustands aufgebracht worden ist (z. B. Studium oder Verselbstständigung), als zu hoch empfunden wird, um sie durch das Verlassen des Status quo zum Teil obsolet werden zu lassen (Kim/Kankanhalli 2009). Zudem besteht die Tendenz des Menschen, sich risikoavers zu verhalten. Potenzielle Verluste fallen bei der Entscheidungsfin-

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dung schwerer ins Gewicht als potenzielle Gewinne, was die Entscheidung zur Nutzung von digitalen Technologien zusätzlich beeinflusst (Lee/Joshi 2017). Daneben lassen Befragungen mit Patientinnen und Patienten und Ärztinnen und Ärzten erkennen, dass Anwenderinnen und Anwender weitere Biases in der Bewertung und Nutzung von Telemedizin an den Tag legen. So zeigen erste empirische Befunde, dass sowohl Patientinnen und Patienten als auch Ärztinnen und Ärzte intergenerationelle Vorurteile und Annahmen bezüglich der Technikkompetenz von Patientengruppen an den Tag legen. Patientinnen und Patienten jüngeren und mittleren Alters gehen vermehrt davon aus, dass telemedizinische Lösungen innerhalb der Versorgung Älterer aufgrund mangelnder Kompetenz und Bereitschaft nicht zumutbar seien. Umgekehrt verspüren Patientinnen und Patienten höheren Alters einen sozialen Druck bezüglich der Nutzung moderner Technologien. Befragte geben an, dass sie es als sozial erwünscht erachten, an digitalen Wandlungsprozessen teilzunehmen. Interessanterweise, entgegen der Annahmen vieler jüngerer Befragten, ist die Bereitschaft zur Nutzung und zum Erlernen der Handhabung durchaus vorhanden (Mueller/ Knop/Niehaves et al. 2020). Dieser intergenerationelle Bias findet sich ebenfalls in Ärztebefragungen wieder. Aus Aussagen von Ärztinnen und Ärzten lässt sich ableiten, dass diese im Kontext digitaler Versorgung Stereotypisierungen von bestimmten Patientengruppen vornehmen. So geht ein Teil der Befragten davon aus, dass besonders ältere Patientinnen und Patienten nicht in der Lage seien, solche Technologien zu nutzen, was die Akzeptanz auf beiden Seiten behindert (Mueller/Knop/Ressing et al. 2020).

4.

Implikationen für Praxis und Forschung

Aus den Ausführungen dieses Beitrags, die sich teils auf das technologisch Machbare, teils auf das empirisch Feststellbare beziehen, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Relevanzen diese Erkenntnisse für die praktische Implementierung und Anwendung sowie für die theoretisch-wissenschaftliche Praxis entfalten. Die dargestellte Fortschrittlichkeit von Telehealth-Applikationen und ihre Fähigkeit, zeitliche und räumliche Gebundenheit des Individuums aufzuweichen, lässt eine mögliche Realität entstehen, in denen der Kontakt zur Hausärztin oder zum Hausarzt, zur Pflegefachkraft oder anderen therapeutisch Tätigen wesentlich unkomplizierter und flexibler wird. Telehealth könnte also mit angemessenen rechtlichen und technologischen Voraussetzungen dazu führen, dass die Beziehung von Fürsorgenden und auf Fürsorge Angewiesenen vollkommen neu geformt werden kann. Die Möglichkeit, Fachkräfte im Gesundheitswesen kurz, virtuell und/oder zeitlich flexibel zu kontaktieren, mag kurzfristig betrachtet einen Aufwand auf Seiten der Therapierenden erzeugen,

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langfristig betrachtet mag ein solcher habitueller Wandel dazu führen, dass eine weniger komplexe und besser vorhersehbare Fallsteuerung möglich ist. Wie bereits in Kapitel 3 erwähnt, stellt das persönliche Vertrauen der an der digitalen Interaktion Beteiligten eine besondere Voraussetzung dar. Wird intuitiv oder impulsiv mit der Digitalisierung dieser Interaktion erst einmal eine zwischenmenschliche Distanzierung verbunden, können zukünftige Szenarien ebenso gut das Gegenteil enthalten. Letztendlich hängt der Mehrwehrt einer Technologie nicht im geringen Maße an der Implementierung und individuellen Anwendung. So mögen bezüglich Telehealth durchaus auf der einen Seite Befürchtungen über eine zwischenmenschliche Eiszeit entstehen, auf der anderen Seite ist es vorstellbar, dass eine wohl dosierte Inanspruchnahme solcher telemedizinischen Dienste das Verhältnis der Beteiligten noch stärkt. Schafft es die praktische Anwendung, und jene hängt stark von organisationalen Eigenlogiken und Eigenheiten ab, die Kontaktrate zwischen beiden Parteien zu erhöhen und gleichzeitig eine gegenseitige Entlastung zu generieren, ist das resultierende Vertrauensverhältnis möglicherweise ein Tieferes als zuvor. Wie viel der Kontext technologischen Einsatzes bedeutet zeigt sich auch insbesondere beim Einsatz einer KI. Sollte sich diese Art der Technologie in ihren vielen diversen Erscheinungsformen anhaltend im medizinischen oder pflegerischen Setting durchsetzen wollen, scheint eine Berücksichtigung von systemeigenen Entscheidungs- und Entscheidungsfindungsprozessen unumgänglich. Auch, wenn technologische Entwicklungen zur exponentiellen Steigerung gängiger Rechenleistungen beigetragen haben, ist keinesfalls im Vorfeld determiniert, welche Art der Information an welcher Stelle des menschlichen, des organisationalen Lebens Relevanz verursacht. Die Vorhersage klinischer Verläufe, eventuell ganzer Krankheitsgeschichten, klingt nach einer ganz besonderen Melodie der Zukunftsmusik, löst jedoch die Selbsttäuschung einer vollkommen autonomen Intelligenz auf. KI bedeutet demnach nicht die maschinelle Einheit von Dirigent und Orchester, sondern die Integration in menschliche Phänomene und Interaktion. Die Möglichkeit der technologischen Vorhersage beeinflusst das Handeln und Denken, kann jedoch nicht die Interpretation und die Formulierung von Konsequenzen abnehmen. Die KI-gestützte Identifikation eines malignen Hirntumors ersetzt weder die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt, noch die Notwendigkeit der Aushandlung eines subjektiven Sinnzusammenhangs mit der Patientin oder dem Patienten. In dieser Hinsicht verbleibt Technologie also in einer menschlichen Abhängigkeit, lediglich die Gegenseitigkeit dieser Beziehung nimmt mitunter stärkere Ausprägungen an. Indem wir unsere immer noch auf menschlichen Sinnen basierte technologische Innovation fortführen, entstehen Entitäten, die sich dem Anschein einer Selbstständigkeit annähern, jedoch keinem Selbstzweck folgen.

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Derweil eignet sich als Beispiel unseres Strebens nach sensorischer Extension die Erweiterung unserer Realität mit Hilfe digitaler Technologie besonders gut. Es scheint, dass in Zukunft VR, AR und MxR in der Lage sein werden, Tätigkeitsfelder der Medizin durch die Möglichkeiten innovativer Visualisierung um Diagnoseverfahren und Therapiemöglichkeiten zu bereichern. Das maschinelle Auslesen und virtuelle Erkunden von Patientinnen und Patienten mag den oder die Behandelnde eine immer interaktivere Art der Diagnostik ermöglichen. Der Scan eines bestimmten Körperbereichs entwickelt sich so vom Standbild zu einer artifiziellen Umwelt, die digital betreten werden kann. Das Erzeugen einer sicheren Umwelt zur Simulation von Therapien steht besonders zu Trainingszwecken dabei heute beiden Parteien der Behandlung zur Verfügung. Ob nun eine Therapeutin mit ihrem Patienten gemeinsam diese Umwelt nutzt, um mit virtuellen Spinnen zu interagieren oder ein Chirurg das Skalpell zur Übung lieber am Körper aus Nullen und Einsen ansetzt als an solchen aus Fleisch und Blut: Die Möglichkeit, etwas mit der Realität Vergleichbares erfahrbar, mitunter greifbar zu machen und darüber hinaus noch zu kontrollieren, erscheint als wesentliches Merkmal der Technologie veränderter Realität. Aus dem Fortschreiten der Entwicklung lässt sich dabei unabhängig von der genauen Art der Gesundheitstechnologie erkennen, dass Technologie eine immer stärkere Moderationskraft in der direkten und indirekten Beziehung von Behandelndem und Patientin und Patient aufweist. Auf der einen Seite wird gesundheitliche Versorgung dadurch optimiert, auf der anderen Seite entstehen zeitweise Verunsicherungen, durch Widersprüche von technologischem und therapeutischem Rat. Die Vertrauensstrukturen innerhalb der Versorgungssituation werden kontinuierlich im Wandel begriffen sein und müssen neu ausgehandelt werden. Gerade für Patientinnen und Patienten gewinnt die eigene technologische Kompetenz eine größere Relevanz, da sie immer enger mit der gesundheitlichen Kompetenz und dem Behandlungsverlauf verknüpft ist. Trotz der zunehmenden Eigeninitiative von Patientinnen und Patienten in der primären Versorgung erscheint das Vertrauen zum Versorgenden essenzieller Faktor zur Nutzung digitaler Technologien zu sein. Mit der Ausweitung technologischer Möglichkeiten gewinnt also die Fähigkeit zur Differenzierung vorhandener Ressourcen an Bedeutung, ebenso die Fähigkeit, je nach Situation und Indikation zu entscheiden, in welche Umwelt die Interaktion eingebettet sein sollte. Für die Wissenschaft heißt dies konsequenterweise, sich vermehrt auf langfristige Prozesse einzulassen und den Forschungsgegenstand in seiner praktischen Implementierung zu untersuchen. Nicht außer Acht lassend, dass der Entwicklung einer Technologie erhebliche Relevanz zukommt, legt sie doch das Fundament aller angeschlossenen und anschließbarer technologiebezogenen Entscheidungen, ist die kontextuelle Erkenntnis ebenso essenziell und wie bereits dargestellt, häufig außer Acht gelassen. So objektivierend gegenwärtige

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Forschung agiert, stellt sich die tatsächliche Nutzung der Technologie immer noch als sozial konstruierter, habitueller und nicht genormter Erkenntnisraum dar, den es zu erschließen gilt.

5.

Ein Fazit

Für die Zukunft einer digitalen Gesundheit können viele Facetten einer potenziellen Vision diskutiert werden. Technologische Entwicklungen lassen vermuten, dass die Digitalisierung des zentralen gesellschaftlichen Wertes Gesundheit vor allem in Form einer sensorischen Revolution auftreten wird. Die Ausweitung menschlicher Wahrnehmung, die das Fundament der Kognition bildet, erfolgt durch neue Technologien. Die Veränderung der Kommunikation mit und zwischen pflegerischen sowie medizinischen Expertinnen und Experten zur Erhöhung von Flexibilität, die Auslagerung kognitiver Entscheidungsprozesse mit Hilfe von maschineller Logik oder die Kreation neuer und erweiterter Realitäten sind nur Beispiele für einen Prozess, der durch eine evolutionsähnliche Rekombination technologischer Eigenschaften einen weitaus umfänglicheren Wandel erzeugen könnte, als anzunehmen ist. Die Anwendung und Nutzbarmachung dieser Technologien sind jedoch weiterhin an menschliche Ziele, Absichten und Erwartungen geknüpft. Die Vorstellung einer technologischen Autonomie mit freiem, technologischem Willen ist demnach vorerst in theoretischen Überlegungen weniger präsent. Empirische Ergebnisse der Forschung weisen eher darauf hin, dass zwischenmenschliche Faktoren wie Vertrauen eine essenzielle Wirkung auf die Akzeptanz innovativer Technologien entfalten. In allen gedachten Zukunftsszenarien ist Technologie selbst kein Ersatz komplexer, menschlicher Interaktion. Jene scheint sich eher der Rolle eines zentralen Moderators, Mediators oder sogar Partners anzunähern, fortwährend eingebettet in den menschlich geformten Alltag. Die Verantwortung des technologischen Wandels der Gesundheit fällt somit auch unweigerlich auf den Menschen zurück: bei allem Optimismus oder Pessimismus entgegen der Digitalisierung wird der Mensch entscheiden müssen, mit welchen Annahmen, Absichten und mit welchen Mitteln er diesen sensorischen Wandel gestaltet.

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Markus Kötter*

Status quo und Veränderungsbedarfe in der Englischlehrerbildung und guter Englischunterricht

Wer in Deutschland einen Schulabschluss erwerben möchte, die oder der muss, wie bereits in einem Beitrag zu dieser Zeitschrift im letzten Jahr dargelegt (vgl. Kötter 2019), spätestens seit dem Hamburger Abkommen (KMK 1964) zwingend am Fremdsprachenunterricht (FU) teilgenommen haben. Zwar ist weder festgeschrieben, wie lange dies dauern muss, noch, welches Niveau in der oder den gelernte(n) Fremdsprache(n) am Ende mindestens beherrscht werden muss. Schon die nur wenige Ausnahmen zulassende Pflicht zur Teilnahme am FU ist angesichts des Mottos »Visionen« dieser Ausgabe von DIAGONAL aber Anlass genug für eine Bestandsaufnahme dessen, wie angehende FU Lehrkräfte – und besonders jene, die künftig Englischunterricht (EU) erteilen wollen – zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und teils auch darüber hinaus meist auf ihren Beruf vorbereitet werden, welchen Gewinn Schülerinnen und Schüler (SuS) ebenso wie die Gesellschaft, der sie angehören, davon haben, und welchen sie unter (welcherart) verbesserten Bedingungen haben könnten. Es trifft zu, dass Unterricht seit Ausbruch der Corona-Pandemie vielerorts anders als zuvor erteilt wird, und ebenso ist anzunehmen, dass zumindest einige Veränderungen dauerhaft Bestand haben. Ich werde in diesem Beitrag aber nicht hierauf eingehen. Erstens sind hier viele Dinge noch viel zu sehr im Fluss, als dass man seriöse Einschätzungen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit abgeben könnte. Zweitens geht es mir grundsätzlich weniger darum, auf kurzfristige beziehungsweise durch außerordentliche Faktoren verursachte Umstände einzugehen, sondern vielmehr, unabhängig vom Tagesgeschehen zu denken. In diesem Beitrag werden daher zentrale Umstände, Voraussetzungen und Gelingensbedingungen für gute Englischlehrerbildung diskutiert. Dazu werden einige zugleich als Zwischenüberschriften fungierende Thesen formuliert, die jeweils ausführlicher behandelt werden. Am Ende folgt dann meine Vision. Doch * Univ.-Prof. Dr. Markus Kötter, Universität Siegen, Fakultät I (Philosophische Fakultät), Anglistik – Didaktik der englischen Sprache.

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um diese Realität werden zu lassen muss, wie von Abschnitt zu Abschnitt deutlicher werden wird, zunächst einmal einiges an Hindernissen aus dem Weg geräumt werden. Da meine Sicht der Dinge selbstredend subjektiv ist, wird versucht, die hier vorgelegten Thesen so gut als möglich zu begründen und durch geeignete Beispiele zu untermauern. Sollten diese Aussagen auf Zustimmung treffen, so freut mich dies ebenso, wie konstruktives Feedback willkommen ist. Denn auch wenn es um Visionen geht, so ist ihre Umsetzung mitgedacht und folglich auch angestrebt.

1.

Das Lehramtsstudium hat sich – nicht nur im Fach Englisch – dank äußerer Zwänge in den letzten Jahren erheblich verschlechtert

Der Beruf der Lehrerin beziehungsweise des Lehrers ist ein auf mehrere Phasen aufgeteilter Ausbildungsberuf. In der ersten Phase absolvieren künftige Lehrkräfte ein wissenschaftliches Studium ihrer angestrebten Unterrichtsfächer an einer Universität. Hier eignen sie sich die fachliche und fachdidaktische Basis für ihren Beruf an. Sie lernen die zentralen Teilbereiche ihrer Fächer in speziell daraufhin konzipierten Lehrveranstaltungen kennen und vertiefen ihr zunächst angeeignetes Wissen in auf jene aufbauenden Hauptseminaren. In den fachdidaktischen Lehrveranstaltungen setzen sie sich empiriebasiert mit den Voraussetzungen, der Planung und der Reflexion von Lernprozessen im angestrebten Lehramt hinsichtlich des Erreichens bestimmter Lernziele in ihren Fächern auseinander. Ein parallel dazu erfolgendes erziehungswissenschaftliches Begleitstudium führt sie als dritte Säule in allgemeine Erziehungskonzepte und weiteres fachübergreifendes didaktisches Wissen ein. Nach dem Ersten Staatsexamen, das heißt dem erfolgreichen Bestehen von vor allem auf größere Zusammenhänge des Studiums abzielenden Prüfungen, wechseln die angehenden Lehrkräfte zur Vorbereitung auf das Zweite Staatsexamen an ihre Ausbildungsschulen und an Studienseminare über. An letzteren erhalten von speziell hierfür von Schulen (teil-)abgestellten FachleiterInnen, also bereits voll ausgebildeten Lehrkräften, in wöchentlichen Sitzungen praktischen Rat zum Unterrichten ihrer Fächer, während sie sich im Hauptseminar eher mit übergreifenden didaktischen Fragen befassen. Zugleich erproben sie mit meist etwa alle zwei Monate wechselnden AusbildungslehrerInnen unterstützt von schulischen MentorInnen, wie sie ihr Wissen mit konkreten Lerngruppen in Bezug auf spezifische Unterrichtsgegenstände am lernförderlichsten einsetzen können. Die dabei erzielten Fortschritte demonstrieren sie regelmäßig in mit

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diesen AkteurInnen gemeinsam geplanten Unterrichtsvorhaben (UV) und in die UVs eingebetteten Unterrichtsbesuchen. Diese Beschreibung gibt, wie wahrscheinlich leicht erkennbar ist, nicht den Ist-Zustand wieder. Sie skizziert vielmehr, wie angehende Lehrkräfte im Idealfall bis vor etwa einem Jahrzehnt ausgebildet wurden (wenn sie vor Stellenantritt ein grundständiges Studium einschließlich Referendariat absolviert haben). Seitdem gab es eine Vielzahl von Veränderungen. Im Zuge des Bologna-Prozesses wurde das Lehramtsstudium durch einen konsekutiven Bachelor-/Masterstudiengang (BA/MA) ersetzt. Zwar qualifiziert allein ein Lehramts-BA seine AbsolventInnen noch zu nichts. Trotzdem wurde im Zuge der Angleichung der Studienstrukturen auch die universitäre Lehrerbildung reformiert und auf leichter vermarktbare, möglichst polyvalente, damit zugleich aber unspezifischere Studienanteile getrimmt. Am Abschluss des BA/MA-Studiums steht zudem nicht mehr ein durch Landesprüfungsämter zentral administriertes Staatsexamen mit sich größtenteils auf den gesamten Studienverlauf beziehenden und daher oft vergleichsweise komplexe Wissensbestände thematisierenden Prüfungen, sondern ein lokaler, durch Modulabschlussprüfungen geprägter Abschluss, bei dem entsprechend vor allem an individuelle Module andockbares Partikularwissen zählt. Zugleich führen die deutlich erhöhte Fokussierung auf das Einhalten der Regelstudienzeit, die immer strikter zuvörderst auf Akkreditierbarkeit ausgerichtete Konzeption von Studienangeboten sowie drittens die Pflicht der Hochschulen, Studierende seit einigen Jahren gleich ein ganzes Semester lang für ein sogenanntes Praxissemester abzustellen (hierzu später mehr), dazu, dass auch Studierende selbst ihr Studium zunehmend vor allem (finanz)ökonomisch planen und dann auch durchführen. Ging es in der Vor-Bologna-Zeit noch recht häufig (auch) darum, sich im Studium umfassend zu bilden, auch einmal Angebote jenseits des eigenen Fach(horizont)es zu nutzen und aus einem breiten Katalog an Wahlpflichtveranstaltungen auszuwählen, was einen fachlich und persönlich weiterbringt, so rückte seitdem erheblich stärker der Aspekt der Verwertbarkeit ins Zentrum studienbezogener Entscheidungen. Nur was sich in das durch Bologna als neuer zentraler Maßstab etablierte European Credit Transfer System (ECTS) einpassen lässt, gelangt oft überhaupt noch immerhin bis in die Vorauswahl möglicher Lehre. (Dies ist auch ein gewichtiger Mitgrund dafür, dass es seit der Bologna-bedingten Umstellung des Lehramtes auf BA/MA im Bereich der Fachdidaktik nicht nur keine Oberseminare mehr gibt, in denen gezielt auf neue Forschungen sowie Planung und Umsetzung von Qualifikationsarbeiten eingegangen werden kann, sondern auch keine auf die Abschlussprüfungen vorbereitenden Examenskolloquien oder anderer »Luxus«). Und nur wer als Studierende(r) im Gleichschritt vorankommt, entgeht der Gefahr, im schneller absolvierten Fach warten zu müssen, bis alle BA-Prüfungen bestanden sind, bevor es im Master weitergehen kann. Denn durch den Bachelor als neuem

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formalen (Teil)-Studienabschluss ist es offenbar nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor erwünscht, fachorientiert zu denken und zu studieren und ebenso wie es im alten Lehramt problemlos machbar war im einen Fach im Hauptstudium zu sein, während im anderen noch am Grundstudium teilgenommen wird. Doch auch das Referendariat hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Praktisch zeitgleich zur Einführung des Praxissemesters wurde der Vorbereitungsdienst an den Schulen von zwei Jahren auf nur noch anderthalb verkürzt. Trotz der nun sechs Monate kürzeren zweiten Ausbildungsphase blieb aber die Zahl der von den ReferendarInnen zu erteilen Wochenstunden selbstständigen Unterrichts ohne Begleitung mit insgesamt 18 unverändert (vgl. Ministerium des Innern des Landes NRW 2018, §11, Absatz 6). Und das heißt: Statt ihnen erst einmal Zeit zum Hospitieren zu geben und das erste selbst geplante Unterrichtsvorhaben im zweiten Ausbildungshalbjahr durchführen zu lassen, stellt man ReferendarInnen damit unter einen erheblich höheren Druck, schon in den ersten Wochen und Monaten entweder Unterricht ohne Begleitung oder zumindest Unterricht unter Anleitung zu erteilen, der dann auch von Anfang an abschlussrelevant ist. Schließlich wurden sowohl die Berechnung der Note im Zweiten Staatsexamen als auch die Art geändert, wie Leistungen aus dem Studium in dessen Abschlussnote eingehen. Zwar wird die in den beiden Ausbildungsphasen erzielte Gesamtnote auch weiterhin im Verhältnis 1:1 beider Phasen berechnet, nur jetzt eben aus der BA/MA-Note und dem zweitem Examen. Die Ermittlung der Note für das Studium erfolgt aber nicht mehr allein auf der Basis Abschlussprüfungen, sondern unter Einbezug von teils bereits im ersten, spätestens jedoch ab dem zweiten Semester abzulegenden Modulabschlussprüfungen. Im Zweiten Staatsexamen tragen nun die beiden unterrichtspraktischen Prüfungen (UPP) je 15 % statt wie zuvor 10 % zur Gesamtnote bei. Gleichzeitig wurde der Einfluss des am Examenstag als weiterem Baustein zu bestreitenden Kolloquiums auf die Note von 20 % auf 10 % gesenkt. Drittens legen die an inzwischen in Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) umbenannten Studienseminaren tätigen AkteurInnen nun eine gemeinsame Langzeitbeobachtung der ReferendarInnen vor, statt wie bislang je einzeln zu gutachten. Zwar scheinen viele dieser Veränderungen für sich genommen wenig gravierend zu sein. Kombiniert man aber das Gewicht, das jetzt auch bereits früh im Studium erbrachten Leistungen zukommt (während zuvor erst am Ende »abgerechnet« wurde), mit der im Referendariat reduzierten Chance, sich erst einmal in den gesetzten Grenzen zurecht zu finden, so erhöht schon dieses deutlich den heute auf den Studierenden lastenden Druck. Berücksichtigt man dazu noch die rein ökonomisch motivierte Praxis, die Anzahl der im Referendariat selbstständig zu erteilenden Stunden gleich zu belassen, obwohl LehramtskandidatInnen im verkürzten Referendariat deutlich weniger Zeit zur Verfügung steht,

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und zieht man drittens die Aufwertung der UPPs zuungunsten dessen in Betracht, Gelerntes im Kolloquium diskursiv unter Beweis zu stellen, obwohl der Ausbildungsumfang des Referendariats ja beschnitten wurde, so ergibt dies zusammen eine dann doch sehr deutliche Verschlechterung im Vergleich zum Status quo ante.

2.

Die Einführung des Praxissemesters ohne fachliche Not hat die universitäre Lehrerbildung nach der Bologna-Reform noch weiter geschwächt

Wer in Nordrhein-Westfalen ein Lehramtsstudium verfolgt, muss aufgrund einer Änderung des bis Ende der Nullerjahre gültigen Lehrerausbildungsgesetzes (LABG) vom 12. Mai 2009 seit nunmehr fast 10 Jahren im Lehramtsmaster verpflichtend ein sogenanntes fünfmonatiges Praxissemester (PS) absolvieren. In dieser Zeit findet »[d]ie Ausbildung […] an vier Werktagen, montags bis freitags, im Bereich des Lernorts Schule statt (schulpraktischer Teil)« (MSW 2012 in der Fassung von 2017, § 5, Absatz 7). Dabei sind »im Rahmen der Anwesenheitszeiten im Unterricht unter Begleitung mindestens 50 und maximal 70 Unterrichtsstunden« nachzuweisen, die mindestens teilweise selbst geplant und erteilt wurden (ebd., Absatz 8). Zudem ist »in jedem Fach mindestens ein Unterrichtsvorhaben im Umfang von fünf bis 15 Unterrichtsstunden« durchzuführen (ebd.). Dabei stammen alle diese Zitate aus der gegenüber der Ursprungsfassung des LABG von 2012 mittlerweile abgespeckten Version von 2017. Laut jener waren nämlich nicht »mindestens 50 und maximal 70 Unterrichtsstunden« zu erteilen, sondern »in der Regel 70 Unterrichtsstunden«. Zudem war zunächst vorgegeben, »[f]ür jedes Fach […] verschiedene Unterrichtsvorhaben im Umfang von in der Regel 12 bis 15 Unterrichtsstunden durchzuführen«. Jetzt ist hingegen lediglich noch von »in jedem Fach mindestens ein[em] Unterrichtsvorhaben im Umfang von fünf bis 15 Unterrichtsstunden« die Rede. Bereits kurz nach dem Start des PS wurde in der Schulverwaltung NRW (vgl. Kötter 2014) sowie danach in einem Herausgeberband zum Wandel und Wirken in der Fremdsprachendidaktik (Kötter 2015) ausführlich dargelegt, warum der Beschluss zur Einführung eines PS in NRW in meinen Augen ein großer Fehler war. Es scheint daher nicht nötig, meine damaligen Überlegungen hier noch einmal im Detail darzulegen. Zumindest die zentralen Beweggründe für meine Sicht der Dinge, die heute noch genauso ausfällt, seien jedoch noch einmal kurz zusammengefasst. Denn es ist essenzieller Bestandteil meiner Vision guter Lehrerbildung und guten Englischunterrichts, dass das PS möglichst bald wieder abgeschafft und durch die Rückkehr zu einem zweijährigen Referendariat im

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Anschluss an eine auch im Master rein der Fachdidaktik verpflichtete universitäre Lehrerbildung ersetzt wird. – Das Praxissemester zerschneidet nicht nur die universitäre Vorbereitung auf den Lehrberuf, sondern es hat das bisherige Lehramtsstudium in wichtigen Teilen schlicht und einfach zerstört, dabei jedoch zu keinem erkennbaren Mehrwert gegenüber einem zweijährigen Referendariat und der Ausbildung angehender LehrerInnen im Hauptstudium des alten Lehramts für die Studierenden, die Schülerinnen und Schüler oder die Gesellschaft als Ganzes geführt. – Sowohl die zitierten Passagen aus dem LABG als auch der Umstand, dass das Referendariat praktisch zeitgleich zur Einführung des PS von 24 Monaten auf 18 Monate Dauer verkürzt wurde, sowie dass kurzzeitig sogar eine Verkürzung auf nur noch 12 Monate im Raum stand, zeigen klar, dass das rhetorische Getrommel von einer Stärkung des »forschenden Lernens« durch das PS einzig eine politisch motivierte Nebelkerze war, dass es aber realiter vor allem darum ging, einen scheinbaren Ausgleich für die Verkürzung des Referendariats zu schaffen, angehende Lehrkräfte schneller in die Schulen bekommen, und dabei auch noch Geld zu sparen. Denn im Gegensatz zum Referendariat wird das Praxissemester mit keinem einzigen Cent vergütet. – Die Einführung je eines Vorbereitungs- und eines Begleitseminars zum PS pro Unterrichtsfach zwingt die universitären Fachdidaktiken, große Teile des Masters zumindest auf dem Papier einseitig auf das PS auszurichten, statt sich – was aus meiner Sicht die Kernaufgabe universitärer Lehrerbildung ist – zunächst einmal weitere wichtige Grundlagen zu erarbeiten, ohne dass der Blick immer auch schon auf die unmittelbare Praxisrelevanz beziehungsweise die praktische Verwertbarkeit des Gelehrten und Gelernten gerichtet wird. – Ein besonders prägnantes Beispiel für die auch nach Einführung des PS andauernde Missachtung fachdidaktischer Belange ist die wenige Jahre später ohne jede Konsultation der universitären Fachdidaktiken beschlossene Reduktion der von den Studierenden zunächst in jedem Fach als Teil der Begleitseminare durchzuführenden Studienprojekte auf nur noch ein Projekt insgesamt. Dass ausgerecht dadurch der ja vorgeblich den Kern des PS bildenden Stärkung »forschenden Lernens« Vorschub geleistet würde, kann da doch wirklich niemand mehr ernsthaft behaupten. – Hinter dem Etikett Begleitseminar verbirgt sich nicht etwa Lehre, im Rahmen derer individuell, kontinuierlich oder gar in mit Schulen, ZfsL und Studierenden gemeinsam geplanten Projekten gearbeitet wird. Vielmehr handelt es sich um genau 3 je maximal 4 Zeitstunden umfassende Blockveranstaltungen im 4- bis 5-Wochen-Rhythmus, also um Lehre im Umfang von gerade einmal 10,5 Zeitstunden (nach Abzug der akademischen Viertel zu Beginn und am Ende). Pro Block können dabei höchstens zwei Themen einigermaßen ange-

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messen behandelt werden, also in der Summe 6, aber sicher nicht – wie in wöchentlich angebotener Lehre möglich – bis zu 15 Themen, sofern die Zahl verfügbarer Sitzungen nicht durch Feier- und Ferientage reduziert wird. Zieht man, auch wenn es noch Weiteres zu sagen gäbe, doch es soll ja ultimativ um positive Visionen gehen, knapp 10 Jahre nach Einführung des Praxissemesters an dieser Stelle Bilanz, so wurde ohne (fach)didaktische Not, jedoch mit dem recht offenkundigen Bestreben, angehende Lehrkräfte künftig noch schneller in die Schulen zu bringen, selbst wenn das auf Kosten der Qualität ihrer Ausbildung geht, das bisherige Lehramtsstudium unter dem Banner der Stärkung des »forschenden Lernens« letztlich genau in die Gegenrichtung »weiterentwickelt«. Zwar wurde diese Fiktion zumindest auf dem Papier immerhin noch kurz durch die ursprünglich in jedem Fach vorgesehenen Studienprojekte aufrechterhalten. Seit insgesamt nur noch ein Studienprojekt durchzuführen ist, hat sich aber auch dieser Aspekt als Blendwerk entlarvt. Zurück bleiben gestresste und zudem vielfach überforderte Studierende, die – zumindest wird mir dies so berichtet – aktuell nahezu keiner der ihnen gestellten Aufgaben mehr in dem Ausmaß gerecht werden, wie sie es auch selber anstreben; und dies in einem Umfeld, in dem noch im Wintersemester 2019/20 und damit fast ein Jahrzehnt nach der Einführung des PS ein Drittel der Schulen, an denen die künftigen Grundschullehrerinnen aus meinem jüngsten Begleitseminar tätig waren (alle 20 waren weiblich), nach deren Auskunft keine einzige grundständig für das Fach Englisch ausgebildete Lehrkraft beschäftigt war. Auch an jenen Berufskollegs, an denen andere meiner Studierenden ihr PS verbrachten, sah es nicht besser aus. Doch wozu ein Praxissemester, wenn anscheinend noch immer nicht nur in Einzelfällen nicht einmal gewährleistet werden kann, dass an den Einsatzschulen der Studierenden auch ausreichend Personal ist, um diese fachdidaktisch adäquat zu betreuen?

3.

Je häufiger und intensiver Lehrkräfte bereits von Jobantritt mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet haben, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie diese auch zu schulischen Bestleistungen anspornen können

Gute Lehrkräfte entdecken nicht erst im Studium – und schon gar nicht ausgerechnet ein Jahr vor dessen Ende im Praxissemester – ihre Begeisterung respektive ihre Eignung für den Lehrerberuf. Vielmehr gibt es oft schon weit früher klare Anzeichen dafür, wer wohl ein(e) gute(r) Lehrer(in) wird. Diese gilt es

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verstärkt in den Blick zu nehmen. Doch darauf wird noch immer viel zu wenig geachtet. Es steht außer Frage, dass zentrale allgemeine didaktische Fertigkeiten wie gute Klassenführung, die angemessene Phasierung des Unterrichts oder auch effektive Mediennutzung erlernbar und durch Übung weiter verbesserbar sind. Dies ist auch nötig. Denn der Lehrerberuf ist, wie bereits eingangs ausgeführt, ebenso wie andere professionell ausgeübte Tätigkeiten ein Beruf, den man erlernen kann, aber den man auch erlernen muss. Gleichfalls klar ist zudem, dass manche Menschen sich didaktische Kernkompetenzen leichter als andere aneignen; und dass es »Naturtalente« gibt, die mit weit weniger Mühe als andere die ihnen anvertrauten Menschen motivieren und führen können. Aber es erstaunt doch immer wieder, wie stark zumindest einige Praxisphasen im Lehramtsstudium mehr oder weniger als Allheilmittel ansehen, obwohl es bereits zuvor und auch studienbegleitend reichlich weitere Anschauungs- und Übemöglichkeiten gibt um herauszufinden und zu verbessern, wie man mit Kindern und Jugendlichen »kann«. Nicht nur das regelmäßige Anleiten von SuS in der Jugendarbeit, sondern auch das Engagement im Sportverein, in der Hausaufgabenbetreuung oder als Leitung beziehungsweise Mitglied eines Chores, eines Orchesters oder eines anderen musikalisch aktiven Ensembles sind doch längst vorhandene exzellente diesbezügliche Erprobungs- und Praxisfelder. Mehr als zwei Drittel der Studierenden, die mich seit Aufnahme meiner Tätigkeit an der Hochschule um ein Gutachten oder ein Empfehlungsschreiben gebeten haben, verfügten schon über Erfahrungen in gleich mehreren der genannten Bereiche und brachten folglich bereits Handlungswissen mit, das andere sich erst noch mühsam erarbeiten müssen; und sicher auch daher zählten sie zu denen, die im Studium bereits Überdurchschnittliches geleistet hatten und daher für ein Gutachten überhaupt in Frage kamen. Statt erst arg spät den Blick darauf zu richten, wie man mit Kindern und Jugendlichen agieren kann, wäre es – auch im Sinne einer Reduktion der StudienabbrecherInnenquote – daher sicher keine schlechte Idee, schon in der Berufs- und Studienberatung darauf zu achten, was denn bei BewerberInnen bereits an Kontakterfahrungen mit Heranwachsenden vorhanden ist (bzw. warum es diese bislang nicht gab), welche Motivation potenzielle künftige Lehrkräfte zu Studienbeginn ehrlicher Weise für ihren Beruf mitbringen, und wie realistisch ihre diesbezüglichen Erwartungen sind. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass klug geplante, clever ins Studium eingebettete Praktika ein wichtiger Teil guter Lehramtsvorbereitung sind. Sie gehören jedoch an den Anfang des Studiums und danach in die zweite Ausbildungsphase. In der Zeit dazwischen genügt es, Studierende ihre praktische didaktische Kompetenz in verschiedenen Varianten von Micro-Teaching (weiter)entwickeln zu lassen und parallel dazu die fachdidaktikwissenschaftlichen

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Grundlagen für gutes Lehrerhandeln im Referendariat zu legen respektive angemessen zu erweitern.

4.

Bildungspolitische Vorgaben und Entscheidungen müssen sich an wissenschaftlich solide generierten Erkenntnissen orientieren

Lehrpläne sind »Ausdeutungsliteratur« (Thürmann 2003). Denn es handelt sich um Texte, in denen sich eine so hohe Zahl an Akteuren und Interessensgruppen mit ihren je spezifischen Vorstellungen wiederfinden muss wie in kaum einer anderen Textsorte. Sollen Lehrpläne und die sie rahmenden politischen Entscheidungen eine breite Akzeptanz erfahren, so müssen daher häufig Kompromisse eingegangen und Sachverhalte aus Rücksicht auf eine bestimmte Klientel auch einmal vager ausgedrückt werden als in einem wissenschaftlichen Text. Doch zugleich sind Lehrpläne immer auch Willensbekundungen und letztlich Setzungen der sie vorlegenden Gremien beziehungsweise Institutionen. Wie mir aus eigener Erfahrung als Mitautor des Lehrplans für Englischunterricht an Grundschulen in NRW von 2008 gut bekannt, müssen sie somit einen enormen Spagat schaffen: Sie müssen, so gut es geht, den Stand der Forschung berücksichtigen (ohne dies jedoch durch auch nur einen einzigen direkten Verweis auf wissenschaftliche Quellen kenntlich zu machen, da dies in der Textsorte Lehrplan schlicht nicht vorgesehen ist). Zugleich versucht praktisch jede Regierung, mit ihnen und den sie begleitenden Verlautbarungen politische Duftmarken zu setzen, allerdings ohne dass diese sich auch immer mit dem Stand der empirischen Forschung in Einklang befänden. Wie wirkmächtig und manchmal gar verheerend bildungspolitische Entscheidungen sein können, die zuvörderst auf politischer Opportunität fußen, illustriert nicht nur das Praxissemester, sondern zeigt sich auch daran, wie und warum etwa der Fremdsprachenfrühbeginn seit knapp drei Jahren wieder in die Diskussion geraten ist, und dass Baden-Württemberg im Herbst 2017 sogar beschloss, ihn ohne jede solide empirische Grundlage aus der ersten in die dritte Klasse zurückzuverlegen. Zwar konnte eine ähnliche Entwicklung in NRW 2018 immerhin fürs Erste abgewendet werden. Vom Tisch scheint sie aber noch nicht zu sein. Und das kam so: Beinahe zufällig ergab sich im Frühjahr 2010 am Rande des sogenannten Ganz-In Projektes die Chance, in einer Längsschnittstudie an zunächst 31 Gymnasien, in Folgeuntersuchungen aber immer weniger Schulen in NRW vergleichend zu erheben, zu welchen Leistungen SuS in Klasse 5, 7 und 9 im Fach Englisch fähig waren, die entweder zur letzten Kohorte gehörten, die bis 2008 ab

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Klasse 3 mit dem Englischunterricht begonnen hatten, oder die seit Frühjahr 2009 bereits ab der zweiten Hälfte von Klasse 1 regelmäßig EU erhielten. Dafür mussten innerhalb weniger Wochen nicht nur Tests gefunden werden, sondern es musste auch fast im Akkord getestet werden, um noch alle Datensätze zu erheben, bevor sich das hier einmalig verfügbare Zeitfenster unwiederbringlich wieder schloss. Im Frühjahr 2017 erschien unter dem Titel »From Early Starters to Late Finishers? A Longitudinal Study of Early Foreign Language Learning in School« in der Fachzeitschrift Language Learning ein Aufsatz über diese Testungen (nämlich Jäkel/Schurig/Florian/Ritter 2017a). Praktisch zeitgleich veröffentlichte die Homepage der Ruhr-Universität Bochum eine Pressemitteilung mit dem Titel »Früher Englischunterricht weniger effektiv als erhofft« (Weiler 2017), die den Erstautor der Studie wie folgt zitierte: »Der fremdsprachliche Frühbeginn wird häufig hochgelobt, obwohl es insgesamt wenig Forschung gibt, die diesen Mythos unterstützt« (ebd.). Zudem hieß es gleich im ersten Satz der Mitteilung: »Kinder, die in der ersten Klasse mit dem Englischunterricht beginnen, sind sieben Jahre später schlechter in diesem Fach als Kinder, die erst in der dritten Klasse in die Fremdsprache einsteigen« (ebd.) Diese Meldung griff noch am selben Abend auch Spiegel Online (2017) mit einem Kurzbeitrag unter der Überschrift »Englischunterricht ab der ersten Klasse lohnt sich nicht« auf. Die Wellen, die dies verursachte, waren enorm. Nur wenig später verkündete die Kultusministerin von Baden-Württemberg unter Verweis unter anderem auf diese Texte, dass der dortige Frühbeginn ab Klasse 1 sobald als möglich in die dritte Klasse zurückverlegt werde. Dies begründete sie später schriftlich damit, dass so »zusätzliche Stunden vorrangig zur Förderung in den Basiskompetenzen der Fächer Deutsch und Mathematik zur Verfügung gestellt werden [könnten]« (Eisenmann 2017). Im Ansatz ähnlich, allerdings gleich auf die gesamte Grundschulzeit bezogen, beantragten zudem im Oktober 2017 nordrhein-westfälische Abgeordnete der AfD, der Landtag NRW möge beschließen, »Englischunterricht in der Primarstufe ab[zu]schaffen – Deutsch und Mathematik dafür [zu] stärken!« (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen 2017). Was jedoch sowohl Frau Eisenmann als auch die Vertreter der AfD ignorierten, und was nicht nur in der Anhörung im Schulausschuss des nordrheinwestfälischen Landtages in den Stellungnahmen der Fachwelt zur Sprache kam, sondern auch in einem Brief, den die Wuppertaler Professorin Stefanie Frisch 2019 im Nachgang Ministerin Gebauer unter Mitzeichnung von über zwei Dutzend aktuellen und ehemaligen InhaberInnen fremdsprachendidaktischer Lehrstühle schrieb, ist Folgendes: – Der laut Jäkel et al. (2017a, S. 19) in Klasse 7 nicht mehr messbare Kompetenzvorsprung der sogenannten early starters vor jenen, die erst ab Klasse 3 Englischunterricht erhielten, war, wie Jäkel et al. selbst nur wenige Monate

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nach Erscheinen ihres Aufsatzes in einem Fachvortrag im Herbst 2017 einräumen mussten, in Klasse 9 doch wieder feststellbar (vgl. Jäkel et al. 2017b). Somit deutete die Kernbotschaft der Studie plötzlich in die komplett entgegengesetzte Richtung. – Auch wenn einige politische AkteurInnen dies immer wieder einmal behaupten, gibt es nach wie vor keine einzige wissenschaftliche Untersuchung, die gezeigt hätte, dass durch einen späteren Beginn des Englischunterrichts die Deutsch- oder Mathematikleistung verbessert werden kann. Die Weiterentwicklung dieser Fächer hat daher unabhängig vom Englischunterricht zu erfolgen. – Es gibt eine wachsende Zahl von Hinweisen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder (mit und ohne Migrationshintergrund) im Frühbeginn nicht nur ebenso gute Leistungen wie einsprachig aufwachsende SuS erzielen, sondern dass zumindest manche von der Teilnahme am Englischunterricht ab Klasse 1 sogar stärker als jene profitieren (vgl. auch Wilden/Porsch 2015). – Wie kontrafaktisch Jäkels Behauptung ist, dass es kaum Forschung zum Frühbeginn gibt, und dass sein Erfolg zudem ein »Mythos« sei, lässt sich allein schon daran ablesen, dass sich mittlerweile nicht nur weit über ein Dutzend Promotionsschriften mit diversen Teilaspekten des Frühbeginns befassen, sondern auch, dass in den letzten Jahren gleich zwei Universitäten in NRW spezifisch dem Fremdsprachenfrühbeginn gewidmete Juniorprofessuren eingerichtet haben. Der eigentliche Anlass für den – von mir mitgezeichneten – Brief von Frau Frisch war jedoch gar nicht die Debatte um auf den Frühbeginn bezogene Aussagen aus dem Ganz-In Projekt. Vielmehr kursiert schon seit Herbst 2018 das Gerücht, dass es auch in der Landesregierung von NRW selbst Überlegungen dazu gibt, den Englischunterricht in der Grundschule in NRW wie schon von 2003 bis 2008 erst wieder in der dritten Klasse starten zu lassen, aber dann mit drei Wochenstunden statt wie bislang mit 2 x 45 Minuten. Es soll gar nicht bestritten werden, dass auch das klappen kann. Doch erstens wäre dies erneut eine bildungspolitische »Innovation«, die nicht nur ohne fachliche Notwendigkeit, sondern auch ohne jegliche empirische Basis etwa in Form einer Pilotierung, sondern praktisch im unerprobten Blindflug eingeführt würde. Zweitens wäre ein immenser administratorischer Aufwand zu betreiben, dem zumindest bislang ein höchstens vermuteter Nutzen gegenübersteht; doch selbst dieser ist zweifelhaft, da es ja noch nicht einmal den Ansatz eines Konzeptes gibt, mit dem man sich immerhin spekulativ eingehender befassen könnte. Drittens würde nicht nur der mit dem aktuell verfolgten Modell bestehende konzeptionelle Vorsprung des Frühbeginns in NRW gegenüber einigen hier deutlich schlechter aufgestellten Bundesländern aufs Spiel gesetzt (vgl. auch Hempel/Kötter/Rymarczyk 2017), sondern NRW

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stünde auch völlig allein da, weil in keinem anderen Bundesland ebenfalls dreistündiger Englischunterricht ab Klasse 3 erteilt würde.

5.

Guter Englischunterricht fördert und misst Leistung individuell

Es ist sattsam bekannt, dass neben mit »Kompetenz« gebildeten Komposita besonders die Begriffe Aufgabenorientierung, Differenzierung, Individualisierung sowie seit einiger Zeit auch Inklusion zu den meistgebrauchten didaktischen Schlagworten bezüglich des Lehrens und Lernens nicht nur der englischen Sprache zählen. Gerade angesichts einer, auch dies ist nicht neu, immer heterogeneren Schülerschaft, zu deren Entstehen sowohl Migration als auch andere gesellschaftliche Prozesse sowie drittens schulpolitische Entwicklungen beigetragen haben, stehen die hinter alle zuletzt genannten Begriffen stehenden Konzepte auch völlig zurecht im Fokus. Worauf es mir ankommt, ist jedoch ein fünfter Aspekt, der bislang weitgehend übersehen worden zu sein scheint: Wenn Lernangebote – zumindest im Lichte vielfach erhobener Forderungen aus der Fachwelt – immer individueller auf einzelne SuS zugeschnitten werden (sollen), so müsste eigentlich auch die Leistungsüberprüfung zunehmend differenzierter und auf einzelne Lernende ausgerichtet werden. Doch statt entschlossen dieser Logik zu folgen und Differenzierung und Individualisierung nicht nur beim Lehren zunehmend in den Vordergrund zu stellen, scheint zumindest ein Großteil der Akteure in Gesellschaft und Bildungspolitik auch weiterhin nicht nur auf möglichst (ver)einheitlich(t)e Prüfungen zu setzen, sondern dies auch noch als die bessere Alternative gegenüber einer auf die individuellen Stärken und Schwächen der Lernenden zielenden Leistungsmessung zu propagieren. Dabei gibt es, wie bereits seit einigen Jahren unter anderem die Forschung von Biederstädt (2016) zeigt, durchaus taugliche Wege dafür, der Individualisierung und Differenzierung im Unterricht auch adäquate Instrumente zur Leistungsmessung an die Seite zu stellen. Waren in den Nullerjahren auch und gerade im Gefolge der Veröffentlichung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER; Europarat 2001) Sprachenportfolios das vielversprechende neue Mittel der Wahl, so ist diesbezüglich mittlerweile unter anderem ob des vergleichsweise hohen nötigen Aufwandes für Lernende und Lehrende ziemlich Ernüchterung eingekehrt (vgl. auch Becker 2013). Innovative Formen der Leistungsmessung wie etwa das von Biederstädt propagierte Joker-Modell hingegen verlangen gegenüber der bisherigen Praxis nur einen vergleichsweise geringen zusätzlichen Aufwand. Sie lassen sich im Gegensatz zu Portfolios, die nur bedingt

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standardisiert werden können, relativ einfach wiederverwenden und bieten dank der inhärenten Wahlmöglichkeit für Lernende zudem ein ungleich höheres Potenzial, um die Motivation der SuS zu erhalten und sie dadurch auch dazu zu ermuntern, nicht bereits unterwegs aufzugeben. Dabei besteht der Trick beim Joker-Modell darin, dass SuS sich ähnlich wie bei der Nutzung eines Jokers im Kartenspiel in einer Prüfungssituation für einen zuvor bekannten Einsatz (in der Regel ein Absenken der danach noch mit der erfolgreichen Bearbeitung der Aufgabe erreichbaren Punktzahl) einen bestimmten Vorteil (etwa ihnen fehlendes Wissen oder spezifische Tipps oder sonstige Informationen) erkaufen können, dafür aber selbstverständlich im Gegenzug ihren Joker (bzw. den Preis der Hilfestellung in Punkten) abgeben müssen. Natürlich funktioniert solch ein Prüfungskonzept nur, wenn es – wie jedes andere Format auch – ausreichend und im vorliegenden Fall besonders intensiv mit allen Beteiligten geübt wurde. Der pädagogische Charme dieses Modells gegenüber dem klassischen Ansatz, sich mit Extraaufgaben Zusatzpunkte zu verdienen liegt, wie Biederstädt in seinem Beitrag von 2016 darlegt, dabei darin, dass Extraaufgaben einzig nach oben differenzieren, nicht jedoch nach unten. Dabei können oft schon geringe (sonst nicht verfügbare) Hilfen den Unterschied dahingehend machen, ob auch Leistungsschwächere sich an einer Aufgabe überhaupt erst versuchen und/oder, dass sie nicht schon bei der ersten Schwierigkeit aufgeben. Der Vorteil gegenüber der speziell in den letzten Jahren populär gewordenen Praxis, Aufgaben in verschiedenen Versionen beziehungsweise Schwierigkeitsstufen zu stellen (etwa als Version A, B und C), besteht beim Joker-Modell hingegen darin, dass SuS sich nicht von Vorneherein auf ein bestimmtes Anforderungsniveau festlegen müssen, sondern dass sie auch während des Bearbeitungsprozesses noch (zumindest im Idealfall) ihren individuellen Bedürfnissen entsprechende Hilfe in Anspruch nehmen können. Im Gegensatz zu anderen in diesem Beitrag thematisierten Eingriffen aus der jüngeren Vergangenheit in die Schulpraxis und/oder in die Lehrerbildung liegt mit dem Joker-Modell damit ein Konstrukt vor, für dessen weitere Pilotierung und mögliche breite Umsetzung es sehr gute Gründe gibt. Dies ist aber auch nötig. Denn es gilt wohl auch im Jahr 2020 weiter, was Biederstädt so formuliert: »Im Spannungsfeld zwischen Standardorientierung und Individualisierung werden die Lehrkräfte in der überwiegenden Zahl der Bundesländer im Moment noch weitgehend allein gelassen. Es gibt nur wenige durch Erlasse oder Empfehlungen geregelte Verfahren, nach denen sich die Lehrkräfte bei summativer Leistungsmessung mit Blick auf die Vielfalt der Lernenden richten können bzw. aus rechtlichen Gründen dürfen. Im Gegenteil, es gibt zum Teil klare ministerielle Aussagen, dass trotz der Forderung nach Individualisierung im gemeinsamen Unterricht differenzierende Klassenarbeiten untersagt sind. Dieser nicht nachzuvollziehende Widerspruch bringt die Lehrkräfte an ihre Grenzen, wird gar in eklatanter Weise den Forderungen nach individueller Förderung

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und pädagogisch begründeten Ansprüchen und Möglichkeiten der Lernenden nicht wirklich gerecht.« (Biederstädt 2016, S. 138)

6.

Je besser Lehrkräfte für ihre Aufgabe ausgebildet wurden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sie auch angemessen erledigen (können)

Nach zumindest für manche strittigen Positionen schließt dieser Beitrag nun mit Thesen, denen sich hoffentlich viele anschließen können. Ob sie trotz der obigen Punkte, die jetzt nicht mehr einzeln wiederholt werden, zusammengenommen eine Vision darstellen, zumindest teilweise auch bereits erreichte Realitäten beschreiben, oder etwas Drittes, mag jede(r) selbst entscheiden. Klar ist jedoch, dass zu ihrer vollumfänglichen Umsetzung oft ein erhebliches Mehr an Ressourcen nötig ist, als momentan zur Verfügung steht; und zumindest insofern schließt der Beitrag dann doch in jedem Fall mit einer Vision: – Guter Unterricht und gute Lehrerbildung verlangen klare Vorgaben. Es ist daher dringend nötig, dass die als Regelstandards konzipierten Bildungsstandards für den Sekundarbereich (wie seit über einem Jahrzehnt versprochen) endlich durch klare Mindeststandards ergänzt werden (vgl. auch Caspari et al. 2013), und dass dies analog auch für den Frühbeginn erfolgt (vgl. auch Hempel/Kötter/Rymarczyk 2017). – Nur wer fremdsprachendidaktisch solide ausgebildet ist, kann Lernprozesse so gestalten und an den Bedürfnissen der einzelnen Mitglieder einer Lerngruppe ausrichten, dass alle SuS den größtmöglichen Nutzen aus der verfügbaren Lernzeit ziehen. – Nur wer über eine angemessene eigene fremdsprachliche Kompetenz verfügt, kann für andere den Gebrauch der Fremdsprache angemessen modellieren. Wer diese Bedingung nicht erfüllt, sollte nicht zum Studium und erst recht nicht zum Vorbereitungsdienst zugelassen werden. – Nur wer über eine angemessene eigene fremdsprachliche Kompetenz verfügt, kann durch SuS begangene Fehler überhaupt erst erkennen und mit ihnen pädagogisch arbeiten (vgl. auch Kötter 2019). – Nur wer fremdsprachendidaktisch solide ausgebildet ist, kann angemessen entscheiden, welches Feedback wann für welches Mitglied der Lerngruppe am lernförderlichsten ist. – Nur wer fremdsprachendidaktisch solide ausgebildet ist, kann Lernzuwächse adäquat messen, beurteilen und in neue Lerngelegenheiten umwandeln. – Nur wer fremdsprachendidaktisch solide ausgebildet ist, kann die in Lehrerhandreichungen und anderen Begleittexten zu den verfügbaren Lehr- und

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Lernmaterialien unterbreiteten Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung erstens überhaupt (auch) im Detail korrekt verstehen und zweitens angemessen im Klassenraum umsetzen. – Nur wer fremdsprachendidaktisch solide fortgebildet wird, kann im Unterricht angemessen auf die im folgenden letzten Spiegelstrich benannten Faktoren eingehen. – Gesellschaftliche Veränderungen wie Migration und (auch) dadurch immer heterogenere Lerngruppen, ein inzwischen verbrieftes Anrecht auf Inklusion, technologische Innovationen, aber auch schlichte Dauerbrenner wie Individualisierung und Differenzierung erfordern je eigene, aktuell aus verschieden Gründen aber leider nicht anbietbare fachdidaktische Lehre!

Literatur Becker, Carmen (2013): Portfolio als Baustein einer neuen Lernkultur. Eine empirische Studie zur Implementierung des Europäischen Portfolios der Sprachen. Frankfurt. Biederstädt, Wolfgang (2016): Welche Möglichkeiten der summativen Leistungsmessung im differenzierenden Englischunterricht der Sekundarstufe I gibt es? In: Doff, Sabine (Hrsg.), Heterogenität im Fremdsprachenunterricht. Tübingen, S. 135–151. Eisenmann, Susanne (2017): Brief an alle Schulleitungen vom 14. 12. 2017 mit dem Betreff »Verschiebung des Fremdsprachenbeginns von Klasse 1 auf Klasse 3 und Bereitstellung zusätzlicher Förderstunden«. Stuttgart. Europarat (2001): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen. Lernen, lehren, beurteilen. Berlin. Frisch, Stefanie (2019): Brief an Yvonne Gebauer, MdL, Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 05. 03. 2019 mit dem Betreff »Statt ›Rolle rückwärts‹ Englisch in der Grundschule anschlussfähig machen«. Wuppertal. Hempel, Margit/Kötter, Markus/Rymarczyk, Jutta (2017): Fremdsprachenunterricht in der Grundschule in den Bundesländern Deutschlands. Eine Bestandsaufnahme des Status quo und seiner gewünschten Weiterentwicklung. Frankfurt am Main. Jäkel, Nils/Schurig, Michael/Florian, Merle/Ritter, Markus (2017a): From Early Starters to Late Finishers? A Longitudinal Study of Early Foreign Language Learning in School. Language Learning 67 (3), S. 1–34. Jäkel, Nils/Schurig, Michael/van Ackern, Isabelle/Ritter, Markus (2017b): Zeigt der Frühbeginn einen langen Atem? Der Frühbeginn in Klasse 1 und 3 und sein Einfluss auf die Englischkompetenz in Klasse 9. Vortrag im Rahmen des 27. DGFF-Kongresses in Jena. (KMK) Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD (1964): Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens. Hamburg: Eigenverlag. https://www.kmk.org/the men/allgemeinbildende-schulen/unterrichtsfaecher/fremdsprachen.html (zuletzt abgerufen am 26. 02. 2019). (KMK) Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der BRD (2019): Übersicht über die Pflichtstunden der Lehrkräfte an allgemeinbildenden und

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beruflichen Schulen. Stand: September 2019. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/ pdf/Statistik/Dokumentationen/2019-09-16_Pflichtstunden_der_Lehrer_2019.pdf (zuletzt abgerufen am 11. 02. 2020). Kötter, Markus (2014): Augen zu und durch. Anmerkungen zum neuen Praxissemester in NRW. Schulverwaltung NRW, S. 274–276. Kötter, Markus (2015): Gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Überlegungen zum neuen Praxissemester in NRW. In: Doff, Sabine/Grünewald, Andreas (Hrsg.), WECHSELJahre? Wandel und Wirken in der Fremdsprachendidaktik. Trier, S. 99–110. Kötter, Markus (2019): Fremdsprachliche Fehler in Schule und Hochschule am Beispiel des Englischen. In: Hoch, Gero/Schröteler-von Brandt, Hildegard/Schwarz, Angela/Stein, Volker (Hrsg.), Zum Thema: Fehler. DIAGONAL Heft 40. Göttingen, S. 125–142. Kötter, Markus/Trautmann, Matthias (2018): Welche Erfahrungen machen Englischlehrkräfte mit der Inklusion? Eine Interviewstudie zu Überzeugungen und Praktiken zum inklusiven Englischunterricht in der Sekundarstufe I. In: Roters, Bianca/Gerlach, David/ Eßer, Susanne (Hrsg.), Inklusiver Englischunterricht. Impulse zur Unterrichtsentwicklung aus fachdidaktischer und sonderpädagogischer Perspektive. Münster, New York, NY, S. 139–158. Landtag Nordrhein-Westfalen (2017): 17. Sitzungsperiode. Antrag der Fraktion der AfD: Englischunterricht in der Primarstufe abschaffen – Deutsch und Mathematik dafür stärken! 04. 10. 2017. https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/D okument/MMPT17-10.html (zuletzt abgerufen am 11. 02. 2020). Ministerium des Innern des Landes NRW (2018): Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung – OVP). https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_id=1000 0000000000000681 (zuletzt abgerufen am 29. 06. 2020). Ministerium des Innern des Landes NRW (2020): Gesetz über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (Hochschulgesetz – HG). https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_ text?sg=0&menu=1&bes_id=28364&aufgehoben=N&anw_nr=2 (zuletzt abgerufen am 29. 06. 2020). (MSW NRW) Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (2012): Praxiselemente in den lehramtsbezogenen Studiengängen. Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 28.06.12 in der Fassung vom 08. 12. 2017. https://bass. schul-welt.de/12448.htm (zuletzt abgerufen am 29. 06. 2020). (MSW NRW) Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (2014): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Englisch. Heft 4704. Frechen. Spiegel Online (2017): Englischunterricht ab der ersten Klasse lohnt sich nicht. https:// www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/englisch-unterricht-ab-der-ersten-klasse-lohn t-sich-nicht-a-1146713.html, 08. 05. 2017 (zuletzt abgerufen am 29. 06. 2020) Thürmann, Eike (2003): Confessions of a Curriculum Developer: Träume und Albträume anlässlich der Trendwende zur Ergebnisorientierung in der Fremdsprachendidaktik. In: Nandorf, Katja/Schmidt, Torben (Hrsg.), 20. Kongress für Fremdsprachendidaktik vom 1.–4. Oktober 2003. Stuttgart, S. 38. Weiler, Julia (2017): Früher Englischunterricht weniger effektiv als erhofft. Pressemitteilung der Ruhr-Universität Bochum. https://news.rub.de/wissenschaft/2017-05-08-gru

Status quo und Veränderungsbedarfe in der Englischlehrerbildung

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ndschule-frueher-englischunterricht-weniger-effektiv-als-erhofft, 08. 05. 2017 (zuletzt abgerufen am 29. 06. 2020). Wilden, Eva/Porsch, Raphaela (2015): Die Hör- und Leseverstehensleistungen im Fach Englisch von Kindern am Ende der Grundschulzeit unter besonderer Berücksichtigung von lebensweltlicher Ein- und Mehrsprachigkeit. In: Kötter, Markus/Rymarczyk, Jutta (Hrsg.), Englischunterricht auf der Primarstufe: Neue Forschungen – weitere Entwicklungen. Frankfurt, S. 59–80.

Markus Schaal*

Raum für eine eigenständige Kindheit in der Stadt? Zukunftsvisionen für eine unabhängige Mobilität von Kindern »Die Wahrheit des selbstständigen Bewusstseins ist demnach das knechtische Bewusstsein.« (Friedrich Wilhelm Hegel) »Herrn und Knechte siehst du, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld?« (Friedrich Hölderlin)

1.

Einleitung

In meiner eigenen Kindheit Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre war Hausarrest noch eine durchaus übliche Erziehungsmaßnahme für Kinder. Ich kann mich erinnern, dass ich selbst als etwa 8–12-jähriges Kind gelegentlich zu Hause bleiben musste, wenn meine Eltern mich bestrafen wollten. Heute jedoch würde ich Hausarrest nicht mehr als eine Strafe für meine eigenen Kinder in Erwägung ziehen. Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn sie nicht die ganze Zeit zu Hause sitzen, sondern endlich mal öfter hinausgehen würden. Die Strafe wäre daher heute nicht mehr Hausarrest, sondern die Aufforderung, die Wohnung zu verlassen und endlich einmal draußen zu spielen. Diese Anekdote deutet auf die enormen Veränderungen hin, die sich in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf die räumliche Mobilität von Kindern im öffentlichen Raum vollzogen haben. Die Möglichkeit, nach draußen zu gehen und sich unabhängig von Betreuungspersonen in der Nachbarschaft zu bewegen, wird von Kindern immer weniger genutzt. Diese Entwicklung ist empirisch seit den 1990er Jahren sehr gut dokumentiert und wird vor allem in der angelsächsischen und skandinavischen Literatur als Rückgang der unabhängigen Mobilität von Kindern bezeichnet und intensiv erforscht (Bates 2015; Masoumi 2017; Sharmin/Kamruzzaman 2017; Larouche 2018; Scheiner 2019). Von Anfang an spielten dabei das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie der zunehmende Autoverkehr eine zentrale Rolle. Wie und warum die Unabhängigkeit von Kindern im Bereich der Mobilität zurückgegangen ist, von wem sie nun abhängig

* Dr. Markus Schaal, Universität Siegen, Fakultät I (Philosophische Fakultät), Soziologie – Allgemeine Soziologie I.

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ist und was dies für Kinder bedeutet, darauf möchte ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes eingehen. Im ersten Teil möchte ich zwei wesentliche Impulse der neueren soziologischen Kindheitsforschung skizzieren. Hier werde ich mich eher auf die Diskussionsstränge konzentrieren, die ihren Ursprung in Skandinavien, Großbritannien und den in den Vereinigten Staaten haben. Denn mich interessiert in diesem Zusammenhang vor allem der emanzipatorische Impuls, der generell mit der Kindheitsforschung in der Soziologie verknüpft ist und der vor allem in den Diskussionsbeiträgen von Lena Alanen (1988; 2005), Jens Qvortrup (1994; 1998; 2009), Allison James und Alan Prout (1990; James/Jenks/Prout 1998) sowie von William A. Corsaro (2018) zum Vorschein kommt. Es wird in diesen Beiträgen davon ausgegangen, dass die Kindheit in der Soziologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine zu geringe Rolle gespielt habe oder zumindest nur sehr einseitig thematisiert worden sei. Neben dieser Vernachlässigung der Kindheit als Lebensphase habe es aber auch eine Zurücksetzung von Kindern selbst in der Forschung und vor allem in der Theoriebildung gegeben, so die These. Ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung sei weder theoretisch noch empirisch ausreichend aufgearbeitet worden, weshalb es nun dringend gelte, die eigenständige Handlungsfähigkeit von Kindern sowohl theoretisch zu konzipieren als auch empirisch nachzuweisen. Ich werde in diesem Teil zunächst auf die Entstehungsgeschichte dieser neuen Kindheitsforschung eingehen und schließlich aufzeigen, wie sich einer ihrer Vertreter die Mitwirkung von Kindern an der gesellschaftlichen Entwicklung vorstellt und welche Rolle dabei die Kultur von Kindern untereinander (peer culture) einnimmt. In einem dritten Teil werden diese beiden Entwicklungen aufeinander bezogen. Dabei geht es um die Frage, wie es zusammenpasst, dass auf der einen Seite die Kindheit und das eigenständige Handeln von Kindern wieder sichtbar und empirisch erfahrbar gemacht werden sollen, auf der anderen Seite aber einer der zentralen Erfahrungsräume für ein unabhängiges und gemeinschaftliches Handeln von Kindern massiv an Bedeutung verliert. Kinder verbringen heute viel weniger Zeit auf der Straße und im öffentlichen Raum, und werden anstatt dessen auf die beaufsichtigten und mehr oder weniger begrenzten Refugien von Kindergarten, Verein und Schule verwiesen. Sie verlieren damit, wie wir noch sehen werden, viel von ihrer eigenständigen Handlungsfähigkeit und der Möglichkeit, eine Kultur unabhängig von den Erwachsenen hervorzubringen. Wie kann man also die kompetente Akteurschaft von Kindern untermauern, wenn es auf der anderen Seite zu einem Freiheitsverlust im öffentlichen Nahraum ihrer Wohnumgebung kommt? Schließlich sollen in einem letzten Teil Vorschläge vorgestellt werden, die dazu führen könnten, dass Kinder auch wieder in ihrem Wohnviertel und in ihrer Stadt ihre Eigenständigkeit erleben können. Ziel dieser Vorschläge ist die Vision einer

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von den Eltern und anderen erwachsenen Bezugspersonen möglichst unabhängige Mobilität von Kindern, die in der Literatur mit zahlreichen positiven Begleiterscheinungen in Verbindung gebracht wird. Die Vorschläge richten sich nicht nur an die Erwachsenen, auch den Kindern selbst soll wieder mehr Lust auf die selbständige Erkundung ihrer Umgebung gemacht werden. Auf diese Weise soll die Vision dazu beitragen, dass die eigenständige Handlungsfähigkeit der Kinder nicht nur ein theoretisches Konstrukt bleibt, sondern in der Alltagspraxis der Kinder zum Vorschein kommen kann.

2.

Die Theorie

2.1

Neue soziologische Kindheitsforschung

Wenden wir uns zunächst der Perspektive der neueren soziologischen Kindheitsforschung zu. Wie ist sie entstanden, warum ist es ihr so wichtig, Kinder als aktiv handelnde Akteurinnen und und Akteure zu betrachten, und welche anderen Perspektiven auf Kinder und Kindheit sind aus ihr hervorgegangen? Ein ganz wesentlicher Impuls für die neue Forschungsrichtung ging von den Emanzipationsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Sie haben nicht nur gezeigt, dass sich auch benachteiligte Gruppen und Minderheiten Gehör verschaffen und gesellschaftliche Veränderungen hervorbringen können. Sie haben vielmehr ebenso deutlich gemacht, dass Konflikte wesentliche Triebkräfte des gesellschaftlichen Wandels darstellen und also eine ausschließliche Orientierung hin auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von sozialer Ordnung die Analysefähigkeit der Soziologie unnötig einschränkt. Demensprechend waren viele Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler bestrebt, die Handlungs- und Konfliktfähigkeit von rechtlich und strukturell benachteiligten Gruppen der Gesellschaft ebenfalls in den Blick zu nehmen. Diese bisher von der Forschung oft vernachlässigten Gruppen sollten nun »sichtbar« werden, ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung sollte gewürdigt werden. Dies galt in besonderer Weise für Kinder, da ihre Lebenswirklichkeit in der Soziologie der Nachkriegszeit eine sehr geringe Rolle spielte. Wenn überhaupt, dann wurden sie, wie bereits erwähnt, im Hinblick auf ihre Zukunft als (gute) Erwachsene hin betrachtet (Qvortrup 2009). Dementsprechend standen Erziehung und Sozialisation im Mittelpunkt des Interesses. In den 1950er und 1960er Jahren verkörperte vor allem Talcott Parsons und der mit ihm verbundene Strukturfunktionalismus diese Perspektive: Für ihn war das Kind vor allem eine Zumutung für die Gesellschaft, da es die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens noch nicht kannte (Abels 2019, S. 74–75). Sozialisation bedeutete für ihn daher in erster Linie, dass im Kind die Motivation hervorgebracht werden

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sollte, die Werte und Normen der Gesellschaft zu übernehmen. Dies geschehe, so Parsons, vor allem durch das Erlernen von sozialen Rollen, die dem Kind vor allem durch die Familie und die Schule nahegebracht würden. Entscheidend an diesem Prozess sei also das Ziel: die vollständige Integration in die Gesellschaft als Erwachsener, wodurch die soziale Ordnung insgesamt stabilisiert werde. Das Kind blieb in dieser Vorstellung weitgehend passiv, es wurde lediglich durch die Motivation zur Internalisierung der gesellschaftlichen Werte und Normen selbsttätig. Diese historische Einordnung ist vor allem deshalb wichtig, weil sich die neue soziologische Kindheitsforschung explizit gegen die wichtigsten Annahmen einer solchen strukturfunktionalistischen Vorstellung von Sozialisation wendet. Sie sieht erstens die Kindheit nicht als eine vorbereitende Lebensphase, die ihre Wirkung nur im Hinblick auf ihr Ziel der Erwachsenheit hin entfaltet. Die Kindheit wird vielmehr als eine eigenständige Lebenslage betrachtet und kann daher nicht lediglich als eine Übergangsphase entworfen werden. Als ein aktuelles und permanentes Merkmal der Sozialstruktur kann und muss die Kindheit in Wechselwirkung mit anderen derzeitigen Strukturmerkmalen der Gesellschaft analysiert werden. Zweitens interessiert die Kindheit nicht nur in einem relativ allgemeinen und abstrakten Sinne von Sozialisation und Anpassung, sondern als konkrete, zeitlich, örtlich und kulturell verankerte und damit auch sehr unterschiedliche und prinzipiell veränderbare Kindheit. Damit rücken die Kinder selbst in den Mittelpunkt des Interesses, ihr aktuelles Wohlergehen, die Kultur, die sie untereinander hervorbringen, und auch ihre rechtliche Lage. Und schließlich sollen drittens Kinder nicht nur als passive Empfänger von Werten, Normen und Rollen verstanden werden, sondern als eigenständige Personen, die einen aktiven Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. Damit sind die drei wesentlichen Impulse der neueren soziologischen Kindheitsforschung benannt, vor deren Hintergrund schließlich die unabhängige Mobilität von Kindern thematisiert werden kann. Mit der Unterscheidung dieser drei Stoßrichtungen folge ich einer Darstellung von Doris Bühler-Niederberger (2010, S. 438–440), die in einem Handbuch-Artikel drei zentrale Konzepte der neuen Kindheitssoziologie unterschieden hat. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem sozialstrukturellen Zugang, von der Kindheit als soziale Konstruktion und von einem dritten Ansatz, der Kinder als kompetente Akteure betrachtet. Für das Verständnis dieser Unterscheidung ist es wichtig, sich klar zu machen, dass es sich hier um eine analytische Unterscheidung handelt. In den grundlegenden Werken der soziologischen Kindheitsforschung werden diese Ansätze oft nicht besonders eindeutig und überschneidungsfrei formuliert. Vielmehr überlagern und durchdringen sie sich gegenseitig und sind oft nicht in der nötigen theoretischen Klarheit formuliert.

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2.2

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Kinder als kompetente Akteurinnen und Akteure

Für meine weitere Argumentation ist vor allem der dritte Ansatz von Bedeutung, der Kinder als kompetente Akteure auffasst und ihnen damit einen eigenständigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zutraut. Zusammen mit dem Ansatz, der die Kindheit als soziale Konstruktion betrachtet, gehört er zu den Kernannahmen der neuen soziologischen Kindheitsforschung, die mehr oder weniger von allen relevanten Autorinnen und Autoren vertreten werden (James 2009). Um diesen dritten Ansatz und seine Beziehungen zu den anderen Ansätzen etwas genauer analysieren zu können, soll zunächst der anglo-amerikanische Diskussionsstrang skizziert werden, denn er hat zu der Entstehung der neueren soziologischen Kindheitsforschung entscheidend beigetragen. In der angloamerikanischen Literatur wird die oben beschriebene aktive Rolle an der Gestaltung des eigenen Lebens sowie des gesellschaftlichen Lebens allgemein als agency der Kinder bezeichnet. Der Begriff der agency wird aber nicht nur auf Kinder bezogen, er bezeichnet vielmehr eine allgemein menschliche Fähigkeit, aus eigenem Antrieb zu handeln und damit den eigenen Vorstellungen und Interessen folgen zu können. Er steht dafür, dass der Mensch den gesellschaftlichen Bedingungen nicht ganz und gar ausgeliefert ist, sondern selbst mit jeder seiner Handlungen entscheidet, ob er oder sie den hergebrachten Normen, Werten und Strukturen folgt, oder sich dagegen auflehnt. In der Soziologie wird dieser Gegensatz zwischen der Vorstrukturierung des menschlichen Handelns durch die Gesellschaft einerseits und der eigenständigen Handlungsfähigkeit der Menschen andererseits als »structure vs. agency«-Debatte geführt. Und wie oben beschrieben, wurden Kinder bisher unter dem Schlagwort der Sozialisation fast ausschließlich im Hinblick auf ihre Anpassung an die gesellschaftlichen Strukturen hin thematisiert. Aber stehen Kinder nicht in einem Abhängigkeits- und Hierarchieverhältnis zu den Erwachsenen und ist es daher nicht gerechtfertigt, von einer reinen Eingliederung in die Welt der Erwachsenen beziehungsweise einer Anpassung an deren Werte und Normen auszugehen? Wie hat man sich in diesem Zusammenhang die agency von Kindern vorzustellen? Dazu ist zunächst zu sagen, dass diese Abhängigkeit der Kinder von den Eltern natürlich in jedem Modell von der kindlichen Handlungsfähigkeit zu berücksichtigen ist. Kinder können nicht in gleichem Maße wie Erwachsene autonom handeln und entscheiden. Ihr Handlungsspielraum ist daher sicher geringer als der von Erwachsenen, aber das bedeutet nicht, dass es ihn nicht gibt. Das bekannteste Modell, sich die Handlungsmöglichkeiten von Kindern vorzustellen, stammt von William A. Corsaro. Bei ihm spielt die peer culture, also das gemeinsame Verständnis und die Normen, Werte, Routinen und Regelmä-

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ßigkeiten, die Kinder untereinander entwickeln, eine ganz entscheidende Rolle. Corsaro geht grundsätzlich davon aus, dass Kinder bestrebt sind, an der Kultur der Erwachsenen teilzuhaben, sie zu verstehen und ein Teil von ihr zu werden. Sie tun dies, indem sie sich die Kultur der Erwachsenen aneignen, und zwar nicht individuell, sondern gemeinsam, in einem sozialen Prozess. In diesem Aneignungsprozess wird aber die Kultur der Erwachsenen nicht einfach 1:1 übernommen, es geschehen in diesem Prozess vielmehr zahlreiche Fehl- und Neuinterpretationen. Es handelt sich, wenn man so will, um eine kreative Aneignung, in der die Kultur der Erwachsenen produktiv verarbeitet, verändert und schließlich reproduziert wird. Die Veränderung kommt also durch das zustande, was Kinder untereinander tun; sie hängt davon ab, wie Kinder unabhängig von den Erwachsenen ein Verständnis von der Welt und eine Haltung zu der Welt entwickeln, mit der sie konfrontiert sind. Gemeinsam interpretieren sie die Welt der Erwachsenen neu und entwickeln sie damit weiter, Corsaro nennt dies in seinen Büchern »interpretative reproduction« (Corsaro 2018, S. 18 sowie S. 43– 46). Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die neue soziologische Kindheitsforschung bestrebt ist, Kindheit und Kinder als Forschungsgegenstand wiederzuentdecken. Die Kindheit soll zum einen als eine besondere Lebenslage und als ein permanentes Strukturmerkmal einer jeden Gesellschaft untersucht werden. Zum anderen werden nicht mehr in erster Linie die Probleme, Umstände oder Entwicklungsstufen des Erwachsenwerdens betrachtet, sondern die Kinder selbst. Mit anderen Worten sollen Kinder als human beings ernst genommen werden und nicht nur als human becomings, also ausschließlich auf ihr Zukunftspotenzial hin konzipiert werden (Qvortrup 2009). Diese neue Perspektive richtet den Blick auf die aktuelle Lage von Kindern, auf ihr Wohlbefinden, ihre Rechte und auf die Kultur, die sie untereinander entwickeln. Vor allem aber will man auch den eigenständigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung endlich würdigen, den Kinder leisten können. Obwohl Kindern eine sich erst entwickelnde autonome Handlungsmächtigkeit zugeschrieben wird, kann ihr Handeln einen Unterschied machen, so die Annahme.

3.

Die Empirie

3.1

Die Entwicklung der unabhängigen Mobilität von Kindern

Kinder als kompetente Akteure wurden bisher vor allem in Vorschulen, Schulen, Familien und Krankenhäusern empirisch untersucht. Die entsprechenden Autorinnen und Autoren konnten in diesen Beispielen zeigen, dass die Kinder durch ihr Handeln in einer bestimmten Situation einen eigenständigen Beitrag

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zur gesellschaftlichen Realität leisten konnten. Dennoch geht es in den meisten dieser Beispiele um eher subtile Beiträge, etwa wenn unheilbar kranke Kinder im Krankenhaus sich gegen besseres Wissen so verhalten, dass die Rolle des Arztes als »Helfendem« stabilisiert wird beziehungsweise aufrechterhalten werden kann, oder wenn Kinder entgegen der Regeln eigene kleine Spielzeuge mit in den Kindergarten bringen und sie heimlich herumzeigen. Immer wieder wird auch geschildert, wie schon Kindergartenkinder durch gemeinsame Aktionen in der Lage sind, die Autorität von Erzieherinnen und Erziehern für eine gewisse Zeit lang in Frage zu stellen. Diese Beispiele verweisen alle auf einen Handlungsspielraum, den Kinder sich in einem bestimmten institutionellen Setting trotz ihrer grundsätzlich inferioren Stellung ganz bewusst verschafft haben (James 2009; Valentine 2011; Corsaro 2018, S. 29–46 und S. 182–196). Im Bereich der Mobilität wird die eigenständige Handlungsfähigkeit von Kindern üblicherweise anders konzipiert. Hier geht man in der Regel davon aus, dass die Eltern den Kindern ganz bewusst einen Freiraum gewähren, indem sie ihnen beispielsweise erlauben, sich in einem bestimmten Gebiet um die eigene Wohnung herum frei zu bewegen oder eine bestimmte Wegstrecke alleine zu bewältigen. Mayer Hillman, John Adams und John Whitelegg haben 1990 in ihrer bahnbrechenden Studie One False Move… A Study of Children’s Independent Mobility dafür den Begriff der unabhängigen Mobilität eingeführt, der seither in fast allen einschlägigen Studien verwendet wird. In ihrer Studie bezeichnen sie damit vor allem die Möglichkeit von Kindern, sich unabhängig von Erwachsenen in ihrer Nachbarschaft oder in ihrer weiteren Umgebung bewegen zu können, das heißt frei und ohne elterliche Aufsicht in den Straßen zu spielen, alleine zu Fuß und mit dem Fahrrad in der Umgebung unterwegs sein zu können oder den öffentlichen Nahverkehr alleine nutzen zu dürfen (Hillman/Adams/Whitelegg 1990, S. 2, 81, 40, 42 und 47). Im Gegensatz zu den eher beschränkten Handlungsoptionen, die sich Kinder in den oben genannten Beispielen verschafft haben, geht es bei der unabhängigen Mobilität von Kindern um einen Freiraum, in dem sie wirklich unabhängig von Erwachsenen ihre Umgebung erkunden und eigene Erfahrungen machen können. Wenn man also die theoretisch unterstellte Kompetenz von Kindern als Akteure empirisch aufzeigen wollte, so wäre ihre unabhängige Mobilität ein geradezu exemplarisches Beispiel dafür. Kinder, die sich ohne Aufsicht in ihrer Umgebung bewegen, können nämlich nicht nur ihre individuelle Kompetenz als eigenständig Handelnde ausleben, sondern sie haben auch optimale Voraussetzungen für die Ausbildung und Pflege von peer culture. Und gerade diese kulturellen Aktivitäten, die Kinder untereinander praktizieren, bilden ja nach Corsaro die Voraussetzung für eine eigenständige Reproduktion der Kultur der Erwachsenen, die auf diese Weise neu interpretiert und weiterentwickelt wird (interpretative reproduction). Das eigenständige und gemeinschaftliche Zu-

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sammenleben von Kindern in der Nachbarschaft oder auf der Straße über längere Zeiträume hinweg schafft daher geradezu optimale Voraussetzungen für die Herausbildung einer so verstandenen agency von Kindern.

3.2

Die zentralen Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte

Leider bestätigt die Forschung den bereits in der Einleitung geschilderten persönlichen Verdacht. Schon die erste Studie, die sich explizit der unabhängigen Mobilität von Kindern widmet, kommt zu dem Ergebnis, dass diese in Großbritannien zwischen 1971 und 1990 stark zurückgegangen ist. Es handelt sich dabei um die bereits oben erwähnte Untersuchung, die von Hillman und seinen Kollegen in Deutschland und Großbritannien durchgeführt wurde. Trotz ihres beachtlichen Alters, soll sie hier kurz wiedergegeben werden, da sie zum einen die Grundlagen für einen enorm wachsenden Forschungszweig gelegt hat und zum anderen bis heute zitiert und erwähnt wird (Scheiner 2019). Ihre Grundannahmen und Ergebnisse wurden mehrfach bestätigt und erleichtern zudem den Einstieg in die Debatte um die unabhängige Mobilität von Kindern. Gemessen wurde diese Mobilität anhand der Erlaubnisse (licences), die die Erwachsenen den Kindern im Hinblick auf ihre Freiheiten in der Umgebung einräumten. Dabei wurden sowohl die Eltern als auch die Kinder zu den erlaubten Freiräumen befragt. Als Indikatoren wurden unter anderem verwendet: die Erlaubnis, von der Schule alleine nach Hause zu gehen; die Erlaubnis, alleine über die Straße zu gehen; die Erlaubnis, alleine zu Orten in der Umgebung zu gehen; die Erlaubnis, alleine Busse benutzen zu dürfen, sowie die Erlaubnis, mit dem Fahrrad auf Hauptstraßen fahren zu dürfen. Neben diesen Indikatoren für den persönlichen Freiraum der Kinder wurden überdies die Gründe abgefragt, die die Eltern für die Beschränkung der unabhängigen Mobilität von Kindern angeben. Diese und noch weitere Dimensionen wurden in Schulen in jeweils fünf verschiedenen Ortsgrößenklassen abgefragt. In Großbritannien wurden dieselben Fragen jeweils 1971 und 1990 an denselben Orten abgefragt, in Deutschland zunächst nur im Jahr 1990. Für die Argumentation von Hillman und seinen Mitautoren zentral ist zunächst der Befund, dass die sogenannten mobility licences der Eltern tatsächlich einen großen Einfluss auf die unabhängige Mobilität von Kindern haben. Zwar gaben auch bis zur Hälfte der Kinder an, dass sie sich nicht an die Vorgaben der Eltern halten, aber trotzdem war der Zusammenhang zwischen den Freiheiten, die die Eltern den Kindern gewährten, und der Aktivität der Kinder sehr groß (Hillman/Adams/Whitelegg 1990, S.106). Den zweiten wichtigen Baustein ihrer Argumentation bilden die Gründe, die die Eltern für die Restriktionen nannten, die sie ihren Kindern bei der selbständigen Erkundung der Umgebung aufer-

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legten. Prominent sind hier vor allem zwei Gründe: zum einen die Gefahren des Straßenverkehrs, sie wurden von fast der Hälfte der Befragten genannt. Zum anderen nannte circa ein Fünftel der Befragten die Gefahr, dass die Kinder belästigt beziehungsweise missbraucht werden könnten (molestation). Dies stellte neben der Unselbständigkeit der Kinder die zweithäufigste Nennung dar (Hillman/Adams/Whitelegg 1990, S. 24). Damit kommen wir zum dritten und bekanntesten Baustein der Argumentation von Hillman und Kollegen. Sie stellten bei allen oben genannten Indikatoren für die unabhängige Mobilität einen teilweise dramatischen Rückgang zwischen der Befragung 1971 und der identischen Befragung 1990 fest (Hillman/ Adams/Whitelegg 1990, S. 42–47, S. 78). Die Eltern gewährten den Kindern also 1990 viel weniger Freiraum, als sie es noch 1970 taten. Besonders prominent ist diesem Zusammenhang die Aussage geworden, dass es noch im Jahr 1971 80 % der Kinder im Alter von 7 und 8 Jahren erlaubt war, alleine zur Schule zu gehen, während es 19 Jahre später nur noch 9 % erlaubt war. Diese wesentlich geringeren mobility licences von 1990 kommen in der folgenden Altersverschiebung ebenfalls zum Ausdruck: Generell hat sich der Altersmedian der gewährten Mobilitätslizenzen um 2,5 Jahre nach oben verschoben, was früher also einem 7-Jährigen gewährt wurde, ist heute das Limit für einen 9-Jährigen (Hillman/Adams/ Whitelegg 1990, S. 106). Was schlossen nun Hillman und seine Mitautoren aus diesen drei Hauptbefunden? Zunächst konnten sie unmittelbar aus ihren Daten ablesen, dass die Eltern die unabhängige Bewegungsfreiheit ihrer Kinder vor allem aufgrund der Gefahren im Straßenverkehr einschränkten. Während also die Eltern durch die Verbreitung des Autos und des vermehrten Straßenbaus für sich einen großen Freiheitsgewinn verzeichnen konnten, bedeutete für die Kinder der zunehmende Straßenverkehr vor allem eine zunehmende Beschränkung ihrer Freiheit. In einem zweiten Schritt brachten Hillman und seine Kollegen diesen Befund mit dem Rückgang der Verkehrstoten unter Kindern im gleichen Zeitraum in Zusammenhang. Ihrer Ansicht nach war dieser Rückgang nicht auf die zunehmenden Verkehrssicherheitsmaßnahmen zurückzuführen, wie die entsprechenden Behörden es gerne verkündeten, sondern darauf, dass die Eltern ihre Kinder zunehmend von der Straße fernhielten. Die Eltern ließen beispielsweise nur noch wesentlich ältere Kinder alleine zur Schule laufen oder mit dem Fahrrad fahren, viele der jüngeren Kinder wurden begleitet oder mit dem Auto gefahren. Die Straßen in England, so könnte man es provokant formulieren, wurden sicherer, weil die Eltern die Mobilität ihrer Kinder drastisch eingeschränkt haben. Die Kinder bezahlten den Gewinn an Verkehrssicherheit mit ihrer Freiheit (Hillman/Adams/Whitelegg 1990, S. 77–78). Die Studie von Hillman, Adams und Whitelegg hat auf dem Gebiet der unabhängigen Mobilität von Kindern Pionierarbeit geleistet und eine ganze Reihe von Folgestudien in anderen Ländern hervorgerufen. In den 1990er Jahren

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konnten die hier geschilderten Ergebnisse in vielen westlichen Industrieländern reproduziert werden. Es ergaben sich dabei zwar zum Teil große Unterschiede im Niveau der unabhängigen Mobilität zwischen den Ländern, aber der Rückgang aufgrund der zunehmenden elterlichen Beschränkungen war überall festzustellen (Freeman/Tranter 2011, S. 185). Eine große Replikationsstudie von Ben Shaw und anderen lieferte nun endlich auch für Deutschland einen Zeitvergleich zwischen 1990 und 2010. Darin kam ebenfalls noch einmal ein Rückgang der unabhängigen Mobilität von Kindern zum Vorschein, aber er war geringer als der in England zwischen 1971 und 1990. Knapp zusammengefasst kann man sagen, dass vor allem jüngere Kinder (7–10 Jahre) von dem Rückgang betroffen sind, für die älteren Kinder (11–14 Jahre) sind keine großen Veränderungen zu verzeichnen. Unter den jüngeren Kindern sticht wiederum der Schulweg hervor, der inzwischen nicht mehr von 83 % der Kinder selbstständig zurückgelegt wird, sondern nur noch von 61 %. Umgekehrt haben im gleichen Zeitraum die Autofahrten zur Schule zugenommen: Inzwischen werden 30 % der jüngeren Kinder zur Schule gefahren, im Vergleich zu 12 % im Jahr 1990. Und obwohl die älteren Kinder heute noch ähnliche Freiheiten wie 1990 genießen, ist auch ihre Eigenständigkeit zurückgegangen, da sie inzwischen seltener selbstständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kommen, sondern vermehrt mit dem Bus zur Schule fahren oder mit dem Auto gebracht werden (Shaw 2015). Inzwischen (seit 2010) hat sich das Forschungsfeld zur unabhängigen Mobilität von Kindern massiv ausgeweitet und ist mit einer Reihe von anderen Themen verknüpft worden. Zum einen werden verschiedene Auswirkungen der unabhängigen Mobilität auf die Kinder diskutiert: Sie werden beispielsweise im Hinblick auf (mangelnde) Bewegung und Gesundheit, (mangelnde) psychomotorische Fähigkeiten, Entfremdung von der Umwelt, (psychisches) Wohlbefinden sowie (ebenfalls mangelnde) räumliche Orientierung von Kindern untersucht. Zum anderen wird eine ganze Reihe von Faktoren untersucht, die möglicherweise den Grad der unabhängigen Mobilität von Kindern beeinflussen: Dies sind einerseits Eigenschaften der Kinder wie zum Beispiel Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, kulturelles Milieu und ethnische Herkunft, andererseits Art und Qualität einer bestimmten Umgebung, etwa die Entfernung zur Schule (beim Schulweg), Art und Umfang des Straßenverkehrs, die Qualität der bebauten Umgebung allgemein oder speziell die Qualität der Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer, der sozio-ökonomische Status des Viertels oder dessen sozialer Zusammenhalt. Außerdem ist eine klare Fokussierung auf den Schulweg festzustellen, da er offenbar inzwischen zu einem der letzten Refugien der unabhängigen Mobilität von Kindern geworden ist. Das erkennt man schon daran, dass sich inzwischen viele Studien mit der Frage beschäftigen, wie man wieder mehr Schülerinnen und Schüler dazu bringen könnte, selbstständig mit dem

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Fahrrad oder zu Fuß zur Schule zu gehen. In vielen Studien werden entsprechende staatliche, kommunale oder schulische Programme dazu evaluiert. Jedenfalls ist die Literatur zum Thema der unabhängigen Mobilität von Kindern unüberschaubar geworden und kann hier nur ansatzweise wiedergegeben werden. Die Flut der Veröffentlichungen zu dem Thema ist so groß geworden, dass inzwischen verstärkt Metaanalysen und zusammenfassende Reviews publiziert werden (siehe Literaturangaben in der Einleitung). Daher geht es im Weiteren nur um die großen Trends des letzten Jahrzehnts, gestützt auf zwei Überblicksartikel, die sich im Wesentlichen auf die Entwicklung in den letzten beiden Jahrzehnten konzentrieren (Larouche 2018; Riazi/Faulkner 2018). Deren Fazit ist, um es gleich vorwegzunehmen, dass es zwar einerseits in vielen Ländern einen weiteren Rückgang der unabhängigen Mobilität von Kindern gibt, andererseits einige Vorreiterländer existieren, in denen das Niveau relativ hoch ist und sich der allgemein rückläufige Trend stark verlangsamt, wenn er nicht gar ganz zum Stillstand gekommen ist. Zu den ersteren gehören zum Beispiel die USA, Musterbeispiele für letzteren Trend sind Dänemark und die Niederlande. Deutschland und Großbritannien liegen irgendwo dazwischen, einerseits vom Niveau her und andererseits in Bezug auf die Entwicklung in den letzten Jahren. An den Ursachen für die Entwicklung der unabhängigen Mobilität von Kindern hat sich laut den Forschungsergebnissen der letzten beiden Jahrzehnte ebenfalls wenig verändert. Nach wie vor sind die Eltern die gatekeeper für die Chance der Kinder auf eine eigenständige Mobilität. Und immer noch gehören der Straßenverkehr und die Angst vor der Bedrohung durch Fremde zu den größten Ängsten der Eltern in Bezug auf die Freiheiten, die sie ihren Kindern in der Nachbarschaft gewähren. Bezogen auf die selbstständige Bewältigung des Schulweges spielen die zunehmende Entfernung zur Schule sowie der in manchen Ländern weiter ansteigende Besitz von Automobilen eine negative Rolle. Außerdem scheint eine dichte Bebauung beziehungsweise die Siedlungsdichte nicht hinderlich für eine freie Entfaltung von Kindern in ihrem Stadtviertel zu sein. Gezielte Initiativen in Richtung einer besseren Begehbarkeit und einer verbesserten Fahrradinfrastruktur können in dieser Hinsicht durchaus Früchte tragen, wie viele Beispiele in der Literatur zeigen. Umgekehrt sind die Befunde zum Unterschied zwischen (Innen-)Stadt, Land und Vorortsiedlung uneindeutig. Eher scheint es so zu sein, dass auf dem Land der Transport mit dem Auto eine vergleichsweise größere Rolle spielt, während Vororte und Vorstadtsiedlungen eher mit einem höheren Niveau an unabhängiger Mobilität in Verbindung gebracht werden.

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4.

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Das Paradoxon: Kinder zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit

Kinder entwickeln sich, und mit zunehmendem Alter werden sie immer unabhängiger von ihren Eltern. Das Spektrum reicht von der nahezu vollständigen Abhängigkeit des Säuglings von seinen Bezugspersonen bis hin zur relativen Unabhängigkeit des Jugendlichen. Wenn in diesem Artikel von Kindern die Rede ist, dann sind damit in der Regel Personen im Alter zwischen 6 und 14 Jahren gemeint. Auf diese Personengruppe beziehen sich außerdem die meisten der hier erwähnten Studien. Charakteristisch für diese Altersgruppe ist, dass sich ihre Situation irgendwo zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit ansiedeln lässt. Rechtlich gesehen sind sie von der ökonomischen Reproduktion der Gesellschaft im engeren Sinne ausgeschlossen, da sie noch nicht erwerbstätig sein dürfen. Ökonomisch sind sie daher in der Regel von den Eltern abhängig. Ihre »gesellschaftliche Arbeit« besteht in der Vorbereitung auf die Erwerbsarbeit, die sie in der Schule ableisten und zu der sie gesetzlich verpflichtet sind. Außerdem sind sie unter 14 Jahren noch nicht schuldfähig. Gerade in dieser Schuldunfähigkeit kommt überdies eine Skepsis gegenüber dem Kind als kompetentem Akteur zum Ausdruck, da den Kindern in diesem Alter die Reife zur moralischen Urteils- und Handlungsfähigkeit noch nicht zugesprochen wird. Augrund dieser Abhängigkeit von Kindern in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wurden auch in der Soziologie Kinder als gesellschaftliche Akteure lange Zeit nicht ernst genommen. Erst die neuere soziologische Kindheitsforschung hat sich in den 1990er Jahren von diesen selbstauferlegten Fesseln befreit, indem sie die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Kinder zunächst postuliert und dann auch empirisch nachzuweisen versucht hat. Wie bereits erwähnt wendet sie sich damit vor allem gegen den strukturfunktionalistischen Fokus auf die gelingende Anpassung der Kinder an die Welt der Erwachsenen und stellt dieser passiven Konzeption von Kindern eine Konzeption von aktiven und wirkmächtigen Kindern entgegen. Diese Vorstellung von der Wirkmächtigkeit beziehungsweise der agency von Kindern war und ist eine der programmatischen Kernannahmen der neuen soziologischen Kindheitsforschung und wurde als solche lange Zeit kaum problematisiert. Erst im letzten Jahrzehnt sind in der Forschung auch kritische Stimmen dazu aufgekommen. Die Kritik, die federführend von David Oswell und Florian Eßer vorgetragen wird (beide in Eßer 2016), ist eher eine theoretische. Sie ist hier nur insofern von Interesse, als sie auf einige wichtige Aspekte hinweist, die auch bei der unabhängigen Mobilität von Kindern eine prominente Rolle spielen. Kritisiert wurden an der bisherigen Konzeption der Wirkmächtigkeit von Kindern vor allem das Festhalten an der Dualität von Handlung und Struktur

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sowie eine Neigung zum Essentialismus. Im Hinblick auf ersteres wird der neuren soziologischen Kindheitsforschung vorgeworfen, sie hätte das im Strukturfunktionalismus angelegte Verhältnis zwischen Handlung und Struktur einfach umgekehrt, dessen Einseitigkeit aber beibehalten. Anstatt die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Strukturen habe man nun die Akteurschaft unhinterfragt in den Mittelpunkt gestellt und Kinder ausschließlich auf ihr Potenzial, die bestehenden Strukturen zu verändern hin betrachtet. Eßer und Oswell plädieren demgegenüber dafür, den Dualismus zwischen Handlung und Struktur aufzugeben und die Handlungsfähigkeit von Kindern relational zu konzipieren. Entscheidend ist dabei, dass die agency von Kindern auf diese Weise zu einer empirischen Frage wird, die jeweils in einer bestimmten sozialen Situation nachgewiesen werden muss. Sie ergibt sich aus einem konkreten sozialen Kontext, in dem beispielsweise Eltern und Kindern miteinander in Beziehung treten. Mit dieser Verankerung in einer konkreten sozialen Konstellation ist zugleich auch sichergestellt, dass die agency von Kindern nicht als eine vorsoziale anthropologische Eigenschaft betrachtet werden kann. Die Wirkungsmacht der Kinder ergibt sich aus den sozialen Beziehungen, in die Kinder eingebunden sind, sie ist keine naturgegebene Eigenschaft, die Kinder zwangsläufig in Oppostion zu den bestehenden sozialen Strukturen bringt. Diese Kritik ist sicher teilweise berechtigt, sie entwertet aber nicht automatisch die gesamte empirische Forschung zur eigenständigen Handlungsfähigkeit von Kindern, die im Rahmen der neueren soziologischen Kindheitsforschung hervorgebracht wurde. Solange diese agency empirisch anhand von konkreten sozialen Konstellationen aufgezeigt wurde und nicht essentialistisch als quasi natürliche Eigenschaft der Kinder gedeutet wurde, hat diese neue Betonung der Akteurschaft von Kindern ihre Berechtigung und auch wenig Widerspruch hervorgerufen (Drerup/Schweiger 2019, S. 21). Für meine Argumentation entscheidend ist ohnehin ein anderer Punkt. Dabei geht es eher um die oben beschriebene Perspektive, die lange Zeit in der Kindheitsforschung vorherrschend war. Sie unterstellt, dass die eigenständige Handlungsfähigkeit von Kindern immer schon vorhanden gewesen sei und man sie quasi nur wiederentdecken und zum Vorschein bringen müsse. Daher hat man gezielt gesellschaftliche Bereiche in den Blick genommen, bei denen man eine Akteurschaft von Kindern vermuten konnte. Es ging ja schließlich darum, den eigenen emanzipatorischen Aspruch einzulösen, den bisher vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme zu geben und ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zu würdigen. Mit diesem Programm reflektierte die Soziologie der Kindheit nicht zuletzt auch reale gesellschaftliche Entwicklungen. So wurde die gesellschaftliche Position von Kindern in den 1980er Jahren zum Beispiel durch die Diskussion um die Rechte der Kinder und durch reale rechtliche Veränderungen im Familien-

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recht gestärkt. Außerdem wurden Kinder, wie Michael-Sebastian Honig und Ilona Ostner (2014) zeigen konnten, nicht mehr nur als selbstverständlicher Teil der Familie wahrgenommen, sondern zunehmend als Individuen. Und schließlich werden die Rechte der Kinder 1989 sogar von den Vereinten Nationen anerkannt und in der UN-Kinderrechtskonvention dokumentiert (Baader/Eßer/ Schröer 2014). Allerdings geraten in dieser gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aufbruchstimmung Bereiche aus dem Blickfeld, in denen die Entwicklung nicht zugunsten von mehr unabhängigkeit und Eigenständigkeit von Kindern verläuft. Denn im Bereich der Mobilität kann keineswegs von einer bisher nur unterbelichteten und nur wieder neu zu entdeckenden agency von Kindern ausgegangen werden. Wenn wir es historisch betrachten, scheint hier geradezu eine gegenläufige Entwicklung im Gange zu sein. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Draußen- beziehungsweise Straßenkindheit dominierte, ist inzwischen von einer zunehmenden »Verhäuslichung« und »Institutionalisierung« der Kindheit die Rede. Erstere war gekennzeichnet von der Selbstverständlichkeit, mit der sich Kinder unabhängig von Erwachsenen in ihrem Wohnumfeld und im weiteren Umfeld ihres Stadtviertels bewegen konnten. Der Schulweg und andere Wegstrecken wurden eigenständig zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt und Kinder verbrachten viel Zeit untereinander mit sogenanntem »freien Spiel«, also ohne die Anleitung von Erwachsenen. Im öffentlichen Raum genossen Kinder ihre »Privatheit«, die darin bestand, dass sie unabhängig von der Aufsicht von Erwachsenen agieren und interagieren konnten. Für Deutschland hat beispielsweise Martha Muchow in ihrem Buch Der Lebensraum des Großstadtkindes von 1935 diese Kindheitserfahrung idealtypisch am Beispiel von Hamburg-Barmbek beschrieben (Muchow/Muchow 1935). Wie im vorigen Kapitel dargelegt, ist von dieser Freiheit und Eigenständigkeit der Kinder bis heute wenig übriggeblieben. In Deutschland wird diese Entwicklung – wie bereits erwähnt – vorwiegend als eine allgemeine zivilisatorische Tendenz zur Verhäuslichung und Institutionalisierung der Kindheit gedeutet (Zinnecker 1990; Zeiher 2009). Dies ist insofern richtig, als die allgemeine Wohlstandsentwicklung sowie die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen eine deutliche Veränderung der Kindheit bewirkt haben. So haben die Wohlstandsentwicklung und der technische Fortschritt dazu beigetragen, dass Kinder heute im Gegensatz zu früher in vielen Familien über eigene Zimmer verfügen, die zudem oft mit vielfältigen Spiel- und Beschäftigungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Insofern hat der Reiz der Straße für die Kinder sicher nachgelassen, und auch die Eltern haben weniger Gründe dafür, ihre Kinder wegen Platzmangel in der Wohnung auf die Straße zu schicken. Darüber hinaus hat die zunehmende Erwerbstätigkeit von beiden Elternteilen dazu geführt, dass der Bedarf an insti-

Raum für eine eigenständige Kindheit in der Stadt?

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tutionalisierter Betreuung von Kindern massiv angestiegen ist und in zunehmendem Maße auch befriedigt wird. Andererseits können diese allgemeinen Entwicklungen den Rückzug von Kindern aus der Öffentlichkeit ihres Wohnumfeldes und ihres Stadtviertels nicht vollständig erklären. Wie das Kapitel über die unabhängige Mobilität gezeigt hat, spielen dabei vor allem die Ängste und Sorgen der Eltern eine gewichtige Rolle. Sie führen dazu, dass diese die Freiheiten im Wohnumfeld einschränken, sie zunehmend auf ihren Wegen begleiten oder mit dem Auto zu den gewünschten Zielen bringen. So wird selbst die geringe Zeitspanne, die außerhalb der Institutionen zur Verfügung steht, noch reglementiert und von den Eltern beaufsichtigt. Zugegeben etwas zugespitzt, könnte man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte daher folgendermaßen zusammenfassen: Die Freiheit und die Privatheit, die Kinder früher im öffentlichen Raum genießen konnten, sind einer umfassenden Regulierung und einer fast durchgehenden Beaufsichtigung in institutionellen, häuslichen und aushäusigen Bereichen gewichen. Außerdem verweist die wichtige Rolle der Eltern noch einmal darauf, dass die eigenständige Handlungsfähigkeit von Kindern stets in einer konkreten sozialen Konstellation zu konzipieren ist. Gerade weil Kinder sich zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit bewegen, ist die Relation zu den jeweiligen Bezugspersonen ein entscheidender Faktor. Somit lässt sich das Paradoxon formulieren, dass wir auf der einen Seite eine theoretische Neuorientierung in der Soziologie sehen, die versucht, Kinder wieder als eigenständige handelnde Personen zu etablieren, die nicht nur an der Gestaltung des eigenen Lebens, sondern auch an der des sozialen Lebens um sie herum und der Gesellschaft allgemein aktiv und mit einer eigenen Agenda beteiligt sind. Andererseits sehen wir aber in einem wichtigen Bereich des alltäglichen Lebens von Kindern einen massiven und empirisch gut belegten Rückgang von Eigenständigkeit. Im Bereich der Mobilität bleiben die wohlklingenden Worte von der bisher unterbelichteten und nur wieder neu zu entdeckenden agency von Kindern also nur graue Theorie, in der Praxis werden viele Kinder in den westlichen Industrienationen immer abhängiger von der Mobilität ihrer Eltern und verlieren damit in einem wichtigen Bereich an Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit. Die Folgen, die damit in der einschlägigen Literatur verbunden werden, sind vielfältig. Besonders gut belegt ist vor allem der Zusammenhang mit der mangelnden Bewegung von Kindern. Zwar sind immer mehr Kinder heutzutage in Sportvereinen körperlich aktiv, aber das kompensiert die Bewegung nicht, die in der Vergangenheit beim Draußenspielen absolviert wurde. Als Konsequenz geht die körperliche Aktivität der Kinder immer mehr zurück, sodass heute nur noch knapp ein Drittel der Kinder (3–17 Jahre) das Niveau an täglicher Bewegung erreichen, das die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt (Manz et al. 2014). Die

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unabhängige Mobilität von Kindern wird aber keineswegs ausschließlich mit Bewegung und motorischen Fähigkeiten (Schoeppe 2013) von Kindern in Verbindung gebracht. Sie wird ebenso in einen positiven Zusammenhang mit der Erfahrung der Selbstwirksamkeit, der Orientierungsfähigkeit und dem Wissen über die Umwelt und der unmittelbaren Umgebung gebracht (Appleyard 2017). In einer Metastudie hat E. Owen D. Waygood den Zusammenhang zwischen der Art der Beförderung (transport) und dem Wohlbefinden untersucht und kommt zu dem Schluß, dass es vor allem die unabhängige Mobilität aus eigener Kraft ist, die einen positiven Einfluß auf das kindliche Wohlergehen hat. Kinder verbinden damit insbesondere das Treffen von Freunden in der Umgebung sowie die soziale Interaktion mit Freunden, während sie mit ihnen gemeinsam unterwegs sind (Waygood 2017).

5.

Die Vision: zurück zu einer guten und unabhängigen Kindheit in der Stadt?

Wie können wir angesichts dieser positiven Wirkungen wieder zu einer unabhängigeren Kindheit zurückfinden? Ist es überhaupt realistisch, dass Kinder sich wieder freier und unabhängiger in ihrer Wohnumgebung bewegen können und Ziele in ihrem Stadtviertel selbständig erreichen? Kann in dieser Hinsicht wieder mehr agency ermöglicht werden, um dem emanzipatorischen Ideal der modernen Kindheitsforschung auch in diesem Bereich wieder näherzukommen? Um diese Fragen beantworten zu können, sind weitere soziale und kulturelle Kontexte zu berücksichtigen, in die die kindliche agency eingebettet ist. Die Analyse der Forschungsergebnisse zur unabhängigen Mobilität hat schon deutlich gemacht, dass die Berücksichtigung der intergenerationalen Beziehungen für die Einschätzung der eigenständigen Handlungsfähigkeit von Kindern enorm wichtig ist. Wie wir gesehen haben sind es insbesondere die Eltern, die hier eine entscheidende Rolle spielen; sie prägen die generational strukturierten Verhältnisse und damit die Möglichkeiten zur Realisierung von agency. Darüber hinaus werden die kindliche Lebenswelt und damit auch ihre Handlungsfähigkeit aber selbstverständlich auch von weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst, die zunächst nicht umittelbar die unabhängige Mobilität von Kindern betreffen. Zu diesen strukturellen Rahmenbedingungen, die sich meiner Ansicht auch in Zukunft nicht grundlegend verändern werden, zählt vor allem die bereits erwähnte zunehmende Institutionalisierung von Kindern. Kinder in der für uns interessanten Altersgruppe zwischen 6 und 14 Jahren verbringen heute deutlich mehr Zeit in speziell für sie geschaffenen Einrichtungen als noch in der ersten

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Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem der Trend zur Ganztagsschule, aber auch die zunehmende Nutzung von außerschulischen institutionellen Angeboten wie Vereinen, Musikschulen, Nachhilfeangeboten und ähnlichem machen sich hier bemerkbar (Rauschenbach 2011). Dieser Trend zu einer immer umfassenderen Institutionalisierung führt dazu, dass Kinder heute weniger Zeit zu ihrer freien Verfügung haben und damit weniger Möglichkeiten zu einer unabhängigen Mobilität in ihrem Wohnumfeld beziehungsweise in ihrem Stadtviertel. Eine wichtige Ursache für diese Entwicklung ist zweifelsohne die schwindende Bedeutung des sogenannten traditionellen Familienmodells, also der Vorstellung, dass der Mann als Familienernährer einer Erwerbstätigkeit nachgeht, während sich die Frau als Hausfrau und Mutter der Familienarbeit und damit auch der Kinder widmet. Da heute zunehmend beide Partner einer Erwerbstätigkeit nachgehen, steigt der Betreuungs- und Institutionalisierungsbedarf für die Kinder. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung in Zukunft noch beschleunigen wird, da Deutschland im Hinblick auf die Frauenerwerbstätigkeit im Vergleich zu anderen westlichen Industriestaaten (USA, Schweden) eher noch Nachholbedarf hat (Pfau-Effinger 2012). Insofern ist nicht davon auszugehen, dass die zunehmende Institutionalisierung aufgehalten werden kann. Dies wäre nur zum Preis einer Retraditionalisierung der Gesellschaft möglich, die aber gegenwärtig nicht einmal mehr von konservativen Parteien ernsthaft gefordert wird. Lösungen, die Kindern mehr Freiraum verschaffen sollen, müssen also vermehrt innerhalb der Institutionen selbst gesucht werden, in denen Kinder einen wesentlichen Teil ihre Zeit verbringen. Eine zweite wichtige strukturelle Rahmenbedingung ist die demographische Entwicklung. Die Familie mit Kindern wird zu der Lebensform einer Minderheit, da die Anzahl der Haushalte ohne Kinder stetig zunimmt (Statistisches Bundesamt 2019, S. 23). Wenn Kinder heute auf die Straße gehen, treffen sie daher auf deutlich weniger Gleichaltrige als noch vor einigen Jahrzehnten. Während 1960 noch ungefähr ein Drittel der Bevölkerung unter 20 Jahre alt war, ist es heute nur noch ungefähr ein Fünftel (Grünheid/Fiedle 2013, S. 12). Damit sinken die Chancen, im eigenen Stadtviertel auf andere Kinder zu treffen, mit denen man gemeinsam spielen oder umherstreifen könnte. Verschärft wird die Situation noch dadurch, dass allgemein weniger Kinder draußen spielen, da sie weniger Zeit und Gelegenheit dazu haben (siehe erste und dritte strukturelle Rahmenbedingung). Zwar könnte ersterer Effekt durch die Konzentration von Haushalten mit Kindern in bestimmten Stadtvierteln kompensiert worden sein, aber dazu liegen mir keine eindeutigen Daten vor. Die dritte strukturelle Rahmenbedingung, die es in den Zukunftsvisionen für eine gute und selbstständigere Kindheit in der Stadt zu berücksichtigen gilt, ist die allgemeine Wohlstandsentwicklung und die zunehmende Technisierung der Haushalte. Dazu nur kurz: Die allgemeine Wohlstandsentwicklung hat nicht nur

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dazu geführt, dass wir heute mehr als doppelt so viel Wohnraum pro Person zur Verfügung haben wie noch 1960, sondern sie hat den meisten heutigen Kindern auch einen eigenen Rückzugsort verschafft, der ihnen Ungestörtheit, Privatheit und Selbstentfaltung ermöglicht. Das Kinderzimmer ist eine relativ neue Erfindung und hat sich im deutschsprachigen Raum erst nach dem Zweiten Weltkrieg für breite Bevölkerungsschichten durchgesetzt (Gehrke-Riedlin 2002, S. 72). Die Möglichkeit, Privatheit zu genießen und frei zu spielen, war Kindern bis dahin nur auf der Straße möglich. Ergänzend dazu führt die zunehmende Ausstattung der Haushalte mit elektronischen Unterhaltungsmedien dazu, dass man sich ohne die Wohnung beziehungsweise das Kinderzimmer zu verlassen, hervorragend zu Hause beschäftigen kann. Inzwischen sind sogar der soziale Austausch sowie das gemeinsame Spielen ohne physische Präsenz der Freunde möglich. Insofern stellt sich natürlich auch die Frage, ob das Kinderzimmer mit seiner elektronischen Ausrüstung (Spielekonsole, Smartphone, etc.) für die Kinder nicht zu einem funktionalen Äquivalent für das Spielen im Freien geworden ist. Das führt uns wieder zu meinem Ausgangspunkt in der Einleitung zurück. Dort habe ich mit der Andeutung begonnen, dass sich das Verhältnis der Kinder zum Draußenspielen grundsätzlich gewandelt haben könnte. Das kann man einerseits an der Quantität des Draußenspiels festmachen: Während früher das Spielen in der unmittelbaren Wohnumgebung und in dem eigenen Stadtviertel noch selbstverständlich war, spielt heute die Hälfte der Kinder nicht mehr mehrmals wöchentlich draußen (Blinkert 2015). Die Ursachen dafür sind vielfältig, wie ich bereits versucht habe zu zeigen. Allerdings fällt bei der Durchsicht der Literatur zu diesem Thema auf, dass es zwar sehr viele Studien gibt, die diesen Rückgang beschreiben und eine ganze Reihe von Ursachen und Folgen aufzeigen, dass aber die Haltung der Kinder selbst nur äußerst selten ermittelt wird. Wir wissen also nur sehr wenig darüber, wie stark Kinder heutzutage überhaupt noch den Wunsch verspüren, draußen in ihrer Wohnumgebung unabhängig mobil zu sein, oder wie sie zu ihrer zunehmenden Abhängigkeit von der Mobilität ihrer Eltern stehen (Coulton/Spilsbury 2014; Fegter 2014; McKendrick 2014). Damit ergibt sich ein weiteres Paradoxon, das dringend weiterer Forschung bedarf: Obwohl die Kindheitsforschung die eigenständige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Kinder betont, wissen wir nur sehr wenig darüber, wie die Intentionen der Kinder ihre unabhängige Mobilität beeinflussen. Vorbehaltlich dieser Forschungsergebnisse zu den Intentionen der Kinder selbst, möchte ich angesichts der oben erwähnten positiven Effekte hier einige Vorschläge für die Vision von einer Kindheit präsentieren, in der unabhängige Mobilität und die eigenständige Erkundung der Wohnumgebung wieder wahrscheinlicher und attraktiver werden können: – Verbindliche Draußenschule einmal in der Woche, wie in vielen skandinavischen und angelsächsischen Ländern üblich. Die Draußenschule muss dabei

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nicht notwendig eine Veränderung oder Erweiterung des Curriculums bedeuten, vielmehr sollte regulärer Unterricht auf eine andere Weise und in einer anderen Umgebung stattfinden. Erweiterte und verstetigte Mobilitätserziehung und Radfahrausbildung. Die Radfahrausbildung in der vierten Klasse sollte der Start- und nicht der Endpunkt für eine Mobilitätserziehung sein. In Kombination mit der Draußenschule kann Lust auf Mobilität konkret erfahrbar werden. Aufklärung und Information der Eltern. Auch die Eltern sollten eine Mobilitätserziehung erhalten, sie sollten über die realen Gefahren für ihre Kinder im Straßenverkehr und durch Fremde aufgeklärt werden. In beiden Bereichen gibt es ermutigende Informationen, die Eltern viele Bedenken nehmen können. Die Vorbildfunktion der Eltern nutzen. Kinder werden nur dann wieder Lust am eigenständigen Erkunden ihrer Umgebung entwickeln, wenn es ihnen durch die Eltern vorgelebt wird. Eltern sollten die möglichen Konsequenzen einer verminderten unabhängigen Mobilität von Kindern verdeutlicht werden. Mehr Vertrauen in die Aneignungsfähigkeit der Kinder. Kinder können sich in der Regel auch in einer suboptimalen Umgebung Freiräume schaffen. Sie brauchen dazu die Unterstützung und das Vertrauen der Eltern. Mehr Freiräume für Kinder in der Stadt schaffen. Damit schließe ich mich einer Forderung an, die das Ergebnis von fast allen Studien über die unabhängige Mobilität von Kindern ist. Insbesondere sollten die Freiräume mit den Kindern zusammen geplant und umgesetzt werden (Eisinger 2012). Vor allem aber mehr Freiräume in den speziellen Einrichtungen für Kinder schaffen. Da Kinder immer mehr Zeit in der Schule, im Hort und in Vereinen verbringen, kommt es darauf an, den Kindern auch dort Freiräume für eigenständige Aktivitäten zu schaffen. Auch hier sollten bei der Umsetzung vor allem die Kinder (aber auch die Eltern) partizipieren. Kinder aktiv in ihrem Stadtviertel verankern. Vor allem den kleineren Kindern ein Grundvertrauen in die Erkundung der Wohnumgebung vermitteln, ihnen entsprechende (auch spontane) soziale Kontakte ermöglichen und vorleben.

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Yasemin Niephaus / Jan David Hesmer / Mira Hölzemann / Constantin Senst*

Soziale Arbeit: Visionen für eine solidarische Gesellschaft

1.

Einleitung

Dieser Beitrag ist aus einer Soziologieveranstaltung hervorgegangen, die im Wintersemester 2019/20 an der Universität Siegen für Studierende der Sozialen Arbeit stattgefunden hat, und wird in Autorengemeinschaft der Seminarleiterin und drei Studierender verfasst. Gegenstand der Veranstaltung waren soziale Ungleichheiten, also die systematische Ungleichverteilung wertvoller Güter (Hradil 2005). Der Ausschluss von wertvollen Gütern wiederum ist zumeist charakteristisch für die Personengruppen, die die Angebote der Sozialen Arbeit in Anspruch nehmen. Der internationalen Definition der Sozialen Arbeit (DBSH o. J.) folgend, sind diese Hilfsangebote eingebettet in einen größeren Kontext der Förderung gesellschaftlicher Veränderungen, sozialer Entwicklungen und des sozialen Zusammenhalts wie auch der Stärkung der Autonomie und der Selbstbestimmung der Menschen. In den Seminargesprächen zu den Möglichkeiten der Sozialen Arbeit, soziale Ungleichheiten zu mildern wie auch Autonomie und Selbstbestimmung der von Ungleichheitsverhältnissen negativ Betroffenen zu stärken, wurde von Studierendenseite immer wieder kritisch angemerkt, dass es für die Soziale Arbeit schwierig ist, individuelle Autonomie und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu fördern, wenn den auf die Hilfe Angewiesenen von außen, quasi vom Rest der Gesellschaft, nicht das Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt werde. Die Studierenden begründeten ihre Kritik mit ihren Erfahrungen in der * PD Dr. Yasemin Niephaus (Akademische Oberrätin), Universität Siegen, Fakultät I (Philosophische Fakultät), Seminar für Sozialwissenschaften. Jan David Hesmer, Student, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit. Mira Hölzemann, Studentin, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit. Constantin Senst, Student, Universität Siegen, Fakultät II (Bildung – Architektur – Künste), Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit.

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Sozialen Arbeit dazu, wie sowohl individuelle Autonomie als auch Selbstbestimmung auf ein Gegenüber angewiesen sind und wie, unabhängig von der sozialen Lage, dem Gegenüber Wertschätzung entgegengebracht und Solidarität praktiziert werden. Daraus folgt, dass Soziale Arbeit, wenn sie zur Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen beitragen will, an der Herstellung einer solidarischen Gesellschaft mitwirken sollte. Mit der Frage, wie ihr dies gelingen kann, wird sich der Beitrag beschäftigen. In einem ersten Schritt wird das Konzept der Solidarität inhaltlich gefüllt. Hierfür wird auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth zurückgegriffen, aus der einige Überlegungen präsentiert werden, um sie anschließend in das Koordinatensystem der soziologischen Ungleichheitsforschung zu überführen (Kapitel 2). Für die Frage, wie es der Sozialen Arbeit gelingen kann, an der Herstellung einer solidarischen Gesellschaft mitzuwirken und die notwendige erfahrungswissenschaftliche Basis zu schaffen, wird die Ungleichsforschung herangezogen. Im folgenden Schritt werden die Platzierung der Sozialen Arbeit im sozialstaatlichen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt sowie auch ihre Rolle bei der Bearbeitung sozialer Ungleichheit. In diesen Kontext fließen die Erfahrungsberichte von Studierenden der Sozialen Arbeit aus der Praxis der Sozialen Arbeit ein (Kapitel 3). Im Kapitel 4 werden die Erfahrungsberichte der Studierenden mit den Anforderungen an die Soziale Arbeit für eine solidarische Gesellschaft kontrastiert und Vorschläge für eine Soziale Arbeit formuliert, die sich der Vision einer solidarischen Gesellschaft verpflichtet fühlt. Abschließend werden die Überlegungen im Hinblick auf eine zu führende gesamtgesellschaftliche Diskussionen zusammengefasst (Kapitel 5).

2.

Solidarität und soziale Ungleichheit

Wie einleitend bemerkt, soll die Anerkennungstheorie von Honneth für eine auf die Herstellung von Solidarität angewiesene Soziale Arbeit aufgezeigt und in Zusammenhang mit der soziologischen Ungleichsforschung gebracht werden.

2.1

Solidarität als Anerkennung

Honneth greift in seiner Anerkennungstheorie die Hegelsche Denkfigur des Kampfes um Anerkennung auf, verfolgt George Herbert Meads Befassung mit dieser Denkfigur und platziert sie schließlich selbst am Anfang einer von ihm angestrebten »normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie« (Honneth 2018, S. 7), welche den Erfordernissen nachmetaphysischen Denkens gerecht werden soll.

Soziale Arbeit: Visionen für eine solidarische Gesellschaft

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Dieser Weg, den Honneth ausgehend von Hegel über die Sozialpsychologie Meads einschlägt, soll an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden. Unser Interesse gilt dem Konzept der Anerkennung in der Ausarbeitung von Honneth. Über diese sagt er, dass sie nicht nur zu einem »praktischen Selbstverhältnis« (Honneth 2018, S. 148) der Individuen führt, sondern auch deren gesellschaftlichen Zusammenschluss ermöglicht. Anerkennung ist hier immer als wechselseitige Anerkennung zu denken. Sie tritt in drei Formen auf (Honneth 2018, S. 151): Der »emotionalen Zuwendung«, der »rechtlichen Anerkennung« und der »sozialen Wertschätzung«. Emotionale Zuwendung in der Form von Liebe und Freundschaft, rechtliche Anerkennung in der Form des Rechts und die soziale Wertschätzung, lange verhandelt unter dem Begriff der Ehre, stellen drei Formen der Anerkennung dar, welche korrespondieren mit zunehmenden Graden subjektiver Autonomie bei Hegel und bei Mead mit einer schrittweisen Zunahme der »positiven Beziehung der Person auf sich selber« (Honneth 2018, S. 151). In der Liebe erfährt die Person, zunächst als Kind, Anerkennung durch die Eltern und lernt so, seine Bedürfnisstruktur als gerechtfertigt zu betrachten. Im Recht erfahren wir alle Anerkennung unter den Vorzeichen einer universalen Gleichheit. Soziale Wertschätzung galt bis in die Moderne nicht dem Einzelnen, sondern einem Kollektiv, dem sich die Person zugehörig fühlen konnte, was sich mit dem Übergang in die Moderne änderte: »Nunmehr tritt das Subjekt als eine lebensgeschichtlich individuierte Größe in das umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung ein.« (Honneth 2018, S. 202)

Während Hegel das Konzept der Sittlichkeit als »Organisationsmuster der sozialen Wertschätzung« (Honneth 2018, S. 207) benennt und Mead auf die Vorstellung einer »demokratischen Arbeitsteilung« (Honneth 2018, S. 207) zurückgreift, empfiehlt Honneth als Oberbegriff zur Kennzeichnung des Organisationsmusters sozialer Wertschätzung in der Moderne das Konzept der Solidarität, welches er definiert als ein »Interaktionsverhältnis wechselseitiger Anteilnahme« (Honneth 2018, S. 208). Unter modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, so Honneth, geht »mit der Erfahrung sozialer Wertschätzung ein gefühlsmäßiges Vertrauen darin einher, Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als ›wertvoll‹ anerkannt werden« (Honneth 2018, S. 209, Hervorhebung im Original). Dies lässt sich als Versuch verstehen, den Anderen in seinem Sein – vielleicht auch in seinem Sosein – zu sehen, ohne daran Fragen der Wertigkeit und Klassifizierbarkeit zu richten. Denn Klassifikationen, das wiederum weiß die Soziologie sozialer Ungleichheit, verfestigen Ungleichheiten. Honneth weist zudem auf die Wertgebundenheit einer modernen, soll hier heißen, aus ständischen Gebundenheiten befreiten Solidarität hin. Dabei geht es um nichts weniger als die Frage nach den normativen Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft. Auch über diese kann die soziologische

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Ungleichheitsforschung informieren, insofern sie aufzuzeigen vermag, dass Bewertungen und Klassifikationen letztendlich Ableitungen solcher normativer Ordnungsprinzipien sind.

2.2

Soziale Ungleichheit

In den Blick der Soziologie geraten Ungleichheiten dann, wenn es sich um sozial bedingte Ungleichheiten, das heißt um gesellschaftlich verursachte Ungleichheiten handelt, wodurch sie wiederum einer gewissen Regelmäßigkeit unterworfenen sind. »›Soziale Ungleichheit‹ liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ›wertvollen Gütern‹ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten« (Hardil 2005, S. 30, Hervorhebung im Original). In der Soziologie gelten die Stellungen in sozialen Beziehungsgefügen als soziale Positionen. Sie stellen der obigen Definition folgend die Determinanten sozialer Ungleichheit dar, während die wertvollen Güter die Dimensionen sozialer Ungleichheit ausmachen. Zu ergründen, über welche gesellschaftlichen Mechanismen Determinanten und Dimensionen miteinander verbunden sind, ist die Aufgabe einer gesellschaftstheoretisch angeleiteten soziologischen Ungleichheitsforschung (vgl. Niephaus 2018a). Ein prominenter Vertreter der soziologischen Ungleichheitsforschung ist der französische Soziologe Pierre Bourdieu. In seinen Arbeiten (Bourdieu 1987) machte er darauf aufmerksam, dass die Determinanten sozialer Ungleichheit nicht allein objektiver Art sind, sondern auch symbolischer Art, und diese sich in positiven wie auch negativen Bewertungen und Klassifikationen äußern. Neckel und Sutterlüty weisen darauf hin, dass »es etwa einen bedeutenden Unterschied (macht), ob materielle Armut mit Bewertungen verbunden ist, die Solidarität einfordern, oder mit solchen, die Armut zum Anlass von Diffamierungen werden lassen« (Neckel/Sutterlüty 2010, S. 218). Daraus folgt, dass »die Rangstellung in der Gesellschaft nicht allein von objektiv verfügbaren Ressourcen abhängig ist, sondern davon, welche Bewertung diese erfahren« (Neckel/Sutterlüty 2010, S. 218). Als negative Bewertung bringen sie Missachtung zum Ausdruck und als positive Bewertung Anerkennung oder anerkennungstheoretisch gewendet: soziale Wertschätzung. Negative wie auch positive Bewertungen haben ihren Ursprung in Institutionen, Massenmedien und politischen Arenen und werden konkretisiert und zur Anwendung gebracht in den lebensweltlichen Bezügen des alltäglichen Interaktionsgeschehens zwischen Menschen (vgl. Neckel/Sutterlüty 2010, S. 221). Für die Ungleichheitsforschung gilt es also als ausgemacht, dass die objektiv festgestellte Ungleichheitsstruktur begleitet wird durch eine symbolische, welche

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nun – und das ist bedeutsam für die von Honneth aufgeworfene Frage der Wertgebundenheit sozialer Wertschätzung – gekoppelt ist an Werte und Normen, die Institutionen, wie die des Sozialstaates, in den die Soziale Arbeit eingebettet ist, begründen. Wenn also in den letzten Jahren zu beobachten war, dass der im Sozialstaatsmodell verankerte Gedanke der Solidarität zugunsten des Gedankens der Subsidiarität an Bedeutung verliert und die negative Betroffenheit von sozialer Ungleichheit entsprechend als selbstverschuldet gedeutet wird (Niephaus 2018b), sind damit negative Klassifikationen verbunden, die Wertschätzung verweigern, Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und damit letztendlich Autonomie und Selbstbestimmung verhindern. Bourdieu wie auch Honneth sehen, dass es sich bei den genannten Prozessen des Klassifizierens und Bewertens um Prozesse der symbolischen Gewalt handelt (vgl. Niephaus 2019).

3.

Soziale Arbeit und ihre Praxis

Bereits bei Hegel ist die gesellschaftliche Sphäre, die der Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung zugehörig ist, der Staat (vgl. Honneth 2018). Möglicherweise drängt sich diese Verbindung unter Berücksichtigung von Sozialstaatlichkeit noch eindeutiger auf. Die Frage nach der Bedeutung von Sozialer Arbeit als Teil von Sozialstaatlichkeit für soziale Wertschätzung im Organisationsmuster der Solidarität ist definiert als wechselseitige Anteilnahme. Nachfolgend sollen die Bedeutung der Sozialen Arbeit innerhalb des deutschen Sozialstaats aufgezeigt und ihre Praxis aus der Perspektive der Studierenden dargestellt werden.

3.1

Soziale Arbeit im Sozialstaat

Soziale Arbeit in Deutschland ist Teil von Sozialpolitik, welche wiederum in einem Miteinander verschiedener Institutionen und Organisationen, wie dem Bildungswesen, dem Tarifvertragswesen, dem Steuersystem, um nur einige zu nennen, Sozialstaatlichkeit ausmacht (Bäcker et al. 2010a). Blicken wir zunächst auf Sozialpolitik. Bei diesem Politikfeld handelt es sich um »Maßnahmen, Leistungen und Dienste, die darauf abzielen, – dem Eintreten sozialer Risiken und Probleme vorzubeugen, – die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger dazu befähigt werden, soziale Probleme zu bewältigen, – die Wirkungen sozialer Probleme auszugleichen und – die Lebenslage einzelner Personen und Personengruppen zu sichern und auszugleichen« (Bäcker et al. 2010a, S. 43).

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Die genannten Punkte thematisieren in mehr oder weniger starkem Ausmaß die Zuständigkeit staatlicher Sozialpolitik für die Milderung sozialer Ungleichheiten. Die der Sozialpolitik dafür zur Verfügung stehenden Maßnahmen, Leistungen und Dienste sind einer Vielzahl von Bereichen zugehörig, wie der Arbeitsmarktpolitik, dem Arbeitsschutz und anderen mehr – sowie eben dem Sozialwesen. Dieses hebt sich insofern von den anderen Bereichen der Sozialpolitik ab, als es nicht über die Bereitstellung von Geldmitteln an der Lösung und Linderung von Bedarfs- und Notlagen mitwirkt, sondern durch personenorientierte Leistungen (vgl. Bäcker et al. 2010b). Die Problemlagen und Anlässe, in denen Sozialpolitik greift, sind vielfältig und reichen von der Kinderbetreuung bis zu Sucht und seelischen Notlagen. Zu ihren Zielgruppen zählen Kinder und Jugendliche, Ältere, Behinderte, Pflegebedürftige, Migrantinnen und Migranten wie auch Flüchtlinge, Wohnungs- und Arbeitslose (vgl. Bäcker et al. 2010a). Bäcker et. al (2010b, S. 506) fügen ihrer Aufzählung von Problemlagen und Anlässen wie auch Zielgruppen eine Auflistung der Handlungsformen Sozialer Arbeit hinzu: »Unterrichten und Erziehen, Beraten und Informieren, Betreuen und Versorgen, Behandeln, Pflegen, Rehabilitieren, Therapieren, Hilfe bei häuslichen Verrichtungen und emotionale Unterstützung«. Die genannten Handlungsformen richten sich an die Zielgruppen der Sozialen Arbeit, um sie zu befähigen, ein autonomes und selbstbestimmtes Leben zu führen. Vor dem Hintergrund der anerkennungstheoretischen Annahmen Honneths kann dies jedoch nur bedingt gelingen, da sowohl ein autonomes wie auch selbstbestimmtes Leben angewiesen sind auf soziale Wertschätzung, die wir von anderen erhalten im Sinne einer wechselseitigen Anteilnahme (vgl. Honneth 2018) – nicht nur von den Professionellen der Sozialen Arbeit, sondern auch von den Teilen der Gesellschaft, die nicht zum Adressatenkreis der Sozialen Arbeit gehören.

3.2

Die Praxis der Sozialen Arbeit

Die nachfolgend vorgestellten Praxisberichte aus drei Tätigkeitsbereichen der Sozialen Arbeit – Behindertenhilfe (Mira Hölzemann), Jugendarbeit im kirchlichen Kontext (Jan David Hesmer) und Schulsozialarbeit (Constantin Senst) – dürfen durchaus als Beitrag zur Erstellung einer empirischen Basis für die Beurteilung des Beitrags der Sozialen Arbeit zu einer solidarischen Gesellschaft gelesen werden. Bei der Beurteilung der Praxisberichte und den aus ihnen gezogenen Schlüssen muss jedoch beachtet werden, dass sie aufgrund der eigenen Erfahrung und nicht im Kontext wissenschaftlicher Reflexionsmethoden entstanden sind. Die Praxisberichte sind zu lesen als Beiträge für den Diskurs über die Frage, ob die Praxis der Sozialen Arbeit dazu angetan ist, soziale Wert-

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schätzung im Rahmen einer Interaktionsbeziehung über die Grenzen von im Ungleichheitsgefüge auszumachenden sozialen Gruppen zu ermöglichen. Die genannten Bereiche unterscheiden sich formal-juristisch insofern, als der Schulsozialarbeit eine klare rechtliche Verankerung fehlt. Die Jugendarbeit dagegen wird explizit im Buch VIII des Sozialgesetzbuches (SGB), kurz SGB VIII, als Teil der Jugendhilfe aufgeführt. Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung verfügt über eine eindeutige rechtliche Verankerung. Sie erfolgt in SGB IX. Darüber hinaus unterscheiden sich die genannten Bereiche dadurch, dass sie nicht gleichermaßen Menschen in sozialen Problemlagen zu ihrem Adressatenkreis zählen. Während dies für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung uneingeschränkt gilt, ist dies weder für die Schulsozialarbeit noch für die Jugendarbeit der Regelfall. Die Beispiele verdeutlichen das außerordentlich breite und vielfältige Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Diese Vielfalt spiegelt sich in den nachfolgenden Erfahrungsberichten wider. 3.2.1 Praxisbericht 1: Arbeit mit Menschen mit Behinderungen Im Hinblick auf die Vision den auf die Hilfsangebote der Sozialen Arbeit Angewiesenen umfassende Wertschätzung zukommen zu lassen und damit den Weg hin zu einer solidarischen Gesellschaft zu ebnen, werde ich an dieser Stelle die Perspektive auf das sozialarbeiterische Feld der Behindertenhilfe richten. Im Zuge meiner Tätigkeit als ergänzende Assistenzkraft bei einem regionalen Träger, erhielt ich einige Einblicke in den Alltag von Menschen mit Behinderung. Die Philosophie des Vereins bei dem ich beschäftigt war, beruht auf dem Leitgedanken, allen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Alter und ihrer Behinderung gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und damit ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Im Unterschied zu anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe, die häufig auf stationäre Hilfsangebote setzen, ist das Ziel des Vereins, die Menschen auf ihrem Weg hin zu Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu unterstützen. Unter der Vorgabe, nicht Sondereinrichtungen wie Wohnheime, Behindertenwerkstätten oder Sonderschulen als erste und einzig mögliche Hilfeinstanzen zu nutzen, sollen sie selbst entscheiden, wie sie wohnen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Die in diesen Kontext eingebettete Vision des Vereins gilt der Idee, der Gesellschaft neue Wege der Teilhabe von behinderten Menschen aufzuzeigen und somit zu einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess beizutragen. Das Leitbild und die Vision des Vereins halte ich für ein positives Beispiel für eine auf eine solidarische Gesellschaft ausgerichtete Soziale Arbeit. Dennoch stellt sich die Frage, ob dies auch in der Praxis umsetzbar ist und tatsächlich auch dazu führt, dass den Menschen mit Behinderung mehr gesellschaftliche Wertschätzung zukommt und somit für diese Personengruppe mehr Autonomie und Selbstbestimmung möglich sowie Zugehörigkeit erfahrbar

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werden. Um die Frage einer Antwort zuzuführen, werde ich von meinen Erfahrungen aus der Praxis berichten. Als ergänzende Assistenzkraft begleitete und unterstützte ich Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen bei alltäglichen Erledigungen und begleitete sie bei ihren Freizeitunternehmungen. Während dieser Tätigkeiten ist mir aufgefallen, dass die Interaktion mit anderen Menschen oder – umgangssprachlich formuliert – das Gefühl, Teil des ganz »normalen« Alltagsgeschehens zu sein, einen hohen Stellenwert für die Menschen mit Behinderung besitzt. Deutlich wurde mir aber auch, dass in der Gesellschaft sehr unterschiedlich auf geistig oder körperlich Beeinträchtigte reagiert wird. Dabei spielt das Setting, nicht allein verstanden im Sinne von Barrierefreiheit, sondern durchaus auch die interagierenden Personen berücksichtigend, eine wichtige Rolle. Denn vornehmlich an den Orten und in den Einrichtungen, die von behinderten Menschen regelmäßig besucht werden, stellt sich der Umgang als ein anderer dar, als an den Orten, die eher selten von behinderten Menschen besucht werden. Für mich taten sich so verschiedene gesellschaftliche Räume auf: Solche, die mehr oder weniger sensibilisiert im Umgang mit Behinderten sind. Dies waren vornehmlich Orte, in deren Nähe sich viele Einrichtungen der Behindertenhilfe befanden. Hier erlebte ich den Umgang mit beeinträchtigen Menschen als wertschätzend: Man kannte sich, sprach sich beim Vornamen an und ging unvoreingenommen aufeinander zu. In anderen eher selten von behinderten Menschen besuchten Orten, erlebte ich dagegen weniger Wertschätzung: Man ging auf soziale Distanz, Unsicherheit oder ein »Nicht-Zutrauen« von Autonomie prägten die Interaktion. Mir selbst ist in meiner Assistenztätigkeit deutlich geworden, welche Rolle gesellschaftliche Wertschätzung in Form eines aufgeklärten und sensibilisierten Umgangs und die Integration in das »normale« Alltagsgeschehen für behinderte Menschen spielen. Ebenso wurde deutlich, wie unterschiedlich sich der soziale Umgang mit behinderten Menschen darstellen kann. 3.2.2 Praxisbericht 2: Jugendarbeit Im Unterschied zu anderen Tätigkeitsbereichen der Sozialen Arbeit ist Jugendarbeit nicht nur als ein Angebot für junge Menschen zu verstehen, die sich in individuellen und/oder familiären Problemlagen befinden. Zwar können auch Kinder und Jugendliche die Angebote der Jugendarbeit annehmen, die sich in solchen Problemlagen befinden, doch prinzipiell ist Jugendarbeit für alle Kinder und Jugendlichen offen. Neben ihrer Offenheit ist ihr freiwilliger Charakter maßgeblich. Die Faktoren der Offenheit und Freiwilligkeit sind für die Offene Kinder- und Jugendarbeit elementar und sollen einen Raum schaffen, »in den jeder hinein und hinaus kann und für den keine Zugangsberechtigung bei-

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253

spielsweise durch eine verbindliche Anmeldung erforderlich ist« (Seckinger et al. 2016, S. 14). Die Merkmale der Offenheit und Freiwilligkeit sind auch für die Jugendarbeit im kirchlichen Kontext, in der ich auf ehrenamtlicher Basis mitarbeite, maßgeblich. Die Kirchengemeinde, in der ich tätig bin, bietet für verschiedene Zielgruppen wöchentliche und monatliche Angebote an. Bei den Angeboten handelt es sich sowohl um geschlechterübergreifende Angebote als auch solche geschlechtsspezifischer Art. Der Altersrahmen der Angebote ist zumeist ein offener. Ein Punkt, der in der inhaltlichen Gestaltung der Angebote eine große Rolle spielt, ist die Vermittlung religiöser Inhalte. Die Angebote werden außerdem oft mit verschiedensten spielerischen Inhalten für die Kinder und Jugendlichen gefüllt. Diese werden von den Mitarbeitenden vorbereitet und an das Interesse und die Vorschläge der Teilnehmenden angepasst. Die Mitarbeitenden sind fast immer ehemalige Teilnehmende von irgendeiner Angebotsform der Kirchengemeinde. Bei dem gemeinsamen Treffen wird dann häufig darüber entschieden, ob die Ideen der Mitarbeiter umgesetzt werden. Wenn daran kein Interesse besteht, wird gemeinsam eine Alternative erarbeitet. Was genau Inhalt ist, hängt stark von dem Alter der Teilnehmenden zusammen. Je älter die Teilnehmenden sind, desto eher kann das Angebot in der Herstellung der Möglichkeit einer diskursiven Auseinandersetzung mit bestimmten Themen bestehen. Aufgrund der genannten Rahmung der Jugendarbeit im kirchlichen Kontext ist zu beobachten, dass es sich bei den sich bildenden Gruppen um recht homogene soziale Gebilde nicht allein entlang der Merkmale Alter und Geschlecht handelt, sondern auch entlang der Merkmale der religiösen Zugehörigkeit wie auch der sozialen Herkunft. Es ist mir allerdings aufgefallen, dass die Gruppen der jüngeren Kinder sozial heterogener sind als die Gruppen der Jugendlichen. Mit Blick auf unsere Visionen des Beitrags der Sozialen Arbeit für eine solidarische Gesellschaft würde ich nichtsdestotrotz sagen, dass es aufgrund der aufgezeigten sozialen Homogenität der Gruppen, mit denen die Jugendarbeit im kirchlichen Kontext zu tun, im Regelfall nicht notwendig ist, innerhalb der Gruppen wechselseitige Anteilnahme einzuüben, da diese durch die regelmäßigen gemeinsamen Aktivitäten und die interindividuellen Ähnlichkeiten häufig bereits schnell vorliegen kann. Und dennoch meine ich, könnte sich auch die Jugendarbeit im kirchlichen Kontext an der Aufgabe beteiligen, dieses Anliegen in größerem Umfang zu verfolgen.

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3.2.3 Praxisbericht 3: Schulsozialarbeit Im Zuge der wachsenden Heterogenität in Kinder- und Schülergruppen hat die Schulsozialarbeit, als ein Arbeitsfeld der Jugendhilfe, in den letzten Jahrzehnten sukzessive an Bedeutung gewonnen. Dabei hat sie sich mit Hilfe von Qualitätsund Evaluationsdebatten zu einer Profession entwickelt, die gegenwärtig in vielen Schulformen Berücksichtigung findet. Gleichwohl fehlt es nach wie vor an einer einheitlichen Definition, welche die Aufgaben und Herausforderungen der Schulsozialarbeit klar benennt. Dies resultiert zum einen aus dem komplexen organisatorischen und institutionellen Umfeld, in welches die Schulsozialarbeit – wie kaum eine andere Disziplin der Sozialen Arbeit – eingebunden ist (vgl. Just 2017, S. 8). Zudem ist die Schulsozialarbeit in zwei rechtlichen Kontexten verankert: dem Sozialgesetzbuch (SGB VIII) und den Schulgesetzen der Länder. Angesichts dessen wundert es nicht, dass es zahlreiche Definitionen gibt, die sich inhaltlich zum Teil deutlich unterscheiden, wie die beiden nachfolgenden Beispiele zeigen. »Schulsozialarbeit ist eine Form der Jugendhilfe, verortet in der Schule, einer wichtigen Sozialisationsinstanz für junge Menschen. Schulsozialarbeit ist insofern ein infrastrukturelles Element in der Schule. Sie setzt dort an wo sozialpädagogische bzw. sozialarbeiterische Kompetenzen erforderlich sind, wo psychosoziale Bedingungen und Belastungen Lernen unmöglich machen, wo soziale Ausgrenzungen drohen oder bestehen, wo die Entwicklung von sozialen Kompetenzen zu unterstützen ist, wo es der personenorientierten Hilfen zum Übergang in Ausbildung und Beschäftigung bedarf und zuweilen auch wo die Entwicklung eines entwicklungsfördernden Schulklimas zu unterstützen ist.« (Ludewig/Paar 2001, zitiert nach Speck 2020, S. 42) »In der Schule ist eine zweite professionelle Kompetenz nötig als Schulsozialarbeit, die auf der Mikro-, Meso-, und Makroebene tätig ist, auch als intermediäre Instanz, die niedrigschwellige Angebote schafft, eigene Räume anbieten kann, an der Organisationsentwicklung von Schule mitwirkt und sozialpädagogische Verfahren (z. B. biographische Diagnostik) einbringt. Dies gilt für alle, nicht nur für belastete Schulen.« (Homfeldt/Schulze-Krüdener 2001, zitiert nach Speck 2020, S. 41)

Als angehender Sozialarbeiter begleite ich seit etwa zwei Jahren Schülerinnen und Schüler an einer nordrheinwestfälischen Gesamtschule. Beim Schuleintritt soll diese Schule für alle (sozial und ethnisch heterogene Schülerschaft) den Kindern mit den unterschiedlichsten Schulempfehlungen den bestmöglichen Abschluss ermöglichen, ohne dabei die schulische Laufbahn von Beginn an festzulegen. Dadurch sind verschiedene Abschlüsse zu erreichen (Abitur, Fachhochschulreife, Fachoberschulreife, Hauptschulabschluss und Abschlüsse der Förderschule). Schwerpunkte wie Inklusion, individuelle Förderung und gemeinsames Lernen schaffen die Rahmenbedingungen für eine barrierefreie Bildungseinrichtung, in der Kinder mit und ohne Behinderung möglichst nach ihren Stärken

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und Schwächen gefordert und gefördert werden. So fielen mir schon zu Beginn meiner Arbeit vor allem die ausgeprägten sozialen Kompetenzen der Kinder auf, die mit einer gewissen Leichtigkeit und Routine ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit Beeinträchtigungen in den schulischen Alltag inkludierten. Aber auch die Lehrerinnen und Lehrer machten auf mich den Eindruck, als gestalteten sie einen schülerzentrierten Unterricht, in dem der Inklusionsgedanke Berücksichtigung findet (z. B. Einteilung heterogener Gruppen bei Gruppenarbeiten, sodass leistungsschwache Schülerinnen und Schüler von leistungsstarken profitieren konnten und gleichzeitig einer Cliquenbildung vorgebeugt wurde). Dieses Sozialverhalten der Jugendlichen in Wechselwirkung mit der inklusiven Unterrichtsgestaltung der Lehrkräfte trug zu einer förderlichen Arbeitsatmosphäre bei. Nichtsdestotrotz habe ich in dieser Zeit auch den Einfluss meiner sozialpädagogischen Tätigkeit im Schulalltag kennenlernen dürfen, der mir zuweilen als zu unbedeutend erschien (z. B. Schulsozialarbeit richtet sich in erster Linie an besonders bedürftige Jungen und Mädchen, begrenzter Austausch der sozialpädagogischen Fachkräfte mit dem Lehrerkollegium, Anzahl der Lehrer- und Schulsozialarbeiterstellen stehen nicht im Verhältnis). So lässt sich auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie die Gewichtung der Schulsozialarbeit innerhalb des deutschen Bildungswesens gut ablesen: Die temporäre Schulschließung hatte zur Folge, dass der versäumte Schulstoff – vor allem in den wirtschaftlich »verwertbaren« Hauptfächern Mathematik, Deutsch, Englisch – in den knapp bemessenen Unterrichtseinheiten aktuell die höchste Priorität genießt und soziale Projekte auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Natürlich kann damit von einer gleichberechtigten Basis für mich als Schulsozialarbeiter derzeit nicht die Rede sein. Darüber hinaus habe ich die Schulsozialarbeit in den letzten Jahren vor allem dann als sinnstiftende Profession erlebt, »wenn aufgrund zunehmender Komplexität der Problemlagen an Schulen bei gleichzeitig ökonomischer Mangelausstattung die eher pädagogisch-didaktisch ausgerichtete Expertise der Lehrkräfte« (Zimmermann 2017, S. 8) an ihre Grenzen zu kommen drohte – dies gilt nicht nur für mich, sondern dies entnehme ich auch den Erfahrungsberichten anderer Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter. Viele sozialpädagogische Fachkräfte besetzen nur halbe Stellen, springen von Schule zu Schule und können daher nicht kontinuierlich an einer Bildungseinrichtung tätig sein. Diese Rahmenbedingungen erschweren die präventive Arbeit ungemein. Anders gesagt, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter werden insbesondere hinzugezogen, um bei Konflikten unter Jugendlichen zu vermitteln, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen einzugreifen oder Kinder mit speziellem Förderbedarf in den Klassenverband zu inkludieren. Dieses Tätigkeitsfeld der Schulsozialarbeit ist zweifelsohne sehr eingeschränkt. Gerade unter Berücksichtigung der sozial ungleichen Verteilung von

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Bildungschancen scheint eine starke sozialpädagogische Perspektive jedoch unabdingbar. So haben die PISA-Studien nicht nur einen allgemeinen Kompetenzrückstand Deutschlands im Vergleich zu anderen OECD-Ländern aufgedeckt, sondern auch verdeutlicht, dass die getesteten Schülerinnen und Schüler mit einer immensen Chancenungleichheit konfrontiert sind, welche regelmäßig mit bestimmten Individualmerkmalen korrespondiert. Es sind insbesondere drei Gruppen, die im gegenwärtigen Bildungssystem besonders benachteiligt sind: Jungen im Vergleich zu Mädchen, Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund und schließlich Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien.

4.

Visionen für die Soziale Arbeit

Ausgehend von den Erfahrungen in der Praxis der Sozialen Arbeit sollen sich die nachfolgenden Überlegungen mit der Frage befassen, welchen Beitrag die Soziale Arbeit für eine solidarische Gesellschaft leisten kann. Dabei fällt auf, dass trotz der Vielfalt in den Tätigkeiten der Sozialen Arbeit, auf die bereits zu Beginn des vorangegangenen Kapitels hingewiesen wurde, die Visionen für eine solidarische Gesellschaft eine einheitliche Richtung verfolgen. Sie alle setzen auf die Möglichkeit der Interaktion und in diese eingelagert die Vermittlung der Kenntnis der lebensweltlichen Bezüge des Gegenübers. Nur so, das ist die hier vertretene Annahme, kann es gelingen, Zuschreibungen und Klassifikationssysteme, die die Bewertung derer, die negativ von sozialen Ungleichheiten betroffen sind, aufzuheben und den Weg für eine »wechselseitige Anteilnahme« (Honneth 2018, S. 208) zu ebnen.

4.1

Arbeit mit Menschen mit Behinderung

Das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 markierte einen wichtigen Meilenstein in der Teilhabe behinderter Menschen. Man sprach von einem »Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung auf internationaler Ebene« (Degener 2009, S. 200). Der Blick auf Behinderung veränderte sich, von einer individuell medizinisch angenommenen Problemlage, die eine Bedürftigkeit der Menschen voraussetzte, hin zu der Auffassung, dass vielmehr die gesellschaftlich vorherrschenden Gegebenheiten die Menschen an der gesellschaftlichen Teilhabe hindern (vgl. Degener 2009). So ist heute das primäre Ziel in Bezug auf die Behindertenhilfe, eine inklusive Gesellschaft voranzutreiben und Hürden auf dem Weg hin zur Realisierung einer gerechten und umfassenden Teilhabe behinderter Menschen abzubauen (vgl. BMAS 2018, S. 2).

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Diese Vision einer inklusiven Gesellschaft lässt sich gut mit der Vision verbinden, eine von Solidarität und gegenseitiger Wertschätzung geprägte Gesellschaft zu schaffen. So definiert Degener ein anzustrebendes Zusammenleben als eines, das »alle Menschen in sich aufnimmt und ihnen einen gleichberechtigten Platz einräumt, ohne Diskriminierung und unter Anerkennung ihrer Person« (Degener 2016, S. 63). Es ist hier wichtig zu betonen, dass diese Vision als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu betrachten ist. Es wird von verschiedenen Seiten die Kritik laut, dass die UN-Behindertenrechtskonvention keine genaue Antwort darauf gibt, wie eine inklusive Gesellschaft aussehen soll (vgl. Degener 2016, S. 65). Daher sind auf Teilhabe ausgerichtete Leitbilder und Visionen, die die Normalisierung der Lebensbedingungen behinderter Menschen verfolgen, wichtig, denn diese eröffnen einen größeren Rahmen und können als handlungsleitende Richtschnur für die unterstützende Arbeit mit behinderten Menschen dienen. Es geht nicht darum, Menschen mit Behinderung in Sondereinrichtungen zu exkludieren, sondern will man zur Inklusion beitragen, bedeutet dies auch mit von Benachteiligung betroffenen Personengruppen in den Kontakt zu treten. Dabei sollte der Blick nicht nur auf das Beziehungsverhältnis zwischen den Professionellen der Sozialen Arbeit und den auf Hilfe Angewiesenen beschränken, sondern die Visionen und Leitbilder immer auch in den größeren gesellschaftlichen Kontext einbetten, um auch wirklich zu Veränderungsprozessen beizutragen, die in die Gesellschaft hineinreichen.

4.2

Jugendarbeit im kirchlichen Kontext

Bei der Darlegung der Praxis der Jugendarbeit im kirchlichen Kontext wurde deutlich, dass die Kinder und Jugendlichen, mit denen die Jugendarbeit im kirchlichen Kontext Kontakt hat, eine relativ homogene Gruppe bezüglich der Merkmale der Religionszugehörigkeit und der sozialen Herkunft darstellen, was einerseits bedeutet, dass der Grad der Anteilnahme untereinander recht hoch sein dürfte und andererseits, dass es wenig Möglichkeiten gibt, über diese Gruppengrenzen hinaus Anteilnahme zu erzeugen. Dabei könnten die Angebote der Jugendarbeit durchaus auch als Orte verstanden werden, an denen Kinder und Jugendliche aus der Mitte der Gesellschaft mit solchen von ihren Rändern zusammenkommen können. Gerade für Kinder und Jugendliche, die seltener mit Ausgrenzungserfahrungen konfrontiert sind, könnte dies eine Möglichkeit darstellen, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen, deren soziale Lage sich von ihrer eigenen grundlegend unterscheidet – sei es durch ökonomische Prekarität, eine Behinderung, Schwierigkeiten bei der sexuellen Identitätsfindung und auch durch eigene oder in der Generationenfolge auszumachende Migrationserfahrungen.

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Dieses Zusammenkommen kann zweifach gelingen: Zum einen dadurch, dass die Jugendarbeit im kirchlichen Kontext den Kontext der Kirche verlässt und mit anderen Trägern der Jugendarbeit kooperiert. Zum anderen ist es möglich, dieses Zusammenkommen zu gestalten, indem Kontakt zu Bereichen der Sozialen Arbeit aufgenommen wird, die mit Menschen in schwierigen Lebenslagen zusammenarbeiten, wie beispielsweise der Armutsbevölkerung oder auch Menschen mit Behinderung. Gegenseitige zur Kenntnisnahme im Rahmen der Jugendarbeit, so die Überlegung, könnte zu gegenseitiger Anteilnahme führen und damit Solidarität im gesellschaftlichen Kontext stärken.

4.3

Schulsozialarbeit

Wie könnte eine auf die Stärkung der Solidarität ausgerichtete Schulsozialarbeit nach Honneth aussehen, die gleichzeitig auch den Abbau institutioneller Benachteiligungen im Blick hat? Hier ist es hilfreich, diesen Gedanken am Beispiel des gruppenpädagogischen Angebots (z. B. erlebnispädagogische Maßnahmen, soziales Kompetenztraining, außerunterrichtliche Förderangebote usw.) aufzuzeigen. Die dazugehörigen Maßnahmen richten sich primär an Kinder mit Konfliktpotenzial und sollen ein lernförderliches Klima unterstützen. Dieses Angebot könnte jedoch im Hinblick auf die Solidaritätsbildung in einem viel weiter gefassten Sinne verstanden werden. Ausgehend von den drei Anerkennungsformen emotionaler, rechtlicher und solidarischer Art (Honneth 2018) bauen die folgenden Punkte aufeinander auf. Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter zeigen emotionale Zuwendung zur Gruppe, indem sie deren Bedürfnisse und charakterlichen Eigenschaften erkennen und empathisch reagieren. Eine diagnostisch kompetente sozialpädagogische Fachkraft würde, sofern eine Gruppenübung eine emotional stressige Situation eines Einzelnen simuliert, die emotionale Disposition des Kindes berücksichtigen und so emotionalem Schaden vorbeugen. Die Erfahrung rechtlicher Anerkennung führt bei den Lernenden zu einem Bewusstsein universaler Gleichheit. Hier könnten vor allem gruppenpädagogische Angebote eine engere Zusammenarbeit zwischen den Lehr- und sozialpädagogischen Fachkräften unterstützen und einen Rahmen schaffen, in dem willkürliche Bevorzugungen oder Benachteiligungen unterbunden werden; das heißt Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter können als neutrale Beobachter des Spannungsfeldes Lehrer-Schüler, welches von klaren Hierarchien geprägt ist, auf Problemlagen aufmerksam machen und durch ihre sozialpädagogische Expertise einer institutionellen Bildungsbenachteiligung entgegenwirken. Auf diese Weise erfahren sich Lehrkräfte und Jugendliche als Rechtssubjekte und erkennen in der Folge die Rolle des jeweils anderen an. Dieses Rechtsverständnis bildet wiederum

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die Grundlage für ein soziales Miteinander, das nicht durch Fragen der Wertigkeit und Klassifizierbarkeit bestimmt wird, das heißt die soziale Wertschätzung ist nicht von bestimmten Eigenschaften oder Zugehörigkeiten abhängig, sondern wird in der Interaktion selbst konstituiert. Vorstellbar wären hier verpflichtende, praxisorientierte und regelmäßige Programme für alle am System Schule Beteiligten (Kinder mit und ohne Konfliktpotenzial aus allen sozialen Schichten, das Lehrerkollegium und im besten Falle die Eltern). So könnte ein hinreichendes Interaktionsverhältnis gewährleistet werden, in dem wechselseitige Anteilnahme und eine Kultur der Wertschätzung gefördert wird. Dafür müsste sich die sozialpädagogische Gruppenarbeit zunächst von dem übergeordneten Ziel der Leistungsförderung loslösen und in einen Kontext eingebettet werden, der die Entwicklung sozialer Kompetenzen zum Selbstzweck erklärt. Insbesondere dieser Ansatz würde bildungspolitische Rahmenbedingungen voraussetzen, welche der Schulsozialarbeit einen zentraleren Stellenwert im Bildungssystem verleihen und ihr neue Tätigkeitsfelder zuschreiben.

5.

Schluss

Die Soziale Arbeit ist sowohl Tätigkeitsfeld als auch Fachdisziplin. Diese Zweigliedrigkeit bietet nicht nur die Möglichkeit für eine unentwegte Sebstreflexion, sondern verlangt sie ihr auch ab, sodass die Selbstreflexion Sozialer Arbeit auf der Grundlage von Praxiserfahrungen selbstverständlich bereits im Studium eingeübt wird. Dies hat uns zu diesem Beitrag ermutigt, sodass wir die Möglichkeit genutzt haben, Visionen, die sich im Bereich der Sozialen Arbeit stellen, aufzuzeigen. Die Selbstreflexion der Studierenden hat die Ausrichtung der Visionen für eine solidarische Gesellschaft recht schnell deutlich werden lassen. Soziale Arbeit kann ihrer Aufgabe nur gerecht werden im Rahmen einer solidarischen Gesellschaft. Sie ist aber nicht dazu verurteilt, auf eine außerhalb ihres Einflussbereiches liegende Solidarisierung in der Gesellschaft zu warten, sondern hat selbst die Möglichkeiten, aktiv an der Solidaritätsbildung mitzuwirken. Solche Möglichkeiten haben wir auf der Grundlage der Anerkennungstheorie Axel Honneths und der ungleichheitstheoretischen Annahmen Pierre Bourdieus aufgezeigt: Beide Theoriegebäude weisen den gleichen inhaltlichen Kern auf: Solidarität als wechselseitige Anteilnahme wird als praktisches Unterfangen betrachtet, dass auf eine gegenseitige Kenntnisnahme divergierender Lebenswelten angewiesen ist. Der Andere muss sich mir in seiner Biographie erschließen, sodass ich seine soziale Lage verstehen und an dieser Anteil nehmen kann. Die Visionen für eine zu einer solidarischen Gesellschaft beitragenden Sozialen Arbeit können selbstredend über die Bereitstellung von Rahmenbedingungen, innerhalb derer wohlgesonnene Interaktionsprozesse – und hier lässt

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sich noch viel weiter denken: Soziale Arbeit geht in Betriebe, Nachbarschaftsvereine usw. – möglich sind, hinausgehen. Die von uns aufgezeigten gesellschaftstheoretischen Koordinatensysteme Pierre Bourdieus und Axel Honneths lassen an eine direkte politische Einflussnahme der Organisationen der Sozialen Arbeit denken, deren Ziel darin bestünde, bestehende Klassifikationssysteme zu ändern. In welche Richtung diese zu ändern sind, »eher in die Richtung eines politischen Republikanismus, eines ökologisch begründeten Asketismus oder eines kollektiven Existenzialismus (…), ob sie Veränderungen in den ökonomisch-sozialen Gegebenheiten voraussetzen oder mit den Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft vereinbar bleiben, das ist keine Sache der Theorie mehr, sondern eine der Zukunft von sozialen Kämpfen« (Honneth 2018, S. 287). So halten auch wir uns aus einer Richtungsbestimmung auf wissenschaftlicher Ebene heraus, meinen aber, dass vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Erfahrungen diese Diskussionen unsere absehbare Zukunft gestalten werden – sowohl auf nationaler wie auch auf supranationaler und transnationaler Ebene. Erste Belege hierfür existieren bereits: Während die Europäische Union (EU) als Reaktion auf die in Folge der Pandemie aufgetretenen volkswirtschaftlichen Verwerfungen einen Corona-Sonderfonds beschlossen hat und damit den Gedanken einer über den Nationalstaat verweisenden Solidarität verfolgt, haben die USA im Zuge der Pandemie ihren Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angekündigt und als größter Geldgeber der WHO mit dieser Entscheidung ein Zeichen in Richtung einer auf den Nationalstaat beschränkten Solidarität gesetzt.

Literatur Bäcker, Gerhard/Naegele, Gerhard/ Bispinck, Reinhard/Hofemann, Klaus/Neubauer, Jennifer (2010a): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. 5. Aufl. Wiesbaden. Bäcker, Gerhard/Naegele, Gerhard/ Bispinck, Reinhard/Hofemann, Klaus/Neubauer, Jennifer (2010b): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 2: Gesundheit, Familie, Alter und Soziale Dienste. 5. Aufl. Wiesbaden. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018): Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Schwerpunkte/faq-b thg.pdf;jsessionid=7A6C998DC08676413FF32847A400CC6D?__blob=publicationFile& v=19 (zuletzt abgerufen am 24. 06. 2020). DBSH (Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.) (o. J.): Abgestimmte deutsche Übersetzung des DBSH mi dem Fachbereichstag Sozialer Arbeit. Deutschsprachige

Soziale Arbeit: Visionen für eine solidarische Gesellschaft

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Gustav Bergmann*

Eine Reise nach Gustonien. Eutopische Visionen einer mitweltgerechten Transformation

1.

Oh wie schön ist Gustonien

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem alle Menschen ein Anrecht auf eine Wohnung und Zugang zu einem Stück Land haben, wo alle gesundheitlich versorgt werden, wo alle Menschen kostenlos Bildung erfahren, wo die Infrastruktur auf hohem Niveau funktioniert und allen zur Verfügung steht; ein Land, wo alle an wesentlichen Entscheidungen teilhaben und bei der Gestaltung ihres Umfelds mitwirken dürfen, in dem alle Bürger und Bürgerinnen sozial abgesichert sind, wo der demokratische Staat hohe steuerliche Einnahmen hat und diese für das Gemeinwesen einsetzen kann. Beschäftigte in der Pflege, Sozialarbeit und Bildung genießen hier große Anerkennung. Die Schulen sind bestens ausgestattet, es wird freies Lernen praktiziert, gemeinsam gegessen und alles spielerisch und in Projekten erlernt. Noten sind abgeschafft, es wird ermutigt und befähigt. In diesem Land existieren keine Märkte mehr für Arbeit, Grund und Boden oder Geld, zumindest keine unregulierten und destruktiven Märkte. In diesem Land wird die Freiheit der Vermögenden eingeschränkt, es gelten hohe Mindestlöhne, den Menschen werden viele Möglichkeiten geboten, sich ihre Wunschbetätigung auszuwählen, es gibt nach oben Vermögensgrenzen, insbesondere Grund und Boden bleiben weitgehend im Gemeineigentum und die freie Geldschöpfung wird streng reguliert, die Finanztransaktionen wird arg besteuert. Dieses Land ist das eutopische Gustonien, wo jede(r) sich frei entfalten kann und solidarisch mit allen anderen gemeinsam das Leben genießt. Diese eutopische Gesellschaft nennt sich demokratischer Sozialismus und ist in den Grundformen gar nicht so utopisch, sondern in manchen real existierenden Ländern, beispielsweise in Skandinavien, ansatzweise verwirklicht. Zwar gibt es Probleme, Krisen und Ungerechtigkeiten, doch ein Anfang ist gemacht. * Univ.-Prof. Dr. Gustav Bergmann, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Lehrstuhl Innovations- und Kompetenzmanagement.

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Somit endet die Geschichte von Gustonien noch nicht, denn auch alle Skandinavierinnen und Skandinavier leben über die Verhältnisse anderer. Wie in allen industriell entwickelten Staaten wird auch dort extrem externalisiert, also Schäden und Kosten werden auf andere Menschen oder künftige Generationen verlagert. Gleichwohl gibt es hier schon positive Ausnahmen und Ansätze, wie die Umstellung auf regenerative Energieformen und Energieautarkie in Kopenhagen bis 2024 oder die vollständige regenerative Erzeugung von Strom in Norwegen. Der Ecological Footprint und der Slavery Footprint dort sind dennoch viel zu hoch, als dass die Lebensweise als gerecht und angemessen bezeichnet werden könnte. Mensch lebt auch dort imperial (Brand/Wissen 2017). Wenn man das Ausmaß an Erdzerstörung einberechnet, landen wir beim Happy Planet Index. Hier wird – vereinfacht gesagt – der Human Development Index in Beziehung zum Mitweltverbrauch gesetzt (Erläuterung der Wohltstandsindikatoren bei Bergmann/Daub 2012). Wenn wir weltweit ein Beispiel für ein Land mit hohem Happy Planet Index suchen, landen wir an der reichen Küste: Costa Rica. Nach 1949 hat dieses Land das Militär abgeschafft, obwohl es in Mittelamerika neben Kolumbien (Drogenkriege) und Nicaragua (politische Unruhen) liegt. Nahezu 100 % der Energie wird im Land regenerativ erzeugt, 27 % der Landfläche steht unter Naturschutz. Von vielen Beobachterinnen und Beobachtern wird Costa Rica als stabile Demokratie bezeichnet, wo es ein kostenloses und leistungsfähiges Gesundheitssystem und gute Bildungseinrichtungen gibt. Die dortige Lebenserwartung liegt höher als in den USA, erheblich höher als in Russland und auf ähnlichem Niveau wie in Kuba. Dennoch ist das Land als »Bananenrepublik« zu bezeichnen, da es stark von dem Export dieser Frucht abhängt. Die bekannten Großkonzerne aus dem Norden sind dort alle tätig. In dieser Bananen- und Ananas-Produktion leiden die Arbeitenden unter elendigen Bedingungen. Kritische Leserinnen und Leser werden zurecht einwenden, dass der Happy Planet Index seine Tücken hat. Auf Platz zwei und drei liegen Mexiko und Kolumbien, und das hat Gründe: Einmal existiert bei den Zahlen eine Verzerrung, da die wirkliche Ungleichheit in diesen Ländern viel höher liegt, als dies aus den Statistiken zu entnehmen ist, da einige krisenhafte Erscheinungen nicht berücksichtigt werden (Mafia, Korruption) und da in den weniger entwickelten Ländern fast allein der aufgezwungene Minderkonsum von Ressourcen ihre gute Position begründet. Auf den vorderen Plätzen rangieren ebenfalls Vanuatu (das die Weltgesellschaft verklagt, weil es im Meer versinkt), Bangladesch (eines der ärmsten Länder der Erde) und Vietnam. Aussagekräftiger sind Einschätzungen nach einer Fülle von Indikatoren, wie sie eine Kommission um Joseph Stiglitz und Amartya Sen (2010) entwickelt hat. In ihrem Dashboard werden die Möglichkeit zur Entfaltung und Befähigung, die soziale Sicherheit, die ökologische

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Regenerativität und einiges mehr berücksichtigt und damit Einblick in eine ganz andere Reihenfolge der wahren Wohlstandsentwicklung (Shor 2011) offenbart. Generell kann man sagen, dass umfassendere Betrachtungen der Mitweltverträglichkeit Hinweise für eine gesellschaftliche Transformation ergeben: Es werden in unserer kontingenten Welt nur robuste, resiliente, damit nicht ausbeuterische und ökologisch nachhaltige Systeme ihr eigenes und das Überleben anderer auf diesem Planeten ermöglichen. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, Wege nach »Gustonien«, einer demokratischen Muße-Gesellschaft und Mitweltökonomie, zu eröffnen.

2.

Mitweltgestaltung

Der Begriff Mitwelt soll die gesamten Beziehungen zur ökologischen und sozialen Welt bezeichnen. Es ist eine Form der gemeinsamen Gestaltung von guten Beziehungen zu sich selbst, den Dingen, den anderen Menschen und zur Natur. Mitweltökonomie ist eine systemisch-relationale Ökonomik, in der ein »menschliches Maß« gegeben ist. Der Mensch hat hier die Möglichkeit, gestalterisch auf seine Mitwelt einzuwirken (Bergmann/Daub 2012; Bergmann 2019b). Mitweltökonomie überwindet den Gegensatz zur Welt, die Entfremdung und Ausbeutung. Es wird hierbei eine solidarische, lebensdienliche und befähigende Ökonomie angestrebt. Die Mitweltökonomie ist deshalb auf deliberative und demokratische Entwicklung ausgerichtet und überwindet die rein individualistische Sichtweise. Alles Sein ist damit ein »Sozialprodukt«, eine Folge gemeinsamer, interaktiver Gestaltung. Boden ist hierbei keine auszubeutende Ressource, sondern eine kultivierbare Erde, deren Qualität mit und durch die Nutzung an Wert gewinnt, statt zerstört zu werden. Ähnlich gilt das für menschliche Beziehungen, die nicht funktionalistisch, hierarchisch, sondern auf allseitige Entwicklung ausgerichtet sind.

3.

Vision, Eutopie, Dystopie

Laut Duden wird Vision (von lateinisch visio Erscheinung, Anblick; mittelhochdeutsch vision, visiun Traumgesicht; Erscheinung) als ein bildhaftes Erleben von einer nicht direkt erfassbaren Welt bezeichnet, das aber dem Visionär als real erscheint. Im Zeitalter der verordneten Alternativlosigkeit wirkt man als Visionär und Möglichkeitendenker schon radikal. Die Eutopie (von altgriechisch eu- gut und tópos Ort, Platz, Stelle) ist eine solche Alternative zum Bestehenden, eine Zukunftsvision oder aber eine schon (teilweise) verwirklichte positive Vorstellung von einer möglichen Welt, vielleicht auch einer Idealgesellschaft, die positive politische Menschheitsträume verwirklicht. Zumindest sollte mensch die

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Möglichkeit einer Utopie nicht aufgeben, denn es macht viel mehr Sinn, alle Energie mit Zuversicht für etwas einzusetzen, als sich in Grabenkämpfen zu verschleißen. Es soll hier deshalb weniger von Einbildung, Fata Morgana, Trugbild oder Sinnestäuschung geredet werden, sondern eher von Gedankenreisen, Möglichkeiten, ja, vielleicht Träumen. Thomas Morus hat mit »Utopia – Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia« 1516 eine philosophische Schilderung einer fernen idealen Gesellschaft verfasst. Es sollten noch viele weitere Entwürfe einer besseren Gesellschaft folgen (Neupert-Doppler 2015). Am meisten fasziniert hat mich der Entwurf des senegalesische Sozialwissenschaftlers und Schriftstellers Felwine Sarr (2019). Sein Afrotopia zeigt die Möglichkeiten des von Kolonialismus geschundenen Kontinents in seiner großen Vielfalt auf. Sarr nimmt Bezug auf die westliche Moderne mit ihren Widersprüchen und kreiert eine Vision der Neuerfindung und Besinnung auf die geistigen Ressourcen. Michel Mbembe (2014) legt in seiner Forschungen die Widersprüche des Westens offen und forciert die afrikanischen Potenziale. Eine Dystopie (von altgriechisch dys- schlecht und tópos Ort, Platz, Stelle), ist ein Gegenbild zur Eutopie, eine Beschreibung, Ahnung oder Erzählung mit negativem Ausgang. So werden ja bisher weite Teile Afrikas beschrieben, vom Kongo, dem »reichsten« Land der Erde, das bis heute insbesondere unter der Zerstörung durch die belgische Kolonialmacht leidet und unentwegt ausgeraubt wird, bis hin zu vielen der weiteren 54 Länder, die sich der imperialistischen Ausbeutung noch nicht wirklich entwinden konnten. In der Literatur kennen wir George Orwell (1984; Animal Farm) und Aldous Huxley (Brave New World) bis zu einem nur leicht in die Zukunft verschobenen dystopischen Roman GRM von Sybille Berg, der die schier aussichtslose Lage in Rochdale, England ergreifend schildert. Eutopien und Dystopien, beide existieren auf diesem Planeten. Bevor Muster und Ansätze für eine lebensdienliche Transformation aufgezeigt werden, soll zur Veranschaulichung und um daraus zu lernen, wie man es besser nicht macht, eine Realdystopie beschrieben werden: Auf die USA entfallen etwa 38 % der weltweiten Militärausgaben (Sipri 2020). Das Land gibt für seine Streitkräfte circa dreimal so viel aus wie China und etwa zehmnal so viel wie Russland (Statista 2020). Es existiert nur ein rudimentärer Sozialstaat mit einer gravierenden Ungleichheit. Die Gesellschaft ist extrem segregiert, die Milieus und Sphären leben getrennt voneinander. Zunehmend gibt es private Gefängnisse, die voll besetzt sind mit auffällig vielen männlichen Insassen einer bestimmten Hautfarbe, die Polizei ist häufig in zweifelhafter Form kriminalisierend tätig oder wendet brutale Gewalt an. Auf offener Straße kann es vorkommen, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe erschossen werden. Ein heilloses Gegeneinander, allgegenwärtig ist Gewalt. Zudem ist es zulässig und einfach möglich, sich privat Waffen zu beschaffen. Demonstrationen werden in Landesparlamente geführt, bei der etliche Teilnehmernde offen Sturmgewehre zeigen. Bildung er-

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fährt man in öffentlichen Schulen nur rudimentär, das Studium an anspruchsvollen Hochschulen kostet erhebliche Gebühren. Die Landschaft wird durch Fracking verwüstet, es werden gigantische Mengen von Klimagasen emittiert, fast ein Viertel der sonst von der gesamten Menschheit verursachten Menge. Insgesamt herrscht ein imperialer Lebensstil vor. Wenn alle so leben wollten wie in den USA, bräuchte man fünf Planeten Erde (Ecological Footprint, Statista 2019). Dieses Land mischt sich geopolitisch in allen Winkeln der Erde ein und hat seit dem Zweiten Weltkrieg 27 Kriege begonnen und alle bitter verloren. Die Bürgerinnen und Bürger haben, insbesondere im oberen Einkommenssegment, nur geringe Steuern zu zahlen. Aufgrund der mangelnden Fundamentalökonomie sind »Normalbürger« mit hohen Ausgaben für alles konfrontiert, was sie für das tägliche (Über-)Leben benötigen. Insgesamt geringe Steuern zu zahlen, heißt häufig, alles selbst zahlen zu müssen. Somit werden Probleme individualisiert. Wenn das Land durch eine Krise wie zum Beispiel eine Pandemie herausgefordert wird, dann hat das tragische Folgen. Große Gruppen der Gesellschaft fühlen sich nicht mehr repräsentiert, soziale Teilhabe, der Zugang zu Bildung, Gesundheitsleistungen und basaler Versorgung mit dem Lebensnotwendigen sind nur unzureichend gegeben. Diese Gesellschaft droht somit in Richtung eines failed state zu driften, wie es kundige Autoren anmerken (so u. a. Dobson 2020; Packer 2020). Eigentlich will eine solch dystopische, demolierte Gesellschaft niemand empfehlen. Oder doch? Gerade libertinären Ökonomen gilt dieses Land auch noch heute als Vorbild für Dynamik und Innovativität. Dieses eigentliche wunderbare Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist weiter hoch attraktiv für Einwanderinnen und Einwanderer, viele wichtige, innovative, geistreiche Menschen haben in diesem Land reüssiert. Viele der Menschen dort wollen bewusst für sich selbst sorgen und sehen in jeglicher Sozialstaatlichkeit gleich die totale Bevormundung. Es ist eine merkwürdige Kultur der individualistischen Freiheit, die sich für die meisten als Unfreiheit erweist. Der Schriftsteller Paul Auster (2020) behauptet gar, das Land wäre nie eine Demokratie gewesen, und heute schon gar nicht. Besonders sieht er die mangelnden Bildungschancen und Teilhabemöglichkeiten als Ursachen für die fundamentale Krise. Der Verfasser teilt mit Paul Auster die Ansicht, dass dieses Land von einem Narren und Betrüger geführt wird, der sich unentwegt unanständig, rüpelhaft lügnerisch, rassistisch und frauenfeindlich äußert und in der Pandemiekrise unvernünftig, widersprüchlich und eigensinnig »regiert«. Dieser Präsident ruft offen zur Gewalt auf, verbündet sich mit Rechtsradikalen und verhält sich wie ein schlecht erzogener Präpubertierender. Es ist sicher kein Zufall, dass in diesem Land ein solcher Präsident gewählt wird: Er ist im Wesentlichen Ausdruck und Folge des Systems an sich, es ist nicht nur meiner Auffassung nach eine Folge der mangelnden Kultivierung in »anomistischen

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Marktgesellschaften«, wie wir sie heute auch in Brasilien, Chile, Großbritannien und vielen anderen Ländern vorfinden. Es verhält sich dennoch immer ambivalent und uneindeutig: In den Vereinigten Staaten koexistieren sehr unterschiedliche, widersprüchliche Kulturen, sodass alle Aussagen über dieses Land zutreffend und falsch zugleich sind. Die Menschen dort haben zahlreiche wunderbare Errungenschaften hervorgebracht, dort leben natürlich überwiegend freundliche, kreative Menschen, die nicht nur mir den Jazz und Blues geschenkt, sondern auch viele weitere kulturelle Höchstleistungen hervorgebracht haben. Es ist ein Land, in dem wichtige und überragende wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen existieren. Ja, die USA haben uns Deutsche vom Nationalsozialismus befreit, zumindest auffällig viele tapfere Soldaten aus der Unter- und Mittelschicht, überdurchschnittlich viele Afro-Amerikaner; zudem waren auch die Rote Armee und die weiteren Alliierten nicht ganz unbeteiligt an der »Befreiung« Deutschlands. Dabei gab es selbst in den USA in den 1930er und 1940er Jahren starke rechtsradikale Tendenzen, wie es zum Beispiel der Schriftsteller Phillip Roth in seinem Roman »Verschwörung gegen Amerika« (The Plot against America) in Szene gesetzt hat. Neben den hier skizzierten USA müssten für viele Leserinnen und Leser rein wegen des Proporzes auch andere problematische Staatskonzeptionen genannt werden: Die »kommunistische« Diktatur in China, die gescheiterten pseudosozialistischen Versuche in Venezuela und Peru, das oligarchische Russland, das in den Faschismus driftende Brasilien usw. sind aus anderen Gründen sicher keine Vorbilder. Doch die USA stehen in der Tradition der Demokratie und Aufklärung, die sie zunehmend verleugnen. Das macht es so bitter. Und dennoch kann Zuversicht auch bezüglich der Vereinigten Staaten geäußert werden, denn sie haben die Probleme schon einmal gelöst, als sie in der Weltwirtschaftskrise von einem überforderten Präsidenten regiert wurden und in Gewalt zu versinken drohten. John Steinbeck hat damals in »Früchte des Zorns« (The Grapes of Wrath) die Umweltzerstörung und die sozialen Verwerfungen zum Thema gemacht. Es ist wahrscheinlich auch Roosevelt und seiner Regierung zu verdanken, dass mit dem New Deal eine Wende zum Guten erreicht wurde. Die starke Verfassung, die Bürgerrechtsbewegungen und die Pressefreiheit (das alles unterscheidet die USA von autokratischen Staaten) lassen heute hoffen, dass sich auch diesmal der Schrecken überwinden lässt. Wie sagte doch Franklin D. Roosevelt in seiner Rede zur Amtseinführung 1933: »So, first of all, let me assert my firm belief that the only thing we have to fear is fear itself – nameless, unreasoning, unjustified terror which paralyzes needed efforts to convert retreat into advance. … This is no unsolvable problem if we face it wisely and courageously.« (Roosevelt 1933)

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Es erscheint mir besonders wichtig, die Entwicklung von Ländern auf dem Hintergrund der historischen Entwicklung, der geografischen und topologischen und der besonderen kulturellen Traditionen zu betrachten. Dennoch gibt es Muster ausfindig zu machen, die universell einsetzbar erscheinen. Nochmal zu den Vereinigten Staaten, die ein geologisch, landschaftlich reich beschenktes Land sind, dass den Menschen dort beste Voraussetzungen für Entwicklung bietet: Es gibt verschiedene Landschaftsformen, schiffbare Flüsse, reichhaltige Bodenschätze. Dennoch müssen die USA Energie importieren, sind gewaltig verschuldet und haben eine sehr mangelhafte Infrastruktur vorzuweisen. Historisch gesehen sind die USA ein von Siedlern (oder waren es Invasoren, Abenteurer, Geflüchtete oder Wirtschaftsflüchtlinge?) aus Europa bewohnt. Wahrscheinlich waren es eben Menschen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen in die »Neue Welt« ausgewandert waren. Dort haben sie sukzessive die indigene Bevölkerung verdrängt, ermordet, vernichtet und dann mit der Sklaverei ein weiteres schändliches Kapitel aufgeschlagen. Die Geschichte ist vielfältig und weitgehend bekannt. Es erscheint immer als ein großer Mangel, wenn solche dunklen Kapitel nicht aufgearbeitet werden. Nun sind die Widersprüche und Konflikte in der amerikanischen Gesellschaft so groß, die nicht nachhaltige, nicht vorsorgende Ökonomie so gravierend, dass diese große Nation in ein Desaster zu rennen scheint. Bedenklich auch, wie sich Staaten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (Polen, Ungarn u. a.) trotz totalitärer historischer Erfahrungen, wiederum von den Werten der Aufklärung abwenden. Es geht mir also darum, positive Lösungen wie negative Irrwege zu entdecken und diese zu unterscheiden. Interessant erscheint mir, wo in ganz unterschiedlichen Ländern der Erde eine gedeihliche Kultivierung gelang, wo Gesellschaften begründet wurden, die weniger Raubbau an der Natur erzeugen, wo sich die Menschen weitgehend friedlich begegnen, sich solidarisch und demokratisch verhalten und sich in Freiheit begegnen können, gerade weil sie soziale Sicherheit erfahren. Es wird eine Reise nach Gustonien, das in Teilen überall auf dem Planeten Erde zu finden ist. Die Welt ist voller Lösungen, die nur nicht überall in Anwendung sind. Die Pandemiekrise hat ja auf jeden Fall gezeigt, dass Veränderungen möglich sind, und so können wir die gegenwärtige Krise als Blaupause für Transformation und Metamorphose nutzen: Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die sich als krisenfest, resilient und robust erweist und wo zugleich die Grundrechte gewahrt sind, in der wir solidarisch und fürsorglich, demokratisch und freiheitlich leben können? Diese Krise erscheint mir wie eine letzte Möglichkeit, die Veränderung zu erproben. Schon nach kurzer Zeit war alles anders, alles entschleunigt, viele sind überrascht, mit wie wenig sie auskommen. Kontingenz, also Unbestimmtheit, wird direkt erlebbar. Noch vor Kurzem konnte mensch sich nicht vorstellen, das

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grundsätzliche Transformationen möglich sind, dass dem suizidalen Handeln der Menschen, dem Krieg gegen die Natur, der Verelendung und Ungleichheit ein Ende gesetzt werden. Nun erfahren wir in wenigen Wochen, dass grundsätzlich alle Änderungen möglich sind, wenn die Gefahr nur sehr nahe rückt. Dabei kann es noch erheblich schlimmer kommen als bisher, da der vordergründig biologischen eine sozio-ökonomische Krise folgen wird. Weitere ökologische Krisen und Katastrophen warten am Horizont. Zudem haben wir es mit einer ökologischen Krise zu tun, denn Viren sind ja auch Teil der Natur und durch unsere Eingriffe in die Wildnis, unsere Massentierhaltung greifen wir in komplizierte Netzwerke der außermenschlichen Natur ein. Nun wird deutlich, dass wir auf andere angewiesen sind, dass jeder Mensch zählt und dass das Virus jede und jeden treffen kann. Die große Erdzerstörungsmaschine rast derweil mit uns weiter in die soziale und ökologische Katastrophe. Sehenden Auges ruiniert die Menschheit ihre Lebensgrundlagen. Die meisten Menschen handeln jedoch im Zwang der Verhältnisse, deshalb ist es sicher falsch, vom Anthropozän zu reden – es ist wohl eher ein Kapitalozän, ein durch Kapitalinteressen bestimmtes Zeitalter. Schon früh haben der Philosoph John Stuart Mill (1848), der Philosoph und Ökonom Karl Marx (posthum 1894) und der Ökonom John Maynard Keynes (1948/63) auf die Möglichkeit einer Welt ohne Mühen und Schufterei hingewiesen. Doch es mangelt noch an Muße in der Überarbeitungsgesellschaft, die sich zu einer Sphäre der Gemeinsamkeit, der Befähigung und der Mitweltorientierung entwickeln könnte. Noch steht die Kapitalvermehrungslogik im Mittelpunkt. Diese ist aber änderbar, weil sie nicht naturgegeben ist. Die soziale Krise ist mit der ökologischen verbandelt. Große sozio-ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit fördern die Umweltzerstörung, die wiederum die Ungleichheiten vergrößert. Die Kapitallogik verlangt das Eindringen in die Biosphäre nach dem Gesetz billiger Natur, so Jason Moore (2020, S. 53 und S. 444–446). Das Kapitalozän ist ein Prozess der Kapitalisierung und Aneignung, der zu einer Epochenkrise führt, da sich die Ausbeutung der Welt nicht mehr weiter treiben lässt (Moore 2020, S. 206–210). Arbeit, Nahrungsmittel, Energie und Rohmaterialien, die Four Cheaps, wurden ausgeschöpft, und dies kann zu einem Wendepunkt hin zu einem mitweltgerechten Wirtschafts- und Sozialsystem führen (Patel/Moore 2017, S. 265–280). Für die Transformation benötigt man immer nur eine avantgardistische, beharrliche Minderheit. Ob sie gelingt, ist unmaßgeblich für das eigene Wirken, und es gibt Kipppunkte der Entwicklung, wenn ein System nicht mehr überlebensfähig ist. Darauf hoffe ich mit Zuversicht und stelle deshalb im Folgenden einige Bereiche zur Diskussion. Bei allen meinen Äußerungen kann ich mich natürlich täuschen, auch will ich nicht recht haben, sondern nur den Diskurs anregen. Was können wir also lernen auf unserer Reise nach Gustonien? So nenne

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ich hier meine Vision einer transformativen Entwicklung: Gustonien hat vielleicht etwas mit meinem Vornamen oder auch dem gustatorischen Sinn zu tun.

4.

Deliberative Vernunft: Verständigung, Demokratie und Kooperation

Eine andere Zukunft kann und darf natürlich nicht verkündet, sie muss diskursiv entwickelt werden. So führt die erste Reiseetappe in die Theorie. Anlässlich der Publikation des Spätwerkes von Jürgen Habermas (2019) kann man noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht doch eine Möglichkeit der gemeinsamen Kultivierung gibt. Es erscheint absurd, etwas unkritisch und vielleicht blauäugig, aber so ganz kann ich die Ideen der kollektiven Vernunft nicht aufgeben. Habermas verteidigt die kollektive Vernunft gegenüber allen Ideologien, Heilslehren und Religionen. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns hat er die Voraussetzungen und die Verfahren zur Verständigung hinlänglich beschrieben (Habermas 1981). Die unbestimmte und ungewisse Zukunft kann mensch nur im Ringen um die bessere und passendere Lösung entwickeln. Niemand kann die Welt für alle gestalten, es ist nur in einem tiefen, empathischen Austausch möglich. Wir müssen den offenen Diskurs versuchen und diese Offenheit aufrechterhalten. Es ist für mich überzeugend, die Gesellschaft von den Schwächsten her zu denken, uns in den Rawls’schen Urzustand gedanklich zu versetzen, uns den »Schleier der Unwissenheit« (Rawls 1999, S. 118) umzuhängen, um von daher ein System zu schaffen, das allen dient. Die Qualität einer Kultur erkennt man an dem Umgang mit den Schwächsten. Selbst die vermeintlich Starken können schon bald durch Zufall oder Unfall auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Niemand hat das Recht, die Welt anderer außer seiner selbst zu verändern, kann jedoch auf andere einwirken und versuchen, sie zu überzeugen. Das nennt man Demokratie. Es ist die Herrschaft des Volkes über sich selbst, alle werden von den anderen mitregiert und regieren selbst mit. Trotz aller politischen Enttäuschungen kann ich mir nicht vorstellen, dass sich die Menschheit auf Dauer suizidal verhält, hingegen wird es eine kommunikative Verständigung, eine deliberative Entwicklung von Aktionen und Regelungen geben, die der Mitweltzerstörung ein Ende setzen. So mangelhaft, wie die Klimaabkommen erscheinen, die New Green Deals, sie zeigen mir den Beginn einer Neuorientierung. Heute ist offenbar, dass die Lebensgrundlagen der Menschen bedroht sind und die Resonanzschleifen enger werden. So ist es interessant zu lesen, wie afrikanische und asiatische Forscherinnen und Forscher die Denktraditionen des Westens verwandeln, erweitern, reflektieren und mit ihren Ideen verweben (Sen/Drèze 2010;

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Mbembe 2014; Sarr 2019 u.v.m.). Die bio-physikalischen Grenzen sind nicht verhandelbar und nur bedingt auszudehnen, ohne dass sie auch zu den wesentlichen Verursachern zurückkommen. Wir werden aufgrund der globalen Krise und der Herausforderungen gemeinsames Handeln praktizieren (müssen). »Wir müssen jetzt andere retten, um uns zu retten«, wie es Ulrich Beck (2016) in seinem letzten Buch beschrieben hat. Er meinte außerdem, dass die gemeinsame Bedrohung uns in die heilsame Kooperation zwingt. Insofern liegt paradoxerweise in der globalen Krise zugleich die Chance zur Veränderung.

5.

Demokratie in allen Ebenen und Bereichen der Gesellschaft

Dic Schweiz ist zu nennen, wo sich unter sicher besonderen typologischen, historischen und kulturellen Bedingungen bis heute eine lebhafte Demokratie entwickelt hat, die auch lokal verankert ist. In Deutschland hat man Lehren aus der dunkelsten Zeit der Geschichte gezogen, sich wirklich intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt, wenngleich unzureichend und erst mit Nachdruck, als in der 68er-Bewegung die Kinder ihre Eltern fragten und forderten. Schon kurz nach dem Krieg hat eine verfassunggebende Versammlung ein geradezu weltweit vorbildliches Grundgesetz (GG) geschaffen, in dem wichtige Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Schon Artikel 1 würde genügen, um den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant durchzusetzen. Für die Willensbildung förderlich ist überdies der (historisch bedingte) Föderalismus, den andere Länder wie etwa Frankreich gerne hätten, aber aufgrund der geschichtlichen Entwicklung (Absolutismus) bis heute nicht verwirklichen können. In Gustonien würde diese Dezentralität, die auch zu kultureller Vielfalt beiträgt, ausgebaut, statt immer wieder kritisiert zu werden. Nach dem GG sind wir zu einem Sozialstaat verpflichtet und das private Eigentum soll dem Wohle der Allgemeinheit dienen. In Deutschland wurde sogar paritätische Mitbestimmung in den Betrieben eingeführt. Dieser Strang wurde kaum weiterentwickelt, das Mitbestimmungsgesetz sogar 1976 gestutzt, sodass im Zweifel immer die Kapitalseite den Ausschlag gibt, außerdem bezieht sich das System leider nur auf die schwindende Montanindustrie. In Gustonien werden die wesentlichen Entscheidungen in der Gesellschaft nicht mehr in Vorstandsetagen nach Kapitalinteressen entschieden, vielmehr wäre dort eine »humane Wirtschaftsdemokratie« verwirklicht, wie sie von Ota Sˇik (1985) entwickelt wurde. Es gibt dann gerade in Großunternehmen eine Mitbestimmung für Arbeit, Gesellschaft und Natur. Das Kapital wird im Wesentlichen neutralisiert und damit die Akkumulation gebremst. Sodann werden Erträge vornehmlich reinvestiert, um eine nachhaltige und innovative Entwicklung zu ermöglichen und die Erzielung von Gewinnen auf Kosten anderer zu verhindern. Die Mitwirkung, die gemeinsame

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Entwicklung von Zielen und Regeln, steht im Vordergrund. Entscheidungen können nur legitimiert werden, wenn sie in Anwesenheit und unter Mitwirkung von denen getroffen werden, die deren Konsequenzen zu tragen haben. Das wäre schon eine hinreichende Begründung für mehr Mitsprache. In Zeiten der Ungewissheit, des schnellen, überraschenden Wandels ergeben sich neue Möglichkeiten der Entwicklung und Kultivierung. Unternehmen und Organisationen sind die Schaltstellen in den internationalen Wertschöpfungsketten. Hier werden die Weichen der Wirtschaft gestellt. Insofern gibt es einmal die Frage, wer hier entscheiden darf und sollte, wer Verantwortung übernimmt und sich den Wert aneignet, und zweitens die Frage, wie in einer kontingenten, unübersichtlichen und komplexen Welt überhaupt sinnvoll entschieden werden kann. Zur Demokratie in der Wirtschaft haben wir ein Forschungsprojekt initiiert (Bergmann 2019a; 2019b; Bergmann/Daub/Özdemir 2019). Hier kann das Programm nur angedeutet werden: Es geht uns um Mitwirkung und Partizipation, mehr ökonomische Teilhabe und die Organisation der Verantwortung und Haftung. Und wenn wir nach Gustonien suchen, werden wir schon in Siegen fündig, wo es seit Jahrzehnten ein durch und durch demokratisches Unternehmen gibt, das erfolgreich in einem schwierigen Markt agiert (Firma Hoppmann). Weitere Beispiele haben wir von Brasilien (Firma Semco) bis Spanien (Firma Mondragon) und anderswo gefunden.

6.

Polanyis Bedenken: die Marktgesellschaft

Auf meiner weiteren Reise durch die Literatur gelangte ich zu Karl Polanyi, der mit seinem Werk »The Great Transformation« den Versuch kritisierte, ein sich selbst regulierendes Marktsystem außerhalb und frei von gesellschaftlichen Bindungen zu schaffen. Er sieht eine Tendenz zur Marktgesellschaft, wo sich alle Menschen als Geschäftspartner begegnen und alle Bereiche der Gesellschaft zu Märkten degenerieren. In einer reinen Marktgesellschaft wäre alles privat, also der Gesellschaft beraubt, wäre eine Demokratie faktisch nicht mehr möglich. Je mehr also über Märkte koordiniert wird, desto weniger Demokratie ist möglich. Die Marktideologie führt in die substanzielle Entwertung und Verschlechterung von Werten wie Liebe, Freundschaft oder Kompetenzen. Liebe, wenn am Markt erworben, gleicht Prostitution, Freundschaft löst sich auf in Geschäftsbeziehungen, Kompetenzen sind hohl, weil sie nur aus am Markt erworbenen Zertifikaten bestehen. Kapitalismus ist zwar nicht die Ursache aller Probleme, wirkt aber, besonders in der unkontrollierten Form, als Problem- und Krisenverstärker. Es werden Landnahme, Ausbeutung und Externalisierungen begangen und die Prozesse zudem beschleunigt (erkenntnisreiche Debatte aus verschiedenen Perspektiven bei Dörre/Lessenich/Rosa 2009). Polanyi betont die drei wesentli-

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chen künstlichen Märkte für Arbeit, Boden und Geld, die sich als Märkte strukturell nicht eignen, sondern lediglich große Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung erzeugen und somit große Nachteile für die meisten schaffen (Polanyi 1978, S. 243–246). Bestandteil dieser Entwicklung ist es, die Arbeit, aber ebenso Grund und Boden sowie Geld in handelbare Ware zu verwandeln, die sogenannte Komodifizierung. Alle diese »Märkte« erfüllen viele Bedingungen nicht, die eigentlich an ein funktionierendes Marktsystem gestellt werden müssten. Arbeit wird von Menschen ausgeführt, die durch die Vermarktung zu Waren verdinglicht werden, der Boden ist nicht grenzenlos erweiterbar und steht eigentlich jedem Menschen anteilig als nicht-menschliche Natur zur Verfügung. Geld mutiert zu Verfügungsrechten und ist – wie man heute sieht – endlos schöpfbar (aber nur von wenigen). Polanyi betont schon, dass gerade die enge Regulierung und Einhegung dieser Märkte, also der Ausstieg aus der Marktgesellschaft, besondere Wohlstandszuwächse verspräche (Polanyi 1978, S. 330–334). Zugegeben, der Markt ist ein gutes Selbstorganisationsmuster, aber er wirkt amoralisch und regelt von sich aus gar nichts. Märkte funktionieren nur im kleinen, überschaubaren Rahmen und unter strengen Regeln. Wie bitter die Erkenntnis in der Pandemie, dass auch mit viel Geld notwendige Geräte und Arzneien nicht herbeizuschaffen sind. In den Krisen der Welt (Epidemien, Naturkatastrophen, Kriege, Migration etc.) wird ja überdeutlich, wie wichtig Gemeinwirtschaft, Commons und staatliche Institutionen sind, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und die Probleme zu lösen. Oder möchte jemand die Feuerwehr oder Krankenhäuser in private Hände geben? Feuer gelöscht wird nur dort, wo das Geld zur Verfügung ist? Geheilt wird nur, wer dafür zahlen kann? In Gustonien wird die Ökonomie des Alltags gefördert, denn sie schafft die Fundamente für hilfreiches Handeln in der Krise. Der Historiker Phillip Ther (2019) hat Polanyis »Great Transformation« neu gelesen und am Beispiel der USA, Deutschland und Italien sowie Polen und Ungarn aktuell untersucht, welche unterschiedlichen Systeme entstanden sind. Nach der Pandemie werden seine vorher gewonnenen Erkenntnisse noch deutlicher: Die USA, Italien und Großbritannien haben im Vergleich zu Deutschland die Krise erheblich schlechter bewältigt. Dabei ist Italien besonders betroffen gewesen, weil dort der Virus zuerst in Europa auftrat. Das Land hat seit Berlusconi mehrere neoliberale Privatisierungswellen und eine Vernachlässigung der Ökonomie des Alltags erfahren. Das Vereinigte Königreich und die USA hatten aber die Chance, Lehren aus der Krise zu ziehen, doch sie reagierten zu spät. Zur mangelnden Infrastruktur mit den unzureichenden Gesundheitssystemen kam also noch das Missmanagement der (neo)konservativen Regierungen hinzu.

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Polanyis Pendel

Polanyi (1978, S. 182–185) hat zwei Möglichkeiten der Entwicklung als Konsequenz der Marktgesellschaft aufgezeigt: Das Pendel kann zum Autoritären bis zum Faschismus oder aber zu einer weiteren Kultivierung hin zum demokratischen Sozialismus ausschlagen. Leider hat die Hegemonialstrategie der Libertinären dominiert und das polanyische Pendel in Richtung autoritärer bis faschistischer Regimes bewegt. Gregoire Chamayou (2020) hat die autoritären Libertäten (die in den USA und Großbritannien besondere Resonanz erfuhren) zum Sprechen gebracht, also mittels treffender Zitate die anti-demokratischen und autoritären Strömungen deutlich gemacht und ihre Vertreterinnen und Vertreter damit als anti-liberale Ideologinnen und Ideologen entlarvt. Er zeigt auf, wie in einer Rolle rückwärts die Errungenschaften des Sozialstaates und der Arbeitnehmerrechte, der Gemeinwirtschaft, der Marktregulierung und Umverteilung in einem ideologischen Machtkampf zurückgedreht wurden. Ther (2019) zeigt Ähnliches detailliert auf für Polen und Ungarn, wo sich die Regierenden radikalisierten. Die Menschen haben die »freie« Marktwirtschaft als Bedrohung erfahren und sind dann zunächst zu den Konservativen, heute reaktionären Parteien übergelaufen. In Deutschland hat die Regierung Schröder eine neoliberale Politik betrieben, Unternehmenssteuern gesenkt, das Hartz-System eingeführt und damit die Sozialversicherungsbeiträge kassiert und eine Verarmungsdrohung etabliert. Der autoritäre Liberalismus hat somit viele Menschen so sehr in Bedrängnis gebracht, dass sie entweder gar nicht mehr an der politischen Willensbildung teilnehmen oder aber gegen ihre »objektiven« Interessen für retropolitische Populisten votieren. Polanyi hat schon früh darauf hingewiesen, dass der ökonomische Liberalismus gerade bei der Einschätzung des Wandels und der Transformation versagt hat: »Befeuert vom emotionellen Vertrauen auf die Spontaneität (des Marktes) wurde die vernunftbestimmte Einstellung zur Veränderung zugunsten einer mystischen Bereitschaft aufgegeben, die sozialen Folgen eines wirtschaftlichen Fortschritts zu akzeptieren, wie immer sie geartet sein mochten. Die elementaren Wahrheiten der politischen Wissenschaft und Staatskunst wurden zuerst diskreditiert und dann vergessen.« (Polanyi 1978, S. 59)

Das führte zu einer Auflösung der sozialen Ordnung, zu anomistischen Verhältnissen, die die soziale Ungleichheit immer größer werden lassen. Das Bestreben, durch deliberative Prozesse die weitere Kultivierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu betreiben, ist zugunsten eines unkritischen Vertrauens in die Selbstheilungskräfte des Marktes und einer Konkurrenz- und Egoismuswirtschaft ersetzt worden. Die zentrale Rolle des (demokratischen) Staates be-

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steht ja gerade in der Möglichkeit, die Geschwindigkeit und die Art der Transformation zu beeinflussen. Wenn man die Dystopie von Ausbeutung, gesellschaftlicher Gewalt, Entfremdung und Naturzerstörung vermeiden will, ist für eine Regulierung dieser drei Märkte zu sorgen. Was können wir also tun, um die »Märkte« für Arbeit, Grund und Boden sowie Geld so einzuhegen und zu regeln, dass Gustonien erblüht?

8.

Neue Arbeit, weniger Arbeit: »Arbeitsmärkte« regulieren

Die Rolle der Arbeitenden und der Vermögensbesitzenden sind deutlich different. Kapital ist unabhängig von einer Person einsetzbar und als arbeitender Mensch kann ich nur meine Arbeit einbringen. Arbeit wurde dafür komodifiziert, also zur handelbaren Ware degradiert. Im Kapitalismus ist die Schaffung von abstraktem Reichtum auf der Erzielung von Mehrwert durch menschliche Arbeit aufgebaut. Kapital und Arbeit sind miteinander verbunden. Kapital muss sich akkumulieren, also Geld in noch mehr Geld verwandeln. Arbeit hingegen wird in diesem System verkauft, um dadurch Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Interessengegensatz führte (über harte soziale Konflikte und Kämpfe) zu einem politisch regulierten und durch Sozialpolitik abgefederten Aushandlungsprozess, bis das Pendel wieder mehr in Richtung »Markt« ausschlug. Es ist schon erstaunlich, dass die Marktideologie so sakrosankt ist. Märkte für Arbeit sind unmenschlich; Menschen sind keine Ware. Ein solcher »Markt« ist immer ungerecht und asymmetrisch hinsichtlich Macht und Information. Warum arbeiten wir so viel, häufig entfremdet, viele unter elendigen Bedingungen? Im Zuge der Industrialisierung (von lateinisch industria, Betriebsamkeit, Fleiß) wurden den meisten Menschen schlicht die Alternativen verbaut. Niemand würde aus freien Stücken gefährliche, schlecht bezahlte, nicht auskömmliche Arbeit ausüben, wenn sie und er nicht dazu gezwungen würde oder wäre. Längst könnten wir im Reich der Freiheit leben, in einer gustonischen Mußegesellschaft, wo wir alle frei wählen können, wieviel und was wir arbeiten wollen. Doch durch die Geschichte kann man verfolgen, wie die Möglichkeiten zur Selbstversorgung zum Beispiel durch die Enclosure of Commons entzogen und wie Gemeineigentum und kleines Eigentum den Großgrundbesitzern zugeschlagen wurden. Marx beschreibt im Band 1 des Kapitals diese Prozesse der Expropriation des Landvolks und die ursprüngliche Form der Akkumulation (Marx 1968, S. 741– 760). Diese Tendenz der Enteignung hält bis heute weltweit an. Sklaverei war wohl die schlimmste Form des Zwangs zur Arbeit. Lohnsklaverei ist selbst heute noch weit verbreitet. Ausbeuten kann man nur Menschen und die außer-menschliche

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Natur. Also muss man einen Zwang der Verhältnisse schaffen, um die Menschen zu zwingen, das zu tun, was sie nicht wollen. Für den Kapitalisten muss die Reproduktionsfähigkeit erhalten bleiben und irgendwo muss man Menschen mit Geld versorgen, dass die Produkte auch gekauft werden. Das Ziel bleibt: Kapital muss sich im Kapitalismus akkumulieren. Wie schrieb Karl Marx 1864 (1968, S. 621) so treffend: »Akkumuliert. Akkumuliert. Das ist Moses und die Propheten.« Auf dem Gebiet der Arbeit ist es deshalb wichtig, die Möglichkeiten der Wahl für Arbeitende zu erweitern und die Akkumulation von Kapital zu bremsen. Alles, was Menschen unabhängiger macht, führt zu einer geringeren Ausbeutung: Konkret sind deshalb Mindestlöhne zentral, eine materielle krisenfeste Grundversorgung, freie Bildungs- und Befähigungsmöglichkeiten, am besten bedingungsloses Grundeinkommen und Grundvermögen. Die Leserinnen und Leser wundern sich vielleicht: Ja, jedem Menschen steht ein Teil dieser Erde zu, es gibt keine ethische Begründung, einem Menschen, einen Anteil an dieser Erde zu verweigern: »Die Arbeit von anderen Aktivitäten des Lebens zu trennen und sie dem Gesetz des Marktes zu unterwerfen, bedeutet alle organisatorischen Formen des Seins auszulöschen und sie durch eine andere Organisationsform zu ersetzen, eine atomistische und individualistische Form.« (Polanyi 1978, S. 224)

Die Fundamentalökonomie (Foundational Economy Collective 2019) bietet einen pragmatischen Ansatz, die Entfaltung des Lebens, die Verwirklichungschancen und die Befähigung von Menschen konkret zu stärken: Sie stellt die Infrastruktur für ein sicheres, gesundes und kultiviertes Leben zur Verfügung. Unter dieser Ökonomie des Alltags werden alle die Bereiche verstanden, die basal sind für die Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger eines Landes: Es sind eine gute Wasser- und Energieversorgung, die Kanalisation sowie die ökologische Entsorgung, zudem der freie Zugang zu Bildung und Wissen, Kinderbetreuung und medizinischer Versorgung, Pflege, bezahlbaren Wohnungen sowie einer Mobilitätsinfrastruktur. Aber auch die Forschung und Innovation in der Gesellschaft beruht zumeist auf staatlicher Förderung, wie uns Mariana Mazzucato (2013) nachgewiesen hat. Alle diese Bereiche werden von Menschen notwendigerweise fast alltäglich in Anspruch genommen. Wenn diese Grundlagen fehlen oder nur unzureichend verfügbar sind, schränkt es die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten erheblich ein und der Wohlstand insgesamt wird gefährdet. Hier kann man die Widersprüche zwischen abstrakten Menschenrechten und mangelnder materieller Unterstützung des Gattungswesens Mensch erkennen. Das »gute Leben« kann eher in einer solidarischen Gemeinwirtschaft realisiert werden (Nussbaum 1999; Sen 2010). Auf der Basis der Ökonomie des Alltags können sich Menschen individuell und kollektiv entwickeln und befähigen. Eine starke öffentliche Fundamentalökonomie entzieht zudem den Akkumulatoren

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Möglichkeiten der weiteren Kapitalisierung und Ausbeutung. Meiner Ansicht nach sind Gesundheit, Bildung sowie alle Bereiche der Daseinsvorsorge der Privatisierung zu entziehen. Hier stören Märkte nur, senken das moralische Niveau, wie der liberale Ethiker Michael Sandel (2010) erläutert, und führen in den beobachtbaren Fällen zu einer Verschlechterung der Situation für die meisten Menschen und die Natur. So tagträume ich von einer Gesellschaft der Muße. Nur, wo ist sie zu finden? In welcher Region, Gemeinschaft, welchem Land? Neben Ländern mit kultivierter Fundamentalökonomie sind zahlreiche Gemeinschaften zu nennen, in denen andere Formen der Kollaboration ausprobiert werden: In egalitären, solidarischen, eher kleinen, freien und maßvollen Kulturen leben die Menschen am zufriedensten. Bec Hellouin in der Normandie und Gut Tempelhof im Allgäu habe ich mir auf der Reise nach Gustonien näher angeschaut. Dort wird mit Permakultur eine Ökonomie betrieben, die sowohl die Erkenntnisse der Kultivierung nutzt als auch die Selbstorganisationsprozesse der Natur respektiert und fördert (Scheub/Schwarzer 2017). Diese Form des Wirtschaftens kann als syntropisch, also wertsteigernd, blühend und ertragreich beschrieben werden und dient so als Vorlage für das koevolutive Wirtschaften überhaupt, eine relokalisierte, dezentrale Ökonomie mit erheblich mehr und sinnvollen Arbeitsplätzen (Bergmann 2014a, S. 27–30; Schwab 2019; 2020). In vielen dieser Ökodörfer und Communities wird alles gemeinsam entschieden, deliberative Verfahren wie Soziokratie werden erprobt, es wird ein menschliches Maß erfüllt, die Menschen können ihre Umgebung mitgestalten und sie organisieren ein solidarisches Miteinander. In Gustonien werden diese Formen der Zusammenarbeit besonders gefördert, dort wird die Relokalisierung unterstützt, indem die Subventionen für großindustrielle Formen (auch der Landwirtschaft) schlicht zurückgefahren werden. Es gibt noch einen wesentlichen Grund, warum wir gefangen sind in der Schufterei und Plackerei: Es sind die Aufstiegsversprechen und der kompensatorische Konsum. Im Kapitalismus müssen alle ökonomischen Flauten durch mehr Wachstum gelöst werden, Wachstum um jeden Preis ist systemnotwendig, weil es sich nur dynamisch stabilisiert. Es soll konsumiert werden, sei es das Unsinnigste der Welt. Es ist eine Spirale der Gewalt gegen Mensch und Natur. Es müssen Bedürfnisse erfunden und Terrains abgesteckt werden, das Nutzloseste ist gerade recht, um die Skalierung weiter zu treiben. Die inhärente Steigerungsspirale wird zu einem Festfressen. Nicht zu einem Festessen, an dem alle teilhaben, zu dem gemeinsam gekocht wurde. Es muss vielmehr ein immerwährender Raubbau betrieben werden, Investoren wird der Teppich ausgerollt, es braucht Expansion und die neuerliche Schaffung von (oft homogenen) Arbeitsplätzen, als Überkompensation des Wegfalls durch Automatisierung. Dabei wäre eine relokalisierte, polyzentrische Wirtschaft lange möglich, wie sie Piore und Sabel (1985) schon in den 1980er Jahren beschrieben haben. Sie wäre ein

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Ende der Konzerne, die natürlich kapitalintensiv und nicht personalintensiv arbeiten. Auch Ordoliberale wie Walter Eucken haben schon früh (1949) die Problematik von Konzernen aufgezeigt. So forderte er »eine Umgestaltung des Gesellschaftsrechts (vor allem des Aktiensrechts), wobei der Haftungsgedanke verschärft werden sollte« (Eucken 1999, S. 36). In der Konzernwirtschaft bleibt es ein rasender Stillstand, ein Teufelskreis der verzweifelten Intensivierung, der nicht regenerativen Wirtschaft. Seelische, körperliche und geistige Erschöpfung sind ebenso die Folge wie die Zerstörung der bio-physikalischen Lebensgrundlagen. Als Ersatz für das schöne Leben in Liebe, Muße und Leidenschaft werden die Menschen mit einem Versprechen auf Aufstieg und die Versorgung mit zweifelhaftem, materiellem Wohlstand, in Form von Events, Fernreisen, Luxustrash, ebenso mit modischen Wegwerfartikeln und Billigangeboten versorgt. Das bisschen Leben, was die meisten Menschen gewährt bekommen, wäre mit erheblich geringerem Aufwand erreichbar und insbesondere übertreffbar. Dies wäre ein wahrer Wohlstand (Shor 2011) als Wohltat für die Welt. Weniger Arbeit, die die Arbeitenden und die Mitwelt zerstört, die Trennung von notwendiger Arbeit und Einkommenserzielung, Genügsamkeit, Autonomie, Selbstversorgung wären Wege aus diesem Polylemma. Wir sind aber überarbeitet, »… seit fünf Jahrhunderten arbeiten wir zu viel zu viel und viel zulange, das ist die einfache Wahrheit«, sagt es Franco Berardi (2019, S. 246). Dabei haben wir sukzessive unsere Seelen, unser soziales Miteinander beeinträchtigt und die Natur ruiniert. Ungleichheit, gesellschaftliche Verwüstungen, Gewalt und Raubbau an der Natur sind die Folgen. In vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt, aber ebenso in Autokratien wie Katar lebt die erbarmungslose Ausbeutung in einer Billigindustrie weiter. Mit Axel Honneth (2017) ist über eine soziale Freiheit nachzudenken, wo alle Anerkennung erfahren. Wirklich frei ist ein Mensch erst, wenn er nein sagen kann, wenn er sich wie Bartleby (Melville 1853) verweigern kann gegenüber den Zumutungen der Mächtigen und sagt: »I would prefer not to.«

9.

Geldmärkte einschränken

Alle Resultate wertschöpfender Tätigkeit sind Sozialprodukte, sie entstehen im Zusammenwirken verschiedener Akteure. Kapital wird neben Arbeit und Natur (Boden) in der klassischen Wirtschaftswissenschaften als dritter Produktionsfaktor benannt und oft in einer prominenten Rolle gesehen. Dabei kann zwar ohne Kapital Wert erzeugt werden, ohne Natur und menschliche Arbeit hingegen nicht. Reiner Kapitalverkehr und Finanzkapitalismus schaffen keine verwertbaren Produkte, sondern können nur das immaterielle Vermögen, die Verfügungsrechte erweitern. Die Vermögenden vermögen damit, vermögender zu

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werden. Im Finanzsektor wird fiktiver Reichtum geschaffen, der von der ursprünglichen Wertverwertung abhebt (Mazzucato 2018). Im allgegenwärtigen Kapitalismus werden Kapitalunternehmen nur unterhalten, um damit das Kapital zu mehren, nicht, um dort Güter und Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten (Bakan 2005). Diese sind nur Mittel zum Zweck der Akkumulation. Weitere Bereiche der Gesellschaft (Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Altenheime) werden finanzialisiert oder neue Bereiche der Bereicherung geschaffen, wie es Boltanski und Chiapello (2018) beschreiben. Der Kern liegt meines Erachtens in der völlig unbeschränkten Kapitalzirkulation, dem »freien« Kapitalverkehr (bis in Steueroasen), wozu leider auch Länder wie die Niederlande oder Irland gehören, die mitten in Europa Firmensitze durch Steuervorteile attrahieren. Großbritannien kann als ein Negativbeispiel für die Konzentration auf den Finanzmarkt betrachtet werden. Die Ungleichheit in Großbritannien ist besonders stark angestiegen, alles konzentriert sich auf die City of London und die industrielle Basis ist fast vollends getilgt worden. Das Land duldet bewusst diverse Steueroasen, scheint somit ganz in der Hand der Geldschöpfer. In der Pandemie zeigt sich die Zerrüttung dieser Gesellschaft, verstärkt außerdem durch das verzögerte und wenig professionelle Handeln zur Abwehr der Folgen. Auch hier leidet das Gesundheitssystem und die breite Bevölkerung weist für ein »Industrieland« einen schlechten gesundheitlichen Zustand auf. Eine Eingrenzung der privaten Bereicherung, sprich ein Ausbremsen der Kapitalakkumulation, könnte durch eine andere Steuerpolitik und die Begrenzung des Eigentums erfolgen. Die Finanztransaktionssteuer ist so ein ausgefeiltes Instrument, dass immer wieder gelobt wird, eingeführt werden soll und dann immer wieder (augenscheinlich von Lobbyisten der Finanzwirtschaft) zu Fall gebracht wird. Dabei könnte dadurch das vollends sinnlose High Frequency Trading gebremst werden. Im Bereich Geldmärkte wirkt eine Fundamentalökonomie ebenfalls heilsam, weil genossenschaftlich, gemeinwirtschaftlich oder staatlich organisierte Infrastruktur, Chancen für Ausbeutung und Akkumulationsobjekte dem »Markt« entziehen. Zudem würde in Gustonien die Kontrolle über das Geld wieder gewonnen, über die Erhöhung der Mindestreserve, das Verbot rein spekulativer Finanzprodukte und des High Frequency Trading. Schließlich wäre das Vollgeld eine Lösung. Es würde überdies helfen, Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu revitalisieren, dort Mängel zu beheben, aber die Geldschöpfung zu begrenzen und eine öffentliche Kontrolle wirksam werden zu lassen. Wie sagte der weise Roosevelt: »There must be a strict supervision of all banking and credits.« Was wir brauchen, ist Gleichheit, denn die großen Vermögensunterschiede erzeugen neue Formen der Kapitalakkumulation. Gleichheit löst fast alle Probleme in Gesellschaften: Weniger Gewalt, weniger Statusstress, weniger Ener-

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gievergeudung und Müll, aber mehr Lebenserwartung, mehr Bildung, mehr Demokratie und mehr Glück (Layard 2005; Wilkinson/Pickett 2009; Rosanvallon 2013). Insbesondere wird den Spekulanten das oft leistungslos oder skrupellos erworbene Spielgeld genommen. Freiheitliche Denker wie John Stuart Mill (1848, Bd.1) haben schon im 19. Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, dass eine liberale Gesellschaft nur zu erhalten ist, wenn es hohe Erbschaftssteuern gibt. Die »Zufälligkeiten der Geburt« soll nicht über den Erwerb von Eigentum entscheiden. Liberale Denker ringen bis heute mit dem Widerspruch von Freiheit des Eigentums und einer leistungsgerechten Zuordnung von Einkommen und Vermögen. Deshalb wird es in Gustonien eine Erbschaftssteuer von 100 %, allerdings bei Freibeträgen von etwa 1 Mio. €, geben. Es geht um die gesellschaftliche Kontrolle über Riesenvermögen (Kirsch/Grossmann 2016). Zudem muss in einer kapitalistischen Wirtschaft umverteilt werden, um die Ungleichheit nicht immer größer werden zu lassen (Piketty 2014; 2020). Diese Erlöse sollten in ein bedingungsloses Grundeinkommen und -vermögen investiert werden, um allen Menschen eine Unabhängigkeit zu gewährleisten (Bergmann 2019a). Bisher werden abstrakte Rechte wie Gleichheit und Gerechtigkeit den Bürgerinnen und Bürgern zugesprochen, doch die zugesicherte Menschenwürde ist kaum vereinbar mit den mangelnden sozialen und ökonomischen Ansprüchen, also mangelnden materiellen Hilfen und Rechten. Auf diese Weise sind dann selbst arme Menschen frei, können aber kein würdevolles gutes Leben realisieren (Nussbaum 2020).

10.

Tragik des Eigentums, gemeinschaftliches Wohl

Eigentum in wenigen Händen verursacht große ökologische und soziale Schäden, es ist ungerecht und schließt die meisten von der Teilhabe aus. Es lässt kaum Spielraum für einen schonenden Umgang und eine Kultur der Reparatur (Bergmann 2014b). Insofern kann man von einer Tragik des Eigentums reden. Es blockiert, stockt, behindert den Erfindergeist, wirkt innovationsfeindlich, verbaut Chancen auf Entwicklung und erschwert Gemeinsamkeit und friedliches Auskommen miteinander. Bis zu einem bestimmten Punkt ist ein wenig privates Eigentum sinnvoll, zum Befrieden, zum Schonen, zum Schutz. Und zur Entfaltung. »Etwas muß er sein eigen nennen, oder der Mensch wird morden und brennen«, schrieb schon Friedrich von Schiller im Wallenstein. Die Wortherkünfte von Wohnen und Schonen deuten auf einen wichtigen Zusammenhang. Jeder Mensch möchte ein wenig für sich sein können, wie jeder, der in einer Wohngemeinschaft gewohnt hat, weiß, wenigstens seine Ecke, seinen Schreibtisch haben und bewohnen.

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Nur wie in so vielen Bereichen ist das Maß verloren gegangen. So sollte für die Wirkungen des Eigentums gehaftet werden und der Umfang des Privateigentumserwerbs begrenzt werden, sodass nicht die Verfügungsmacht auf eine extrem Minderheit für alle Zeiten übergeht. In einem System bestimmt letztlich immer derjenige, der das Eigentum besitzt und damit die Verfügungsrechte. Die glücklichsten Gesellschaften sind die mit den höchsten Steuern, zeigt uns Richard Layard (2005) auf, und Dänemark ist das beste Beispiel. Es muss jenseits des persönlich nutzbaren Besitzes einen großen Bereich des Gemeineigentums geben, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Teilhabe aller zu ermöglichen. Privates Vermögen erscheint sinnvoll, aber nur bis zu einem persönlich verantwortbaren Umfang. Während Jean Jaques Rousseau ganz grundsätzlich warnte, das private Eigentum zuzulassen, findet der französische Philosoph Michel Serres eine gustonische Version: »Der Erste, der einen Garten umzäunte, und sich anschickte zu sagen: ›Das genügt mir‹ und der egonom wurde, ohne nach mehr Platz zu lechzen, schloss Frieden mit seinen Nachbarn und behielt das ruhige Recht zu schlafen, sich zu wärmen, plus das göttliche Recht zu lieben.« (Serres 2009, S. 93)

Wo könnten wir fündig werden? In Norwegen wird zumindest der Ertrag aus den Öl- und Gasvorkommen auf die Gesellschaft verteilt. Der norwegische Staatsfond investiert die Überschüsse nur außerhalb des Landes nach demokratisch kontrollierten und diskutierten Regeln der Nachhaltigkeit. Zudem kommen die Erträge der gesamten Gesellschaft zugute, weil in die Fundamentalökonomie investiert wird. Die vorsorgende Bewirtschaftung und Diskussionen um die Begrenzung der Ausbeutung im Nordpolarmeer sind wahrscheinlich auch auf die solidarische Tradition zurückzuführen. Historisch war man immer auf die Hilfe anderer angewiesen, um die schweren Winter und die Kargheit zu überstehen. Andere Länder wie Russland mit noch größeren Vorkommen an Öl und Gas schaffen es nicht, die Gesellschaft zu entwickeln. Das größte Land der Erde verfügt über gigantische Ressourcen und hat eine sehr geringe Bevölkerungsdichte. Sicher erklären historische (das Feudalsystem kippte um in das Sowjetsystem) wie auch topologische (gigantische Entfernungen, wenig schiffbare Flüsse etc.) Bedingungen und der rasante Übergang in ein Marktsystem (Oligarchisierung) die heutige Situation in Russland. Die ungeordnete Markt- und Konkurrenzgesellschaft schlägt auch hier zu. Die Lebenserwartung sinkt (besonders bei Männern), die formale Demokratie, die Gewaltenteilung und die Pressefreiheit wurden vom Regime außer Kraft gesetzt, die Ungleichheit ist immens und eine gedeihliche Entwicklung ist nicht zu erkennen. Dagegen rangiert Norwegen als ehemals armer Agrarstaat nun auf Platz eins des Human Development Index. Die Lebenserwartung ist sehr hoch, die Befähigungskultur etabliert, die Ungleichheit reduziert.

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11.

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Märkte für Grund und Boden einschränken

»Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« (Jonas 1979, S. 36)

Dieser Auftrag von Hans Jonas wird uns nur gelingen, wenn die strukturellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das heißt, das Primat des Kapitals zu beenden. So hat die Wirtschaft letale Wirkung. Der Widerspruch besteht darin, dass man »Umweltschutz« immer hinten anstellt und aus einer boomenden Wirtschaft finanzieren will. Es verhält sich gerade andersherum, nur in einer intakten Mitwelt wird Wirtschaft auf Dauer erblühen. Jason Moore (2020) entwickelt in seinem Buch »Kapitalismus im Lebensnetz« ein Wertgesetz, das die Theorie von Marx (1968, S. 55–60) erweitert. Dort war der Fokus mehr auf die Ausbeutung und Entfremdung der Arbeitenden gerichtet, die eben zur Kapitalakkumulation dienen. Moore führt aus, dass neben der Aneignung von billiger Arbeitskraft auch noch die Ausbeutung nicht-menschlicher Natur hinzukommt. Es werden Rohstoffe günstig extrahiert, das Land verwüstet, die Entsorgung (also Aneignung durch Verschmutzung) mit geringen Kosten bewerkstelligt (»Endlagerung« von Brennstäben, »thermische Verwertung« von Abfällen). Zudem lebt der Kapitalismus von der Ausbeutung nicht-menschlicher Lebewesen und der Extraktion und Erschöpfung von Böden. Zu den Four Cheaps gehören auch die nicht oder nur marginal bezahlten Arbeitskräfte, die vor allem zur Reproduktion der Erwerbsarbeitenden dienen. Somit sind weitere Quellen für Mehrwert ausfindig gemacht. Doch dieser soziale und ökologische GesamtSurplus neigt sich seinem Ende zu. Es hat sich eine Überproduktion und Überakkumulation gewaltigen Ausmaßes ergeben, die im dialektischen Verhältnis zu der »Unterproduktion« von Rohstoffen und anderen »billigen Naturen« steht. Man könnte auch sagen, dass der Kapitalismus zu rein entropischen (Werte zerstreuenden) Prozessen tendiert, zumindest die syntropischen (wertbildenden) bei weitem übersteigt (zu Entropie Georgescu-Roegen 1971; zu Syntropie Duerr 1995). »Darin liegt der Übergang vom Mehrwert zum Negativwert. Der Klimawandel ist das schlagendste Beispiel hierfür. Allerdings nicht das einzige. Zunehmend wird sichtbar, dass die globale Erwärmung für jegliche neue kapitalistische Agrarrevolution eine unüberwindliche Barriere darstellt und damit auch für jede Wiedereinsetzung billiger Natur.« (Moore 2020, S. 466–472)

Moore sieht ein Ende des Gesamt-Surplus schon als gegeben an, da im neuen Jahrtausend sowohl die Ausbeutung der Menschen bis ans Ende der Welt vorangetrieben wurde und die natürlichen Ressourcen sich fast alle vor einer vollständigen Ausschöpfung befinden (Moore 2020, S. 146–147).

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In Gustonien wird der Krieg gegen die Natur beendet und stattdessen die Verbundenheit zur außermenschlichen Natur betont. Gustonien schimmerte schon durch als überraschende Nebenfolge der Pandemie. Die Luft haben wir nochmal ohne Kondensstreifen erlebt, in Venedig kann man wieder Fische im klaren Wasser bewundern, die Luft in Shanghai wieder ohne Bedenken einatmen und aus Indien war die Silhouette des Himalayas wieder sichtbar. Die Einschränkung des Freihandels, das Zurückfahren der Produktion haben uns aufgezeigt, dass wir die Klima- und Umweltkatastrophe noch abwenden könnten, wenn wir nur die Kapitalakkumulation und Ausbeutung bremsen und reduzieren. Auch die »Märkte« für Wohnen und Grundstücke werden in Gustonien deutlich reglementiert. Mieter sind am Wohnungsmarkt klar unterlegen, der Staat und Genossenschaften müssen und können diesen Markt regulieren und durch eigenes Angebot die Menschen mit günstigen Wohnraum versorgen, wieder ein Bereich, in dem die Fundamentalökonomie wichtige Beiträge leisten kann. In Gustonien würde natürlich stärker der Spekulation im Wohnungsmarkt und der Bodenspekulation entgegengewirkt. Ja, und es gibt eine Menge mehr Regeln und Verbote, denn eine Welt ohne Maß endet schnell in Zerstörung (Camus 1953). Ohne Maß und Regel macht noch nicht einmal das Spiel Freude. Es geht darum, gemeinsam begründete Regeln und Grenzen zu entwickeln. »Verbieten verboten«, hieß es in einem SpontiSpruch. Doch sollte es wirklich keine Verbote mehr geben oder weniger? Es kommt doch sehr darauf an, wie diese Regelungen zustande gekommen sind. Häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder sind doch zurecht untersagt, zu schnelles Fahren in der Innenstadt ebenfalls. Warum sollte in Zukunft nicht grundsätzlich verboten sein, die Menschen oder die nicht-menschliche Natur auszubeuten? Es gibt doch gute Gründe, nicht zuzulassen, dass wenige auf Kosten der meisten leben. Deshalb kann man doch darüber nachdenken, keine »Verschmutzungsrechte« mehr zu vergeben. In Kopenhagen und anderen Städten gibt es schon Verbote, die Innenstadt mit Verbrennungsmotoren zu verschmutzen. In den Städten zeigt sich sowieso die gesellschaftliche Transformation. Wem gehört die Stadt, wer darf sie nutzen? Warum gibt es so weitreichende Subventionen und Vorrechte für die automobile Nutzung? In Gustonien wird die Stadt natürlich den Menschen gehören und wir werden die Erkenntnisse der Vorbildprojekte nutzen (Gehl 2015).

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12.

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Demokratie dominiert über Märkte

Aus meiner Sicht erscheint es mir maßgeblich, die Wirkungen der »Märkte« stärker zu hinterfragen. Die Freiheit der Märkte wirkt wie ein Euphemismus, eine Verbrämung, die das Eigentliche verdeckt. Märkte funktionieren nicht gut bei gravierenden Informations- und Machtasymmetrien, lehrt uns selbst die klassische Ökonomik. Freiheit unter Ungleichen führt schnell zur Unfreiheit der meisten. So hemmt globaler Freihandel die Entwicklung derjenigen Länder, die nach der Theorie der komparativen Kostenvorteile in ihre Rolle als Rohstofflieferanten gedrängt und dort gehalten werden. Wir im Westen haben uns angewöhnt, Freiheit zu proklamieren und einseitigen Freihandel zu praktizieren. So chronifiziert und verstärkt sich die Ungleichheit auf der Welt. Im nationalen Rahmen ist der freie Markt auch in vielen Bereichen ungeeignet. Viele Politikerinnen und Politiker favorisieren technische Lösungen für die Transformation der Gesellschaft, soziale, wie ökologische Probleme sollen hierdurch elegant gelöst werden. Doch grundsätzlich bestimmt die technologische Entwicklung nicht über die Auswirkungen, vielmehr treten durch neue Technologien die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere die Machtverhältnisse, nur deutlicher hervor. Die Digitalisierung und Automatisierung könnte den Menschen ja zum Beispiel die Arbeit leichter machen, vielleicht sogar schwere, gefährliche, entfremdete, repetitive und psychisch belastende und unwürdige Arbeit ganz beseitigen, weil sie an Roboter und Automaten übertragen wird. Insgesamt könnten wir dann weniger arbeiten, um uns den wirklich kreativen, kurativen, erbaulichen Tätigkeiten in Muße zu widmen. Ein Reich der Freiheit lockt. Da aber die Möglichkeiten der Digitalisierung aufgrund der Eigentums- und Machtverhältnisse anders genutzt werden, weil wir in den Betrieben häufig autoritäre private Regierungen vorfinden, die sich einer demokratischen Kontrolle fast vollständig entziehen (Anderson 2019), leben die meisten Menschen weltweit weiter im grassierenden System der Betriebsamkeit und Plackerei. Wir sollten es nicht den »Märkten«, sprich den Vermögenden überlassen, welche Technologie, wo und wie eingesetzt wird, sondern wir müssen das gesellschaftlich diskutieren und dann gemeinsam entscheiden. Eine generelle Tendenz in der digitalen Wirtschaft ist der Übergang von Markt- zu Machtwirtschaften, wie es Phillip Staab (2020) detailliert aufzeigt. Sogenannte Plattformen in fast allen Bereichen der Industrie und des Handels sowie der Dienstleistung sind nicht weitere Marktteilnehmer, sondern sie besitzen förmlich den Markt. Das Besondere in der digitalen Wirtschaft ist, dass jeweils nur wenige oder nur ein Anbieter gebraucht werden beziehungsweise wird. Somit kommt ein weiterer »Markt« hinzu, der reguliert werden müsste, da sich hier gigantische Datenunternehmen gebildet haben, denen die anderen Marktteilnehmer in

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Ohnmacht gegenüberstehen. Rent seeking, Effiziency, Speed und Wachstumsdenken stehen im Vordergrund und im Hintergrund werden gar unsere zukünftigen Bedürfnisse manipuliert. Es ist schon verwunderlich, dass Investoren, Vermögende und Kapitaleigner auch nach mehreren Krisen so wenig reguliert werden, sie wenig Steuern zahlen, eine allseits gelobte Finanztransaktionssteuer immer wieder abwenden können, auch, weil sie über Lobbyismus auf die Politik Einfluss nehmen können – während die meisten Akteure (z. B. im kleineren Mittelstand) enge Regeln auferlegt bekommen und (z. B. insbesondere Angestellte und Arbeiter) präzise ihre Steuern abführen müssen. Interessant ist es, dass die GAFA-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon) Systeme der Preisbildung entwickelt haben, die die Neoklassik der Ökonomie ad absurdum führen. Sie brauchen gar keine Märkte, um Preise festzulegen. Wenn nun Staaten die Märkte begrenzen und diese Riesendatenunternehmen zerschlagen würden, könnten sie andere Steuerungsmedien nutzen. Jochum und Schaupp (2019) halten es für möglich, dass die Kybernetisierung in Verbindung mit Big Data eine neue Grundlage zur generellen Koordination, Planung und Allokation von Ressourcen, Bedarfen und zur Preisbildung bilden könnte. Dann wäre es außerdem möglich, die entgrenzte Privatisierung öffentlicher Güter zu revidieren und eine Globalsteuerung unter demokratischer Kontrolle zu etablieren (Jochum/Schaupp 2019, S. 333–350). Es wäre eine demokratisch legitimierte Gemeinwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen. Diese müssen wir zunächst einmal denken und ausformulieren, um sie dann in demokratischen Prozessen zu entwickeln und zu realisieren. Meine Vision besteht darin, die Errungenschaften der menschlichen Zivilisation, die normativethischen Regeln und Theorien (Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie, Kategorischer Imperativ etc.), zu nutzen und das Ökonomische in die dienende Funktion zurückzuverweisen. Meine Zuversicht speist sich daraus, dass wir unsere menschlichen Lebensgrundlagen nicht weiter gefährden, nur, weil wir wesentliche Entscheidungen dem »freien Spiel der Kräfte« (den Märkten, den Vermögenden) überlassen wollen. Damit würden wir weiter auf einem niedrigen moralischen Niveau die gesamte Mitwelt ruinieren. So entstehen – so hoffe ich – ab einem Kipppunkt deutliche Tendenzen für eine gesellschaftliche Transformation. Die wesentlichen Ansatzpunkte bestehen im Abbau der Ungleichheit und einem schonenden Umgang mit der Natur. Dafür erscheint es mir aber notwendig, in allen Bereichen mehr Mitsprache und Mitwirkung, mehr Verantwortung und Haftung und mehr Teilhabe in einer demokratischen Mitweltökonomie zu verwirklichen (Bergmann 2019a; 2019b; 2020). Den größten Zugewinn an Lebensqualität könnten wir erreichen, wenn wir weniger arbeiten, weniger konsumieren, weniger akkumulieren, weniger begehren, wenn wir anders miteinander in Beziehung treten, andere Formen der solidarischen Wirtschaft erproben und wenn wir in allem langsamer werden, voller

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Muße das Leben genießen, uns wie jede Gärtnerin und jeder Gärtner in Geduld üben und den Pflanzen gute Bedingungen schaffen. In Gustonien, wo die Märkte und das Privateigentum begrenzt sind, wird es mehr Muße geben, weil aus Angst Glück wird. Es gibt weniger entfremdete und mühselige Arbeit, die Menschen wenden sich einander zu, statt sich im Statusdenken und der erbarmungslosen Konkurrenz gegenseitig das Leben schwer zu machen. Auch die persönlichen Ansatzpunkte sind reichhaltiger, als viele denken, und die Happy few der Weltgesellschaft haben eine große Verantwortung (Bergmann 2020). Es wird in Gustonien nicht mehr auf Kosten anderer und zukünftiger Menschen gelebt. Es ist sogar zu erwarten, dass sich in dieser kultivierten Gesellschaft mehr Großgesinntheit, Toleranz und Offenheit entwickeln. Oh wie schön wird Gustonien!

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Gustav Bergmann

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Niko Paech*

Aus der Pandemie lernen: Zukunftsbeständigkeit durch Selbstbegrenzung

1.

Die multiple Krise der Wirtschaftswissenschaften

Als Folge einer bedingungs- und besinnungslosen Ausrichtung an Wachstum und Technisierung hat die menschliche Zivilisation innerhalb nur weniger Jahrzehnte ihre Überlebensfähigkeit eingebüßt. Ökonomische Zukunftsentwürfe, die beanspruchen, dieses Scheitern konstruktiv zu wenden, müssten sich nun zuvorderst an zwei Mindestanforderungen messen lassen: ökologische Tragfähigkeit und ökonomische Resilienz. Von einem Mangel an Transformations- oder Korrekturversuchen kann indes keine Rede sein. Doch unterwarfen sich diese bislang einer systemkonformen Logik, die zumeist als »ökologische Modernisierung« oder »Green Growth« bezeichnet wird. Diese verkörpert eine vorgeblich geläuterte, nunmehr »nachhaltige« Steigerungsvariante, dient zeitgenössischen Konsumgesellschaften jedoch lediglich als Alibi dafür, jede überfällige Anspruchsmäßigung als unnötig abzulehnen. Tüchtiger Fortschrittseifer, so lautet das Credo, möge einen Wirbelwind der technischen Erneuerung heraufziehen lassen, der alle Nachhaltigkeitsdefizite rückstandslos beseitigt, ohne den Insassen zeitgenössischer Komfortzonen reduktive Handlungsänderungen zumuten zu müssen. Interessanterweise sind es aber gerade viele der fieberhaft entwickelten Effizienz-, Energiewende-, Kreislauf- oder sonstigen »Green New Deal«-Innovationen, die den materiellen Raubbau sogar intensivieren, indem sie bislang verschont gebliebene Naturgüter und Landschaftsbestandteile einer »grünen«, nichtsdestotrotz industriellen Verwertung zuführten. Dies zeigt die deutsche Energiewende – der beispielsweise für den Odenwald geplante Windkraftausbau entspricht seiner perfekten landschaftlichen Zerstörung – genauso eindrucksvoll wie die Tesla-Ansiedlung in der Grünheide, die Lithium-Förderung in Bolivien, die Neodym-Gewinnung in

* Prof. Dr. Niko Paech, Universität Siegen, Fakultät III (Wirtschaftswissenschaften – Wirtschaftsinformatik – Wirtschaftsrecht), Forschungsstelle Plurale Ökonomik.

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Niko Paech

China, die Elektroschrott-Lawine in Afrika oder die Wasserkraftprojekte in Brasilien und der Türkei. Zusätzlich dazu platzte mit der Lehman-Brothers- und der Corona-Krise eine Barriere ganz anderer Art in die Wachstumsparty. Sie hat den Nachhaltigkeitsdiskurs jenseits ökologischer Belange um einen vormals wenig beachteten Aspekt erweitert: Resilienz als Fähigkeit der Gesellschaft, der Ökonomie, eines technischen oder sozialen Systems oder auch eines Individuums, (externe) Störungen zu verarbeiten, ohne die Überlebens- und originäre Funktionsfähigkeit zu verlieren. Der komplementäre Begriff, nämlich Vulnerabilität, korrespondiert mit jenen »Bruchstellen«, die sich als systematische Nebenwirkung hoch technisierter und globalisierter Versorgungsstrukturen identifizieren lassen und deren Krisenrobustheit unterminieren. Vor diesem Trümmerhaufen doppelt geplatzter Fortschrittsverheißungen formieren sich innerhalb der Nachhaltigkeitsforschung wachstumsskeptische Positionen, etwa unter Bezeichnungen wie »Steady State« (Daly 1977), »Degrowth« (D’Alisa/Demaria/Kallis 2016), »Décroissance« (Latouche 2006), »Decrescita« (Pallante 2005) oder »Postwachstumsökonomie« (Paech 2008; 2012). Sie widmen sich ökonomischen Strukturen und Praktiken, die das Ziel der ökologischen Überlebensfähigkeit mit jenem der Resilienz koppeln. Die daraus hervorgegangene Postwachstumsökonomik bildet eine heterodoxe, wachstumskritische und auf den Gesetzen der Thermodynamik basierende Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften, die sich zudem in der Pluralen Ökonomik verorten lässt. Als Lehr- und Forschungsprogramm richtet sie den Blick auf drei grundlegende Fragestellungen: (1) Welche wissenschaftlich gehaltvollen Begründungszusammenhänge lassen erkennen, dass ein weiteres Wachstum der globalen Wertschöpfung keine Option für das 21. Jahrhundert sein kann? (2) Was sind die Ursachen dafür, dass moderne, global vernetzte, industrielle Volkswirtschaften bestimmten Entwicklungsdynamiken unterworfen sind, die zuweilen als Wachstumszwang oder -treiber betrachtet werden? (3) Wie lassen sich die Konturen einer Ökonomie jenseits weiteren Wachstums (Postwachstumsökonomie) darstellen? Die Postwachstumsökonomik verneint den Fortschrittsoptimismus einer Vermehrbarkeit materieller Handlungsspielräume im endlichen System Erde. Sie verinnerlicht stattdessen eine stoffliche Nullsummenlogik: Jedes Mehr an materiellen Freiheiten wird zwangsläufig mit einem Verlust an nutzbaren Ressourcen und einer Zunahme ökologischer Schäden erkauft. Mit dieser Prämisse wird eklatant und folgenreich zeitgenössischen Modernitätskonstruktionen widersprochen, die implizit unterstellen, dass ökonomische Überschüsse durch gesteigerte Effizienz, Wissen und Kreativität quasi aus dem materiellen Nichts

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erschaffen und verteilt werden können. Die Postwachstumsökonomik verarbeitet die Einsicht, dass ein sozial gerechter Zustand nur erreicht werden kann, wenn akzeptiert wird, dass die verfügbare Verteilungsmasse begrenzt ist. Denn was aus industrieller Spezialisierung resultiert, ist grundsätzlich nicht ohne ökologische Plünderung zu haben und bedarf daher einer Limitierung. Im Folgenden soll lediglich eine der zahlreichen Begründungsebenen, die einen ökonomischen Zukunftsentwurf jenseits moderner Steigerungsdynamiken nahelegen, näher betrachtet werden, nämlich die systematische Vulnerabilität globalisierter Versorgungs- und Produktionsmuster. Sodann werden die Konturen der Postwachstumsökonomie in den Blick genommen.

2.

Die Welt im Krisenmodus

Als im Herbst 2008 der Lehman-Brothers-Crash wie ein Meteorit einschlug, wurde von einem Jahrhundert-Ereignis gesprochen, das sich in vergleichbarer Form letztmalig am Black Friday 1929 ereignet hätte. Nun zieht nicht einmal 12 Jahre später eine Krise herauf, deren ökonomische Folgen noch weitaus grundstürzender sind. Dabei markiert die Corona-Pandemie, ähnlich wie die vorangegangenen Erdöl-, Finanz- und New-Economy-Krisen, nur eine bestimmte Variante jener Szenarien, die längst als Folge kritischer Abhängigkeiten von entgrenzten Wertschöpfungs- und Marktarchitekturen diskutiert werden. Dies lenkt den Blick auf eklatante Vulnerabilitäten, gerade angesichts einer Gemengelage, in der Krisenbewältigungsstrategien und Notstände zum kräftezehrenden Dauerzustand geworden sind. Was sind die tieferen Ursachen für die mit dem Wohlstand gewachsene Verletzlichkeit globalisierter und technisierter Daseinsformen? a) Ressourcenverknappung: Die schon im ersten Bericht an den Club of Rome thematisierte Überbeanspruchung irdischer Quellenfunktionen erhielt mit der »Peak-Oil«- beziehungsweise »Peak-Everything«-Debatte einen neuen Akzent (vgl. Meadows et al. 1972; Heinberg 2007). Die abnehmende Verfügbarkeit physischer und ökologischer Ressourcen, von denen das in Europa vorherrschende und im globalen Süden auf dem Vormarsch befindliche Industriemodell zusehends abhängig wurde, betreffen nicht nur Energieträger, sondern auch Boden, Wasser, Phosphor, Sand, Biodiversität, ökologische Systemleistungen, seltene Erden, strategische Metalle etc. b) Globalisierung und Komplexitätssteigerung: Digitale Innovationen haben zu einer Senkung jener Transaktionskosten geführt, die eine globusumspannende Wertschöpfungsstruktur zuvor begrenzten. Effektive und ubiquitäre Kommunikationstechnologien wirken sich erstens auf den Grad der Spezialisierung und zweitens auf den geographischen Aktionsradius ökonomi-

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scher Prozesse aus. Dies betrifft sowohl die Reichweite der Distribution und Vermarktung als auch die Erschließung beliebig entfernter Ressourcenquellen (Flächen, Mineralien, Arbeitskräfte und Kernkompetenzen/Wissen). Die Auflösung vormals (zumindest graduell) standortbezogener Produktionsstätten zugunsten eines globalen Supply Chain Managements, basierend auf »Global Sourcing« beziehungsweise »Low-Cost Country Sourcing«, hat zu einer immensen Steigerung der betriebswirtschaftlichen Effizienz geführt. Die Weitergabe dieser Kosteneinsparungen über verringerte Marktpreise gilt als wesentlicher Faktor für permanente Wohlstandszuwächse. Zugleich ergibt sich daraus ein entscheidender Zielkonflikt, denn das grenzenlos verzweigte, in eine unüberschaubare Anzahl ausdifferenzierter und spezialisierter Zulieferstrukturen zerlegte Versorgungsnetz erweist sich als unkontrollierbar und störanfällig. c) Abbau von Lagerkapazitäten: Indem zunehmend japanische Managementkonzepte (insbesondere Lean Production, Kanban, Just-in-time- und Just-insequence-Produktion, Modular Sourcing etc.) übernommen wurden, konnten weitere Kosteneinsparpotenziale realisiert werden. Sie beruhen darauf, die Lagerung von Vor- und Endprodukten vor Ort bis auf minimale, nur äußerst kurze Zeiträume überbrückende Bestände zu reduzieren. An die Stelle von Lagerkapazitäten tritt eine in hoher Taktfrequenz (wöchentlich, täglich oder stündlich) erfolgende Zulieferung auf Abruf, nämlich exakt im Umfang der pro Zeiteinheit verbrauchten beziehungsweise umgesetzten Güter. Dieses Konzept ist von einer komplexen Logistik und fossilen Transportsystemen abhängig, deren auch nur kurzfristige Unterbrechung unmittelbar zu Versorgungsengpässen führen muss. d) Technisierung: Arbeitssparender technischer Fortschritt konstituiert einen weiteren Faktor für die beträchtlichen Wohlstandszuwächse, bedingt aber eine doppelte Abhängigkeit von knappen Ressourcen. Erstens induziert die Substitution von Arbeitskräften durch Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung steigende Verbräuche von Energie und anderen Substanzen (direkte Ressourcenabhängigkeit). Zweitens, wenn derselbe Beschäftigungsstand erhalten bleiben soll, ist dies angesichts eines verringerten Arbeitskräftebedarfs pro Wertschöpfungseinheit nur durch Wirtschaftswachstum möglich, das aber an Grenzen stößt (indirekte Ressourcenabhängigkeit). e) Zunehmende Skalenerträge: Eine Ausschöpfung sinkender Durchschnittskosten (»Gesetz der Massenproduktion«), die ebenfalls ein Ergebnis der Technisierung sind, führt zu hoher Marktkonzentration und damit einer Verteilung der Versorgungsleistungen auf wenige große Anbieter. Entsprechend weitreichend sind die ökonomischen und sozialen Folgen, zumal in Form möglicher Engpässe, die bereits eintreten können, wenn lediglich ein

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marktbeherrschender Produzent, Lieferant oder Einzelhändler ausfällt. Außerdem fehlt einer Angebotskonfiguration der großen Einheiten – etwa in Form von Monopolen oder Oligopolen – die nötige Vielfalt an eigenständigen Organisationseinheiten, die durch unterschiedliche Reaktionsmuster ein breites und wirksameres Spektrum an Krisenvermeidungs- oder Krisenbewältigungsstrategien entfalten. f) Struktureller Verlust an Subsistenzfähigkeiten: Der auf industrieller und entgrenzter Spezialisierung basierende Konsumwohlstand impliziert entsprechende Konsumabhängigkeit. Soziale Praktiken einer (zumindest graduellen, ergänzenden oder komplementären) Selbst- oder Regionalversorgung werden systematisch verdrängt. Deren Überwindung ist gerade das Ziel »effizienter« Spezialisierung, verbunden mit hohem Technikeinsatz. g) Bildung, Akademisierung und Lebensstile: Nicht nur die Bildungspolitik, sondern sämtliche als modern geltenden Erziehungsmaximen sind daran orientiert, Kompetenzen zu generieren, die mit einer zunehmend automatisierten und wissensintensiven Wertschöpfung harmonieren. Um handwerkliche, landwirtschaftliche und andere als »schmutzig« oder anstrengend herabgewürdigte Arbeit möglichst zu eliminieren, wurde diese zunehmend technisiert, global verlagert oder an Arbeitsmigranten delegiert. Im Gegenzug stieg der Bedarf an spezifischen Betätigungsfeldern für jene, die vom »Akademisierungswahn« (Nida-Rümelin 2014) profitieren oder sich ihm anheimstellen. Deren räumlicher Aktionsradius musste sich infolgedessen immens ausweiten, damit die Suche nach hinreichend anspruchsvollen Entfaltungs- und Erwerbsmöglichkeiten nicht auf das eigene Land beschränkt bleiben muss. Aber die resultierende kosmopolitische, vermeintlich postmaterielle Daseinsform basiert letztlich auf nichts anderem als reichhaltig verfügbarem und billigem Rohöl. Die angeblich »saubere« und (grenz-) offene Wissensgesellschaft bildet ein historisch einmaliges Fanal energieabhängiger Lebensführungen. Letztere hängen nicht nur deshalb am seidenen Faden, weil die nächste Erdölverknappung nur eine Frage der Zeit ist, sondern bereits die Ausbreitung eines Virus auf der anderen Seite des Erdballs das jüngst entstandene Kartenhaus einstürzen lässt. Diese verwobenen und einander verstärkenden Tendenzen decken einen lange vernachlässigten Zielkonflikt auf, nämlich zwischen betriebswirtschaftlicher Effizienz, einmündend in volkswirtschaftliches Wachstum auf der einen, und Resilienz auf der anderen Seite. Politische Auswege zeichnen sich aktuell keineswegs ab – ganz im Gegenteil: Sämtliche Reaktionen auf das Krisenpotpourri weisen eine fatale Gemeinsamkeit auf. Sie sind dem Vorbehalt unterworfen, den ursächlichen Wohlstands- und Technikkomplex nicht anzutasten, ganz gleich ob dies aus Gründen einer unverbesserlichen Fortschrittsgläubigkeit geschieht oder

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weil für ursachenadäquate Maßnahmen keine demokratischen Mehrheiten existieren. Um trotz alledem politische Handlungsfähigkeit zu simulieren, wird umso eifriger daran gearbeitet, die Symptome vorübergehend zu übertünchen. Aber was kurzfristige Linderung verspricht, wirkt sich langfristig nicht anders aus, als Feuer mit Benzin zu löschen. Mit anderen Worten: Um die Folgen mangelnder Krisenstabilität zu bearbeiten, werden Mittel eingesetzt, die das Gesamtsystem zukünftig nur noch krisenverletzlicher werden lassen. Dieser Widersinn spiegelt sich in zwei besonders auffälligen Tendenzen wider. Erstens wird versucht, noch tiefer in das Labyrinth technischer Innovationen vorzudringen, um die Kalamitäten eines entgleisten Fortschritts mit neuem Fortschritt zu reparieren, der jedoch zusätzliche Risiken und Kontrollverluste heraufbeschwört. Das beste Beispiel bildet die während der Lock-down-Phase aus der Not heraus intensivierte Nutzung digitaler Medien, was nun in einen Beweis dafür umgedeutet wird, wie wegweisend und zukünftig unverzichtbar diese Technologie sei. Dabei entpuppt sich die Corona-Pandemie als Krise der Digitalisierung. Denn damit aus einer Epidemie eine Pandemie werden konnte, zudem mit solcher Wucht und Geschwindigkeit, bedurfte es eines Netzes weltweiter und hochfrequenter Austauschbeziehungen, sowohl den Güter- als auch Personenverkehr betreffend. Wenn alles mit allem verbunden ist, lassen sich auch noch so weit entfernte Störungen nicht mehr einhegen, sondern breiten sich rapide aus und durchdringen den globalen Raum. Genau dieses Phänomen, das die moderne Zivilisation fortwährend fragiler werden lässt, wäre ohne digitale Kommunikationsmedien schlicht undenkbar. Hinzu tritt eine Komplexitätsanreicherung, ganz zu schweigen von dem Autonomieverlust, beruhend auf Technologieabhängigkeit infolge einer digitalen Reorganisation aller Prozesse und Versorgungsbereiche. Das zweite prozyklische Reaktionsmuster besteht darin, Krisensymptome mit einer stetig expansiveren Ausgabenpolitik zuzukleistern. Politische Gestaltungsprinzipien sind auf das dumpfe Niveau des Geschenkeausteilens herabgesunken, um keine Verteilungskonflikte oder Empörung über notwendige Lebensstilkorrekturen zu riskieren: Subventions- und Rettungsprogramme sprießen, soweit das Auge reicht. Folglich türmen sich die ökologischen und ökonomischen Schulden weiter auf, was einer doppelten Insolvenzverschleppung gleichkommt. Die Erfüllung einer europäischen Wohlstandsgarantie, auf die nahezu alle politischen Kräfte eingeschworen sind, hätten sich Pippi Langstrumpf und ihr kongenialer Finanzminister, Baron von Münchhausen, nicht trefflicher ausdenken können: Einfach solange Geld drucken, bis das Papier ausgeht. Die jede Vorstellungskraft sprengende Verschuldung wird erstens durch Aufnahme ständig neuer Kredite in eine unbestimmte Zukunft verschoben, zweitens auf europäischer Ebene zusehends sozialisiert und drittens mit der

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vorgeblichen Hoffnung legitimiert, aus der Krise herauswachsen zu können. Letzteres würde hinreichende Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts voraussetzen. Selbst wenn diese Utopie für einen weiteren historischen Augenaufschlag realisierbar erschiene, käme sie einem letzten Amoklauf gleich, der sich gegen erdrückende physische Wachstumsgrenzen richtet und in einer Katastrophe enden müsste. Mit anderen Worten: Ökonomische Schulden würden damit nur in umso höhere ökologische Schulden umgewandelt. Denn alle Versuche, den vom Bruttoinlandsprodukt abgebildeten Wohlstand von Umweltschäden zu entkoppeln, waren und sind zum Scheitern verurteilt (vgl. Kümmel/Lindenberger/Paech 2018). Ökologische Lebensgrundlagen lassen sich weder im Keller der EZB nachdrucken, noch lassen sie mit sich verhandeln.

3.

Bausteine einer Postwachstumsökonomie

Ein resilientes, also ökonomisch und sozial krisenstabiles Versorgungssystem, das ein global gerechtes Dasein innerhalb ökologischer Grenzen erlaubt, wäre an folgender Prämisse auszurichten: Insoweit ein plünderungsfreies Wirtschaftswachstum der Quadratur des Kreises gleichkäme, entspräche der letzte Ausweg, nämlich Selbstbegrenzung, weniger einem ethischen Imperativ als mathematischer Logik. In den Konsumgesellschaften müsste die industrielle Wertschöpfung und fossile Mobilität sogar reduziert werden, damit die Ressourcenverbräuche pro Kopf auf ein ökologisch übertragbares Niveau sinken. Die Dimensionen der hierzu mindestens erforderlichen Reduktionsleistung werden am weithin akzeptierten Zwei-Grad-Klimaziel deutlich: Bei globaler Gleichverteilung der damit kompatiblen Gesamtmenge an CO2-Emissionen auf circa 7,6 Milliarden Menschen ergäbe sich ein individuelles Budget von circa einer Tonne pro Jahr. Tatsächlich liegt dieser Wert in Deutschland laut Umweltbundesamt bei rund zwölf Tonnen (vgl. umweltbundesamt.de). Im Folgenden soll auf drei Gestaltungsebenen eingegangen werden, die relevant für den reduktiven Wandel sind.

3.1

Konsum: Suffizienz befördert Lebensqualität

Beschleunigung, Konsumstress und zunehmende Reizüberflutung kennzeichnen den Alltag moderner Gesellschaften. Während der Nullerjahre, also innerhalb nur eines einzigen Jahrzehnts, hat sich die Anzahl der AntidepressivaVerschreibungen in Deutschland verdoppelt (vgl. Technikerkrankenkasse 2010). Kein Wunder: Das Leben ist vollgestopft mit Terminen, Produkten, Dienstleistungen und Mobilität. Ein Übriges bewirkt die nicht endende Flut digitaler Si-

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gnale, die pausenlos abgerufen werden müssen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Dies alles kann niemand mehr verarbeiten. Warum? Neben aller sonstigen Bedürftigkeit erweist sich der homo sapiens als zeitabhängiges Wesen. Ereignisse und Konsumobjekte können bei ihm nur dann einen positiven Effekt – ganz gleich, ob als Nutzen, Glück oder Wohlbefinden bezeichnet – hervorrufen, wenn er den Dingen entsprechende Aufmerksamkeit widmet. Das setzt voraus, das entsprechende Objekt oder die Aktivität kraft der hierzu notwendigen Sinnesorgane zu erfassen. Dies ist ein zeitintensiver Prozess, denn die Geschwindigkeit, mit der Reize sinnlich und psychisch verarbeitet werden können, lässt sich nicht steigern. Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen nicht fähig sind, sich mehr als zwei Dingen gleichzeitig zu widmen, zumindest wenn diese bewusst wahrgenommen werden sollen (vgl. Charron/ Koechlin 2010). Folglich können Konsumhandlungen und Erlebnisse erstens nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander, und zweitens nicht beliebig schnell ausgeführt beziehungsweise aufgenommen werden. Andernfalls sind sie nutzlos. Wer eine Flasche guten Weins in drei Minuten herunterstürzt, überfordert seine Geschmacksnerven und betrügt sich um den Genuss. Wer einen Film in vierfacher Geschwindigkeit abspielt, kann dessen Inhalt nicht mehr folgen. Ebenso aussichtslos ist es, gleichzeitig zwei verschiedene Musikstücke hören zu wollen. Nur wer sich auf eine einzige Aktivität oder Reizverarbeitung konzentriert, erzielt damit eine wie auch immer geartete nützliche Wirkung. Dies führt in ein Dilemma: Mit dem Wohlstand an Konsumgütern, Reisen und digitaler Technik steigt die dafür notwendigerweise aufzubringende Zeit, die weder durch Beschleunigung noch durch Multitasking reduziert werden kann. Andererseits ist Zeit nicht erneuerbar, sondern die knappste Ressource, mit der Menschen konfrontiert sind. Sie ist nach jeder Verausgabung unwiederbringlich verloren. Schließlich lässt sich die Tages- oder Lebenszeit einer Person nicht merklich verlängern. Jahrtausende sahen sich menschliche Zivilisationen vor der Herausforderung, Güterknappheit zu lindern, um die Handlungsfreiheit und Lebensqualität möglichst vieler Individuen zu steigern. Nun steht ein historischer Wendepunkt bevor: Allmählich wird offenbar, dass die Wirkung materiellen Wohlstands ins Gegenteil umschlagen kann, wenn eine Sättigungsgrenze überschritten wird. Infolge der rasant gestiegenen Kaufkraft explodiert das Spektrum an Dingen und Erlebnissen, die sich immer mehr Personen leisten können. Da aber der Tag nach wie vor nur 24 Stunden hat, konkurrieren alle konsumförmigen Aktivitäten um die nicht vermehrbare Aufmerksamkeit. Folglich wird jeder Sache und Handlung eine zusehends geringere durchschnittliche Zeitdosis zuteil, was bedeutet, dass sie nicht genussvoll ausschöpft werden kann. Gleichzeitig sitzt die Angst im Nacken, etwas zu versäumen, falls einer Handlung zu viel knappe Zeit gewidmet wird.

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So kann Mobilitäts- und Konsumwohlstand zur Strapaze werden, erst recht, wenn überall die Konfrontation mit neuen Optionen lauert, die abermals zeitaufwändig zur Kenntnis genommen werden müssen und über die entschieden werden muss. Die Freiheit, sich zwischen möglichst vielen Optionen entscheiden zu können, gilt als Inbegriff modernen Fortschritts – was aber, wenn daraus stressiger Entscheidungszwang wird? Jede Lücke im Zeitablauf eines Tages, die ehemals vor Überforderung schützte und Regeneration versprach, ist inzwischen mehrfach ausgefüllt, insbesondere durch digitale Kommunikation oder Konsum im weitesten Sinne. Das menschliche Dasein ähnelt einem Gefäß, das unter einem Dauerregen der Entfaltungsangebote langsam überläuft. Hilfe verspricht allein die Rückkehr zum »menschlichen Maß«. So drückte sich seinerzeit Schumacher (1973) in seinem Kultklassiker »Small is beautiful« aus. Was sich dem Hamsterrad der käuflichen Selbstoptimierung entgegenstellen lässt, entspricht eleganter Genügsamkeit. Letztere konfrontiert die verzweifelte Suche nach weiteren Steigerungen von Güterbesitz, Erlebnissen und technologischer Bequemlichkeit mit einer simplen Gegenfrage: Von welchen Energiesklaven, Konsum- und Komfortkrücken ließen sich überbordende Lebensstile und schließlich die gesamte Gesellschaft befreien? Wer in materieller Opulenz zu versinken droht, verzichtet nicht, wenn er oder sie sich auf das Wichtige beschränkt, sondern löst die Konsumverstopfung, unter der immer mehr Verbraucher leiden. Dies entspräche nicht nur klugem Selbstschutz vor Überforderung, sondern optimiert den Nutzen der verbleibenden Objekte, die dann umso stressfreier, also ergiebiger genossen werden können. In der bewussten Ignoranz des Überflüssigen liegt ein Schlüssel zur Lebenskunst für das 21. Jahrhundert. Die knappen Zeitressourcen auf wenige Aktivitäten zu konzentrieren, diese dafür umso intensiver auszuschöpfen, verteufelt nicht den Konsum, sondern lässt ihn zu einer virtuosen und nebenbei ökologisch verantwortbaren Praxis gedeihen. Überdies verhilft solchermaßen suffizientes Handeln dazu, unabhängiger von industrieller Fremdversorgung zu werden, somit aktuelle und absehbare Krisen würdig meistern zu können. Selbstbegrenzung und Lebensqualität bilden keinen Widerspruch – ganz im Gegenteil. Menschen, die ständig auf der Flucht sind, weil sie mit den vorhandenen Möglichkeiten keinen Frieden schließen können, fliehen nur vor sich selbst. Eine systematische Annäherung an einen lebenspraktischen Suffizienzbegriff wurde jüngst vorgelegt (vgl. Folkers/Paech 2020).

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Produktion: Subsistenz und Bestandserhalt

Daran anknüpfend entspräche die Transformation zur Postwachstumsökonomie einem Strukturwandel, der neben einer Ausschöpfung aller Reduktionspotenziale (Suffizienz) die verbliebene Produktion graduell und punktuell deindustrialisieren würde. Zunächst können drei idealtypische Versorgungssysteme unterschieden werden: Globale industrielle Arbeitsteilung, Regionalökonomie und Subsistenz. Diese drei Systeme sind durch unterschiedliche Kapitalintensitäten gekennzeichnet. Überdies ergänzen sie sich und können synergetisch zu einer veränderten Wertschöpfungsstruktur verknüpft werden – insbesondere der erste und dritte Bereich. Endnutzer, denen innerhalb konventioneller Wertschöpfungsprozesse nur die Rolle eines (passiven) Verbrauchers zukommt, können als »Prosumenten« (Toffler 1980) zur Substitution industrieller Produktion beitragen. Als Prosumenten werden Individuen bezeichnet, die zusätzlich zu einer Erwerbsarbeit eigene produktive Beiträge zur Befriedigung ihrer Bedarfe leisten. Dabei gilt es, eine neu zu justierende Balance zwischen Selbstund Industrieversorgung zu entwickeln, die unterschiedlichste Formen annehmen kann. Zwischen den Extremen reiner Subsistenz und globaler Verflechtung existiert ein stetiges Kontinuum diverser Fremdversorgungsgrade. Eine Reduktion der Industrieausbringung bedeutet, von außen bezogene Leistungen durch eigene Produktion punktuell oder graduell zu ersetzen. Selbstversorgungspraktiken entfalten ihre Wirkung im unmittelbaren sozialen Umfeld, also auf kommunaler oder regionaler Ebene. Sie basieren auf einer (Re-)Aktivierung der Kompetenz, manuell und kraft eigener Tätigkeiten Bedürfnisse jenseits kommerzieller Märkte zu befriedigen, vor allem mittels handwerklicher Fähigkeiten, die zwar weniger energie-, aber dafür zeitintensiv sind. Die hierzu benötige Zeit ergäbe sich aus einem Rückbau des industriellen Systems, verbunden mit einer Umverteilung der dann noch benötigten Erwerbsarbeit. Durch eine verringerte durchschnittliche Wochenarbeitszeit könnten Selbst- und Fremdversorgung dergestalt kombiniert werden, dass sich die Güterversorgung auf ein zwar geringeres monetäres Einkommen stützen würde, jedoch ergänzt um marktfreie Produktion (Subsistenz). Neben ehrenamtlichen, gemeinwesenorientierten, pädagogischen und künstlerischen Betätigungen umfasst moderne Subsistenz drei Outputkategorien, durch die sich industrielle Produktion graduell substituieren lässt: (1) Nutzungsintensivierung durch Gemeinschaftsnutzung: Wer sich einen Gebrauchsgegenstand vom Nachbarn leiht, ihm als Gegenleistung ein Brot backt oder das neueste Linux-Update installiert, trägt dazu bei, materielle Produktion durch soziale Beziehungen zu ersetzen. Objekte wie Autos, Waschmaschinen, Gemeinschaftsräume, Gärten, Werkzeuge, Digitalkame-

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ras etc. sind auf unterschiedliche Weise einer Nutzungsintensivierung zugänglich. Sie können gemeinsam angeschafft werden oder sich im privaten Eigentum einer Person befinden, die das Objekt im Gegenzug für andere Subsistenzleistungen zur Verfügung stellt. Als adäquate Institution eignen sich in manchen Fällen sogenannte Commons (Gemeingüter), die von Ostrom (1999) ausführlich erforscht wurden. Dies betrifft Ressourcen, Güter oder Infrastrukturen, die ähnlich wie eine Allmende von einer definierten Personengruppe, basierend auf bestimmten Regeln, gemeinschaftlich genutzt werden. (2) Nutzungsdauerverlängerung: Ein besonderer Stellenwert käme der Pflege, Instandhaltung und Reparatur von Gebrauchsgütern jeglicher Art zu. Wer durch handwerkliche Fähigkeiten oder manuelles Improvisationsgeschick die Nutzungsdauer von Konsumobjekten erhöht – zuweilen reicht schon die achtsame Behandlung, um den frühen Verschleiß zu vermeiden – ersetzt Produktion durch eigene produktive Leistungen, ohne notwendigerweise auf bisherige Konsumfunktionen zu verzichten. Wenn es in hinreichend vielen Gebrauchsgüterkategorien gelänge, die Nutzungsdauer der Objekte durch Erhaltungsmaßnahmen und Reparatur durchschnittlich zu verdoppeln, könnte die Produktion neuer Objekte entsprechend halbiert werden. (3) Eigenproduktion: Im Nahrungsmittelbereich erweisen sich Hausgärten, Dachgärten, Gemeinschaftsgärten und andere Formen der urbanen Landwirtschaft als dynamischer Trend, der zur De-Industrialisierung dieses Bereichs beitragen kann. Darüber hinaus sind künstlerische und handwerkliche Leistungen möglich, die von der kreativen Wiederverwertung ausrangierter Gegenstände über Holz- oder Metallobjekte in Einzelfertigung bis zur semiprofessionellen »Marke Eigenbau« reichen. Diese Subsistenzformen – insbesondere Nutzungsdauerverlängerung und Gemeinschaftsnutzung – können bewirken, dass eine Halbierung der Industrieproduktion und folglich der monetär entlohnten Erwerbsarbeit nicht per se den materiellen Wohlstand halbiert: Wenn Konsumobjekte länger und gemeinschaftlich genutzt werden, reicht ein Bruchteil der momentanen industriellen Produktion, um dasselbe Quantum an Konsumfunktionen, die diesen Gütern innewohnen, zu extrahieren. Subsistenz besteht also darin, einen markant reduzierten Industrieoutput durch Hinzufügung eigener Inputs aufzuwerten oder zu »veredeln«. Diese Subsistenzinputs lassen sich den folgenden drei Kategorien zuordnen: – Handwerkliche Kompetenzen und Improvisationsgeschick, um Potenziale der Eigenproduktion und Nutzungsdauerverlängerung auszuschöpfen – Eigene Zeit, die aufgewandt werden muss, um handwerkliche, substanzielle, manuelle oder künstlerische Tätigkeiten verrichten zu können

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– Soziale Beziehungen, ohne die subsistente Gemeinschaftsnutzungen undenkbar sind Urbane Subsistenz ist das Resultat einer Kombination mehrerer Input- und Outputkategorien. Angenommen, Prosument A lässt sich ein defektes Notebook von Prosument B, der über entsprechendes Geschick verfügt, reparieren und überlässt ihm dafür Bio-Möhren aus dem Gemeinschaftsgarten, an dem er beteiligt ist. Dann gründet diese Transaktion erstens auf sozialen Beziehungen, die Person A sowohl mit B als auch mit der Gartengemeinschaft eingeht, zweitens auf handwerklichen Kompetenzen (A: Gemüseanbau; B: defekte Festplatte erneuern und neues Betriebssystem installieren) und drittens auf eigener Zeit, ohne die beide manuelle Tätigkeiten nicht erbracht werden können. Die Outputs erstrecken sich auf Eigenproduktion (Gemüse), Nutzungsdauerverlängerung (Reparatur des Notebooks) und Gemeinschaftsnutzung (Gartengemeinschaft). Selbstredend sind auch Subsistenzhandlungen naheliegend, die keiner Ausschöpfung der vollständigen Palette denkbarer Subsistenzinputs und -outputs bedürfen. Wer seinen eigenen Garten bewirtschaftet, die Nutzungsdauer seiner Textilien durch eigene Reparaturleistungen steigert oder seine Kinder selbst betreut, statt eine Ganztagsbetreuung zu konsumieren, nutzt keine sozialen Beziehungen, wohl aber Zeit und handwerkliches Können. Die Outputs erstrecken sich in diesem Beispiel auf Nutzungsdauerverlängerung und Eigenproduktion. Insoweit Subsistenzkombinationen im obigen Sinne Industrieoutput ersetzen, senken sie zugleich den Bedarf an monetärem Einkommen. Eine notwendige Bedingung für das Erreichen geringerer Fremdversorgungsniveaus besteht somit in einer Synchronisation von Industrierückbau und kompensierendem Subsistenzaufbau. So ließe sich eine Reduktion des monetären Einkommens und der industriellen Produktion sozial auffangen, wenngleich nicht auf dem vorherigen materiellen Durchschnittsniveau. Deshalb ist dieser Übergang nicht ohne Suffizienzleistungen denkbar.

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Skizzen eines postwachstumstauglichen Unternehmertums

Aus den vorangegangenen Ausführungen lässt sich schlussfolgern, wie Unternehmen zu einer Postwachstumsökonomie beitragen können: – Verkürzung von Wertschöpfungsketten und Stärkung kreativer Subsistenz – Maßnahmen, die eine Reduktion und Umverteilung von Arbeitszeit erleichtern, speisen Zeitressourcen, die für Subsistenzaktivitäten vonnöten sind – Lokale und regionale Beschaffung, um Supply Chains zu entflechten – Unterstützung von und Teilnahme an Regionalwährungssystemen – Direkt- und Regionalvermarktung

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– Entwicklung modularer, reparabler, an Wiederverwertbarkeit sowie physischer und ästhetischer Langlebigkeit orientierter Produktdesigns, um urbane Subsistenzleistungen zu erleichtern, Abkehr von »geplanter Obsoleszenz« – Prosumentenmanagement: Unternehmen könnten über die Herstellung von Produkten und Dienstleistungen hinaus Kurse oder Schulungen anbieten, um Nutzer zu befähigen, Produkte selbsttätig instand zu halten, zu warten und zu reparieren Unternehmen, die ihre Geschäftsfelder und Wertschöpfungsprozesse daran ausrichten, Konsumbedarfe zu reduzieren und möglichst ohne stoffliche Produktion zu befriedigen, wären unter anderem erkennbar als – Instandhalter, die durch Maßnahmen des Erhalts, der Wartung, der vorbeugenden Verschleißminderung und Beratung die Lebensdauer und Funktionsfähigkeit eines möglichst nicht expandierenden Hardwarebestandes sichern, – Reparaturdienstleister, die defekte Güter davor bewahren, vorzeitig ausrangiert zu werden, – Renovierer, die aus vorhandenen Gütern weiteren Nutzen extrahieren, indem sie diese funktional und ästhetisch an gegenwärtige Bedürfnisse anpassen, – Umgestalter, die vorhandene Infrastrukturen und Hardware rekombinieren, konvertieren oder dergestalt umwidmen, dass ihnen neue Nutzungsmöglichkeiten entspringen, – Provider von Dienstleistungen, die in geeigneten Situationen bislang eigentumsgebundene Konsumformen durch Services substituieren, – Intermediäre, die durch eine Senkung der Transaktionskosten des Gebrauchtgüterhandels dafür sorgen, dass Konsum- und Investitionsgüter möglichst lange im Kreislauf einer effizienten Verwendung belassen werden, und schließlich – Designer, die das zukünftig geringere Quantum an neu produzierten materiellen Objekten auf Dauerhaftigkeit und Multifunktionalität ausrichten sowie Kompetenzvermittler, die durch Schulungen, praktische Kurse und die Bereitstellung von Werkstätten dazu beitragen, dass aus Konsumenten Prosumenten werden. Daran anknüpfend ließe sich die Dogmenhistorie des Unternehmertums aus einem anderen Blickwinkel rekonstruieren und postwachstumskompatibel fortschreiben: Als Menschen begannen, urbanisiert zu leben, wurde es notwendig, eine nicht mehr allein durch Subsistenz zu gewährleistende Versorgung sicherzustellen, nämlich durch Organisationsformen, welche die Vorteile der Arbeitsteilung nutzen. Dies läutete die erste Phase des Unternehmertums ein. Die Generierung materieller Überschüsse, begleitet von und basierend auf spezialisierter Arbeit,

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Ressourcenbündelung, Markttausch, Geld, Konsumkulturen, technischen sowie institutionellen Innovationen, kulminierte in einer Sequenz industrieller Revolutionen. Eine zweite Entwicklungsstufe des Unternehmertums ließe sich mit einem Akzent auf Dienstleistungen, Erlebnissen und Symbolen assoziieren, was indes nicht dazu geführt hat, die materielle Sphäre zurückzudrängen, sondern im Gegenteil sogar zu beflügeln. Als nächste, längst noch nicht realisierte Phase wäre eine Ökonomie der Bestandspflege und -aufwertung denkbar. Unternehmen würden demnach kaum noch Neues produzieren, sondern den Fundus an längst vorhandenen Güterbeständen erhalten, reparieren und veredeln, um ihm auf kreative Weise neue Nutzungspotenziale abzuringen. Schließlich könnte sich als vierte Entwicklungsstufe eine Rückkehr zur Subsistenz anbahnen, wenngleich mit modernem Antlitz. Nachdem Unternehmen stets die Ausbreitung von Konsumkulturen vorangetrieben haben, könnten sie dazu übergehen, nicht nur die physische Güterherstellung durch Reparatur und Instandhaltung zu substituieren, sondern darüber hinaus Selbstversorgungsaktivitäten zu unterstützen. Unternehmen, die Konsumenten ertüchtigen, Prosumenten zu werden, verhelfen diesen nicht nur dazu, einen ökologisch übertragbaren Versorgungsstil zu praktizieren, sondern mehr ökonomische Autonomie zu erlangen. Angenommen, im Kauf eines Computers wäre die Inanspruchnahme eines Prosumentenlehrgangs inbegriffen, sodass Käufern nötige Grundkenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, um eigenständig Module zu erneuern oder mögliche Sollbruchstellen zu reparieren, die trotz eines langlebigen Designs verbleiben. Dann könnte die durchschnittliche Nutzungsdauer manuell verdoppelt oder verdreifacht und so der Neuanschaffungsbedarf halbiert beziehungsweise gedrittelt werden. Derartige Neukompositionen unternehmerischer Leistungen – weniger Produktion, mehr Prosumentenertüchtigung – senken die Abhängigkeit von monetärem Einkommen und ließen sich auf Textilien, Haushaltsgeräte, Möbel, Werkzeuge, Fahrzeuge, Nahrungsmittel etc. übertragen. Dies mag wie eine »paradoxe Betriebswirtschaft« erscheinen, zumal sich Unternehmen durch ein solches Prosumentenmanagement graduell entbehrlich machen könnten, weil sie Nachfrager in die – wohlgemerkt teilweise – Unabhängigkeit von Konsumhandlungen entlassen. Aber spätestens, wenn die nächsten Ressourcen- oder Finanzkrisen das moderne Märchen vom immerwährenden Wohlstandswachstum als historischen Irrtum entlarven, werden jene Unternehmen konkurrenzfähig sein, die ihren Nachfragern dazu verhelfen, mit geringeren Konsumausgaben würdevoll überleben zu können.

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Ausblick

Der hier nur skizzenhaft und auszugsweise dargestellte ökonomische Zukunftsentwurf entspricht keiner Vision, zumindest wenn diese im herkömmlichen Wortsinn verstanden wird. Visionen gelten meist als eine auf die Zukunft bezogene Imagination, bilden also etwas noch nicht Vorhandenes ab. Damit verlagern sie die Lösung gegenwärtiger Probleme auf eine ferne, noch zu erschließende oder zu kreierende Entwicklung. Wer sich an Visionen klammert, reklamiert Aufgeschlossenheit, macht es sich aber zugleich bequem. Denn mögliche Konsequenzen aus der Einsicht oder hehren Bekundung, dass sich etwas ändern müsse, wirken sich erstens nicht unmittelbar auf die Gegenwart aus – wozu bedürfte es sonst einer Vision? – und entlasten zweitens von eigener Verantwortung, insoweit Visionen zumeist auf einer umfassenden, womöglich die Gesellschaft als Ganzes umspannenden Strategie oder technologischen Erneuerung basieren. Wenn individuelle Verantwortung lästig zu werden droht, gilt somit im Zweifelsfall: Doppelt verschoben hält besser, nämlich zeitlich und strukturell. So können Projektionen oder gar Beschwörungen einer messianisch verklärten, aber bedauerlicherweise noch nicht eingetretenen Wirklichkeit zum perfekten Alibi dafür werden, gegenwärtige Handlungsmuster trotz bekundeter Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Überwindung fortzusetzen, also die Gegenwart zu verlängern. Diese Paradoxie findet unter anderem in folgender Beobachtung ihren Widerhall: Nie waren die Bewohner der industrialisierten Hemisphäre freier, reicher, gebildeter, verfügten nie über mehr technische Kompetenz, gaben sich nie problembewusster – und lebten zugleich nie rücksichtsloser über ihre ökologischen Verhältnisse. Tendenz steigend. Dies muss insofern nicht verwundern, als sich erforderliche Anspruchsmäßigungen selbst von lautstarken Klimaschutzaktivisten leicht zurückweisen lassen, indem auf die von Wissenschaft, Politik und Medien ständig reproduzierte Vision verwiesen wird, dass technische Innovationen alsbald für eine Entlastung der Lebensgrundlangen sorgen würden, sodass Suffizienz unnötig sei. Im Nachhaltigkeitsdiskurs mangelt es nicht an Visionen. Im Gegenteil: Es existieren derer zu viele, die als fehlleitend zu entlarven wären. Jahrzehntelang wurde kostbare Zeit mit technophilen Experimenten in den Bereichen der Ressourceneffizienz, Kreislaufwirtschaft (ökologische Konsistenz) und erneuerbaren Energien verschwendet, um eine komfortable Green-Growth-Problemlösung zu generieren. Damit kulminiert einmal mehr die abgründige Seite einer sich aufgeklärt wähnenden Zivilisation, die es bis heute nicht vermochte, sich vom Glauben an eine wundersame Brotvermehrung zu befreien, wenngleich neuerdings ohne Gottes Hilfe: Menschliches Wissen und Schaffenskraft sollen materielles Wohlergehen aus dem physischen Nichts erschaffen, indem die Technologie das Wün-

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schenswerte von allen unerwünschten Nebenwirkungen sauber abtrennt. Doch nun sickert allmählich durch, dass die hilflosen Versuche, gegen physikalische Gesetze anzurennen, nicht nur gescheitert sind, sondern erstens gesellschaftliche Lernresistenzen erzeugen und zweitens infolge multipler »Rebound-Effekte« eher zu mancher Verschlimmbesserung geführt haben. Nachhaltigkeitsdefizite manifestieren nichts anderes als eine zeitverzögerte Auflösung zuvor eingegangener Modernisierungsrisiken. Visionen werden dort zum Problem, wo sie erstens einen technischen oder politischen Ersatz für eigene Verantwortung vorgaukeln und zweitens eine Flucht in technologische Abenteuer rechtfertigen. Um überlebensfähig zu werden, bedarf es einer Überwindung der sich selbst verstärkenden Triade aus Wachstum, Risikokumulation und unbeherrschbarer technischer Komplexität, die neue Schicksalsabhängigkeiten heraufbeschwört. Das setzt voraus, sich von der dogmatischen Verengung auf die Innovation als alleinigen Modus des Wandels zu lösen. Denn dieses Prinzip suggeriert, für jedes ökologisch ruinöse Mobilitäts-, Konsum- oder Produktionsmuster einen gleichwertigen Ersatz schaffen zu können, was schon theoretisch einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Folglich erweist sich Nachhaltigkeit nicht als Unterfangen des zusätzlichen Bewirkens, sondern des gezielten Unterlassens. Die chronisch expansive und risikobehaftete Innovationsorientierung bedarf einer Ergänzung um selbstbegrenzende Gestaltungsformen, nämlich der »Exnovation« (Paech 2005). Genauer: Die Subtraktion alter und Zurückweisung neuer Handlungsoptionen wären neben dem Innovationsmodus als gleichberechtigte Optionen zu behandeln. Während Innovationsprozesse an der Frage ausgerichtet sind, wie das Neue in die Welt kommt, stellt sich das Exnovationsprinzip der gegenteiligen Herausforderung, nämlich wie das Alte, ehemals Innovative, inzwischen zum Problem gediehene, wieder schadlos aus der Welt gelangt – nötigenfalls auch ersatzlos und somit durch reine Reduktion oder Vermeidung. Deshalb ist die Exnovation der Suffizienzlogik verwandt. Als drittes Gestaltungsprinzip bezweckt die »Renovation« Veränderungen innerhalb eines gegebenen Optionsraums. Anstatt den Güterbestand zu vergrößern (Innovation) oder zu verkleinern (Exnovation), werden vorhandene Objekte durch Aufarbeitung, Instandhaltung, Reparatur, funktionale Erweiterung aufgewertet, funktional und ästhetisch an gegenwärtige Bedürfnisse angepasst, um aus bereits existierenden Artefakten vermehrten Nutzen zu extrahieren. Die Postwachstumsökonomie balanciert das Verhältnis zwischen den drei Veränderungsmodi neu aus. Dabei reaktiviert sie die Reduktion und Selbstbegrenzung als veritables Gestaltungsprinzip. Sie priorisiert die Entrümpelung gegenüber einer zunehmenden Verstopfung mit Technologie und Wohlstand. Zudem bedient sie sich wohlweislich solcher Elemente, die längst vorhanden, erprobt und deshalb insoweit voraussetzungslos sind, als sie keiner bahnbre-

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chenden Neuerfindung bedürfen. Dies umfasst (nicht nur, aber auch), Strukturen und Handlungsmuster aufzugreifen, die vormals als Bestandteil einer genügsameren Normalität existierten, inzwischen jedoch von einer sich progressiv gerierenden »Furie des Verschwindens« (Liessmann 2000) hinfort gefegt wurden. Die Postwachstumsökonomie negiert damit ein lineares Fortschrittsverständnis, das mit den aktuellen Green-Growth- und Digitalisierungsmärchen einen neuen Gipfel an unreflektierter Risikobereitschaft erreicht. Keineswegs müsste dies bedeuten, Vergangenes unverändert in die Gegenwart zurückzuholen, sondern zwischen den Polen einer außer Kontrolle geratenen Innovationsorientierung und dem Rückgriff auf bewährte Praktiken zu vermitteln. Harrison (2014, S. 113) spricht von »kultureller Neotenie«, die er »als einen vielgestaltigen Verjüngungsprozess, durch den ältere Traditionen dank einer Synergie zwischen den synthetischen Kräften der Weisheit und den rebellischen Kräften des Genies neuere oder jüngere Formen annehmen«, versteht. Würde der Corona-Schock bewirken, dass Visionen einer genügsameren Daseinsform mehr Beachtung fänden, um den innovativen Wildwuchs durch eine Rückbindung an manches Bewährte und Bekannte einzuhegen, wäre viel gewonnen.

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