Vir inversus - Männlichkeiten im spanischen Schelmenroman 9783839442296

Picaresque novels are violent, satirical and usually dominated by males. Gregor Schuhen illuminates this combination fro

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Vir inversus - Männlichkeiten im spanischen Schelmenroman
 9783839442296

Table of contents :
Inhalt
Dank
1. Einleitung: Der pícaro als Mann?
2. Der vir inversus: Männlichkeiten zwischen Karneval und Abjektion
3. Puta / Madre: Pikareske Weiblichkeit
4. Der Diener und seine Herren: Lazarillo de Tormes (1554)
5. Lazarillos Erben: Alemáns Guzmán de Alfarache (1599/1604) und Quevedos El Buscón (1626)
6. Prekäre Pikareske: Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis

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Gregor Schuhen Vir inversus – Männlichkeiten im spanischen Schelmenroman

Lettre

Gregor Schuhen lehrt Romanistik mit dem Schwerpunkt Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte sind französische und spanische Literatur vom 16. bis 20. Jahrhundert, literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung sowie Wissenschaftsgeschichte.

Gregor Schuhen

Vir inversus – Männlichkeiten im spanischen Schelmenroman

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Pere Borrell del Caso: Escapando de la crítica, 1874, Collection Banco de España, Madrid Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4229-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4229-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank | 7

1. EINLEITUNG: DER PÍCARO ALS MANN? | 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

9

1954 / 1554 | 9 Das Geschlecht des pícaro | 15 Männlichkeitsentwürfe in der Literatur des Siglo de Oro | 18 Männliche Identität in der novela picaresca | 22 Relationalität und Weiblichkeit in der novela picaresca | 28 Korpusauswahl und Vorgehensweise | 32

2. DER VIR INVERSUS: MÄNNLICHKEITEN ZWISCHEN KARNEVAL UND ABJEKTION | 41 2.1 Der mundus inversus als pikaresker Sozialraum | 41 2.2 Der vir inversus als Denkfigur pikaresker Männlichkeit | 56

2.2.1 Der vir inversus als Figur des desengaño | 56 2.2.2 Genre und Gender: Der vir inversus als literarische Konstruktion | 65 2.3 Körper und Körperlichkeit in der novela picaresca | 79

2.3.1 Physische Gewalt | 85 2.3.2 Körperliche ‚Verrichtungen‘ | 93 2.3.3 Hunger und Essen | 101 2.3.4 Subjekt, Objekt, Abjekt: Zusammenfassung | 110

3. PUTA / MADRE: PIKARESKE WEIBLICHKEIT | 3.1 Madre Celestina: Weibliche Vorfahren | 116 3.2 En el nombre de la Madre: Weiblichkeit in der novela picaresca | 171

115

4. DER DIENER UND SEINE HERREN: LAZARILLO DE TORMES (1554) | 191 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8

Euer Gnaden / Eure Gnade | 195 Familienbande und Namensforschung | 212 Zweite Geburt | 232 Hungerkünstler, Prügelknabe und homo oeconomicus | 247 „Por su negra que llaman honra“ | 271 Die Schuhe des Mönchs | 291 Auctor in fabula | 307 „Me vi en hábito de hombre de bien“ | 327

5. LAZARILLOS ERBEN: ALEMÁNS GUZMÁN DE ALFARACHE (1599/1604) UND QUEVEDOS EL BUSCÓN (1626) | 347 5.1 In nomine Patris: Guzmán de Alfarache oder der Familienroman des pícaro | 348 5.2 Soziale Scham, mütterliche Schande und abjekte Männlichkeit im Buscón | 390

6. PREKÄRE PIKARESKE: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK | 417 Literaturverzeichnis | 433

Dank

Auch wenn wissenschaftliche Monographien wie die vorliegende überarbeitete Habilitationsschrift, die im Juli 2017 an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen angenommen wurde, zu größten Teilen das Resultat unzähliger einsamer Stunden am Schreibtisch darstellen, entstehen sie doch niemals ohne die wertvolle Unterstützung von Kollegen und Kolleginnen, Freunden und Freundinnen, ja im besten Fall von befreundeten Helfern und Helferinnen. Ich möchte mich zunächst bei Tobias Brandenberger, Walburga Hülk-Althoff und Christian von Tschilschke bedanken, die nicht nur den Entstehungsprozess dieser Studie fachlich und kollegial-freundschaftlich begleitet, sondern ebenfalls das Produkt begutachtet haben. Ebenfalls möchte ich Volker Roloff danken für stets anregende Unterhaltungen im meist sonnigen Süden der Republik. Für den stetigen und durchaus kontroversen, aber immer herzlichen Austausch über die zahlreichen Geheimnisse und Strategien der pícaros möchte ich Maren Lickhardt und Anne J. Cruz Dank aussprechen. Nicht wenige Passagen der Studie wären ohne die langen Gesprächen mit den beiden Kolleginnen so nicht möglich gewesen. Ebenso war mir der regelmäßige Dialog mit den Mitstreitern und Mitstreiterinnen der Forschungsinitiative Transformationen vormoderner Männlichkeiten an der Universität Siegen eine große Hilfe, an der Anja Müller, Hans-Ulrich Weidemann, Hans Rudolf Velten, Thomas Naumann, Michael Multhammer, Andreas Hoffmann und Ulrich Huttner beteiligt sind. Ein spezieller Dank gilt Christoph Gabriel sowohl für akribische Korrekturen und linguistische Expertise als auch für die moralische Unterstützung vor allem während des Endspurts der Schreibphase. Ute Wagner, Achim Schuhen und Heiner Holtkötter möchte ich besonders herzlich danken für ideale Rahmenbedingungen. Mein kleines Siegener Team, Rebecca Weber und Lars Henk, hat mich auf großartige Weise bei der Literaturrecherche und -beschaffung unterstützt – herzlichen Dank dafür.

8 | V IR INVERSUS

Last but not least sei Uta Fenske, Sabrina Schreiber, Tanja Schwan, Hans Ulrich Weidemann und Sebastian Zilles herzlich gedankt, weil sie dafür Sorge getragen haben, den Fehler-Index dieser Arbeit auf ein wünschenswertes Minimum zu reduzieren.

Siegen, im Januar 2018

1. Einleitung: Der pícaro als Mann?

Ein Schelm gibt mehr, als er hat.1

1.1 1954 / 1554 Am Donnerstag, dem 13. Mai 1954, schien in Kilchberg in der Schweiz den ganzen Tag die Sonne. Es war sogar so warm, dass sich angesichts der erstaunlich hohen frühsommerlichen Temperaturen ein älterer Gast in einen „schattigen Wirtsgarten in der Nähe“ zurückgezogen hatte, von wo aus er einen „blonden, blühenden Jüngling“ mit nacktem Oberkörper auf einem Lastwagen beobachtete, der in seinem stummen Betrachter „einen großen Zauber“ hervorrief. Am Nachmittag kommt die Tochter aus München zurück, um sich mit dem Vater über das „Siebente Kapitel“ zu unterhalten: „Viel zu erzählen“. Das gemeinsame Diner findet dann schließlich im „Grand Hotel bei Frau Trebitsch“ statt. Nach diesem ereignisreichen Tag sitzt am späten Abend der knapp 80-jährige Thomas Mann in seinem Arbeitszimmer und notiert nach der Schilderung des Tagwerks folgenden Vorsatz in sein akribisch geführtes Tagebuch: „Herangezogen ein Buch Geschichte vom Leben des Lazarillo von Tormes u. von seinen Leiden u. Freuden von ihm selbst erzählt. Muß ich lesen!“2 Zu diesem Zeitpunkt sind die Arbeiten an seinem letzten großen Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil so gut wie abgeschlossen; er wird noch im selben Jahr erscheinen. Zum bereits geplanten zweiten Teil der Memoiren kommt es dann nicht mehr; Thomas Mann stirbt im August des folgenden Jahres an den Folgen einer Arteriosklerose.

1

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 12.1, Frankfurt/M. 2012, S. 392f.

2

Alle Zitate aus: Thomas Mann: Tagebücher 1953-1955, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1995, S. 222.

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Dem Vorsatz Thomas Manns, sich kurz vor Abschluss seines Felix Krull, der in Gattungsgeschichten gemeinhin als einer der Erben des 1554 anonym erschienenen Lazarillo de Tormes aufgeführt wird,3 mit eben diesem Werk zu beschäftigen, geht eine bemerkenswerte Vorgeschichte voraus. Bereits 1951 ist in der Zeitschrift Modern Language Quarterly ein Aufsatz des emigrierten Germanisten Oskar Seidlin erschienen mit dem Titel „Picaresque Elements in Thomas Mann’s Works“,4 der sofort von Thomas Mann selbst gelesen und äußerst wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde, wie ein Brief an Seidlin aus demselben Jahr zum Ausdruck bringt: [I]ch bin entzückt von Ihrem picaresken Aufsatz [...], denn es sind genau die Gesichtspunkte dieses – wie ich wohl sagen darf – von meiner Existenz gefärbten Artikels, die mir nötig sind, wenn ich je doch noch mit dem Krull fertig werden will. [...] Neulich las ich im Zürcher Schauspiel zum Gaudium der Zuschauer ein paar Abschnitte aus der Fortsetzung vor [...] und sagte einleitend, wenn das Ding mal fertig sein würde, so werde es eine Art von Abenteuer-Roman aus dem späten bürgerlichen Zeitalter vor dem ersten Weltkriege sein; ein naives Memoirenwerk, als dessen fernstes Vorbild man den Simplicius Simplicissimus ansehen könnte. Nun, es ist nicht das fernste. Ihre Gelehrsamkeit zeigt mir dahinter weitere ‚Dünenkulissen‘ und das Vergnügen, mit dem ich sie erblicke, beweist mir, wie unentbehrlich mir beides ist und immer war: das Neue und das von weither Legitimierte, man könnte sagen: das überraschend Hergebrachte.5

3

Vgl. u. a. Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart/Weimar 1993, S. 160-168; Dieter Arendt: Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums. Vorarbeiten zu einer soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart 1974, S. 99-109; Jürgen Jacobs: „Thomas Manns Felix Krull und der europäische Schelmenroman“, in: ders.: Der Weg des Pícaro: Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman, Trier 1998, S. 91-112; Verf.: „Der männliche Schein. Felix Krull in der Tradition der spanischen novela picaresca“, in: Thomas Wortmann/Sebastian Zilles (Hrsg.): Homme fragile. Männlichkeitsbilder in den Werken von Heinrich und Thomas Mann, Würzburg 2016, S. 85-117. Es gibt auch Gegenstimmen, so vor allem Michael Nerlich: Kunst, Politik und Schelmerei. Die Rückkehr des Künstlers und des Intellektuellen in die Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt an Werken von Charles de Coster, Romain Rolland, André Gide, Heinrich Mann und Thomas Mann, Frankfurt/M./Bonn 1969, S. 15-17.

4

Oskar Seidlin: „Picaresque Elements in Thomas Mann’s Works“, in: Modern Lan-

5

Brief an Oskar Seidlin vom 10. Okt. 1951. In: Thomas Mann: Briefe III, 1948-1955

guage Quarterly 12 (1951), S. 183-200. und Nachlese, hrsg. von Erika Mann, Frankfurt/M. 1979, S. 223.

E INLEITUNG: DER PÍCARO ALS M ANN ?

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Seidlins ‚entzückende‘ Studie bezieht sich – anders als ihr Titel suggeriert – nahezu ausschließlich auf das bereits 1937 erschienene Krull-Fragment, das so genannte „Buch der Kindheit“, das die Adoleszenz des Titelhelden bis hin zur berühmten Musterungsszene schildert, in der Felix erfolgreich einen EpilepsieAnfall simuliert, um von der Wehrpflicht entbunden zu werden. Seidlin stellt Thomas Mann in die lange Tradition der spanischen novela picaresca6 und führt vor allem Lazarillo de Tormes als Bezugsfolie an, aber auch die beiden weiteren Klassiker, den Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán sowie den Buscón von Francisco de Quevedo. Thomas Sprecher und Monica Bussmann, die Herausgeber des in der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe erschienenen Felix Krull machen jedoch darauf aufmerksam, dass Thomas Mann höchstwahrscheinlich nicht mit den Klassikern des spanischen Schelmenromans vertraut war: „Erst als der Krull schon beendet war und Korrekturen schon gelesen werden mussten, nahm sich Thomas Mann auch noch den ersten europäischen Schelmenroman überhaupt vor, La vida de Lazarillo de Tormes [...]. [Er] befindet sich in der Nachlassbibliothek, hat aber wohl keinen Einfluss mehr ausgeübt.“7 Ein Tagebucheintrag vom 9. Oktober 1951 zeigt jedoch den tiefen Eindruck, den Seidlins kenntnisreiche Studie auf den deutschen Schriftsteller ausgeübt hat: „Wiederholt den Picaro-Aufsatz von Seidlin durchgesehen, die stimulierenden Stellen unterstreichend. Gesichtspunkte, die ich brauche, wenn ich mit dem Krull

6

Auch wenn der Gattungsbegriff novela picaresca in der Forschung längst Konsens ist, sei mit Tobias Brandenberger daran erinnert, dass die Bezeichnung „novela“ tatsächlich erst später mit Cervantes Eingang in das Klassifikationssystem der spanischen Narrativik der Vormoderne gefunden hat. Im Grunde müsste man ab dem Guzmán, in dem der Begriff „pícaro“ erstmalig verwendet wird, von der ficción picaresca oder einfach von der „picaresca española“ sprechen. Vgl. Tobias Brandenberger: La muerte de la ficción sentimental. Transformaciones de un género iberorrománico, Madrid 2012, S. 299-302. Dass die deutsche Gattungsbezeichnung „Schelmenroman“ wiederum nicht exakt dem spanischen Begriff der novela picaresca entspricht bzw. dass der deutsche Ausdruck Schelm nicht ganz dasselbe bezeichnet wie der spanische Terminus pícaro, ist dem Verf. bewusst. Um aber übermäßige terminologische Wiederholungen zu vermeiden, werden, wie es in der deutschsprachigen Pikaresken-Forschung durchaus üblich ist, die Bezeichnungen im Folgenden gleichbedeutend verwendet.

7

Thomas Sprecher/Monica Bussmann: Kommentarband zu Thomas Mann. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 12.2, Frankfurt/M. 2012, S. 122.

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weiterkommen will.“8 Auch wenn Sprecher und Bussmann also darin zuzustimmen ist, dass Thomas Mann höchstewahrscheinlich keine unmittelbaren und vertieften Kenntnisse hatte, was den spanischen Schelmenroman angeht, so legt doch der Blick auf die fernen ‚Dünenkulissen‘, das ‚überraschend Hergebrachte‘ nahe, dass Seidlin ihm einen Horizont eröffnet hat, der doch zumindest indirekt seine Arbeit am Felix Krull beeinflusst und vor allem sein Wissen über die spanischen Vorläufer des Simplicissimus nachhaltig erweitert hat, wie auch Karl Ludwig Schneider konstatiert: „In der späteren Arbeitsphase von 1951-1954 hatte T. Mann also im Gegensatz zur frühen Arbeitsphase recht genaue Vorstellungen vom Schelmenroman.“9 Jürgen Jacobs geht sogar so weit zu sagen, dass die Lektüre des Seidlin-Aufsatzes dazu geführt habe, „daß hier einer der wenigen Fälle vorliegt, wo die Literaturwissenschaft befruchtend auf das Werden eines bedeutenden literarischen Werks eingewirkt hat.“10 Zumindest dürfte Seidlins Studie Thomas Mann mit einiger Verspätung dazu inspiriert haben, sich doch noch, kurz vor dem Abschluss seines eigenen Schelmenromans, dem Lazarillo de Tormes zuzuwenden. Kommen wir daher noch einmal auf die Erlebnisse im sonnigen Mai 1954 zurück, der bereits zwei Tage später nach einem Temperatursturz seine wohlige Wärme eingebüßt und dem deutschen Schriftsteller eine Erkältung eingebracht hat, was die vorherige Hochstimmung spürbar trübt: „Die Nacht gestört durch Husten [...] Ungewißheit, welche Arbeit nun zu ergreifen. Geringe Neigung, am Krull fortzuspinnen, bevor Teil I erschienen.“11 Als Abschluss dieses eher unerfreulichen Tages kann sich Thomas Mann immerhin noch dazu durchringen, sein Vorhaben des vorgestrigen Tages in die Tat umzusetzen: „Las in den Memoiren des Lazarillo.“ Allerdings entspricht sein knappes Urteil der schlechten Tagesstimmung: „Primitiv.“12 Die Gründe für diese freudlose Beurteilung bleibt Thomas Mann der Nachwelt jedoch schuldig. Liegt es also möglicherweise an den misslichen Symptomen der Erkältung, dass sich Thomas Mann nicht für das Schicksal des Prügelknaben Lazarillo de Tormes erwärmen kann? Oder steht er doch noch zu sehr unter dem Eindruck

8

Thomas Mann: Tagebücher 1951-1952, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1993,

9

Karl Ludwig Schneider: „Thomas Manns Felix Krull. Schelmenroman und Bildungs-

S. 117. roman“, in: Vincent J. Günther u. a. (Hrsg.): Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, Berlin 1973, S. 545-558, hier: S. 551. 10 Jacobs: „Thomas Manns Felix Krull“, S. 91. 11 Thomas Mann: Tagebücher 1953-1955, S. 223. 12 Ebd.

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des ‚blonden, blühenden Jünglings‘, der dem guten Aussehen seines eigenen Schelms sehr viel eher entspricht? Oder ist ihm der schmucklose Lazarillo de Tormes schlicht zu undeutsch, um in ihm ein Vorbild seiner eigenen Arbeit zu sehen? Wie auch immer man die Abneigung bewerten mag, feststeht, dass sich der Connaisseur der Weltliteratur, als der sich Thomas Mann immer wieder in öffentlichen Vorträgen, Essays und nicht zuletzt auch in seiner Prosa inszenierte, hier ein grundlegendes Fehlurteil erlaubt und das stilbildende Potenzial dieses ersten aller Schelmenromane völlig verkennt. Die vorliegende Studie versteht sich daher nicht zuletzt auch als ‚Ehrenrettung‘ des Lazarillo de Tormes – zumindest angesichts des Verrisses durch den deutschen Nationalschriftsteller, der doch selbst ganz ungeniert auf dessen Spuren wandelt. Die überaus umfangreiche Pikaresken-Forschung hat diesen Erweis freilich längst erbracht. Das Erstaunlichste an Lazarillo de Tormes ist vielleicht sein historischer Ort innerhalb der spanischen Literaturgeschichte, der ein besonders einflussreiches Fortwirken seiner innovativen Kraft zunächst nicht erwarten ließ: erschienen, wie gesagt, im Jahr 1554 an drei verschiedenen Orten und damit rund fünfzig Jahre nach dem wohl wichtigsten seiner Vorläufertexte, der Celestina (1499) von Fernando de Rojas13, und rund fünfzig vor dem ersten nennenswerten Nachfolgeroman, dem bereits erwähnten Guzmán de Alfarache, dessen erster Teil im Jahr 1599 erscheint. Zwischenzeitlich tauchen zwar auf dem gesamten Kontinent nicht weniger als neun Neuauflagen des Lazarillo auf, der jedoch ab 1573 erst einmal nur noch in gekürzter Fassung publiziert werden durfte, doch setzt der pikareske Boom erst nach dem Guzmán de Alfarache ein: bis ins Jahr 1680 erscheinen in Spanien knapp vierzig pikareske Romane.14 Hinsichtlich dieser gleichsam insularen Stellung innerhalb der Gattungsgeschichte muss der Lazarillo de Tormes trotz seines stilbildenden Charakters dezidiert als Schwellen-Text verstanden werden, der einerseits relativ weit zurückliegende Intertexte auf-

13 Dazwischen liegt noch Francisco Delicados 1528 in Venedig erschienener Text Retrato de la Lozana Andaluza, dessen Einfluss auf die Gattung jedoch aufgrund seines recht geringen Bekanntheitsgrades als umstritten gilt (vgl. Kap. 3.1). 14 Vgl. dazu Helmut Petriconi: „Zur Chronologie und Verbreitung des spanischen Schelmenromans“, in: Helmut Heidenreich (Hrsg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 61-78, bes.: S. 73-75. Zu den pikaresken Werken gehören neben den drei Klassikern u. a. Libro de entretenimiento de la pícara Justina (1605) von Francisco López de Úbeda, La hija de Celestina (1612) von Alonso Jerónimo de Salas Barbadillo, Marcos de Obregón (1618) von Vicente Espinel, Segunda parte de Lazarillo de Tormes (1620) von Juan de Luna, Estebanillo González (1646) und Vida del conde Matisio (1652) von Juan de Zabaleta.

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nimmt und andererseits zugleich auf die mit einiger Verspätung einsetzende pikareske Hochkonjunktur vorausweist und den daraus hervorgehenden Werken als Prototyp zugrunde liegt. Der Einfluss des Lazarillo auf die nachfolgende Schelmenliteratur kann daher kaum überschätzt werden – und das bekanntlich über Länder- und Sprachgrenzen hinweg. Auch wenn er dem Felix Krull tatsächlich nur als ferne ‚Dünenkulisse‘ gedient haben mag, lässt sich doch die indirekte Beeinflussung kaum verleugnen. Dabei kommt Grimmelshausens Simplicissimus (1668/69), dem Klassiker des deutschen Schelmenromans, den Thomas Mann während der Schaffenszeit am Felix Krull immer wieder konsultierte,15 eine wichtige vermittelnde Rolle zu. Grimmelshausen selbst kannte erwiesenermaßen die frühe deutsche Übertragung des Guzmán von Aegidius Albertinus aus dem Jahr 161516, und so lassen sich schließlich die Spuren zurückverfolgen bis zum Ur-Text der novela picaresca, der trotz der von Mann insinuierten Primitivität diese generische Vorbildfunktion zuzueignen ist. Thomas Mann legt der geschlechtsspezifischen Modellierung seines eigenen schelmischen Hochstaplers eine Poetik des Unbestimmten zugrunde. Felix’ kindliche karnevaleske Maskeraden, die er voller Freude gemeinsam mit seinem Patenonkel Schimmelpreester unternimmt, zitieren zwar nur männliche Inszenierungsmodelle („römischer Flötenbläser“, „englischer Edelknabe“, „spanischer Stierfechter“, „jugendlicher Abbé“, „österreichischer Offizier“ und „deutscher Gebirgsbauer“17), aber steht doch seine geschlechtliche Identität insgesamt im Zeichen größtmöglicher Elastizität: Ich aber besaß seidenweiches Haar, wie man es nur selten beim männlichen Geschlechte findet, und welches, da es blond war, zusammen mit graublauen Augen, einen fesselnden Gegensatz zu der goldigen Bräune meiner Haut bildete: so, daß es gewissermaßen unbestimmt blieb, ob ich nun eigentlich blond oder brünett von Erscheinung sei, und man mich mit gleichem Rechte für beides ansprechen konnte.18

15 Vgl. u. a. den Tagebucheintrag vom 12. Januar 1951: „Den ‚Simpl. Simplicissimus‘ als sehr angelegene Lektüre wieder vorgenommen“ (Mann: Tagebücher 1951-1952, S. 7; Herv. G. S.). 16 Vgl. Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 58-60; Reinhard Kaiser: „Der ‚Simplicissimus‘ und sein Erfinder. Biographische Andeutungen und Hinweise zur Werkgeschichte“, in: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch, aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser. Frankfurt/M. 2009, S. 721-736, hier: S. 726. 17 Mann: Felix Krull, S. 3. 18 Ebd., S. 17 (Herv. G. S.).

E INLEITUNG: DER PÍCARO ALS M ANN ?

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Im weiteren Verlauf bezeichnet Felix sich selbst als „etwas Wunderbares dazwischen“19 und meint: zwischen männlich und weiblich. Diese androgyn anmutende Elastizität gehört zum Erfolgsgeheimnis des Hochstaplers, da er somit im Sinne der im Schelmenroman vorherrschenden mundus vult decipi-Devise auf die Bedürfnisse, Begierden und Sehnsüchte seiner Opfer individuell reagieren und sowohl Frauen als auch Männer mit seinem Charme becircen kann, um selbst den gesellschaftlichen Aufstieg zu bewerkstelligen. Anpassungsfähigkeit und Rollenflexibilität gehören bereits im Lazarillo de Tormes und seinen unmittelbaren Nachfolgern zu den wichtigsten Fähigkeiten im alltäglichen Überlebenskampf innerhalb der vormodernen Feudalgesellschaft. Ob dies auch für das Geschlecht des pícaro gilt, soll im Folgenden untersucht werden.

1.2 D AS G ESCHLECHT DES PÍCARO Hat der pícaro ein Geschlecht? So absurd die Frage auf den ersten Blick anmuten mag, so diffus fällt eine genaue Antwort nach näherem Hinschauen aus. Ob Schelm, pícaro, Landstörtzer, rogue – niemand würde vermutlich auf die Idee kommen, eine andere Aussage zu treffen, als dass es sich dabei allesamt um junge Männer aus den untersten Gesellschaftsschichten handelt, die auf pseudoautobiografische Weise ihre abenteuerliche Lebens- und Leidensgeschichte zum Besten geben und meist im Dienste verschiedener Herren stehen.20 Vielfach wurde die These diskutiert, dass es sich beim pícaro um einen der ersten AntiHelden der neuzeitlichen Literatur handelt,21 aber schließt dieser Befund tatsächlich auch die Geschlechtlichkeit dieser ambivalenten Figur mit ein? Die Welt der Schelmenromane scheint, noch ganz im Schatten mittelalterlicher HeldenNarrative, derart maskulin determiniert und dominiert, dass das Geschlecht in den allermeisten Fällen unhinterfragt in der entsprechenden Forschung ‚mitläuft‘, aber doch kaum als einer eingehenden Problematisierung würdig erscheint – ganz im Gegensatz übrigens zu anderen relevanten sozialen Kategorien, wie

19 Ebd., S. 128. 20 Vgl. die einschlägigen, immer noch gültigen Gattungstypologien von Frank W. Chandler: The Literature of Roguery, New York 1958; Claudio Guillén: „Toward a Definition of the Picaresque“, in: ders.: Literature as System, Princeton 1971, S. 71-106; Harry Sieber: The Picaresque, London 1977. 21 So etwa bei Richard Bjornson: The Picaresque Hero in European Fiction, Harrison 1977.

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etwa Ethnie (vor allem mit Blick auf die converso- oder morisco-Problematik22) oder Stand (in Auseinandersetzung mit Diskursen über Prekariat oder gar Proletariat23), die seitens der Pikaresken-Forschung mit großer Aufmerksamkeit bedacht wurden. Doch allein in der ersten Kurzcharakterisierung fallen bereits mehrere Aspekte auf: Ein junger Mann niederen Standes steht im Dienste eines oder mehrerer Herren inmitten einer von Männern dominierten Gesellschaft. Themen, die sich daran unmittelbar anknüpfen ließen, wären u. a. männliche Adoleszenz, homosoziale Bündnisse sowie patriarchale Ordnungsstrukturen. Interessanter wird es noch, wenn das ‚andere Geschlecht‘ mit ins Spiel kommt. Welche Repräsentationen von Weiblichkeit tauchen in der novela picaresca auf und wie verhalten sich die männlichen Hauptfiguren dazu?24 In der Regel sind es die

22 Sowohl auf der Ebene der Figuren als auch im Hinblick auf die Autoren wird die converso-Thematik in der Forschung immer wieder behandelt, so zunächst von Américo Castro: „El Lazarillo de Tormes“, in: ders.: Hacia Cervantes, Madrid 21960, S. 135141; vgl. Manuel Ferrer-Chivite: „Sustratos conversos en la creación de Lázaro de Tormes“, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 33 (1984), S. 352-379; Susanne Zepp: Herkunft und Textkultur. Über jüdische Erfahrungswelten in romanischen Literaturen, 1499-1627, Göttingen 2011, bes.: S. 85-108; Francisco Carrillo: „La vida del pícaro (1601). Testimonio contextual de la picaresca“, in: Actas del octavo Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas: celebrado en Brown University, Providence Rhode Island, del 22 al 27 de agosto de 1983, Madrid 1986, S. 357-366. 23 Die Fülle an soziologischen Studien zum Schelmenroman ist kaum zu überschauen, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Fokus auf die unteren Schichten zu den innovativsten (inhaltlichen) Gattungsmerkmalen der novela picaresca zählt. Vgl. u. a. José Antonio Maravall: La literatura picaresca desde la historia social (Siglos XVI y XVII), Madrid 1986; Felix Brun: „Toward a Sociological Interpretation of the Picaresque Novel (Lesage and its Spanish Sources)“, in: Gustavo Pellón/Julio Rodríguez-Luis (Hrsg.): Upstarts, Wanderers or Swindlers: Anatomy of the Picaro. A Critical Anthology, Amsterdam 1986, S. 174-188; Anne J. Cruz: Discourses of Poverty. Social Reform and the Picaresque Novel in Early Modern Spain, Toronto 1999; Hans Ulrich Gumbrecht: „Die prekäre Existenz des Pícaro“, in: ders.: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, S. 44-55; Giancarlo Maiorino: At the Margins of the Renaissance. Lazarillo de Tormes and the Picaresque Art of Survival, University Park/PA 2003. 24 Es gibt längst eine Reihe von Studien, die sich den weiblichen Figuren oder Weiblichkeit im spanischen Schelmenroman widmen, so Thomas Hanrahan: La mujer en la novela picaresca, 2 Bde., Madrid 1967; Anne J. Cruz: „The Abjected Feminine in the

E INLEITUNG: DER PÍCARO ALS M ANN ?

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Mütter der pícaros, unbedarfte Mündel oder gar Frauen von zweifelhaftem Ruf, wie etwa die Kupplerin, die das nicht gerade üppig mit weiblichen Figuren ausgestattete Universum im Schelmenroman bevölkern – unter Ausnahme derjenigen Romane, deren Protagonist eine pícara darstellt. Auch die sexuelle Gretchenfrage, wie es nämlich der Schelm mit dem ‚anderen Geschlecht‘ hält, wäre in diesem Zusammenhang zu erörtern.25 Die doppelte Relationalität der Kategorie Männlichkeit, also männlichmännlich und männlich-weiblich, die sich in diesen beiden Beobachtungen niederschlägt, ließe sich noch erweitern um eine handlungsrelevante, ja performative Dimension geschlechtlicher Kodierung. Zu fragen wäre entsprechend: Wie wird die Männlichkeit der Figuren auf der Ebene ihres Handelns konstituiert? Der pícaro reist umher, er ist permanenter Gewalt ausgesetzt, er betrügt, er taktiert, er macht Späße, er dient, er erzählt. Sämtliche Schelmenromane zeichnen sich weniger durch psychologische Finesse als durch überbordenden Handlungsreichtum aus, doch welche der Handlungen lassen sich im engeren Sinne vom Geschlechtscharakter der Figuren ableiten? Handelt der Schelm nach dem klassisch-männlichen Muster aktiv oder stehen seine Aktionen aufgrund seines gesellschaftlichen Status eher im Dienste seiner Vorgesetzten?

Lazarillo de Tormes“, in: Crítica Hispánica 19 (1997), S. 99-109, dies.: „Figuring Gender in the Picaresque Novel: From Lazarillo to Zayas“, in: Romance Notes 50/1 (2010), S. 7-20; María V. Jordán Arroyo: „‚Has Charity gone to Heaven?‘ The Women in La vida de Lazarillo de Tormes“, in: Reyes Coll-Tellechea/Sean McDavid (Hrsg.): The Lazarillo Phenomenon. Essays on the Adventures of a Classic Text, Cranbury 2010, S. 139-160; José María Alegre: „Las mujeres en el Lazarillo de Tormes“, in: Revue Romane 16 (1981), S. 3-21. Allgemein zum Thema Weiblichkeit in den Texten des Siglo de Oro vgl. Mary S. Gossy: The Untold Story. Women and Theory in Golden Age Texts, Ann Arbor 1989. Studien zum Thema Männlichkeit(en) im Schelmenroman fehlen jedoch bislang. 25 Obwohl an der Oberfläche der Texte mit männlichen Hauptfiguren kaum sexuelle Handlungen geschildert werden – ganz im Gegensatz zu Romanen mit weiblicher Hauptfigur – liegen ein paar wenige Aufsätze vor, die sich den cachierten bzw. sprachlich camouflierten Narrativierungen sexueller Erlebnisse widmen, so vor allem die Studien zum Lazarillo von George A. Shipley: „‚Otras cosillas que no digo‘: Lazarillo’s Dirty Sex“, in: Giancarlo Maiorino (Hrsg.): The Picaresque. Tradition and Displacement, Minneapolis/London 1996, S. 40-65; ders.: „A Case of Functional Obscurity: The Master Tambourine-Painter of Lazarillo, Tratado VI“ in: Modern Language Notes, 97, No. 2, Hispanic Issue (1982), S. 225-253.

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Sämtliche hier aufgeworfenen Fragen, die um die Geschlechtszugehörigkeit des pícaro kreisen, blieben bislang auf der Ebene der Texte. Da jedoch gerade die novela picaresca aufgrund ihres stark gesellschaftskritischen Charakters, verstanden als Schelmenspiegel, nicht ohne ihren historischen Kontext betrachtet werden kann, muss die doppelte Relationalität um eine weitere, die Textgrenzen überschreitende Beziehung ergänzt werden. Mithin wäre zu überprüfen, wie die Männlichkeit des Schelms zu den androzentrisch-patriarchalen Geschlechternormen seiner Zeit steht. Gibt es zur Zeit des Siglo de Oro bereits typische Männlichkeitsmodelle bzw. männliche Herrschaftskonzepte, die sich als hegemonial begreifen lassen und wenn ja, wie verhält sich der stets ironisch auftretende pícaro dazu?26 Sein sezierender Blick auf die Gesellschaft erfolgt sozusagen aus der Froschperspektive und richtet über die gängigen Sozialfiguren seiner Zeit – vielversprechend scheint es von diesem Standpunkt betrachtet, nach Aussagen zu suchen, die nicht nur Kritik üben an bestehenden Standesdünkeln, sondern dezidiert als frühe Form von Männlichkeitskritik zu verstehen sind. Zu fragen wird demnach sein: Ist die Schelmenschelte gleichzeitig Männerschelte im Sinne einer negativen Andrologie, wie es Christoph Kucklick für die Zeit um 1800 formuliert hat?27

1.3 M ÄNNLICHKEITSENTWÜRFE S IGLO DE O RO

IN DER

L ITERATUR

DES

Die spanische Literatur des Siglo de Oro hat eine Reihe an markanten Männlichkeitsbildern hervorgebracht. Neben dem noch stark vom mittelalterlichen honor-

26 Historische Studien zu Männlichkeitsentwürfen im Goldenen Zeitalter liegen vereinzelt vor, so etwa: Shifra Armon: Masculine Virtue in Early Modern Spain, Surrey/Burlington 2015; Felipe E. Ruan: Pícaro and Cortesano: Identity and the Forms of Capital in Early Modern Picaresque Narrative and Courtesy Literature, Lewisburg 2011; José R. Cartagena Calderón: Masculinidades en obras. El drama de la hombría en la España imperial, Newark 2008; Elizabeth A. Lehfeldt: „Ideal Men: Masculinity and Decline in Seventeenth-Century Spain“, in: Renaissance Quarterly 61 (2008), S. 463-494. 27 Vgl. Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Geburt der negativen Andrologie, Frankfurt/M. 2008. Ob der Zeitraum des Deutschen Idealismus, den Kucklick untersucht, tatsächlich die Geburtsstunde der negativen Andrologie darstellt, muss im Hinblick auf die Kritik an männlichen Sozialfiguren, die der Schelmenroman unternimmt, zumindest relativiert werden.

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Ideal beeinflussten caballero, wie er vorbildhaft von Lope de Vega und Calderón in Szene gesetzt wird, bildet sicherlich die von Tirso de Molina maßgeblich geprägte Don-Juan-Figur aus dem ihm zugeschriebenen Burlador de Sevilla (1630 ersch.) den einflussreichsten Männlichkeitstypus der spanischen Literatur überhaupt. Beide Männlichkeitsentwürfe unterscheiden sich zuallererst darin, dass der caballero ein Idealbild zunächst kriegerischer, dann höfischer Männlichkeit repräsentiert, das gesellschaftlich vorherrschend ist und zugleich literarisch narrativiert wird. Der Don Juan hingegen stellt zunächst eine rein literarische Figur dar, die sich erst im Laufe der Jahrhunderte zum spanischen Männlichkeitstopos par excellence entwickelt, und das tatsächlich über die Grenzen der Literatur hinweg. In der direkten Gegenüberstellung lassen sich diese beiden Entwürfe an den beiden entgegengesetzten Polen einer moralischen Skala verorten, vor allem hinsichtlich des für den iberospanischen Kontext zentralen Verhaltensideals des honor: Während der hombre de bien stets darauf bedacht ist, seine Ehre zu verteidigen und auch die seines nächsten Umfeldes (Ehefrau, Familie, Freunde), trachtet Don Juan danach, die Ehre seiner eroberten Frauen – und die ihrer Ehemänner gleich mit – zu zerstören, um seine narzisstisch-erotisch motivierten Machtgelüste zu befriedigen. Beiden Männlichkeitsmodellen ist trotz der auffälligen Divergenzen im Zusammenhang moralischer und symbolischer Ökonomie gemein, dass sie jeweils von Männern der gehobenen Schichten verkörpert werden. Hierin läge aus intersektionaler Perspektive ein erster dezidierter Unterschied zum pícaro, der sich – so scheint es zunächst – um Fragen des honor kaum zu scheren vorgibt.28 Des Weiteren wären Gemeinsamkeiten in der Rezeptionsgeschichte beider Modelle zu entdecken: Sowohl der ritterliche Ehrenkämpfer als auch der notorische Ehrenjäger erweisen sich historisch gesehen nicht nur als einflussreich für die nachfolgenden Epochen der spanischen Literatur, sondern entwickeln sich zu international erfolgreichen Exportfiguren. Vor allem Don Juan zählt neben Faust zu den am häufigsten adaptierten Stoffen der modernen Weltliteratur.29

28 Dass dies nur einem eher oberflächlichen Eindruck entspricht, zeigt Hans-Hagen Hildebrandt: „Ehre im ‚Goldenen Zeitalter‘ – symbolisches Kapital oder Falschgeld“, in: Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (Hrsg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt/M. 1994, S. 249-269; vgl. auch José-Carlos Del Ama: „Honra y opinión pública en la novela picaresca española“, 2007, unpaginierter Aufsatz, URL: http://www.revistaaleph.com.co/component/k2/item/136-honra-y-opinion-publica-enla-novela-picaresca-espanola.html (letzter Zugriff: 08.01.2018). 29 Ein Blick in die einschlägigen Stoffgeschichten reicht aus, so etwa: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart

102005,

S. 193-200. Vgl. auch Hiltrud Gnüg: Don

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Der pícaro und vor allem sein Nachfolger Don Quijote dürfen zweifellos, bezogen auf den Rezeptionsreichtum, in diesen ‚urspanischen‘ literarischen Männerbund aufgenommen werden. Allerdings kommt dem pícaro, verstanden als Kritiker und dem verrückten Hidalgo als Nachahmer ein anderer Stellenwert zu als den beiden anderen Modellen. Insofern lässt sich vorläufig konstatieren, dass das Beziehungsgeflecht der literarischen Männlichkeiten im Siglo de Oro komplex ist und auf mehren Ebenen zu untersuchen ist – sowohl textimmanent als auch kulturhistorisch – und dass der pícaro darin eine Sonderrolle einzunehmen scheint. Möglicherweise ist es genau sein marginalisierter Sonderstatus, dieses Nicht-Einpassen in hegemoniale Rollenmuster, was dieser stets ironischen Figur größere Freiheiten auch im Rahmen ihrer Männlichkeitsinszenierung erlaubt als den caballeros, für die der Aufbau, das Verteidigen, aber auch, z. B. bei der Don Juan-Figur, das Zerstören männlicher (und weiblicher) Ehre zu den Leittugenden gehört. Ehre und Ehrhaftigkeit, im Spanischen durch die Begriffe honor und honra bezeichnet,30 stellen besonders im Siglo de Oro eine stets bedrohte Währungsform dar – Bourdieu ordnet beides der Kategorie des symbolischen Kapitals zu31 –, die in den meisten der kanonischen Texte, sowohl in der Narrativik als

Juan. Eine Einführung, München/Zürich 1989; Beatrix Müller-Kampel: Mythos Don Juan, Leipzig 1999; Ulrich Schulz-Buschhaus: „Don Giovanni oder die Wandlungen eines Libertin, in: Dieter Borchmeyer (Hrsg.): Mozarts Opernfiguren, Bern u. a. 1992, S. 71-91. 30 Zu den semantischen Differenzen zwischen „honor“ und „honra“ vgl. Américo Castro: „Algunas observaciones acerca del honor en los siglos XVI y XVII“, in: Revista de Filología Española 3 (1916), S. 1-50; María Victoria Martínez: „A vueltas con la honra y el honor. Evolución en la concepción de la honra y el honor en las sociedades castellanas desde el medioevo al siglo XVII“, in: Revista Borradores 8/9 (2008), S. 110; vgl. auch die kritischen Ausführungen von Alfonso de Toro: Von den Ähnlichkeiten und Differenzen. Ehre und Drama des 16. und 17. Jahrhunderts in Italien und Spanien, Frankfurt/M. 1993, S. 102f. De Toro macht darauf aufmerksam, dass eine eindeutige semantische Distinktion von honor und honra kaum aufrechtzuerhalten sei, da die Begriffe häufig synonym verwendet werden. 31 Vgl. dazu u. a. Pierre Bourdieu: „Le sens de l’honneur“, in: ders.: Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de Trois études d’ethnologie kabyle, Paris 1972, S. 1960; Pierre Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 183-198 (deutsch i. O.); Dagmar Burkhart: Ehre. Das sym-

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auch auf dem Theater,32 handlungsbestimmende Funktion besitzt. Auch wenn es dabei nicht immer um Ehre im engeren Sinne von Männlichkeitsehre geht, sind doch letztendlich auch die geläufigen Formen von Bluts-, Standes- oder Familienehre eng an die Ehre des männlichen Geschlechts gekoppelt.33 In einer Zeit radikaler gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse ist die Ehre, verstanden als symbolische Kapitalwährung, besonders von Kursschwankungen und feindlichen Übernahmen oder gar Entwertung bedroht, was sich sogar bis in den übergeordneten Bereich der Nationalehre auswirken kann. Das lässt sich insbesondere für das spanische Großreich nach Abschluss der Reconquista beobachten, das im Zuge seines aggressiven nation building einen regelrechten Überschuss an Nationalehre produziert, der durch extensive Expansionspolitik und kulturelle Blüte hervorgebracht wird. Dieser Aufstieg zur europäischen Groß- und Kolonialmacht übt einen deutlichen Einfluss auf die Gesellschaftsordnung aus und leitet einen folgenschweren Wandel innerhalb der Konzeption männlicher Ehre ein, der sich repräsentativ an der rein spanischen Sozialfigur des hidalgo ablesen lässt: Der vormalige Kämpfer, der im Zuge der Reconquista für die Akkumulation von immer mehr Nationalehre zuständig war und damit wesentlich zur Steigerung seiner Mannesehre betrug, hat im befriedeten Großreich keine zwingende Funktion mehr und verharrt infolgessen auf der untersten Adelsstufe in der Bedeutungslosigkeit. Dieser Wandel wird nicht nur im dritten tratado des Lazarillo de Tormes thematisiert, sondern stellt bekanntlich auch das Grunddilemma in Cervantes’ Don Quijote dar. Die komplexen Beziehungen zwischen National-, Standes- und Mannesehre liefern demzufolge einigen Aufschluss über das historische Machtgefüge, in dem die frühneuzeitlichen Männlichkeitsmodelle

bolische Kapital, München 2002; Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. 32 Gustavo Correa: „El doble aspecto de la honra en el teatro del siglo XVII“, in: Hispanic Review 26 (1958), S. 99-107; vgl. auch Kurt Hahn: „Soziales Kalkül, symbolisches Kapital und theatrale An-Ökonomie. Die Ehre als konvertierbare Verhandlungsmasse in Lope de Vegas El castigo sin venganza“, in: Beatrice Schuchardt/Urs Urban (Hrsg.): Handel, Handlung, Verhandlung. Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien, Bielefeld 2014, S. 155-174, bes.: S. 155-158. 33 Vgl. dazu – wenn auch nicht konkret für den spanischen, sondern für den gesamten mitteleuropäischen Kontext – Martin Dinges: „Ehre und Geschlecht in der Frühen Neuzeit“, in: Sibylle Backmann u. a. (Hrsg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998, S. 123-147.

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verankert sind.34 Die Tatsache, dass die Begriffe honor und honra zu den häufigsten abstrakten Nomina innerhalb der narrativen und dramatischen Texte des Siglo de Oro gehören und ständig neu ausgehandelt werden, lässt bereits erahnen, dass eben dieses Machtgefüge keineswegs so statisch ist wie es für eine ständisch organisierte Gesellschaftsform vielleicht zu erwarten wäre.35 Zu einer voranschreitenden Permeabilisierung der Standesgrenzen führt nicht zuletzt auch der zunehmende Einfluss von Merkantilismus und Geldadel – ein präkapitalistischer Wandel, den auch die novelas picarescas von Anfang an in ihre Gesellschaftskritik einbeziehen. Man könnte sogar sagen, dass die spanischen Schelmenromane, besonders ausführlich der Guzmán de Alfarache, sehr genau den Wertewandel vom ritterlichen hombre de bien zum modernen homo oeconomicus diagnostizieren.

1.4 M ÄNNLICHE IDENTITÄT IN

DER NOVELA PICARESACA

Konkret auf die novela picaresca bezogen fällt in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick auf, dass den Texten eine männliche Herrschaftsstruktur a priori zugrunde liegt, nämlich das Dienstverhältnis des pícaro zu seinen diversen Herren. In den allermeisten Fällen wird durch dieses Herr-Knecht-Modell der jeweilige Standesunterschied abgebildet, der die Anstellungen stratifikatorisch determiniert. Die soziale Verortung des pícaro im untersten Stand bleibt auf diese Weise – an der Oberfläche betrachtet – stets unzweideutig. Allerdings gibt es durchaus Passagen, so z. B. Lazarillos Anstellung beim verarmten Escudero, die die ständische Hierarchie auf tragikomische Weise unterlaufen (vgl. Kap. 4.4). Ebenfalls im Lazarillo wird dieses für den Schelmenroman typische Herrschaftsmodell mit dem anonymen Adressaten der Schelmenbeichte sogar noch erweitert um eine dritte Instanz jenseits der Textgrenzen, entscheidet doch der mit Vuestra Merced adressierte Edelmann über Wohl und Wehe des pícaro, d. h. über nichts anderes als die Anerkennung oder den Verlust von dessen Ehrhaftigkeit, was eben auch eine Verhandlung über Lazarillos Männlichkeit bedeutet.

34 Speziell zum Don Quijote vgl. Horst Weich: „Subversion des Patriarchats? Zum Geschlechterdiskurs im Quijote“, in: Christoph Strosetzki (Hrsg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote, Berlin 2005, S. 43-58. 35 Siehe Dinges: „Ehre und Geschlecht“, S. 127: „Ehre hing also nicht statisch an einer Person, sondern sie war offenbar sehr veränderlich. Man mußte deshalb ständig um sie kämpfen. Insgesamt scheint deshalb die Ehre ein Konzept zu sein, das gut zu Männern paßte.“

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Die Darstellung der verschiedenen Dienstherren aus der Perspektive des Knechts ermöglicht, wie bereits angedeutet, einen kritischen Blick auf die Ehrpolitik der gehobenen Stände aus der Froschperspektive. Die Herren treten dabei als Vertreter ihrer jeweiligen Stände und Zünfte auf und besitzen daher eher Typencharakter als individuelle Züge, was auch dadurch unterstrichen wird, dass sie allesamt namenlos bleiben. Der episodische Charakter der Narration unterstreicht den Eindruck, dass die vorgebrachte Kritik als exemplarisch zu verstehen ist. Dies bedeutet wiederum, dass der Schelm sich die Gesellschaft nach und nach vornimmt, um die Ehrvorstellungen des Adels pars-pro-toto-haft als überholt, die Christlichkeit des Klerus als doppelmoralisch, die Vertreter des Handwerks als gierig, den Ablasshandel als betrügerisch zu entlarven. Einerseits wird durch die episodische Anordnung der Eindruck erweckt, als seien die jeweiligen Männlichkeitstypen unabhängig voneinander zu betrachten. Andererseits jedoch tritt der pícaro stets als deren Gegenpart auf und bildet dadurch den roten Faden, der die locker miteinander verbundenen Einzelepisoden zusammenhält. In der Interaktion zwischen Herr und Knecht liegt das Verbindende und Entlarvende zugleich, wird doch auf diese Weise die Soziabilität der jeweiligen Sozialfiguren auf den Prüfstand gestellt und der Kritik anheimgegeben. Für den Schelmenroman typisch ist in diesem Zusammenhang der exzessive Einsatz von körperlicher Gewalt, der die homosozialen Beziehungen häufig begleitet. Der Lebensweg des pícaro erinnert mitunter an veritable Passionsgeschichten.36 Gattungshistorisch betrachtet beginnt die gesellschaftliche Initiation des pícaro im Lazarillo mit einem harten Schlag gegen den Kopf: Körperliche Gewalt gehört also von Beginn an zum learning by doing des Schelms. Dass er seine Lektionen gelernt hat, wird sich erst später zeigen, wenn er selbst zum Täter wird und es seinem Peiniger mit gleicher Münze zurückzahlt. Die immer wieder überbetonte Körperlichkeit frühneuzeitlicher Texte, die noch angereichert wird durch allerlei kreatürliche Exzesse, wirft die Frage nach deren geschlechtsspezifischer Bedeutung auf. Immer wieder wird – besonders einflussreich in Michail Bachtin Rabelais-Studie37 – auf den grotesken Charakter körperlicher Äs-

36 Der Verdacht, dass es sich bei den Schelmenberichten um travestierte Passionsgeschichten handelt, wird noch genährt durch die häufig als unsicher beschriebenen Herkunftsverhältnisse des pícaro, durch die starken Mutter- und abwesenden Vaterfiguren sowie die episodisch angelegten, kreuzwegähnlichen Stationen der Lebenswege. 37 Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt/M. 1995; Michail M. Bachtin: „Die groteske Gestalt des Leibes“, in: ders.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt/M. 1990, S. 15-23.

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thetik in der novela picaresca hingewiesen, so vor allem in Quevedos Buscón (ersch. 1626) – man denke an Spitzers berühmte Stilstudien und vor allem an die darin enthaltene Analyse der körperlichen Darstellung von Pablos’ Lehrer Cabra, in der Spitzer ein Musterbeispiel grotesker Ästhetik sieht.38 Aber auch die geschundenen Körper der pícaros selbst muten oftmals nicht minder grotesk an: ausgeschlagene Zähne, Löcher im Kopf, mit Kot und Speichel besudelte Körper, etc. Wie im mittelalterlichen Schwank, in dem bereits solche expliziten Schilderungen von Gewalt und Kreatürlichkeit zum festen Inventar gehören, entbehren diese Passagen aufgrund ihres hyperbolischen Charakters jeglicher Glaubwürdigkeit.39 Die erduldeten Blessuren hinterlassen kaum Spuren im Text – der Schelm setzt seinen Lebensweg ungehindert fort und lässt sich durch kein Loch im Kopf von seiner Reise abbringen. Der deutliche Fokus auf das KörperlichKreatürliche wird häufig – sicherlich nicht zu Unrecht – als spanische Eigenheit bewertet, was Christian von Tschilschke wie folgt erklärt: „Die Ursache dafür wird darin vermutet, dass sich die moralische Tabuisierung des Sexuellen, die Disziplinierung des Körpers und die Macht der Zensur auf der einen sowie die Aufwertung des Kreatürlichen, die Lust am Tabubruch und das Begehren nach Transgression auf der anderen Seite gegenseitig verstärken.“40 Das körperlich Ekelerregende in Form von skatologischer und exkrementaler Bildsprache, mithin die Ästhetik des Abjekten, wie sie Georges Bataille und Julia Kristeva maßgeblich theoretisiert haben,41 durchzieht die novela picaresca

38 Leo Spitzer: „Zur Kunst Quevedos in seinem ‚Buscón‘“, in: ders.: Romanische Stilund Literaturstudien, Bd. II, Marburg 1951, S. 48-125. 39 Für den romanischen Kulturraum sind sicher die sog. Fabliaux stilbildend. Vgl. dazu Albert Gier: „Die Fabliaux, Profil einer Gattung: vornehmes Publikum, volkstümliche Stoffe und komische Helden [Nachwort]“, in: ders. (Hrsg.): Fabliaux. Altfranzösisch/Deutsch, Stuttgart 1985, S. 303-335. 40 Christian von Tschilschke: „Quer zu Queer: Transgressionen der Geschlechter im spanischen Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Uta Fenske/Verf. (Hrsg.): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012, S 181-198, hier: S. 183. Vgl. dazu auch: Bernhard Teuber/Horst Weich: „Vorwort“, in: dies. (Hrsg.): Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen, Frankfurt/M. 2002, S. 7-11. 41 Vgl. George Bataille: „Les misérables“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II: Écrits posthumes 1922-1940, hrsg. von Denis Hollier, Paris 1970, S.217-219; ders.: „Les choses abjectes“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II: Écrits posthumes 1922-1940, hrsg. von Denis Hollier, Paris 1970, S. 220-221; Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980.

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und gehört auch zu den Kennzeichen des pikaresken Männlichkeitsbildes, insbesondere bei Quevedo, wo das körperlich Abjekte mit dem Mechanismus der sozialen Abjektion enggeführt wird. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die Überbetonung des KörperlichOberflächlichen zwangsläufig zu einer Vernachlässigung der psychologischen Dimension führt, die sich auch der unzuverlässigen Erzählinstanz verdankt, wissen wir doch praktisch nie, welche der geschilderten Gefühle, Meinungen oder Bewertungen tatsächlich psychisch-emotional bestimmt oder doch nur das Produkt zielorientierter Dissimulation sind. Dessen ungeachtet wurde immer wieder versucht, psychologische Aspekte unter dem überbordenden grotesk-kreatürlichen Oberflächendesign des Schelmenromans zu ermitteln, ganz prominent in C. G. Jungs Studie „Zur Psychologie der Schelmenfigur“ (1954)42, etwas früher (1947) in Alexander A. Parkers psychologisierender Buscón-Lektüre.43 Die Tatsachen, dass die Ich-Perspektive dieser fingierten Autobiografien zu den stilbildenden Gattungsmerkmalen der Pikareske gehört, dass es sich ferner um den sozialisatorischen Lernprozess des pícaro handelt, der im Zentrum der Narration steht, und dass das deutlich nachweisbare Empfinden von Scham angesichts der eigenen familiären Herkunft immer wieder als Motor der Handlungen fungiert, rechtfertigen aller Fabulierfreude zum Trotz die These von der psychologischen Tiefendimension des Schelmenromans. Inwieweit solche Aspekte auch Einfluss ausüben auf die männliche Identität bzw. auf den Subjektstatus der pícaro-Figur, wird ebenfalls zu überprüfen sein. Um die Dichotomie von Körper und Seele zu erweitern, muss hier noch der Geist als weitere Kategorie betrachtet werden, was die Figur des pícaro, die oft, vor allem dank des deutlich später erschienenen Simplicissimus von Grimmelshausen, unzulänglich als ‚einfältig‘ bewertet wird, einiges an Komplexität hinzufügt. Mag es auch sein, dass zu Beginn der Geschichten ein gewisses Maß an simpleza zu beobachten ist, so lernt der pícaro doch schnell, sich in der Gesellschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten zurechtzufinden.44 Egal, wie man es

42 C.G. Jung: „Zur Psychologie der Schelmenfigur“, in: Helmut Heidenreich (Hrsg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 245254. 43 Alexander A. Parker: „Zur Psychologie des Pikaro in ‚El Buscón‘“, in: Helmut Heidenreich (Hrsg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 212-236. 44 In der Schelmenroman-Forschung herrscht nach wie vor keine Einigkeit hinsichtlich der Frage, ob die Hauptfiguren im Laufe der Erzählung eine psychologischmoralische Entwicklung durchlaufen. Zu den Befürwortern zählt u. a. Claudio

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nennen mag – ob Gewitztheit, Chuzpe, Gerissenheit, Bauernschläue oder Durchtriebenheit –, fest steht, dass es dem pícaro erstaunlich rasch gelingt, die zwischenmenschlichen Strukturen der ihn umgebenden Umwelt zu durchschauen und den vorherrschenden Widerstreit von Schein und Sein, von engaño und desengaño, aufzudecken und für sein eigenes Fortkommen nutzbar zu machen. Auch wenn immer wieder Rückschläge den Weg des pícaro pflastern – Widerstände, die teils schmerzhaft, teils komisch sind –, geht er doch immer abgebrühter und listiger in seinem Bestreben vor, an die Gesellschaft Anschluss zu finden, was ihm aufgrund seiner Herkunft zunächst verwehrt bleibt. Somit ermöglicht ihm sein an der Umwelt geschulter Verstand das Weiterkommen und lässt ihn zusehends souveräner auftreten und agieren, was Nietzsche gar zu dem Befund anregte, in den Schelmengeschichten „die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des ‚Genies‘“45 zu sehen. Dieser Lernprozess, der tatsächlich anderen Implikationen unterliegt als den nach teleologischen Prämissen im klassischen Bildungsroman beschriebenen46, vollzieht sich nicht zuletzt aufgrund einer weiteren besonderen Fähigkeit des pícaro, nämlich seiner Anpassungsfähigkeit, die ihm einiges an schauspielerischem Talent abfordert.47 Die solcherart ostentativ ausgestellte performative Qualität der Schelmenfigur, die mustergültig – und strategisch zugleich – den frühneuzeitlich-barocken Topos des theatrum mundi, des ‚großen Welttheaters‘, inkorporiert, folgt zunächst innerhalb der jeweiligen Episoden, d. h. auf der Mikroebene, den situativen Erfordernissen, mit denen der pícaro konfrontiert wird. Die Rollen, Maskeraden und Hochstapeleien, derer sich der Schelm schamlos bedient, müssen jedoch für die Mikro- und Makroebene differenziert betrachtet werden, auch wenn der Effekt insgesamt derselbe ist.

Guillén: „Toward a Definition of the Picaresque“, bes.: S. 80-82. Dagegen hält u. a. Robert Alter: Rogue’s Process. Studies in the Picaresque Novel, Cambridge/Mass. 1964, S. 31. Jürgen Jacobs diskutiert diesen strittigen Punkt in seinem Aufsatz „Bildungsroman und Pícaro-Roman. Versuch einer Abgrenzung“, in: ders.: Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman, Trier 1998, S. 25-39. 45 Friedrich Nietzsche: „Vom Probleme des Schauspielers“, in: ders.: Die fröhliche Wissenschaft (Bd. 3 der kritischen Studienausgabe: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft), hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 72008,

S. 608f, hier: S. 609.

46 Vgl. Jacobs: „Bildungsroman und Pícaro-Roman“. 47 Auf die schauspielerischen Facetten der Schelmenfigur weist auch Michail Bachtin hin: „Was diese Figuren in die Literatur einbringen, ist [...], daß sie auf ganz essentielle Weise mit den Theatergerüsten und Bühnenmasken der öffentlichen Plätze verknüpft sind“, in: Michail M. Bachtin: Chronotopos, Frankfurt/M. 2008, S. 87f.

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Wenn sich nämlich die Einzelepisoden durch allerhand Rollenspiele und trickreiche Maskeraden auszeichnen, dann besteht kein Grund, den Texten als Ganzes diese Eigenschaft nicht zuzuschreiben. Die bereits erwähnte Fabulierfreudigkeit des erzählenden pícaro erzeugt eine höchst unsichere Erzählinstanz, einen „unreliable narrator“48, der es allein dem Leser überlässt, was er glauben soll und was nicht. Matthias Bauer spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der unsichere, „elliptische Diskurs“49 eine „Komplementärlektüre“ der Schelmenbeichte erforderlich macht. Allerdings, so Bauer, bleibt auf der Suche nach der ‚ganzen‘ Wahrheit innerhalb der Interaktion zwischen Leser und Text „stets eine unüberbrückbare Kluft bestehen“50, die sich eben jener pikaresken, d. h. unzuverlässigen Erzählinstanz verdankt. Wenn demnach, um auf das Thema des Geschlechts zurückzukommen, die Regieanweisungen im pikaresken Welttheater nach den teils karnevalesken51 Maßgaben von Täuschung, Spiel und Maskerade funktionieren, dann wäre es doch verwunderlich, wenn ausgerechnet die Kategorie des Geschlechtlichen davon ausgenommen wäre. Wenn sich etwa Pablos aus dem Buscón als Edelmann inszeniert, um eine vorteilhafte Ehe einzugehen, liegt dann lediglich eine ständisch motivierte Maskerade vor oder nicht vielmehr der Versuch, sich ein vorgefertigtes Männlichkeitsmuster, z. B. das des hombre de bien, parasitär anzueignen, um beim anderen Geschlecht Erfolg zu haben? Ein anderes Beispiel: Was passiert auf der Ebene der Männlichkeitsinszenierung, wenn Lazarillo trotz seines niedrigen Status im Rahmen seines Dienstverhältnisses beim verarmten Hidalgo plötzlich zum Ernährer desselben wird? Bachtin postuliert, dass das Sein der Schelme „die Widerspiegelung eines anderen Seins“ darstelle und bezeichnet die Figuren als „Schauspieler des Lebens“,52 deren Sein

48 Ich beziehe mich auf die gängige Definition von Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961, S. 158f: „I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say the implied author’s norms), unreliable when he does not.“ 49 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 26-28. 50 Ebd. S. 29. 51 Zum karnevalesken Charakter des Schelmenromans vgl. ebd., S. 49-51; ferner HansUlrich Gumbrecht: „Literarische Gegenwelten. Karnevalskultur und die Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Renaissance“, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters (GRLMA), Begleitreihe Bd. 1: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hrsg. v. Hans-Ulrich Gumbrecht, Heidelberg 1980, S. 95-144; Hanno Ehrlicher: Zwischen Konversion und Karneval. Pilger und Pícaros in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit, München 2010. 52 Alle Zitate aus Bachtin: Chronotopos, S. 88.

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mit ihrer Rolle zusammenfalle, und dass sie außerhalb dieser Rolle überhaupt nicht existieren. Dieser spielerische Umgang mit Sein und Schein, der die Pikareske maßgeblich kennzeichnet, weisen avant la lettre auf Performanzkonzepte der modernen Gender Studies voraus, so vor allem vorgetragen von Judith Butler,53 oder aber auf praxeologische Analysemodelle, wie sie von Bourdieu schon in den 1970er Jahren entwickelt wurden.

1.5 R ELATIONALITÄT UND WEIBLICHKEIT IN

DER

NOVELA PICARESCA Auch wenn es bislang den Anschein erwecken mag, als handele es sich bei der pikarischen Welt um ein rein männliches Narrativ, als seien die jeweiligen Plots „overpoweringly patriarchal“54, so ist dieser Eindruck zwar berechtigt, aber unvollständig. Die Analyse der Männlichkeitsmuster im spanischen Schelmenroman kann nur auf hinreichende Weise vorgenommen werden, indem auch die Relationalität zum weiblichen Geschlecht in den Blick genommen wird. Wenn man von Romanen mit weiblichen Hauptfiguren absieht, wird schnell deutlich, dass weiblichen Figuren in den Texten nicht allzu viel Raum zugestanden wird. Das Weiblichkeitsbild in der novela picaresca wirkt auf den ersten Blick einigermaßen stereotyp: Es sind, wie bereits angedeutet, vor allem die Mütter der männlichen Hauptfiguren sowie Frauen von eher zweifelhaftem Ruf – Kupplerinnen, Prostituierte, Kebsen oder gar Hexen –, die das pikareske Universum bevölkern; Mütter und Huren also, wobei gleich hinzufügt werden muss, dass es sich dabei keineswegs um ein moralisch-bipolares Weiblichkeitsmodell handelt im klassischen Sinne von ‚Heiliger und Hure‘, sondern dass auch die Mütter keineswegs heilig, sondern vielmehr schlecht beleumundet sind, wohingegen den Vätern – mit Ausnahme vom Guzmán – nur eine marginale Rolle zukommt. Die Mütter der Protagonisten tauchen als Figuren zu Beginn der Erzählungen auf und verschwinden sodann – ebenfalls unter Ausnahme des Guzmán – für immer: Lazarillos Mutter gibt ihren Sohn aus finanzieller Not in die Hände des blinden Bettlers; im Guzmán agiert die Mutter taktierend zwischen zwei Männern, von denen beide der Erzeuger der Hauptfigur sein könnten, und endet verarmt als ‚doppelte Witwe‘; Pablos im Buscón verliert seine Mutter, die von der opinión pública als Hexe und conversa diffamiert wird, auf dem Scheiterhaufen. So ge-

53 Vgl. Judith Butler: „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Theatre Journal 40 (1988), S. 519-531. 54 Cruz: „The Abjected Feminine“, S. 99.

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ring aus rein quantitativer Sicht der Platz auch sein mag, den die Mütterfiguren in den novelas picarescas einnehmen, so ist der von ihnen ausgelöste Abnabelungsprozess offenkundig so wichtig, dass er zum gattungsspezifischen Merkmal des spanischen Schelmenromans geworden ist. Bei der Interpretation dieser Sachverhalte treffen zwei Ebenen aufeinander, nämlich Gattungstheorie und Narratologie auf der einen und Hermeneutik auf der anderen Seite. Die Schelmenmütter lösen durch den Abschied von ihren Söhnen (im Lazarillo bewusst gewollt, in den beiden anderen eher unfreiwillig) den Gang der Kernerzählung aus und besitzen damit für den Erzähler eine narrationsgenerierende Funktion, womit sich die doppelte Bedeutung von madre offenbart, nämlich im Sinne von Mutter und Gebärmutter. Indem sie die pícaros sozusagen zweifach gebären, zunächst biologisch und sodann in Form einer ‚zweiten Geburt‘ in die Welt der Betrüger, Kupplerinnen und Diebe, besiegeln sie die Erzählgrundlage der Pikaresken. Bereits hier wird deutlich, dass das pikareske Männlichkeitsnarrativ keineswegs nur nach den Maßgaben patriarchaler Ordnungsschemata organisiert ist. Im Buscón zieht sich diese Funktionalisierung des maternal bestimmten Narrationsprinzips bis zum Ende durch, indem die Flucht Pablos’ vor der mütterlichen Schande wiederkehrend, ja geradezu leitmotivisch als Hauptmovens der Einzelepisoden dargestellt wird. Auf der eher inhaltlich-hermeneutischen Ebene ist die mütterliche Herkunft zunächst als sozialer Determinismus zu betrachten, was im Guzmán mit dem sprichwörtlichen Satz: „La sangre se hereda y el vicio se apega“55 (G I, 130) nur vordergründig negiert wird. Durch den niederen Stand der Mütter sind die Lebenswege ihrer Söhne in der ständisch organisierten Gesellschaft des Siglo de Oro vorherbestimmt. Gleichwohl begründet sich darin auch der transgressive Wille der pícaros, eben diesen Determinismus zu überwinden, um eine privilegiertere Stellung innerhalb der Gesellschaft einnehmen zu können. So verstanden lässt sich die Negation und Überwindung des mütterlichen Erbes als durchgängiges Begehren des pícaro interpretieren, das wiederum seinem Sozialisationsprozess zugrunde liegt und damit bei der Herausbildung seiner männlichen Identität die vielleicht wichtigste Rolle spielt. Im zweiten Teil des Don Quijote (1615) wird Alemáns Diktum vom ‚Bluterbe‘ ironisch variiert: „La sangre se

55 Mateo Aleman: Guzmán de Alfarache, 2 Bde., hrsg. von José María Micó, Madrid 1987; im Folgenden mit der Sigle G sowie der Band- und Seitenangabe im Haupttext zitiert.

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hereda y el virtud se aquista.“56 Der hereditäre Determinismus kann also nur überwunden werden, wenn durch entsprechende Lebensführung – männlich kodierte – virtud erworben wird. Das Weibliche bzw. das weibliche Prinzip wird dadurch, wie es Cruz in Anlehnung an Kristeva formuliert, zum Abjekt, oder anders ausgedrückt: Ein männlicher Habitus kann nur erfolgreich aufgebaut werden, wenn die Abjektion des Weiblichen vollzogen wird.57 Besonders deutlich wird diese Beobachtung, wenn man den mütterlichen Diskurs in der Pikareske mit den Porträts der Väter kontrastiert: Während die größtenteils unmoralische Lebensführung der Mütter unbeschönigt beschrieben wird, werden die Väter – zumindest an der Textoberfläche – als vornehme Heldenfiguren imaginiert: als Kriegsheld, adeliger Landbesitzer oder ehrbarer Handwerker. Durch den Kontrast von konstruierter kindlicher Vater-Imago und biografischem Scheitern der Vaterfiguren wird jedoch trotz allem Bemühen um den heroischen Schein das ‚wahre‘, nämlich im Hinblick auf die Mütter, gleichermaßen unmoralische Wesen der Väter enttarnt. Allerdings zeigen allein das Bemühen um die heldenhafte Fassade und die im Bezug auf die Elternteile distinkten Erzählmodi, dass die Unmoral der Mütter im Bewusstsein der pícaros ungleich schwerer wiegt als diejenige der Väter. Man könnte daher sagen: Während das mütterliche Bild Produkt einer Abjektion ist, verdankt sich die Vater-Imago einer kindlichen Projektion, die noch im Moment ihres Scheiterns mehr Noblesse besitzt als die unauslöschliche weibliche Schande. Neben den Müttern, die zweifelsohne die wichtigsten Frauenfiguren in der novela picaresca darstellen, sind es die bereits erwähnten Vertreterinnen aus den unteren Schichten, die dem pícaro auf seinen Wegen begegnen: die Kupplerinnen und Ketzerinnen, aber auch die Näherinnen, Heilerinnen und Ordensschwestern. Jordán Arroyo zufolge sind es eben diese Frauenfiguren, die im „großen Wolfsspiel“58 der Schelmenwelt als einzige überhaupt zu christlichen Tugenden, vor allem Fürsorge und Nächstenliebe, fähig sind, „providing succor and aid to the narrator during the most difficult moments of his life.“59 Im Hinblick auf die von Cruz diagnostizierte Abjektion des Weiblichen erscheint dieser Befund erstaunlich und legt den Schluss nahe, dass das Weiblichkeitsbild in der novela picaresca ebenso wenig homogen ist wie sein männliches Pendant. Das relationale

56 Miguel de Cervantes: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, 2 Bde., hrsg. von Luis Andrés Murillo, Barcelona/Buenos Aires 2010, hier: Bd. 2, S. 358 (Herv. G. S.). 57 Vgl. Cruz: „The Abjected Feminine“. 58 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 85. 59 Jordán Arroyo: „‚Has Charity gone to Heaven?‘“, S. 152.

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Gefüge muss daher von Fall zu Fall überprüft werden, um universalistischen Aussagen entgegenzuwirken. Ein letzter Punkt, der hinsichtlich des Weiblichkeitsbildes im Schelmenroman von Interesse erscheint, allerdings die Texte selbst um eine intertextuelle Dimension erweitert, wäre an der Beobachtung festzumachen, dass, wie bereits angemerkt, die wichtigsten Vorläuferwerke der novela picaresca allesamt weibliche Hauptfiguren aufweisen. Bekanntlich gelten die beiden Dialogromane La Celestina sowie La Lozana Andaluza (1528) von Francisco Delicado als wesentliche Inspirationsquellen der novela picaresca, was Sabine Schlickers in Anlehnung an die einschlägigen Forschungen und vor allem mit Blick auf die Lozana Andaluza zu der These ermuntert, dass „der erste Schelm der spanischen Literatur weiblichen Geschlechts gewesen [sei]!“60 Vor diesem Hintergrund ist die Genealogie des spanischen Schelmenromans aus der literatura celestinesca näher zu durchleuchten und zwar mit deutlichem Fokus auf die geschlechtsspezifischen Merkmale der Figuren, um möglicherweise Spuren zu entdecken, die der geschlechtlichen Ambivalenz der pícaro-Figur mithin den intertextuellen Nährboden zur Verfügung stellen. Eingedenk der Tatsachen, dass (1.) auch die Titelfiguren61 der benannten Dialogromane bereits die Normen der frühneuzeitlichen Geschlechternormen transgredieren, was nicht zuletzt auch ihre enorme Popularität ausmacht, und dass (2.) beide Texte darüber hinaus auch im Hinblick auf Gattungsgrenzen als transgressiv zu bewerten sind, liefern diese Entwicklungslinien Aufschluss über das komplexe Relationsgefüge innerhalb der novelas picarescas – und das sowohl auf geschlechtlicher als auch kompositorischer bzw. gattungspoetischer Ebene. Zu überprüfen wird in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung sein, dass die Schelmenromane mit männlichen Hauptfiguren ihre Vorläufer mit weiblichen Protagonisten weitestgehend ‚entsexualisieren‘.62 Vor allem in der Celestina und der Lozana Andaluza spielt Sexualität, vor allem

60 Sabine Schlickers: „Cherchez la femme: Genealogie und Entwicklung der spanischen novela picaresca“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44, H. 175 (2014), S. 49-64, hier: S. 56. 61 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Rojas’ Werk erst in der Rezeptionsgeschichte den Namen der Kupplerin als Titel erhielt. Der Dialogroman wurde vom Autor selbst ursprünglich mit Comedia de Calisto y Melibea betitelt, später dann als Tragicomedia. 62 Vgl. dazu Jannine Montauban: El ajuar de la vida picaresca. Reproducción, genealogía y sexualidad en la novela picaresca española, Madrid 2003; darin vor allem das Kapitel mit dem programmatischen Titel „Pícaros castos/pícaras putas“ (S. 71-101).

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die weibliche Sexualität, eine zentrale Rolle,63 während sexuelle Handlungen in den novelas picarescas der ersten Stunde – wenn überhaupt – nur chiffriert, elliptisch oder mittels entsprechender Anspielungen erzählt werden. Man könnte also vorläufig konstatieren, dass mit dem Geschlechterwechsel von der präpikaresken Schelmin zum pícaro eine Aberkennung sexuellen Begehrens einhergeht, was wohl daran liegt, dass Sexualität und deren Narrativierung in der Literatur des Siglo de Oro noch eher zu den stereotypen Skripten von Weiblichkeit zu rechnen ist. Zwar lässt sich mit Blick auf Tirso de Molinas Burlador de Sevilla und der Erfindung des Don Juan diese Behauptung kaum noch aufrechterhalten, doch wird dort auch eine gänzlich andere Gesellschaftsschicht porträtiert, nämlich der Adel, was sicherlich im Hinblick auf ein aktives männliches Begehren nicht unwichtig erscheint; ein solches wird den Schelmen jedoch aberkannt, was dem defizitären Charakter ihres Männlichkeitsbildes durchaus entspricht.

1.6 K ORPUSAUSWAHL UND V ORGEHENSWEISE Im Zentrum der vorliegenden Untersuchungen zum spanischen Schelmenroman stehen die drei Klassiker der literatura picaresca, nämlich die anonyme Vida de Lazarillo de Tormes (1554), Mateo Alemáns zweibändiger Guzmán de Alfarache (1599/1604) sowie Francisco de Quevedos Vida del Buscón (ca. 1603; ersch. 1626). Der enge Bezug zu den klassischen Gattungsmerkmalen soll dazu dienen, der inhaltlichen Transgressivität der Texte einen klar konturierten Rahmen zu geben. Die gattungspoetischen Parallelen gewährleisten zudem die Vergleichbarkeit der Romane, wobei jedoch offenkundige Divergenzen keineswegs negiert werden sollen. Auch wenn sich nämlich die Kompositionstechnik der drei Werke durch den Einsatz weitestgehend analoger Narrationsmuster auszeichnet, so täuscht dieser Einklang doch nicht über eine deutliche Veränderung der Gattung innerhalb von immerhin rund 50 Jahren hinweg. Diese Unterschiede liegen vor allem in den jeweiligen Legitimationsstrategien, der Adressierung und dem Verhältnis von Aktion und Reflexion begründet. Aber auch im Hinblick auf die bereits angesprochenen Männlichkeits- und Genderkodierungen sind trotz aller oberflächlichen Homogenität Modifikationen erkennbar, die es aufzuzeigen und zu bewerten gilt. Gleichwohl wird durch die Auswahl eines klar umrissenen

63 Vgl. z. B. Hans-Jörg Neuschäfer: „Fernando de Rojas: La Celestina (1499). Die Entdeckung der Sexualität“, in: ders.: Klassische Texte der spanischen Literatur. 25 Einführungen vom Cid bis Corazón tan blanco, Stuttgart/Weimar 2011, S. 28-36.

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Korpus nicht ausgeschlossen, dass weitere Primärtexte in die Analysen mit einbezogen werden. Auf die literarischen Vorläufer der novela picaresca wurde bereits hingewiesen: Vor allem Rojas’ Celestina und Delicados Lozana Andaluza werden sowohl gattungsgenealogisch in ihrer Funktion als präpikareske Vorläufertexte als auch hinsichtlich ihrer Repräsentationen von Geschlechtermodellen, insbesondere hinsichtlich des pikaresken Weiblichkeitsbilds, einer systematischen Analyse unterzogen werden. Zu den wichtigen Vorläufern zählen weiterhin der Libro de buen amor (1330/1343) von Juan Ruiz, dem Erzpriester von Hita, sowie das für das frühneuzeitliche Weiblichkeitsbild besonders einflussreiche misogyne Traktat Arcipreste de Talavera (1438), besser bekannt als Corbacho, von Alfonso Martínez de Toledo. Auch sollen Seitenblicke auf weitere, bereits genannte Werke des Siglo de Oro geworfen werden, in denen zeitgleich weitere signifikante Männlichkeitsentwürfe konstruiert werden. Insbesondere im Don Quijote taucht die Pikareske bereits sehr früh als deutlich markierter Intertext auf, sozusagen als einverleibter Bestandteil innerhalb von Cervantes’ MetaRoman. Hier wäre zu fragen, was nach der parodistischen Aneignung von der Pikaresken übrigbleibt, die ja wiederum selbst der Gesellschaft den parodistischen Spiegel vorhält. Auch wenn bei Cervantes das überkommene caballeroIdeal des Siglo de Oro im Zentrum des Spotts steht, so wird diese Parodie doch durch die intertextuelle Zwischenebene der libros de caballerías doppelt mediatisiert. Mit der Pikaresken verfährt Cervantes ähnlich: Einerseits weisen die beiden Hauptfiguren deutliche pikareske Züge auf, die nicht nur über das ambivalente Herr-Knecht-Modell hergestellt werden; andererseits tauchen pikareske Prätexte auf einer intertextuell vermittelten Metaebene expressis verbis auf, so vor allem in der Episode um den entlaufenen Sträfling Ginés de Pasamonte im ersten Teil. Nur der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass auch die ficción pastoril in dieses Verfahren der doppelten Mediatisierung integriert ist. Es wäre zu kurz gegriffen – und das hat die Rezeption deutlich aufgezeigt –, im Don Quijote lediglich eine Art Hypertext zu sehen, der die populärsten Romangattungen seiner Zeit – also Ritter-, Schäfer- und Schelmenroman – zu einem intertextuellen, ironisch gefärbten Amalgam zusammenführt und somit der Lächerlichkeit preisgibt. Vermittelt über den Nachahmungswahn seiner Hauptfigur, der sich in überbordender Imagination entlädt, vermittelt über die episodische Erzählstruktur, die sich sowohl dem Einfluss der Ritterliteratur als auch der Pikaresken verdankt, vermittelt über die aus dem bukolischen Roman entlehnten Liebes-Utopien und Landschaftsschilderungen entsteht nicht nur ein subversives

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„countergenre“64 bzw. eine „counterfiction“65, sondern eben auch ein Weiterschreiben literarischer Vorbilder, die spielerisch, aber keineswegs unverbindlich miteinander kombiniert werden. Bauer merkt dazu an: „Eine [...] Fehlrahmung aber stellen der Pikaroroman, die Ritterbücher oder die Schäferdichtung, isoliert betrachtet, dar. Cervantes hat seine moralisch ausgewogene (Sicht der) Welt aus anderen (literarischen) Welten erzeugt.“66 Insofern bildet die Pikareske, die von Edward C. Riley als „contragénero“67 bezeichnet wurde, einen wichtigen Grundpfeiler der cervantinischen Weltkonstruktion, in der auch das vorherrschende Männlichkeitsbild auf Transgression, Mimesis, Maskerade und Pluralität aufgebaut ist. Im Unterschied zur Pikaresken führt Cervantes einen literarisch vermittelten Metadiskurs ein, der den Konstruktionscharakter explizit ausstellt. Der Ritter ist demzufolge immer gleich der ‚gemachte‘ Ritter. Ebenso ergeht es dem pícaro oder dem Schäfer, also den zentralen Männlichkeitsbildern bei Cervantes – kurz: Der Mann ist bei Cervantes nur als ‚gemachter Mann‘ zu denken, was nicht zuletzt die Modernität des Romans hervorhebt. Einzeluntersuchungen weiterer literarischer Texte, die dem bereits skizzierten Kanon der spanischen Pikareske hinzugerechnet werden, sollen aus programmatischer Sicht vernachlässigt werden. Einerseits schließt der deutliche Fokus auf den pícaro als Mann Texte aus, in denen Schelminnen von ihrer pikaresken Karriere berichten, – auch wenn gerade die weibliche Hauptfigur im Hinblick auf ihre Geschlechtlichkeit höchst ambivalente Züge aufweist, was jedoch in der vornehmlich feministisch orientierten Forschung schon ausführlich untersucht worden ist.68 Außerdem erinnern die Figuren immer noch sehr stark an die

64 Vgl. Claudio Guillén: „Genre and Countergenre. The Discovery of the Picaresque“, in: G. Pellon/J. Rodruigez-Luis (Hrsg.): Upstarts, Wanderers or Swindlers: Anatomy of the Pícaro. A Critical Anthology, Amsterdam 1986, S. 67-80. 65 Walter L. Reed: An Exemplary History of the Novel. The Quixotic versus the Picaresque, Chicago/London 1981, S. 71-73. 66 Matthias Bauer: Der Schelmenroman, Stuttgart/Weimar 1994, S. 21. 67 Vgl. Edward C. Riley: „Género y contragénero novelescos“, in: Víctor García de la Concha (Hrsg.): Literatura en la época del Emperador, Salamanca 1988, S. 197-208. Riley sieht in der ficción picaresca aufgrund ihrer ironischen Perspektive die Merkmale eines Countergenres verwirklicht. 68 Vgl. zur weiblichen Pikareske: Reyes Coll-Tellechea: Contra las normas. Las Pícaras españolas (1605-1632), Madrid 2005; Katja Strobel: Wandern, Mäandern, Erzählen. Die Pikara als Grenzgängerin des Subjekts, München 1998; Nina Cox Davis: „Breaking the Barriers: The Birth of López de Ubeda’s Pícara Justina“, in: Giancarlo Maiorino (Hrsg.): The Picaresque. Tradition and Displacement, Minneapolis/ London 1996,

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Heldinnen der literatura celestinesca, weshalb es insgesamt interessanter erscheint, eben diese weiblichen Titelfiguren aus den Prätexten der Pikaresken in den Fokus zu nehmen, um die Genealogie der Gattung auf Basis ihrer geschlechtsspezifischen Strukturen und Figurengestaltung nachzuzeichnen. Vicente Espinels Marcos de Obregón (1618) wiederum, der zwar ebenfalls dem pikaresken Kanon hinzugerechnet wird, findet keinen Eingang in den Kernbestand des Korpus, weil es sich hier um einen Protagonisten handelt, der einem anderen Milieu entstammt als seine drei Vorgänger, nämlich aus dem verarmten Kleinadel, was vermutlich dafür verantwortlich zu machen ist, dass er größtenteils frei von krimineller Energie ist. Um es mit den Worten Jacobs zu erklären: Auf eine eingehende Analyse von Espinels Roman wird verzichtet, „[w]eil Marcos nie in radikalen Gegensatz zur Gesellschaft gerät, weil er sich nicht mit kriminellen Handlungen durch die Welt schlägt und am Ende auch seinen Platz in der bestehenden Gesellschaft findet.“69 Ein letzter Grund, der für die Auswahl eines eng abgesteckten Korpus spricht, verdankt sich der Tatsache, dass die drei Klassiker des spanischen Schelmenromans für die Gattung selbst stilbildenden Charakter besitzen. Die meisten der nachfolgenden literarischen Aktualisierungen, Reformulierungen und Weiterentwicklungen im Bereich der Pikaresken, so eben auch Vida y hechos de Estebanillo González (1646), nehmen deutlichen Bezug auf mindestens einen der drei Klassiker, die wiederum – wenn man den spanischen Sprachund Kulturraum verlässt – sogar Übersetzungen hervorbringen, die eher als Nachdichtungen zu verstehen sind, so z. B. der Paul Scarron zugeschriebene L’Aventurier Buscón (1633), der aus dem Kriminellen einen Bürger macht, oder die erste Übertragung ins Deutsche des Guzmán von Aegidius Albertinus (1615). Der Verzicht auf Einzeluntersuchungen der benannten Texte bedeutet jedoch nicht, dass Seitenblicke und Querverweise grundsätzlich ausgeschlossen werden. Dem Lazarillo de Tormes kommt aufgrund seines insularen Ortes und seiner Funktion als Schwellen-Text innerhalb der Geschichte der ficción picaresca insofern ein Sonderstatus zu, als er in der verspäteten Nachfolge der Celestina die Gattung der novela picaresca mit abermaliger Verzögerung – aber dann „con

S. 137-158; Enriqueta Zafra: „,Puta la madre, puta la hija y puta la manta que las cobija‘: El legado de la madre en la picaresca femenina“, in: Adrienne L. Martin/María Cristina Quintero (Hrsg.): Perspectives on Early Modern Women in Iberia and the Americas: Studies in Law, Society, Art and Literature in Honor of Anne J. Cruz, New York 2015, S. 316-331. 69 Jacobs: „Der Weg des Pícaro“, S. 14.

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[...] fuerza“70 – begründet. Auch dies spricht für eine symmetrische Strukturierung des Korpus, mit den Vorläufern (Celestina, Lozana Andaluza) auf der einen und den Nachfolgern (Guzmán und Buscón) auf der anderen Seite des Hauptteils, der den Lazarillo de Tormes behandelt. Für die vorliegende Studie ergibt sich demnach folgende Struktur: In Kap. 2 werden allgemein-theoretische Vorüberlegungen angestellt, die der Analyse der Primärtexte zugrunde gelegt werden. Hierbei wird zunächst zu diskutieren sein, inwieweit zeitgenössische Theoriebildungen aus dem kulturwissenschaftlichen Bereich der Masculinity Studies für die Analyse vormoderner Männlichkeitsnarrative geeignet sind. Insbesondere das inzwischen kanonische Modell der hegemonialen Männlichkeit, das Robert, inzwischen Raewyn Connell in den 1990er Jahren in seiner/ihrer Pionierstudie Masculinities (1995) entwickelt hat, und das längst Eingang in literaturwissenschaftliche Kontexte gefunden hat, erscheint insgesamt als problematisch, da es eine demokratische Gesellschaftsstruktur bzw. eine potentielle Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten voraussetzt, die für die Feudalgesellschaft des frühneuzeitlichen Spanien noch nicht gegeben ist, auch wenn die pícaros genau dagegen rebellieren. Insofern bietet es sich an, für die novela picaresca nach theoretischen Konzepten zu suchen, die der Gefahr des Ahistorischen nicht in dem Maße ausgesetzt sind, dafür jedoch weniger aus dem engeren Kreis der Männlichkeitsforschung stammen, so etwa Norbert Elias’ Ausführungen zum Prozess der Zivilisation, Bachtins Studien zum Karnevalesken und Grotesken sowie Bourdieus Ausführungen zum Habitus, zum symbolischen Kapital sowie zu sozialen Praktiken. Da Männlichkeiten in der novela picaresca neben der Standeszugehörigkeit eng an bestimmte Sozialpraktiken geknüpft sind, sich an bestimmten Wertemodellen und Verhaltensidealen orientieren, wie etwa honra und honor im höfischen Milieu, Barmherzigkeit und Caritas im klerikalen Bereich, sollen diese mit den genannten Theorien erfasst werden, um sodann deren Repräsentation in der novela picaresca zu untersuchen. Im Zentrum steht dabei die zentrale theoretische Denkfigur, der das Buch seinen Titel verdankt, nämlich der vir inversus. Es geht dabei um die These, dass das Strukturmuster der Inversion die pikareske Gattung sowohl auf der Ebene der Narration als auch im anthropologischen Sinne bestimmt. Für alle drei Texte gilt, dass die Titelfiguren am Ende, trotz – oder besser: infolge – ihrer gesellschaftlichen Lernerfolge im Verlauf der Geschichten am Tiefpunkt ihrer moralischen Entwicklung angekommen sind. Dies wiederum lässt Rückschlüsse zu auf

70 Brandenberger: La muerte de la ficción sentimental, S. 299.

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den Sozialraum der Pikareske, den man mit Bachtin als karnevalesken mundus inversus bezeichnen kann, der das Spiegelbild zu den offiziell gültigen humanistischen und ritterlichen Werten darstellt. Insofern agiert der pícaro in seiner Funktion als Sprachrohr des gesellschaftlichen Außenseiters als Figur des desengaño, die der Gesellschaft buchstäblich den Spiegel vorhält. Die Gesellschaftsdarstellung und -kritik vollzieht sich demzufolge ex negativo, was den inversiven Charakter der Denkfigur mitbegründet. Des Weiteren soll im Rahmen der Männlichkeitsanalyse im Schelmenroman das exzessiv Körperliche, das die Gattung wie auch andere vormoderne Narrative auszeichnet, einer dezidiert gegenderten Lektüre unterzogen werden. Hier kommen zentralen Themen wie körperlicher Gewalt und Hunger sowie kreatürlichen Motiven und Bildlichkeit hervorgehobene Rollen zu, wobei es eben nicht nur um das Abjekte im engeren Sinne von ekelerregenden körperlichen Ausscheidungen des Körpers geht. Vielmehr wird der Prozess der Abjektion auch auf einer übergeordneten Ebene als sozialer Ausschlussmechanismus des Gesellschaftskörpers verstanden, dem die pícaros als Vertreter der untersten Stände zum Opfer fallen, weshalb sich – so die These – die Männlichkeit des pícaro auch als abjekte Männlichkeit bezeichnen lässt. Es folgt in Kap. 3 die Darstellung der beiden weiblichen präpikaresken Vorläufertexte, die einmündet in allgemeine Überlegungen zur Rolle und Repräsentation von Weiblichkeit in der novela picaresca. Da Männlichkeit als relationale Kategorie betrachtet wird, erscheint die Rekonstruktion des frühneuzeitlichen Weiblichkeitsbildes anhand einschlägiger narrativer Texte, aber auch anhand von populären Texten aus dem Bereich der Traktatliteratur als zwingend, um die narrative Struktur von Männlichkeit in der novela picaresca möglichst umfassend darzustellen. Die Analyse des Lazarillo de Tormes bildet sodann in Kap. 4 den Hauptteil der Arbeit. Die Struktur der Analysen befindet sich im Einklang mit der narrativen Struktur des Romans und ist daher doppelt perspektiviert: Es geht immer um die gesellschaftliche Ebene der androzentrisch-patriarchalen Ordnung auf der einen und um die Ebene des Individuums auf der anderen Seite. Erstere wird vor allem durch die unterschiedlichen Herren des pícaro repräsentiert, durch deren Praktiken, Werte- und Idealvorstellungen und die damit verbundenen ‚Lehrinhalte‘ männlicher Sozialisation. In diesem Zusammenhang stehen auch Fragen der Ökonomie im Vordergrund, die im Verlauf des Romans immer mehr Bedeutung erhalten. Die zweite Perspektive, welche die Ebene des Individuums in den Blick nimmt, ergibt sich aus der autodiegetischen Erzählposition des Romans und fragt nach den Auswirkungen dieser Sozialisation auf die individuelle Mannwerdung des Protagonisten. Dabei wird offenkundig, dass narrative Struktur und erzählte

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Inhalte in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen und eine Duplizität konstituieren, die aus dem vir inversus am Ende einen homo duplex macht und die sich ebenfalls der leitmotivischen Gegenüberstellung von engaño und desengaño bzw. ser und aparecer verdankt, die für das Männlichkeitsbild im Schelmenroman grundlegend ist. In Kap. 5 werden die Romane Guzmán de Alfarache und El Buscón zusammengefasst unter dem Gesichtspunkt der Rezeption, d. h. des literarischen Erbes betrachtet, vor allem auch um Redundanzen zu vermeiden, die eine jeweils gesonderte Behandlung dieser beiden Texte wegen der zahlreichen Konvergenzen mit dem Lazarillo zwangsläufig mit sich gebracht hätte. In der Analyse des Guzmán stehen u. a. die moralistischen Passagen im Vordergrund, denen der zweibändige Roman nicht zuletzt seinen barocken Umfang und seine erzählerische Hybridität verdankt. Diese primär gesellschaftskritischen Digressionen, die sich mit autobiografischen Episoden abwechseln, die denen aus dem Lazarillo oftmals ähnlich sind, geben einigen Aufschluss über das Verhältnis der Geschlechter, was tatsächlich in dieser Ausführlichkeit im Lazarillo nicht thematisiert wird. Auch tauchen im Guzmán Formen von Männlichkeit auf, die dezidiert nicht der heteronormativen frühneuzeitlichen Geschlechterordnung entsprechen, womit dem pikaresken Repertoire männlicher Sozialfiguren eine neue Facette hinzugefügt wird. Schließlich handelt es sich bei der Lebensgeschichte des Guzmán, so die Kernthese, um eine veritable imitatio patris, d. h. um eine Variation des Paternalen. Im Buscón steht abschließend der Aspekt der Parodie im Vordergrund, da Quevedo bereits an der Dekonstruktion der novela picaresca arbeitet, um das baldige Ende des spanischen pícaro herbeizuschreiben. Zudem wird mit Blick auf die abundante Verwendung kreatürlicher, gar skatologischer Motive das Thema der – sowohl körperlichen als auch sozialen – Abjektion erneut in den Vordergrund gerückt. Das letzte Kapitel widmet sich zusammenfassend der naheliegenden Frage, inwiefern es sich bei der Gattung der Pikareske tatsächlich um ein literarisch generiertes Reflexionsmuster männlicher Identitätsbildung und patriarchaler Gesellschaftspolitik handelt. Durch den starken Fokus auf soziale Praktiken, auf die Kategorien von Schein und Sein, auf persönliche Fähigkeiten wie Anpassungsfähigkeit und Wettbewerb, auf Prekarisierung, Marginalisierung und Ausschluss sowie auf den Wertewandel von humanistischen zu ökonomischen Idealen erhält die Pikareske im gegebenen Rahmen geradezu allgemeingültige Züge, die möglicherweise auch die enorme Fruchtbarkeit des género picaresco weit über Spaniens Grenzen und die Jahrhunderte hinweg erklären würden. Gerade in jüngster Zeit lässt sich eine Konjunktur des Schelmenromans bzw. von Texten mit pikaresken Elementen beobachten, wie es z. B. die Romane aus der jüngeren Ver-

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gangenheit von Ingo Schulze, Michael Köhlmeier, Marlene Streeruwitz, Christoph Hein, Orhan Parmuk oder Maxim Biller sowie autobiografische Schriften von Didier Éribon und Édouard Louis oder sozialphilosophische Traktate wie der Puer robustus von Dieter Thomä zeigen.71 Dass es sich bei der novela picaresca seit ihren Anfängen immer auch um ein literarisches Zeugnis gesellschaftlicher Krisenstimmungen handelt, stellen diese letztgenannten Beispiele mit Blick auf die Gegenwart eindrücklich unter Beweis, was im Ausblick kursorisch thematisiert wird. Quevedo ist es demnach mit seinem parodistischen Generalangriff nicht gelungen, das Ende der pikaresken Gattung oder gar der Figur des pícaro herbeizuführen – im Gegenteil. Es scheint auch, als sei Thomas Manns vernichtendes Urteil über den Lazarillo de Tormes eher die Folge einer sich stetig verschlimmernden Erkältung, wenn man seinen Tagebucheinträgen der nächsten Tage folgt: Gäste werden als ‚wenig reizvoll‘ empfunden, die jüngere Generation in Deutschland wird als „nichtskönnend“72 verunglimpft, die Schilderung der Krankheitsgefühle nimmt schließlich immer mehr Raum ein. Insofern stand die Lektüre des spanischen Klassikers wohl unter keinem guten Stern – dabei liefert der deutsche Nationaldichter doch selbst in seinem eigenen Schelmenroman den Schlüssel zu den Qualitäten des spanischen Ur-pícaro: „Ein Schelm gibt mehr, als er hat.“

71 Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst, Frankfurt/M. 2017; Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer, München 2013; Marlene Streeruwitz: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland, Frankfurt/M. 2014; Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karatas sowie ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012, München 2016; Maxim Biller: Biografie, Köln 2016; Christoph Hein: Traumkind mit Vater, Frankfurt/M. 2016; Édouard Louis: En finir avec Eddy Bellegueule, Paris 2014; Didier Éribon: Retour à Reims, Paris 2011; Dieter Thomä: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Frankfurt/M. 2016. 72 Mann: Tagebücher 1953-1955, S. 224.

2. Der vir inversus: Männlichkeiten zwischen Karneval und Abjektion

2.1 D ER MUNDUS S OZIALRAUM

INVERSUS ALS PIKARESKER

Aus theoretisch-methodologischer Sicht erscheint es problematisch, frühneuzeitliche Texte und/oder Gesellschafts- bzw. Herrschaftsstrukturen auf der Grundlage zeitgenössischer Theoriebildung zu lesen und zu analysieren. Dies gilt in besonderem Maße für Fragen der Geschlechterordnung und speziell für Forschungen aus dem noch relativ jungen Gebiet der Masculinity Studies. Das inzwischen weitestgehend kanonisierte und in der kulturwissenschaftlichen Männlichkeitsforschung überaus populäre Modell der „hegemonialen Männlichkeit“ von Robert W. Connell1 bietet ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit eines historischen Bewusstseins im Umgang mit und der Anwendbarkeit von theoretischen

1

Vgl. das Standardwerk von Robert W. Connell: Masculinities, Cambridge 1995. Das Konzept geht allerdings schon auf die 1980er Jahre zurück und wird in einem gemeinschaftlichen Aufsatz von Connell zusammen mit Tim R. Carrigan und John Lee („Toward a New Sociology of Masculinity“, in: Theory and Society 14 (1985), S. 551-604) erstmalig vorgestellt und von Connell in seiner Studie Gender and Power. Society, the Person, and Sexual Politics (Stanford 1987) weiterentwickelt. Der australische Soziologe lebt bekanntlich seit einigen Jahren als Frau und publiziert seither unter dem Namen Raewyn Connell. Da die Studien zu den Männlichkeiten jedoch zu einer Zeit entstanden sind, in der dieser Wechsel des Geschlechts noch nicht vollzogen war, soll im Folgenden weiterhin von Robert Connell die Rede sein, wenn nicht explizit jüngere Publikationen konsultiert werden.

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Konzepten.2 Mit Blick auf die ständisch-feudal organisierte Gesellschaftsstruktur im spanischen Siglo de Oro lässt sich nur unter Vorbehalt von einem Modell hegemonialer Männlichkeit sprechen, da Connells Konzeption ein gewisses Maß an „Durchlässigkeit zwischen den sozialen Strata“ voraussetzt, denn „[n]ur dann können sich verschiedene Männlichkeiten in ein Verhältnis zueinander setzen, in dem eine von ihnen sich als hegemoniale durchsetzt.“3 Diese soziale Mobilität ist im Spanien des 16. und 17. Jahrhundert nur sehr bedingt möglich, etwa durch den illegalen Kauf von Adelsbriefen oder durch gefälschte Stammbäume, um den für gesellschaftlichen Aufstieg notwendigen Nachweis der Blutreinheit (limpieza de sangre) zu erbringen, also letzten Endes nur auf der Grundlage von sozialen Täuschungsmanövern bzw. engaños (was ein zentrales Thema in der novela picaresca darstellt). Michael Meuser und Sylka Scholz ist zuzustimmen, wenn sie mit Blick auf vormoderne Sozialordnungen schreiben: Es gab wohl eher ein Nebeneinander (nicht Konkurrenz) von z. B. einer bäuerlichen, körperzentrierten Männlichkeit und einer „höfischen“, kulturell „verfeinerten“ Männlichkeit. Hegemoniale Männlichkeit gibt es dort, wo – der gesellschaftlichen Ideologie nach und zumindest ansatzweise in der sozialen Praxis – Standesgrenzen aufbrechen und die sozialen Welten miteinander in einem (begrenzten) Austausch stehen, wo der soziale Status des (männlichen) Individuums Resultat der individuellen Leistung und nicht qua Geburt bestimmt ist.4

Aus diesen Gründen kann das Connell’sche Theoriemodell lediglich in Ansätzen in die folgenden Analysen integriert werden, so z. B. dann, wenn von der Interaktion zwischen unterschiedlichen Männlichkeitsmodellen, vor allem Herr und Knecht, die Rede ist oder den Beziehungen zum anderen Geschlecht. Der inter-

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Siehe dazu u. a. Martin Dinges: „‚Hegemoniale Männlichkeit‘ – Ein Konzept auf dem Prüfstand“, in: ders. (Hrsg.): Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/M./New York 2005, S. 7-33. Dinges fordert in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Anwendbarkeit der Connell’schen Vierer-Modell-Typologie (hegemonial, untergeordnet, komplizenhaft, marginalisiert) weitere, insbesondere historiografische Differenzierungsarbeit, worauf noch zurückzukommen ist.

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Michael Meuser/Sylka Scholz: „Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive“, in: Martin Dinges (Hrsg.): Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/M./New York 2005, S. 211-228, hier: S. 214f.

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Ebd., S. 215.

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aktionstheoretische Ansatz5, wie ihn Connell vorschlägt, scheint für diese Fragen prinzipiell sinnvoll zu sein, zumindest weitaus besser geeignet als seine Typologie der vier Männlichkeitstypen. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass es in der novela picaresca nur ein einziges Männlichkeitsbild gibt – immerhin legt bereits das Strukturmodell der Herr-Knecht-Beziehung das Gegenteil nahe –, aber die deutliche Fokussierung auf einen einzigen Sozialraum bzw. ein diegetisches Milieu, und zwar auf das des karnevalesken mundus inversus, macht andere Differenzierungskriterien notwendig, da z. B. der Stand des höheren, blutreinen, altchristlichen Adels, der unter Umständen dem Connell’schen Konzept der hegemonialen Männlichkeit am nächsten käme, in den Romanen selbst nur selten auftaucht und wenn, wie im Guzmán, dann als Karikatur. Diese letzte Beobachtung ist im Hinblick auf eine Analyse der Männlichkeiten im Schelmenroman von kaum zu überschätzender Bedeutung, ja sie stellt gewissermaßen ihre conditio sine qua non dar. Auch wenn die durch das Kommunikationsdispositiv der Schelmenbeichte vermittelte Gesellschaftskritik durchaus die Gesellschaft als Ganze in den Blick nimmt, so bleibt doch der Schelmenbericht größtenteils den Abenteuern, den burlas, innerhalb der Grenzen der pikarischen Welt der Ganoven, Prostituierten und Hochstapler sowie der verarmten Hidalgos verpflichtet. Blicke über die Grenzen dieser Welt sind lediglich punktuell oder spiegeln sich phantomhaft in den gesellschaftlichen Ambitionen der Hauptfiguren wider. Die höheren Stände stellen damit gleichsam das gesellschaftliche punctum innerhalb der novelas picarescas dar bzw. das anwesende Abwesende. Dazu passt z. B. die abstrakte Figur Vuestra Merced als rein funktionale Verkörperung des gesellschaftlich höher gestellten Gerichtswesens im Lazarillo de Tormes: Er ist zwar als Adressat in gewisser Weise anwesend, als Figur innerhalb der Diegese jedoch abwesend.

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Connell differenziert das relationale Gefüge, also männlich-männlich und männlichweiblich, nach machtspezifischen, produktionsorientierten sowie emotionalen Gesichtspunkten. Zu den „Power relations“ schreibt er: „The main axis of power in the contemporary European/American gender order is the overall subordination of women and dominance of men – the structure Women’s Liberation named ‚patriarchy‘.“ (Hier wird bereits durch das „contemporary“ deutlich, dass diese Beobachtung für die Frühe Neuzeit erst noch überprüft werden muss). Im Zusammenhang mit den „Production relations“ geht es Connell besonders um die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen und deren wirtschaftliche Konsequenzen, während unter der Rubrik „Cathexis“, d. h. den emotionalen Bindungsstrukturen, Fragen des sexuellen Begehrens und der „connection of heterosexuality with men’s position of social dominance“ verhandelt werden. Alle Zitate aus Connell: Masculinities, S. 74f.

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Indem der in der novela picaresca beschriebene Sozialraum, also die pikareske Diegese, die mit Michail Bachtin als mundus inversus beschrieben werden kann, als Schauplatz karnevalesker Gegen- oder Volkskultur fungiert, bleibt freilich die ‚offizielle Kultur‘ als Referenzpunkt erhalten, da die Inversion der gesellschaftlichen Ordnung ja genau darauf Bezug nimmt. Man könnte sagen: In der spiegelbildlichen Umkehrung der Pikaresken liefern die erzählenden Protagonisten das subversive Spiegelbild der Gesamtgesellschaft.6 Der Begriff des Schelmenspiegels ist somit doppelt kodiert: Er konstruiert eine Gegen- bzw. Spiegelwelt, in der sich wiederum gesamtgesellschaftliche Ordnungsmuster, Moral- und Ehrvorstellungen sowie Verhaltensideale spiegeln. Auch wenn es innerhalb dieser Schilderungen des prekären Milieus eine Vielzahl an realistischen Bezügen zum zeithistorischen Kontext des Siglo de Oro gibt,7 sind doch die karnevalesken Handlungsräume hochgradig stilisiert, was sich vor allem anhand des explizit inversen Charakters, der Betonung des Spielerischen, dem Bezug zu bekannten Vorläufertexten, dem Auftauchen topischer Figuren sowie der unzuverlässigen Erzählposition ablesen lässt. Man sollte dennoch nicht in Versuchung geraten, der novela picaresca aufgrund der stark stilisierten und scheinbar einseitig fokussierten Darstellung des frühneuzeitlichen Sozialraums ihre deutliche Bezugnahme auf das zeithistorische Gesellschaftssystem abzusprechen. Im Gegenteil: Im Modus der Inversion werden soziale Ungleichheiten erst zur Sprache gebracht und das auf bislang nie dagewesene Weise. Die zentrale Ungleichheitskategorie, die im spanischen Schelmenroman verhandelt wird, ist vor allem der soziale Stand, aber eben auch eng damit verschränkt Geschlecht, Religion, Ethnie und Alter. Wie bereits ausgeführt, erweisen sich heutige Theoriemodelle, die soziale Differenzen und Hierarchien aus primär geschlechterpolitischer Sicht analysieren, nur sehr bedingt als

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Vgl. dazu auch Bauer: Der Schelmenroman, S. 27: „Aus der dialektischen Beziehung zwischen individuellen Verhaltensweisen und kollektiven Verhaltensmustern, die der Schelmenroman mit seiner dipolaren Erzählanlage reflektiert, ergibt sich mithin eine grundlegende und im Prinzip unaufhebbare Reversibilität der Auffassungsperspektiven. Die in der Darstellung des Pikaro ausgesparten Gegendarstellungen seiner Widersacher bilden einen virtuellen Text: die apologetische Schelmenbeichte, die expressis verbis nachzulesen ist, verweist auf die ‚Szenographie‘ (Eco) der Schelmenschelte, die im Text nicht ausgeführt wird.“

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Realistische Bezüge werden insbesondere durch den Bezug zur im Siglo de Oro vorherrschenden Debatte über den Umgang mit den Armen hergestellt. Vgl. dazu u. a. Maravall: La picaresca desde la historia social; Javier Herrero: „Renaissance Poverty“; vgl. auch Cruz: Discourses of Poverty.

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brauchbar, da sie von anderen, nämlich demokratisch-neoliberalen Gesellschaftsstrukturen ausgehen. Connell stellt zwar seinen theoretischen Überlegungen und empirischen Studien ein historisches Kapitel zur Seite, in dem er die Geschichte hegemonialer Männlichkeit recht vage „[i]n the period from about 1450 to about 1650“8 beginnen lässt, das sich jedoch angesichts der Kürze und der dadurch entstehenden Grobmaschigkeit eher als arbiträr-schematisch erweist und mithin mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. So wird z. B. nicht ganz deutlich, warum für den gesamten europäischen Raum ausgerechnet „Martin Luther, the married monk“ zum Vorbild für die „cultural authority of compulsory heterosexuality“ erkoren wird oder die spanischen conquistadores als „the first group to become defined as a masculine cultural type in the modern sense“9 bewertet werden. Für eine Analyse des pikaresken Sozialraums und der darin auftretenden (Sozial-)Figuren scheint das soziologische Werk Pierre Bourdieus insgesamt geeigneter, da es Bourdieu nicht nur um eine Bestandsaufnahme moderner Gesellschaftsstrukturen und -mechanismen geht, sondern – nicht zuletzt durch die ethnologische Herleitung von archaischen Sozietätsmodellen sowie den Vergleich von modernen mit feudalen Gesellschaftssystemen – um möglichst universalistische Beschreibungs- und Analysekategorien. Auch wenn universalistische Modelle stets die Gefahr der Komplexitätsreduktion in sich bergen, so erweist sich eine Reihe von Begriffen und heuristischen Instrumenten aus dem umfangreichen Oeuvre des französischen Soziologen aus historischer Sicht als elastischer und daher für eine kulturwissenschaftliche Analyse frühneuzeitlicher Texte als durchaus belastbar. Die folgenden Konzepte Bourdieus bieten fruchtbares Anschlusspotenzial: 1.) Habitus und praxeologischer Ansatz 2.) Homosozialer Wettbewerb und Spiel 3.) Symbolisches und ökonomisches Kapital Die konkreten Anknüpfungspunkte werden sich im Verlauf der Literaturanalyse offenbaren. Gleichwohl sei hier bereits darauf hingewiesen, dass zunächst der praxeologische Zugriff auf soziale Wirklichkeit für eine Analyse geschlechtlicher Repräsentation in vormodernen Texten insofern sinnvoll erscheint, als es doch gerade geschlechtsspezifische Praktiken sind, die sich als konstitutiv für

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Connell: Masculinities, S. 186. Zur ausführlichen Kritik aus Sicht der Geschichtswissenschaft vgl. Dinges: „‚Hegemoniale Männlichkeit‘“ S. 14-22.

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Connell: Masculinities, S. 186f.

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den Erwerb von Männlichkeit (und Weiblichkeit gleichermaßen) und damit auch für deren literarische Darstellung erweisen. Das gilt nicht nur für die Erzähltexte, sondern auch für das Theater und die zahlreiche Traktatliteratur, die ganz konkrete Handlungsanweisungen formuliert, so etwa Fürstenspiegel oder Erziehungsratgeber.10 Auch wenn Bourdieu diesen Ansatz in seiner frühen Studie Esquisse d’une théorie de la pratique11 sowie etwas später in Sens pratique12 nicht nur im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht, sondern allgemein auf die „Handlungsproduziertheit der sozialen Welt“13 hin entwickelt, so gelten praxeologische Herangehensweisen doch besonders für die gesellschaftlich als ‚natürlich‘ gesetzte Dichotomie von männlich und weiblich als zentral im Hinblick auf deren Entnaturalisierung. Bourdieu kategorisiert die sozialen Individuen diesem Verständnis entsprechend als Akteure in einem durch soziale Klassifikationen strukturierten Raum und erklärt mit dem deutlichen Fokus auf soziale Praktiken „le passage de la règle à la stratégie, de la structure à l’habitus et du système à l’agent socialisé, lui-même habité par la structure des rapports sociaux dont il est le produit.“14 Der hier genannte Begriff des Habitus, an dessen theoretischer Konzeption Bourdieu zeitlebens gearbeitet hat, steht für die Vermittlung von Struktur und Praxis. Bourdieu hat den Habitus an verschiedenen Stellen konzeptuell umrissen, so zunächst in seiner Soziologie der symbolischen Formen als ein „System verinnerlichter Muster, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen“15 und deutlich später in Raisons pratiques:

10 Vgl. konkret zur Konstitution männlicher Tugend auf der Grundlage spezifischer Praktiken Armon: Masculine Virtue in Early Modern Spain. Armon untersucht vornehmlich Verhaltensratgeber und entwirft die Figur des Homo Agens, um den handlungsproduzierten Aspekt männlicher Tugend herauszuarbeiten. Dabei stützt sie sich jedoch nicht auf Bourdieus Praxeologie, sondern vornehmlich auf Butlers Performativitätstheorie (vgl. S. 1-19). 11 Bourdieu: Esquisse d’une théorie de la pratique. 12 Pierre Bourdieu: Le sens pratique, Paris 1980. 13 Hans-Peter Müller: Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung, Frankfurt/M. 2014, S. 27. 14 Pierre Bourdieu: Esquisse pour une auto-analyse, Paris 2004, S. 84. 15 Piere Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1970, S. 143 (das französische Original dieser Aufsatzsammlung konnte nicht ermittelt werden).

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Une des fonctions de la notion d’habitus est de rendre compte de l’unité de style qui unit les pratiques et les biens d’un agent singulier ou d’une classe d’agents […]. L’habitus est ce principe générateur et unificateur qui retraduit les caractéristiques intrinsèques et relationnelles d’une position en un style unitaire, c’est-à-dire un ensemble unitaire de choix de personnes, de biens de pratiques. Comme les positions dont ils sont le produit, les habitus sont différenciés ; mais ils sont aussi différenciants. Distincts, distingués, ils sont aussi opérateurs de distinctions : ils mettent en œuvre des principes de différenciation différents ou utilisent différemment les principes de différenciation communs. […] Ils font des différences entre ce qui est bon et ce qui est mauvais, entre ce qui est bien et ce qui est mal, entre ce qui est distingué et ce qui est vulgaire, etc. [...].16

Der Habitus verbindet Bourdieu zufolge soziale Strukturen und Praktiken des Individuums, wobei die Arbeit am Habitus in einem „langwierigen Prozess der Sozialisation und Erziehung, der Konditionierung und Disziplinierung“17 vollzogen wird. Bourdieu nennt diesen Prozess Inkorporation: „Nous apprenons par corps. L’ordre social s’inscrit dans les corps à travers cette confrontation permanente, plus ou moins dramatique, mais qui fait toujours une grande place à l’affectivité et, plus précisément, aux transactions affectives avec l’environnement social.“18 Das bedeutet konkret, dass sich gesellschaftlicher Wandel und individuelle Arbeit am Habitus gegenseitig bedingen und vor allem prozessual zu verstehen sind, auch wenn der Begriff der Inkorporation zunächst eher den Anschein des Statischen erwecken mag. An anderer Stelle bemerkt er dazu: „Et l’incorporation du social que réalise l’apprentissage est le fondement de la présence au monde social que supposent l’action socialement réussie et l’expérience ordinaire de ce monde allant de soi.“19 Die Herausbildung des geschlechtlichen Habitus, insbesondere des männlichen, ist demnach das Produkt eines „long travail de socialisation“20, in dessen Verlauf Männer alle weiblichen Anteile und Frauen alles Männliche abspalten müssen, um so die symbolische Ordnung zu gewährleisten. Die hier zu untersuchenden Romane erzählen jeweils die Geschichte dieser Sozialisationsarbeit des pícaro, die jedoch – entsprechend der invertierten Gesellschaftsstruktur des pikaresken mundus inversus – anders verläuft als etwa zuvor im höfischen Ritterroman oder später im Bildungs- und Entwicklungsro-

16 Pierre Bourdieu: Raisons pratiques. Sur la théorie de l’action, Paris 1994, S. 23. 17 Müller: Pierre Bourdieu, S. 38. 18 Pierre Bourdieu: Méditations pascaliennes, Paris 1997, S. 168f. 19 Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, Paris 1982, S. 38. 20 Pierre Bourdieu: La domination masculine, Paris 1998, S. 74.

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man des 19. Jahrhunderts, wo am Ende der Adoleszenz idealerweise ein ehrenhafter, gesellschafts- und herrschaftsfähiger Mann stehen soll: L’état d’homme au sens de vir implique un devoir-être, une virtus, qui s’impose sur le mode du « cela va de soi », sans discussion. Pareil à la noblesse, l’honneur – qui s’est inscrit dans le corps sous la forme d’un ensemble de dispositions d’apparence naturelle, souvent visibles dans une manière particulière de se tenir, de tenir son corps, un port de tête, un maintien, une démarche, solidaire d’une manière de penser et d’agir, un ethos, une croyance, etc. – gouverne l’homme d’honneur, en dehors de toute contrainte externe.21

Hier schlägt Bourdieu in seiner letzten größeren Studie zur männlichen Herrschaft den Bogen zurück zu seinen Anfängen: Bereits gleich zu Beginn seiner Esquisse d’une théorie de la pratique (1972) setzt er sich ausführlich mit den Themen Ehre und Ehrgefühl auseinander, die er als zentral erachtet für den Aufbau eines männlichen Habitus. Zu den Praktiken, die im Rahmen dieser Konstruktionsarbeit zum Einsatz kommen, zählt er vornehmlich den Wettbewerb zwischen Männern („combat d’homme à homme“22), der nach festgelegten Spielregeln erfolge: „La compétition d’honneur peut se situer en effet dans une logique toute proche de celle du jeu ou du pari, logique ritualisée et institutionnalisée.“23 Für Meuser stellt der Wettbewerbscharakter im Rahmen des Aufbaus und Erhalts des männlichen Habitus den wichtigsten Bestandteil während der ‚langwierigen Sozialisationsarbeit‘ des Mannes dar.24 Meuser erachtet Bourdieus Habitus-Konzept in Gegenüberstellung mit Connells Hegemonie-Modell aufgrund des deutlich formulierten homosozialen Fokus insofern als praktikabler, als Connell die Dominanz über und Abwertung von Weiblichkeit als Hauptachse

21 Ebd. (Herv. i. O.). 22 Bourdieu: Esquisse d’une théorie de la pratique, S. 30. 23 Ebd. 24 In nahezu jeder seiner Studien zur Soziologie der Männlichkeit kommt Meuser, rekurrierend auf Bourdieu, auf die „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ zu sprechen, so. z. B. in: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Wiesbaden 32010, S. 124: „Ihm [Bourdieu, G. S.] zufolge wird der männliche Habitus ‚konstruiert und vollendet [...] nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen‘.“ Ferner in: „Männlichkeiten in Bewegung. Zur Aktualität des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit angesichts des Wandels von Erwerbsarbeit“, in: Uta Fenske/Verf. (Hrsg.): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012, S. 147-164, hier: S. 152f.

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der hegemonialen Männlichkeit erachtet.25 Auch wenn der homosoziale Aspekt in Connells Vierer-Modell (Hegemonie, Unterordnung, Marginalisierung, Komplizenschaft) mitberücksichtigt wird, kommt er Meuser nicht deutlich genug heraus: Auch Connell benennt andere, nicht-hegemoniale Männlichkeiten; aber er zieht daraus nicht die theoriestrategische Konsequenz, daß Männlichkeit sich auch und mindestens so sehr wie in Relation zu Weiblichkeit entlang der homosozialen Achse sozialer Differenzierung formt. [...] Hegemoniale Männlichkeit ist an gesellschaftliche Macht und Herrschaft gebunden. Und – das ist entscheidend – diese Macht erschöpft sich nicht in der Macht der Männer gegenüber den Frauen, sie ist vor allem auch eine Macht über Männer.26

Hier liegt neben Connells ausschließlichem Fokus auf modernen, schichtdurchlässigen Gesellschaftsstrukturen ein weiterer Grund, warum Bourdieus zu großen Teilen „überhistorische“27 Perspektive im Kontext der Analyse vormoderner Männlichkeiten geeigneter scheint, da hier der homosozial-kompetitive Aspekt deutlich in den Vordergrund gerückt wird, wenn es darum geht, den männlichen Habitus zu gestalten. Des Weiteren spielt bei Bourdieu der praxeologische Aspekt eine wichtigere Rolle als bei Connell. Noch einmal Meuser: „Hegemoniale Männlichkeit ist der Kern des männlichen Habitus, ist das Erzeugungsprinzip eines vom männlichen Habitus bestimmten doing gender bzw. doing masculinity, Erzeugungsprinzip und nicht die Praxis selbst.“28 Insbesondere für die Männlichkeitsanalyse in der novela picaresca, deren Sozialraum, wie bereits dargestellt, überwiegend von männlichen Figuren bevölkert ist, die sich wiederum vornehmlich kompetitiv gegenübertreten, bietet sich dieser Ansatz an. Ein letzter Aspekt, der eng mit der Konstitution des männlichen Habitus zusammenhängt und ebenfalls auf sozialen Praktiken basiert, ist das Flottieren, d. h. der Erwerb, die Akkumulation sowie der Verlust von symbolischem und ökonomischem Ka-

25 Vgl. Connell: Masculinities, S. 74: „The main axis of power in the European/American gender order is the overall subordination of women and dominance of men.“ 26 Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 125f, 131. 27 Ulle Jäger/Tomke König/Andrea Maihofer: „Pierre Bourdieu: Die Theorie männlicher

Herrschaft als Schlussstein seiner Gesellschaftstheorie“, in: Heike Kahlert/Christine Weinbach (Hrsg.): Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog, Wiesbaden 2013, S. 15-36, hier: S. 24. 28 Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 123.

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pital. Unter symbolischem Kapital versteht Bourdieu vor allem „le capital d’honneur et de prestige“29, wobei er deutlich macht, dass in den höheren Schichten das symbolische Kapital im kollektiven Bewusstsein deutlich höher wiegt als Besitztümer und jegliche Form materiellen Reichtums. So erklärt es sich auch, dass z. B. in den Ehrendramen des Siglo de Oro – wie der Name schon andeutet – stets der Kampf um symbolisches Kapital im Vordergrund steht, während der materielle Reichtum der meist adeligen Figuren kaum zur Sprache kommt – ganz nach dem Motto ‚Über Geld spricht man nicht‘. Der Wettbewerb um Verteidigung, Erhalt und Rückforderung von Ehre, also der Ehrentausch, verläuft nach festen Spielregeln, wobei der „homme accompli [...] doit être sans cesse en état d’alerte, prêt à relever le moindre défi. C’est le gardien de l’honneur [...], celui qui veille sur son propre honneur et sur l’honneur de son groupe.“30 Vonnöten ist in diesem Spiel die „surveillance perpétuelle de soi“31 des Ehrenmannes, da sich der Kampf um Ehre immer vor den Augen der anderen und unter der „pression de l’opinion“32 vollzieht, die gewissermaßen als Ankläger, Zeuge und Richter zugleich auftritt. Die Rolle von Praktiken betont Bourdieu noch einmal in seinen abschließenden Ausführungen zum „ethos de l’honneur“: „Le système des valeurs d’honneur est agi plutôt que pensé et la grammaire de l’honneur peut informer les actes sans avoir à se formuler.“33 Im literarischen mundus inversus des spanischen Schelmenromans wäre nun nach Szenen oder moralistischen Passagen zu suchen, in denen Verhandlungen von Ehre und Ehrgefühl, von honor und honra, eine Rolle spielen. Trotz des Fokus auf die unteren Stände tauchen Variationen des Themas in zahlreicher Form auf. Auf den ersten Blick lässt sich konstatieren, dass auch hier die inversive Struktur zum Tragen kommt und das in mehrfacher Hinsicht: Erstens scheint die Hierarchisierung von symbolischem und ökonomischem Kapital in der novela picaresca auf den Kopf gestellt, da Habsucht zu den dominanten Handlungsmotiven gehört, was oftmals einen geradezu präkapitalistischen Charakter trägt bzw. kapitalismuskritische Standpunkte antizipiert, die sich erst im 19. Jahrhun-

29 Bourdieu: Esquisse d’une théorie de la pratique, S. 366. 30 Ebd., S. 25. 31 Ebd. 39. 32 Ebd., S. 40. 33 Ebd., S. 56. Vgl. dazu auch Ludgera Vogt/Arnold Zingerle: „Einleitung: Zur Aktualität des Themas Ehre und zu seinem Stellenwert in der Theorie“, in: dies. (Hrsg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt/M. 1994, S. 9-34, hier: S. 17: „Ehre ist das Ergebnis von Handlungen des Subjekts, die den normativen Erwartungen der Gruppe entsprechen und durch sie ‚honoriert‘ werden.“

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dert als solche herausbilden. Zweitens wird Ehre häufig im Sinne des engaño/desengaño-Paradigmas als Falschgeld oder zumindest als eine durch den Zeitgeist entwertete Währung dargestellt. Drittens kommt vor allem bei den Hauptfiguren der Texte sehr viel häufiger die Schande, laut Bourdieu das „envers negatif du point d’honneur“34, als Handlungsantrieb zum Einsatz, so vor allem im Buscón, aber auch bereits im Lazarillo. Feststeht, dass der Kampf um symbolisches und ökonomisches Kapital auch im Schelmenroman zu den zentralen Motiven, Motivationen und Strategien innerhalb des männlichen Habitus gehört, vor allem wenn man mit Meuser berücksichtigt, dass im „geschlechtlichen Habitus [...] immer zweierlei ausgedrückt [ist]: eine Strategie der Differenz und eine Position im Gefüge der Geschlechterordnung.“35 So verstanden wird noch einmal deutlich, dass sich die Konstruktion des männlichen Habitus als Vermittlungsarbeit von Strukturen und Praktiken denken lässt. Selbst wenn man im diegetischen Sozialraum der novela picaresca ein literarisch vermitteltes Abbild der sozialhistorischen Wirklichkeit sehen würde, als zu großen Teilen realistische Darstellung des spanischen Prekariats der Frühen Neuzeit, würden durch die Ausblendung anderer Milieus neue Ordnungsmodelle männlicher (und weiblicher) Sozialfiguren erforderlich. Die eingeschränkte Innensicht auf eine Welt, die sich entsprechend den Begrifflichkeiten Connells bestenfalls mit den Kategorien Unterordnung oder Marginalisierung36 beschreiben ließe, macht eine Binnendifferenzierung notwendig und vor allem auch eine Verortung des pícaro innerhalb dieses prekären Mikrokosmos. Die Kritik an Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit betrifft neben den bereits erwähnten Punkten die Tatsache, dass nur von einer hegemonialen Männlichkeit gesprochen wird, wirft also die Frage auf, „ob in [einer] differenzierten Gesellschaft nicht eher von hegemonialen Männlichkeiten ausgegangen werden müsse.“37 Diese Kritik kann zwar für die beiden Kategorien von Unterordnung und Marginalisierung nicht geltend gemacht werden, da Connell explizit darauf auf-

34 Bourdieu: Esquisse d’une théorie de la pratique, S. 40. 35 Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 121. 36 Vgl. zur Kategorisierung Connell: Masculinities, S. 77-81. 37 Uta Fenske: „Männlichkeiten im Fokus der Geschlechterforschung“, in: dies./Verf.

(Hrsg.): Ambivalente Männlichkeit(en). Maskulinitätsdiskurse aus interdisziplinärer Perspektive, Opladen/Berlin/Toronto 2012, S. 11-26, hier: S. 17 [Herv. G. S.]. Während hier explizit auf die Gegenwart Bezug genommen wird, stellen Michael Meuser und Sylka Scholz auch eine singuläre hegemoniale Männlichkeit für vergangene Epochen in Frage; vgl. Meuser/Scholz: „Hegemoniale Männlichkeit“, S. 212-214.

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merksam macht, dass es verschiedene Ausprägungen von Unterwerfung und Ausgrenzung gibt, die u. a. ständisch, ethnisch oder sexuell motiviert sein können38, aber sie soll zumindest den Blick auf die Tatsache schärfen, dass es im Universum des pícaro nicht nur den Ausgegrenzten gibt. Zu fragen wäre vielmehr nach intersektionalen Legimitationskriterien von Diskriminierung und Ausschluss und nach Formen der Binnenhierarchisierung, denn auch innerhalb des mundus inversus sind, wie bereits dargestellt, Herrschafts- und Wettbewerbsstrukturen keineswegs außer Kraft gesetzt, wie es bisweilen den Anschein haben mag, d. h. auch „das Feld [der Pikaresken, G. S.] ist hierarchisch und kompetitiv strukturiert.“39 Verglichen mit der ‚offiziellen Kultur‘ gelten dort jedoch – zumindest vordergründig betrachtet – andere, im engeren Sinne anti-humanistische Maßstäbe, wie z. B. Heuchelei, Täuschung, Hinterlist, Überzeugungskraft, Gier, Anpassungsfähigkeit sowie Gewaltbereitschaft. Der Clou des inversiv ausgerichteten Schelmenromans besteht darin – und darauf spielt der Einschub „vordergründig betrachtet“ an –, dass genau diese Zusammenstellung der subversiven Grundpfeiler die offizielle Kultur entlarvt, worin sich wiederum der sozial- und kulturkritische Impetus der novela picaresca entäußert. Mit anderen Worten: Der Schelmenroman macht die impliziten, verborgenen Moralvorstellungen der Gesellschaft explizit und bedient sich dabei, um den Verweischarakter zu verschleiern, einer sozial randständigen Figur, die am offiziellen Diskurs keinen Anteil trägt. Das bedeutet, dass im pikaresken Universum keineswegs andere Regeln und Werte gelten als in der offiziellen Kultur, sondern lediglich, dass die novela picaresca im „karnevalesken Kipp-Bild der verkehrten Welt“40 das Inoffizielle der offiziellen Kultur sichtbar macht. Natürlich hat ein solcher Wertekanon, wiewohl er lediglich unter der Oberfläche Geltung beanspruchen kann, Auswirkungen auf das ideale Männlichkeitsbild, das dann gleichermaßen im Verborgenen bleiben muss. Blicken wir aber, um dieses Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit besser zu veranschaulichen, zunächst auf die offizielle Ebene, auf der – stark vereinfacht – zwei wesentliche Männlichkeitsmodelle zu verorten sind, nämlich im Bereich des Adels und des Klerus. Ideale adelige Männlichkeit im frühneuzeitlichen Spanien konstituiert sich im Wesentlichen über Ritterlichkeit und Ehrhaftigkeit, moralische Integrität, nachweisbare Zugehörigkeit zum Katholizismus, Tapferkeit, physische Stärke, Nationalbewusstsein, humanistische Prägung, Mäßigung, He-

38 Connell: Masculinities, S. 76-81. 39 Meuser/Scholz: „Hegemoniale Männlichkeit“, S. 213. 40 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 2.

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terosexualität, Fortpflanzungsfähigkeit und sexuelle Potenz. Ideale klerikale Männlichkeit teilt die ersten fünf Eigenschaften, ist aber zusätzlich fokussiert auf Nächstenliebe, Weisheit, Enthaltsamkeit und Selbstlosigkeit. In der direkten Gegenüberstellung von offizieller und inoffizieller Männlichkeitskonzeption offenbart sich das subversive Potenzial der pikaresken Weltordnung, das sich im Modus der Inversion entlädt: Heuchelei, Täuschung, Überzeugungskraft, Gier, Anpassungsfähigkeit sowie Gewaltbereitschaft stehen sowohl dem idealen Männlichkeitsbild des Adeligen als auch demjenigen des Klerikers diametral gegenüber. Da die Figuren in den Schelmenromanen, die aus rein ständischer Perspektive diesen beiden Modellen noch am ehesten entsprechen, so. z. B. der clérigo aus dem zweiten sowie der verarmte Escudero aus dem dritten Kapitel des Lazarillo, synekdochischen Charakter aufweisen,41 bezieht sich die Kritik des Schelmenspiegels – ganz im moralistischen Sinne – nicht nur auf individuelle Vertreter dieser Klassen, sondern auf die Gesellschaftsordnung als ganze. Im Zentrum eines auf solchen anti-humanistischen Eckpfeilern errichteten feudalen Sozialgefüges, das Bauer unter Rückgriff auf Hobbes’ Diktum homo homini lupus als „großes Wolfsspiel“42 bezeichnet, spielen zweifellos die männlich-homosozialen Beziehungen weitaus wichtigere Rollen als die Relationen zum weiblichen Geschlecht.43 Dies erklärt auch den relativ geringen Raum, den die weiblichen Figuren im Schelmenroman einnehmen. Wenn wir nun aber den Schelm selbst in diesem Sozialgefüge verorten wollen, fällt zuallererst auf, dass der pícaro alle vorgegebenen Handlungsanforderungen bestens beherrscht bzw. diese im Laufe seines „deambulatorischen“44 Weges durch die verkehrte Welt erwirbt. Damit würde der pícaro auf gewisse Weise – d. h. gegen den Strich gelesen – zum hegemonialen Männlichkeitsmodell erhoben. Diese Konzeption eines inoffiziellen, gleichwohl gültigen und erfolgreichen Männlichkeitsideals soll in Analogie zum pikaresken Gesellschaftsmodell der verkehrten Welt mit der Denkfigur des vir inversus beschrieben werden. Um den deutlichen Unterschied

41 Vgl. ebd., S. 24. 42 Ebd., S. 18: „Weil selbst die Beteuerung der Aufrichtigkeit ein Täuschungsmanöver

sein kann, mit dem sich der Wolf im Schafsfell tarnt, muß der Pícaro selbst ein in der Wolle gefärbtes, schwarzes Schaf sein, wenn er sich im großen Wolfsspiel der Gesellschaft behaupten will.“ 43 Vgl. dazu Michael Kimmel: Manhood in America. A Cultural History, New York

1996, S. 7: „Masculinity is largely a homosocial enactment.“ 44 Zum Konzept des pícaro als „deambulatorischer Figur“ vgl. Ehrlicher: Zwischen

Konversion und Karneval, S. 11-13.

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zum offiziellen Männlichkeitsideal noch einmal theoretisch sichtbar zu machen, sei noch einmal Connells Definition der hegemonialen Männlichkeit angeführt: Hegemonic masculinity can be defined as the configuration of gender practice which embodies the currently accepted answer to the problem of the legitimacy of patriarchy which guarantees (or is taken to guarantee) the dominant position of men and the subordination of women. […] Nevertheless, hegemony is likely to be established only if there is some correspondence between cultural ideal and institutional power, collective if not individual. […] I stress that hegemonic masculinity embodies a ,currently accepted‘ strategy.45

Die Kluft zwischen offiziellem und inoffiziellem Männlichkeitsideal äußert sich vor allem in der Attribuierung „currently accepted“, die Connell immerhin so wichtig ist, dass er sie gleich zweimal anführt. In Anlehnung an Antonio Gramscis Hegemonie-Begriff macht Connell damit unmissverständlich deutlich, dass die hegemoniale Männlichkeit per se keineswegs ein Modell der forcierten Unterdrückung darstellt, sondern vielmehr ein herrschaftliches ‚kulturelles Ideal‘ bezeichnet, das weitestgehend auf kollektivem Konsens und weniger auf offenem Zwang beruht. Die ‚derzeitige Akzeptanz‘ sichert demnach die Gültigkeit der Hegemonie, was mit der ‚Entsprechung zwischen dem kulturellen Ideal und der institutionellen Macht‘ beschrieben wird. Anders formuliert: Die institutionelle Macht gründet in der konsensuellen Akzeptanz des kulturellen Ideals durch das gesellschaftliche Kollektiv. Dass davon ausgehend dann ‚die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet werden soll‘, ist die Folge der kollektiven Konstitution hegemonialer Männlichkeit, nicht aber deren Grundvoraussetzung. Wichtig hinzuzufügen ist, dass die Akzeptanz deshalb bestens funktioniert, da die Einzelinteressen bestimmter sozialer Gruppen – hier: der mächtigen Männer – erfolgreich als Allgemeininteressen verschleiert werden, die wiederum für den Fortschritt und die maßgeblichen Entwicklungslinien der Gesellschaft unabdingbar sind. Dies ist deshalb problemlos möglich, da die Gesellschaft durch vorwiegend androzentrische Normen bestimmt ist, wie auch Bourdieu konstatiert: „la vision androcentrique s’impose comme neutre et n’a pas besoin de s’énoncer dans des discours visant à la légitimer.“46 Diese scheinbare Neutralität bzw. den Schleier des Allgemeinen kann die hegemoniale Männlichkeit nicht zuletzt auch insofern mühelos für sich in Anspruch nehmen,

45 Connell: Masculinities, S. 77. 46 Bourdieu: La domination masculine, S. 22.

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als die männliche Norm, darauf hat Georg Simmel bereits sehr früh aufmerksam gemacht, zur allgemein-menschlichen hypostasiert wurde.47 Wie aber sieht es nun mit der inoffiziellen Kehrseite des hegemonialen Ideals aus, die innerhalb des mundus inversus der Pikaresken im Zentrum steht? Wenn wir davon ausgehen, dass der inversiv-karnevaleske Modus des Schelmenromans primär der Entlarvung bestehender Machtverhältnisse und somit der Gesellschaftskritik dient, gerät das hegemoniale Männlichkeitsideal, das allgemein akzeptiert und für die Wahrung von Allgemeininteressen verantwortlich ist, für gesellschaftlichen Fortschritt steht und sich damit kulturell-humanistischen Idealen verpflichtet sieht, empfindlich ins Wanken. Denn auch wenn aufgrund der diegetischen Fokussierung auf die niederen Stände der Anschein erweckt wird, als seien die in der pikaresken „Typenrevue“48 auftretenden Figuren – wie der pícaro selbst – allesamt Vertreter des Prekariats, darf man sich durch die eingeschränkte Sicht des Erzählers nicht täuschen lassen: Die männlichen Nebenfiguren bilden exemplarisch und typenhaft nahezu alle Stände der Gesellschaftsstruktur ab. Einzig die Tatsache, dass sie aus der ironisch unterlegten Perspektive des Schelms beschrieben werden, bewirkt ihre Entlarvung in dem Sinne, dass sie eben nicht entsprechend den sozialhumanistischen Vorgaben ihres jeweiligen Standes agieren, sondern durch den sezierenden und gleichzeitig inversiven

47 Vgl. Georg Simmel: „Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem [1911]“, in: ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme u. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/M. 1985, S. 200-223; darin bes. S. 201: „Daß das männliche Geschlecht nicht einfach dem weiblichen relativ überlegen ist, sondern zum Allgemein-Menschlichen wird, das die Erscheinungen des einzelnen Männlichen und Weiblichen gleichmäßig normiert – dies wird, in mannigfachen Vermittlungen, von der Machtstellung der Männer getragen. [...] Es ist gar nicht zu verkennen, daß die Frau außerordentlich viel seltener ihr Frau-Sein aus dem Bewußtsein verliert als der Mann sein Mann-Sein. [...] Da das differentielle, das Männlichkeits-Moment in den Vorstellungsbildern und Normsetzungen, in den Werken und Gefühlskombinationen, dem Bewußtsein seiner Träger leichter entschwindet, als das entsprechende an dem Weiblichkeitsmoment geschieht – denn für den Mann als den Herrn knüpft sich innerhalb seiner Lebensbetätigungen kein so vitales Interesse an seine Relation zum weiblichen, wie die Frau es an ihrer Relation zum Männlichen haben muß – so heben sich die männlichen Wesensäußerungen für uns leicht in die Sphäre einer überspezifischen, neutralen Sachlichkeit und Gültigkeit (denen die spezifisch männliche Färbung, wo sie etwa bemerkt wird, als etwas Individuelles und Zufälliges subordiniert wird).“ 48 Bauer: Der Schelmenroman, S. 2.

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Blick des pícaros zu enttarnten Zerrbildern ihrer Zunft werden, zu viri inversi, die dem Schelm als sozialisatorische Rollenvorbilder dienen. So wie in der offiziellen Kultur die männlichen Leitbilder (Ritter, Kleriker, Hausväter, Adelige) als nachahmenswerte Ideale gelten, so repräsentiert deren Kehrseite, der vir inversus, in der karnevalesken Volkskultur das inoffizielle Vorbild. Wichtig dabei ist, dass sich das offizielle Männlichkeitsideal und der vir inversus keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern lediglich die beiden Seiten ein und derselben Medaille darstellen.

2. 2 D ER VIR INVERSUS ALS D ENKFIGUR PIKARESKER M ÄNNLICHKEIT 2.2.1 Der vir inversus als Figur des desengaño Um die Beziehungen zwischen offiziellen und inoffiziellen Werten näher zu beleuchten, wird im Folgenden die für die spanische Kultur und Literatur des Siglo de Oro grundlegende Dichotomie von engaño und desengaño anhand von vorwiegend sprachhistorischen Quellen untersucht. Auch wenn diese „Modewörter“49 des spanischen Goldenen Zeitalters in der Forschung häufiger anhand von moralistischen Texten (besonders bei Gracián50), dem Drama oder der Novellistik untersucht wurden, umfasst das Spiel von Sein und Schein doch auch, wie bereits deutlich wurde, die novela picaresca und darin speziell die Inszenierung von Männlichkeit. Die literarisch vermittelte Denkfigur des vir inversus, so die These, deckt genau diesen Widerstreit auf satirische Weise auf und macht das Scheinhafte des offiziellen Männlichkeitsideals sichtbar, ist also eine Figur des desengaño. Hansgerd Schulte macht in seiner Abhandlung über den desengañoBegriff im spanischen 16. und 17. Jahrhundert darauf aufmerksam, dass es sich bei der enormen Konjunktur sowohl des Terminus selbst als auch des Themas allgemein nicht nur um ein genuin literarisches Phänomen handelt, sondern auch um eine religions- und geistesgeschichtliche Tendenz51: „Wir haben es also of-

49 Hans Felten: María de Zayas y Sotomayor. Zum Zusammenhang zwischen moralistischen Texten und Novellenliteratur, Frankfurt/M. 1978, S. 89. 50 Vgl. z. B. Hellmut Jansen: Die Grundbegriffe des Baltasar Gracián, Köln 1958, S. 119-121. 51 Im Sinne eines weiter gefassten Verständnisses von Literatur, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, werden auch die religions- und geistesgeschichtlichen Zeugnisse, von denen hier die Rede ist, als literarische Texte betrachtet. Insofern ist die von

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fensichtlich mit einem dieser Allgemeinbegriffe zu tun, die zur Charakterisierung ganzer Epochen herangezogen werden und denen außerdem noch eine Bestimmungsfunktion in der Nationalpsychologie zugemutet wird.“52 Aufschlussreich ist diesem Zusammenhang ein begriffshistorischer Exkurs in zeitgenössische Wörterbücher. Hier bietet sich zunächst ein Blick in den Eintrag zur Grundform engaño an. Der Tesoro de la lengua castellana o española von Sebastián de Covarrubias aus dem Jahr 1611 führt die folgenden Bedeutungsvarianten an: ENGAñO: [...] vale el bodegon, o la taberna secreta, donde se vende el gato por liebre, y haze͂ pagar muy bien el escote a los forasteros que van alli a comer; y ni mas ni menos las casillas, y sotanos de las rameras, que tambi engañan ellos, dandoles a entender q͂ son mugeres honestas, o se dixo engaño de gana, y el en, acreciente la sinificacio͂ , porque facilmente se engaña el que tiene codicia de una cosa, y da por ella mas de lo que vale: y el que engaña, muestra volu͂ tad y gana de una cosa, y haze otra, o de en, que niega, y ganar, porque el engañado siempre queda perdidoso; y segun carolo Bouilio, es palabra Fra͂ cesa. Engignier, id est fallere ab ingenio, porq͂ el que engaña, es ingenioso y astuto. […] Engañador, el burlador.53

Bemerkenswert an diesem Wörterbucheintrag ist sein offenkundig literarischer, ja narrativer Charakter, vor allem zu Beginn: ‚heimliche Tavernen, in denen Katzenfleisch als Hase verkauft wird‘ oder ‚Hurenkeller, in denen sich die Prostituierten für ehrbare Frauen ausgeben.‘ Der Artikel erinnert eher an ein Narrativ als an eine nüchterne Wortdefinition, genauer gesagt an das Narrativ der Pikareske. Bezeichnend ist doch, dass der engaño im Sinne von Betrug, Vortäuschung und Verstellung ohne nähere Erläuterung ausschließlich den unteren Gesellschaftsschichten zugerechnet wird. Wir befinden uns folglich in einer Welt, die ziemlich genau dem mundus inversus der Pikaresken entspricht. Das Kabi-

Schulte vorgenommene Differenzierung im Zusammenhang der desengaño-Thematik hier obsolet. 52 Hansgerd Schulte: El desengaño. Wort und Thema in der spanischen Literatur des

Goldenen Zeitalters, München 1969, S. 9. 53 Sebastián de Covarrubias Horozco: Tesoro de la lengua castellana o española, Madrid

1611, S. 352. Bei der Abschrift wurde die Originalgrafie beibehalten. Abweichend von der heutigen Schreibung steht die Tilde über einem Vokalgraphem hier für die Abfolge Vokal+Nasalkonsonant (z. B. voluntad); und sind Abbreviaturen für que bzw. porque. Weiterhin fehlt die Kennzeichnung der von der regelmäßigen Akzentzuweisung abweichenden Betonungen durch den Akut (z. B. allí, dándoles).

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nettstück des „bodegon“, in dem die Mahlzeiten mit bewusster Täuschungsabsicht für andere ausgegeben werden, um den persönlichen Profit auf unredliche Weise zu steigern, erinnert vermutlich nicht zufällig an Szenen aus dem ersten Teil des Guzmán – immerhin liegen 1611 bereits beide Teile von Alemáns Schelmenroman vor. Überhaupt bildet die „taberna“ einen beliebten TransitSchauplatz innerhalb der dynamisch-episodischen Diegese der novela picaresca. Hier treffen engañadores und engañados aufeinander und geben sich ihren Täuschungsmanövern hin. Besondere Berühmtheit erfährt der Topos der zwielichtigen Taverne schließlich im Don Quijote. Auf der einen Seite ist sie dort Schauplatz diverser Abenteuer der beiden Hauptfiguren und damit sowohl Schauplatz der Handlung als auch erzählerischer Rahmen. Man denke z. B. an Quijotes Wahnvorstellung, die üble Spelunke am Beginn seiner Abenteuerreise sei eine von ehrwürdigen Fräulein bewohnte Burg – sozusagen die Taverne als theatraler Ort des ritterlichen engañarse. Don Quijotes unbeirrbarer Wahn versucht also, so könnte man es formulieren, den mundus inversus des kleinkriminellen Tavernenlebens wieder ins rechte Licht zu rücken. Auf der anderen Seite dient das Gasthaus innerhalb der Diegese als transitorischer Ort, als Ort der Begegnung unterschiedlicher Charaktere, die sich dort Geschichten erzählen, die Cervantes wiederum in Form von Digressionen in die Handlung montiert – die Taverne als Keimzelle des Erzählens. Ein zweiter wichtiger Punkt im vorliegenden Wörterbuchartikel bezieht sich weniger auf den Akt des engaño selbst als auf dessen Urheber, den engañador. Unter Berufung auf das altfranzösische Vorbild engignier (< lat. INGANNĀRE) wird der Betrüger, hier als Synonym von burlador verwendet, als „ingenioso y astuto“, als geistreich und listig charakterisiert. Diese beiden Attribuierungen rücken den engañador nicht nur in ein eher positives Licht, sondern in eine auffällige Nähe zur pícaro-Figur. Demzufolge wird dem Betrüger die „Notwendigkeit intellektueller Überlegenheit“54 („fallere ab ingenio“) zugesprochen, damit er an sein Ziel gelangt. Akzentuiert wird diese Form der Superiorität durch den Kontrast mit dem Betrogenen, dem engañado, der „siempre queda perdidoso“. Hier durchkreuzt sich im Strukturzeichen der Inversion die niedere Durchtriebenheit des Betrügers mit der intellektuellen Überlegenheit des gewitzten burlador. Die solcherart vermittelte Botschaft lautet: Wer betrügt, kommt weiter; wer sich betrügen lässt, ist der ewige Pechvogel. Auch diese Lehre ist durchaus mit dem in den novelas picarescas narrativ hergestellten escarmiento vergleichbar.

54 Schulte: El desengaño, S. 17.

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Da sowohl die Figuren als auch die Schelmenromane selbst im Zeichen des desengaño stehen, gilt es, den weitaus knapper gefassten Artikel zu desengañar aus dem Tesoro in den Blick zu nehmen:55 DESENGAñAR: Sacar del engaño al que esta en el. Hablar claro, porq͂ no conciban una cosa por otra. Desengañarse, caer en la cuenta, de que era engaño, lo que tenia por cierto. Desengaño, el trato llano y claro, con que desengañamos, o la mesma verdad que nos desengaña.56

Es nimmt nicht Wunder, dass der desengañar-Eintrag weitaus kürzer ausfällt als derjenige zum Lexem engaño, handelt es sich doch lediglich um die Negation des an anderer Stelle ausführlich semantisch bestimmten Grundbegriffs.57 Gleichwohl fällt auf, dass hier auf literarische Anleihen bzw. narrative Sequenzen komplett verzichtet wird. Zentral sind wohl die Bedeutungsvorschläge „Hablar claro“ und „mesma verdad“, also die Tatsache, dass die Ent-Täuschung als Synonym von Klarheit und Wahrheit dargestellt wird. Dies ist für den den pícaro, verstanden als Figur des desengaño, insofern von wesentlicher Bedeutung, als die durch seinen Bericht vermittelte Vision der Welt im Zeichen des desengaño steht und damit als „wahr“ zu interpretieren wäre: Er benennt die Dinge klar und deutlich, tut dies jedoch bezeichnenderweise über den Umweg des engaño. Dazu noch einmal Schulte: Die Gleichsetzung von desengaño und Wahrheit ist ein Anzeichen für das Bedeutungsgewicht, das das Wort im zeitgenössischen Sprachgebrauch bekommen hat. [...] Das Wahre ist nicht mehr unmittelbar evident und selbstverständlich, sondern es verbirgt sich hinter

55 Ein gesonderter Eintrag zum entsprechenden Substantiv desengaño liegt im Tesoro nicht vor. Bei der Basisform hingegen wird das Nomen engaño, nicht jedoch das Verb engañar als Lemma angeführt. 56 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 309. 57 Dies soll jedoch keineswegs bedeuten, dass die Negation eines Begriffs stets eine

exakte Umkehrung der Bedeutung des Ursprungsworts impliziert. Gerade im vorliegenden Fall liegt mit der Präfigierung durch des- zwar auf den ersten Blick eine Verneinung vor, doch geht die Semantik von desengaño bzw. desengañar weit über eine bloße Negation der jeweiligen Basis hinaus. Dies wiederum wird erst in späteren Wörterbucheinträgen deutlich, so z. B. im Diccionario de Autoridades von 1732, worauf im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch eingegangen wird.

60 | V IR INVERSUS Scheinhaftigkeit und durchweg hinter seinem Gegenteil, dem Falschen und Trügerischen, aus dem der erkennende Geist es erst hervorholen muß.58

Bei der Lektüre des 1732 erstmals erschienenen Diccionario de Autoridades fällt zunächst auf, dass eine weitere Differenzierung vorgenommen wird, da die Lemmata desengaño, desengañar, desengañado sowie desengañador nun jeweils mit eigenen Artikeln aufgeführt werden, wodurch den Ausführungen zur betreffenden Thematik deutlich mehr Raum gegeben wird als im mehr als hundert Jahre zuvor erschienenen Tesoro de la lengua castellana. Im Gegensatz dazu beschränkt sich der Artikel zu engañar auf einen Satz: „Inducir a otro a creer y tener por cierto lo que no es, valiéndose de palabras o de obras aparentes y fingidas. Fórmase de la preposición En, y del nombre Engáño.“59 Rein quantitativ ist demnach zu konstatieren, dass dem Wortfeld des desengaño im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit zuteilwird. Semantisch sind im Vergleich zum Tesoro keine grundlegenden Neuerungen zu verzeichnen, jedoch sind einige Bedeutungsnuancen hinzugekommen: Desengaño wird nicht mehr nur als „verdad“ beschrieben, sondern als „luz de verdad“, weiterhin wird als neue Verwendung auch „el objeto que excíta al desengaño“60 genannt. Während bei Covarrubias der abstrakte engaño-Begriff narrativ ausgestaltet wurde, geschieht dasselbe nun in den Einträgen zu den desengaño-Derivaten. Das Partizip desengañado wird sowohl in adjektivischer als auch substantivischer Verwendung erläutert: Desengañado, da. part. pass. del verbo Desengañar. Lo assí sacado del error y engáño. Latín. Ab errore deductus. […] Vale tambien despreciable y malo: y assí se dice, que es cosa desengañada la que está mal hecha, y por conseqüéncia despreciable. Latín. Pravus. Perversus. Praeposterus. Se llama assimismo el hombre que retirado del bullício y comércio del mundo, vive recogido y apartado, sin pretender otra cosa, que su quietúd y salvación. Latín. Recognitus. A mundo alienus. Qui procul negotiis. ZABAL. Día de fiest. part. 1. cap. 9. Los desengañados dicen, que la nobleza no se adquiere naciendo, sino obrando.61

58 Schulte: El desengaño, S. 18. 59 Diccionario de Autoridades, Tomo III, Madrid 1732. Zitiert nach der digitalisierten Version der REAL ACADEMIA ESPAÑOLA: http://web.frl.es/DA.html (letzter Zugriff 16.01.2018). 60 Ebd. (Herv. G. S.). 61 Ebd.

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Zunächst ist beim Gebrauch als Adjektiv zu beobachten, dass hier mit „mal hecha, y por conseqüéncia despreciable“ eindeutige moralische Bewertungen vorgenommen werden. Interessant wird es, wenn mit „Pravus. Perversus. Praeposterus“ mögliche lateinische Synonyme vorgeschlagen werden: Allen drei Adjektiven ist gemein, dass sie sowohl ‚falsche‘, ‚unrechte‘ oder ‚böse‘ Handlungen oder Akteure charakterisieren, aber zudem als weiteres gemeinsames Bedeutungssubstrat das ‚Umgedrehte‘, das ‚Verdrehte‘ und ‚Verkehrte‘ aufweisen. Im Artikel selbst wird, dem Kontext nach zu urteilen, jeweils nur auf die erste Bedeutungsebene rekurriert, da die vorangehenden spanischen Erklärungen die zweite Ebene nicht tangieren. Gleichwohl hätten auch andere lateinische Synonyme, etwa malus oder foedus, angeführt werden können, deren semantische Kodierung zweifellos eindeutiger ausfiele. Den Autoren des Diccionario scheint es daher genau auf diese semantische Ambivalenz des definierten Begriffs im Sinne von ‚schlecht‘/‚verkehrt‘ angekommen zu sein, die eben allen drei genannten lateinischen Termini eigen ist. Bevor eine abschließende Bewertung sowie ein Transfer zur Pikaresken vorgenommen werden soll, sei auf den letzten, diesmal substantivischen und eindeutig auf Personen referierenden Terminus desengañado eingegangen: „el hombre que retirado del bullício y comércio del mundo, vive recogido y apartado, sin pretender otra cosa, que su quietúd y salvación“, also ‚der Mensch, der sich angesichts des Getöses und Verkehrs der Welt zurückgezogen hat und sein Leben fortan in unprätentiöser Ruhe und Erlösung verbringt‘. Die Formel ‚Weltflucht infolge von desengaño‘ bezeichnet einen literarischen Topos, der in vielfacher Variation auch die Literatur des Siglo de Oro bestimmt: So wird etwa das cervantinische Universum des Don Quijote von diversen Nebenfiguren bevölkert, die sich in die Tiefen der Mancha zurückgezogen haben, um in Einsamkeit den Rest ihres vom desengaño zerstörten Lebens zu fristen. Auch in der europäischen Literatur der Romantik wird das melancholisch intonierte Narrativ des Eskapismus wieder auftauchen. Der ent-täuschte Weltenflüchtling entdeckt schließlich in der Abgeschiedenheit die Erkenntnis „que la nobleza no se adquiere naciendo, sino obrando“, dass sich wahrer Edelmut nicht der Geburt verdanke, sondern dem Erwerb durch entsprechendes Handeln. Insofern bezeichnet der desengañado „den illusionsfreien Menschen, der den Trug durchschaut hat und die Konsequenzen für sein eigenes Verhalten daraus zieht.“62 Charakteristisch bleibt gleichwohl, dass diese Erkenntnis keineswegs als positiv bewertet, sondern insgesamt eher schwermütig grundiert wird: „Enttäuschung, Bitterkeit, Desillusionierung und pessimistische

62 Schulte: El desengaño, S. 20.

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Resigniertheit kennzeichnen das affektive Klima, das dem Wort im zeitgenössischen Sprachempfinden anhaftet.“63 Der Charakter des desengaño, verstanden als Epochensignatur, verdeutlicht einmal mehr dessen Potenzial zum kulturkritischen Generalangriff auf die Gesellschaft Spaniens nach Abschluss der Reconquista, vor allem auf die herrschenden Klassen. Die von Reinhart Koselleck erst für das 18. Jahrhundert und zunächst nur für die französische Gesellschaft angeführte Dichotomie von „Kritik und Krise“64 lässt sich in abgeschwächter Form bereits für das spanische Großreich des 17. Jahrhunderts geltend machen. Die jeweiligen Einträge der Wörterbücher zeigen, dass der Fokus sich im Laufe der Zeit deutlich von engañar zu desengañar verschoben hat. Dadurch wird offenkundig, dass das kriseninduzierte, desillusionierende hablar claro – die Kritik an der Gesellschaft also – zunehmende Verbreitung erfährt. Auch Sloterdijk schreibt in seiner Kritik der zynischen Vernunft über den aufklärerischen Charakter des desengaño: „Aufklärung war immer schon Enttäuschung im positiven Sinn, und je mehr sie voranschreitet, desto näher rückt ein Augenblick, wo die Vernunft uns heißt, eine Bejahung zu versuchen.“65 Darüber hinaus belegen die Einträge allesamt den literarischen Einfluss, teils vermittelt durch narrative Sequenzen, teils durch aphoristisch-moralistische Sentenzen. Die solcherart zu beobachtende Wechselwirkung von Lexikografie, Semantik und fiktionaler Literatur gibt einen deutlichen Hinweis auf den bereits von den Zeitgenossen erkannten kulturkritischen und zugleich aufklärerischen Charakter der literarischen Texte, vor allem der novela picaresca, die bei den literarischen Passagen der Wörterbucheinträge als besonders wichtige Inspirationsquelle auszumachen ist.66 Dies verwundert insofern kaum, als sich der kulturund gesellschaftskritische Charakter der spanischen Schelmenromane über ihre moralistischen Qualitäten äußert. Mit Blick auf die autodiegetische Erzählsituation, die zu den konstitutiven Gattungsmerkmalen zählt, erklärt es sich daher, dass der pícaro selbst als Sprachrohr der Gesellschaftskritik instrumentalisiert

63 Ebd. 64 Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt/M. 1973. 65 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 26. 66 Vgl. dazu auch Verf.: „Böse Kupplerinnen, üble Spelunken und gehörnte Ehemänner. Covarrubias als und für Literaturwissenschaftler“, in: Stéphane Hardy/Sandra Herling/Sonja Sälzer (Hrsg.): Innovatio et traditio – Renaissance(n) in der Romania. Festschrift für Franz-Josef Klein zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2016, S. 373-384.

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und dadurch zur Figur des desengaño wird, die auf unbequeme Art die Wahrheit kundtut: Wo Verhüllungen für eine Kultur konstitutiv sind, wo das Leben in Gesellschaft einem Lügezwang unterliegt, erscheint im wirklichen Aussprechen der Wahrheit ein aggressives Moment eine unwillkommene Entblößung.67

In der Tat vollzieht sich das hablar claro des pícaro auf höchst aggressive Weise, indem es der Gesellschaft, in der tatsächlich ‚Lügezwang‘ im Sinne von Heuchelei, Doppelmoral und dem Fokus auf Oberflächendesign zu den wichtigsten Kommunikationsgeboten gehört, die Maske herunterreißt, mithin die gesellschaftlichen Strategien des engaño entlarvt. Der desengaño wiederum unterliegt aufgrund der karnevalesken Diegese selbst dem Strukturmuster der Inversion, so wie es auch die für desengañado vorgeschlagenen lateinischen Übersetzungsäquivalente „Pravus. Perversus. Praeposterus“ nahelegen. Der pícaro, der „zugleich außerhalb und innerhalb der Gesellschaft bzw. ihren verschiedenen Gruppierungen“68 steht, muss sich der Inversion bedienen, da er aufgrund seiner peripheren Position innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung gar nicht dazu autorisiert ist, das Wort zu ergreifen, also der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Daher „agiert der Pícaro in jenem rechtsfreiem Raum, anomischen Bereich, wo Wahrheit und Lüge, Gut und Böse konvertibel sind“69 und zeigt auf diese Weise, dass es mehr als nur eine hegemoniale Deutbarkeit und Lesart der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt. Satire und Komik dienen dabei nicht nur der reinen Belustigung des Publikums, sondern befördern – darin dem Karneval nahe – ebenfalls den kritischen Charakter des desengaño: „Das satirische Verfahren – d. h. der eigentliche methodische Kern von Kritik, – besteht […] darin, daß man die Dinge ‚umkehrt‘. Im realistischen Sinne heißt das: vom Kopf auf die Füße; doch auch die Umkehrung in anderer Richtung kann sich manchmal als nützlich erweisen.“70

67 Ebd., S. 27f. 68 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 43. 69 Ebd., S. 47. 70 Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 529. Es sei in diesem Zusammenhang da-

rauf hingewiesen, dass zu den maßgeblichen antiken Einflüssen der novela picaresca die Menippeische Satire gezählt wird, so z. B. aus der Feder von Lukian (ca. 120-180 n. Chr.) oder auch seines Zeitgenossen Apuleius (ca.123-170 n. Chr.), von letzterem insbesondere der Roman Metamorphosen, heute besser bekannt als Der goldene Esel. Die Herkunft des Schelmenromans von den genannten Ursprüngen der satirischen

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Die daraus resultierende zynische Form der Gesellschaftskritik – darauf hebt auch Sloterdijk ab – ist immer auch Kritik an der „Welt des Männlichen“, ja ist geradezu getragen von „einer Urwut gegen ‚Männlichkeit‘“ und wird solcherart zum „Spiegel des Weltbösen“.71 Diese Engführung von Männlichkeit und ‚Weltbösem‘ erfolgt über die Konzentration gesellschaftlicher Macht im männlichen Prinzip; mit anderen Worten: Männlichkeit wird mit gesellschaftlicher Macht gleichgesetzt, gegen die wiederum die Kritik der Pikareske opponiert und das „in einer aus Leid, Verachtung und Wut gemischten Vorwurfshaltung gegen alles, was Macht hat.“72 So erklärt sich auch, warum die Schelmenschelte immer auch Männerschelte betreibt. Zusammenfassend lässt sich vorläufig konstatieren, dass der pícaro aufgrund seines Status als vir inversus, als ‚umgekehrter Mann‘ in einer umgedrehten Welt, dazu in der Lage ist, im Modus des entblößenden desengaño Kritik an bestehenden Gesellschaftsverhältnissen zu üben, die immer auch – ebenfalls vermittelt über das Medium des Spiegels bzw. der Spiegelung – Herrschafts- und Männlichkeitskritik ist. Die literarische Stilisierung, welche die Pikareske auszeichnet, wird dabei keineswegs verleugnet, ja sie darf gar nicht verleugnet werden, da sie die Romane in ihrem Entstehungskontext betrachtet vor Sanktionen schützt. Es besteht daher kein Widerspruch in der Tatsache, dass vermittelt über literarisierte Narrative unbequeme Wahrheiten über die außerliterarische Wirklichkeit transportiert werden, denn genau dieser kritische Impetus zeichnet das Spannungsfeld des satirisch-zynischen Narrativs aus, das im Schelmenroman durchgängig zum Einsatz kommt: „Zynismus wagt sich mit nackten Wahrheiten hervor, die in der Art, wie sie hervorgebracht werden, etwas Unwahres behalten.“73 Daher soll im Folgenden der genuin literarisch-fiktionale Status der Schelmenfigur näher beleuchtet werden, den der vir inversus aufweisen muss, um nicht in die Fänge der Zensur zu geraten.

Dichtung gilt als unumstritten (vgl. u. a. Bauer: Der Schelmenroman, S. 5; Rico: Lazarillo de Tormes, S. 115). Den direkten Bezug stellt vor allem Cervantes in seiner exemplarischen Novelle Coloquio de los perros her. 71 Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 22. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 27 (Herv. G. S.).

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2.2.2 Genre und Gender: Der vir inversus als literarische Konstruktion Wenn zuvor schon darauf aufmerksam gemacht wurde, dass Theorien aus den zeitgenössischen, primär soziologisch geprägten Masculinity Studies nur unter Vorbehalt auf Männlichkeitsmodelle der Frühen Neuzeit anwendbar sind, so muss an dieser Stelle mit Blick auf die novela picaresca ein weiterer Punkt angeführt werden, der die heuristischen Erfolge einer solchen Methode problematisch werden lässt. Gemeint ist die vordergründig banale Tatsache, dass es sich bei der Gattung des Schelmenromans überhaupt um ein literarisches Zeugnis, ein Artefakt handelt, das zwar deutlichen Bezug nimmt auf die außerliterarische, soziale Wirklichkeit, aber eben auf stilisierte bzw. literarisch kodifizierte Weise. Die Beobachtung, die sich an Connnell orientieren würde, nämlich dass der pícaro eine marginalisierte Figur ist, die aufgrund ihres Status untergeordnet ist und durch die Dienertätigkeit für einen höhergestellten Herrn mitunter komplizenhafte Züge aufweist, mag durchaus richtig sein, aber solche Aussagen tragen dem literarischen Charakter des Schelmendaseins kaum Rechnung. Um das Bewusstsein dafür zu schärfen, müssen weitere Analyseinstrumente hinzugenommen werden, die dem genuin literarischen Kern der pikaresken Männlichkeitskonstruktionen gerecht werden. Es geht demnach laut Walter Erhart darum, „Männlichkeit als eine in erster Linie narrative Struktur zu rekonstruieren“74, was das soziologische Verständnis von Männlichkeit als sozialer Praxis oder Habitus keineswegs ausschließt, sondern auf sinnvolle Weise ergänzt. Männlichkeitsmodelle seien demzufolge Erzählmodelle und zwar solche, „in denen Männlichkeiten imaginiert und generiert, aufgrund derer die Verhältnisse der Geschlechter jeweils narrativ gestaltet werden.“75 Erhart schlägt eine „Narratologie der Männlichkeit“76 vor, vermittels derer typische Narrative bzw. Skripte identifiziert werden können, die an der literarischen Konstruktion von Maskulinität in Erzähltexten beteiligt sind.77 Für den Schelmenroman müsste daher überprüft werden, inwieweit die pikaresken Gattungsmerkmale, die in allen drei hier zu unter-

74 Walter Erhart: „Das zweite Geschlecht: ‚Männlichkeit‘, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30 (2005), S. 156-232, hier: S. 207 (Herv. G. S.). 75 Ebd. 76 Ebd., S. 215. 77 Vgl. zur narrativen Ausgestaltung von Männlichkeiten: Ben Knights: Writing Mascu-

linities. Male Narratives in Twentieth-Century Fiction, London/New York 1999; vor allem das Kapitel „Masculinity as Fiction“, S. 10-48.

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suchenden Romanen auf gut vergleichbare Weise zum Einsatz kommen, auch konstitutiven Charakter hinsichtlich der Repräsentation von Männlichkeit besitzen. Hier wären als Skripte die Loslösung von den Eltern, der episodische Entwicklungsprozess sowie die innerhalb dieser Episoden auftauchende typenhafte Darstellung männlicher Sozialfiguren zu nennen, die für die Analyse aufschlussreich erscheinen. Die wiederkehrenden und nur wenig variierten Gattungsmerkmale kreieren zusammen mit dem zynisch-fabulierfreudigen Erzählton das von Sloterdijk so genannte ‚Unwahre‘, mithin Literarische der Wahrheiten, die uns die Texte gleichwohl präsentieren wollen. Der spannungsreiche Widerstreit von Literarizität und ‚nackter Wahrheit‘ im Hinblick auf die Konstruktion von Männlichkeit in der novela picaresca eröffnet jedoch gerade im Kontext von Krise und Kritik ausreichend Potenzial, um zumindest ex negativo, d. h. inversiv einen grundsätzlichen Einblick in die Männlichkeitspolitik der Frühen Neuzeit zu erhalten, der sich dem ebenfalls gattungsspezifischen Erfordernis der Komplementärlektüre verdankt. Sinnvoll erscheint es daher, den kritischen Impetus der Texte freizulegen, um solcherart die soziale Konstruktion und mögliche Krisenhaftigkeit männlicher Identitäten im Siglo de Oro zu reflektieren. Die literarisch bzw. literaturanthropologisch generierte Denkfigur des vir inversus, so die zentrale These, bietet hierfür das passende Modell. Die autodiegetische Erzählposition in der novela picaresca erzeugt von Anfang an die Illusion eines autobiografischen Narrativs. Als Ausgangspunkt autobiografischen Erzählens gelten gemeinhin Augustinus’ Confessiones (397-401), die im kulturellen Gedächtnis des Siglo de Oro präsent sind78 und – so Hans Robert Jauß – höchstwahrscheinlich Einfluss ausgeübt haben auf die „Ich-Form“ der novela picaresca.79 Jauß erkennt im Lazarillo de Tormes (und damit implizit auch in den nachfolgenden pikarischen Romanen) eine „Travestie der christlichen Lebensbeichte“, die dazu diene, „die dargestellte Welt in der Brüchigkeit ihrer Ordnungen ironisch zu entlarven.“80 Daneben gelten die bereits genannten Metamorphosen von Apuleius, deren verifizierte Erstübersetzung ins Spanische

78 Die Erstübersetzung der Confessiones ins Spanische erfolgte 1555; vgl. Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 56. 79 Vgl. Hans Robert Jauß: „Ursprung und Bedeutung der Ich-Form im Lazarillo de Tormes“, in: Romanistisches Jahrbuch 8 (1957), S. 290-311; kritisch dazu: Peter Baumanns: „Der Lazarillo de Tormes eine Travestie der Augustinischen Confessiones?“, in: Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S. 285-291. 80 Jauß: „Ursprung und Bedeutung der Ich-Form im Lazarillo de Tormes“, S. 310.

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1536 erfolgte,81 als einflussreich, sowohl die autodiegetische Erzählform als auch den satirischen Stil betreffend.82 Wie Hanno Ehrlicher hervorhebt, müssen sich beide Positionen keineswegs ausschließen, da sie „gemeinsam an der Problematik von weltlicher Neugier (curiositas) und spiritueller Konversion partizipieren, die sie je unterschiedlich bearbeiten.“83 Ganz gleich, wie groß der Anteil der jeweiligen Quellen sein mag, feststeht, dass beide Genealogien, ungeachtet des gemeinsamen Substrats der Ich-Form, zu gegensätzlichen Transformationen geführt haben. Das Augustinische Modell der Selbsterkenntnis, die, verkürzt gesagt, hinführt zur Konversion zu spirituell-transzendenten Werten, wird dekonstruiert und umkodiert zu einer „conversion to the materialistic pleasures of this world after having understood that the caritas he [the pícaro] initially believed in and sought as a child is inoperative.“84 Insofern lässt sich der intertextuelle Aneignungsmodus im Hinblick auf Augustinus als transgressiv-parasitär charakterisieren. Die intertextuelle Aneignung der Mennipeischen Satire durch die novela picaresca hingegen vollzieht sich auf den ersten Blick affirmativ, weshalb sie auch in der Pikareskenforschung bis heute als einer der wichtigsten klassischen Einflüsse auf die Gattung erkannt wird.85 Man kann demnach festhalten, dass das bei Augustinus zentrale Thema der Konversion in den novelas picarescas – insbesondere bei Alemán – ironisch-inversiv aufgegriffen wird, während die bei Apuleius angelegte rhetorische Ambivalenz von Lucius’ finaler Bekehrung zum Priester des Isis-Kultes beibehalten wird. Nicht nur im Hinblick auf die Enden der jeweiligen Geschichten erweisen sich sowohl die pikarischen

81 Vgl. Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 56. 82 Vgl. dazu vor allem – als Replik auf Jauß konzipiert – Margot Kruse: „Die parodisti-

schen Elemente im Lazarillo de Tormes“, in Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S. 292-304. 83 Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 57. 84 Marina S. Brownlee: „Discursive Parameters of the Picaresque“, in: Carmen Benito-

Vessels/Michael O. Zappala (Hrsg.): The Picaresque. A Symposium on the Rogue’s Tale, Newark 1994, S. 25-35; hier: S. 29. 85 Die Forschungsliteratur zu diesem Komplex ist zahlreich. Vgl. u. a. Bauer: Der

Schelmenroman, S. 23-25; Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 79f; Ilse NoltingHauff: „Pikaresker Roman und ‚menippeische Satire‘“, in: Wolf-Dieter Stempel/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, München 1987, S. 181-200; Alex Scobie: „The Influence of Apuleius’ Metamorphoses in Renaissance Italy and Spain“, in: Benjamin L. Hijmans/Rudolf Theodor van der Paardt: (Hrsg.): Aspects of Apuleius’ Golden Ass, Groningen 1978, S. 211-230.

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Ich-Erzähler als auch Apuleius’ Protagonist als höchst unzuverlässig. Damit wird auch das Beichtritual, das in den Schelmenromanen als kommunikativer Rahmen dient, systematisch ausgehöhlt. Die Schelmenbeichte zeichnet sich eher durch unbändige Fabulierfreude, frühneuzeitliches self-fashioning und Gesellschaftskritik aus als durch einen geläuterten Willen zur Absolution. Diese Art der Travestie des christlichen Beichtrituals, darauf weist u. a. Bauer hin, ist mithin durchdrungen von der „Dialektik von Schelmenbeichte und Schelmenschelte“86, man könnte auch – mit Koselleck – abstrakter vorgehen und den Bericht des pícaro an der Schnittstelle von Krise (Beichte) und Kritik (Schelte) ansiedeln. Gemein ist beiden Quellen – Augustinus und Apuleius – auf ihre je eigentümliche Weise, dass sie im Gewand der Autobiografie gekleidete Geschichte(n) erzählen, in deren Zentrum die narrativ generierte, von Krisen und Umwälzungen geprägte Sozialisation eines Ichs steht, die auf den Fluchtpunkt der conversio hinläuft. Dieses Narrativ übernehmen die Schelmenromane im Großen und Ganzen. Der Gegensatz zwischen beiden liegt in der Frage nach der Glaubwürdigkeit begründet, die sich bei Augustinus weniger stellt als bei Apuleius: Vornehmlich begründet durch das phantastische Moment der Eselsmetamorphose verbietet sich dort geradezu die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Asinus Aureus.87 Sie verbietet sich ebenso im Falle der novela picaresca und das verdankt sich nicht zuletzt der autodiegetischen Erzählposition. Den Überlegungen zum Eselsroman von Bachtin folgend, sei zunächst noch einmal kurz skizziert, welche Eigenheiten des antiken Vorläufers die novela picaresca übernimmt. Bachtin charakterisiert die Metamorphosen als „abenteuerlichen Alltagsroman“88, in dem der Protagonist einerseits sein Leben in Form eines „menschlichen Einzelschicksals“ erzählt mit „dessen wesentlichen Umbruchs- und Krisenmomenten.“89 Diese Art der Innenschau, die den Weg vom Sünder zum „Gerechten und Heiligen (nach der Krise und Wiedergeburt)“90 beschreibt, wäre das, was im Schelmenroman mit dem narrativen Modell der Schelmenbeichte erfasst werden kann: „Dementsprechend präsentiert uns der Roman ein und denselben Menschen in zwei oder drei differenten Gestalten, die durch Krisen und Wiedergeburten die-

86 Bauer: Der Schelmenroman, S. 25. 87 Das ändert jedoch nichts daran, dass es dennoch immer wieder Versuche gab, den IchErzähler Lucius mit dem Autor des Romans gleichzusetzen, u. a. von Augustinus selbst; vgl. dazu Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 73-75. 88 Bachtin: Chronotopos, S. 36. 89 Ebd. S. 40 (Herv. i. O.). 90 Ebd., S. 41.

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ses Menschen voneinander geschieden und miteinander verbunden sind.“91 Andererseits gewährt uns Lucius in der Zeit seines Daseins als Esel einen angeblich unverfälschten Blick auf die ihn umgebende Gesellschaft, die sich von seiner tierischen Anwesenheit nicht gestört fühlt – ein narratives Arrangement, das Bachtin zufolge den Weg ebnet für die nachfolgende Romanentwicklung bis hin zur novela picaresca: „Erhalten bleibt von der Eselsmetamorphose gerade die spezifische Position, die der Held gegenüber dem privaten alltäglichen Leben als ‚Dritter‘ einnimmt und die ihm das heimliche Beobachten und Belauschen gestattet.“92 Im Schelmenroman wird schließlich der kaum beachtete Esel ersetzt durch die Figur des schelmischen Dieners, dem es ebenfalls möglich ist, aufgrund seiner Position des „halben Außenseiter[s]“93 sein soziales Umfeld auf nachgerade voyeuristische Weise zu studieren: „Der Diener ist der ewige ‚Dritte‘ im Privatleben der vornehmen Leute.“94 Dieser heimliche, oftmals auf Obszönitäten gerichtete Blick auf das von Masken weitgehend befreite Privatleben bringt den Alltag der Sozialfiguren „als die Kehrseite des echten Lebens“95 hervor, ganz im Zeichen des desengaño. Die daraus entstehende, geradezu moralistisch erscheinende Gesellschaftskritik des Außenseiters wäre wiederum dem Modus der Schelmenschelte zuzurechnen. Wichtig ist hier, dass sowohl Apuleius’ Held als auch der ihm nachfolgende pícaro aufgrund ihrer liminalen bzw. marginalen Position kaum Einfluss auf das soziale Umfeld ausüben, in dem sie sich bewegen. Sie tragen Masken, passen sich an, aber greifen kaum ein und verharren meistens in ihrer Beobachterposition. Im ständigen Rollen- und Maskenwechsel des pícaro realisiert sich im Schelmenroman das Moment der Metamorphose, das bei Apuleius noch, wie wir gesehen haben, genuin phantastische Züge aufweist.96 Insofern lässt sich – vorläufig – konstatieren, dass der pícaro nicht handelnd in die ihn umgebende Welt eingreift, sie nicht verändert oder gar ‚von unten‘ revolutioniert, sondern sie abbildet, widerspiegelt: der Schelm ist eher Reflektor als Aktant. Auch durch diesen Akt der Widerspiegelung im Modus der Schelmenschelte manifestiert sich nicht zuletzt der inversive Charakter der Schelmenfigur.97

91 Ebd. 92 Ebd., S. 51. 93 Claudio Guillén: „Zur Frage der Begriffsbestimmung des Pikaresken“, S. 384. 94 Bachtin, Chronotopos, S. 51. 95 Ebd., 54. 96 Vgl. ebd., S. 53. 97 Vgl. dazu auch ebd., S. 88-90: „[...] ihre [d. h. der Schelmen, G. S.] Funktion liegt

ausschließlich im Veräußerlichen (zwar nicht des eigenen, sondern eines widergespie-

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Schon allein anhand dieser komplexen und weit zurückreichenden literarischen Archäologie der novela picaresca wird deutlich, dass der pícaro in seiner Funktion als Reflexionsfigur kaum als realistischer bzw. glaubwürdiger Repräsentant der unteren Gesellschaftsschichten angelegt ist, sondern von vornherein als überwiegend fiktionale Größe. Auf historische Darstellungen des spanischen Armutsprekariats zur Zeit des Siglo de Oro soll noch an späterer Stelle eingegangen werden. Auf jeden Fall kann an dieser Stelle im Zusammenhang mit dem historischen Kontext und hinsichtlich der autodiegetischen Erzählposition noch ein weiteres Motiv für die Erzählung in der Ich-Form genannt werden, nämlich das Umschiffen der staatlichen Zensur. Indem sich die Autoren der Romane hinter einem fiktionalen Erzähler verstecken, der wiederum aufgrund seiner gesellschaftshierarchisch äußerst niederen Position kaum in der Lage ist, einen aus Autoritätensicht legitimierten Diskurs hervorzubringen, legen sie die Verantwortung für das Geschriebene in die Hände eines Ortlosen, ja eines Outlaws, dessen Stimme kaum Gewicht hat, was wohl nicht zufällig an die mittelalterliche Narren-Figur erinnert. Dieses Versteckspiel funktioniert jedoch nur sehr eingeschränkt, da es erhebliche Glaubwürdigkeitsdefizite gibt, was das Verhältnis zwischen dem Text des Schelms und seiner beschriebenen Herkunft und Sozialisation angeht. Die Korrelation sozialer Stand vs. Bildungsgrad wird durch die kenntnisreiche Gesellschaftskritik vollkommen ausgehebelt – von den ersten Zeilen des Lazarillo an fragt man sich unwillkürlich: Wo nimmt der pícaro all sein Weltwissen, seinen vorzüglichen Ausdruck und seine durch allerlei klassische Zitate unterfütterte humanistische Bildung her? Bei Alemán potenziert sich diese Unwahrscheinlichkeit noch um ein vielfaches, da der Guzmán nicht nur aufgrund seines überbordenden Handlungsreichtums so umfangreich ausgefallen ist, sondern vor allem aufgrund seiner langen reflexiven Passagen, die ihrerseits aufgrund des legitimatorischen Duktus’ den normativen Vorgaben des Zensurapparates geschuldet

gelten fremden Seins – aber ein anderes haben sie ja auch nicht). [...] Damit war die Seinsform eines Menschen gefunden, der am Leben unbeteiligt teilhat, der es immer nur beobachtet und es widerspiegelt, und zugleich waren die spezifischen Formen der Widerspiegelung – Veröffentlichung – des Lebens gefunden. (Eine sehr alte Funktion des Narren besteht zudem darin, auch solche Lebenssphären zu veröffentlichen, die – wie die Sexualsphäre – ganz und gar nicht öffentlich sind).“ Ob dem Schelm tatsächlich nur diese rein widerspiegelnde Seinsform zu eigen ist, muss im Folgenden noch näher überprüft werden.

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sind.98 Die Literarizität der pícaro-Figur, ihr Status als Reflexionsfigur verdankt sich also in hohem Maße der autodiegetischen Erzählinstanz. Wir haben es daher nicht nur mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, der seine Leser implizit dazu auffordert, das Geschriebene mit aller gebotenen Vorsicht zu rezipieren und „die von ihm erzählte Geschichte gegen den Strich zu lesen“99, sondern mit einem unwahrscheinlichen Erzähler, der als Figur gegen die logischen Regeln der von ihm selbst entworfenen Diegese massiv verstößt und damit eine Kluft aufreißt zwischen dem Wissen des erzählenden und der Lebensgeschichte des erzählten Ichs.100 Die fiktionsbetonende Ich-Form in der novela picaresca hat auch Auswirkungen hinsichtlich des Fokus auf den Schwerpunkt der Männlichkeit(en) im Schelmenroman. Vorläufig lässt sich auch dieser Themenkomplex gemäß den bereits etablierten Dichotomien differenzieren: Krise und Kritik, Schelmenbeichte und Schelmenschelte, erzählendes und erzähltes Ich. Bachtin schreibt über Apuleius’ Metamorphosen, dass es sich dabei um eine „Form der Sinngebung und Darstellung des menschlichen Einzelschicksals“ handelt, die im Zyklus von „Krise und Wiedergeburt“ steht.101 Diese Einschätzung kann problemlos auf die novela picaresca übertragen werden. Das pseudoautobiografische Narrativ um einen männlichen Ich-Erzähler schildert daher immer auch die krisenhafte Mannwerdung aus der Innenperspektive („als Jüngling bricht er auf, als Mann kehrt er zurück“102) – ganz im Gegensatz zum Helden im späteren Bildungs- und Entwicklungsroman, dessen Lebensweg wir, unter Ausnahme von Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857), von einem heterodiegetischen Erzähler vermittelt bekommen.

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Zumindest halbherzig wird der humanistische Gehalt der moralistischen Passagen dadurch erklärt, dass Guzmán kurz vor Ende des Romans noch ein TheologieStudium beginnt, das er jedoch schnell wieder abbricht.

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Bauer: Der Schelmenroman, S. 25.

100 Aus den dargestellten Gründen erweist sich das von Lejeune aufgestellte Analyse-

modell des ‚autobiografischen Paktes‘, das die Identität von Autor, erzählendem und erzähltem Ich postuliert, als unbrauchbar (vgl. Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique, Paris 1975, S. 14). Allerdings konzentrieren sich Lejeunes Darstellungen auf die autobiografische Literatur der Moderne ab Rousseau. Der pseudoautobiografischen Fabulierfreude der Schelmenromane ist dieses Modell nicht gewachsen (vgl. auch Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 54f). 101 Bachtin: Chronotopos, S. 40 (kursiv i. O.). 102 Ebd., S. 46.

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Trotz der Unterschiede der drei hier zu untersuchenden novelas picarescas – vor allem auch hinsichtlich ihrer Länge – erweist sich doch die Schilderung des eigenen Lebensweges als grundlegend analog, ja geradezu schematisch in der Abfolge der sozialisatorischen Etappen103: Herkunft aus zweifelhaftem Elternhaus, Abnabelung von der Mutter, Initiation, Wanderung, wechselnde Arbeitsverhältnisse, Überlebenskampf, Lernen durch Beobachten und Nachahmung, Verlust der moralischen Integrität, Läuterung. Allein der letzte Punkt birgt signifikante Unterschiede zwischen den drei Texten, wie noch zu zeigen sein wird. Die einzelnen schematisch arrangierten Stationen des Lebensweges entsprechen durchaus der problematischen Sozialisation eines männlichen Heranwachsenden, welche die Herausbildung der geschlechtlichen Identität mit einschließt, worauf auch Erharts Einschätzung von Männlichkeit als narrativer Struktur abzielt, die nach bestimmten scripts und patterns erfolgt. Bachtin sieht in der narrativen Ausgestaltung der pikarischen Lebensgeschichte im ‚abenteuerlichen Alltagsroman‘ die „Realisierung der Metapher ‚Lebensweg‘“ vollzogen: „Charakteristisch ist für den Roman insbesondere, daß der Lebensweg des Menschen (in seinen entscheidenden Peripetien) mit dessen realem räumlichen Weg, d. h. mit dessen Wanderungen verschmilzt.“104 Wichtig ist demnach, dass der Genese männlicher Identität in der novela picaresca eine narrative Struktur zugrunde liegt, die – entsprechend der deambulatorischen Diegese – gleichermaßen auf der räumlichen und der zeitlichen Achse, folglich chronotopisch abläuft. Den Ausgangspunkt bildet, wie bereits gesagt, die Abnabelung vom elterlichen Heim, wobei besonders die Loslösung von der Mutter im Vordergrund steht, da der Vater zu diesem entscheidenden Zeitpunkt bereits abwesend oder tot ist. Insofern beginnt die Lebensreise des pícaro mit einer initialen Abspaltung von Weiblichkeit, die bei Quevedo besonders drastisch ausfällt. Dieser Ausgangspunkt männlicher Identitätsbildung ist in der vormodernen europäischen Literatur keineswegs neu – als prominenter Vorläufer wäre beispielsweise Chrétien de Troyes’ Perceval zu nennen. Neu ist indes die symbolische Aufladung dieser Verlusterfahrung vor allem im Lazarillo und im Buscón; ja sogar in modernen Schelmenromanen wie dem Felix Krull spielt das Psychodrama der Ablösung von der

103 Bjornson schreibt dazu im Hinblick auf die drei spanischen Schelmenromane: „[...] it seems possible to interpret the evolution of picaresque fiction as a sequence of different world views operating within the limitations of a relatively constant formal and thematic structure.“ Das pseudoautobiografische Narrativ der Gattung dient dabei als „characteristic pattern of experience“ (The Picaresque Hero in European Fiction, S. 4, 7). 104 Bachtin: Chronotopos, S. 46.

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Mutter eine eminent wichtige Rolle und besitzt Strahlkraft auf den weiteren Verlauf der geschilderten Lebensberichte.105 Erhart beschreibt dieses folgenreiche Erlebnis im Leben des jungen Helden als „riskanten Prozeß“ und bewertet ihn wie folgt: Männlichkeit entsteht als Negation einer primären, durch die Mutter-Kind-Beziehung gegebenen Weiblichkeit, von der sich der Mann jeweils emanzipieren und losreißen muß; die Entfernung vom maternalen Ursprung erzeugt Unsicherheit und Angst auf der einen, Sehnsucht und Nostalgie nach Verschmelzung und Wiedervereinigung mit der verlorenen Symbiose auf der anderen Seite.106

Beide Folgeerscheinungen – Negation und Sehnsucht nach Wiedervereinigung – bestimmen die Männlichkeitskonstruktion des pícaro auf je unterschiedliche Weise, bei Quevedo sogar gesteigert bis hin zur angestrebten, wenngleich missglückten Abjektion des Weiblichen schlechthin. Als nächste Station findet die Initiation des pícaro statt, jenes „rude awakening which shocks him into an awareness of what he must do in order to survive.“107 Diese primäre Erfahrung des desengaño führt den Schelm ein in die Gesetzmäßigkeiten der „dehumanizing society“.108 Die sich anschließenden Wander- und Lehrjahre werden vor allem bestimmt durch wechselnde Anstellungsverhältnisse bei unterschiedlichen Dienstherren. Hier bietet sich dem pícaro die Möglichkeit, seine männliche Identität durch Beobachtung und Studium weiter aufzubauen. Inwiefern sich dieser ständige Wechsel der Vorgesetzten auch als recherche du père perdu lesen lässt, muss von Fall zu Fall überprüft werden. Feststeht, dass der episodische Sozialisationsprozess das Maskenspiel des pícaro fördert, das er schließlich in Perfektion beherrscht. Er ahmt die männlichen performances seiner Herren nach und integriert diese in sein gleichermaßen maskenhaftes Selbstbild. Es wurde vielfach diskutiert, ob der pícaro im Laufe dieser aufeinanderfolgenden Etappen tatsächlich eine Entwicklung durchläuft oder ob er zu Beginn jeder neuen Episode stets wieder bei Null anfängt und eine im Grunde eindimensionale, flache Fi-

105 Zur Auflösung der Mutter-Sohn-Beziehung in Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954) vgl. Verf.: „Der männliche Schein“. 106 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 177. Vgl. dazu auch: Juliana Schiesari: The

Gendering of Melancholia. Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolic of Loss in Renaissance Literature, Ithaca/London 1992. 107 Bjornson: The Picaresque Hero, S. 6. 108 Ebd., S. 11.

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gur bleibt,109 da er, so der Tenor, nicht wirklich von den Widerfahrnissen auf seinem Lebensweg emotional tangiert wird. Allerdings widerspricht diesem allzu kurzsichtigen Befund die Tatsache, dass bereits sehr schnell aus dem naiven Jüngling ein gewitzter Kleinkrimineller wird, der sich den Erfordernissen seiner Umgebung rasch anzupassen versteht: Faced with the common human problem of providing himself with both physical sustenance and a psychologically satisfying self-image, [the] picaresque hero internalizes the dehumanizing patterns of the dominant society und thus acquires a character which he did not have by nature.110

Einsicht, Reue und Läuterung am Ende der Geschichten – so zumindest im Lazarillo und besonders stark im Guzmán, weniger hingegen bei Quevedo – sind insofern mit der nötigen Skepsis zu betrachten, „als die Unaufrichtigkeit den gemeinsamen Nenner aller Sprach-, Denk- und Verhaltensweisen“ auf dem Lebensweg des Schelms darstellt und daher zu einer grundsätzlichen „Reversibilität der Auffassungsperspektiven“111 führt. Auch hier spielt sicher das Wirken der Zensur eine nicht unerhebliche Rolle, möglicherweise aber auch der Bezug zu den klassischen Prätexten von Augustinus und Apuleius. Soviel zur krisenhaften Schelmenbeichte, deren Protagonist das erzählte Ich darstellt und innerhalb derer die eigene Männlichkeit als narrativ sowie performativ hergestellte Persönlichkeitsstruktur dargeboten wird. Die damit untrennbar verbundene Kehrseite bildet die vom erzählenden Ich hervorgebrachte kritische Schelmenschelte, die wiederum einen Blick von außen auf die Männlichkeitsmodelle des Siglo de Oro wirft. Hier wiederum nimmt der Guzmán eine Sonderstellung ein, weil die Gesellschaftskritik dort nicht nur auf satirische Weise in den Lebensbericht des Titelhelden integriert ist, sondern in Form von digressiven moralistischen Passagen explizit gemacht wird. Somit nimmt Alemán seinem Erzähler auch den letzten Funken Glaubwürdigkeit, da die kenntnis- und geistreichen Kommentare zum moralischen Ist-Zustand der spanischen Gesellschaft in keinem Verhältnis zum Bildungsstand ihres fingierten Urhebers stehen. Davon abgesehen werden die Zielscheiben der Schelmenschelte in den episodi-

109 Vgl. dazu den noch zu diskutierenden Befund von Jacobs: „Bildungsroman und Pícaro-Roman“, S. 29: „Der Pikaro lernt also nach seiner Initiation in die schlechte Welt nur die Tricks der Selbstbehauptung. Einen Prozeß moralischer Erziehung und persönlicher Reifung durchläuft er nicht.“ 110 Bjornson: The Picaresque Hero, S. 11. 111 Bauer: Der Schelmenroman, S. 29f.

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schen Erzählfluss eingebettet und zumeist durch die Nebenfiguren der novela picaresca verkörpert. Bjornson merkt dazu an: Because picaresque heroes wander from place to place and traverse various social milieux, they encounter many different people, and by momentarily focusing upon these secondary characters, the author can depict a cross section of contemporary manners, morals, and idiosyncrasies. By satirizing or parodying these characters, an author may be distorting reality, but because distortions are produced according to recognizable principles, it is usually possible to identify the ideological and moral assumptions which mediate between perceived reality and the literary representation of it.112

Die Streifzüge des Protagonisten bringen ihn tatsächlich mit unterschiedlichen Milieus in Berührung, während die Nebenfiguren, die ihm dort begegnen (nicht nur die Vorgesetzten) jeweils als Vertreter ihres Standes interpretiert werden können und dadurch eher Typencharakter aufweisen als individuelle Modellierung. Auf diese Weise, man könnte hier durchaus von Metonymisierung sprechen, funktioniert die Gesellschaftskritik des Schelms. Bjornson spricht an dieser Stelle von literarisch generierten „distorsions“, also Zerrbildern der Wirklichkeit, was man näher differenzieren kann: Nicht nur das Verfahren der Metonymisierung kennzeichnet das vermittelte Gesellschaftsbild, sondern ebenfalls die karnevaleske Inversion, die wiederum durch den sezierenden, d. h. entlarvenden Blick des halben Außenseiters auf die Kehrseiten der gesellschaftlichen Ideale und Normen ermöglicht wird. Die Tatsache, dass diese Verfahren als solche deutlich markiert sind und immer den Bezug zu den „recognizable principles“ der Gesellschaft wahren, macht dem Leser, der „in die Lage eines satirischen Scharfrichters versetzt wird“,113 die Entschlüsselung der kritischen Botschaften nicht immer leichter. Da die in der pikaresken Typenrevue auftauchenden Nebenfiguren, insbesondere die Herren der pícaros, in der Mehrzahl männlichen Geschlechts sind, liegt es nahe, die vorgebrachte Schelmenschelte auch als Männlichkeits- bzw. Patriarchatskritik zu interpretieren. Die Auswahl der männlichen Sozialfiguren scheint dem Gebot der Repräsentativität verpflichtet: vom Bettler bis zum Adeligen, vom Geistlichen niederer Stufe bis zum Kardinal, vom Studenten bis zum Hidalgo, vom Handwerker bis zum Botschafter. Das in der novela picaresca entworfene Sammelsurium bietet folglich einen panoramatischen Überblick über Vertreter unterschiedlichster Männlichkeitsmodelle und zugleich über die vor-

112 Bjornson: The Picaresque Hero, S. 9. 113 Bauer: Der Schelmenroman, S. 27.

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herrschenden Machtbeziehungen zwischen ihnen. Das subversive Potenzial dieser Art von Gesellschafts- und Männlichkeitskritik erwächst sowohl aus der gesellschaftlichen Position des Kritikers als auch aus der Art der Vermittlung in der Ich-Form. Im Gegensatz zu späteren Erzählformen mit auktorialen Erzählern, die dem Leser ein Panorama gleichsam aus der Vogelperspektive bieten, scheint auf den ersten Blick die Sicht des pícaro ‚von unten‘ eingeschränkter und durch die vorgegaukelte Subjektivität nur wenig aussagekräftig. Hinzu kommt, dass die Glaubwürdigkeit eines Kleinkriminellen, des pikarischen engañador, nur bedingt gegeben ist, da seine „rhetorischen Tricks und Erzählstrategien [...] als direkte oder indirekte Verlängerung seiner Betrugsmanöver in die literarische Zeichenpraxis verstanden werden können.“114 Objektivität und Glaubwürdigkeit bleiben demnach auf der Strecke – scheinbar. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der satirische Sprachgestus auf stilistischer Ebene den inversiven Charakter der Diegese wiedergibt, mithin den Strukturen der verkehrten Welt auch rein rhetorisch gerecht wird, vermag der Leser den Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit im Rahmen seiner Komplementärlektüre zu entschlüsseln. Dieses Gebot der skeptischen Gegenlektüre gilt noch stärker für die Schelmenbeichte als für die Schelmenschelte, ist der pícaro doch zuallererst darauf bedacht, sich selbst innerhalb der pseudokonfessorischen Selbstdarstellung besser erscheinen zu lassen als er tatsächlich ist, eine frühe Form von Selbstmarketing könnte man sagen. Die Darstellung der überwiegend feindlich gesinnten Gesellschaft lässt solche Zweifel an der Glaubwürdigkeit nicht in dem Maße aufkommen, was wiederum die „dialektische Beziehung zwischen individuellen Verhaltensweisen und kollektiven Verhaltensmustern“115 insgesamt prägt und die Interpretation durch den Leser in eine bestimmte Richtung lenkt. Bauer konstatiert zwar, dass die Auffassungsperspektiven innerhalb dieser bipolaren Erzählanlage vollkommen reversibel seien, doch indem der Schelm die Gesellschaft weitaus weniger fabulierfreudig und rechtfertigend – mithin ‚realistischer‘ – darstellt als das eigene Selbst, legen die Texte eine Lesart nahe, die kaum Deutungsspielräume zulässt: Die Gesellschaft korrumpiert das Individuum; die Lehrjahre des Schelms sind Lehrjahre der antihumanistischen Bildung, was unter dem Strich die zunehmende eigene Verderbtheit rechtfertigt. Schelmenbeichte und Schelmenschelte, krisenhaftes Selbst und kritisch betrachtetes Gesellschaftsbild sind daher trotz aller Unterschiede im Darstellungsmodus untrennbar miteinander verbunden, bedingen sich gegenseitig. Der pícaro ist das Produkt seiner Umwelt, verschleiert jedoch permanent die eigene Ver-

114 Ebd. 115 Ebd.

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derbtheit, was er wiederum auch von der Gesellschaft gelernt hat, so dass irgendwann die Grenzen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Maskerade und ‚authentischem‘ Selbst, letztlich zwischen Schein und Sein kaum noch auszumachen sind – es herrscht die universale Maske. Entscheidend dabei ist, dass das Tragen dieser Masken nicht als souveräner Akt im luftleeren Raum zu denken ist, sondern immer auf einen direkten Bezug zum sozialen Raum angewiesen ist, ganz im Sinne einer „Gesellschaftsmaske“, die „als Medium der Anpassung des Individuums an die Gesellschaft“116 fungiert. Diese soll im besten Fall das zeigen, „was der Erwartung der Gesellschaft entspricht.“117 Die am Beispiel des pícaro vorgenommene kulturkritische Widerspiegelung der spanischen Gesellschaft schließt, wie bereits gesagt, das Nachdenken über Männlichkeit und Männlichkeitsideale mit ein. Die Gattung stellt ein klar definiertes Narrativ bereit, das auf episodische Weise den Prozess männlicher Sozialisation organisiert, d. h. Männlichkeit wird bereits qua Gattung als narrative Struktur sichtbar gemacht. Vieles an dieser Struktur, darauf wurde bereits hingewiesen, erinnert an das Narrativ des Bildungsromans, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Lehre des Schelms nicht teleologisch gedacht wird, um nach humanistischen Idealen ein gesellschaftsfähiges Subjekt hervorzubringen. Nimmt man jedoch die Gesellschaftskritik der Schelmenromane ernst und erkennt deren Entlarvungspotenzial, das genau diese Ideale als vordergründigen Schein ohne substantielle ethische Grundlage enttarnt, dann erweisen sich die pícaros sehr wohl als gesellschaftsfähig im Sinne des mundus inversus, der den Romanen als gesellschaftliche Matrix zugrunde liegt. So verstanden ließe sich der Schelm in seiner Funktion als kulturkritische Denkfigur analog als vir inversus bezeichnen, denn die christlich-humanistischen Normen und Werte, die zumindest an der Oberfläche das gesellschaftliche Miteinander regulieren, bestimmen auch das vorherrschende Männlichkeitsideal, das der Schelm als ebenso scheinheilig entlarvt. Hierbei spielt nicht nur der karnevaleske mundus inversus eine wichtige Rolle, sondern auch der für den Barock epochentypische Topos des theatrum mundi, dem nicht zuletzt Calderón de la Barca mit seinem einflussreichen Stück El gran teatro del mundo (1655) ein Denkmal setzt.118 Das Ver-

116 Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2003, S. 87. 117 Ebd. 118 Vgl. die berühmte Rede des „Autor“ gegenüber dem „Mundo“ in: Pedro Calderón de

la Barca: El gran teatro del mundo / Das große Welttheater. Spanisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Gerhard Poppenberg, Stuttgart 2012, Verse 35-66: „Pues soy tu Autor, y tú mi hechura eres, / hoy, de un concepto mío / la ejecución a tus aplausos

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ständnis von der Welt als Theater lässt sich mit der Epochensignatur des desengaño zusammendenken, und das in den Texten vorherrschende Spannungsfeld von Schein und Sein, Maskenspiel, Verstellung und Täuschung wird in seiner Rezeptionsgeschichte immer mehr zum gesamteuropäischen Kulturphänomen, zum anthropologisch-philosophischen Denkmuster, das nicht nur Philosophen wie Nietzsche ein ganzes Leben lang faszinierte, sondern bis weit in die Gegenwart hinein weiterentwickelt wurde, so z. B. in der theatralen Interaktionssoziologie nach Erving Goffman oder in den Performativitätstheorien von Judith Butler.119 Für die Gattung des Schelmenromans gehört die Sein-ScheinProblematik ganz zweifelsfrei zu den wichtigsten Konstitutionsmerkmalen, die bereits bei der Erzählperspektive beginnt. Die pícaros betätigen sich als „kreative Konstrukteure der eigenen Identität“120, benutzen dabei den Modus der Beichte bzw. der Bekenntnisse als „Genreform-Maske“121 und kreieren eine fingierte Autobiografie mit einem höchst unzuverlässigen Erzähler. Indem sie selbst eine solche Maske tragen, demaskieren sie gleichzeitig ihre Umwelt. Männlichkeit erweist sich in diesem theatral-inversiven Raum als genauso maskenhaft, was jeweils exemplarisch im Rahmen der pikaresken Typenrevue an bestimmten Sozialfiguren demonstriert wird: Unter beinahe jeder wohlfeilen Maske lauert ein stets gewaltbereiter Wolf, ob bei den nach außen die Caritas

fío: / una fiesta hacer quiero / a mi mismo poder, si considero / que sólo a ostentación de mi grandeza / fiestas hará la gran naturaleza; / y como siembre ha sido / lo que más ha alegrado y divertido / la representación bien aplaudida, / y es representación de la humana vida, / una comedia sea / la que hoy el cielo en tu teatro vea. / Si soy Autor, y si la fiesta es mía, / por fuerza la ha de hacer mi compañía. / Y pues que yo escogí de los primeros / los hombres, y ellos son mis compañeros, / ellos en el Teatro / del Mundo, que contiene partes cuarto, / con estilo oportuno / han de representar. Yo a cada uno / el papel le daré que le convenga; / y porque en fiesta igual su parte tenga / el hermoso aparato / de apariencias, de trajes el ornato, / hoy prevenido quiero / que, alegre, liberal y lisonjero, / fabriques apariencias / que de dudas se pasen a evidencias. / Seremos, yo el Autor, en un instante, / tú el teatro, y el hombre el recitante“ (S. 8, 10). 119 Vgl. u. a. Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959; Butler: „Performative Acts“. 120 Julia Schöll: „‚Verkleidet also war ich in jenem Fall‘. Zur Identitätskonstruktion in Joseph und seine Brüder und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, in: Thomas Sprecher/Ruprecht Wimmer (Hrsg.): Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 18, Frankfurt/M. 2005, S. 9-29, hier: S. 16. 121 Bauer: Der Schelmenroman, S. 20.

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propagierenden Vertretern des Klerus, den Hauslehrern, den Handwerkern, den Mitleid heischenden Bettlern oder den Adeligen. Der pícaro, der meist durch sein Anstellungsverhältnis im direkten sozialen Kontakt mit ihnen steht, deckt diese Doppelmoral einerseits auf und macht sie sich andererseits zu eigen, um selbst im Maskenspiel der Männlichkeiten zu reüssieren.

2.3 K ÖRPER

UND K ÖRPERLICHKEIT IN DER NOVELA PICARESCA

Zu den Eigentümlichkeiten der novela picaresca gehört eine aus heutiger Sicht übermäßige Darstellung körperlich-kreatürlicher Praktiken sowie ein Körperbild, das dem stereotypen klassizistischen Antikeideal von „edler Einfalt und stiller Größe“122 diametral gegenübersteht. Die pikareske Inszenierung des männlichen Körpers, die man mit Bachtin als eine „groteske Körperkonzeption“123 interpretieren kann, greift, so scheint es, sehr viel eher auf die mittelalterliche Schwanktradition und Farcenkomik124 zurück als auf die idealisierten antiken Körperbilder, wie sie Winckelmann in seiner kanonischen und für die Rezeption der griechischen Bildhauerkunst folgenreichen Mimesis-Studie beschrieben hat.125 Des

122 Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst [1755], Stuttgart 1969, S. 20: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als auch im Ausdrucke.“ 123 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 345-347. Bachtin selbst macht auf den Gegen-

satz aufmerksam zwischen dem Körperideal der klassischen Antike und dem grotesken Realismus der Frühen Neuzeit: „Natürlich steht diese vorläufig umrissene Körperkonzeption des grotesken Realismus in krassem Widerspruch zu den Kanons der Literatur und der bildenden Kunst der ‚klassischen‘ Antike, die Grundlage der Renaissance-Ästhetik waren und auch die weitere Entwicklung der Kunst beeinflußten“ (S. 79). 124 Vgl. Volker Roloff: „Mittelalterliche Farcenkomik bei Rabelais und im Lazarillo de

Tormes“, in: Zeitschrift für romanische Philologie 103 (1987), S. 49-67; die mittelalterliche Schwanktradition ist allerdings auf der iberischen Halbinsel nicht ganz so einflussreich wie im mitteleuropäischen Raum. 125 Es sei darauf hingewiesen, dass im mittelalterlichen Heldenlied – im Gegensatz zur

Farce oder zum Fabliau – das männliche Körperideal eher im Zeichen einer antiken, entindividualisierten Modellierung steht, so z. B. sehr markant in der Chanson de Roland, wie u. a. folgende formelhaften Beschreibungen männlicher Figurenkörper

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Weiteren gehört zu den maßgeblichen Körperpraktiken in der novela picaresca der massive Einsatz von Gewalt, der, so scheint es, nicht nur dem oftmals lustvoll-spielerischen, mithin sadistisch intonierten Selbstzweck dient, sondern als gängige Kommunikationsstrategie im pikaresken Sozialraum des mundus inversus betrachtet werden kann. Gewalt dient dort häufig dazu, Machtkonstellationen herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten oder aber erzieherische Ziele zu verwirklichen, denen Machtgefälle zwischen den Akteuren zugrunde liegen. Der männliche Körper ist demnach der bevorzugte Austragungsort von Gewaltausübung, insbesondere die pícaros sind nahezu täglich von körperlicher Gewalt bedroht und werden am häufigsten zu Opfern regelrechter Züchtigungswut, wobei die Körpergrenzen, entsprechend der grotesken Modellierung, ständig durchbrochen werden. Wenn Theweleit in seiner einflussreichen Studie Männerphantasien (1977/78) den Körper des faschistischen Kämpfers als veritablen „Körperpanzer“126 charakterisiert, so zeigt sich einmal mehr die Historizität solcher Modelle. Die Körperästhetik des Faschismus lehnt sich wiederum an antike Vorbilder an, wovon u. a. die Filme Leni Riefenstahls zeugen.127

belegen: „Gent out le cors e les costes out larges; Tant par fut bels tuit si per l’en esguardent“ (V 284/85); „Cors ad mult gent, le vis cler e riant“ (V 1159); „Gent ad le cors, gaillart e ben seant“ (V 3115); „Graisles [l]es flancs e larges les costez; Gros ad le piz, belement est mollet, Lees les epalles e le vis ad mult cler (V 3158-60); alle Zitate aus: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig, übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck, Stuttgart 1999. Diese Beobachtung legt den Schluss nahe, dass die mittelalterliche Konzeption des männlichen Körpers in enger Beziehung zur Gattung und mithin zum stilistischen Register der Textkörper steht: Während der Schwank den grotesk-komischen Körper in Szene setzt, zelebriert das Heldenepos den männlichen Körper als kraftvoll und statuarisch anmutend. Bernhard Teuber weist in seiner Auseinandersetzung mit Bachtin zurecht darauf hin, dass es nicht ‚das‘ klassisch-antike Körperbild gegeben hat, sondern unterscheidet zwischen dem von Winckelmann beobachteten und dem von Nietzsche entdeckten dionysischen Körperbild: „Bachtin, dem wir eher eine Nietzschesche als eine Winckelmannsche Auffassung der Antike zutrauen dürfen, hat gute Gründe, das Bild des grotesken Körpers auch für das griechische und römische Altertum in Anschlag zu bringen“; in: Bernhard Teuber: Sprache – Körper – Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit. Tübingen 1989, S. 135. 126 Klaus Theweleit: Männerphantasien 1+2, München/Zürich 2000, bes. I, S. 249f; II, S. 221-223. 127 Vgl. Daniel Wildmann: „Kein ‚Arier‘ ohne ‚Jude‘. Zur Konstruktion begehrter Männerkörper im ‚Dritten Reich‘“, in: Julika Funk/Cornelia Brück (Hrsg.): Körper-

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Die Modellierung des männlichen Körpers in der novela picaresca hingegen kann, wie angedeutet, eher in Anlehnung an Bachtin mit der ästhetischen Kategorie des Grotesken beschrieben werden: Das Groteske vereint den verfallenden, schon deformierten Körper mit dem noch nicht entwickelten, gerade gezeugten, neuen Leben. Hier wird das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozeßhaftigkeit gezeigt, nichts ist fertig, die Unabgeschlossenheit selbst steht vor uns. Genau darin besteht die groteske Körperkonzeption. Im Gegensatz zu den neuzeitlichen Kanons ist der groteske Körper nicht von der umgebenden Welt abgegrenzt, in sich geschlossen und vollendet, sondern er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen. Er betont diejenigen Körperteile, die entweder für die äußere Welt geöffnet sind, d. h. durch die die Welt in den Körper eindringen oder aus ihm heraustreten kann, oder mit denen er selbst in die Welt vordringt, also die Öffnungen, die Wölbungen, die Verzweigungen und Auswüchse: der aufgesperrte Mund, die Scheide, die Brüste, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase. Das Wesen des Körpers als das Prinzip des Wachstums und Über-sich-hinaus-Wachsenden enthüllt sich nur in Momente wie dem Koitus, der Schwangerschaft, der Geburt, dem Todeskampf, dem Essen, Trinken und SichEntleeren.128

Diese Definition scheint auf den ersten Blick auch das Körpermodell des Schelmenromans zu erfassen129, da einige der von Bachtin aufgelisteten Aspekte, die er selbst bekanntlich bei Rabelais mustergültig realisiert sieht, die körperliche Ästhetik der novela picaresca bestimmen, insbesondere die Deformation, die Formlosigkeit, das Prozesshaft-Werdende, das Grenzüberschreitende und Durchlässige sowie schließlich das Abstoßende des Körpers. Ebenso kennzeichnet der narrative Fokus auf bestimmte, häufig hyperbolisch überzeichnete Körperteile (Öffnungen und Auswüchse), der den Körper in bestimmte Einzelpartien zer-

Konzepte, Tübingen 1999, S. 59-82: „Auch Riefenstahls Inszenierung des nackten Athleten verleiht seinem Körper die Macht, Grenzen zu ziehen. Licht und dralle, feste Muskeln modellieren ihm ein hartes Schutzschild, panzergleich. Riefenstahl ist darauf bedacht, seine Unversehrtheit bewahren zu können. Dafür erweitert sie den Antikenrekurs in der Plastik des 19. Jahrhunderts: Der männliche Körper fungiert zugleich als Ideal und als Abwehrinstanz“ (S. 76). 128 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 76, 80. 129 Zur Kritik an Bachtin und der Unzulänglichkeit seines grotesken Körper-Modells

vgl. Hans Rudolf Velten: „Grotesker und komischer Körper. Für ein performatives Körperkonzept“, in: Eva Erdmann (Hrsg.): Der komische Körper. Szenen – Figuren – Formen, Bielefeld 2003, S. 145-153, bes.: S. 147f.

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gliedert, häufig die Schilderungen des Körpers im Schelmenroman – beispielhaft sei auf die kunstvolle (und zugleich künstliche) Beschreibung von Pablos’ Hauslehrer Cabra im Buscón verwiesen, die in Kap 5.2 noch näher untersucht wird. Auch wenn Bachtin in seiner Auflistung der entsprechenden Körperteile mit der Scheide, den Brüsten und dem Phallus auf die physischen Geschlechtsmerkmale eingeht und auch den Koitus als mögliche Form des körperlichen Austauschs, bleibt seine groteske Körperkonzeption für die hier zu diskutierende Fragestellung nach der geschlechtlichen Kodierung des Körpers unzureichend.130 Bachtin spricht ansonsten kaum von grotesken Materialisierungen des Körpers, die einen genuin geschlechtskonstitutiven Charakter im Sinne binärer Differenz aufweisen. Diese Leerstelle entspricht dem Körperbild der novela picaresca. Allenfalls lässt die typische Analogie der hyperbolisch gezeichneten Nase mit dem Phallus Rückschlüsse auf ein Körpermodell zu, das den männlichen Körper sozusagen als normatives „telos“131 setzt. Die nur in begrenztem Maße stattfindende Differenzierung in einen männlichen und weiblichen Körper liegt sicherlich auch im fusionierenden Wesen des Grotesken begründet: Bachtin spricht zwar mit dem Verschmelzen von Tod und Geburt im Bild der schwangeren Alten eher die soziale Kategorie des Alters an, aber warum sollte der grundsätzlich entgrenzte, formlose groteske Körper nicht auch die Kategorie Geschlecht in seine transgressive Ambivalenz einschließen?132 Hier mögen auch – in Ergänzung zur Groteske als Erklärung mangelnder geschlechtlicher Differenzbildung – archaisch-biblische Vorstellungen greifen, so etwa das Adam-und-Eva-Schema „which sends the message that the male body is the originary body from which the female body is created, so some might believe that the idea of the husband as the norm and of the wife as his extension is already proven by this myth.“133 Das von Thomas Laqueur für die Zeit von der

130 Hier wird deutlich, dass Bachtin eher die ‚Rabelais’sche Welt‘ und deren Körpermodell vor Augen hat, wo sexuelle Obszönitäten eine weitaus wichtigere Rolle spielen als in der novela picaresca. 131 Vgl. Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge/Mass./London 1992, S. 6. 132 Auch Teubers Argumentation geht in diese Richtung, wenn er zur grotesken Körperästhetik schreibt: „Die Grenzen zwischen den Geschlechtern und den einzelnen Körperregionen sind nicht aufgehoben, aber sie werden durchlässig, insofern überall gegenseitige Beeinflussung stattfindet“ (in: Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 145). 133 Todd W. Reeser: „Theorizing the Male Body“, in: ders.: Masculinities in Theory. An Introduction, Chichester 2010, S. 91-118, hier: S. 93. Vgl. dazu auch Wolfgang

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Antike bis ins 18. Jahrhundert als maßgeblich charakterisierte „one-sex model“134, das postuliert, dass Frauen nach innen gekehrte und damit weniger vollkommene Männer seien, was wiederum bedeutet, dass „at least two genders correspond to but one sex“135, mag ebenfalls dafür verantwortlich sein, dass es in der novela picaresca kaum distinkte Körperbilder gibt, die die Rede von einem genuin männlichen Körper legitimieren würden bzw. die einen männlichen Körper in Abgrenzung zum weiblichen entwerfen. Laut Laqueur „[t]here was still in the sixteenth century, as there had been in classical antiquity, only one canonical body and that body was male.“136 Die klassischen Theorien von Galen, Hippokrates oder Aristoteles, denen zufolge Frauen eben als „inverted, and hence less perfect, men“137 betrachtet wurden, gelten hinsichtlich der physischen Konzeption der beiden Geschlechter immer noch als sehr einflussreich. Den Übergang zum Zwei-Geschlechter-Modell datiert Laqueur erst auf den Beginn des 18. Jahrhunderts. Dass diese kultur- und diskurshistorische Genealogie der Zweigeschlechtlichkeit nicht unumstritten ist,138 ändert nur wenig daran, dass Laqueur vor allem aus medizinhistorischer Sicht diskursmächtige Quellen nennt, die für die Körperpolitik der Frühen Neuzeit von Gewicht sind und eine seiner Haupt-

Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien/Köln/Weimar 2003, S. 68: „Andere Vorstellungen konnten sich demgegenüber nur sehr langsam durchsetzen. Empirie musste sich letztlich gegen das durch die Geschichte von der Schaffung Evas aus der Rippe Adams geprägte körperliche Wahrnehmungsmuster durchsetzen.“ 134 Laqueur: Making Sex, S. 25-27. 135 Ebd., S. 25. 136 Ebd., S. 63. 137 Ebd., S. 40. 138 Vgl. dazu Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte, Frankfurt/M./New York

2010, S. 48f.: „Es gab in der Folge einige Kritik an diesem umstandslosen In-einsSetzen von wissenschaftlichem und politischem Diskurs; und es gab und gibt auch weiterhin berechtigte Zweifel an einer Untersuchung, die 2000 Jahre medizinischanatomischer Debatten in drei, vier Kapiteln [es sind de facto sechs, G. S.] abzuhandeln sucht. Dass der Diskurs vielschichtiger war, als Laqueur es beschreibt, darüber sind sich die meisten Kritikerinnen und Kritiker im Prinzip einig. Vor allem aber versäumt Laqueur, den epistemologischen Wandel (also den Wandel in den Erklärungsmustern und wissenschaftlichen Kontexten) genauer zu lokalisieren und nachzuzeichnen, wie dies Barbara Duden oder Claudia Honegger getan haben. Es bleibt aber ein Verdienst der Studie Laqueurs, auf die Historizität der Idee von der ‚natürlichen Zweigeschlechtlichkeit‘ hingewiesen zu haben.“

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thesen stützen, nämlich dass „[s]ex before the 17th century was still a sociological and not an ontological category.“139 Für den spanischen Schelmenroman lässt sich dieser Befund durchaus bestätigen. Der Körper als geschlechtlich markierter taucht kaum auf, obwohl die Romane von Körperlichkeit nur so strotzen, ja veritable Körper-Dramen vorführen und zwar mit einer eigentümlichen „Körpersemiotik“140, die „das Innere exzentrisch nach außen treten [läßt] und umgekehrt.“141 Zu den dramatischen Körperhandlungen gehören dementsprechend „Hinausstülpen – Eindringen – Ausstoßen – Zerstückeln – Entleeren – Verschlingen.“142 Insofern kann vorläufig festgehalten werden, dass auch die Körperästhetik der novela picaresca im Zeichen der karnevalesken Inversion steht und sowohl die Geist-Körper-Hierarchie des Renaissance-Humanismus zugunsten einer grotesken „Apotheose des Körpers“143 auf den Kopf stellt als auch Innen und Außen des Körpers im Modus des Umstülpens lustvoll, geradezu jubilatorisch144 invertiert. Auch hier geht es also um den „Abbau gesellschaftlicher Hierarchien“ und zwar durch die „Profanierung des Erhabenen und [die] Aufwertung einer oft genug obszön verstandenen Körperlichkeit.“145 Auch wenn dabei die grotesken Formen von Nase und Phallus zu den wiederkehrenden Motiven gehören, entziehen sie sich in der inversiven Körpersemiotik der Grotesken einer eindeutig geschlechtlichen Fixierung. Wenn wir nun von der Darstellung des Körpers selbst zur Körperlichkeit übergehen, also der „Leiblichkeitsthematik im literarischen Raum“146, die den Schelmenroman so stark prägt, muss auch hier nach den Spuren geschlechtlicher Kodierung Ausschau gehalten werden. Die These lautet: Wenn schon der Körper selbst im pikaresken Narrativ kaum geschlechtskonstitutive Merkmale aufweist,

139 Laqueur: Making Sex, S. 8. Dazu Schmale: Geschichte der Männlichkeit, S. 70: „Der Begriff des Eingeschlechtmodells richtet sich nicht, das sei wiederholt, gegen die Vorstellung verschiedener sozialer Geschlechter, sondern bezieht sich im Kern auf die Lehre von den männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen, wie sie zumindest im 16. Jahrhundert vorherrschte.“ 140 So ein Ausdruck von Renate Lachmann im „Vorwort“ zu Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 39. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 7. 144 Lachmann spricht vom „Materie- und Körperjubel“ (ebd., S. 16) der Volkskultur, auf die auch die novela picaresca Bezug nimmt. 145 Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 5. 146 Ebd., S. 129.

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so lassen sich die an ihm und mit ihm vollzogenen Praktiken sehr wohl als geschlechts- bzw. männlichkeitsmarkierend interpretieren, ganz im Sinne eines vormodernen doing masculinitiy. Wohlgemerkt: Entsprechend dem Thema des Kapitels geht es an dieser Stelle ausschließlich um männlichkeitsgenerierende Praktiken, bei denen der Körper unmittelbar involviert ist. Das sind, wie bereits angedeutet, innerhalb des pikaresken Narrativs sehr viele, von denen nun lediglich die drei häufigsten näher betrachtet werden sollen. Zudem sei einmal mehr darauf hingewiesen, dass dieses Bündel von Körperpraktiken niemals nur konstitutiv für die männliche Identitätsbildung ist, sondern stets intersektional mit weiteren sozialen Kategorien verschränkt ist, hier vor allem mit sozialem Status und Lebensalter. In diesem Zusammenhang werden vor allem Praktiken relevant, denen der Körper als Medium bzw. als Austragungsort dient. Drei Bereiche sollen nachfolgend im Vordergrund stehen: Wie bereits zu Beginn des Kapitels skizziert, gehört zu den vorherrschenden Körperpraktiken der novela picaresca zum Ersten der massive Einsatz physischer Gewalt. Aber auch – zweitens – das Thematisieren körperlicher „Verrichtungen“147, z. B. das Sich-entleeren, das Spucken und Bluten, ist fester Bestandteil des Regimes pikaresker Körperästhetik, des grotesken Realismus im Zeichen karnevalesker Inversion. Schließlich und drittens soll das prominente Hunger-Motiv, das dem Schelmenroman oftmals als narratives Movens dient, auf seine körperspezifische Funktionalisierung überprüft werden. Auch wenn es sich beim Hunger nicht um eine Körperpraxis im eigentlichen Sinne handelt, so gehen doch von diesem existentiellen Trieb stets Handlungen aus. Man könnte sagen, dass das in der novela picaresca als genuines ‚KörperTrauma‘ inszenierte Motiv des Hungers eine physisch wahrgenommene Erfahrung darstellt, die an der Schwelle von Trieb und Handlung zu situieren ist. Untrennbar verbunden mit dem instinkthaften Körpergefühl des Hungers ist die Kultur- und Körpertechnik des Essens, die ebenfalls im gegebenen Kontext der Körperlichkeit mitbetrachtet werden soll. 2.3.1 Physische Gewalt Dass es sich bei der novela picaresca auch um ein Narrativ männlicher Adoleszenz handelt, das im Gegensatz zum ritterlichen Narrativ des Spätmittelalters die

147 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“, Frankfurt/M. 1976, S. 199.

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Mannwerdung eines sozial Marginalisierten erzählt, darauf wurde bereits eingegangen. Erzählt wird schließlich [...] the life of an ordinary boy, abandoned on the road of life, without advantages or wealth of any kind, with no resources but his own intelligence and the skills that he would gain little by little through a series of cruel experiences. With this we arrive at another fundamental characteristic of the picaresque novel: the hero’s loneliness vis à vis a hostile world.148

Ähnlich wie in den Biografien ritterlicher Jünglinge gehören „cruel experiences“ in Form (überwiegend) körperlicher Gewalt auch zum Lehrplan des pícaro: „Violence was the fundamental measure of a man because it was a way of exerting dominance over men of one’s own social stratum as well as over woman and social inferiors.“149 Während jedoch das ritterliche Ideal – zumindest offiziell – Gewalt nur zur Erlangung und Verteidigung von Ehre erlaubt, folglich mit den Tugenden Tapferkeit und Ehrhaftigkeit eng verknüpft ist, dient der systematische Einsatz körperlicher Gewalt während der Lehrjahre des Schelms – und vermutlich auch darüber hinaus – anderen Zwecken. Gewalt stellt im Wolfsspiel der Pikaresken die adäquate Kommunikationsform dar, um zum einen das eigene Überleben zu sichern und zum anderen, um sich im Wettbewerb gegen andere Männer zu behaupten. Beides, so könnte man einwenden, gilt auch für die ritterliche Männlichkeit – allerdings erfolgt der Einsatz von Gewalt im pikaresken Sozialraum nach keinerlei ethischen Maßgaben, sondern erzeugt auf performative Weise Machtverhältnisse. Damit bestätigt sich im pikaresken Narrativ die Beobachtung, „dass Gewalt im sozialen Nahraum [...] nahezu ausschließlich von Männern aus[geht].“150 In der homosozialen Diegese des Schelmenromans wird demzufolge Männlichkeit mithilfe (meist) physisch artikulierter Gewalt ausgehandelt und erzeugt dergestalt die Vorstellung einer „quasi-essentialistisch mit Maskulinität korrelierten physischen Aggression“ bzw. eines „rein maskulinen Gewaltmonopols“151. Als Heranwachsender und damit Lernender wird der píca-

148 Felix Brun: „Toward a Sociological Interpretation“, S. 174. 149 Ruth Mazo Karras: From Boys to Men. Formations of Masculinity in Late Medieval Europe, Philadelphia 2003, S. 21. 150 Edgar J. Forster: „Gewalt ist Männersache“, in: Erich Lehner/Christa Schnabl (Hrsg.): Gewalt und Männlichkeit, Wien/Berlin 2007, S. 13-26, hier: S. 13. 151 Beide Zitate aus: Tobias Brandenberger: „Gewalt, Gefühl, Geschlecht. Männlichkeit(en) in der iberoromanischen Narrativik der Frühen Neuzeit“, in: Uta Fens-

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ro demzufolge ab dem Zeitpunkt seines Eintretens in die Gesellschaft mit Gewalt konfrontiert, besonders prägnant im Lazarillo anlässlich seines Initiationserlebnisses mit dem Blinden, der seinen Kopf mit voller Wucht an einen Steinstier schlägt, um ihm seine erste Lektion zu erteilen. Der Körper des pícaro ist hernach stets durch solche Angriffe bedroht, wodurch seine Grenzen wiederum, ganz der grotesken Konzeption entsprechend, von Anfang an als durchlässig erscheinen: Löcher im Kopf, ausgerissene Haare, ausgeschlagene Zähne, Hämatome und Wunden sind nur die sichtbaren Spuren dieser Lehrjahre; von eventuellen Auswirkungen auf die Psyche erfahren wir trotz des autodiegetischen Erzählers kaum etwas, außer dass die erduldeten Blessuren sich positiv auf die Schärfung des eigenen Verstandes auswirken: Lernen aus Erfahrung sozusagen. Der weitgehende Verzicht auf die Schilderung psychischer Versehrtheit verdankt sich nicht zuletzt auch dem grundsätzlich nicht-psychologisierenden Erzählmodus der Gattung, was bereits a priori den starken Fokus auf die Oberflächlichkeit des Körpers und damit seine schiere Materialität erklärt – lediglich im Buscón findet eine vordergründige Psychologisierung kindlicher Traumata statt. Folgerichtig spielt der Körper im pikaresken Sozialisationsprozess eine solch hervorgehobene Rolle. Dass diese mannmännliche Form der antihumanistischen, gewaltvollen Erziehung Früchte trägt, bestätigt die Übernahme bzw. Imitation dieses Rollenverhaltens im weiteren Verlauf der Erzählungen: Gewalt wird nach dem ‚Erlernen‘ zusehends zum „Handlungselement, movens und relevanten Potential für genderspezifische Rollenentwürfe“152. Im Hinblick auf die Phänomenologie von Gewalt in der novela picaresca muss deutlich gemacht werden, dass gängige Täter-Opfer-Dualismen hier kaum greifen. Auch wenn der aktiv Gewalt Ausübende situativ durch diesen Akt seine Überlegenheit demonstriert und damit eben auch seine männliche Macht artikuliert,153 sind diese Machtkonstellationen immer nur als vorübergehende zu denken, wie ebenfalls die Blinden-Episode im Lazarillo unter Beweis stellt: Am Ende des Kapitels zahlt Lazarillo dem ciego die erlittenen Qualen mit gleicher Münze zurück und erhebt sich endgültig in der Gewalt- und Machtlogik der pikaresken Mannwerdung über seinen Herrn, bevor er sich jedoch im nächsten Kapitel wieder einem neuen Vorgesetzten zu unterwerfen hat. Die dynamischen,

ke/Verf. (Hrsg.): Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht. Narrative von Männlichkeit und Gewalt, Bielefeld 2016, S. 83-97, hier: S. 89, 96. 152 Ebd., S. 91. 153 Vgl. Forster: „Gewalt ist Männersache“, S. 13: „Gewalt reguliert Machtverhältnisse,

sie sichert (störanfällige) Vorherrschaft und Unterdrückung und sie demonstriert Überlegenheit.

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nachgerade ephemeren Mikrostrukturen der Macht im prekären Sozialraum des pikaresken Proletariats entsprechen damit in keiner Weise dem statischen Ständemodell der gesellschaftlichen Makrostruktur und bringen entsprechend Männlichkeiten hervor, die als ebenso prekär eingestuft werden können und bestenfalls situativ Machtverhältnisse durch Gewaltausübung performativ hervorbringen. Wesentlich im Zusammenhang dieses Dualismus Täter/Opfer ist grundsätzlich die intersubjektive Dimension körperlicher Gewalt, die Verbindung vom Selbst und dem Anderen. In Anlehnung an Levinas schreibt Michela Marzano: „In gewissem Sinne ist es [...] stets der Andere, der uns entstehen lässt, der unseren Körper hervorbringt, ob es sich nun um die biologische Geburt handelt oder um andere Geburten in der Zärtlichkeit, in der Liebe, aber auch in Schlägen und Verletzungen.“154 Das bedeutet, dass derjenige, der Gewalt ausübt, im Moment der Verletzung den Körper des Anderen konstruiert, nämlich als versehrten Körper, und ihm gleichzeitig und situativ einen Objektstatus zuweist, indem er seine Oberfläche durchbricht und ihm auf diese Weise Spuren der Unterordnung einschreibt. Bezeichnend ist, dass physische Gewalt in der Regel nur den pícaros selbst angetan wird oder anderen Vertretern der unteren Stände. Die Vertreter der oberen Stände müssen sich zwar auch hin und wieder Bedrohungen erwehren, aber deren Körper bleiben dabei unversehrt. Diese standes- und damit machtspezifische Eigenart physischer Gewalt im Schelmenroman beobachtet auch Teuber in seinen Ausführungen zu Quevedos Buscón: [Die] gestalthafte Ganzheit des Körpers ist dann folgerichtig ein Vorrecht des echten Adels, während die Betrüger und Möchtegern-Aristokraten ihre naturgegebene Gestalt auf eine widernatürliche Weise und bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Durch diese Zuweisung der zerstückelten Körpergestalt an die Schicht der Hochstapler vermag der Text Zerstückelung und Substitution ganz allgemein als moralisches Fehlverhalten satirisch zu richten und zu verlachen.155

Jenseits des ‚Richtens‘ und ‚Verlachens‘ muss aber doch zusätzlich auf die Tatsache aufmerksam gemacht werden, dass die pícaros durch die überbordende Gewalt auf extreme Weise auf die Materialität ihres Körpers reduziert und somit objektiviert und in ihrer Männlichkeit gleichzeitig degradiert werden. Dadurch steht ihre Männlichkeit im Zeichen des Mangels: Mangel an Macht, Status und Subjektivität im Sinne von Souveränität. Man könnte sagen, dass der Überfluss

154 Michela Marzano: Philosophie des Körpers, München 2013, S. 53. 155 Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 211.

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an Gewalt den Mangel innerhalb des pikaresken Männlichkeitsentwurfs mitbegründet. Im Kontext der Analyse des Hunger-Motivs wird uns dieser defizitäre Charakter pikaresker Männlichkeit wiederbegegnen. Mit dem Stichwort des „Exzessiven“156 soll eine letzte Motivation körperlicher Gewalt aufgezeigt werden, nämlich der persönliche Lustgewinn des ‚Täters‘: Bestrafungen, Racheakte, Streiche oder Erziehungsmaßnahmen, die sich unter Hinzunahme physischer Aggression vollziehen, werden häufig – analog zur hyperbolisch bzw. exzessiv gezeichneten Körperlichkeit allgemein – derart übertrieben dargestellt, dass sie zum einem aufgrund des entstehenden Missverhältnisses jeglicher Glaubwürdigkeit entbehren und zum anderen eben nahelegen, dass es den Verursachern um mehr geht als nur pädagogische, rächende oder strafende Maßnahmen. Vielmehr entsteht durch den exzessiven Charakter ein Überschuss an Gewalt, der sich – jenseits der barocken Exzess-Rhetorik, also auf rein inhaltlicher Ebene – mit nichts anderem als mit perversem Lustgewinn erklären lässt. Man sollte an dieser Stelle jedoch nicht Gefahr laufen, den Figuren, speziell den Nebenfiguren, der Schelmenromane eine psychologische Tiefendimension zu verleihen, die durch die typenhafte Modellierung innerhalb der Texte kaum zu rechtfertigen wäre. Gleichwohl lässt sich anhand der aggressiven Körperpolitik im Sinne phänomenologischer Leiblichkeitstheoreme157 ein körperlicher Ausdruck identifizieren, der zumindest Aufschluss gibt über charakterologische Eigenheiten der Figuren, wozu ja letztlich auch die männliche Identität gehört. Alloa und Lepraz schließen Husserls These des leiblichen Ausdrucks mit Bourdieus Habitus-Konzept kurz, was das Mediale des Körpers einmal mehr unterstreicht: „Nur das Ich, dessen Leib auch ein ‚ausdrückender Leib‘ ist, zählt

156 Paul Julian Smith attestiert der Literatur des spanischen Siglo de Oro insgesamt eine ‚Rhetorik des Exzessiven‘ („rhetoric of excess“): „The great eighteenth-century dictionary of the Autoridades defines ‚excesso‘ as ‚the portion or part which is left over ... and goes beyond the regulation and natural order of anything‘. The rhetoric of excess in the Golden Age reveals the extent to which Spain goes beyond (while remaining within) the European culture from which it still perhaps feels itself to be at once subjected and disinherited“ (Paul Julian Smith: Writing in the Margin. Spanish Literature of the Golden Age, Oxford 1988, S. 30). 157 Hierbei beziehe ich mich auf Husserls Verständnis des Körpers als Ausdrucksleib

und dabei insbesondere auf seine These der ‚Beseelung‘: „Das Geistige drückt sich im Leiblichen aus und liegt in gewisser (nicht physischer) Weise in ihm, eben als Beseelung, als Sinn.“ (Edmund Husserl: „Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster Teil: 1905–1920“, hrsg. von Iso Kern, in: ders.: Husserliana, Bd. XIII, Den Haag (später Dordrecht) 1950ff, S. 68).

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rechtmäßig als ‚personales Ich‘ und damit als Träger von Bedeutungen [...]. In all den leiblichen Regungen bekundet sich so etwas wie persönlicher Stil, ein Habitus.“158 So verstanden wird klar, dass den körperlichen Praktiken keine psychische Tiefenschicht hinzugefügt werden soll, sondern dass sie phänomenologisch-praxeologisch betrachtet, d. h. gelesen und interpretiert werden sollen im Hinblick auf den ‚Stil‘ bzw. den ‚Habitus‘ der Akteure. Wenn Marzano schreibt: „Wir erfahren unsere Körperlichkeit nur im Kontakt mit dem Anderen“159, erschließt sich, dass sich nicht nur die aktiv Ausübenden durch ihre aggressiven Praktiken artikulieren, sondern eben auch vermittels des intersubjektiven Charakters der Gewalt ihrem Gegenüber einen Objektsstatus zuweisen, was bereits mit dem Primat des Mangels auf Seiten der Opfer beschrieben wurde. Kehren wir nun aber zurück zur ‚Täter‘-Seite, mithin auf die Seite des Exzesses: Nicht nur zementieren die Figuren ihren Macht- und damit ihren dominanten Männlichkeitsstatus im Sinne eines geschlechtlichen Habitus, sondern artikulieren durch die Exzessivität eine Lust an der körperlichen Züchtigung, die man – avant la lettre – in die Nähe ‚perverser‘ Körperpraktiken wie etwa dem Sadismus rücken könnte. Durch die bereits erwähnte hyperbolisch generierte Unglaubwürdigkeit der Szenen erhält das Ganze eine gleichsam ludische Note: Der pícaro wird zum buchstäblichen Spielball der perversen Gewaltgelüste einiger seiner Herren. Durch mangelnde Psychologisierung und den kompletten Verzicht auf Moralisierung steht, wie bereits erwähnt, die schiere Materialität seines Körpers im Mittelpunkt der Gewaltexzesse. Rückgebunden an die groteske Konzeption des Körpers findet hier ein Austausch statt, der die Körpergrenzen überschreitet, indem er ihn seiner unversehrten Gestalt beraubt und dem ‚Eindringling‘ zugleich eine – auf den ersten Blick – sexuell unmarkierte Form der jouissance gewährt. Es gibt tatsächlich Analogien zwischen den beiden Körperpraktiken Gewalt und Sexualität, ohne dass man sie notwendigerweise in Spielformen wie dem Sadomasochismus oder Vergewaltigungsszenarien zusammendenken muss. Beide Praktiken beschreiben in der Regel intersubjektive, binär strukturierte Austauschprozesse, die nach dem Schema aktiv vs. passiv bzw. Subjekt vs. Objekt organisiert sind. Marzano konstatiert z. B., dass „jede Art der sexuellen Beziehung immer eine Form der Objektivierung beinhaltet“160, was in gleicher Weise für das Ausüben körperlicher Gewalt gilt. Bezogen auf

158 Emmanuel Alloa/Natalie Depraz: „Edmund Husserl – ‚Ein merkwürdig unvollkommen konstruiertes Ding‘“, in: dies. u. a. (Hrsg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012, S. 7-22, hier: S. 17. 159 Marzano: Philosophie des Körpers, S. 54. 160 Ebd., S. 116.

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Männlichkeit heißt es weiter, dass diese „dadurch charakterisiert ist, dass man Zugang zum Körper des Anderen hat, was wiederum Machtfantasien auslösen kann“161 – auch hier ist der Analogieschluss naheliegend. Männlichkeit definiert sich diesem praxeologischen Verständnis Folge leistend über eine aktive Rolle sowohl im Bereich der Sexualität als auch der Gewalt; in beiden Fällen führt ein Wechsel in die passive Rolle zu einem Verlust von Macht und damit zur Objektivierung des eigenen Selbst. Ein Unterschied besteht dennoch: Während die Objektivierung im Bereich Gewalt zwar zu einem Verlust von Männlichkeit führt, bedeutet dies bestenfalls eine (zumeist temporäre) Degradierung innerhalb der Hierarchie der Männlichkeiten, während eine Objektivierung im sexuellen Bereich dem noch die Effeminierung des Objekts hinzufügt. Es mag überraschend erscheinen, dass es in der novela picaresca mit männlicher Hauptfigur trotz des überbordenden ‚Körper-Jubels‘, trotz aller Obszönitäten kaum Schilderungen gibt, die den sexuellen Akt in den Vordergrund rücken. Insbesondere die Protagonisten bleiben merkwürdigerweise geradezu ‚unberührt‘, was ihren Körper, verstanden als potentielles oder gar potentes Instrument zur Befriedigung körperlicher Lüste, angeht.162 Auch hier steht offenkundig ihre Männlichkeit ganz im Zeichen des Mangels. Insbesondere der deutsche Schelmenroman fügt dem Inventar der Tabubrüche einen deutlichen Fokus auch auf erotische Ausschweifungen zu, die den spanischen Vorgängern völlig fremd sind. Auf rein inhaltlicher Ebene, darauf wurde schon mehrfach hingewiesen, lässt der bis auf wenige Ausnahmen homosoziale Gesellschaftsraum kaum Platz für sexuelle Praktiken gemäß der heteronormativen Matrix der zeithistorischen Geschlechterordnung. Das sieht in Texten mit weiblichen Hauptfiguren anders aus: Sowohl in den wohlbekannten Vorläufern des Pícaroromans163 – La Celestina oder La Lozana

161 Ebd., S. 123. 162 Gleichwohl gibt es im vierten tractado des Lazarillo eine chiffrierte Stelle, in der

man möglicherweise eine Anspielung auf die missglückte sexuelle Initiation des Protagonisten sehen kann, wie in Kap. 4.6 ausführlich dargestellt wird. 163 An dieser Stelle widerspreche ich Cruz, die schreibt: „While both the male and the

female picaresque were written by male authors, those with women as their protagonists share neither the origins of the male picaresque tradition nor its purpose“ (in: Cruz: Discourses of Poverty, S. 135). Cruz weist demzufolge innerhalb der Genealogie der männlichen Pikaresken dem Lazarillo die Rolle als „progenitor of the male picaresque“ (ebd.) zu, während Schelmenromane mit weiblicher Hauptfigur im Wesentlichen auf Rojas’ Celestina zurückgingen. Ich teile hingegen Schlickers’ Auffassung, dass sich beide Varianten der Pikareske La Celestina als gemeinsame Vorgän-

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Andaluza – als auch in der weiblichen Pikareske – La pícara Justina – spielt Sexualität eine ähnlich große Rolle wie Gewalt im Schelmenroman mit männlicher Hauptfigur. Cruz konstatiert hinsichtlich der unterschiedlichen Körperentwürfe in männlicher und weiblicher Pikareske: Through these narratives, the picaresque becomes a gender-oriented genre separated by the sex of its protagonists [...]. Like its protagonists’ bodies, the corpus of the female picaresque has been traditionally exploited as much by its masculine readers as by its male authors. Despite the years that separate them […] all descend from a matriarchy that delimits the heroine’s role primarily to her sexual function. […] What is clearly evident is that, in nearly all the picaresque novels, the pícara is portrayed either explicitly or ironically as a prostitute.164

Deutlich wird hier, dass die Körperpraktiken je nach Geschlecht der Hauptfigur variieren: Beim pícaro ist es die körperliche Gewalt, die zentral an der Konstruktion seiner Geschlechtsidentität beteiligt ist, während die pícaras vergleichsweise stereotyp auf Sexualität und Sinnlichkeit reduziert werden. Hinzugefügt werden muss, was im folgenden Kapitel noch näher erläutert wird, dass auch die Modellierung der weiblichen Nebenfiguren in der männlichen Pikareske im Großen und Ganzen dieser Geschlechterordnung verpflichtet bleibt. Infolgedessen kommt der mitunter sehr drastischen Schilderung körperlicher Gewalt im Kontext der Männlichkeitsverhandlungen innerhalb des Schelmenromans insofern eine umso wichtigere Stellung zu, als Gewalt nicht nur für sich betrachtet an der Konstruktion männlicher Identität mitwirkt. Man könnte sagen, dass körperliche Gewalt den für die Herausbildung von Maskulinität sonst so zentralen Bereich der Sexualität stellvertretend mitübernimmt und dadurch zu den wichtigsten Praktiken gehört, wenn es darum geht, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Bedenkt man abschließend, dass die Täter sowohl aus den unteren als auch den oberen Schichten entstammen – der brutalste aller Peiniger ist zweifellos der clérigo aus dem Lazarillo – wird deutlich, dass physische Gewalt als Kommunikationsform keineswegs als ständespezifisches Charakteristikum entlarvt wird, sondern dass es sich hierbei um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen handelt, dem folglich nicht mit der Kategorie des Standes, sehr wohl aber mit der des Geschlechts beizukommen ist. Allein auf den Körper bezogen – weibliche Gewalt

gerin teilen, worauf ich im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingehen werde (vgl. Schlickers: „Cherchez la femme“, S. 56). 164 Cruz: Discourses of Poverty, S. 136.

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vollzieht sich eher körperfern – ist Gewalt in der novela picaresca Männersache, sowohl auf Seiten der Täter als auch der Opfer, zu denen der pícaro trotz seiner zunehmenden Gerissenheit immer wieder hinzugerechnet werden muss, denn „[w]enn der Desengaño [des pícaro] die scheinhaften Wesenszüge der verderbten Welt erläutert, geschieht dies aus einer Position eigener Beschädigung heraus.“165 2.3.2 Körperliche ‚Verrichtungen‘ Norbert Elias stellt in seinem Prozeß der Zivilisation minutiös anhand unterschiedlicher Verhaltensweisen und Benimmregeln dar, dass der Übergang vom Mittelalter zur Moderne von einem Prozess fortschreitender Entkörperlichung bestimmt ist, in dessen Verlauf bestimmte Körperpraktiken einem Vorrücken von „Peinlichkeitsschwelle und Schamgrenze“166 zum Opfer fallen.167 Für Elias stellt das 16. Jahrhundert eine Zeit des Übergangs dar, in der es noch teilweise erlaubt ist, über „Dinge, Verrichtungen, Verhaltensweisen zu reden, die ein oder zwei Jahrhunderte später mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt werden, deren öffentliches Zur-Schaustellen, deren bloße Erwähnung in Gesellschaft dann verpönt sind.“168 Zu diesen Verrichtungen gehören u. a. das übermäßige „Essen von Fleisch“, „natürliche Bedürfnisse“, „Schneuzen“, „Spucken“ und „Angriffslust“169 – Praktiken also, die im Folgenden zur Diskussion stehen. Von Bedeutung erscheint zunächst der Umstand, dass die Entkörperlichung des sozialen Miteinanders und zunehmende „Zurückhaltung der eigenen Affekte“170, so wie sie Elias nachzeichnet, einen Distinktionsprozess begleiten, der auf der Grundlage sozialer Praktiken die oberen von den unteren Schichten entfernt. Kurz: Die menschlichen und vor allem zwischenmenschlichen Verhaltensweisen gewinnen an Aufmerksamkeit und Differenzierung. Es beginnt die große Zeit der Ratgeberbücher und Benimmkataloge – Elias zitiert eine Reihe solcher Tex-

165 Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 214. 166 Elias: Prozeß der Zivilisation, S. 181. 167 Vgl. dazu auch Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 137: „Der Übergang von ei-

nem grotesken, im Makrokosmos verankerten Leib zu einem Körper, der als manipulierbarer Gegenstand zivilisatorischen Verhaltensregeln und ständigen Kontrollen des Subjekts unterworfen ist, stellt sich erneut als ein Moment an einem allgemeineren Prozeß der Entsubstantialisierung dar.“ 168 Ebd., S. 199. 169 Vgl. ebd., S. 7. 170 Ebd., S. 183.

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te, wobei Erasmus’ ‚Bestseller‘ De civilitate morum puerilium (1530) als besonders einflussreich gilt171 –, deren Lektüre ohnehin nur den Vertretern der höheren Stände möglich ist: Zielgruppe sind vornehmlich die Erzieher junger adeliger Knaben. Externe Regeln zur Verhaltensnormierung verwandeln sich, so Elias, im Laufe der Zeit zum Selbstzwang und wirken als „Instrumente der ‚Konditionierung‘ oder ‚Fassonierung‘, der Einpassung des Einzelnen an jene Verhaltensweisen, die der Aufbau und die Situation der Gesellschaft erforderlich macht.“172 Diese Art der Konditionierung gilt vor allem der Verdrängung körperlicher Verrichtungen aus dem öffentlichen Raum, dem gesitteten Miteinander bei Tisch und der Erhöhung von Hemmschwellen in aggressiv aufgeladenen Situationen. Man darf davon ausgehen, dass diese neuen Maßstäbe der „Naturbeherrschung am Menschen“173 nur langsam von den höfischen Kreisen in die Gesamtgesellschaft diffundieren. Der Prozess der Zivilisation ist also nicht nur auf der chronologischen Achse der historischen Entwicklung zu untersuchen, sondern ebenfalls auf der vertikalen Achse der Stände. Eine weitere Achse, die sicherlich mit zu berücksichtigen wäre, ist die geografische, also die horizontale StadtLand-Achse bzw. die Achse von Zentrum und Peripherie, auf der quasi zentrifugale Kräfte den Motor der Zivilisierung bilden: „Man sieht klarer, wie relativ kleine Kreise zunächst das Zentrum der Bewegung bilden, und wie dann allmählich der Prozeß auf andere, weitere Schichten übergeht.“174 Die Tatsache, dass in der novela picaresca von jener zivilisatorischen Entkörperlichung kaum etwas zu spüren ist, scheint vor diesem Hintergrund kaum überraschend angesichts des dargestellten Sozial- und Zeitraums. Allerdings lässt der häufig übertriebene Charakter in den Schilderungen solcher körperlichkreatürlicher Praktiken Zweifel aufkommen an einem rein sozialrealistischen Anspruch der Texte – immerhin spielen viele der Szenen, in denen körperliche Praktiken geschildert werden, in einem urbanen Milieu, wo der Zivilisationsgrad

171 Die Schriften von Erasmus spielen im Spanien des 16. Jahrhundert bekanntlich eine enorm wichtige Rolle. Vgl. u. a. Marcel Bataillon: Erasmo y España. Estudios sobre la historia del siglo XVI, Mexico 21966; José-Luis Abellán: El Erasmismo Español, Madrid 2005. 172 Elias: Prozeß der Zivilisation, S. 201. 173 Vgl. aus kapitalismuskritischer Sicht und für den italienischen sowie französischen Kontext der Frühen Neuzeit Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen, 2 Bde., Frankfurt/M. 1974. 174 Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, S. 247.

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bereits weiter fortgeschritten sein dürfte als in den ländlichen Gegenden.175 Die hyperbolischen Darstellungen sind vielmehr, darin den Gewaltdarstellungen vergleichbar, auf rein ästhetischer Ebene eingepasst in den weiter oben beschriebenen grotesken Realismus der Texte. Insofern bilden grotesker Körper und grotesker Realismus der beschriebenen Praktiken eine untrennbare ästhetische Einheit. Eine dritte Lesart, die nun ausführlicher vorgenommen werden soll, hat ebenfalls mit sozialer Distinktion zu tun, allerdings nicht nur im Hinblick auf den Stand, sondern hinsichtlich des Geschlechts, wobei beide Kategorien eng miteinander verknüpft sind, zumal in der streng hierarchisch organisierten feudalen Ständegesellschaft. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die Beschreibungen körperlicher Verrichtungen – das sind im Wesentlichen Ausscheidungen wie Erbrechen, Kot, Urin und Spucke – in unterschiedlichem Ausmaß in den drei Texten auftauchen und auch verschieden funktionalisiert werden.176 Grob lässt sich beobachten, dass es in der chronologischen Abfolge vom Lazarillo bis zum Buscón eine Zunahme exkrementaler Motive gibt, was der von Elias diagnostizierten zunehmenden Verdrängung solcher Praktiken aus dem öffentlichen Raum widerspricht. Bachtin sieht die skatologische Motivik, wie sie bei Rabelais auftaucht, noch ganz im Zeichen des Komischen: Hier wird die Ambivalenz des Kotmotivs offenbar, seine Verbindung zu Wiedergeburt und Erneuerung und seine besondere Rolle bei der Überwindung der Angst. Scheiße ist die heitere Materie. [...] daher sind die skatologischen Motive (wie auch die anderen Motive des grotesken Realismus) nicht grob oder zynisch, dies wäre ganz undenkbar. Wenn die alte sterbende Welt mit Kot beworfen, mit Urin begossen und mit einem Hagel von skatologischen Flüchen überschüttet wird, so ist das ihre fröhliche Beerdigung, die auf der Lachebene dem Aufschütten des Grabs mit Erde entspricht oder der Aussaat in die Acker-

175 Auch Teuber weist darauf hin, dass die Blütezeit grotesker Ästhetik zeitgleich mit der zunehmenden ‚Entsinnlichung‘ durch soziale Verhaltensnormierung zu situieren ist: „Überall dort, wo demnach der groteske Leib [...] thematisch wird, geschieht dies bereits innerhalb eines Horizonts, der sehr viel stärker von den Standards höfischer Zivilisation und zunehmender Entsinnlichung denn von einer angeblich mittelalterlichen Unbekümmertheit gegenüber somatischen Äußerungen bestimmt. ist“ (Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 141). 176 Dasselbe gilt auch für die beiden anderen Motivkomplexe Gewalt sowie Hunger und

Essen.

96 | V IR INVERSUS furche (in den Schoß der Erde). Für die düstere und körperlose Wahrheit des Mittelalters bedeutet dies heitere Verkörperlichung und lachendes Zurückholen auf die Erde.177

Diese Passage erläutert in aller Ausführlichkeit (und Ungeniertheit) die Zugehörigkeit des exkrementalen Motivbereichs zur Rabelais’schen Lachkultur und bringt dabei eine heutzutage kaum vorstellbare Heiterkeit zum Ausdruck. Mag diese Beobachtung, die sicherlich auch für das mittelalterliche Fabliau noch gilt,178 für Rabelais zutreffend sein – in der novela picaresca erweist sich die Bedeutung der exkrementalen Motive insgesamt als vielschichtiger. Dies verdankt sich vor allem der für die Pikareske typischen Gesellschaftskritik, die z. B. dem Fabliau noch fremd ist, wie Gier hervorhebt: „Daß in diesen Texten auf reale Mißstände in der Gesellschaft ihrer Zeit hingewiesen und dadurch zumindest implizit auf deren Beseitigung hingearbeitet wird, ist eher selten.“179 Im spanischen Schelmenroman ist das Thematisieren der körperlichen Verrichtungen oft mit dem Ausüben von Gewalt verknüpft, wodurch bereits der komische Charakter abgeschwächt wird: Lazarillo muss sich übergeben, nachdem der Blinde ihm seine Nase in den Rachen gesteckt hat, Pablo wird von einem Studentenkollektiv angespuckt, Guzmán erbricht die verdorbenen Eierkuchen, die ihm die zwielichtige Schankwirtin aufgetischt hatte, etc. Da die Opfer dieser Exzesse in der Regel die pícaros selbst sind, ist die Bedeutung dieser Episoden ambivalent: Aufgrund ihrer Rolle als karnevaleske Narren würde ebenfalls einiges dafür sprechen, diese derben Attacken eher spielerisch-komisch zu lesen. Ihr ‚Publikum‘ innerhalb der Diegese reagiert auch meist mit Gelächter, allerdings tut es das nicht passiv-rezipierend – wie möglicherweise der Leser –, sondern aktivhervorbringend: „Dem karnevalesken Lachritus fällt die Funktion zu, das Ver-

177 Rabelais: Rabelais und seine Welt, S. 216f (kursiv i. O.). 178 Albert Gier stellt in Anlehnung an Joseph Bédiers Pionierstudie (Les fabliaux. Etudes de littérature et d’histoire littéraire du moyen âge, Paris 1893) auch die komische Funktion dieser Gattung in dem Mittelpunkt: „In der Komödie ist komische Handlung nur in Form von Episoden im Rahmen einer umfassenden (nichtkomischen) Handlung um einen Helden, dem eine Grenzüberschreitung gelingt, möglich; in den Fabliaux hingegen bedarf es keiner solchen Stütze, Fabliau-Handlung ist komische Handlung [...]: ‚Les fabliaux sont des contes à rire en vers.‘ [Bédier]“; in: Gier: „Die Fabliaux, S. 335. In dieser Funktion sieht Gier auch die aus heutiger Sicht befremdlich erscheinenden exkrementalen Motive, die er daher als „skatologische Komik“ (S. 318) bezeichnet, wobei er sich ebenfalls auf Bachtins Rabelais-Buch beruft. 179 Ebd., S. 313.

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lachte zu verhöhnen, aber es auch in seiner Erniedrigung zu erneuern.“180 Das Lachen über den mithilfe von Exkrementen erniedrigten pícaro ist daher dezidiert, geradezu performativ, als marginalisierendes zu verstehen, das den niedrigen Stand seiner Opfer zementiert. Hier funktionieren die selbstkonstituierenden Mechanismen einer Gesellschaft nach den Mustern von Inklusion und Exklusion, worauf auch Teuber in Anlehnung an René Girards Konzeption der violence fondatrice abhebt: „Die Gemeinschaft schließt sich erst zu einem friedlichen Miteinander zusammen, indem sie ihre gewalttätigen Impulse auf ein gemeinsames Opfer projiziert und sich mit dieser Tat als Gesellschaft konstituiert.“181 Hier wird der Bezug zum Themenkomplex der Gewalt manifest wie auch die Verwandtschaft von exkrementaler Motivik und Ausschluss. Statt diese Episoden mit Bachtins Begrifflichkeit der „heiteren Materie“ zu lesen,182 liegt es nahe, sich in diesem Zusammenhang eines Konzepts zu bedienen, das wiederum eine von Bachtins berühmtesten Leserinnen maßgeblich in die Geisteswissenschaften eingeführt hat, nämlich die bereits erwähnte Konzeption des Abjekten nach Julia Kristeva.183 Unter abjekten Dingen versteht Kristeva alles, was im Menschen für gewöhnlich Ekel und Aversion hervorruft, etwa Aas, Leichen oder Eiter. Aber auch den Ekel vor bestimmten Lebensmitteln, wie z. B. der Haut der Milch, und Phobien vor Mäusen oder Spinnen führt Kristeva als prototypische Beispiele an, was bedeutet, dass das Abjekte eben nicht den Status eines Objekts einnimmt und somit das Subjekt in der Gegenüberstellung versichert („ni sujet ni objet“184): „Das Abjekte hat eine einzige Qualität: es konfrontiert das Ich mit seinen Grenzen und seinen Ängsten und führt ihm vor Augen, daß das Leben immer schon vom Tode infiziert ist, und stört so auch den Narzißmus.“185

180 Teuber: Sprache – Körper – Traum, S. 156. 181 Ebd., S. 2. 182 Auch Cruz hält diese Lesart für reduktionistisch, wobei sie sich vornehmlich auf die

skatologischen Motive bei Quevedo bezieht. Vgl. Cruz: Discourses of Poverty, S. 124-126. 183 Kristeva war maßgeblich an der Entdeckung und Verbreitung von Bachtins Schrif-

ten in Mitteleuropa beteiligt, allerdings eher in Bezug auf Bachtins poetologische Konzepte. Vgl. v. a. ihren für die Intertextualitätstheorie besonders einflussreichen Aufsatz: „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“, in: Critique 239 (1967), S. 438465. 184 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 9. 185 Vgl. Herrad Hesenhaus: Artikel „Abjektion“ in: Renate Kroll (Hrsg.): Metzler Lexi-

kon Gender Studies, Stuttgart 2002, S. 1.

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Es liegt dieser Definition zufolge nahe, die Ausscheidungen des Körpers mit dem Begriff des Abjekten zu beschreiben. Das Ausgeschiedene wird im Moment des Ausscheidens, also des Überschreitens der Körpergrenzen, zum Abjekt: Tout en se rapportant toujours aux orifices corporels comme à autant de repères découpant-constituant le territoire du corps, les objets polluants sont, schématiquement, de deux types : excrémentiel et menstruel. Ni les larmes ni le sperme, par exemple, quoique se rapportant à des bords du corps, n’ont valeur de pollution. L’excrément et ses équivalents (pourriture, infection, maladie, cadavre, etc.) représentent le danger venu de l’extérieur de l’identité : le moi menacé par du non-moi, la société menacée par son dehors, la vie par la mort.186

Spätestens in dieser Passage macht Kristeva deutlich, dass das Abjekte zwar ursprünglich nur in Verbindung mit dem Körper-Ich und dessen Grenzen zu denken ist, aber mit der Analogie zur ‚la société menacée par son dehors‘ kommt ein weiterer Körper ins Spiel, nämlich der Gesellschaftskörper, was bereits in Batailles Konzeption des Abjekten auftauchte. Diese Metaphorisierung des Abjekten, die entsprechend formaler Konvergenzen hergestellt wird, funktioniert nach den Maßgaben des gängigen Analogons Körper/Gesellschaftskörper, das bereits seit der Antike existiert und daher auch in der Frühen Neuzeit zu den üblichen Beschreibungsmustern gesellschaftlicher Strukturen gehört, wie u. a. Rainer Guldin aufzeigt: Der menschliche Körper ist dabei nicht nur eine Metapher der Harmonie und der Ordnung, der sozialen Eintracht und der Versöhnung, sondern auch eine Metapher des Wandels und der Metamorphose, des Protests und der Revolte. [...] Der Körper ist zwar eine strukturierte und strukturierende Einheit, in der durch eine Entmischung und klare Zuordnung der einzelnen Funktionen – durch Einbindung der Einzelteile in ein hierarchisches Gefüge – eine Vereinheitlichung der Vielheit angestrebt wird; er ist aber zugleich ein System, das immer schon die Ursachen seiner Auflösung in sich trägt. Die Pluralität und Selbständigkeit der einzelnen Organe führt dazu, daß einzelne Glieder aus der Angemessenheit ihrer Funktion ausscheren. Die anarchischen und zersetzenden Kräfte des Unterleibes, sowie das Zerfließende der im Innern zirkulierenden Säfte destabilisieren zusätzlich das System.187

186 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 86. 187 Rainer Guldin: Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin, Würzburg 2000, S. 27.

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Der Körper gedacht als Organismus mit Organen wird heuristisch instrumentalisiert und metaphorisch umgedeutet zur sozialen Organisationsform, wobei der Kopf, also die Schaltzentrale des Gefüges, gemäß der feudalen Hierarchie dem Monarchen zukommt, während die unteren Stände in dieser sozialen Strukturlogik die ‚anarchischen und zersetzenden Kräfte des Unterleibes, sowie das Zerfließende der im Innern zirkulierenden Säfte‘ repräsentieren, die ‚das System zusätzlich destabilisieren.‘ Führen wir nun diese Ausführungen zum Gesellschaftskörper mit Kristevas Konzeption des Abjekten und der exkrementalen Motivik der novela picaresca zusammen, ergibt sich folgende Konstellation: Auf der Ebene der Handlung wird der pícaro, wie bereits gezeigt, durch Besudelung auf die niedrigstmögliche Stufe degradiert. Sein Körper wird durch Ausscheidungen kontaminiert, er wird gewissermaßen durch den Kontakt mit den Körperausscheidungen selbst gewaltsam zum Abjekt. Das Verlachen durch die Täter und deren Publikum mag noch als Echo mittelalterlicher Spaßkultur durchgehen, aber spätestens durch den Verweis auf den Gesellschaftskörper, der durch den gesellschaftskritischen Impetus der novela picaresca fraglos gegeben ist, offenbart sich die eigentliche Bedeutung dieser Episoden, die zudem auch – wenn man Elias’ Thesen Glauben schenkt – in der Entstehungszeit der Texte längst auf keine gesellschaftliche Realität mehr Bezug nehmen. Hier wird anhand des pícaro aufgezeigt, wie die feudale Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht: Sie werden kontaminiert und ausgeschieden und somit vom gesellschaftlichen Subjekt zum ekelerregenden Abjekt degradiert, um sich solcherart vor sozialer Infektion durch Krankheitserreger zu schützen. Cruz schreibt: „The text[s] utilize[] corporeal waste to create a permeable barrier, or skin-like film, that, just as it provisionally separates the pícaro’s outer self from his inner being, intends to isolate the marginalized from the centre.“188 Durch den exkrementalen Motivbereich wird dieser Exklusionsmechanismus nicht nur besonders radikal dargestellt, sondern passt rein ästhetisch wieder zum grotesken Realismus innerhalb des mundus inversus. Durch die beiden Bedeutungsebenen – individuell und sozial – wird einmal mehr ersichtlich, dass der pícaro weniger als Figur, sondern als Denkfigur zu lesen ist, die exemplarisch den Umgang der Gesellschaft mit dem ‚Anderen‘ aufzeigt: Auf der einen Seite braucht sie ihn, um sich selbst zu konstituieren, andererseits verwirft sie ihn. In analoger Weise verfährt auch der Körper mit seinen Ausscheidungen: Einerseits werden sie als vom Organismus hervorgebrachte Substanzen anerkannt, die jedoch erst im Moment des Ausscheidens das Überleben des Körpers absichern;

188 Cruz: Discourses of Poverty, S 125.

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anderseits evozieren sie im selben Moment des Ausscheidens Ekel und Abscheu. Noch einmal Cruz mit Bezug auf den Buscón: „The scatological excess discharged on the pícaro expresses the disquietude of a xenophobic society that simultaneously acknowledges and rejects the presence of the ‚other‘ in itself.“189 Folgen wir nun diesem Befund und betrachten die frühneuzeitliche ‚xenophobic society‘ tatsächlich als eine Gesellschaft, die nach androzentrischen Strukturen organisiert ist und – der Umgang mit dem pícaro steht dafür mustergültig – mit radikalen Ausschlussmechanismen auf den ‚Anderen‘ reagiert, wird offenkundig, dass diese radikale Abjektion, die durch das skatologische Bildinventar unmissverständlich als solche ausgestellt wird, auch eine Abjektion von Männlichkeit darstellt, die nicht zuletzt deshalb verworfen werden muss, weil sie die kollektiven Ängste der hegemonialen Schichten sichtbar macht. Das in Analogie zu den körperlichen Ausscheidungen kaum kontrollierbare Prekariat steht für das Unreine, das Triebhafte, ja das Zersetzende innerhalb des Gesellschaftskörpers, weshalb die Männlichkeit des pícaro nicht nur die Inversion des offiziellen Ideals darstellt, nicht nur als defizitär markiert wird, sondern in letzter Konsequenz das ab-iectum darstellt, das Verworfene, dessen Anblick Ekel auslöst. Durch die Kontamination seines Körpers mit Exkrementen wird dieses Verständnis im Sinne der barocken Exzess-Rhetorik lediglich durch Visualisierung bestätigt. Zugleich veranschaulicht die metaphorische Zusammenführung von individuellem Körper und Gesellschaftskörper nicht nur die Angst der Gesellschaft vor der Beschmutzung durch den Anderen, „but admits to the fact that, for all purposes, contamination by these despised elements cannot be averted or contained, since they originate precisely from within the social body itself.“190 Insofern darf soziale Abjektion nicht mit Ausschluss verwechselt werden, da der pícaro immer ein randständiger Teil der Gesellschaft bleibt, die nach seinem Ausschluss trachtet. Seine Männlichkeit mag untergeordnet oder marginalisiert sein, sein Anblick mag Ekel erregen, er mag Mangel erdulden, er mag die unteren Stufen der Rangordnung innerhalb der Männlichkeits- und Standeshierarchie niemals verlassen – die Gesellschaft braucht ihn, um sich ihrer selbst zu vergewissern, ganz so wie es innerhalb von Hegels Herr-Knecht-Dialektik eine doppelte Abhängigkeit gibt. Dieses Verständnis schlägt am Ende doch noch einmal den Bogen zurück zu Bachtins Ausführungen zum „Exkrement-Motiv“ in der Frühen Neuzeit. Für ihn sind solche Bilder nicht nur dem Komischen zugeordnet, sondern sie stehen auch für den permanenten ‚Stirb und Werde‘-Zyklus der Natur: „Der Körper gibt der Erde, solange er lebt, Kot, der Kot macht die Erde

189 Ebd., S. 126. 190 Ebd.

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fruchtbar, ebenso wie der Körper eines Toten.“191 Wenn der pícaro als das Abjekte des Gesellschaftskörpers verstanden werden kann, dann ist er damit eben auch die überlebensnotwendige Grundlage für deren Fortbestand, paradoxerweise auch wenn – oder vielleicht gerade weil – er selbst keine Nachkommen zeugt. 2.3.3 Hunger und Essen „Masculinity is often connected to eating meat.“192 Für Reeser bezeichnet das Essen von Fleisch eine männlich kodierte Körperpraxis, wobei er seine Ausführungen zunächst auf das Beobachten zeitgenössischer Stereotype bezieht: Ein Hamburger mit ordentlich Rindfleisch werde eher mit Maskulinität assoziiert als ein Veggieburger. Diese Assoziation hat allerdings eine Tradition – „Essen ist stets mehr als Essen gewesen.“193 Essen gilt seit jeher nicht nur als Körper-, sondern eben auch als Kulturtechnik, wobei beides eng miteinander zusammen hängt: „Because what one ingests is tied to the body (‚you are what you eat‘), masculinity, too, can be imagined as ‚meaty‘.“194 Die Art der Nahrung – wie auch deren Menge – erscheint demzufolge mit kollektiven Vorstellungen verknüpft, die sowohl individuelle Merkmale betreffen als auch soziale Zeichen aussenden, die u. a. Auskunft über die Geschlechtszugehörigkeit erlauben (können): But in turn, that gendered practice doubles back onto the male body and constructs it in a certain way. By virtue of eating more over time, for instance, the male body might actually become more meaty, larger and consequently more linked to muscle growth in the mind. That construct of the body can then double back onto the cultural idea of eating meat, reaffirming and validating the cultural practice. […] Practice and the body thus exist in a circular relation, each beefing up the other over time in an imperceptible way.195

Dass die kulturelle Praxis des Essens grundsätzlich den integralen Bestandteilen des doing gender zuzurechnen ist, darauf hat auch Eva Barlösius hingewiesen: „Es scheint sogar so, als wären die kulinarische und die Geschlechterordnung

191 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 216f (kursiv i. O.). 192 Reeser: „Theorizing the Male Body“, S. 94. 193 Uwe Schultz: „Vorwort“, in: ders.: Speisen, Schlemmen, Fasten. Eine Kulturgeschichte des Essens, Frankfurt/M. 21995, S. 9-12, hier: S. 9. 194 Reeser: „Theorizing the Male Body“, S. 94. 195 Ebd., S. 94f.

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auf das Innigste miteinander verwoben, gerade so, als wäre es das Allernatürlichste von der Welt, dass es eine ‚weibliche und eine männliche Kulinarik‘ gibt.“196 Wie Reeser hebt auch Balösius hervor, dass zu den qualitativen Kennzeichen der ‚männlichen Kulinarik‘– scheinbar naturgegeben – der Verzehr von Fleisch gehört, zu den quantitativen hingegen das im Vergleich zur ‚weiblichen Kulinarik‘ offenkundige ‚Mehr-Essen‘ von Nahrung.197 Bei beiden Attribuierungen handelt es sich um lang gewachsene, soziokulturelle Konstrukte in Form handlungsbestimmter Stereotype, die jedoch nicht nur geschlechtsspezifische Distinktion hervorbringen: „Dass beinahe alle kulturell und sozial bedeutsamen Strukturprinzipien in der kulinarischen Ordnung enthalten sind, zeigt, dass es sich – wie bereits Marcel Mauss formuliert hat – um ein ‚gesellschaftliches Totalphänomen‘ handelt.“198 Auch Elias widmet in seiner Zivilisationsgeschichte dem Essen von Fleisch ein eigenes Kapitel: „Das Verhältnis der Menschen zur Fleischnahrung z. B. ist in bestimmter Hinsicht höchst aufschlußreich für die Dynamik der menschlichen Beziehungen und der seelischen Strukturen.“199 Elias jedoch bezieht sich weniger auf Distinktionsmerkmale hinsichtlich des geschlechtlichen Habitus der Konsumenten als auf statusspezifische Distinktion. Es verwundert kaum, dass in der Vormoderne das übermäßige Verzehren von Fleisch nur den höheren Ständen möglich war: In der weltlichen Oberschicht ist der Fleischverbrauch außerordentlich groß, verglichen mit dem Standard unserer eigenen Zeit. Es herrscht dort eine Neigung, Fleischmengen zu verzehren, die uns oft phantastisch anmutet.200

Noch für das 17. Jahrhundert kann Elias auf Quellen zurückgreifen, die für einen „Hofhalt“ einen durchschnittlichen Schweine- und Rindfleischverbrauch „von 2 Pfund pro Tag und Kopf“ schließen lassen – „dazu kommen aber noch große

196 Eva Barlösius: „Weibliches und Männliches rund ums Essen“, in: Alois Wierlacher/Regina Bendix (Hrsg.): Kulinaristik. Forschung, Lehre, Praxis, Berlin 2008, S. 35-44, hier: S. 37. 197 Ebd., S. 39. 198 Ebd., S. 37. Barlösius bezieht sich hier auf Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1968. 199 Elias: Der Prozeß der Zivilisation, S. 249. 200 Ebd., S. 250. Bemerkenswerterweise scheint es heute gerade umgekehrt: Je höher der soziale Stand, desto weniger Fleisch wird verzehrt.

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Mengen an Wild, Geflügel und Fischen.“201 Vor diesem Hintergrund wird offenkundig, dass in der Frühen Neuzeit die Nahrungsaufnahme – insbesondere im Hinblick auf die Quantität – eng an den gesellschaftlichen Status geknüpft ist. Als Ausnahme gilt – zumindest offiziell – der Klerus und hier vor allem die klösterliche Gemeinschaft, wo die Ideale von Askese, curatio corporis und moderatio vorherrschen: In den Klöstern herrscht z. T. asketischer Verzicht auf Fleischnahrung überhaupt vor, also Verzicht mehr oder weniger aus Selbstzwang, nicht aus Mangel, und oft radikale Geringschätzung oder Einschränkung des Essens. Aus diesen Kreisen kommen die Äußerungen starken Abscheus gegenüber der ‚Völlerei‘ unter den weltlichen Oberen.202

In diesem Kontext wird die Nahrungsaufnahme von der reinen Körperpraxis zur Körpertechnik, zur „technique de soi“203 – Foucault spricht über die Diätetik als „art de vivre.“204 Verzicht und Maßhalten konstituieren demzufolge im asketischen Ideal des Klosterlebens eine bewusste Körpertechnik, die Nahrungskontrolle nicht aufgrund von Mangel vorsieht, sondern als Form der cura sui, die Körper, Affekt und Imagination verbindet.205 Für Niklaus Largier steht fest, dass Dekadenz und Askese, also Exzess und Mäßigung, Überfluss und Verzicht, verwandte körperliche Phänomene sind: Es überrascht nicht zu sehen, wie eng verwandt Askese und Dekadenz sind. Gesättigt vom Wunsch nach einer nie möglichen Unmittelbarkeit der Erfahrung, nach vollkommener sinnlicher Intensität des Genusses, läßt sich beides paradoxerweise nicht voneinander trennen. Dies hängt damit zusammen, daß Askese und Dekadenz alle intensive Erfahrung nicht in der Natur ansiedeln, sondern von technischen Verfahren, von mechanischen Inszenierungen und vom geschickten Einsatz rhetorischer Mittel abhängig machen. [...] Askese im Wunsch nach Vergöttlichung und Assimilation an Gott zielt denn auch wie das dekadente Begehren darauf ab, die Endlichkeit des Natürlichen wenn nicht vollkommen

201 Ebd. 202 Ebd., S. 133, 143. 203 Michel Foucault: L’histoire de la sexualité, Bd. 2: L’usage des plaisirs Paris 1984, S. 18. 204 Ebd., S. 133, 143. 205 Vgl. dazu Niklaus Largier: Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007, S. 7f.

104 | V IR INVERSUS zu überwinden, so doch in Akten des Self-fashioning und der Stilisierung gezielt zu bejahen und zu überfordern.206

Schematisch gedacht steht der Überfluss auf der Seite des Adels, der Reichen, während der bewusste Verzicht den Affekt- und Genusshaushalt des Klerus reguliert, insbesondere innerhalb der monastischen Lebensform. Letzteres erklärt Montanari primär durch die vorherrschende Doppeldeutigkeit von ‚fleischlichen Genüssen‘ und der Vorstellung, „daß der Verzehr von Fleisch sexuelle Ausschweifung (dieser großen Feindin des perfekten Christen) begünstige.“207 In dieser kontrollierten Abstinenz vom Fleisch sieht Montanari ein „zentrales Leitmotiv“, das „seit den ersten Jahrhunderten des Christentums [...] die Moraltraktate und Bußvorschriften durchzog.“208 Insgesamt lässt sich festhalten, dass in der feudalen Gesellschaft eine zunehmende Kodifizierung des Alltagslebens stattfindet, die das „Eßverhalten (dies besonders), die Kleidung und die Wohnverhältnisse“209 umfasst. Das Ernährungsverhalten wird nach bestimmten sozialen Kriterien reglementiert: Neben dem sozialen Status, der in diesem Zusammenhang die wichtigste Rolle sowohl im Hinblick auf Qualität als auch Quantität der Nahrung spielt, vor allem „unter Berücksichtigung des Alters, des Geschlechts, der ‚Humoralkonstitution‘, des Gesundheitszustands.“210 Dass hier auch das ‚Geschlecht‘ mit ins Spiel gebracht wird, verdankt sich der Tatsache, dass die fortschreitende Kodifizierung in erster Linie eine Abgrenzung der (männlichen) Mächtigen von den unteren Schichten zu manifestieren sucht und die Regelkataloge sich primär an die männlichen Vertreter des Adels richten: „Für den Magen des Edelmannes ziemen sich kostbare, aufwendig zubereitete und verfeinerte Nahrungsmittel – nämlich genau solche, die Macht und Reichtum ihnen tagtäglich auf dem eigenen Tisch zu zeigen und zu konsumieren gestatten.“211 Status und Geschlecht sind hier eng miteinander verschränkt. Tatsächlich wird das Primat der Quantität, jenes Ideal der dekadenten Fülle, immer mehr durch den Diskurs von der Qualität der Nahrung im Hinblick auf gesellschaftliche Distinktion abgelöst und fungiert dabei immer mehr als Kriterium für ‚soziale Qualität‘. Montanari schreibt dazu:

206 Ebd., S. 9. 207 Massimo Montanari: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1999, S. 96. 208 Ebd. (kursiv i. O.). 209 Ebd., S. 100. 210 Ebd., S. 102. 211 Ebd., S. 105.

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Der Zusammenhang zwischen der „Qualität der Nahrung“ und der „Qualität der Person“ wird nicht als eine einfache faktische Gegebenheit wahrgenommen, die an zufällige Situationen des Wohlergehens oder des Bedürftigseins gebunden ist, sondern als absolute und sozusagen ontologische Wahrheit postuliert: Gut essen oder schlecht essen ist ein dem Menschen innewohnendes Attribut, wie auch seine gesellschaftliche Rolle verinnerlicht (und wünschenswert unabänderlich) ist. [...] Die Eßgewohnheiten und, allgemeiner, der Lebensstil, enthüllen, demaskieren den gesellschaftlichen Status der Menschen.212

Auch wenn uns diese Aussagen über die Korrelation von Nahrung und Stand bzw. Essen und soziale Distinktion im Allgemeinen heute vertrauter denn je erscheinen, so gelten doch für die frühneuzeitliche Feudalgesellschaft der Zugang zu und der Konsum von qualitativ hochwertiger Nahrung nicht nur als Distinktionscharakteristika, sondern in sehr viel stärkerem Maße als soziale Segregationsmechanismen: „Die Tafel ist nicht länger der Ort des sozialen Zusammenhalts um einen Anführer herum, statt dessen aber der der Separation und des Ausschlusses.“213 Das soziale Universum der novela picaresca ist ein Raum des Ausschlusses und des Mangels – nicht nur in Bezug auf Nahrung, wie wir gesehen haben. Aber eben auch in dieser Hinsicht kann der mundus inversus des Schelmenromans im Großen und Ganzen als defizitärer Ort für den pícaro charakterisiert werden. Hier herrschen weder dekadente Fülle noch christlich-monastische Askese, sondern Hunger und Mundraub. Das Hunger-Motiv kommt besonders ausführlich und spektakulär zugleich in der ersten Hälfte des Lazarillo zum Einsatz – Köhler spricht dem Roman gar die Qualität einer „Hungerphantasie“214 zu. Aber auch in den anderen Romanen taucht das Hunger-Motiv auf, so etwa bei Quevedo in der Internat-Szene beim Hauslehrer Cabra, wo der Nahrungsmangel einen Mitschüler sogar das Leben kostet. Hungersnöte und Armut gehören im Spanien des Siglo de Oro zur Kehrseite der kulturellen und territorialen Blüte, was hier lediglich skizziert werden kann: [...] el hambre era un fenómeno sumamente familiar para los españoles de esta época. Las pestes y las crisis financieras (alta inflación, bancarrotas) causaron repetidas epidemias de hambre. […] el costoso mantenimiento de los ejércitos españoles, la existencia de aduanas

212 Ebd., S. 107 (kursiv i. O.). 213 Ebd., S. 112. 214 Hartmut Köhler: „Nachwort“, in ders. (Hrsg.): Lazarillo de Tormes. Klein Lazarus vom Tormes. Spanisch/Deutsch, Stuttgart 2006, S. 179-195, hier: S. 188.

106 | V IR INVERSUS y aranceles internos, la desastrosa política económica de los gobernantes y las malas cosechas arrinconaron en la extrema pobreza a buena parte de la población.215

Das Problem der Armut beschäftigt nicht nur die Autoren der novela picaresca, sondern auch die humanistischen Philosophen des 16. Jahrhunderts, so vor allem Erasmus von Rotterdam, Thomas More und den exilierten converso Juan Luis Vives, deren Traktate in Spanien stark rezipiert wurden. Vor allem Vives’ 1526 im belgischen Exil erschienene Streitschrift De subventione pauperum sorgte für einiges Aufsehen216 – eine Schrift, in der Sloterdijk immerhin „das erste Traktat über Sozialpolitik in Europa“217 sieht. Vives fordert in diesem Text unmissverständlich, dass „die Gesellschaft als Ganzes und nicht nur die Caritas der Kirche um die Armen kümmern müsse.“218 Das Thema Armut erhält besonderen sozialen Zündstoff durch eine neue, strikte Armengesetzgebung im Jahr 1540, die sog. Ley Tavera – benannt nach dem Urheber des Gesetzes, dem Kardinal Juan

215 So der Kommentar der Herausgeber in: Reyes Coll-Tellechea/Anthony N. Zahareas (Hrsg): La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades, Madrid 1997, S. 90. Dass es sich bei diesen Krisensymptomen keineswegs um ein rein spanisches Problem handelt, darauf hebt Félix F. Santolaria Sierra („La pobreza, el pobre y la caridad en el mundo medieval y moderno“, in: Antonio Gutiérrez Resa (Hrsg.): Trabajo Social. Origen y desarrollo, Madrid 2013, S. 53-92, hier: S. 77) ab: „España, en especial Castilla, vivía inmerso en el contexto económico y demográfico que caracteriza a la Europa del momento, y conoció casi las mismas crisis cíclicas de subsistencias que, con carácter general o regional, afectaban de un modo global o alternante a todas las zonas del continente. Y también aquí se constata la amplificación social de la imagen negativa de la pobreza en los ambientes urbanos.“ 216 Vgl. u. a. Herrero: „Renaissance Poverty“, S. 878: „Vives receives special attention here because his treatise De Subventione Pauperum exercised a greater influence in Spain than did the works of the others. [...] Vives’ De Subventione Pauperum dominated Spanish social thought throughout the century. Some later theorists, in fact, did little more than echo him.“ Interessanterweise gab es sogar die Theorie, dass Vives der Autor des Lazarillo de Tormes sei, was jedoch – wie weitere solcher Mutmaßungen über den Anonymus – längst als widerlegt gilt. Vgl. dazu Fernando Álvarez-Uría: „El Lazarillo de Tormes y las leyes de pobres“, in: Alteracciones. Cuadernos de la Socioantropología 7 (2013), S. 1-27, hier: S. 4. 217 Peter Sloterdijk: Gespräche über Gott, Geist und Geld, Freiburg i. Br. 2014, S. 26. 218 Ebd.

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Pardode Tavera –, die eine „general expulsion of the poor from the cities“219 anstrebt: Landstreicherei wird in Städten untersagt, um Almosen bitten dürfen nur noch durch ansässige Priester ‚zertifizierte‘, d. h. ‚echte‘ Arme mit einer ausdrücklichen Genehmigung und das wiederum lediglich in deren Geburtsstadt.220 Da die meisten Armen in die Städte kommen, um dem Hunger auf dem Land zu entfliehen, bedeutet diese Gesetzgebung eine zusätzliche Erschwernis ihrer prekären Lage. Über diese konkrete Form gesellschaftlicher Segregation wird in der Folge lebhaft diskutiert, sowohl von Seiten des Klerus als auch von staatlicher und philosophisch-humanistischer Seite.221 Trotz der hohen Analphabetenquote

219 Herrero: „Renaissance Poverty“, S. 879, vgl. ebenso Cruz: Discourses of Poverty, S. 21. 220 Vgl. dazu Santolaria Sierra: „La pobreza, el pobre y la caridad en el mundo medie-

val y moderno“, S. 78: „ La ley, que comenzaba con una introducción en la que se recogía la legislación anterior existente sobre pobres y mendigos, contenía una instrucción de trece artículos que estaba en consonancia con la mayor parte de las peticiones que desde comienzos del siglo se hacían en las cortes. En síntesis, lo único que se estipulaba era un control más riguroso de la mendicidad (es decir, no se prohibía, aparentemente), de forma que sólo pidiesen los pobres verdaderos y en los pueblos de donde eran naturales (o avecindados) ‚y seis leguas en contorno‘. Para ello tenían que pasar un examen de pobreza y de ‚vida‘ para obtener una licencia – de un año de validez – que les permitiese mendigar, dada por el cura de su parroquia y aprobada por el justicia del lugar. Todo el resto de la instrucción – excepto dos artículos que comentaremos después – eran las condiciones y excepciones a tener en cuenta a la hora de su aplicación, casos en los que ha de darse licencia para pedir fuera de su naturaleza, que no se pida dentro de las iglesias durante los actos litúrgicos, que se nombren diputados para controlar la observancia de la ley y que socorran a los pobres vergonzantes en sus casas.“ Vgl. dazu auch: Josep García Molina: „La protección de menores. Una aproximación a la fundamentación histórica del internamiento de menores“, in: Pedagogía Social. Revista interuniversitaria 4 (1999), S. 85-104, hier: S. 86. 221 Besonders öffentlichkeitswirksam vollzieht sich die Debatte über einen adäquaten

Umgang mit den Armen zwischen dem Theologie-Professor und DominikanerMönch Domingo de Soto aus Salamanca und dem Benediktiner-Mönch Juan de Robles. Soto setzt sich in seiner Streitschrift Deliberación en la causa de los pobres (Salamanca 1545) für eine liberale, dem christlichen Caritas-Ideal verpflichtete Armenpolitik ein („Emphasizing caritas over rational ethics and charity over justice“, in: Cruz: Discourses of Poverty, S. 24), während Robles in seiner im selben Jahr und im selben Verlag erschienenen Replik die vorherrschenden Armengesetze verteidigt:

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geht man davon aus, dass dieses Thema aufgrund der unmittelbaren Alltagsbezogenheit nicht nur das lesefähige Publikum beschäftigt hat, sondern vor allem im urbanen Raum eine kontroverse Debatte von gesamtgesellschaftlicher Tragweite darstellte. So kontrovers die Positionen um das Thema Armut auch sein mögen, das Ansehen der Armen innerhalb der feudalen Gesellschaftsordnung ist nicht minder ambivalent: „The poor thus remained central to a social order that perceived poverty as a natural given. The corollary to this feudalistic tenet was that wealth in the hands of a few was also natural and, therefore, God-given.“222 Diese Art der Naturalisierung von Armut zielt vor allem auf die Aufrechterhaltung des als gleichermaßen ‚natürlich‘ empfundenen sozialen Ungleichgewichts der Gesellschaft ab. Insofern brauchen die oberen Schichten die Armen, um die göttliche Ordnung zu sichern: „The poor’s condition, therefore, was considered blameless since it was necessary for the social good.“223 Gleichzeitig werden die Armen von den höheren Ständen aufgrund ihrer zunehmenden Zahl als bedrohlich empfunden, mit Pest- und Lepra-Metaphern epidemologisch pathologisiert und daher mit offiziellen Maßnahmen, wie den Armengesetzen, in Schach gehalten; Cruz spricht von der „paranoia felt by the dominant classes towards the poor and those of impure blood.“224 Dieser soziale Konfliktbereich bildet bezeichnenderweise den außerliterarischen Nährboden für die Geburt des spanischen Schelmenromans, der gewissermaßen die Literarisierung der Armutsfrage darstellt und mit dem pícaro erstmalig eine Hauptfigur aus der untersten Schicht, mithin einen sozial Marginalisierten, in die Literaturgeschichte einführt. Eines der hervorstechenden Merkmale seiner Armut, um darauf zurückzukommen, ist der Hunger und der dadurch ausgelöste Überlebenskampf. Auch hier befindet sich der Körper, dem es an Nahrung fehlt, im defizitären Modus existentiellen Mangels. Auch wenn sich die männliche Ernährer-Rolle erst mit dem Aufkommen des Bürgertums als zentrales Männlichkeitsmodell etabliert, ist es nicht ahistorisch zu behaupten, dass diese Aufgabe in der Frühen Neuzeit zumindest bereits zu den Bestandteilen gesellschaftskonformer Männlichkeit gehört, auch wenn die starke Gewichtung sich erst später herausbildet. Indem den pícaros diese Rolle qua Stand aberkannt wird, wird ihnen

„Y ansí no debe dudar ningún hombre que tenga juicio, que es mejor curar al plagado que darle cada día un maravedí (zit. nach ebd., S. 26).“ 222 Ebd., S. 22. 223 Ebd. 224 Ebd., S. XV.

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der Zugang zu gesellschaftlicher Anerkennung als Mann auch auf dieser Ebene verwehrt. Gleichzeitig setzt der Mangel einen Prozess in Gang, der sie dazu befähigt als Verwalter und Bekämpfer ihres eigenen Elends zu handeln und damit gleichzeitig das pikareske Narrativ der Nahrungssuche zu begründen. Insofern ist Theresa Ann Sears zuzustimmen, wenn sie zum Schluss kommt, dass der Hunger des pícaro „more than physical“225 und seine trickreiche Suche nach Nahrung eher sozial als körperlich motiviert sei: Es gehe hier vor allem um die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung und sozialem Status, „quest for status.“226 Dass Nahrung und Sozialstatus eine enge Verbindung teilen, darauf weist Polly Wiesner hin: Negotiation of status relations takes place in a wide variety of settings and via different mediums. Food is prominent among these for a number of reasons. Food and corresponding evaluations of appetite/satiation, taste/distaste, and nutritious/unnutritious evoke associations of superiority or inferiority in many cultures.227

Sowohl der Zugang zu Nahrung als auch deren Menge und Qualität sind nicht nur Mittel, um den Hunger zu stillen, sondern spielen auf sozialer Ebene eine übergeordnete Rolle im Hinblick auf Distinktion und gesellschaftliche Machtstrukturen: „The way societies grow and distribute food reveals their fundamental structures of power and authority.“228 Wie im vorhergehenden Kapitel der Körper des pícaro auf den Gesellschaftskörper verwies, so verbirgt sich hinter dem Hunger-Motiv auch die Projektion des individuellen Bedürfnisses auf kollektiv-gesamtgesellschaftliche Ambitionen. Die dramatische narrative Ausgestaltung der Hunger-Episoden unterstreicht diese weitere Bedeutungsdimension, in deren Mittelpunkt die Sehnsucht des Marginalisierten nach sozialer Anerkennung steht. Wenn man bedenkt, dass nach dem dritten tractado des Lazarillo das Hunger-Narrativ zu Ende erzählt ist und es hernach nur noch um den sozialen

225 Theresa Ann Sears: „Beyond Hunger: The Alimentary Cultural Code in Lazarillo de Tormes“, in: Reyes Coll-Tellechea/Sean McDaniel (Hrsg.): The Lazarillo Phenomenon. Essays on the Adventures of a Classic Text, Cranbury 2010, S. 98-119, hier: S. 100. 226 Ebd., S. 101. 227 Polly Wiesner: „Introduction: Food, Status, Culture, and Nature“, in: dies./Wulf

Schiefenhövel (Hrsg.): Food and the Status Quest. An Interdisciplinary Perspective, Providence 1998, S. 1-18, hier: S. 6. 228 Robert Dare: „Introduction“, in: ders. (Hrsg.): Food, Power, and Community. Essays

in the History of Food and Drink, Kent Town 1999, S. 1-14, hier: S. 13.

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Aufstieg des Schelms geht, wird auch auf erzähllogischer Ebene deutlich, dass Hunger, Nahrungssuche und Aufstiegsambitionen in der Mannwerdung des Protagonisten austauschbare bzw. einander ablösende Parameter darstellen. Erstaunlicherweise ermöglicht an dieser Stelle der Mangel sowohl das aktive Handeln des pícaro als auch – auf der Ebene des Textes – den Fortgang der Narration und stellt damit auch ein wesentliches Movens innerhalb der männlichen Identitätsbildung des Helden dar. Man könnte abschließend sagen, dass im konkreten Fall der novela picaresca die Wörter hambre und hombre mehr als nur eine lautliche Verwandtschaft vereint. 2.3.4 Subjekt, Objekt, Abjekt: Zusammenfassung Es dürfte deutlich geworden sein, dass es einige Widerstände gibt, die Kategorien Männlichkeit und Körperlichkeit in der novela picaresca zusammenzudenken. Es gibt tatsächlich nur wenige direkte Hinweise auf eine explizite geschlechtliche Markierung des männlichen Körpers. Das liegt daran, dass Männlichkeit innerhalb des androzentrischen Gesellschaftssystems der frühneuzeitlichen Feudalstruktur ohnehin als die unhinterfragte geschlechtliche Norm fungiert, während Weiblichkeit, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, als das Andere bzw. die Abweichung davon imaginiert wird. Das Lacqueur’sche Ein-Geschlecht-Modell mag diesen Befund auf der Ebene des Körpers erklären; die von Simmel konstatierte Hypostasierung des Männlichen zum AllgemeinMenschlichen argumentiert auf einer übergeordneten soziologischen Ebene. Insofern ist es notwendig, die Körperlichkeit im engeren Sinne eines klar umrissenen (geschlechtlichen) Körpers zu erweitern, was wiederum dem vorherrschenden grotesken Körperkonzept im Bachtin’schen Verständnis entspricht. Der Körper im spanischen Schelmenroman – vor allem derjenige des pícaro selbst – dient demnach eher als offenes Konstrukt, als Medium des sozialen Austauschs, als Austragungsort intersubjektiver Praktiken, deren Beschreibungen wiederum zumindest mittelbare Rückschlüsse erlauben hinsichtlich seiner geschlechtlichen Kodierung. Die drei untersuchten Körperpraktiken – physische Gewalt, körperliche Verrichtungen sowie Essen/Hunger – lassen sich grob entlang zweier Achsen auf ihre geschlechtsspezifische Markierung überprüfen: zum einen auf der Achse Mangel vs. Überfluss, zum anderen innerhalb der Trias Subjekt, Objekt, Abjekt. Insgesamt lässt sich die pikareske Männlichkeit sicherlich auf der Seite des Mangels, ja des Prekären lokalisieren: Mangel an Nahrung, Mangel an Vermögen, Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung und Mangel an Sexualität. Auch der Mangel an moralischer Integrität lässt sich hier zweifelsohne anführen. Der

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Überfluss in allen genannten Punkten bleibt den höheren Schichten vorbehalten, weshalb hier erneut die Inversion bei der literarischen Konstruktion des pícaro und seiner männlichen Identität zum Tragen kommt: der Schelm als vir inversus. Einzig im Erdulden physischer Gewalt befindet sich der pícaro auf der HabenSeite innerhalb der pikaresken Werteordnung, d. h. auf der Seite des Überflusses. Hier kommt auf stilistischer Ebene die barocke Exzess-Rhetorik zum Einsatz, aber auch auf inhaltlicher Ebene die radikale Objektivierung des Marginalisierten, an dessen Körper sich meist ungestraft die brutale Lust der Mächtigen entlädt. Erst durch die Nachahmung dieser Praktiken, die der pícaro im gesellschaftlichen Überlebenskampf dringend braucht, erweist er sich als Spiegelbild seiner männlichen Umgebung und entlarvt im Modus des performativen Wiederholens die Doppelmoral der oberen Stände in all ihrer Grausamkeit. Nur durch diese Simulation männlicher Praktiken kann der pícaro überhaupt erst in die Nähe eines gesellschaftlich anerkannten Subjekts gelangen, jedoch wird ihm dieser Status immer wieder nach kurzer Zeit aberkannt. Daher muss hier einschränkend hinzugefügt werden, dass der Subjektstatus des pícaro im Gegensatz zur starren feudalen Herrenideologie immer nur temporär möglich ist. Dies mag der Grund sein, warum sich in dieser Figur des gesellschaftlichen Außenseiters die Kollektivängste der Mächtigen vor sozialem Abstieg kristallisieren: „Since the pícaros are forced to remain at the basest socio-economic level, they function as ominous reminders of the precariousness of economic and social positions.“229 Es wäre jedoch zu vereinfacht zu sagen, dass der Schelm sich durch die Nachahmung vorherrschender männlicher Sozial- und Körperpraktiken aus seinem Dasein als statusloses Objekt zu befreien vermag. Die episodische Erzählstruktur wirft ihn immer wieder zurück und die offenen Ausgänge der Romane machen dem Zyklus von Auf- und Abstieg bzw. dem zyklischen Wechsel von Objekt zu Subjekt keineswegs ein Ende: Guzmán endet auf den Galeeren; selbst der Minimalaufstieg Lázaros ist durch den drohenden Urteilsspruch von Vuestra Merced mehr als gefährdet; Pablos’ Flucht in die Neue Welt ist lediglich ein geografischer Schritt aus dem System, aber kein gesellschaftlicher. Die durch den pícaro repräsentierte Männlichkeit ist demnach nicht nur als defizitär, sondern vor allem als prekär zu bewerten. Die Komplexität im Widerstreit von Subjekt- und Objektstatus wird noch gesteigert durch die vermittels exkrementaler Motive angedeutete soziale Abjektion des pícaro. Das Abjekt als vom Körper Ausgeschiedenes, das weder Subjekt noch Objekt ist und im Betrachter Ekel und Abscheu auslöst, visualisiert die gesellschaftlich-liminale Position des pícaro als halber Außenseiter. Der Gesell-

229 Cruz: Discourses of Poverty, S. XV.

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schaftskörper braucht ihn zwar, um sich seiner eigenen Überlegenheit zu vergewissern, aber doch eben nur als in seiner Eigenschaft als Ausgeschiedener, nicht als integrierter Teil ihrer selbst. In ähnlicher Weise braucht die Gesellschaft die Armen, um u. a. durch das Spenden von Almosen ihre eigene Mildtätigkeit nach außen hin unter Beweis zu stellen. Ein Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung bleibt den Armen jedoch verwehrt. Das erklärt, warum die Armengesetze die Herumstreicherei zwar eindämmen, aber das Betteln keineswegs verbieten. Hier geht es also gewissermaßen um die staatlich kontrollierte Form von caritas zum Zwecke eines kollektiven amour propre. Dass die Abjektion, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, nicht nur den gesellschaftlichen Status der marginalisierten Männlichkeit beschreibt, sondern ebenfalls zu den Hauptmerkmalen pikaresker Weiblichkeit gehört, mag der ohnehin mangelnden geschlechtlichen Differenzierung in der novela picaresca geschuldet sein. Die Tatsache jedoch, dass vor allem im Bereich des Sexuellen sehr wohl eine geschlechtliche Differenzbildung zwischen den männlichen und den weiblichen Figuren hergestellt wird, legt den Verdacht nahe, dass die soziale Abjektion des Schelms durch seine Nähe zum Weiblichen eine zusätzliche Einbuße seiner Männlichkeit zur Folge hat. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass der pícaro, wie bereits erwähnt, kaum sexuelle Erlebnisse auf der Haben-Seite seiner Mannwerdung zu verbuchen hat, dass sein Beitrag zum Erhalt der Gesellschaft seinem individuellen Überlebenskampf zum Opfer fällt, dass er möglicherweise – wie es etwa der caso im Lazarillo nahelegen könnte – impotent ist, dann offenbart sich durch die Verquickung von defizitären Praktiken das pikareske Drama der Männlichkeit in seiner vollen Tragweite, in dem der Körper des Schelms einen der wichtigsten Akteure – oder besser gesagt: Nicht-Akteure – darstellt. Zudem wird auch auf der Ebene des Körpers deutlich, dass sich die Männlichkeit des pícaro einzig performativ auf der Grundlage von Praktiken untersuchen lässt und das wiederum nur unter Hinzunahme von Relationalität im Connell’schen Sinne: sowohl in Relation zu anderen Vertretern des eigenen Geschlechts, die ihrerseits repräsentativ für die Machtstrukturen des androzentrischen Systems stehen, als auch zum weiblichen Geschlecht, was im Folgenden noch näher zu erörtern sein wird. Nachdem nun das wechselseitige Verhältnis vom Körper des pícaro und dem Gesellschaftskörper ausgeleuchtet wurde, soll abschließend noch der Textkörper der Romane in die Analyse einbezogen werden. Es sei darauf hingewiesen, dass sich der unklare Status des pícaro zwischen Subjekt, Objekt und Abjekt auch in der Erzählanlage der Gattung niederschlägt: Wir haben es hier mit einem autodiegetischen Erzähler zu tun, der in der ersten Person Singular sowohl seinen Subjektstatus als erzählendes als auch seinen Objektstatus als erzähltes Ich nar-

M ÄNNLICHKEIT EN ZWISCHEN K ARNEVAL UND A BJEKTION

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rativ herstellt. Die beiden komplementären Seiten konstituieren auf narratologischer Ebene die Figur des pícaro, sind mithin untrennbar miteinander verbunden – und erzählen am Ende nichts anderes als die Geschichte der eigenen Abjektion.

3. Puta / Madre: Pikareske Weiblichkeit

Jede Analyse literarischer Männlichkeitsbilder wäre unvollständig, ohne sie jeweils in Relation zu entsprechenden Mustern und Repräsentationen von Weiblichkeit zu setzen, da es sich bei beiden Geschlechtskonstruktionen um relationale Kategorien handelt. Wie bereits mehrfach dargestellt, ist die pikareske Diegese stark geprägt durch patriarchale Strukturen und überwiegend bevölkert von männlichen Figuren – selbst die (frühen) Romane mit weiblichen Protagonisten bilden da keine Ausnahme.1 Viele der gendertheoretischen Auseinandersetzungen mit dem spanischen Schelmenroman konstatieren einerseits den maskulinen Fokus der Narration und beklagen andererseits, dass die weiblichen Charaktere von der Forschung kaum berücksichtigt wurden.2 Cruz z. B. spricht in ihrer genderspezifischen Analyse der klassischen novelas picarescas vom „male centered plot of

1

Vgl. z. B. zu Úbedas Pícara Justina Strobel: Wandern, Mäandern, Erzählen, S. 56: „Im Unterschied zu den Autoren späterer Pikara-Romane, die mit der Wahl einer weiblichen Schelmenfigur das Handlungsmuster gegenüber dem Pikaro-Roman geschlechtsspezifisch verändern – und sexualisieren, folgt Úbeda in der Handlung wie in der Figurenkonzeption dem Vorbild der männlichen Pikareske. [...] Úbedas Heldin [wird] nicht als Liebesobjekt präsentiert, und ihre pikaresken Machenschaften unterscheiden sich nicht wesentlich von denen ihrer männlichen Vorläufer.“

2

Tatsächlich widmen sich mehr Studien den Themen Weiblichkeit und weibliche Figuren als dem Themenkomplex Männlichkeit und Männlichkeitsbilder; neben den bereits genannten vgl. u. a. Adrienne L. Martín/ María Cristina Quintero (Hrsg.): Perspectives on Early Modern Woman in Iberia and the Americas. Studies in Law, Art and Literature in Honor of Anne J. Cruz, New York 2015; Gossy: The Untold Story; Joan F. Cammarata (Hrsg.): Women in the Discourse of Early Modern Spain, Gainesville u. a. 2003; Mariá del Pilar Puig Mares: Madres en la literature española: eros, honor y muerte, Caracas 2004.

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these canonical novels“ und konstatiert, dass sie allesamt „privilege the masculine gender of its protagonists.“3 Es geht aber bei der Analyse von Weiblichkeit in der novela picaresca nicht nur um auftretende Figuren, sondern ebenso um literarische Konzeptionen von Weiblichkeit im Sinne von kodifizierten Handlungsmustern stereotypen Repräsentationen, die das Gendergefüge der Texte nachhaltig mitbestimmen, man könnte mit C.G. Jung gar von im kollektiven Unbewussten verankerten Archetypen von Weiblichkeit sprechen,4 die den Texten des Siglo de Oro zugrunde liegen. Zudem sind Einstellungen und Strategien im Umgang mit Weiblichkeit zentral, sind diese doch facettenreich und reichen von der Idealisierung bis hin zur Abjektion.

3.1 M ADRE C ELESTINA: W EIBLICHE V ORFAHREN Trotz aller innovatorischer Kraft, die der novela picaresca als Gattung zweifelsohne und zurecht zugesprochen werden muss5, entsteht der spanische Schelmenroman 1554 mit dem Lazarillo de Tormes nicht aus dem Nichts. In Kap. 2.2.3 wurden bereits antike Vorläufer bzw. Inspirationsquellen erwähnt. Caroline Emmelius weist auf historisch nähere literaturgeschichtliche Voraussetzungen hin, insbesondere auf Erasmus’ Convivium fabulosum (1523) und auf Boccaccios Decamerone (1349-1353).6 Im Folgenden soll es nun weniger um narratologisch-syntagmatische Traditionslinien als um Genealogien im geradezu familialen Sinne gehen. Dabei stehen zwei spanische Texte im Vordergrund, die nicht nur aus historischer Sicht zu den direkten Vorläufern der novela picaresca gehören, sondern deren weibliche Hauptfiguren z. B. Schlickers zu folgender Feststellung animieren: „[...] und somit

3

Cruz: „Figuring Gender in the Picaresque Novel“, S. 7.

4

Vgl. C.G. Jung: Archetypen, München 2014; darin bes. „Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten“ (S. 7-53).

5

Vgl. dazu u. a. Christian Wehr: „La Vida de Lazarillo de Tormes und die Form der Individualität im Roman“, in: Christoph Ehland/Robert Fajen (Hrsg.): Das Paradigma des Pikaresken / The Paradigm of the Picaresque, Heidelberg 2007, S. 25-43.

6

Vgl. Caroline Emmelius: „Das Ich und seine Geschichte(n). Paradigmatische und syntagmatische Erzählstrukturen in der Novellistik, der mittelalterlichen Ich-Erzählung und im deutschen Lazaril von Tormes“, in: Jan Mohr/Michael Waltenberger (Hrsg.): Das Syntagma des Pikaresken, Heidelberg 2014, S. 37-69.

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ist der erste Schelm der spanischen Literatur weiblichen Geschlechts!“7 Gemeint sind Fernando de Rojas’ berühmter Dialogroman Tragicomedia de Calisto y Melibea (1499/1502), besser bekannt als La Celestina, sowie der weniger berühmte, ebenfalls in dialogischer Form verfasste Exil-Roman Retrato de la Lozana Andaluza (1528) von Francisco Delicado. In beiden Texten liefern uns männliche Autoren – zumindest auf den ersten Blick – ein für die Frühe Neuzeit stereotypes und von populären mittelalterlichen Genres vorbereitetes Bild von Weiblichkeit, das vor allem durch starke Sexualisierung und vorgegaukelte Volksnähe geprägt ist und das man entsprechend dem derb-volkstümlichen Register mit den Bildern von Puffmutter und Hure versehen kann. Insbesondere in der Celestina drängt sich der erstgenannte Begriff geradezu auf, da die Protagonistin von nahezu allen Figuren des Dialogromans8 als „madre“ adressiert wird. Diese Adressierung hebt sie a priori von den anderen Akteuren ab, und sie tut es umso mehr, wenn man zunächst einen kurzen Blick auf die einzige ‚biologische‘ Mutterfigur des Textes wirft, nämlich auf Alisa, die Mutter Melibeas. Ihr letzter Auftritt am Ende des Textes beschreibt folgende Szene: Melibea hat gerade durch Unfalltod ihren Liebhaber Calisto verloren und wütet in großer Verzweiflung durch das elterliche Haus, zu allem bereit. Ihre Dienerin Lucretia weckt die Eltern – der Vater kümmert sich in höchster Sorge um seine Tochter, kann jedoch ihren Suizid nicht verhindern. Als er danach – „con grandísimo llanto“9 – in sein Schlafgemach zurückkehrt, eröffnet ihm seine Frau, vermutlich noch im Halbschlaf: „Sin eso estava adormida del pesar que ove quando oý dezir que sentía dolor nuestra hija“ (C XXI 337). Diese Reaktion wirkt ob der dezidiert

7

Schlickers: „Cherchez la femme“, S. 56.

8

Die Gattungsfrage, ob es sich bei der Celestina eher um ein Lesedrama oder einen dialogischen Roman handele, spielt in der Forschung stets eine wichtige Rolle. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt/M. 1990, 2 Bde., Bd. I, S. 196f: „Hunderte von Seiten haben Hispanisten mit den verschiedensten Antworten auf die Frage gefüllt, ob das zuerst 1499 in Burgos unter dem Titel Tragicomedia de Calisto y Melibea erschienene Buch von Fernando de Rojas (das seit einer frühen Phase der Textüberlieferung meist La Celestina genannt wird) ein Roman oder ein Drama sei. Natürlich ist die beliebte Frage falsch gestellt, weil sie die Begriffe ‚Roman‘ und ‚Drama‘, die voll ausgebildeten Formen neuzeitlich-literarischer Kommunikation entsprechen, in eine historische Situation projiziert, in der die Entfaltung der ‚Literatur‘ eben erst einsetze.“

9

Fernando de Rojas: La Celestina, hrsg. von Dorothy S. Severin, Madrid 192001, S. 337. Im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert mit der Sigle C, der Angabe des Aktes und der Seitenzahl im Lauftext.

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ausgestellten Gleichgültigkeit geradezu verstörend: Weil die Tochter so sehr leidet, schläft die Mutter wieder ein. Erzähltheoretisch, so Herausgeberin Dorothy S. Severin, fungieren die Äußerung Alisas und die sich anschließenden Fragen nach den Ursachen von Pleberios „bozes tan altas, tus quexas non acostumbradas“ (C XXI 337; später erst sorgt sie sich um ihre Tochter) lediglich als narrative Legitimation von Pleberios abschließender Totenklage: „Las preguntas de Alisa cumplen la función de la narración en tercera persona“ (C XXI 337). Inhaltlich jedoch verrät uns diese knappe Sequenz ein Verständnis von Mutterschaft, das sehr weit entfernt ist vom christlichen Ideal mütterlicher Fürsorge. Im direkten Vergleich wirkt die Liebe der Puffmutter für ihre Zöglinge und Ziehtöchter außergewöhnlich umfassend, auch wenn zwei ihrer ‚Söhne‘ sie schließlich aus Habgier umbringen. Celestina selbst hat keine leiblichen Kinder, auch wenn apokryphe Weiterführungen, so vor allem der Roman La hija de Celestina (1612) von Alonso Jerónimo de Salas Barbadillo, ihr nachträglich welche andichten. Insofern wirkt Rojas’ Diskurs über Mutterschaft in seiner pessimistischen Ausrichtung subversiv und hebelt das traditionelle Bild der christlichen Kernfamilie grundlegend aus.10 In diesem Kontext sticht die an Celestina gerichtete und positiv konnotierte Anrede madre in ihrer Häufigkeit besonders hervor, wenngleich diese – nicht nur unter generationellen Gesichtspunkten – zu einer deutlichen Infantilisierung der anderen Figuren führt, was die Titelfigur, unabhängig von Standesfragen, mit zusätzlicher Macht ausstattet. Dieser Eindruck verschärft sich noch, wenn man bedenkt, dass ursprünglich die beiden Liebenden Calisto und Melibea als Titelfiguren fungierten, jedoch durch die Verlagerung des Fokus auf die Kupplerin endgültig zu Nebenfiguren degradiert werden. Hierbei spielt der Figurenname selbst keine unwichtige Rolle:11 Auch wenn Celestina im heutigen spanischen Sprachgebrauch längst die Bedeutung innehat, für die Rojas’ Werk verantwortlich zeichnet, nämlich jene der „alcahueta“, der „mujer que concierta una relación amorosa“12, also der alten ‚Kupplerin‘, steht doch zunächst mit celestial und etymologisch mit lat. CAELESTIS (‚himmlisch‘) die vermeintlich himmlische oder gar göttlich-überirdische Provenienz der Hauptfigur im Vordergrund, was angesichts ihres durch und

10 Über den gleichermaßen subversiven und ambivalenten Mangel an mütterlicher Fürsorge in der novela picaresca wird im folgenden Kapitel noch zu reden sein. 11 Die folgenden Ausführungen wurden teilweise übernommen aus Verf.: „Böse Kupplerinnen, üble Spelunken und gehörnte Ehemänner“, S. 376-378. 12 So die Definition des von der Real Academia Española herausgegebenen Diccionario de la lengua española, in: http://dle.rae.es/?id=89NH0U1|89NeF45 (letzter Zugriff: 09.01.2018).

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durch ‚diesseitigen‘ Charakters nur als karnevalesk-ironische Verkehrung verstanden werden kann. In Covarrubias’ Tesoro hingegen werden wir unter dem Lemma Celestina Zeuge einer etymologischen Spurensuche, die einen etwas anderen Weg einschlägt, der insofern verwundern muss, als dort keineswegs Rojas’ ironischer Anverwandlung Rechnung getragen, sondern vielmehr eine Interpretation im Geiste einer genuin literarischen Deutung vorgenommen wird: CELESTINA, nombre de uva mala vieja que le dio a la tragicomedia Española tã celebrada. Dixose assi qua si Scelestina a scelere por la maluada alcahueta embustidora: y todas las de mas personas de aquella comedia tiene͂ nombre apropiados a sus calidades.13

Nicht nur erfahren wir an dieser unerwarteten Stelle, dass es sich bei der Celestina zu Beginn des 17. Jahrhunderts um eine ‚äußerst berühmte spanische Tragikomödie‘ handelt, sondern wir erleben den Lexikografen gleichsam als Literaturwissenschaftler avant la lettre, indem er dem Autor der Celestina eine eigene, subversive Etymologie in den Mund legt – José María Pérez Fernández spricht gar von einer „false etymology“14. Indem Covarrubias Rojas implizit unterstellt, dass er bei seiner Namensgebung keineswegs das naheliegende CAELESTIS im Sinn hatte, sondern mit lat. SCELUS, -ERIS (‚Verbrechen, Frevel, Ruchlosigkeit, Bosheit, Tücke‘) eindeutig eine Charakterisierung der Hauptfigur vornimmt, wird aus dem Eintrag eine subjektive Wertung, die weder dem – zumindest aus heutiger Sicht geforderten – neutral-wissenschaftlichen Anspruch eines Wörterbuchs noch der überaus komplex gezeichneten Protagonistin gerecht wird. Tatsächlich wird an dieser Stelle eine subversive Lesart gegen eine andere ausgespielt. Über die Gründe kann wiederum nur spekuliert werden: Fest steht zunächst, dass der Verfasser des Wörterbuchs kaum über die näherliegende Herkunft des Namens im Unklaren gewesen sein dürfte. Möglicherweise sollte durch diesen Eintrag dem Autor der „tragicomedia Española tã celebrada“ eine Art Ehrenrettung zuteilwerden, da es im historischen Kontext der Inquisition als weitaus heikler erscheinen musste, der dubiosen Hauptfigur tatsächlich eine ‚himmlisch-göttliche‘ Provenienz anzudichten. Wenn wir Covarrubias’ halbherzige, wenngleich nicht unoriginelle Schein-Etymologie vernachlässigen, offenbart sich in den beiden Kern-Attribuierungen der Protagonistin – madre und celestial – eine blasphemische Kraft, die aus der ruchlosen Kupplerin einen ironisch-radikalen Gegenentwurf zur ursprünglich himmlischen Mutter zeichnet, nämlich zur Jungfrau Maria.

13 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 269. 14 Zitiert nach den Kommentaren des Herausgebers in: James Mabbe: The Spanish Bawd, hrsg. von José María Pérez Fernandez, London 2013, S. 69.

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Im Text lässt sich eine Reihe weiterer Belege finden, die diese ironisch-blasphemische Identifizierung Celestinas, die sich bezeichnenderweise selbst an einer Stelle als „madre y más que madre“ (C VII 195) tituliert, mit der ‚Mutter Gottes‘ unterstreichen – Belege, deren Fülle Manuel da Costa Fontes in einer umfangreichen Studie dargestellt hat.15 Darüber hinaus fällt auf, dass Celestina durchweg über allen anderen Figuren steht, indem sie deren Schicksale lenkt und als einzige tatsächlich aktiv-handelnde Figur auftritt. Auffallend ist zudem, dass alle weiteren Akteure stets in Paarkonstellationen auftreten – Melibea/Calisto; Sempronio/Pármeno; Areusa/Elicia etc. –, nur Celestina selbst ist zwar mit allen in Kontakt, jedoch als Figur vollkommen unabhängig, mithin mit niemandem fest liiert, auch wenn sie ihrem jeweiligen Gegenüber stets suggeriert, jederzeit und allseits bereit, kurz: zuverlässig zu Diensten zu sein. So erklärt sich die Tatsache, dass sämtliche Figuren in ihr eine mütterliche Instanz sehen. Ihre ständige Anwesenheit in den meisten Szenen unterfüttert den Eindruck ihrer nachgerade überirdischen Omnipräsenz16 – genauso wie die Tatsache, dass sie sich bis zu ihrem gewaltsamen

15 Vgl. Manuel da Costa Fontes: „Celestina as Antithesis of the Virgin Mary“, in: Journal of Hispanic Philology 15 (1990-91), S. 7-41. Costa Fontes resümiert eine Vielzahl an Belegen, die kaum noch Zweifel am blasphemischen Subtext der Celestina lassen: „A summary of the main points made thus far is needed to demonstrate that the parallels brought together do not constitute a matter of pure coincidence. The very meaning of the old bawd’s name, “little celestial one”, suggests that she is some sort of heavenly figure. Practically everyone who addresses her in the text calls her mother, and many of the titles used by the Catholic Church to designate the Virgin are applied to Celestina, who is also associated with the rosary. Calisto kneels before her. Like a church dedicated to the Virgin, her house is the shrine of a cult where many maidens give up their virginity under her direction as high priestess, shedding their innocent, virginal blood in initiations that amount to anti-Marian rites. This shrine is also attended by monks, who thus betray their vows of chastity. To enlarge her flock even more, Celestina is always visiting churches, convents, and monasteries, focusing her attack precisely on the consecrated places of prayer of a rival religion that saw virginity, chastity, and celibacy as its highest virtues. Like the Blessed Mother, she is revered everywhere. Upon entering church during the peak of her power, she provoked such rapture that she became the main object of reverence of the faithful, displacing God in their devotion“ (27f). Vgl. dazu auch Ciriaco Morón Arroyo: Sentido de forma de La Celestina, Madrid 1974, S. 71: „Celestina aparece como la Virgen a la cual se pide que nos presente a Cristo.“ 16 Auch Gossy beobachtet in Anlehnung an Stephen Gilman den hochdynamischen Charakter der Protagonistin und konstatiert: „incessant movement is Celestina’s essential

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Tod niemals die Fäden aus der Hand nehmen lässt. Dass dies durchaus wörtlich zu verstehen ist, legt ihr ‚offizieller‘ Beruf der Näherin nahe – auch wenn Maria gemäß der klassischen Ikonografie eher mit dem Webstuhl assoziiert wird, so existieren doch auch Bildnisse nach der Geburt ihres Sohnes, die sie als Näherin zeigen. Auch auf der inoffiziellen Ebene tritt Celestina als Näherin auf, indem sie die Jungfernhäutchen junger Frauen zusammennäht, die sich dem Verbot vorehelicher Sexualität widersetzt haben. Dass der Beruf der Näherin bzw. die Praxis des Nähens im historischen Kontext der Vormoderne ebenso ambivalente Assoziationen aufwerfen, unterstützt einmal mehr die Komplexität der Hauptfigur. Einerseits – und daran hat sich bis heute nur wenig geändert – gehören das Nähen, Weben und Flicken im kollektiven Bewusstsein zu den stereotypischen Tätigkeiten einer Frau.17 Insofern bedient Celestina vordergründig mit ihrem Beruf die Erwartungen der Gesellschaft an ihr Geschlecht, ja übertrifft diese sogar, indem sie nach außen hin ihre eigene Schule leitet, in der sie junge Frauen zur Näherin ausbildet. Dem vorherrschenden Gebot des desengaño entsprechend, das auch die Celestina bis zum bitteren Ende beherrscht, stellt diese scheinbare Kompatibilität mit den patriarchalen Vorgaben nur eine Seite der Medaille dar. Insbesondere im literarischen Archiv der frühneuzeitlichen Volkskultur hat sich längst eine sekundäre Assoziationsebene herausgebildet, die der Praxis des Nähens zueigen wurde, worauf auch Gossy hinweist: The vocabulary of stitching by 1499 in Spain and elsewhere had acquired the strong sexual double entendres that are a mainstay of bawdy literature. Generally, the tools of sewing are symbols of the phallic or vulval parts they most obviously resemble.18

characteristic“ (Gossy: The Untold Story, S. 40). Während Gossy dies jedoch eher dem hexenhaften Wesen der Protagonistin zuschreibt, rückt Gilman sie aufgrund ihrer dynamischen Omnipräsenz (sowohl horizontal als auch vertikal) in die Nähe der Göttin Fortuna und ihres Schicksalsrades (vgl. Stephen Gilman: The Art of La Celestina, Westport 1976, S. 128-130). 17 Abermals sei hier auf den Tesoro de la lengua castellena verwiesen, wo unter dem Lemma hilar / nähen zuallererst steht: „exercicio y ocupacion de mugeres caseras y hazedosas“ (S. 472). 18 Gossy: The Untold Story, S. 42. Vgl. dazu auch: Pierre Alzieu/Robert Jammes/Yvan Lissourges (Hrsg.): Floresta de poesías eróticas de Siglo de Oro, Toulouse 1975. In dieser Anthologie finden sich zahlreiche Beispiele für die erotische Konnotierung des Motivs des Nähens.

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Die erotische Bedeutungsdimension des Nähens, derer sich Rojas zweifelsohne bewusst ist, erweist sich in der Celestina jedoch als komplexer als es Gossy mit Verweis auf den historischen Kontext konstatiert. Es geht natürlich auch um die beschriebenen formalen Analogien, denen zufolge die Protagonistin sich als phallische Figur erwiese, die versiert mit ihrem Werkzeug umzugehen weiß. Diese Maskulinisierung der Figur auf der symbolischen Ebene wird im Rahmen der Beschreibung ihres Äußeren durch eines ihrer ‚Kinder‘ noch angereichert, wenn Sempronio sie Calisto gegenüber gleich im ersten Akt, d. h. noch vor ihrem ersten Erscheinen in persona, als „vieja barbuda“ (C I 104), als ‚bärtige Alte‘ ankündigt. Ein Blick in das spanische Nationalheldenepos schlechthin, den Cantar de Mio Cid (um 1200), reicht aus, um sich zu vergegenwärtigen, welche enorme Rolle das Tragen eines Bartes bei der phänotypischen Ausprägung idealtypischer vormoderner Männlichkeit spielt.19 Auf diesen Befund bezieht sich auch Gossy bei der Charakterisierung von Celestinas äußerer Erscheinung:

19 Nicht weniger als 22 mal wird im Cid der Bart des Helden erwähnt. Zu Beginn wird mehrfach die Pracht und Fülle (z. B. V. 268: „barba tan conplida“, V. 274: „la barba vellida“; V. 789: „¡Dios, cómmo es bien barbado!“) hervorgehoben, während am Ende ausschließlich die Bartlänge formelhaft in den Fokus der Beschreibung rückt (z.B. V. 1587: „luenga trae la barba“; V. 2059: „catándol’ sedié la barba“). Anlässlich des Prozesses gegen die Infanten von Carrión, die des Helden Töchter geschändet hatten, wird abermals der Bart und dessen Länge beschrieben und diesmal auch explizit mit der Männlichkeit des Helden in Verbindung gebracht: „Catando están a mio Cid cuantos ha en la cort / a la barba que avié luenga e presa con el cordón; / en sos aguisamientos bien semeja varón.“ (V. 3123-3125). Ebenfalls wird mehrfach darauf hingewiesen, dass niemand ihm seinen Bart rauft (V. 3186, V 3285-3287). Victor Millet und Alberto Montaner, die Herausgeber der neuen zweisprachigen Ausgabe des Cid, merken dazu an: „Der Bart ist ein charakteristisches Attribut des Cid im Text [...]. Die Länge des Bartes ist wahrscheinlich von literarischen und ikonografischen Traditionen beeinflusst, wo sie Reife und Weisheit bedeutet [...]. Der Bart drückt zudem die Männlichkeit und die Ehre des Trägers aus. [...] Jemanden den Bart zu raufen war eine schwere Kränkung, die in manchen Rechtsbüchern mit der gleichen Strafe belegt wurde wie die Kastration.“ (Alle Zitate aus: Cantar de Mio Cid/Das Lied von Mio Cid. Altspanisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Victor Millet und Alberto Montaner, Stuttgart 2013, S. 398, 453). Auffallend ist zudem, dass offenbar nur der Held einen Bart trägt, was ihn zusätzlich in Sachen Ehre und Männlichkeit deutlich von den anderen Figuren abhebt. Zu den nur angedeuteten ‚literarischen Traditionen‘ gehört zweifellos das französische Nationalepos, La Chanson de Roland (um 1100), in dem auch mehrfach der lange Bart Karls des Großen beschrieben wird.

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[…] the beard in Spanish culture is a symbol of masculinity, power, and honor. […] Sempronio attaches, insultingly, an attribute of great masculine prestige to an old woman. […] The old woman has an attribute of a man. This makes her, in some readers’ eye, repulsive […]. But it also symbolically confers the phallus upon her.20

Jacobo Sanz Hermida widmet den Konnotationen der „vieja barbuda“ eine ausführliche Studie, in der er minutiös mittelalterliche und frühneuzeitliche Diskurse aus Medizin, humanistischer und volkstümlicher Literatur zusammenführt, die sich allesamt mit der Figur der bärtigen Frau beschäftigen. Demzufolge ergeben sich drei Hauptmerkmale, die den Diskurs über diese spezielle Art grotesker Weiblichkeit bestimmen: das Alter, die Wollust und das Dämonische („una mujer vieja, lujuriosa y con cierta relación con los poderes demoníacos“21). Sämtliche dieser Konnotationen finden sich in der Celestina wieder. Erst ganz am Ende geht Sanz Hermida auf die transgressive Geschlechtlichkeit der „vieja barbuda“ ein: „La barbuda representaba en otra de sus significaciones ese valor de perfección andrógina, alejada de la inteligencia común femenina y cercana, por lo tanto, al entendimiento y virtud del hombre.“22 Daher komme dem Adjektiv „barbuda“ ein „significado de virtuosa por su acercamiento a la inteligencia varonil“23 zu. Nehmen wir noch mit dem Libro de buen amor (1330/43) einen der wichtigsten Vorläufer der Celestina hinzu, in dem die bärtige Frau in einem Monolog Don Amors (!) über die richtige Damenwahl ebenfalls einen kurzen Auftritt hat. „Guár[da]te que non sea bellosa nin barbuda: ¡atal media pecada el huerco la saguda!“24 Hier wird die bärtige Frau in direkter Gegenüberstellung mit der perfekten Frau, die schön, anmutig, stattlich, nicht zu groß, gerade gewachsen sein und rote Lippen, weiße Zähne und eine spitze Nase haben soll,25 als besonders abstoßendes Exem-

20 Gossy: The Untold Story, S. 33. 21 Jacobo Sanz Hermida: „‚Una vieja barbuda que se dice Celestina‘: Notas acerca de la primera caracterización de Celestina“, in: Celestinesca 18/1 (1994), S. 17-34, hier: S. 27. Vgl. auch Susanne Thiemann: „Sex Trouble. Die bärtige Frau bei José de Ribera, Luis Vélez de Guevara und Huarte de San Juan“, in: dies./Judith Klinger (Hrsg.): Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit, Potsdam 2006, S. 47-82. Thiemann relativiert ebenfalls den gängigen misogynen Blick auf die bärtige Frau in der spanischen Kulturgeschichte, was die Figur insgesamt positiviert. 22 Ebd., S. 31. 23 Ebd., S. 32. 24 Juan Ruiz Arcipreste de Hita: Libro de buen amor, hrsg. von Alberto Blecua 1992, S. 119f. 25 Vgl. ebd., S. 114-116.

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pel grotesker Weiblichkeit beschrieben – wenn ihr nicht gar die Weiblichkeit gänzlich aberkannt wird. Dieser erstaunliche Assoziationsreichtum der ‚bärtigen Alten‘ unterstreicht demgemäß auf rein phänotypischer Ebene den ohnehin komplexen Charakter Celestinas. Sempronio erweitert das einführende Porträt der Hauptfigur noch um weitere Informationen über ihr Geschäft: Días ha grandes que conozco en fin desta vezindad una vieja barbuda que se dize Celestina, hechizera, astuta, sagaz en quantas maldades hay. Entiendo que passan de cinco mil virgos los que se han hecho y desecho por su autoridad en esta cibdad. A las duras peñas promeverá y provocará a luxuria, si quiere (C I 104).

An dieser Stelle wird nicht nur zum ersten Mal ihr Name genannt, sondern dieses Kurzporträt ist gespickt mit sowohl mehr- als auch eindeutigen Attribuierungen. Zunächst wird Auskunft über Celestinas abseitigen Wohnort erteilt – „en fin desta vezindad“, was soviel bedeutet wie am Rande der Umgebung –, wodurch der liminale gesellschaftliche Rang der Protagonistin zum Ausdruck gebracht wird.26 Mit „hechizera“ kann sowohl Zauberin als auch Heilerin gemeint sein – beides träfe zu.27 Wichtig ist hier die Eigenschaft „astuta“, gehört doch die „astucia“ ebenfalls zu den lebensnotwendigen Kerneigenschaften des pícaro. Im Inventar der geschlechterstereotypen Zuweisungen von Charaktereigenschaften galt in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit die List als genuin weiblich kodiert28, auch wenn bei Covarrubias nur neutral von „el ardid con que vno engaña“29 die Rede ist. Durch den Bezug zu ‚engañar/engaño‘ wird die moralische Gewich-

26 Vgl. dazu Folke Gernert: „La diversión de las segregadas: Prácticas sociales y espacios textuales“, in: Mechthild Albert (Hrsg.): Sociabilidad y literatura en el Siglo de Oro, Madrid/Frankfurt/M. 2013, S. 219-238, hier: S. 226: „Se sobreentiende que esta marginalización topográfica es indicio de una marginalización social [...].“ 27 Zu Celestinas Expertise als Heilerin vgl. Jean Dangler: „Transgendered Sex and Healing in Celestina“, in: Celestinesca 25 (2001), S. 69-81. Dangler sieht bezeichnenderweise in dieser Tätigkeit einen Beleg Hinweis für Celestinas ambige Geschlechtsidentität. 28 Vgl. dazu u. a. Christina Garbe: Die ‚weibliche‘ List im ‚männlichen‘ Text. Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik, Stuttgart 1992, wo auch die Traditionslinie dieser Zuschreibung deutlich gemacht wird. Die List wird im Bereich der Tiermetaphorik auch der Schlange zugewiesen, die in der Genesis mit Eva ‚gemeinsame Sache‘ gemacht hat. Celestina wird mehrfach mit einer solchen verglichen. 29 Covarrubias: Tesoro de la lengua española, S. 99.

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tung klar: Wir haben es nicht mit Gewitztheit oder Verschmitztheit zu tun, sondern mit List im Sinne von heimtückischer Verschlagenheit – „sagaz en quantas maldades hay“, wie Sempronio weiter ausführt. Im Folgenden wird direkt auf Celestinas Tätigkeit als Näherin angespielt, wenngleich recht unverblümt auf die inoffizielle Kehrseite ihres Berufs: „Entiendo que passan de cinco mil virgos los que se han hecho y desecho.“ Diese enorme Zahl an Jungfrauen, deren De- und Refloration auf Celestinas Konto gehen, ist schließlich nur möglich, da die bärtige Alte eine besondere – freilich moralisch ambivalente – „autoridad en esta cibdad“ genießt (an späterer Stelle erfahren wir noch, dass jedes neugeborene Mädchen in Celestinas eigens erstelltem Jungfrauenregister landet, d. h. die Wirkstätte der Kupplerin beherbergt nicht nur ein Bordell, eine Nähschule, eine Heilstätte, sondern auch ein Einwohnermeldeamt der ganz besonderen Art). Abschließend wird noch einmal das Talent der Kupplerin betont, selbst das härteste Gestein mit „luxuria“ zu erfüllen. Es lohnt sich, dieses knappe Porträt näher zu betrachten, da hier bereits alle wesentlichen Grundthemen des Werkes vorgestellt werden, die im weiteren Verlauf dramatisch und narrativ ausgefaltet werden. Wenn Gossy schreibt, dass in der Celestina im Wesentlichen die Themen „[s]ex, fiction, and money“30 miteinander verzahnt werden, trifft das nur teilweise zu, geht es doch vor allem auch um Macht („autoridad“), die dieser Trias noch vorangestellt ist. Auch wird hier eine Reihe von Merkmalen entwickelt, die auf die novela picaresca vorausdeutet. Letzteres lässt sich schon allein anhand der Frage „Wer spricht?“ erörtern: Es handelt sich um Sempronio, seines Zeichens Diener Calistos, der dem pícaro nicht nur aufgrund seiner sozialen Stellung und beruflichen Situation sehr nahe steht. Er scheint in der zwielichtigen Welt des Gauner- und Prostituiertenmilieus bestens vernetzt zu sein und führt die Titelfigur in die Erzählung ein. Er vermittelt mithin aufgrund seiner Stellung zwischen den beiden – offiziell strikt getrennten – Sphären von Adel und Unterwelt. Sempronio fällt gleich zu Beginn des Textes vor allem durch seine extreme Misogynie auf, wenn er seinen Herrn davor warnt, sich dem loco amor hinzugeben.31 In seiner hyperbolischen Hasstirade auf das weibliche Ge-

30 Gossy: The Untold Story, S. 30. 31 Mit der Diskussion des loco amor stellt sich Rojas in eine Tradition, die bereits im Libro de buen amor im Zentrum stand. Dort diskutiert der (höchstwahrlich) anonyme Autor den leitmotivischen Gegensatz von „el pecado del amor loco d’este mundo“ und „el buen amor, que es el de Dios“ (Juan Ruiz: Libro de buen amor, S. 6f). Die Argumentation verläuft jedoch nicht immer eindeutig zugunsten des „buen amor“, sondern stellt ganz deutlich auch den „amor loco“, und hier den Sexualtrieb insbesondere, als festen Bestandteil der conditio humana dar: „Das Buch wirbt nicht nur für den ‚amor bueno‘,

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schlecht, das als Wurzel allen ‚Liebes-Übels‘ angesehen wird und daher eine massive Bedrohung für den Mann darstelle, der gemeinhin mit „claro ingenio“ (C I, 101) ausgestattet sei und sein Leben nach der „medida de honra“ (C I, 100) ausrichte, listet er folgende Eigenschaften auf: [S]us dessimulaciones, su lengua, su engaño, su olvido, su desamor, su ingratitud, su inconstancia, su testimoniar, su negar, su rebolver, su presunción, su vanagloria, su abatimiento, su locura, su desdén, su sobervia, su subjeción, su parlería, su golosina, su luxuria y suziedad, su miedo, su atrevimiento, sus hechizerías, sus enbaymientos, sus escarnios, su deslenguamiento, su desvergüença, su alcahuetería (C I, 99).

Dieser umfangreiche Katalog des misogynen hate speech steht in einer Tradition, als deren prominentestes Beispiel im iberoromanischen Sprachraum wohl das vierteilige Traktat Arcipreste de Talavera o Corbacho (1438) von Alfonso Martínez de Toledo gilt.32 Allgemein darf der Text als überspitzte Warntafel vor den Fallstricken der ‚weltlichen‘ Liebe verstanden werden, die der Autor – entsprechend dem vorherrschenden klerikalen Geschlechtermodell – ursächlich aus-

sondern versteht sich auch als Ratgeber für den ‚amor loco‘“ (Hans-Jörg Neuschäfer: „El libro de buen amor (1330/1343). Der Erzpriester von Hita und die ‚menschliche Natur‘“, in: ders.: Klassische Texte der spanischen Literatur, Stuttgart 2011, S. 10-19; hier: S. 11). Interessant für unseren Zusammenhang ist ferner, dass der Autor sein frommes Gebet in der Vorrede mit einem Lobgesang auf die Heilige Jungfrau abschließt und sie als „Madre de pecadoras“ (S. 5) adressiert. Des Weiteren wird mit der Figur der Trotaconventos (der ‚Klosterrennerin‘) die Figur der Kupplerin eingeführt, die deutlich auf Rojas’ Hauptfigur vorausweist – ebenso wie die auffällige Mischung von Hochund Volkssprache. 32 Ursprünglich erschien der Tractado 1438 unter dem Titel Arcipreste de Talavera. Wie Herausgeber Michael Gerli darstellt, wurde der Titel postum in einer Ausgabe des Jahres 1498 aus vermutlich ‚marketingtechnischen‘ Gründen in Corbacho umgeändert und mit dem neuen Untertitel Reprobación del amor mundano versehen: „La mudanza del título y la añadidura del subtítulo probablemente se llevaron a cabo por […] asociarse la obra de Martínez con la denuncia del amor y las mujeres que se encuentra en la alegoría misógina de Giovanni Boccaccio, Il Corbaccio (1355). El opúsculo del italiano logró gran popularidad en la Península Ibérica durante la baja Edad Media […]. In: Michael Gerli: „Introducción“, in: Alfonso Martínez de Toledo: Arcipreste de Talavera o Corbacho, hrsg. von Michael Gerli, Madrid 1992, S. 13-58, hier: S. 20. Vgl. dazu Michael Solomon: The Literature of Misogyny in Medieval Spain. The Arcipreste de Talavera and the Spill, Cambridge 1997, bes. S. 149-151.

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schließlich den Frauen zuschreibt.33 Insbesondere der zweite Teil des Arcipreste de Talavera bietet seinen Lesern eine flammende Polemik gegen die Frauen aller Stände, die in den beiden folgenden Teilen mit astrologischen und medizinischen Diskursen unterfüttert werden, insbesondere mit Bezügen zur Vier-Säfte-Lehre. Sempronios ‚Registerarie‘ der Frauenschmäh beschränkt sich ganz ohne Scheinerklärungen auf die Inventarisierung aller weiblichen Übel, die ihm Mártinez und seine Kollegen soufflieren. Allein durch den leicht wiedererkennbaren Rückbezug auf die bereits bestens bekannten Frauenschmäh-Texte von Martínez und Boccaccio erhält Sempronios Monolog einen stark kodifizierten und mithin artifiziellliterarischen Charakter, der die Glaubwürdigkeit des Gesagten doch stark anzweifeln lässt und eher zu einer Distanzierung vom Gesagten führt. Im Gegensatz zu dieser Auflistung besticht sein nur wenig später komponiertes Porträt der Hauptfigur durch scharfsinnige Beobachtung ganz im Sinne des pikaresken hablar claro und stellt damit den desengaño ouvertürenhaft an den Beginn des Textes.34 Er ist es auch, der seinen Herrn – eher unüblich für einen Diener – mehrfach der durch den amor loco induzierten Idolatrie zeiht („SEMPRONIO: ¿No eres Christiano? CALISTO: ¿Yo? Melibeo só, y a Melibea adoro, y en Melibea creo, y a Melibea amo“, C I 94).35 Calistos Liebeswahn wird ihn schließlich dazu bringen, auch in

33 Dass dieses Bild auch eine Reihe humanistischer Autoren vertreten, so Erasmus, Vives, Fray Juan de la Cerda, Fray Luis de León, darauf weist Isabel Morant hin: Discursos de la vida buena. Matrimonio, mujer y sexualidad en la literatura humanista, Madrid 2002, S. 57: „De este modo aparece [...] en las representaciones de los vicios de la mujer y en el modo en que determinadas conductas femeninas podían perjudicar a los hombres. Y en este sentido, son verosímiles los relatos de los peligros que ocasiona al género masculino el que las mujeres usen su cuerpo, hermoso y deseable, como señuelo que debilita al hombre restándole autoridad. El moralista refiere con todo lujo de detalles la malicia de la pueden ser capaces las mujeres para atraer y dominar a los hombres. […] Por otro lado, el discurso sobre la maldad originaria de las mujeres, la debilidad física y moral que se dice es propia de todo el sexo femenino, se trae a colación aquí también para separar y dividir los espacios de los sexos, como causa y justificación de las exclusiones que se predican para las mujeres.“ 34 Auch Martínez de Toledo wollte seinen Traktat als „fruto de desengaño personal“ verstanden wissen: „A cada paso nos declara que su libro no es ficción“, meint Gerli („Introducción“, S. 21). Dies darf bei Sempronio aufgrund seines Lebensalters kaum vermutet werden. 35 Dieser ketzerische Ausspruch eines Caballeros war der Inquisition ein besonderer Dorn im Auge und wurde 1640 zensiert (vgl. Kommentar von Dorothy S. Severin: C 94).

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der Kupplerin Celestina eine helfende Göttin zu sehen, wenn er vor ihr auf die Knie fällt („Dende aquí adoro la tierra que huellas y en reverencia tuya la beso“, C I 117) – eine groteske Szene, die den in der Celestina gezeichneten mundus inversus mit besonders grellen Farben ausmalt, immerhin kniet hier wohlgemerkt ein Vertreter des Adels vor einer in mehrfacher Hinsicht zwielichtigen Gestalt der unteren Stände, was als profanatorische Parodie des übermäßigen Marienkultes interpretiert werden kann, für den die Hauptfigur und ihre Jünger stehen.36 Der schelmenhafte Diener, der Celestina im Folgenden auch als „Madre bendita“ (C I 105) adressiert, zeichnet sich nach allem Gesagten zu Beginn des Textes vor allem durch zweierlei aus: sowohl durch seinen Scharfsinn, der deutlich im Zeichen des desengaño steht, als auch durch seine offenkundige Misogynie. Seine Reden weisen sowohl auf den misogynen Diskurs des Arcipreste de Talavera (und ähnlicher Werke, wie z. B. Jaume Roigs Espill oder Llibre de les dones, 1460) zurück als auch – wie noch zu zeigen sein wird – auf den gleichermaßen überwiegend pejorativen Weiblichkeitsdiskurs der novela picaresca.37 Aufschlussreich er-

Vgl. auch Otis H. Green: „The Celestina and the Inquisition“, in: Hispanic Review 15 (1947), S. 211-216. 36 Vgl. dazu Costa Fontes: „Celestina as Antithesis“, S. 17: „Although this passage depicts the old bawd as another messiah, being a woman, she is more likely a goddess. In Catholicism, the figure who comes closest to such an entity is the Virgin Mary. Rojas may therefore have been suggesting that the cult of the Blessed Mother had reached such proportions that it had come to rival that of her Son, the Messiah, in Catholic devotion. I have not been able to find any contemporary Christian documents that support this deduction, but Erasmus suggests as much in his Moriae Encomion [sic!] or Praise of Folly, written a few years later (1509): ‚Some saints have a variety of powers, especially the virgin mother of God, to whom the ordinary run of men attribute more almost than to her son.‘“ 37 Beide Werke werden aufgrund ihrer pointierten Schilderungen des Alltagslebens und ironischen Porträts nicht nur als Vorläufer der Celestina erachtet, sondern ebenfalls als Wegbereiter der novela picaresca. Rojas nimmt in dieser Ahnenfolge eine Scharnierfunktion ein. Vgl. Solomon: The Literature of Misogyny, S. 2: „The vivid descriptive element in the work[s] has been identified as a forerunner of the picaresque novel, one that bridges the gap between the Libro de buen amor and Lazarillo de Tormes.“ Vgl. auch Alegre: „Las mujeres en el Lazarillo de Tormes“, S. 3: „En este sentido, la novela picaresca sigue la línea trazada por la literatura española del Siglo de Oro cuando describe a la mujer en España. Obras como La Celestina, Retrato de la Lozana Andaluza, Guzmán de Alfarache, El Buscón, La Pícara Justina, etc., presentan el honor y virtuosidad de las mujeres como algo que dejar mucho que desear.“

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scheint indes, dass in der Celestina – zumindest tendenziell – eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vorgenommen wird: Während die weibliche Hauptfigur nach allen Regeln der Kunst das Geschäft des engaño betreibt und auch lehrt, treten die Dienerfiguren trotz aller Komplizenschaft eher als Anwälte des desengaño auf. Diese Verteilung perpetuiert und zementiert einerseits den misogynen Diskurs, ist andererseits jedoch auch der Schwäche der männlichen Figuren in Rechnung zu stellen, die aufgrund von mangelnder Weitsicht und Maßlosigkeit entweder zu Mördern werden und/oder sterben oder sich nach der Katastrophe der Totenklage hingeben. Man könnte daher sagen, dass die Männlichkeit bei Rojas im Zeichen des Todes steht, was wiederum dem bedrohlichen Regime des von Celestina verkörperten Matriarchats geschuldet ist. In der novela picaresca fallen hingegen engaño und desengaño in der Figur des pícaro zusammen, was sich – wie bereits ausführlich dargestellt – der Erzählanlage der Gattung verdankt und was darüber hinaus mit der Tatsache zu erklären wäre, dass es dort kaum noch weibliche Figuren gibt, dass demnach die Matriarchin Celestina von ihrem Thron gestoßen wurde. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Weiblichkeit dort insgesamt keine Rolle mehr spielt, was im folgenden Kapitel näher ausgeführt wird. Alles in allem wäre vorläufig festzuhalten, dass in der Celestina das karnevaleske Bild des mundus inversus auch für die geschlechterpolitische Ordnung Gültigkeit beansprucht, indem uns Rojas das düstere Bild eines matriarchalen Systems zeichnet. In der novela picaresca hingegen wird das Patriarchat zwar ebenfalls einer radikalen Kritik unterzogen, allerdings wird diese aus dem System selbst und dessen Vertretern entwickelt, was eine überzeichnete weiblich dominierte Gegenkultur unnötig macht. So verstanden erklärt sich einmal mehr, dass der pícaro als literarische Figur weibliche List (astutia) sowie praktischen engaño verkörpert und als Erzähler gleichzeitig zum Sprachrohr des desengaño werden kann. Kommen wir zurück zu Sempronio in La Celestina: Ihm ist – neben seinen enthüllenden Vorbemerkungen – zu verdanken, dass durch seine sowohl mündliche als auch aktive Einführung der Hauptfigur in die Handlung den weiteren Ereignissen der entscheidende Impuls zugeführt wird. Er ist es auch, der durch den gemeinsam mit seinem ‚Kollegen‘ Pármeno begangenen Mord an Celestina, den man gemäß der familialen Logik des Textes als veritablen Matrizid deuten kann, für das tragische Ende verantwortlich ist. Dieser Entwicklung zugrunde liegt maßgeblich die Gier nach Geld: Als Sempronio merkt, dass er seiner Funktion als Anwalt des buen amor nicht gerecht werden kann, nutzt er die Verblendung seines Herren, um gemeinsam mit ‚madre Celestina‘ materiellen Profit aus der Wirkmächtigkeit des amor loco zu schlagen. Die Gier ist es dann am Ende auch, die ihn schließlich zum für alle Beteiligten fatalen Muttermord treibt und damit den récit gewaltsam beendet:

130 | V IR INVERSUS With Celestina’s death, difference in the text and meaning outside or beyond the dominant discourse become inaccessible. […] Their (Calisto’s and Melibea’s, G. S.) ability to move, to be in the process of fiction, depended on a seamstress to make text for them. When her catalyzing action ceases to be, so do they.38

Das Werk endet jedoch nicht mit dem Tod der Liebenden, sondern mit der Totenklage des Vaters, die das durch Celestina gestörte paternalistische Prinzip wieder herzustellen versucht,39 indem Pleberio im Grunde noch einmal mit seiner Anklage Fortunas und Amors den weltlichen amor loco verteufelt, und damit post mortem Sempronios Warnung bestätigt: „Cévasnos, mundo falso, con el manjar de tus deleytes; al mejor sabor nos descubres al anzuelo; [...] Pero ¿quién forço a mi hija [a] morir, sino la fuerte fuerça de amor?“ (C XXI, 340, 342). Insofern erhält die Celestina durch die Rahmung Sempronio/Pleberio trotz aller subversiven Kraft des in der Hauptfigur verkörperten gender trouble einen vergleichsweise konventionell-patriarchalen Unterbau40, der die männliche Rede klar privilegiert und mit „razon“ (C XXI 343)“ auszeichnet, während das Regime des Weiblichen (Liebe, Fortuna, Kuppelei) als „variable“ (C XXI 339), „falsa“ (C XXI, 340, 343) bzw. mit der Etikettierung „falsías“ (C XXI 342) abgeurteilt wird. So kommt Pleberio in seiner Rede zu dem Schluss, dass er eigentlich nicht sein totes Kind beweint, sondern „la causa desastrada de su morir“ (C XXI 342), womit eindeutig nur der körperlich und weiblich kodierte amor loco gemeint sein kann. Sempronio wäre demnach in seiner pikaresken Art als Sprachrohr des Volkes zu verstehen, während Pleberio zwar ähnlich argumentiert, aber rhetorisch durchaus diskreter seine Verdammung der Wollust zum Ausdruck bringt. Fassen wir zusammen: In der Celestina sind zahlreiche Merkmale sowohl inhaltlicher als auch poetologischer und gesellschaftskritischer Art enthalten, die starke intertextuelle Beziehungen zur Gattung der novela picaresca aufweisen. Es greift daher zu kurz, in der Celestina lediglich einen Vorläufer der weiblichen Pika-

38 Gossy: The Untold Story, S. 56. 39 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Pleberio die einzige Figur ist, mit der Celestina keinen direkten Kontakt hat. Dies bestätigt auf der Ebene der Figurenkonstellation die Unvereinbarkeit von Matriarchat und Patriarchat. 40 Ob man in diesem Zusammenhang das Ende und insbesondere die väterliche Totenklage als didaktisierend interpretieren kann, diskutiert Michael J. Ruggiero: „La Celestina: Didacticism Once More“, in: Romanische Forschungen 82 (1970), S. 56-64. Gossy sieht darin eher „a historical trait than a rhetorical one“ (The Untold Story, S. 25).

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resken zu sehen, wie es des Öfteren geschehen ist.41 Beginnend beim Setting der Geschichte, befinden wir uns eindeutig im urbanen Raum (auch wenn keine Aussagen über den konkreten Handlungsort getroffen werden), den vor allem die Titelfigur, aber auch viele der Nebenfiguren unablässig durchwandern. Der deambulatorische Charakter des Schelmenromans, dessen Bewegungs- und Handlungsraum den der Celestina deutlich überschreitet, ist hier bereits in nuce angelegt. Durch die periphere Lage von Celestinas Wohnort sowie ihr permanentes, ja transgressives Hausieren bei sämtlichen Einrichtungen ihrer Heimatstadt (Kirchen, Adelshäusern, Nachbarn, Klöstern, Bordellen) und bei Vertretern nahezu aller Stände wird die räumliche Ordnung symbolisch zum topografischen Brennspiegel der Gesamtgesellschaft, was ebenfalls grosso modo der pikaresken Diegese entspricht, in der die Transgressivität sowohl auf der horizontalen Achse geografischer Bewegung als auch auf der vertikalen Achse gesellschaftlicher Hierarchien zu beobachten ist. Der Fokus liegt klar auf dem Milieu und dem Figureninventar der unteren Stände, was insgesamt mit dem karnevalesk-pikaresken Modell des mundus inversus übereinstimmt. Im Grunde ist dieses Modell in der Celestina noch radikaler ausgeführt, da hier die Vertreter der oberen Stände als manipulierbare Marionetten des listenreichen ‚Pöbels‘ dargestellt werden. Man könnte ferner sagen, dass der im Hinblick auf Gattungsfragen durch und durch hybride Charakter der Celestina es den Figuren ermöglicht, eine jeweils eigene Position einzunehmen, die der Erzählanlage der novela picaresca zumindest nahekommt, auch wenn durch die Multiperspektivität die Komplementärlektüre, die der Schelmenroman bekanntlich an seine Leser delegiert, häufig gleich mitgeliefert wird, wie man es z. B. aus dem Briefroman des 18. Jahrhunderts kennt. Hinsichtlich der Repräsentation der geschlechtlichen Ordnung ist jedoch eine einfache Analogiebildung kaum möglich, was zunächst daran liegt, dass die Celestina – im Gegensatz zur novela picaresca – auch diese einer Karnevalisierung unterzieht. Darüber hinaus muss die Komplexität der weiblichen Hauptfigur mit berücksichtigt werden, die – so scheint es – ähnlich hybrid angelegt ist wie der Gattungscharakter des Textes, der nach einigen Umarbeitungen schließlich ihren Namen trägt.42 Einerseits lässt sich zwar beobachten, dass der Diskurs über und

41 Vgl. Cruz: Discourses of Poverty, S. 135. 42 Nicht nur auf genereller gattungsformaler Ebene befindet sich Rojas’ Werk an der Grenze von Theaterstück und Roman. Auch hinsichtlich der Binnendifferenzierung weist María Rosa Lida de Malkiel darauf hin, dass der Text sowohl die Tradition der stark didaktischen comedia humanística als auch das populäre Genre des relato sentimental vereint. Vgl. María Rosa Lida de Malkiel: La originalidad artística de La Celestina, Buenos Aires 1962, bes.: S. 37-49.

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die Inszenierung von Weiblichkeit größtenteils im Einklang stehen mit den gängigen misogynen Stereotypen, die an der Konstruktion vormoderner Weiblichkeit beteiligt sind. Frauen treten auf als Prostituierte, Kupplerinnen, wollüstige Figuren voller List und Zügellosigkeit – ganz so wie es die phallogozentrischen Reden der männlichen Figuren wortreich schildern. Selbst der liebende caballero wird im Angesicht seiner Geliebten zum verblendeten Opfer weiblicher luxuria und astutia, macht sich in seinem Liebeswahn mehrfach der häretischen Idolatrie schuldig und damit zum Anschauungsobjekt für das unheilige Wirken des amor loco oder amor carnal. Insofern erweist sich die Handlung der Celestina in gewisser Weise als self fulfilling prophecy. Dass sich jedoch die Celestina andererseits keineswegs in dieser Einseitigkeit erschöpft, liegt eben an der Titelfigur selbst und ihrer Widerständigkeit sowie der Faszinationskraft, die von ihr ausgeht und aus der ihr Schöpfer trotz ihres gewaltsamen Todes kaum einen Hehl macht. Hier wäre Gossy zuzustimmen, die konstatiert, dass „Celestina, from its beginning, resists schematizing and attribution.“43 Auch Fontes sieht in der Titelfigur einen „rich, multidimensional character, a spider whose web either dooms or radically affects the lives of everyone who has anything to do with her.“44 Folglich entpuppt sich Celestina als eine Figur des ‚sowohl-als-auch‘45: Sie ist sowohl Heilige als auch Hure, sowohl Näherin als auch Kupplerin, sowohl Hexe als auch (Puff-)Mutter, sowohl Figur als auch Autorin – und sowohl weiblich als auch männlich. Sämtliche dieser Eigenschaften werden trotz aller Widersprüchlichkeiten durch das emblematische Leitmotiv des Fadens visualisiert und buchstäblich zusammengehalten, was nun noch einmal auf konzentrierte Weise dargestellt werden soll. Der Faden verweist zunächst metonymisch auf den Beruf der Näherin, den Celestina sowohl auf der offiziellen Ebene ausübt (weibliches Stereotyp und damit vordergründige Affirmation des Patriarchats) als auch inoffiziell in ihrem ‚Nebenberuf‘ als Jungfrauenmacherin (Subversion des Patriarchats). Diese Tätigkeit wie-

43 Gossy: The Untold Story, S. 21. 44 Manuel da Costa Fontes: The Art of Subversion. Rojas and Delicado, Indiana 2005, S. 108. 45 Gossy spricht von der Celestina als einer Figur des ‚dazwischen‘: „Being a wise woman means being between – between sexes (une vieja Barbuda); between classes (women of all estates require her services, and she herself might be prosperous although despised); between the oppositions set up by the culture: a woman, but wise; a woman, but powerful; a woman, but neither sexually desirable nor marriageable and therefore falling between the cracks in the patriarchal platform“ (Gossy: The Untold Story, S. 37f). Hinsichtlich des nachgerade monströsen Vereinnahmens so zahlreicher Gegensätze scheint das additive Bild des ‚sowohl-als-auch‘ zutreffender.

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derum hat sie von ihrer verstorbenen Freundin Claudina, der Mutter von Pármeno, erlernt, mit der sie offenkundig ein homoerotisches Verhältnis verband.46 Folglich entspringt der Faden, der Celestinas Erfolg maßgeblich begründet und mithin die Handlung erst ermöglicht, einem subversiven homoerotischen Bündnis jenseits der Textgrenzen47, in dem Dangler eine „antithesis of motherhood and heterosexual reproduction“48 sieht. Indem jedoch Celestina nach dem Tod Claudinas die Mutterrolle für Pármeno (und weitere Figuren) übernimmt, ergreift sie auf der symbolischen Ebene die Nabelschnur Claudinas, ein fadenförmiges Gebilde, das für Vereinigung und Trennung zugleich steht. Als Engelmacherin verhindert Celestina gar künftige Mutterschaften und durch das anschließende Zusammennähen der Jungfernhaut übernimmt sie schließlich die alleinige Kontrolle über den Körper der Frau, was in der Subjekt-Objekt-Logik der patriarchalen Gesellschaft wohlgemerkt nur dem pater familias, später dem Ehemann vorbehalten ist. Insofern verkörpert Celestina nicht nur mütterliche, sondern auch väterliche Eigenschaften, was gewissermaßen ihre zahlreichen Kinder erklärt, die sie – darin Maria ähnlich – ohne männliche Beteiligung gezeugt hat. Auch die bereits geschilderten ironischen Marienanalogien stehen im Zeichen des Fadens, da Maria und Celestina auf der ikonografischen Ebene mit dem Nähen und Weben in Verbindung gebracht werden können. Als weiterer Hinweis auf diese konkrete Form der Analogiebildung dient ein Kommentar Sempronios, der über die wahre Natur von Celestinas Rosenkranz („sus cuentas en la mano“, C XI 225) berichtet, der ja auf der Signifikantenebene ebenfalls zunächst als Faden mit Perlen beschrieben werden kann: SEMPRONIO: [...] quando va a la yglesia con sus cuentas en la mano, no sobra el comer en casa. Aunque ella te crió, mejor conozco yo sus proprietades que tú. Lo que en sus cuentas

46 „CELESTINA: [...] Su madre y yo, uña y came. Della aprendí todo lo mejor que sé de mi officio. Juntas comiémos, juntas durmiémos, juntas aviémos nuestros solazes, nuestros plazeres, nuestros consejos y conciertos“ (C III 143). Herausgeberin Dorothy S. Severin entdeckt hier eine deutliche Anspielung auf Celestinas lesbische Neigungen, die im weiteren Verlauf im Umgang mit ihren ‚Jüngerinnen‘ bestätigt werden, insbesondere während Celestinas Bettgeflüster mit Aréusa (C VII 203-205). 47 Vgl. dazu Gossy: The Untold Story, S. 53: „The arcane knowledge that makes the story move (Celestina’s work is necessary to bring Calisto and Melibea together) comes from Claudina, who, though barely mentioned, missing a voice of her own, and punished by death for her deviance before the action begins, is the narrative’s sine qua non.“ 48 Dangler: „Transgendered Sex“, S. 78: „Celestina’s homoerotic propositions […] constitute the antithesis of motherhood and heterosexual reproduction.“

134 | V IR INVERSUS reza es los virgos que tiene a cargo, y quántos enamorados ay en la cibdad, y quántas moças tiene encomendadas [...] Assí bive esta que nosotros mucho honrramos (C IX 225).

Fontes sieht in dieser Beschreibung einen weiteren blasphemischen Hinweis auf Celestina als profanierte Antithesis zur Heiligen Jungfrau49, während Gilman bezüglich dieser Stelle Rojas’ hohe Kunst hervorhebt, das Leben der Hauptfigur in Dialogform („Rojas reinforces by interpolation the integration of tú and yo in the life of Celestina“50) wiederzugeben. Beide Kommentare können im Zeichen des Fadens zusammengedacht werden: Durch die blasphemisch-subversive Aneignung des Rosenkranzes und dessen Emblematik wird die Hauptfigur als weltliches Gegenbild zur Heiligen Jungfrau dargestellt, wobei wir die entscheidenden Informationen über ihren Charakter und ihr Leben in Form von dialogisch vermittelten Fragmenten erhalten, die zusammengefügt an die Perlen des Rosenkranzes erinnern. Insofern wäre der Faden sowohl auf der Ding-Ebene des Textes als auch narrativ-metatextuell zu verorten. Etymologisch verweist der rosario auf den Rosengarten Mariens (lat.: ROSARIUM), d. h. auf den hortus conclusus, der wiederum als Symbol ihrer Jungfräulichkeit gilt. Diesen semantischen Faden greift Rojas doppelt auf, indem er zum einen die Gebetsperlen des Rosenkranzes mit den Jungfrauen assoziiert, die Celestina wieder herstellt, nachdem sie als Kupplerin an deren Defloration aktiv beteiligt war, und zum anderen, indem er mit diesem (Erzähl)Faden konkret auf die Defloration Melibeas hinarbeitet, die ihrerseits in einem hortus conclusus, nämlich im abgeschirmten Garten ihres Elternhauses, stattfinden wird. Nicht nur die sexuelle Begierde und das pekuniäre Interesse sind diesem Faden eingeschrieben, sondern sogar der Tod, da Calisto, während er von der den Garten umgebenden Mauer in den Tod stürzt, die Heilige Mutter Maria anruft, bevor dann dieser Faden endgültig abreißt („¡Oh válame Santa María, muerto soy! ¡Confessión!“ C XX 328). Dies wiederum steht in enger Verbindung mit einem durch und durch weltlichen Pendant des Rosenkranzes, nämlich der Goldkette, die Celestina für ihre Dienste als Kupplerin von Calisto erhalten hatte und die letztlich ihren eigenen Tod herbeiführt, da sie diesen Lohn nicht mit ihren Gehilfen teilen möchte. Schon in Martínez’ Arcipreste de Talavera gehört bezeichnenderweise die avaricia zu den am häufigsten angeführten weiblichen Lastern,51 d. h. Celesti-

49 Vgl. Fontes: „Celestina as Antithesis“, S. 11: „ [...] a rosary in the hands of such an unrepentant old whore and procuress [...] constitutes a profanation of the rosary which is emblematic of the Blessed Mother.“ 50 Vgl. Gilman: The Art of Celestina, S. 85-87; hier: S. 87. 51 Vgl. Martínez de Toledo: Corbacho, S. 106, 109, 145, 146, 148, 153 und passim.

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nas Tod führt diesen diskursiven Faden auf gewisse Weise weiter und besiegelt schließlich die Bestrafung der Hauptfigur. Gehen wir zurück an den Beginn des Kernplots um die beiden künftigen Liebenden Calisto und Melibea, finden wir auch dort den Faden wieder, der die erste erfolgreiche Intrige der Kupplerin einfädelt. Sie geht erstmalig in das Haus von Melibeas Eltern – unter dem Vorwand, Garn zu verkaufen. Dieses hatte sie bereits vorher in einer Art Hexenküchenszene mit einem selbst gebrauten Liebestrank ‚veredelt‘, mit dem Ziel, Melibea sexuell gefügig und für Calisto empfänglich zu machen. Gleich drei ihrer Kernkompetenzen hängen an diesem Faden: Kupplerin, Hexe und Näherin. In Celestinas Beschreibung dieses doch sehr speziellen Fadens eröffnen sich weitere, über die Handlung hinausgehende Assoziationen, die einen metapoetischen Kommentar zum gesamten Werk enthalten: [...] delgado como el pelo de la cabeça, ygual rezio como cuerdas de vihuela, blanco como el copo de la nieve, hilado todo por estos pulgares, aspado y adereçado; veslo en madexitas [...] (C IV 154).

Der fingierte Faden erinnert den Ausführungen Celestinas zufolge an menschliches Kopfhaar – das einzige Haar, das wir im Verlauf der Handlung kennenlernen, aber ist das Barthaar der vieja barbuda, mithin der visuell-physische Ausweis von Celestinas hybrider Geschlechtlichkeit und zugleich, wie bereits dargestellt, ein subversiver Hinweis auf ihre Macht. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der zweite Vergleich: „rezio como cuerdas de vihuela“. Das Adjektiv „rezio“ steht für Stärke und Härte, es befindet sich damit im unmittelbaren Kontrast zum vorangestellten „delgado“.52 Im heteronormativen, differenzbetonenden Geschlechterdiskurs bezeichnet dieses Gegensatzpaar auf stereotype Weise den Unterschied von Männlichkeit und Weiblichkeit, der hier allerdings weitestgehend aufgehoben scheint.53

52 Der deutsche Übersetzer der Celestina, Fritz Vogelsang, übersetzt diesen Passus mit „Fein ist es wie das Haar eines Mädchenhauptes“, wodurch vermutlich der Gegensatz zur ‚festen Saite‘ noch schärfer akzentuiert werden soll. Tatsächlich gibt der Originalwortlaut diesen mädchenhaften Zusatz nicht her. Zit. nach: Fernando de Rojas: La Celestina oder Tragikomödie von Calisto und Melibea, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Fritz Vogelsang, Frankfurt/M. 1990, S. 96. 53 Vgl. zu den stereotypen Attribuierungen geschlechtlicher Differenz Bourdieu: La domination masculine, S. 20, wo neben vielen Gegensatzpaaren, die zur „construction sociale du corps“ gehören, auch die Dichotomie „dur/mou“ auftaucht.

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Abb.1: Frontispiz von Luis de Milán: El Maestro (1536)

Das Bild der „vihuela“, ein im Siglo de Oro besonders beliebtes spanisches Pendant zur antiken Laute, betont wiederum auf nahezu klassische Weise den künstlerischen Charakter des fingierten Fadens.54 Immerhin ziert das Frontispiz eines populären Vihuela-Notenbuchs der Zeit (El Maestro von Luis de Milán) ein Kupferstich, der Orpheus statt mit der üblichen Lyra mit einer Vihuela zeigt (Abb. 1). Figur und Mythos des Orpheus gelten seit ihren Ursprüngen in der griechischen Antike als emblematisches Urbild des (männlichen) Künstlertums. Celestina signiert gewissermaßen den künstlerischen Faden mit der Bemerkung, dass er von ihren Fingern („hilado todo por estos pulgares“) gewoben sei. Nach der Orpheus-

54 Zur metaphorischen Verbindung von quenouille und lyre, d. h. von Handarbeits- und Schreibgerät in den Händen eines weiblichen lyrischen Ichs in der französischen Frühen Neuzeit bei Catherine des Roches vgl. Tanja Schwan: „Kontinuität in der Abweichung? Réécritures französischer Autorinnen des XVIe siècle: Topoi – Metaphern –Mythen“, in: Judith Klinger/Susanne Thiemann (Hrsg.): Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Potsdam 2006, S. 5-20.

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Anspielung wird hier nun – in nahezu wörtlicher Übertragung – auch auf Ovids Arachne-Mythos (6. Buch der Metamorphosen, V. 1-145) Bezug genommen, wo es lautet: „seu digitis subigebat [...] pollice fusum“.55 Selbst die bildhafte Beschreibung der weißen Farbe der Wolle weist Ähnlichkeit auf: Rojas’ „blanco como el copo de la nieve“ entspricht in etwa Ovids „nebulas aequantia tractu“.56 Spätestens mit diesen synkretistischen Verweisen (Maria, Orpheus, Arachne) wird der zitierte Ausschnitt zum metapoetischen Kommentar, und vor allem durch die beiden antiken Vorbilder wird auch die bereits erwähnte geschlechtliche Ambivalenz der Passage aufrechterhalten. Neben der Gemeinsamkeit, dass sowohl Orpheus als auch Arachne als antike figurae des Künstlertums interpretiert werden können, verbindet beide, dass sie sich gegen die Götter auflehnen: Orpheus widersetzt sich dem göttlichen Blickverbot, während die hochmütige Weberin Arachne die Göttin Pallas Athene zum Kunstduell herausfordert. Dass sich auch Celestina durch ihre zahlreichen Metiers der Hybris schuldig macht, indem sie etwa durch Operationen Jungfrauen wiederherstellt und damit Frauen sozusagen wieder in ihren ‚Naturzustand‘ zurückversetzt, wäre nur ein Beispiel unter vielen. Arachne, die kinderlose Jungfrau („sola est non territa virgo“), verwehrt jedoch nicht nur Athene die gebotene ‚Ehrerbietung‘ („venerantur numina“), sondern fordert gleichermaßen die patriarchale Ordnung der antiken Götterwelt heraus, indem sie im Wettstreit mit Athene einen Wandteppich mit zahlreichen Szenen anfertigt, die allesamt Schändungen von Frauen durch männliche Gottheiten erzählen (u. a. durch Athenes Vater Jupiter). Nancy K. Miller hebt in ihrer feministischen Lektüre des Arachne-Mythos zwei Aspekte hervor, nämlich dass die Geschichte interpretiert werden kann „both as a figuration of woman’s relation of production to the dominant culture, and as a possible parable (or critical modeling) of a feminist poetics.“57 Indem Ovid zum einen den künstlerischen Produktionsprozess miterzählt, dann in Form einer Ekphrasis die Inhalte des Teppichs wiedergibt, der ganz

55 Ovid: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, S. 280. Die gesamte Passage lautet in der deutschen Übersetzung: „Und es freute sie, die Gewebe nicht nur im fertigen Zustand anzuschauen, sondern auch im Entstehen – mit soviel Anmut übte Arachne ihre Kunst aus –, mochte sie nun die rohe Wolle erst zu Kugeln ballen oder sie mit ihren Fingern bearbeiten und die Schurwolle, die Nebelschleiern glich, immer wieder durch langes Ziehen geschmeidig machen oder mit behendem Daumen die glatte Spindel drehen oder mit der Nadel Bilder sticken“ (S. 281; Herv. G. S.). 56 Ebd. 57 Nancy K. Miller: „Arachnologies: The Woman, The Text, and the Critic“, in: dies. (Hrsg.): The Poetics of Gender, New York 1986, S. 270-295; hier: S. 272.

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offenkundig besonders dynamische und naturalistische Geschichten erzählt und das ganze in die Hände einer Frau aus dem einfachen Volk („de plebe“58) legt, die sich gegen die Götter auflehnt, liegt Millers Lesart nahe, in Arachnes Geschichte sowohl eine metapoetische Miniatur zu sehen als auch die Erzählung eines „feminocentric protest“59. Es mag in diesem Zusammenhang auch kein Zufall sein, dass Arachnes Wandteppich, der, im Gegensatz zu Athenes maßvoll-symmetrischem Werk, das Dionysische betont,60 während seiner Zerstörung durch die erzürnte Göttin als „caelestia crimina“61 bezeichnet wird, als „Sündenregister der Himmlischen“. Es ist kein allzu weiter Weg von caelestia crimina zu Celestina, und möglicherweise liegt in diesem Ovid-Zitat und dessen Aufarbeitung durch Rojas’ tragicomedia die wahre Etymologie des Namens seiner Hauptfigur verborgen. Diese These würde noch zusätzlich unterstützt durch die Beobachtung, dass Arachne nicht weniger als 21 Szenen auf ihrem Wandteppich darstellt62 – dem entspricht exakt die Anzahl der Akte in La Celestina, in der man ebenfalls ein ‚Sündenregister der Himmlischen‘ sehen kann. Ovids antiker Subtext, in dem bereits der Begriff „intertextos“63 im Rahmen der Ekphrasis von Arachnes Teppich auftaucht, ist folglich ein weiterer Faden in Rojas’ komplexem Gewebe, aber ein besonders wichtiger, da er sowohl die Selbstreflexivität des Originals imitiert als auch wesentliche Inhalte (geschlechtliche Ambivalenz, weibliche Handlungsmacht, Rebellion und Subversion, Autorschaft und Mimesis) aufgreift, die ebenfalls in der Celestina verhandelt werden. Roland

58 Ovid: Metamorphosen, S. 280. 59 Miller: „Arachnologies“, S. 273. 60 Siehe Kathryn Sullivan Kruger: Weaving the World. The Metaphorics of Weaving and Female Textual Production, Cranbury/NJ/London 2001, S. 68: „Arachne’s tapestry symbolizes Dionysus.“ Vgl. auch Kai Merten: Antike Mythen – Mythos Antike. Posthumanistische Antikerezeption in der englischsprachigen Lyrik der Gegenwart, München 2004, S. 289f. 61 Ovid: Metamorphosen, S. 288. 62 Siehe Ann Rosalind Jones/Peter Stallybrass: „Arachne’s Web: Velázquez’s Las Hilanderas“, in: dies.: Renaissance Clothing and the Materials of Memory, Cambridge/UK 2000, S. 89-103; hier: S. 96: „by setting the mortal woman’s [Arachne’s, G. S.] work after the goddess’s tapestry, the poet gives Arachne’s text the last word, and through the sheer quantity of Arachne’s twenty-one images of male gods transforming themselves into beasts in order to rape mortal women, he allies himself with the irreverent weaver. He uses Arachne as a narrator within the narration, as a medium through which he can depict celestial crimes […].“ 63 Ovid: Metamorphosen, S. 288.

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Barthes hat in mehreren seiner Schriften die hier zentrale Analogie von Text und Textur bzw. Gewebe aufgezeigt, so z. B. in seinem polemischen Manifest La mort de l’auteur (1968), aber auch in seinem Essay Le plaisir du texte (1973), wo er gegen Ende seine Analogiebildung folgendermaßen pointiert: Texte veut dire Tissu ; mais alors que jusqu’ici on a toujours pris ce tissu pour un produit, un voile tout fait, derrière lequel se tient, plus ou moins caché, le sens (la vérité), nous accentuons maintenant, dans le tissu, l’idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel ; perdu dans ce tissu – cette texture – le sujet s’y défait, telle une araignée qui se dissoudrait elle-même dans les sécrétions constructives de sa toile. Si nous aimions les néologismes, nous pourrions définir la théorie du texte comme une hyphologie (hyphos, c’est le tissu et la toile d’araignée).64

In La Celestina lässt sich dieses ‚hyphologische‘ Verständnis von Text besonders prägnant nachweisen, da das semantische Feld des Nähens bzw. des Zusammennähens, des Webens, des Flickens im Bild des Fadens omnipräsent ist. Celestina befindet sich in einem Prozess des „entrelacs perpétuel“, spinnt permanent neue Handlungsfäden, verkauft diese – „she makes money by selling fiction“65 –, fügt andere zusammen (Hauptaufgabe der Kupplerin) und unterläuft in diesem unermüdlichen Produktionsprozess sowohl gesellschaftliche Ordnungsmuster (männlich/weiblich) als auch ästhetische Kategorien (Autor/Werk). Das Ende der vorliegenden Passage bringt diese textuelle Komplexität, ja Unübersichtlichkeit im Bild der „madexita“, des Knäuels, sehr einprägsam zum Ausdruck.66 Auf der einen Seite ist die Hauptfigur selbst dieses Knäuel aus unendlichen Textfäden, andererseits arbeitet sie unentwegt daran weiter, bis ihr am Ende – darin Arachne ähnlich – ihre eigene Hybris zum Verhängnis wird und sie sich gleichsam in ihrem eigenen Fadengewirr auflöst („le sujet s’y défait“). Man könnte diese Spur noch

64 Roland Barthes: Le plaisir du texte, Paris 1973, S. 26. Vgl. zum Zusammenhang des Arachne-Motivs und Barthes’ Konzeption von Intertextualität: Sylvie Ballestra-Puech: Métamorphoses d’Arachné. L’artiste en araignée dans la littérature occidentale, Genf 2006, S. 408-410. 65 Gossy: The Untold Story, S. 43. 66 Unter dem Eintrag „madexa“ zitiert Covarrubias in seinem Tesoro de la lengua castellana folgendes Sprichwort: „Sabe vender sus madexas, delos que no se dexan engañar“ und erklärt, dass es sich hierbei um eine Anspielung handle auf jene „viejas que andan veniendo su hilado por las casas“ (S. 531). Der sprichwörtliche Bezug des unübersichtlichen Knäuels zur alten Garnverkäuferin, die stets im Verdacht des engaño steht, fügt sich in die Textur der Celestina nahtlos ein – kein Wort ist unschuldig.

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weiterverfolgen und auch Arachnes Bestrafung, also ihre Metamorphose in eine Spinne, phänotypisch mit dem Bild der vieja barbuda abgleichen, sind doch Spinnen in der Regel haarige Meisterinnen des Webens, die ihre Opfer im eigenen Netz zur Strecke bringen. Dass Rojas auch die Textgrenzen ausfransen lässt und mit seinem komplexen Werk postum eine ganze Gattung inspiriert und mitbegründet hat, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.67 Celestinas fingierte Fäden sind vor allem hinsichtlich des Weiblichkeitsbildes in der novela picaresca wirksam, aber auch – wie bereits dargestellt – im Hinblick auf weitere inhaltliche und poetologische Aspekte. *

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Der intertextuelle Weg von der Celestina (1499) bis zum Lazarillo de Tormes (1554) führt über Francisco Delicados Retrato de la Lozana Andaluza (1528), einen präpikaresken Roman, dessen Hauptfigur ebenfalls weiblichen Geschlechts ist und der an zahlreichen Stellen explizit auf Rojas’ Dialogroman verweist. Im Gegensatz zur Celestina herrscht angesichts der Gattungsfrage weniger Dissens, da es sich bei der Lozana, so Gumbrecht, um eine weitere Stufe der „Ausdifferenzierung des Romans gegenüber dem Theater“68 handele. Ingrid Simson bezeichnet den Text als „Dialogroman“ und charakterisiert ihn zugleich als „narrative Ausnahmeerscheinung, die keiner speziellen Romangattung zuzuschreiben ist und auch keine direkten Nachahmungen anregte. Lediglich die zeitlich späteren pikaresken Romane nehmen offensichtlich Bezug auf das Werk.“69 Für die Gattung Narrativik spricht nicht zuletzt der narratologische Kunstgriff, dass sich der „autor“ autodiegetisch in die Handlung einschreibt und sich als eine von ca. 125 Figuren des Öfteren zu Wort meldet oder aber die Protagonisten direkt adressiert.70

67 Roberto Gonzaléz Echevarría (in: Celestina’s Brood. Continuities of the Baroque in Spanish and Latin America Literature, Durham/London 1993, S. 10) geht gar so weit zu sagen, dass die Celestina die gesamte Literatur nach 1499 geprägt hat: „Celestina’s brood is, in that sense, all literature written in the West since 1499.“ 68 Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, S. 203. 69 Ingrid Simson: Das Siglo de Oro. Spanische Literatur, Gesellschaft und Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart/Düsseldorf/Leipzig 2001, S. 128. 70 Vgl. zur intradiegetischen Autor-Funktion bei Delicado: Siegfried Jüttner: „Der dramatisierte Erzähler und sein Leser. Hermeneutische Analyse der Lozana Andaluza von

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Ferner beginnt und endet der Roman mit dessen einführenden und abschließenden Beschreibungen. Delicado selbst kategorisiert seinen Text als retrato, d. h. als Porträt oder Charakterschilderung, und bezeichnet die einzelnen 66 Kapitel als mamotretos, was so viel bedeutet wie Hefte oder Skizzenbücher. Während also Rojas seinen Text an der Gattungsschwelle von Roman und Theater ansiedelt, begegnen uns bei Delicado Anleihen aus dem Bereich der Malerei, so dass man seinen Text im Deutschen wohl am ehesten mit dem Begriff des Sittengemäldes umschreiben könnte. In seiner Widmung an einen nicht näher bestimmten „Ilustre señor“ lesen wir: Todos los artífices que e este mundo trabajan desean que sus obras sean más perfectas que ningunas otras que jamás fuesen. Y vese mejor esto en los pintores que no en otros artífices, porque cuando hacen un retrato procuran sacallo del natural, e a esto se esfuerzan, y no solamente se contentan de mirarlo y cotejarlo, mas quieren que sea mirado por los transeúntes y circunstantes, y cada uno dice su parecer, mas ninguno toma el pincel y emienda, salvo el pintor que oye y ve la razón de cada uno, y así emienda, cotejando también lo que ve más que lo que oye; lo que munchos artífices no pueden hacer, porque después de haber cortado la materia y dádole forma, no pueden sin pérdida emendar.71

So wie Rojas’ tragicomedia durch den deutlichen Bezug zu Arachnes Wandteppich in die Nähe der bildenden Künste gerückt werden kann und dabei vor allem auf Arachnes Qualitäten als ‚realistische‘ Künstlerin anspielt – immerhin war es eben jener Realismus in Arachnes Werk, dessen Perfektion Athene so sehr erzürnt hatte –, stellt auch Delicado seinen Lesern ein Sittengemälde in Aussicht, das vor allem durch seinen Naturalismus, d. h. durch seine verisimilitudo („sacallo del natural“) bestechen soll. Dieser Anspruch scheint ihm so wichtig zu sein, dass er ihn gleich im nächsten Satz wieder aufgreift: „este retrato es tan natural“ (LA 172). Realistische Qualitäten besitzt der Text vor allem auf sprachlicher Ebene, da Delicado – ein Schüler von Antonio de Nebrija – Standard- mit Umgangssprache kombiniert, das Ganze um italienisches Lokalkolorit anreichert und auf diese Weise eine fingierte Mündlichkeit zum Ausdruck bringt.72 Dass der Text insge-

Francisco Delicado“, in: Horst Baader/Erich Loos (Hrsg.): Spanische Literatur im Goldenen Zeitalter. Fritz Schalk zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. 1973, S. 175-208. 71 Francisco Delicado: Retrato de la Lozana Andaluza, hrsg. von Claude Allaigre, Madrid 62011,

S. 171f. Im Folgenden im Haupttext zitiert mit der Sigle LA und der entspre-

chenden Seitenzahl. 72 Vgl. Schlickers: „Cherchez la femme“, S. 57: „Zur mimetischen Fiktion – denn auch Delicados Roman ist trotz mancher Übertreibung und der Autorfiktion realistisch

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samt nicht ganz so naturalistisch und veristisch ist, wie es vor allem Diego Martínez Torrón mit großer Emphase zum Ausdruck bringt, soll an späterer Stelle noch erörtert werden.73 Worum geht es in der Lozana Andaluza? Erzählt wird die Geschichte der ‚schönen Andalusierin‘ Aldonza de Córdoba, die nach einigen pikaresken Abenteuern in Rom landet, das ganz im stereotypen Sinne spätrömischer Dekadenz als Hure Babylon beschrieben wird, und wo sie im Grunde denselben Tätigkeiten nachgeht wie ihre intertextuelle ‚Madre Celestina‘: Sie arbeitet hauptberuflich als Prostituierte, verdingt sich aber ebenso als Kosmetikerin, Heilerin, Jungfrauenund Engelmacherin, Magierin, Geburtshelferin und Kupplerin. Begleitet wird sie von Rampín, der ihr schelmenhafter Diener, Liebhaber und Zuhälter in Personalunion ist. Der Text endet mit Aldonzas Rückzug aus der Welt, wenn sie sich zusammen mit Rampín auf der italienischen Insel Lipari niederlässt. Delicados Roman, den er tatsächlich im italienischen Exil geschrieben hat, steht zweifellos unter dem Einfluss der unter zeitgenössischen Lesern sehr populären Gattung der Kurtisanenliteratur im Stil eines Pietro Aretino.74 Anders jedoch als bei Aretino werden bei Delicado nicht der Adel und dessen erotische Ausschweifungen beschrieben, sondern die Welt der unteren Stände, jener „submundo metropolitano“75, wie wir ihn bereits aus der Celestina kennen.

modelliert – zählt auch eine Vielzahl referenzialisierbarer Elemente auf das sündige Rom der Renaissancepäpste, in dem die Handlung angesiedelt ist.“ Hierfür spricht auch, dass im Text mehrfach auf die unmittelbar bevorstehende Plünderung Roms durch spanische Truppen unter Carlos V (1527) angespielt wird. Delicado selbst war im Zuge dieser Ereignisse, die den Roman gleichsam wie ein Menetekel überschatten, aus Rom geflohen. 73 Diego Martínez Torrón: „El autor tiene un alto concepto de la mujer, contrariamente a la misoginia frecuente en algunas obras de la época precedente.“ In: „Erotismos en La Lozana andaluza [1979]“, in: ders.: Estudios de la literatura española, Barcelona 1987, S. 9-53. Das Lob spiegelt sich in einer Vielzahl von Bewertungen wider, wie etwa „une auténtica obra“ (S. 9), „documento social de época“ (S. 10), „su verismo es mayor“ (S. 11), „con absoluto objetivismo histórico“ (S. 12) etc. Diese kaum belegte (und auch nicht belegbare) Einschätzung mutet angesichts zahlreicher künstlerischer Freiheiten, von denen noch zu sprechen sein wird, eher fragwürdig an. 74 Vgl. vor allem Folke Gernert: Francisco Delicados „Retrato de la Lozana andaluza“ und Pietro Aretinos „Sei giornate“. Zum literarischen Diskurs über die käufliche Liebe im frühen Cinquecento, Genf 1999. 75 Vgl. dazu Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 13. Zum Vergleich zwischen Delicado und Aretino siehe S. 13-15.

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El retrato de la Lozana Andaluza hat insgesamt deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen als sein Vorläufer La Celestina und auch deutlich weniger als seine Nachfolger aus der Gattung der novela picaresca, was vermutlich an eben jener Scharnierstellung sowie an der geringen Auflagenzahl liegen mag. Aus narratologischer Sicht ist hier anzumerken, dass Delicados hybrider Text keine geschlossene Geschichte mit einem festen Figureninventar und einer (bei aller Komplexität) klaren Spannungskurve erzählt, wie Rojas es getan hat.76 Im Vergleich zum Aufbau der novela picaresca wiederum, die aufgrund ihres episodischen Charakters klar definierte Handlungssequenzen erzählt, muss der Erzählstrom in La Lozana Andaluza insgesamt eher als mäandernd charakterisiert werden, was entsprechend dem stereotypen Geschlechterdiskurs der Zeit möglicherweise auf die stark feminisierte Diegese zurückführbar ist.77 Was ebenfalls fehlt, ist der didaktisierende Anspruch, der in der Celestina durch die Totenklage des Vaters und die Warnungen der Diener an die männlichen Figuren delegiert wird. Dem Anschein nach können beide Kernunterschiede damit erklärt werden, dass Delicado in seinem Text den weiblichen Figuren jene Handlungsmacht offiziell einräumt, die in La Celestina lediglich inoffiziell zu beobachten ist und die dort deutlich als bedrohlicher Störfaktor innerhalb des patriarchalen Systems markiert ist. Die Bewertungen des auf den ersten Blick heiteren erotischen Reigens in La Lozana Andaluza sind indes – gerade hinsichtlich des präsentierten Weiblichkeitsbildes – ausgesprochen disparat. Während Simson beispielsweise der „positiven Frauendarstellung“78 einiges abgewinnen kann und John C. Parrack hier die

76 Vgl. Gernert: Francisco Delicados „Retrato de la Lozana Andaluza“, S. 30: „Im Gegensatz zu der in der Celestina aus der Liebe Calistos zu Melibea erwachsenden Handlung kann in der Lozana Andaluza von einer Intrige, geschweige denn von Geschlossenheit der Handlung, nicht die Rede sein. Es gibt weder einen Konflikt noch einen Widerstreit verschiedener Positionen, die ein Spiel von Aktion und Reaktion provozieren würden.“ 77 Auch wenn Costa Fontes in der Lozana Andaluza einen wichtigen Vorläufer der novela picaresca sieht, findet er ebenfalls den episodischen Charakter bei Delicado nur bedingt vorhanden. Im direkten Vergleich zum Lazarillo schreibt er daher: „The structure of the Lazarillo is episodic, with the boy’s sojourn with each master constituting an episode, and Lozana’s numerous adventures, which are told one after another, may be regarded as being roughly episodic.“ In: The Art of Subversion, S. 237. 78 Simson: Das Siglo de Oro, S. 129. Ähnlich argumentiert Martínez Torrón: „Erotismos en La Lozana andaluza“, S. 45: „El autor tiene un alto concepto de la mujer, contrariamente a la misoginia frecuente en algunas obras de la época precedente.“ Louis Imperiale sieht in Delicado gar einen Feministen avant la lettre: „[...] aboga por la

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„Emergence of the Feminine Subject“79 erkennt, sieht Cruz in Delicados Text eher eine misogyne, via ‚Male Voice-Over‘ generierte Männerphantasie: „Lozana’s beauty, her shrewd business sense, and her keen enjoyment of sex, then, are qualities wilfully exaggerated by the author to delight his male audience.“80 Eine Bewertung der Weiblichkeitsdarstellung in La Lozana Andaluza lässt sich jedoch nur sehr bedingt entlang der Polarität misogyn vs. feministisch vornehmen. Misogyne Diskurse, darauf wurde bereits eingegangen, sind weit verbreitet, haben eine lange Tradition, vor allem in den Texten männlicher Autoren, und wurden nur selten mit kritischen Gegendiskursen konfrontiert. Diese kamen entweder aus der Feder der wenigen weiblichen Autoren, wie etwa María de Zayas, aus der von vereinzelten kanonischen Autoren wie Diego de San Pedro (Cárcel de amor, 1492) oder aber Cervantes, der z. B. im ersten Teil des Don Quijote digressive Novellen einflicht, in denen das Recht auf weibliche Selbstbestimmung zumindest thematisiert wird, so in der bukolischen Erzählung um Cardenio und Dorotea.81 Auch in Lopes Bauerndrama Fuente Ovejuna (1619) geht die entscheidende Initiative zum Tyrannenmord von den Frauen des Dorfes aus, die ihre männlichen

emancipación de la mujer, liberada completamente del yugo de una sociedad misógina.“ In: El contexto dramático de „La Lozana andaluza“, Potomac 1991, S. 94. 79 Vgl. John C. Parrack: „Identity, Illusion, and the Emergence of the Feminine Subject in La Lozana andaluza“, in: Joan F. Cammarata (Hrsg.): Women in the Discourse of Early Modern Spain, Gainesville 2003, S. 35-53, hier: S. 35: „In contrast to the female protagonists in La Celestina, the comedia, or even the novellas of María de Zayas, Lozana escapes the confines of phallogocentric society by neither dying nor getting married, which are traditional completions of a feminine narrative […]. In fact, Lozana fully confronts and rebels against the masculine systems of authority, constructs her own identity, and fashions to her advantage multiple subject positions through the use of illusion and female space.“ 80 Cruz: Discourses of Poverty, S. 148. Zu einem ähnlichen Urteil kommt Mercedes Paglialunga de Tuma und postuliert, dass Delicado „libertad“ mit „libertinaje“ gleichsetze und daher der „linéa antifeminista en boga durante la Edad Media“ folge. In: „Erotismo y parodia social en la ‚Lozana andaluza‘“, in: Dinko Cvitanović u. a. (Hrsg.): La idea del cuerpo en las letras españolas (Siglos XIII a XVII), Bahía Blanca 1973, S. 118-153; hier: S. 126. 81 Womit Cervantes natürlich dem gattungsspezifischen utopischen Charakter der Bukolik Rechnung trägt, der mitunter gar als philogyn zu charakterisieren wäre.

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Mitbürger der Unmännlichkeit zeihen und sie als „maricones“82 diffamieren. Hier jedoch von feministischen Interventionen zu sprechen, verbietet sich insofern, als diese Kategorie im kollektiven Bewusstsein der Zeit noch gar keine Rolle gespielt hat.83 Abhandlungen über Weiblichkeit standen in der Regel im Zeichen der Erziehung junger Frauen und gingen von den vorherrschenden Normen aus, wie etwa christliche Domestikation, Keuschheit, Sittsamkeit und Ausbildung hausfraulicher Fertigkeiten (vor allem im Nähen und Kochen). Ein besonders wirkmächtiges Zeugnis dieser Gattung stellt Juan Luis Vives’ De institutione feminae christianae (1523, ins Spanische übersetzt 1528)84 dar, ein dreibändiger Erziehungsratgeber,85 der seinen Lesern und Leserinnen u. a. nahelegt, „die Ziele der Mädchenbildung mit jenen erwünschten Fähigkeiten und Kenntnissen zu verknüpfen, über die künftige Ehefrauen zur gelungenen Erfüllung ihrer Aufgaben

82 Lope de Vega: Comedia famosa de Fuente Ovejuna/Das berühmte Drama von Fuente Ovejuna. Spanisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Hartmut Stenzel, Stuttgart 1993, S. 140. 83 Ich würde hier Louis Imperiale und Héctor Brioso („Inquietudes maternas como primer móvil en la prosa picaresca“, in: La palabra y el hombre 111 [1999], S. 37-54; hier: S. 37) zustimmen, die ebenfalls in diesem Zusammenhang auf die Gefahr der Ahistorizität aufmerksam machen: „El uso de la palabra feminismo, como el de democracia, igualdad, etc., debería hacerse para los textos del Siglo de Oro con una delicadeza especial. No hace falta repetir aquí que estos conceptos son del todo anacrónicos para la época que estudiamos.“ 84 Juliane Jacobi zufolge handelt es sich bei Vives’ Ratgeber im 16. Jahrhundert um „eines der meistgelesenen Werke über weibliche Erziehung; in den nachfolgenden Jahrhunderten avancierte es in Europa zu einer unhintergehbaren, klassischen Referenz.“ In: „Juan Luis Vives’ ‚De institutione feminae christianae‘. Eine humanistische Schrift zur Mädchenerziehung für Europa“, S. 1, in: Clio. Themenportal für europäische Geschichte,

URL:

http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/ItemID__495/

mid__12210/40208773/Default.aspx (letzter Zugriff: 09.01.2018). Vives’ De instutione durchlief im Europa des 16. Jahrhunderts mehr als vierzig Auflagen in verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen. Vgl. dazu auch Tobias Brandenberger/Katrin Graf/Johanna Thali: „Die volkssprachlichen Übersetzungen von Juan Luis Vives’ Eheschriften ‚De institutione foeminae christianae‘ und ‚De officio mariti‘ in der Romania des 16. Jahrhunderts“, in: Rüdiger Schnell (Hrsg.): Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998, S. 275-309. 85 Das erste Buch behandelt die Jungfrau, das zweite die verheiratete Frau und das letzte widmet sich den Witwen.

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zu verfügen hätten.“86 Der Tenor dieser Schrift ist hinsichtlich des propagierten Weiblichkeitsideals vergleichsweise moderat, da er jungen Frauen immerhin Gelehrsamkeit, wenn auch in eingeschränktem Maße, zugesteht, wobei man nicht vergessen darf, dass Vives sein Traktat der englischen Königin Katharina von Aragon, Tochter der katholischen Königin Isabella, widmet. Insgesamt kann man daher mit Juliane Jacobi festhalten: Sein klares Votum für die Ehe und die Abweisung der zölibatären Lebensform ebenso wie die moderate aber doch sorgfältige Ausarbeitung eines Plans des weiblichen Unterrichts, der weibliche Einmischung in öffentliche Angelegenheiten strikt ablehnte, machte ihn so zu einem Autor, den beide konfessionellen Lager akzeptieren konnten.87

Entscheidend ist, dass Vives’ einflussreicher Traktat, dessen Spuren sich bis zu Rousseau nachverfolgen lassen, der jedoch seinerseits wieder deutlich hinter Vives’ Forderungen zurückfällt, im historischen Kontext des frühen 16. Jahrhunderts – trotz insgesamt traditioneller Ansichten zur idealen Frau88 – durchaus als ein moderater Beitrag zur europäischen Querelle des Femmes89 zu bewerten ist.90

86 Jacobi: „Juan Luis Vives’ ‚De institutione‘“, S. 2. 87 Ebd., S. 7. 88 Vgl. dazu Charles Fantazzi: „Introduction: Prelude to the Other Voice in Vives“, in: Juan Luis Vives: The Education of a Christian Woman. A Sixteenth Century Manual, hrsg. und übers. von Charles Fantazzi, Chicago/London 2000, S. 1-42; hier: S. 2: „Regarding the nonintellectual qualities of the ideal woman, however, he remains staunchly traditional, even fanatically so. There are many things that the modern reader will find quite unpalatable. In his obsessive insistence on the virtue of chastity, Vives is very much influenced by Saint Jerome’s polemical tract, Against Jovinianus, in which the exaltation of virginity over marriage turns into a diatribe against women.“ 89 Diese Einschätzung teilt auch Tobias Brandenberger: „Malas hembras virtuosas mujeres. Querelles in der spätmittelalterlichen und frühzeitlichen Iberoromania“, in: Gisela Bock/Margarete Zimmermann (Hrsg.): Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Bd. 2, Königstein im Taunus 1997, S. 183202. 90 So deutlich Vives auch den Diskurs über Weiblichkeit und Frauenerziehung geprägt haben mag, macht Allyson M. Poska doch auf den „gap between prescriptive literature and individual behaviour“ aufmerksam: „Scholars have also reassessed the place of prescriptive literature in early modern culture and the pervasiveness of the patriarchal and often misogynist ideas espoused by those authors. First, these men did not write their works for broad consumption and implementation. Both Vives and Fray Luis composed

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Dieser Text stellt mithin ein prägnantes Beispiel dar für die Historizität bestimmter Bewertungskategorien im Hinblick auf geschlechtspolitische Diskurse: Aus heutiger Sicht würde Vives’ Traktat zweifelsohne als antifeministisch und misogyn beurteilt werden, während er, im historischen Kontext betrachtet, vergleichsweise liberale Töne anschlägt, wenn er seine Vorstellungen von Weiblichkeit äußert. Interessant für den gegebenen Zusammenhang ist u. a. das fünfte Kapitel des ersten Buchs („De las vírgenes“) mit dem programmatischen Titel „Cuáles libros se deben leer y cuáles no“, in dem der Autor den Erziehern und künftigen Ehemännern junger Mädchen aus der Oberschicht Lektüreanweisungen gibt und vor allem -verbote erteilt. So empfiehlt er mit Nachdruck, junge Frauen von bestimmten Lektüren („de armas y de amores“91) fernzuhalten, zu denen er nicht nur die antike Liebeslyrik Ovids rechnet, sondern vor allem auch zeitgenössische Romane („gran peste“92) unter denen er, neben den beliebten libros de caballería, stellvertretend die Celestina nennt. Die Wirkung von Rojas’ Werk erachtet Vives als besonders gefährlich für weibliche Heranwachsende. […] libros vanos, como son en España Amadís, Florisandro, Tirante, Tristán de Leonis, Celestina alcahueta, madre de maldades. [...] los cuales libros todos fueron escritos por hombres ociosos y desocupados, sin letras, llenos de vicios y suciedad; en los cuales yo me maravillo como puede haber cosa que deleite a nadie, si nuestros vicios no nos trujesen tan al retortero; porque cosa de doctrina ni de virtud ¿como la darán los que jamás la vieron de sus ojos?93

their texts for particular women to address issues specific to those women’s class and circumstances. As humanists and clerics, they conceptualized their works within paradigms that had little to do with actual woman.“ In: Allyson M. Poska: Women & Authority in Early Modern Spain. The Peasants of Galicia, Oxford/New York 2008, S. 6f. Da es hier jedoch weniger um historische Frauen geht als um literarische Repräsentationen von Weiblichkeit, ist dieser Einwand zwar von historischem Interesse, kann jedoch für die weitere Argumentation vernachlässigt werden. 91 Juan Luis Vives: Instrucción de la mujer cristiana, übers. von Juan Justiniano, revidiert und kommentiert von Elizabeth Theresa Howe, Madrid 1995, S. 59. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 61f (Herv. G. S). Aus literaturhistorischer Sicht bemerkenswert ist an Vives’ Argumentation die Tatsache, dass die Verurteilung der Ritterromane, deren Lektüre ihre Leserinnen mit „locura“ (S. 60) strafe, im Grunde den vollkommen unironischen Vorläufer von Cervantes’ Bücherverbrennungskapitel im Don Quijote darstellt. Allerdings verfallen bei Vives nicht nur die Leserinnen solcher Romane dem Wahn, sondern

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Kehren wir nach diesem Exkurs zum offiziellen Diskurs über die Idealvorstellungen von der christlichen Frau zurück zur Lozana Andaluza, sozusagen also zur Tochter der „madre de maldades“, wird zweierlei deutlich: zum einen, dass sich der Text diesem christlichen Ideal durch die Konzeption einer Protagonistin, die wie ihr Autor (Rojas und Vives im Übrigen auch!) aus dem jüdischen conversoMilieu stammt, gewissermaßen entzieht; zum anderen, dass durch das Setting – immerhin befinden wir uns in der Hauptstadt der Christenheit – eine subversive Wucht entfaltet wird, die es vermutlich unmöglich gemacht hätte, den Text in Spanien zu publizieren.94 Höchstwahrscheinlich im Wissen um diese heiklen Punkte hat Delicado seinem Roman einen mehrteiligen Appendix hinzugefügt, der den Text kommentiert, ergänzt und abschließt. Es scheint auf den ersten Blick, als handele es sich bei diesen Paratexten um eine Mischung aus Apologie und nachgeschobener Didaktisierung seitens des Autors. Der erste Teil beginnt mit der Überschrift „Como se escusa el Autor en la fin del Retrato de Lozana, en laude de las mujeres“ (LA 483). Spätestens jedoch im vorletzten Teil des Anhangs werden Zweifel genährt angesichts der Frage, wer hier nun eigentlich spricht: „Epistola de la Lozana a todas las que determinan venir a ver Campo de Flor en Roma“ (LA 503). Hier wird deutlich, dass der Anhang Bestandteil des Romans ist, da seine Protagonistin den Leserinnen einen Brief mit auf den Weg gibt für den Fall, dass sie je Rom besuchen sollten. Somit scheint auch der ‚Autor, der sich entschuldigt‘ eher derjenige Autor zu sein, der an mehreren Stellen des Romans als Figur in Erscheinung tritt, allerdings als „Auctor“, was einem begrifflichen Hybrid aus autor und actor entspricht.95 Der Autor des Anhangs ist demnach ein ebenso unzuverlässiger Erzähler wie der innerdiegetische auctor – ein erzählerischer

gleichermaßen auch ihre Ehemänner, die ihnen diese Lektüre erlauben: „Por cierto que es de chiflar la locura de los maridos que permiten a sus mujeres leer en tales libros con los cuales aprenden ser más maliciosamente perversas“ (S. 63). 94 Zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte vgl. Gernert: Francisco Delicados „Retrato de la Lozana Andaluza“, S. 5.7; Schlickers: „Cherchez la femme“, S. 54. Zum liberaleren Umgang Roms mit Frauen aus der unteren Schicht schreibt Gernert: „En la Roma renacentista las diversiones a las que tienen acceso también las mujeres de mala vida son evidentemente más variopintas que en Salamanca de finales del siglo XV“ (in Gernert: „La diversión de las segregadas“, S. 225). 95 Vgl. dazu die Ausführungen des Herausgebers Claude Allaigres in der Introducción zum Roman (LA 146f).

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Kunstgriff, der bereits im Cárcel de amor zum Einsatz gekommen war96 und gleichzeitig den Ich-Erzähler der novela picaresca ankündigt.97 Gleichwohl gibt es vor allem im ersten Teil des Anhangs Indizien, die eindeutig biografisch zu deuten sind, so etwa der Hinweis, dass der Autor seit langem an einer „grande y prolija enfermedad“ (LA 485) leide und einen Traktat mit dem Titel De consolatione infirmorum geschrieben habe. Erwiesenermaßen hat Delicado selbst, ähnlich wie seine Protagonistin, über zwanzig Jahre an der Syphilis gelitten und sogar eine Abhandlung darüber verfasst. Auch nimmt er hier den Vorwurf des Publikums vorweg, dass er seinen Retrato nicht durchweg „en perfecta lengua castellana“ (LA 484) niederschrieben habe und begegnet diesem mit folgender Erklärung: [...] digo que, siendo andaluz y no letrado, y escribiendo para darme solacio y pasar mi fortuna, que en este tiempo el Señor me había dado, conformaba mi hablar al sonido de mis orejas, qu’es la lengua materna y su común hablar entre mujeres (LA 485).

Delicado führt demnach den sprachlichen Realismus als Erklärung an, eine fingierte Mündlichkeit, derer er sich als Schüler Antonio de Nebrijas, d. h. als sprachsensibler Autor, durchaus bewusst ist. Daher darf die Bemerkung, er sei „no letrado“, getrost als affektierte Bescheidenheit bzw. als Variante der capatatio benevolentiae seitens des gelehrten Schriftstellers bewertet werden, die schließlich in der Aussage gipfelt: „digo que soy iñorante, y no bachiller“ (LA 485). Bei diesem Ausspruch handelt es sich um eine direkte Anspielung auf seinen wichtigsten Vorläufer, den Autor der Celestina, der bekanntlich als Anonymus sein Werk im Anfangsgedicht mit folgendem Akrostichon signiert hatte: „El bachiller Fernando de Rojas acabó la Comedia de Calysto y Melybea y fue nascido en la Puebla de Montalván“ (C 73-78). Insgesamt spielt Delicado in seinem pseudo-apologetischen Epilog mit dem Konzept von Autorschaft und greift dabei erneut den im

96 Vgl. Diego de San Pedro: „Cárcel de amor“, in: ders.: Cárcel de amor. Tractado de amores de Arnalte y Lucenda. Sermón, hrsg. von José Francisco Ruiz Casanova, Madrid 72015, S. 61-149. Der Autor schaltet sich in jedem zweiten Kapitel ein. 97 Ich würde daher der Einschätzung Schlickers’ widersprechen, die den „autor“ der Paratexte mit dem Autor Delicado identifiziert, während der „auctor“ innerhalb der Diegese im Zeichen der ironischen Dekonstruktion des Autorschaft-Konzepts stehe. Vgl. Sabine Schlickers: „‚Quizá Dios os a traído hoy por aquí‘ – Strategien der Autor(r)fiktionalisierung im Retrato de la Lozana andaluza (1528)“, in: Martin Baxmeyer/Michaela Peters/Ursel Schaub (Hrsg.): El sabio y el ocio. Zu Gelehrsamkeit und Muße in der spanischen Literatur und Kultur des Siglo de Oro. Festschrift für Christoph Strosetzki zum 60. Geburtstag, Tübingen 2009, S. 459-468, hier: S. 461, 466.

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Prolog bereits angekündigten Realismus auf, der innerhalb des Werkes jedoch keineswegs in der Weise eingelöst wird, wie er an seinen Rändern propagiert wird.98 Ferner äußert er sich ausführlich – „en laude de las mujeres“ – zur Konzeption seiner Hauptfigur und damit zu seinen Vorstellungen über Weiblichkeit. Dieser kurze Exkurs sticht vor allem durch seine Abkehr von der mittelalterlichen Tradition der Frauenschmäh hervor. So wie z. B. Martínez de Toledo im Corbacho immer wieder darauf verweist, dass er die schlimmen Laster, derer er die Frauen anklagt, selbst beobachtet habe (vor allem in Capítulo XVII mit dem bezeichnenden Titel „Cómo es muy engañoso el amor de la muger“99), rechtfertigt auch Delicado, wie wir gesehen haben, sein Frauenlob mit derselben authentifizierenden Strategie: „al sonido de mis orejas“ (LA 485). Das Lob ist zweigeteilt: Als rhetorisch Versierter beginnt Delicado zunächst mit dem Lobpreis der „mujeres claras“ und ihrer „bondad, honestidad, devoción, caridad, castidad y lealtad“ (LA 483).100 Mit „mujeres claras“ sind all jene Frauen gemeint, die dem vorherrschenden Gebot der limpieza de sangre entsprechen, d. h. christliche Frauen von hohem Stand, die dem Mann idealerweise ein „jardín“ seien und deren „modestia“ zusammen mit der „temperanza honesta“ des Mannes das Werk des Herrn lobe. Jener Garten

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Costa Fontes z. B. sieht in der Lozana Andaluza weniger einen realistischen, sondern vielmehr einen allegorischen Roman, in dem die Protagonistin im Sinne des im Text selbst gezeichneten Bildes der „Roma putana“ (LA 216) die ganze Stadt verkörpere (vgl. Costa Fontes: The Art of Subversion, S. 187). Allaigre weist in diesem Zusammenhang auch auf die Doppeldeutigkeit von „roma“ hin: Wenn er schreibt „Lozana es... roma“ (LA, 127), meint er das Adjektiv „romo“, was stumpfnasig bedeutet und eine Anspielung auf die durch Syphilis beschädigte Nase der Hauptfigur ist. Auch hinsichtlich der Schilderung des Milieus erlaubt sich Delicado einige Freiheiten, so etwa, dass er in seinem Roman die Beobachtung preisgibt, im Rom der Zeit arbeiteten ca. 30.000 Prostituierte, was bei einer Gesamtbevölkerung von 55.000 Einwohnern kaum zu überzeugen vermag. Eine Volkszählung aus dem Jahr 1526 gibt eine Zahl von 4.900 Prostituierten an, was mit beinahe 10% der Stadtbevölkerung schon erstaunlich genug anmutet. Vgl. Cruz: Discourses of Poverty, S. 148; vgl. ebenso Martínez Torrón, der gar von „6.800 prostitutas“ ausgeht („Erotismos“, S. 12).

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Martínez de Toledo: Arcipreste de Talavera, S. 104-109.

100 Der Ausdruck „mujeres claras“ darf vermutlich als direkte Anspielung auf Boccaccios Sammlung weiblicher Porträts verstanden werden, die 1365 unter dem Titel De claribus mulieribus erschien. Vgl. zur enormen Popularität von Boccaccios Werk im Siglo de Oro, zu frühen Übersetzungen seiner Novellen, u. a. auch von Il Corbaccio und De claribus mulieribus, Marcelo Menéndez Pelayo: Orígenes de la novela, Bd. 3 („Cuentos y novelas cortas – La Celestina“), Madrid 21962, S. 5-7.

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diene jedoch, so der autor, vornehmlich der „recreación corporal“ (LA 484) – mit diesem durch und durch diesseitigen Bild des Lustgartens, in dem Allaigre eine „sentencia algo sacrílega“ sieht, findet der Übergang statt zum (weitaus ausführlicheren) Lob der weltlichen Frau, für die stellvertretend die Hauptfigur des Romans steht: La señora Lozana fue mujer muy audace, y como las mujeres conocen ser solacio a los hombres y ser su recreación común, piensan y hacen lo que no harían si tuviesen el principio de la sapiencia, que es temer al Señor, y la que alcanza esta sapiencia o inteligencia es más preciosa que ningún diamante, y ansí por el contrario muy vil. Y sin dubda en esto quiero dar gloria a la Lozana, que se guardaba muncho de hacer cosas que fuesen ofensa a Dios ni a sus mandamientos, porque, sin perjuicio de partes, procuraba comer y beber sin ofensión ninguna (LA 484).

Obwohl Delicado sich deutlich von der mittelalterlichen Dämonisierung der Frau und des amor carnal abwendet – und damit auch seinen Zeitgenossen Rojas hinter sich lässt101 –, bleibt er doch dem Bild der Frau als Allegorie der Sinneslust weitestgehend treu, was die Debatte um Weiblichkeit bei Delicado so kontrovers erscheinen lässt. Der amor carnal wird als integraler Bestandteil des weltlichen Lebens dargestellt, als lebenserhaltendes Grundbedürfnis, was sich in der direkten Gegenüberstellung mit dem Lazarillo schon allein daran ablesen lässt, dass letzterer seine Streifzüge durch Spaniens Städte nicht zuletzt auf der Suche nach Essen unternimmt, während Lozanas Hunger eher erotischer Befriedung gilt. Infolgedessen erscheint es logisch, dass ihre Suche nach „comer y beber sin ofensión ninguna“ erfolgt. Der exilierte converso Delicado erteilt in seinem paganen Lob der körperlichen Liebe nicht nur der sexuell aktiven Frau („mujer muy audace“) die Absolution, sondern ebenso den Männern, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, womit er sich natürlich selbst einschließt, was im Hinweis auf seine SyphilisErkrankung zum Ausdruck kommt. Indem er abschließend erneut darauf hinweist, dass auch dieser Teil des Lebens zum Lob und Ruhm Gottes gereiche („gloria y laude aquel infinito Señor“, LA 486) und seine Apologie sogar mit „amén“ abschließt, macht er unmissverständlich deutlich, dass Frauen wie Lozana ebenso Gottes Werk sind wie jene „mujeres claras“, deren Lob er am Anfang des „escuso“ kurz und eher pflichtschuldig angestimmt hatte. Sicherheitshalber empfiehlt er

101 Der Wettstreit mit dem Schöpfer der Celestina äußerst nicht nur durch den „bachiller“-Bezug, sondern bereits auf dem Frontispiz der Lozana Andaluza, wo der Autor vollmundig ankündigt, sein Text „contiene munchas mas cosas que la Celestina“ (LA 165).

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jedoch seinen Lesern im darauffolgenden, titellosen Kommentar, dass man den Roman aber besser nicht in Schulen lesen solle: „sed non legatur in escolis“ (LA 487). Ähnlich dem unzuverlässigen Lebensbericht des pícaro sind diese paratextuellen Einlassungen aufgrund der vorherrschenden Ironie kaum als aufrichtig zu bewerten. Innerhalb der Diegese wird schnell deutlich, warum der fiktive Autor, der nur unter Vorbehalt mit Delicado selbst identifiziert werden kann, davon absieht, seinen hybriden Text als Schullektüre zu empfehlen. Auf drei Punkte soll nun näher eingegangen werden, vor allem im Hinblick auf die präpikaresken Qualitäten des Romans: auf die Herkunft der Protagonistin, ihre Lehrjahre sowie die Darstellung des urbanen Raumes, d .h. der Stadt Rom. Der erste mamotreto enthält trotz seiner Kürze eine Reihe von Schlüsselmerkmalen, die sowohl für den weiteren Verlauf des Plots von entscheidender Bedeutung sind als auch für die spätere Pikareske. Als erste Haupteigenschaft wird wiederholt die Intelligenz und List von Aldonza, der künftigen Lozana, hervorgehoben: Sie sei von Geburt an mit „inteligencia y resaber“ und „tanto intelecto“ (LA 175) ausgestattet, ferner mit einem erstaunlichen Erinnerungsvermögen. Des Weiteren ergibt die Tatsache, dass sie – wie ihr Schöpfer – aus Córdoba stammt, das im Volksmund der Zeit mit List (astutia) gleichsetzt wird102, insgesamt eine Idealisierung der andalusischen Herkunft, der Delicado eben auch durch das sprachliche Lokalkolorit Rechnung zu tragen versucht. Damit schreibt er gegen seine Kritiker an, die eine Superiorität des Kastilischen festsetzen – jene letrados, die er im Nachwort direkt adressiert und die im Text selbst als „bestias letrados“ (LA 457) verunglimpft werden.103 Dass es schon im Spanien des Siglo de Oro ein

102 Vgl. Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 12: „[...] y Andaluza, con idealización de esta tierra origen y patria de la mujer del retrato, ‚Andalucía polida‘, que se refleja en el tono del lenguaje usado, y más concretamente ‚cordovés‘ como sinónimo de astucia.“ Auch Herausgeber Allaigre weist darauf hin, das „resaber“ genau diese Bedeutung innehabe: „‚saber para mal‘, que aquí es expresamente resaber de cordobés, o sea engañoso“ (LA 175, n.4). 103 Man darf diese Einschätzung künftiger Kritiken als durchaus visionär bewerten, wenn man sich z. B. das konservative Urteil des berühmten spanischen Kritikers und Literaturwissenschaftlers Marcelino Menéndez Pelayo ansieht, der in seinem umfangreichen Werk Orígenes de la novela (1905-1915) zu dem Ergebnis kommt, bei La Lozana Andaluza handele es sich um „uno de los libros más obscenos que se han escrito en lengua castellana“, ein „libro inmundo y feo“, womit sich kein „crítico decente“ beschäftigen sollte. Marcelino Menéndez Pelay: Orígenes de la novela [1905-15], Bd. 4 („Primeras imitaciones de la ‚Celestina‘“), hrsg. von Enrique Sánchez Reyes,

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kulturelles Gefälle gibt, das den Andalusiern ein „sentimiento de inferioridad“ aufdrängt, beschreibt Antonio Narbona Jiménez in seinen Ausführungen zur kulturellen Identität Andalusiens, in denen er auch Delicado erwähnt: Es sabido que la postergación y el atraso de la región andaluza han sido fundamentalmente de carácter económico, social y cultural, al haber estado secularmente inmerso en lo que ha dado en llamarse círculo infernal de la miseria: la pobreza lleva a falta de educación, esta a la expresión tosca y rudimentaria, consecuencia de lo cual es la marginalización y, en definitiva, la permanencia de la pobreza. El sentimiento (más que complejo) de inferioridad de una parte de los andaluces no fue inicialmente ni es principalmente lingüístico, aunque, claro es, en los usos lingüísticos se refleja la falta de instrucción y de educación vinculada a las penurias económicas. De hecho, lo que se comprueba es que, tanto en el pasado que actualmente, los juicios negativos sobre la forma de hablar de los andaluces no predominan sobre los enaltecedores, que no escasean desde los primeros testimonios conocidos, dentro y fuera de la región. Baste recordar la autosatisfacción del autor de La lozana andaluza quien dice haberla compuesto ,en el común hablar de la polida Andalucía‘ […]. 104

Was Delicado also vor allem zu Beginn seines Werkes liefert, ist eine romantisierende Darstellung seiner Heimat, und wenn Costes Fontes auch in der Protagonistin vornehmlich eine Allegorie der ‚Roma putana‘ sieht, so ist sie zunächst jedoch eine ebensolche ihrer Heimatregion. Immerhin bleibt ihr die andalusische Herkunft über die gesamte Dauer des Romans eingeschrieben – als die ‚andalusische Schönheit‘, wie sie genannt wird. Die astutia, die der Region Córdoba sprichwörtlich inhärent ist, bleibt auch fortan Aldonzas Kernkompetenz. Was hier auffällt – und auch damit entfernt sich Delicados Text empfindlich vom vielbeschworenen Realismus –, ist die Behauptung, dass Aldonza Intelligenz und List geradezu in die Wiege gelegt worden seien. Während der pícaro zuallererst seine Einfalt ablegen muss, um sich die List mühsam zu erarbeiten, verkörpert Delicados Heldin diese Eigenschaften von Geburt an. Wie bereits gesagt, lässt sich dieses allegorische Porträt der astutia zunächst auf regionale oder lokalpatriotische Weise erklären. Wenn man es jedoch dem Naturell des einfältigen pícaro entgegenstellt, wird

Madrid/Santander 1943, S. 54. Obwohl die Besprechung des Romans im Band „Las primeras imitaciones de La Celestina“ erfolgt, betont Menéndez Pelayo, dass La Lozana Andaluza „no tiene antecedentes literarios“ (S. 57). Des Weiteren attestiert er dem Roman, weder irgendeinen Einfluss auf die spanische noch auf die italienische Literatur gehabt zu haben. 104 Antonio Narbona Jiménez: La identidad lingüística de Andalucía, Sevilla 2009, S. 44 (Herv. i. O.).

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der ebenfalls sprichwörtliche Konnex von List und Weiblichkeit evident, der bereits in der Celestina vorherrschend war. Dass Aldonza als Allegorie sowohl Andalusiens als auch Roms inszeniert wird, untermauert zudem die Anpassungsfähigkeit der Figur, „[s]u capacidad de adaptación a las situaciones.“105 Wichtig ist, dass diese allegorischen Muster nicht linear-chronologisch oder entsprechend der räumlichen Situierung entworfen werden, sondern sich überlagern, wodurch die Hauptfigur zu einem allegorischen Palimpsest wird. Delicados Frauenlob ist damit auch als Lob seiner Heimat und der liberalen Umgebung seines Exils zu verstehen. Solcherart lässt sich begründen, warum sich neben den überwiegend heiteren Milieuschilderungen immer wieder auch melancholische Untertöne vernehmen lassen und ebenso, warum die exilierten Spanier in Rom stets das große Verlangen verspüren, ihresgleichen zu treffen. Neben der Allegorisierung von Weiblichkeit fällt zu Beginn des Romans vor allem die auch für die novela picaresca typische Abwesenheit des Vaters auf: „muerto su padre“ (LA 175). Aldonza verbündet sich mit ihrer Mutter, die – typisch picaresca – offenkundig als Prostituierte arbeitet, was gleich mehrere Wohnortwechsel zur Folge hat: „supo y vido munchas cibdades, villas y lugares d’España“ (LA 175). Angedeutet wird, dass die Tochter gar aufgrund ihres bemerkenswert präpotenten Intellekts die Aufgabe des Zuhälters der eigenen Mutter übernimmt („procurador para sus negocios“, LA 176). Ebenfalls auf der ersten Seite erfahren wir, dass Aldonza schon sehr früh – „sin licencia de su madre“ (LA 176) – ihre Jungfräulichkeit verloren hat. Angesichts des erotisch freizügigen Tons des gesamten Romans verwundert diese Schilderung kaum, allerdings vermag der Modus der Defloration zu erstaunen: „asimismo, saltando una pared [...] se le derramó la primera sangre que del natural tenía“ (LA 176). Allaigre sieht in diesem Bericht eine parodistische Replik auf das tragische Finale der Celestina, wo sich die Liebenden nach der Defloration – er unabsichtlich, sie in vollem Bewusstsein – von einer Mauer in den Tod stürzen.106 Ob Allaigre mit seiner Deutung richtig liegt, soll hier nicht weiter diskutiert werden. Was an dieser Schilderung sehr viel mehr ins Auge sticht, ist die Tatsache, dass der Akt der Entjungferung gänzlich ohne männliches Zutun erfolgt. Während Celestina unablässig damit beschäftigt war, die körperlichen Spuren vorehelicher sexueller Lust zu beseitigen, nachdem sie zuvor dafür gesorgt hatte, dass diese überhaupt befriedigt werden konnte,

105 Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 18. 106 Vgl. Allaigre: „Introducción“, S. 90f: „No me parece absurdo ver en este caso una

referencia a la pareja Melibea-Calisto de la Celestina aun si los datos de la Tragicomedia quedan bastante malparados bajo de la pluma del iconoclasta Delicado y su trituradora técnica de compilación.“

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nimmt die noch kindliche Aldonza dies völlig ungerührt in die eigenen Hände. Das sprichwörtliche ‚Zur-Frau-Werden‘ schildert Delicado als einen Vorgang der Auto-Defloration und daher als Akt weiblicher Selbstermächtigung, der obendrein als beherzter ‚Sprung‘ ins Frausein qualifiziert wird. Damit wird dem tragischen Potenzial der vorehelichen ‚Frauwerdung‘, wie wir es von Rojas kennen, der Boden entzogen und das Ganze ins Komische verkehrt, was einer Demontage des in patriarchalen Gesellschaften stets hochgehaltenen Mythos der Jungfräulichkeit und Unbeflecktheit gleichkommt. Aber auch die – nach der bereits beschriebenen Vaterlosigkeit – erneute Abwesenheit des männlichen Akteurs gibt einen deutlichen Hinweis auf die Geschlechterordnung in Delicados schillerndem Text. Gleich im nächsten Satz erfahren wir vom Tod der Mutter („muerta su madre“, LA 176), womit Aldonza verwaist ist und zu einer Tante nach Sevilla kommt, die ihr folgenden Rat mit auf den Weg gibt: „Hija, sed buena, que ventura n’os faltará“ (LA 176). Dieser Satz verweist – vielleicht nicht zufällig – auf die Szene, in der Lazarillos Mutter, ihren Sohn in die Obhut des blinden Bettlers gibt und ihm ein recht leidenschaftsloses „Procura de ser bueno [...] válete por ti“ (L 22) mit auf den Weg gibt. Man kann beide Lebenswünsche wörtlich nehmen und „bueno/a“ entsprechend dem ersten Eintrag im Tesoro de la lengua castellana als „gottgefällig“ interpretieren: „essencialmente solo Dios es bueno.“107 Liest man den Eintrag zu „bueno“ bei Covarrubias jedoch bis zum Ende, landet man bei der Sprache der unteren Schichten, im Milieu der Gauner und Ganoven, wo folgende Bedeutungen aufgeführt werden: „Esta palabra Buen hombre, algunas vezes vale tanto como cornudo; y buena muger, puta.“108 Durch diese Doppelbedeutung, die angesichts des Milieus, in dem die beiden Texte angesiedelt sind, durchaus intendiert zu sein scheint, entfalten die Lebenswünsche von Tante und Mutter beinahe prophetische Qualitäten: Aldonza wird buena/puta und Lazarillo tatsächlich zum bueno/cornudo – und das mit einer Ehefrau, die ebenfalls Aldonza heißt. Auf die Rolle des mütterlichen Orakelspruchs im Lazarillo de Tormes wird noch ausführlicher zurückzukommen sein. Tatsächlich besetzen beide Szenen innerhalb der Narration eine Scharnierstelle, die jeweils das Ende des mütterlichen Regimes (im Fall der Lozana verlängert durch ihre Tante) markiert: Lazarillo tritt sein erstes Dienstverhältnis an und Aldonza lernt ihren ersten Geliebten Diomedes kennen, mit dem sie ihre Heimat für immer verlässt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Aldonza zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Erwachsenenwelt bereits eine eigene novela picaresca hinter sich hat: Verlust des Vaters, eher unfreiwillige Reisen mit der Mutter, Anstellungsver-

107 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 157. 108 Ebd.

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hältnis als procuradora, Defloration, Verlust der Mutter, Lehre bei der Tante. Die weibliche Sozialisation erfolgt demnach zwar ähnlich turbulent wie die männliche, aber mit anderen Mitteln. Während in der männlichen Pikareske Abnabelung vom Weiblichen sowie Gewalt und männliche Rollenvorbilder zu den wesentlichen Ingredienzien gehören, lernt Aldonza vor allem eines: Frau zu sein ist sich selbst genug. Insofern kann zumindest auf den ersten Blick jenen Stimmen beigepflichtet werden, die das Weiblichkeitsbild in La Lozana Andaluza als positiv und selbstbestimmt bewerten, wie etwa denen von Simson, Parrack, Martínez Torrón und natürlich der des Autors selbst. Allerdings steht weibliche Sozialisation von Anfang an im Zeichen einer extremen Sexualisierung und erfolgt in dem klaren Bewusstsein, dass Sexualität völlig abgekoppelt ist vom christlichen Ehe-Ideal („love is a purely physical act in La Lozana andaluza“109), wie wir es etwa von Vives kennen. Ganz im Gegenteil ist sie Ausdruck von Hedonismus, Pragmatik und Ökonomie.110 „Sed buena“ lautet die Devise: Nutze deinen schönen Körper, profitiere von ihm und du wirst reüssieren. Auch wenn der Verlust der Jungfräulichkeit ohne männliches Zutun erfolgt, wird Aldonza im Folgenden, d. h. ab der Diomedes-Episode, ihren Sexualtrieb hemmungslos und ohne Rücksicht auf patriarchale Normen ausleben und dabei großes Kapital aus ihrer körperlichen Anziehungskraft schlagen. Auch hier lässt sich der Unterschied zur männlichen Pikaresken pointiert an einem Wortpaar erläutern: Während sowohl im Lazarillo als auch im Buscón zumindest zu Beginn der Texte das Hungermotiv im Vordergrund steht und mithin „la hambre“ einen der wichtigsten Handlungsimpulse darstellt, ist am Ende des ersten mamotretro im Hinblick auf die Heldin signifikanterweise von „apetito“ (LA 176) die Rede. Aldonza wird hier als vorzügliche Köchin beschrieben, was ebenfalls ein Resultat ihres matrilinearen Familienerbes darstellt. Es lohnt sich, die Fülle an Speisen, die Aldonza anzurichten vermag, in voller Länge wiederzugeben: [...] y si esta mi agüela vivía, sabí yo más que no sé, que ella me mostró guisar, que en su poder deprendí hacer fideos, empanadillas, alcuzcuzu con garbanzos, arroz entero, seco,

109 Parrack: „Identity, Illusion, and the Emergence of the Feminine Subject“, S. 39. 110 Vgl. zum Hedonismus in La Lozana Andaluza Horst Weich: „Die Definition des Subjekts aus dem Fleisch. Zum Hedonismus der Lozana andaluza“, in: Wolfgang Matzat/Bernhard Teuber (Hrsg.): Welterfahrung – Selbsterfahrung: Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen 2000, S. 47-64; hier: S. 63: „Während in Celestinas Welt, die gleichfalls von gozo, deleite und codicia geprägt ist, die zügellose Lust in die Katastrophe führt [...] bleibt die hedonistische Praxis in Lozanas Universum unbeschadet.“

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graso, albondiguillas redondas y apretadas con culantro verde, que se conocían las que yo hacía entre ciento. Mirá, señora tía, que su padre de mi padre decía: –¡ Éstas son de mano de mi hija Aldonza! Pues ¿adobado no hacía? Sobre que cuantos traperos había en la cal de la Heria querían proballo, y máxime cuando era un buen pecho de carnero. Y ¡qué miel! Pensá, señora, que la teníamos de Adamuz, y zafrán de Peñafiel, y lo mejor de Andalucía venía en casa d’esta mi agüela. Sabía hacer hojuelas, prestiños, rosquillas de alfajor, tostones de cañamones y de ajonjolí nuégados, sopaipas, hojaldres, hormigos torcidos con aceite, talvinas, zahinas y nabos sin tocino y con comino, col murciana con alcaravea, y holla reposada no la comía tal ninguna barba. Pues boronía ¿no sabía hacer?: ¡por maravilla! Y cazuela de berenjenas mojíes en perfición, cazuela con su ajico y cominico, y saborcico de vinagre, ésta hacía yo sin que me la vezasen. Rellenos, cuajarejos de cabritos, pepitorias y cabrito apedreado con limón ceutí. Y cazuelas de pescado cecial con oruga, y cazuelas moriscas por maravilla, y de otros pescados que sería luengo de contar. Letuarios de arrope para en casa, y con miel para presentar, como eran de membrillos, de cantueso, de uvas, de berenjenas, de nueces y de la flor del nogal, para tiempo de peste; de orégano y hierbabuena, para quien pierde el apetito. Pues ¿ollas en tiempo de ayuno? Éstas y las otras ponía yo tanta hemencia en ellas, su sobrepujaba a Platina, De voluptatibus, y a Apicio Romano, De re coquinaria, y decía esta madre de mi madre: –Hija Aldonza, la olla sin cebolla es boda sin tamborín (LA 177-179).

Wie Allaigre in seinen sorgfältigen Anmerkungen und auch in der „Introducción“ vermerkt, ist diese Liste gespickt mit allerlei erotischen Doppeldeutigkeiten sowie mit deutlichen Hinweisen auf die jüdischen Wurzeln von Aldonzas Familie – nicht zufällig vererbt sich die Zugehörigkeit zum Judentum ebenfalls matrilinear.111 Was jedoch auf den ersten Blick auffällt, ist eben jene Fülle, die schiere abundantia, die im deutlichen Gegensatz zum Regime des Mangels steht, das den Alltag des pícaro bestimmt.112 Die hambre des pícaro ist als existentiell zu verstehen,

111 Vgl. zum erotischen Charakter von Lozanas kulinarischer Kunst Gernert: „La diversión de las segregadas“, S. 231: „Es preciso recordar también que nuestros textos [La Celestina, La Lozana andaluza, G .S.] abundan en metáforas alimenticias a los placeres eróticos.“ Vgl. dazu auch Monique Joly: „A propósito del tema culinario en La Loçana andaluza“, in: Journal of Hispanic Philology 13 (1989), S. 125-133; Silvia Monti: „Alimentación y metáforas alimentarias en la Lozana andaluza de Francisco Delicado“, in: Antonio Garrido Aranda (Hrsg.): Comer cultura: estudios de cultura alimentaria, Córdoba 2001, S. 259-264. 112 Die kulinarische abundantia steht nicht nur im Gegensatz zur novela picaresca, sondern auch zu den maßvollen Empfehlungen, die Vives jungen Frauen hinsichtlich der Kochkünste erteilt: „Aprenderá junto a esto la nuestra virgen guisar de comer; no de

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während der kulinarisch-erotische apetito, den die Lozana verkörpert und der hier so überbordend bebildert wird, eher im Zeichen von Völlerei und luxuria steht. An späterer Stelle listet Aldonza nach ihrem ersten Liebesakt mit Rampín eine ähnliche Fülle an Speisen monologartig auf und konstatiert: „Este tal majadero no me falte, que yo apetito tengo dende que nací“ (LA 233), wodurch die Engführung von comer und coito einmal mehr offenkundig wird. Im ersten Teil des Corbacho von Martínez de Toledo befinden sich u. a. sieben kurze Kapitel, die sich jeweils einer der christlichen Todsünden widmen. Kapitel XXXIV stellt die gula, also die Völlerei, dar. Auffällig ist, dass sich ein Großteil dieses Porträts des „quinto pecado mortal“ nach einer kurzen Einleitung („Deste non se puede escusar el que ama o es amado de muchos exçesivos comeres e beberes en yantares, cenas e plazeres con sus coamantes, comiendo e beviendo ultra mesura [...].“113) ebenfalls darin erschöpft, eine einzige, sehr lange Auflistung von Speisen und Getränken vorzunehmen. Auch hier ist nicht von hambre die Rede, sondern vom „apetito a mucho comer“ und von „avudançia sin duelo“, vom Überfluss ohne Reue, der wiederum bei den unmoralisch Liebenden unweigerlich zur „luxuria“114 führe. Diese enge Verbindung von Völlerei und Wollust wird bei Delicado durch die zahlreichen semantischen Kontaminationen innerhalb seiner Menüfolge ironisch wieder aufgegriffen – vor allem auch dadurch, dass sie von einer Frau eher zweifelhaften Rufes aufgetragen wird. Neben ihren Kochkünsten werden noch Aldonzas Schönheit („vuestra hermosa“, LA 179) sowie ihr Talent als Näherin und Weberin erwähnt, was – wie am Beispiel der Celestina bereits ausführlich gesehen – ebenfalls doppelt codiert ist und auch auf die Lehre durch die Mutter zurückgeht.

la manera que guisa los cocineros ni cosas del golosinas y saynetes, sino sobriamente y templada y limpia y esto para que sepa contentar a sus padres y hermanos siendo doncellas y su marido e hijos casada y de esta manera granjeará mucho la voluntad de ellos sino lo dejare todo a manos de mozas y en especial si estuviesen enfermos, porque según dice Terencio: ,Cuando hombre tiene necesidad de la buena obra, de mejor gana la recibe de quien se la debe que no de los otros‘. (Vives: Instrucción de la mujer cristiana, S. 46f). Interessant ist darüber hinaus der Abstand der Lozana Andaluza zur ficción sentimental, wenn man z. B. an die Figur des Leriano aus San Pedros Cárcel de amor denkt, jene Inkarnation des höfischen Liebhabers, der sich aus enttäuschter Liebe zu Tode hungert. Vgl. dazu Dorothy S. Severin: Tragicomedy and Novellistic Discourse in La Celestina, Cambridge 1989, S. 26, wo die Autorin dem tragischen Liebhaber eine „anorexia nervosa“ attestiert. 113 Martínez de Toledo: Corbacho, S. 130. 114 Ebd., S. 131.

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Weiblichkeit steht bei Delicado also von Anfang im Zeichen der Üppigkeit (abundantia), der List (astutia) wie auch der Wollust (luxuria) und zeichnet sich zudem durch eine Abwesenheit und Unabhängigkeit vom männlichen Prinzip aus. Auch Aldonzas erster Liebhaber Diomedes, mit dem sie über das Mittelmeer segelt,115 entpuppt sich als äußerst schwach, da er sie gemäß dem Befehl seines Vaters („dar cuenta a mi padre“, LA 185) im Stich lässt, bevor sie dann nach Rom reist, wo sich schließlich der Großteil des Romans abspielt. Auch wenn durch den heiteren Grundton all jene Eigenschaften in einem eher positiven Licht erscheinen, wird doch durch die evozierte Nähe zu den christlichen Todsünden auch die gesellschaftlich bestimmte moralisierende Kehrseite mitgeführt, von der aus eine solch starke Sexualisierung der Frau streng verurteilt wurde. Hierbei darf jedoch nicht vergessen werden, darauf weist auch Cruz in ihrer feministischen Lektüre des Romans hin,116 dass wir es mit einer Frau aus den unteren Ständen zu tun haben, deren Armut zwar weniger dramatisch als in der männlichen Pikaresken dargestellt wird, aber deren Lebensweg („¡Sed buena!“) aufgrund ihrer Herkunft nur wenig Spielraum zulässt. Der Region um Córdoba ist eben nicht nur die List sprichwörtlich eingeschrieben, sondern auch, wie Narbona Jiménez es formuliert, die „permanencia de la pobreza.“117 Auch wenn die Intelligenz der Heldin zu Beginn als natur- bzw. heimatgegeben dargestellt wird, schildert doch gerade die lange Rom-Sequenz des Romans immer wieder auch den weiteren Bildungsweg Aldonzas, die nun endgültig aufgrund ihrer Schönheit den Namen Lozana trägt. Wiewohl Martínez Torrón zurecht darauf hinweist, dass die Hauptfigur sogar humanistisch gebildet ist,118 geht es in Rom eher um die Aneignung praktischen Wissens. Bereits zuvor wurde im Text mehrfach der Wissensdurst Lozanas hervorgehoben, und dass das Reisen dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten außerordentlich förderlich sei:

115 Costa Fontes sieht in den Segelfahrten durch das Mittelmeer, konkret die Levante, eine Allegorie sexueller Ausschweifungen (vgl. u. a. Costa Fontes: The Art of Subversion, S. 175f). Bereits Allaigre weist darauf hin, dass Levante auch Erektion bedeute, und dass schon der Name Diomedes ausreichend Raum für burlesk-erotische Wortspiele eröffne (vgl. LA 100-106). 116 Vgl. Cruz: Discourses of Poverty, S. 148f. 117 Narbona Jiménez: La identidad lingüística de Andalucía, S. 44. 118 Vgl. Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 19: „La Lozana tiene une cierta cultura. Domina la mitología. Conoce leyendas o, si no, las crea. Cita algunas obras literarias, que sabe son adecuadas a su ambiente.“

160 | V IR INVERSUS Y si muncho sabía en estas partes, muncho más supo en aquellas provincias, y procuraba de ver y saber cuanto a su facultad pertenecía. […] Más sabe quien muncho anda que quien muncho vive, porque quien muncho vive cada día oye cosas nuevas, y quien micho anda, ve lo que ha de oír (LA 184, 409).

In Rom jedoch muss sie ihre Kenntnisse noch um Einiges erweitern, um dort ihr Glück zu machen. Obwohl es vorher ausdrücklich hieß, dass sie ihre Intelligenz „sin maestro“ (LA 184) geschult habe, was ihre Unabhängigkeit von den Männern einmal mehr zum Ausdruck bringt, steht ihr nun mit Rampín ein Diener zur Seite, der sie durch die Straßen der römischen Halbwelt führt. Dort angekommen, macht sie sich ihre Talente zunutze („gran ver e ingenio diabólico y gran conocer“; LA 187) und beschießt „siempre libre y no sujeta a ninguno“ (LA 187) zu sein – eine Lektion aus der unglücklichen Diomedes-Episode, die sie tatsächlich bis zu ihrem Alters-Exil befolgen wird. So wird mit der Einführung Rampíns von Anfang an deutlich gemacht, wie die Rangordnung zwischen den beiden organisiert ist: Lozana übernimmt ihren neuen Diener aus den Händen seiner Mutter, die über ihre beiden Söhne sagt: „traviesos son, mas no me curo, que para eso son los hombres. El uno es rubio como unas candelas, y el otro crespo“ (LA 207f). Auch hier verbirgt sich eine Anspielung auf den Corbacho, in dem „ombres crespos o bermejos“119 gleichermaßen als verdächtig gelten. Der rothaarige Rampín ist es schließlich, den Lozana in ihre Obhut nimmt. Auch wenn es im Corbacho nicht näher erläutert wird, gelten rote Haare seit jeher als Signatur des Diabolischen – noch Thomas Mann setzt dieses Symbol sowohl im Tod in Venedig (1911) als auch besonders prominent im Doktor Faustus (1947) ein, wo der Teufel in persona als rothaariger Verhandlungspartner in Erscheinung tritt. Insofern erscheinen Rampín und die mit „ingenio diabólico“ gesegnete Protagonistin als perfektes Paar, was sich auch ihrem komplementären Charakter verdankt: Rampín es un personaje que contrasta con la grandeza humana de la Lozana. Es un pequeño pícaro que encuentra a su llegada a Roma, que le va enseñando la ciudad y ayudándola a introducirse en ambientes.120

In den folgenden sieben Heften spazieren die beiden durch Rom, wobei sich Rampín als kundiger Führer erweist, der seine neue Herrin in die Gepflogenheiten

119 Martínez de Toledo: Corbacho, S. 211. Allaigre macht auf diese Anspielung aufmerksam, vgl. LA 208. 120 Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 19.

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der Stadt einführt: „Pues ¡por eso! Es la mayor parte de Roma burdel, y le dicen: Roma putana (LA 216).“ Diese lange Sequenz dient vornehmlich dazu, ein Panorama der Stadt zu zeigen, wobei schnell deutlich wird, dass das Setting nach dem Prinzip des mundus inversus angeordnet ist, doch weitaus plastischer und konkreter als in der Celestina, was vor allem daran liegt, dass sich bei Rojas der Großteil der Handlung in Innenräumen abspielt, während Delicado seine Figuren im Stil einer panoramatischen Kamerafahrt die Straßen und Viertel der Stadt durchstreifen lässt – Menéndez Pelayo spricht eher pejorativ von einem „cinematógrafo de figurillas obscenas, que pasan haciendo muecas y cabriolas, en diálogos incoherentes.“121 Durch den dialogisch vermittelten Spaziergang meint Leser tatsächlich, der Handlung in Echtzeit beizuwohnen, wodurch der Eindruck von Rom als Chronotopos entsteht. Rojas siedelt die Handlung auch deshalb überwiegend in geschlossenen Räumen an, um das Innere seiner Figuren zwischen engaño und desengaño adäquat auszuleuchten, d. h. die Privatsphäre dient als Zone des Heimlichen, in der die Masken des Alltags fallen dürfen. Bei Delicado gibt es diese Spannung kaum – alles ist öffentlich, alles ist sichtbar: „Das öffentliche Leben und der öffentliche Mensch sind ihrer Natur nach unverhüllt, sind sichtbar und hörbar.“122 Durch diese Art der Schilderung, in der Mártinez Torrón „un cuadro costumbrista“123 sieht und in der Menéndez Pelayo trotz aller Kritik am Roman immerhin einen „naturalismo fotográfico“124 entdeckt, entsteht ein nachgerade impressionistisches Porträt („retrato“) des Alltags der unteren Stände, deren Leben – im Gegensatz zur Darstellung in der späteren novela picaresca – größtenteils durch Harmonie, Freiheit und Gleichheit geprägt ist. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass der Roman nicht im durch die katholische Inquisition streng regulierten Spanien spielt, sondern im weitaus liberaleren Rom – liberal vor allem im Umgang mit Juden, die den Hauptbestand der rund 125 Figuren von La Lozana Andaluza ausmachen. Während des ersten Spaziergangs mit Rampín äußert Lozana erstaunt: ¡Por mi vida, que es cosa de saber y ver, que dicen que en aquel tiempo no había dos españoles en Roma, y agora y tantos! Verná tiempo que no habrá ninguno, y dirán Roma mísera, como dicen España mísera (LA 216).

Juan Goytisolo weist auf den düster-prophetischen Charakter dieses Urteils hin: „Con el pesimismo resignado que le procura la experiencia, la Lozana vaticina

121 Menéndez Pelayo: Orígenes de la novela, Bd. 4, S. 54. 122 Bachtin: Chronotopos, S. 49 (Herv. i. O.). 123 Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 18. 124 Menéndez Pelayo: Orígenes de la novela.

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peores tiempos para los sefarditas romanos por cuanto Roma podrá seguir un día los malos pasos de España.“125 Trotz dieser Angst vor der Zukunft, die sich den Erinnerungen an die Vertreibung aus der Heimat verdankt, wird die unmittelbar erlebte Gegenwart der im römischen Exil Marginalisierten positiv dargestellt: No hay una moralidad externa. No hay ley. Este mundo tiene su propio código de valores, fundamentado en la ayuda a los iguales. [...] En realidad todos eran personajes marginales y exiliados en una sociedad que los aceptaba.126

Man darf davon ausgehen, dass dieses stark idealisierte Bild so nicht ganz dem realen Umfeld entspricht, aber im Roman bringt es vor allem das Lebensgefühl bzw. die Dankbarkeit der Exilierten zum Ausdruck, wie es etwa eine der zahlreichen männlichen Nebenfiguren, Silvio, folgendermaßen bekundet: Pues por eso es libre Roma, que cada uno hace lo que se le antoja, agora sea bueno o malo y mirá cuánto, que si uno quiere ir vestido de oro o de seda, o desnudo o calzado, o comendo o riendo, o cantando, siempre vale por testigo, y no hay quien os diga mal hacéis ni bien hacéis, y esta libertad encubre munchos males (LA 298f).

So verläuft der Wissenserwerb der Heldin in ihrer neuen Heimat, der sich während eines Spaziergangs vollzieht, über unmittelbare Anschauung und Gespräche mit bereits Exilierten, die beinahe dokumentarischen Interviewcharakter aufweisen; mehr als die Hälfte der Redeanteile Lozanas in ihrer Anfangszeit in Rom besteht aus Fragen zur Umgebung, zu den Menschen und ihren Gepflogenheiten. Wie im Schelmenroman lernt Lozana in situ, d. h. praxisorientiert aufgrund ihrer leitmotivisch gepriesenen Auffassungs- und Anpassungsgabe, so dass ihr gleich zu Beginn eine andere Prostituierte eine erfolgreiche ‚Integration‘ prophezeit: Antes de ocho días sabrá toda Roma, que ésta en son la veo yo que con los christianos será christiana, y con los judíos, jodía, y con los turcos, turca, y con los hidalgos, hidalga, y con los ginoveses, ginovesa, y con los franceses, francesa, que para todos tiene salida (LA 203).

Rasch wird Lozana zu einer jener „putas máscaras enmascaradas“ (LA 271), also zu einer Hure, die zugleich eine Maske trägt und eine Maske ist. Delicado charakterisiert an dieser Stelle die Maskerade als Grundlage allen Daseins, indem er

125 Juan Goytisolo: „Notas sobre La Lozana andaluza“, in: ders.: Disidencias, Barcelona 1977, S. 37-61, hier: S. 42. 126 Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 16f.

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Weiblichkeit, Prostitution und Judentum mit dem Beruf des Schauspielers und mit dem auch für die Pikareske gültigen Credo Mundus vult decipi, ergo decipiatur kurzschließt. Hier lässt sich eine längere Passage aus Friedrich Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft anführen, in der der deutsche Philosoph, der sowohl für seine Misogynie als auch seinen Antisemitismus bekannt ist, zum „Probleme des Schauspielers“ Folgendes artikuliert: Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten „Charakter“ beiseite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: alles das ist vielleicht nicht nur der Schauspieler an sich? Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volks ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mußten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den „Künstler“ erzeugt (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, auch den classischen Bedienten, den Gil Blas: denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des „Genies“). [...] Was aber die Juden betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen, diesem Gedankengange nach, von vornherein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche Schauspieler-Brutstätte; und in der That ist die Frage reichlich an der Zeit: welcher guter Schauspieler ist heute nicht Jude? [...] Endlich die Frauen: man denke über die ganze Geschichte der Frauen nach, – müssen sie nicht zu allererst und -oberst Schauspielerinnen sein. [...] Das Weib ist so artistisch...127

Dieser Aphorismus 361 liest sich – trotz oder möglicherweise gerade aufgrund seiner misogynen und antisemitischen Untertöne – wie ein später Kommentar zur literarischen Modellierung pikaresker Figuren, sowohl männlichen („Gil Blas“) als auch weiblichen Geschlechts. N. formuliert hier gleichsam ein Bindeglied zwischen dem Schauspieler, dem Künstler, dem pícaro, der Frau und dem Juden. Gehen wir aber der Reihe nach vor: „Falschheit mit gutem Gewissen“, „Lust an der

127 Nietzsche: Aphorismus 361 „Vom Probleme des Schauspielers“, S. 608f (Herv. i. O.).

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Verstellung“, „den sogenannten ‚Charakter‘ beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend“ – auch wenn die Lozana als „puta máscarada enmascarada“ nicht ganz frei von Schamgefühlen ist, empfindet sie diese Scham keineswegs, weil sie sich den gesellschaftlichen Vorgaben entsprechend maskiert, also ‚falsch ist‘. Der engaño, der sich ihrem „ingenio diabólico“ verdankt, gehört schließlich zum Alltagsgeschäft. Dass die im karnevalesken Narrativ des mundus inversus erzählten Lebensläufe eine einzige Abfolge von Maskeraden sind und als solche auch deutlich markiert werden, lässt – mit Nietzsche – daran zweifeln, ob es dahinter noch ein identitäres Rest-Substrat gibt, einen „sog. Charakter“, oder ob dieser „ausgelöscht“ ist und die Maske selbst an die Stelle des Subjekts tritt („dadurch fast zum Mantel werdend“). Das „innere Verlangen in den Schein“ wird als menschlicher „Instinkt“ erkannt, der jedoch „am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet“ sei, weshalb die Überleitung zum „Possenreißer, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown und Gil Blas“ bestens funktioniert – allesamt männlichen Figuren aus Theater und Karneval, die Nietzsche zufolge zur ‚Vorgeschichte des Genies‘ gehören. Den aufgezählten Beispielen zum Trotz wird doch insgesamt deutlich, dass es sich bei dem zitierten Aphorismus um weit mehr handelt als um einen Kommentar zum Schauspielerberuf und zu literarischen Schelmenfiguren – spätestens dann, wenn Nietzsche auf die Juden und Frauen zu sprechen kommt, allerdings deutlich abgesetzt vom (männlichen) Schauspieler. Was Nietzsche hier formuliert, ist nichts anderes als ein anthropologischer Beitrag zur modernen Subjekttheorie, wie auch Wiebrecht Ries weiß: „Entgegen der Hauptlinie der griechischen Philosophie, die sich als Ontologie versteht, ist für Nietzsche der Schein das Primäre.“128 Entscheidend dabei ist, dass das Tragen der Masken nicht als souveräner Akt im luftleeren Raum zu denken, sondern immer auf einen direkten Bezug zur Gesellschaft angewiesen ist, ganz im Sinne einer „Gesellschaftsmaske“, die „als Medium der Anpassung des Individuums an die Gesellschaft“129 fungiert. Diese soll im besten Fall das zeigen, „was der Erwartung der Gesellschaft entspricht.“130 Lozana muss demzufolge aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihres Berufs und aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum eine performative Leistung erbringen, die ihr das Überleben im Exil ermöglicht.131 Dass jedoch der Zwang zum

128 Wiebrecht Ries: Nietzsche zur Einführung. Hamburg 62001 S. 61. 129 Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2003, S. 87. 130 Ebd. 131 Delicado fügt die Kategorien von Weiblichkeit und Judentum im Bild der sternförmigen Narbe auf der Stirn seiner Heldin zusammen. Aufgrund ihrer Ausschweifungen

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engaño, und hier liegt ein deutlicher Unterschied zum pícaro (und im Übrigen auch zur Celestina), nicht nach denselben betrügerischen Maßgaben erfolgt, verdankt sich den unterschiedlichen Handlungsorten. Auch wenn wir uns bei Delicado ebenfalls in einem mundus inversus befinden, so doch nicht so doch nicht ausschließlich im Hinblick auf Standeskriterien. Das Modell der karnevalesken Umkehrung umfasst in der novela picaresca, wie wir bereits gesehen haben, nicht die Hierarchie der Geschlechter, d. h. die patriarchale Ordnung bleibt größtenteils intakt. Auch religiöse Kategorien bleiben von der literarischen Inversion nahezu unangetastet. Delicado hingegen weitet das karnevaleske Spiel mit gesellschaftlichen Hierarchien auf sämtliche intersektionalen Kategorien aus, indem er die Stadt Rom insgesamt als „ciudad mujer“132 präsentiert, in der ein Großteil der Sozialstrukturen auf weiblichen Allianzen beruht.133 Zudem unterstützt die Tatsache, dass Lozana durchweg als Allegorie der Stadt selbst auftritt, diesen Eindruck. All dies führt zu einer starken Sexualisierung des Romans („Todo gira en torno al tema sexual“134), da Delicado hier dem stereotypen Geschlechterdiskurs seiner Zeit durchaus treu bleibt, was bedeutet, dass die zahlreichen Referenzen auf Vorgänger wie den Arcipreste de Talavera keineswegs nur als parodistisch zu interpretieren sind. Allerdings fehlt bei Delicado die Dämonisierung von Weiblichkeit: Die in der vorangegangenen Literatur bis hin zu Rojas mit Vehemenz beschworene Einheit von Weiblichkeit und List im Sinne von bösartiger Arglist wird in der Lozana Andaluza positiv umkodiert in praktische Intelligenz, was allem Anschein nach in der Rezeption des Textes zu den bereits

als sexuell aktive Frau leidet die Protagonistin (wie ihr Schöpfer) an der Syphilis, am „mal frances“ – ihre Narbe auf der Stirn ist die gut sichtbare Spur dieser Erkrankung. Bezeichnenderweise ist diese Narbe sternförmig, d. h. die äußerliche Stigmatisierung erfolgt sowohl hinsichtlich ihres Geschlechts als auch ihrer Zugehörigkeit zum Judentum. Wichtig ist jedoch, dass dieses Stigma kein soziales ist, denn ihrer erotischen Anziehungskraft scheint es keinen Abbruch zu tun: „que tiene lindo cuerpo“ (LA 229). 132 Martínez Torron: „Erotismos“, S. 11. 133 Dies bedeutet nicht, dass nicht auch männliche Figuren auftauchen – ähnlich dem Sozialraum der novela picaresca begegnen wir Vertretern nahezu sämtlicher Stände: Klerikern, Gelehrten, Ärzten, Anwälten, Kurieren, Homosexuellen, Botschaftern, Soldaten und Spielern. Einzig der Adel kommt nur am Rande vor. Gemein ist all jenen, dass sie bis auf den pikaresken Diener der Lozana allesamt Statistenrollen spielen. 134 Martínez Torrón: „Erotismos“, S. 16.

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dargestellten positiven, teils euphorischen Bewertungen des Weiblichkeitsbildes geführt hat. *

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Dass es sich bei La Celestina und La Lozana Andaluza um die beiden wichtigsten Vorläufer der novela picaresca handelt, ist deutlich geworden – und das nicht nur, aber auch hinsichtlich der literarischen Repräsentation von Weiblichkeit. In La Celestina ist Weiblichkeit sehr stark an Mütterlichkeit gekoppelt, was jedoch weniger mit Mutterschaft im biologischen Sinne zu tun hat als mit einer sozialen Praxis. Auch Lozana ist mehrfache Mutter, aber ihre gemeinsamen Kinder mit Diomedes landen bei dessen Vater („an unspecified number of children“135), über spätere Schwangerschaften gibt der Text nur wenig Auskunft, von Fehlgeburten ist die Rede, Genaueres erfährt man nicht, außer dass Mutterschaft keineswegs im Zentrum des Lebens der Hauptfigur steht. Der Einzige, den die Heldin mit „hijo“ (LA 230, 238) adressiert, ist ihr Diener Rampín, der jedoch gleichzeitig ihr Liebhaber ist. Auch wenn zu Beginn auf die matrilineare Tradition in ihrer Familie eingegangen wird, so doch nur, um die weibliche Familientradition zu beschreiben, die aus Prostitution, Koch- und Nähkunst besteht – alle drei Bereiche werden sowohl explizit als auch implizit an den erotischen Charakter von Weiblichkeit rückgebunden. In der Celestina präsentiert sich Mutterschaft vor allem als Parodie der Heiligen Mutter und wird durch den ubiquitären Gebrauch der Anrede „madre“ ad absurdum geführt. Beide Texte weisen entweder Vaterlosigkeit oder schwache Vaterfiguren auf, was einmal mehr den starken Einfluss der Mütter – seien sie nun leiblich oder symbolisch – unterstreicht. Somit befinden wir uns jeweils in matriarchalisch anmutenden Sozialräumen, in denen die Macht des weiblichen Eros sowie weibliche List und Verstellungskunst dominieren. In der Celestina endet dieses Regime in der Katastrophe, da wir uns trotz aller Inversionen und Subversionen im patriarchalischen Spanien der Inquisition befinden, d. h. am Ende muss die Ordnung wiederhergestellt werden, was jedoch durch die Totenklage Pleberios, also des Diskursträgers des paternalistischen Prinzips, der nur noch die Ruinen seines Werkes betrauern kann, eher halbherzig in Szene gesetzt wird. Delicado nutzt sein Exil als Schreib- und Handlungsort, um ein nachgerade utopisches Gesellschaftmodell zu entwerfen, in dem Männer und Frauen nahezu gleichgestellt sind und in dem der Eros kein kulturgefährdendes Monster darstellt, sondern ein unabdingbares Lebenselixier wie Essen und Trinken. Weiblichkeit wird demnach in beiden Texten gleichermaßen mit Sexualität, List und Verstel-

135 Costa Fontes: The Art of Subversion, S. 172.

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lungskunst assoziiert, mit dem einzigen Unterschied, dass Rojas entsprechend seinem kulturellen Kontext die düstere, dämonische Seite darstellt, während Delicado – durchaus auch im Sinne einer feuchten ‚Männerphantasie‘, wie Cruz es dargestellt hat – ein heiteres Bild zeichnet, in dem Venus herrscht, was nicht einmal durch das Grassieren venerischer Krankheiten getrübt wird. Was den literarhistorischen Einfluss der beiden Werke auf den spanischen Schelmenroman betrifft, so darf man davon ausgehen, dass der Celestina tatsächlich aufgrund ihrer raschen Popularität und Verbreitung sehr viel mehr Gewicht beigemessen werden kann. La Lozana Andaluza galt lange als vorschollen, wurde noch dazu in vermutlich nicht allzu großer Stückzahl in Venedig publiziert, so dass eine direkte Einflussnahme als umstritten, wenn nicht gar als unmöglich erachtet werden kann. So konstatiert José Hernández Ortiz eher vorsichtig: Independientemente del hecho que la Lozana fuera, o no, conocida en los siglos posteriores a su publicación, las intenciones realistas de Delicado encuadran dentro de la evolución de la picaresca y apuntan hacia el futuro de la novela española y europea.136

Auch John B. Hughes zieht in seinen Ausführungen zu den Ursprüngen der Pikareske eine ähnliche Bilanz: No se trata de influencia. No importa que haya leído o no el autor del Lazarillo la obra de Delicado, su mera existencia en Italia – ambiente relativamente libre, que servía como refugio para más de un autor converso –, en este momento histórico, y su perspectiva, que en mucho anticipa la perspectiva y el mundo picarescos, […] descubren algo del fondo social e histórico que yacía detrás del contenido enajenado y el anonimato del Lazarillo.137

Schlickers hält hingegen eine direkte Beeinflussung für möglich, was sie u. a. auf die ähnlichen Frontispize von La Lozana Andaluza und Úbedas La Pícara Justina (Abb. 2 und 3) zurückführt:

136 José Hernández Ortiz: La génesis artística de la Lozana andaluza: el realismo literario de Francisco Delicado, Madrid 1974, S. 152. Ortiz’ Konzept des „realismo literario“ darf aus heutiger Sicht als nicht mehr ganz zeitgemäß erachtet werden. 137 John B. Hughes: „Orígenes de la novela picaresca: La Celestina y La Lozana andaluza“, in: Manuel Criado de Val (Hrsg.): La picaresca: orígenes, textos y estructuras: Actas del I Congreso Internacional sobre la picaresca organizado por el patronato ‚Arcipreste de Hita‘, Madrid 1979, S. 327-334; hier: S. 332f.

168 | V IR INVERSUS Da Delicados Roman jedoch elementare Ähnlichkeiten mit der später erschienenen Novela picaresca aufweist [...], hege ich Zweifel an der Nicht-Rezeption der Lozana andaluza in Spanien. [...] In der „nave de la vida picaresca“ [Frontispiz der Pícara Justina, G. S.] [...] ist die Pícara Justina zusammen mit Guzmán de Alfarache abgebildet, der „arm und zufrieden“ ist, wobei im kleinen Beiboot Lazarillo sitzt. Auf dem Frontispiz der Lozana andaluza indes ist eine Gondel abgebildet, in der Lozana, Divitia, Celidonia und andere Prostituierte von Rom nach Venedig reisen, und der Gondoliere ist Ra[m]pín, Lozanas Liebhaber.138

Hier muss jedoch einschränkend angemerkt werden – darauf weist auch Schlickers hin –, dass beide Frontispize bereits einen gemeinsamen Vorgänger zitieren, namentlich Sebastian Brants Moralsatire Das Narrenschiff (1494), die sich in der lateinischen Übersetzung von Jakob Locher (Stultifera Navis, 1497) weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus verbreitete (Abb. 4). In diesem Zusammenhang schließt sich ein weiterer Einwand an, nämlich dass es im 16. Jahrhundert nicht selten vorkam, dass aus einem Fundus an Frontispize geschöpft wurde, der immer wieder von Druckern für neue Werke ähnlicher Gattungszugehörigkeit benutzt wurde, so vor allem für die libros de caballerías, wie José Manuel Lucía Megías betont.139 Im vorliegenden Fall bedeutet demnach die Ähnlichkeit der bildlichen Darstellungen des Narrenschiffes nicht zwangsläufig, dass hier ein unmittelbares Rezeptionsverhältnis besteht. Abb. 2: Frontispiz der Lozana Andaluza (Venedig 1528)

138 Schlickers: „Cherchez la femme“, S. 54. 139 Vgl. José Manuel Lucía Megías: Imprenta y libros de caballerías, Madrid 1999.

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Abb.3: Juan Baptista Morales y Fe: Nave de la vida picaresca (Frontispiz von Francisco López de Úbeda La pícara Justina, 1605)

Abb. 4: Jacob Locher: Stultifera Navis (Straßburg 1497)

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Konkrete intertextuelle Bezugnahme lässt sich demzufolge nur schwer nachweisen, zumal man über den anonymen Autor des Lazarillo keinerlei Informationen hat. Als weiteres Indiz, das möglichenfalls für eine Rezeptionsfolge sprechen würde, mag die Tatsache gelten, dass bei Delicado der Name Lazarillo in einem eher dubiosen, da inzestuösen Kontext fällt. Als Lozana sich mit Blason, dem Diener einer anderen Prostituierten, unterhält, beschwert der sich über die Verschwendungssucht seiner Herrin und stellt klar: „¿por qué aquella mujer no ha de mirar que yo no soy Lazarillo, el que cabalgó su agüela, que me trata peor, voto a Dios?“ (LA 344). Dieser merkwürdige Hinweis ist jedoch kaum belastbar genug, um eine intertextuelle Genealogie zweifelsfrei nachzuweisen, auch wenn sich hier ein Diener über seine schlechte Behandlung beschwert, wie es auch Lazarillo oft genug tut. Costa Fontes führt noch die Szenen an, in denen Rampín in eine Latrine fällt (LA 332f) oder sich in aller Öffentlichkeit übergeben muss, nachdem er dazu gezwungen wurde, Speck zu essen (LA 340f), die auf die derbe und skatologische Bildsprache des Schelmenromans vorausweisen.140 Man könnte hier noch hinzufügen, dass auch der abjekte, da syphilitisch versehrte Körper der Lozana das groteske Körperbild der Pikaresken antizipiert, vor allem natürlich das der weiblichen Pikareske, innerhalb derer auch die Pícara Justina (und später Grimmelshausens Courasche) als von der Syphilis befallene Huren präsentiert werden. Abschließend wären demnach hinsichtlich der Frage einer möglichen Einflussnahme bezüglich der Geschlechterordnung zwei Ebenen zu berücksichtigen: 1. die kontextbezogene, da insbesondere das vorherrschende Weiblichkeitsbild stark kodifiziert ist, wovon Texte wie Martínez’ Arcipreste de Talavera oder Vives’ Instrucción de la mujer cristiana Zeugnis ablegen, obwohl beide sehr unterschiedlich gestaltet sind: Während der Corbacho fast ungebrochen das Genre der Frauenschmäh perpetuiert, was wiederum in der Celestina nahezu wörtlich im Sempronio-Monolog aktualisiert wird, bedient sich Vives ähnlicher Stereotype, um seine humanistischen Bildungsideale zu begründen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein ähnliches Weiblichkeitsbild zu unterschiedlichen Wahrnehmungen, Beurteilungen und Diskursen führt, was letztlich auch die beiden Romane von Rojas und Delicado in der direkten Gegenüberstellung unter Beweis stellen. Davon, dass im Siglo de Oro die Übergänge von Frauenschmäh (Misogynie) und Frauenlob (Philogynie) mitunter fließend und von zahlreichen Paradoxa geprägt waren, berichtet Gisela Bock in ihren Ausführungen zur frühneuzeitlichen

140 Costa Fontes: The Art of Subversion, S. 238.

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Querelle des femmes.141 Inwiefern die novela picaresca dem stereotypen Weiblichkeitsbild verhaftet bleibt und auf diese ambivalenten Diskurse Bezug nimmt, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Vor allem soll gezeigt werden, dass das Gegenstück zur Frauenschmäh nicht notwendigerweise Frauenlob sein muss, sondern durchaus auch ‚Männerschmäh‘ sein kann. 2. die intradiegetische, da ganz offenkundig das Mutter-Kind-Muster, das die Vorläufer-Romane mehr oder weniger stark narrativ ausgestalten, in der novela picaresca wiederaufgegriffen wird. Der wenige Raum, der weiblichen Figuren in den drei Schelmenromanen eingeräumt wird, gehört im Großen und Ganzen den Mutterfiguren und ihren Doubletten. Während also La Celestina und La Lozana Andaluza die Mütter ins Zentrum stellen und die Biografien ihrer ‚Söhne‘ (Sempronio, Pármeno, Rampín) nur nebenbei thematisieren, kehrt die männliche Pikareske dieses Strukturprinzip um – mit dem Unterschied, dass das initiale Verschwinden der Mütter deutliche Spuren in den Romanen hinterlässt. So könnte man zum Schluss kommen, dass mit dem Tod von Madre Celestina, dem Rückzug der Lozana Andaluza aus der Gesellschaft und der Geburt des Lazarillo de Tormes das Zeitalter der Söhne anbricht und damit möglicherweise ein Verdrängen der weiblichen Linie einsetzt, ein „Escaping the Matriarchate“142, wie es Ruth Anthony El Saffar formuliert.

3.2 E N

EL NOMBRE DE LA NOVELA PICARESCA

M ADRE: W EIBLICHKEIT IN

DER

Männlichkeit entsteht als Negation einer primären, durch die Mutter-Kind-Beziehung gegebenen Weiblichkeit, von der sich der Mann jeweils emanzipieren und losreißen muß; die Entfernung vom maternalen Ursprung erzeugt Unsicherheit und Angst auf der einen, Sehnsucht und Nostalgie nach Verschmelzung und Wiedervereinigung mit der verlorenen Symbiose auf der anderen Seite.143

Was Erhart hier als ambivalentes postödipales Drama darstellt, das im Zuge der Herausbildung einer männlichen Identität von entscheidender Relevanz ist, um-

141 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000, S. 13-15. 142 Ruth Anthony El Saffar: „Escaping the Matriarchate: Another Look at Lazarillo de Tormes“, unpublizierter Vortrag, Midwest Modern Language Association, Indiana University, 1.-3. Nov. 1984, zit. nach Cruz: „The Abjected Feminine“, S. 109. 143 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 177.

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schreibt exakt die Ausgangskonstellation eines jeden der drei zu untersuchenden Romane. Es geht um die mehr oder minder freiwillige Loslösung vom ‚mütterlichen Schoß‘ und die sich daran anschließende Abspaltung des Weiblichen im männlichen Sozialisationsprozess der pícaros, Cruz spricht von der „abjection of the feminine.“144 Auch wenn man mit Erharts Beobachtung eines „Drama[s] der Männlichkeitsbildung, die sich in einem riskanten Prozeß vom Körper der Mutter zu lösen hat“145, eher den klassischen Bildungs- oder Entwicklungsroman im Blick haben mag, kann dieser Ausgangskonflikt doch ebenso für die novela picaresca geltend gemacht werden – wie im Übrigen auch für mittelalterliche Heldenepen, besonders prominent für Chrétiens Perceval (1190), in dem man mit einigem Recht ein narratives Grundmuster des maternalen Verlusts sehen kann.146 Insofern liegt es nahe, in der novela picaresca von Anfang an eine Parodie auf solche Heldenepen zu sehen, wie auch – lange vor dem Don Quijote – auf die populären Ritterromane147 und die Gattung der Heiligenvita.148 Die Mutterfiguren – und damit stehen sie in enger Verbindung zu den Vorläuferromanen – spielen in der novela picaresca eine überaus wichtige Rolle und prägen die narrative Struktur pikaresker Männlichkeit trotz ihrer nur sehr kurzen Auftritte zu Beginn der Texte149 auf maßgebliche Weise. Man könnte mit einigem

144 Vgl. Cruz: „The Abjected Feminine“. 145 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 177. 146 In seiner einflussreichen Studie zur Konstruktion des literarischen Heldenmythos stellt Joseph Campbell in seiner Konzeption des archetypischen Monomythos ebenfalls die Ablösung von der Mutter an den Beginn (Aufbruch). Danach folgen Initiation und Rückkehr. Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten [1949], Frankfurt/M. 2011. 147 Vgl. dazu Walter Pabst: „Die Selbstbestrafung auf dem Stein: Zur Verwandtschaft von Amadís, Gregorius und Ödipus“, in: Der Vergleich. Hamburger Romanistische Studien 42 (1955), S. 33-49. 148 Die Geschichte des Hl. Lazarus wäre hier naheliegend. Vgl. dazu Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 19. Hans-Georg Soeffner sieht im Schelmenroman eine „didaktische Komplementärgattung zur Heiligenvita“; in: „Entwicklung von Identität und Typisierung von Lebensläufen. Überlegungen zu Hans Ulrich Gumbrecht: Lebensläufe, Literatur, Alltagswelten“, in: Joachim Matthes/Arno Pfeifenberger/Manfred Stosberg (Hrsg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive, Nürnberg 1981, S. 251-267; hier: S. 264. Vgl. dazu auch die eher kritischen Einwände von Kruse: „Die parodistischen Elemente im Lazarillo de Tormes“. 149 Eine Ausnahme stellt hier Guzmán de Alfarache dar, in dem die Mutter am Ende des Romans wiederkehrt.

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Recht sagen, dass alle drei Romane neben vielem anderen die Geschichte dieses maternalen Dramas erzählen und – jeder auf seine eigene Weise – vom Scheitern dieser Überwindung mütterlicher Weiblichkeit. Im Vergleich zu den präpikaresken Vorläufern führen die Schelmenromane, wie bereits angedeutet, eine Inversion im Hinblick auf die Geschlechterordnung durch: Während sowohl La Celestina als auch La Lozana Andaluza ihren ambivalenten mütterlichen Hauptfiguren den größten Raum innerhalb der Handlung zugestehen und die schelmischen ‚Söhne‘ lediglich als Nebenfiguren auftreten, so dass man von einer subversiven matriarchalen Matrix sprechen kann, die jenen Texten zugrunde liegt, kehren die novelas picarescas zumindest an der Oberfläche zurück zum Patriarchat und seiner androzentrischen Matrix. Wenn man diese Genealogie der Pikareske berücksichtigt, könnte man die Rückkehr zum Patriarchat gewissermaßen als Inversion des inoffiziellen geschlechterpolitischen mundus inversus der Vorläufertexte interpretieren und der novela picaresca eine Restauration der männlichen Ordnung zuschreiben. Dass dies jedoch so einfach nicht funktioniert, lässt sich ebenfalls genealogisch herleiten und mit der Gewebe-Metaphorik im Barthes’schen Sinne erläutern. Man könnte sagen, dass die Fäden der beiden nähenden und webenden Mütter Celestina und Aldonza das textuelle Gewebe aller drei Romane wie eine phantomatische Spur von Weiblichkeit durchziehen, die mal mehr, mal weniger sichtbar aufscheint, aber doch niemals ganz verschwindet. Tatsächlich verkörpern die Mütter der pícaros zunächst durchweg das weibliche Prinzip der astutia – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen –, müssen ohne Ehemänner ihren Lebensunterhalt und den ihrer Söhne bestreiten. Obschon sie in dieser Rolle weniger erfolgreich agieren als ihre Vorgängerinnen, manifestiert ihre starke Präsenz zu Beginn der vidas picarescas eine feminine Matrix im durchaus doppelten Sinne von Grundstruktur und Gebärmutter bzw. Muttertier.150 Sie gebären nicht nur ihre Söhne und damit die Protagonisten der Romane, sondern setzen durch den meist erzwungenen Abschied die Kernnarration in Gang, indem sie die Söhne ihrem

150 Diese Doppelbedeutung legt auch Jannine Montauban ihren Überlegungen zur „reproducción sexual y textual en la novela picaresca“ zugrunde. Vgl. dies.: El ajuar de la vida picaresca., S. 12. Vgl. auch Luciá Guerra Cunningham: „El personaje femenino y otras mutilaciones“, in: Hispamérica 43, (1986), S. 3-19, hier: S. 6: „[...] de la totalidad compleja que constituye ser mujer, la imaginación masculina, inicialmente seleccionó y abstrajo la maternidad para hacer de ella la esencia exclusiva de su identidad. El signo madre, entonces, la mutiló y la fijó en una fertilidad que hizo de ella una Mujer-Matriz, un vientre.“

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Schicksal – „sus fortunas y adversidades“ – bzw. ihrem eigenen „Familienroman“151 im vorweggenommenen Freudianischen Sinne überlassen. Wenn wir uns noch einmal den stark kodifizierten Charakter insbesondere des literarisch vermittelten Weiblichkeitsbildes im frühneuzeitlichen Spanien vor Augen führen, so ergibt sich eine Dichotomie zwischen den Polen von Idealisierung und Dämonisierung. Idealisierte bzw. idealtypische Entwürfe von Weiblichkeit lassen sich in den libros de caballerías, in der stark vom Petrarkismus beeinflussten ficción sentimental finden sowie in den bereits genannten Erziehungsratgebern. Neben Vives Instrucción de la mujer cristiana wäre hier noch der ebenfalls wirkmächtige Traktat La perfecta casada (1585) von Fray Luis de León zu nennen, der ganz im Geiste der Gegenreformation Vives’ vergleichsweise liberale Ansichten zur Frauenbildung wieder zurücknimmt und für den Ausschluss der Frauen von jeglicher Bildung plädiert152 sowie für eine Domestizierung der Frau, die jedoch auch schon Vives befürwortet hatte.153 Diese von männlichen Autoren formulierten Ideale christlicher, tugendhafter und häuslicher Weiblichkeit orientieren sich grosso modo am die Zeit beherrschenden Marien-Diskurs. Dessen düs-

151 Vgl. Sigmund Freud: „Der Familienroman der Neurotiker [1909]“, in: ders.: Schriften über Liebe und Sexualität, hrsg. von Reimut Reiche, Frankfurt/M. 1998, S. 85-90: „Die Ablösung des heranwachsenden Individuums von der Autorität der Eltern ist eine der notwendigsten, aber auch der schmerzlichsten Leistungen der Entwicklung“ (S. 87). Vgl. zu einer psychoanalytischen Lesart von Weiblichkeit und Mutterschaft in der Literatur des Siglo de Oro: Anne J. Cruz: „La búsqueda de la madre: psicoanálisis y feminismo en la literatura del Siglo de Oro“, in: Alain Saint-Saëns (Hrsg.): Historia silenciada de la mujer. La mujer española desde la época medieval hasta la contemporánea, Madrid 2009, S. 39-64. 152 „[...] así como a la mujer buena y honesta la naturaleza no la hizo para el estudio de las ciencias ni para los negocios de dificultades, sino para un solo oficio simple y doméstico, así le limitó el entender, y por consiguiente le taso las palabras y las razones.“ Fray Luis de León: „La perfecta casada“, in ders.: Obras completas castellanas de Fray Luis de León, Madrid 1957, Bd. 1, S. 243-358; hier: S. 334. Vgl. dazu auch Elena Kilian: Bildung, Tugend Nützlichkeit. Geschlechterentwürfe im spanischen Aufklärungsroman des späten 18. Jahrhunderts, Würzburg 2002, S. 50-52. 153 Vgl. Fray Luis de León: „La perfecta casada“, S. 339: „Como son los hombres para lo público, así las mujeres para el encierramiento; y como es de los hombres el hablar y el salir a luz, así de ellas el encerrarse y encubrirse.“ Wir erinnern uns, dass auch Vives den Frauen das Studium der klassischen Rhetorik untersagt, da Kenntnisse in der Rhetorik nur für die öffentliche Sphäre Nützlichkeit beanspruchen, die den Frauen vorenthalten bleibt.

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teres Pendant wäre die bereits mehrfach skizzierte Dämonisierung von Weiblichkeit, wie sie repräsentativ im Arcipreste de Talavera vorgenommen wird und zu deren Legimitation nicht nur biblische Erklärungsmuster bemüht werden, sondern – wie Michael Solomon herausgearbeitet hat – verstärkt auch medizinische Diskurse, die aus wissenschaftlicher Sicht die Inferiorität der Frau untermauern und auf die Gefahren hinweisen sollen, die vom weiblichen Geschlecht ausgehen.154 Idealisierung und Dämonisierung gehören freilich eng zusammen, da die Idealvorstellungen auch als Instrumente verstanden werden können, um den ‚natürlichen‘ Bedrohungen der Frau abzuwehren. Dämon und Engel, Heilige und Hure – beide Imagines und Bildstrategien konstruieren Weiblichkeit als das „Andere“ der Gesellschaft, dem entweder entgegengewirkt oder das überwunden bzw. zumindest bekämpft werden muss. Zu den zentralen Eigenschaften, die den Frauen zugeschrieben werden, zählt die List in all ihren Nuancierungen: engañosa (Martínez), ladrona (Martínez), astuta (Rojas, Covarrubias), resaber (Delicado), ingenio diabólico (Delicado). Während Martínez diese sämtlichen Frauen attestiert,155 wird in den folgenden Texten die astutia vornehmlich Frauen aus den unteren Ständen angedichtet. Es mag daher kaum verwundern, dass sich diesem stereotypen Weiblichkeitskodex sämtliche drei Schelmenromane verpflichtet sehen, indem sie zu Beginn Mutterfiguren präsentieren, die allesamt nicht nur aufgrund ihrer ‚natürlichen‘ Veranlagung, sondern vor allem auch aufgrund ihrer sozialen Situation und Position listenreich Strategien des Überlebens entwickeln müssen. Sie arbeiten als Prostituierte – laut Montauban stellt Prostitution die „negación social de la maternidad“156 dar –, was einerseits ihrem ebenfalls ‚naturgegebenen‘ apetito nach amor carnal entspricht und andererseits ihren Körper zur Ware macht. Letzteres wiederum spielt der typisch weiblichen avaricia in die Hände, die vor allem Martínez in

154 Vgl. Solomon: The Literature of Misogyny, S. 7f: „Throughout his (Martínez’, G. S.) treatise he identifies love and sexuality as diseases, he reminds his readers that illicit love destroys the body, and he lists the physical maladies that torture those who indulge in amorous relations. [...] For Martínez [...] the attraction of women was a disease that not only destroyed the body and mind of the individual, but infected the very core of civic order as well.“ 155 Die Langlebigkeit dieses Stereotyps zeigt sich noch bei Nietzsche, dessen bereits zitierter Aphorismus das „artistische Weib“ beschreibt. 156 Montauban: El ajuar de la vida picaresca, S. 74.

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seinem Corbacho geradezu gebetsmühlenartig dem weiblichen Geschlecht zuschreibt157 und die der Celestina bezeichnenderweise zum Verhängnis wird. Die Tatsache nun, dass die pikareske Diegese dem Strukturprinzip des mundus inversus unterliegt, erklärt, warum in den Romanen so gut wie keine weiblichen Figuren aus dem Adel auftauchen, wodurch wiederum der Eindruck verstärkt wird, dass die List im Sinne eines weiblichen engaño allen Frauen gemein sei. Die Mütter werden dadurch zur Verkörperung einer schlechthinnigen Weiblichkeit bzw. zur Allegorie der astutia. Die Eigenschaft als listige Strategin verdankt sich nicht zuletzt auch wieder der Topografie der patriarchalen Ordnung, die der Frau die häusliche Sphäre zuweist, welche ihrerseits den Heimlichkeiten den perfekten Nährboden bereitet, ja geradezu als Schule der astutia beschrieben werden kann. Aus der direkten Gegenüberstellung von Müttern und Söhnen ergibt sich demzufolge, dass der pícaro aufgrund seiner erzähltechnisch motivierten Doppelgesichtigkeit als Figur des desengaño beschrieben werden kann. Da den weiblichen Figuren diese doppelte Existenz von erzähltem und erzählendem Ich nicht attribuiert wird, werden die Mütter als reine Figuren des engaño präsentiert. Diese geschlechtsspezifische ‚Arbeitsteilung‘ wurde bereits in der Celestina etabliert, in Teilen auch weitergeführt in der Lozana Andaluza, in der der pikareske Rampín seiner neuen Herrin während des langen Spaziergangs die informellen Gepflogenheiten der Stadt erklärt. Gleichwohl gestaltet sich die narrative Modellierung der astutia bzw. des engaño in der novela picaresca nicht ganz so schablonenhaft wie es zunächst den Anschein haben mag, da der engaño keineswegs nur an die Kategorie des Geschlechts gekoppelt wird, sondern auch an die Kategorien Stand und Religion bzw. Rasse, und dadurch gewissermaßen den bereits zitierten Aphorismus Nietzsches antizipiert, der die Verstellungskunst besonders ausgeprägt bei den „Familien des niederen Volks“, den Juden und den Frauen sehen will. In den Müttern der pícaros werden diese drei Kategorien intersektional zusammengeführt. Dadurch erfährt der engaño, im Kontext der Zeit betrachtet, durchaus eine moralische Rechtfertigung, da die conversos sich im Spanien der katholischen Inquisition einer gesellschaftlich erzwungenen Maskerade zu unterwerfen hatten und sich die Frauen aus den unteren Ständen, insbesondere die alleinstehenden Mütter, ebenfalls zu gesellschaftlich unbotmäßigen Überlebensstrategien veranlasst sahen, wie Mary Elizabeth Perry in ihrer Kulturgeschichte des frühneuzeitlichen Sevilla ausführlich dokumentiert. Im Kapitel zu den „Mothers of the Poor“ schreibt sie:

157 Vgl. u. a. Martínez de Toledo: Arcipreste de Talavera, S. 104, 107, 109, 128, 145, 146, 148, 153.

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The growing number of babies abandoned in Seville resulted from several interrelated factors. Comparing records of foundling hospital admissions to the price of wheat, a recent study shows a correlation that is particularly striking […]. Attitudes about acceptable sexual behavior compounded the effect of economic developments that made it more difficult for mothers to keep their children. Although the gender belief persisted that condemned extramarital sexual activity much more stringently for women than for men, the fluctuating rigor of its enforcement may account for periodical increases in the number of mothers who abandoned their newborn infants.158

Nicht nur wird vor diesem historischen Hintergrund erneut der gesellschaftskritische Impetus der novela picaresca deutlich, sondern auch die Komplexität der soziokulturellen Gemengelage im Spannungsfeld interdependenter sozialer Kategorien. Perry beschreibt hier die soziale Wirklichkeit von Frauen bzw. Müttern der unteren Stände, indem sie ökonomische und juristische Faktoren miteinbezieht, und führt gleichzeitig vor, inwiefern sich auch außerliterarische Strukturen stereotypen Denkmustern verdanken, geht es hier doch um eine drastische Regulierung und Sanktionierung weiblicher Sexualität, die Männer nicht im gleichen Maße betraf.159 Die Tatsache, dass – zumindest in den Städten – von den Frauen der unteren Schichten viele als Prostituierte arbeiteten, schürt das öffentliche Bild der sexuell ausschweifenden und habgierigen Frau, die „el amor había sido desplazado por la voluptuosidad y el dinero.“160

158 Mary Elizabeth Perry: Gender and Disorder in Early Modern Seville, Princeton/NJ 1990, S. 162. 159 Dass man dieses gesellschaftliche Ansehen von und den sozialen Umgang mit alleinstehenden Frauen und Müttern im frühneuzeitlichen Spanien differenziert betrachten muss, macht Allyson M. Poska in ihrer sozialgeschichtlichen Studie zu den Frauen im ländlichen Raum von Galizien deutlich. Da die Männer häufig aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in andere, vornehmlich urbane Regionen gingen, um dort leichter ihren Lebensunterhalt abzusichern, gab es in den ruralen Regionen eine hohe Zahl alleinstehender Frauen: „In some places, women outnumbered men by nearly two to one. [...] As their husbands, brothers, and sons set off for distant places, these women adeptly managed without them. With courage, determination, and the sweat of their bows, tens of thousands of women maintained and expanded family estates, harvested crops, cared for homes and livestock, and married off children. […] Moreover, cultural norms and traditions socialized women into their critical roles as heads of households. As a result, early modern Galicia was not merely a land without men […] Galicia was a land of women.“ In: Poska: Women & Authority, S. 22f, 40. 160 Montauban: El ajuar de la vida picaresca, S. 73.

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Kommen wir zurück zu den literarischen Texten. Literaturhistorisch betrachtet steht der starke Fokus auf weibliche List (astutia) und sexuelle Triebhaftigkeit (luxuria), wie bereits gesehen, in einer bis auf die biblische Schöpfungsgeschichte zurückgehenden Tradition. Ganz konkret auf Erzähltexte bezogen, rekurriert diese Tradition auf die spätmittelalterliche Schwankliteratur. Ob es die in Spanien überaus populären Texte von Boccaccio sind (z. B. Decamerone, Corbaccio)161 oder französische Fabliaux – deutlich wird, dass das Genre der Frauenschelte entsprechend der Ständeklausel streng an komische Gattungen mit Figuren aus den niederen Schichten gebunden ist. Gier schreibt z. B. zu den Fabliaux: Ein weiterer hervorstechender Zug der Fabliaux ist ihre Frauenfeindlichkeit: Zwar gibt es in einigen wenigen Texten Ehefrauen, die einem Verführungsversuch widerstehen und ihrem Mann die Treue halten, aber ihnen steht eine viel größere Zahl von Ehebrecherinnen gegenüber, die die Männer selbst dann nicht an ihrem Tun zu hindern vermögen, wenn sie einen konkreten Verdacht haben, denn gegen weibliche List und Verschlagenheit ist der Mann machtlos. Neben der Unmoral und der sexuellen Unersättlichkeit der Frauen werden auch ihre Herrschsucht und Rechthaberei herausgestellt [...]. Misogyne Elemente in der Literatur sind allgegenwärtig; allerdings muß man unterscheiden zwischen dem ernstgemeinten Frauenhaß vieler Kleriker, die sich auf einschlägige Äußerungen der Kirchenväter berufen können, und zwischen einer Einstellung gegenüber dem anderen Geschlecht, wie sie an Männer-Stammtischen nach der fünften oder sechsten Runde artikuliert wird. Die Fabliaux-Dichter vertreten fast ausnahmslos die zweite Position: Ihre Klagen über die weibliche Untreue enthalten kaum Bitterkeit, sie lassen eher erkennen, daß es zwar ein Kreuz ist mit den Frauen, daß man aber auch nicht ohne sie auskommen kann und will. [...] Daß sich der Inhalt mancher Geschichten als moderner Herrenwitz erzählen ließe, bedeutet nicht, daß die Gattung in ihrer Gesamtheit von männlichem Chauvinismus geprägt und etwa für ein zeitgenössisches weibliches Publikum nicht rezipierbar gewesen wäre.162

161 Zum Frauenbild bei Boccaccio und dessen Rezeption vgl. u. a. Barbara Sasse: „‚...den bösen Weybern zu einer besserung und warnung‘ Die Frauenschelte in den Dramen des Hans Sachs und ihre Vorbilder in Boccaccios lateinischen Mustersammlungen“, in: Ingrid Bennewitz (Hrsg.): Giovanni Boccaccio. Italienisch-deutscher Kulturtransfer von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bamberg 2015, S. 137-154; Ricarda Müller: Ein Frauenbuch des frühen Humanismus. Untersuchungen zu Boccaccios De mulieribus claris, Stuttgart 1992, v. a. S. 150-170; Andrea Sieber: „De claris mulieribus oder das missztůn der Männer? Zur Transformation misogynen Lobs bei Heinrich Steinhöwel“, in: Andrea Geier/Ursula Kocher (Hrsg.): Wider die Frau. Zu Geschichte und Funktion misogyner Rede, Köln u. a. 2008, S. 281-301. 162 Gier: „Die Fabliaux“, S. 314-316 (Herv. G. S.).

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Das Weiblichkeitsbild der novela picaresca – insbesondere die Darstellung der Mutterfiguren – lässt sich weder der ‚ernstgemeinten‘ Frauenschelte seitens der Kleriker noch dem eher heiteren Humor der „Männer-Stammtische“ zuordnen. Auch wenn wir uns in einer Gattung befinden, in der man einige Nachklänge mittelalterlicher Schwankliteratur und Farcenkomik wiederentdecken kann, in der ebenfalls die unteren Stände im Vordergrund stehen und der Erzählton häufig heiter ist – das Bild der Mütter ist ambivalenter und changiert eher zwischen existentieller Not und rücksichtsloser Verschlagenheit, von Komik jedoch kann sicherlich nur sehr bedingt die Rede sein. Das liegt nicht zuletzt daran, dass den Müttern aufgrund der Erzählanlage der Texte keine eigene Stimme gegeben wird – wir erfahren nicht, warum Lazarillos Mutter ihn recht unvermittelt in die Hände des Blinden gegeben hat; unklar bleibt, mit wie vielen Männern sich Guzmáns Mutter zugleich eingelassen hat, was eine Rekonstruktion der Vaterschaft unmöglich macht, ganz nach dem Motto Mater semper certa est, pater semper incertus est, in dem Montauban das „Adagio que define la conformación del canon picaresco“163 sieht; auch erfahren wir bei Quevedo nur das über Pablos’ Mutter, was „malas lenguas“ (B 97)164 über sie verbreiten – als er sie um die Wahrheit jenseits dieser Gerüchte bittet, antwortet sie: „aunque sean verdad, no se han decir“ (B 108). Das mütterliche Bild, die Mutter-Imago, wird uns einzig aus der Perspektive der Söhne präsentiert, d. h. aus der Perspektive unglaubwürdiger Figuren. Die Muttergestalten selbst bleiben daher im Vagen, Unbestimmten, ja im Düsteren. Mutterliebe im herkömmlichen Verständnis lässt sich nirgends finden: „el amor materno y la nostalgia del hogar no siguen ardiendo por mucho tiempo en el corazón del pícaro.“165 Wenn Luisa Muraro nicht ohne Ironie schreibt, dass die „patriarchalische Gesellschaft [...] die Liebe zwischen Mutter und Sohn als ihr kostbarstes Gut [pflege]“ und dass es sich dabei um den „Herd [handele], in dem die großen Leidenschaften glimmen, die Brauküche für die Heldentaten, die Werkstatt des Gesetzes“,166 so gilt für die novela picaresca ziemlich genau die Kehrseite dieser Diagnose: Weil die Mutterliebe in der patriarchalen und phallogozentri-

163 Montauban: El ajuar de la vida picaresca, S. 54. 164 Francisco de Quevedo: La vida del Buscón llamado Don Pablos, hrsg. von Domingo Ynduráin, Madrid 242012. Im Lauftext wird zitiert mit der Sigle B und der entsprechenden Seitenzahl. 165 Imperiale/Brioso: „Inquietudes maternas“, S. 47. 166 Luisa Muraro: Die symbolische Ordnung der Mutter, übers. von Gesa Schröder, Frankfurt/M./New York 1993, S. 20.

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schen Diegese fehlt, befinden wir uns in der ‚Brauküche‘ des Scheiterns, der fehlenden ‚Heldentaten‘, in der Dunkelkammer des Gesetzes. Ganz gleich, welche Lesart man hier anwendet – psychoanalytische Deutungsansätze lägen nahe und wurden auch durchgeführt167 –, feststeht, dass die männliche Sozialisation des pícaro im langen Schatten der Mutterimago steht – und das bis zum Ende der Erzählungen. In den drei Texten lässt sich die mütterliche Spur auf je unterschiedliche Weise rekonstruieren: Im Lazarillo kehrt die Mutter am Ende des Romans nach einer langen Latenzphase in Form der untreuen Ehefrau zurück, sozusagen als personifizierte Strafe für den Versuch ihrer eigenen Abjektion: ¡Sed bueno! Im Guzmán taucht die Mutter kurz vor Ende des Romans völlig unvermittelt und in persona wieder auf, und zwar in genau jenem Moment, als der Protagonist sich an den Beginn seiner Lebensreise, mithin an den Abschied von seiner Mutter, erinnert – insofern lässt sich diese Szene als maternale Geisterbeschwörung deuten bzw. als die Wiederkehr des Verdrängten. Im Buscón wird die Mutter kurz nach Pablos Flucht vor dem Inquisitionsgericht zum Tode verurteilt, nachdem sie Leichen wiederausgegraben hatte, um diese höchstwahrscheinlich für ihre hexenhaften Praktiken zu missbrauchen. Trotz ihres physischen Todes bleibt sie jedoch während des gesamten Textes präsent in Form einer traumatischen Spur: Pablos verdankt seine wesentlichen Handlungsimpulse der mütterlichen Schande, die er immer wieder flieht oder verflucht. Kurz gesagt bieten die drei Texte drei unterschiedliche Mutter-Imagines, die (im durchaus Freudianischen Verständnis) unheimlicher nicht sein können: die Doppelgängerin (Lazarillo), die Wiedergängerin (Guzmán) und die Spukgestalt (Buscón) – ein veritabler Kanon dämonisierter Weiblichkeit. Somit kann die Muttergestalt in der novela picaresca als spektrale Figur begriffen werden. Die Denkfigur der „Spectral Mother“ wurde von der Psychoanalytikerin Madelon Sprengnether entwickelt und wie folgt konzeptualisiert: [The mother] has a ghostlike function, creating a presence out of absence. Like the spirit of the mournful and unmourned Jocasta, she haunts the house of Oedipus. Her effect is what I call “spectral”, in the full etymological sense of the word. Derived from the latin verb specere, to see, to look at, “specter” is related to “spectacle”, “speculation”, and “suspicion”, while its immediate source is the Latin spectrum, meaning, simply, an appearance. In English a specter is a ghost, a phantom, any object to fear or dread.168

167 Vgl. die bereits genannten Cruz: „Abjection of the Feminine“; dies.: „La busqueda de la madre“; Imperiale/Brioso: „Inquietudes maternas“. 168 Madelon Sprengnether: The Spectral Mother. Freud, Feminism, and Psychoanalysis, Ithaca/London 1990, S. 5.

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Die archetypische Mutterimago in der novela picaresca evoziert all diese Assoziationen. Die Mütter bleiben trotz ihrer Abwesenheit durchgängig präsent und werden zu Gespenstern, die ihren Fluch über die gesamte Diegese ausbreiten oder kehren als unheimliche ‚Erscheinung‘ wieder. Damit könnte man Sprengnethers Konzept noch die physikalische Bedeutung des Spektralen hinzufügen: Die Mütter strahlen auf alle anderen weiblichen Figuren aus und sogar auf ihre Söhne. Für letztere erweisen sie sich alles in allem kaum als Geburtshelferinnen einer geglückten männlichen Identität, sondern als konstanter „threat to [their] masculine identity.“169 Sprengnether beschreibt hingegen die Ablösung des Sohnes von der Mutter als entscheidende Grundlage für den Aufbau einer männlichen Identität, allerdings sei diese Grundlage keineswegs stabil, da sie sich einer Verlustsituation verdanke – Männlichkeit konstituiere sich demnach auf der „quicksand foundation of loss“170, was zur folgenden Schlussfolgerung führt: „Undermined from within, phallic masculinity, the cornerstone of patriarchal culture, is thus inherently unstable.“171 Dies gilt für die pícaros umso mehr, da die Beziehungen zu ihren Müttern aufgrund von sozialem Determinismus und vorherrschender Lieblosigkeit172 von vornherein unter keinem guten Stern stehen, worauf auch Puig Mares hinweist: Las relaciones entre los pícaros y sus madres […] están muy enfermas, llenas de crueldad; incluso, no sería arriesgado decir que en la mayoría de los casos la crueldad ya ha dado el paso necesario para convertirse en malignidad, con cual los componentes negativos del arquetipo materno están en su apogeo.173

Puig Mares bringt an dieser Stelle den Jung’schen Begriff der ‚Archetypen‘ ins Spiel, unter denen dieser „seit alters vorhandene allgemeine Bilder“174 versteht, also kollektive kulturelle Urbilder. Abzüglich von Jungs häufig mystifizierender Rhetorik und ohne in die psychoanalytische Anwendung dieses Modells einzusteigen, erscheint doch der Archetypus als Denkfigur von Weiblichkeit im Allgemeinen und Mütterlichkeit im Besonderen durchaus geeignet für die vorliegende

169 Ebd., S. 7. 170 Ebd., S. 5. 171 Ebd. 172 Vgl. Puig Mares: Madres en literatura española, S. 77: „Pero en la novela picaresca – en ninguna – no hay lugar para el amor, la erótica o la ternura, y esto es muy significativo.“ 173 Ebd., S. 79. 174 Jung: „Über die Archetypen“, S. 9.

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Analyse. Jung stellt zunächst klar, dass der Archetypus „bloß formal bestimmt“ und „nichts anderes [...] als eine ‚facultas praeformandi‘, eine a priori gegebene Möglichkeit der Vorstellungsform“175 sei. Signifikant jedoch ist hier der Versuch der Verbildlichung, da Jung die Form des Archetypus mit dem „Achsensystem eines Kristalls, welches die Kristallbildung in der Mutterlauge gewissermaßen präformiert, ohne selbst eine stoffliche Existenz zu besitzen“176 vergleicht. Zwar gebe es einen „invariablen Bedeutungskern, der stets nur im Prinzip, nie aber konkret benannt werden kann.“177 Das Bild des Kristalls, der kristallinen Struktur des Archetypus, eignet sich insofern, als es sich mit dem Bild des Spektralen zusammendenken lässt. Eine von Jungs bedeutendsten Archetypus-Studien widmet sich dann auch dem Mutterarchetypus und beschreibt diesen zunächst in seiner ganzen kristallinen Spektralität: Seine Eigenschaften sind das „Mütterliche“: schlechthin die magische Autorität des Weiblichen; die Weisheit und die geistige Höhe jenseits des Verstandes; das Gütige, Hegende, Tragende, Wachstum-, Fruchtbarkeit- und Nahrungsspendende; die Stätte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt; der hilfreiche Instinkt oder Impuls; das Geheime, Verborgene, das Finstere, der Abgrund, die Totenwelt, das Verschlingende, Verführende und Vergiftende, das Angsterregende und Unentrinnbare.178

Bezeichnend ist gleich zu Beginn die Gleichsetzung von „mütterlich“ und „weiblich“, bestimmt doch auch in der novela picaresca der mütterliche Archetypus insgesamt das Bild von Weiblichkeit, wenn auch die positiven Zuschreibungen des Gütigen und Hegenden sich lediglich in Form einzelner spektraler Splitter, eines kurzen Aufflackerns, auf wenige weibliche Nebenfiguren beschränken.179 Es liegt nun nahe, im Weiblichkeitsbild des frühneuzeitlichen Spanien insgesamt ein stark von der Mutter bestimmtes archetypisches Strukturmuster zu sehen, das die von Jung dargestellte Ambivalenz eher schablonenhaft bestätigt und bei dem die äußersten Pole des Spektrums Güte und Abgrund, Fruchtbarkeit und Totenwelt bezeichnen. Tatsächlich kommt diese Binarität in den bereits vielfach zitierten Diskursen zum Tragen, die sich mit Weiblichkeit allgemein beschäftigen, also den Ratgebern, Traktaten und medizinischen Handbüchern. Nuancierungen existieren

175 C.G. Jung: „Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus [1938]“, in: ders.: Archetypen, hrsg. von Lorenz Jung, München 2014, S. 95-134; hier: S. 100f. 176 Ebd., S. 100. 177 Ebd., S. 101. 178 Ebd., S. 102. 179 Vgl. Jordán Arroyo: „‚Has Charity gone to Heaven?‘“.

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zwar, aber sind im Grunde vernachlässigenswert. Hier darf nicht vergessen werden, dass die Herausbildung solcher Archetypen im kollektiven Unbewussten, laut Jung, vor allem durch mythologische oder religiöse Urbilder geprägt sind, was im Spanien des Siglo de Oro von eminenter Bedeutung ist, da Antikenrezeption und Katholizismus gleichermaßen zu den zentralen Referenzpunkten gehören, aus denen sich das Menschenbild speist. Jung beschreibt diesen Referenzbereich des Mutterarchetypus, nachdem er zuvor über konkrete Mutterfiguren gesprochen hatte, folgendermaßen: Ich erwähne nur einige typischere Formen: [...] in höherem, übertragenem Sinne die Göttin, speziell die Mutter Gottes, die Jungfrau (als verjüngte Mutter, zum Beispiel Demeter und Kore), Sophia (als Muttergeliebte eventuell auch Typus Kybele-Attis, oder als Tochter{verjüngte Mutter-}Geliebte). [...] Die Gegensätzlichkeit der Eigenschaften habe ich [...] formuliert als die liebende und die schreckliche Mutter. Die uns am nächsten liegende historische Parallele ist wohl Maria, die in der mittelalterlichen Allegorik zugleich auch das Kreuz Christi ist.[...] Das sind drei wesentliche Aspekte der Mutter, nämlich ihre hegende Güte, ihre orgiastische Emotionalität und ihre unterweltliche Dunkelheit.180

Es bedarf kaum noch der Beweisführung, dass das Weiblichkeitsbild in der novela picaresca (und auch das ihrer Vorläuferinnen), ganz im Einklang mit dem diegetischen Sozialraum, vorwiegend in der „unterweltlichen Dunkelheit“ verortet werden muss – Idealisierung hingegen findet in anderen Gattungen statt, in denen Figuren der höheren Stände auftreten. Um noch einmal auf die Celestina zurückzukommen, darf man entsprechend diesem Modell in der Titelfigur die nachgerade monströse Verkörperung des hier dargestellten spektralen Weiblichkeitsbildes sehen, was bereits mit dem Bild des „sowohl-als-auch“ beschrieben wurde. Sie vereint in sich die unterschiedlichen Ausstrahlungen des Spektrums archetypischer Weiblichkeit, und das in steter Bezugnahme auf die zentrale Figur der Mutter Gottes. Rojas verkehrt diesen Inbegriff des Mutterarchetypus in sein Gegenteil bzw. berücksichtigt auf hyperbolische Art dessen Ambivalenz, da sie zugleich Güte und Kreuz für alle anderen Figuren darstellt. Zudem geistert sie durch den gesamten Text, selbst in den Szenen, in denen sie nicht anwesend ist. Die Pikareske nun beschränkt sich vollends auf das Kreuz, was insofern nicht weiter verwundert, als

180 Jung: „Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus“, S. 101-103. Jungs Wortwahl wirkt aus heutiger Sicht mitunter unfreiwillig komisch. Die verwendeten Begriffe lassen jedoch auf seine Kenntnisse des Schelmenromans schließen, von der er in seiner Studie zur Schelmenfigur Zeugnis abgelegt hat. Insofern könnte man aus diskurshistorischer Sicht gar von einer Rückkopplungsschleife sprechen.

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ja hier die Geschichten der Söhne im Vordergrund stehen. Ob man daher in den Lebensgeschichten der pícaros travestierte Passionsgeschichten sehen kann, wird noch zu überprüfen sein. Fest steht, dass die Spektralität der Mutterfiguren, diesmal verstanden im Sinne von Gespenstisch-Sein, noch dadurch gesteigert wird, dass sie als handelnde Figuren überwiegend abwesend sind. Man kann nun – bildlich gesprochen – sagen, dass die Fäden der nähenden Vorläuferinnen der pikaresken Mutterfiguren, vor allem die Celestina, geschickt in die novelas picarescas eingewoben werden, und das trotz der weitestgehenden Absenz weiblicher Figuren. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass das, was die pícaros im Laufe ihrer Lebensgeschichten lernen müssen, im Wesentlichen aus List, Verstellungskunst und Verschlagenheit besteht – kurz: astutia. Hier nehmen sowohl die präpikaresken als auch die pikaresken Texte eine klare geschlechtsspezifische Differenzierung vor, was diese Kernkompetenz innerhalb der Pikaresken angeht: Während sich von Mutter zu Tochter, also matrilinear, das Vermögen der astutia scheinbar natürlich vererbt, wie es in der Lozana Andaluza deutlich zum Ausdruck gebracht wurde,181 aber auch im Guzmán de Alfarache, so müssen die Söhne dies erst mühsam erwerben und scheitern am Ende dennoch. Guzmán berichtet z. B. von der Beziehung seiner Mutter zu ihrer Mutter Folgendes: Como cosa pública lo digo, que tuvo mi madre dechado en la suya y labor de que sacar cualquier obra virtuosa. Y así por los proprios pasos parece la iba siguiendo, salvo en los partos, que a mi abuela le quedó hija para su regalo y a mi madre hijo para su perdición. Si mi madre enredó a dos, mi abuela dos docenas (G, I, 160).

Diese Stelle ist hinsichtlich der Geschlechterdifferenz insofern instruktiv, als durch die direkte Gegenüberstellung der Paare Mutter-Tochter („regalo“) vs. Mutter-Sohn („perdición“) die ‚natürlichen‘ Unterschiede klar benannt werden: List und Verführungskunst vererben sich rein matrilinar. Die Erklärung dafür liefert uns Alemán implizit gleich zu Beginn des Romans mit der bereits zitierten Formel: „La sangre se hereda y el vicio se apega“ (G I 130). Es geht hier allerdings

181 Wir erinnern uns: Lozana verfügt bereits als kleines Mädchen über List und Intelligenz, wie uns die ersten beiden Sätze des Romans verraten: „La señora Aldonza fue natural compatriota de Séneca, y no menos en su inteligencia y resaber, la cual desde su niñez tuvo ingenio y memoria y vivez grande, y fue muy querida de sus padres por ser aguda en servillos e contentallos“ (LA 175, Herv. G. S.). Gleich der nächste Satz stellt dann den Tod des Vaters und damit die Inauguration der matriarchalen Ordnung fest.

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konkret um die Beziehung der Väter zu ihren Söhnen und um eine kritische Replik auf das zeithistorische Gebot der limpieza de sangre.182 Das Zitat erfährt offenbar rasche Verbreitung als geflügeltes Wort und findet zu Beginn des 18. Jahrhunderts gar Eingang in das Diccionario de Autoridades, wo die Erklärung lautet: „Phrase con que se nota à los nobles, y de conocida família, que no quieren corregirse en sus vicios, ni emendar sus desaciertos.“183 Nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass Alemán aus dem Kreis der zwangskonvertierten Juden stammt, wo die mütterliche Linie sozusagen über Sein oder Nichtsein entscheidet, kann im Zusammenspiel mit dem „regalo/perdición“-Zitat eine weitere Deutung vorgenommen werden: Während die ‚natürlichen‘ weiblichen Eigenschaften über das Blut von Generation zu Generation, von der Großmutter zur Tochter zur Enkelin, weitergegeben werden, müssen die männlichen Abkömmlinge diese erst erwerben („el vicio se apega“). Dies würde immerhin erklären – und das gilt nun für alle drei Texte –, dass die pícaros, obwohl sie bis zum Beginn der jeweiligen Kernhandlung im ‚Reich der Mütter‘ weilten, von erstaunlicher Einfalt und Naivität und damit bar jeder List sind. Vom abenteuerlichen Prozess, sich genau diese anzueignen, berichten die drei Romane. Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Beobachtungen ziehen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Verhältnis von Weiblichkeit und Männlichkeit in der novela picaresca? Zunächst muss hervorgehoben werden, dass die Beobachtung, Weiblichkeit sei in der männlichen Pikareske stark unterrepräsentiert, keineswegs bedeutet, dass Weiblichkeit dort keine Rolle spielt. Für eine abschließende Bewertung soll daher eine Betrachtung auf drei verschiedenen Ebenen durchgeführt werden: auf der formal-narrativen, der geschlechterpolitischen sowie der inhaltlich-figuralen (wobei sich diese jedoch teilweise überlagern): 1. formal-narrative Ebene: Die Figur der Mutter liefert den Plots der Romane den jeweils entscheidenden Impuls: Lazarillos Mutter gibt ihren Sohn in die Hände des blinden Bettlers, wodurch sie den episodisch-seriellen Handlungsverlauf der Binnenhandlung erst in Gang setzt. Guzmán möchte nach dem Verlassen des mütterlichen Heims seine italienischen Vorfahren väterlicherseits kennenlernen, da

182 Vgl. dazu auch: Teofilo F. Ruiz: „Discourses of Blood and Kinship in Late Medieval and Early Modern Castile“, in: Christopher H. Johnson u. a. (Hrsg.): Blood and Kinship. Matter for Metaphor from Ancient Rome to the Present, Oxford/New York 2013, S. 105-124. 183 Eintrag „sangre“, in: Diccionario de Autoridades (1726-1739).

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seine Mutter ihm diese Informationen über seine Herkunft nicht geben kann. Pablos flieht seine Mutter aufgrund der Scham, die sie ihm ob ihres schlechten Leumunds einflößt. Der Wille, seine Herkunft hinter sich zu lassen oder diese zu verschleiern, wird im Laufe der Handlung immer wieder thematisiert und kann mithin als stärkster Impuls für den Plot identifiziert werden. Im Fall des Lazarillo de Tormes wird die enge Verbindung von Weiblichkeit und Narration doppelt bedeutsam, da seine spätere Ehefrau, in der man – wie bereits dargestellt – die Doppelgängerin seiner Mutter sehen kann, durch ihre Liaison mit dem Erzpriester erst dafür sorgt, dass sich Lázaro vor dem anonymen Richter verantworten muss. Sein Lebensbericht stellt ja nichts anderes dar als das Resultat dieser juristisch eingeforderten Rechtfertigung. Sowohl der Text als auch dessen Produktion beginnt und endet daher mit der Mutter und ihrem Double, was die zyklische narrative Spiegelstruktur des Romans begründet. 2.) geschlechterpolitische Ebene: Wenn wir psychoanalytisch orientierten Modellen Glauben schenken, kann männliche Identitätsbildung nur dann gelingen, wenn eine erfolgreiche Ablösung von der Mutter erfolgt sowie – eng damit zusammenhängend – eine Abspaltung weiblicher Anteile, eine „abjection of the feminine“184, wie es Cruz postuliert oder die „Negation einer primären Weiblichkeit“185, wie Erhart vorschlägt. Im Kontext des zeitgenössischen Diskurses über Weiblichkeit betrachtet, befindet sich der pícaro in einem Dilemma: Einerseits muss er seinen maternalen Ursprung hinter sich lassen und Weiblichkeit negieren, anderseits muss er in seinem Sozialisationsprozess mit der astutia eben jene Fähigkeit erwerben, die klassischerweise dem Bereich des Weiblichen zugeordnet wird. Mit anderen Worten: Der Männlichkeitsentwurf des pícaro steht zwischen den Polen von Abjektion und Appropriation des Weiblichen. Was bedeutet das? Ist der pikareske mundus inversus, in dem engaño, astutia und avaritia zu den dominanten Praktiken und Kompetenzen von weiblichen und männlichen Figuren gehören, ein in sein Gegenteil verkehrtes Patriarchat, d. h. ein düsteres Matriarchat, wie wir es aus der Celestina kennen? Ist der pícaro damit das, was wir mit heutiger Terminologie als „queer“ bezeichnen würden? Fassen wir diesen Begriff mit Michelle Aarons erweiterter Definition als „to be untethered from ‚conventional‘ codes of behavior“ und als „not only refer[ing] to sexuality and gender, but also to a reimagining of other types of restrictions on identity“186, wäre der pícaro aufgrund seines transgressiven Charakters ganz sicher

184 Cruz: „The Abjection of the Feminine“. 185 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 177. 186 Michelle Aaron: „New Queer Cinema: An Introduction“, in: dies. (Hrsg.): New Queer Cinema. A Critical Reader, New Brunswick/NJ, 2004, S. 3-14, hier: S. 5.

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eine „queere“ Figur avant la lettre, ja sein ganzes Umfeld wäre diesem Verständnis zufolge ein Musterbeispiel queerer Lebensweise und Moralität – der mundus inversus kann per definitionem nichts anderes sein, da er die Kehrseite der herrschenden Ordnung und Machtstrukturen inszeniert. Im engeren Verständnis von „queer“ als vornehmlich subversiver Geschlechtskategorie, wie sie u. a. von Andreas Kraß eingeführt wurde187, ergeben sich Schwierigkeiten, die vor allem auch in der Gefahr der Ahistorizität solcher Zuschreibungen liegen. Weniger verfänglich wäre es stattdessen, den mundus inversus insofern als matriarchal geprägten Mikrokosmos zu verstehen, als sich die beschriebene Lebensreise des pícaro im steten Schatten des Spektrums archetypischer Weiblichkeit vollzieht, und zwar nach dem Muster Geburt – Loslösung/Flucht – Initiation – Wiederkehr. Ich würde daher, auf die astutia zurückkommend, eine andere Lesart dieses scheinbaren Dilemmas vorschlagen. Nicht die Welt der Pikareske wird durch das Regime der astutia verweiblicht, sondern die astutia wird sukzessive ihrer weiblichen Konnotationen entledigt. Möglicherweise ist am vermeintlichen Wandel der Zuschreibungen de starke Rezeption Machiavellis im frühneuzeitlichen Spanien ablesbar. In seinem Fürstenspiegel Il Principe (1523) empfiehlt der Italiener dem erfolgreichen Herrscher, und damit dem absoluten Männlichkeitsideal, den Einsatz von astutia in bestimmten Situationen: Quanto sia laudabile in uno principe mantenere la fede e vivere con integrità e non con astuzia, ciascuno lo intende; nondimanco si vede, per esperienzia ne’ nostri tempi, quelli principi avere fatto gran cose, che della fede hanno tenuto poco conto, e che hanno saputo con l’astuzia aggirare e’ cervelli deli uomini; e alla fine hanno superato quelli che si sono fondati in sulla lealtà. 188

Wie noch zu zeigen sein wird, finden sich in den moralistischen Passagen der novelas picarescas, insbesondere im Guzmán und im Buscón, einige Reflexionen, die deutlich an Machiavelli denken lassen, und die eindeutig mit Männlichkeit in Verbindung stehen. Insofern wäre die novela picaresca durch ihren pessimistischen Impetus, gesamtgesellschaftlich gesehen, gleichsam mitbeteiligt an der ‚Demokratisierung‘ der astutia, zumindest was ihre geschlechtlichen Zuschreibungen

187 Andreas Kraß: „Queer Studies. Eine Einführung“, in: ders. (Hrsg.): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), Frankfurt/M. 2003, S. 7-30. 188 Niccolò Machiavelli: Il Principe/Der Fürst. Italienisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Philipp Rippel, Stuttgart 1986, S. 134. Zum Einfluss Machiavellis im vormodernen Spanien allgemein vgl. Keith David Howard: The Reception of Machiavelli in Early Modern Spain, Suffolk/Rochester/NY 2014, bes. S. 7f.

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angeht. Hinsichtlich der klassenspezifischen Codierung bleibt die Gattung jedoch dem traditionellen Diskurs treu, der eher den niederen Ständen diese Eigenschaft attestiert. Für andere, ursprünglich weiblich kodierte Laster, wie vor allem die avaritia, gilt das nicht – diese wird in der novela picaresca eher den oberen Ständen, vor allem dem Klerus und der Figur des Kaufmanns, zugeschrieben. Folglich lässt sich beobachten, dass im Strukturprinzip der Inversion eine Nivellierung bis dato kodifizierter Zuschreibungen erfolgt, was in erster Linie der insgesamt pessimistisch gefärbten Anthropologie der Gattung geschuldet ist, die den Menschen einer universellen Korruptibilität zeiht – auch dies eine Analogie zum Menschenbild von Machiavelli. 3.) inhaltlich-figurale Ebene: Bedeutet dies, dass die novela picaresca entgegen der mittelalterlichen Tradition insgesamt ein differenzierteres Weiblichkeitsbild vermittelt und damit an einer Diskurspluralisierung aktiv mitarbeitet, die man in der Frühen Neuzeit auch in anderen Bereichen beobachten kann? Ja und nein. Dagegen spricht das doch eher düster gezeichnete Bild der Mütter, das den Weiblichkeitsdiskurs der Gattung größtenteils bestimmt. Man kann in den Müttern der pícaros nach allem Gesagten spektrale Figuren sehen, deren Strahlkraft nicht nur weitere weibliche Figuren erfasst, sondern die auch ihre Söhne immer wieder heimsucht. Insofern müsste man eher sagen, dass sich das Männlichkeitsbild dem misogynen Weiblichkeitsbild annähert. Gleichwohl tauchen vor allem im Lazarillo de Tormes auch im herkömmlichen Sinne positive Frauenfiguren auf, die dem mütterlichen Ideal der caritas zumindest nahekommen. Jordán Arroyo untersucht die weiblichen Haupt- und Nebenfiguren und kommt zu folgendem Ergebnis: „In this novel women do not appear who fulfill the model roles ascribed to women and even more importantly no negative judgments are made of them for not doing so or for transgressing expectations of behavior.“189 Diese Einschätzung mag einigen Kurz-Auftritten von Heilerinnen oder Näherinnen gerecht werden, die Lazarillo nach seinen Peinigungen durch die sadistischen und treulosen Herren zur Seite stehen – insgesamt jedoch wird dies dem Inventar weiblicher Figuren kaum gerecht, selbst wenn manche der Untugenden durch die prekäre wirtschaftliche Lage teilweise legitimiert werden. Wie bereits gesagt, widersprechen diese vereinzelten Ausnahmen keineswegs dem archetypischen Weiblichkeitsmodell, da Ambivalenz zu dessen grundlegenden Eigenschaften gehört. Aber hierbei handelt es sich wohlgemerkt um Ausnahmen – alles andere zu behaupten wäre einseitig, unzureichend und verfälschend.

189 Jordán Arroyo: „‚Has Charity gone to Heaven?‘“, S. 152.

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Auch wenn es, wie bereits erläutert, in den spanischen Schelmenromanen mit männlicher Hauptfigur kaum zu Schilderungen sexueller Handlungen kommt, sind doch die wenigen Anspielungen in der Regel weiblich konnotiert: die Mutter als Prostituierte (Lazarillo), die Ehefrau als Konkubine (Lazarillo), die Ehefrau als Prostituierte (Guzmán) oder aber die wollüstigen Nonnen (Buscón). Insofern perpetuiert die novela picaresca das Stereotyp sexualisierter Weiblichkeit, wenn auch nicht ganz so plakativ und omnipräsent wie die beiden Vorgängerromane. Dies wiederum ist der Fokussierung durch die männlichen Erzähler geschuldet, was zur Dichotomie „pícaros castos/pícaras putas“190 führt. Dass Sexualität eindeutig und ausschließlich mit Weiblichkeit assoziiert wird, zeigt sich im direkten Vergleich mit der weiblichen Pikareske, wo die Hauptfiguren auch in dieser Hinsicht ihren Vorläuferinnen nacheifern. Alles in allem lässt sich festhalten, dass das stark mütterlich geprägte Weiblichkeitsbild in der novela picaresca auf allen drei geschilderten Ebene entscheidenden Einfluss auf die Repräsentationen pikaresker Männlichkeit ausübt. Um am Ende noch einmal zu C.G. Jung zurückzukehren, könnte man das spektral ausgerichtete Mütterbild durchaus auch als ‚düstere Anima‘ der novela picaresca bezeichnen.

190 Montauban: El ajuar de la vida picaresca, S. 71.

4. Der Diener und seine Herren: Lazarillo de Tormes (1554)

In kaum einer wissenschaftlichen Studie, die sich mit der novela picaresca als Gattung beschäftigt, fehlt der 1554 anonym erschienene Urtext des spanischen Schelmenromans, La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades – gleichwohl herrscht immer noch, auch nach über hundert Jahren Pikareske-Forschung, keine Einigkeit darüber, ob es sich hierbei um die erste novela picaresca handelt oder doch ‚nur‘ um einen der wichtigsten Vorläufer der Gattung, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Begriff „pícaro“ erst in Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache erstmalig in der Bedeutung auftaucht, der das género picaresco schließlich seinen Namen verdankt.1 Meyer-Minnemann und Schlickers plädieren in ihrer gemeinsamen gattungstheoretischen Studie dafür, im Lazarillo de Tormes einen Prototyp der novela picaresca zu sehen.2 Bauer hinge-

1

Vgl. Reyes Coll-Tellechea/Sean McDaniel: „Our Knowledge of the Past: Reframing Lazarillo Studies“, in: dies. (Hrsg.): The Lazarillo Phenomenon. Essays on the Adventures of a Classic Text, Cranbury 2010, S. 9-20, S. 11: „One of the polemics sustained for decades within Lazarillo studies was the rank Lazarillo de Tormes should have within the so called Spanish picaresque novel. Was Lazarillo the first picaresque novel or was it a precursor? These and similar questions have been asked and answered ad infinitum. Yet the efforts to understand Lazarillo through its relationship to the picaresque novel have failed to produce any generally acceptable results.“ Vgl. auch Sieber: The Picaresque, S. 17-23.

2

Klaus Meyer-Minnemann/Sabine Schlickers: „¿Es el Lazarillo una novela picaresca?“ Genericidad y evolución del género en las versiones, continuaciones y transformaciones de La vida de Lazarillo de Tormes desde las ediciones de 1554 hasta la refundición de 1620 por Juan de Luna“, in: dies. (Hrsg.): La novela picaresca. Concepto genérico y evolución del género (siglos XVI y XVII), Madrid/Frankfurt/M. 2008, S. 41-76.

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gen grenzt in seiner Monografie zum Schelmenroman den Lazarillo vom Kernkorpus der spanischen Pikareske leicht ab3; ebenso sieht Cruz im Lazarillo lediglich den Vorläufer zur männlichen Pikareske, während die Celestina denselben Stellenwert für die weibliche Pikareske besitze.4 Gumbrecht wiederum hält die These des „Gattungsanfangs“5 für schlicht uninteressant, während die Mehrzahl der einschlägigen Überblicksarbeiten den Lazarillo zusammen mit seinen Nachfolgern Guzmán de Alfarache und dem Buscón dem Kernbestand der spanischen Pikareske hinzurechnen.6 Den ‚Gegnern‘ der Gattungszugehörigkeit bzw. des generischen Potenzials des Lazarillo erscheinen die fünfzig Jahre bis zum Erscheinen des Guzmán als zu lang, um von einer direkten ‚Abstammung‘ auszugehen oder sie stellen den Nutzen des Gattungsbegriffs im Rahmen der Literaturanalyse per se in Frage.7 Die um forcierte Differenzierung bemühte Infragestellung des genealogischen Prinzips führt mitunter zu wenig hilfreichen Dekonstruktionsexzessen. So sprechen z. B. die beiden Herausgeber des Bandes The Lazarillo Phenomenon unter Berufung auf die Kritiker dieser These nur noch von der „so-called Spanish picaresque novel“, von „the so-called picaresque“ und schließlich sogar vom „socalled Spanish Golden Age“ und der „so-called Spanish Golden Age literature.“8 Sowohl aus heuristischen als auch pragmatischen Gründen wird der Lazarillo hier dem género picaresco zugeordnet, womit der inzwischen klassische paradigmatische Ansatz Claudio Guilléns, den auch Christoph Ehland und Robert Fajen ihrem Band Paradigma des Pikaresken zugrunde legen,9 bestätigt wird. Guillén

3

Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 18-26.

4

Cruz: Discourses of Poverty, S. 135. So auch Alexander A. Parker: Literature and the Delinquent. The Picaresque Novel in Spain and Europe 1599-1753, Edinburgh 1965, S. 28: „Although Lazarillo de Tormes should be kept historically and thematically distinct from the picaresque genre proper, it must be given its due as the precursor.“

5 6

Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, S. 283. Vgl. z. B. Guillén: „Zur Frage der Begriffsbestimmung“ S. 376f; Bjornson: The Picaresque Hero, S. 21-42; Nerlich: Kunst, Politik und Schelmerei, S. 15-28.

7

Vgl. etwa Daniel Eisenberg: „Does the picaresque novel exist?“, in: Kentucky Romance Quarterly 26 (1979), S. 201-219; Michel Cavillac: „El Guzmán de Alfarache ¿una novela picaresca?“, in: Bulletin Hispanique 1 (2004), S. 161-184; Fernando Cabo Aseguinolaza: El concepto de género y la novela picaresca, Santiago de Compostela 1992, S. 132: „La picaresca [...] constituye todavía una cuestión abierta.“

8

Coll-Tellechea/ McDaniel: „Our Knowledge of the Past“, S. 11, 13 und passim.

9

Christopher Ehland/Robert Fajen: „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Das Paradigma des Pikaresken / The Paradigm of the Picaresque, Heidelberg 2007, S. 11-21, hier: S. 12:

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listet insgesamt fünf zentrale Gattungsmerkmale auf, die an dieser Stelle noch einmal stichwortartig in Erinnerung gerufen werden sollen: 1. der pícaro als halber Außenseiter 2. subjektiver Blickwinkel der Erzählung 3. Vorherrschaft des Materiellen innerhalb der Diegese 4. Gegenwartsbezug 5. Episodizität Die inzwischen zahlreiche und bereits angeführte Kritik an diesem schematischen, möglicherweise simplifizierenden Modell kann hinsichtlich der hier zu untersuchenden Fragestellungen vernachlässigt werden, da die Gattungspoetik nicht unmittelbar im Zentrum des Interesses steht und der Lazarillo das für die novela picaresca typische männliche Sozialisationsnarrativ mitbegründet, das aus narratologischer Perspektive auf eben diesen fünf Grundpfeilern der Pikaresken beruht. Fest steht, dass der Roman sowohl inhaltlich als auch formal ein „Schwellentext“10, ein (literatur-)historisches Zeugnis des Übergangs darstellt: Erzähltheoretisch treffen im Lazarillo spätmittelalterliche, eher episodisch angelegte Strukturen der Schwank- und Novellenliteratur11 und neuzeitliches, sequentielles Erzählen aufeinander, wobei die neuartige Instanz des fiktionalen Ich-Erzählers, d. h. vorgetäuschte, mithin höchst unsichere Subjektivität, den narrativen Rahmen setzt.12 Inhaltlich treten eine Reihe von Sozialfiguren auf, die einerseits dem figuralen Ensemble der Zeit entsprechen (der verarmte Hidalgo, der Ablasskrämer,

„Den Beiträgen [...] liegt die These zugrunde, dass das Pikareske als ein kulturelles Paradigma der Neuzeit verstanden werden kann: als Inventar miteinander kombinierbarer diskursiver, narrativer, stilistischer und perspektivischer Grundmuster, welches die Schelmenliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts zunächst der europäischen und später der globalen Kultur zur Verfügung gestellt hat und auf das immer noch zurückgegriffen wird, wenn es darum geht, die Welt darzustellen und den inadäquaten Charakter gesellschaftlich normierter Lebensformen zu entlarven. Niemand hat dieses Merkmalsinventar so genau beschrieben wie [...] der Komparatist Claudio Guillén in seinem inzwischen klassischen Versuch einer Begriffsbestimmung des Pikaresken.“ 10 Bauer: Der Schelmenroman, S. 36. 11 Vgl. Emmelius: „Das Ich und seine Geschichte(n)“, S. 43-57. 12 Vgl. dazu auch Christian Wehr: „La Vida de Lazarillo de Tormes und die Form der Individualität im Roman“, in: Christoph Ehland/Robert Fajen (Hrsg.): Das Paradigma des Pikaresken / The Paradigm of the Picaresque, Heidelberg 2007, S. 25-43. Wehr hebt zunächst das aus Sicht der Gattungstypologie absolut innovative Potenzial des Lazarillo

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der Trommelbemaler), anderseits jedoch historisch relativ unmarkiert sind, so der Blinde aus dem ersten tractado, der Kirchenmann aus dem zweiten, der Klosterbruder aus dem vierten und schließlich der Erzpriester aus dem siebten und letzten. Insbesondere der Escudero aus dem dritten tractado,13 dessen überholter Ehrenkodex ihn zum mittellosen Ritter ohne Arbeitsberechtigung macht, exemplifiziert auf tragikomische Weise den sozialen Wandel, der den historischen Kontext des Lazarillo bestimmt. Weibliche Figuren haben, wie im vorherigen Kapitel dargestellt, eher die Rolle von Statistinnen, so vor allem die Mutter des Erzählers zu Beginn und dessen Ehefrau am Ende des Romans. Auffällig ist, dass beide wiederum die einzigen Figuren innerhalb der Erzählung sind, die explizit mit sexuellen Handlungen in Verbindung gebracht werden: Lazarillos Mutter, eine Kriegswitwe, lässt sich auf eine ‚wilde Ehe‘ mit einem schwarzen Stallknecht ein, von dem sie schließlich ein Kind bekommt, und die Ehefrau steht laut einiger „malas lenguas“ (L 132) im Verdacht, ihrem Herrn, dem Erzpriester, nicht nur ihre Küchendienste anzubieten und dadurch den Protagonisten zum Gehörnten zu machen. Das Gerede dieser ‚bösen Zungen‘ und der daraus resultierende „caso“ (L 10) stellen für den Erzähler den Anlass dar, seine Lebensgeschichte einem nicht näher bestimmten Edelmann mittleren Standes („Vuestra Merced“, L 9) zu erzählen, um für Verständnis zu werben. Somit erhält die fiktive Autobiografie einen Rahmen, indem sie mit dem Erzählanlass (dem caso) endet, auf den bereits im legitimatorischen prólogo angespielt wird, ohne ihn dort jedoch näher zu beschreiben. Auch wenn auf diese Weise zu Beginn die Neugier des Lesers geweckt wird, worin denn dieser caso bestehe, so lässt diese im Verlauf der Lektüre der Vida rasch nach, da man den Anlass des Erzählens in der turbulenten Abfolge der burlas schlicht vergisst. Erst ganz am Ende wird der „caso“ (L 134) erneut erwähnt und dieses Mal, zusammen mit der Adressierung „Vuestra Merced“ (L 129), auch erläutert, wodurch der zirkulär strukturierte Erzählrahmen abgerundet wird. Der caso, d. h. der Schreibanlass, besteht demnach im angeblichen Ehebruch der Gattin mit einem Erzpriester und der dadurch gefährdeten „honra“ (L 133) des

hervor (S. 25), seine „Voraussetzungslosigkeit“ (S. 33), muss aber im Weiteren zugestehen, dass der anonyme Autor sehr wohl auf vorgängige Erzählformen, so vor allem den Schwank und die Farce, zurückgreift und diese im Rahmen einer Serialisierung auf der Makroebene zusammenfügt und variiert. 13 Im Lazarillo sind die einzelnen Kapitel jeweils mit tractado überschrieben; ich verwende hier und im Folgenden tractado und Kapitel synonym. In einer Vielzahl von Studien wird inzwischen auch öfters die ‚modernisierte‘ Form tratado verwendet.

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Ich-Erzählers. Der Ursprung der Kernerzählung wiederum, also Lazarillos Herkunft, wird dadurch am Ende in gewisser Weise wiederaufgegriffen, da auch Lazarillo, wie bereits geschildert, bei einer liederlichen Mutter aufwächst, die ebenfalls in einer aus moralischer Sicht verwerflichen Beziehung lebt. Rahmen- und Kerngeschichte verschmelzen am Ende in der nachgeholten und somit virtuellen Gegenüberstellung zweier ehrloser, gleichwohl starker Frauenfiguren, die das Leben des pícaro entscheidend prägen: Mutter und Ehefrau. Die Mutter, bezeichnenderweise die einzige Figur der Erzählung mit vollständigem Namen, gibt den kleinen Lázaro in die Hände des Blinden und setzt somit aktiv die histoire des Textes in Gang. Die namenlose Ehefrau hingegen sorgt mit ihrem Ehebruch für den Erzählanlass und hat somit maßgeblichen Einfluss auf den discours des Romans, da sie am Ende den Bogen zum Beginn, d. h. zum prólogo zurückschlägt. Insofern kann bereits an dieser Stelle zum einen festgehalten werden, dass Cruz’ These vom ‚male centered plot‘ zumindest für den Lazarillo differenzierter erörtert werden muss, da diegetischer Raum und diegetisches Gewicht der weiblichen Figuren keineswegs miteinander korrelieren. Zum anderen wird der zunächst chronologisch organisierten narrativen Struktur pikaresker Männlichkeit durch die Zirkularität der Erzählung das telos der Entwicklung genommen, wie wir es z. B. aus dem Heldennarrativ der Ritterromane kennen. Der am Ende vom Erzähler beschriebene „cumbre de toda buena fortuna“ (L 135) kann daher nur ironisch verstanden werden, da dieser Zustand die größtmögliche Bedrohung von Lázaros Männlichkeit markiert, die im Verlust seiner honra bestünde,14 worüber die richterliche Instanz von Vuestra Merced zu bescheiden hat, die nun näher vorgestellt werden soll.

4.1 E UER G NADEN / E URE GNADE Der Leser erfährt nicht, um wen es sich beim anonymen Adressaten handelt, dem der Erzähler seine Lebensgeschichte in Form eines Briefes mitteilt – er bleibt uns ebenso unbekannt wie der Autor des Lazarillo. Man darf jedoch davon ausgehen,

14 Jochen Mecke spielt in der Beurteilung dieser prekären Situation die ökonomische Dimension gegen den honra-Aspekt aus, wenn er schreibt, dass sich „Lázaro eine gesicherte ökonomische Situation mit dem Verlust seiner Ehre [erkaufe].“ In: Jochen Mecke: „Die Atopie des Pícaro. Paradoxale Kritik und dezentrierte Subjektivität im Lazarillo de Tormes“, in: Wolfgang Matzat/Bernhard Teuber (Hrsg.): Welterfahrung – Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen 2000, S. 67-94, hier: S. 70.

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dass es sich bei der angeredeten Figur um einen Mann handelt, der aufgrund seiner höher gestellten Position dazu befugt ist, über Lázaros gesellschaftliches Schicksal zu befinden. Daher ist die Binnengeschichte um das turbulente Leben des Protagonisten von vornherein in eine kommunikative Situation eingebettet, der ein soziales Machtgefälle zugrunde liegt, wodurch sich Parallelen zum Ritual der Beichte ergeben bzw. zur Selbstverteidigung vor Gericht, die man als deren weltliches Pendant interpretieren kann. Die wiederholte Bezugnahme auf den im Zentrum stehenden caso spricht für letzteres. Lázaro erzählt also, um gesellschaftlich zu überleben: Es geht demzufolge nicht um Leben und Tod im engeren Sinne, sondern vielmehr um seinen Ruf, von dessen mühsamer Genese uns auf den folgenden Seiten berichtet wird. Das Anonymat des adressierten Richters bietet allerlei Raum für Spekulationen, ebenso wie der unbekannte Autor des Textes selbst15 und bezeichnet laut Mecke „genau denjenigen Ort als Leerstelle, an dem

15 Rosa Navarro Durán kommt in ihrer höchst umstrittenen Studie Alfonso de Valdés. Autor del Lazarillo de Tormes (Madrid 2003) zur Vermutung, dass es sich – wie der Titel bereits ausdrückt – beim Autor des Lazarillo um den spanischen Politiker, Schriftsteller und Humanisten Alfonso de Valdés, seines Zeichens Sekretär von Karl V., handeln müsse. Grund dafür sei die gedankliche Nähe Valdés’ zu Erasmus’ Kritik am Beichtritual, die Navarro im Lazarillo ebenfalls entdeckt haben will. Allerdings stützt sie ihre Argumentation auf eine angeblich herausgerissene Seite im Prolog, die u. a. auch gezeigt hätte, dass es sich bei Vuestra Merced nur um eine Frau handeln könne, um solcherart die Kritik am kirchlichen Beichtsakrament auf die Spitze zu treiben. Navarros These(n) gelten inzwischen als widerlegt. Insbesondere Valentín Pérez Venzala hat 2004 maßgeblich dazu beitragen, die Anonymität des Lazarillo wiederherzustellen („El Lazarillo sigue siendo anónimo. En respuesta a su atribución a Alfonso de Valdés“, ucm.es/info/especulo/numero27/lazaril.html, letzter Zugriff: 09.01.2018). Vgl. dazu auch Hanno Ehrlicher: „Das aufgegebene Anonymat. Kritische Anmerkungen zu einer philologischen Kanonrevision aus aktuellem Anlass“, in: PhiN 46 (2008), S. 1-13, der ebenfalls dafür plädiert, den Lesern des Lazarillo auch weiterhin das Rätsel seines Autors zuzumuten: „Der Streit der Interpretationen um den anonym tradierten Lazarillo, den sich die Forschung bisher geliefert hat, ist keine leere Betriebsamkeit gewesen, sondern war lehrreich, insofern er das ganze Potenzial an Polyvalenz herausgearbeitet hat, das schon in der frühneuzeitlichen Literatur zu stecken vermag und zu deren Verständnis man keines Autors jenseits des Textes bedarf. Der mündige Leser, für den literarische Mehrdeutigkeit keine unerträgliche Zumutung darstellt, sondern ein Anreiz zur selbstständigen Reflexion, kann das historisch bedingte Anonymat durchaus aushalten“ (S. 9).

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die verschiedenen vom Roman eröffneten Perspektiven zur Synthese zusammenlaufen können.“16 Die beiden Leerstellen – anonymer Autor und anonymer Adressat – werden durch die detailreiche Schilderung von Lázaros Lebensbericht konterkariert. Allerdings gibt es durch die unsichere Erzählposition erhebliche Zweifel an dessen Inhalt, was auch den Protagonisten, wenn nicht anonym, so doch zumindest dubios im Hinblick auf seine geschilderte Existenz erscheinen lässt. Was sich anhand der wenigen Informationen, die der Text dem Leser zur Verfügung stellt, ablesen lässt, ist zunächst die Tatsache, dass die Anrede Vuestra Merced nicht zwangsläufig auf einen besonders hohen Rang schließen lässt, wie Francisco Rico anmerkt: „El uso de ‚Vuestra Merced‘, que competía con el desprestigiado ‚vos‘, hace suponer [...] que el destinario de la carta de Lázaro no era ‚un personaje ilustre o de alto rango‘, pues en ese caso el pregonero hubiera empleado ‚Vuestra Señoría‘ o ‚Vuestra Excelencia‘.“17 Innerhalb des Textes wird dieser Befund zusätzlich unterfüttert, wenn Lazarillo im dritten Kapitel des Romans den verarmten Junker ebenfalls mit „Vuestra Merced“ anredet (L 88), sowie auch den Erzpriester am Schluss der Erzählung (L 133). Das Geschlecht der angeredeten Person wird nur mittelbar als vermutlich männlich identifiziert. Im letzten tractado wird der sündige Erzpriester vom Ich-Erzähler als „servidor y amigo de Vuestra Merced“ (L 130) bezeichnet, was laut Pérez Venzalá als Hinweis darauf zu deuten ist, dass der Angeredete eher männlichen Geschlechts sei: Si el Arcipreste es ‚servidor y amigo‘ de una dama quizá estaríamos hablando de otra clave distinta de la relación Arcipreste-Vuestra Merced, pues bien es sabido que el término ‚amigo‘, referido a una relación hombre-mujer, connota en la época una relación sexual. De ser así quizá la dama tuviera otro interés en conocer el caso de Lázaro que el saber si el Arcipreste guardaba bien su secreto de confesión. Sería más bien otro secreto el que le preocupara.18

16 Mecke: „Die Atopie des Picaro“, S. 85; vgl. dazu auch Américo Castro: Hacia Cervantes, Madrid 21960, S. 109: „El autobiografismo de Lazarillo es solidario de su anonimato.“ 17 Rico, in: L 9. Auch die weitere sprachgeschichtliche Entwicklung spricht schließlich für Ricos Einschätzung, da der im 16. Jahrhundert bereits inflationäre Gebrauch von Vuestra Merced sich zur allgemeinen und rangneutralen Anrede usted entwickeln konnte; vgl. dazu: Saéz Rivera/Daniel Moisés: „La duplicación de clíticos en la obra de Francisco Sobrino“, in: Res Diachronicae Virtual 3 (2003), S. 332-342. 18 Pérez Venzalá: „El Lazarillo sigue siendo anónimo“, S. 14.

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Fassen wir zusammen: Der Adressat von Lázaros brieflicher Lebensbeichte ist innerhalb der Gesellschaft zwar kein besonders hochstehender Staatsdiener, aber doch mit ausreichend Macht ausgestattet, um über die moralische Dimension des caso, d. h. letzten Endes über Lázaros Ehre als öffentlicher „pregonero“ (L, 120)19, zu befinden. Vieles spricht dafür – nicht zuletzt auch die außerliterarische Wirklichkeit innerhalb der spanischen Bürokratie des 16. Jahrhunderts –, dass es sich bei Vuestra Merced um einen Mann handeln muss. Dieser Verdacht wird zudem in der Erzählung gestützt, da deutlich Bezug genommen wird auf die Verbindung des „destinario“ mit einer weiteren Figur des Romans, nämlich dem Erzpriester, der ihm ebenfalls als „servidor“ eindeutig unterstellt ist. Beide Beziehungen, also Vuestra Merced/Lazarillo sowie Vuestra Merced/Arcipreste, sind bestimmt durch dasselbe moralische Gefälle, da sowohl der Protagonist als auch der Kirchendiener durch den caso in eine sittliche Schieflage geraten sind. Diese wenigen Fakten reichen aus, um in der paradiegetischen Ausgangssituation des Textes auf der Ebene der Figuren (Schreiber–Adressat) eine Machtkonfiguration zu erkennen, die aufgrund der vollkommenen Anonymität von Vuestra Merced einen eher abstrakten Charakter erhält. Lázaro befindet sich aufgrund seiner gesellschaftlichen Position im Zentrum dieser Mikrostruktur der Macht, gewinnt jedoch erst durch die anschließende Erzählung seinen Subjektstatus im Akt des Erzählens. Mit anderen Worten: Der durch die Anonymität abstrakt wirkende Adressat verkörpert die androzentrische Machtstruktur der Gesellschaft, die ihrerseits Lázaros Konstitution als Subjekt ermöglicht und gleichzeitig entscheidet über seine Verortung innerhalb der männlichen Sozialordnung bzw. – im schlimmsten Fall – über seinen Ausschluss aus derselben. Die letztendliche Entscheidung bleibt uns der Roman jedoch schuldig. Auf dem Spiel steht demzufolge nichts weniger als der männliche Habitus der Titelfigur.

19 Der Beruf des „pregonero“, d. h. des öffentlichen Ausrufers, gehört im 16. Jahrhundert zwar tatsächlich, wie es in Lázaros Geschichte nicht ohne Stolz erwähnt wird, zur Kategorie „oficio real“ (L 128), aber ist, worauf Francisco Rico mit Verweis auf das Diccionario de Autoridades (1726) feststellt, in der Stufenleiter dieser königlichen Ämter ganz unten anzusiedeln: „oficio muy vil y bajo“ (Anm. Rico, in: L 129) und gilt daher als nicht besonders gut angesehen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass im Rahmen von Lazarillos höchst eingeschränkten Möglichkeiten aufgrund seines gesellschaftlichen Außenseiterstatus dieses Amt einen sozialen Aufstieg bedeutet und vor allem seine Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Ordnung besiegelt. Auch Marcel Bataillon (Novedad y fecundidad del Lazarillo de Tormes, Madrid 1968, S. 67f, Anm. 57, 58) weist darauf hin, dass der Beruf des Ausrufers ähnlich unehrenhaft beleumundet gewesen sei wie der des Henkers.

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Das durch die Beziehung Vuestra Merced/Lazarillo konstituierte Machtgefüge in der Ausgangssituation des Schelmenbriefs, als solcher der Lazarillo betrachtet werden kann20, lädt demnach zu mindestens drei verschiedenen Lesarten ein, die jeweils um das gesellschaftliche Konstrukt von Maskulinität kreisen. Die erste wurde bereits vorgestellt: Sehen wir nämlich im anonymen Adressaten der Schelmenbeichte die Personalisierung der gesellschaftlichen Norm, müssen wir in Lázaros Lebensbericht den Kampf um gesellschaftliche Anerkennung sehen, die ihm durch die Folgen des caso zu entgleiten droht. Da der caso nun, wie der Leser erst am Ende erfährt, in einem vermeintlichen Ehebruch seiner Frau besteht, liegt das Wesen dieser Anerkennung weniger in seinem Beruf als pregonero begründet, sondern in seiner Ehre als Ehemann. Dass beide Dimensionen – berufliche und männliche Ehre – jedoch eng miteinander verzahnt sind, macht die existenzielle Tragweite nur umso deutlicher. Die Tatsache, dass der Erzähler zu Beginn gar nicht näher auf den eigentlichen Erzählanlass, der ihn zur Vereidigung zwingt, eingeht, ist ein erster Hinweis auf die Angst vor den Folgen. Die Fabulierfreude der folgenden Erzählung dient demnach vor allem dazu, den Richter21 genau von diesem Dilemma auf möglichst unterhaltsame Weise abzulenken: „anstatt den dubiosen ‚caso‘ in aller Deutlichkeit zu erklären, was ihn selbst und den Erzpriester kompromittieren würde, läßt sich Lázaro umständlich über seine Vergangenheit aus, spart dabei jedoch die heiklen Punkte der eigenen Biografie gewissenhaft aus.“22 Von dieser Perspektive aus betrachtet, ist die Kernerzählung des Romans, also La vida de Lazarillo de Tormes im engeren Sinne, eine strategische Digression, um für den Erhalt der eigenen Männlichkeit zu kämpfen – Männlichkeit hier im zentralen Sinne von Mannesehre, deren Aberkennung das männliche Subjekt auslöscht. Dass wiederum die einzelnen geschilderten Etappen dieses „groß angelegte[n] Ablenkungsmanöver[s]“23 ihrerseits durch die Beziehung des Protagonisten zu jeweils anderen Herren bestimmt werden, wird im Folgenden noch näher

20 Rico weist darauf hin, dass der Lazarillo zu Beginn zahlreiche Formeln des im 16. Jahrhundert beliebten „género epistolar“ aufweist (vgl. Rico: „Introducción,“ S. 65*, 73* und Kommentar zu L 10). Die Sternchen sind in der Paginierung des Vorworts enthalten. 21 Da wir den genauen Beruf von Vuestra Merced nicht kennen, wohl aber um seine Befugnis, über Lázaros Schicksal zu richten, im Bilde sind, erscheint es legitim, ihn als richtende Instanz zu bezeichnen, was jedoch nicht bedeutet, dass er tatsächlich von Berufs wegen dieses Amt ausfüllt. 22 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 20. 23 Ebd.

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zu untersuchen sein. Zunächst jedoch soll die zweite mögliche Lesart der Ausgangssituation vorgestellt werden, die in Vuestra Merced nicht die allegorische Norm der patriarchalen Gesellschaft sieht, sondern eine der Figuren des Romans. Nehmen wir also den Erzähler beim Wort und interpretieren den Empfänger als eigenständige und gleichzeitig mächtigste Figur des Romans, d. h. als jemanden, der qua seines Amtes dazu autorisiert ist, sowohl auf das weitere Leben des Protagonisten als auch auf das Schicksal des Erzpriesters sowie Lázaros Ehefrau entscheidenden Einfluss zu nehmen, dann liefern uns die wenigen verfügbaren Informationen lediglich Hinweise auf das Geschlecht, den Status sowie die soziale Vernetzung des Richters. Letzteres gibt Aufschluss über ein zentrales Strukturprinzip patriarchaler Ordnungen, das Eve Kosofsky Sedgwick als „male bonding“24 bezeichnet und dem ein männliches „homosocial desire“ zugrunde liege, das primär auf den Ausschluss von Frauen abziele und auf der Vorherrschaft von Homophobie beruhe. Den Begriff desire versteht Kosofsky Sedgwick tatsächlich als Struktur und daher analog zu Freuds Konzeption der Libido „not for a particular affective state or emotion, but for the affective or social force, the glue, even when its manifestations is hostility or hatred or something less emotively charged, that shapes an important relationship.“25 Die Beziehung zwischen Vuestra Merced und dem Erzbischof ist vermutlich das einzige homosoziale Bündnis des Romans, das diesen Namen verdient, zumindest in ihrer zentralen Funktion der Absicherung patriarchaler Machtstrukturen. Kosofsky Sedgwick führt in Anlehnung an René Girards einflussreiches Modell die Figur des Dreiecks ins Feld, das die Rivalität zweier Männer um dieselbe Frau beschreibt, wobei „the bond that links the two rivals is as intense and potent as the bond that links either of the two rivals to the beloved.“26 Auch die personale Machtstruktur um den caso lässt sich triangulär

24 Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Homosocial Desire [1985], 30th Anniversary Edition, New York 2015, S. 1. 25 Ebd., S. 2. 26 Ebd., S. 20. Vgl. zum „désir triangulaire“ ursprünglich René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961 S. 15-68. Man muss jedoch anmerken, dass die Art und Weise, in der sich Kosofsky Sedgwick an Girard anlehnt, recht frei ist. Das mimetische Modell Girards bezieht sich zunächst auf das Begehren literarischer Figuren, jemand anderer zu sein, wobei das ‚Dritte‘ zwischen Subjekt und Objekt des Begehrens die Literatur selbst darstelle, die als „médiateur du désir“ verstanden wird. Prominenteste Beispiele dafür seien Cervantes’ Don Quijote und Flauberts Madame Bovary, deren Titelfiguren jeweils vermittelt über literarische Texte ein starkes Begehren entwickeln, das schließlich in ein literarisch deformiertes Bewusstsein münde. Diese Form nennt Girard „médiation externe“. Wenn jedoch zwei Liebende um dieselbe

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fassen, jedoch nur bedingt im Sinne Girards oder Kosofsky Sedgwicks. Genau gesagt ergeben sich hier gleich mehrere Konstellationen, die einen triangulären Charakter aufweisen:27 1. Vuestra Merced/Erzpriester/Lazarillo: In dieser Konstellation fungiert, wie bereits gesagt, die Verbindung zwischen den beiden ersteren als pars pro toto des durch male bonding abgesicherten Patriarchats. Lázaros Position ist hier im doppelten Sinne prekär: Dem Erzpriester dient der sozial Marginalisierte sowohl als Beschaffer sexueller Befriedigung (Ausbeutung) sowie als angestellter Ausrufer (Unterordnung). Für Vuestra Merced hingegen stellt er einen ungebetenen Störfaktor für sein homosoziales Begehren dar und könnte gar durch seine ‚Enthüllungen‘ die patriarchale Struktur gefährden. Lázaro kann demnach nur verlieren und steckt in einem augenfälligen Dilemma: „Entweder er rechtfertigt sich wirklich, und dies bedeutet, daß er unweigerlich eine Anklage gegen den Arcipreste und indirekt damit auch gegen den hochgestellten und mächtigen Adressaten des Briefes vorbringen muß, oder aber er rechtfertigt sich nicht und gesteht damit in den Augen von ‚Vuestra Merced‘ seine Schuld ein.“28 2. Vuestra Merced/Erzpriester/Ehefrau: Man darf davon ausgehen, dass die Eskapaden des Erzpriesters von der patriarchalen Ordnung stillschweigend geduldet werden, allerdings nur so lange sie nicht öffentlich werden. Kosofsky Sedgwick führt als ein weiteres Kennzeichen des male bonding den von Lévi-Strauss entlehnten „traffic in women“ an, was sie folgendermaßen erläutert: „the use of women as exchangeable, perhaps symbolic, property for the primary purpose of

Frau buhlen oder – allgemeiner – ein Subjekt durch einen Dritten in seinem Begehren nach dem Objekt angespornt wird, spricht Girard von „médiation interne“ (vgl. Girard: Mensonge romantique, S. 15-24). Kosofsky Sedgwick fokussiert im Rahmen ihrer Ausführungen letztere Variante, wobei sie von einem aus Sicht der Geschlechterordnung asymmetrischen Verhältnis ausgeht, das sich durch die Stabilisierung des Patriarchats und den beliebigen Austausch von Frauen konstituiere (vgl. Kosofsky Sedgwick: Between Men, S. 26). 27 Köhler („Anonym. La Vida de Lazarillo de Tormes“, S. 30) beobachtet für den gesamten Roman ein „triadische[s] Bauprinzip“, das durch die Anordnung der Figuren hergestellt wird, die den Lebensweg des pícaro kreuzen: „Lázaros Dienst beim Blinden, beim Geistlichen und beim Armen Junker“, dann „Dienst beim Mercedariermönch, beim Ablaßhändler und beim Tamburinmaler“ und schließlich „Kaplan, Büttel – ein kurzes retardierendes Moment –, Erzpriester.“ Die hier dargestellten triangulären Konstellationen finden jedoch keine Beachtung, stützen gleichwohl Köhlers These. 28 Mecke: „Die Atopie des Pícaro“, S. 87.

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cementing the bonds of men with men.“29 Hier geht es zwar nicht – wie bei LéviStrauss – um die Konstitution eines verwandtschaftlichen Systems, sondern einzig um das Flottieren eines weiblichen Objekts zum Zwecke männlicher Lustbefriedigung, dessen offiziell skandalöser Charakter durch die festen Bande des homosozialen Bündnisses vereitelt wird. Diese Struktur liegt ebenfalls und besonders ausgeprägt Tirsos Burlador de Sevilla (ca. 1617) zugrunde, in dem die bündisch organisierte Riege der älteren Adeligen permanent damit beschäftigt ist, die offiziell sanktionierten erotischen Streifzüge des jugendlichen Verführers Don Juan zu vertuschen. 3. Lazarillo/Erzpriester/Ehefrau: Dieses Figuren-Dreieck würde auf den ersten Blick den beiden Ansätzen von Kosofsky-Sedgwick und Girard am nächsten kommen, da es sich hierbei scheinbar um die klassische Konfiguration des ménage à trois handelt, die aus Ehemann, Ehefrau und Liebhaber besteht, d. h. aus zwei rivalisierenden Männern, die um dieselbe Frau buhlen. Tatsächlich aber ist es so, dass auch hier entsprechend dem pikaresken mundus inversus eine völlig andere interpersonale Sachlage vorliegt, da alle drei Beteiligten sich in diesem inoffiziellen Konstrukt offenkundig wohlfühlen und von Konkurrenz bzw. Rivalität keine Rede sein kann. Lázaro genießt die Vorzüge einer ökonomisch gesicherten Existenz, die ihm sowohl seine Ehefrau durch das Zweckbündnis der Ehe ermöglicht als auch durch ihr Konkubinat mit dem Erzpriester. Die Ehefrau selbst profitiert durch das Bündnis, da sie nach drei Fehlgeburten und einem zweifelhaften Lebenswandel kaum noch Aussicht auf eine sozial akzeptierte Lebensform gehabt haben dürfte. Der Erzpriester schließlich profitiert aufgrund des sexuellen Charakters von der heimlichen Zweckgemeinschaft und dürfte Lázaro dadurch gleichzeitig von seinen ‚ehelichen Pflichten‘ entlasten, auf die er keinen Wert zu legen scheint, da er möglicherweise dazu gar nicht imstande ist. Insofern dürfte der ménage à trois nicht nur für Lázaro, sondern für alle Beteiligten den „cumbre de toda buena fortuna“ (L 135) bedeuten – wären da nicht die malas lenguas, d. h. die Öffentlichkeit, die dieses inoffizielle Bündnis massiv gefährdet. Auf diese Konstellation wird noch ausführlicher in Kap. 4.9 zurückzukommen sein, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass Vuestra Merced in dieser triangulären Variante – wenn überhaupt – nur mittelbar auftaucht.

29 Kosofsky Sedgwick: Between Men, S. 25f. Hier bezieht sie sich auf das Verständnis von Frauen als Tauschwaren innerhalb von Familien bzw. Verwandtschaftssystemen, das Claude Lévi-Strauss in seiner Studie Structures élémentaires de la parenté (Paris 1949) beschreibt.

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Aufgrund dieser geschilderten Dreieckskonstellationen tritt offen zutage, dass die Figur Vuestra Merced als Repräsentant der patriarchalen Ordnung fungiert, deren Macht durch die Praktiken und Strukturen des male bonding abgesichert ist. Deutlich wird auch, dass diese Form der homosozialen Allianzbildung nicht jedem zugänglich ist, sondern den höheren Schichten vorbehalten bleibt. Gleichzeitig dient Lázaro den beiden ‚Herren‘ dazu, sich ihrer gehobenen Stellung sicher zu sein, ganz im Sinne der marxistischen Lesart des Hegel’schen „Herr-Knecht-Modells“30. In dem Moment aber, in dem diese auf inoffiziellen Werten gründende Allianz durch das Öffentlichwerden bedroht wird, muss das schwächste Glied – hier: der Knecht – zunächst zum Sündenbock gemacht und sodann ausgeschlossen werden. Es war ebenfalls René Girard, der sich aus historischer und mythologischer Perspektive in einer vielbeachteten Untersuchung mit der Sozialfigur des Sündenbocks, beschäftigt hat. Girard zufolge ist der Sündenbock eine typische Figur in gesellschaftlichen Krisenzeiten und daher eine kollektiv erzeugte Opferfigur, die der Gesellschaft der Überwindung von Krisen und damit dem Selbsterhalt dient. Als Paradebeispiel nennt Girard zunächst die Stigmatisierung der Juden im Spätmittelalter, die u. a. zum Sündenbock für das Grassieren der Schwarzen Pest gemacht wurden. Man unterstellte ihnen, Brunnen vergiftet zu haben, was wiederum als Legimitation ihrer anschließenden Verfolgung diente.31 Über eine Neulektüre des Ödipus-Mythos kommt der Religionsphilosoph am Ende zur Leidensgeschichte Jesu, in der Girard den Höhepunkt des Sündenbockmechanismus

30 Vgl. dazu Helmut Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur. Celestina, Lazarillo, Guzmán, Quijote, Würzburg 1971. Zur Übertragbarkeit von Hegels Modell auf soziale Gemengelagen heißt es dort: „Hegels Analyse kann für unsere Untersuchung nur dann herangezogen werden, wenn sie nicht nur als eine metaphorische Umschreibung für die Dialektik des Geistes, sondern auch als Beschreibung konkreter sozialer, historischer Prozesse verstanden wird. [...] Hegels Analyse läßt sich lesen als Beschreibung einer statisch konzipierten, vertikal gegliederten Gesellschaftsordnung, die durch eine erst verborgene, dann immer deutlicher werdende Dynamik gesprengt wird, konkret als die Beschreibung der feudalen Ständegesellschaft“ (S. 14-16). Diese Lesart von Hegel geht zurück auf Marx, der das Modell zur Denkfigur des Klassenkampfes stilisiert. In seinem Lazarillo-Kapitel geht Rauhut jedoch nur auf die Dienstverhältnisse der Titelfigur ein, nicht auf die Ausgangssituation des Romans. Zur Beeinflussung Marx’ durch Hegel vgl. Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung, Hamburg 1999, S. 65. 31 Vgl. René Girard: Le bouc émissaire, Paris 1982, bes. Kap. I „Guillaume de Machaut et les juifs“.

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erkennt. Diesen entwickelt Girard anhand vier verschiedener ‚Verfolgungsstereotype‘ (Krise, Entdifferenzierung, Opferselektion, Gewalt): Leur présence [des stéréotypes de la persécution, G. S.] nous conduit à affirmer que : 1) les violences sont réelles, 2) la crise est réelle, 3) les victimes sont choisies en vertu non des crimes qu’on leur attribue mais de leurs signes victimaires, de tout ce qui suggère leur affinité coupable avec la crise, 4) le sens de l’opération est de rejeter sur les victimes la responsabilité de cette crise et d’agir sur celle-ci en détruisant lesdites victimes ou tout au moins en les expulsant de la communauté qu’elles « polluent ».32

Die zu Beginn des Lazarillo geschilderte Krise scheint auf den ersten Blick weit entfernt zu sein von dem hier geschilderten Sündenbockmechanismus, geht es doch ‚nur‘ um einen öffentlich gewordenen Ehebruch und die Konfiguration der daran beteiligten Akteure. Die Tatsache jedoch, dass der gesamten Text durch diese Konstellation gerahmt wird, ihr gar seine narrative ‚Ur-Szene‘ verdankt, lässt aufhorchen ob ihrer Bedeutung. Wenn man des Weiteren in den Blick nimmt, dass der auf dieser Konstellation aufbauende Roman einen enormen Verweischarakter besitzt und als Brennspiegel gesamtgesellschaftlicher Krisen- und Ungleichheitsverhältnisse fungiert, was exemplarisch anhand der folgenden Episoden und der darin auftretenden Akteure narrativ durchgespielt wird, so wird deutlich, dass in der hierarchisch geprägten Beziehung von Lazarillo und Vuestra Merced der von Girard skizzierte Sündenbockmechanismus in nuce enthalten ist. Das von Mecke für diese Ausgangskonstellation beobachtete Dilemma (Rechtfertigung vs. Schuldeingeständnis), in dem sich Lázaro hier befindet, kennzeichnet auch die Figur des Sündenbocks: „La victime est condamnée d’avance, sans doute, elle ne peut pas se défendre, son procès est toujours déjà fait, mais c’est bien d’un procès qu’il s’agit, inique tant qu’on voudra mais qui n’en avoue pas moins sa nature de procès.“33 Auch wenn der Leser den Abschluss dieses ‚Schauprozesses‘ nicht kennt, dürfte dieser doch recht klar sein – insbesondere wenn man die Ausgänge in den beiden anderen Romanen, die der Gattung zur Blüte verhelfen, mit berücksichtigt: Guzmán wird zum Galeerendienst verurteilt und der Buscón flieht und liefert dadurch sein Schuldeingeständnis. Girard erkennt, dass zu den von ihm so genannten ‚Opferzeichen‘ neben religiös-ethnischen Diskriminierungskategorien oder physischen Missbildungen auch die „anormalité sociale“ hinzugerechnet werden kann: „Plus on s’éloigne du statut social le plus commun, dans un sens ou dans l’autre, plus les risques de persécution grandissent. On le voit sans peine pour

32 Ebd., S. 37. 33 Ebd., S. 55.

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ceux qui sont situés au bas de l’échelle.“34 Girard verwendet den Begriff des Sündenbocks als weitere Ausdifferenzierung der Kategorie ‚Opfer‘ und führt aus, dass das Spezifikum in einem „schéma transculturel de la violence collective“35 bestehe, das zur (Ver)Nichtung oder zum Ausschluss führe. Der Prozess gegen Lázaro, den er entsprechend dieser Logik niemals gewinnen kann,36 manifestiert mithin nicht nur die Keimzelle des Romans, sondern darüber hinaus den Ausgangspunkt seiner sozialen Abjektion: erzählen, um zu überleben. Lázaro stellt also im Akt des Erzählens seine eigene Subjektivität her, um sie sodann – jenseits der Diegese – wieder aberkannt zu bekommen. Damit erweist sich der finale „cumbre de toda buena fortuna“ weniger als positiv konnotierter Gipfel, sondern lediglich als der dem Wirken der Fortuna in Rechnung zu stellende Scheitelpunkt, in dem man einerseits mit Koselleck auf rein formaler Ebene das strukturelle Signum der Krise sehen kann37, was – andererseits – dem zyklisch-episodischen Charakter der Gattung Rechnung trägt. Der Opfer- bzw. Sündenbockstatus der Titelfigur offenbart sich demzufolge aus der Gegenüberstellung mit Vuestra Merced, d. h. es wird sogleich deutlich, dass Lázaro mit der „merced“ des Richters nicht zu rechnen hat. Der entsprechende Eintrag im Tesoro de la lengua castellana macht auf zwei Aspekte aufmerksam, die der Ausgangssituation im Lazarillo de Tormes durchaus verwandt sind, nämlich das hierarchische Gefälle sowie den Aspekt der Ehre: Merced es una cortesia usada particularmente en España [...] que es comun a qualquier hombre honrado y entonces se dize derechamente de la palabra meritū que por ser persona que merece ser honrada la llamamos merced. Mercedes, las gracias y las dádivas que los Príncipes hazen a sus vasallos, y las que los señores hazen a sus criados y a otras personas.38

Die Anrede Vuestra Merced drückt mithin beides aus: die Anerkennung des „hombre honrado“ durch den sozial Niedrigstehenden als auch die Bitte um Gewährung von „merced“ im Sinne von „gracia“, um die eigene „honra“ zu wahren.

34 Ebd., S. 31. 35 Ebd., S. 33. 36 Zur Ausweglosigkeit des pícaro vgl. Bjornson: The Picaresque Hero, S. 21: „Lazarillo provides an excellent example of the no-exit situation experienced by so many Spanish pícaros.“ 37 Vgl. Reinhart Koselleck: „Artikel ‚Krise‘“ in: ders./Otto Brunner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch‐sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3 (Studienausgabe), Stuttgart 1982, S. 617‐650. 38 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 546f.

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Eingedenk der von vornherein festgelegten Verweigerung eben jener „merced“, die in sozialer Anerkennung und Teilhabe bestünde, und der damit verbundenen Ausweglosigkeit des angeklagten pícaro, wird sein prekärer, marginalisierter und abjekter Status von Anfang an zementiert. Man könnte daher seinen Lebensbericht schon allein deshalb als rein literarisch bewerten, da er seiner Hauptfunktion als rechtfertigende Beichte niemals gerecht werden kann. Damit erhält die von Lázaro selbst im prólogo vorangestellte Charakterisierung seines Berichts als „nonada“ (L 8), als Nichtigkeit, ihre eigentliche Erläuterung und die rhetorischen Topoi (z. B. captatio benevolentiae, Zitate antiker Autoren) eine ganz und gar unironische Note: Hier spricht ein Schriftsteller, der auch als solcher wahrgenommen werden möchte.39 Dass dieser künstlerische Anspruch mit der kommunikationstechnischen Funktionalisierung des Textes als Beichte kollidiert, darauf hat Mecke hingewiesen und resümiert, dass der „Roman [...] damit als ästhetische Umsetzung einer Kritik [erscheint], die sich gegen ihre eigenen Grundlagen und Instanzen wendet und insofern paradoxale Formen annimmt.“40 Man könnte auch sagen, dass der Roman durch diese paradoxale Ausgangssituation auch auf der Ebene des discours den Schein-Charakter einführt, der auf der histoire-Ebene zu den Leitmotiven der sieben tractados gehört. Eng damit verbunden ist eine letzte Lesart von Vuestra Merced, die nun endgültig von der inhaltlichen zur erzähltechnischen Ebene übergeht. Rein erzähltheoretisch nämlich steht Vuestra Merced – ebenfalls dank des nicht näher bestimmten Figurenstatus – als Adressat von Lázaros Lebensbericht deutlich auf der Seite des Lesers, der zeitglich mit dem Richter die epistolare Fassung der Vida de Lazarillo de Tormes liest. Bauer schlägt als Beschreibungsmuster für diese die Textgrenzen überschreitende Zusammenführung von intradiegetischem Adressaten und Leser Umberto Ecos Modell des „Lector in fabula“41 vor. Ecos Modell geht

39 Nerlich (Kunst, Politik und Schelmerei) vergleicht die Figur des Lazarillo mit Thomas Manns Hochstapler Felix Krull und kommt zum Schluss, dass die beiden Figuren „keine Brüder“ (S. 15) seien, da in Manns Hochstaplerroman das Künstlerthema im Vordergrund stehe, während er in Lazarillo nur „den geprügelten Erdenwurm“ (S. 20) sieht, dem künstlerische Ambitionen völlig abgehen. Diese Einschätzung muss schon allein aufgrund des prólogo deutlich relativiert, wenn nicht gar verworfen werden. Zu einer ausführlicheren Kritik an Nerlichs Einschätzung vgl. Verf.: „Der männliche Schein“, S. 90-95. 40 Mecke: „Die Atopie des Pícaro“, S. 78. 41 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 25. Vgl. Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987.

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von zwei Grundannahmen aus: Zum einen, darin durchaus Barthes’ Mort de l’auteur folgend,42 wird davon ausgegangen, dass der literarische Text erst im Akt des Lesens bzw. in seiner Interaktion mit dem Leser vollständig entsteht. Zum anderen bestehe jeder erzählende Text zwar aus Informationen, aber ebenso aus signifikanten Leerstellen, die der „Modell-Leser“ zu füllen habe, was Eco mit dem von Charles Sanders Peirce entlehnten Begriff der Abduktion benennt.43 Damit sind interpretative Leistungen des Lesers gemeint, die nicht zwangsläufig einer rationalen Struktur unterliegen. Bauer schreibt Vuestra Merced den Status eines lector in fabula zu und suggeriert damit eine Identifikation des fiktiven Lesers mit dem Modell-Leser des Romans: Indem Lázaro mit „Vuestra Merced“, dem „lector in fabula“ (Eco), eine übergeordnete Instanz, eine Art Richter, entgegengesetzt wird, veranschaulicht die im Rahmen der fiktiven Kommunikationssituation getroffene Rollenverteilung die Aufgabe, die dem Interpreten des LAZARILLO DE TORMES zukommt: er soll den elliptischen, weil ergänzungsbedürftigen Diskurs des unzuverlässigen Ich-Erzählers einer kritischen Komplementärlektüre unterziehen.44

Auch diese an der Schwelle von der Erzähl- und Rezeptionstheorie angesiedelte Identifikation ist insofern paradox, als der Leser zwar auf der Kommunikationsebene auf eine Stufe mit Vuestra Merced gestellt wird, aber doch im Laufe der Kerngeschichte, in der auch diese Anrede kaum mehr auftaucht, zusehends auf die Seite des Protagonisten gezogen wird und der pícaro „damit die Distanz zwischen sich und seinem Leser überbrücken will.“45 Erst am Ende des Romans fühlt man sich durch die Auflösung des caso wieder an die virtuelle Präsenz des Richters erinnert. Durch diesen narrativen Kunstgriff erweist sich die Erzählstrategie als besonders raffiniert, da die an die Stelle der initialen Identifikation mit Vuestra Merced tretende Identifikation mit dem ‚Angeklagten‘ die Sympathie eindeutig zugunsten des letzteren lenkt.

42 Vgl. Roland Barthes: „La mort de l’auteur“ [1968], in: ders.: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 63-69. 43 Vgl. Eco: Lector in fabula, S. 61-69. 44 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 25. 45 Robert Alter: „Die Unkorrumpierbarkeit des pikaresken Helden“, in: Helmut Heidenreich (Hrsg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 455-477, hier: S. 468.

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Welche Konsequenz hat diese Identifikation mit Vuestra Merced nun für den empirischen Leser? Aus geschlechtsspezifischer Sicht haben wir es mit einer eindeutigen Maskulinisierung des Lesers zu tun, die sicher auch im historischen Kontext betrachtet so intendiert war, da der Großteil des Lesepublikums, wie auch Rauhut hervorhebt, männlichen Geschlechts gewesen sein dürfte: „In Anbetracht der damaligen Gesellschaftsstruktur ist vor allem an den adeligen Herrn als Leser gedacht“46, d. h. auch den sozialen Status betreffend dürfte die Identifikation unproblematisch gewesen sein, da die Mehrzahl der Leser – wie Vuestra Merced – Vertreter der höheren Stände waren. Was also lehrt uns der prólogo bzw. die in ihm adressierte Instanz Vuestra Merced über die literarische Repräsentation von Männlichkeit im Lazarillo de Tormes? Zunächst gilt festzuhalten, dass die Thematisierung sich nur implizit vollzieht, was dem durch und durch unklaren, ja spekulativen Status der richterlichen Instanz in Rechnung zu stellen ist. Gleichwohl eröffnet gerade der dadurch entstehende hohe Abstraktionsgrad einen analytischen Spielraum, der jedoch keineswegs beliebig ist. Es hängt vor allem davon ab, in welcher Form Vuestra Merced als Bestandteil der Narration gedeutet wird. Sieht man darin eine Allegorie der gesellschaftlichen Norm, steht er für die patriarchalische Ordnung der Gesellschaft, in der Stand und Geschlecht die wesentlichen Parameter sind und zu deren symbolischem Hauptkapital Ehre und Ehrhaftigkeit gehören. Nicht zufällig stellt der Ich-Erzähler, der im prólogo ebenfalls noch namenlos ist, u. a. ein in Spanische übersetztes Cicero-Zitat an den Anfang seiner Ausführungen: „La honra cría las artes“ (L 6).47 Im Hinblick auf Inhalt und Ton des gesamten Romans wurden solche Zitate lateinischer Klassiker häufig als pure Ironie gedeutet, was sicherlich zutreffend ist, aber für das vorliegende Zitat zu kurz greift. Mit der honra wird immerhin gleich zu Beginn einer der zentralen Werte innerhalb der zeitgenössischen Feudalgesellschaft eingeführt, der, wie wir gesehen haben, auch im Zentrum des caso steht, der den Erzählanlass des Textes und vor allem das symbolische

46 Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, S. 147. 47 Rico weist in seinen Anmerkungen lediglich darauf hin, dass Ciceros Sentenz „honos alit artes“ aus den Tusculanae disputationes stammt und im Spanien des Siglo de Oro wohlbekannt war und daher höchstwahrscheinlich topischen Charakter hatte. Darauf machen ebenfalls die Herausgeber Coll-Tellechea und Zahareas der zweiten Standardausgabe aufmerksam: „El prólogo contiene referencias a autores clásicos [...] de los que toma argumentos para justificar si empeño. Esas referencias eran bien conocidas en la época, tanto en la tradición culta como en la popular“ (La vida de Lazarillo de Tomes, S. 73).

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Kapital des Adels darstellt, was im dritten tractado noch weiter ausgeführt wird. Noch schärfer formuliert: Die höheren Schichten legen erst fest, was als symbolisches Kapital gilt und was nicht. Vuestra Merced ist Vertreter des Adels und damit befugt, über die honra des Angeklagten zu befinden. In seinen Méditations pascaliennes kommt Bourdieu auf seinen Begriff des symbolischen Kapitals zurück und konturiert diesen auf eine Weise, die für den vorliegenden Fall als besonders anschlussfähig erscheint: Autrement dit, le capital symbolique (l’honneur masculin des sociétés méditerranéennes, l’honorabilité du notable […] le prestige de l’écrivain renommé, etc.) n’est pas une espèce particulière de capital mais ce que devient toute espèce de capital lorsqu’elle est méconnue en tant que capital, c’est-á-dire en tant que force, pouvoir ou capacité d’exploitation (actuelle ou potentielle), donc reconnue comme légitime.48

An früherer Stelle desselben Werkes beschreibt er die Vergabekriterien des symbolischen Kapitals: Le monde social donne ce qu’il y a de plus rare, de la reconnaissance, de la considération, c’est-á-dire, tout simplement, de la raison d’être. Il est capable de donner du sens à la vie, et à la mort elle-même, en la consacrant comme sacrifice suprême. De toutes les distributions, l’une des plus inégales et, sans doute, en tout cas, la plus cruelle est la répartition du capital symbolique, c’est-á-dire de l’importance sociale et des raisons de vivre.49

Beide Passagen ergeben zusammen den soziologischen Kommentar zur Ausgangssituation des Lazarillo. Es geht um Vergabe, Verhandlung und drohende Aberkennung von symbolischem Kapital, also um Ehrbarkeit, Mannesehre, Anerkennung, Ansehen, kurz: um Lázaros gesellschaftliche Daseinsberechtigung. In der Logik feudaler Herrschaftsstrukturen verkörpert Vuestra Merced die ‚soziale Welt‘ bzw. die ‚Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung‘. Zwar bildet die ‚Mannesehre‘ nur einen Teil des gesamten honra-Komplexes, aber doch einen sehr entscheidenden. Diese nämlich wird durch den caso besonders gefährdet. So gesehen empfiehlt es sich, das initiale Cicero-Zitat nicht nur auf seinen ironischen Charakter zu reduzieren, da hier im Grunde das Programm des Romans vorweggenommen wird: honos alit artes – der Prozess des Schreibens wird durch den Ehrkonflikt begründet und gleichzeitig fungiert das Schreiben im engeren

48 Pierre Bourdieu: Méditations pascaliennes, S. 285. 49 Ebd., S. 283f.

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Sinne von künstlerischem Schreiben als Strategie, dem gesellschaftlichen Ehrverlust durch künstlerischen Prestigegewinn entgegenzuwirken. Unterstützend wirkt hier auch der unmittelbare Originalkontext des Zitats, geht es doch in den Ciceronischen Tusculanae disputationes im Wesentlichen um die Vorzüge tugendhaften Lebens und Handelns, also um virtud, was im zeitgenössischen Diskurs – in Antike und Früher Neuzeit – als genuin männliches Attribut galt. Vuestra Merced, verstanden als Figur des Romans, bildet gemeinsam mit dem Erzpriester (auch wenn wir letzteren erst am Ende des Romans kennen lernen) einen Miniatur-Männerbund, der sich durch inoffizielle Praktiken des Paktierens am Leben erhält und seine Macht sowohl durch die Abwertung und den Ausschluss Niedrigerstehender als auch das interne Zirkulieren von objektivierten Frauen absichert. Lázaro kommt in diesem Netzwerk die unfreiwillige Rolle des Sündenbocks zu, was bereits im Kern seine Männlichkeit als abjekte Männlichkeit antizipiert und gleichzeitig in Anlehnung an die Hegel’sche Herr-Knecht-Dialektik die Macht der Herrschenden begründet. Auch in seiner Funktion als lector in fabula kann Vuestra Merced als männlicher Akteur identifiziert werden. Er wird dadurch zum Modell-Leser des Romans, der wiederum entsprechend dem historischen Kontext adeliger Herkunft und männlichen Geschlechts sein dürfte. Zudem erhebt sich Lázaro gleichsam zum ‚auctor in fabula‘: „Das niedriggeborene Ich erzwingt sich durch die Suggestionskraft der autobiographischen Darstellung Gehör bei dem hochgeborenen Leser und damit eine Art Anerkennung.“50 Dadurch wiederum wird trotz aller vermeintlichen Ausweglosigkeit und Einseitigkeit des Konflikts zugunsten des Adels ein Wettbewerbscharakter im Rahmen der Aushandlung von Lázaros männlichem Habitus angedeutet, denn „durch die zentrale Stellung des Ich [wird] diesem eine Bedeutung verliehen, die den Gegenspielern, den Herren zugleich genommen wird.“51 Demzufolge erhält auch das scheinbar klare homosoziale Machtgefüge, das dem Roman zu Beginn zugrunde gelegt wird, zumindest kleinere Ambivalenzen, die durch die künstlerischen Ambitionen des Ich-Erzählers hervorgerufen weden – honos alit artes. Mit einem kleinen Textausschnitt, in dem Vuestra Merced im Prolog zum vorläufig letzten Mal adressiert wird, sollen diese Überlegungen abgeschlossen werden: Y pues Vuestra Merced escribe se le escriba y relate el caso muy por extenso, parecióme no tomalle por el medio, sino del principio, porque se tenga entera noticia de mi persona; y también porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco se le debe, pues

50 Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, S. 148. 51 Ebd.

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Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña remando salieron a buen puerto (L 11).

Hier haben wir es mit der eigentlichen Ur-Szene des Schreibens zu tun („porque se tenga entera noticia de mi persona“), die wiederum erstmalig an den dubiosen caso rückgebunden wird. Des Weiteren wird mit dem Oppositionspaar „Fortuna“ / „fuerza y maña“ (Synonym von virtud) auf eine zeittypische Dichotomie angespielt, die nicht zufällig an das Vokabular erinnert, das auch Machiavelli in seinem Principe nahezu leitmotivisch einsetzt: „die Figur der fortuna als Inbegriff historischer Kontingenz und die der virtù im Sinne energetischer Tatkraft“52: […]; perché la fortuna è donna, et è necessario, volendola tenere sotto, batterla et urtarla. E si vede che la si lascia più vincere da questi, che da quelli che freddamente procedano; e però sempre, come donna, è amica de’ giovani, perché sono meno respettivi, più feroci e con più audacia la comandano.53

Während fortuna in ihrer Doppeldeutigkeit von Glück und Willkür den Zyklus der Geschichte maßgeblich bestimmt, schafft es einzig die virtù dem Walten dieser wankelmütigen Figur Einhalt zu gebieten. Hier fällt bereits auf morphologischer und semantischer Ebene auf, dass sich hinter diesem Begriffspaar auch ein Gendermodell verbirgt, steckt doch in virtù die Vorsilbe ‚vir-‘ (für Mann oder Manneskraft), während Fortuna stets die Göttin des Schicksals darstellte, d. h. die gefährliche Unbeständigkeit wird der Frau zugeschrieben, die konstruktive Tatkraft hingegen dem Manne. Fortuna ist demnach wankelmütig, zerstörerisch wie ein reißender Strom („uno di questi fiumi rovinosi“54), sie schafft aber auch als Glücksbotin Gelegenheiten – occasione, wie es bei Machiavelli heißt –, die einzig der mit virtù gesegnete Mann, der uomo virtuoso, zu nutzen weiß, um die Kurve des Zyklus wieder nach oben zu lenken. Im prólogo schreibt der Ich-Erzähler das Wirken Fortunas den nobles zu, die einen Adelstitel geerbt haben, ohne dafür etwas zu tun, d. h. ohne fuerza y maña bzw. virtud, was als deutliche Kritik am hereditären honor-Begriff des Adels zu verstehen ist. Fortuna wird an dieser Stelle in Zusammenhang mit dem Glück der Adeligen auf ihre Funktion als Glücksbotin reduziert, während den Nichtadeligen,

52 Verf.: Der Machiavelli-Code. Für eine Relektüre der Liaisons dangereuses“, in: Claudia Frevel u. a. (Hrsg.): Gli uomini si legano per la lingua. Festschrift für Werner Forner zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2011, S. 479-502, hier: S. 484. 53 Machiavelli: Principe, S. 198. 54 Ebd., S. 192.

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also auch dem Protagonisten, nichts Anderes übrigbleibt, als sich mit fuerza y maña durchs Leben zu schlagen. Eingedenk der Tatsache, dass virtù bei Machiavelli dem idealen Fürsten zugeschrieben wird, handelt es sich bei dieser Attribuierung ebenfalls um eine indirekte Art männlicher Selbstermächtigung – der pícaro als invertierter Fürst. Unterstützt wird diese ironische Nutzbarmachung der Fortuna auch dadurch, dass sie bereits – in ebenfalls positiv gewendeter Form – im Titel des Romans auftaucht („sus fortunas y adversidades“) sowie das letzte Wort des Romans darstellt („en la cumbre de toda buena fortuna“), mithin an zwei besonders hervorgehobenen Stellen zum Einsatz kommt.55 Letzterer Einsatz lässt jedoch trotz des Zusatzes „buena“ völlig offen, ob Fortuna hier tatsächlich als Glücksbotin oder zerstörerische Schicksalsgöttin agiert. Das solcherart generierte zyklische Modell, das bereits Machiavelli im Blick hatte, bestimmt demnach die literarische Konzeption pikaresker Männlichkeit.

4.2 F AMILIENBANDE

UND

N AMENSFORSCHUNG

Abwesender Vater, alleinerziehende Mutter, farbiger Stiefvater, Halbbruder – die kindliche Welt des Lazarillo de Tormes bietet all das, was wir heute mit der neumodischen Etikettierung ‚Patchwork-Familie‘ versehen würden, und das in einem Milieu – sowohl sozial als auch geografisch –, das den sozialvoyeuristischen Blicken des Zuschauers einige Nahrung bieten würde. Was aus heutiger Sicht im alltagssprachlichen Sinne ‚modern‘ klingt, ist es für die Literatur des 16. Jahrhunderts umso mehr. Die Tatsache, dass ein Vertreter aus dem Prekariat, dem Bodensatz der Gesellschaft, seine eigene Lebensgeschichte erzählt, gilt immer noch als eines der innovativsten Merkmale der novela picaresca. Trotz der nur sehr knappen Schilderung der eigenen Herkunft steckt diese voller Anspielungen, von denen manche jedoch – entsprechend der inversiv-zirkulären Erzählstruktur – erst am Ende weitergeführt bzw. expliziert werden. Wie in Kap. 3 bereits dargestellt, stehen die Anfänge der pikaresken Lebensläufe ganz unter dem Einfluss des maternalen Regimes, so auch im Lazarillo de Tormes. Bevor jedoch das Augenmerk auf „[t]he mother’s negative portrait“56 und

55 König hebt hervor, dass das Wirken Fortunas zu den zentralen Motiven und Ordnungsschemata des Romans gehören. Er sieht in diesem Zusammenhang jedoch nicht Machiavellis Fortuna-Konzeption als Einfluss, sondern diejenigen seiner Landsleute Boccaccio (De casibus virorum illustrium) und Petrarca (De remediis fortunae). Vgl. König: „(Anonym) La vida de Lazarillo de Tormes“, S. 34-36. 56 Cruz: „Figuring Gender in the Picaresque Novel“, S. 8.

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dessen Macht über die männliche Identitätsbildung des Sohnes gerichtet wird, sollen zunächst die eher nüchtern vorgetragenen Fakten näher betrachtet werden, konkret: Name, Geburtsort und Vater des Protagonisten. Überraschenderweise gibt Rico in seiner ansonsten sehr sorgfältig annotierten Ausgabe keine Auskunft über den Namen des Protagonisten,57 während CollTellechea und Zahareas in ihrer ansonsten weitaus spärlicher mit Anmerkungen versehenen Edition erwartungsgemäß auf die biblische Provenienz des Vornamens hinweisen: [...] el parentesco con el mendigo del Evangelio da una doble dimensión al protagonista: por un lado, es la figura lacerada llena de pobreza, miseria y desdichas; y, por otro, el prototipo de los resucitados (San Lucas, 16, 20-33; San Juan, 11, 1-4). Se anticipa que el protagonista sobrevivirá a sus miserias.58

Angesichts der zahlreichen Übereinstimmungen in der Darstellung beider Lazarus-Figuren (Armut und Leid, Güte, Wiederauferstehung), des enormen Bekanntheitsgrades biblischer Erzählungen sowie der deutlichen Bezugslinien zur pikaresken Figur des Lázaro scheint eine Beeinflussung kaum von der Hand zu weisen.59 Gleichwohl soll nicht verschwiegen werden, dass es zwischen den beiden biblischen Versionen beträchtliche Unterschiede gibt. In der Version des Johannes-Evangeliums stammt Lazarus, der mit seinen zwei Schwestern Maria und Martha ein Haus bewohnt, offenbar aus recht wohlhabenden Verhältnissen. Sein Leiden ist demnach weniger seinem sozialen Status geschuldet als seiner todbringenden Krankheit. Er gehört zu den engen Freunden Jesu, weshalb dieser den Toten vier Tage nach seinem Begräbnis wiederauferstehen lässt. Diese Wundergeschichte markiert im Leben Jesu insofern einen Wendepunkt, als sie die Pharisäer

57 Lediglich in seiner umfangreichen Introducción widmet Rico dieser Frage eine Fußnote, in der er jedoch Anspielungen an die beiden biblischen Lazarus-Figuren verwirft: „Tampoco me resultan convincentes las hipótesis que relacionan a nuestro Lázaro con un homónimo en el Evangelio, sea el mendigo llagado de Lucas, XVI, sea el hermano de Marta y María (Juan XI)“, in: Rico: „Introducción“, L, 81*. 58 Coll-Tellechea/Zahareas (Hrsg.): La Vida de Lazarillo de Tormes, S. 77. 59 Diese Einschätzung teilen u. a. Marcel Bataillon (Hrsg.): La vie de Lazarillo de Tormes, Paris 1958, S. 19f; Stephen Gilman: „The Death of Lazarillo de Tormes“, in: Publications of the Modern Language Association of America 81 (1966), S. 149-166, hier: S. 161-166; Bruce W. Wardropper: „The Strange Case of Lázaro Gonzales Pérez“, in: Modern Language Notes 92 (1977), S. 202-212.

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dazu bringt, den Mord an ihm in die Tat umzusetzen: „Von diesem Tag an waren sie entschlossen, ihn zu töten.“60 Das Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Mann, das im LukasEvangelium erzählt wird, dürfte für den Lazarillo als Quelle einflussreicher gewesen sein61 und soll hier vollständig wiedergegeben werden: (19) Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. (20) Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. (21) Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. (22) Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. (23) In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß. (24) Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer. (25) Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden. (26) Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte. (27) Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters! (28) Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. (29) Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. (30) Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren. (31) Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.62

Was zunächst auffällt, ist die kontrastierende Darstellung der beiden Hauptfiguren: der Reiche, der vor allem durch seine vestimentäre Pracht charakterisiert wird, auf der einen und der arme Lazarus, der nicht einmal Lumpen an seinem Körper trägt, sondern lediglich Geschwüre, auf der anderen Seite. Aus diesem scharfen Missverhältnis, das keinerlei Nuancen zulässt, ergibt sich von Anfang an

60 Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament, Stuttgart 1980, Joh 11, 53. 61 Wobei Bettina Knust darauf hinweist, dass im kollektiven Legendenschatz der Vormoderne auch häufig beide Lazarus-Geschichten zu einer einzigen verschmolzen. Vgl. Bettina Knust: „Lazarus. Ein Heiliger mit einer dreifachen Biographie“, in: Die Klapper. Zeitschrift der Gesellschaft für Leprakunde 23 (2015), S. 8-10. 62 Bibel, Lk 16, 19-31.

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eine „grundsätzliche chiastische Struktur zwischen dem guten Leben der Reichen (V. 19) und dem Elend des Lazarus (V. 20f.)“63, die im weiteren Verlauf narrativ durch die Scharnierstelle des offenbar gleichzeitigen Todes komplettiert wird. Der Chiasmus existiert auf der räumlichen Ebene entlang der vier Pole: im Haus des Reichen (positiver Ort im Diesseits), vor dem Ort des Reichen (negativer Ort im Diesseits), in Abrahams Schoß (positiver Ort im Jenseits) und in der Unterwelt (negativer Ort im Jenseits), wobei die handelnden Figuren vom Diesseits zum Jenseits ihren Ort tauschen [...]. Auf der zeitlichen Achse gibt es die beiden Ebenen vor und nach dem Tod der beiden, wobei der Schwerpunkt der Erzählung auf der Zeit nach dem Tod liegt.64

Da es in der novela picaresca nicht zum Tod der Hauptfigur kommt, was primär der autodiegetischen Erzählsituation geschuldet ist, liegt dort nur die scharfe Kontrastierung zwischen den Herren- und Dienerfiguren vor, was den durch und durch diesseitigen Charakter der Gattung zusätzlich betont. Die in der lukanischen Parabel vorherrschende Unumkehrbarkeit des Schicksals findet hingegen im Lazarillo durch das bereits beschriebene Wirken Fortunas ihr weltliches Pendant – der behütende Abraham wird durch die wankelmütige Glücksgöttin substituiert, die den Roman sogar abschließend signiert. Dessen ungeachtet fügt die dem Gleichnis zugrunde liegende Stilfigur des Chiasmus der Lazarus-Erzählung eine inversive Struktur hinzu, die auch dem Lazarillo inhärent ist, wenngleich eher im Hinblick auf die Darstellung des ständischen Sozialraums.65 Das Verhältnis des Reichen zum armen Lazarus wiederum erinnert an die Beziehung der ersten beiden Herren zu ihrem Diener Lazarillo, insbesondere aber an den geizigen und habgierigen Kirchenmann aus dem zweiten tractado, der seinem Diener keinen einzigen Brotkrumen gönnt. Dass es sich aber im biblischen Gleichnis buchstäblich um Abfälle handelt,66 die vom Tisch fallen und die der Reiche dem Bettler versagt,

63 Jutta Leonhardt-Balzer: „Wie kommt ein Reicher in Abrahams Schoß? (Vom reichen Mann und armen Lazarus) Lk 16, 19-31“, in: Ruben Zimmermann u. a. (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 22015, S. 647-660, hier: S. 648. 64 Ebd. 65 Auch in der lukanischen Erzählung wird der Sozialraum invertiert, wenn z. B. der Reiche Abraham darum bittet, Wasser von Lazarus’ Daumen lecken zu dürfen, wodurch er sich auf eine Stufe mit den Hunden stellt, die zuvor an den Geschwüren des Armen geleckt haben. 66 Leonhardt-Balzer bemerkt zu Recht, dass es sich bei der Schilderung der Abfälle auch um eine zeitgenössische Kritik an der Dekadenz der Reichen handelt: „Die Reste, die vom Tisch des Reichen abfallen, sind ein weiteres Motiv, mit dem die Maßlosigkeit der

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hebt Lazarus’ Status als gesellschaftlich Verworfener, als ab-iectum hervor, was auch zu den zentralen Sozialstigmata der pícaro-Figuren gehört. Der abjekte Status des Armen wird – ganz im Sinne der Kristeva’schen Gleichsetzung von abjekt und ekelerregend – in beiden Geschichten durch kreatürliche Details zusätzlich hervorgehoben: bei Lazarus sind es die leprösen Geschwüre, an denen sich die Hunde weiden,67 bei Lazarillo das eigene Erbrochene im ersten tractado. Des Weiteren ist zu beobachten, dass Lazarus im Gegensatz zum reichen Mann überhaupt einen Namen erhält; auch im Lazarillo bleiben alle Figuren, denen die Titelfigur unterstellt ist, namenlos. Hierdurch bekommen die nach kapitelweise auftretenden Figuren, wie bereits erwähnt, Typencharakter – man könnte auch sagen, dass den einzelnen Episoden dadurch ein gleichnishafter Charakter zuteilwird. Auch Leonhardt-Balzer hebt diesen Aspekt hervor: Die Tatsache, dass Lazarus der einzige Mensch ist, der in den neutestamentlichen Gleichnissen beim Namen genannt wird, betont die Bedeutung seines Namens. [...] Übersetzt heißt Lazarus / Eleazar ‚Gott hilft‘. Oft ist der Name als Hinweis auf einen Menschen gesehen worden, der so elend ist, dass ihm nur noch Gott helfen kann. [...] Damit wird Lazarus zum Symbol all der Armen, die auf Gottes Rettung in besonderem Maße angewiesen sind [...].68

Im Spanischen kann dieser allegorische Charakter des Namens Lazarus umso mehr geltend gemacht werden, wenn man die homophone Verwandtschaft des Diminutivs Lazarillo mit laceria bedenkt, was Armut bzw. Elend bedeutet.69 Dass der Reiche hingegen, so wie die Nebenfiguren im Lazarillo, namenlos bleibt, sorgt wiederum auf Seiten der Leser für einiges Identifikationspotenzial: „Sie werden vor die Frage gestellt, ob sie selbst dieser Reiche sind.“70 Dasselbe ließe sich für

Reichen geschildert wird. [...] Wenn sich Lazarus wünscht, von dem, was von den Abfällen des Reichen herunterfällt, zu essen, ist das eine zeitgeschichtliche Anspielung auf diese Maßlosigkeit“ („Wie kommt ein Reicher in Abrahams Schoß?“, S. 652). 67 Vgl. ebd., S. 652f: „Dass Lazarus sich diese Kreaturen nicht vom Leib halten kann, zeigt, wie elend es ihm geht. [...] Die Hunde sind in jedem Fall kein positives Symbol in der Parabel, ihr Lecken ist kein Zeichen von Zuwendung oder Betreuung.“ 68 Ebd., S. 651. 69 Mehrfach spielt der Roman mit dieser lautlichen Assoziation, so z. B. im ersten tractado, als Lazarillos Trick mit der Wurst auffliegt und er seiner Strafe ins Auge blickt, ruft er aus: „¡Lacerado de mí! – dije yo –. ¿Si queréis a mí echar algo?“ (L 39). 70 Leonhardt-Balzer: „Wie kommt ein Reicher in Abrahams Schoß?“, S. 651.

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die Leser des Lazarillo beobachten, da die jeweiligen namenlosen Figuren repräsentativ für ihren jeweiligen Stand stehen und dadurch – wie der Reiche in der lukanischen Parabel – stellvertretend für die Gesellschaft stehen. Aus erzähltheoretischer Sicht interessant erscheint die Tatsache, dass der biblische Lazarus als handelnde Figur aus der Geschichte verschwindet, nachdem er in Abrahams behütendem Schoß Zuflucht gefunden hat.71 Auch Lazarillo verschwindet nach dem dritten tractado zusehends als handelnde Figur und tritt – vor allem im vierten und fünften – lediglich noch als passiver Beobachter bzw. als Erzähler auf. Diese zunehmende Passivität wird ihm am Ende sogar zum Verhängnis, wenn er sich im Rahmen des unmoralischen Arrangements mit dem Erzpriester im sicheren Hafen der Gesellschaft wähnt – mit anderen Worten: Abrahams Schoß erweist sich in der novela picaresca gemäß dem Primat des Scheins als eher trügerisch. All diese auffälligen Parallelen lassen darauf schließen, dass der biblische Lazarus bei der Namenswahl des Protagonisten mit einiger Sicherheit Pate gestanden haben dürfte. Zudem ließe sich noch die in der Forschung als wahrscheinlich geltende converso-Herkunft des anonymen Autors anführen, wenn man bedenkt, dass das Gleichnis „[d]urch die Wahl Abrahams als Vertreter des Himmels [...] eindeutig in den Kontext des Judentums gestellt [wird]. Zur Zeit des Neuen Testaments wurde Abraham als Stammvater der Juden geehrt. [...] Somit erwartet Lazarus im Schoß Abrahams das Heil der Juden.“72 Was aber verrät uns die prominente Namenswahl der Hauptfigur über das Narrativ pikaresker Männlichkeit? Wie im biblischen Gleichnis steht Lazarillo auf der untersten Sprosse der Ständeleiter – so wie die Hausschwelle zu Lebzeiten den Armen vom Reichen trennt ohne Aussicht auf Überschreiten, so wie aber auch im Jenseits ein tiefer unüberwindlicher Abgrund die Unterwelt vom Schoße Abrahams trennt, so starr und rigide verlaufen die Schichtgrenzen innerhalb des Schelmenromans: Lazarillo ist aufgrund seiner Herkunft zur laceria verdammt, der Beginn des Romans führt diesen Sozialdeterminismus unmissverständlich vor. Das Verwehren von Essensabfällen sowie der mit Geschwüren übersäte Körper des armen Lazarus, an dem sich die Straßenköter laben, etabliert von Vornherein ein Männlichkeitsbild, das man mit Connell als untergeordnet kategorisieren könnte, was aber den prekären Kern nicht adäquat erfassen würde. Die Männlichkeit des Armen ist eine verworfene, sie erregt Ekel und ist mit den Stigmata des körperlich Abstoßenden gekennzeichnet und mithin entmenschlicht – kurz: das von Lazarus

71 Vgl. ebd., S. 650. 72 Ebd., S. 654.

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verkörperte Männlichkeitsbild muss als abjekt charakterisiert werden. Sein Ort jenseits der Schwelle des Hauses unterstreicht diesen liminalen Status auf topografischer Ebene. Hinsichtlich der narrativen Struktur lässt sich konstatieren, dass dem LazarusGleichnis eine inversive Konfiguration zugrunde liegt, wobei der Tod der Hauptfiguren als Spiegelachse zwischen Diesseits und Jenseits fungiert. Demzufolge stellt die jenseitige Ordnung sozusagen einen transzendentalen mundus inversus dar. Lazarillo stirbt nicht, kann es schlechterdings nicht, da er seine eigene Lebensgeschichte erzählt, weshalb die novela picaresca nicht zuletzt aufgrund ihrer Erzählanlage im Diesseits verbleibt. Gleichwohl wird der pikareske Sozialraum ebenfalls als mundus inversus inszeniert, allerdings eher auf moralischer Ebene. Durch den grundsätzlichen Verzicht auf Transzendenz, d. h. die Tilgung jeglicher Hoffnung auf ein gerechtes Nachleben im jenseitigen Elysium wird einerseits noch einmal die Unbarmherzigkeit Fortunas veranschaulicht und andererseits der anthropologische Pessimismus der Gattung akzentuiert. Lázaro kann nicht sterben und ist dazu verdammt, das Wechselspiel seiner „fortunas y adversidades“ ewig weiter zu ertragen, was sich erzähltechnisch in der Episodizität der Gattung und im offenen Ende manifestiert. Die Wiederauferstehungen nach jeder erduldeten Niederlage sind somit keineswegs – wie im Johannes-Evangelium – positiv konnotiert, sondern stehen vielmehr im Zeichen der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Damit wird aus Lázaro eben kein Heiliger, und seine Männlichkeit steht weniger im Lichte einer christlichen Erlösung als vielmehr in der Nachfolge einer weiteren prominenten antiken Figur, nämlich derjenigen des Sisyphos, der immerhin in der griechischen Mythologie als „verschlagenster der Menschen“73 gilt. Lázaros selbst erwählter Namenszusatz – eigentlich müsste er entsprechend dem spanischen Namensrecht Lázaro González Pérez heißen – ist nicht minder sprechend als sein Vorname. Vordergründig rekurriert der Erzähler damit auf den konkreten Ort seiner Geburt74: den Fluss Tormes.

73 Erich Willisch: „Sisyphos“, in: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1915, Sp. 958-972, hier: Sp. 958. 74 Vgl. zur Schilderung der Geburt Dieter Arendt: Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums. Vorarbeiten zu einer literatur-soziologischen Analyse der Schelmenliteratur, Stuttgart 1978, S. 33: „Im Hinblick auf die Herkunft fällt zunächst auf, daß der Erzähler – im Unterschied zum traditionellen Ritter-Epos und zum idealisierten Bildungs-Roman – eine auffallende Freude hat an der unverblümten Schilderung seiner eigenen Geburt. Mit vollem Bewußtsein ist er mitunter gleichsam als ‚puer

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Mi nascimiento fue dentro del río Tormes, por la cual causa tomé el sobrenombre; y fue desta manera: mi padre, que Dios perdone, tenía cargo de proveer una molienda de una aceña que está ribera de aquel río, en la cual fue molinero más de quince años; y estando mi madre una noche en la aceña, preñada de mí, tomóle el parto y parióme allí. De manera que con verdad me puedo decir nascido en el río (L 12-14).

Lazarillos Eltern leben demnach in einer Wassermühle am Rande der Stadt Salamanca, weshalb der Erzähler darauf besteht, im Fluss geboren zu sein. In der folkloristischen Literatur des Siglo de Oro, so Augustín Redondo, gibt es eine Reihe von Erzählungen und Volksmythen über Müller, Müllerinnen und Mühlen, denen ein „carácter erótico y diabólico“75 eigen ist: „Envuelto en un ruido infernal (el de la rueda y las muelas), muy concurrido y por ello frecuentado por mujercillas, centro de comentarios y de hablillas, el molino, a la par que el horno, tenía muy mala fama.“76 Das liegt vor allem daran, dass die Mühlen am Rande der Städte beliebte Treffpunkte von Ganoven und Prostituierten waren77, was dazu führte,

senex‘, als ‚vieil adolescent‘ bei seiner Ankunft in dieser Welt anwesend und bekundet mit dem Hinweis auf den abnormen Vorgang sein grundsätzlich distanziertes Verhältnis zur Welt [...].“ 75 Augustín Redondo: „De molinos, molineros y molineras: Tradiciones folklóricas y literatura en la España del Siglo de Oro“, in: José Luis Alonso Hernández (Hrsg.): Literatura y folklore: problemas de intertextualidad. Actas del Segundo Symposium Internacional del Departamento de Español de la Univ. de Groningen Octubre 1981, Salamanca/Groningen 1983, S. 101-115, hier: S. 110. Das Motiv der erotisch-verführerischen und zugleich unheilbringenden Müllerin hat sich durchaus auch in späteren Epochen behauptet, so etwa in Franz Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin (1823, nach Gedichten von Wilhelm Müller) oder im ‚Landroman‘ François le Champi (1847/48) von George Sand, in dem eine Müllerin eine Liebesaffäre mit ihrem Adoptivsohn, einem Findelkind, beginnt. 76 Ebd., S. 102. 77 Vgl. dazu Jacques Le Goff: La civilisation de l’Occident médiéval, Paris 1964, S. 385: „A la campagne, le moulin où le paysan doit porter son grain, faire la queue, attendre sa farine, est un lieu de rencontre. J’imagine volontiers que les innovations rurales s’y sont commentées souvent, et à partir de là diffusées, que les révoltes paysannes y ont couvé. Deux faits nous prouvent l’importance du moulin comme foyer de rassemblement paysan. Les statuts des ordres religieux du XIIe siècle prévoient que les moines iront y quêter. Les prostituées hantent leurs parages au point que saint Bernard, prêt à faire passer la morale avant l’intérêt économique, incite les moines à détruire ces foyers du vice.“

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dass molinero zum Synonym von ladrón wurde: „De la misma manera, el molinero era un personaje malvado y ladrón. Verdad es que tenía mala reputación, pues se le acusaba de quedarse con más grano de lo que merecía su trabajo (la maquila).“78 Analog dazu war molinera gleichbedeutend mit ramera.79 Wie so häufig in der novela picaresca entfaltet sich das hablar claro des Schelms erst nach der Dechiffrierung sprachlicher Ambivalenzen, weshalb man sagen kann, dass das karnevaleske Prinzip der Inversion, der Maskeraden und Camouflagen schon auf rein sprachlicher Ebene zu beobachten ist. So verstanden entpuppt sich Lazarillos Geburtsort aus moralischer und stratifikatorischer Sicht deutlich als Ort der Schande. Wenn im vorherigen Kapitel zur Rolle der Weiblichkeit im spanischen Schelmenroman die These aufgestellt wurde, dass die kindliche Welt des pícaro im Schatten einer meist unheilbringenden Weiblichkeit steht, so gilt dies in besonderem Maße für den Lazarillo de Tormes. Zwar wird von den Eltern als erster der Vater genannt („mi padre“), aber durch den unmittelbar erfolgenden Einschub „que Dios perdone“ wird sogleich auf seinen zwischenzeitlichen Tod, mithin seine Abwesenheit angespielt. Die Erklärung hierfür liefert der knappe und gewohnt lakonisch formulierte nachfolgende Absatz: Lazarillos Vater wird nach „ciertas sangrías mal hechas“ (L 14) verhaftet, wobei der Erzähler dies mit dem ironischen Bibelzitat „padesció persecución por justicia“ (L 14) kommentiert: „Selig sind, die da Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen“ (Mt 5, 10). Der Vater zieht im Folgenden in eine „cierta armada contra moros“, wobei der Zusatz „entre los cuales fue mi padre“ (L 14), wie Köhler konstatiert, ebenfalls eher doppeldeutig angelegt ist: [D]ie Wendung cierta armada contra moros ist nicht ohne ironischen Unterton. Erst recht der Zusatz entre los cuales fue mi padre: Ist nur gemeint, dass der Vater im Tross mit dabei war oder dass er selber Maure war? Sollte Letzteres zutreffen, war Klein-Lazarus ein Mischling und Immigrantenkind...80

78 Redondo: „De molinos, molineros y molineras“, S. 103. 79 Vgl. dazu auch den entsprechenden Eintrag in Covarrubias’ Tesoro de la lengua castellana: „Estas vivían fuera de los muros de las ciudades [...]. Estas salían algunas vezes a los caminos reales, no lexos de los molinos de trigo: y otras vezes de los del azeyte; y sobre unas estacas armaban sus choçuelas y las cubrían con ramas, de donde se dixeron rameras“ (S. 848). 80 Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, S. 12f, Anm. 10.

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Das väterliche Porträt wirkt insgesamt wie eine miniaturhaft eingespielte Digression, da der Erzähler – zumindest an der Textoberfläche – nie wieder darauf zurückkommt. Lediglich die Mutter erwähnt ihren verstorbenen Gatten noch einmal, als sie ihren Sohn in die Hände des Blinden übergibt: [Y] ella me encomendó a él, diciéndole cómo era hijo de un buen hombre, el cual, por ensalzar la fe, había muerto en la de los Gelves, y que ella confiaba en Dios no saldría peor hombre que mi padre (L 21f).

Auffällig ist, dass sich sowohl die Mutter als auch der Erzähler darum bemühen, den Vater vermittels euphemistischer Rede in einem möglichst strahlendem Licht erscheinen zu lassen: als den heldenhaften Krieger, der im Dienst für sein Vaterland bei der Schlacht vor Djerba (1510) gefallen ist.81 Da der Leser an dieser Stelle des Textes längst weiß, wie es tatsächlich um den toten Vater bestellt ist – eher ladrón als héroe –, erstaunt zunächst der Versuch seiner hinterbliebenen Frau, die mittlerweile bereits eine weitere unehrenhafte Beziehung mit einem Mauren hinter sich hat, ihrem Gatten post mortem das wiederzugeben, was er bereits zu Lebzeiten verloren hatte, nämlich seine Ehre. Der Heldentod für das Vaterland verschafft dem Gefallenen ein Höchstmaß an honra – vor allem angesichts seiner offensichtlichen Nicht-Zugehörigkeit zum Adel. Lazarillos Mutter erweist sich damit als listige Fürsprecherin sowohl ihres Mannes als auch ihres Sohnes, den sie ja schnellstmöglich loswerden will. Hier stellt also weibliche astutia eine Chiffre für strategische Kreativität dar. Damit findet bereits der erste, noch unfreiwillige Schritt des Protagonisten in die feindselige Welt im Zeichen des engaño statt und zwar ganz konkret auf der Grundlage von gefälschtem symbolischen Kapital, was man heute mit impression management umschreiben würde – Óscar Pereira Zazo spricht von „management of exteriority“82. Andererseits stellt diese mütterliche List den Versuch dar, die Vater-Imago möglichst idealisiert erscheinen zu lassen, was der Erzähler auch nur indirekt durch sprachliche Ambivalenzen relativiert.

81 Vgl. Rico, S. *18: „Para empezar, cuando Antona Pérez mienta ‚los Gelves‘, es inconcebible que ni ella, ni el ciego, ni el lector de la época pudieran pensar en otro episodio que el desastre de 1510. Decir que Tomé González ‚había muerto en la de los Gelves‘ sobreentendía que fue en el malhadado percance que todos recordaban por la carnicería en medio de la cual perecieron un hijo del Duque de Alba y un tercio de las tropas cristianas.“ 82 Óscar Pereira Zazo: „La vida de Lazarillo de Tormes. Publicity and Fictionality“, in: Reyes Coll-Tellechea/Sean McDaniel (Hrsg.): The Lazarillo Phenomenon. Essays on the Adventures of a Classic Text, Cranbury 2010, S. 21-47, hier: S. 21.

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Interessanterweise wird Männlichkeit hier erstmals als narrative Struktur innerhalb der Diegese dargestellt, als in die Vergangenheit projizierte Konstruktion idealer Männlichkeit, die hier schon als Maskerade enttarnt wird. Als ironische Replik darauf kann Lazarillos Namenszusatz interpretiert werden: De Tormes rekurriert nicht nur auf die Selbsttaufe im gleichnamigen Fluss, sondern gaukelt einen selbst verliehenen Adelstitel vor, was sein Nachfolger Guzmán de Alfarache ihm gleichtun wird. In jedem Fall hinterlässt der Tod des Vaters – bzw. der Verlust beider Vaterfiguren – ganz offenkundig eine Lücke im Leben des noch kindlichen pícaro, weshalb man in der sich anschließenden Erzählung aus psychoanalytischer Sicht gleichsam eine Recherche du père perdu sehen kann – zumindest so lange, bis Lazarillo im dritten tractado nach dem Verlust von Vater und Stiefvater durch den verarmten Junker zum dritten und (vorläufig) letzten Mal verlassen wird. Die Vaterlosigkeit der Titelfigur löst demnach ein Begehren aus, dem die folgenden Anstellungsverhältnisse bei Ersatzvaterfiguren erfolglos entgegenzuwirken versuchen. Die grundlegend schmerzliche Tragik dieses Prozesses wird jedoch beständig durch den heiter-ironischen Erzählton konterkariert. Somit stehen die ersten Schritte auf dem Weg zur Mannwerdung nicht nur im Zeichen des Betrugs, sondern auch des Mangels. Beides wird den pícaro bis zum Ende seines Lebensberichts begleiten. Die Schilderung der eigenen Herkunft steht nach der kurzen paternalen Digression völlig unter dem Einfluss der Mutter und damit der Vorherrschaft des weiblichen Prinzips. Auch dies wird schon in den ersten Sätzen angedeutet, wenn der Erzähler gleich zweimal betont, dass er im Fluss Tormes geboren sei, ist doch das Element des Wassers seit der antiken Vier-Elemente-Lehre auf der Seite symbolischer Weiblichkeit zu verorten.83 Darauf hebt auch Bourdieu in seinen ethnologischen

83 Vor allem die Vorsokratiker Thales und Heraklit setzen sich mit der Symbolkraft des Wassers auseinander: Während das Wasser für Thales das Urelement darstellt, aus dem alle Dinge hervorgegangen seien, misst Heraklit zwar dem Feuer dieses schöpferische Potenzial bei, kommt aber bei seinen Ausführungen zum menschlichen Sein immer wieder auf den Fluss als Metapher zu sprechen – seine Formel πάντα ῥεῖ / panta rhei (‚Alles fließt‘) und die ihm zugeschriebenen Aphorismen „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ und „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht“ sind immer noch Bestandteil des abendländischen Kanons und zielen auf das ewig Werdende, Vergängliche des menschlichen Daseins ab. Auf Heraklit bezieht sich insbesondere Nietzsche. Vgl. Wilhelm Capelle (Übers.): „Die Fragmente der Vorsokratiker“, in: ders. (Hrsg.): Die Vorsokratiker, Stuttgart 92008,

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Untersuchungen immer wieder ab und hält daran bis zu seiner letzten Studie zur männlichen Herrschaft fest. Besonders ausführlich stellt er das für die soziale Welt gültige „système de différences“84 jedoch in Le sens pratique dar, wo er postuliert, dass der für jede Gesellschaft grundlegenden Dichotomie ‚männlich vs. weiblich‘ eine Reihe von Sekundäroppositionen (u. a. ‚innen vs. draußen‘, ‚gerade vs. krumm‘, ‚weich vs. hart‘) und rituellen Praktiken zugeordnet werden, von denen ‚Feuer vs. Wasser‘ bzw. „l’opposition entre l’humide et le sec“ laut Bourdieu den wichtigsten der drei ‚Kardinalgegensätze‘ darstelle: On peut rendre raison de la distribution des activités entre les sexes […] en combinant trois oppositions cardinales : l’opposition entre le mouvement vers le dedans (et, secondairement, vers le bas) et le mouvement vers le dehors (ou le haut) ; l’opposition entre l’humide et le sec ; l’opposition entre les actions continues et visant à faire durer et à gérer les contraires réunies et les actions brèves et discontinues visant à unir les contraires ou à séparer les contraires réunis. […] L’opposition entre l’humide et le sec […] donne à la femme tout ce qui a rapport avec l’eau, le vert, l’herbe, le jardin, les légumes, le lait, le bois, la pierre, la terre […]. Mais la dernière opposition, la plus importante du point de vue de la logique rituelle, distingue les actes masculins, affrontements brefs et dangereux avec les forces liminales, labour, moisson, égorgement du bœuf, qui font intervenir des instruments fabriqués par le feu et qui s’accompagnent de rites prophylactiques, et les actes féminins de gestation et de gestion, soins continus visant à assurer la continuité, cuisson des aliments (analogue à la gestation), élevage des enfants et des animaux […], tissage […], gestion des réserves, ou […] simples rites propitiatoires.85

Was Bourdieu hier hervorhebt und materialreich ausführt, ist die Wirkmächtigkeit symbolischer Dichotomien im Rahmen der Konstruktion von Geschlechterdifferenz und deren praktische Folgen hinsichtlich der sozialen Aufgabenverteilung und der Aufteilung des sozialen Raums. Bourdieus Argumentation zielt darauf ab (und das bereits zehn Jahre vor Judith Butler), dass nichts an der Geschlechterdifferenz als naturgegeben verstanden werden kann, sondern dass biologische Faktizität (wie z. B. die Menstruation oder das Lebensalter der Frau86) durch bestimmte Zuschreibungen, die wiederum auf kollektiven Vorstellungen beruhen, gesellschaftlich umkodiert wird, was Bourdieu als „construction sociale naturalisée“

S. 132. Zu Thales vgl. Wolfgang Detel: „Das Wasser bei Thales“, in: Hartmut Böhme: (Hrsg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/M. 1988, S. 43-64. 84 Bourdieu: Le sens pratique, S. 347. 85 Ebd., S. 357, 359 (Herv. G. S.). 86 Vgl. ebd., S. 353-356.

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bzw. als „fondement en nature de la division arbitraire“87 charakterisiert. Die geschlechtsspezifischen Praktiken sind demnach einerseits das Resultat solcher Zuschreibungen und konstituieren andererseits den geschlechtlichen Habitus. Die Vorstellung vom Wasser als Element des Weiblichen hat eine solch lange Tradition und ist daher so tief im kulturellen Bewusstsein verankert, dass sie die legitimatorische Grundlage liefert für geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und das Prinzip der männlichen Herrschaft.88 Wie der Schilderung von Lazarillos Herkunft deutlich zu entnehmen ist, befindet sich die Mutter im Inneren der Mühle („mi madre una noche en la aceña“), während der Vater auf dubiose Beutezüge geht und schließlich – so zumindest die postmortale Imago-Konstruktion – als heldenhafter Krieger (d. h. männliche Praktiken, kurze und gefährliche Konfrontationen mit den Grenzkräften ausübend) sein Leben lässt. Die Mutter hingegen bleibt die Müllerin auf dem Fluss und gebiert ihren Sohn eben dort („De manera que con verdad me puedo decir nascido en el río”). Lazarillos Geburt findet demnach nicht nur biologisch durch weibliche Schöpfung statt, sondern durch den Ort des Flusses wird er auf symbolischer Ebene in die Welt des Weiblichen hineingeboren, womit die Herkunft Lazarillos doppelt weiblich kodiert wird. Gaston Bachelard unterscheidet in seinen Ausführungen zur Imaginationskraft des Wassers zwischen den stehenden Gewässern, die durch vertikale Tiefe und Düsternis als Todeswasser imaginiert werden („L’eau est ainsi une invitation à mourir“89), während fließende Gewässer eher regenerierende Kräfte freisetzen. Der Fluss, in dem Lazarillo geboren ist und den er sich als Namenszusatz erwählt hat, deutet auf eine Geburt im Zeichen eines weiblichen Werdens hin. Wenn man nun weiblich – durchaus im zeitgenössischen Sinne – als ‚nicht-männlich‘ definiert, wird der Einfluss auf das weitere Leben der Titelfigur plausibel, denn Lazarillo wird im Abgleich mit den androzentrischen normativen Vorgaben niemals männlich sein. Hartmut Böhme kommt in seiner Kulturgeschichte des Wassers auch auf die erotisch-zerstörerischen Kräfte des Wassers im Zusammenhang mit weiblicher Symbolik zu sprechen, so etwa mit Blick auf mittelalterlich-mythologische Figuren wie Sirenen oder Undinen. Er sieht hier eine Sehnsucht „nach Entgrenzung

87 Bourdieu: La domination masculine, S. 14. 88 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an Theweleits Männerphantasien, die Pionierstudie der deutschsprachigen Männlichkeitsforschung, in der ebenfalls – wenngleich aus psychoanalytischer Sicht – das Fluide dem Weiblichen zugeordnet und das Flutende als Hauptgefahr für das männliche Prinzip dargestellt. Vgl. Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1, S. 256-303. 89 Gaston Bachelard: L’Eau et les Rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1942, S. 68.

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und Auflösung im archaischen Element des Urwassers“ am Werk in der „mütterlichen Matrix“, die im Lazarillo überdeutlich markiert wird. „In der erotischen Verschmelzung von Frau und Wasser“, so Böhme weiter, „trägt die Frau das Doppelgesicht von Eros und Tod, Verführung und Schuld, ist sie gespalten in das Zauberwesen des Unglücks und die imaginäre Wunschfigur dessen, was Gottfried Benn die ‚thalassale Regression‘ [...] nennt.“90 Hier schließt sich der bildhafte Kreis um die Mutterfigur, die gleichzeitig Lebensspenderin, Verführerin und Arbeiterin (molinera) sowie schließlich Unheilsbotin ihres Sohnes ist, d. h. der Strom (und das Mühlenrad) steht ebenfalls – im Sinne Heraklits – als Metapher für das Wirken Fortunas. Darüber hinaus ist sie eine listige Geschichtenerzählerin, die kreative Nachlassverwalterin ihres Mannes und – auch dafür steht das Bild des Stroms – Initiatorin des Erzählflusses und damit ausschlaggebend für den Werdegang und das literarische Schaffen ihres Sohnes. Alles in allem liegen damit sowohl die narrativ hergestellte Konstruktion des Vaterbildes als auch das Fundament der gleichermaßen narrativ hervorgebrachten männlichen Identität des Sohnes in den Händen der Mutterfigur. Vor diesem Hintergrund erscheint die Rückkehr der Mutter am Ende des Romans in Gestalt der untreuen Ehefrau geradezu als zwingende Konsequenz, bringt diese doch den Erzähler erst dazu, seine Lebensgeschichte, die eben auch die Geschichte eines mehr oder minder erfolgreichen impression management darstellt, öffentlich zu machen bzw. zu literarisieren. Weibliche astutia liegt somit dem Roman zugrunde – sowohl im moralischen Verständnis von engaño als auch im Sinne von Kreativität und literarischer Imagination. Dass das Bild des fließenden Stroms eine der wiederkehrenden Metaphern für diese Art von weiblich kodierter Kreativität ist, wird noch zu zeigen sein. Es wurden in der Lazarillo-Forschung auch Versuche unternommen, der Flussgeburt des Protagonisten weitere prominente Vorbilder zur Seite zu stellen. Bereits in den 1940er Jahren stellt Ángel González Palencia die These auf, dass es sich hierbei um einen deutlichen Hinweis auf eine Parodie der im 16. Jahrhundert besonders populären Ritterromane handele, was sich eben durch die Tatsache herleiten lasse „que Lázaro nace dentro el río Tormes, así como Amadís es hallado

90 Hartmut Böhme: „Eros und Tod im Wasser – ‚Bändigen und Entlassen der Elemente‘. Das Wasser bei Goethe“, in: ders. (Hrsg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/M. 1988, S. 208-233, hier: S. 212.

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en el mar cual nuevo Moisés, o Palmerín expuesto entre palmas y olivos.“91 Kruse erteilt dieser These eine überraschend harsche Absage: „In dem Lazarillo de Tormes soll die Bemerkung ‚[...] con verdad me puedo dezir [sic!] nascido en el río‘ den Beinamen des Helden erklären und darüber hinaus auf den Fluß des Lebens hinweisen, dessen Unbeständigkeit Lazarillo von Anfang an unterworfen ist.“92 Für Kruse steht außer Zweifel, dass einzig die „Lehrmeisterin Celestina“93 als intertextuelle Patin infrage kommt – sowohl was den Beginn des Romans angeht als auch die Konzeption der Mutterfigur.94 Auch in Auseinandersetzung mit Jauß’ These vom Lazarillo als Travestie von Augustinus’ Confessiones formuliert sie: „Der Autor des Lazarillo hat bei seinen Anspielungen nicht die christliche Bekenntnisliteratur oder das mystische Erbauungsschrifttum vor Augen gehabt, sondern er hat sich an das Vorbild der damals allbekannten Celestina gehalten.“95 So richtig es ist, den Einfluss der Celestina für die gesamte Gattung der novela picaresca zu betonen, so erscheint doch eine Reduktion auf die Celestina als alleiniges Vorbild als zu einseitig. Wenn Kruse gerade im Hinblick auf „parodistische Elemente“ lediglich Rojas’ Klassiker – und in Teilen noch Apuleius’ Goldenen Esel – als einzige, aus philologischer Sicht vertretbare Quellen nennt, und man zudem bedenkt, dass diese beiden Werke in sich schon stark parodistischen Charakter aufweisen, verengt man das kreative Potenzial des des Lazarillo auf unnötige Weise. Wie bereits anhand des „Celestina“-Eintrags in Covarrubias’ Tesoro demonstriert, gehört die Celestina tatsächlich zu den „allbekannten“ Werken der Zeit, aber für Montalvos Amadís-Zyklus dürfte dies noch umso zutreffender sein96 – von biblischen Prätexten ganz zu schweigen. Zwar ist Kruse beizupflichten,

91 Ángel González Palencia: Del ‚Lazarillo‘ a Quevedo. Estudios histórico-literarios, Madrid 1946, S. 11. Vgl. auch Francisco Maldonado de Guevara: Interpretación del Lazarillo de Tormes, Madrid 1957, S. 27: „La esencia, pues, de la novela, representada en su origen por El Lazarillo, consiste [...] en la pugna contra la ficción caballeresca y contra su héroe. Frente al héroe surge, con caracteres ilimitados y negativos, el antihéroe.“ 92 Kruse: „Die parodistischen Elemente im Lazarillo de Tormes“, S. 294. 93 Ebd., S. 295. 94 Ebd., S. 299: „[...] sondern auch die Gestalt der Mutter hat der Autor des Lazarillo nach dem Vorbild der Celestina konzipiert.“ 95 Ebd. 96 Zur enormen Popularität und Verbreitung des Amadís vgl. Albert Gier: „Garci Rodríguez de Montalvo: Los quatro libros del virtuoso cavallero Amadís de Gaula“, in: Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Der spanische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 21995, S. 11-29, bes. S. 11-14.

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wenn sie darauf hinweist, dass weder im Amadís noch im biblischen Moses-Mythos oder in verwandten Heldenviten die Geburt auf dem Wasser stattfindet, sondern dass die Kinder von ihren Müttern auf dem Fluss ausgesetzt werden.97 Zieht man jedoch in Betracht, dass auch Lazarillo – zumindest was die Erzählzeit angeht98 – bereits unmittelbar nach der Flussgeburt von seiner Mutter ‚ausgesetzt‘ wird und dass der Umgang mit bekannten Motiven in der novela picaresca ohnehin eher frei gestaltet ist, scheint auch dieser Einwand eher vernachlässigenswert zu sein. Wenn wir nun allen Einwänden zum Trotz davon ausgehen, dass die doppelte Betonung des Umstands, dass der Ich-Erzähler im Fluss geboren wurde, bei den Lesern Reminiszenzen an den populären Amadís und damit mittelbar an den nicht minder bekannten biblischen Moses-Mythos erweckt, dann erschöpft sich diese Selbstzuschreibung nicht nur in ihrer Funktion als ironische Replik, sondern muss im Rahmen der Männlichkeitsinszenierung des Schelms näher betrachtet werden. Beide Figuren, Amadís und Moses, verkörpern das Motiv der Aussetzung und Errettung des Heldenkindes, beide werden von ihren Müttern in einem Fluss ihrem Schicksal überlassen, beide haben danach auf episodisch angelegte Weise Abenteuer und Prüfungen zu bestehen, bevor sie schließlich das Bild des Männerhelden inkorporieren. Dieses Narrativ ist keineswegs nur auf die beiden genannten Figuren beschränkt, sondern kommt in weiteren prominenten Mythen und Erzählungen zum Einsatz, so etwa in der mittelalterlichen Gregorius-Legende99, die ebenfalls seit 1300 durch die Exempelsammlung Gesta romanorum europaweit verbreitet war. Fest steht ohne Zweifel, dass die motivischen Analogien in der Moses- und Amadís-Geschichte hinsichtlich der Geburtsdarstellung des Helden offenkundig sind, wie auch Juan Manuel Cacho Blecua, Herausgeber des Amadís, hervorhebt: „Los modelos folclóricos, la tradición bíblica y la artúrica han podido suministrar ejemplos sobre los que el autor del Amadís elabora magistralmente estos primeros capítulos.“100 Das Motiv des Wassers steht im Heldenepos für Geburt und Wiedergeburt und eine erste Prüfung im Kampf gegen die Elemente: „Protegido por

97

Vgl. Kruse: „Die parodistischen Elemente im Lazarillo de Tormes“, S. 294.

98

Die erzählte Zeit beträgt immerhin rund zwölf Jahre.

99

Vgl. dazu Walter Pabst: „Die Selbstbestrafung auf dem Stein. Zur Verwandtschaft von Amadís, Gregorius und Ödipus“, in: ders.: Themen und Texte. Gesammelte Studien zur romanistischen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Berlin 1977, S. 73-91.

100 Garci Rodríguez de Montalvo: Amadís de Gaula, hrsg. von Juan Manuel Cacho Blecua, 2 Bde., Madrid 1991, hier: „Introducción“, Bd. 1, S. 139.

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los elementos cósmicos, el niño se convierte en héroe, rey o santo. Desde el principio, tras la superación de este obstáculo inicial se nos presenta como un elegido, cualidad destacada y necesaria para la condición heroica.“101 Man darf davon ausgehen, dass dieses archetypische Heldennarrativ in der Frühen Neuzeit weitläufig bekannt war, und das nicht nur den des Lesens Kundigen, sondern durch mündliche Vermittlung selbst den breiteren Schichten der Bevölkerung. Es geht bei der deutlichen Bezugnahme auf das Narrativ der Heldengeburt im Lazarillo gleichwohl nicht um die Zitation eines konkreten, bereits bestehenden und populären Mythems. Es ist mithin unerheblich zu überprüfen, ob der anonyme Autor hier eher auf den Amadís, den Gregorius-Stoff oder auf die biblische MosesLegende rekurriert. Vielmehr dürfte dieses Motiv im 16. Jahrhundert bereits topischen bzw. stereotypen Charakter besessen haben,102 so dass es sich hier eher um die pikareske Ermächtigung des Heldenmythos schlechthin handelt, die unter Hinzunahme wohlbekannter, leicht wiedererkennbarer narrativer Versatzstücke hergestellt wird. Daher haben wir es hier eher mit einer strukturellen als mit einer rein motivischen Übernahme zu tun, was durch die sich anschließende episodisch angelegte Erzählstruktur des Lazarillo bestätigt wird. Die Heldengeburt wäre demnach zunächst einmal als narrativer Ausgangspunkt zu deuten. Was jedoch im Lazarillo den fundamentalen Unterschied zu den zitierten Heldenviten ausmacht, ist die Erzählperspektive. Hier erzählt kein auktorialer Erzähler, sondern der ‚Held‘ selbst, oder besser formuliert: der Schelm, der sich als Held verkleidet.103 Nach allem bislang Gesagten fungiert der Name Lázaro de Tormes mitsamt seinem enormen Assoziationsreichtum lediglich als karnevaleske Maske im Sinne von nominaler Verkleidung. Die evozierten Bilder des Heiligen, des Adeligen und des

101 Ebd., S. 137. Cacho Blecua bezieht sich hier konkret auf den Religionsphilosophen Mircea Eliade. 102 Vgl. dazu Pedro Salinas: „Der literarische ‚Held‘ und der spanische Schelmenroman. Bedeutungswandel und Literaturgeschichte“, in: Helmut Heidenreich (Hrsg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 192-211, hier: S. 198: „Ich halte es nicht für gewagt zu behaupten, daß bis zum 16. Jahrhundert der einzige Bewerber um die Stelle des Protagonisten in einem Werk der heldische Mensch war. Darüber hinaus meine ich, daß der Charakter des Helden, sofern er von Kritikern sorgfältig studiert und analysiert wird, noch im 16. Jahrhundert Anzeichen einer Tendenz zum Stereotypen erkennen läßt.“ 103 Pereira Zazo setzt ebenfalls den Schreibprozess mit einer karnevalesken Maskerade gleich: „a clear identification of writing and clothing“, in: ders.: „Publicity and Fictionality“, S. 32.

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Helden überlagern sich gegenseitig und verdecken den substanzlosen Kern pikaresker männlicher Identität: „Jene Gestalten, die uns glauben lassen wollen, sie seien Helden, sind vielmehr Menschen des Nichts, hommes de néant.“104 Diese Diagnose erinnert einmal mehr an Nietzsches Aphorismus zum Beruf des Schauspielers, der vor allem Abkömmlingen niederer Familien einen ausgeprägten Hang zur Schauspielerei attestiert. Man kann diese rhetorische Selbstermächtigung des pícaro als rein ironisches Spiel mit kulturell vorgefertigten Erzählmustern interpretieren, als „Parodie des Helden-Mythos schlechthin.“105 Kaum zufällig jedoch werden hier mit dem Heiligen, dem Adeligen sowie dem ritterlichen Helden genau jene Männlichkeitsmuster ins Spiel gebracht, die im Siglo de Oro als Idealbilder, ja als hegemoniale Inszenierungsmodelle fungieren und die dann auch im Weiteren ihrer Scheinhaftigkeit überführt werden: der Vater als Kriegsheld, der Kirchenmann als Heiliger, der Escudero als Adeliger – all jene Attribuierungen werden im Verlauf des Romans als trügerisch und damit als Masken von Männlichkeit enttarnt. Pereira Zazo hebt in seiner Analyse des Lazarillo die Rolle der Öffentlichkeit, von „matters of publicness and exposure“106 hervor. Der erwachsene Erzähler bekleidet im Moment des Aufschreibens bereits das Amt des pregonero, ist also eine öffentliche Figur; durch den Akt des Aufschreibens seiner Lebensgeschichte wird diese ebenfalls publik gemacht: „this act of bringing some kind of information or other to the public is also behind Lázaro’s desire to publish his autobiography.“107 Lázaro als Erzähler stellt demnach unter Beweis, dass er die Lektionen, von deren Erlernen die folgende Geschichte im Wesentlichen handeln wird, bereits gelernt hat, nämlich dass es in der ihn umgebenden Gesellschaft primär um das „goal of visibility“ geht und zwar im Sinne einer „response to the opacification of the political structure.“108 Anders ausgedrückt geht es um das erfolgreiche Konstruieren eines persönlichen Scheins, denn Schreiben bedeutet dieser Logik zufolge den Aufbau einer öffentlichen persona – immerhin sind sämtliche seiner Herren Vertreter des öffentlichen Lebens, selbst der blinde Bettler. Das autobiografische Schreiben dient dem Erzähler dementsprechend als adäquates Medium zur praktischen Anwendung all jener Strategien, die ihm sein lebenslanger Lernprozess zugeführt hat, nämlich rhetorische Manipulationen und Oberflächendesign zum

104 Salinas: „Der literarische ‚Held‘“, S. 203. 105 Kruse: „Die parodistischen Elemente im Lazarillo de Tormes“, S. 296. 106 Pereira Zazo: „Publicity and Fictionality“, S. 21. 107 Ebd., S. 22. 108 Ebd., S. 27.

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Ziel des Aufbaus eines männlichen Habitus. Greenblatt spricht in diesem Zusammenhang von dem für die Renaissance typischen Hang öffentlicher, vornehmlich männlicher Personen zum „self-fashioning“.109 Es geht daher alles in allem um Fiktionalität, die bereits im Namen Lazarillo de Tormes zum Ausdruck gebracht wird. Männlichkeit bzw. männlicher Habitus sind hier nicht nur abgekoppelt von biologischen Parametern, sondern hängen zusammen mit sozialer Distinktion (Stand und Ehre), mit kreativem impression management (Fiktionalität und Narrativität) sowie mit bestimmten kodifizierten Praktiken und deren Imitation (Performativität). Zurückkommend auf die familiäre Ausgangssituation wird dort bereits dargestellt, dass ein Wert wie Ehrlichkeit kaum Vorteile einbringt, ist es doch Lazarillos noch unbekümmertes Wesen, das das Schicksal seines Stiefvaters und Ernährers besiegelt und die zusammengewürfelte Familie auf immer entzweit: Y probósele cuanto digo y aun más; porque a mí con amenazas me preguntaban, y, como niño, respondía y descubría cuanto sabía, con miedo: hasta ciertas herraduras que por mandado de mi madre a un herrero vendí. Al triste de mi padrastro azotaron y pringaron, y a mi madre pusieron pena por justicia sobre el acostumbrado centenario, que en casa del sobredicho comendador no entrase ni al lastimado Zaide en la suya acogiese (L 20).

Hierbei handelt es sich wohlgemerkt um Lazarillos erste Handlung innerhalb der Kerngeschichte. Sie erinnert wohl nicht zufällig an die Ausgangssituation der Rahmenerzählung, da es sich bei beiden um Verhörsituationen handelt, denen ein deutliches Machtgefälle zugrunde liegt. Der Einschub „como niño“ steht für die Einfältigkeit des Jungen und zeigt ihm – noch vor der Initiation bei seinem ersten Herrn –, dass Ehrlichkeit verheerende Folgen haben kann.110 Auch haben wir es

109 Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare, Chicago 1980; vgl. zum typisch männlichen Charakter des self-fashioning Ruth El Saffar: „Literary Reflections on the ‚New Man‘: Changes in Early Modern Europe“, in: Revista de Estudios Hispánicos 22 (1988), S. 1-23. 110 Für Javier Herrero mutet diese Episode besonders tragisch an, da der Stiefvater Zaide für ihn die aus moralischer Sicht einzige vollkommene Figur des Romans darstellt: „It is important to observe that only two values survive the devastating sarcasm of the book: family affection, which moves Tomé González and Zaide to risk their lives for their children, and the charity and courage of the alienated – humble women in some incidents and here a black slave, the hero of the drama. That Zaide is a black and a slave is the most significant aspect of this episode: the strongest moral character of

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hier mit einer der wenigen Szenen zu tun, in denen Gefühle – „con miedo“ – geschildert werden. Auch diese fallen im weiteren Verlauf der Geschichte der Sozialisationsarbeit des Protagonisten zum Opfer und werden gemeinsam mit dem Weiblichen abgespalten. In der direkten Gegenüberstellung der beiden Verhörsituationen zu Beginn des Romans wird also deutlich, dass Lázaro offenbar einen Lernprozess durchlaufen hat, da er als Erzähler weitaus versierter den Vorwürfen der Mächtigen zu begegnen weiß, also verstanden hat, dass die Wahrheit gefährlich sein kann. Fassen wir zusammen: Auf der Ebene der Diegese lernen wir den Protagonisten als Abkömmling der unteren Schichten kennen, was vor allem durch die Charakteristika von Mutter (Müllerin, Prostituierte), Vater (Müller, Dieb, Sträfling, möglicherweise Maure) und Stiefvater (Maure, Dieb) manifest wird. Die Vaterfiguren zeichnen sich durch Abwesenheit und Unmoral aus, weshalb die Schilderung von Geburt und Herkunft unter dem Einfluss des Weiblichen steht, das – entsprechend dem tradierten Weiblichkeitsbild – als dämonisch und moralisch fragwürdig dargestellt wird. Symbolisch angereichert wird diese Schilderung durch das Vorherrschen des Elements Wasser, das sinnbildlich für Weiblichkeit und – Bachelard zufolge – für Mütterlichkeit steht.111 Da es sich aber bei dem Fluss Tormes keineswegs um ein ruhiges Gewässer, sondern einen Strom handelt, steht das Symbol des Flusses ebenfalls für Gefahr, Gewalt und – zusammen mit dem Mühlrad – für das unbarmherzige Wirken der Glücksgöttin Fortuna, derer sich – so der Titel des Romans – unser Protagonist lebenslänglich zu erwehren hat. Ebenso entscheidend ist der damit in enger Verbindung stehende Name der Hauptfigur. Mit dem Verweis auf den armen Lazarus aus dem Lukas-Evangelium wird einerseits die soziale Herkunft noch einmal hervorgehoben. Andererseits wird Lázaro auf ironische Weise heiliggesprochen, da er einen ähnlichen Leidensweg zu durchlaufen hat wie sein biblischer Namensvetter. Das Namenspräfix de darf als Parodie auf die Titelversessenheit der spanischen Gesellschaft und damit auf das gefälschte symbolische Kapital erschlichener Adelsbriefe gedeutet werden. Tormes rekurriert sowohl auf den Fluss, d. h. auf die geografische Herkunft

the book is not a Spaniard and has no place in the Spanish social hierarchy (except as an outcast). Thus he can be excluded from the almost universal condemnation that follows.“ In: Javier Herrero: „Renaissance Poverty and Lazarillo’s Family: The Birth of the Picaresque Genre“, in: Publications of the Modern Language Association of America 94 (1979), S. 876-886, hier: S. 881. 111 Vgl. Bachelard: L’Eau et les Rêves, insb. das Kapitel „L’eau maternelle et l’eau féminine“, S. 132-152.

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im Zeichen des Weiblichen, als auch auf ‚Flussgeburten‘ wohlbekannter Heldenfiguren wie Moses von Ägypten, Amadís de Gaula oder Gregorius. Daher ergeben sich auf der Ebene des Namens Identifikationen mit dem Heiligen, dem Adeligen und dem Helden, die gleichzeitig als Fiktionsmarker erkannt werden können. Der Erzähler ist sich also der positiv besetzten Modelle zeitgenössischer männlicher Idealvorstellungen sehr bewusst und stellt diese als fiktional und maskenhaft aus. So wie bereits seine Mutter das Erbe ihres Mannes posthum in eine Heldenvita umkodiert, so entwirft der Erzähler ein möglichst positives Bild seiner selbst, um seiner eigenen Abjektion entgegenzuwirken. Das Medium der Sprache, wohlgemerkt der geschriebenen Sprache, dient ihm dabei immer wieder als Vehikel der karnevalesken Selbstinszenierung, die aus rhetorischer Sicht dem Strukturmuster der Inversion folgt. Das ganze Ausmaß der damit verbundenen Gesellschaftskritik offenbart sich allerdings erst am Ende des Romans. Aber bereits zu Beginn wird deutlich, dass männlicher Habitus – wie im Übrigen auch das vorherrschende Bild stereotyper Weiblichkeit – im Wesentlichen aus Fiktion, d. h. aus dem heuchlerischen Nacheifern illusionärer Ideale besteht. Die narrative Struktur pikaresker Männlichkeit, so ließe sich abschließend konstatieren, jenes Auf und Ab im Widerstreit mit Fortunas Launenhaftigkeit, nimmt am Ort des maternalen Ursprungs ihren Ausgang, wobei sich bereits der Akt des Erzählens als Versuch erweist, diesen zu überwinden und damit konstitutiv ist für den männlichen Habitus des pícaro, der doch erst dadurch in der Erzählung seine eigene Subjektivität erlangt.

4.3 Z WEITE G EBURT Im klassischen Helden-Narrativ wird die Abnabelung vom mütterlichen Schoß häufig prominent in Form einer geradezu magischen Schwellenerfahrung geschildert, die einer Wiedergeburt gleichkommt.112 Diese Loslösung vom maternalen Ursprung stellt einen Übergangsritus dar, einen rite de passage im Sinne Arnold van Genneps113, dem sich dann in Form einer oder mehrerer Prüfungen die Initiation des Helden in die patriarchal bestimmte Gesellschaft oder zumindest in eine rein homosoziale Gruppierung anschließt. Man könnte sagen: dem maternalen

112 Vgl. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, S. 103. 113 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage) [1908], Frankfurt/M./New York/Paris 32005.

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Verlust folgt das paternale Prinzip – van Gennep spricht von der „sozialen Pubertät“114, um deutlich zu machen, dass der Vergesellschaftungsprozess des Individuums nicht zwangsläufig an biologische Entwicklungsstufen gekoppelt ist, sondern nach kulturellen Mustern bzw. Skripten organisiert ist. Die Herausbildung des männlichen Habitus erfolgt demnach auf der Grundlage eines Trennungsaktes, der zunächst Instabilität, Melancholie und Angst hervorruft, was laut Erhart zu den grundlegenden Psychodramen männlicher Sozialisation gehört, die jeweils nach einem festem Drehbuch ablaufen und die narrative Struktur von Männlichkeit in verschiedene Etappen einteilen.115 Für Freud gehört dieses Psychodrama der Abjektion des Maternalen, das er bekanntlich als Ödipuskonflikt bezeichnet, zu den grundlegendsten Erfahrungen im Leben des Mannes überhaupt – hier werden bereits vor der Pubertät die wichtigsten Weichen gestellt. Es geht im Helden-Narrativ jedoch nicht um die frühkindliche Verwerfung der Mutter als Liebesobjekt, sondern um die realiter erfolgende Trennung des Jünglings von seiner Mutter, die in der Regel sehr viel später stattfindet. Van Gennep untergliedert sein Modell des rite de passage in drei verschiedene Subkategorien, die jeweils ein spezifisches Stadium des Übergangs beschreiben: „Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase (die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase) und Angliederungsriten die Integrationsphase.“116 Für den konkreten Fall der narrativen Struktur von Männlichkeit bedeuten diese Etappen folgende Skripte: Ablösung von der Mutter, räumlicher Übergang und schließlich Initiation in die androzentrische Gesellschaftsordnung. Auch Stefan Horlacher betont die Relevanz männlicher Initiation im Rahmen des Sozialisationsprozesses und kommt zum Schluss, dass Männlichkeit von Anfang an weniger ein homogenes und klar umrissenes Gebilde darstelle, sondern vielmehr „einen ungewissen und mehrdeutigen Status hat und […] durch einen Kampf, eine schmerzhafte Initiation oder eine lange und manchmal demütigende ,Lehrzeit‘ erworben werden muß.“117 Man kann also sagen, „dass zur erfolgreichen Darbietung

114 Ebd., S. 73. 115 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 177. 116 Van Gennep: Übergangsriten, S. 21. 117 Stefan Horlacher: „Überlegungen zur theoretischen Konzeption männlicher Identität. Ein Forschungsüberblick mit exemplarischer Vertiefung“, in: ders. (Hrsg.): ‚Wann ist die Frau eine Frau?‘ ‚Wann ist der Mann ein Mann?‘. Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Würzburg 2010, S. 195-238, hier: S. 196.

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von Männlichkeit eine abgeschlossene Erzählung mit häufig stereotypem Episodeninventar zählt.“118 Lazarillos rite de passage beginnt mit dem erzwungenen Abschied von der Mutter, der trotz einiger Tränen („ambos llorando“, L 22) doch eher emotionslos verläuft. Mit den Worten „Valete por ti“ (L 22) übergibt ihn die Mutter in die Hände des erstbesten Mannes, seines Zeichens blinder Bettler, nicht ohne ihren Sohn darauf hinzuweisen, dass man sich wohl niemals wiedersehen werde. Warum ein Blinder? Volker Roloff ruft in Erinnerung, dass das Narrativ des Blinden und seines Jungen in der mittelalterlichen Farcentradition ein überaus populärer Stoff war, d. h. den Lesern der Zeit höchstwahrscheinlich bekannt gewesen sein dürfte: Das für die Struktur und Erzählweise des Lazarillo konstitutive erste Kapitel ist eine Variante des im Mittelalter außerordentlich beliebten und weitverbreiteten Typs der GarçonAveugle-Farce, die vor allem in Frankreich schon seit dem 13. Jh., aber auch in Spanien (z. B. – vor Lazarillo de Tormes – bei Sánchez de Badajoz und Sebastián de Horozco) in einer Vielzahl von Texten belegt ist.119

Durch den intertextuellen Bezug zu diesem leicht wiedererkennbaren Farcenstoff wird sogleich eines der zentralen Themen des Lazarillo eingeführt, nämlich das spannungsreiche Herr-Diener-Verhältnis, durch das vermittels karnevalesker Komik das mundus-inversus-Prinzip narrativiert wird, triumphiert doch am Ende plötzlich die „drastische, böse Schadenfreude“ des pícaro über den „schließlich übertölpelten, bestraften Mächtigeren.“120 Nicht zufällig liest sich diese erste Episode wie eine abgeschlossene Kurzgeschichte, was den Exempelcharakter hervorhebt. Die Umkehrbarkeit des Machtgefüges, in dem Lazarillo zunächst der klar Unterlegene ist, relativiert durch die farcentypische „Schlau-Dumm-Opposition“ das hierarchische Gefälle zweier Figuren, die wohlgemerkt beide aus dem untersten Stand der Gesellschaft stammen. In der zweiten Episode mit dem gierigen Kirchenmann sieht das bereits ganz anders aus, da Lazarillo am Ende kein Grund zum

118 Wieland Schwanebeck: „Männlichkeit in der Literaturwissenschaft“, in: Gender Glossar / Gender Glossary (http://gender-glossar.de, letzter Zugriff: 09.01.2018). 119 Roloff: „Mittelalterliche Farcenkomik“, S. 62; vgl. auch Gustave Cohen: Études d’histoire du théâtre en France au Moyen Âge et à la Renaissance, Paris 1956, darin bes. das Kapitel „La scène de l’aveugle et son valet“, S. 125-151; vgl. auch Erik von Kraemer: Le type du faux mendiant dans les littératures romanes depuis le moyen âge jusqu’au XVIIe siècle, Helsingfors 1944. 120 Roloff: „Mittelalterliche Farcenkomik“, S. 63.

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Triumph über seinen Antagonisten gegeben wird. Insofern liegt es nahe, den Reigen der Herren mit einem Repräsentanten aus dem Prekariat zu eröffnen, der jedoch aufgrund seines Gebrechens – Blinde genossen unter den Bettlern aufgrund von Aberglauben eine gewisse Sonderstellung und waren daher besonders erfolgreich beim Almosenerwerb – deutlich über dem Sohn des Diebs und der Prostituierten steht. Gleichwohl wäre eine ähnliche Rache, durch die Lazarillo immerhin zum ersten Mal unter Beweis stellt, dass er seine erste Lektion gelernt hat, ein Skandalon, wenn sie z. B. an seinem zweiten oder dritten Herrn ausgeübt worden wäre. Da es sich beim Lazarillo de Tormes – zumindest, was sein narratives Design angeht – zuallererst um einen Rechtfertigungsbrief handelt, wäre die Verletzung der Ständeklausel durch transgressive Gewalt kaum entschuldbar gewesen, während das Schicksal des Blinden und vor allem Lazarillos offen zur Schau gestellte Schadenfreude hinsichtlich der Ständenormen und -grenzen kaum problematisch ist und eher für Gelächter als Empörung sorgt.121 Ein weiterer Grund für die Wahl des ersten Herrn scheint im Zusammenhang von Blindheit und Justiz zu liegen. Immerhin taucht im ersten tractado gleich zweimal auf ironische Weise der Ausdruck „por justicia“ (L 14, 20) auf – beide Male beschreibt der Erzähler die Bestrafung seiner Vaterfiguren für ihre kleinkriminellen Handlungen. Köhler macht darauf aufmerksam, dass im ersten Fall ein ironischer Bezug zu den bereits erwähnten Seligpreisungen aus dem MatthäusEvangelium hergestellt wird, aber auch auf die im Spanischen mögliche „maliziöse Doppeldeutigkeit: Es kann bedeuten ‚um der Gerechtigkeit willen‘, aber auch ‚durch die [unerbittliche] Justiz‘.“122 Zudem taucht der Ausdruck zum dritten Mal im letzten tractado kurz vor Ende des Romans auf (L 129), als Lázaro bereits öffentlicher Ausrufer ist. Die Allegorie der Justitia wird seit dem Spätmittelalter mit Waagschale, Richtschwert und Augenbinde dargestellt. Bezüglich der die Blindheit visualisierenden Augenbinde schreibt Ute Gerhard:

121 Roloff (S. 63) bemerkt in diesem Zusammenhang, dass in der mittelalterlichen Farcenkomik Spott gegenüber Behinderten durchaus keine Seltenheit ist und eng mit gesellschaftskritischen Impulsen verbunden ist: „Die ‚besondere mittelalterliche Note‘ liegt, [...], darin, daß der Herr, der hier zum Opfer der Komik wird, ein Blinder ist: Beispiel für die Gebrestenkomik des Mittelalters, die ja – schon auf Grund der karnevalesken Legitimation des Lachens in der Farce – keinerlei moralische Skrupel gegenüber Behinderten kennt. Es ist verständlich, daß dieser Farcentyp, mehr als andere, durch die Identifikationsfigur des am Ende schlaueren Jungen niederer Herkunft sozialkritische Akzente setzen kann.“ 122 Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes, S. 12, Fn 9.

236 | V IR INVERSUS Die Bedeutung dieser Augenbinde ist strittig, denn mit der Blindheit der Justitia kann zweierlei, durchaus Widersprüchliches gemeint sein: Entweder sie besagt, daß gerechte Urteile nur ‚ohne Ansehen der Person‘ zu fällen sind, wenn Unparteilichkeit gewährleistet sein soll. Oder diese Metaphorik verweist zugleich auf die Kritik, daß Justitia blind sein soll für die Tatsachen und Rechtsfolgen und daß ein genaueres Hinsehen auf die sozialen Unterschiede und Mißstände mehr Gerechtigkeit stiften könnte. Diese Interpretation leitet offensichtlich die erste bekannte Darstellung einer Justitia mit Binde, die nicht zufällig am Beginn der Neuzeit erscheint und zwar als Spottbild in Sebastian Brants Narrenschiff von 1494, auf dem ein Narr von hinten der Justitia die Augen verbindet. Doch letztlich bleibt die Doppeldeutigkeit, auch im Umgang mit Recht, das immer beides beinhalten kann, sowohl Freiheit als auch Zwang, das ein Mittel sein kann zur Befreiung aus Unterdrückung aus Abhängigkeit wie auch zur Absicherung bestehender Machtverhältnisse, das auf die Beseitigung von Ungleichheit zielt und zugleich die Verschiedenheit der Menschen anerkennen und berücksichtigen sollte.123

Es ist bemerkenswert, dass die Blindheit Justitias aus einem literarischen Milieu stammt, das dem des Schelmenromans verwandt ist bzw. diesem unmittelbar vorausgeht. Brants Narrenschiff, das 1497 von Jakob Locher ins Lateinische übertragen wurde (Stultifera Navis) und rasch europaweite Verbreitung erfuhr und damit zu den populärsten deutschsprachigen Büchern der Zeit wurde, übt mithilfe des moralsatirischen Narrenspiegels scharfe Gesellschaftskritik, die – darin der novela picaresca ähnlich – vornehmlich auf die Entlarvung zeittypischer menschlicher Laster abzielt. Der Erfolg des Buchs wurde noch gesteigert durch die insgesamt 103 Holzschnitte, von denen höchstwahrscheinlich 73 von Albrecht Dürer stammen, so auch die bereits erwähnte Illustration zum 71. Kapitel „Zancken vnd zu gericht gon“, in der ein Narr Justitia die Augenbinde anlegt (Abb. 5). Somit wird ersichtlich, dass die ursprüngliche Bedeutung der Visualisierung Justitias als blinde Allegorie keineswegs positiv im Sinne von Unparteilichkeit zu verstehen ist, sondern vielmehr auf eine genuin spöttische Motivation zurückzuführen ist.

123 Ute Gerhard: „Einleitung“, in dies. (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 11-22, hier: S. 11.

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Abb. 5: „Ein Narr verbindet Justitia die Augen“ aus: Sebastian Brant: Das Narrenschiff (1494), Holzschnitt, Albrecht Dürer zugeschrieben.

Im Kontext des Kapitels, in dem es darum geht, dass die Zeitgenossen wegen jeder Nichtigkeit vor Gericht ziehen, um lediglich die eigenen Interessen durchzusetzen und notfalls sogar die Richter manipulieren und damit die Gerechtigkeit fliehen,124 tritt der Narr, der im dazugehörigen Holzschnitt Justitia die Augen verbindet, als entlarvende Figur auf, so dass, wie Christina Niemann konstatiert, nur eine Deutung möglich ist: In Anbetracht dessen lässt sich der Holzschnitt nur so verstehen, dass der Narr versucht, Justitia durch das Verbinden ihrer Augen zu manipulieren und zu hintergehen – damit sie eben nicht Recht spricht, sondern das Urteil im Sinne des Narren (Unrecht) fällt. Da sich Justitia aber nicht manipulieren lasse, komme nur ein Narr auf so eine Idee. Die Augenbinde ist in diesem Zusammenhang eindeutig negativ konnotiert und meint Blindheit und Ungerechtigkeit.125

Dass Brants Narrenschiff im frühneuzeitlichen Spanien – zumindest in der lateinischen Übertragung – wohlbekannt war, zeigt nicht zuletzt der bereits in Kap. 3.1

124 Vgl. Sebastian Brant: Das Narrenschiff, Studienausgabe hrsg. von Joachim Knape, Stuttgart 2005, S. 347-349. 125 Christina Niemann: Iustitia enim inmortalis est. Justitia-Darstellungen in Ostwestfalen-Lippe in der Frühen Neuzeit, Bremen 2012, S. 46.

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erwähnte Kupferstich „La nave de la vida picaresca“ (Abb. 3) auf dem Frontispiz von Úbedas La Pícara Justina,126 bei dem es sich möglicherweise um einen Bezug zum Frontispiz der lateinischen Übersetzung Stultifera Navis (Abb. 4) handelt. Kommen wir nach diesem kurzen Exkurs zurück zum Lazarillo: Bei der Tatsache, dass Lazarillos erster Herr blind ist, könnte es sich um eine ironische Replik auf das Wirken Justitias handeln, die dem zeitgenössischen Spott – wohlgemerkt vorgetragen durch dem Schelm verwandte Narrenfiguren – entspricht. Die mehrfache Nennung des ebenfalls als ironisch zu verstehenden Ausdrucks „por justicia“127 würde diesen Verdacht unterstützen. Was aber bedeutet diese Identifikation des blinden Bettlers mit der Allegorie der Justitia? Zunächst einmal wäre der Geschlechterwechsel anzuführen. Gerechtigkeit und Gerichtsbarkeit wären nicht länger weiblich-jungfräulich repräsentiert, sondern durch einen – wie sich herausstellen wird – äußerst verschlagenen Bettler. Das wiederum zeigt auf, dass Lazarillo nach dem Abschied vom mütterlichen Regime in eine Welt eintritt, in der Recht und Gerechtigkeit in den Händen von Männern liegen, die sich um Werte wie Moral, Ordnung und Volkswohl nur wenig scheren. Dieses satirisch gezeichnete Bild wird gleich zu Beginn der Blinden-Episode mit Leben erfüllt und bestätigt. Der Beginn von Lazarillos Lebensweg beginnt nach dem mütterlichen „Valete por ti“ mit folgender Szene: Y así me fui para mi amo, que esperándome estaba. Salimos de Salamanca, y, llegando a la puente, está a la entrada della un animal de piedra, que casi tiene forma de toro, y el ciego mandóme que llegase cerca del animal, y, allí puesto, me dijo: – Lázaro, llega el oído a este toro y oirás gran ruido dentro dél. Yo, simplemente, llegué, creyendo ser así. Y como sintió que tenía la cabeza par de la piedra, afirmó recio la mano y diome una gran calabazada en el diablo del toro, que más de tres días me duró el dolor de la cornada, y díjome: – Necio, aprende, que el mozo del ciego un punto ha de saber más que el diablo. Y rió mucho la burla (L 22f).

126 Für eine ausführliche Bildanalyse vgl. Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 258264. Ehrlicher geht sogar so weit zu sagen, dass das Titelkupfer der Pícara Justina gattungskonstituierenden Charakter besitze: „Der Kupferstecher hebt das Bild einer neuen Gattung aus der Taufe, einer Gattung, die vor seiner ingeniösen Arbeit als solche noch nicht vorhanden war, sondern erst durch den Akt der Bildgebung performativ entstand“ (S. 259). 127 Vgl. zur Doppeldeutigkeit auch ebd., S. 192.

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Der Weggang von Salamanca besiegelt zunächst rein geografisch den Abschied vom Milieu der Kindheit. Der konkrete Ausgangsort ist hier entscheidend: Die Brücke über den Fluss Tormes visualisiert den Aufbruch und fungiert buchstäblich als Ort der Passage, des Übergangs, kurz: als Schwellenort. Wie im vorherigen Kapitel bereits dargestellt, steht der Tormes, der hier überquert wird, u. a. für das Maternale, das es notwendigerweise zu überschreiten gilt, um die nächste Etappe der Wegstrecke erfolgreich zu meistern. Bezeichnenderweise thront auf der Brücke eine Steinfigur in Form eines Stiers. Die Symbolik könnte kaum deutlicher sein: Das „animal de piedra“ bezeichnet auf der Ebene geschlechtlicher, differenzbetonender Repräsentation in etwa das genaue Gegenteil des Flusses, den Lazarillo überqueren soll. Als erstes fallen die morphologischen Differenzen auf: hier die harte Skulptur aus Stein, dort der weiche und fließende Fluss. Die steinerne Brücke mit der Statue markiert demnach Lazarillos Weg in die durch männliche Standards geprägte Welt, in der es ebenso hart zugeht wie es der steinerne Stier suggeriert. Die zweite Differenz, die sich aus der Gegenüberstellung von Brücke/Skulptur und Fluss ergibt, ist jene von Kultur und Natur, wobei zwischen beiden ein klarer operationaler Zusammenhang besteht: Die männlich kodierte Kultur bändigt die weiblich kodierte Natur.128 Dass es sich nun bei der steinernen Skulptur ausgerechnet um einen Stier handelt, wurde in der Lazarillo-Forschung bereits häufig kommentiert. Zuallererst sei darauf hingewiesen, dass die römische Brücke mit dem Stier (1. Jh. n. Chr.) historisch verbürgt ist, wie man schon bei Covarrubias nachlesen kann.129 Javier Herrero sieht im Stier ein archetypisches Symbol für den Vater, für Männlichkeit sowie für das Heimatland Kastilien: [I]n the primary sense, the bull is a symbol of innate, sexual energy, of the masculine principle in its purity (that is to say, with no mixture of feminity) and consequently like he-goat, of the Father. [...] this diabolical bull is not only the blind man, the Tormes and Salamanca,

128 Dass dies nicht ganz gelingt, zeigen vereinzelte Passagen des Romans, vor allem aber das Ende, das die Wiederkehr des Weiblichen prominent in Szene setzt (vgl. Kap. 4.8). 129 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, Art: „Toro de la puente de Salamanca“, S. 48. Vgl. auch die Anmerkungen von Rico (L 22). Erst im Jahr 1885 wurde die Zerstörung des Stieres angeordnet, sein Kopf wurde in den Fluss geworfen. Später erhielt der Kopf einen Platz im Museo del Patio de Escuelas Menores, und 1954 wurde zum 400. Jahrestag der Erstveröffentlichung des Lazarillo die restaurierte Statue wieder auf einen Sockel gestellt.

240 | V IR INVERSUS but Castile itself which, with its horns, is teaching Lázaro that he has no mother, that he is alone, and that this mythical monster is ready to attack him during his helpless childhood.130

Tatsächlich steht der Stier insbesondere in der spanischen Kulturtradition für Männlichkeit, Wildheit, Kraft und Kampf. Auch wenn die noch heute als umstrittener ‚Nationalsport‘ praktizierte Corrida eine Erfindung des 18. Jahrhunderts ist, gibt es doch seit dem Mittelalter mit der tauromaquia bereits populäre Vorläufer: Hierbei handelt es sich um eine turnierartige Kampfkunst, in der ein Ritter zu Pferd gegen den Stier antreten musste, wobei es noch keine Arenen gab, sondern an öffentlichen Plätzen gekämpft wurde. Insofern erklärt sich Herreros Deutung des Stiers als Inbegriff von iberischer Männlichkeit und macht aus dem Ort von Lazarillos Übertritt in die Gesellschaft unmissverständlich einen locus virorum. Nachdem nun sowohl der blinde Lehrmeister als auch der Ort des Geschehens näher betrachtet wurden, soll nun der Akt der „gran cabalazada“ (L 23), der eingangs als Initiationsritus eingeführt wurde, eingehender analysiert werden. Zunächst betont das Adverb „simplemente“ die Einfältigkeit des Schelms, die bei Grimmelshausen gar zur Namensspenderin des Protagonisten avancieren wird und daher geradezu gattungsspezifischen Charakter besitzt. Im starken Kontrast dazu wird gleich zweifach der Teufel („el diablo de toro“, „saber más que el diablo“) ins Spiel gebracht. Auffällig ist, dass diese Attribuierung jeweils den beiden ‚Antagonisten‘ der Titelfigur zugewiesen wird: dem steinernen Stier bzw. dem Blinden. Francisco García-Rubio stellt in seiner Analyse dieser Szene die These auf, dass es sich hierbei um eine pervertierte Variante des christlichen Taufrituals handelt: „[C]onsiderando que originariamente el rito bautismal cristiano constituía el inicio del aprendizaje de la vida cristiana, la ‚gran calabazada‘ parece incidir en las mismas características iniciáticas, pero de signo contrario.“131 García-Rubio geht in seiner satanischen Lesart noch weiter und identifiziert den Blinden angesichts des Ortes als Pontifex, der gewissermaßen die Brücke in die diabolische Welt baut:

130 Javier Herrero: „The Great Icons of the Lazarillo: The Bull, the Wine, the Sausage and the Turnip“, in: Ideologies and Literature 1 (1978), S. 1-17, hier: S. 6f. Für weitere Deutungen des Stier-Motivs, vor allem aus mythologischer Sicht, vgl. Clark Colahan/Alfred Rodríguez/Warren S. Smith: „Maldonado’s Bacchanalia and the young Lazarillo“, in: Humanistica Lovaniensa. Journal of Neo-Latin Studies 47 (1999), S. 161-171; Francisco García-Rubio: Las connotaciones paródico-satánicas del toro y el ritual de la ‚gran calabazada‘ en el puente de Salamanca en el Lazarillo de Tormes (1554)“, in: Cincinnati Romance Review 36 (2013), S. 96-113. 131 García-Rubio: „Las connotaciones paródico-satánicas“, S. 104.

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Así el personaje diabólico del ciego estaría haciendo las veces de ‚pontífice‘ ante el tótem o ídolo satánico del ‚diablo de toro‘, desde el momento en que está haciendo de puente para Lázaro hacia otro mundo, cruzando las aguas del río Tormes. Por ello puede decirse que a partir de esa ‚gran calabazada‘ como ritual iniciático bautismal y ese cruzamiento del puente, Lázaro ingresará en una sociedad donde, como sostenía José Antonio Maravall, se hace patente „el abandono del ideal cristiano-medieval del pobre“.132

Betrachtet man die Geschichte der Pontifices, die im Römischen Reich ein mächtiges Gremium sakraler Beamter mit gerichtlicher Autorität darstellten,133 deckt sich diese Deutung durchaus mit der Beobachtung, dass es sich bei der Figur des Blinden um eine subversive Umkodierung der Justitia-Allegorie handelt. Dass es im Rahmen eines initiatorischen Rituals wie der Taufe einer dazu autorisierten Person bedarf, stellt der Text auf ironische Weise zur Schau. Mit anderen Worten: Im Vorgriff auf den „mundo diabólicamente perverso y egoísta, ausente de cualquier atisbo de caridad“134, in den die steinerne Brücke sowie der darauf thronende Stier vorausweisen, wird mit diesem Ritual – vollkommen im Zeichen des desengaño – der vir inversus aus der Taufe gehoben, denn dieser mundo ist – auch das stellt die Szene aufgrund ihrer geschlechterspezifischen Symbolik ostentativ unter Beweis – rein männlich normiert. Auf der performativen Ebene, also konkret bezogen auf den Akt der „gran calabazada“, sei noch darauf hingewiesen, dass sich die ‚Taufe‘ des pícaro unter dem Einsatz massiver körperlicher Gewalt vollzieht, was im Hinblick auf die folgenden Erlebnisse – insbesondere den Fortgang des ersten sowie den kompletten zweiten tractado – ebenfalls antizipatorischen Charakter besitzt. Physische Gewalt erweist sich vor allem im Umgang mit den Schwachen und Marginalisierten als probates Kommunikationsmedium, was wiederum bedeutet, dass Lazarillos Lektion aus der vorliegenden Initiation in die maskulin dominierte Gesellschaft nicht nur das fundamentale Misstrauen in seine Mitmenschen darstellt, sondern ebenfalls das Gesetz des Stärkeren propagiert – oder zumindest das des Verschlageneren. Auch wenn Köhler dieser Szene den Charakter eines Initiationserlebnisses abspricht und diese These für „überzogen“135 hält, sprechen doch spätestens die anschließenden Reflexionen des Erzählers eine mehr als deutliche Sprache:

132 Ebd., S. 107. García-Rubio bezieht sich hier auf Maravall: La picaresca desde la historia social, S. 49. 133 Vgl. dazu Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts, München 2003, S. 57f. 134 García-Rubio: „Las connotaciones paródico-satánicas“, S. 107. 135 Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes / Klein Lazarus vom Tormes, S. 47, Fn 36.

242 | V IR INVERSUS Parecióme que en aquel instante desperté de la simpleza en que, como niño, dormido estaba. Dije entre mí: „Verdad dice éste, que me cumple avivar el ojo y avisar, pues solo soy, y pensar cómo me sepa valer“. Comenzamos nuestro camino, y en muy pocos días me mostró jerigonza. Y, como me viese de buen ingenio, holgábase mucho y decía: – Yo oro ni plata no te lo puedo dar; mas avisos para vivir muchos te mostraré. Y fue ansí, que, después de Dios, éste me dio la vida, y, siendo ciego, me alumbró y adestró en la carrera de vivir (L 23f).

In typischer Prägnanz reflektiert hier der Erzähler über den Auftakt seiner männlichen Sozialisation, und zwar dezidiert verstanden als rite de passage, rhetorisch eingerahmt durch die wiederholte Schilderung kindlicher „simpleza“ und die bereits auf Entwicklung anspielende „carrera de vivir“. Die kindliche Einfalt wird mit Schlaf gleichgesetzt („dormido“), was nichts anderes bedeutet als dass der Blinde dem Jungen buchstäblich mit Gewalt die Augen geöffnet hat. In dieser Funktion erinnert der blinde Bettler vielleicht nicht zufällig an die antike Figur des blinden Sehers Teiresias, und er tut es umso mehr, wenn man nicht nur die prophetischen Fähigkeiten dieser Figur in Betracht zieht, sondern ebenfalls deren geschlechtliche Ambivalenz. Es gibt verschiedene Varianten des Teiresias-Mythos, aber zu den bekanntesten gehört sicher jene aus der Melampodie des Hesiod. Dieser Erzählung zufolge musste Teiresias zweimal sein Geschlecht wechseln, nachdem er zweimal Schlangen bei der Paarung beobachtet und jeweils eine von beiden verletzt hatte. Zur Strafe wurde er beim ersten Mal in eine Frau und beim zweiten Mal wieder in einen Mann rückverwandelt. Anschließend wurde er von Hera und Zeus gefragt, ob ein Mann oder eine Frau mehr Lust beim Liebesakt empfände, was er zugunsten der Frauen beantwortete. Hera blendete ihn daraufhin erzürnt, da sie bei der Wette mit Zeus auf die Männer getippt hatte, woraufhin Zeus ihm zum Ausgleich die Gabe des Sehens verlieh.136 Warum dieser Mythos für die vorliegende Initiationsszene auf zweierlei Weise eine Rolle spielt, liegt zunächst daran, dass sich der Blinde im Rahmen dieser Episode tatsächlich als prophetische Figur erweist, die Lazarillo aus seinem kindlichen Schlaf reißt und ihm die Augen öffnet; an späterer Stelle sagt der Erzähler explizit: „aquel hombre, que sin duda debía tener spíritu de profecía“ (L 43). Für seinen weiteren Lebenslauf wird ihm diese Erfahrung eine Lehre sein: Traue niemandem, setze notfalls Gewalt ein, sei listig und verschlagen! Außerdem wird ihm schmerzlich vor Augen geführt, dass er allein auf der Welt ist und es auch bleiben

136 Vgl. Gherardo Ugolini: Untersuchungen zur Figur des Sehers Teiresias, Tübingen 1995, S. 33f.

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wird. Die zeitenthobene Einsicht „pues solo soy, y pensar cómo me sepa valer“ kann hier sowohl als situationsbedingte (präsentische) Erleuchtung als auch als (retrogrades) Echo auf das mütterliche „Valete por ti“ gedeutet werden sowie schließlich als Empfehlung für den weiteren (zukünftigen) Lebensweg („en la carrera de vivir“). Aber eben auch die Doppelgeschlechtlichkeit, für die die Teiresias-Figur vor allem berühmt wurde, spielt hier bei näherer Betrachtung eine nicht unerhebliche Rolle: Lázaro stellt immerhin fest, dass der Blinde ihm das Leben geschenkt habe („éste me dio la vida“) und er tut das nicht nur einmal, sondern zweimal, da das sich anschließende „me alumbró“ doppeldeutig ist und sowohl ‚mich erleuchtet hat‘ als auch ‚mich geboren hat‘ bedeuten kann: „Lázaro portrays the blind man, his first master, as giving him birth.“137 Diese Empfindung komplettiert, so Cruz, die Abjektion des Maternalen, durchtrennt endgültig die Nabelschnur, da nun nicht länger die Mutter als Lebensspenderin angesehen wird, sondern der blinde Bettler, der dieser Aufgabe durch seine Verwandtschaft mit dem zweigeschlechtlichen Teiresias auch auf mythopoetische Weise gerecht werden kann. Auch künftige Szenen, so etwa wenn Lazarillo später – zwischen den Beinen seines Herren sitzend – mit einem Strohhalm Wein aus dem Gefäß des Blinden saugt, fördert, so Cruz mit Blick auf einen unveröffentlichten Vortrag von Douglas M. Carey, einen maternalen Subtext zutage „where the master’s paternal functions are nevertheless troped through maternal categories.“138 Auch Herrero sieht in dieser Szene maternale Zeichen am Werk, die vor allem durch das deutlich veränderte Bild des Blinden ausgesendet werden: „presenting an iconographic transformation of the mythical bull, a folk emblem of fierce masculinity, into a mythical cow.“139 Abschließend soll in Anlehnung an Luc Brissons strukturalistische Analyse des Teiresias-Mythos darauf hingewiesen werden, dass der blinde Seher die Funktion eines „médiateur“ erfüllt, und zwar ganz konkret zwischen den oppositionellen Paaren ‚männlich‘ vs. ‚weiblich‘, ‚Vergangenheit‘ vs. ‚Zukunft‘ sowie ‚menschlich‘ vs. ‚göttlich‘.140 Diese strukturell motivierte Vermittlerfunktion

137 Cruz: „The Abjected Feminine“, S. 103. 138 Ebd. Cruz zitiert folgenden Vortrag: Douglas M. Carey: „The Maternal Subtext in Lazarillo de Tormes“, unpubliziert, Midwest Modern Language Association, Indiana University, 1.-3. November 1984. 139 Herrero: „The Great Icons of the Lazarillo“, S. 9. 140 Luc Brisson: Le mythe de Tirésias. Essai d’une analyse structurale, Leiden 1976; vgl. zu diesem Aspekt ebenso Carlos García Gual: „Tiresias o el adivino como mediador“, in: Emerita 43 (1975), S. 107-132.

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prägt die komplette Szene, was ebenfalls dafür spricht, dass man den blinden Bettler in eine Reihe mit dem antiken Seher stellen kann. Fassen wir noch einmal die wichtigsten Aspekte dieser überaus komplexen und assoziationsreichen Episode zusammen: Der Ort des Geschehens, d. h. die Brücke mit der Stierskulptur über den Fluss Tormes, markiert per se einen Ort des Übergangs, der sowohl auf topografischer als auch geschlechtlicher Ebene buchstäblich den rite de passage vom Regime des Weiblich-Maternalen in die männlich dominierte Gesellschaft repräsentiert – der steinerne Stier thront über diesem Erlebnis und gleichzeitig über dem Fluss, der von Anfang an das Weibliche symbolisiert. Das Ritual selbst steht ganz im Zeichen des desengaño und vollzieht sich unter dem Einsatz massiver physischer Gewalt: „Das Erwachen in einer harten, feindlichen Wirklichkeit erzwingt das Ende von Illusionen um der Selbsterhaltung willen.“141 Die Reaktion des Lehrers („Y rió mucho la burla“) antizipiert sogleich die gängige Einstellung innerhalb der Gesellschaft: Körperliche Gewalt gegen Schwächere gilt gemeinhin als harmlose „burla“, die der Unterhaltung dient, mithin verlacht werden darf. Hierdurch wird klar gemacht, dass Gewalt im ‚großen Wolfsspiel‘ zu den dominanten männlichen Sozialpraktiken gehört. Lázaro stilisiert diese Episode retrospektiv als zweite Geburt und damit den blinden Bettler unter Rückgriff auf den Teiresias-Mythos als zwitterhafte Erzeugerfigur. Durch die zweifache Nennung des Lebensweg-Bildes („nuestro camino“ und „carrera de vivir“) wird diese Episode deutlich als erste Etappe der männlichen Sozialisation der Titelfigur markiert, wobei der Blinde (auch hier eine Umkehrung) als prophetischer Führer des Jungen auftritt („Yo oro ni plata no te lo puedo dar; mas avisos para vivir muchos te mostraré“), obwohl hier doch eigentlich Lazarillo seinen Dienst als Blindenführer antritt.142 Am Ende des Romanteils darf Lazarillo zum ersten Mal unter Beweis stellen, dass er tatsächlich seine Lektionen gelernt hat, als er schließlich für das erduldete Leid Rache nimmt. Aldo Ruffinatto vertritt die These, dass das Ritual der „gran calabazada“ eher intratextuell motiviert sei und lediglich dazu diene, eine Symmetrie herzustellen im Hinblick auf das Ende des tractado, als Lazarillo „las cadenas de su esclavitud“143 zerschlägt und den Blinden verlässt. Diese Symmetrie ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, da sie ebenfalls die den Gesamtroman bestimmende Strukturformel der Inversion unterstreicht, aber die Bedeutung der

141 Peter Triefenbach: Der Lebenslauf des Simplicius Simplicissimus. Figur – Initiation – Satire, Stuttgart 1979, S. 115. 142 Lazarillo hat im heutigen Spanisch immer noch die Bedeutung ‚Blindenführer‘. 143 Aldo Ruffinatto: Las dos caras de Lazarillo: texto y mensaje, Madrid 2000, S. 345.

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Szene einzig auf diesen strukturellen Aspekt zu reduzieren, scheint doch angesichts des enormen Bedeutungsüberschusses dieser Episode zu kurz gegriffen. Ein solcher Bedeutungsüberschuss prägt auch die Racheszene – aber eben mit umgekehrten Rollen: Visto esto y las malas burlas que el ciego burlaba de mí, determiné de todo en todo dejalle, y, como lo traía pensado y lo tenía en voluntad, con este postrer juego que me hizo afirmélo más. Y fue así que luego otro día salimos por la villa a pedir limosna, y había llovido mucho la noche antes; y porque el día también llovía, y andaba rezando debajo de unos portales que en aquel pueblo había, donde no nos mojamos, mas como la noche se venía y el llover no cesaba, díjome el ciego: – Lázaro, esta agua es muy porfiada, y cuanto la noche más cierra, más recia. Acojámonos a la posada con tiempo. Para ir allá habíamos de pasar un arroyo, que con la mucha agua iba grande. Yo le dije: – Tío, el arroyo va muy ancho; mas si queréis, yo veo por donde travesemos más aína sin mojarnos, porque se estrecha allí mucho y, saltando, pasaremos a pie enjuto. Parecióle buen consejo y dijo: – Discreto eres, por esto te quiero bien; llévame a ese lugar donde el arroyo se ensangosta, que agora es invierno y sabe mal el agua, y más llevar los pies mojados. Yo que vi el aparejo a mi deseo, saquéle de bajo de los portales y llevélo derecho de un pilar o poste de piedra que en la plaza estaba, sobre el cual y sobre otros cargaban saledizos de aquellas casas, y dígole: – Tío, éste es el paso más angosto que en el arroyo hay. Como llovía recio y el triste se mojaba, y con la priesa que llevábamos de salir del agua, que encima de nos caía, y, lo más principal, porque Dios le cegó aquella hora el entendimiento (fue por darme de él venganza), creyóse de mí, y dijo: – Ponme bien derecho y salta tú el arroyo. Yo le puse bien derecho enfrente del pilar, y doy un salto y póngome detrás del poste, como quien espera tope de toro, y díjele: – ¡Sus, saltad todo lo que podáis, porque deis de este cabo del agua! Aun apenas lo había acabado de decir, cuando se abalanza el pobre ciego como cabrón y de toda su fuerza arremete, tomando un paso atrás de la corrida para hacer mayor salto, y da con la cabeza en el poste, que sonó tan recio como si diera con una gran calabaza, y cayó luego para atrás medio muerto y hendida la cabeza. – ¿Cómo, y olisteis la longaniza y no el poste? ¡Olé! ¡Ole! – le dije yo. Y dejéle en poder de mucha gente que lo había ido a socorrer, y tomo la puerta de la villa en los pies de un trote, y, antes de que la noche viniese, di conmigo en Torrijos. No supe más lo que Dios de él hizo ni curé de saberlo (L 44-46, Herv. G. S.).

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Die kursivierten Stellen beziehen sich direkt – entweder affirmativ oder inversiv – auf das Ritual des Anfangs, d. h. die Rache, die am Ende die Machtverhältnisse umkehrt, verläuft nach einem ähnlichen Muster wie die Initiation selbst: Man hat Pläne die Stadt zu verlassen; der Weg führt über ein fließendes Gewässer; ‚Medium‘ der burla ist ein Gebilde aus Stein; die Metaphorik des Stierkampfes wird bemüht; diabolische Motive kommen zum Einsatz („cabrón“); Lazarillos „gran calabazada“ des Anfangs wird mit „una gran calabaza“ ironisch wiederaufgegriffen und bezeichnet hier den Kopf des Blinden als grotesken Riesenkürbis; aus dem „Lazarillo dormido“ ist schließlich ein „Lazarillo discreto“ geworden, aus dem „diablo de ciego“ ein „pobre ciego“. Die Überlegungen von Roloff und Ruffinatto aufgreifend, findet hier die Blindenepisode, verstanden als Variante mittelalterlicher Gebrestenkomik, ihren spektakulären Abschluss, wobei dieser Höhepunkt entsprechend dem mundus inversus-Prinzip sowohl sprachlich als auch strukturell die Spiegelung des Beginns in Szene setzt. Auf diese Weise wird die farcenhafte Komik dieser Episode letztlich begründet: Das zentrale Motiv der Rache (venganza), um das es hier geht, bezeichnet nämlich aus rein struktureller Sicht eine Umkehrung von Machtverhältnissen. Auf der Ebene geschlechtsbezogener Symbolik lässt sich beobachten, dass der Blinde hier zwar immer noch mit dem Stier identifiziert wird, aber dass er im Kampf mit Lazarillo, der nun gleichsam als Torero auftritt, seinen Bezwinger gefunden hat. Die ernsten Spiele des Wettbewerbs, die hier – wie zu Beginn – auf einem öffentlichen Platz mit Publikum („mucha gente“) stattfinden, handeln die Positionen im Machtgefüge der Feudalgesellschaft neu aus. Bezeichnenderweise ist es hier eine Säule aus Stein, die dem Blinden zum Verhängnis wird, und zwar eine der Säulen, die die Last der Häuser des öffentlichen Platzes der herzoglichen Stadt Escalona („villa del duque de ella“; L 38) tragen. Herrero weist in diesem Zusammenhang auf den phallischen Charakter der Steinsäule sowie auf den durch den Erzähler hervorgehobenen aristokratischen Status der Stadt hin und kommt zu folgendem Ergebnis: It is permissible to think of this column as the great, unbreakable, erected male organ of the Spanish imperial state, the final representation of its aristocratic will, and, as such, the only shelter from the blind cruelty of its own irrational impulses. A shelter worth taking, even if he has to bear on his shoulders the weight of the tyrannical will of the upper classes.144

144 Herrero: „The Great Icons of the Lazarillo“, S. 16.

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Herrero zufolge ließe sich demnach die Rache am Blinden nicht nur als Rache seines gebeutelten Dieners lesen, sondern ebenso als Rache durch die ‚phallische‘ Macht des Staates. Eingedenk der Tatsache, dass der Blinde durch die initiale Identifikation mit dem Stier, der ebenfalls als Symbol iberischer Maskulinität fungiert, als aggressiv und männlich dargestellt wird, sich zudem den Status einer travestierten Justitia anmaßt, könnte man am Ende dieser Episode mit einigem Recht, auch ganz ohne phallische Metaphorik, sagen: The Empire strikes back. Dass hier ausgerechnet der arme Diener als Werkzeug des gnadenlosen Staatsapparates auftritt, zeigt einmal mehr, dass dieser seine Lektionen in der Schule vormoderner Männlichkeit gelernt hat, d. h. seine Initiation in die feindliche Welt (vorläufig) erfolgreich gemeistert hat.

4.4 H UNGERKÜNSTLER , P RÜGELKNABE

UND

HOMO OECONOMICUS Auf die Tatsache, dass in narrativen Texten der Vormoderne der männliche Körper sowie Körperlichkeit allgemein hervorgehobene Rollen spielen, macht Erhart gleich zu Beginn seiner Ausführungen zu Männlichkeiten in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur aufmerksam: Vormoderne, mittelalterliche wie frühneuzeitliche Männlichkeit war zum Beispiel durch eine tendenziell nicht zu kontrollierende, exzessive Körperlichkeit charakterisiert, deren soziale Überwachung und Disziplinierung zur vorrangigen Aufgabe der frühneuzeitlichen Geschlechterpolitik gehörte.145

Diese Beobachtung gilt auch für die novela picaresca, in der der Körper des Schelms, wie in Kap. 2.3 dargestellt, zwischen den Polen von Exzess und Mangel zu situieren ist: Exzess hinsichtlich der zu erduldenden physischen Gewalt und Mangel vor allem in Bezug auf Nahrung. Insbesondere im Lazarillo gehört das Hunger-Motiv in den ersten drei Kapiteln, die zugleich die längsten des Romans sind,146 zu den zentralen Leitmotiven, während körperliche Gewalt lediglich die

145 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 172. 146 Dem Vorwurf, dass der Lazarillo aufgrund der sehr unterschiedlichen Länge der Einzelkapitel möglicherweise fragmentarisch oder einfach nur schlecht komponiert sei, begegnet Frederick C. Tarr in seiner Studie: „Die thematische und künstlerische Geschlossenheit des Lazarillo de Tormes“ [1927], in: Helmut Heidenreich (Hrsg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, Darmstadt 1969, S. 15-39.

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ersten beiden Dienstverhältnisse kennzeichnet. Abgesehen von der gewaltvollen Initiation gleich zu Beginn seiner Lebensreise gehören im weiteren Verlauf der ersten beiden Kapitel Hunger und Gewalt untrennbar zusammen, während der dritte tractado das Hunger-Motiv ohne die erneute Schilderung exzessiver Gewalt zum Höhepunkt und Abschluss führt. In den ersten beiden Kapiteln treten beide Motive in einen narrativen Dialog, der stets nach demselben Schema verläuft: Hunger – Mundraub – Bestrafung. Man könnte daher sagen, dass Lazarillos fabulierfreudig vorgetragene Schelmenstücke, d. h. die burlas, mithilfe derer er versucht, sich Nahrung zu verschaffen, eingerahmt werden durch den Mangel an und das Begehren nach Nahrung sowie die körperliche Züchtigung durch seinen jeweiligen Herrn. Näher betrachtet findet innerhalb dieses Narrativs eine strategische Verschränkung der beiden Ebenen von erzählendem und erzähltem Ich statt, was ebenfalls Folgen für die Verhandlung pikaresker Männlichkeit nach sich zieht. Indem der Erzähler gegenüber der richterlichen Instanz von Vuestra Merced den Mundraub als Motivation für seine kleineren Diebstähle angibt, legimitiert er sein unmoralisches Verhalten. Mundraub gilt schon in der Bibel als entschuldbares Vergehen. So steht in den Gesetzestexten des Deuteronomiums, 5. Buch Mose im Alten Testament: „Wenn du in den Weinberg eines andern kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäß tun (Dtn, 23,25).“147 Auch wird im Deuteronomium gefordert, Arme und Waisen wenn nötig mit Almosen zu unterstützen. Insofern darf sich Lázaro, sowohl entsprechend dem christlichen als auch dem jüdischen Moralverständnis, durch die Schilderung der durch Hunger bedingten Diebstähle sicher sein, nicht als unmoralischer Kleinkrimineller zu erscheinen.148 Dies bedeutet, dass die Erzählung dieser spannungsreichen burlas endiabladas dem gesellschaftlichen Überleben des Erzählers vor den Augen von Vuestra Merced dient, was durch eine direkte Anrede im ersten Satz, der das Hunger-Motiv einführt, deutlich wird:

147 Die Bibel, Einheitsübersetzung. Dieser Text ist sowohl im christlichen Alten Testament enthalten als auch im jüdischen Tanach. Vielleicht nicht zufällig beschreibt eine der drei Mundraub-Szenen, dass Lazarillo unerlaubterweise dreimal so viele Trauben isst wie ihm zustehen (L 37). 148 Eine weitere prominente Literarisierung des Mundraub-Motivs findet sich gleich zu Beginn von Victor Hugos Roman Les Misérables (1862). Hier dient das Motiv ebenfalls dazu, das hohe Ausmaß an Ungerechtigkeit seitens der Gesellschaft zu visualisieren, die einen Hungrigen wegen des Diebstahls eines Brots für insgesamt 19 Jahre ins Gefängnis gesteckt hat.

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Mas también quiero que sepa Vuestra Merced que, con todo lo que adquiría y tenía, jamás tan avariento ni mezquino hombre no vi; tanto, que me mataba a mí de hambre, y así no me demediaba de lo necesario. Digo verdad: si con mi sotileza y buenas mañas no me supiera remediar, muchas veces me finara de hambre. Mas, con todo su saber y aviso, le contaminaba de tal suerte que siempre, o las más veces, me cabía lo más y mejor. Para esto, le hacía burlas endiabladas, de las cuales contaré algunas, aunque no todas a mi salvo (L 27).

Der Blinde, der während des gesamten tractado nahezu durchgängig mit negativen Attributen charakterisiert wird (zumeist mit dem Adjektiv „mal“, aber auch mit „astuto“, „perverso“ oder „cruel“), wird hier mit der Todsünde der avaritia in Verbindung gebracht („tan avariento ni mezquino hombre no vi)“, die ihn dazu bringt, den kleinen Lazarillo verhungern zu lassen („me mataba a mí de hambre“). Wie im vorherigen Kapitel gezeigt, galt die Habsucht im misogynen Diskurs der Zeit primär als weiblich konnotiertes Laster ebenso wie die astutia. Dass der Blinde das eine Laster verkörpert und das andere in Perfektion praktiziert („ninguno formó más astuto ni sagaz“, L 25) rückt ihn in die Nähe weiblicher Geschlechterstereotype und deckt sich gewissermaßen mit der Ambivalenz, die sich durch die mythopoetischen Anleihen der Teiresias-Figur ergeben haben und durch den maternalen Subtext der Wein-Szene. Man darf hier ebenfalls nicht vergessen, dass Lazarillos Mutter ohne zu zögern den Blinden ausgewählt hat, damit er ihren Sohn auf dem weiteren Lebensweg begleite. All diese geschlechtsspezifischen Ambivalenzen dienen jedoch nicht dazu, den blinden Bettler bildhaft zu verweiblichen. Es geht hier eher darum, ihn mithilfe dieser Zuschreibungen als nichtmännlich im hegemonialen Sinne darzustellen – vor allem die Attribuierung „perverso ciego“ (L 40f) spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache.149 Der sich vor Vuestra Merced verteidigende Lázaro hat offenkundig gelernt, dass weiblich kodierte Abwertungsrhetorik den jeweiligen Antagonisten besonders empfindlich trifft. Somit werden die burlas endiabladas des pícaro als Überlebensstrategie des armen Dieners gerechtfertigt. Zugleich rechtfertigt sich hiermit aber der Erzähler, um ebenfalls zu überleben, d. h. hier fallen die rhetorischen und praktischen Strategien des erzählenden und erzählten Ichs zusammen. Dass für beide Strategien List und engaño gefragt sind („mi sotileza y buenas mañas“), macht Lazarillos

149 Das Nicht-Männliche bzw. Anti-Hegemoniale der Blinden-Figur wird jedoch nicht nur durch solche pejorativen Zuschreibungen impliziert, sondern lässt sich auch intersektional herleiten, wenn man bedenkt, dass er zum Stand der Bettler gehört und noch dazu körperlich behindert ist.

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erste Lernerfolge sichtbar und spiegelt zugleich gesamtgesellschaftliche Erfordernisse und Praktiken wider und zwar insbesondere für die Nicht-Adeligen, die sich jedoch – so legt es der Text nahe – aristokratische Strategien des self-fashioning aneignen müssen, um zu bestehen. Man kann daher sagen, dass die burlas dem jugendlichen erzählten Ich das nackte Überleben sichern, während das Erzählen davon dem erwachsenen Erzähler-Ich dazu dient, sozial weiterzuleben. Die Kunstfertigkeit der Erzählung dient jedoch gleichzeitig dazu, sich nicht nur als Angeklagter zu rechtfertigen, sondern auch der Wahrnehmung als Künstler durch den Leser der Beichte. Es geht demnach immer auch um verschiedene Arten von Kapital: um materiell-ökonomisches Kapital im ganz basalen Verständnis von Nahrung (Lazarillo) als auch um symbolisches Kapital im Sinne von honra (Lázaro). Das im Prolog bemühte Cicero-Zitat könnte man daher ergänzen: La honra y el hambre crían las artes. Diese Engführung von Nahrung und Status im Lazarillo hat auch Sears beobachtet und schlägt folgende Lesart vor: Having no defined basis for a relationship with the vagrant child, the blind man and the cleric exploit him at the same time as they act to maintain a social distinction between themselves and Lazarillo, and their method is to limit his access to the sorts of food that historically have been considered of higher status or value. Along with bread, relative consumption of meat often signified class distinctions: It was the symbol of power itself.150

Das kategorische Vorenthalten von Nahrung dient somit auf Seiten der Mächtigen der sozialen Distinktion und führt auf Seiten des Opfers zur Verweigerung gesellschaftlicher Teilhabe und mithin zur gesellschaftlichen Abjektion der Armen.151 Das dadurch freigesetzte Begehren der Titelfigur wird für die ersten drei Kapitel zum Motor der Handlung und erzählt – zumindest subkutan – seine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung mit und nicht zuletzt auch die Suche nach väterlicher Fürsorge. Insofern hängt dieser dreifache Mangel immer auch mit dem defizitären Männlichkeitsentwurf des pícaro zusammen, der noch im Erwachsenenalter als Erzähler seiner gesellschaftlichen Abjektion entgegenwirken muss.

150 Sears: „Beyond Hunger“, S. 105. 151 Vgl. ebd.: „His [Lazarillo’s, G. S.] status with regard to his masters is that of a dependent stranger, one who is more likely to be the object of ‚the tendency to exploit signs of weakness and to subjugate through repressive dominance.‘ In other words, in the urbanizing complex society portrayed in Lazarillo, the child is in a suddenly anomalous position, neither kin nor feudal subject nor employee.“ Auch wenn der Begriff Abjektion hier nicht fällt, geht es m. E. genau darum – Lazarillo ist weder Subjekt noch Objekt, sondern das Opfer sozialer Abjektion.

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Die einzelnen Mundraub-Episoden lesen sich wie Kabinettstücke in überwiegend schwankhaftem Ton. Der erste tractado enthält immerhin drei dieser Szenen; auf zwei davon (Wein, Trauben) wurde bereits eingegangen. Die letzte – und vermutlich bekannteste – dreht sich um eine Wurst und eine Mohrrübe. Man kann sagen, dass die drei Episoden dem Muster einer ansteigenden Spannungskurve folgen, so dass „el episodio del nabo y de la longaniza“ (L 38-41) den Höhepunkt des ersten tractado darstellt, kurz bevor Lazarillo sich rächt. Lazarillo soll dem Blinden eine Wurst braten, isst diese jedoch, von einem „apetito goloso“ (L 38) getrieben, selbst und grillt dem Blinden stattdessen eine verschrumpelte Rübe. Der Blinde bemerkt den „trueco“ (L 39), doch Lazarillo ist sich sicher, dass sein Mundraub nicht auffliegen könne. Der gewitzte Blinde aber steckt dem Jungen seine plötzlich überlange Nase in die Kehle, riecht die Wurst und bringt den Diener durch das Eindringen seines Riechorgans zum Erbrechen. Daraufhin prügelt der Blinde in buchstäblich blinder Wut seinen Diener, reißt ihm fast alle Haare aus und zerkratzt ihm das Gesicht.152 Wenn nicht die durch das Geschrei angelockten Leute den Blinden zurückgehalten hätten, wäre die Bestrafung für Lazarillo möglicherweise noch schlimmer ausgegangen („pienso no me dejara la vida“; L 41). Gerhard Penzkofer sieht in dieser turbulenten Szene „una parodia grotesca del amor (neo-)platónico, que tan a menudo aparece de un modo metafórico como un comerse mutuamente de los amantes.“153 Es liegt nahe, vor allem das vollkommen unrealistische Eindringen der Nase in den Mund als grotesk im Sinne Bachtins zu charakterisieren und auf die „[r]asgos carnavalescos en la simbiosis de los amantes“154 hinzuweisen. Wir erinnern uns: Das Motiv der übertrieben dargestellten Nase gilt Bachtin zufolge als Paradebeispiel grotesker Körperästhetik und „steht hier immer für den Phallus.“155 Und weiter: „Als Teile des Gesichts spielen in der grotesken Körperkonzeption nur Mund und Nase eine wesentliche Rolle.“156 Inso-

152 Ob Haare ausreißen und Kratzen in der Frühen Neuzeit auch schon als eher weibliche Formen physischer Gewalt galten, lässt sich nur schwer überprüfen. Für die rasende Wut, d. h. den Verlust von männlich kodierter moderación gilt das allemal. 153 Gerhard Penzkofer: „Ingestión y expulsión – el problema de la identidad en el Lazarillo de Tormes“, in: Christoph Strosetzki (Hrsg.): Actas del V Congreso de la Asociación International Siglo de Oro, Madrid/Frankfurt/M. 2001, S. 988-994, hier: S. 988. 154 Ebd., S. 991. 155 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 357. 156 Ebd., S. 358 (Herv. i. O.).

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fern man dieses naheliegende Erklärungsmodell auf das Körperdrama der vorliegenden Szene anwendet und darin die grotesk-parodistische Version des Verschmelzungsakt zweier Liebender sieht, was durch die wiederkehrende phallische Symbolik des gesamten tractado (Wurst, Mohrrübe, Nase, Pfeiler) gestützt wird, erhält diese Episode tatsächlich einen stark sexualisierten Subtext: Neben dem rein körperlichen legt die Schilderung einen Hinweis auf sexuellen Missbrauch nahe, indem sie gleichzeitig das neoplatonische Liebesideal, wie es etwas in der ficción sentimental propagiert wird, auf unappetitliche Weise dekonstruiert. Die anschließende Gewaltorgie, die aus Lazarillos Körper einen zerstückelten macht, unterstützt den grotesken Charakter der Szene. Gleichwohl drängt sich hier noch eine weitere, eher soziologisch motivierte Lesart dieses Miniaturdramas auf, die Penzkofer zumindest andeutet, wenn er den „rechazo y expulsión del otro“157 beschreibt. Wenn wir den Hunger Lazarillos mit der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung, also dem Begehren nach höherem Status erklären, ergäbe sich folgende narrative Struktur: Begehren – betrügerische Ermächtigung – gewaltsamer Ausschluss – Bestrafung. Sears weist darauf hin, dass es im Hinblick auf Sozialstatus kaum Unterschiede gibt zwischen dem Bettler und seinem Knecht: „Given that the social distance between the man and the child is basically illusory, it should not surprise us that their attempt to defend its boundaries should result in escalating violence.“158 Gewalt bestimmt somit das soziale Feld zwischen den Männern, wenn es um soziale Distinktion und die Verteidigung des eigenen Habitus geht.159 Damit sind aber noch nicht die körperliche Metaphorik sowie das (beim Leser mutmaßlich Ekel erregende) erzwungene Hervorwürgen der Bratwurst hinreichend erklärt. Wenn man die phallischen Konnotationen aller drei ‚Ding-Protagonisten‘ der Szene mitberücksichtigt und die Tatsache, dass der Phallus zentrales Symbol (männlicher) Macht darstellt, resultiert aus dieser Analogie, dass Lazarillo sich unerlaubten Zugang zur Macht verschafft (Diebstahl der Wurst), seinem Antagonisten im Austausch einen

157 Penzkofer: „Ingestión y expulsión“, S. 993. 158 Sears: „Beyond hunger“, S. 106. 159 Vgl. dazu Peter Döge: Männer – die ewigen Gewalttäter? Gewalt von und gegen Männer in Deutschland, Wiesbaden 22013. Auch Döge begreift Gewalt als „soziale Interaktion“ und schreibt: „Ausgehend von dem Umstand, dass der Mensch zugleich Lebeund Kulturwesen ist, sollte Gewalt verstanden werden als eine Handlung mit dem Ziel in der Auseinandersetzung um den Zugang zu und die Sicherung von Ressourcen oder zur Durchsetzung einer vermeintlich richtigen Weltanschauung einer anderen Person [...] Schaden oder Leid zuzufügen – und die andere Person, das andere Wesen damit zu schwächen“ (S. 27f).

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deutlich weniger machtvolle Position zuweist (visualisiert durch den „nabo pequeño, larguillo y ruinoso“; L 38) und schließlich durch die „nariz, la cual él tenía luenga y afilada, y aquella sazón, con el enojo, se había augmentado un palmo“ (L 40) zum Erbrechen der bereits einverleibten Wurst, d. h. der Macht, gezwungen wird. Die „cumplidísima nariz“ (L 40) wird im Wettkampf der ungleichen Gegner als Schwert imaginiert, umso mehr wenn man in Betracht zieht, dass das (gesteigerte) Adjektiv cumplidísimo nicht nur ‚enorme‘/‚abundante‘ bedeutet, sondern ebenfalls ‚muy cortés‘, wie Blecua hervorhebt, also ‚höfisch‘ oder ‚ritterlich‘.160 Im Text wird der Eindruck eines grotesken Schwertkampfes noch durch die Gleichzeitigkeit von Nase und Wurst in der Kehle des Jungen betont. Durch die Schilderung des Erbrechens und die anschließende Züchtigung wird Lazarillo wieder an seinen Platz zurückbefördert. Die Szene umschreibt auf grotesk-metaphorische Weise das Ausspeien der schwächsten Mitglieder durch den Gesellschaftskörper, mithin deren Abjektion. Schon Bachtin schreibt vom Austausch des grotesken Körpers mit der ihn umgebenden Welt: Daher geschehen auch die Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers, alle Akte des Körperdramas – Essen, Trinken, die Verdauung (und neben Kot und Urin auch andere Ausscheidungen: Schweiß, Schleim, Speichel), Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen Körper –, an der Grenze zwischen Körper und Welt und dem alten und dem jungen Körper. In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten.161

Im Fall der Pikareske lässt sich dieses Zyklisch-Werdende des grotesken Körpers sehr gut auf die Struktur der Gattung sowie den Werdegang der Hauptfiguren übertragen, enden doch die Einzelepisoden oftmals mit beinahe tödlicher Gewalt, die ja ebenfalls durch einen Austausch des Ichs mit der Umwelt gekennzeichnet ist, woraufhin im nächsten Abschnitt der pícaro wieder nahezu unversehrt einen Neustart wagt. Alles in allem verhandelt das hier beschriebene Körperdrama also in nuce das Männlichkeitsdrama des Ausgeschlossenen, seinen schier aussichtslosen Kampf um Teilhabe und Anerkennung. Ein letzter Aspekt scheint in diesem Zusammenhang noch erwähnenswert, und das wäre die Reaktion der Umwelt. Damit ist nicht die Tatsache gemeint, dass die

160 Alberto Blecua (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, Madrid 1974, S. 108, Fn 106 (zit. nach Rico, in: L 40). 161 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 359 (Herv. i. O.).

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Umstehenden durch ihr Eingreifen das Schlimmste verhindern, sondern die Reaktionen auf die anschließende Erzählung durch den Blinden: Contaba el mal ciego a todos cuantos allí se allegaban mis desastres, y dábales cuenta una y otra vez, así de la del jarro como de la del racimo, y agora de lo presente. Era la risa de todos tan grande, que toda la gente que por la calle pasaba entraba a ver la fiesta; mas con tanta gracia y donaire contaba el ciego mis hazañas, que, aunque yo estaba tan maltratado y llorando, me parecía que hacía sinjusticia en no reírselas. […] Hiciéronnos amigos la mesonera y los que allí estaban, y, con el vino que para beber le había traído, laváronme la cara y la garganta. Sobre lo cual discantaba el mal ciego donaires, diciendo: – Por verdad, más vino me gasta este mozo en lavatorios al cabo del año, que yo bebo en dos. A lo menos, Lázaro, eres en más cargo al vino que a tu padre, porque él una vez te engendró, mas el vino mil te ha dado la vida. […] Y reían mucho los que me lavaban con esto, aunque yo renegaba (L 41-43, Herv. G. S.).

An dieser Stelle gerät ein Aspekt in den Blick, der während der Schilderung des Dramas selbst noch nicht so deutlich zur Sprache gekommen ist: sein öffentlicher Charakter. Bachtin hat in einer Chronotopos-Studie auf die öffentlich-theatrale Dimension der frühneuzeitlichen Lachfiguren Schelm, Narr und Tölpel hingewiesen: „Was diese Figuren in die Literatur einbringen, ist erstens, daß sie auf ganz essentielle Weise mit den Theatergerüsten und Bühnenmasken der öffentlichen Plätze verknüpft sind, daß sie mit einem spezifischen Abschnitt des Volksplatzes verbunden sind.“162 Die vermeintlichen Helfer Lazarillos, die aufgrund der Anonymität durchaus als eine die Gesellschaft repräsentierende Masse verstanden werden können, verwandeln sich im Angesicht des heiteren Blinden-Vortrags augenblicklich in ein Publikum, das den geschundenen pícaro verlacht. Dies, so die Beobachtung des Erzählers, liegt nicht nur im Inhalt der Anekdote begründet, sondern auch an der Erzählkunst des Bettlers: „con tanta gracia y donaire contaba el ciego mis hazañas.“ Bei dem Begriff der hazañas, also der ‚Heldentaten‘, handelt es sich um einen geradezu topischen Begriff aus der Gattung der Ritterromane, der auch in Cervantes’ Don Quijote oftmals auftaucht, um die ritterlichen Bravourstücke des Titelhelden ironisch zu kommentieren.163 Lazarillo bleibt in dieser

162 Bachtin: Chronotopos, S. 88. 163 Siehe ebd., S. 93: „Der Schelmenroman arbeitet im wesentlichen mit dem Chronotopos des abenteuerlichen Alltagsromans. [...] Für den ‚Don Quijote‘ ist charakteris-

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Situation nichts anderes übrig als selbst zu lachen, so wie auch Bachtin zum Schelm, Narr und Tölpel schreibt: „Alle drei lachen selbst oder werden verlacht.“164 Erneut treffen hier die Ebenen von erzählendem und erzähltem Ich aufeinander – ja man könnte sagen, dass es sich bei der vorliegenden Beschreibung um einen metatextuellen Kommentar handelt. Der Blinde täuscht über seine eigene Grausamkeit mit einem heiteren Beitrag hinweg und erreicht damit sein Ziel der Anerkennung durch die Anderen. Der Erzähler verfolgt indes dieselben Ziele, was bedeutet, dass diese öffentliche Aufführungssituation ebenfalls zu den Lektionen im Lernprozess des pícaro gehört: Schönes Erzählen („tanta gracia y donaire“) vor Publikum ist integraler Bestandteil des engaño. Immerhin zeigt die unmittelbar folgende, bereits besprochene Racheszene, dass Lazarillo auch diese Lehre umzusetzen weiß: Er lässt den Blinden auf einem öffentlichen Platz vor Publikum gegen den Steinpfeiler springen – allerdings redet er nicht darüber. Diesen Part übernimmt schließlich sein erwachsenes Alter Ego. Mit Blick auf die folgenden Dienstverhältnisse bzw. auf Lazarillos künftige Herren fällt auf, dass der Blinde im gesamten Roman der Einzige ist, dem gegenüber der Protagonist selbst gewalttätig wird. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, dass der Blinde der einzige unter Lazarillos Vorgesetzten ist, der – wie er – Vertreter des untersten Standes ist, erklärt sich dieses Alleinstellungsmerkmal: Gewalt – zumindest physische – vollzieht sich nur von oben nach unten oder unter seinesgleichen und bleibt – zumindest wenn diese Grundregel eingehalten wird – unbestraft. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Blinden mit seinem direkten Nachfolger vergleicht, dem clérigo. Der zweite tractado verfolgt in mehrfacher Hinsicht das Prinzip der Steigerung, was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass auch die exemplarische Darstellung gesellschaftlicher Hierarchie anhand von bestimmten Sozialtypen mit dem Kirchenmann um eine Ebene nach oben verlagert wird. Diese Proportionalität würde die Gesellschaftskritik des Romans insofern forcieren, als sich daraus folgende Formel ergibt: Je höher die Position in der gesellschaftlichen Ständepyramide, desto mehr herrschen Geiz, Habsucht, Gewalt und Unbarmherzigkeit, d. h. desto dünner wird die Luft für die Armen. Daher kommt Lazarillo sehr bald zur Erkenntnis, besser bei ihm zu bleiben, da es wohl nur noch schlimmer kommen

tisch, daß sich in ihm der Chronotopos des Ritterromans (der der ‚fremden wunderbaren Welt‘) mit dem des Schelmenromans (dem der ‚Landstraße durch die heimatliche Welt‘) auf parodistische Welt überschneidet.“ 164 Ebd., S. 88.

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könne: „Con esto no me osaba menear, porque tenía por fe que todos los grados había de hallar más ruines“ (L 54). Ferner wird hier die Gesellschaftskritik aufgrund des Amtes von Lazarillos neuem Herrn um das vor allem in der Schwankliteratur traditionsreiche und beliebte Motiv der Kirchen- und Priesterschelte erweitert. Das Prinzip der Steigerung gilt jedoch auch für die Kunst des pícaro, auf diese missliche Lage zu reagieren und wird rhetorisch durch das Sprichwort „Escapé del trueno y di en el relámpago“ (L 47) eingeleitet – Lazarillo kommt vom Regen in die Traufe und muss sich neuen Herausforderungen stellen. Der Priester wird verglichen mit seinem Vorgänger als noch geiziger dargestellt („Y en toda la casa no había ninguna cosa de comer“; L 49), als noch schäbiger („toda la lacería del mundo estaba encerrada en éste“; L 47) und vor allem als noch gewitzter, da er dem Blinden („con faltalle aquel preciado sentido; L 51) die Gabe des Sehens voraushat, was dem Protagonisten das Handwerk des ‚Mundräubers‘ erheblich erschwert. Als Essensration gesteht sein Herr, bar jeglicher Barmherzigkeit („Pues ya que conmigo tenía poca caridad, consigo usaba más“; L 49), seinem Diener alle vier Tage eine Zwiebel zu, was schnell dazu führt, dass das Hunger-Narrativ einiges an Fahrt aufnimmt: „Finalmente, yo me finaba de hambre […]. A cabo de tres semanas que estuve con él vine a tanta flaqueza, que no me podía tener en las piernas de pura hambre“ (L 49, 51). Während im Blinden-Kapitel drei aufeinanderfolgende burlas geschildert wurden, beschränkt sich der zweite tractado auf eine einzige Mundraub-Episode, die jedoch sowohl in der strategischen Planung und Durchführung als auch in der künstlerischen Ausgestaltung durch den Erzähler alles bisher Dagewesene übersteigt und daher den größten Raum innerhalb des Kapitels einnimmt. Es geht um die geschickte Entnahme von Brot aus einer abgeschlossenen Kiste, zu der nur der Priester den Schlüssel hat. Das Motiv des Brottresors fungiert hier einmal mehr als Metapher für den Ausschluss der Armen und der Schlüssel als Symbol für die Verfügungsgewalt der Mächtigen. Die Konstellation zwischen Herr und Diener erinnert demnach an ein Duell165 bzw. weist eine männlich bestimmte Wettbewerbsstruktur auf. Außerdem lässt die Darstellung des Priesters, wie der folgende Ausschnitt zeigt, an die Figur des Reichen aus dem biblischen Lazarus-Gleichnis denken, was angesichts seiner Profession als besonders maliziös erscheinen muss: Los sábados cómense en esta tierra cabezas de carnero, y enviábame por una, que costaba tres maravedís. Aquélla le cocía, y comía los ojos y la lengua y el cogote y sesos y la carne

165 Vgl. dazu auch Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 24.

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que en las quijadas tenía, y dábame todos los huesos roídos, y dábamelos en el plato, diciendo: – Toma, come, triunfa, que para ti es el mundo. Mejor vida tienes que el Papa (L 50).

Zwar verweigert auch der Reiche im Lukas-Evangelium dem armen Lazarus die Reste, die vom Tisch fallen, aber hier fügt der süffisante Kommentar des Kirchenmannes dieser Boshaftigkeit noch eine zynische Note hinzu. Dass hier ausgerechnet ein Vertreter des Klerus mit einer Figur aus der Bibel in Verbindung gebracht wird, der aufgrund ihres Lebenswandels im Zeichen von Gier, Geiz und fehlender Barmherzigkeit die ewige Verdammnis ohne Aussicht auf Erlösung auferlegt wird, verschärft die Kirchenkritik und geht über die populären und überwiegend heiteren Priester-Schwänke weit hinaus. Der Bezug zum Lazarus-Stoff kehrt schließlich am Ende des Kapitels noch einmal wieder: Da der zweite tractado nur eine einzige, wenn auch ausführlich geschilderte Mundraub-Episode aufweist, gibt es auch nur eine Bestrafungsszene, die jedoch so drastisch ausfällt, dass Lazarillo für drei Tage ohne Bewusstsein ist und danach erst mit der Hilfe einer Heilerin ‚wiederaufersteht‘. Spätestens hier muss auffallen, dass die Zahl 3 eine maßgebliche Rolle innerhalb der narrativen Struktur des Textes spielt und stets im Kontext der Passionsgeschichte der Hauptfigur auftaucht: Nach dem Schlag gegen den Stier verspürt Lazarillo den Schmerz noch drei Tage lang; er erhält vom clérigo alle vier Tage eine Zwiebel, d. h. er muss drei Tage dazwischen hungern; er liegt nach der Gewaltorgie des Priesters drei Tage im Koma; das Hungerleiden umfasst drei verschiedene Herren, währt also drei Kapitel lang. Durch diese Anspielungen bestätigt sich die Vermutung von Coll-Tellechea und Zahareas, dass der Name der Titelfigur auf den „prototipo de los resucitados“ verweise und dass „[s]e anticipa que el protagonista sobrevivirá a sus miserias.“166 Man kann dieses Muster auch mit Lazarillos narrativ generierter Männlichkeit in Verbindung bringen, da die einzelnen Etappen der Wegstrecke stets mit einer Wiedergeburt beginnen und wir es folglich jedes Mal mit der Emergenz eines durch Erfahrungen veränderten Individuums zu tun haben. Im Bildungsroman verläuft das Narrativ dieser Metamorphose ähnlich, jedoch zumeist nach den positiv konnotierten Maßgaben humanistischer Ideale. Im Lazarillo hingegen verhindern die Lehrmeister der Männlichkeitsschule und deren Ideale die Genese eines männlichen Subjekts nach humanistischen Idealvorstellungen sowohl durch ihren Wertekodex (Gier, Eigennutz, Geiz) als auch ihre Praktiken (Gewalt, Exklusion, Heuchelei, Betrug, persönliche Bereicherung). Man darf daher davon ausgehen, dass Lazarillo zwar lernt, wie er in der Gesellschaft überlebt und durchaus einen äußerst bescheidenen

166 Coll-Tellechea/Zahareas (Hrsg.): La vida de Lazarillo de Tormes, S. 77, Fn. 4.

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Aufstieg im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten vorlegt, aber dass gleichzeitig seine – zumindest rudimentär vorhandenen – humanistischen Werte im Angesicht der „dehumanizing values of a corrupt society“167 immer mehr zerbröckeln. Auch Bauer hebt den systemischen Charakter dieses Lernprozesses hervor: Die Doppeldeutigkeit des Textes beruht daher nicht nur auf der Zwiespältigkeit von Lázaros Charakter, sondern, weil sein Verhalten systemisch, d. h. in Relation zu seinen Bezugspersonen bewertet werden muß, auf der Ambivalenz einer Gesellschaft, deren ultima ratio die Unredlichkeit ist.168

Das alles erklärt jedoch noch nicht die Rekurrenz der Zahl 3 in Zusammenhang mit dem Wiederauferstehungsnarrativ. Als besonders naheliegend scheint hier der Bezug nicht zur Wiederauferstehung des armen Lazarus im Johannesevangelium, sondern mehr noch zu derjenigen seines Erweckers zu sein, steht doch Jesus am dritten Tage nach seinem Tode wieder von den Toten auf bzw. wird von Gott wieder zum Leben erweckt. Auf diesem Ereignis, dessen Schilderung in den Texten (so z. B. im Markusevangelium) lediglich als blanc auftaucht, fußt der christliche Glauben an Jesus als Messias, zudem steht die Zahl 3 in der Bibel u. a. für die Dreifaltigkeit, göttliche Vollkommenheit und abgeschlossene Erfahrungen: DREI. Göttliche Fülle oder Vollständigkeit, also Vollkommenheit im Zeugnis. Gott, der Vater, der Sohn und der Geist. Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in dem Sohn seiner Liebe zu wohnen (Kol 1,19). Drei Mal kam die Stimme aus den Himmeln, in bezug auf den Herrn Jesus (Mt 3,17; 17,5; Joh 12,28). Der Herr Jesus ist Prophet, Priester und König; Sohn Gottes, Sohn des Menschen und Sohn Davids. Drei geben Zeugnis: der Geist, das Wasser und das Blut, „und die drei sind einstimmig.“ (1. Joh 5,7.8). Die Schriften, bestehend aus dem Gesetz, den Propheten und den Psalmen, gaben Zeugnis von Christus (Lk 24,44). Glaube, Hoffnung und Liebe sind Elemente des christlichen Lebens hier. Eine dreifache Schnur zerreißt nicht so bald (Pred 4,12), entsprechend der Vollendung des Zeugnisses: drei stellt eine abgeschlossene Erfahrung dar (Lk 13,32; 1. Mo 22,4; Apg 9,9).169

Im gesamten Roman finden sich vereinzelt solche verdeckten Anspielungen auf den Lebens- und vor allem Leidensweg Jesu (Sündenbockcharakter der Titelfigur,

167 Bjornson: The Picaresque Hero, S. 40. 168 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 24. 169 Vgl. https://www.bibelkommentare.de/?page=dict&article_id=122 (letzter Zugriff: 09.01.2018).

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Lebensetappen als Stationen des Leidensweges, Vaterlosigkeit, Keuschheit, Lazarillo als Prophet der Ungerechtigkeit, etc.). Tatsächlich liefert aber der zweite tractado noch eine weitere Anspielung auf die Zahl 3 und deren biblische Symbolkraft, da wir es nicht nur mit zwei Figuren zu tun haben, sondern mit einer dritten, die zwar nur einen kurzen, aber dafür umso wichtigeren Auftritt hat. Gemeint ist der Kesselflicker, der eines Tages plötzlich auftaucht und Lazarillo einen Zweitschlüssel für den Brottresor anfertigt. Zunächst hält der Junge diesen für einen Engel („yo creo que fue ángel enviado a mí por la mano de Dios“, L 54f) und bittet ihn – „alumbrado por el Spíritu Sancto“ (L 55)170 – um den ersehnten Ersatzschlüssel. Diese Formulierung ging der Zensur offenbar zu weit und wurde in der edición expurgada von 1573 durch „alumbrado por no sé quien“ ersetzt, was bedeutet, dass auch zeitgenössischen Lesern solche Anspielungen, die als blasphemisch beurteilt wurden, keineswegs entgangen sind. Das buchstäbliche Erscheinen des Heiligen Geistes in Person eines calderero komplettiert sozusagen die Dreifaltigkeit innerhalb des düsteren Hauses: Der clérigo als Vertreter Gottes und Ersatzvater des Jungen, der angenommene Sohn und schließlich der Engel bzw. Heilige Geist. Wiewohl handelt es sich um eine eher unheilige Trinität, die hier zusammentrifft: ein habgieriger, heuchlerischer Dorfpriester in der Rolle des Vaters, ein listiger Diener, der möglicherweise seinen letzten Herren auf dem Gewissen hat, als Sohn sowie ein ahnungsloser Kesselflicker als Heiliger Geist. Ob es sich nach alledem bei La vida de Lazarillo de Tormes um eine travestierte Neuerzählung der Jesus-Vita handelt, würde diesen Mosaiksteinen vermutlich zu viel Gewicht geben. Gleichwohl ließe sich aus intertextueller Sicht einmal mehr der unbestritten starke Einfluss von La Celestina für diese These fruchtbar machen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Kupplerin sehr viel deutlicher als ironische Antithese zur Heiligen Jungfrau Maria ausgestellt wird. Würde man in Lazarillo ihren ersten intertextuellen ‚Sohn‘ sehen, was z. B. auch das Titelkupfer der Pícara Justina nahelegt, auf dem Celestina als „Madre Celestina“ dargestellt wird, die den anderen pícaros ein „Andad hijos“ mit auf den Weg gibt171,

170 Vgl. Rico, in: L 55, Fn 45. 171 Vgl. dazu Montauban: El ajuar de la vida picaresca, S. 50: „La respuesta se encuentra en la frase del grabado: ‚Andad hijos‘ con que la Madre Celestina estimula al Lazarillo a seguir ‚con fuerza y maña‘ para llegar ‚a buen puerto‘. Esta frase, que es una paráfrasis de las palabras con las que el propio Lazarillo termina su Prólogo (23), otorga al Río del Olvido una cualidad metafórica vinculada con la reproducción sexual y textual: el imperativo ‚Andad hijos‘ se convierte también en ‚Procread hijos‘ en la medida que indica un traspaso y una continuidad del legado pícaro, aunque sea en aguas tan dudosas como las del Río en que navegan.“

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dann läge diese Interpretation nahe, nämlich Lazarillo dementsprechend als karnevalesken Anti-Jesus zu deuten.172 Ein letzter Punkt ist in Zusammenhang mit Lazarillos Anstellungsverhältnis beim clérigo zu nennen: In dem Moment, als Lazarillo in seine Dienste tritt, lautet es: „Finalmente, el clérigo me rescibió por suyo“ (L 47). Diese Bemerkung geht über die reine Beschreibung einer Anstellung hinaus, beschreibt dieser Satz doch deutlich die Inbesitznahme Lazarillos durch den Geistlichen. Der Diener wird verdinglicht, was – im Vergleich mit allen anderen homosozialen Konstellationen des Romans – zu einer Radikalisierung des Herrschaftsverhältnisses im Sinne von Leibeigenschaft führt. Der Diener wird, wie sich im weiteren Verlauf bestätigen wird, keineswegs für seine Dienste entlohnt, sondern gilt aufgrund einer absoluten Statusdegradierung als dinghafter Bestandteil des priesterlichen oikos, was den Herren ganz offenkundig von jeglicher Sorge entbindet.173 Dies wiederum fügt sich insofern in das Porträt des Geistlichen ein, als sich sein Lebensstil als „betont auf das Materielle, das Geld ausgerichtet“ erweist und seine Denkweise „primär von der ökonomischen Lage bestimmt“174 wird. Dazu passen das Bild des ‚Brottresors‘ ebenso wie seine Schlemmsucht und der Geiz. Auch wenn ökonomische Aspekte die novela picaresca mit ihrem Fokus auf das Materielle sowie auf das Prekariat ohnehin nahezu durchgängig bestimmen, fällt doch hier auf, dass die Macht des Geistlichen über seinen Diener primär eine ökonomische ist. Diesem präkapitalistischen Paradigma entspricht am Ende des Kapitels auch sein Abschiedsgruß:

172 Zumindest mit Blick auf die „gran calabazada“ und den drei Tage währenden Schmerz beobachtet auch García-Rubio Reminiszenzen an die Jesus-Geschichte: „Igualmente es curiosa la puntualización que hace Lázaro cuando dice que la marca del golpe le duró precisamente tres días (no dos, ni cuatro, o una semana). No creo que sea necesario mencionar la carga semántico-simbólica del tercer día en el Nuevo Testamento, en lo relativo a la resurrección de Jesucristo y el implícito mensaje en el texto del despertar en otro mundo“ (García-Rubio: „Las connotaciones paródico-satánicas“, S. 104). 173 Man könnte hier durchaus von Versklavung sprechen, die zwar im 16. Jahrhundert bereits größtenteils in die Kolonien ‚ausgelagert‘ war, wohl aber in Form von sog. Kin-Sklavereien (Haussklaverei) auch im Europa der Frühen Neuzeit noch praktiziert wurde. Vgl. dazu ausführlich Michael Zeuske: Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2013. Zur Definition der Sozialfigur des Sklaven vgl. S. 99-108. Dort werden als Hauptmerkmale sklavischer Existenz Gewalt, Statusdegradierung und Leibeigenschaft angeführt; zur „Kin-Sklaverei“ siehe S. 174-200. 174 Beide Zitate aus Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, S. 125.

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„Lázaro, de hoy más eres tuyo y no mío“ (L 71). Stärker noch als beim Blinden wird hier also die Tatsache betont, dass Lazarillo während seiner Dienstzeit als Besitz, d. h. als Leibeigener empfunden wird, was sicherlich in diesem Fall dem Standesunterschied in Rechnung zu stellen ist, der im vorherigen Dienstverhältnis nicht in dem Maße bestimmend war. Dies hat ebenfalls zur Folge, dass Hunger und Gewalt nicht länger nur als konsekutive Phänomene zu betrachten sind, sondern als beinahe synonym: Der Geistliche übt Gewalt aus, indem er Lazarillo kategorisch Nahrung vorenthält. Auch der Blinde war nicht besonders großzügig, aber der clérigo übertrifft ihn – entsprechend dem graduellen Charakter der ersten drei Episoden – um ein Vielfaches, wie auch die folgende direkte Gegenüberstellung der beiden Herren nahelegt: „Yo he tenido dos amos: el primero traíame muerto de hambre, y, dejándole, topé con estotro, que me tiene ya con ella en la sepultura“ (L 54). Des Weiteren wiederholen sich Formulierungen wie „me mataba de hambre“ (L 57) sowie überhaupt die narrative Engführung von Hunger und Tod: So kommt Lazarillo nur in den Genuss von Essen, wenn der Geistliche ihn zu einem Leichenschmaus mitnimmt („Mas el lacerado mentía falsamente, porque en cofradías y mortuorios que rezamos, a costa ajena comía como lobo y bebí más que un saludador“, L 52), bis schließlich Lazarillo Gott anfleht, er möge ihm täglich einen Toten bescheren, was ihm jedoch in sechs Monaten nur zwanzigmal gewährt wird („murieron a mi recuesta“; L 53). Unschwer zu erkennen ist, dass es sich bei dieser Passage um eine eher morbide Parodie des Vaterunsers handelt. Statt des täglichen Leichenschmauses muss sich Lazarillo zumeist mit der „hambre cuotidiana“ (L 53) abfinden. In diesen Kontext passt auch, dass es in der Hauptgeschichte des Kapitels, die von Lazarillos List handelt, weder um Würste noch um Trauben oder Wein geht, sondern um Brot, ganz nach dem Motto Nuestro pan cotidiano dánoslo hoy (‚Unser täglich Brot gib uns heute‘), was ihm der Vertreter Gottes jedoch unerbittlich verweigert.175 Im Motiv des Brotes, in dem Lazarillo „la cara de Dios“ (L 56) erblickt, wird schließlich der biblisch-christliche Bildbereich mit dem ökonomischen Diskurs enggeführt. Sears ist zwar einerseits zuzustimmen, wenn sie schreibt: „As the first three tratados develop, bread’s centrality to Lázaro’s tale increases, which places ever more emphasis on social and economic issues underlying the story“176; andererseits steht das Brot aber eben auch metonymisch für die bereits dargestellten Bezüge zum Vaterunser-Gebet, zur Jesus-Geschichte (das Brot als Leib Christi) sowie letzten Endes auch zur Mutter (die Müllerin war),

175 „Vgl. Sears: „Beyond Hunger“, S. 103: „Bread, in fact, becomes almost a character, and a principal one at that, in the first three tractados.“ 176 Ebd.

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d. h. die Heilige Familie ist fest mit diesem Motiv verbunden. Der Geistliche, verstanden als Gottes Helfer auf Erden, wäre demnach entsprechend dem christlichen Caritas-Ideal dafür zuständig, den Armen ihr täglich Brot zu schenken. Stattdessen nimmt er die Spendenbrote seiner Dorfbewohner und hortet sie in seiner Holzkiste – so wie übrigens auch der Leib Christi im Tabernakel unter Verschluss gehalten wird. Dort lagert das Brot (‚das Antlitz Gottes‘) jedoch nicht, um an die Gläubigen oder Bedürftigen verteilt zu werden, sondern ausschließlich für den eigenen Verzehr. Damit haben wir es abermals mit dem genauen Gegenteil dessen zu tun, was die christlich-ethische Norm dem Geistlichen abverlangen würde, was wiederum bedeutet, dass der ökonomische Diskurs die christlichen Idealvorstellungen korrumpiert, pervertiert und suspendiert. Aber nicht damit genug, dass der Geistliche – von Habgier getrieben – das Brot (und andere Luxusgüter) in seinem pervertierten Privat-Tabernakel für sich behält, er benutzt es, um die eigene Macht gegenüber seinem Diener zu demonstrieren. Wie Irenäus Eibl-Eibesfeldt hervorhebt, gründet die soziale Praxis der Nahrungsvergabe, die im Grunde immer auf sozialen Ungleichheitsverhältnissen basiert (z. B. in den Konstellationen Eltern/Kind, reich/arm), in familiären oder familienähnlichen Solidarzusammenhängen: As nurturant behavior derived from parental relationships, food giving and sharing departs from the principle of reciprocity first described by Mauss (1924/1954), who wrote that humans feel a threefold moral obligation to give, receive and reciprocate, in which social and economic factors are closely intertwined.177

Das Verhalten des clérigo beschränkt sich zunächst recht einseitig auf das „to receive“, bevor es sodann in unbarmherzige Dominanz umschlägt: „nurturant dominance is a strategy primarily used by those who are intimate or familiar with one another.“178 Der Missbrauch der Nahrungskontrolle durch den Geistlichen ist hier gleichzusetzen mit Gewalt, und das Brot fungiert als Symbol für Macht oder besser: Machtmissbrauch. Insofern erklärt sich das Vorherrschen ökonomischer und christlicher (Bild-)Sprache in diesem Romanteil. Der anonyme Autor prangert – gänzlich ohne die übliche schwankhafte Komik – den Bereicherungswillen und Machtmissbrauch des Klerus an, wobei das Motiv des Brotes den Schnittpunkt dieser beiden Diskurse darstellt.

177 Irenäus Eibl-Eibesfeldt: „The Evolution of Nurturant Dominance“, in: Polly Wiesner/Wulf Schiefenhövel (Hrsg.): Food and the Status Quest. An Interdisciplinary Perspective, Providence/Oxford 1996, S. 33-38, hier: S. 35. 178 Ebd., S. 37.

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Hinter dieser rhetorisch raffinierten und inhaltlich drastischen Form der Gesellschafts- und Kirchenkritik verbirgt sich ebenfalls eine klar formulierte Männlichkeitskritik. Der unbarmherzige, heuchlerische, gierige, geizige und überaus brutale Kirchenmann verkörpert durch die ausschließlich Eigeninteressen geschuldete Re-Transsubstantiation des Brotes, d. h. durch die Rückverwandlung des Leibes Christi in ein durch und durch weltlich-materielles Kulturprodukt,179 einen neuen Männlichkeitstyp, den man im präkapitalistischen Sinne als Vorform des homo oeconomicus interpretieren kann. Joseph Vogl datiert in seinem Essay Das Gespenst des Kapitals die Geburt des ökonomischen Menschen etwas vage auf das 17. Jahrhundert180 und konstatiert, dass diese neue Figur „nicht mehr einfach als zōon politikón begriffen werden kann, [...] sondern als dysfunktional, als nicht für das Gemeinsame gemacht.“181 Es scheint im Fall des Lazarillo besonders maliziös, diesen „reformierte[n] Menschentyp“, der „von Appetit und Aversion, von Anziehung und Abstoßung bewegt wird, [der] also seinem Bau nach aus sozialen Defiziten und Dysfunktionen besteht“182, anhand einer Priesterfigur darzustellen, steht doch Vogl zufolge beim ökonomischen Menschen das „Eigeninteresse“ als Motor seines Handelns eindeutig an oberster Stelle. Bernhard Malkmus schreibt in diesem Zusammenhang über die theologischen Normen der Zeit: „Medieval theology called for man to earn only what was necessary to survive in the place

179 Vgl. Sears: „Beyond Hunger, S. 102: „Bread has always signified civilization as ‚an absolute example of artifice, a completely cultural product throughout all phases of its preparation.‘“ Sears zitiert hier Massimo Montanari: „Introduction: Food Systems and Models of Civilization“, in: ders./Jean-Louis Flandrin (Hrsg.): Food. A Culinary History from Antiquity to the Present, New York 1996, S. 69-78, hier: S. 71. 180 Auf die Frage, warum nicht schon das merkantilistische Modell des Kaufmanns der italienischen Renaissance Qualitäten des homo oeconomicus aufweist, findet man keine Antwort. Vgl. zur Historie das zweite Kapitel „Idylle des Marktes I“ in: Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 31-52; vgl. zur Historisierung des Ökonomischen auch ders.: Kalkül und Leidenschaft. Zur Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich 2002, S. 11. Braudel wiederum sieht den Kapitalismus in seiner frühesten Ausprägung bereits im 12. und 13. Jahrhundert ins Werk gesetzt und zwar vornehmlich in den norditalienischen Handelszentren. Vgl. Fernand Braudel: Civilisation matérielle et capitalisme (XIe-XIVe siècle), Paris 1979. Ähnlich argumentiert Philippe Norel: L’Histoire économique globale, Paris 2009. 181 Vogl: Das Gespenst des Kapitals, S.33. 182 Ebd., S. 33f.

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ascribed to him by God; any form of gain was seen as a sign of greed and avarice.“183 Insofern verkörpert der clérigo das genaue Gegenteil des obersten christlichen Tugendideals, nämlich der caritas. Jacques Le Goff, für den präkapitalistische Ordnungsmuster bereits im 16. Jahrhundert beginnen, hebt unter Berufung auf die Historikerin Anita Guerreau-Jalabert die zentrale Rolle der caritas hervor – nicht nur innerhalb des Klerus, sondern im gesamtgesellschaftlichen Wertesystem: Je pense qu’il faut accorder, dans ce système, une place centrale à la notion de caritas, et si l’on veut tenter de définir un type d’économie auquel se rattacherait l’économie monétaire médiévale, c’est, me semble-t-il, dans le domaine du don qu’il faudrait le chercher. […] [Guerreau-Jalabert] souligne qu’il n’existe pas d’économie indépendante au Moyen Age mais qu’elle est imbriquée dans un ensemble dominé par la religion. [...] « la charité apparaît comme le point où se mesure la qualité du chrétien. Agir contre la charité c’est agir contre Dieu, les péchés contre la charité sont logiquement parmi les plus graves ».184

Die caritas wird dem Priester explizit durch die privaten Enthüllungen des pícaro abgesprochen („tenía poca caridad; L 49) bzw. erweist sich durch die Gegenüberstellung von öffentlichem Raum (polis) und privatem Haushalt (oikos) als falsche Münze: Während er sich nach außen als barmherziger Hirte inszeniert, entpuppt er sich nach innen als habgieriger Tyrann, den Vogl u. a. wie folgt kategorisiert: Selbst die schlimmsten Begierden, die hitzigsten Leidenschaften werden durch ein Spurenelement von Eigeninteresse geklärt, das die Wahl des Angenehmeren, des weniger Schmerzvollen dirigiert. Damit zeigt sich das Interesse zugleich als Form eines Wollens,

183 Bernhard Malkmus: „The Picaresque Mode and Economics of Circulation“, in: Christoph Ehland/Robert Fajen (Hrsg.): Das Paradigma des Pikaresken / The Paradigm of the Picaresque, Heidelberg 2007, S. 179-200, hier: S. 182. Vgl. dazu auch Glyn Davies: A History of Money. From Ancient Times to Present Day, Cardiff 1984, S. 217222. 184 Jacques Le Goff: Le Moyen Age et l’argent. Essai d’anthropologie historique, Paris 2010, S. 224. Le Goff zitiert hier die Schriften von Anita Guerreau-Jalabert: „Caritas y don en la sociedad medieval occidental“, in: Hispania. Revista Española de Historia 60 (2000), S. 27-62 sowie „Spiritus et caritas. Le baptême dans la société médiévale“, in: Françoise Héritier-Augé/Elisabeth Copet-Rougier (Hrsg.): La Parenté spirituelle, Paris 1995, S. 133-203.

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das nicht über Askese, Selbstbeherrschung und Zügelung, sondern umgekehrt durch Selbstbehauptung funktioniert. Das Interesse kennt den Selbstverzicht nicht. Es fungiert als ein prinzipienloses Prinzip.185

Vogls Porträt des interessengeleiteten homo oeconomicus entspricht in etwa dem Porträt des clérigo, d. h. auch hier enttarnt der Erzähler auf ironische Weise einen vir inversus, der sich längst von den offiziellen Werten verabschiedet und statt dessen die Befriedigung seiner privaten Laster und Leidenschaften als Ersatzreligion etabliert hat. Im Jahr 1554 befinden wir uns tatsächlich in einer Epoche, in der man kaum von kapitalistischen Strukturen im eigentlichen, ja marxistischen Sinne sprechen kann.186 Gleichwohl antizipiert die Gesellschaftskritik, die der anonyme Autor hier vorbringt, durch die narrative Engführung von christlichen Werten und ökonomischen Maximen, spätere Kritiken, so etwa Walter Benjamins Diktum vom „Kapitalismus als Religion“.187 Man könnte ohnehin sagen, dass der Diskurs über Kapitalismus, wie er seit dem 19. Jahrhundert geführt wird, durch und durch religiös geprägt ist: Es geht um Gläubiger, Messen und Kredite; der Mammon wird vergöttlicht,188 was auch in späteren Schelmenromanen immer wieder aufgegriffen wird, so etwa im ironischen Lob des Geldes in Grimmelshausens Simplicissimus, wie Uwe C. Steiner beobachtet hat: „Das Geld ist ein Ding, das als innerweltlicher illegitimer Gott die Sitten verdirbt. Daß man nicht Gott, sondern Mammon huldigt, kennzeichnet den Kern der verkehrten Welt.“189 Dass dies bereits für den Lazarillo gilt, zeigt der zweite tractado sehr eindrücklich. Ja mehr noch: Vergleicht man das ursprüngliche und offizielle christliche Ideal und

185 Vogl: Das Gespenst des Kapitals, S. 36 (Herv. G. S.). 186 Vgl. Le Goff: Le Moyen Age et l’argent, S. 226f, 229: „Ces considérations jointes ensemble font que, pour le Moyen Age jusqu’à la fin du XVe siècle, il est impossible de parler de capitalisme ou même de précapitalisme. Ce n’est qu’au XVIe siècle qu’apparaissent des éléments qui se retrouveront dans le capitalisme, l’abondance de métaux précieux venus d’Amérique à partir du XVIe siècle, l’apparition pérenne d’une Bourse […]. Une leçon essentielle de l’étude de l’argent au Moyen Age, c’est le rôle néfaste de l’anachronisme dans l’historiographie.“ 187 Walter Benjamin: „Kapitalismus als Religion [1921, Fragment]“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M. 1991, Bd. VI, S. 100-102. 188 Für diesen Hinweis danke ich meinem Kollegen Jens Schröter (Universität Bonn). 189 Uwe W. Steiner: „Unbehauste Ökonomie. Von der Zirkulation der Dinge bei Hans Sachs und Grimmelshausen“, in: Iuditha Balint/Sebastian Zilles (Hrsg.): Literarische Ökonomik, Paderborn 2014, S. 47-67, hier: S. 58.

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den daraus entwickelten ‚Kern der verkehrten Welt‘ der Pikaresken mit der kapitalistischen Doktrin der Moderne, kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass sich das dort noch deutlich als die Werteordnung konterkarierender mundus inversus ausgestellte Modell im Lauf der Jahrhunderte als das ‚Normale‘ durchgesetzt hat. So schreibt Benjamin: Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. [...] [D]er Kapitalismus [ist] eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung.190

Dieser Aspekt des Kultischen wird, wie bereits angedeutet, im Lazarillo durch die raffiniert eingesetzte Bildsprache angedeutet: Die Brotkiste („el arca“), die in der zweiten Hälfte des Kapitels die dritte Hauptrolle spielt (sie wird immerhin 23 Mal erwähnt und teilweise mithilfe von Adjektiven wie „triste“ personifiziert), dient gleichzeitig als Tresor191 und Tabernakel; der Leib Christi – an einer Stelle wird das Brot als „oblada“ (L 56) bezeichnet – fungiert als reines Prestige- und Verzehrobjekt sowie als Machtinstrument zur Unterdrückung der Schwächeren. Lazarillo vergöttert die Lade ob ihres Inhaltes („mi paraíso panal“; L 57) und kniet gleichsam in Erwartung der heiligen Kommunion ehrfürchtig vor ihr nieder: „Yo, por consolarme, abro el arca, y como vi el pan, comencélo de adorar, no osando rescebillo“ (L 58). Ein weiteres starkes Dingsymbol192 ist der Schlüssel, den der Priester stets mit sich führt und der daher als Instrument des Ausschlusses fungiert. Als Lazarillo

190 Benjamin: „Kapitalismus als Religion“, S. 100. 191 Vgl. dazu den Eintrag „arca“ im Tesoro de la lengua castellana: „la caxa grande con cerradura ab arcendo, porque ab ea clausa arcentur fures: y es assi que la ocasion haze el ladron: y como dizen, A puerta cerrada el diablo se torna, que es no hallando ocasión: assi el ladron donde halla el arca cerrada no haze presa“ (Covarrubias, S. 82f). 192 Für Maiorino stellt aus ökonomisch-metaphorischer Sicht die Mausefalle das wichtigste Dingsymbol des zweiten Kapitels dar. Nachdem der Geistliche die wiederholten Diebstähle bemerkt hat, stellt er eine „ratonera“ (L 65) in seinen Brottresor. Maiorino schreibt dazu: „By combining the concepts of hunger, parasitism, cunning, theft, punishment, and inequality, the mousetrap stand out as a central metaphor for the economics, no less than for the ethics, of society at large.“ In: Giancarlo Maiorino: At the

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den calderero für den illegalen Zweitschlüssel entlohnen möchte, sagt er mit Blick auf das Brot: „Yo no tengo dineros que os dar por la llave, mas tomad de ahí el pago“ (L 56). Das bedeutet nichts anders als dass hier das Brot als Zahlungsmittel zum Einsatz kommt und dadurch ebenfalls ökonomisiert wird. Dieser Eindruck wird noch durch das Verhalten des Geistlichen verstärkt, der nach dem bemerkten Verlust damit beginnt, eine tägliche ‚Brot-Inventur‘ durchzuführen: „contando y tornando a contar los panes [...] echando la cuenta por días y dedos contando [...] tener buena cuenta con ellos“ (L 57f). Den gefälschten Schlüssel wiederum deponiert Lazarillo nachts in seinem Mund, in den er zuvor das geraubte Brot gesteckt hatte, um ihn vor seinem misstrauischen Herrn zu verstecken. Dieser Trick nimmt wiederum Bezug auf den ersten tractado, in dem Lazarillo bereits Teile der Almosen des Blinden veruntreut und diese Münzen in seinem Mund deponiert, was der Erzähler in gewohnt euphemistischem Ton als „cambio“ (L 29) bezeichnet, was, wie Rico darlegt, bereits im 16. Jahrhundert die Bedeutung von „operación financiera, de carácter crediticio“193 hatte. Sicher nicht zufällig kommt hier der Mund („la boca“) mehrfach als Ort des engaño zum Einsatz und zwar in seiner anatomischen Materialität als Mundhöhle, was jedoch lediglich dem Mund – nun verstanden als Sprachorgan, das ebenfalls einen betrügerischen Diskurs hervorbringt – eine weitere ironische Facette verleiht. Was bei dem Blinden noch bestens funktioniert, geht nun jedoch gründlich schief und führt schließlich zur Katastrophe: Die Tatsache, dass der gefälschte Ersatzschlüssel innen hohl ist, wodurch der Atem des Schlafenden ein Pfeifgeräusch hervorruft, lässt den ganzen Betrug auffliegen und mündet in die bereits geschilderte Gewaltorgie. Diese ambivalente Szene ist geprägt durch eine Reihe von Substitutionen und Verdopplungen, die im Zeichen von Dissimulation und Exklusion stehen. Die Brotkiste dient dem Priester als Instrument der persönlichen Bereicherung und des gleichzeitigen Ausschlusses seines Dieners. Der Schlüssel fungiert als Medium des Zugangs, das jedoch dem Mächtigen vorbehalten bleibt. Den Armen bleibt nichts anderes als sich durch Täuschung Teilhabe zu verschaffen, wobei die Hohlheit des Duplikats den Gegensatz von Original und Fälschung offenbart und dazu führt, die Selbstermächtigung des Dieners mit extremer Gegenwehr zu beantworten. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Verhandlungen von und über Männlichkeit im Zusammenhang von Hunger, Gewalt und Ökonomisierung im

Margins of the Renaissance. Lazarillo de Tormes and the Picaresque Art of Survival, University Park/PA 2003, S. 21. 193 Vgl. Rico, in: L 29, Fn. Vgl. dazu auch ders.: „Introducción“, in: S. *23-*25.

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Lazarillo überaus komplex sind. Auf der Ebene des erzählten Ichs wird die narrative Herausbildung pikaresker Männlichkeit aus dem vorhergehenden tractado weitergeführt, wenngleich unter verschärften Bedingungen: Lazarillo wird durch Inbesitznahme zu einem sklavenähnlichen Leibeigenen degradiert, mithin wird sein Habitus auf einen niedrigstmöglichen Status reduziert. Der Einsatz von Gewalt gegen ihn steigert sich im Vergleich zum ersten Herrn um ein Vielfaches und wird abermals als gängige Praxis zur Souveränisierung eines höher gestellten männlichen Habitus dargestellt. Zur Gewalt gehört zudem das kategorische Vorenthalten grundständiger Nahrungsmittel, was anhand des besonders assoziationsreichen Motivs des Brotes in Form einer Synekdoche In Szene gesetzt wird. Der Hunger wird jedoch nicht nur als Symptom des Mangels geschildert, wie folgender Passus zeigt: „Y pienso, para hallar estos negros remedios, que me era luz la hambre, pues dicen que el ingenio con ella se avisa, y al contrario con la hartura, y así era por cierto en mí“ (L 62). Abgesehen vom Gegensatzpaar „negro“ vs. „luz“, das das ganze dritte Kapitel atmosphärisch bestimmt, wobei die Dunkelheit für Täuschung und Licht für Erkenntnis bzw. Ent-Täuschung steht, wird hier mit „ingenio“ ein Begriff eingeführt, der – wie bereits angedeutet – ebenfalls kennzeichnend für das zweite Kapitel ist. Covarrubias definiert den Terminus folgendermaßen: Vulgarmente llamamos ingenio una fuerça natural de entendimiento investigadora de lo que por razón y discurso se puede alcançar en todo genero de ciencias, disciplinas, artes liberales y mecánicas, sutilezas, invenciones, y engaño […]. 194

Der Hunger wirkt sich dem Erzähler zufolge auf den Verstand, den Erfindungsgeist oder das Genie des Hungrigen aus und macht mithin aus dem Hungerleider einen Hungerkünstler, was man zunächst einmal als kaum verhohlenes Selbstlob interpretieren kann. Bezeichnenderweise nennt Covarrubias in seinem Artikel die freien Künste in einem Atemzug mit dem engaño. Da im Kontext des Romans aufgrund der autodiegetischen Erzählposition immer zwei Ebenen zu berücksichtigen sind, darf man den engaño auf das erzählte Ich projizieren, das immer ausgeklügeltere Strategien entwickelt („negros remedios“), um an sein ‚täglich Brot‘ zu gelangen. „Artes liberales“ bezöge sich dieser nachgerade schizophrenen Struktur entsprechend auf den Erzähler, d. h. den erwachsenen Angeklagten, der mit seiner genialen Dichtkunst („me era luz“) den Richter und als Autor seine Leser beeindrucken und verführen möchte. Wieder geht es auf beiden Ebenen um das Überleben sowie das Ringen um Anerkennung und soziale Teilhabe. Ferner

194 Ebd., S. 504.

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gibt der doppelt kodierte Begriff des „ingenio“ aufgrund seiner semantischen Ambivalenz einen subtilen Hinweis („sutilezas“) darauf, dass man als Leser stets gewarnt sein und vielleicht doch nicht alles glauben sollte, was uns der Hungerkünstler an Geschichten und Gerichten auftischt. Dass es sich bei der geschilderten Brot-Geschichte um einen ‚ernsten Wettbewerb‘ ganz im Bourdieu’schen Sinne handelt, d. h. dass sich die männlichen Habitus der beiden Widersacher auf der Ebene des Erzählten kompetitiv zu konstituieren versuchen, stellt folgendes Sinnbild anschaulich dar: „Finalmente, parescíamos tener a destajo la tela de Penélope, pues cuanto él tejía de día rompía de noche“ (L 64). Die Figur der Penelope war in der griechischen Mythologie die Frau des Odysseus, die sich während dessen langer Abwesenheit eine Reihe von Freiern mit der List vom Leib hielt, sie müsse noch ein Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes zu Ende weben, was sie jedoch jede Nacht wieder auftrennte, um am Tage weiter zu weben. Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich bei dieser Figur ebenfalls um eine Allegorie der Dichtkunst handelt, so wie Arachne, die bereits in Kap. 3.1 ausführlich im Zusammenhang mit der Celestina vorgestellt wurde. Das Weben und die List stehen auch hier für den „ingenio“ und den „engaño“ des Dichters, mithin für dessen Handwerk und seine Imagination. Man könnte daher im Wettbewerb zwischen Lazarillo und dem clérigo einen Dichterstreit um die soziale Vormachtstellung und ideologische Deutungshoheit innerhalb der eigenen Diegese sehen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung, dass der Geistliche offenbar längst die Bibel als ethisch-moralischen Leitfaden gegen sein persönliches Rechnungsbuch eingetauscht hat und die Praxis des Rechnens und Zählens das Beten aus seinem Alltag verdrängt hat. Lazarillo hat an diesem ökonomischen Weltbild bestenfalls parasitären Anteil, wie es Michel Serres in seinem gleichnamigen Essay entwickelt.195 Insofern wird die Männlichkeit der beiden deutlich als kompetitiv und gleichzeitig narrativ generiert dargestellt. Neben dem Fokus auf die narrative Struktur der eigenen pikaresken Männlichkeit sowie auf den homosozialen Wettbewerb, also das relationale Machtgefüge zwischen beiden Männlichkeiten von Herr und Knecht, wird im Rahmen der pikaresken Typenrevue nach dem Blinden ein raffiniertes Porträt des Geistlichen komponiert, das seine Komplexität durch die ironische Montage von verschiedenen Männlichkeitsbildern erhält, die sich streng genommen gegenseitig ausschließen: das des barmherzigen Hirten sowie das des homo oeconomicus. Mit einem Bild aus dem Bereich der Fauna beschreibt der Erzähler den Geistlichen, nämlich

195 Vgl. Michel Serres: Le Parasite [1980], Paris 2014.

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mit dem Bild des Wolfes, das sich bis heute erhalten hat, wenn von der übermäßigen Gier bestimmter Kapitalisten oder Börsianer die Rede ist: „Mas el lacerado mentía falsamente, porque en cofradías y mortuorios que rezamos, a costa ajena comía como lobo y bebía más que un saludador“ (L 52, Herv. G. S.). Maiorino schreibt in einem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel „Picaresque Econopoetics“ über die animalische Metaphorik im Lazarillo: „Master and servant are playing cat-and-mouse. [...] At that point, Lázaro and his master are reduced to the animallike state of predators whose whole being could respond to nothing but the call of hunger.“196 Der Wolf – „se dice de quien no ha de hazer virtud, ni usar de largueza“197 – bedroht im Tierreich die Schafe des Hirten; insofern ist die Figur des Priesters auf den ersten Blick ein wandelndes Paradoxon, was durch die bereits geschilderte diskursive Engführung von ökonomischen und christlichen Idealen zustande kommt. Die Währung des Priesters ist die caritas, diejenige des Ökonomen Geld und Besitz. Genau in dieser Diskurskontamination sieht Maiorino den Kern der „econopoetics“: Economic power and class discriminations were thus crucial to marginality, picaresque or otherwise. Popolo grasso and ricos hombres, in fact, knew how to guard their wealth, and they did it with a vengeance. [...] Since it became a marker of individual and collective ‚fashioning‘, wealth – or lack thereof – affected what could be called econopoetics, which this essay takes to describe deficient negotiations between economic signs and noneconomic verbal signifiers [...]. From food and lodging, money, and manners, econopoetics brings together an array of different languages, which are reciprocally paraliterary and paraeconomic.198

Hier stoßen unterschiedliche, klar männlich kodierte Habitus aufeinander, die Oppositionen einebnen, so etwa diejenige zwischen Menschen und Dingen. Lazarillo wird zu Beginn in Besitz genommen – wie eines der zahlreichen Spendenbrote – und am Ende wieder freigegeben, um sogleich in die Hände des nächsten Herren überzugehen. Er wird damit – wie der Ding-Besitz – zum zirkulierenden Objekt im besten ökonomischen Sinne. Des Weiteren wird die Opposition von sakral und

196 Giancarlo Maiorino: „Picaresque Econopoetics. At the Watershed of Living Standards“, in: ders. (Hrsg.): The Picaresque. Tradition and Displacement, Minneapolis/London 1996, S. 1-39, hier: S. 16. Vielleicht nicht zufällig denkt der Geistliche zunächst an Mäuse, als er die regelmäßigen Brotverluste erkennt, später gar an eine Schlange. 197 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 526. 198 Maiorino: „Picaresque Econopoetics“, S. 2f, 6.

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profan getilgt, indem der Geist der Ökonomie sich sämtliche heiligen Gegenstände und Werte (Leib Christi, Bibel, Barmherzigkeit) einverleibt und im Gegenzug profane Dinge sakralisiert (Besitz, Rechnungsbuch, Gier). Die Geburt des homo oeconomicus aus dem Schoß der katholischen Kirche ist demzufolge ebenfalls die Geburt des vir inversus.199 Die Tatsache, dass der ökomische, mithin anti-christliche Wertekanon am Ende des Romans den Sieg davontragen wird (darauf wird noch zurückzukommen sein), und das in genuin wirtschaftlicher Verbindung mit einem weiteren Kirchenmann, zeigt, dass im zweiten tractado nicht nur die christlichreligiöse Symbolik durch den ökonomischen Diskurs korrumpiert wird, sondern dass eben jene Symbolik in ihrer Transmutation zum ökonomischen Diskurs vorgeführt wird, die mindestens bis Walter Benjamin reicht.

4.5 „P OR

SU NEGRA QUE LLAMAN HONRA “

Der dritte tractado schließt zwar motivisch das Hunger-Thema in Form einer Anti-Klimax ab und damit auch den größten Teil des Romans, aber inhaltlich bildet er insbesondere zum zweiten, teilweise auch zum ersten Kapitel, das genaue Gegenstück. Auf den ersten Blick fällt auf, dass der verarmte Escudero seinem neuen Diener gegenüber keine physische Gewalt anwendet, was zwar zunächst positiv anmutet, jedoch ursächlich mit dem hier zentralen Thema der Ehre bzw. honra zusammenhängt. Neu ist auch der Abschluss der Episode: Während im ersten tractado Lazarillo die Flucht ergreift und er im zweiten vor die Tür gesetzt wird, ist es nun am Ende sein Herr, der die Flucht ergreift. Des Weiteren werden im Verlauf des Kapitels die Rollen zwischen Herr und Diener vertauscht, da Lazarillo immer mehr zum Ernährer des namenlosen Adeligen avanciert. Ferner lässt sich beobachten, dass mangelnder bzw. ehemaliger Besitz zwar eine wichtige Rolle spielt und dass dieser Mangel als Grundlage für die weitere Handlung dient, aber im Vordergrund steht dieses Mal, wie bereits angedeutet, nicht das ökonomische, sondern das symbolische Kapital der Standes- und Männlichkeitsehre. Schließlich akzentuiert der dritte tractado – vor allem im unmittelbaren Vergleich

199 Vgl. zum Verhältnis von Klerus und wirtschaftlichem Überfluss Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 15: „Affluence, conversely, was an institutional attribute of the nobility and, however disguised, of the Church. The clergy preached the rightness and naturalness of social and economic inequality, and promised a heavenly reward for the dispossessed poor.“ Ohne dass der Name hier fällt, erinnert dieses inoffizielle Selbstverständnis der Kirche auf subversive Weise an das lukanische LazarusGleichnis.

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zur kammerspielartigen clérigo-Episode – stärker den öffentlichen Raum und damit zusammenhängend die öffentliche Meinung, was ebenfalls dem zentralen Thema honra geschuldet ist. Honra, so Del Ama, „depende [...] de la fama que el individuo disfruta, de su reputación en la comunidad“ und „no tiene una dimensión privada, sino pública“200. Aus Sicht der literatur- und kulturwissenschaftlichen Männlichkeitsforschung ist dieser dritte tractado insofern besonders aufschlussreich, als hier auf die bekannten hyperbolisch gezeichneten Gewaltexzesse verzichtet und mit der Figur des Escudero eine historisch verbürgte Krisenfigur eingeführt wird, die in gewisser Weise den tragischen Vorfahren von Cervantes’ Don Quijote darstellt. Wie bereits im vorangegangenen tractado ein Vertreter des Klerus exemplarisch als Typus vorgestellt wurde, der innerhalb seines Standes eher am unteren Rand anzusiedeln ist, wird nun auch der Escudero als Repräsentant des Adels inszeniert, dessen Existenz armseliger kaum sein könnte. Rico schreibt: „El escudero pertenece a la categoría más baja de la nobleza campesina. [...] Ejercer un arte mecánico implica renunciar a la nobleza.“201 Nach Abschluss der Reconquista waren die Schildknappen der Ritter de facto funktionslos, durften jedoch keiner Arbeit nachgehen, um die wenigen Adelsprivilegien und damit ihren honor nicht einzubüßen. Ohne Gönner oder Herren waren sie gleichermaßen zu Müßiggang und Armut verdammt. Anhand dieser emblematischen Figur werden ökonomisches und symbolisches Kapital gegeneinander ausgespielt, und nebenbei wird sogar anhand dieses speziellen Typus – „el hombre español como tipo del homo inoeconomicus“202 – der ökonomische Niedergang der spanischen Großmacht im 16. und 17. Jahrhundert miterzählt. Auch wenn der Themenkomplex Ehre und Ehrhaftigkeit in der gesamten Literatur des Siglo de Oro zentral ist, wird er doch nur selten so kritisch unter die

200 Del Ama: „Honra y opinión pública“ (o. S.). 201 Rico: „Introducción“, S. 101*, 104*. Vgl. auch den Eintrag „Escudero“ in: Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 369: „El hidalgo que lleva el escudo al caballero, en tanto que no pelea con él. En la paz, los escuderos sirven a los grandes señores, de acompañar delante de sus personas, asistir en la antecámara y sala; otros están en sus casas, y llevan acostamiento de los señores, acudiendo a sus obligaciones militares o cortesanas a tiempos ciertos; los que tienen alguna pasada (es decir aquellos con mayores fortunas) huelgan más de estar en sus casas que de servir, por lo poco que medran y lo mucho que les ocupan.“ 202 Francisco Maldonado de Guevara y Andrés: „Interpretación del Lazarillo de Tormes“, in: ders.: Tiempo de niño y tiempo de viejo: con otros ensayos, Madrid 1962, S. 52 (Herv. G. S.).

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Lupe genommen wie im pikaresken Roman. Hierfür bietet sich die Sozialfigur des verarmten Hidalgos insofern besonders an, als sie die ganze – nicht nur ökonomische – Nutzlosigkeit des spanischen Ehrenkodex veranschaulicht und das erstmalig in aller Deutlichkeit im Lazarillo de Tormes: Ese hidalgo sin nombre es también el paradigma del efecto de la honra en la vida de los españoles contemporáneos del anónimo autor – y también de la sublime generación de narradores del llamado Siglo de Oro. El hidalgo del Lazarillo lleva una existencia miserable, pasando hambre y calamidades por conservar inmaculada su honra.203

Lazarillos dritter Herr begegnet ihm in Toledo im Moment größter Verzweiflung („porque la caridad se subió al cielo“; L 72) und bezeichnenderweise findet diese Begegnung im öffentlichen, urbanen Raum statt: „topóme Dios con un escudero que iba por la calle con razonable vestido bien peinado, su paso y compás en orden“ (L 72).204 Im weiteren Verlauf des Kapitels verstärkt sich der Eindruck, dass die Straße dem verarmten Escudero als Bühne seiner Männlichkeitsperformanz dient: militärischen Schrittes, leidlich gekleidet, aber gut gekämmt bewegt er sich selbstbewusst durch die Straße Toledos. „Whether verbal or physical“, so Maiorino, „the rhetoric of ostentation was but one aspect of an inflexible code of conduct based on social hierarchies.“205 Sein über Sichtbarkeit und Sozialpraktiken generierter männlicher Habitus („su hábito y continente“, L 73), der ihn als Vertreter des Adels ausweist, erfordert Disziplin und Selbstsicherheit im Auftreten, was sich jedoch im Folgenden schnell als „theatrics of false pretenses“206 herausstellt. Stärker noch als im zweiten tractado wird hier der Gegensatz von Schein und Sein, von ser und aparecer, durch den starken Kontrast von Öffentlichkeit und Privatheit akzentuiert. Der Gang durch den öffentlichen Raum (plazas, iglesia

203 Del Ama: „Honra y opinión publica“ (o. S.). 204 Felipe E. Ruan weist darauf hin, dass Lazarillo seinen neuen Herren aufgrund seiner äußeren Erscheinung auswählt, da er sich von seiner höfischen Erscheinung blenden lässt: „In general terms, the pícaro is acutely sensitized to cultural and social matters, particularly as they pertain to issues of social advancement and social distinction. In Lazarillo de Tormes what impresses Lázaro about the ‚escudero‘ when he first sets an eye on him are the very details that define the squire’s social rank.“ In: Ruan: Pícaro and Cortesano, S. 42. 205 Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 37. 206 Ebd.

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mayor, una calle) gerät augenblicklich zur „parade virile“207 des namenlosen Herren: Y con un paso sosegado y el cuerpo derecho, haciendo con él y con la cabeza muy gentiles meneos, echando el cabo de la capa sobre el hombro y a veces so el brazo, y poniendo la mano derecha en el costado, salió por la puerta [...]. Y súbese por la calle arriba con tan gentil semblante y continente, que quien no le conosciera pensara ser muy cercano pariente al Conde de Arcos, o a lo menos camarero que le daba de vestir (L 82).

Der sezierende Blick des Beobachters entlarvt vor allem am Ende seines ironischen Porträts („o a lo menos camarero que le daba vestir“) den hohlen Schein, indem er dem Escudero den Rang des Kammerdieners zuweist, der ihm in Zeiten des Friedens durchaus zusteht, worauf Covarrubias in seinem Artikel hinweist: „En la paz, los escuderos sirven a los grandes señores, de acompañar delante de sus personas, asistir en la antecámara y sala.“208 Zur virilen Maskerade des armen Junkers gehört auch der Flirt mit dem weiblichen Geschlecht, den Lazarillo heimlich beobachtet. Die Szene mit den „rebozadas mujeres“ (L 85) spielt sich wenig überraschend am Ufer des Flusses ab, der zum einen als Ort des Weiblichen gilt und zum anderen abseits vom Stadtzentrum liegt. Jene Frauen – „al parecer de las que en aquel lugar no hacen falta“ (L 85) – werden recht unverblümt als Damen vorgestellt, die es gewohnt sind, von „aquellos hidalgos del lugar“ (L 85) ausgehalten zu werden, weshalb es zu folgender tragikomischen Szene kommt: Y, como digo, él estaba entre ellas, hecho un Macías, diciéndoles más dulzuras que Ovidio escribió. Pero como sintieron de él que estaba bien enternecido, no se les hizo de vergüenza pedirle de almorzar, con el acostumbrado pago. Él sintiéndose tan frío de bolsa cuanto caliente del estómago, tomóle tal calofrío, que le robó la color del gesto, y comenzó a turbarse en la plática y a poner excusas no válidas. Ellas, que debían ser bien instituidas, como le sintieron la enfermedad, dejáronle para el que era (L 85f).

Auch hier prallen zwei Welten aufeinander, in denen unterschiedliche Wert- und Währungsvorstellungen vorherrschen: Während die Frauen auf finanzielle Zuwendungen aus sind, d. h. dem Primat des wirtschaftlichen Zugewinns verpflichtet sind, versucht sich der Escudero in der Rolle des mittelalterlichen Troubadours

207 Jacques Lacan: „La signification du phallus [1958]“, in: ders.: Écrits, Paris 1966, S. 685-695, hier: S. 695. 208 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 369.

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(„hecho un Macías“), bleibt also seinerseits dem Code des ritterlichen Minnedienstes verhaftet, der jedoch im Alltag des 16. Jahrhunderts längst seine Gültigkeit eingebüßt hat. Mit anderen Worten: Auch im heterosozialen Gefüge treffen die Erwartungen symbolisches vs. ökonomisches Kapital aufeinander und führen zu Ablehnung auf der einen und dem Verlust von Selbstsicherheit auf der anderen Seite. In dieser seltenen Szene mit weiblichen Nebenfiguren wird Weiblichkeit abermals mit dem Element des Wassers und der Gier nach Geld assoziiert. Der verblendete Escudero erweist sich einmal mehr als Vorläufer von Cervantes’ Hidalgo, denn beide einem – primär literarisch vermittelten – ritterlichen Männlichkeitsideal nacheifern, das im Abgleich mit der wenig ritterlichen Lebenswelt des Siglo de Oro der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Bevor das Thema der Ehre näher beleuchtet werden soll, fehlt noch der Blick hinter die Kulissen, d. h. auf die Privatsphäre des Escudero, der uns durch die Perspektive des Dieners gewährt wird. Atmosphärische Leitmotive dieser „casa encantada“ (L 75) sind die Dunkelheit („obscura y lóbrega“, L 74; „tal oscuridad y tristeza“, L 95) und die Leere: „Todo lo que yo había visto eran paredes, sin ver en ella silleta, ni tajo, ni banco, ni mesa, ni aun tal arcaz como el de marras“ (L 75). Wenn das öffentliche Leben des verarmten Adeligen vor allem auf Sichtbarkeit angelegt ist, herrscht in der Finsternis das Nicht-Sehen vor: „sin ver“ bzw. „no le ver“ (L 75). Die Atmosphäre steigert sich ins Morbide („que a un muerto“, L 75), das Haus wird unmissverständlich als Totenhaus imaginiert, was ebenfalls zu einer tragikomischen Szene führt. Als Lazarillo in der Stadt einem Leichenzug begegnet, ruft die trauernde Witwe klagend: „Marido y señor mío, ¿adónde os me llevan? ¡A la casa triste y desdichada, a la casa lóbrega y oscura, a la casa donde nunca comen ni beben!“ (L 97) Der einfältige und – wie sich zeigt – abergläubische Diener missdeutet die Zielangabe, da er sicher ist, dass das finstere Unglückshaus, in dem niemals gegessen und getrunken wird, nur dasjenige seines Herren sein kann. Panisch läuft er nach Hause, wo der sonst eher ernste Escudero nach dem Bericht seines völlig verängstigten Dieners das einzige Mal in lautes Gelächter ausbricht, während Lazarillo wieder einmal „tres dias“ (L 97)209 braucht, um

209 Wie in den Kapiteln 1 und 2 braucht Lazarillo auch am Ende des dritten tractado nach einem traumatisierenden Erlebnis drei Tage, um sich wieder zu erholen. Die ersten beiden Erlebnisse gingen auf physische Qualen zurück, während hier – entsprechend der durchgängig (zumindest aus körperlicher Sicht) gewaltfreien Episode – ein psychisches Schockerlebnis zur erneuten ‚Wiedergeburt‘ nach drei Tagen führt. Die Glaubwürdigkeit dieser Anekdote darf stark angezweifelt werden, vor allem, wenn man bedenkt, dass Beerdigungen im zweiten tractado die einzigen Ereignisse waren, anlässlich derer sich Lazarillo gemeinsam mit seinem Herrn sattessen konnte. Es

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sich von seinem Schock zu erholen. Diese Episode schließt, wie bereits angedeutet, das Hunger-Motiv in Form einer Anti-Klimax ab, da der Escudero ausnahmsweise mit ausreichend Essen nach Hause gekommen ist, doch hat der Schock seinem sonst stets hungrigen Diener den Appetit verdorben.210 Der Kontrast zwischen Innen- und Außenräumen könnte demnach deutlicher nicht sein: Während der Escudero in der taghellen Öffentlichkeit seine Performanz als Vertreter des Adels akribisch umzusetzen versucht, wird durch den voyeuristischen Blick hinter die Fassade, mithin in die vier Wände, die nicht einmal die eigenen sind, das Ausmaß des heimlichen Elends offen gelegt. Der Escudero tritt dort als lebender Toter auf, gewissermaßen als Vertreter einer Kaste von Untoten, die im Totenhaus der Gesellschaft ihr Dasein fristen. Ursache hierfür ist der überkommene und für die Escuderos fatale Ehrenkodex des spanischen Feudalsystems, der signifikanterweise im dritten tractado des Lazarillo gleich zweimal mit dem Attribut der „honra negra“ versehen wird. Del Ama schreibt dazu: „El hidalgo de El Lazarillo es la víctima más famosa, con justicia, de la tiranía de la honra en la España de los siglos XVI y XVII.“211 Hier wird deutlich, dass die Escudero-Episode deutlicher auf zeitgenössische Problemlagen reagiert als es in den Beschreibungen der ersten beiden Anstellungsverhältnisse der Fall ist. Sowohl der verschlagene Blinde als auch der gierige Kirchenmann erweisen sich auf den ersten Blick als zeitlose Typenmuster, die unter Hinzunahme von Elementen aus der Farcen- und Schwankliteratur zu Karikaturen ausgearbeitet werden. Zwar werden auch hier – insbesondere im zweiten tractado mit dem Fokus auf die zunehmende Ökonomisierung – kritische Seitenhiebe auf das vorherrschende Gesellschaftssystem unternommen, aber treten diese nicht so zeitaktuell zutage wie im Porträt des verarmten Hidalgos. Der besseren Veranschaulichung soll an dieser Stelle ein Exkurs zu den Ehr-Konzepten im frühneuzeitlichen Spanien dienen. Das Spanische kennt bekanntlich zwei Begriffe – honor und honra –, die man nur schwer bzw. paraphrasierend ins Deutsche übertragen kann. Auch die Definitionsversuche aus der umfangreichen Forschungsliteratur weisen stets darauf hin, dass die Übergänge mitunter fließend und eindeutige semantische Differenzierun-

scheint hier also eher um die Erheiterung des Lesers zu gehen und den unerwartet komischen Abschluss des Hunger-Themas. 210 Diese Anekdote stammt offenbar aus einem arabischen Text des 10. Jahrhunderts. Vgl. Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, S. 114, Fn. 58; Coll-Tellechea/Zahareas (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, S. 118, Fn. 49. 211 Del Ama: „Honra y opinión publica“ (o. S.).

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gen nur in Ansätzen möglich sind. So kommt María Victoria Martínez nach Sichtung der inzwischen kanonischen Forschungen von Américo Castro212, Ramón Menéndez Pidal213 und Gustavo Correa214 zu folgendem Befund: „A pesar de ser conceptos diferentes, los términos honor y honra suelen emplearse indistintamente y confundirse.“215 Menéndez Pidal zufolge bedeutet honor „loor, reverencia o consideración que el hombre gana por su virtud o buenos hechos“, während honra „se gana con actos propios, depende de actos ajenos, de la estimación y fama que otorgan los demás.“216 Castros Ansatz, der sich mehr dem honor-Ideal als der honra widmet, zielt eher auf allgemeine Wertvorstellungen ab: honor repräsentiere Castro zufolge einen zentralen Teil des „corpus de valores incuestionables que caracterizan el espíritu de una época.“217 Hier wird deutlich, dass es sich beim honor offenkundig um ein eher abstraktes, vom Adel verkörpertes Ideal handelt, während die honra eher die Projektion dieses Ideals auf ein Individuum durch die Gesellschaft darstellt.218 Hilfreich erscheine, so Martínez, im Wechselspiel der beiden Begriffe die weitere Differenzierung Correas, der zusätzlich zwischen honra vertical und der honra horizontal unterscheidet: [L]a primera – que implicaba una estratificación de la sociedad, que en el siglo XVII continuaba básicamente la medieval –, es la inherente a la posición del individuo en la escala social, y que existe en virtud e su nacimiento; la segunda, en tanto, referida a las complejas

212 Américo Castro: „Algunas observaciones acerca del honor en los siglos XVI y XVII“, in: Revista de Filología Española 3 (1916), S. 1-50. Castro bezieht sich vornehmlich auf das spanische Theater, aber auch auf moralistische Traktate und den Ritterroman. 213 Ramón Menéndez Pidal: De Cervantes y Lope de Vega, Buenos Aires 1940. 214 Gustavo Correa: „El doble aspecto de la honra en el teatro del siglo XVII“, in: Hispanic Review 26 (1958), S. 99-107. 215 María Victoria Martínez: „A vueltas con la honra y el honor. Evolución en la concepción de la honra y el honor en las sociedades castellanas desde el medioevo al siglo XVII“, in: Revista Borradores 8/9 (2008), S. 1-10. 216 Ebd., S. 1. 217 Ebd. 218 Vgl. dazu auch Hildebrandt: „Ehre im ‚Goldenen Zeitalter‘“, S. 249: „Die theoretische Diskussion des Ehrbegriffs im spanischen Siglo de Oro versucht, eine jedem Menschen von Gott gegebene unveräußerliche Würde der Person (honor) von der weltlichen Ehre (honra), die erworben und verloren werden kann, zu unterscheiden. Da letztere durch andere zugeschrieben wird, also nur in deren Meinung besteht, gilt sie weitgehend als mit fama und opinión (Gerücht oder Meinung) identisch.“

278 | V IR INVERSUS relaciones entre los miembros de la comunidad, es la fama o reputación, que descansa en la opinión de los demás.219

Die historischen Gründe des – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – so hohen Stellenwerts des spanischen Ehrenkodex liegen u. a. in der Zeit der Reconquista begründet, was bedeutet, dass es sich beim honor ursprünglich um ein ritterlich-militärisches Ideal handelt, das eng an ritterliche Tugenden wie Tapferkeit, Treue und Heldenmut gekoppelt ist – mit anderen Worten: honor hing mit der Akkumulation von Nationalehre zusammen. Mit dem für Kastilien erfolgreichen Abschluss der Rückeroberung der iberischen Halbinsel erhielt sich zunächst der hohe Wert des Ehr-Ideals, nicht zuletzt durch den Aufstieg Spaniens zu Europas expansivster Großmacht im Rahmen der beginnenden Kolonialgeschichte. Außenpolitisch betrachtet blieb es zunächst bei der engen Verknüpfung von honor und Nation. Allerdings lässt sich im Rahmen der zunehmenden Feudalisierung und auch Bürokratisierung innerhalb des habsburgischen Spanien eine Diffusion dieses primär ritterlich-soldatischen Ideals in andere Gesellschaftsbereiche beobachten. „El código de valores caballeresco, por el que se regía la clase dirigente, proponía un ideal – el del buen caballero – como ejemplo a seguir por todas las clases sociales, tanto en el combate como en la vida en general.“220 So kommt es, dass sich Ehre in Zeiten des nationalen Friedens als aristokratisches Ideal etabliert und dadurch weniger nationalen Wert aufweist, sondern zum Distinktionsmerkmal der nobleza avanciert.221 Hildebrandt bemerkt zu diesem Wandel: „Der Umschlag vom traditionell aktiven Charakter der Krieger- und Ritterehre, der im Mittelalter überwog, zum eher passiven Fixiertsein auf die Meinung der anderen erscheint besonders auffällig in der spanischen Gesellschaft des 15. und 16. Jahrhundert.“222 Dieser Prozess wird begleitet von einer Reihe weiterer gesellschafts-

219 Martínez: „A vueltas con la honra y el honor“, S. 1. 220 Ebd., S. 3. 221 Vgl. dazu Peter Burke: Die Geschicke des ‚Hofmann‘. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996, S. 24: „Im Verlauf des Mittelalters jedoch wurden die Wertvorstellungen der Ritterlichkeit zunehmend durch weniger militärisches Verhalten, ja durch ein ganzes Bündel von Verhaltensweisen ergänzt, zu denen auch ‚gutes Benehmen‘ und vor allem ‚Höflichkeit‘ gehörten.“ 222 Hildebrandt: „Ehre im ‚Goldenen Zeitalter‘“, S. 249. Vgl. auch Martínez: „A vueltas con la honra y el honor“, S. 3: „Más adelante, a medida que la nobleza va perdiendo su carácter guerrero, empieza a elaborar un concepto de virtud y de honor cercano a

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politischer Umwälzungen, etwa durch die dem Gebot der limpieza de sangre geschuldeten Vertreibung der Juden und Mauren sowie die ökonomischen Veränderungen innerhalb des Nationalstaats in der Folge der „Eroberung und materiellen Ausbeutung der Neuen Welt.“223 Das bedeutet, dass hinsichtlich des Ehrstatus eines Individuums nicht nur die Zugehörigkeit zum Adel ausschlaggebend wurde, sondern ebenso seine religiöse und ethnische Herkunft sowie zunehmend auch seine wirtschaftliche Lage. Man könnte auch sagen, dass das relativ starre mittelalterliche Ideal des honor sukzessive vom flexibleren und auf Sichtbarkeit angelegten und intersektional bestimmten Wert der honra abgelöst wird. Noch einmal Martínez: El ethos caballeresco respondía así a razones ideales, pero también materiales, pues el bienestar económico de una casa estaba condicionado por la fama pública que acumulaban y heredaban las generaciones. [...] El concepto de honra se había modificado, y su contenido ya no era ético sino económico, y cantaba con símbolos visibles.224

Der starke Fokus auf Sichtbarkeit sowie die damit stetig ansteigende Macht der öffentlichen Meinung verdankt sich dem zunehmenden Einfluss frühneuzeitlicher Konzeptionen höfischer Lebensweise, so etwa dem europaweit besonders wirkmächtigen Traktat Il Libro del Cortegiano (1528) von Baldassare Castiglione, in dem Friedrich Zunkel den Basistext des europäischen Ehrbegriffs sieht.225 Dort fungiert die Ehre als conditio sine qua non höfischer Lebensweise, wie Burke in

las nuevas corrientes humanistas que se difunden en la Península, lo que conlleva unas nuevas formas de defensa del honor como práctica social“ (Herv. G. S.). 223 Hildebrandt: „Ehre im ‚Goldenen Zeitalter‘“, S. 249. 224 Martínez: „A vueltas con la honra y el honor“, S. 3. 225 Vgl. Friedrich Zunkel: „Ehre, Reputation“, in: Otto Brunner/Werner Konze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 1-64, hier: S. 18: „Die Wurzeln dieses Ehrbegriffs lagen im Italien der Renaissance, wo unter Weiterentwicklung einer in der Antike angebahnten Tendenz, die den Ruhmesgedanken – wenn auch nur zögernd – aus seinem militärisch-politischen Bezug löste und für andere Gebiete erschloß, subjektives Ehr- und Ruhmstreben in Dichtung, Geschichtsschreibung und anderen Bereichen des geistigen Lebens Geltung gewann und in der Welt der italienischen Renaissancehöfe zum wesentlichen Element der Persönlichkeitsprägung wurde. Seine typische Ausprägung fand er bei BALDASSARE CASTIGLIONE (1528), für den Ehre bzw. der Ruhm, die aus der großen Tat erwuchsen, diese ausführenswert machten.“

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seinem Kommentar zu Castigliones Traktat klarstellt: „‚Ehre‘ gilt als unabdingbar, alles was ‚unehrenhaft‘ oder ‚unehrbar‘ ist [...] wird [...] einmütig verdammt.“226 Das was Greenblatt als „Renaissance self-fashioning“, als „deliberate shaping in the formation and expression of identity“227 definiert, findet bei Castiglione seine prominenteste Anleitung und – wenig überraschend – innerhalb Spaniens zahlreiche Nachahmer, so etwa Antonio de Guevaras Aviso de privados y doctrina de cortesanos (1539) oder deutlich später Gabriel de la Gasca y Espinosas Manual de avisos para el perfecto cortesano (1681). Bei Guevara liest man etwa folgende Anweisung: „nunca el buen cortesano cabalgue bien sin espada, porque de otra manera más parecerá físico, que anda visitando, que no caballero que anda ruando.“228 Ritterlicher honor und höfische sprezzatura verschmelzen sozusagen zu einem Kultus öffentlicher Performanz, einem Verhaltensideal, das vom höfischen Milieu auch in andere Schichten diffundiert. Die publikumswirksame Inszenierung von honra erleichtert zweifelsohne auch die Nachahmbarkeit, befördert allerlei subversive Mimikry und begründet damit erst den für das Siglo de Oro so folgenreichen und bereits mehrfach erwähnten Kontrast zwischen Sein und Schein, engaño und desengaño bzw. ser und aparecer im Zeichen der hipocresía. Dass es sich nun bei der Ehre um eine „práctica social“229 handelt bzw. um eine Form symbolischen Kapitals, die sich bestimmten Praktiken verdankt und Bestandteil des individuellen Habitus ist, gilt sowohl für den kriegerischen honor als auch die honra des Adels. Während Soldaten, Ritter oder Krieger ihren honor durch Heldentaten herstellten, artikulieren Angehörige der höfischen Kultur ihre honra vermittelt über ritualisierte Verhaltensmuster, wozu auch Handlungsverbote gehören, wie etwa das Ausüben gewerblicher Arbeit, was das zentrale Dilemma des Escudero im Lazarillo de Tormes darstellt: „El hidalgo se resistía a tomar cualquier trabajo manual, pues tal tipo de actividad era incompatible con las exigencias de la honra.“230 Die Pikareske, so Torres Corominas, „consiste en

226 Burke: Die Geschicke des ‚Hofmann‘, S. 42. 227 Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning, S. 1. 228 Antonio de Guevaras: Aviso de privados y doctrina de cortesanos [1539], Madrid 1673, S. 146. Zit. nach Eduardo Torres Corominas: „El Lazarillo y el escudero: varia lección de filosofía cortesana“, in: Alain Bègue (Hrsg.): Pictavia aurea. Actas del XIX Congreso de la Asociación International ‚Siglo de Oro‘, Toulouse 2013, S. 685-694, hier: S. 689. 229 Martínez: „A vueltas con la honra y el honor“, S. 3. 230 Del Ama: „Honra y opinión publica“ (o. S.).

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una falsificación sistemática de los elementos constitutivos de la cortesanía destinada a alcanzar, por medio de atajos fraudulentos, los mismos objetivos de integración y medro que alientan la carrera del cortesano.“231 Es verwundert daher kaum, dass im Lazarillo – wie auch in vielen anderen Texten des Siglo de Oro232 – nicht von honor, sondern durchweg von honra die Rede ist bzw. von ihrer Kehrseite, der honra negra. Bevor der kritische honra-Diskurs im Lazarillo näher analysiert werden soll, sei schließlich darauf hingewiesen, dass in der Forschungsliteratur zum Themenkomplex honor und honra zwar auf die intersektionalen Kategorien von Stand, Nation, Ethnie und Religion eingegangen wird, aber doch nur selten explizit auf die Kategorie Geschlecht. Wenn Ehre und Ehrhaftigkeit im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen thematisiert werden, geht es in der Regel um die Ehre der Frau,233 die – im Gegensatz zur männlichen Ehre – nicht aktiv erworben werden kann, sondern passiv verteidigt werden muss: So gehört die Jungfräulichkeit unabdingbar zu den ehrhaften Tugenden unverheirateter Frauen, während die Treue zum Gemahl die Ehre der Ehefrau ausdrückt. Entscheidend ist jedoch, dass im Fall eines Ehebruchs nicht nur die Ehre der Frau in Gefahr ist, sondern vor allem auch diejenige ihres Gatten. Hier greift sogleich der Mechanismus der deshonra, der durch eine Aufforderung zum Duell oder vergleichbare restaurative Rituale wieder rückgängig gemacht werden kann.234 Dieses Narrativ

231 Torres Corominas: „El Lazarillo y el escudero“, S. 691. 232 Vgl. Del Ama: „Honra y opinión pública“ (o. S.): „Naturalmente, la honra, entendida como experiencia individual, adquiere una mayor relevancia literaria y vital que el ideal del honor. […] La honra es, sin lugar a dudas, el más importante elemento de la literatura del Siglo de Oro y un denominador común de todos los géneros narrativos.“ 233 Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz weisen in diesem Zusammenhang der einseitigen Geschlechtergeschichte auf „die althergebrachte Vorstellung der Sonderanthropologie des Weibes“ hin, die bis in die späten 1980er innerhalb der Geschichtswissenschaft zu beobachten war (Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt/M./New York 2008, S. 30). Vgl. dazu auch: Ute Frevert: „Männergeschichte oder die Suche nach dem ‚ersten‘ Geschlecht“, in: Manfred Hettling u. a. (Hrsg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag, München 1991, S. 31-43; dies.: „Geschichte als Geschlechtergeschichte. Zur Bedeutung des ‚weiblichen Blicks‘ für die Wahrnehmung von Geschichte“, in: Saeculum 43 (1992), S. 108-123. 234 Vgl. zur „pérdida del honor“ und zur folgenden „venganza“ Castro: „Algunas observaciones acerca del honor“, S. 24-29.

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bestimmt vor allem die Dramatisierung von Ehrkonflikten auf dem Theater, wie etwa Castro in Bezug auf Lopes Ehrendramen konstatiert: Ante la menor sospecha de que pueda surgir la infamia, los personajes reaccionan violentamente, actitud que generalmente se ha calificado, tal vez con impropiedad […]; ya que supuesto el concepto de honra, cualquier demostración que tienda a disminuir el valer de nuestra persona es de inmensa gravedad, porque automáticamente nos deshonra. 235

In den meisten Texten, die sich aus historischer Perspektive mit dem Ehrenkodex beschäftigen, wird daher stillschweigend vorausgesetzt, dass honor und honra nicht nur Prädikate des Adels und der wirtschaftlich Arrivierten darstellen, sondern auch maskuline Idealvorstellungen und Verhaltensideale beschreiben.236 Im klassischen Verständnis von ritterlich-kriegerischem honor erklärt sich diese Zuschreibung von selbst, waren doch Frauen vom Kriegsdienst ausgeschlossen – vom überaus außergewöhnlichen Fall einer Kriegerin erzählt als große Ausnahme die Lebensgeschichte der sogenannten monja alférez Catalina de Erauso (1585ca.1650), die einige Jahre als männlicher Krieger in der Neuen Welt tätig war.237 Aber auch in anderen Auseinandersetzungen mit dem Thema bleibt die Frage nach der geschlechtlichen Kodierung von Ehre weitestgehend ausgeblendet. Martschukat und Stieglitz stellen dazu folgendes fest: In einer Männlichkeitengeschichte muss von Männern selbst als historischen Akteuren gar nicht explizit die Rede sein. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Geschichte nicht deshalb zur Geschlechter- und Männlichkeitengeschichte wird, weil sie von Männern handelt. Vielmehr werden Geschlechtergeschichten häufig dann besonders interessant, wenn sie sich auf

235 Ebd., S. 25. 236 Anders sieht es bei der Ehrlosigkeit aus, wie Zunkel („Ehre, Reputation“, S. 16f) darlegt: „Im Gegensatz zu den Ständen, deren Zugehörigkeit zur mittelalterlichen Gesellschaft durch die jeweilige besondere Ehre dokumentiert wurde, war die unterständische Schicht durch den Begriff der Ehrlosigkeit gekennzeichnet. [...] Als ehrlos galten die Unfreien und Leibeigenen, die außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehenden Juden, Türken, Heiden, Zigeuner und Wenden und unter der Einwirkung der christlichen Kirche auch die unehelich Geborenen. [...] Zu ihnen trat die heimatlose Gruppe der Dirnen, Vagabunden und Spielleute.“ 237 Vgl. Historia de la Monja Alférez, Catalina de Erauso, escrita por ella misma, hrsg. von Ángel Esteban, Madrid 2004.

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die Codierung bestimmter gesellschaftlich-kultureller Denkweisen oder Institutionen oder kollektiver Identitäten als ‚gendered‘ und in diesem Fall als ‚männlich‘ konzentrieren.238

Wenn demzufolge die Idealvorstellungen rund um den Komplex honor/honra einer dezidiert ‚gegenderten‘ Sichtweise unterworfen und gleichzeitig in das Netz gesellschaftlich-kultureller Denkweisen und kollektiver Identitäten eingebettet werden, ist kaum eine andere Aussage möglich, als darin ein Prädikat ‚nobler‘ bzw. dominanter Männlichkeit zu sehen, und zwar das zentrale, alles entscheidende. Männlichkeit im sozialen Verständnis von einem gesellschaftlich anerkannten männlichen Habitus ist ohne ein intaktes Ehrgefühl, ohne Reputation und fama nicht denkbar: Ehrverlust bedeutet gleichzeitig Aberkennung der Männlichkeit. Eine der wenigen Ausnahmen, die sich konkret mit spezifisch männlichen Tugenden, Verhaltensidealen und Wertvorstellungen im Spanien des Siglo de Oro beschäftigt, bildet die Studie Masculine Virtue in Early Modern Spain von Shifra Armon, die sich vor allem auf Verhaltensratgeber der Zeit bezieht und damit in der Tradition von Elias’ Zivilisations- und Hoftheorie für den iberischen Kulturraum einen Entwurf des idealen männlichen Höflings nachzeichnet, den sie im Rekurs auf Butlers Performativitätstheorie als homo agens charakterisiert.239 Armon bewertet solche Ratgeber als Instrumente der Verhaltensnormierung, die primär auf folgende Ziele ausgerichtet sind: Ehre, Ruhm bzw. Reputation („fame“), Dissimulation und Anpassungsfähigkeit („adaptability“).240 Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, dass solche Anleitungen im Siglo de Oro trotz aller Beliebtheit und trotz erstaunlicher Vielfalt nur von sehr eingeschränkter Reichweite blieben, was vor allem dem geringen Alphabetisierungsgrad innerhalb der breiten Bevölkerung geschuldet war. Auch darf davon ausgegangen werden, dass solche Traktate unter denjenigen, die des Lesens mächtig waren und die meist ohnehin zu den Eliten gehörten, nicht unbedingt zu den populärsten Lektüren zählten. Dessen ungeachtet sind solche Werke nicht nur als Verhaltensimperative zu lesen, die in der Tradition von Castiglione und Erasmus stehen, sondern sie weisen vor allem auch einen hohen moralistischen Beobachtungsgrad auf, d. h. sie geben nicht nur vor, sondern beobachten und lassen das, was längst Usus innerhalb der höfischen Etikette ist, einfließen in ihre regulative Argumentation. Ferner darf nicht vergessen werden, dass höfische Verhaltensnormierung sich trotz der strikten Ständeklausel

238 Martschukat/Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten, S. 57. 239 Armon: Masculine Virtue in Early Modern Spain, S. 6f. 240 So lauten auch jeweils die Titel der drei Hauptkapitel: „Fame“ (S. 41-64), „Dissimulation“ (S. 65- 93) und „Adaptability“ (S. 94-120).

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auch nach und nach in den unteren Schichten durchsetzt, was vor allem gesellschaftlichen Aufsteigern, die im 16. und 17. Jahrhundert immer zahlreicher werden, durch eine „combination of astuteness and opportunism“241 das Weiterkommen erleichtert und eben auch Hochstaplern wie den pícaros ihr Handwerk ermöglicht. Insofern vermitteln solche Traktate durchaus einen profunden Einblick in die Männlichkeitsinszenierungen – konkreter: die Männlichkeitsideale – der Frühen Neuzeit und werden auf verschiedene Art und Weise ergänzt durch literarische Texte im engeren Verständnis von fiktionalen Narrativen, allen voran dem Drama und dem Roman. Lopes Theater wäre ein Paradebeispiel für den Themenkomplex des Ehrkonfliktes; Graciáns moralistische Aphorismensammlungen, Traktate wie auch sein Opus magnum El Criticón (1651-57) liefern voraufklärerische Einblicke in das menschliche Miteinander, die Kommunikationsideale sowie die Mechanismen des desengaño. Selbst Cervantes’ Don Quijote verhandelt u. a. den transitorischen Charakter theatralisch vermittelter männlicher Verhaltensideale, die antiquierte ritterliche Ruhmessucht sowie das Scheitern solcher Ideale in Folge mangelnder Rollenflexibilität.242 Genau dieses Grunddilemma bestimmt – wie bereits angedeutet – auf weniger komische Weise den dritten tractado des Lazarillo de Tormes. Wenn Armon Reputation, Ehre, Verstellungskunst und Rollenflexibilität als maskuline und zugleich höfische Kardinaltugenden darstellt, wird schnell ersichtlich, dass dem Escudero Letzteres vollkommen abgeht, was seinen Lebensentwurf zum Scheitern verurteilt: „The escudero’s ideological assets are out of currency. [...] He lacks novelistic flexibility, and his chivalric integrity is obsolete.“243 Sein ritterliches Ideal steht noch ganz unter dem Einfluss der neostoischen Lehre, wie sie etwa der flämische Humanist Julius Lipsius in seinem dialogischen Werk De constantia in

241 Armon: Masculine Virtue in Early Modern Spain, S. 38. 242 Vgl. Verf.: „Französische, italienische und spanische Literatur“, in: Stefan Horlacher/Bettina Jansen/Wieland Schwanebeck (Hrsg.): Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2016, S. 318-331, S. 321: „Don Quijotes literarisch induziertes Aufbegehren gegen die entzauberte Gegenwart muss demnach auch als Rebellion gegen ein verändertes Männerbild gelesen werden. Cervantes’ Roman – und das verleiht ihm aus Sicht der literarischen Männlichkeitsforschung unerhörte Modernität – führt auf beeindruckende und höchst unterhaltsame Weise vor, dass Medien schon im frühen 17. Jh. entscheidenden Einfluss auf die Konstruktion hegemonialer Männlichkeit hatten.“ 243 Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 37, 45.

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malis publicis libri duo (Antwerpen, 1584) entwirft.244 Tatsächlich gilt im offiziellen Wertekanon des Siglo de Oro die Standhaftigkeit immer noch als männliche Tugend und wird deutlich abgegrenzt von weiblich kodierter inconstantia. Armon macht plausibel, dass diese dichotomische Zuschreibung im Bereich der praktischen Lebensführung der Frühen Neuzeit einen empfindlichen Wandel erfährt, was sich niederschlägt in den Ratgeberbüchern, „that work to dislodge inconstancy from the column of so-called negative feminine traits in order to recast it as a new masculine ideal: that of adaptability.“245 Auch wenn Armon in diesem Kontext nicht explizit auf die novela picaresca eingeht, liefert sie ausreichend Hinweise, um diese Zeitdiagnose zu unterfüttern, stellt doch der pícaro selbst die literarische Inkarnation der Anpassungsfähigkeit dar. Der Escudero hingegen verkörpert durch sein Festhalten am Ideal ritterlicher constantia den vom Zeitgeist überholten Gegenentwurf zu diesem neuen Männlichkeitsideal, weshalb sein Ehrenkodex gleich zweifach als „honra negra“ (L 84, 94) bezeichnet wird. Wichtig ist hier anzumerken, dass diesem Begriff in beiden Fällen ein Verb in der dritten Person Plural zur Seite gestellt wird: „llaman“ und „dicen“. Der Erzähler macht dadurch deutlich, dass diese Form der Ehre so genannt wird, d. h. dass dieser Ehrenkodex bereits im allgemeinen gesellschaftlichen Ansehen als veraltet gilt. Dies steht im Gegensatz zur Hauptangst des Escudero vor dem, was wohl die anderen sagen könnten, wenn sie seine Maskerade durchschauen, was für ihn persönlich die Aberkennung seines wichtigsten Männlichkeitsmerkmals bedeuten würde. Die erforderliche Fähigkeit höfischer Dissimulation beherrscht der Escudero in Perfektion: er spielt – wie bereits gezeigt – in der Öffentlichkeit die Rolle des Galans, geht jeden Tag zur Kirche und legt peniblen Wert auf saubere Hände – beides spielt wohl auf ironische Weise auf das vorherrschende Gebot der limpieza de sangre an – und flaniert mit militärisch gemessenem Schritt und stets ordentlicher Kleidung durch die Straßen Toledos. Neben diesen typischen Praktiken, die an der performativen Konstruktion höfisch-ritterlicher Männlichkeit teilhaben, kommen auch im dritten tractado assoziationsreiche Dingsymbole zum Einsatz, die man angesichts des theatralen Kontexts durchaus als Requisiten bezeichnen kann. Der Escudero geht niemals ohne Schwert aus dem Haus und zeigt sich gerne in der Öffentlichkeit mit einem Zahnstocher. Abgesehen davon, dass beide Dingsymbole aus psychoanalytischer Sicht stark phallischen Charakter aufweisen, stehen sie ganz im Dienste der publikums-

244 Vgl. dazu Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, Göttingen 1997. 245 Armon: Masculine Virtue in Early Modern Spain, S. 96.

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wirksamen Männlichkeitsparade. Das Schwert gilt als „antiguo símbolo de la nobleza guerrera“246 und damit als sichtbares Distinktionsmerkmal ritterlicher Männlichkeit, das jedoch lediglich noch dekorativen Wert besitzt. Der Zahnstocher („una paja“, L 94) ist für sich genommen ein Symbol höfischer Zivilisierung und wirtschaftlichen Wohlstands: Man demonstriert, dass man ausreichend gegessen hat und sogar noch Reste zwischen den Zähnen zurückbehalten hat. Beides trifft nicht zu: Der Zahnstocher wird – wie das Schwert – seiner eigentlichen Funktion enthoben und verkommt zum bloßen Dekorum innerhalb der auf Sichtbarkeit ausgerichteten höfischen Performanz: „In pre-capitalist societies, visible things are trusted more than invisible money.“247 Das stets sichtbare Schwert steht demzufolge für ein Übermaß an männlicher Ehre und der Zahnstocher für einen Überfluss an Nahrung; im düsteren Zuhause, d. h. hinter der Bühne, verweisen beide Symbole auf einen akuten Mangel sowohl an wirtschaftlichem Kapital als auch an Nahrung. Die „honra negra“ ist schließlich die Ursache für die Funktionslosigkeit beider Attribute – es sind keine Kämpfe mehr zu bestreiten und der Kampf um Nahrung wird dem Diener überlassen. Die daraus resultierende „Verkehrung der ökonomischen Ordnung“248 könnte drastischer kaum sein, wie selbst der Erzähler berichtet: Contemplaba yo muchas veces mi desastre, que, escapando de los amos ruines que había tenido y buscando mejoría, viniese a topar con quien no sólo no me mantuviese, mas quien yo había de mantener (L 91).

An dieser Stelle zeigt sich spätestens, dass Lazarillo auf seinem Lebensweg bereits so viel gelernt hat, um sich diesen völlig veränderten Verhältnissen anzupassen und nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Herrn zu ernähren. Die entstehende „Perversion des Herr-Diener-Verhältnisses“249 macht auf praktische Weise sichtbar, dass allein das symbolische Kapital der honra im präkapitalistischen Gesellschaftssystem keineswegs dafür sorgt, den Zahnstocher seiner ursprünglichen Bestimmung zuzuführen – der Escudero hat im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu beißen: „[D]er standesgemäße Lebensstil soll hier allein das Privileg des Besitzes ersetzen.“250 Mit anderen Worten: Das Anhäufen von symbolischem Kapital, zu dem auch die Symbole des Schwertes und des Zahnstochers gehören, verhindert

246 Torres Corominas: „El Lazarillo y el escudero“, S. 689. 247 Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 41. 248 Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, S. 130. 249 Ebd., S. 129. 250 Ebd., S. 132.

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die lebensnotwendige Absicherung der materiellen Existenz. Der Escudero wird dadurch zur traurigen Allegorie eines in den Bankrott abdriftenden Staatssystems und zum Emblem einer zunehmend dem Schein anheimfallenden Gesellschaftsform251 – sein Schicksal wird sich in den folgenden Jahrzehnten nach mehreren Staatsbankrotten als literarisches Menetekel erweisen, wie auch Del Ama hervorhebt: El sistema de valores que reinaba en la España de los pícaros – que encontraba su manifestación más evidente en la vivencia individual de la honra – condujo al reino a una estagnación económica que precipitó su fulminante decadencia.252

Auch dieses Drama der leeren Staatskassen kommt im Lazarillo durch ein weiteres Dingsymbol zum Ausdruck, nämlich eine gähnend leere Geldbörse, eine „bolsilla de terciopelo raso, hecho cien dobleces y sin maldita la blanca ni señal que la hobiese tenido mucho tiempo“ (L 91). Kommen wir abschließend noch auf den Stellenwert dieser Episode im Leben des Titelhelden zu sprechen, die – wie bereits dargestellt – aus erzähllogischer Sicht den Schlussstrich unter das Hunger-Thema setzt und auch strukturell eine Zäsur markiert, da Lazarillo in den nun folgenden Kapiteln sukzessive als Akteur zurücktritt, während der Fokus der Erzählung stärker noch als bisher auf die neuen Herren gerichtet wird. Auch wenn im dritten tractado der Einsatz physischer Gewalt keine Rolle mehr spielt, kann man hier nun beobachten, dass Gewalt im pikaresken Universum durchaus auch andere Formen annehmen kann. Den Schlüssel zu dieser neuen, eher psychischen Dimension von Gewalt liefert der Erzähler gleich zu Beginn in Form eines Mottos, wenn er angesichts der grassierenden Unbarmherzigkeit in Toledo konstatiert: „porque la caridad se subió al cielo“ (L 72). Rico sieht hier eine Anspielung auf den Mythos der Astraea, Verkörperung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die am Ende des letzten Weltalters, des eisernen, die Erde gen Himmel verlässt und diese der Sünde, der Gewalt, der moralischen Korruption und der Habgier überlässt, wie es u. a. Ovid zu Beginn der Metamorphosen beschreibt.253 Hier liegt eine gewisse Ironie der Geschichte, die der

251 Vgl. zur Rolle des Scheins: Del Ama: „Honra y opinión pública“ (o. S.): „La virtud no residía en el ser, sino simplemente en el aparecer. La mera apariencia de virtud valía para salvaguardar la honra, del mismo modo que la mera apariencia de transgredir contra sus leyes bastaba para perderla.“ 252 Ebd. 253 Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 15-17.

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Autor des Lazarillo kaum im Auge gehabt haben dürfte, da mitten im Siglo de Oro eine Wiederkehr des Edad de Hierro beobachtet wird, wie es auch ein halbes Jahrhundert später in Don Quijotes Discurso de la Edad de Oro (1. Teil, 11. Kapitel) ironisch wieder aufgegriffen wird. Durch Lazarillos Bemerkung wird jedoch nicht nur die Grundstimmung im Hinblick auf die moralische Verwahrlosung der Großstadt vorgegeben, sondern die caridad erfährt noch eine weitere dramatische Narrativierung, indem der Titelheld selbst sich in Barmherzigkeit übt und als Ernährer seines neuen Herren auftritt. Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich hierbei tatsächlich um die einzige Geste menschlicher Zuneigung handelt, die der Roman auf solch ungewöhnliche Weise in Szene setzt. Wie wird sie beantwortet? Der Escudero verlässt Lazarillo im Augenblick größter Not, als Vermieter und Gerichtsvollzieher ihn mehr und mehr bedrängen: „mas su salida fue sin vuelta“ (L 106). Eingedenk der Tatsache, dass die einzelnen Episoden auch Lazarillos Suche nach einem Ersatzvater beschreiben, kann man nun sogar postulieren, dass der Escudero der grausamste von allen ist, da er Barmherzigkeit mit Flucht vergilt. Dies widerspricht wiederum seinem sonst so tadellos gepflegten Ehrenkodex, da der Ritter für seinen Knappen zu sorgen hat, was einmal mehr auch den Begriff der „honra negra“ erklärt. Die Lehre, die sich daraus für den Heranwachsenden ergibt, ist banal: Barmherzigkeit zahlt sich nicht aus, möge sie also – wie Astraea – in den Himmel auffahren. Mit dieser Erfahrung wird neben dem Hunger-Thema auch die männliche Sozialisation im Sinne einer éducation sentimentale des Helden vorläufig abgeschlossen. Wir erinnern uns: Im ersten Kapitel lernt der kindliche Protagonist, dass Ehrlichkeit zum Verlust einer geliebten Person, seines Stiefvaters, führt und daher kaum Nutzen einbringt. Anschließend lehrt ihn der Blinde, dass kindliches Urvertrauen lediglich mit Schmerz vergütet wird. Der Kirchenmann bringt ihm Habsucht bei und nun lernt er, dass männliche Tugenden und Barmherzigkeit einander ausschließen. Damit wird der Eindruck des mythologischen eisernen Zeitalters bestätigt, der dem dritten tractado vorangestellt ist, was bedeutet, dass die moralische Verderbnis der Erzählung hier ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht. Der psychische Schmerz darüber kommt im lakonischen Schlusssatz des Kapitels zum Ausdruck: Así, como he contado, me dejó mi pobre tercero amo, do acabé de conoscer mi ruin dicha, pues, señalándose todo lo que podría contra mí, hacía mis negocios tan al revés, que los amos, que suelen ser dejados de los mozos, en mí no fuese ansí, mas que mi amo me dejase y huyese de mí (L 110).

Die Suche nach einem neuen Vater bzw. nach einer zumindest freundschaftlich verbundenen Person mündet in vollkommene Desillusionierung. Erstaunlich ist

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hier, dass der Erzähler seinen geflüchteten Herrn bis zum Ende mit dem Attribut „pobre“ charakterisiert, was sowohl auf seine wirtschaftliche Situation als auch auf seinen mitleiderweckenden Habitus zurückzuführen ist. Einmal sogar wird er als „el bueno de mi amo“ (L, 97) bezeichnet,254 was insofern bemerkenswert ist, als die vorigen Herren durchweg mit negativ konnotierten Adjektiven versehen wurden: der Blinde allein achtmal als „mal“, dann als „cruel“, „astuto“, „pecador“, „maldito“ und „perverso“; der clérigo mehrfach als „lacerado“, „mezquino“ und „brujo“. Dass nun ausgerechnet der dritte Herr, der in der Beurteilung seines Dieners mit Abstand am besten abschneidet, die Flucht antritt, während seine Vorgänger, so bleibt zu vermuten, auch weiterhin erfolgreich ihr Unwesen treiben, erklärt einmal mehr die Anleihe an den Mythos der Astraea und gibt Aufschluss über das vorherrschende, inoffizielle Männlichkeitsideal. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass es sich beim dritten tractado – neben dem fünften, wie noch zu zeigen sein wird – um das einzige Kapitel handelt, das sich anhand eines aktuellen Problems konkret mit dem historischen Hintergrund auseinandersetzt, während der Blinde sowie der Kirchenmann eher dem Fundus mittelalterlicher Schwank- und Farcenkunst entnommen sind.255 Der Escudero dient dabei als Anschauungsobjekt, der nach außen hin das offizielle ritterliche Männlichkeitsideal verkörpert, das jedoch längst vom ökonomischen und höfischen Zeitgeist abgelöst wurde. Das im spanischen Kulturraum zentrale männliche Distinktionsmerkmal des mittelalterlichen honor ist zur bloßen Staffage verkommen und wurde abgelöst durch die höfische, auf Sichtbarkeit und Schein ausgerichtete honra: „Zu dieser Zeit ist die Verwandlung des Kriegers in den Höfling eine allgemein zu beobachtende Tendenz, die hier ihre Spiegelung erfährt.“256 Dass der Escudero gleichwohl an einem veralteten Männlichkeitsideal festhält, obwohl es ihn wirtschaftlich und existenziell ruiniert, macht ihn zu einem musealen Relikt aus vergangenen Zeiten; seine Existenz ist demzufolge eine rein ästhetische, wodurch seine Männlichkeitsparade zum inszenatorischen l’art-pour-

254 Darauf, dass das Adjektiv „bueno“ jedoch gerade in der Pikareske als ambivalent zu bewerten ist, d. h. im Sinne von „gut“, aber auch „dumm“, wurde bereits hingewiesen. Beide Bedeutungen dürften auch in der Charakterisierung des Escudero eine Rolle spielen. 255 Vgl. auch Tarr: „Die thematische und künstlerische Geschlossenheit“, S. 27: „Der escudero ist keine traditionelle literarische Figur, sondern eine lebendige, der damaligen Zeit entstammende Gestalt und die erste literarische Darstellung des unnachgiebigen Stolzes des spanischen hidalgo.“ 256 Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, S. 128.

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l’art wird. Er lebt im düsteren Totenhaus der Gesellschaft und huldigt einem EhrIdeal, das folgerichtig als honra negra charakterisiert wird. Ihm entgeht, dass der ökonomische Zeitgeist sein symbolisches Kapital längst entwertet hat und sein Leitstern der constantia vom Gebot präkapitalistischer Flexibilität immer mehr verdunkelt wird. Hildebrandt formuliert den vorherrschenden Widerstreit von symbolischem und ökonomischen Kapital wie folgt: So wie Geld als angehäufter Schatz bloßes Potential ist, das erst auf dem Markt seinen Wert hat, so ist die Ehre nicht schon Wert an sich, sondern erweist sich ihre Qualität erst auf dem ‚Markt‘ sozialer Interaktion, wenn sie sich geschickt der Institutionen und der tradierten Begriffe bedient, um das Eigeninteresse zu bemänteln oder in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen.257

Man könnte daher sagen, dass der Escudero zwar das Spiel der Dissimulation perfekt beherrscht und mit Akribie auf sein self-fashioning achtet, er aber verkennt, dass seine Maskerade nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Im direkten Vergleich mit seinem Vorgänger, dem clérigo, wird besonders deutlich, dass der Wandel des Ehrenkodexes von einem Wandel des Männlichkeitsbildes flankiert wird, der sich sowohl im Bereich des Klerus als auch des Adels zunächst inoffiziell vollzieht, jedoch bereits so weit fortgeschritten ist, dass caridad (Klerus) und honor (Adel) lediglich noch in der Öffentlichkeit als probate, dem neuartigen Primat der Sichtbarkeit verpflichtete Strategeme fungieren, um ‚das Eigeninteresse zu bemänteln‘, wie es Hildebrandt ausdrückt. Ser und aparecer driften immer weiter auseinander, die öffentliche Meinung gewinnt immer mehr an Einfluss, so dass ein Verstoß schließlich dazu führt, trotz niederem Adelstitel noch ärmer als die Armen zu werden und sich von seinem Diener ernähren lassen zu müssen. Männlichkeit unterliegt in dieser Episode einer aporetischen Struktur: Die Performanz kann im Falle des Escudero nur scheitern, da der nach außen orientierte Lebensstil mit dem verinnerlichten Ehrenkodex zwar im Einklang steht, wenngleich nur von jenen erfolgreich ausgeführt werden kann, die über den nötigen Wohlstand verfügen, um sich das leisten zu können. Zudem wäre die pragmatische Adaptabilität erforderlich, die Ehre moralisch zu entwerten und diese stattdessen als Dekorum in die nach außen gerichtete Maskerade zu integrieren. Ein Zuviel an Ehre bzw. ein aufrichtiges Festhalten an Ehre als symbolischem Kapital – und das ist die unauflösbare Aporie ritterlicher Männlichkeit in post-ritterlicher Zeit – führen zur Entwertung und damit zum Verlust derselben. Diese Unfähigkeit, sich entsprechend dem durch den heuchlerischen Höfling oder den homo oeconomicus verkörperten

257 Hildebrandt: „Ehre im ‚Goldenen Zeitalter‘“, S. 263.

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neuen Zeitgeist aus den verkrusteten Strukturen zu befreien, hat wiederum Konsequenzen, die den sozialen Tod des Escudero nur noch schneller herbeiführen: Sein Diener ernährt ihn und er verlässt daraufhin seinen Schutzbefohlenen, was seinem Ehr-Ideal diametral entgegensteht. Auch hier dient das Bild des vir inversus als Erklärmuster: Der pícaro hat seine Lektionen gelernt, was ihm einen vorläufigen gesellschaftlichen Aufstieg (zumindest im Verborgenen) ermöglicht, während das im besten Sinne des Wortes stoische Festhalten des Escudero nur mit einer Flucht aus der Gesellschaft enden kann, die unter dem Regime der opinión pública dem sozialen Tod gleichkommt. Dies umso mehr, als er doch bereits zu Lebzeiten das Dasein eines herumspukenden Geistes aus längst vergangenen Tagen innerhalb seiner „casa encantada“ (L 75) fristen muss. Die Beerdigung in der Mitte des ohnehin äußerst morbiden Kapitels stellt daher seine eigene dar sowie gleichzeitig die des ritterlichen Männlichkeitsideals.

4.6 D IE S CHUHE

DES

M ÖNCHS

Wie bereits erwähnt, findet nach Abschluss des dritten tractado ein deutlicher Bruch innerhalb des Romans statt, was sich sowohl in der Thematik, der Erzählperspektive als auch in der Form und Länge der Folgekapitel niederschlägt. Der vierte tractado, in dem Lazarillos neuer Herr ein „fraile de la Merced“ ist, also ein Mercedariermönch, umfasst lediglich eine knappe halbe Seite, tractado IV erzählt eine in sich abgeschlossene Geschichte, in der die betrügerischen Aktivitäten eines Ablasshändlers im Vordergrund stehen. Der ebenfalls nur eine Seite umfassende sechste tractado skizziert Lazarillos Dienste für einen Trommelbemaler und einen Kaplan. Das siebte und letzte Kapitel dient primär dazu, den Bogen zum Prolog zurückzuschlagen, also das Rätsel um den caso zu lüften und damit den nachgeschobenen Erzählanlass zu liefern. Dargestellt wird dort Lazarillos erster selbstständiger Beruf als öffentlicher Ausrufer, was den Höhepunkt seiner dubiosen gesellschaftlichen Karriere darstellt. Aufgrund der offenkundigen Abweichungen im Hinblick auf Länge, Inhalt und Form der letzten vier tractados wurde dem Lazarillo mitunter mangelnde Kohärenz und fehlendes Formbewusstsein, ja sogar Unabgeschlossenheit attestiert, so etwa von Frank W. Chandler, einem der Pioniere der Pikaresken-Forschung: „Anscheinend war allein der erste Teil vollendet worden, während der restliche

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eine Art Entwurf darstellte, der weiter ausgearbeitet werden sollte.“258 Tarr hingegen stellt überzeugend dar, dass der Eindruck der Skizzenhaftigkeit des zweiten Teils vor allem dadurch erweckt wird, dass dem Roman erst nachträglich die Einteilung in sieben tractados hinzugefügt wurde, die sich wiederum erzähllogisch den unterschiedlichen Dienstverhältnissen verdankt: Wer auch immer sie [die Kapitelüberschriften, G. S.] eingesetzt haben mag, ging rein mechanisch nach dem System ein tractado pro Herr vor, möglicherweise weil auf die Herren gelegentlich als dem ersten, zweiten, dritten, vierten bzw. fünften Bezug genommen wird. Folglich entbehrt jedes Urteil, das den Lazarillo de Tormes als unvollständig und unausgewogen hinstellt, und sich dabei allein auf die unterschiedliche Länge der einzelnen Kapitel stützt, einer eigentlich sicheren Grundlage.259

Über diesen Befund der nachträglichen, nicht vom Autor selbst stammenden Gliederung herrscht längst Einvernehmen in der Lazarillo-Forschung. Tarr macht darauf aufmerksam, dass der Herr des vierten tractado eher überleitende Funktion habe und daher streng genommen kein eigenes Kapitel verdiene, was den geringen Umfang erkläre. Er weist jedoch auch darauf hin, dass das erzählte Ich als handelnde Figur bereits ab dem Ende des dritten tractado zusehends zurücktritt. Bereits dort ist die Narration stark auf den Escudero und dessen Schicksal fokussiert. Das vierte Kapitel stellt dann den Übergang dar bis zum „völligen Auslöschen des Protagonisten im fünften tractado.“260 Erst im letzten Romanteil tritt Lazarillo wieder stärker in den Vordergrund, da es sich hier um das direkte Echo zum prólogo handelt. Inhaltlich findet ebenfalls ein Wechsel statt: Nachdem das Hunger-Motiv „bis zu seiner letzten logischen Konsequenz ausgearbeitet worden [ist]“261, verlagert sich der Fokus stärker auf die sarkastische Typenrevue und hier insbesondere auf die gegen den Klerus gerichtete Satire, sind doch bis auf den Trommelbemaler alle weiteren Herren entweder Mitglieder der Kirche (Mönch, Kaplan, Erzpriester) oder Ganoven, die sich deren Strukturen parasitär zunutze machen (Ablasskrämer).

258 Chandler: Romances of Roguery, S. 198. Zit. nach: Tarr: „Die thematische und künstlerische Geschlossenheit“, S. 15, wo noch weitere solcher Stimmen aufgelistet werden. 259 Ebd., S. 32. 260 Ebd., S. 33. 261 Ebd., S. 27.

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Folglich kann festgehalten werden, dass die Kapitel vier bis sechs nicht zuletzt dazu dienen, den erwachsenen Erzähler als Autor zu etablieren, so wie er es im Prolog bereits angekündigt hat. Insofern schließen sich dem langen tractado über die honra negra drei Kapitel zur Manifestation der fama des Schriftstellers an. Die Cicero-Paraphrase „La honra cría las artes“ (L, 6) vom Anfang des Romans wird nun umgekehrt in Las artes crían la honra. Unterstützt wird diese Beobachtung dadurch, dass in diesen Teilen des Romans keine einzige Anrede an Vuestra Merced, mithin an den lector in fabula, zu finden ist, d. h. Lázaro tritt hier als Geschichtenerzähler auf und nimmt sich als Hauptfigur immer mehr zurück. Es verwundert vielleicht nicht, dass diese im Gegensatz zu den drei ersten tractados eher skizzenhaften Kapitel in der Forschungsliteratur deutlich weniger Resonanz erfahren haben.262 Selbst Tarr gesteht ein, dass es zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Romans nicht nur inhaltliche und formale Divergenzen gebe, sondern auch qualitative: Aber die Geschlossenheit des Ganzen wird von der der einzelnen Teile übertroffen. Die eine Klimax bildende Behandlung des Hunger-Motivs verleiht den ersten drei tractados eine künstlerische Geschlossenheit und eine Ausgestaltung, die die des gesamten Werkes übersteigt. Der künstlerische Höhepunkt wird erreicht, bevor das eigentliche Anliegen des Dichters [gemeint ist der caso, G. S.] sichtbar wird. Es ist unvermeidlich, daß das Werk danach künstlerisch abfällt.263

Auch wenn es hinsichtlich der literarischen Raffinesse der geschilderten burlas und der kompetitiv bestimmten Männlichkeitsdramen sowie der narrativen Ausgestaltung des Hunger- und Ehr-Motivs ein gewisses Nachlassen des darstellerischen Furors geben mag, das sich der zunehmenden Distanzierung des Erzählers

262 Vor allem Shipley hat sich in gleich drei Aufsätzen mit der zweiten Hälfte des Lazarillo beschäftigt: „A Case of Functional Obscurity: The Master Tambourine-Painter of Lazarillo, Tratado VI“ in: Modern Language Notes, 97, No. 2, Hispanic Issue (1982), S. 225-253; „Lazarillo and the Cathedral Chaplain: A Conspiratorial Reading of Lazarillo de Tormes, Tratado VI“, in: Symposium 37.3 (1983), S. 216-241; „‚Otras cosillas que no digo‘: Lazarillo’s Dirty Sex“, in: Giancarlo Maiorino (Hrsg.): The Picaresque. Tradition and Displacement, Minneapolis/ London 1996, S. 40-65. Vgl. des Weiteren: Gethin Hughes: „Lazarillo de Tormes. The Fifth Tractado“, in: Hispanofila 61 (1977), S. 1-9; José Manuel Pedrosa: „Los zapatos rotos del Lazarillo de Tormes“, in: Analecta Malacitana. Revista de la Sección de Filología de la Facultad de Filosofía y Letras 36 (2013), S. 71-100. 263 Tarr: „Die thematische und künstlerische Geschlossenheit“, S. 38.

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vom Erlebten verdankt, finden sich dort wichtige Bezüge zum ersten Teil und auch völlig neue Sozialfiguren, die bislang noch nicht aufgetaucht sind. So komplettiert die Figur des Handwerkers den Querschnitt durch die Stände der männlich dominierten Gesellschaftsstruktur. Auch gelingt es Lazarillo im sechsten tractado zum ersten Mal einen Beruf gegen Bezahlung zu ergattern. Die Dominanz des Klerus wiederum knüpft an die Kirchenkritik des zweiten Kapitels an. Aufgrund der Kürze soll zunächst der vierte tractado („Cómo Lázaro se asentó con un fraile de la Merced, y de lo que le acaesció con él“) in Gänze wiedergegeben werden: Hube de buscar el cuarto, y éste fue un fraile de la Merced, que las mujercillas que digo me encaminaron, al cual ellas le llamaban pariente. Gran enemigo del coro y de comer en el convento, perdido por andar fuera, amicísimo de negocios seglares y visitar, tanto que pienso que rompía él más zapatos que todo el convento. Éste me dio los primeros zapatos que rompí en mi vida; mas no me duraron ocho días, ni yo pude con su trote durar más. Y por esto, y por otras cosillas que no digo, salí de él (L 110f).

Die „mujercillas“, von denen hier die Rede ist, sind die „vecinas“ (L 109), die Lazarillo am Ende des dritten Kapitels beistanden, als er sich nach der Flucht seines Herren unversehens mit den Ansprüchen des Vermieters und den Nachstellungen des Gerichtsvollziehers konfrontiert sah. Sie hatten dort den Jungen vor den Behörden in Schutz genommen: „Señores, éste es un niño inocente y ha pocos días que está con ese escudero y no sabe de él más que vuestras mercedes; sino cuanto el pecadorcico se llega aquí a nuestra casa, y le damos de comer lo que podemos por amor de Dios, y a las noches se iba a dormir con él“ (L 109). Dieses Wiederauftauchen der Frauen sowie die Bemerkung „buscar el cuarto“, die unmittelbar anschließt an den letzten Satz des dritten tractado – „me dejó mi pobre tercero amo“ – unterstützt die These Tarrs, dass es sich beim vierten Kapitel ursprünglich nur um einen Übergang zur nächsten Episode gehandelt haben muss. Entscheidender ist hier die Beobachtung, dass die zunächst völlig anonymen „vecinas“ nun etwas konkreter als „mujercillas“ beschrieben werden, als leichte Mädchen. Hier wird, eingedenk der homosozial-weiblichen Bündnisse aus den beiden Vorläuferromanen, deutlich, dass es sich offenbar um eine institutionalisierte Gruppe von Prostituierten handeln muss, die ihrem Gewerbe ungeniert in der Nachbarschaft nachgeht. Ob der fromme und ehrenhafte Escudero wusste, dass sein ‚Totenhaus‘ neben einem Freudenhaus lag, dem es wirtschaftlich so gut zu gehen scheint, dass es sich die Verköstigung seines Dieners – und damit ja auch indirekt seiner selbst – erlauben kann? Diese ‚Enthüllung‘ wirkt im Nachhinein wie ein weiterer ironischer Kommentar zur Verblendung des verarmten Hidalgos,

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die an die Schilderung seines Unvermögens anschließt, in den Damen am Fluss ebenfalls das zu sehen, was sie sind, und ihnen stattdessen seine ritterlichen Liebesdienste anzubieten. Auch wenn weibliche Figuren im gesamten Text nur am Rande auftauchen, so werden sie doch stets mit (käuflicher) Sexualität in Verbindung gebracht, wobei nicht vergessen werden darf, dass es sich ausschließlich im Sinne des pikaresken mundus inversus um Frauen aus den unteren Ständen handelt; Vertreterinnen des Adels tauchen nirgends auf. Jordán Arroyo weist in diesem Zusammenhang etwas pauschalisierend darauf hin, dass es im gesamten Lazarillo de Tormes eben jene Frauenfiguren sind, die als barmherzig auftreten: „While the institutions of neither local nor royal government nor of the Church seem to be capable to meeting the needs of the hungry poor, it is women who appear throughout the novel to help and in this way to relieve Lázaro’s hunger.“264 Für die „mujercillas“ mag diese Behauptung durchaus Gültigkeit beanspruchen; für Lazarillos Mutter und Ehefrau, die ebenfalls von Arroyo Jordán als Vertreterinnen der Caritas dargestellt werden, greift ein solches Urteil jedoch zu kurz und ist daher ebenso irreführend wie Thomas Hanrahans gegenteilige Einschätzung, dass Frauen in der novela picaresca einzig als gefährliche und bösartige Sexobjekte charakterisiert würden.265 Fest steht, dass die weiblichen Nebenfiguren im gegebenen Fall das ansonsten eher spärlich behandelte Thema der Sexualität in die Narration zurückbringen, das bislang nur im Zusammenhang mit der mütterlichen Herkunft zur Sprache kam. Wie schon dort wird auch im Übergangsbereich vom dritten zum vierten tractado dieser Aspekt lediglich allusiv thematisiert. Etwas deutlicher wird es, wenn der neue Herr des Titelhelden, immerhin ein Barmherziger Bruder, als Verwandter dieser „mujercillas“ identifiziert wird. Wie Rico in seinen Anmerkungen festhält, wurden solche fingierten Verwandtschaftsbeziehungen häufig als Chiffren eingesetzt „para encubrir relaciones vergonzosas“ (L 111). Diese Form der sprachlichen Camouflage durchzieht bereits die Celestina, wenn sämtliche Figuren sie als „Madre“ adressieren, aber auch in der Lozana Andaluza tauchen die Anreden „tía“ und „hijo“ des Öfteren in analogen Kontexten auf. Im Falle des Mönchs ist diese Art der „relación vergonzosa“ besonders pikant, allerdings keineswegs ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass die Figur des lüsternen Geistlichen, insbesondere im Bereich der Schwankliteratur, absolut keine Seltenheit darstellt; sie ist mithin aus literaturhistorischer Sicht nur wenig innovativ, was möglicherweise auch die skizzenhafte Darstellung dieses Dienstverhältnisses erklärt.

264 Arroyo Jordán: „‚Has Charity gone to Heaven?‘“, S. 148. 265 Vgl. Thomas Hanrahan: La mujer en la novela picaresca española, 2 Bde., Madrid 1967, hier: Bd. 2, S. 370.

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Im unmittelbaren Kontext des Romans selbst jedoch ist die Thematisierung von sexuellem Begehren, das von einem der Herren ausgeht, durchaus neu. Weder der verschlagene Blinde noch der geizige Kirchenmann ließen erkennen, dass Sex irgendeine Rolle in ihrem Leben spielt – es sei denn, man bewertete die zügellose Gewalt des letzteren als Symptom einer fehlgeleiteten Libido. Der Escudero inkludiert zwar Annäherungsversuche an das andere Geschlecht in seine ritterliche Performanz, allerdings haben diese unter dem Strich eher komischen als erotischen Charakter. Shipley wundert sich, dass das Thema Sexualität im Lazarillo de Tormes in der Forschung so unterbelichtet ist. Angesichts der Tatsache, dass der fabulierfreudige und mit prallem Leben gefüllte Text doch wohl kaum ausgerechnet darauf verzichten könne,266 macht er sich auf Spurensuche und kommt ausführlich auf den vierten tractado zu sprechen. Würde man die nachträglich vorgenommene Kapiteleinteilung aufrechterhalten, befände man sich hier in der numerischen Mitte des Romans, aber auch ohne diese käme man nicht umhin, in dieser kurzen Episode ein transitorisches Moment zu sehen. Da wäre zunächst die ungeheure Dynamik der Episode zu nennen: Der Mönch hetzt von einem „negocio seglar“ zum nächsten, stets seinen Diener im Schlepptau. Nach den berichteten Erfahrungen im Totenhaus des Escudero, in dem das Erzähltempo immer weiter zurückgenommen wurde, findet nun eine deutliche Akzeleration statt, die auch den weiteren Verlauf des Textes bestimmt und die nicht zufällig an den Anfang des Romans erinnert, der im Initiationserlebnis des Erzählers kulminiert. Der anonyme Autor cachiert im vierten Kapitel nur sehr halbherzig, dass es sich dort abermals um ein vergleichbares Erlebnis handelt, nämlich um die sexuelle Initiation des Ich-Erzählers. Die zahlreichen Anspielungen, auf die nun eingegangen werden soll, haben zweifellos dazu geführt, dass diese Episode in der 1573 veröffentlichten zensierten Version des Textes, dem „Lazarillo castigado“, vollkommen getilgt wurde (wie im Übrigen auch der folgende tractado).267 Ruan führt dies auf die antiklerikalen Tendenzen zurück, die in der zweiten Hälfte des Lazarillo immer stärker werden: „The censor’s sharp scissors weakened the novel’s anticlerical tone, cutting out potentially offensive religious references from the remaining episodes.“268 Diese Begründung vermag

266 Vgl. Shipley: „‚Otras cosillas que no digo‘“, S. 40. 267 Vgl. dazu Ruan: Pícaro and Cortesano, S. 35: „Not only are the forth and fifth chapters excised […] from the Velasco edition, but the structure of the novel is also changed. The expurgated edition, which includes the prologue, is divided into five episodes: four ,asientos‘ […] and a first section titled ,Cuenta Lázaro su linaje y nacimiento‘ (,Lázaro tells of his Lineage and of his Birth‘).“ 268 Ebd.

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nur teilweise zu überzeugen, da ja bereits der zweite tractado voll von kirchenkritischer Prosa war. Vielmehr ist es im vierten Kapitel wohl das skandalöse Zusammenspiel von sexuellem Begehren und monastischer Existenz, das die Zensoren auf den Plan rief. Beginnend mit der dubiosen Verwandtschaft des Barmherzigen Bruders mit den leichten Mädchen bleibt diese kurze Episode der sprachlichen Ambiguität verpflichtet. „Gran enemigo del coro y de comer en el convento“ konstatiert zum einen die offenkundige Abneigung des Mönchs gegen das gemeinsame Gebet im Chor und spielt gleichzeitig mit der für die Pikareske typischen Doppeldeutigkeit von „comer“ als Chiffre für sexuellen Genuss. „Perdido por andar fuera“ drückt eine gewisse exzessive Zwanghaftigkeit aus, die dem monastischen Männlichkeitsideal der moderatio vollkommen zuwider läuft.269 Der bereits erwähnte Teil „amicísimo de negocios seglares y visitar“ bleibt zunächst dem auf Maßlosigkeit abzielenden Porträt treu, indem hier die Steigerungsform von „amigo“ zum Einsatz kommt: Die übermäßige Freude an weltlichen Geschäften und Besuchen dürfte eine ironische Anspielung auf das Geschäft der Kupplerin sein, wobei hier weniger auf die Celestina angespielt wird, sondern auf deren Vorläuferin („Läuferin“ im besten Sinne des Wortes), nämlich die bereits erwähnte Figur der Trotaconventos aus dem Libro de buen amor. Der sprechende Name („trotar“ bedeutet „andar mucho“) beschreibt die rastlose Aktivität der Kupplerin, die – wie ihre berühmtere Nachfolgerin –die Einwohner und Einwohnerinnen der Klöster erfolgreich zu ihrer Stammklientel gemacht hat. Sie selbst sagt von ihrem Geschäft: „ofiçio de correderas es de mucha poridat, más encobiartas cobrimos que mesón de vezindat.“270 Der gleichermaßen umtriebige Klosterbruder erscheint eher als männliche Inversionsfigur der alten Kupplerin: Er verlässt das Kloster, um seine Besuche bei gewissen „mujercillas“ zu unternehmen – auf die professionelle Unterstützung einer alcahueta ist er dabei offenbar nicht angewiesen. In der direkten Folge dieses Porträts kommt Shipley zufolge der entscheidende Hinweis auf den wahren Charakter dieser Besuche und das unter Einbezug eines assoziationsreichen Dingsymbols, nämlich der Schuhe: „tanto, que pienso que rompía él más zapatos que todo el convento.“ Hier lässt eine ungewöhnlich hohe Mengenangabe auf die Maß- und Zügellosigkeit des Barmherzigen Bruders schließen. Die Schuhe dienen hier auf der Sachebene des Textes zunächst als ökonomisches Distinktionsmerkmal, worauf Covarrubias’ in seinem erstaunlich ausführlichen Eintrag zu

269 Vgl. dazu – wenngleich für den französischen Kontext der Frühen Neuzeit – Todd. W. Reeser: Moderating Masculinity in Early Modern Culture, Chapel Hill 2006, bes. S. 11-48. 270 Ruiz: Libro de buen amor, S. 175.

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„Çapato“ eingeht: „El que va descalço puede caminar poco, y pelear mal; [...]. Al pobre llamamos descalço, pero muchos descalços y pobres son muy ricos delante de Dios y de los que le temen.“271 Barfüßigkeit wird hier mit Bescheidenheit und Gottesfürchtigkeit assoziiert, was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Tragen von Schuhen denjenigen vorbehalten war, die entweder über die nötigen Mittel verfügen oder die sehr viel laufen müssen, wie etwa die „gente de guerra“.272 Schuhe gehören demnach zu den Luxusgütern der Reichen. Man muss wissen, dass der Orden der Mercedarier, der sich der Verehrung der María de la Merced verpflichtet sieht, nach der Augustinusregel lebt, die folgende Pflichten für die Ordensbrüder vorsieht:

• einträchtiges Leben in der Ordensgemeinschaft (inkl. gemeinsames Kochen und Essen) • Verzicht auf persönlichen Besitz • Enthaltsamkeit (Fasten, kein sinnliches oder materielles Begehren) • Unterordnung unter die Gemeinschaft und die Autorität des Oberen • regelmäßiges Beten273 Wie auch Le Goff hervorhebt, war die freiwillig gewählte Armut der Bettelmönche von höchster Priorität und gehörte zur „économie du salut“274 der Orden. Buchführungssysteme sorgten dafür, „à vérifier de façon régulière l’état de leur pauvreté en notant leurs dépenses de bouche, de vêtements, leurs dettes face aux dons inattendus et aux rentes régulières sur lesquelles ils peuvent compter.“275 Es erstaunt angesichts des antiklerikalen Tons innerhalb des Lazarillo kaum, dass sein vierter Herr gegen sämtliche der hier aufgelisteten Regeln verstößt. Das Verschleißen der Schuhe, das – wie der Text nahelegt – nicht nur ihn auszeichnet, sondern auch (wenngleich in deutlich geringerem Maße) seine Brüder, ist insofern ambivalent, als die Mercedarier sich als Bettelorden verstehen, d. h. es gehört tatsächlich zu ihren Aufgaben, sehr viel umherzulaufen, um Almosen einzunehmen und zwar ursprünglich vor allem für das Freikaufen von Christen in maurischer

271 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 263. 272 Ebd. 273 Siehe

den

vollständigen

Regeltext

unter:

„Die

Augustinusregel“,

http://www.augustiner.de/files/augustiner/downloads/Augustinusregel.pdf Zugriff: 09.01.2018). 274 Le Goff: Le Moyen Age et l’argent, S. 204. 275 Ebd.

in:

(letzter

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Gefangenschaft, später für Schulen und Bildung.276 Die hyperbolische Beschreibung, dass Lazarillos neuer Herr mehr Schuhe verschleißt als der gesamte Orden zusammen, bedeutet, dass er zum einen offenbar sehr viel Geld einnimmt, das er jedoch nicht für karitative Zwecken einsetzt, sondern in gutes Essen, Liebesdienste und – nicht zu vergessen – neue Schuhe investiert. Die Schuhe sind jedoch, worauf Shipley hinweist, ein gängiges Symbol für sexuellen Verkehr: Of course romper zapatos (,wearing out shoes‘) is a graphic metaphor for the Mercedarian’s efforts to find women; just as certainly, but not often clearly acknowledged in polite discourse and professional prose, romper zapatos is also a metonym for what the Mercedarian did with those women once found them. His is the foot, they are his shoes; the friction he generates is sufficient to wear holes in their soles, one pair after another.277

Mit dieser Interpretation steht Shipley nicht allein.278 Pedrosa weist anhand einer Reihe von literarischen Beispielen aus der folkloristischen Tradition Spaniens nach, dass der Symbolgehalt der „zapatos rotos“ eindeutig mit erotischen Konnotationen belegt war und kommt zum Schluss, dass „[l]a frase acuñada y el concepto de romper zapatos, que en el Lazarillo de Tormes funcionaban como un tópico formulístico e ideológico de sugerentes resonancias eróticas.“279 Der sich unmittelbar anschließende Satz „Éste me dio los primeros zapatos que rompí en mi vida“ bleibt mithin mehrdeutig. Nehmen wir ihn wörtlich, bedeutet er, dass Lazarillo bislang zu den „muchos descalços y pobres“ gehörte, von denen bei Covarrubias die Rede ist, und dass sein erstes Paar Schuhe buchstäblich einen ersten Schritt in eine besser gestellte wirtschaftliche Zukunft ermöglicht. Im unmittelbaren Zusammenhang der zahlreichen erotischen Anspielungen dieses sehr kurzen Kapitels beschreibt der Satz allerdings weitaus mehr, nämlich die sexuelle Initiation der Titelfigur. Beide Lesarten schließen sich keineswegs aus.

276 Vgl. zum historischen Wandel des Ordens: Bruce Taylor: Structures of Reform. The Mercedarian Order in the Spanish Golden Age, Leiden 2000. 277 Shipley: „‚Otras cosillas que no digo‘“, S. 61. Vgl. dazu auch – mit Bezug zu Freud – Stefan Horlacher: Masculinities. Konzeptionen von Männlichkeit im Werk von Thomas Hardy und D.H. Lawrence, Tübingen 2006, S. 467: „In einem ersten Schritt stellt der Schuh folglich ein Symbol für das weibliche Genital dar, in das der phallische Fuß eingeführt wird.“ Vgl. auch William A. Rossi: The Sex Life of the Foot and Shoe, Ware 1976. 278 Vgl. Harry Sieber: Language and Society in La Vida de Lazarillo de Tormes, Baltimore/London 1978, S. 45-58; Pedroso: Los zapatos rotos, bes. S. 71-74 u. 100. 279 Pedroso: Los zapatos rotos, bes. S. 100.

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Wenn man sich vor Augen hält, dass zu den Aufgaben des Mercedarier-Ordens Bildung und Erziehung gehören und dass Lazarillos Anstellungsverhältnissen bislang immer auch eine Lehrer-Schüler-Konstellation zugrunde lag, die jedes Mal einen anderen gesellschaftlichen Abgrund auslotete, dann legt die chiffrierte Darstellung im vierten tractado kaum eine andere Lesart nahe, als dass es sich hierbei um einen Übergangsritus handelt. Dieser ist noch dazu an einer zentralen Stelle des Romans platziert, die aus struktureller Sicht ebenfalls diese Qualität des Transitorischen in sich trägt. Pedrosa merkt in seiner Lektüre an, dass solche Initiationsriten durchaus nichts Ungewöhnliches seien: Y es bien sabido que un rito perfectamente iniciático en las vidas sexuales de muchos varones, de entonces y de ahora, en la realidad y en la ficción, ha sido el de la visita al prostíbulo, de la mano de algún otro varón mayor y más experto (pariente o amigo, responsable o tutor muchas veces del joven).280

Anders jedoch als im ersten tractado, in dem die Initiation in das gesellschaftliche Leben durch die anschließenden Reflexionen des Erzählers deutlich als solche markiert wurde, tritt hier eine völlig andere Reaktion ein: „mas no me duraron ocho días, ni yo pude con su trote durar más. Y por esto, y por otras cosillas que no digo, salí de él.“ Mit anderen Worten: Lazarillo ergreift nach nur acht Tagen die Flucht. Man kann nun vom Protagonisten kaum sagen, er sei nicht belastbar: Er leidet nahezu dauerhaft an Hunger, er lässt sich mehrfach halbtot prügeln und anschließend verlachen, er wird zum beherzten Ernährer seines vornehmen Herrn, doch all das reichte offenbar nicht aus, um ihn zu entmutigen. Aber hier nun passiert etwas anderes – ein offenbar von „hiperactividad sexual“281 getriebener Mönch schafft es schließlich, seinen Diener nach nur einer Woche Dienstzeit das Weite suchen zu lassen. Es gibt neben Shipleys Interpretation mehrere Deutungsversuche, die in dieser Reaktion den Beweis sehen, dass es sich hier nicht nur um die heterosexuelle Initiation des Titelhelden handele, sondern dass vor allem durch den elliptischen Zusatz „otras cosillas que no digo“ ein sexueller Missbrauch durch den Mönch angedeutet wird, der den vorzeitigen und überstürzten Abbruch

280 Ebd., S. 75. 281 Ebd. S. 74.

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des Dienstverhältnisses erklärt.282 Man darf jedoch bei solchen Deutungsversuchen, die in dieser Episode die „sodomización de Lázaro“283 und damit die ultimative Degradation der Hauptfigur sehen, nicht den historischen Kontext dieser Exegesen selbst vergessen, stammen diese doch im Wesentlichen aus den 1970er Jahren, in denen die durch Freud und Lacan inspirierte psychoanalytische Literaturwissenschaft eine veritable Blüte erlebte. Sieber stellt z. B. seiner Analyse des vierten Kapitels ein Freud-Zitat voran: „…everyone hides the truth in matters of sex…“284 Herausgeber Rico warnt allerdings vor solchen Deutungen und führt die elliptische Rede auf die Tatsache zurück, dass sie auch an anderen Stellen im Lazarillo auftauche und darüber hinaus typisch für den Stil eines Briefs sei (der der Roman ja vorgibt zu sein): En años recientes, casi toda la crítica ha querido ver aquí la alusión eufemística a unas relaciones nefandas entre el mozo y el fraile. En la vida de Lázaro, sin embargo, no hay el menor indicio para suponer tal escabrosidad, y del fraile sólo se dice que es amigo de las ,mujercillas‘. Parece, pues, que no nos las habemos [sic!] sino con una abbreviatio y reticencia, como al hablar del ciego (por no ser prolijo, dejo de contar muchas cosas así graciosas como

282 Neben Shipley, der jedoch am Ende seiner Studie ausführlich einräumt, dass es sich bei seiner bemerkenswerten Interpretation um ein „risky reading“ („‚Otras cosillas que no digo‘“, S. 55) handele, haben bereits vor ihm einige Philologen diesen Verdacht nahegelegt, so etwa Bataillon („la preterición final deja sospechar lo peor acerca de las relaciones del fraile con el muchacho“, zit. nach der leidenschaftlich-polemischen Gegenrede von Antonio Alatorre: „Contra los denigradores de Lázaro de Tormes“, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 50 (2002), S. 427-455, hier: S. 433). Michalski geht noch weiter und stellt die These auf, dass Lazarillo nicht nur durch den Mönch, sondern auch durch den Erzpriester von San Salvador im letzten tractado missbraucht worden sei. Vgl. André Michalski: „El pan, el vino y la carne en el Lazarillo de Tormes“ in: Manuel Criado de Val (Hrsg.): Actas del Primer Congreso Internacional sobre la Picaresca, Madrid 1979, S. 413-420. Ferner unterstützt diese These von Ferrer-Chivite: „Lazarillo de Tormes y sus zapatos. Una interpretación del tratado IV a través de la literatura y el folklore“, in: José Luis Alonso Hernández (Hrsg.): Literatura y folklore: problemas de intertextualidad. Actas del Segundo Symposium Internacional del Departamento de Español de la Univ. de Groningen Octubre 1981, Salamanca/Groningen 1983, S. 243-269, bes. S. 256. Vgl. auch Maurice Molho: „El Lazarillo de Tormes o la revolución del trabajo“, in: Ínsula. Revista de Letras y Ciencias Humanas 490 (1987), S. 21. 283 Ferrer-Chivite: „Lazarillo de Tormes y sus zapatos“, S. 258. 284 Sieber: Language and Society, S. 45.

302 | V IR INVERSUS de notar) o cuando se dice que con el buldero Lázaro pasó hartas fatigas no especificadas. Es elipsis típica del final de las cartas […] y parece especialmente propia del momento en que Lázaro empieza a imprimir un ritmo más rápido al relato (L 112).285

So kontrovers, lebhaft und teils polemisch die Debatte über das kürzeste Kapitel des Romans – bzw. über einen Halbsatz – geführt wurde, sie beweist doch letztlich nur ein weiteres Mal den enormen Bedeutungsüberschuss dieses kleinen Textes und das damit verbundene Prinzip der erforderlichen Komplementärlektüre pikaresker Texte durch ihre Leser. Eine halbwegs belastbare Aussage erscheint daher kaum möglich, ob der vierte tractado nun eher eine hetero- oder homosexuelle Initiation des Protagonisten darstellt oder womöglich gleich beides auf einmal oder auch nichts davon. Es könnte doch auch durchaus sein, dass die übermäßigen Besuche des Mönchs bei den mujercillas ihn selbst als männliche Variante der Kupplerin entlarven oder gar als deren Zuhälter, was immerhin seinen offenkundigen Wohlstand erklären würde. Es scheint gerade der skizzenhafte Charakter dieses kurzen Abschnitts zu sein, der die Fantasie seiner Leser besonders anregt. Diese geht tatsächlich bis zu T. Anthony Perrys These, es handele sich beim vierten tractado um eine Anspielung auf den biblischen Sündenfall: The pendulum of Lazarillo’s fortunes begins its upward swing, so to speak, in tratado four, as the boy begins to be reborn to the world. The detail of the pair of shoes – his first awareness of clothing – anticipates his first step forward […], his first purchase of a suit of clothes. The importance of these details suggests a final parallel with Genesis. It is only after the fall that Adam becomes conscious of his nakedness (loss of innocence). In the Lazarillo clothing is one of the instruments of man’s social hypocrisy. This clothing permits Lazarillo to enter the society of hypocrites and to live well.286

Ein paar kaputte Schuhe sowie ein elliptischer Halbsatz reichen offenbar aus, um in den Lesern Bilder und Narrative der Menschheitsgeschichte von ihren biblischen Ursprüngen über die moralische Dekadenz ihrer Abkömmlinge bis hin in den Abgrund von Kindesmissbrauch und Hurerei hervorzurufen. Dass im Lazarillo sowohl die gesellschaftlich-moralischen Abgründe aus der Sicht eines Außenseiters sichtbar gemacht werden, dass es auch zahlreiche Bezüge zu biblischen

285 Diese Meinung vertreten neben Rico u. a. Alatorre: „Contra los denigradores de Lázaro de Tormes“ und Clark Colahan/Alfred Rodríguez: „De vuelta sobre la alusividad sexual del tratado IV del Lazarillo“, in: Revista de Literatura 61 (1999), S. 215-223. 286 T. Anthony Perry: „Biblical symbolism in the Lazarillo de Tormes“, in: Studies in Philology 67 (1970), S. 139-146, hier: S. 145.

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Motiven und Narrativen gibt, steht nach allem hier Gesagten außer Frage, auch wenn aufgrund der durchweg vorherrschenden semantischen und symbolischen Polyvalenz sowie der gattungsbestimmenden Unzuverlässigkeit des Erzählers stets die Gefahr falscher Fährten lauert. Daran trägt sicherlich auch die Anonymität des Autors ihren Anteil, die den Deutungsspielraum noch um einiges erweitert. Daher soll nun der Versuch unternommen werden, auf der Grundlage des kurzen Abschnitts Rückschlüsse zu ziehen auf das Männlichkeitsbild des Romans, indem in einem zweiten Schritt die aufgezeigten Deutungsversuche gegen- und miteinander abgewogen werden. Es handelt sich beim figuralen Ensemble um eine nicht näher bestimmte Gruppe Prostituierter sowie einen Mönch, die in einem offenkundig erotisch begründeten Verhältnis stehen, was durch den euphemistischen Ausdruck „pariente“ zum Ausdruck gebracht wird. Dass es demnach im vierten tractado um das Thema Sexualität geht, gilt daher als relativ sicher. Dass die Konstellation Mönch/Prostituierte skandalös erscheint, wiewohl sie im Bereich der komischen Literatur (Schwank, Fabliau, Folklore) häufig vorkommt, hat wohl dazu beigetragen, dass dieser Abschnitt in der zensierten Fassung des Romans getilgt wurde. Der anonyme Autor erweitert somit den zweiten tractado, in dem er bereits Geiz, Habsucht und Gewalttätigkeit des Klerus angeprangert hat, um das Laster der sinnlichen Genusssucht. Schließlich geht es hier nicht nur um erotische Vergnügungen, sondern auch um kulinarische Völlerei, denen der Barmherzige Bruder auf exzessive Weise frönt. Beides widerspricht nicht nur der dem Mercedarier-Orden auferlegten Augustinusregel, sondern wird im pikaresken Jargon häufig synonym verwendet. Die Narrativierung und Personifizierung dieser Laster ist auch insofern nachvollziehbar, als sie im gesellschaftlichen Negativ-Tableau der vorangegangenen Episoden noch keine Rolle gespielt haben. Der Roman bleibt dabei insgesamt den geschlechterstereotypen Zuschreibungen der Zeit treu, da Sexualität stets im Zusammenhang mit weiblichen Figuren thematisiert wird. Das stereotype Bild der Frau als Hure, das schon bei der ebenfalls skizzenhaften Darstellung der Mutter bemüht wurde und am Ende des Romans wiederkehren wird, bestimmt mithin auch den Scheitelpunkt des Texts. Dass hier ausgerechnet ein Mönch als zwanghaftes ‚Opfer‘ weiblicher Verführungskunst inszeniert wird, sorgt zum einen für Komik, stellt aber gleichzeitig die Scheinheiligkeit des Klerus aus und die Substanzlosigkeit seiner Ideale. Dass gerade monastische Männlichkeit durch Mäßigung, Askese, Bildung und Demut definiert wird, führt einmal mehr das Zusammenspiel von engaño und desengaño vor. Das exzessive sexuelle Verhalten, das der emsige Klosterbruder an den Tag legt, antizipiert geradezu die sexuell motivierte Hypermaskulinität der Don-Juan-

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Figur, die ebenso zwanghaft von einer Eroberung zur nächsten hetzt. Ironischerweise stammt dieses Drama um den Burlador de Sevilla ausgerechnet aus der Feder eines Mercedariermönchs. Dieser jedoch prangert in seinem prominenten Stück die Genusssucht und Heuchelei des Hochadels an – der anonyme Autor des Lazarillo liefert bereits über ein halbes Jahrhundert früher dessen kirchliches Pendant, wobei hier bezeichnenderweise auf die göttliche Strafe am Ende verzichtet wird. Der verdorbene Mönch passt zu gut in das diesseitige Bild einer durch und durch verkommenen Gesellschaft, in der die Barmherzigkeit, wie es im vorherigen tractado hieß, längst in den Himmel aufgefahren ist. Und gleichzeitig verkörpert er durch sein vom Exzess bestimmtes Sozialverhalten einmal mehr die Herrenmoral von Lazarillos Vorgesetzten. Da diese erotische Exzessivität, wie sie bei Tirso de Molina wiederkehren wird, ein weltliches Aushängeschild von Hypermaskulinität darstellt, das nicht Ehre, sondern sexuelle Potenz unter Beweis stellt, haben wir es hier mit der Konstruktion eines Maskulinitätsentwurfs zu tun, der mit dem christlichen Ideal enthaltsamer Männlichkeit offiziell nicht vereinbar ist. Bei Tirso entsteht dieser Konflikt ebenfalls, doch steht er dort im Widerstreit mit dem höfischen Ideal, das zwar nicht Enthaltsamkeit, aber Mäßigung und galante Ritterlichkeit vorsieht. Allerdings wird deutlich, dass Don Juans Verhalten nur so lange stillschweigend von seinem Umfeld geduldet wird, bis es öffentlich wird. Die ältere Generation im Stück, die durch Don Juans Onkel Don Pedro und sogar den König vertreten wird, zeigt sich stets bemüht, die Verfehlungen des Titelhelden zu vertuschen, wodurch deutlich gemacht wird, dass es keineswegs die erotischen Streifzüge und die damit verbundenen Ehrverluste der Opfer sind, die als verwerflich gelten, sondern einzig deren Öffentlichwerden. Diese zusätzliche Ebene des Stückes, die sozusagen das Korrektiv durch das Patriarchat darstellt, fehlt in den zahlreichen weiteren populären Adaptationen des Stoffes von Molière über Mozart und Da Ponte bis Peter Handke, weshalb der Fokus noch deutlicher auf den obsessiven Verführungswillen des Protagonisten gerichtet wird. Bei Tirso wird dadurch auch hervorgehoben, dass die göttliche Strafe am Ende des Stückes keineswegs die Folge von Don Juans unmoralischen Eroberungsfeldzügen darstellt, sondern nur seinen Mord an Don Gonzalo de Ulloa (dem Vater eines seiner Opfer) sühnt sowie sein leichtfertiges Sich-Hinwegsetzen über die christliche Moral, das leitmotivisch durch sein unbekümmertes „¿Tan largo me lo fiáis?“287 ausgedrückt wird. Auf der inoffiziellen Seite gelten Don Juans Verführungskunst und seine sexuelle Potenz sehr wohl als Emblem eines hypermaskulinistischen Ideals, das er auch kompetitiv unter Beweis stellt, so gegenüber seinem Konkurrenten Don

287 (Attribuada a) Tirso de Molina: El burlador de Sevilla o El convidado de piedra, hrsg. von Alfredo Rodríguez López-Vázquez, Madrid 2007, S. 145 und passim.

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Ottavio und im Rahmen der Täuschung seines bis dahin besten Freundes, dem Marqués de la Mota. Die Kritik an der moralischen Dekadenz des Adels und dessen scheinheiligen Idealen lässt sich im Fall des umtriebigen Mönchs im Lazarillo übertragen auf den Konflikt zwischen christlichen und weltlichen Idealen. Der „fraile de la Merced“ huldigt offiziell der Heiligen Jungfrau Maria von der Gnade und inoffiziell dem paganen Kultus der Liebesgöttin Venus. Auch hier lassen sich Bezugslinien entdecken zur Celestina und Rojas’ Parodie des übertriebenen Marienkultus. Weltliches und christliches Männlichkeitsideal werden gegeneinander ausgespielt und entsprechend der inversiven Narrations- und Wertestruktur trägt der potente homo agens den Sieg davon. Dadurch dass dem Thema der käuflichen Liebe, um das es hier geht, immer auch schon eine ökonomische Dimension eingeschrieben ist, wird das neue Menschenbild des homo oeconomicus, das im zweiten tractado – dort ebenfalls verkörpert durch einen Vertreter des Klerus – eingeführt wurde, hier weiterentwickelt. Dafür wiederum steht symbolisch das Bild der durchgelaufenen Schuhe. Wie bereits angedeutet, weist Covarrubias in seinem Tesoro darauf hin, dass das Tragen von Lederschuhen Wohlstand demonstriert. Nach einem längeren Exkurs zu biblischen Stellen geht er darauf ein, dass Barfüßigkeit im vestimentären Code der Zeit auch ein Zeichen von „humildad y baxeza“288 darstellt, was dem Habitus eines Bettelmönchs nahekommt. Der Klosterbruder ist diesem Verständnis zufolge nicht nur ein Sammler erotischer Abenteuer, sondern auch von Schuhen. Die eingenommenen Almosen werden, so legen es zumindest die spärlichen Informationen nahe, investiert in den eigenen männlichen Habitus, der aus Kleidung, Essen und Sex besteht und damit gleich gegen drei Regeln verstößt, nämlich Bescheidenheit, Mäßigung und Enthaltsamkeit. Auch hier erweisen sich tradierte Werte angesichts des Siegeszugs des ökonomischen Prinzips als Falschmünzen – der Mönch wird mit nur wenigen Pinselstrichen als Summa aller vorangegangenen Herren etabliert: Wie der Blinde bettelt er qua seines Amtes um Almosen, setzt sie um für seine eigenen Bedürfnisse und ermöglicht seinem Diener ein Initiationserlebnis; wie der clérigo gehört er zur untersten und ärmsten Stufe innerhalb der Kaste des Klerus und hortet die Spenden seiner Schützlinge; wie der Escudero hegt er Sympathien für seinen Diener. Neu ist, dass er Lazarillo zeigt, dass sich die männliche Sozialisation nicht nur auf der Grundlage von Täuschung, Gewalt, dem richtigen Umgang mit dem gesellschaftlichen Ehrenkodex und Wettbewerb vollzieht, sondern eben auch mithilfe sexueller Kontakte zum anderen Geschlecht. Die These des sexuellen Missbrauchs erscheint mir insgesamt als nicht hinreichend belastbar. Zwar soll die sexuelle Symbolik des Schuhwerks nicht bestritten

288 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 263.

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werden, jedoch steht der Satz „Éste me dio los primeros zapatos que rompí en mi vida“ im Kontext des Kapitels – nicht zuletzt auch mit Blick auf ähnliche komische Figuren aus der Schwankliteratur – eher für die bis dato ausgebliebene Einweisung eines männlichen Heranwachsenden in die Vita sexualis. Die Tatsache, dass Lazarillo nach nur acht Tagen die Flucht ergreift, ist meiner Ansicht nach eher dem Umstand geschuldet, dass der Novize keinen Gefallen an diesem Bestandteil des männlichen Habitus entwickelt, was im Grunde das Gegenstück zur Missbrauchsthese darstellen würde. Hierfür spricht, dass sich Lazarillo im siebten tractado ohne zu zögern auf den amourösen Handel mit dem Erzpriester einlässt und im Gegenteil froh darüber ist (er selbst redet vom „cumbre de toda buena fortuna“, L 139, Herv. G. S.), diesen Bereich männlicher Sozialpraktiken an seinen komplizenhaften Vorgesetzten zu delegieren. Ob es schiere Unlust oder sexuelles Unvermögen ist, spielt dabei keine allzu große Rolle – das Nichterfüllen des heterosexuellen, prokreativen Imperativs der Gesellschaft fügt sich nahtlos in das defizitäre Bild pikaresker Männlichkeit ein, weshalb man hier im Grunde von einer Anti-Initiation sprechen müsste.289 So verstanden würde sich auch der vieldiskutierte Nebensatz „otras cosillas que no digo“ als systematisches Verschweigen der eigenen Unzulänglichkeit erklären. Diese Taktik des gezielten Verschweigens hatte Lazarillo bereits im dritten tractado angewendet, als der Escudero ihn nach seiner Herkunft fragte: „Con todo eso, yo le satisfice de mi persona lo mejor que mentir supe, diciendo mis bienes y callando lo demás, porque me parecía no ser para en cámara“ (L 75, Herv. G. S.). Solche narrativen Strategien gehören zur Poetologie des pikaresken Erzählens: das Gute ausschmücken, den Rest besser verschweigen. Wäre Lazarillo tatsächlich zum Missbrauchsopfer geworden, hätte das seiner Bemitleidung Vorschub geleistet, aber er lässt es weg. Die Schilderung seines sexuellen Unvermögens hingegen wäre auf der Negativseite seiner Bekenntnisse verbucht worden, was das Verschweigen erzähllogisch naheliegender erscheinen lässt. Das zeigt auch, warum die Schilderung dieses zweiten Initiationserlebnisses im Gegensatz zum ersten so knapp ausfällt und mit keinerlei weiteren

289 Der lakonische Erzählstil sowie der Einsatz von blancs lässt an die Schilderung des Endes einer rund 400 Jahre später erzählten éducation sentimentale denken, nämlich an Flauberts gleichnamigen Roman. Dort erinnert sich der gescheiterte Protagonist am Ende des Romans in Form einer Antiklimax an das schönste Erlebnis seines Lebens, das in einem gescheiterten Bordellbesuch besteht („C’est là ce que nous avons eu de meilleur !“), was man ebenfalls als Anti-Initiation bezeichnen könnte, die wiederum an Lazarillos „cumbre de toda buena fortuna“ erinnert. Vgl. Gustave Flaubert: L’Éducation sentimentale. Histoire d’un jeune homme [1869], hrsg. von Pierre-Louis Rey, Paris 1989, S. 519.

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Gedanken bedacht wird. Stattdessen zieht sich Lazarillo als handelnde Figur immer mehr zurück. Seine zunehmende Passivität geht einher mit seinem bescheidenen wirtschaftlichen Aufstieg – auch dieser wird, neben der sexuellen Initiation, durch das erste Paar Schuhe angedeutet. Beide Themen, Eros und Mammon, hängen eng mit den verschiedenen Kapitalsorten des männlichen Habitus zusammen (ökonomisch, symbolisch und sozial), werden im vierten Kapitel in Form eines geschickten Vexierspiels an der Schnittstelle von Sagbarkeit und Unsagbarkeit, Überfluss (Mönch) und Mangel (Diener) narrativiert und für beide stehen die Schuhe als emblematisches Bild: rompía él más zapatos que todo el convento vs. los primeros zapatos que rompí en mi vida.

4.7 A UCTOR

IN FABULA

Wenn Lazarillo bereits im vierten tractado als Figur neben dem umtriebigen Mönch die Rolle des Statisten innehatte, so tritt er im fünften Romanteil lediglich noch als Berichterstatter auf. Es wird eine in sich abgeschlossene Schwankerzählung dargeboten, die nur noch sehr lose mit der Vita des Protagonisten zusammenhängt. Folglich erinnert dieser Teil des Lazarillo aus erzähltechnischer Sicht eher an Novellensammlungen wie z. B. den Decamerone von Boccaccio oder aber an Techniken der narrativen Digression, wie sie Alemán im Guzmán und vor allem Cervantes mit seinen eingefügten Novellen im Don Quijote immer wieder einsetzt, so z. B. die Schäfer-Episoden um die Liebenden Cardenio und Luscinda oder die Novela del Curioso impertinente, die beide im ersten Teil des Romans erzählt werden. Lazarillos neuer Herr verdingt sich – gemeinsam mit seinem Kumpan, einem alguacil – als betrügerischer Ablassverkäufer (buldero). Nachdem die Gemeindemitglieder von Sagra de Toledo sich eher als kaufunwillig erwiesen haben, bricht abends in einem Gasthaus ein Streit zwischen den beiden Ganoven aus, den die Bewohner des Stadtteils mitbekommen: Der eine bezichtigt den anderen der Falschheit und des Betrugs, bis beide mit Lanze und Degen aufeinander losgehen. Am Tag darauf redet der buldero in der Kirche erneut zu den Gemeindemitgliedern und schwört, dass er kein Betrüger sei, was der alguacil abermals öffentlich als Lüge diffamiert. Um seine Aufrichtigkeit zu beweisen, bittet der Ablasskrämer Gott um ein eindeutiges Zeichen, woraufhin sein (nun) ehemaliger Kumpan von einer Art epileptischem Anfall heimgesucht wird: Von Krämpfen durchgeschüttelt und mit Schaum vorm Mund wälzt er sich auf dem Kirchenboden. Da die Gemeindemitglieder nun von der Aufrichtigkeit des buldero überzeugt sind, kaufen sie ihm die entsprechenden Briefe zu Dutzenden ab. Erst am Ende erkennt Lazarillo,

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dass der gesamte Auftritt nur eine hinterhältige Inszenierung war, und kommt zur Einsicht: „¡Cuántas déstas deben hacer estos burladores entre la inocente gente!“ (L 125). Auf den ersten Blick liest sich dieser fünfte tractado wie ein süffiger Schwank, der die zeitgenössische Praxis des katholischen Ablasshandels lustvoll auf die Schippe nimmt, dessen Florieren bekanntlich einer der Gründe für die Reformation darstellte.290 Es verwundert kaum, dass auch dieses Kapitel des Lazarillo der Zensur zum Opfer fiel. Köhler weist in seinen Kommentaren darauf hin, dass die Figur des betrügerischen Predigers seit der Vaganten- und Schwankliteratur des späten Mittelalters einige Verbreitung erfahren hatte, wo auch teilweise ähnliche Motive verarbeitet wurden, wie etwa das der vorgetäuschten Epilepsie.291 Auch eine überlieferte Novelle aus der mittelalterlichen arabischen Literatur, in der ein betrügerisches Komplizenpaar sein Unwesen treibt, könnte hier als Vorbild gedient haben, so Köhler.292 Des Weiteren bringen Rico, Sieber und Ricapito eine Erzählung aus der Sammlung Il Novellino (1476) des italienischen Renaissancedichters Masuccio Salernitano als möglichen Einfluss ins Spiel.293 Es scheint demnach, als stehe das fünfte Kapitel des Lazarillo de Tormes nicht unbedingt unter Originalitätsverdacht.

290 Von den 95 Thesen (im lateinischen Original: Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum), die Luther im Jahr 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll und die vor allem die Auswüchse des Ablasshandels anprangerten, seien z. B. These 21 hervorzuheben („Derhalben jrren die Ablasprediger / die da sagen / Das durch des Bapsts Ablas der Mensch von aller pein los vnd selig werde“) sowie These 72 („Wer aber wider des Ablas predigers mutwillige vnd freche wort sorge tragt / oder sich bekümmert / der sey gebenedeit“). In: Martin Luther: Schriften, 12 Bde., Wittenberg 1551-1559, Bd., 9, S. 10, 12. Vgl. dazu Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 11: „Luther beklagt, daß die einfachen Leute auf Grund der Ablaßpredigt glauben, sie seien, wenn sie nur Ablaßbriefe erwerben, ihrer Seligkeit sicher; diese Ablaßgnade sei so kräftig, daß keine Sünde so groß sein könne, daß sie nicht erlassen und vergeben werden könnte. Dagegen sagt Luther: ‚Der Mensch wird durch kein Geschenk eines Bischofs seines Heiles gewiß…; vielmehr befiehlt uns der Apostel immer in Furcht und Zittern unser Heil zu erwirken.‘“ 291 Vgl. Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, S. 148-150. 292 Ebd., S. 149f. Die besagte Novelle (Al-Hamadhî: Die 10. Maqâme) hat Köhler im Anhang in der Übersetzung von Gernot Rotter angefügt (S. 165-168). 293 Vgl. Francisco Rico: La novela picaresca española, Barcelona 1967, S. xi: „Haya influjo concreto de Masuccio o no lo haya, lo cierto es que el ardid del buldero constituía

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Mit dem Ablasshandel nimmt der anonyme Autor gleichwohl Bezug auf ein zeitaktuelles Phänomen, wurde dieser doch erst 1570 unter Papst Pius V. untersagt. Bis dahin bleibt der Ablasshandel – nicht nur in Spanien, aber dort besonders294 – ein bestens florierendes Geschäft und bringt der Kirche ein nicht unbeträchtliches Vermögen ein. Wie Sieber konstatiert, bedeutete der Ablassbrief „a form of after-life insurance, and the piece of paper on which it was printed was a policy.“295 Der Historiker Henry Lea, auf den sich Sieber bezieht, beschreibt eine Druckerei, in der die entsprechenden Formulare gedruckt wurden, als eine Art Hochsicherheitstrakt: [T]he printing office had its windows filled with heavy iron grilles, covered with copper net-work; the door was locked with two keys, each entrusted to a friar, both of whom had to be present when any one entered or departed, or when food was introduced, and all who passed the door were searched, on going in for white paper and on coming out for printed bulls. Every sheet of paper was numbered when delivered to the printer, and was accounted for and registered when printed.296

Diese detailreiche Schilderung macht den enormen Wert der Ablassbriefe deutlich, den Sieber als höher einschätzt als den von Geldmünzen: From a purely economic viewpoint, these pieces of paper became more valuable than money. [...] Again from the economic viewpoint, the more persuasive salesmen had access to a potentially unlimited source of income. Their concern for the spiritual well-being of their congregations was reinforced, as it were, according to the degree of their own greed.297

casi un tópico literario.“ Vgl. Sieber: Language and Society, S. 63; Joseph V. Ricapito: „Lazarillo de Tormes (Chapter V) and Masuccio’s Fourth Novella“, in: Romance Philology 23 (1970), S. 305-311. 294 Vgl. José Goñi Gaztambide: Historia de la Bula de la Cruzada en España, Vitoria 1958; ders.: „Los cuestores en España y la regalía de indulgencias“, in: Hispania Sacra 2 (1949), S. 285-310. 295 Sieber: Language and Society, S. 66. 296 Henry Charles Lea: „Indulgences in Spain“, in: Papers of the American Society of Church History 1 (1889), S. 129-171, hier: S. 157. Zit. nach Sieber: Language and Society, S. 64. Möglicherweise verbirgt sich hinter dem Hinweis, dass ausgerechnet Mönche über die Schlüssel zu den Druckereien wachten, eine Erklärung für den Wohlstand des Barmherzigen Bruders aus tractado IV? 297 Ebd.

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Nach alledem lässt sich nun konstatieren, dass nicht nur der dritte tractado mit der Figur des verarmten Hidalgos zeitgenössische Problemlagen kommentiert, sondern dass auch im fünften Kapitel ein unmittelbar gegenwärtiges Phänomen humorvoll behandelt wird. Bezeichnenderweise ergibt sich als Schnittmenge der beiden Romanteile das Verhandeln ökonomischer Konfliktsituationen – dort im Bereich des Adels, hier innerhalb der römisch-katholischen Kirche. In der direkten Gegenüberstellung der Akteure könnte jedoch das Ergebnis nicht unterschiedlicher sein: Scheitern dort, Erfolg hier. Hughes bemerkt dazu: For, in the buldero [Lazarillo] finds a master unencumbered by honour, unhindered by a preoccupation with fine clothes, and yet capable of providing tangible evidence of the practical benefits of deception. A man, in effect, successful in his aims as the squire had been unsuccessful in his.298

Die Frage ist nun, was hier genau über sozialen Erfolg und Misserfolg entscheidet, wo doch, wie Hughes hervorhebt, alle handelnden Figuren offenkundig über ein ausgeprägtes schauspielerisches Talent verfügen und somit zur Spezies des homo agens gehören: „Each of Lazarillo’s masters is an actor.“299 Im Fall des Escudero konnte gezeigt werden, dass es vor allem die mangelnde Anpassungsfähigkeit war, die es ihm unmöglich machte, gesellschaftlich zu reüssieren. Im direkten Vergleich zum Duo buldero/alguacil kommt noch hinzu, dass er über keinerlei Netzwerke verfügte, die es ihm ermöglicht hätten, ein Leben entsprechend seinen Ehrvorstellungen zu führen. Darauf geht der Erzähler an zwei Stellen ein, wenn er beobachtet, dass der Escudero mit niemandem Umgang habe (L 98) und dass er keinen Herren finde, der seinen Vorstellungen entspräche, wie er selbst sagt: „Y con éstos los astutos usan, como digo, el día de hoy, de lo que yo usaría; mas no quiere mi ventura que le halle“ (L 106). Damit fehlen dem Escudero neben der Fähigkeit des Sich-Anpassens an den neuen Zeitgeist zwei weitere Grundvoraussetzungen, um einem sozial erfolgreichen Männlichkeitsentwurf gerecht zu werden: Aktivität und ein Netzwerk, was Bourdieu im Zusammenspiel als „soziales Kapital“ bezeichnet: Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. [...]

298 Hughes: „Lazarillo de Tormes“, S. 6. 299 Ebd.

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Sozialkapitalbeziehungen können nur in der Praxis, auf der Grundlage von materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen existieren, zu deren Aufrechterhaltung sie beitragen.300

Der Escudero gehört zwar rein formal zum Adel, allerdings auf so niedriger Stufe, dass er ohne finanzielle und soziale Ressourcen niemals den offiziellen Normierungen des aristokratischen Ehr-Ideals aufgrund des geforderten Arbeitsverbots Genüge leisten kann. Ganz anders sein Nachfolger („el más desenvuelto y desvergonzado y el mayor echador“, L 112): Gleich zu Beginn wird geschildert, dass er sich schon im Vorfeld seiner betrügerischen Geschäfte an einem Ort die entscheidenden Personen gewogen macht: En entrando en los lugares do habían de presentar la bula, primero presentaba a los clérigos o curas algunas cosillas, no tampoco de mucho valor ni sustancia: una lechuga murciana, si era por el tiempo, un par de limas o naranjas, un melocotón, un par de duraznos, cada sendas peras verdiñales. Así procuraba tenerlos propicios, porque favoreciesen su negocio y llamasen sus feligreses a tomar la bula (L 112f).

Dieses strategische Vorgehen erweist sich als geschickt, betreibt der buldero hier doch socializing ganz nach dem Motto: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Aus dem zweiten tractado wissen wir noch, dass die clérigos solchen Zuwendungen alles andere als abgeneigt sind – erinnert sei nur an den Brottresor von Lazarillos zweitem Herrn. Er wurde, wie bereits dargestellt, als Vorform des homo oeconomicus in den Roman eingeführt, weshalb man nun im fünften Kapitel von einem Tauschgeschäft unter Gleichgestellten sprechen kann. Wie im vorangegangenen tractado, in dem ebenfalls vom ‚weltlichen Geschäft‘ mit ökonomischem und erotischem Kapital die Rede war, taucht hier erneut der Begriff „negocio“ auf, der das Hauptthema der ‚Novelle im Roman‘ einführt, nämlich den Handel im weitesten Sinne. Das Thema des Eros wurde durch Lazarillos Schweigen vorläufig aus der Narration getilgt, weshalb nun die thematisch-erzählerische Kohärenz durch den ausschließlichen Fokus auf den materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen zwischen Ablasshändler, Gemeindediener, ihren Helfershelfern und den betrogenen Gemeindemitgliedern gewahrt bleibt. Das rein homosoziale Netzwerk, das sich auf der Grundlage dieser ökonomischen Beziehungen konstituiert, ist komplexer als es auf den ersten Blick erscheinen mag und lässt durchaus an moderne kapitalistische Strukturen denken, konkret an den Handel

300 Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, S. 190f.

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mit Wertpapieren, als deren Vorform die Ablassbriefe durchaus interpretiert werden können. Die wesentlichen Parameter dieses Systems sind Komplizenschaft und Ausbeutung, Angebot und Nachfrage sowie die künstliche Wertsteigerung durch das gezielte Streuen von Gerüchten und inszenierte Bedürfnisse. Die „cosillas“, die dazu dienen, sich die Geistlichen der Gemeinde gewogen zu machen, werden als „no tampoco de mucho valor ni sustancia“ dargestellt und verweisen somit bereits auf die eigentlichen Verhandlungsgegenstände, die „bulas“, die ebenso wert- und substanzlos sind wie die Köder. So geht es von Anfang an auch um den Widerstreit von wahr und falsch, der schon auf rein sprachlicher Ebene ganz klar zugunsten von letzterem entschieden wird: Nicht weniger als zwölfmal ist in dem kurzen Text die Rede von „falso/a“, „falsedad“ oder „falsario“. Das Falsche bezieht sich jedoch nicht nur auf die gefälschten Ablassbriefe, sondern auf das gesamte ökonomische Beziehungsgeflecht, das sich als parasitäre Sekundärstruktur des offiziellen kirchlichen Ablasshandels entpuppt. Das bedeutet konkret, dass die Tauschbeziehungen zwischen buldero und clérigos auf substanz- und wertlosen „cosillas“ fußen, die Berufsbezeichnungen buldero und alguacil als Masken des engaño enttarnt werden, der Streit zwischen den beiden in der Gaststätte lediglich ein fingiertes Schauspiel ist, das schließlich im „milagro“ eines Gotteszeichens gipfelt, das die „gente inocente“ dazu animiert, die gefälschten „bulas“ zu kaufen. Das einzige, was am Ende nicht falsch ist, ist mithin das Geld, das den beiden Betrügern in die Hände fällt. Noch deutlicher als zuvor wird im fünften tractado vom Voranschreiten des präkapitalistischen Wertesystems und vom Siegeszug des homo oeconomicus berichtet.301 Um es noch einmal zu rekapitulieren: Auch in den ersten beiden Kapiteln spielen ökonomische Aspekte eine bereits zunehmend wichtige Rolle. Im dritten tractado wird sodann von einem Fall berichtet, in dem das in den Zwängen des längst entwerteten symbolischen Kapitals der Ehre gefangene Individuum den Anschluss an den neuen Zeitgeist verliert. Im vierten Kapitel schließlich werden ökonomisches und erotisches Kapital miteinander verschränkt, was bedeutet, dass sexuelle Vergnügungen – und damit die Frau als sexualisiertes und käufliches Objekt – und monetärer Wohlstand in das neuartige System präkapitalistischer Handelsstrukturen eingespeist wurden. Das zeigt, dass dem Roman hinsichtlich des repräsentierten Wertekanons von Anfang an eine Doppelstruktur zugrunde liegt,

301 Vgl. dazu auch Urs Urban: „Tausch und Täuschung. Performative Kompetenz als Grundlage ökonomisch erfolgreichen Handelns im spanischen Pikaro-Roman“, in: Beatrice Schuchardt/ders. (Hrsg.): Handel, Handlung, Verhandlung. Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien, Bielefeld 2014, S. 195-215, bes.: S. 197204.

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die häufig durch rein sprachlich-semantische Ambivalenzen erzeugt wird – so vor allem in extremer Verdichtung im vierten tractado –, aber auch durch die handelnden Akteure und deren männlichen Habitus, die diese Ambivalenz vermittels theatralisch-performativer Praktiken ebenfalls zur Schau stellen. Der bedürftige und physisch behinderte Bettler, der mildtätige Kirchenmann, der ehrenhafte Escudero, der barmherzige, selbstlose Bruder – sie alle sind auf der offiziellen Seite ihrer Berufsstände diesen Idealbildern verpflichtet, wäre da nicht die inoffizielle Tiefenstruktur ihres Habitus, das Negativ-Bild, das uns der Protagonist durch seinen intimen Einblick in die Hinterräume des Bühnengeschehens gewährt. Dieses sozialvoyeuristische Dispositiv aus der Perspektive des halben Außenseiters legt das frei, was Goffman in seinen Ausführungen zum Alltagstheater als Hinterbühne (backstage) bezeichnet: „A back region or backstage may be defined as a place, relative to a given performance, where the impression fostered by the performance is knowingly contradicted as a matter of course.“302 Auch wenn die Rollenmodelltheorie insbesondere von Seiten der kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung im Allgemeinen und den Masculinity Studies im Besonderen seit den 1990er Jahren einige Kritik erfahren hat303, bietet sie sich gleichwohl zur Beschreibung frühneuzeitlicher Konzeptionen von Theatralität an, denen zufolge das theatrum mundi als ein zwar literarisch generiertes, aber doch lebensweltliches Beschreibungsmodell zu den gängigen Mustern sozialanthropologischer Beobachtung gehört. Das heißt, dass die Autoren, die solche Metaphern und Topoi in ihren Werken zum Einsatz bringen, sehr wohl im Bewusstsein leben, dass die Gesellschaft entsprechend ihren jeweiligen Ständen einem theatralen Raum gleichkommt, wobei hier sicherlich der zunehmende Einfluss höfischer Etikette und Anstandsregeln einigen Vorschub leistet. Es soll auch hier weniger um die Geschlechterrolle im engeren Sinne gehen als um theatral anmutende topografische Strukturen an der Schnittstelle von Öffentlichkeit und Privatheit, die bestimmte Verhaltensweisen zur Folge haben. Wenn Goffman zwischen der gesellschaftlichen Hauptbühne und dem durch informelle Strukturen nur locker bestimmten Backstage-Bereich differenziert, sagt das zunächst noch nichts über die Vorstellung eines vermeintlich unveränderlichen subjektiven Kerns des Individuums aus, das sich situativ eine bestimmte Rolle aneignet, die dann als Spiel wahrgenommen wird, während sich im Hinterraum das ‚wahre‘ Ich enthüllt. Das räumt Goffman sogar ein, wenn er schreibt, dass auch die Entspannung des Schauspielers nach der

302 Goffman: The Presentation of Self, S. 112. 303 Vgl. dazu Fenske: Männlichkeiten im Fokus“, S. 14; Meuser: Geschlecht und Männlichkeit, S. 51.

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Aufführung zu seiner Darstellung gehört.304 Insofern lässt sich auch im Lazarillo nicht festmachen, welcher Teil der Inszenierung denn nun das ‚wahre‘ Wesen der Figuren, also die Essenz des Individuums zum Ausdruck bringt. Vielmehr stehen private und öffentliche Performanz der männlichen Figuren als unterschiedliche Facetten derselben Figur im steten Wechselverhältnis zueinander und haben Anteil an der Konstitution des jeweiligen Habitus. Der Blick des pícaro in die Hinterzimmer seiner Herren fungiert dabei als Medium des desengaño, was Goffman folgendermaßen formuliert: „When individuals witness a show that was not meant for them, they may, then, become disillusioned about this show as well as about the show that was meant for them.“305 Nun könnte man sagen, dass die im Sinne des offiziellen Wertekanons als unmoralisch zu bewertenden Verhaltensweisen der Herren sehr wohl an den Diener adressiert sind, aber durch das Öffentlichmachen im Modus der Schelmenbeichte wird die dadurch ausgelöste Desillusionierung sowohl an den anonymen Empfänger als auch an den Leser delegiert, der doch längst zum Komplizen des Ich-Erzählers geworden ist. Wenn wir nun den Blinden und den Escudero vernachlässigen, fällt auf, dass in allen anderen Kapiteln die Vertreter der Klerus hinsichtlich ihrer performativen Leistungen als besonders dissoziativ erscheinen. Gemein ist ihnen, dass sie im Backstage-Bereich ihrer Lebenswelt allesamt als Verkörperungen des neuen Zeitgeistes agieren: beflügelt durch ihre persönliche Gewinnsucht, ihre Gier nach Besitz und Wohlstand, unterstützt durch die systemischen Strukturen der katholischen Kirche, die seit dem Frühmittelalter „la principale puissance économique de l’Europe“306 war, und bestens geschult im schauspielerischen Ausdruck. Man erhält somit den Eindruck, dass es sich beim homo oeconomicus um eine Erfindung des Klerus handelt. Es wäre daher Le Goff zuzustimmen, wenn er am Ende seiner Ausführungen zur Rolle des Geldes im Mittelalter nicht nur aufzeigt, „qu’il ne faut pas séparer religion et économie“ und dass die Ökonomie „est toujours incorporée dans l’activité d’une humanité dominée et tout entière animée par la religion“ 307, sondern dass sich die katholische Kirche mit der gerade aufkommenden Geldwirtschaft recht gut arrangiert hatte. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Kirche ihre Heilsökonomie, zu deren Kernstücken Barmherzigkeit, Wohltätigkeit, Seelsorge und Gaben gehören, dem Vormarsch der Geldwirtschaft und des Eigennutzes zum Opfer bringen musste, sondern sehr viel eher, dass man Mittel und

304 Vgl. Goffman: The Presentation of Self, S. 134. 305 Ebd., S. 136. 306 Le Goff: Le Moyen Age et l’argent, S. 209. 307 Ebd., S. 207.

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Wege fand, das eine mit dem anderen gewinnbringend zu verbinden, womit der Doppelmoral des Klerus Tür und Tor geöffnet wurden. Der Handel mit Ablassbriefen stellt sicherlich die augenfälligste Strategie dar, wie die katholische Kirche die beiden Pole von Heils- und monetärer Ökonomie in Einklang brachte. Diesem Verständnis zufolge darf es wohl als Ironie gelten, dass ausgerechnet die katholische Kirche maßgeblich an den Grundvoraussetzungen kapitalistischer Strukturen beteiligt war und ein Menschenbild hervorbrachte, von dem Vogl schreibt: „Ein reformierter Menschentyp korrespondiert also mit neuartigen Ordnungsvorstellungen, in denen schließlich das Marktgeschehen und die politische Ökonomie eine privilegierte Rolle übernehmen werden.“308 Mit diesem veränderten Menschenbild geht auch eine veränderte Sozialordnung einher, die eben nicht mehr „um Überblick, Mildtätigkeit und Hilfsbereitschaft herum aufgebaut [wird]“, sondern in der sich die sozialen Beziehungen „vielmehr um Verhandlung, Tausch und Kauf“ drehen.309 Dieses Weltbild stellt der pikareske mundus inversus auf nachgerade visionäre Weise dar; das „große Wolfsspiel“310 des Schelmenromans ist dem Markt vergleichbar, von dem Vogl behauptet: „Darum ist der Markt nicht irgendein Schauplatz, sondern Ort sozialer Ordnung schlechthin: ein Katalysator, der Leidenschaften in Interessen, egoistische Interessen aber in einen glücklichen Zusammenhang transformiert und darin einem Naturgesetz folgt.“311 Das Naturgesetz ist dem an der Hobbes’schen Sentenz homo homini lupus orientierten Bild des Wolfsspiels durchaus verwandt und setzt auf den beständigen Wettbewerb seiner Akteure, der Bourdieu zufolge wiederum zu den Kernstimuli der männlichen Herrschaft gehört und es scheint geradezu selbstverständlich, im ökonomischen System des Klerus, mithin auf dem Markt, der die Bühne für dieses Wolfsspiel bereitstellt, ein rein androzentrisches Beziehungsund Machtgefüge zu sehen. Die gängige Praxis des Ablasshandels, auf die weder Le Goff noch Vogl in ihren Ausführungen zur Vorgeschichte des Kapitalismus näher eingehen, setzt auf die Korrespondenz von Heils- und Geldwirtschaft und stellt gleichsam einen präkapitalistischen Handel mit dem Jenseits dar: Seelenheil gibt es im Tausch gegen Geld. Die wechselseitige Übereinkunft zwischen Käufer und Verkäufer basiert auf der Währung von Vertrauen bzw. Glaube, wovon der Leser des Lazarillo spätestens seit dem Ende des ersten tractado weiß, dass es sich hierbei um eine illusionäre Währung, also um Falschgeld handelt. Folgerichtig eröffnet der falsche

308 Vogl: Das Gespenst des Kapitals, S. 33. 309 Ebd., S. 40. 310 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 85. 311 Vogl: Das Gespenst des Kapitals, S. 45.

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Glaube der Gläubigen, die bezeichnenderweise im späteren ökonomischen Diskurs als Gläubiger bezeichnet werden, dem engaño, also der Täuschung das Feld. Im speziellen Fall des Ablasshandels setzt das Funktionieren dieser Täuschung ganz schlicht voraus, dass die Käufer nicht nur Gläubige sind, sondern sündige Gläubige, weshalb die Kirche ganz zweifellos ein großes Interesse daran hat, dass ihre Schäfchen eben nicht ohne Sünde sind. Auch hier offenbaren sich Parallelen zum modernen Markt, da doch erst ein Begehren auf Seiten der Konsumenten geweckt werden muss. Genau dies scheint zunächst im fünften tractado das Problem zu sein: Die Kunden erweisen sich als nicht kaufwillig – „no le habían tomado bula“ (L 115). Das liegt jedoch weniger daran, dass sie einen leeren Sündenkatalog vorzuweisen hätten, sondern eher am mangelnden Vertrauen in die beiden Verkäufer. Hier haben wir einen versteckten Hinweis darauf, dass die betrügerischen Auswüchse des Ablasshandels zur Mitte des 16. Jahrhunderts bereits so weit fortgeschritten waren, dass die parasitären Sekundärstrukturen,312 an denen buldero und alguacil partizipieren, offenbar längst landläufig bekannt waren. Es müssen also dringend Kaufanreize geschaffen werden, denn „[e]staba dado al diablo con aquello“ (L 115). Hier schaltet sich der Erzähler zum vorerst letzten Mal ein und kündigt an, von „uno muy sotil y donoso [artificio], con el cual probaré bien su suficiencia“ (L 115) zu berichten. Auf die Wortwahl „artificio“ und „probar su suficiencia“ wird an späterer Stelle noch einmal zurückzuzukehren sein. Was dann folgt, ist ein doppeltes Theaterstück, ganz ohne Hinterbühne, wie es in den ersten drei tractados noch der Fall war, d. h. alles ist öffentlich. Die erste Szene spielt sich im Gasthaus ab, das ja schon Covarrubias in seinem Eintrag zu „engañar“ als Parade-Ort des Betrugs dargestellt hatte. Der Ablasskrämer und sein Gehilfe liefern sich vor allen Gästen einen erbitterten Streit und bezichtigen sich gegenseitig der Lüge, des Diebstahls und der Falschheit: „Él llamó al alguacil ladrón y el otro a él falsario“ (L 115). Der Streit eskaliert, die Kontrahenten greifen zu „lanzón“ und „espada“, bis das Haus voll von Zuschauern, also für auseichend Publikum gesorgt ist. Das Wortgefecht kreist sodann um den Vorwurf, die „bulas“ seien allesamt gefälscht. Die Raffinesse der beiden Akteure besteht exakt darin, sich zwar gegenseitig die Wahrheit vorzuwerfen, die jedoch von den Umstehenden aufgrund des unsicheren Ortes als mögliche Lüge verkannt wird, die schließlich zum fingierten Bündnisbruch führt. Es gelingt der Menge schließlich, beide auseinanderzubringen. Die zweite Szene spielt sich am kommenden Tag in der Kirche ab. Hinsichtlich der Topografie könnte der Gegensatz kaum plakativer sein: hier der durch und durch weltliche Ort des geselligen Beisammenseins, der

312 Zum Begriff des Parasitären allg. und im Zusammenhang mit ökonomischen Strukturen vgl. Serres: Le Parasite, S. 245-358.

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stets im Rufe steht, zwielichtige Stätte von Betrug, Prostitution und Spiel zu sein; dort der heilige Ort des Gottesdienstes, wo das Beisammensein ganz im Zeichen von Andacht, Läuterung und Buße steht. Beide Bühnen stellen jedoch in der Pikareske den Ort des engaño dar und fungieren im unmittelbaren Zusammenspiel als Theater der Profanation. Nachdem der Ablasshändler auf der Kanzel Gott um ein Zeichen bittet, dass seine „bulas“ echt seien, fällt sein Komplize, der im Publikum sitzt, zu Boden und performt die Symptome eines epileptischen Anfalls: Apenas había acabado su oración el devoto señor mío, cuando el negro alguacil cae de su estado y da tan gran golpe en el suelo que la iglesia toda hizo resonar, y comenzó a bramar y echar espumajos por la boca y torcella, y hacer visajes con el gesto, dando de pie y de mano, revolviéndose por aquel suelo a una parte y a otra (L 119f).

Offenbar glaubt die „gente inocente“ eher an sichtbare Zeichen, die auch Goffman als Elemente der Darstellung klassifiziert, und die vom Publikum als nicht manipulierbar erachtet werden.313 Anders ausgedrückt: Die „gente“ glaubt eher an die Wahrheit des Körpers als an jene des Geistes. Man muss dazu sagen, dass das Auftreten eines epileptischen Anfalls im volkstümlichen Bewusstsein der Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit „in die Nähe von Prophetie“ und „Dämonenaustreibung“314 gerückt wird und sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Diskurstradition vielerorts als körperliche Zeichen von „Strafe und Makel“315 angesehen wurden, was folglich Anlass zu allerlei Aberglauben und Ängsten bot. Der erwünschte Effekt lässt nicht lange auf sich warten: Die Kirchgänger lassen sich zu regelrechten Hamsterkäufen hinreißen: „Y a tomar la bula hubo tanta prisa, que casi ánima viviente en el lugar no quedó sin ella: marido y mujer, y hijos y hijas, mozos y moza“ (L 122). Hier überlagern sich am Ende „bula“ und „burla“ – die beiden Ganoven dürfen sich über reichhaltige Einkünfte freuen. Vom ökonomischen Standpunkt betrachtet handelt es sich bei diesem Betrug um einen Handel mit illusionären Wertpapieren, die erst abgesetzt werden können, nachdem in den Käufern mit viel inszenatorischen Geschick ein Begehren implementiert wurde, das es mit dem Kauf des Ablassbriefes zu befriedigen gilt, was man im modernen Sinne mit den Begriffen Marketing, Kalkül und Konsumlogik

313 Vgl. Goffman: The Presentation of Self, S. 62. 314 Hansjörg Schneble: „Art. Epilepsie“, in: Bettina von Jagow/Florian Steger (Hrsg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen 2005, Sp. 200-205; hier: Sp. 201. 315 Vgl. Hansjörg Schneble: Heillos, heilig, heilbar. Geschichte der Epilepsie, Berlin 2003, S. 18-20.

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beschreiben kann. Der offizielle soziale Status der beiden Ganoven – Ablasshändler und Gemeindediener – spielt hier sicherlich eine beträchtliche Rolle, worauf Hughes hinweist, „since they are representatives of the spiritual and moral order.“316 Die Autorität der beiden Akteure ist offiziell durch das Protektorat der Kirche legimitiert, während sie doch in Wahrheit lediglich das Ergebnis kleinerer Bestechungen ist, d. h. die Macht der beiden fußt im Wesentlichen auf den Prinzipien des homo oeconomicus. Sieber weist darauf hin, dass es ebenfalls der manipulativen Sprachgewalt des buldero („the virtually unlimited power of speech to constitute reality“317) zu verdanken ist, dass die beiden Betrüger so erfolgreich ihr Handwerk verüben können und spricht von der „linguistically bestowed efficacy“318 der Gauner. Und tatsächlich stehen mit der persuasiven Predigt des buldero sowie dem Ablassbrief erstmals Texte im Mittelpunkt des Romans, die wiederum nichts Anderem dienen als der dissimulativen Manipulation der Käufer und damit der persönlichen Bereicherung der beiden Gauner. Sieber sieht hier eine Parallele zur narrativen Grundstruktur des Lazarillo: The bula however, does not function only as a papal indulgence that is, as a sixteenth century bula de la cruzada. Because of its special status as the only text within the Lazarillo, I will suppose it is an analogue (analogia) of the novel and the way in which it is ,sold‘ to its audience is analogous to the way in which Lázaro directs his Vida to Vuestra Merced. […] In sum, the author of the Lazarillo constructs the fifth tratado in such a way as to reveal the strategy of the entire book.319

Ohne dass er den Begriff verwendet, handelt es sich bei dem, was Sieber hier beschreibt, um eine Mise en abyme, also um ein narratives Verfahren der Spiegelung oder Rekursion. Die gängige Definition von Wolf lautet folgendermaßen: Die mise en abyme ist die Spiegelung einer Makrostruktur eines literarischen Textes in einer Mikrostruktur innerhalb desselben Textes. Gespiegelt werden können Elemente der fiktiven histoire, Elemente der Narration, sprich Elemente der Vermittlungs- und Erzählsituation

316 Hughes: „Lazarillo de Tormes“, S. 6. 317 Sieber: Language and Society, S. 59. 318 Ebd., S. 60. 319 Ebd.

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selbst, oder poetologische Elemente (allgemeiner Diskurs, über die Erzählsituation hinaus).320

Wolf hebt in seiner Studie den illusionsstörenden Charakter der Mise en abyme hervor, da sie aufgrund ihrer Artifizialität den Konstruktionscharakter der erzählten Geschichte sichtbar mache. Tatsächlich irritiert der fünfte tractado innerhalb des Leseflusses insofern, als sich der bis dato mehr oder weniger stark in die Handlung involvierte Titelheld, wie bereits gesagt, nahezu vollkommen aus der histoire zurückzieht. Bislang wurde dieser narrative Bruch auf die Vermutung zurückgeführt, dass sich dadurch der angeklagte Erzähler, wie bereits im Prolog, als fabulierfreudiger Autor und weniger als Figur in den Vordergrund drängt, um solcherart von seiner Schuld abzulenken und gleichzeitig seine fama als schreibender Künstler zu manifestieren. Dieser Erklärungsversuch soll nun keineswegs in Frage gestellt werden, sondern als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen dienen, die zeigen, dass der fünfte tractado sehr viel wichtiger für den gesamten Roman und sein narratives Konzept ist als es auf den ersten Blick scheint. Sieber unterstreicht seine These der narrativen Spiegelung, indem er auf die Distanzierung Lazarillos von den geschilderten Ereignissen um das Betrügerpaar aufmerksam macht: „Lázaro quickly discards the use of the first-person pronoun, using it again only in the final sentence.“321 Es ist zudem auffällig, dass im tractado selbst zu Beginn und am Ende in ungewöhnlicher Häufung literarische Begriffe (im weitesten Sinne) verwendet werden. Am Anfang schildert der Erzähler den buldero und dessen Handwerk mit folgenden Ausdrücken: „sotiles invenciones“ (L 112), „un gentil y bien cortado romance“ (L 114), „desenvoltísima lengua“ (L 114), „con letras y con reverendas“ (L 114), „con mañosos artificios“ (L 115). Im abschließenden Kommentar bezeichnet Lázaro den erfolgreichen Betrug als von „risa y burla“ (L 123) begleiteten „ensayo“ (L 123) und zeigt sich zutiefst beeindruckt ob des handwerklichen Geschicks seines Herren: „había sido industriado por el industrioso e inventivo de mi amo“ (L 123). Es ist sicherlich kein Zufall, dass insbesondere der buldero zu Beginn als Künstlerfigur in die

320 Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen 1993, S 296. Vgl. ders.: „Mise en abyme“, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart 22001, S. 442f; vgl. auch Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997. 321 Sieber: Language and Society, S. 61.

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Handlung eingeführt wird und am Ende als erfolgsverwöhnter Autor und Schauspieler die Bühne verlassen darf. Dazwischen wird, wie bereits dargestellt, ein Kabinettstück in zwei Akten vorgeführt, in dem es durchgängig um den Streit über die Kategorien „vero“ und „falso“ geht, was für den Leser am Ende erst durch den Blick des Beobachters zugunsten von letzterer entschieden wird. Wichtig ist hier anzumerken, dass Lazarillo selbst offenbar bis zum Ende von der Wahrhaftigkeit der Performance überzeugt ist. Wir haben es daher im fünften Kapitel letztlich mit einer Parabel auf die Macht der Fiktion zu tun, die in Form einer Mise en abyme in die narrative Struktur des Romans integriert ist.322 Vom poetologischen Standpunkt aus betrachtet steigt damit die Relevanz des fünften tractado enorm, da er nur an der Textoberfläche in voller Bewunderung von den mañosos artificios – „artificio“ bedeutet sowohl Geschick als auch Betrug – des Ablasshändlers berichtet, es in Wahrheit jedoch um das Geschick des Erzählers selbst geht, was wohl als verstecktes Selbstlob des Erzählers und damit des anonymen Autors zu verstehen ist. Das Ende ist daher als Ausdruck von Hoffnung zu bewerten, da der buldero mit seinen Betrügereien (erst einmal) durchkommt, worauf der Erzähler im Angesicht von Vuestra Merced zumindest hoffen darf: Seine Schelmenbeichte stellt, um im Bild zu bleiben, den Ablassbrief des sündigen Erzählers dar, um den sich ja ebenfalls die Debatte um „wahr“ und „falsch“ rankt. Aufschlussreich ist hier auch der Begriff „ensayo“, den Lázaro zur Beschreibung des Betrugs verwendet. Rico verweist in seinen Anmerkungen auf Covarrubias’ Tesoro, in dem zu lesen ist: „algunas veces significa el embuste de alguna persona, que con falsedad y mentira nos quiere engañar“ (L 123, n. 40). Diese Definition ist sicherlich hilfreich und mag Köhler dazu veranlasst haben, den Begriff mit „Meisterstreich“323 zu übersetzen. Allerdings unterschlägt uns Rico drei weitere Bedeutungen, die Covarrubias in seinem Eintrag zu „ensayor“ anführt. Zunächst taucht die wohl

322 Wenn man bedenkt, dass der von André Gide in die Literatur(-wissenschaft) eingeführte Begriff der Mise en abyme ursprünglich aus der Heraldik stammt und bedeutet, dass ein Wappen im Wappen noch einmal en miniature wiederauftaucht, ist es im vorliegenden Fall umso erstaunlicher, dass das zentrale Verhandlungsstück, die „bula“, nicht nur die Bedeutung einer päpstlichen Ablassbulle hat, sondern eben auch den ornamentalen Schmuck eines Wappens oder Siegels bezeichnet, was vom lat. „bulla“ stammt. Interessant ist des Weiteren, dass „bulla“ – wie auch „bula“ im Spanischen und „bule“ im Französischen – auch Blase bedeutet, was den Charakter der geschilderten Szene recht gut darstellt: eine kunstfertig hergestellte Blase, die am Ende platzt. Assoziationen mit dem Begriff der Blase im heutigen ökonomischen Sprachgebrauch wären naheliegend, sind jedoch ahistorisch. 323 Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, S. 147.

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gängigste im Sinne von Eignungsprüfung („la dicha prueba la bondad y fineza“) auf, dann erst die von Rico genannte Definition und schließlich „ensayo“ verstanden als Waffenprobe vor einem Turnier oder als Generalprobe im Theater, was im heutigen Spanisch noch immer geläufig ist. „[...] la prueba que se haze de algún acto público quando primero se prueba en secreto, como ensayo de torneo u otro exercicio de armas. Ensayo, entre los comediantes, la prueba que hazen antes de salir al teatro.“324 Die Bedeutungsvielfalt des Ausdrucks „ensayo“ verweist mittelbar auf den im Siglo de Oro geläufigen Topos des Widerstreits von armas y letras und damit zumindest indirekt auf konkurrierende Männlichkeitsideale – nämlich das des kämpfenden Ritters und das des gelehrten Höflings –, wie sie z. B. ausführlich im 38. Kapitel des ersten Teils im Don Quijote verhandelt werden.325 Beides taucht auch – nahezu emblemhaft – im fünften Kapitel des Lazarillo auf, wenn die beiden vermeintlichen Widersacher sich in einer Kneipe mit Lanze und Schwert bekämpfen und zuvor und danach publikumswirksam im sakralen Raum über den Wert eines Schriftstückes streiten. Wie sich am Ende der Episode im Moment des desengaño herausstellt, sind sie beides nicht, sondern lediglich überzeugende Schauspieler dieser Rollen. Armas y letras bleibt dergestalt als Referenzpunkt der Männlichkeitsperformanz erhalten, d. h. man kämpft mit Lanze

324 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 353. 325 Cervantes: Don Quijote, Bd. I, S. 468-472. Das Kapitel ist überschrieben mit: „Que trata del curioso discurso que hizo don Quijote de las armas y las letras“. Vgl. dazu Christoph Strosetzki: „ Zur Bedeutung des Topos armas y letras“, in: ders.: Miguel de Cervantes. Epoche – Werk – Wirkung, München 1991, S. 164-167, hier: S. 167: „Man kann die weise und zitatreiche Rede über das Goldene Zeitalter als Utopie der „letras“ und die Entscheidung des Don Quijote, insbesondere in dieser Rede, als Utopie der „armas“ bezeichnen. Da aber „armas“ und „letras“ seit der Renaissance gerade in ihrer Verbindung geschätzt wurden, läßt sich die Rede über das Goldene Zeitalter als programmatische Ankündigung von Don Quijotes künftigen Abenteuern mit ebenso unzeitgemäßen Waffen wie Tugenden verstehen. Schließlich lebte er in einem ehernen Zeitalter, in dem Artilleriefeuerwaffen auf weite Entfernungen selbst den Tapfersten trafen. Kapitalkraft spielte bei der Finanzierung von Söldnern, die nicht mehr Ritter oder Adelige waren, eine größere Rolle als ritterliche Tugend. [...] Selbst der Ritter, der nicht umherfuhr, sondern als Feudalherr auf seinem Sitz die Rechtsprechung und Einnahmen von Steuern betrieben hatte, sah sich zunehmend durch königliche Beamte seiner Privilegien enthoben. Wenn dieser sich nun als Höfling an den Königshof begab, dann spielten für ihn die „armas“, anders als für Don Quijote, nur noch eine untergeordnete, dekorative Rolle, während die „letras“ ihm halfen, sich in der höfischen Gesellschaft angemessen zu bewegen.“

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und Schwert, man redet gelehrt („hacíase entre ellos un Sancto Tomás y hablaba dos horas in latín“, L 114), aber auf eine ähnlich substanzlose Weise, wie es der Caballero de la triste figura bei Cervantes durchführt – Männlichkeit als Maskerade. Interessanter noch als die inhaltlichen Bezüge zum Topos armas y letras und den damit verbundenen Männlichkeitsidealen sind die strukturellen Konsequenzen, die der Begriff „ensayo“ aufgrund seiner bis heute gültigen Bedeutung von ‚Generalprobe‘ mit sich führt. In der inhaltlichen Logik des Kapitels mag diese Bedeutung auf den ersten Blick keinen Sinn machen, da die beiden Protagonisten das darstellende Spiel zu ihrem Lebenswerk gemacht haben, das sich folgerichtig in Gänze im öffentlichen Raum, also auf der Hauptbühne abspielt. Wenn wir nun aber zum poetologischen Spiel des Romans mit mehreren sich spiegelnden Ebenen zurückkehren, macht der Begriff der Generalprobe durchaus Sinn und er macht es vor allem an dieser fortgeschrittenen Stelle des Romans. Indem wir nämlich den fünften tractado tatsächlich als Mise en abyme des gesamten Textes interpretieren, die vor allem den kommunikativen und machtspezifischen Rahmen aufgreift, mithin Lázaros Versuch, Vuestra Merced mit einem Text und geschickter Rhetorik von seiner Unschuld zu überzeugen, können wir im namenlosen buldero eine Platzhalterfigur bzw. das Alter ego des Titelhelden sehen. So verstanden wäre es dann möglich, den lustvoll geschilderten „ensayo“ als Generalprobe für Lázaros Verteidigungsstrategie zu deuten. Wolf weist ja in seiner Definition darauf hin, dass eine Mise en abyme „Elemente der Vermittlungs- und Erzählsituation selbst“ spiegeln kann, was hier der Fall wäre. Lázaro ist vor allem darum bemüht, sich mit seinem Bericht, in dem es ebenfalls nahezu durchgängig um das Spiel mit der Unsicherheit der Leser angesichts seiner Glaubwürdigkeit geht, die Absolution zu verschaffen. Dies hat zur Folge, dass es sich bei Lázaros Brief an Vustra Merced in der Logik der Spiegelung um seinen eigenen Ablassbrief handelt: Beim Ablass geht es schließlich um das Seelenheil nach dem Leben im Diesseits; im Lazarillo geht es analog um das Wohl und Wehe des Protagonisten, über das ebenfalls erst im Jenseits befunden wird, nämlich jenseits von Diegese und Textgrenzen. Dieses Urteil steht zum Ende des Romans unmittelbar bevor, weshalb die Charakterisierung dieser theatralisch vermittelten Anekdote als ‚Generalprobe‘ genau an dieser Stelle aus erzähllogischer Sicht sinnfällig erscheint. Mit einigem rhetorischen Geschick – con mañosos artificios – lenkt der Erzähler demzufolge im fünften Kapitel mithilfe der durch den Wechsel der Erzählposition ermöglichten formalen Distanzierung von seiner eigenen Person ab, schreibt jedoch bei näherer Betrachtung immer noch über sich selbst und sein prekäres Verhältnis zur Macht. Das erklärt dann auch die ungewöhnliche Anhäufung literarischer und poetologischer Begriffe am Anfang und – ein kaum verhohlenes

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Eigenlob – Lazarillos Bewunderung für die erfolgreichen Machenschaften der beiden Betrüger. Nicht zufällig grenzt sich Lázaro am Ende des Kapitels erstmalig vom Rest der Betrogenen ab („la inocente gente“, L 125) und damit sogar von seinem eigentlichen Widersacher, wie Sieber hervorhebt: „Vuestra Merced, then, is made part of the text not only as its receiver; he becomes part of that ‚inocente gente‘ in the text. Lázaro has seduced him with his own sotil invención by playing the role of a metaphoric buldero.“326 Der Erzähler tritt im fünften tractado nach allem Gesagten zwar nicht mehr als handelnde Figur auf, aber erhebt sich mittels eines Kunstgriffes über die Akteure und positioniert sich auf diese Weise dezidiert als Autor und zwar als auctor in fabula. Als letzter Punkt sei noch darauf hingewiesen, dass das fünfte Kapitel nicht nur strukturell und auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung als Mise en abyme interpretiert werden kann, sondern auch auf inhaltlicher Ebene, vor allem was die Darstellung des Gesellschaftssystems (Praktiken, Strukturen, Werte, Akteure) angeht und ganz konkret den Diskurs über Männlichkeit. Im Rekurs auf Goffman wurde bereits auf die Relevanz der Theatralität eingegangen, die den barocken Diskurs über das gesellschaftliche Miteinander in hohem Maße bestimmt. Repräsentanten eines bestimmten sozialen Standes agieren entsprechend klar formulierten Rollenkodizes und Verhaltensnormierungen. Wie Goffman klarstellt, gibt es jedoch kein Rollenmuster „that cannot be used to attest to the presence of something that is not really there.“327 Die parasitäre Aneignung bestimmter Rollen- bzw. Männlichkeitsbilder kann diesem Verständnis zufolge nur funktionieren, wenn die Rollenvorgaben oder Verhaltensideale weitläufig bekannt sind, um vom Publikum, jener anonymen „gente inocente“ überhaupt dekodiert werden zu können. Da der Ablasshandel Mitte des 16. Jahrhunderts bereits in Verruf gekommen war – selbst bei denjenigen, bei denen die kritischen Töne der Reformatoren nur wenig bis gar keinen Widerhall gefunden hatten –, erfordert es umso mehr Geschick, das Vertrauen des Publikums in die eigene Performanz zu gewinnen, das Goffman zufolge die conditio sine qua non einer jeden erfolgreichen Selbstinszenierung darstellt: „It was suggested earlier that an audience is able to orient itself in a situation by accepting performed cues on faith, treating these signs as evidence of something greater than or different from the sign-vehicles themselves.“328 Wenn auch der Escudero des dritten Kapitels zwar ein insgesamt stimmiges und durchaus vertrauenserweckendes Selbstbild von sich abgab, so fehlte es ihm

326 Sieber: Language and Society, S. 62. 327 Goffman: The Presentation of Self, S. 58. 328 Ebd.

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doch dezidiert an Rollenflexibilität und an sozialem Kapital in Form von nutzbringenden Kontakten, was zu gleichen Teilen sein Scheitern besiegelt. Der buldero hingegen ist listig genug, um sich die Kirchenmänner mit kleinen Bestechungen gewogen zu machen und im alguacil einen zuverlässigen Komplizen an seiner Seite zu wissen. Solche homosozialen Beziehungen, die im fünften tractado erstmalig so prominent in den Vordergrund gerückt werden, während das Credo der bisherigen Teile eher in der Vereinzelung des Individuums bestand, tragen zu einer erfolgreichen Männlichkeitsperformanz bei. Dass der Titelheld diese Lektion gelernt hat, zeigt sich in den beiden letzten Episoden, in denen er ebenfalls solche Bündnisse eingeht und sich dadurch erst einmal seinen bescheidenen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen kann. Es ist bezeichnend, dass es stets der Klerus ist, der als Anschauungsobjekt für das Funktionieren homosozialer Macht- und Komplizenstrukturen herangezogen wird. Das mag auch daran liegen, dass der Klerus – im Vergleich zum Adel – aufgrund seines höheren moralischen Vorbildanspruchs noch mehr Entlarvungspotenzial bereitstellt und darüber hinaus auch noch stärker rein männlichen Machtstrukturen unterliegt als der Adel, in dem es ja durchaus auch Frauen in mächtigem Positionen gibt. Die männlichen Praktiken, die dabei im Vordergrund stehen und die Vormacht androzentrischer Machtstrukturen absichern, sind Täuschung, Bestechung, rhetorisches und schauspielerisches Geschick sowie ökonomisches Kalkül. Die Tatsache, dass man dies alles sozialisatorisch erlernen muss, um zu bestehen, entwickelt der Text nicht nur anhand der Titelfigur, d. h. auf der Makrostruktur der histoire, sondern auch innerhalb des fünften tractado bereits ganz zu Beginn, wenn der Erzähler seinen neuen Herren einführt: „Y porque todos los que le veía hacer sería largo de contar, diré uno muy sutil y donoso, con el cual probaré bien su suficiencia“ (L 115, Herv. G. S.). Es gäbe demnach viele Betrügereien, von denen der Erzähler berichten könnte, aber diese eine ist so ‚raffiniert und anmutig‘, dass sie die ‚Eignung des Herren unter Beweis stellt.‘ Der Ausdruck der Eignung tauchte bereits im dritten tractado auf, wenn Lazarillo sich selbst als „tan suficiente discípulo“ (L 87) charakterisiert und sich auf die Bettelei bezieht, die ihm sein erster „gran maestro“ (L 87) beigebracht hatte. Dort wie hier wird der Eindruck erweckt, dass man sich bestimmte Praktiken, die an der Konstitution eines erfolgreichen Männlichkeitsentwurfs beteiligt sind, erst im Laufe seiner Sozialisation erarbeiten muss, um dafür geeignet zu werden – probar su suficiencia. Durch die analoge Wortwahl wird erneut eine diskrete Parallele zwischen dem Erzähler und dem buldero hergestellt, die auf das Beherrschen performativer Leistungen abzielt, um die es hier und im restlichen Roman geht. Dass zu diesen Leistungen nicht nur schauspielerisches Talent, moralistische Kompetenz, Skrupellosigkeit und gutes networking, sondern auch ökonomische Kompetenz gehört, wurde bereits ausführlich dargestellt und wird hier besonders

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ausdrucksstark verhandelt: sowohl Marketing als auch Kenntnisse in den Bereichen Markt- und Konsumforschung sowie Kundenbindung erweisen sich als unerlässlich. Man könnte nun kritisch nachfragen, warum diese Form der gesellschaftlichen Diagnose denn im genuin geschlechtsspezifischen Sinne nur als Männlichkeitskritik verstanden werden muss. Die einfachste Antwort wäre, weil es nur männliche Figuren sind, die als Zielscheiben des Spotts auftreten, was wiederum dem historisch verbürgten patriarchalischen Machtapparat geschuldet ist, innerhalb dessen Strukturen der Lazarillo entstanden ist und auf die er sich bezieht. Das wäre jedoch zu einfach, denn das würde bedeuten, dass Gesellschaftskritik innerhalb vormoderner Gesellschaftsformen immer automatisch und unhinterfragt Männlichkeitskritik darstellt, was das Gendering von Hierarchien, Praktiken und Identitätsentwürfen verwässern würde. Es würde damit die bereits dargestellte Auffassung bedienen, die Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellt hatte, nämlich dass die gesellschaftliche Norm immer die Hypostase der männlichen sei. Das gilt sicherlich für den Lazarillo, aber doch nur deshalb, weil das Weibliche bzw. weibliche Figuren systematisch verschwiegen oder abgewertet werden. Dadurch dass sich das Hauptaugenmerk der Kritik auf den Klerus richtet, jenen Männerbund par excellence, wird es schwierig, Weiblichkeit in dem Maße zu erörtern, wie es im Gegenzug mit männlichen Zuschreibungen und Praktiken geschieht. Damit eng zusammenhängend wird das vom Klerus mithervorgebrachte Menschenbild des homo oeconomicus als rein männlich dargestellt. Das stellt einen markanten Unterschied zu den Vorläufertexten mit weiblichen Hauptfiguren dar, innerhalb derer die Gier (avaricia) als primär weibliches Laster entlarvt wurde, was auch daran liegt, dass die Kirche als doppelmoralische Institution eines Erlösungskapitalismus dort kaum auftaucht. Lediglich in der Celestina wird durch die Bemerkung der Hauptfigur, dass die Klosterbrüder zu ihren besten Kunden gehören, auf die Wollust angespielt, von dem ja auch im vierten tractado des Lazarillo die Rede ist. In dem Moment aber, in dem sich der Fokus auf die Kirchensatire verlagert und dadurch die Gier im ökonomischen Sinne nachgerade institutionalisiert und transformiert wird in ein rein homosoziales Machtsystem, wie es u. a. anhand des Ablasshandels exemplifiziert wird, kann ein ursprünglich weiblich kodiertes Laster in ökonomische Kompetenz buchstäblich umgemünzt werden. Als Folge dieser Entwicklung werden weibliche Figuren entweder in dieses System integriert oder dazu in Bezug gesetzt. Der Begriff „mujer“ wurde im vierten tractado durch „mujercillas“ substituiert, was zunächst aus grammatikalischer Sicht eine Abwertung aufgrund des Diminutivs bedeutet und semantisch aus Frauen ein käufliches Objekt mit schlechtem Leumund macht. Interessant ist, dass im sehr kurzen vierten

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Kapitel mit „cosillas“ gleich ein weiterer – und wie gezeigt: viel diskutierter – Diminutiv auftaucht, der im Text selbst eine strategisch platzierte Ellipse darstellt, mithin einen Akt des Verschweigens. Spätestens hier sollte man sich noch einmal fragen, ob es nicht zwischen „mujercillas“ und „cosillas“ jenseits des gemeinsamen evaluativen Suffixes auch eine semantische Gemeinsamkeit gibt. Dies würde die in Kap. 4.6 vorgenommene Lesart, im blanc Lazarillos seine sexuelle Initiation mit eben jenen „mujercillas“ zu vermuten, auf rein sprachlicher Ebene unterstreichen. Vielleicht nicht zufällig taucht gleich zu Beginn des fünften Kapitels der Begriff „cosillas“ erneut auf, als der Erzähler von den Bestechungen des buldero berichtet, der den „clérigos o curas“, wie bereits geschildert, „algunas cosillas, no tampoco de mucho valor ni substancia“ (L 113) zukommen lässt. Die Wiederholung dieses Diminutivs erstaunt insofern angesichts des kurzen Intervalls – es liegt nur ein einziger Satz dazwischen. Durch den leicht dekodierbaren erotischen Subtext im ersten Fall läge es demnach nahe, dass auch zu den wert- und substanzlosen Sächelchen, die dem buldero zur Bestechung wohlgemerkt derselben Klientel (dort Mönch, hier Geistliche und Pfarrer) dienen, auch solche Dienstleistungen inbegriffen sind, in denen Frauen eine Rolle spielen und zwar als Objekte von geringem Tauschwert. Im weiteren Verlauf der Episode tauchen weibliche Figuren lediglich noch in der anonymen Masse der „inocente gente“, d. h. als Betrugsopfer auf: „marido y mujer, y hijos y hijas, mozos y mozas“ (L 122). Man kann nach alledem konstatieren, dass das präkapitalistische System, das sich im Lauf des Romans als inoffizielles Dogma etabliert, deutlich als rein männlich dominiertes markiert wird, da Frauen entweder mithilfe elliptischer Versatzstücke verschwiegen oder vermittels diminutiver Sprachmuster als erotische Tauschobjekte eingespeist oder schließlich als betrogene Opfer des Systems dargestellt werden. Dass dieses androzentrische und ökonomische Wertesystem jedoch nicht mehr nur rein exklusiv für den Klerus gilt, sondern inzwischen längst gesamtgesellschaftliche Tragweite besitzt, was angesichts des offiziellen Vorbildcharakters der Kirche kaum Wunder nimmt, wird durch die folgende, besonders komische Pointe angedeutet: Divulgóse la nueva de lo acaecido por los lugares comarcanos y, cuando a ellos llegábamos, no era menester sermón ni ir a la iglesia, que a la posada la venían a tomar, como si fueran peras que se dieran de balde. De manera que, en diez o doce lugares de aquellos alrededores donde fuimos, echó el señor mi amo otras tantas mil bulas sin predicar sermón (L 122f).

Die Leute müssen nicht mehr in die Kirche gehen, um in ihr Seelenheil zu investieren, sondern erledigen es gleich im Gasthaus. Bissiger kann man die moralische Substanzlosigkeit des Ablasshandels kaum darstellen, zumal – wie gesagt – das

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Gasthaus gerade in den unteren Schichten als Ort des engaño gilt und genau dadurch eine funktionale Gemeinsamkeit mit der Kirche aufweist, was man als topografische und profanatorische Inversion bezeichnen könnte. Dies alles wird in der ebenfalls spiegelartigen Mise en abyme des fünften Kapitels in nuce und in gewohnt anspielungsreicher Manier vorgeführt, indem sich der Erzähler für kurze Zeit aus dem eigentlichen Geschehen zurückzieht und uns die Doppelepisode als wissender, eingeweihter Berichterstatter präsentiert. Daher wird hier größtenteils auf die narrative Doppelstruktur verzichtet, die sowohl die männlichen Repräsentanten der Gesellschaft als auch das sich im männlichen Sozialisationsprozess befindliche pikareske Ich umfasst. Indem jedoch der buldero innerhalb dieser spiegelartigen Erzählung als Alter-Ego-Figur des Erzählers markiert wird, der sich am Ende dezidiert von der „inocente gente“ abgrenzt, wird dadurch auf die vermeintlich abgeschlossene Mannwerdung angespielt und zugleich auf den sich anschließenden sozialen Aufstieg vorausgewiesen. Dass es sich dabei jedoch eher um eine Selbsttäuschung handelt, einen autoengaño sozusagen, wird in den letzten beiden tractados deutlich und es wird vor allem klar, was Lázaro bei der idealisierenden Darstellung des buldero aus dem Blick geraten ist: sein Stand und die Frauen oder beides zusammengedacht: sein maternaler Ursprung – the Mother strikes back.

4.8 „M E

VI EN HABITO DE HOMBRE DE BIEN “

Nachdem in den tractados IV und V das Hunger-Thema aus der Diegese getilgt wurde und damit das zentrale Motiv, um von Lazarillos prekärer und im Zeichen des Mangels zu situierenden Männlichkeit zu erzählen, stehen nun im erneut sehr kurzen sechsten und in der ersten Hälfte des abschließenden siebten tractado alle Zeichen auf sozialen Aufstieg. Gleichsam en passant wird zunächst in nur einem skizzenhaften Satz von einem weiteren Anstellungsverhältnis bei einem „maestro de pintar panderos“ berichtet, bei dem Lazarillo Farben mischt und ebenfalls „mil males“ (L 125) zu erdulden hat, die jedoch nicht näher ausgeführt werden.329 Da

329 Vgl. die nur wenigen Studien zu Lazarillos sechstem Herrn: Shipley: „A Case of Functional Obscurity“; Maurice Molho: „Nota al Tratado VI de La vida de Lazarillo de Tormes“, in: María C. Iglesias u. a. (Hrsg.): Homenaje a José Antonio Maravall, Madrid 1985, S. 77-80; Javier Herrero: „The Ending of Lazarillo: The Wine against the Water, in: Modern Language Notes 93 (1978), S. 313-319.

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es sich beim „pandero“, also dem Tamburin, Covarrubias zufolge um ein Musikinstrument handelt, dass vornehmlich von „moças“330 gespielt wird, darf vermutet werden, dass auch hier – wie bereits im vierten tractado – ein erotischer Subtext gut cachiert wurde, auf den, ohne Covarrubias’ Tesoro als Referenzpunkt zu nennen, insbesondere Shipley aufmerksam macht. Das würde in der Logik der bisherigen Erkenntnisse bezüglich Lazarillos sexueller Unlust erklären, warum der Protagonist in diesem Anstellungsverhältnis so viel Leid zu durchzustehen hat. Die Handwerkerzunft, zu der der Trommelbemaler gehört, gilt in der folkloristischen Tradition des Mittelalters – nicht nur in Spanien331 – als besonders übel beleumundet, was in zahlreichen Volkliedern zum Ausdruck gebracht wird. So weist Bataillon auf populäre Liedzeilen und Volksmärchen hin, in denen vor dem übermäßigen Geschäftsgeist dieser fliegenden Händler gewarnt wird: „según sea el dinero, será el pandero“ und „quien tiene dineros pinta panderos.“332 Viele Handwerkerberufe tauchen in der Folkloreliteratur auf und werden zumeist pejorativ behandelt, wie man auch im Vocabulario de los refranes (1627) von Gonzalo Correas nachlesen kann333, wo über den pandero steht: „no es todo vero lo que dice el pandero“334, was metonymisch auf den betrügerischen Hersteller des Instruments anspielt. Auf den starken Einfluss folkloristischer Narrative und Motive auf den Lazarillo haben vor allem Augustín Redondo und Marcel Bataillon immer wieder hingewiesen. Da es sich hier nur um einen einzigen Satz des Romans handelt, der das sechste Anstellungsverhältnis des Titelhelden behandelt, sollen diese wenigen Auskünfte ausreichen, um ein gewisses Verständnis über das gesellschaftliche Ansehen dieser Zunft zu erhalten, um das es nicht zum Besten bestellt ist, gelten ihre Vertreter doch als geldgierig, wenig vertrauenswürdig und amourösen Streifzügen nicht abgeneigt.

330 Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 576. 331 Bataillon verweist auf eine ähnliche Figur im Till Eulenspiegel: „Más aún, la comparación de dos curiosos proverbios [...] permite imaginar una vieja historieta española, paralela a la del Ulenspiegel, en la cual un falso pintor de panderos habría engañado a una humilde clientela pueblerina, haciéndose, él también pagar por adelantado.“ In: Bataillon: Novedad y fecundidad, S. 65. 332 Zit. nach ebd. 333 Vgl. Gonzalo Correas: Vocabulario de refranes y frases proverbiales y otras formulas comunes de la lengua castellana en que van todos los impresos antes y otra gran copia [1627], hrsg. von Miguel Mir, Madrid 1906 (Volltext komplett abrufbar unter: https://archive.org/details/vocabularioderef00corruoft; letzter Zugriff: 10.01.2018). 334 Ebd.

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Im Lazarillo tauchen neben dem maestro de pintar panderos nur zwei weitere Handwerkerberufe auf, und zwar der väterliche molinero im ersten und der Kesselflicker (caldero) im zweiten tractado. Beide werden der Folkloretradition entsprechend als Repräsentanten moralisch zwielichtiger Zünfte beschrieben, und das sowohl im Hinblick auf betrügerische als auch promiskuitive Aspekte. Auch der zapatero, der im vierten Teil zumindest als ‚Phantom‘ auftaucht, ist des Öfteren Zielscheibe des Spotts. Wie wir gesehen haben, gilt dieses stereotype NegativBild der Handwerker und Klinkenputzer auch für die Celestina-Figur, die sich ja u. a. auch als Näherin und fliegende Verkäuferin von allerhand Produkten verdingt. Diese Parallele erkennen auch Shipley und Molho, die in Lazarillos sechstem Herrn einen Nachfolger der Kupplerin sehen, was sie etwa an der Praxis des Farbenmischens festmachen, womit der Diener Lazarillo im sechsten tractado betraut ist: „un maestro de pintar panderos, para molelle los colores“ (L 125). Auch die Kupplerinnen mischen allerhand Farben und Substanzen für ihre kosmetischen Produkte, die wiederum dazu dienen, dem schönen Schein ihrer Klientinnen Vorschub leisten – dies gilt sowohl für das Handwerk Celestinas als auch Lozanas.335 Die Nähe zur Celestina und ihren zahlreichen Metiers offenbart sich anhand der analogen Wortwahl, wurde diese doch ebenfalls durch den Diener Pármeno als „maestra de hazer afeytes y de hazer virgos“ (C 111) beschrieben, die sich besonders gerne unter Handwerkern aller Arten, also unter ihresgleichen, aufhält: „martillos; carpinteros y armeros, herradores, calderos, arcadores, todo officio de instrumento forma el ayre su nombre“ (C 109). Interessant erscheint hier der Verweis auf Werkzeuge/Instrumente, die laute rhythmische Geräusche machen, wie es eben auch ein pandero tut. Im Fall der Celestina liegt der frivol-obszöne Subtext auf der Hand, da das Register, dessen sich Rojas bzw. seine Dienerfigur im vorliegenden Kontext bedient, weitaus weniger Ambivalenzen aufweist als im Lazarillo. Mir erscheint in der gleichsam kollegialen Gegenüberstellung von maestro de pintar panderos und maestra de hazer virgos ein objektbezogener Zusammenhang naheliegend, nämlich die Tatsache, dass es bei beiden um eine Membran geht, die sich rhythmischen Schlägen zu stellen hat – Tamburin und Hymen gehören zum Motivbereich des Weiblichen, allerdings ‚macht‘ die Kupplerin diese, während der Maler lediglich für den äußeren Schein verantwortlich zeichnet. Beide Figuren – so viel steht fest – leben jedoch vom Handel mit durch und durch weltlichen Vergnügungen: Tanz, Musik und sexueller Befriedigung. Shipley geht in seinem erotischen close reading des auf den ersten Blick so unscheinbaren Satzes noch einen Schritt weiter zurück in der Literaturgeschichte

335 Vgl. zu dieser Analogie Shipley: „A Case of Functional Obscurity“, S. 237f und Molho: „Nota al Tratado VI“, S. 77f.

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und entdeckt in der bereits erwähnten Trotaconventos-Episode des Libro de buen amor folgenden Verweis auf den pandero: Si a quantas d’esta villa nós vendemos las alfajas sopiesen unos de otros, muchas serian las barajas; muchas bodas ayuntamos, que vienen a repantajas, muchos panderos vendemos, que non suenan las sonajas.336

Diese Stanze ist insofern aufschlussreich, als hier mithilfe des Selbstporträts der Kupplerin deutlich gemacht wird, dass der Verkauf von Tamburinen offenbar zum Liebeshandel dazu gehört und dass das Tamburinspiel einen festen Bestandteil von Hochzeitsfeierlichkeiten darstellt, was ebenfalls in einer Reihe populärer, meist sephardischer refranes thematisiert wird.337 Man könnte nun zum Schluss kommen, dass dieser Satz dem Roman kaum neues hinzufügt, was auch die Kürze der Beschreibung rechtfertigen würde und was Emilio Carilla zum Urteil führt, dass diese Minimal-Episode komplett irrelevant für den Rest des Romans sei.338 Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Trommelbemaler, wie bereits erwähnt, der Typenrevue von Lazarillos Herren mit der Handwerkerzunft einen neuen Berufsstand hinzufügt und damit das gesellschaftliche Panorama um eine neue Facette erweitert. Was die unteren Stände angeht, in denen der Roman entsprechend dem mundus-inversus-Modells durchweg angesiedelt ist, machen Handwerker – neben den Bauern, die jedoch im urbanen Raum der Pikaresken keine Rolle spielen – einen großen Anteil aus. Insofern steigert der sechste Herr insgesamt die gesellschaftliche Repräsentativität des Romans und fügt sich aufgrund der Assoziationsmöglichkeiten (Handel, Eros, Betrug, Habgier) nahtlos in das vorherrschende Menschen- und Weltbild ein. Doch auch auf der Ebene des erzählten Ichs sind zumindest zwei Aspekte hervorzuheben, die

336 Ruiz: Libro de buen amor, S. 175. 337 Vgl. dazu Shipley: „A Case of Functional Obscurity“, S. 232: „To the fun-loving association of pander with music, rhythm and dance, the following refranes add another festive and social note for reasons having to do mainly but not exclusively with the conventions of wedding celebration: ,No hay boda sin pandero‘; ,Pichada (Ital. – ,pisciata‘) sin pedo, como boda sin pandero‘.“ 338 Vgl. Emilio Carilla: „Cuatro notas sobre el Lazarillo“, in: Revista de Filología Española 43 (1960), S. 97-116, hier: S. 99: „No tiene ninguna significación el ‚maestro de pintar panderos‘“. Carilla sieht durch diese Bewertung die Struktur „ein Herr pro Kapitel“ wiederhergestellt, was doch fragwürdig erscheint, da Lázaro ja explizit von einem Anstellungsverhältnis spricht.

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einerseits auf die erzählte Vergangenheit zurückverweisen und andererseits eine Prolepse enthalten, die einen Schatten auf das Finale wirft. Zum einen lässt die Entscheidung, den neuen Chef zu verlassen, sich auf die Tatsache zurückführen, dass Lazarillo weder Lust auf körperliche Arbeit, die er hier wohlgemerkt zum ersten Mal zu erledigen hat, noch auf amouröse Streifzüge hat. Man könnte daher diese Entscheidung durchaus als Lernerfolg bzw. Lehre aus den tractados III und IV bewerten: vom Escudero hat sich der Titelheld das Verweigern physischer Arbeit abgeschaut, und der Mönch hat ihn erstmalig mit der eigenen sexuellen Unlust konfrontiert. Insofern markiert der Beginn von tractado VI tatsächlich eine Wende, die man vorläufig als Reifezeugnis des pícaro bewerten kann, was im nächsten Satz sogleich bestätigt wird: „Siendo ya en este tiempo buen mozuelo“ (L 125) – aus dem puer robustus ist ein ‚guter Kerl‘ geworden. Aus dem fünften tractado weiß der Junge noch, dass man in der Kirche bessere Chancen auf einen lukrativeren und weniger anstrengenden Job hat, weshalb er sich genau dort hinbegibt („en la iglesia“, L 125). Mit anderen Worten: Zu Beginn des vorletzten Romanteils erntet der Titelheld die ersten Früchte seiner männlichen Sozialisation. Ein diskreter Hinweis auf das nun Folgende steckt schließlich in der volkstümlichen Assoziation des pandero mit Hochzeiten – Lazarillos Vermählung steht ja bald bevor – sowie in der Tätigkeitsbeschreibung beim pintor, nämlich im „moler los colores“, was eben nicht nur eine intertextuelle Verwandtschaft mit den Kupplerinnen der Vorgängerromane evoziert, sondern auch an die intratextuelle Abstammung erinnert, ist Lazarillo doch Sohn eines molinero. Shipley konstatiert: „Like parents like offspring“339 und weist noch einmal notorisch auf die „associations of milling and lovemaking“340 hin, die hier bereits in Kap. 4.2 ausführlich dargestellt wurden. Dass es sich beim Verb moler um einen sprachlichen Rückbezug zur Kindheit des Erzählers handelt, mag auf der Hand liegen, aber angesichts der nun folgenden Ereignisse dürfte es weniger um den Vater gehen, der hier als weit entferntes Echo erklingt, als um die Mutter, die molinera. Da sich Lazarillos Ehefrau als Doppelgängerin der Mutter entpuppt und dadurch den sozialen Aufstieg ihres Gemahls massiv gefährdet, liegt es nahe, in der Abscheu des Protagonisten vor der Tätigkeit des moler einen letzten Versuch der mütterlichen Abjektion zu sehen bzw. den maternalen Ursprung endgültig hinter sich zu lassen, um die erste Stufe der sozialen Leiter zu erklimmen, wie der Erzähler es wörtlich ausdrückt, als er das nächste Arbeitsverhältnis bei einem capellán beginnt: „Éste fue el primer escalón que yo subí para venir a alcanzar buena vida, porque mi boca era medida“ (L 126). Dass sich der soziale und maternale Determinismus aber

339 Shipley: „A Case of Functional Obscurity“, S. 245. 340 Ebd., S. 246.

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nicht einfach abstreifen lässt wie eine ungeliebte Gelegenheitsarbeit, zeigt am Ende der siebte tractado. Insofern verbirgt sich im Verb moler an dieser Stelle eine Art Menetekel. Doch bevor sich das schlechte Vorzeichen als solches zu erkennen gibt, d. h. bevor Lazarillo in die Mühlen der malas lenguas gerät, gelingt dem Protagonisten zunächst ein im Rahmen seiner Möglichkeiten deutlicher Aufstieg. Er wird zunächst im Dienste des Kaplans als Wasserverkäufer beschäftigt. Auch dieser Tätigkeit ist aufgrund des zu verkaufenden Guts und entsprechend der geschlechtsspezifischen Bildlichkeit des Romans das bedrohliche Element des Weiblichen bereits diskret eingeschrieben. Es wird auch deutlich, dass ihm das ökonomische Metier des Handels offenbar eher liegt als das Handwerk: Fueme tan bien en el oficio que, al cabo de cuatro años que lo usé, con poner en la ganancia buen recaudo, ahorré para vestirme muy honradamente de la ropa vieja, de la cual compré un jubón de fustán viejo, y un sayo raído de manga trenzada y puerta, y una capa que había sido frisada, y una espada de las viejas primeras de Cuéllar. Desque me vi en hábito de hombre de bien, dije a mi amo se tomase su asno, que no quería más seguir aquel oficio (L 126f).

Dieser kurze Abschnitt, der das sechste Kapitel des Lazarillo beschließt, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und in seiner erzählerischen Ökonomie – die ja ohnehin die zweite Hälfte des Romans ebenso kennzeichnet, wie das Thema der Ökonomie auf inhaltlicher Ebene immer mehr in den Vordergrund rückt – ein raffiniertes Selbstporträt, das zwischen Ideal-Ich und gesellschaftlicher Wirklichkeit oszilliert. Während Lazarillo im fünften Kapitel eher noch in der Rolle des Zaungasts dem Treiben der betrügerischen Ökonomen beigewohnt hatte, ist er nun endgültig zum Akteur innerhalb dieses präkapitalistischen Systems geworden, zu einem „hombre de negocios“341. Was in diesem Abschnitt besonders augenfällig erscheint, ist der starke Rückbezug zum dritten tractado, denn Lazarillo kauft sich, nachdem er ausreichend Ressourcen angespart hat, zuallererst ein altes Baumwollwams, einen Leibrock mit gestutzten Ärmeln, einen Gürtel, einen gebrauchten Umhang und ein Schwert aus Cuéllar – mit anderen Worten: seine Ersparnisse, für die er immerhin vier Jahre Zeit gebraucht hat,342 wandern allesamt in das hö-

341 Sieber: Language and Society, S. 74. 342 Vgl. dazu Köhler (Hrsg.): Lazarillo de Tormes, S 152f: „Dass es nach vier Jahren Arbeit nur zu gebrauchter Kleidung reichen soll, kann eigentlich nur grimmige Übertreibung sein. Oder täuschen wir Modernen uns da? Andererseits: Wenn dies ganz

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fisch geprägte impression management. Entscheidend für das Thema von Lazarillos Männlichkeitsmetamorphose an dieser Stelle ist der Teilsatz „Desque me vi en hábito de hombre de bien“, der ebenfalls einen Rückbezug zu seiner Lehrzeit beim Escudero darstellt, hatte dieser doch mehrfach den hombre de bien als anzustrebendes Männlichkeitsideal erwähnt. Dabei ist bedeutungsvoll, dass das Modell des hombre de bien in den dialogischen Passagen des dritten tractado zum einen als normativer Männlichkeitsentwurf charakterisiert wird, mit dem sich der Escudero identifiziert. Zum anderen stellt der Habitus des hombre de bien aber eben auch einen Bestandteil seiner eigenen Performanz dar, der jedoch die wichtigste Grundlage fehlt, um diesem Entwurf nachzueifern, nämlich das nötige Vermögen, womit dem Bekenntnis zu diesem Ideal sogleich das Verkennen des eigenen Subjektstatus eingeschrieben ist, so wie es Lacan in seinem berühmten Aufsatz zum Spiegelstadium für den schwierigen Prozess der Ichwerdung beschreibt.343 Viermal taucht der Begriff in den Äußerungen des verarmten Hidalgo auf, zunächst im Zusammenhang mit seinem angeblichen Maßhalten beim Essen: „Virtud es ésa […], y por eso te querré yo más, porque el hartar es de los puercos y el comer regladamente es de los hombres de bien“ (L 77). Hier dient ein wohlfeiler Aphorismus bzw. Euphemismus als Maskerade, um den eigenen prekären Status zu cachieren. Die Armut als Form der mesura zu verkaufen, bringt einmal mehr die engaño-desengaño-Thematik zum Ausdruck und macht deutlich, dass man sich ein vorherrschendes Männlichkeitsideal erlauben können muss: „For lack of food, he has to live on fantasies“, wie es C.B. Morris lakonisch formuliert.344 Beim zweiten Auftauchen adressiert der Escudero seinen Diener direkt: „Mas tú haces como hombre de bien en eso, que más vale pedillo por Dios que no hurtallo. Y así Él me ayude, como ello me parece bien, y solamente te encomiendo no sepan que vives conmigo por lo que toca a mi honra“ (L 88). Hier wird zunächst erklärt, dass es sich beim hombre de bien – wie bei anderen Männlichkeitsidealen auch – primär um ein auf Praktiken basierendes Verhaltensideal handelt („tú haces como“). Die Aussage legt zudem nahe, dass man sich nach diesem Vorbild des Edelmanns richten kann, ohne tatsächlich einer zu sein, da Lazarillo aufgrund seines sozialen Status kaum zu dieser Gruppe hinzugerechnet werden, er sich aber

ernst und wahrhaftig gemeint, also den Verhältnissen entsprochen haben sollte – wozu es dann erzählen?“ 343 Vgl. Jacques Lacan: „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“, in: ders.: Écrits, Bd. 1, Paris 31999, S. 92-99. 344 C. B. Morris: „Lázaro and the squire: hombres de bien“, in: Bulletin of Hispanic Studies 41 (1964), S. 238-241, hier: S. 238.

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zumindest so benehmen kann, als ob er einer sei. Dadurch werden erneut die theatralen Strukturen solcher Verhaltensmuster benannt, die man erlernen kann, um in der Gesellschaft zu er-scheinen. Der Escudero packt seinen Diener hier gemäß der in der Pikaresken vorherrschenden Formel mundus vult decipi bei seiner Eigenliebe, indem er ihm die Qualitäten des hombre de bien attestiert, der besser bettelt als stiehlt. Das Ganze wird jedoch durchschaubar, wenn er vorsichtshalber nachschiebt, dass Lazarillo besser niemandem von seinem Anstellungsverhältnis erzähle, um nicht seine eigene honra zu gefährden, mithin seinen eigenen Habitus als hombre de bien. Dass der hombre de bien dem kastilischen Ehrenkodex auf besondere Weise verpflichtet ist, bringt der Escudero auch in seiner letzten diesbezüglichen Äußerung zum Ausdruck: Eres muchacho […] y no sientes las cosas de honra, en que el día de hoy está todo el caudal de los hombres de bien. [...] Que un hidalgo no debe a otro que a Dios y al rey nada, ni es justo, siendo hombre de bien, se descuide un punto de tener en mucho su persona (L 99).

‚Ehren-Sachen seien das gesamte Kapital des hombre de bien‘ – diese Feststellung veranschaulicht noch einmal das ganze Dilemma des Escudero, das bereits ausführlich dargestellt wurde. Man könnte dieses Diktum aber auch anders lesen und die „cosas de honra“ tatsächlich als ‚Dinge‘ interpretieren und in „todo el caudal“ eben nicht nur das symbolische Ehr-Kapital sehen, das den Habitus des hombre de bien konstituiert, sondern „cosas“ im Sinne von materiellem Besitz, also ökonomischem Kapital verstehen. Hierzu gehören vor allem sichtbare ‚Dinge‘, wie entsprechende Kleidung und Accessoires, worauf der Escudero allergrößten Wert legt. Diese Komplementärlektüre kann auch auf den Begriff des hombre de bien selbst angewendet werden, da „bien“ ja eben auch ‚Gut‘ im Sinne von Besitz bedeutet, womit wir wieder zurückkommen zu Lazarillos Selbstbeobachtung im sechsten tractado: „me vi en hábito de hombre de bien“. Hier ist bezeichnenderweise nicht von „ser“ oder „sentir“ die Rede, was auf einen tatsächlich verinnerlichten oder gar gesellschaftlich autorisierten Habitus Rückschlüsse erlauben würde, sondern von „ver“. Dies bedeutet, dass es hier um das Gebot des „aparecer“ geht, das auf der visuellen Wahrnehmung durch den Anderen beruht und dem sich auch der Escudero in seinem männlichen Selbstentwurf eines hombre de bien verpflichtet sieht. Die Doppeldeutigkeit von „bien“, die in den sozialpsychologischen ‚Vorlesungen‘ des Escudero anklang, hat Lazarillo offenbar bestens durchschaut, was erklärt, dass er seinem neuen „hábito“ erst einmal mit dem Kauf entsprechender Kleidung und eines Schwerts gerecht zu werden versucht und dadurch gleichzeitig eine Reduktion dieser semantischen Ambivalenz vornimmt, die dem ökonomischen Zeitgeist durchaus entspricht. Aus dem hombre de bien im Sinne von

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Ehrenmann ist ein hombre de bien im Sinne eines homo oeconomicus geworden; oder mit den Begriffen Bourdieus: Das ökonomische hat das symbolische Kapital vollends entwertet. Wenn der Escudero dann noch sagt, dass ein Vertreter seines Standes nur dem König und Gott zu gehorchen habe, setzt Lazarillo auch dieses Selbstverständnis in die Tat um, indem er sich mit dem Amt des Wasserverkäufers und der Arbeit als Justizhelfer nicht zufrieden gibt und es tatsächlich schafft, am Ende ein „oficio real“ zu ergattern („procuré“) mit der Begründung: „viendo que no hay nadie que medre, sino los que tienen“ (L 128). Das königliche Amt des pregonero, das Lazarillo am Ende des Romans innehat, ist jedoch, wie dem Diccionario de Autoridades zu entnehmen ist, in der Hierarchie dieser oficios reales auf der untersten Stufe anzusiedeln: „El oficial público que en alta voz da los pregones, y publíca y hace notorio lo que se quiere hacer saber, y que venga a noticia de todos. Es oficio mui vil y baxo.“345 Auch hier liegt eine strukturelle Analogie vor, befindet sich der Escudero doch ebenfalls auf der untersten Stufe der kastilischen Adelshierarchie. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass die Tätigkeit des pregonero, obwohl übel beleumundet, zumindest genügend Verdienst einbringt, um den eigenen Lebensunterhalt abzusichern. Lazarillo hat einerseits das auf Äußerlichkeiten fokussierte self-fashioning des Escudero übernommen, ist aber andererseits durch seinen Berufsstand als hombre de negocios in der Lage, zu überleben. Durch die Gegenüberstellung der beiden Figuren wird die Wertetransformation vom symbolischen zum ökonomischen Kapital innerhalb der frühneuzeitlichen Gesellschaft plausibel abgebildet, wie auch Sieber hervorhebt: In Toledo’s economic system the squire had nothing to exchange, nothing to give value to his empty words and costume. Lazarillo perceived the squire’s weakness – his lack of money – and attempts to protect himself from an ignominious failure like the squire’s by entering into a financially productive relationship with the capellán.346

Der zunächst erfolgreiche Eintritt des Titelhelden in das ökonomische System von Toledo vollendet den sozialisatorischen Lernprozess, was sich auch in der Topografie des Romans niederschlägt: Lazarillo beginnt seine Reise in Salamanca, der Stadt der Bildung und des Wissens, und endet in Toledo, der Metropole des Handels. Lazarillos bescheidener Aufstieg ist auf rein diegetischer Ebene die logische Folge seiner gesammelten Erfahrungen und führt damit alle bisherigen tractados

345 Diccionario de Autoridades, o. S. (Herv. G. S.). 346 Sieber: Language and Society, S 74.

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zusammen.347 Auch wenn der Rückbezug auf den Escudero-Teil das meiste Gewicht hat,348 so weist der Ausrufer-Beruf klare Parallelen zum Ablassprediger auf, während der Erzpriester von San Salvador an den Mönch erinnert: Dieser hatte Lazarillo seine ersten Schuhe geschenkt, jener überlässt dem Ausrufer „calzas viejas que deja“ (L 131). Beide dem Klerus zugehörigen Herren verweisen mit ihren vestimentären Gaben eindeutig auf die unteren Extremitäten des Mannes; beide werden gleichzeitig mit erotischen Händeln – „negocios seglares“ – in Verbindung gebracht. Die Tätigkeit als Wasserverkäufer,349 die Lazarillo für den Kaplan im sechsten Kapitel ausführt, geht wiederum seinem letzten Beruf des pregonero unmittelbar voraus, in dem sich der Protagonist auf den Weinhandel spezialisiert hat: Hame sucedido tan bien, y yo le he usado tan fácilmente, que casi todas las cosas al oficio tocantes pasan por mi mano, tanto que, en toda la ciudad, el que ha de echar vino a vender, o algo, si Lázaro de Tormes no entiende en ello, hacen cuenta de no sacar provecho (L 130).

In der handelsmäßigen Substitution des Wassers durch den Wein mag man nun eine weitere Anspielung auf die Lebensgeschichte Jesu sehen, von denen es, wie bereits dargestellt, im Verlauf des Romans einige gibt. Herrero sieht hier eher den Wein als „symbol of the sacramental wine which opens the way to heavenly happiness“350, d. h. der Wein komplementiert an dieser Stelle das Bild des Brots und seines Aufbewahrungsorts aus dem zweiten tractado, der als „paraíso panal“ imaginiert wurde. Vor allem aber, so der Eindruck, wird hier der Rückbezug zum

347 Sieber (ebd., S. 75) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, unterschlägt jedoch die Lehren aus dem wichtigen zweiten tractado: „Lazarillo’s introduction to the world of negocios is a gradual process that begins with the escudero’s notable lack of success, takes form through the fraile’s hidden but effective sexual trafficking, and establishes itself definitely for Lazarillo through the buldero’s mastery of oral language.“ 348 Auch Andree Collard spricht dem dritten Kapitel eine zentrale Position und Funktion innerhalb der Struktur des Romans zu: „The Unity of Lazarillo de Tormes“, in: Modern Language Notes 83 (1968), S. 262-267, bes. S. 267. 349 Vgl. dazu das Kapitel „The Water Carrier“ in: Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 55-77. Maiorino kontrastiert Lazarillos nur temporär ausgeführten Beruf des Wasserverkäufers mit dem Gemälde El aguador de Sevilla (1620) von Diego Velázquez, auf dem ein alter Mann diesen Beruf ausübt, und kommt zum Schluss, dass Lazarillo als beruflicher Stratege und moderner Lohnarbeiter bereits einen neuen wirtschaftlichen Zeitgeist verkörpert, in dem Berufe keine Lebensaufgabe mehr sind. 350 Herrero: „The Ending of Lazarillo“, S. 313.

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ersten Kapitel hergestellt, spielt doch dort der Wein eine prominente Nebenrolle, als der geizige Blinde seinem Diener den Genuss des Traubensafts nahebringt, was zugleich Lazarillos erste (gescheiterte) burla darstellt. Der Wein wird dort zugleich erotisiert („Usaba poner cabe sí un jarrillo de vino cuando comíamos, y yo muy de presto le asía y daba un par de besos callados y tornábale a su lugar“, L 30f; Herv. G. S.) und sodann als Objekt der Begierde inszeniert („moría por él“, L 31), als „symbol of lust and avarice“351, bis der Blinde den Diebstahl bemerkt und Lazarillo mit dem Krug, der vorher noch in einer trügerisch-idyllischen Szene als mütterliche Brust inszeniert wurde, mehrere Zähne ausschlägt. Herrero macht auf die mütterliche Metaphorik aufmerksam, als der Diener zwischen den Beinen des Blinden sitzt und heimlich Wein aus dem Krug trinkt: The wine symbolizes, for this poor boy whom poverty has driven away from his mother and into the hands of this cruel master, a heavenly joy. [...] the wine is the lost paradise of maternal love [...] the jug becomes a breast.352

Der Rückblick auf die drei Tatsachen, dass sich im ersten tractado die Mutter und der Blinde die Obhut des Jungen teilen, dass den Blinden ferner eine intertextuelle Verwandtschaft mit der prophetischen und geschlechtlich ambivalenten TeiresiasFigur, die ebenfalls Brüste hat – man denke an das gleichnamige Stück von Apollinaire –, verbindet, und schließlich, dass er in der Initiationsepisode als zweite Mutter imaginiert wird („éste me dio la vida“), lässt Herreros Interpretation des WeinMotivs durchaus plausibel escheinen. Somit greift das letzte Kapitel des Romans auch auf Lazarillos erstes Dienstverhältnis zurück. Dies gilt auch insofern, als der Blinde kurz vor Ende des Eingangskapitels tatsächlich einen „pronóstico“ (L 43) ausspricht, während die Wirtin eines Gasthauses Lazarillo mit Wein diejenigen Wunden wäscht, die ihm der ciego perverso zuvor als Strafe für die gestohlene Wurst zugefügt hatte: „Yo te digo – dijo – que, si hombre en el mundo ha de ser bienaventurado con vino, que serás tú“ (L 43). Der Erzähler fügt im Anschluss eine Prolepse ein, die eindeutig auf das Ende des Romans hinweist: Mas el pronóstico del ciego no salió mentiroso, y después acá muchas veces me acuerdo de aquel hombre, que sin duda debía tener espíritu de profecía, y me pesa de los sinsabores que le hice, aunque bien se lo pagué, considerando lo que aquel día me dijo salirme tan verdadero como adelante Vuestra Merced oirá (L 43).

351 Ebd. 352 Ebd.

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Indem also der Lazarillo des siebten Kapitels ausgerechnet Weinverkäufer wird, schließt sich nicht nur aus erzählerischer Sicht der Kreis, wird nicht nur auf den vorläufigen Abschluss seiner Lehrjahre hingedeutet, die eben auch die narrative Struktur seiner Männlichkeit darstellen, sondern auch die kindlichen Sehnsüchte nach mütterlicher Zuneigung und sinnlicher Befriedigung gehen symbolisch ein in das ökonomische System des profanen Warenhandels. Damit wäre der „buen puerto“ (L 11) des homo oeconomicus bzw. des hombre de bien erreicht, von dem bereits im Prolog die Rede war und zugleich die finale Abnabelung vom mütterlichen Ursprung vollzogen, die maternale Abjektion. Die Verinnerlichung des ökonomischen Prinzips geht sogar so weit, dass man dem Titelhelden nicht nur präkapitalistische Verhaltenszüge und Wertvorstellungen attestieren kann, die maßgeblich seinen „hábito“ prägen, sondern dass er sogar ein geradezu präbürgerliches Sicherheitsdenken an den Tag legt, wenn er als Prokurist über seine Ein- und Ausgaben Buch führt und den Plan aufstellt, seine Zukunft finanziell abzusichern: „ganar algo para la vejez“ (L 128).353 Spätestens hier muss man sich fragen, ob das literarische Narrativ des homo oeconomicus tatsächlich erst Ende des 18. Jahrhunderts mit der ‚theatralischen Sendung‘ des Wilhelm Meister oder dem Faust einsetzt, wie es Vogl in seinen literaturökonomischen Studien postuliert.354 Zumindest wichtige Vorstufen davon bringt die Pikareske hervor, auf deren Schnittstellen und Divergenzen mit dem Bildungsroman bereits hingewiesen wurde. Wenn man für einen Moment die Tatsache ausblendet, dass das Weltbild im Schelmenroman, „das die Ungeselligkeit des Menschen stärker betont als seine Geselligkeit“355, von einer durch und durch pessimistischen Anthropologie geprägt ist, der zufolge die Caritas buchstäblich in den Himmel gefahren ist, während der Bildungsroman im Schatten der Aufklärung etwas optimistischer die Perfektibilität des Menschen postuliert und dort eine „harmonische Ausbildung der

353 Arnold Hirsch beobachtet erst für die Schelmenromane des ausgehenden 17. Jahrhunderts eine Tendenz zur „Verbürgerlichung des Pikaro“, die einhergeht mit seinem „Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft“ und geprägt ist „durch die Anerkennung der dort herrschenden Tugenden.“ In: Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman, Köln/Wien 31979, S. 18. 354 Vgl. Vogl: Der Geist des Kapitals, S. 44; ders.: Kalkül und Leidenschaft, S. 344. 355 Herfried Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 2004, S. 263.

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geistigen Anlagen (Charakter, Willen) zur verantwortlichen, humanitären Gesamtpersönlichkeit im Mittelpunkt steht“356, sind doch die assimilatorischen Praktiken des Lernens im Welt-Theater der Gesellschaft nicht sehr weit voneinander entfernt. Das amoralische Weltbild des pikaresken mundus inversus ist demzufolge stärker an Machiavelli orientiert als es auf die Aufklärung vorausweist: Während die Aufklärung den Gedanken an die Perfektibilität ins Zentrum ihres Menschenbildes stellte, hat Machiavelli die Korruptibilität des Menschen als sein herausstechendes Charakteristikum angesehen. [...] In der Akzentuierung der Rationalität und Klugheit des Menschen betonte [er] statt dessen diejenigen Eigenschaften, mit denen der Mensch sich der Gemeinschaft zu entziehen oder sie für seine individuell-egoistischen Zwecke zu instrumentalisieren versuchte.357

In der Pikaresken gelten – wenig verwunderlich – andere moralische Grundsätze als in der Aufklärung; gleichwohl sind es gerade die materialistischen Idealvorstellungen, die wiederum dem modernen ökonomischen Zeitgeist Tür und Tor öffnen und dem kapitalistischen Denken sehr viel näher stehen und die das vorherrschende Männlichkeitsbild der Moderne stark beeinflussen.358 Männlichkeit im pikaresken Weltbild gilt entsprechend eher als antisoziales Konstrukt, setzt lediglich auf situative Zweckbündnisse, ist das Ergebnis ständiger Verhandlungen und basiert auf einem ausgeklügelten und auf Sichtbarkeit ausgerichteten self-fashioning, das sich parasitäre Handlungen und öffentlichkeitswirksame Maskeraden strategisch zunutze macht. Um nun zum Ende des Lazarillo de Tormes zurückzukehren, lässt sich beobachten, dass dort die Ebene der Gesellschaft, die zuvor durch die männliche

356 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 71989, S. 103. 357 Münkler: Machiavelli, S. 263. 358 Maiorino sieht im Lazarillo ebenfalls – wenngleich mit berechtigten Vorbehalten – einen Vorläufer marxistischer Theorie: „In keeping with the Marxist proposition that money converts representation into reality and reality into representation, Lázaro trades the role of water carrier for a representation of himself as an ambitious youth. His incipient pursuit of wealth begins with the acquisition of worn-out items that betray the volatility of the very concept of wealth. [...] His would-be-profit – provecho – as a modern mercader comes not from free-market forces but from the corruption of the class system“ (At the Margins of Renaissance, S. 77). Am Ende macht Maiorino auch auf den entscheidenden Unterschied zur kapitalistischen Theorie aufmerksam, die vor allem in der feudalen Ständeordnung besteht, die noch keine freien Marktstrukturen kennt wie etwa das industrialisierte Bürgertum des 19. Jahrhunderts.

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Typenrevue von Lazarillos Herren repräsentiert wurde, mit der Ebene des Individuums in dem Moment zusammenfällt, als auch erzähltes und Erzähler-Ich sich immer weiter annähern.359 Indem am Ende noch einmal sämtliche Lehren der Einzelkapitel auf raffinierte Weise narrativ gebündelt werden, erhält der Roman nicht nur seine Geschlossenheit, sondern versetzt den Protagonisten in Einklang mit den gesellschaftlichen Normen und Werten. Bis zu dieser Stelle liest sich La vida de Lazarillo de Tormes tatsächlich wie die Erfolgsgeschichte eines zielstrebigen hombre de negocios („Hame sucedido tan bien“, L 130). Selbst eine tüchtige Ehefrau („buena hija y diligente servicial“, L 131) wird ihm schließlich durch seinen Herrn vermittelt, was oberflächlich betrachtet den Männlichkeitsentwurf des weltlichen hombre de bien zur Vollendung bringt („Y visto por mí que de tal persona no podía venir sino bien y favor“, L 130f; Herv. G.S.) – wären da nicht eben jene ‚böse Zungen‘, die bezeichnenderweise nach der Darstellung von Lazarillos erfolgreichem Aufstieg, der tatsächlich auf ein ungetrübtes Happy End hinauszulaufen schien, mit der Konjunktion „Mas“ eingeführt werden: „Mas malas lenguas, que nunca faltaron ni faltarán, no nos dejan vivir, diciendo no sé qué y sí sé qué, de que ven a mi mujer irle a hacer la cama y guisalle de comer“ (L 132). Bettenmachen und kochen dienen hier als Euphemismen, um die Gerüchte zu verschleiern, die darin bestehen, dass die Ehefrau, die bereits drei uneheliche Kinder hat, dem Erzpriester erotische Dienstleistungen zur Verfügung stellt.360 Der Erzpriester gibt Lazarillo den Rat, nicht auf das Gerede zu hören: „Elle entra muy a tu honra y la suya. […] Por tanto, no mires a lo que pueden decir, sino a lo que te toca: digo a tu provecho“ (L 133). Im nächsten Satz bekräftigt Lazarillo dem Erzpriester gegenüber, dass er doch stets nur eines wollte, nämlich „arrimarme a los buenos“ (L 133). Spätestens an dieser Stelle und mit diesem Ausdruck wird deutlich, worin das Dilemma des Protagonisten am Ende besteht, handelt es sich doch um ein wörtliches Zitat aus dem ersten tractado, wo es hieß: „Mi viuda madre, como sin marido y sin abrigo se viese, determinó arrimarse a los buenos por ser uno de ellos, y vínose a vivir a la ciudad y alquiló una casilla y metióse a guisar de comer a ciertos estudiantes“ (L 15, Herv.

359 Eine völlige Kongruenz herrscht tatsächlich nur im Prolog des Romans. Zwischen den Ereignissen des caso und der Niederschrift des Textes liegt eine nicht genau zu bestimmende Zeit. Ob Lazarillo in dieser Zeit das Schreiben gelernt hat oder ob dieses unglaubwürdige Paradoxon auf das Konto des unzuverlässigen Erzählers geht, lässt der Text völlig offen. 360 Man erinnere sich an die doppelte Bedeutung von „guisar“, wie sie vor allem in der Lozana Andaluza mehrfach auftauchte.

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G. S.). Nicht nur dass die Tätigkeiten („metióse a guisar de comer“) an die Aufgaben von Lazarillos fleißiger Gattin erinnern – der Ausdruck „arrimarse a los buenos“ wird als das Lebensziel von Mutter und Sohn gleichermaßen dargestellt. Es liegt daher nahe, in der Ehefrau eine Doppelgängerin der durchtriebenen Mutterfigur zu sehen. Beiden ist eine Reihe unehelicher Kinder gemein – und die Tatsache, dass sie diese verlassen. Die bis dato erfolgreiche Abjektion des Maternalen rächt sich folglich und bedroht Lazarillos Status als hombre de bien. Dazu schreibt Cruz: In the picaresque novels, the relationship of the pícaro to his mother is one that fails to allow his extrication from the maternal, which in turn stymies his autonomy and sexual maturity. The pícaro’s wives revert incessantly to the maternal imago, supplanting the mother. The novel’s circularity compels the pícaro to duplicate by his actions his vitiated paternal genealogy [...].361

Diese durch Kristeva inspirierte psychoanalytische Lesart von Lazarillos Dilemma, das Cruz mit der Metapher des „Parent Trap“, der Elternfalle,362 umschreibt, verdeutlicht die Unausweichlichkeit des Schicksals, die sicher auch durch die zirkuläre Struktur des Romans visualisiert wird.363 Damit erfüllt sich am Ende nicht nur die Prophezeiung des Blinden in Bezug auf den Wein, sondern ebenfalls der mütterliche Orakelspruch „Procura de ser bueno“: Lazarillo hat sich

361 Anne J. Cruz: „The Parent Trap. Mothers and Others in the Spanish Picaresque“, in: Verf./Maren Lickhardt (Hrsg.): Transgression and Subversion. Gender in the Picaresque, Bielefeld 2018 (in Vorbereitung). 362 Maiorino sieht in der Mausefalle (ratonera) des zweiten tractado eine der wichtigsten Leit-Metaphern des Romans, führt dies jedoch vor allem auf die gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen zurück, auf die Abwehr der unteren Stände: „By combining the concepts of hunger, parasitism, cunning, theft, punishment, and inequality, the mousetrap stands out as a central metaphor for the economics, no less than for the ethics, of society at large.“ In: Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 21. 363 Eine etwas weniger negative Bewertung als die der elterlichen Falle könnte auch sein, dass sich Lazarillo am Ende – auf keineswegs ironische Weise – auf dem ‚Gipfel allen Glücks‘ wähnt, weil er sich durch die Dreiecksstruktur mit seiner Frau und dem Erzpriester in das bereits sehr früh verlorene Reich seiner Kindheit zurückversetzt fühlt und sich somit in einer quasi familiären Konstellation wiederfindet. Beide Interpretationen haben jedoch die Regression des Titelhelden gemein, der in die Rolle des Kindes zurückfällt.

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tatsächlich zu den „buenos“ gesellt und ist zum gehörnten Ehemann geworden.364 Eine Zeit lang sah es so aus, als ob die „criada“ des Erzpriesters nur als weiteres flottierendes Tauschobjekt in das auf persönlichem Nutzen fußende ökonomische und patriarchale System eingehen würde: „procuró casarme con una criada suya“(L 130). Das häufig auftauchende Verb „procurar“ unterstreicht den Warencharakter der Dienerin, die nur eine unter vielen zu sein scheint, wie der unbestimmte Artikel verrät. Worin besteht nun aber die Ursache von Lazarillos drohendem Scheitern, das eine Aberkennung seines männlichen Habitus als hombre de bien zur Folge hätte? Auf einer rein inhaltlichen Ebene entspricht dieser Mechanismus dem stereotypen Weiblichkeitsbild, da Lazarillo sein Schicksal eben nicht nur in die Hände des protegierenden Erzpriesters legt und damit unter Beweis stellt, dass ein Reüssieren ohne homosoziale Allianzen nicht möglich ist, sondern dass seine Ehre als hombre de bien marido eben auch maßgeblich von der Ehre seiner Ehefrau abhängt („tu honra y la suya“). Diese Ehe entspringt jedoch weniger der Zuneigung zum anderen Geschlecht als einzig einem präbürgerlichen Nützlichkeitsdenken, das eine Ehe vorsieht, um dem Habitus des Ehrenmannes vollends gerecht zu werden. Lazarillo vertraut hier allerdings zu sehr auf das rein ökonomische Wertesystem, das nämlich nur so lange funktioniert, wie es vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen bleibt. In dem Moment aber, in dem die opinión pública – hier verkörpert durch die „malas lenguas“ der Nachbarn – den ménage à trois aufdeckt, greift der rein materialistische Wertekodex des homo oeconomicus nicht mehr, sondern wird durch die moralischen Gesetze der honra entkräftet. Damit erweist sich Lazarillos Blick in den Spiegel tatsächlich als Moment des Verkennens mit fatalen Folgen: Cuando la honra se ha perdido – naturalmente en la opinión de los vecinos – la vida del individuo está arruinada. La consecuencia es que todas las barreras morales se derrumban porque la moral sólo tenía una dimensión pública.365

Lazarillo muss am Ende einsehen, dass der persönliche provecho nicht immer mit den Vorgaben der honra kompatibel ist. Dieser provecho besteht, wie bereits angedeutet, nicht nur im ökonomischen Nutzen, der sich aus der Dreierbeziehung ergibt, sondern auch in der sexuellen Entlastung, die ihm zuteilwird. Die Tatsache, dass es sich bei der Hochzeit keineswegs um eine Liebesheirat handelt, was aus

364 Vgl. dazu Verf.: „Böse Kupplerinnen, üble Spelunken und gehörnte Ehemänner“, bes. S. 381-384. 365 Del Ama: „Honra y opinión pública“, S. 7.

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historischer Sicht vollkommen plausibel ist, wird durch den ironischen Kommentar des Erzählers bekräftigt, dass es sich bei seiner namenlosen Gattin um eine „tan buena mujer como vive dentro de las puertas de Toledo“ (L 134f) handele – mit anderen Worten: alle Frauen sind ohnehin gleich und austauschbar, egal ob es um Mütter oder Ehefrauen geht. Wichtig erscheint noch, dass es diese weiblichen Figuren sind, von denen jeweils am Anfang und am Ende des Romans maßgeblich das Schicksal des Protagonisten abhängt. Nicht zufällig lautet das letzte Wort des Romans „fortuna“ und hebt den durch das Walten der Schicksalsgöttin bedrohten prekären Status von Lazarillos Männlichkeit prägnant hervor. Auf die strukturelle Bedeutung dieser Anti-Klimax wurde bereits in Kap. 4.1 ausführlich eingegangen: Mit dem caso wird der eigentliche Erzählanlass des Romans nachgeschoben und der narrative Rahmen abgerundet. Den Ausführungen sei an dieser Stelle noch hinzugefügt, dass es an der Schnittstelle von narrativer Struktur und Inhalt am Ende erneut eine chiastische Figur zu beobachten gilt: Lazarillo ist genau in jenem Augenblick auf dem Höhepunkt seiner ökonomischen Karriere angelangt, als seine moralische Entwicklung ihren Tiefpunkt erreicht hat. Der homo oeconomicus ist demnach immer auch ein homo duplex, wie es Maiorino in Anlehnung an Machiavellis Dichotomie von verità ideale und verità effettuale formuliert.366 Diese Widersprüchlichkeit, die den pikaresken vir inversus kennzeichnet, ist, wie Erhart betont, oftmals konstitutiv für die nur selten glatt verlaufenden männlichen Biografien bzw. die narrative Struktur von Männlichkeit, die geprägt sei durch eine „konfliktreiche Koexistenz von lang andauernden Mustern des männlichen Habitus und der modernen sozialen Verunsicherung der in ihrem sozialen Kontext längst nicht mehr benötigten männlichen Verhaltensund Identitätsmustern.“367 Dieser Konflikt verweist auf die „edad conflitiva“, die in der spanischen Feudalgesellschaft durch die „tiranía de la honra“ erzeugt wird: La ley de la honra producía una presión brutal que favorecía el conformismo y la integración del individuo en el conjunto de la sociedad, pero el sistema de castas creado era tan rígido que el individuo no encontraba esas válvulas de escape. La presión de la honra era tan fuerte que estrangulaba al individuo y […] condujo a la sociedad española a la estagnación política y, lo que aún resultó más grave, económica.368

366 Vgl. Maiorino: At the Margins of Renaissance, S. 131. 367 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 166. 368 Del Ama: „Honra y opinión pública“, S. 4.

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Das Ende des Lazarillo führt genau diese aporetische Makrostruktur der Gesellschaft auf der Mikroebene der histoire vor: In dem Moment, als der Titelheld ökonomisch erfolgreich ist, schlägt das Fallbeil der honra gnadenlos zu oder – laut Maiorino – die ratonera der Gesellschaft. Mit dieser Überleitung sei abschließend noch auf die gesellschaftskritische Dimension des Romanendes hingewiesen. Die Wiederkehr der Mutter in Gestalt der umtriebigen Ehefrau und die damit verbundenen Bedrohungen lassen sich nicht nur mit dem stereotypen Weiblichkeitsbild der Pikareske erklären. Zwar gelingt Lazarillo bis zur arrangierten Eheschließung eine Abjektion des Weiblichen, die sogar im vierten tractado in der Verweigerung sexueller Praktiken kulminiert, aber es geht ihm doch eigentlich um sehr viel mehr, nämlich um die Dissimulation der eigenen Herkunft. Die Mutter ist zwar der wichtigste Bestandteil dieses Herkunftsmilieus, aber das soziale Stigma, das Lazarillo mit ehrenhafter Kleidung, einem Schwert, einem königlichen Amt sowie mit temporären homosozialen Allianzen zu tilgen sucht, lässt sich im Spanien des Siglo de Oro, in dem so großer Wert auf die „pureza de nacimiento“ und „nobleza familiar“369 gelegt wird, nicht einfach mit gebrauchten Strümpfen und Mänteln zudecken, selbst wenn die Vorbesitzer einer höheren Kaste entstammen – sie bleiben doch letztlich nur gebraucht, wie im Übrigen auch die eigene Ehefrau. Die Rückkehr der Mutter ist daher vor allem die gespenstische Erinnerung an die eigene niedere Herkunft und den sozialen Determinismus sowie die undurchlässigen Standesgrenzen der Feudalgesellschaft. Insofern wird am Ende des Romans noch einmal deutlich, warum sich die novela picaresca als Zeugnis der Vormoderne kaum mit modernen Männlichkeitstheorien, wie etwa diejenigen Connells, analysieren lässt, die eben auf Durchlässigkeit zwischen den Strata zugeschnitten sind. Wie um diese Ordnung noch einmal mit einem eindrucksvollen Bild zu veranschaulichen, begibt sich im vorletzten Satz – also unmittelbar vor der ironischen Schilderung der „cumbre de toda buena fortuna“ (L 135) – folgendes kurioses Ereignis: „Esto fue el mismo año que nuestro victorioso Emperador en esta insigne ciudad de Toledo entró y tuvo en ella Cortes, y se hicieron grandes regocijos, como Vuestra Merced habrá oído“ (L 135). Den meisten Kommentatoren zufolge (Rico, Köhler, Coll-Tellechea/Zahareas) handelt es sich hierbei lediglich um ein historisches Detail, das dem Lazarillo am Ende noch einen gewissen „effet de réel“370 im Sinne Barthes’ hinzufügt, da Kaiser Carlos V. tatsächlich zweimal in Toledo

369 Ebd., S. 2. 370 Vgl. Roland Barthes: „L’effet de réel“ [1968], in: ders.: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, S. 179-187.

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seine Cortes abgehalten hat, nämlich in den Jahren 1525 und 1538. Coll-Tellechea und Zahareas betonen jedoch, dass beide Besuche zur Zeit der Niederschrift des Lazarillo bereits historisch gewesen sein müssen: Sin embargo, cuando Lázaro termina la carta para Vuestra Merced, esos años de esplendor eran agua pasada. A mediados del XVI (cuando posiblemente se escribió este libro) la España Imperial ya entraba en una larga y oscura crisis socioeconómica, de la que muchos tenían conciencia. 371

Da im Lazarillo, wie es Rico formuliert hat, kein Satz unschuldig ist, muss das auch für diesen gelten, der in seiner Plötzlichkeit vielleicht nicht zufällig an typische Deus-ex-machina-Effekte auf dem Theater erinnert. Das starke Bild des glorreichen Monarchen, der sowohl die androzentrische Ordnung als auch die Staatsraison verkörpert, und das wiederum verschränkt wird mit dem trügerischen ‚Gipfel allen Glücks‘ des marginalisierten Protagonisten, kann nur als Parodie innerhalb der Scheinwelt verstanden werden, vor allem deshalb, weil die glorreichen Zeiten der Krone zur Zeit der Niederschrift des Romans bereits im Niedergang begriffen sind. Das alles deutet darauf hin, dass auch Lazarillos mühsamem Aufstieg zum hombre de bien durch das Drehen am Rad der Fortuna eine Abwärtsbewegung unmittelbar bevorsteht. Als einzige Möglichkeit, diesem buchstäblich fatalen Ausschlussmechanismus, mithin der sozialen Abjektion und Aberkennung der Männlichkeitsehre zu entgehen, bleibt dem Entehrten nur noch der Griff zur Feder, d. h. die Neuerfindung des Ichs als Schriftsteller, was möglicherweise zur Restauration der verlorenen honra führen wird372 – was wir jedoch sui generis nicht wissen können.

371 Coll-Tellechea/Zahareas (Hrsg.): La vida de Lazarillo de Tormes, S. 142. 372 Vgl. dazu Mecke: „Die Atopie de Pícaro“, S. 78: „Das Paradox wird vollkommen, wenn man in Rechnung stellt, daß gerade die Ehre, die mit der Veröffentlichung der Geschichte erreicht werden soll, in diesem Buch einer fundamentalen Kritik unterzogen wird und daß der Erzähler selbst im Begriff ist, genau das zu tun, was er den freiwilligen Opfern des Ehrbegriffs vorwirft: seine eigene Existenz nämlich für eine – in diesem Fall literarische – Ehre zu ruinieren.“

5. Lazarillos Erben: Alemáns Guzmán de Alfarache (1599/1604) und Quevedos El Buscón (1626)

Ein converso und ein leidenschaftlicher Antisemit komplettieren zusammen mit dem anonymen Autor des Lazarillo die Trias der klassischen spanischen novela picaresca. Mateo Alemán und Francisco de Quevedo teilen – zusammen mit anderen – das Verdienst, aus dem Lazarillo de Tormes rund fünfzig Jahre nach dessen Erscheinen den Gründungstext einer neuen Gattung gemacht und überhaupt erst die Bezeichnung pícaro in die Literaturgeschichte eingeführt zu haben, nachdem ihnen der Anonymus hierfür den Prototyp zur Verfügung gestellt hatte. Auch wenn Alemán und Quevedo eine Reihe von narrativen Grundmustern und inhaltlichen Merkmalen aus dem Lazarillo übernehmen, lassen sich doch nicht weniger Unterschiede und Weiterentwicklungen beobachten, die im Folgenden näher ausgeführt werden sollen. Hinsichtlich der narrativen Modellierung von Männlichkeiten bei Alemán und Quevedo fällt vor allem auf, dass im Guzmán der ambivalenten Figur des Vaters deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird und dass Quevedo seine ungeliebte Hauptfigur jüdischer Herkunft mit exkrementaler Wucht den Leidensweg sozialer Abjektion durchlaufen lässt. Beiden gemein ist wiederum, dass sie mithilfe unterschiedlicher narrativer Strategien das zeithistorische Phänomen der Ökonomisierung gesellschaftlicher Strukturen und Werte weiterführen, das im Lazarillo bereits großen Raum eingenommen hat: Auch Guzmán und Pablos identifizieren sich mit dem Modell des homo oeconomicus und machen sich dessen zunehmende Prävalenz zunutze, um ihren Ambitionen nach gesellschaftlichem Aufstieg gerecht zu werden.

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5.1 I N

NOMINE P ATRIS : GUZMÁN DE A LFARACHE ODER DER F AMILIENROMAN DES PÍCARO

Aus paratextueller Sicht kann sicherlich als der augenfälligste Unterschied zwischen dem Lazarillo de Tormes und dem Guzmán de Alfarache die Tatsache geltend gemacht werden, dass letzterer überhaupt einem Autor zugeordnet werden kann, namentlich Mateo Alemán, der außer dem Guzmán nur wenige weitere Texte verfasst hat, darunter eine Lebensschilderung des Heiligen Antonius von Padua (1603), eine Ortografia castellana (1609) und einen Lebensbericht von García Guerra, dem Erzbischof von Mexiko, für den Alemán nach seiner Übersiedlung in die Neue Welt im Jahr 1608 gearbeitet hatte (ersch. 1613). Wie den wenigen biografischen Zeugnissen zu entnehmen ist, stammte Alemán aus einer converso-Familie, war der Sohn eines Gefängnisarztes und mindestens zweimal selbst im Gefängnis, da er immer wieder erhebliche Schuldenprobleme hatte. Man geht davon aus, dass er im Jahr 1614 völlig verarmt in Mexiko verstorben ist. Biografisch argumentierende Forschungen heben hinsichtlich seines Opus magnum hervor, dass der väterliche Background sowie die eigenen Aufenthalte im Gefängnis prägend gewesen sein dürften für seine Modellierung des Galeerensträflings Guzmán de Alfarache.1 Diese Parallelen sollen hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Nicht weniger als 45 Jahre liegen also zwischen dem Erscheinen des Lazarillo de Tormes und seinem ersten ernstzunehmenden Nachfolger, der Primera Parte des Guzmán de Alfarache aus dem Jahr 1599. Zwischenzeitlich erscheinen mehrere Neuauflagen des Lazarillo, vor allem 1573 der so genannte „Lazarillo castigado“, jene gekürzte Fassung, in der u. a. der vierte und fünfte tractado aufgrund kirchenfeindlicher Inhalte getilgt wurden, nachdem das Werk 1559 von der Inquisition auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt worden war und bis zur Erstauflage der zensierten Fassung 19 Jahre lang gar nicht verlegt wurde. Im Jahr 1599 erschienen dann zusammen mit dem ersten Teil des Guzmán allein

1

Vgl. zur Biografie von Mateo Alemán und den postulierten Wechselbeziehungen zwischen Leben und Werk vor allem: Donald McGrady: Mateo Alemán, New York, 1968; Edmond Cros: Mateo Alemán: introducción a su vida y a su obra, Salamanca 1971; vgl. auch das Kapitel „Alemán, su vida y su obra picaresca“, in: Thomas Hanrahan: La mujer en la novela picaresca de Mateo Alemán, S. 39-48. Zum Tode Alemáns: Felipe Villegas: „Un historiador halla pruebas de que Mateo Alemán murió en 1614 en la extrema pobreza“, in: ABC de Sevilla vom 31.7.2011, online abrufbar unter: http://sevilla.abc.es/20110731/sevilla/sevi-historiador-halla-pruebas-mateo- 201 107302231.html (letzter Zugriff: 09.01.2018).

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drei Neuauflagen des Lazarillo; im Zuge des Erfolgs des Guzmán stieg die Zahl der Neuauflagen des Lazarillo bis 1601 gar auf neun an.2 Auch wenn aus gattungstheoretischer Sicht eine Reihe von Parallelen zwischen dem Lazarillo und dem Guzmán auf der Hand liegen (u. a. fingierte Autobiografie, Episodizität, niedere Herkunft, Herr-Diener-Struktur), sollen hier vor allem die Unterschiede bzw. Weiterentwicklungen thematisiert werden. Auf inhaltlicher Ebene fällt zunächst auf, dass die zusehends amoralische Vida des Guzmán sich nicht mehr nur auf kleinere Betrügereien und burlas reduzieren lässt, sondern dass der pícaro dort endgültig den Weg in die Delinquenz beschreitet.3 So erklärt sich auch der Unterschied hinsichtlich des narrativen Rahmens: Während Lazarillo sich mithilfe seines pseudokonfessorischen Lebensberichts von den Anschuldigungen der malas lenguas freizusprechen versucht und das Urteil von Vuestra Merced vermutlich im Off der Diegese gefällt werden wird, sind die rechtlichen Fragen im Guzmán klarer: Er ist bereits verurteilt zu Galeerendiensten und legt eine „confesión general“ (G II 42) ab. Diese jedoch wird nicht an den auf der Galeere anwesenden Kaplan adressiert, sondern an den Leser, um ihn davor zu warnen, einen ähnlichen Lebensweg einzuschlagen – bezeichnenderweise nennt Alemán den zweiten Teil des Guzmán „Atalaya de la vida humana“ (G II 7), was zugleich Wachturm und Mahntafel bedeutet und einen ersten Widerspruch zur pikaresken Erzählanlage darstellt, wie Bauer hervorhebt: „Das erzähltechnische Problem, das sich aus diesem Konzept ergibt, besteht darin, daß die Vogelperspektive des ‚atalaya‘ mit der Froschperspektive des pikaresken Romans nur schwer zu vereinbaren ist.“4 Dass der Roman Guzmán de Alfarache insgesamt hybrider angelegt ist als sein Vorgänger und damit eher der ausladenden „barocken Tendenz zur Amplifikation“5 entspricht, erklärt sich zu-

2

Vgl. König: „La vida de Lazarillo de Tormes“, S. 31; vgl. auch Ruan: Pícaro and Cortesano, S. 17f, der darauf hinweist, dass der Lazarillo castigado zu Beginn des 17. Jahrhunderts in mehreren Auflagen zusammen mit dem höfischen Ratgeber El Galateo español von Lucas Gracián Dantisco herausgeheben wurde. Ruan weist zudem nach, dass z. B. auch im dritten tractado kürzere Passagen gestrichen wurden, die als zu kritisch im Hinblick auf die Darstellung höfischer Konventionen und Wertvorstellungen erachtet wurden. Vgl. zu den Neuauflagen auch Ehrlicher: Zwischen Konversion und Karneval, S. 208.

3

Vgl. dazu vor allem das Guzmán-Kapitel „The Delinquent Emerges“ in: Parker: Literature and the Delinquent, S. 28-52; vgl. auch Bernhard König: „Der Schelm als Meisterdieb“, in: Romanische Forschungen 92 (1980), S. 88-109.

4

Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 50.

5

Ebd., S. 49.

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nächst durch seine enormen Ausmaße, überschreitet er doch den Lazarillo in etwa um das Zehnfache und weist diesbezüglich bereits auf den Don Quijote hinaus, dessen erster Teil fast zeitgleich mit dem zweiten Teil des Guzmán erscheint.6 Die Ambivalenz ist Alemáns Hauptwerk mithin von Anfang an eingeschrieben und wird durch die nachträglich hinzugefügte Charakterisierung des Romans als Generalbeichte, Wachturm und Mahntafel zusätzlich genährt. Unter dem Eintrag „confessar“ ist bei Covarrubias folgendes zu lesen: CONFESSAR, dezir uno la verdad, quando es preguntado o el de suyo la manifiesta, confiteri. Confessar uno sus pecados sacramentalmente a los pies del sacerdote que tiene poder para absoluer, es llegarse al Sacramento de la Penitencia. [...] Confessión, lo que declara con presupuesto de que es verdad.7

Im Diccionario de Autoridades findet sich darüber hinaus ein Eintrag zur „confession general“: CONFESSIÓN GENERAL La que se hace de toda la vida passada, desde la edad en que estuvo en capacidad el penitente de pecar y de recibir el Sacramento de la Peniténcia, hasta el día en que se confiessa: o aquella en que se repiten confessiones particulares de cierto tiempo determinado: yá se haga por necessidad, o por. […] En todos estos casos la confessión general es tan necessaria, que sin ella no hai salvación.8

Aufschlussreich an dieser Gegenüberstellung ist die Beobachtung, dass bei Covarrubias der Aspekt der Aufrichtigkeit, ja der unabdingbare Wille zur Wahr-

6

Neben den rein quantitativen Ähnlichkeiten gibt es auch editionsgeschichtliche sowie stilistische Analogien zwischen den beiden Romanen: Nach dem großen Erfolg des ersten Teils des Guzmán erschien zunächst eine apokryphe Fortsetzung eines gewissen Juan Martí, die Alemán dazu veranlasst hat, seine eigene Fortsetzung abzuändern. Der Plagiator taucht darin auf (als Figur Sayavedra) und ertrinkt in geistiger Umnachtung im Meer. Ähnliche Erfahrungen macht auch Cervantes nach der Vollendung des ersten Teils seines Don Quijote und webt die apokryphe Fortsetzung von Alonso Fernández de Avellaneda sehr geschickt und auf äußerst humorvolle Weise in seinen eigenen zweiten Teil ein. Aus stilistischer bzw. kompositorischer Perspektive lässt sich beobachten, dass beide Autoren mit eingeschobenen Novellen arbeiten, was den hybriden Charakter der beiden Romane steigert.

7

Covarrubias: Tesoro de la lengua castellana, S. 232.

8

Diccionario de Autoridades, Bd. II, o. S. (Herv. i. O.).

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heit deutlich im Vordergrund steht, der die Grundvoraussetzung des Beichtrituals auf Seiten des sündigen Absenders darstellt. Im Falle der Generalbeichte, wie sie im Diccionario de Autoridades definiert wird, steht zunächst der narrative bzw. autobiografische Aspekt im Vordergrund („se hace de toda la vida passada“) sowie das ritualisierte, wiederholte Beichten („se repiten confessiones particulares de cierto tiempo determinado“). Als Grundvoraussetzung wird hier weniger die Wahrhaftigkeit genannt, sondern die Notwendigkeit („por necessidad“) und die Hingabe („por devoción“). In beiden Definitionen wird jedoch auch erwartungsgemäß der sakramentale Charakter des Beichtrituals hervorgehoben, was zu einer entsprechenden Adressierung führt, die bei Covarrubias unmissverständlich dargestellt wird: „a los pies del sacerdote que tiene poder para absoluer“. Der Fokus auf die Wahrheit, dem der angehende Büßer innerhalb des kommunikativen Rahmens der Beichte Ausdruck verleihen soll, erinnert im Kern an das „hablar claro“ des deseñganador, der ja als weltlicher Aufklärer des Scheinhaften auftritt. Indem jedoch der Adressat der Generalbeichte im Guzmán gleich zu Beginn des Romans benannt wird („Al vulgo“ und „al discreto lector“), schleicht sich bereits ein gewisses Unbehagen ein, was den tatsächlichen Wahrheitsgehalt der Autobiografie angeht, da der Leser kaum dazu autorisiert ist, dem pícaro seine Absolution zu erteilen.9 So wie der Ich-Erzähler im Lazarillo zu Beginn mit genuin literarischen bzw. paratextuellen Strategien deutlich macht, dass er nicht nur als Angeklagter, sondern auch als Dichter wahrgenommen werden möchte, so verfolgt der Ich-Erzähler im Guzmán schon anhand der Adressierung an den Pöbel und den verständigen Leser ein ganz ähnliches Ziel. Angel San Miguel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon allein das Ausmaß von Guzmáns Lebensbeichte den sakramentalen Vorgaben des Klerus zuwiderlaufen würde: Guzmán verstößt gegen die Definition der ‚confesión general‘ schon allein dadurch, daß er seinen Roman im wörtlichen Sinne des Begriffs ab ovo beginnt, d. h. mit dem Bericht über das Leben der Eltern. Und wenn die ‚confessio‘ – wie es im Catechismus ex Decreto Tridentini (1566) heißt –, ‚nuda, simplex [...], non artificose composita‘ sein soll, so muß

9

Angel San Miguel macht ferner deutlich, dass eine „streng sakramentale Perspektive [...] dem Roman viel engere Grenzen gesetzt und die Bewegungsfreiheit des Autors bzw. des Ich-Erzählers stark reduziert [hätte].“ In: Angel San Miguel: „Mateo Alemán. Guzmán de Alfarache“, in: Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Der spanische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 1995, S. 63-85, hier: S. 76.

352 | V IR INVERSUS man sich fragen, ob die Einbeziehung der ‚novelitas intercaladas‘ – um nur das krasseste Beispiel aufzuführen, – in diesem engen Rahmen möglich gewesen wäre.10

Auch wenn Alemán mit seiner Hagiografie des San Antonio de Padua, die zwischen den Arbeiten am ersten und zweiten Teil des Guzmán entstanden sein muss, die Intention deutlich gemacht hat, als gläubiger Neuchrist zu erscheinen,11 muss doch im Guzmán aufgrund seiner Ambivalenz in Folge des Oszillierens zwischen profanen und theologischen Diskursen von einer affirmativen Beziehung zum Beichtsakrament Abstand genommen werden. Daher wäre San Miguel zuzustimmen, der im Guzmán „weniger eine formale Nachahmung der sakramentalen ‚confessio‘“ sieht „als vielmehr deren kunstvolle, profane Umformung.“12 Hierfür spricht auch, dass Guzmán – wie Lazarillo – eben nicht nur als reuiger Sünder angesehen werden möchte, sondern auch als Autor, was besonders in den paratextuellen Rahmungen des Lebensberichts, konkret den beiden Leserappellen, zum Ausdruck gebracht wird. Auch die digressive Erzählweise spricht dafür. Eine kontroverse Debatte wurde in der Guzmán-Forschung ebenfalls um den Auslöser der confesión general geführt, d. h. die Bekehrung des Protagonisten und deren Glaubhaftigkeit. Ehrlicher hat diese Diskussion und die jeweiligen Positionen um eine orthodoxe oder heterodoxe Deutung des Guzmán de Alfarache minutiös dargestellt, ganz im Zeichen einer „Rekonstruktion der Autorabsicht“13. Diese Frage muss sicherlich als relevant, ja zentral eingestuft werden, da sie nicht nur über den Charakter der Hauptfigur befindet, sondern des gesamten Romans. Es geht demzufolge um nichts weniger als die Entscheidung, im Guzmán ein „Werk der nachtridentinischen Orthodoxie“14 zu sehen, einen Abkömmling der augustinischen Bekenntnisliteratur oder das subversive Werk eines Neuchristen. Zu den Vertretern der erstgenannten Auslegungsrichtung gehören vor allem Moreno Báez15, Parker16 und Michaud17, wobei nicht nur intradiegetische, sondern auch biografistische sowie paratextuelle Argumentationsstra-

10 Ebd., S. 76f. 11 Vgl. dazu Monique Michaud: Mateo Alemán, moraliste chrétien: de l’apologue picaresque à l’apologétique tridentine, Paris 1987. 12 San Miguel: „Mateo Alemán. Guzmán de Alfarache“, S. 76. 13 Ehrlicher: Zwischen Konversion und Karneval, S. 232. 14 Ebd., S. 210. 15 Enrique Moreno Báez: Lección y sentido del Guzmán de Alfarache, Madrid 1948. 16 Parker: Literature and the Delinquent. 17 Michaud: Mateo Alemán, moraliste chrétien.

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tegien verfolgt werden. Laut Ehrlicher verdankt sich die Debatte um die Authentizität des am Ende des Romans geschilderten conversio-Erlebnisses den narratologischen Parametern des Guzmán: Diese Opposition stellt einen direkten Effekt der dualistischen erzählerischen Anlage des Textes dar, dessen Spannung sich in der Polarisierung des Auslegungsstreits der Kritik wiederholt, die sich für eine jeweils unterschiedliche Möglichkeit zur Auflösung der Spannung entscheidet.18

Diese Engführung von erzählerischer Anlage und Orthodoxie-Debatte stellt mithin einen entscheidenden Impuls dar, den man jedoch noch stärker betonen sollte: Die moraltheologische Unentscheidbarkeit ist das zentrale Erzählprinzip des Romans, das wesentlich dem Umstand in Rechnung zu stellen ist, dass wir es mit einem unreliable narrator zu tun haben bzw. mit den Worten Guilléns: „The picaresque novel is, quite simply, the confession of a liar.“19 Das bedeutet, dass nicht nur der Roman seine Leser im Unklaren hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit lässt, sondern dass diese Ambiguität zu den grundlegenden Gattungsmerkmalen der novela picaresca gehört, die der Leser aushalten muss. Wenn demnach von der ‚Rekonstruktion der Autorabsicht‘ die Rede ist oder wenn Michaud ihrer Studie den Anspruch voranstellt, die ‚Wahrheit wiederherzustellen‘ („restaurer la vérité“20), kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass die Befürworter der Bekehrungsthese dem pícaro ganz offensichtlich auf den Leim gegangen sind und dass der Wille zum Wissen und zur Eindeutigkeit stärker wiegt als jeder noch so gebotene Zweifel. Die entsprechende Passage im Guzmán, in der von der Ad-hoc-Läuterung des Helden berichtet wird, erscheint angesichts der barocken Ausmaße des Romans erstaunlich kurz: En este discurso y otros que nacieron dél, pasé gran rato de la noche, no con pocas lágrimas, con que me quedé dormido y, cuando recordé, halléme otro, no yo ni con aquel corazón viejo que antes (G II 506).

18 Ehrlicher: Zwischen Konversion und Karneval, S. 216. 19 Guillén: „Toward a Definition of the Picaresque“, S. 92. 20 Michaud: Mateo Alemán, moraliste chrétien, S. 29.

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Diese recht schmucklose Beschreibung der angeblich epiphanischen Bekehrung über Nacht,21 nach der der Ich-Erzähler sich in die ‚gnädigen Hände des Herren‘ begibt und gelobt, oft zur Beichte zu gehen, sein Leben zu ändern („reformando mi vida“, G II 506) und sein Gewissen zu reinigen („limpiando mi conciencia“, G II 506), wird unterbrochen mit dem noch kürzeren Satz „Mas era de carne“ (G II 506), was doch genug Anlass zur Vorsicht geben sollte, wie auch Bauer, Rötzer und Rosenthal nahelegen.22 Es wird mithin deutlich, dass Alemáns Roman in Sachen mangelnder Glaubwürdigkeit seinem Vorgänger in nichts nachsteht und die hermeneutische Unbestimmtheit, die moralische Ambiguität sowie den strategisch gestreuten Zweifel als Gattungsmerkmale der Pikaresken perpetuiert. Der kommunikative Rahmen des Guzmán ist gleichwohl ein anderer: Ging es im Lazarillo vornehmlich um die Frage nach Schuld und Unschuld im profanen Kontext, verhandelt der Guzmán die Frage von Sünde und Erlösung im moraltheologischen Verständnis, da das Weltgericht bereits seine Schuld festgestellt hat; Guzmán stellt sich demnach der Selbstanklage. Dies mag zum einen erklä-

21 Parker, einer der vehementen Befürworter der orthodoxen Konversionslesart, schreibt erstaunlicherweise: „The conversion itself is so movingly presented that it is impossible, if one has read the whole work properly, to doubt its sincerity.“ In: Parker: Literature and the Delinquent, S. 44. Diese Einschätzung scheint mir zu einseitig und vom Text nicht zweifelsfrei ableitbar. 22 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 51: „Die Vertrauensfrage, die Guzmáns Ge-

schichte vor allem im Hinblick auf seine angebliche Bekehrung aufwirft, ist folglich integraler Bestandteil der Lebensproblematik, von der Alemáns Werk handelt, und nicht nur eine jenseits seiner Thematik angesiedelte hermeneutische Schwierigkeit. [...] Daß Guzmáns vermeintliche Läuterung weniger seiner Bußfertigkeit als seiner Durchtriebenheit entspringt, macht auch sein früheres Verhalten wahrscheinlich, hatte er sich doch schon einmal vom Schelmendasein abgewandt, um nach kurzer Zeit rückfällig zu werden.“ Vgl. auch Hans Gerd Rötzer: Picaro – Landtstörtzer – Simplicius. Studien zum niederen Roman in Spanien und Deutschland, Darmstadt 1972, S. 72: „Guzmán bekehrt sich, aber nicht aus Einsicht in seine moralischen Verfehlungen, sondern aus nüchternem Kalkül.“ Vgl. des Weiteren Regina Rosenthal: Die Erben des Lazarillo. Identitätsfrage und Schlußlösung im pikarischen Roman, Frankfurt/M. 1983, S. 35: „Andererseits jedoch ist die Bekehrung keineswegs Ausdruck einer inneren Entwicklung und einsichtsvollen Reifung des Helden. Die Person Guzmán läßt erwarten, daß er auf die Dauer dem negativen Einfluß seiner Umgebung nicht standhalten und sich wieder den Normen einer von ihm grundsätzlich nicht abgelehnten Gesellschaft anpassen wird.“

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ren, warum die Kirchenkritik im Guzmán deutlich weniger drastisch ausfällt als im Lazarillo. Immerhin taucht mit dem Kardinal von Rom eine der wenigen positiv besetzten Figuren auf, die tatsächlich dem christlichen Ideal der Caritas gerecht wird und schließlich für das „retardierende Moment“23 in der moralischen Degradation des Titelhelden verantwortlich zu machen ist. Zum anderen sorgt die vermeintliche Bekehrung des Protagonisten für ein anderes Verhältnis von erzähltem und erzählendem Ich: Während sich im Lazarillo diese beiden Instanzen im Laufe des Romans immer mehr annähern, um aufzuzeigen, wie der Erzähler zu dem Mann geworden ist, der er nun ist, markiert das Bekehrungserlebnis eine deutliche Zäsur bzw. ein Moment der Distanzierung zwischen den beiden: „Vom Lazarillo trennt den Guzmán zunächst eine viel deutlicher hervorgehobene Distanz zu dem früheren Ich“.24 Auf diese Weise kann der Erzähler deutlich machen, dass es sich bei seinem Text um eine Warntafel für den „discreto lector“ handelt, um ein exemplum ex contrario, womit von Vornherein die Diegese als mundus inversus deutlich markiert wird. Damit steht der Guzmán hinsichtlich seiner (zumindest vordergründig) moralisierenden Intention stärker in der Tradition der Celestina als unter dem Einfluss des Lazarillo. Was wiederum beide Schelmenromane eint, ist die zirkuläre Struktur, die im Lazarillo durch den caso hergestellt wird, der den nachträglichen Erzählanlass liefert, wie wir gesehen haben. Im Guzmán erfüllt die finale Konversion dieselbe Funktion: Die Bekehrung liefert am Ende des Romans den Anlass für die „confesión“ oder mit den Worten Joan Arias’: „The conversion is not the terminal point, but a beginning. Although it occurs at the end of what the readers discover, it represents the main reason for writing.“25 Inwieweit hängen nun diese einleitenden Beobachtungen zum narrativen Rahmen und zur moraltheoretischen Funktionalisierung des Romans mit dem Thema Männlichkeit im Guzmán zusammen? Zum einen wird dadurch hinsichtlich der Lebensbeschreibung des pícaro deutlich, dass es sich um einen Weg in

23 Rauhut: Herr und Knecht, S. 178. 24 San Miguel: „Mateo Alemán. Guzmán de Alfarache“, S. 75. Nicht zuletzt dürfte die Schilderung der Bekehrung auch eine Strategie des Autors selbst gewesen sein, wie auch Bauer (Im Fuchsbau der Geschichten, S. 53) vermutet: „Die für den Schelmenroman charakteristische Doppeldeutigkeit resultiert also in Guzmáns Fall daraus, daß seine Beteuerung, als reumütiger Sünder nunmehr die Wahrheit zu sagen, sowohl ein Ausdruck seiner Scheinheiligkeit als auch eine Schutzmaßnahme Alemáns ist, um in der Genreform-Maske des Pícaro einmal ungeschminkt die Wahrheit sagen zu können.“ 25 Joan Arias: Guzmán de Alfarache: The Unrepentant Narrator, London 1977, S. 47.

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die Delinquenz handelt bzw. dass wir es hier mit einer narrativen Struktur krimineller Männlichkeit zu tun haben. Beschränkten sich im Lazarillo die Diebstähle des Titelhelden noch auf kleinere Mundraub-Delikte, die erzähllogisch der narrativen Ausgestaltung des Hunger-Motivs geschuldet waren, überschreitet Guzmán deutlich die Grenzen der Legalität, was zur Verurteilung und schließlich zur Bekehrung führt, deren Schilderung dann wiederum die Distanzierung von seinem früheren Ich („no yo“) erforderlich macht. Diese Distanzierung wiederum muss jedoch im Verlauf des Romans bereits glaubwürdig gemacht werden, und das tut der Erzähler, indem er den Schilderungen seines kriminellen Werdegangs predigthafte Passagen zur Seite stellt, die alle möglichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen, Missstände und Verhaltensweisen auf moralistische Weise behandeln. Es entsteht mithin – deutlich forcierter als im Lazarillo – eine duale Struktur, vermittels derer die Wechselbeziehungen zwischen Ich und Gesellschaft verhandelt werden. So erklärt sich letztlich auch der vermeintliche Widerspruch von pícaro und atalaya, von ganz unten und ganz oben, von glaubwürdig und unglaubwürdig, dem sich der durchgängig adressierte Leser stellen muss, ohne sich jemals sicher sein zu können.26 Diese Adressierung wird ebenfalls gleich zu Beginn des Romans als eine gespaltene eingeführt, nämlich – wie bereits angedeutet – an den „vulgo“ sowie den „discreto lector“. Ersterer wird beschimpft und sämtlicher Laster beschuldigt, die auch im Folgenden noch Thema der Erzählung werden (Boshaftigkeit, Neid, Geiz, Scheinheiligkeit, Verlogenheit, Geilheit) und endet mit dem Wunsch, eher die „reprehensión del bueno“ zu erhalten als die „estimación depravada“ (G I 109) des Pöbels. Die Anrede des ‚verständigen Lesers‘ hingegen endet mit folgendem Auftrag: „En el discurso podrás moralizar según se te ofreciere: larga margen te queda. Lo que hallares no grave ni compuesto, eso es el ser de un pícaro el sujeto de este libro (G I 112).“ Vor allem der letztgenannte Leserappell erweist sich als durchweg ambivalent: Zwar wird dem Leser das moralische Urteil überlassen mit dem Verweis auf die „larga margen“, allerdings tut der Erzähler doch mit seinen eigenen Moralisierungen alles, um diesen ‚Rand‘ so schmal wie möglich zu halten. Dass der Text

26 Laut Harald Weinrich wäre der Guzmán damit ein hervorragendes Beispiel „europäischer Lügendichtung“, da der Erzähler sich zum einen in der „verkehrten Welt“ aufhält, „in der die Lüge zu Hause ist“, sich ironischer Rhetorik bedient und allerlei „heilige Eide“ schwört und dergestalt eine „Freude am Lügen“ zum Ausdruck bringt bzw. die Lüge zum Kompositionsprinzip seiner Erzählung erhebt. Vgl. Harald Weinrich: Die Linguistik der Lüge [1965], München 82016; alle Zitate aus dem Kapitel: „Viel lügen die Sänger“, S. 70-78.

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auf narrativer Ebene sowohl als „libro de entretenimiento“27 funktioniert, mithin die Unterhaltungswünsche des „vulgo“ befriedigt, aber eben auch – unter Hinzunahme der Digressionen – als didaktischer Bekehrungsroman für den „discreto lector“, machen beide Paratexte deutlich, lösen diesen Widerspruch jedoch kaum auf überzeugende Weise auf. Jedenfalls schien die Zensur der Inquisition kein grundlegendes Problem mit dem Guzmán gehabt zu haben, da der Roman, soweit bekannt, im Gegensatz zu seinem Vorgänger keinerlei Verbote oder Kürzungen zu erdulden hatte.28 Im Folgenden sollen nun die zwei Stimmen des Erzählers untersucht werden. Dabei stehen zunächst unter dem Aspekt der zunehmenden moralischen Korrumpierung des Helden ausgewählte Stationen seines geschilderten Lebensweges im Vordergrund. Hier spielen vor allem die paternale Herkunft, biografische Wendepunkte und das Ende des Romans wichtige Rollen, da es signifikante Unterschiede zum Lebensweg von Lázaro de Tormes gibt. Des Weiteren sollen einige Passagen aus den moralistischen Digressionen näher betrachtet werden – vor allem jene, in denen das Geschlechterverhältnis verhandelt wird. Auf den ersten Blick steht der Beginn der pikarischen Lebensbeschreibung des Guzmán ganz in der Tradition seines Vorgängers: Geschildert wird zunächst die dubiose Herkunft des Titelhelden. Allerdings nimmt sich Alemán – proportional zum gesteigerten Gesamtumfang seines Oeuvres – deutlich mehr Raum dafür, indem er gleich zwei Kapitel darauf verwendet. Zudem fällt auf, dass sich die Beschreibung des familiären Hintergrunds weniger fokussiert dem maternalen Ursprung widmet als vielmehr der „cuestión del padre“, wie es Michel Cavillac ausführlich dargestellt hat.29 Man könnte sagen, dass hier bereits auf der Ebene der histoire die duale Struktur des Romans prominent in Szene gesetzt wird, da es nicht nur einen potentiellen Vater gibt, der als Erzeuger des Protagonisten in Frage kommt, sondern gleich zwei. Die Titulierung der beiden Anfangskapitel gibt darauf erste Hinweise: Während über dem „Capítulo Primero“ noch „En que cuenta quién fue su padre“ (G I 125) steht, lautet die Überschrift des zweiten „Guzmán de Alfarache prosigue contando quiénes fueron sus padres“ (G I 143, Herv. G. S.).

27 So die vom Autor selbst gewählte Gattungsbezeichnung der stark vom ersten Teil des Guzmán beeinflussten Pícara Justina von Úbeda. 28 Vgl. dazu Parker: Literature and the Delinquent, S. 32. 29 Vgl. Michel Cavillac: „La cuestión del ,padre‘ en el Guzmán de Alfarache, desde la ,ética, económica y política‘“, in: Studia aurea: Revista de literatura española y teoría literaria del Renacimiento y Siglo de Oro 1 (2009), S. 159-173.

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Guzmáns ‚erster‘ Vater wird als Adeliger beschrieben, dessen Familie sich in Genua niedergelassen hatte, wo sie zum Stand der Kaufleute gehörte. Der Erzähler spickt das paternale Porträt mit allerhand digressiven Anekdoten und Sinnsprüchen, um vom Offensichtlichen abzulenken, nämlich der unmoralischen Umtriebigkeit seines Vaters. Dieser hatte offenbar als betrügerischer Wucherer gearbeitet, weshalb er aus Genua fliehen musste, dann von Piraten gefangen genommen wurde, bevor er als zum Islam konvertierter Renegat in Marokko eine reiche Maurin um ihren Besitz brachte und sich schließlich in Spanien niederließ, wo er dann angeblich zu Jesus Christus zurückfand, jedoch schnell wieder alte Verhaltensmuster annahm und Probleme mit der Justiz bekam, die er jedoch offenbar mit Bestechung ausräumen konnte. Edmond Cros macht darauf aufmerksam, dass es sich bei „[s]on odyssée […] contée en raccourci“ um eine „parodie du roman byzantin“ handele und sieht in der väterlichen Abenteuergeschichte eine Mise en abyme des zu lesenden Schelmenromans über seinen Sohn: „elle présente tous les aspects d’une existence ‚picaresque‘ et ne fait qu’annoncer les multiples mésaventures de son propre fils.“30 Insofern liefert uns jene väterliche Odyssee die Ouvertüre zur Lebensgeschichte des Sohnes, in der sich tatsächlich einige der Etappen, Erlebnisse und Plotstrukturen wiederholen werden. Nach einer abermaligen Digression über die Korruptibilität des Gerichtswesens erfährt der Leser noch, dass Guzmáns Vater offenbar zu den „afeminados maricas“ (G I 140) gehörte, also im Verdacht stand, ein Sodomit zu sein, wie Homosexuelle im Diskurs der Zeit genannt wurden.31 Im zweiten Kapitel wird dann erläutert, warum der Erzähler zuvor seine Herkunft mit dem Begriff des „confuso nacimiento“ (G I 126) beschrieben hat: Seine Mutter war die Frau eines „cierto caballero viejo de hábito militar“ (G I 144), die dann mithilfe einer „buena dueña [...] con que mina prostra las fuertes torres de las más castas mujeres“ zur Geliebten seines Vaters wird. Jene dueñas gehören dem Erzähler zufolge zu den „ministros de Satanás“, und so konstatiert er weiter: „no habrá traición que no intenten, fealdad que no soliciten, sangre que no saquen, castidad que no manchen, limpieza que no ensucien, maldad con que no salgan“ (G I 145). Auch wenn der Begriff nicht fällt, so schließt doch diese Charakterisierung nahtlos an Rojas’ Porträt der ruchlosen Kupplerin an. Guzmán entspringt, so suggeriert es zumindest der Erzähler selbst, dem auf engaño fußenden Seitensprung einer

30 Edmond Cros: Protée et le gueux. Recherches sur les origines et la nature du récit picaresque dans Guzmán de Alfarache, Paris 1967, S. 337. 31 Vgl. dazu Cristian Berco: Sexual Hierarchies, Public Status. Men, Sodomy, and Society in Spain’s Golden Age, Toronto/Buffalo/London 2007.

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Frau, die recht eindeutig als Prostituierte in mindestens zweiter Generation beschrieben wird, und eines Mannes, der als zwielichtiger mercader im Rufe steht, als Wucherer („infamándolo de logrero“, G I 131) zu unrechtem Vermögen gekommen zu sein. Es werden jedoch Zweifel geschürt, ob der Titelheld tatsächlich der Sohn jenes adeligen Kaufmanns ist oder möglicherweise des alten gebrechlichen „buen caballero“ (G I 153), dessen Tod schon bald seine Frau zur Witwe machen wird. So räsoniert der Erzähler weiter: [...]; y por la cuenta y reglas de la ciencia femenina, tuve dos padres, que supo mi madre ahijarme a ellos y alcanzó a entender y obrar lo imposible de las cosas. Vedlo a los ojos, pues agradó igualmente a dos señores, trayéndolos contentos y bien servidos. Ambos me conocieron por hijo: el uno me lo llamaba y el otro también (G I 157).

Trotz aller Unklarheit hinsichtlich des paternalen Ursprungs nimmt Guzmán eine klare Setzung hinsichtlich seiner Herkunft vor und bestimmt den Kaufmann als seinen Vater, was ein eindeutiges Zeichen darstellt, da beide Vaterfiguren jeweils distinkte Männlichkeitstypen repräsentieren, die nun vorgestellt werden. Der caballero, mit dem Guzmáns Mutter verheiratet ist, verkörpert den alten Adel Spaniens in all seiner Saturiertheit, Dekadenz und Nutzlosigkeit. Der Erzähler verliert nicht viele Worte über ihn, aber wenn, dann versäumt er es nicht, auf eben jene Makel aufmerksam zu machen. Zunächst beschreibt er ihn als „caballero viejo de hábito militar, que por serlo comía mucha renta de la iglesia“ (G I 144), d. h. als alten Mann, der dem Staat auf der Tasche liegt. Seine Kleidung entspricht dem Habitus des ritterlichen Adels, wie wir es vom Escudero aus dem Lazarillo kennen. Die Schilderung seiner vor allem körperlichen Gebrechlichkeit und der Fokus auf sein hohes Alter werden zu einem der Leitmotive innerhalb des zweiten Kapitels: „Este caballero era hombre mayor, escupía, tosía, quejábase de piedra, riñón y urina“ (G I 146). Gewohnt pikaresk werden hier mit dem Husten und Spucken sowie den Nierensteinen primär die Ausscheidungsprozesse thematisiert, die wohl auch auf die Völlerei des „hombre anciano y cansado“ (G I 154) zurückzuführen sind: „su desorden le abrió la sepultura“ (G I 154). Diese Maßlosigkeit betraf wohl in seinen jüngeren Jahren auch sein Liebesleben, wie sich anlässlich seiner Beerdigung herausstellt, wenn der Erzähler berichtet: „Estábamos en casa cantidad de sobrinos, pero ninguno para con ellos más de a mí de mi madre“ (G I 154). Aber auch seine offenkundige Ahnungslosigkeit im Zusammenleben mit seiner betrügerischen Frau gibt Anlass zum Spott über den „pobre caballero“ (G I 149), jenen „viejo galán“ (G I 150), der schließlich zum „bueno de nuestro“ (G I 150), also zum gehörnten Ehemann wird.

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Der in die Jahre gekommene Kavalier lässt insgesamt an ähnliche Lachfiguren aus der spanischen Literaturgeschichte denken, vielleicht jedoch am auffälligsten an den Ehemann von Ana Ozores aus Claríns Ehebruchsroman La Regenta (1884/85), in dem der alte Ehrenmann Don Víctor auch mitsamt seiner körperlichen und geistigen Verkrustung für das alte aristokratische Spanien steht, das dem Untergang anheimgegeben ist.32 Er stirbt schließlich im Rahmen eines Duells mit seinem Widersacher durch einen Schuss in die Blase, was seiner sexuellen Impotenz auf ironische Weise den endgültigen Stempel aufdrückt.33 Immerhin erhält der traurige Held bei Clarín einen Namen – bei Alemán wird dem Alten diese nominelle Individualisierung nicht gewährt, was seinen Typencharakter noch verstärkt. Dies gilt auch für Guzmáns ‚Wahl-Vater‘, dessen Porträt jedoch ungleich ausführlicher gezeichnet wird. Dies vor allem deshalb, da die Struktur dieser Charakterstudie doppelt angelegt ist: Der Erzähler stellt den genuesischen Kaufmann immer zunächst aus Sicht der Anderen dar, die durchweg – im Einklang mit dem paratextuell adressierten vulgo – als „lenguas engañosas y falsas“ (G I 130) abqualifiziert werden, und sodann aus eigener Wahrnehmung, ohne jedoch diesen Widerspruch aufzulösen.34 Die Verleumdungen seitens der „maldicientes“ (G I 132) verdanken sich, so legt es der Text nahe, der Tatsache, dass es sich bei Guzmáns Vater – im Gegensatz zum caballero – um einen Neuchristen jüdischer Abstammung, also um einen converso handelt, was bedeutet, dass er einer Bevölkerungsgruppe entstammt, die bekanntlich im antisemitischen Kontext des Siglo de Oro stets solchen Denunziationen ausgesetzt ist.35 Den Nach-

32 Vgl. Tanja Schwan „‚Don Juan caído‘, ‚dandy desengañado‘ – ruinöse Männlichkeiten im spanischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts“, in: Verf. (Hrsg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900, Bielefeld 2014, S. 275-295. 33 Zum Verhältnis von Männlichkeit und Impotenz bei Clarín vgl. Verf.: „Heldendämmerung. Männlichkeit und Impotenz im französischen und spanischen Fin de Siècle-Roman (Huysmans / Clarín)“, in: Julia Brühne/Karin Peters (Hrsg.): In (Ge-) Schlechter Gesellschaft. Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania, Bielefeld 2015, S. 57-86. 34 Zur rhetorischen Strategie des Ich-Erzählers im ersten Kapitel vgl. M. J. Woods: „The teasing opening of Guzmán de Alfarache“, Bulletin of Hispanic Studies 57 (1980), S. 213-218. 35 Vgl. z. B. den Prozess gegen den wohlsituierten converso Alonso Téllez Girón, wie ihn Stephen Gilman in seiner Studie The Spain of Fernando de Rojas (Princeton 1972, S. 95-99) schildert.

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weis von Guzmáns jüdischer Abstammung haben u. a. Marcel Bataillon, Carroll B. Johnson und Donald McGrady erbracht, wobei vor allem die Art der Verleumdungen seitens der Gesellschaft als deutliche Indizien herangezogen wurden.36 So wird Guzmáns Vater nicht nur als betrügerischer Wucherer diffamiert, sondern als Kirchgänger mit häretischen bzw. heterodoxen Absichten sowie als effeminierter Homosexueller. All jene pejorativen Attribuierungen gehören zum Standardinventar antisemitischer Hetzpolitik im Spanien nach der Reconquista.37 Bezeichnenderweise zielen solche Diffamierungen nicht nur auf die konfessionelle Zugehörigkeit ab, sondern haben vor allem rassistischen Charakter: „It becomes apparent that the heart of the matter is not religious orthodoxy, but racial inequality.“38 Zudem dient die italienische Herkunft als weiteres Indiz für die jüdische Abstammung des Vaters, da Italien, wie es bereits in La Lozana Andaluza dargestellt wurde, das bevorzugte Exilland der jüdischen Vertriebenen darstellt: „There was at this time an automatic association in the Spanish mind between Italians, homosexuality, and Jewishness.“39 Es scheint allerdings zu kurz gegriffen, in diesem Porträt des Vaters lediglich den Versuch des Erzählers zu sehen, seine Herkunft als möglichst unmoralisch erscheinen zu lassen,40 indem all diese negativen Attribuierungen ins Spiel gebracht werden. Dagegen spricht nicht zuletzt, dass diese zum größten Teil jenen ‚bösen Zungen‘ des Volkes in den Mund gelegt werden, die der Erzähler im Vorwort als Pöbel beschimpft. Zudem wird der Vater in der direkten Gegenüberstellung mit der altchristlichen zweiten Vaterfigur deutlich positiver gestaltet. Wenn man den unmoralischen Charakter des Elternhauses betrachtet, fällt des Weiteren auf, dass es – wie im Lazarillo – eher die Mutter ist, in die der IchErzähler den Keim allen Übels implantiert, da er hier keinen Klatsch der Ande-

36 Vgl. Carroll B. Johnson: Inside Guzmán de Alfarache, Berkeley/Los Angeles/London 1978, S. 165f; McGrady: Mateo Alemán, S. 101-103; Marcel Bataillon: „Los cristianos nuevos en el auge de la novela picaresca“, in: ders.: Pícaros y picaresca, Madrid 1969, S. 215-245; Richard Bjornson: „Guzmán de Alfarache: Apologia for a ‚Converso‘“, in: Romanische Forschungen 85 (1973), S. 314-329. 37 Auch in der Literatur des Mittelalters gibt es bereits solche Negativ-Stereotype über Juden, wie z. B. die beiden jüdischen Wuchererfiguren Rachel und Vidas im Cantar de Mio Cid zeigen, die dem Helden zu Beginn des Epos’ Geld für seine militärischen Aktionen zur Verfügung stellen mit der Aussage „Nós huebos avemos en todo de ganar algo“ (Cantar de Mio Cid, S. 22). 38 Johnson: Inside Guzmán de Alfarache, S. 166. 39 Ebd. 40 So etwa Chandler: Literature and the Delinquent, S. 39f.

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ren heranzieht, sondern seine eigenen Beobachtungen und Gefühle zur Anschauung bringt. Auch im Lazarillo wurde der Stiefvater – wenngleich kein converso, dafür aber ein gleichermaßen stigmatisierter morisco – als eher positive Figur gezeichnet, der mit Diebstählen seine neue Familie ernährt, was bedeutet, dass er sich zwar als Krimineller im juristischen Sinne schuldig macht, aber im moralischen Kontext durchaus seine Integrität bewahren kann. Im Falle des Guzmán jedoch fällt das Urteil seitens des Erzählers über das väterliche Verhalten erheblich unklarer aus und wird durch rhetorische Strategien des Verschweigens („Por no ser contra mi padre, quisiera callar lo que siento“, G I 134) oder des Verallgemeinerns („Estratagemas son de mercaderes, que donde quiere se pratican, en España especialmente, donde lo han hecho granjería ordinaria“, G I 134) verwässert. Mit letzterem macht der Erzähler zudem deutlich, dass das Modell des präbürgerlichen bzw. präkapitalistischen Kaufmanns bereits einige Verbreitung gefunden hat. Wenn er schreibt, dass die Mitglieder der Genueser Handelsfamilie, aus der sein Vater stammt, nach der Emigration nach Italien „fueron agregados a la nobleza“ (G I, 130f), dann darf man davon ausgehen, dass es sich hierbei eher um das Wunschdenken des Bastards handelt oder um einen Hinweis auf den Charakter der Familie als wirtschaftlich bedingte Emporkömmlinge, wie Ruan meint: „The phrase ‚agregados a la nobleza‘ emphasizes the family’s upstart status as well as the desire of the merchant class to belong to the ranks of nobility.“41 Tatsache bleibt jedoch, dass Genua – im Bewusstsein des vulgo – als Ort nicht nur symbolisch für das Judentum, für moralische Dekadenz und Effeminierung steht, sondern ebenfalls für den Handel, mithin einen privilegierten Ort des homo oeconomicus darstellt. Durch diese Mehrfachkodierung der italienischen Handelsmetropole kommt Cros zum Schluss, dass die Genueser Wurzeln des Vaters besonders einflussreich sind: De tous les traits qui lui sont cependant données, ce sont ceux du Génois qui prédominent ; cet élément devient en effet la principale ligne de force de la structure narrative, dans la mesure où l’errance de son fils est elle-même entièrement commandée par le désir qu’a ce dernier de faire la connaissance de sa lointaine famille.42

Die Betonung Cros’ an dieser Stelle ist insofern doppelt aufschlussreich, als hier auf die weitere narrative Struktur des Romans aufmerksam gemacht wird, die

41 Ruan: Pícaro and Cortesano, S. 65. Vgl. zu den historischen Entwicklungen auch: Ruth Pike: Enterprise and Adventure. The Genoese in Seville and the Opening of the New World, Ithaca 1966. 42 Cros: Protée et le gueux, S. 337 (Herv. G S.).

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sowohl innerdiegetisch den topografischen Rahmen von Guzmáns Lebensreise vorzeichnet, aber gleichzeitig eben auch die narrative Struktur pikaresker Männlichkeit im Guzmán begründet, die eindeutig eine paternale Spur verfolgt. So betrachtet unterscheidet sich die männliche Sozialisation des pícaro im Guzmán deutlich von derjenigen im Lazarillo – und auch von derjenigen im Buscón –, da das Hauptmovens der vida picaresca von Anfang an väterlich und damit männlich vorgeprägt ist. Mit anderen Worten: Der narrativen Struktur von Guzmáns Männlichkeit liegt eine paternale Matrix zugrunde, während in den beiden anderen Texten der jeweilige Beginn der Lebensreise mit der Abkehr von der mütterlichen Schande begründet wird. Guzmán verlässt sein Elternhaus ohne sich von seiner Mutter zu verabschieden: „Alentábame mucho el deseo de ver mundo, ir a reconocer en Italia mi noble parentela“ (G I 163). Auch wenn man bereits im Lebensweg des Lazarillo eine symbolische Suche nach einem Ersatzvater sehen konnte, wird im Guzmán diese Sehnsucht des Bastards nach dem väterlichen Prinzip durch dessen Mangel („Era muchacho vicioso y regaloso [...] sin castigo de padre“, G I 163, Herv. G. S.) und das daraus resultierende Begehren (deseo) unmittelbar mitgeteilt. Marthe Robert stellt die Geschichte des Bastards an den Beginn ihrer – am Modell des Freudianischen Familienromans orientierten – archetypischen Ursprungsgeschichte des Romans „mit der Folge, daß der Roman unter der Hand zu einer gänzlich männlichen Gattung mutiert.“43 Sie unterscheidet zwischen dem von allen familiären Banden befreiten Bastard und dem behüteten Findelkind als imaginäre Ursprungsfiguren des Familienromans: Là est bien en effet la ligne de partage des deux grands courants que le roman peut suivre et a effectivement suivis au long de son histoire, car à strictement parler, il n’y a que deux façons de faire un roman : celle du Bâtard réaliste, qui seconde le monde tout en l’attaquant de front ; et celle de l’Enfant trouvé, qui, faute de connaissance et de moyens d’action, esquive le combat par la fuite ou la bouderie.44

43 Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001, S. 104. Erhart gibt zu bedenken, dass die Ursprungsgeschichte Roberts aus geschlechterspezifischer Perspektive reduktionistisch ausfalle, da die Protagonisten – nach Freudianischem Vorbild – ausschließlich, wenn auch unausgesprochen, männlichen Geschlechts seien. Er führt als Gegenbeweis Romane aus dem 19. Jahrhundert an. Für die Gattung der männlichen Pikareske jedoch erweist sich dieser Vorwurf als vernachlässigenswert. 44 Marthe Robert: Roman des origines et origines du roman, Paris 1972, S. 74.

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Robert gibt jedoch zu bedenken, dass die beiden Figuren keineswegs immer strikt zu trennen sind, sondern dass es vielmehr so sei, dass der „Bâtard“ nach Loslösung vom Elternhaus aus dem „Enfant trouvé“ hervorgehe: Le Bâtard en effet ressemble encore par bien des traits à l’Enfant trouvé dont il est issu, et quoiqu’il s’efforce d’accommoder sa pensée aux nécessités de l’expérience, il n’en reste pas moins pour une part variable prisonnier de son ancienne magie.45

Das würde im Fall von Guzmán tatsächlich zutreffen, da er – anders als Lazarillo – ein ‚schlimmer und verwöhnter Junge‘ war und somit wohl kaum Mangel zu erdulden hatte, bevor er die Flucht aus dem Elternhaus antritt. Für die Entwicklung der männlichen Identität, mithin ihre eigene narrative Struktur, sind die Rolle und das Bild des Vaters entscheidend, geht doch schon Freud davon aus, dass der Familienroman des Sohnes sich damit begnügt, „den Vater zu erhöhen, die Abkunft von der Mutter aber als etwas Unabänderliches nicht weiter in Zweifel zu ziehen.“46 Hieraus ergibt sich Robert zufolge die im Hinblick auf die elterlichen Projektionen folgende geschlechterspezifische Dichotomie: „l’une féminine, proche et triviale ; l’autre masculine, lointaine et noble“,47 was konkret für die Vater-Imago folgendes bedeutet: Il [l’enfant, G. S.] relègue son père dans un royaume de fantaisie, dans un au-delà de la famille qui a le sens d’un hommage et plus encore d’un exil, car pour le rôle qu’il joue alors dans l’ordre ordinaire de la vie, ce père royal et inconnu, cet éternel absent pourrait tout aussi bien ne pas exister, c’est un fantôme, un mort auquel on peut certes vouer un culte, mais aussi quelqu’un dont la place est vide et qu’il est tentant de remplacer.48

Zusammenfassend ließe sich konstatieren, dass von den drei hier untersuchten spanischen Schelmenromanen mit männlichen Protagonisten der Guzmán als einziger in dieses Schema des imaginären Familienromans passt und das aus mehrfachen Gründen. Zum ersten hinsichtlich der distinkten Mutter-VaterImagines: Während die Mutter recht eindeutig als dem stereotypen Weiblichkeitsbild der Zeit entsprechende Hure beschrieben wird, als perfekte Verkörperung der „cuenta y reglas de la ciencia femenina“ (G I 157), die in listiger Taktiererei, (von ihrer Mutter ererbter) sexueller Verführungskunst und Habgier be-

45 Ebd., S. 74f. 46 Freud: „Der Familienroman der Neurotiker“, S. 89. 47 Robert: Roman des origines, S. 50. 48 Ebd., S. 51 (Herv. G. S.).

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steht,49 wird der Vater gegen die Insinuierungen der bösen Zungen des vulgo zumindest halbherzig verteidigt und vor allem durch die Gegenüberstellung mit dem alten caballero als eine Art väterlicher Idealtypus des pícaro geschrieben. Die väterliche Herkunft Genua wird ebenfalls mit den Worten Roberts als ‚phantastisches Königreich‘ und ‚Exil‘ gleichermaßen imaginiert, mithin als buchstäblicher Sehnsuchtsort, der den Erzähler schließlich zum Bruch mit der Mutter animiert. Wie noch zu zeigen sein wird, bleibt der Vater tatsächlich während des gesamten Romans als Phantom erhalten, was zum einen daran liegt, dass es immer wieder Doppelgängerfiguren des Vaters gibt, die den Lebensweg des pícaro kreuzen und zum anderen, dass sich der geografische Radius des Romans im Wesentlichen als Dopplung des väterlichen Lebenswegs erweist: von Sevilla nach Genua und wieder nach Sevilla zurück. Somit kann man durchaus sagen, dass hier der verlassene Sohn versucht, den leeren Platz des Vaters einzunehmen. Aufgrund dessen erweist sich die narrative Matrix des Romans als paternalmännlich determiniert, was die narrative Struktur der Männlichkeit des Titelhelden prägt. Erstaunlich dabei ist, dass – im Gegensatz zum Lazarillo – die maternale Prägung kaum Spuren im Text hinterlässt, und das obwohl die Mutter am Ende des Romans noch einmal in persona auftritt und zwar als gealterte und groteske Kupplerin („Halléla flaca, vieja, sin dientes, arrugada y muy otra en su parecer“; G II 462), also immer noch im Dienste der ‚weiblichen Wissenschaft‘ stehend, mit der ihr Sohn noch einen gemeinsamen Betrug an einem Mönch begeht, bevor er schließlich als Galeerensträfling endet. Man kann daher sagen, dass Guzmáns Mutter eine rein literarisch generierte und damit wenig ausdifferenzierte Existenz führt, erweist sie sich doch zu Beginn des Romans noch als Nachfolgerin Lozanas und am Ende dann als würdige Erbin der Celestina, „repeating the life cycle of the aging prostitute who then becomes a procuress.“50

49 Im Rahmen der maternalen Erniedrigung imaginiert der Bastard Robert zufolge (S. 55) die Promiskuität der Mutter: „Condamnée moralement par cela même qui cause sa déchéance sociale, la mère se voit alors imputer autant aventures amoureuses qu’elle a eu d’enfants ou que le conteur est capable d’en inventer, si bien que, perdant ensemble son trône et sa vertu, elle descend aussitôt au rang de la servante, de la femme perdue, voire tout bonnement de la prostituée [...].“ 50 Cruz: „The Parental Trap“, S. 14.

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Bevor nun Guzmán in die väterlichen Fußstapfen tritt und seine zirkulär verlaufende Lebensreise beginnt,51 vollendet der Erzähler mit einem irritierenden Bild das ambivalente Porträt seines Vaters. Nachdem er die Gerüchte zitiert hat, denen zufolge sein Vater nicht nur betrügerisch gewesen sein soll, sondern eben auch ein effeminierter Homosexueller, der sich dank allerlei Pülverchen und Salben sein schönes Äußeres bewahrt hat („Era blanco, rubio, colorado, rizo, y creo de naturaleza“, G I 140), was einige Mediziner der Zeit für eine „enfermedad“ (G I 140) halten, lässt der Erzähler plötzlich ein Monster im Text auftauchen, mit dem das erste Kapitel endet: En año de mil y quinientos y doce, en Ravena, poco antes que fuese saqueada, hubo en Italia crueles guerras, y en esta ciudad nació un monstruo muy extraño, que puso grandísima admiración. Tenía de la cintura para arriba todo su cuerpo, cabeza y rostro de criatura humana, pero un cuerno en la frente. Faltábanle doz brazos, y diole naturaleza por ellos en su lugar dos alas de murciélago. Tenía en el pecho figurado la Y pitagórica, y en el estómago, hacia el vientre, una cruz bien formada. Era hermafrodito y muy formados de dos naturales sexos. No tenía más de un muslo y en él una pierna con su pie de milano y las garras de la misma forma. En el ñudo de la rodilla tenía un ojo solo (G I 140f).

Alemán spielt mit der Schilderung dieser monströsen Erscheinung auf eine Wundergeschichte an, die in seiner Zeit einige Verbreitung erfahren hatte52 und

51 Möglicherweise hat Alemán in seinem Schelmenroman eine diskrete Hommage an seinen Vorgänger platziert, indem er Guzmáns Flucht ausgerechnet auf den Stufen der Kirche von San Lázaro beginnen lässt und ihn am Ende auch wieder dorthin zurückführt, wo den Titelheld eine unwillkürliche Erinnerung an seine Mutter ereilt, die dann auch wenige Seiten später tatsächlich wieder auftaucht (vgl. G I 164 und G II 459). 52 Vgl. dazu die Anmerkungen des Herausgebers José María Micó: „La increíble historia del monstruo de Ravena se difundió muchísimo, y enseguida corrió en español, por ejemplo en la Historia de los Reyes Católicos de Andrés Bernáldez […]. Seguramente llegó a Alemán por vía de A. Pescioni, traductor de las Histoires prodigieuses de Boaystuau Historias prodigiosas y maravillosas de diversos acaecidos en el mundo, Medina del Campo, 1586 (G I 142, Anm. 83). Vgl. auch: Edmond Cros: Contribution à l’études des sources de Guzmán de Alfarache, Montpellier 1967, S. 135-147; vgl. Alan W. Bates: Emblematic Monsters: Unnatural Conceptions and Deformed Births in Early Modern Europe, Amsterdam 2005, S. 22: „Perhaps the best-known of all monstrous births is the monster of Ravenna, illustrations of which are often reproduced on the covers of books and in articles dealing with monstrous births and the history of teratology.“

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die zurückgeht auf die Tagebucheinträge des Florentiner Apothekers Luca Landucci, der von der Geburt dieses Monsters berichtet, die angeblich das Resultat der sexuellen Vereinigung des Papsts mit einer Nonne sei. Dieses Monster fand auch Eingang in wissenschaftliche Studien und phantastische Kompilationen der Zeit, so vor allem in Werke der sog. Teratologie, die sich den menschlichen Missbildungen widmet. Als Vorreiter dieses Nebenzweigs der Medizin gilt der französische Mediziner Ambroise Paré, der eine Zeit lang als erster Chirurg des Königs Charles IX arbeitete und der in seiner populären Studie Des monstres et prodiges (1573, 1585) auch das Monster von Ravenna behandelt. Ihm wurde, lange vor der Erfindung des Urheberrechts, seitens der Faculté Plagiarismus vorgeworfen, da er angeblich Passagen aus der äußerst beliebten Kompilation Histoires prodigieuses (1560) des Autors, Übersetzers und Herausgebers Pierre Boaistuau übernommen haben sollte. Paré führt das Monster von Ravenna gleich zu Beginn seiner Studie unter der Rubrik „Exemple de l’ire de Dieu“ auf, wobei er sowohl auf den Aspekt des Monströsen als auch des Wunderbaren aufmerksam macht: Il y a d’autres créatures qui nous étonnent doublement, parce qu’elles ne procèdent des causes susdites, mais d’une confusion d’étranges espèces qui rendent la créature non seulement monstrueuse, mais prodigieuse : c’est-à-dire, qui est du tout abhorrente et contre nature […]. 53

Bei diesen Monstern handelt es sich um – im Sinne der Etymologie von lat. monere54 – um göttliche Warnungen, wie Michel Jeanneret hervorhebt: „les monstres peuvent avoir été envoyés par Dieu comme des prodiges menaçants, soit qu’ils incarnent tel péché et nous renvoient l’image de notre misère morale.“55 Beate Ochsner schreibt zur Verbreitung der Monster-Kunde in der Frühen Neuzeit: Der definitorischen und funktionalen Proliferation des Monsters und des Monströsen in der Renaissance korrespondiert eine Fülle lexikalischer Zuschreibungen, deren Gebrauch zwar von Autor zu Autor leicht abweicht, deren Bedeutung jedoch gemeinhin darauf hin-

53 Ambroise Paré: Des monstres et prodiges [1585], Paris 2015 hrsg. von Michel Jeanneret, S. 47f. 54 Monstrum geht tatsächlich nicht auf monstrare zurück, sondern nur auf monere im Sinne von ‚warnen‘. 55 Michel Jeanneret: „Préface“, in: Paré: Des monstres et prodiges, S. 7-40, hier: S. 15.

368 | V IR INVERSUS ausläuft, Monster als Zeichen göttlicher bzw. dämonischer Botschaften, Warnungen und Bestrafungen oder aber im Sinne körperlicher Stigmata zu begreifen.56

Ohne diesen Diskurs zu vertiefen, sei hervorgehoben, dass solche monströsen Erscheinungen im kollektiven (und wissenschaftlichen) Bewusstsein der Zeit eine kaum auflösbare Ambivalenz besitzen, was sich bereits im Titel der Werke ankündigt: Einerseits gelten monströse Geburten als veritable Wunder (prodiges), d. h. als göttliche Zeichen, andererseits sieht man in ihnen das Grauenhafte, mithin schlechte Vorzeichen des gesellschaftlichen Niedergangs. So bringt z. B. der benannte Apotheker Landucci die Geburt dieses Monsters in direkte Verbindung mit der Plünderung Ravennas durch französische Truppen im selben Jahr, als unzählige Bewohner der Stadt massakriert wurden. In diesem Zusammenhang weist Bates auf den Status des Exzeptionellen hin, der den Monstern zugesprochen wird: Rather than being ‚forced to fit‘, monsters of the sixteenth and seventeenth centuries often seem to have been made to stand out; thus hermaphroditism (‚participating both of the man and the woman‘), which was said by some early commentators to be against ‚Natural Reason‘, was imposed on the monster of Ravenna in order to emphasize its exceptional status.57

Diesen Fokus der Monster als „choses qui apparaissent outre cours de Nature“58 führt auch der Mediziner Paré an, plädiert jedoch für einen differenzierten Umgang mit solchen Missbildungen, wie Jeanneret betont: Au lieu d’exclure, Paré veut donc faire place à ce qui, même incertain, pourrait exister. Cette posture d’accueil répond aussi à une nécessité théologique : la conviction qu’à Dieu rien n’est impossible et que douter, ce serait l’enfermer dans les bornes de l’esprit humain.59

Es wird deutlich, dass solche monströsen Wundergeschichten an der Schnittstelle mehrerer Diskurse zu verorten sind, um sowohl medizinische Forschungen zu dokumentieren, aber auch um an der Schwelle von Aberglaube und Religion mo-

56 Beate Ochsner: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, Heidelberg 2010, S. 40. 57 Bates: Emblematic Monsters, S. 23f. 58 Paré: Des monstres et prodiges, S. 45. 59 Jeanneret: „Préface“, S. 31.

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raltheologische und politische Botschaften zu verbreiten. Gemein sind jedoch sämtlichen dieser diskursiven Kontexte der Aspekt des Widernatürlichen sowie die Interpretation solcher Zeichen als „warnings from God“ bzw. als „signs of divine intervention“.60 Kennzeichnend ist zudem die Visualisierung solcher monströsen Erscheinungen – oder je nach Kontext: „medical curiosities“61 – in Form von Emblemen (s. Abb. 6), die das Aufsehenerregende noch einmal stärker befördern als es der reine Text vermag: „la comunicación visual es el medio más directo para llegar a las conciencias del pueblo.“62 Man könnte sagen, dass das visuelle Medium des Drucks dazu beträgt, die ambivalente Faszinationskraft solcher Phänomene, die selbst als Medien göttlicher Botschaften interpretiert werden, zu unterstreichen und auch innerhalb der leseunkundigen Schichten auf spektakuläre Weise zu verbreiten. Karin Peters betont die hohe Popularität und Verbreitung emblematischer Visualisierungen im spanischen Barock: „Es ist kein Geheimnis, dass sich viele Autoren und Dramatiker des spanischen Barock an den zeitgenössischen Emblem-Sammlungen bedient haben, wenn sie auf der Suche nach Stoffen und Motiven waren“63; Sofie Kluge geht noch einen Schritt weiter und sieht in allegorischen Emblemen nicht nur den Versuch einer ästhetisch vermittelten ReMoralisierung von Kunst im Zeitalter der Gegenreformation, sondern „[a]n aesthetic mode, a didactic instrument, an ideological weapon, and an intellectual paradigm, allegory is the very vehicle of Baroque culture [...].“64

60 Bates: Emblematic Monsters, S. 24. 61 Ebd., S. 25. 62 Tiziana: Marrazzo: „La imagen del monstruo en las relaciones de sucesos (ss. XVIXVII): entre moraleja y admiración“, in: Artifara: Revista de lenguas y literaturas ibéricas y latinoamericanas 7 (2007). Online-Publikation, abrufbar unter: http://www.cisi. unito.it/artifara/rivista6/testi/monstruo.asp (letzter Zugriff: 18.01.2018). 63 Karin Peters: Der ‚theatrale‘ Grund der Autorität. Rechtsgewalt und phobische Männlichkeit bei Lope de Vega“, in: Uta Fenske/Verf. (Hrsg.): Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht. Narrative von Männlichkeit und Gewalt, Bielefeld 2016, S. 99-130, hier: S. 99; vgl. dazu auch José Antonio Maravall: „La literatura de emblemas en el contexto de la sociedad barroca“, in: ders.: Teatro y Literatura en la sociedad barroca, Madrid 1972, S. 147-188. 64 Sofie Kluge: Baroque – Allegory – Comedia. The Transfiguration of Tragedy in Seventeenth-Century Spain, Kassel 2010, S. 6 (für diesen Hinweis danke ich Karin Peters).

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Abb. 6: Das Monster von Ravenna aus: Pierre Boaistuau: Histoires prodigieuses (1567)

Zurückkommend auf das Auftauchen des Ravenna-Monsters im Guzmán, lässt sich vermuten, dass Alemán sich ebenfalls von solchen emblematischen Visualisierungen körperlicher Deformationen hat inspirieren lassen, die offenbar in Fülle im europäischen Raum zirkulierten, wirkt doch seine Schilderung beinahe wie eine grafische Darstellung. Man könnte sogar so weit gehen, in ihr am Ende des ersten Kapitels in all ihrer Unvermitteltheit einen emblematischen Charakter zu sehen – ein Eindruck, der durch Alemáns eigene Lesart, die einer Art Ekphrasis gleichkommt, noch befördert wird: De aquestas monstruosidades tenían todos muy gran admiración; y considerando personas muy doctas que siempre semejantes monstruos suelen ser prodigiosos, pusiéronse a especular su significación. Y entre las más que se dieron, fue sola bien recebida la siguiente: que el cuerno significaba orgullo y ambición; las alas, inconstancia y ligereza; falta de brazos, falta de buenas obras; el pie de ave de rapiña, robos, usuras y avaricias; el ojo en la rodilla, afición a vanidades y cosas mundanas; los dos sexos, sodomía y brutal bruteza: en todos los cuales vicios abundaba por entonces toda Italia, por lo cual Dios la castigaba con aquel azote de guerras y disensiones. Pero la cruz y la Y eran señales buenas y dichosas, porque la Y en el pecho significaba virtud; la cruz en el vientre, que si, reprimiendo las torpes carnalidades, abrazasen en su pecho la virtud, les daría Dios paz y ablandaría su ira (G I 142).

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Diese Deutung, die versucht, den „glosario del lenguaje divino“65 zu dechiffrieren, zeigt auf, dass die monströse Erscheinung keineswegs nur Bezug auf die insinuierte Effeminierung des Vaters nimmt, sondern tatsächlich in Form eines Emblems auf weitreichendere Zusammenhänge verweist. Die ambivalente Figur des Vaters dient hier lediglich als Auslöser für die Darstellung des emblematischen Ravenna-Monsters und seiner zahlreichen Deformationen. Da es sich jedoch beim Titelhelden um eine imitatio patris handelt, darf man in der monströsen Erscheinung nicht nur ein verzerrtes Emblem des pícaro selbst sehen, sondern der vida picaresca als solcher. „A partir de él, por una suerte de desplazamiento metonímico, Mateo Alemán parece mostrarnos la imagen picaresca de su personaje como un signo monstruoso que carga un significado moral.“66 Durch die Lokalisierung „toda Italia“ wird der allegorische Charakter der Monsterfigur hervorgehoben, und man darf mit Blick auf den gesamten Roman getrost davon ausgehen, dass Spanien mitgemeint sein dürfte67 und aus eher strategischen Gründen verschwiegen wurde, d. h. es handelt sich hier um „una alegoría que representa la vida licenciosa deformada por el pecado y el vicio.“68 Daraus ergibt sich folgendes konzentrisches Beziehungsgeflecht: Vater – Sohn – Gattung – Nation – Gott, was nun näher ausgeführt werden soll: Als Auslöser für die monströse Erscheinung dient, wie bereits gesagt, auf der Textebene die insinuierte Verweiblichung des Vaters mit eindeutigen Anspielungen auf dessen sodomitische Veranlagung und das wohlgemerkt, obwohl der Vater gleichermaßen als Frauenheld dargestellt wird, dessen Schönheit das andere Geschlecht dazu bringt, ihn wie eine „divinidad“ (G I 144) zu verehren. Dies

65 María José Vega Ramos: „El fin del mundo, la monstruosidad y los prodigios en el siglo XVI“, in: Ángel Vaca Lorenzo (Hrsg.): En pos del tercer milenio. Apocalíptica, mesianismo, milenarismo e historia, Salamanca 2000, S. 103-135, hier: S. 123. 66 Carlos Yushimito del Valle: „Del prodigio de Rávena al Guzmán de Alfarache: Una lectura de la monstruosidad del cuerpo social picaresco en el contexto didáctico de la Contrarreforma“,

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http://www.ucm.es/info/especulo/numero46/guzmanal.html, Madrid 2010 (letzter Zugriff am 12.01.2018). 67 Vgl. ebd.: „El final del Capítulo I del Guzmán de Alfarache, en el que el narrador y protagonista, Guzmanillo, cuenta quién fue su padre, apela significativamente al monstruo de Rávena para denunciar la degeneración moral de la sociedad italiana (y, por extensión, la española), con la misma intencionalidad pedagógica que observamos ya en crónicas y tratados teratológicos“ (Herv. G. S.). 68 Ebd.

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wiederum wird zurückgeführt auf Praktiken, die man entsprechend des binären Geschlechtermodells einzig Frauen zuschreibt: Pero si es verdad, como dices, que se valía de untos y artificios de sebillos, que los dientes y manos, que tanto le loaban, era a poder de polvillos, hieles, jabonetes y otras porquerías, confesaréte cuanto dél dijeres y seré su capital enemigo y de todos los que de cosa semejante tratan; pues demás que son actos de afeminados maricas, dan ocasión para que dellos murmuren y se sospeche toda vileza, viéndolos embarrados y compuestos con las cosas tan solamente a mujeres permitidas, que, por no tener bastante hermosura, se ayudan de pinturas y barnices, a costa de su salud y dinero (G I 140).69

Wenn der Erzähler im direkten Anschluss noch von der „afrenta de todas las afrentas“ (G I 141) spricht, derer sich jene effeminierten Männer schuldig machen, wird deutlich, dass es sich um gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken handelt, die hier inkriminiert werden. Federico Garza Carvajal hat etwa in seiner Kulturgeschichte der Verfolgung gleichgeschlechtlicher Praktiken im frühneuzeitlichen Spanien umfassend dargestellt, dass sich die Sodomie seit einer entsprechenden Pragmática der Reyes Católicos aus dem Jahr 1497 in der Hierarchie der schlimmsten Sünden an der obersten Stelle befand – noch vor Inzest, Vergewaltigung und sexuellen Akten mit Priestern oder Nonnen.70 Sodomie galt

69 Entsprechend der zirkulären Struktur des Romans wird dieser Aspekt der geschlechtsspezifischen binären Zuordnung von Praktiken, konkret: des Schminkens, am Ende des Romans noch einmal aufgegriffen, kurz bevor Guzmán heiratet und jungen Frauen Ratschläge für die Wahl des richtigen Bräutigams erteilt. Das Vermögen sollte den Ausschlag geben und keinesfalls das Aussehen: „Otras hay que, porque vieron un mocito engomado y aun quizá lleno de gomas, como razo de Valencia, con más fuentes que Aranjuez, pulidetes más que Adonis, aderezados para ser lindos y que se precian dello, como si no fuesen aquellas curiosidades vísperas de una hoguera… (Sea la mujer, mujer, y el hombre, hombre. Quédense los copetes, las blanduras, las colores y buena tez para las damas que lo han menester y se han de valer dello. Bástale a el hombre tratarse como quien as. Muy bien le parece tener la voz áspera el pelo recio, la cara robusta, el talle grave y las manos duras)“ (G II 393f). 70 Vgl. Federico Garza Carvajal: Butterflies will burn: Prosecuting Sodomites in Early Modern Spain and Mexico, Austin 2003, S. 50. Siehe auch ebd., S. 51: „Finally, the moralists defined the pecado contra natura as the gravest of the lustful sins, for as a direct offense to God, this sin altered the image of his creation and disturbed the natural order of things.“

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als „sin and crime contra natura“71, wurde – wie die Pest – als ansteckend gefürchtet und führte zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Beschreibungen so genannter Sodomiten erfolgten „in terms of social, economic, or scientific factors such as cancer, widespread disease, and contamination, the emphasis was inevitably on degradation and the diabolical.“72 Vor allem diskriminierte Bevölkerungsgruppen wie Juden, indigene Einwohner der Neuen Welt und befeindete Nationen wie Italien wurden bevorzugt als effeminiert und/oder sodomitisch diffamiert, wodurch sich die intersektionalen Kategorien von race und gender verschränken. Der Sodomit fungierte demnach als massive Bedrohung des spanischen männlichen Idealtypus – etwa des Ritters oder Klerikers – und diente gleichzeitig dazu, dieses Idealbild ex negativo zu konturieren: The Spanish Monarchs did not only resurrect past discourses of sodomy to justify the prosecution of sodomites. The all turned to the theologians and other writers alike for additional inspiration for the perfect early modern Spanish Man.73

Indem Guzmán diese Vorwürfe des Pöbels gegen seinen eigenen Vater anführt, wird scheinbar die moralische Verkommenheit seiner Herkunft auf die Spitze getrieben, wie Parker bemerkt: „There is hardly any sin, either against God or man, which Guzmán does not impute on his father.“74 Den konkreten Vorwurf der Homosexualität hält Parker für „absolutely unnecessary“,75 da alle weiteren Sünden schon aussagekräftig genug seien, was die paternale Degradation angehe. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Guzmán hier nicht direkt seinen Vater beschreibt, sondern lediglich die Insinuierungen seitens der malas lenguas kolportiert, was ein Urteil unmöglich macht. Es geht also sowohl um die angebliche Schande des Vaters als auch um die fatale Macht gesellschaftlicher Zuschreibungen, die dem Vater jegliche männlich kodierte Ehrhaftigkeit aberkennen, und das gleich auf dreifache Weise, wenn man bedenkt, dass sich im Bild des Sodomiten sowohl religiöse-ethnische, nationale als auch ökonomische Diskriminierungsstrategien miteinander verschränken: der sodomitische und jüdische Wucherer aus Italien. Im Zentrum dieses Negativbilds steht die monströse Männlichkeit des Vaters, die in Form einer emblematischen Analogie mit dem Monster von Ravenna in Verbindung gebracht wird, wobei als tertium comparationis

71 Ebd., S. 39. 72 Ebd., S. 31. 73 Ebd., S. 44. 74 Parker: Literature and the Delinquent, S. 39. 75 Ebd.

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zunächst das Widernatürliche fungiert – Foucault beschreibt z. B. das monstre humain als „la forme naturelle de la contre-nature.“76 Dann kann unter dem Stichwort „gran admiración“ (G I 142) die Sensationslüsternheit der Gesellschaft geltend gemacht werden, die sowohl durch monströse Erscheinungen als auch Diffamierung anderer ihr Futter bekommt, wie es die Klatschgöttin Fama stets eingefordert hat und als deren Botschafter auf Erden man hier das Monster von Ravenna lesen kann. Wenn nun das Monster von Ravenna zunächst mit dem hybriden Bild des Vaters in Verbindung gebracht wird, erweist sich dieses als ähnlich zusammenmontiert wie der Männlichkeitsentwurf Lazarillos am Ende des Romans, der ebenfalls gegen die Macht des Klatsches zu kämpfen hatte, während er selbst sich selbst als vollkommen arriviert empfindet. Jenseits aller unmoralischen Vorwürfe, die den Verlust von honra feststellen, fällt doch sowohl im Guzmán als auch im Lazarillo auf, dass der gesellschaftliche Todesstoß der malas lenguas – hier wie dort als Repräsentanten der opinión pública – mitten ins Herz des jeweiligen Männlichkeitsentwurfs der Figuren zielt: Lazarillo droht die Aberkennung seiner männlichen Ehre, da seine Ehefrau fremdgeht; Guzmáns Vater steht im Verdacht sich der „sodomía y brutal bruteza“, d. h. der Schande aller Schanden schuldig gemacht zu haben. Aber auch die weiteren Sünden, die das hermaphroditische Monster zur Schau stellt, erschüttern die Männlichkeit aufgrund ihres effeminierenden Subtexts: „orgullo“, „inconstancia y ligereza“, „avaricia“ und „afición a vanidades“. Dies zeigt einmal mehr, dass man die honra des Individuums am leichtesten in Zusammenhang mit öffentlichen Angriffen auf die Männlichkeit beschädigen oder gar vernichten kann, aber auch, wie sehr Geschlechtlichkeit erst durch das Wahrgenommenwerden seitens der Anderen konstituiert wird. Dass der emblematische Charakter des Monsters nicht nur mit dem Vater, sondern auf konzentrische Weise auch mit der Gesellschaft bzw. dem Staat in Verbindung gebracht wird, evoziert hier die Metapher des deformierten Staatskörpers, wie auch Yushimito del Valle konstatiert: Si en las imágenes habituales de la tradición teratológica, el cuerpo deforme tendía a leerse como ,metáfora del Estado‘ (Vega 1995: 232), el reclamo de Alemán, en tanto atalaya, también parece referirse a un espacio en corrupción, en el que la aparición del pícaro y las

76 Michel Foucault: Les anormaux. Cours au Collège de France, 1974-1975, unter der Leitung von François Ewald und Alessandro Fontana hrsg. von Valerio Marchetti und Antonella Salomoni, Paris 1999, S. 52.

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actividades marginales que afectan a la sociedad española del XVI (la pobreza o la mendicidad, entre otras), son sólo signos de un cuerpo social enfermo que necesita ser sanado.77

Dieses Bild des kranken und im Sinne Bachtins grotesken Sozialkörpers drängt sich tatsächlich auf, ist aber angesichts seiner Platzierung im Guzmán unvollständig. Durch die unmittelbare Nähe zum Porträt des Vaters und dessen semiotische Verschränkung mit dem Bild des Monsters geht es hier nicht nur um den moralisch deformierten Sozialkörper, sondern ganz besonders um den patriarchalisch dominierten Staatskörper, der hier ausgestellt wird. Foucault schreibt, dass der Begriff des Monsters im Wesentlichen eine „notion juridique“ sei und zwar „au sens large du terme, puisque ce qui définit le monstre est le fait qu’il est, dans son existence même et dans sa forme, non seulement violation des lois de la société, mais violation des lois de la nature.“78 Im vorliegenden Fall wird durch den Konnex Vater – Monster die lex patris, die insbesondere im monarchistischen Staatsgefüge den Charakter eines Naturrechts besitzt, als missgestaltet und korrumpiert vorgeführt. Der erste Teil des Romans beginnt also mit diesem emblematischen und zugleich warnenden Bild des Vatermonsters, während der zweite Teil mit dem Bild des „atalaya“ eröffnet. Es liegt demnach nahe, in beiden Bildern einen Parallelismus zu sehen und tatsächlich bezieht sich ersteres auf den Vater und letzteres auf seinen Sohn, der sich als „Atalaya de la vida humana“ in Szene setzt. In beide Bilder sind moraltheologische Diskurse eingeschrieben: das Monster als Visualisierung des Zorn Gottes und der Wachturm als Sinnbild der paternal-göttlichen Abwehr von Bedrohungen moralischer Art: [...] l’allégorie de l’atalaya va acquérir une dimension pastorale qui, dans la mouvance de la stratégie défensive du catholicisme face au schisme protestant, dessine les contours d’une politique chrétienne rénovée. [...] ‚el oficio de atalaya‘ consiste en effet davantage à être la conscience de la république.79

77 Yushimito del Valle: „Del prodigio de Rávena al Guzmán de Alfarache“. Der Autor zitiert hier folgenden Aufsatz: María José Vega Ramos: „La monstruosidad y el signo: formas de la presignificación en el renacimiento y la reforma“, in: Signa. Revista de la Asociación Española de Semiótica 5 (1995), S. 225-242. 78 Foucault: Les anormaux, S. 51. 79 Michel Cavillac: Gueux et marchands dans le Guzmán de Alfarache (1599-1604). Roman picaresque et mentalité bourgeoise dans l’Espagne du Siècle d’Or, Bordeaux 1983, S. 298f.

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Wenn man bedenkt, dass im Volksglauben auch in den Monstergeburten warnende, von Gott stammende Vorzeichen gesehen wurden und auch Guzmán der Schilderung des Monsters eine Warnung vorausschickt („A ti servirá de aviso y a mí de consuelo, como mal de muchos“, G I 141), wird die Analogie monstruo – atalaya offenkundig und damit zusammenhängend die Engführung von Vater und Sohn. Konkret gilt es festzuhalten, dass der atalaya als Inversion des monstruo fungiert: Die Kategorien ‚ganz unten‘ und ‚ganz oben‘ werden gegeneinander ausgespielt, wobei die Identifikation Guzmáns mit dem atalaya, der im Übrigen auch ein gängiges Bild für den obersten aller Väter, nämlich den Papst repräsentiert,80 auf seine Bekehrung am Ende des Romans anspielt. Durch die wenigen positiven Attribute des Monsters, die aus den beiden Einschreibungen des Kreuzes und des Y bestehen und die auf die Milde Gottes hinweisen, die er im Falle einer Abkehr der Menschen von der Lasterhaftigkeit walten lässt, wird bereits der atalaya am Horizont der Diegese sichtbar. Allerdings lässt die bereits geschilderte Unglaubwürdigkeit dieser Abkehr im Angesicht der Konversion Zweifel aufkommen, ob der Menschheit tatsächlich noch zu helfen ist oder ob das Bild des Monsters, in dem Foucault durchaus kosmologische Züge erkennt,81 nicht zum dauerhaften Emblem der künftigen korrupten Gesellschaft avancieren wird. Dass tatsächlich das Monster „le grand modèle de tous les petits écarts“ darstellt bzw. „le principe d’intelligibilité de toutes formes – circulant sous forme de menue monnaie – de l’anomalie“,82 lässt der Schluss des ersten Kapitels erahnen: Ves aquí, en caso negado, que, cuando todo corra turbio, iba mi padre con el hilo de la gente y no fue solo el que pecó. Harto más digno de culpa serías tú, si pecases, por la mejor escuela que has tenido. Ténganos Dios de su mano para no caer en otras semejantes miserias, que todos somos hombres (G I 142).

Diese Apologie des Vaters stellt das an Paulus orientierte Menschenbild des Erzählers da, demzufolge alle Menschen Sünder sind und dennoch auf die Gnade Gottes und somit auf Erlösung hoffen dürfen.83 Mit dem frühen Verweis, dass

80 Ebd., S. 299: „L’avertissement concernait également le Pape, ‚principal Atalaya de toda la Iglesia‘ [...].“ 81 Vgl. Foucault: Les anormaux, S. 53. 82 Ebd., S. 52. 83 Vgl. dazu auch Yushimito del Valle: „Del prodigio de Rávena al Guzmán de Alfarache“: „Leída desde una perspectiva moral, sin embargo, la irrupción del monstruo es, también, una ambivalente justificación de la criminalidad del padre: una crítica am-

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der Mensch aus der „masa de Adam“ (G I 130) hervorgehe und dem sich anschließenden berühmten Merksatz „La sangre se hereda y el vicio se apega“ (G I 130) übt der Erzähler nicht nur Kritik am aristokratischen Leitbild der limpieza de sangre, sondern rückt die Erbsünde in den Vordergrund und damit eben auch die Figur des sündigen Vaters („las culpas de sus padres“, G I 130), dessen Verfehlungen keine Auswirkungen auf die Söhne haben, denn sie selbst entscheiden über ihren eigenen Lebensweg.84 Die adamitische Genealogie des Vaters wird noch dadurch hervorgehoben, dass er und Guzmáns Mutter sich in einem lieblichen Garten auf dessen Landgut San Juan de Alfarache ihren Begierden hingeben und eben dort – so legt es der Erzähler nahe – den Titelhelden in einem Akt des engaño zeugen. Durch diese Bezüge wird zwar die eigene Herkunft als sündig dargestellt, aber völlig anders als im Lazarillo wird durch die theologischen Diskurse der soziale Determinismus entschärft zugunsten einer Gnadentheologie, die auf gute Taten zu Lebzeiten setzt und mithin auf das Seelenheil im Jenseits ausgerichtet ist, das wiederum im Vorgänger keine Rolle spielt. Der Verdacht liegt nahe, dass diese moralistischen Erläuterungen ausgerichtet sind auf das Ende des Romans und auf das Konversionserlebnis des vorgeblich Geläuterten vorausweisen, der sich dann schließlich selbst zum atalaya erhebt: „Une fois établi le référent adamique du discours guzmanien, il convient d’en examiner le fonctionnement dans le processus transformationnel qui permet à l’actant (picaro aliéné) de devenir son propre narrateur (omniscient atalaya)“85 – mit anderen Worten: vom Saulus zum Paulus. Dieser paulinischen Logik zufolge wäre in Bezug auf die narrative Struktur des Guzmán ein Leben im Schatten der Erbsünde erst die notwendige Grundlage für die Konversion: sündigen, um davon in pädagogischer Absicht zu erzählen. So erklären sich – ebenfalls mit Blick auf die Narration – auch die zahlreichen moralistischen Digressionen: Hier nämlich

bigua contra el linaje y la transmisión hereditaria de las culpas que apela a la figura teratológica-moral del monstruo de Rávena para terminar desplazándola hacia una semántica de la condición picaresca. […] Esta exoneración ex populo de la culpa paterna es, así, una afirmación que proyecta la condición simbólica del padre/monstruoso hacia una sociedad/monstruosa“ (Herv. G. S.). 84 Auf den gesellschaftskritischen Aspekt dieses Menschenbilds macht auch Cavillac aufmerksam: „Dans la société d’Ancien Régime, soumise au culte du père, une telle anthropologie n’était pas innocente : elle s’inscrivait en faux contre le principe nobiliaire du ‚On est comme on naît‘ [...] dont l’idéalisme racial se trouvait dès lors en contradiction avec les prémisses de la pensée chrétienne.“ In: Cavillac: Gueux et marchands, S. 85. 85 Ebd., S. 83.

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meldet sich der Geläuterte zu Wort, um die Vergehen des Titelhelden einzubetten in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge: „todos somos hombres“ – alle Menschen sind Sünder. Der Atalaya de la vida humana dient demnach als Apologet des pícaro und der Menschheit insgesamt: „yo y todos somos unos“ (G I 364f) bzw. „somos hombres y todos pecamos en Adán“ (G II 350), wie es später lautet.86 Um nun auf das Bild des Monsters von Ravenna zurückzukommen: Die beiden Symbole, die das Monster auf seiner Brust zur Schau stellt und die von Guzmán als hoffnungsvolle Zeichen gedeutet werden, stehen mit dem paulinischen Menschenbild in enger Verbindung: Das Kreuz steht für Jesus, also den ‚neuen Adam‘, der die Sünden des ersten Adams tilgt und das Y repräsentiert die bifurkative Struktur des Lebenswegs, mithin die Wahlmöglichkeit des Individuums, sich für das Gute oder Schlechte zu entscheiden. Dass nun Guzmáns Lebensweg eine imitatio patris darstellt, wird demnach nicht als hereditärer Determinismus interpretiert, sondern als das Ergebnis einer individuellen Wahl, die jedoch keineswegs im luftleeren Raum stattfindet, sondern inmitten einer Gesellschaft, die ebenfalls aus Sündern besteht – todo somos hombres. Insofern erschließt sich einmal mehr die Funktion des emblematischen Monsters als Symbol für die Verkommenheit der Gesellschaft, aber eben auch als Zeichen der Hoffnung auf die Erlösung durch die Gnade Gottes. Damit erhält die Schilderung der monströsen Erscheinung tatsächlich den Charakter einer Roman-Ouvertüre – und zwar eines Romans, die den Weg vom paternalen „monstre moral“87 zum papalen atalaya beschreibt. Dass dieser Weg der Läuterung über den Umweg der Delinquenz führt, ist Foucault zufolge dem Monströsen inhärent. Er schreibt von einem Wandel, „qui est en quelque sorte l’autonomisation d’une monstruosité morale, d’une monstruosité de comportement qui transpose la vieille catégorie du monstre, du domaine du bouleversement somatique et naturel au domaine de la criminalité pure et simple.“88 Für diesen Prozess der Ent-Somatisierung des Monströsen steht bei Alemán der Lebensweg des pícaro und er gehört zur Grundvoraussetzung des Geläuterten, wie auch Yushimito del Valle konstatiert: „A fin de cuentas, como el monstruo de Rávena, deformidad y redención se expresan aquí igualmente en el pro-

86 Vgl. zum häufigen Auftauchen solcher Formeln im Guzmán Michel Cavillac: „El diálogo del narrador con el narratario en el Guzmán de Alfarache de Mateo Alemán“, in: Criticón 81/82 (2001), S. 317-330, bes.: S. 319f. 87 Foucault: Les anormaux. S. 69. 88 Ebd., S. 68f.

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pio síntoma: la imagen disforme (viciosa) del pícaro acompaña el discurso que lo interpreta y, al mismo tiempo, ofrece su salvación.“89 Man könnte nun sagen, dass durch den Hermaphrodismus des Monsters die Sündhaftigkeit in gewisser Weise geschlechtlich unmarkiert ist, da ja nicht nur alle Männer, sondern alle Menschen Sünder sind. Aber dadurch, dass diese hybride Figur innerdiegetisch so stark an die Figur des Vaters gekoppelt, auf gesellschaftlicher Ebene an die lex patris des Ancien Régime und auf theologischer Ebene an die ‚Erbmasse Adams‘ rückgebunden wird, zeigt sich deutlich, dass der anthropologische Sünden- und Gnadendiskurs ein patriarchalischer ist, in dem die Hypostasierung des Männlichen zum Allgemein-Menschlichen zu beobachten ist. Im Rückschluss ließe sich behaupten, dass Männlichkeit bei Alemán mit Väterlichkeit identifiziert wird. Dies wird noch auf die Spitze getrieben, wenn man sich vor Augen führt, dass Guzmán eben nicht nur einen, sondern zwei Väter hat, aber dafür keinen Sohn zeugt und damit die paternale Linie unterbricht. Zu fragen wäre an dieser Stelle zunächst, warum sich Guzmán den schönen Genueser als väterliches Vorbild wählt und nicht den adeligen Altchristen bzw. warum die narrative Struktur pikaresker Männlichkeit bei Alemán sich am Bild des betrügerischen Wucherers orientiert und nicht an demjenigen des ruinösen caballero. Durch die bereits beschriebene Polarisierung der beiden Vaterfiguren in jung und schön versus alt und gebrechlich gibt der Erzähler bereits Gründe für die Entscheidung vor. Nina Cox Davis führt des Weiteren an, dass der hedonistische Lebensstil der Genuesers den Ausschlag gegeben haben mag: „Guzmáns predecessors enjoyed the life that Alemán hinted the narrator will seek for himself – as ‚agregados a la nobleza‘ (attached to nobility) they were, in effect ‚accepted as courtiers.‘“90 Diese Erklärung geht auf Fragen des Habitus zurück, also die Tatsache, dass der Habitus des ‚adeligen‘ Kaufmanns dem jungen Helden attraktiver erscheint als der des viejo caballero. Ruth Pike charakterisiert das Weltbild des Genueser Kaufmanns wie folgt: In the Genoese scheme of values there were only two lives, the temporal and the eternal. That third life so vital to the Spaniards of the Golden Age – the life of fame – was not important. Neither valiant deeds nor self-sacrifice for a higher cause, or even the desire to perpetuate their names through personal distinction, mattered to the Genoese merchants. They lived to the fullest extent, tried to ensure their salvation, and when they died they left

89 Yushimito del Valle: „Del prodigio de Rávena al Guzmán de Alfarache“. 90 Nina Cox Davis: Autobiography as Burla in the Guzmán de Alfarache, Lewisburg/London/Toronto 1991, S. 44.

380 | V IR INVERSUS to their heirs their account books, personal belongings, property, and cash. Even if funds were left for charitable purposes, this was not done to perpetuate their names, but to comply with the requisites of religion and society.91

Der Lebensentwurf des Merkantilismus folgt demnach vor allem materialistischen und ökonomischen Prinzipien, während der alte Adel als nutzlos und parasitär bewertet wird – man könnte sagen, dass der viejo caballero im Guzmán die gealterte Version des Escudero aus dem dritten Kapitel des Lazarillo verkörpert, wobei einschränkend hinzugefügt werden muss, dass der Alte zusätzlich noch der Staatskasse auf der Tasche liegt. Pike macht zudem deutlich, dass es den reichen Kaufleuten möglich war, durch den Kauf von Adelsbriefen selbst in den Adel aufzusteigen, wodurch die Traditionen des Blutsadels unterlaufen wurden; Adel und Handel wurden plötzlich kompatibel: Merchants solicited these posts not only for the social prestige inherent in them, but also for the economic advantages and exemptions they brought. […] [F]or all over western Europe during the sixteenth and seventeenth centuries there was a strong tendency toward the ennoblement of the middle class. […] Spanish traditional thought held that nobility and trade were incompatible, and that a noble would lose his status if he entered such a profession. […] Regardless of the contemporary opinion […] there is no evidence that the Sevillian nobility felt dishonored because of their mercantile activities. On the contrary, they believed that trade and nobility were compatible, and that they could engage in commerce without any loss of status or prestige.92

Das neue Modell des Kaufmanns nivelliert folglich die starren Standesgrenzen zwischen Adel und aufstrebendem Bürgertum: Habitus und Status werden zu Fragen des Geldes, weniger des Blutes. Die ausführlich dargestellten Negativurteile über den Vater Guzmáns lassen sich vor diesem Hintergrund auch lesen als „the negative concept of this ‚other‘ promoted by the Old Christian hegemony“93, d. h. als kollektive Abwehrmechanismen des Traditionellen gegen das Neue. Altchristentum und neuer Adel spiegeln sich in der leitmotivischen AltJung-Dichotomie der beiden Vaterfiguren wider, stehen doch Jugend und Alter repräsentativ für das Vergangene und das Zukünftige von Werten und Idealen, weshalb es kaum verwundert, dass sich Guzmán mit seinem Bekenntnis zum

91 Ruth Pike: Enterprise and Adventure, S. 15. 92 Ebd., S. 38. 93 Cruz: Discourses of Poverty, S. 99.

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jungen Vater für die Zukunft entscheidet, wenn er seine Lebensreise antritt. Der gebrechliche caballero hingegen verkörpert den „arcaísmo de una clase inútil y destinada a desaparecer.“94 Cavillac zufolge stehen beide Figuren aufgrund der wiederholten Betonung der unterschiedlichen Lebensalter auch exemplarisch für den ‚alten‘ und den ‚neuen Adam‘,95 weshalb auch vor dem Hintergrund der abschließenden Konversion des Titelhelden die Entscheidung für den jungen Kaufmann aus theologischer Perspektive erklärt wird, hatte dieser sich doch – wenngleich aus eher opportunistischen Gründen – nach diversen Konversionen auch abschließend zu Jesus Christus bekannt („rediciéndose a la fe de Jesucristo“, G I 133).96 Mit der Entscheidung für den Genueser bekennt sich Guzmán aber vor allem auch zum Männlichkeitsentwurf des mercader, womit Alemán trotz 45-jähriger Verspätung nahtlos an das Ende seines anonymen Vorgängers anknüpft, wo ja bereits der hombre de bien bzw. der homo oeconomicus als das inoffizielle Zukunftsmodell iberischer Männlichkeit in Szene gesetzt wurde. Analog lautet es im Guzmán auf trügerische Weise idealisierend: „ser uno mercader es dignidad“ (G II 374) – trügerisch insofern, als der Handel oft genug mit Wucherei und Betrug in eins gesetzt wird. Ansonsten werden Guzmáns eigene Aktivitäten als Kaufmann mit exakt denselben Worten beschrieben wie diejenigen seines Vaters: „Y, si habéis de ser mercader, seáis mercader, poniendo aparte todo aquello que no fuere llaneza, pues no se negocia ya sino con ella y con dinero: cambiar y recambiar“ (G II 369).97 Derjenige, der hier spricht, ist der Schwiegervater Guzmáns, mit dem er in Madrid gemeinsam ein florierendes Wuchergeschäft betreibt, bevor er schließlich bankrott geht. Dieser ist einer jener paternalen Doppelgängerfiguren, die Guzmán auf seinem Lebensweg immer wieder begegnen. Dass sich nämlich der ausgediente altchristliche Adel und die aufstrebende Schicht der Kaufleute zur Zeit um 1600 noch recht unversöhnlich gegenüber stehen, illustriert Alemán, in-

94 Cavillac: „La cuestión del ‚padre‘“, S. 162. 95 Ebd., S. 160. 96 Die beiden Tatsachen, dass Guzmáns Vater nach seiner Wiederentdeckung des Glaubens an Jesus Christus weiterhin sein betrügerisches Unwesen treibt und dass Guzmáns Lebensweg bis in kleinere Details hinein eine imitatio patris darstellt, lassen abermals erhebliche Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner eigenen Bekehrung am Ende des Romans aufkommen. 97 Im ersten Teil lautet es über die Kaufmannsfamilie von Guzmáns Vater: „Era su trato el ordinario de aquella tierra, y lo es ya por nuestros pecados en la nuestra: cambios y recambios por todo el mundo (G I 131).“

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dem er, wie bereits angedeutet, beide Väter immer wieder in Form solcher Doubletten wiederkehren lässt – als spektrale Väter sozusagen. Das erste Paar dieser Art ist der Kardinal und der französische Botschafter in Rom, für die Guzmán nacheinander als Diener arbeitet. Obwohl der selbst aus altem Adel stammende „Monseñor ilustrísimo Cardenal“ (G I 429) als die einzige Figur geschildert wird, „a quien sólo caridad movía“ (G I 428), d h. als das Gegenteil vom clérigo im Lazarillo,98 wird der Kardinal doch auch als naschsüchtiger Doppelgänger des viejo caballero vorgeführt, „cuyo senil paternalismo y desmedida afición a las golosinas están a la medida de su impotencia para reformar a Guzmanillo, el cual, por el contrario, se contagia de los vicios de su amo (el juego, la gula, las burlas de mal gusto).“99 Auch der Hang zum häufigen Harndrang („acertó a darle gana de orinar“, G I 441) verbindet den Kardinal auf der motivischen Ebene mit dem gebrechlichen Alten. Da der Kardinal Gefallen an Guzmáns Streichen findet, was dem Gebot der klerikalen Sittenstrenge zuwiderläuft, ist der pícaro nicht nur Page des Kardinals, sondern auch sein Hofnarr („como de un juglar“, G I 455). Mit anderen Worten: Der Kardinal entpuppt sich als zwar gütiger Lebemann, der seinen Diener jedoch aufgrund seiner Lust am Spiel und seinem Hang zur Völlerei zu sehr an den alten Kavalier erinnert, weshalb er sich aus dessen Fesseln schnell befreit und flieht. Vom Ende aus betrachtet erweist sich die Anstellung beim Kardinal als letztes retardierendes Moment innerhalb von Guzmáns moralischem Abstieg: Guzmán wird nun endgültig zum „hombre definitivamente perdido.“100 Die Entscheidung, der wohl behüteten Enge zu entfliehen, so wie er auch einst seine überbehütende Mutter geflohen ist, begründet der Erzähler folgendermaßen: „Estoy cierto que quien me engendró me hubiera aborrecido y dejado de la mano, cansado de mis cosas“ (G I 461). So wie der Wunsch, das Reich der Mutter zu verlassen, mit der Sehnsucht begründet wird, in das Reich des Vaters

98

Dennoch gibt es auch eindeutige Anspielungen auf den Vorgänger, da im Ankleidezimmer des Kardinals eine Holzkiste mit Naschereien steht, die – wie im Lazarillo – zum Gegenstand von kleinen Duellen zwischen Herr und Diener wird (vgl. G I 438ff). Allerdings geht es hier nicht um den Überlebenskampf des pícaro, sondern um den Spieltrieb und die Befriedigung schlechter Angewohnheiten: „las malas mañas que apprendí, me quedaron indelebles“ (G I 440). Vgl. zum Motiv der Kiste Gonzalo Sobejano: „De la intención y valor del Guzmán de Alfarache“, in: Romanische Forschungen 71 (1959), S. 267-311, bes. S. 273f.

99

Cavillac: „La cuestión del ‚padre‘“, S. 164.

100 Vgl. dazu das Kapitel „Los determinismos“ in: Edmond Cros: Mateo Alemán: Introducción a su vida y a su obra, Salamanca 1971, S. 131-133, Zitat: S. 132.

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zu fliehen, so wird auch hier das väterliche Gesetz als Erklärung herangezogen. Die paternale Matrix determiniert mithin auch an zentralen Stellen den Verlauf des Plots und somit auch die narrative Struktur von Guzmáns Männlichkeit. In seinem eigenen Familienroman bemüht er sich stets mithilfe von Idealisierung um die Imitation des Vaters, auch wenn – oder eher weil? – der erwachsene Erzähler konstatiert, dass man von einem schlechten Vater sein ganzes Leben geschenkt bekommt: „de un mal padre toda la vida (G I 463). So wird aus Guzmáns Geschichte zusehends die des biblischen „hijo prodigo“ (G I 464), der erst am Ende zurückkehrt in den Schoß des obersten Vaters, nämlich in Gottes Obhut. Bis dahin erweist sich der französische Botschafter, mit dem der erste Teil des Romans schließt und der zweite beginnt, als „imagen del padre ideal“, d. h. als „avatar del padre-mercader“101. Für ihn arbeitet Guzmán abermals als Unterhalter („era su gracioso“, G I 465) und als Kuppler („Yo me confieso por el instrumento de sus excesos“, G II 65). Das Arbeitsverhältnis ist insgesamt „das harmonischste der von Alemán geschilderten“102 und endet erst, als sich Guzmán während seiner Tätigkeit als ‚männliche Celestina‘ öffentlich blamiert, was ihn in gegenseitigem Einverständnis mit dem Botschafter dazu bringt, Rom zu verlassen, um nicht die Reputation seines geliebten Herren so zu beschmutzen, wie es seine Kleidung nach der Blamage war. Der Botschafter entlässt ihn mit den Worten: „Vete con Dios a dormir en mi negocio, pues en tus manos anda mi honra“ (G II 121). Der bereits erwähnte Schwiegervater, mit dem Guzmán einvernehmlich gemeinsame Wuchergeschäfte macht und der in ihm einen „hijo“ (G II 369) sieht, gehört ebenfalls in die Kategorie des padre-mercader, während ein Genueser Onkel, der älteste Bruder seines Vaters, den Guzmán bereits im ersten Teil trifft („el viejo maldito“, G I 379) und an dem er sich im zweiten rächt, dem Modell des alten Ritters entspricht: „un caballero que nunca se había querido casar, muy rico y cabeza de toda la casa nuestra [...] decrépito por la mucha edad“ (G II 276). Auffällig ist bei all diesen Zusammenkünften, Allianzen, Konflikten und Anstellungsverhältnissen, dass den Beziehungen zu den Doppelgängern des padre-mercader, besonders derjenigen zum Botschafter, eine sonst kaum vorherrschende affektiv-emotionale Komponente eingeschrieben ist, was Cavillac mit dem Bild des Genuesers als dem ‚neuen Adam‘ zusammenbringt: „viene a probar que el padre-mercader, pese a su culpabilidad, entrañaba valores redentores cuya clave acabará descubriendo ‚nuestro pícaro‘ a bordo de las galeras.“103 Mit

101 Ebd. 102 Rauhut: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, S. 182. 103 Cavillac: „La cuestión del ‚padre‘“, S. 167.

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der Analyse dieser Schlussszene soll nun das im Guzmán vorherrschende Männlichkeitsbild noch einmal zusammenfassend bewertet werden. Guzmán kehrt kurz vor seiner Verurteilung nach Sevilla zurück, dem Ort seiner Herkunft. Somit haben wir es – im Gegensatz zum Lazarillo – mit einer zirkulären topografischen Struktur zu tun, die zu großen Teilen den Lebensweg des Vaters wiederholt. Das Gleichnis des verlorenen Sohnes, auf das an mehreren Stellen des Romans Bezug genommen wird, scheint sich zu erfüllen, allerdings begegnet der Protagonist dort zunächst seiner Mutter, was bereits darauf hinweist, dass seine Reise noch nicht ganz abgeschlossen ist. In den Schoß der letzten Vaterfigur kehrt der Sohn tatsächlich erst auf den Galeeren zurück: in Gottes gnädige Hände, was in der bereits geschilderten Konversionserfahrung kulminiert. Auf die Galeere geht er – im Gegensatz zu seinen Mithäftlingen, denen immerhin die Prostituierten hinterher weinen – völlig allein; nicht einmal seine Mutter möchte ihn verabschieden: „solo fue, solo entre todos“ (G II 491). Er hatte vorher noch versucht, in Frauenkleidern („vestido de mujer“, G II, 488) aus dem Gefängnis zu fliehen, was ihm schließlich statt nur sechs Jahren einen lebenslänglichen Galeerendienst eingebracht hat. So wird auf der Ebene der geschlechtlichen Symbolik deutlich gemacht, dass die Beziehungen zum anderen Geschlecht ihm kein Glück gebracht haben: die am Anfang überbehütende, am Ende untreue Mutter; die Wirtin, die ihm mit verdorbenen Eierkuchen sein erstes desengaño-Erlebnis beschert hat; die Frauen, die ihm die öffentliche Blamage während seiner Anstellung beim Botschafter eingebracht haben; seine beiden Ehefrauen, von denen die erste kurz nach der Hochzeit stirbt und die zweite mit einem Galeerenkapitän nach Italien durchbrennt; seine einzige Herrin, die ihn nach einem Betrug am Ende auf die Galeeren gebracht hat. Wo es im Lazarillo durchaus noch Nuancen hinsichtlich des Weiblichkeitsbildes gab, kann davon im Guzmán keine Rede sein: die Frau wird zugunsten des idealisierten Vater-Bildes geopfert, was man mit Cruz als vollendete „abjection of the feminine“104 begreifen kann und was Robert als durchaus typisch für den Familienroman des Bastards erachtet: „Car la mère ici n’est rapprochée qu’au prix de son abaissement, c’est l’amour même qui l’avilit, tandis que le père abhorré demeure toujours dans la zone idéale qui seule convient à son statut d’exception.“105 So nimmt es kaum Wunder, dass der Roman genau dort endet, wo es keine Frauen mehr gibt, im heterotopischen Umfeld eines Männerbundes par excellence: der Galeere.

104 Vgl. Cruz: „The Abjected Feminine“. 105 Robert: Roman des origines, S. 55.

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Dieses Bollwerk, das zwar im Sinne psychoanalytischer Symbolik an ein „emblème du giron maternel“106 erinnern mag, erweist sich alsbald als homosozialer Mikrokosmos mit allerlei Bündnissen, Konflikten, Hierarchien und Handelsbeziehungen. Man könnte bezüglich des letzten Aspekts sogar sagen, dass Guzmán dort endlich das stark idealisierte Bild des padre-mercader, das ja immer auch als Ich-Ideal fungiert, erfüllt, indem er auf der Galeere einen Handel mit Marketenderwaren betreibt, der zum ersten Mal frei von betrügerischen Praktiken ist: „Simbólico es, pues, el modesto éxito mercantil de Guzmán: le revele que su auténtica vocación coincide con las virtualidades positivas de su padre-mercader.“107 Er erwirbt sich das Vertrauen seiner Vorgesetzten, verhindert durch Denunziation einen Aufstand der anderen Galeerensträflinge, wodurch ihm seine Freilassung in Aussicht gestellt wird, deren Gewährung durch den König aber ebenso unsicher ist, wie das Urteil von Vuestra Merced im Lazarillo. Es gibt jedoch, wie im Lazarillo, gute Gründe, pessimistisch zu sein, was die Amnestie des pícaro angeht.108 Fassen wir zusammen: Angesichts der barocken Ausmaße und der nicht minder komplexen Diskursfülle des Romans kann zunächst mit Cruz festgehalten werden: „The Guzmán de Alfarache’s copiousness invariably frustrates our efforts to determine and demarcate its thematic specificity.“109 Dieser Befund gilt zweifelsohne genauso für das Thema der literarischen Repräsentation von Männlichkeit im Hauptwerk von Mateo Alemán. Da der stärkste Einfluss offensichtlich von der Vaterfigur mitsamt all ihren unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen ausgeht, hat sich herausgestellt, dass eine Analyse von Männlichkeit im Guzmán ohne den starken Bezug zum Paternalen kaum möglich ist. Der Vater steht dabei nicht nur für den stark idealisierten Erzeuger des Protagonisten, sondern in seiner Eigenschaft als padre culpable auch für die Erbsünde Adams – und durch die Gegenüberstellung mit der zweiten, deutlich älteren Vaterfigur – zudem für die Erlösung durch den ‚neuen Adam‘. Das Gesetz des Vaters, das der narrativen und geografischen Struktur des Romans zugrunde liegt, steht des Weiteren für das paternalistische Wertesystem der Nation, der patria, und für das Patriarchat, das wiederum durch den König, den höchsten aller weltlichen Väter, geführt

106 Michel Cavillac: „La question du père dans le roman picaresque (Lazarillo, Guzmán, Buscón)“, in: ders.: ‚Atalayisme‘ et picaresque: la vérité proscrite“, Bordeaux 2007, S. 9-38, hier: S. 31. 107 Cavillac: „La cuestión del ‚padre‘“, S. 168. 108 Vgl. ebd., S. 169f; vgl. Micó: „Introducción“, S. 47-50. 109 Cruz: Discourses of Poverty, S. 106.

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wird. Der Vater steht jedoch durch seinen Beruf als Kaufmann exemplarisch für den neuen präkapitalistischen Zeitgeist, der bereits im Lazarillo thematisiert wurde. Im Guzmán wird dieses Modell noch schärfer konturiert, indem Alemán es nahezu durchgängig dem Bild des zweiten Vaters gegenüberstellt, das repräsentativ für das alte Spanien steht, für den parasitären Blutsadel und seinen überholten Ehrenkodex. Die Tatsache, dass Guzmán den Kaufmann als Vorbild auswählt, bedeutet jedoch nicht, dass damit dem besseren oder schlechteren Entwurf der Vorzug gegeben wird, da beide Männlichkeitsentwürfe im Sinne des insgesamt pessimistischen Menschenbilds eine paternale Matrix des Scheiterns konstituieren. Väterliche Figuren strukturieren zudem die einzelnen Etappen des Romans, bis der Galeerensträfling Guzmán am Ende gar Zwiesprache mit Gott hält und anschließend auf die Absolution durch den König wartet. Während im Lazarillo die einzelnen Herren des Helden vornehmlich als Repräsentanten der jeweiligen Schichten und Zünfte dienten, werden sie im Guzmán stets in unmittelbare Beziehung zu den beiden Vaterfiguren gesetzt, wodurch die Robert’sche, von Freud entlehnte Gattungsbezeichnung des Familienromans umso sinnfälliger erscheint.110 Dem Roman ist zudem – gleichsam als Motto – der bereits mehrfach zitierte Satz „La sangre se hereda y el vicio se apega“ vorangestellt, ergänzt durch den Zusatz: „quien fuere cual debe, será como tal premiado y no purgará las culpas de sus padres“ (G I 130). Dieser Satz geht auf zwei Bibelstellen zurück, zum einen auf das 5. Buch Mose, 24, 16: „Väter sollen nicht für ihre Söhne und Söhne nicht für ihre Väter mit dem Tod bestraft werden“ und zum anderen auf die Prophezeiungen des Hesekiel (18, 12): „Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes.“ Auch wenn diese Sentenzen sich gegen einen hereditären Determinismus aussprechen und damit das zur Zeit Alemáns vorherrschende Gebot der limpieza de sangre kritisieren, verwundert es doch, dass der Sohn im Guzmán dessen ungeachtet den

110 Das wiederum ändert nichts daran, dass auch im Guzmán vermittelt über die verschiedenen Vorgesetzten des Protagonisten ein gesamtgesellschaftliches Panorama gezeichnet wird, wie San Miguel hervorhebt: „Der Umfang des Guzmán eröffnet dem zweiten Pícaro die Möglichkeit, seine Galerie an menschlichen Gestalten so enorm zu erweitern, daß der Untertitel ‚Atalaya de la vida humana‘ als gerechtfertigt erscheint. Mit der gleichen Ironie und mit noch beißenderer Sprache als sich selbst beschreibt Guzmán die Menschen, die ihm begegnen. Seine Erlebnisse mit ihnen stellen eine lange Kette von engaños und desengaños dar. Der Pícaro existiert als degradiertes Individuum in einer degradierten Gesellschaft.“ In: San Miguel: „Mateo Alemán“, S. 71.

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Lebensweg des Vaters beschreitet und das bis in die unmoralischen Details hinein, die der Leser vermittelt über die Gerüchte des vulgo erfährt. Cros bietet folgende Erklärung an: De manera que nos parece más exacto afirmar que su atavismo no lo predetermina a pecar, sino que predetermina la manera como peca cuando ya está, por otros motivos, inmerso en el mal. […] Pero precisamente por entre todos los factores que neutralizan el determinismo hereditario está el pecado original, que introduce una noción de determinación colectiva.111

Durch den Bezug zur Erbsünde wird deutlich auf die Kollektivschuld der Gesellschaft angespielt („todos somos hombres“), aber interessanter an Cros’ Aussage ist, dass es zwar keinen hereditären Determinismus der Sündhaftigkeit als solchen gibt, dass aber der sündige Vater zumindest die Art des Sündigens vorherbestimmt. Man kann hier also von einem narrativen Determinismus sprechen: Die narrative Struktur der Männlichkeit von Guzmáns Vater bestimmt auch die narrative Struktur der Männlichkeit des Titelhelden. Der Roman des Vaters wird zu seinem eigenen; es bleibt jedoch dem Bastard vorbehalten, ihn im Angesicht des paternalen Prinzips, das vor allem auf Idealisierung ausgerichtet ist, als Familienroman niederzuschreiben. Das ideale Vater-Bild wird schließlich zum IchIdeal des Sohnes, worauf auch Cavillac hinweist: Le marchand génois, pourtant, qui semblait devoir incarner l’Idéal du père, est loin d’être exempt des tares : outre son passé de renégat, pèse sur lui un soupçon d’homosexualité qui, joint à son incapacité à assurer économiquement son pouvoir social – il finit par faire faillite –, dévalue son personnage. Ce père dénaturé ne remplit pas son rôle rédempteur, car il est en partie féminisé à l’instar du monstre de Ravenne dont la description clôt allégoriquement son portrait.112

Cavillac erinnert an dieser Stelle noch einmal an das allegorische Monster von Ravenna, durch welches das väterliche Porträt abgeschlossen wird, mithin an jenen Punkt des Romans, an dem die narrative Struktur der vida picaresca des Sohnes ihren Ausgang nimmt und an deren Ende er durch die Selbstermächtigung zum atalaya, d. h. zum sinnbildlichen Gegenentwurf des monströsen Va-

111 Cros: Mateo Aleman, S. 132f. 112 Cavillac: „La question du père“, S. 25.

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ters wird.113 Hinter dieser letzten Metamorphose des Titelhelden verbirgt sich freilich auch der Wunsch, den Vater nicht nur zu imitieren, sondern ihn zu übertreffen, nachdem er auf der Galeere bereits diejenige Eigenschaft des padremercader kopiert hat, die dem Sohn bis dato fehlte, nämlich dessen angebliche Verweiblichung:114 Es wird tatsächlich angedeutet, dass Guzmán seinen Vorgesetzten auf der Galeere in Ermangelung von Frauen neben anderen Gefälligkeiten auch erotische Dienste anbietet, um in Freiheit zu gelangen: „mi cuidado era sólo atender al servicio de mi amo, por serle agradable, pareciéndome que podría ser – por él o por otro, con mi buen servicio – alcanzar algún tiempo libertad“ (G II 510f). So schreibt Timo Kehren: There is growing evidence for the sodomite relationship between Guzmán and his master if we take into account that the former decides to practice sewing on board the galley (,busqué hilo‘), which is not only a craft that used to be done by women but also has a highly significant literary history. The hilo that he uses for sewing first of all evokes the one that stands for sexual penetration in the Celestina.115

Hinsichtlich der Logik des Romans im Sinne der imitatio patris scheint Kehrens Analyse durchaus überzeugend, wenn man bedenkt, dass Guzmán den Hauptmann in seinem Ansinnen bestärkt, nicht zu heiraten: „Por mucho más dichoso tengo a el que ni la tuvo buena ni mala“ (G II 512). Ob der Text aber tatsächlich „growing evidence for the sodomite relationship between Guzmán and his master“ liefert, erscheint in dieser Eindeutigkeit jedoch fraglich. Überzeugender hingegen ist hier wohl die ebenfalls von Kehren aufgestellte Diagnose einer zunehmenden Verweiblichung Guzmáns, die durch die gescheiterte Flucht in Frauenkleidern bereits vorbereitet und die nun tatsächlich durch die Identifikation mit dem Gewerbe Celestinas angedeutet wird: kleinere Verkäufe, Nähen und Stop-

113 Vgl. dazu Johnson: Inside Guzmán de Alfarache, S. 223: „The competitive, destructive aspect of Guzmán’s ambivalent relationship with his father is present in a number of concrete features in his book. There is first his metamorphosis of himself into the atalaya de la vida humana, the watchtower of human life. This suggests an omniscient point of view, a total knowledge denied to ordinary men and, more importantly for the theme that concerns us here, the atalaya is an obvious representation of the phallus.“ 114 Vgl. dazu Timo Kehren: The Charms of Circe. Narrative Persuasion in Guzmán de Alfarache, in: Maren Lickhardt/Verf. (Hrsg.): Transgression and Subversion. Gender in the Picaresque, Bielefeld 2018 (in Druckvorbereitung). 115 Ebd.

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fen. Dieser Verweis ist insofern interessant, als auch die vieja barbuda einen höchst ambivalenten Geschlechterentwurf verkörpert, sich unmoralischen Geldgeschäften widmet und darüber hinaus als subversive Madre aller Figuren gleichsam eine ganz eigene Form des atalaya de la vida humana verkörpert. Aufschlussreich ist diese Analogie zudem, weil sie über das Motiv des Fadens, des hilo, hergestellt wird, ein Motiv, das auch bereits im Vater-Porträt auftauchte: „[I]ba mi padre con el hilo de la gente y no fue solo el que pecó“ (G I 142). Damit wird die Identifikation des Sohnes mit seinem Vater im Motiv des Fadens zusammengefügt; zugleich wird durch den Bezug zur Celestina auf einen Vorgängertext rekurriert, an dessen Ende, wir erinnern uns, mit der Totenklage des Vaters ebenfalls einem Grabgesang auf das Patriarchat zu lauschen war. Nichts anderes leistet Alemán. Wenn Parker schreibt, dass „Alemán loads every sin, gratuitously, upon the back of Guzmáns father in order to make him an universal representative of humanity, not an individual“116, dann verbirgt sich in dieser Beurteilung einmal mehr die Tatsache, dass das Monster von Ravenna sowohl für die moralische Verkommenheit des Vaters als auch für das paternalistische Spanien des beginnenden 17. Jahrhunderts steht. Dadurch wird aus dem pikaresken Erzählmodell bei Alemán, vermittelt über die Konstruktion und Dekonstruktion patriarchalisch bestimmter Männlichkeit, ein anthropologisches Reflexionsmuster, innerhalb dessen der pícaro durch den Kunstgriff der imitatio patris zugleich als Delinquent (monstre moral) und Moralist (atalaya de la vida humana) auftritt. Als ironische Schlussnote im Zusammenhang des atalayaBegriffs sei am Ende noch darauf hingewiesen, dass dieser Begriff, was tatsächlich den meisten Forschern entgangen zu sein scheint, nicht nur Wachturm bedeutet, sondern in der Ganovensprache Germanía einen „ladrón“, d. h. einen Ganoven bezeichnet.117 Um doch noch einmal auf die Biografie Alemáns zu sprechen zu kommen, darf man davon ausgehen, dass er sowohl durch den Beruf seines Vaters als Gefängnisarzt als auch durch seine eigenen Erfahrungen als Sträfling über ausreichend Kenntnisse dieser Ganovensprache verfügt haben dürfte. Ihm wird daher die doppelte Bedeutung von atalaya bekannt gewesen sein. Dieses sprachgeschichtliche Detail stellt tatsächlich mehr dar als nur eine ironische Randnotiz,

116 Parker: Literature and the Delinquent, S. 40. 117 Vgl. aus historischer Sicht den entsprechenden Eintrag im Diccionario de Autoridades: „En la Germanía significa el ladrón. Juan Hidalgo en su Vocabulario“. Juan Hidalgo ist der Chronist dieses Gaunerjargons und hat im Jahr 1609 einen Romancero de germanías herausgebracht. Selbst im heutigen Diccionario de la lengua española ist diese Doppelbedeutung von atalaya noch vermerkt.

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sondern liefert hinsichtlich des Verständnisses des Romans und dessen Konzeption als novela picaresca den entscheidenden Schlüssel: Der pícaro tritt sowohl als Wächter als auch als Ganove auf. Im inversiven Erzählmodus der Pikaresken widersprechen sich diese beiden eindeutig männlichen Erzählmuster keineswegs, sondern konstituieren erst die duale Struktur pikaresker Männlichkeit. Das Erzähler-Ich ermächtigt sich selbst zum Wachturm, um von sich selbst als Ganove zu erzählen. Somit wird einmal mehr deutlich, dass das emblematische monstre moral zu Beginn des ersten Romanteils und das Bild des Wachturms am Anfang des zweiten sich unmittelbar aufeinander beziehen und sich in der pikaresken Denkfigur des vir inversus zu einem Ganzen zusammenfügen. Dazu passt dann am Ende auch, dass die Geschichten von Vater (Monster) und Sohn (atalaya) im Verlauf des Romans zu einer einzigen narrativen Struktur pikaresker Männlichkeit verschmelzen.

5.2 S OZIALE S CHAM , MÜTTERLICHE S CHANDE UND ABJEKTE M ÄNNLICHKEIT IM B USCÓN Auch wenn La vida del Buscón llamado Don Pablos von Francisco de Quevedo erstmalig 1626 in Zaragoza und Madrid erscheint, geht die Quevedo-Forschung davon aus, dass der Entstehungszeitraum des Romans, zu dem sich der Autor zeitlebens nie bekannt hat, deutlich früher anzusetzen ist. Die Einschätzungen variieren jedoch stark und lassen keine gesicherten Aussagen zu – die verschiedenen Entstehungstheorien umfassen insgesamt einen Zeitraum von immerhin knapp zwanzig Jahren; als frühestmöglicher Zeitpunkt kommt das Jahr 1603 in Betracht.118 Daher gilt zumindest als unumstritten, dass Quevedo, während er am Buscón arbeitete, zumindest den Lazarillo sowie den ersten Teil des Guzmán kannte. Die stärksten Bezüge lassen sich allerdings zum Lazarillo nachweisen.119

118 Vgl. die umfassende Darstellung der Editionsgeschichte sowie der unterschiedlichen Mutmaßungen zum Entstehungszeitraum in Domingo Ynduráin: „Introducción“, in ders. (Hrsg.): Francisco de Quevedo: El Buscón, Madrid

242012,

S. 13-87, bes.

S. 65-81. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert mit der Sigle B und der entsprechenden Seitenzahl. 119 Vgl. Hans-Gerd Rötzer: „Francisco de Quevedo. Historia de la vida del Buscón, llamado Don Pablos; Exemplo de Vagamundos, y Espejo de Tacaños“, in: Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Der spanische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 1995, S. 116-134, hier: S. 118; vgl. auch Fritz Schalk: „Über Quevedo und El Buscón“, in: Romanische Forschungen 74 (1962),

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Obwohl Quevedos einziger Roman auf den ersten Blick in die Kategorie des pikaresken Romans eingeordnet werden kann und auch in der PikareskenForschung fest im Kanon des spanischen Schelmenromans verankert ist, gibt es doch einen entscheidenden Unterschied zu seinen beiden Vorgängern: Hier schreibt ein antisemitischer Altchrist eine Parodie der novela picaresca mit einem Titelhelden, der eindeutig – aufgrund der entscheidenden matrilinearen Genealogie – einen converso-Hintergrund aufweist.120 Dieser zunächst extradiegetische Befund hat sowohl Auswirkungen auf die Art der Darstellung als auch auf die Rezeption des Romans. Der parodistische Charakter des Buscón führt dazu, dass Quevedo die pikaresken Merkmale zwar imitiert, diese jedoch stilistisch ins Groteske verzerrt und vor allem mit hyperbolischen und karnevalesken Verfahren den pícaro nicht nur als monstre moral, sondern ebenfalls als monstre grotesque in Stellung bringt. Bauer äußert den Verdacht, „Quevedo habe seinen Zeitgenossen den gusto picaresco mit dem estilo picaresco austreiben wollen“121 – ein ähnliches Urteil könnte man hinsichtlich der libros de caballerías über den Don Quijote fällen. Dieser Analogie sollte jedoch mit Vorsicht begegnet werden, da es eine markante Divergenz zwischen den beiden Parodie-Künstlern gibt, nämlich die Einstellung der Schöpfer ihren Figuren gegenüber, was zwar kein literaturwissenschaftlich belastbares Argument darstellt, aber doch immerhin eine Grundstimmung erzeugt, die während der Lektüre deutlich wahrnehmbar ist: Quevedo hegt – im Gegensatz zu Cervantes – keinerlei Sympathien für seine Hauptfigur. Ob er – wie es Andreas Stoll formuliert – tatsächlich ein „erbitterter Feind seines eigenen literarischen Geschöpfs“122 ist, sei dahingestellt. Hinsichtlich der Rezeption des Buscón wirft der parodistische Charakter des Romans einmal mehr die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Dargestellten auf, was jedoch, wie Bauer immer wieder betont, zu den konstitutiven Gattungsmerkmalen der novela picaresca gehört: Wie bei jeder Parodie wird die kritisierte Textsorte dabei jedoch auch zugleich hyperbolisch imitiert und – als Imitat – konserviert, denn der Autor muß sich der GenreformMaske des unzuverlässigen Ich-Erzählers bedienen, um den pikaresken Vertrauens-

S. 11-30, bes.: S. 23f; vgl. ebenfalls Rosa María Paradela Jiménez: „La lectura del Lazarillo en la escritura del Buscón: Notas sobre el episodio del Dómine Cabra“, in: Epos. Revista de Filología 15 (1999), S. 131-148. 120 Vgl. zur converso-Problematik im Buscón: Henry M. Ettinghausen: „Quevedo’s Converso Pícaro“, in: Modern Language Notes 102 (1987), S. 241-254. 121 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 54. 122 Andreas Stoll: Scarron als Übersetzer Quevedos, Frankfurt/M. 1970, S. 254.

392 | V IR INVERSUS schwindler zu demaskieren. [...] Weil der BUSCÓN als Rollenprosa verfaßt ist, verläuft die Entlarvung seines Maulhelden über dessen eigenen Diskurs.123

Noch in höherem Maße als Alemán konfrontiert Quevedo mithin seine Leser mit einer ambivalenten Figur, deren Klage über die gesellschaftliche Stigmatisierung und soziale Ächtung der Marginalisierten vom Willen flankiert wird, unter den Ganoven der größte von allen zu werden: „ser bellaco con los bellacos, y más, si pudiese que todos“ (B 149). Waren es im Fall des Guzmán primär intradiegetische Indizien, an denen sich der Streit um die Wahrhaftigkeit der Schelmenbeichte entzündete, allen voran die Bekehrung des Titelhelden, speist sich diese Unsicherheit im Umgang mit Quevedos Roman aus dem Wissen um seinen parodistischen Charakter und das unübersehbare Bemühen um stilistische Brillanz, das Spitzer als einer der ersten erkannt hat. Aufgrund dieser „Reversibilität der Perspektiven“124, die den Schelmenroman ohnehin auszeichnet, aber von Quevedo auf die Spitze getrieben wird, haben sich zwei grundsätzliche Deutungslinien entwickelt, von denen die eine den Buscón als persönliches Zeugnis eines delinquenten Geächteten interpretiert, als Psychogramm eines hochstaplerischen Outlaws, und die andere Seite in der Folge von Spitzer und Bachtin eine literaturwissenschaftliche Rekonstruktion eines einzigartigen karnevalesken Stils vornimmt, innerhalb derer das Dargestellte, also die histoire, kaum von Belang ist. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine ähnliche Kontroverse, wie sie auch die Flaubert-Rezeption in Teilen geprägt hat: Die einen nehmen im Fall von Madame Bovary (1857) das poetologische Ziel des Autors ernst, ein „livre sur rien“ geschrieben zu haben, ein Buch also, das einzig durch die „force interne de son style“125 zusammengehalten wird, während die andere Seite den Realisten in Flaubert sieht und die tatsächlich die karikierten Mœurs de province in den Vordergrund stellen mitsamt ihren stereotypen Vertretern und einer Titelheldin, die an schillernder Komplexität kaum zu überbieten ist. Beiden Autoren ist sicherlich neben dem Primat des Stils auch der scharfe Grundton der Verachtung gemein, bei Flaubert vor allem gegen das Bürgertum, aus dem er selbst entstammt, und bei Quevedo gegen die Juden, gegen nicht-adelige Parvenus und

123 Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten, S. 54. 124 Ebd., S. 56. 125 Gustave Flaubert: „Brief an Louise Colet vom 16. Januar 1852“, in: ders.: Correspondance, Bd. II, hrsg. von Jean Bruneau, Paris 1980, S. 31. Vgl. dazu Walburga Hülk: „Gustave Flaubert, Madame Bovary (1857) und L’Education sentimentale (1869)“, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): 19. Jahrhundert. Roman, Reihe Französische Literatur, hrsg. von Henning Krauß, Tübingen 1999, S. 219-244, bes. S. 230f.

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gegen andere Kollegen, allen voran Luis de Góngora. Letzteres kommt jedoch nicht im Buscón, sondern in einer Vielzahl von Gedichten zum Ausdruck. Während die Flaubert-Forschung längst dazu übergegangen ist, beide Deutungsrichtungen, d. h. die philologische und die sozialhistorische, als komplementär zu verstehen, standen sich im Fall des Buscón beide Lager lange Zeit recht unversöhnlich gegenüber, vor allem bezüglich der Frage, ob eine Parodie der Pikaresken überhaupt noch zur Gattung hinzugerechnet werden kann.126 Im Zuge der strukturalistischen Literaturwissenschaft, die den Fokus u. a. auf die Untrennbarkeit von discours und histoire legte, findet eine wechselseitige Annäherung statt. So schreibt Rötzer: [Quevedos] zynischer Gegenentwurf zur bisherigen Pikareske, in dem er nur formale Strukturmuster der Vorgänger nachahmt, ist der beste Beweis für die ursprüngliche Intention der novela picaresca. Gegen seinen Willen wird daher Pablos zum Ankläger einer Herrschaftsideologie, der die realen Verhältnisse widersprechen.127

Ergänzend muss jedoch hinzugefügt werden, dass Quevedo nicht nur ‚formale Strukturmuster‘ pastichehaft nachahmt, sondern eben auch inhaltliche Aspekte und typische Motive variiert, so die Herkunft des Erzählers, die wiederholte Gewalt gegen den pícaro, skatologische Details sowie den sisyphoshaften Widerstreit zwischen Erfolg und Misserfolg. Allerdings macht Quevedo bestimmte inhaltliche Merkmale, die im Lazarillo oder im Guzmán lediglich verrätselt angedeutet werden, offenkundig oder überzeichnet diese sogar, so z. B. Pablos’ familiären converso-Hintergrund („no era cristiana vieja“, B 97), seine Hinterlistigkeit („Mas de todo nos libró la buena astucia“, B 101) seinen unbändigen Opportunismus („Llegábame, de todos, a los hijos de caballeros y personas principales“, B 106) und seinen abjekten, sozial unreinen Status vermittelt über exkrementale Kontamination. Diese drei Beispiele sowie darüber hinaus das grund-

126 Vgl. dazu Ynduráin: „Introducción“, S. 13-40; eine ablehnende Haltung vertritt: Francisco Garrote Pérez: „Reflexiones en torno a la picaresca y el Buscón de Quevedo“, in: J. María Nieto Ibáñez (Hrsg.): Logos hellenikós. Homenaje al profesor Gaspar Morocho Gayo, Bd. 2, León 2003, S. 951-958; bes. S. 955: „Entonces, si admitimos como picaresca al Lazarillo y al Guzmán, no podemos pensar que El Buscón lo sea. Es más, podíamos considerar la obra como antipicaresca, lo cual lo confirma el resto de la picaresca posterior, que ninguna responde con exactitud a sus raíces humanistas y burguesas, pues sus estructuras picarescas están vaciadas intencionalmente – o subversivamente – de contenido humanista.“ 127 Rötzer: „Francisco de Quevedo“, S. 129.

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sätzlich fehlende moralische Bewusstsein der Titelfigur liefern direkte Hinweise für den antisemitischen Charakter von Quevedos Frühwerk. Kurz gesagt: Quevedo macht die soziomoralische Verkommenheit seines Protagonisten, die frei ist von fingierten Reuegefühlen oder Rechtfertigungsbestrebungen, eindeutig. So erklärt sich auch der fehlende kommunikative Rahmen, der sowohl dem Lazarillo als auch dem Guzmán jeweils seine narrative Kohärenz verleiht. Bei Quevedo gibt es keinen caso oder gar eine conversio, worauf die Lebensbeichte fluchtpunktartig zuläuft. Es gibt nur Hochstapelei und Niederlagen im Wechsel. Wenn Benito Brancaforte bereits im Guzmán den Mythos des Sisyphos als strukturelle und rhythmische Matrix realisiert sieht,128 gilt dies im Fall des Buscón umso mehr, als Quevedo auf einen narrativen oder moralischen Fluchtpunkt verzichtet: Nachdem sämtliche Aufstiegsambitionen des pícaro gescheitert sind, verlässt Pablos Spanien und damit die Gesellschaft, um in die Neue Welt überzusiedeln, so wie bereits zuvor sämtliche Episoden des Scheiterns zur Flucht geführt hatten.129 Der Roman ist in drei Bücher unterteilt und folgt auf den ersten Blick den typischen Gattungskonventionen des pikaresken Romans. Im ersten Buch erzählt Pablos zunächst von seinen verkommenen Eltern – der Vater ein diebischer Barbier, die Mutter eine ins Groteske überzeichnete Celestina – und von seiner Schulzeit. Aufgrund seiner opportunistischen Aufstiegsambitionen sucht er die Nähe zum adeligen Don Diego Coronel, wird sein Freund und schließlich sein Diener. Mit ihm verbringt er einige Zeit in einem Internat, dann in Alcalá de Henares, wo Don Diego studiert. Die dort erduldeten Erniedrigungen durch andere Studenten lassen in ihm den Wunsch reifen, ein berühmter Ganove zu werden, was ihm zunächst gelingt. Der erste Teil endet mit der Nachricht vom Tod der Eltern durch Todesstrafe und Pablos’ Abschied von Don Diego, da er nicht länger als Diener arbeiten möchte, weil er sich zu Höherem berufen fühlt. Das zweite Buch erzählt zunächst von Pablos’ Reise nach Segovia, wo sein Onkel,

128 Vgl. Benito Brancaforte: Guzmán de Alfarache: ¿Conversión o proceso de degradación?, Madison 1980, bes. S. 1-55. 129 Man könnte tatsächlich mit Robert Folger genau in dieser finalen Flucht in die Neue Welt auch die „narrative Fluchtlinie“ des Buscón sehen, allerdings unterscheidet sie sich insofern von den beiden Vorgängern, als es im Buscón – zumindest vordergründig – keine zirkuläre Struktur gibt, wie sie durch den caso Lazarillos und den Galeerendienst Guzmáns hergestellt wird. Vgl. Robert Folger: „Quevedos Buscón, das nackte Leben und der Grund pikaresken Erzählens im frühneuzeitlichen Spanien“, in: Jan Mohr/Michael Waltenberger (Hrsg.): Das Syntagma des Pikaresken, Heidelberg 2014, S. 185-207, hier: S. 207.

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der Henker seines Vaters, ihm das Erbe seiner Eltern übergibt und ihn zu einem ganz besonderen Leichenschmaus einlädt. Es folgt die Flucht nach Madrid, wo er einen verarmten Hidalgo kennen lernt, der ihn in eine Gruppe von betrügerischen Schelmen einführt, die jedoch bald im Gefängnis der Hauptstadt landen. Es folgen Versuche als Heiratsschwindler, die ausgerechnet von Don Diego vereitelt werden, weitere Banden-Betrügereien, die sogar zum Mord an zwei Polizisten führen und schließlich die Flucht mit der Geliebten nach Amerika. Im Folgenden sollen drei Aspekte des Romans näher beleuchtet werden, die zum einen hinsichtlich der Männlichkeitsinszenierung in Quevedos Roman als besonders aufschlussreich erscheinen und zum anderen zeigen, dass die beiden skizzierten Interpretationsrichtungen des Buscón sich keineswegs ausschließen, sondern auf komplementäre Weise sowohl stilistische als auch sozialhistorische und -psychologische Analysen geradezu erforderlich machen. Es handelt sich um drei Merkmale, die in den beiden Vorgängerromanen entweder gar nicht auftauchen oder nur eine marginale Rolle spielen. Es geht erstens um den Themenkomplex Trauma – Schande – Scham, zweitens um den Aspekt der männlichen Homosozialität, der im Buscón an prominenten Stellen, d. h. zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Romans, auftaucht und drittens um den hyperbolischen Entwurf exkrementaler und obszöner Motive, die den Männlichkeitsentwurf des pícaro auf drastische Weise in den Bereich des Abjekten überführen.130 Anders als im Lazarillo und im Guzmán gibt es im Buscón keine eindeutige Initiation in die Schlechtigkeit der Welt, da die Herkunft Pablos’ bereits ostentativ als schlecht dargestellt wird. Die Eltern streiten in Pablos’ Gegenwart regelmäßig darüber, ob ihr Sohn besser „ladrón“ werden solle, wie es der Vater gerne hätte („Quien no hurta en el mundo, no vive“, B 101) oder doch besser „brujo“ (B 103), wie es die Mutter vorziehen würde. Beides kommt für den Sohn aufgrund seiner frühkindlichen „pensamientos de caballero“ (B 100) nicht in Frage: Er möchte stattdessen lesen und schreiben lernen und sich zu den Adeligen gesellen. In Don Diego Coronel de Zúñiga findet er alsbald das adäquate Objekt seines homosozialen Begehrens und schließt Freundschaft mit dem Jungen aus gutem Hause. Das ist insofern bemerkenswert, als es Freundschaft im Sozialraum der Pikaresken eigentlich nicht gibt – es gibt homosoziale Zweckbündnis-

130 Zuerst taucht im Zusammenhang mit dem Buscón der Begriff des Abjekten in einer Studie von Michel und Cécile Cavillac auf: „A propos du Buscón et de Guzmán de Alfarache“, in: Bulletin Hispanique 75 (1973), S. 114-131, hier: S. 126: „Le Buscón se résume d’un mot : il s’agit de la vie d’un individu irrémédiablement abject, contée par lui-même.“

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se, aber Männerfreundschaften sieht das große Wolfsspiel nicht vor, schon gar nicht zwischen Vertretern unterschiedlicher Stände. Dieser Form der feudalen Logik gehorchend handeln die Eltern Don Diegos schnell, indem sie Pablos kurzerhand zum Diener ihres Sohnes machen. Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen zwei Männern ungleichen Rangs, aber gleichen Alters und gleichen religiösen Hintergrunds131 in gesellschaftlich akzeptable Muster eingehegt. Dadurch dass Quevedo eine reich gewordene jüdische Adelsfamilie als ‚Gastfamilie‘ seines verkommenen Helden wählt, kann er gleichzeitig seinen elitären Standesdünkel und seine antisemitische Verachtung aufrechterhalten, wie auch Jacobs meint: „Wenn Don Diego und seine Freunde mehrfach gegen den aristokratischen Verhaltenscodex verstoßen, so bedeutet dies nicht Kritik am Adel, sondern ist als Bloßstellung von Parvenus zu verstehen.“132 Dessen ungeachtet erweist sich Pablos zunächst als durchaus erfolgreich in der ersehnten Akkumulation von adeligem Sozialkapital: Die Familie Coronel nimmt ihn auf, die Lehrer in der Elementarschule erweisen sich ihm gegenüber als freundlich, doch kommt es zu einer Szene, in der er per Los zum Hahnenkönig gewählt wird, zum „rey de gallos“ (B 109) und zwar im Rahmen eines folkloristischen Rituals zu Beginn der Fastenzeit, das vor allem unter Schülern sehr beliebt war.133 Indem Quevedo den Karneval zu Beginn der Vida del Buscón

131 Die Quevedo-Forschung hat herausgefunden, dass die Familie von Don Diego ebenfalls zur Gruppe der Neuchristen gehört und auf reale Vorbilder zurückgeführt werden kann. Vgl. u. a. Carroll B. Johnson: „El Buscón: Don Pablos, don Diego y Don Francisco“, in: Hispanófila 51 (1974), S. 1-26, hier: S. 1f; vgl. auch Augustín Redondo: „Del personaje de don Diego Coronel a una nueva interpretación de El Buscón“, in: François Lopez, u. a. (Hrsg.): Actas del Quinto Congreso Internacional de Hispanistas, Bd. 2, Bordeaux 1977, S. 699-711, bes. S. 700f. 132 Jürgen Jacobs: „‚Der Fürst des Gaunerlebens‘. Zur Stellung des Buscón in der Gattungsgeschichte des pikaresken Romans“, in: ders.: Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman, Trier 1998, S. 63-76, hier: S. 69. 133 Vgl. dazu die Anmerkung von Fernando Cabo Aseguinolaza, dem Herausgeber der Buscón-Ausgabe der Real Academia Española: „Se trata de una costumbre eminentemente escolar que llevaba a los estudiantes a salir, normalmente el domingo de Carnaval, en procesión burlesca por las calles, así como a correr gallos, esto es, apedrear o cortar cabeza de uno de estos animales, para lo cual era colgado de una cuerda. Uno de los muchachos era elegido, o, como en este caso, sorteado, jefe de los demás con el título de rey de gallos, y normalmente montaba un caballo o bien un asno.“ In: Francisco de Quevedo: La vida del Buscón, hrsg. von Fernando Cabo Aseguinolaza, Barcelona 2011, S. 11 (Herv. i. O.).

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unmittelbar in die Diegese einführt, macht er das in den anderen Schelmenromanen eher auf der strukturellen und gesellschaftskritischen Sub-Ebene der Texte zu verortende Prinzip des Karnevals bzw. der Karnevalisierung von Anfang an explizit. James Iffland differenziert zwischen dem Karneval als folkloristischem Ritual und dem Karnevalesken als struktureller Signatur des Schelmenromans: This leads us to an essential distinction between the masquerading carnival of the novel and the carnival per se. Whereas the latter is a joyous regeneration of the body and spirit, the ‚carnival‘ in El buscón is anything like that. […] The ,carnival‘ characterizing Pablos’s life and world is a grim one which ultimately disheartens rather than relives, vitiates rather than regenerates.134

Auch wenn in der Szene des Hahnenkönigs auf der sprachlich-stilistischen Ebene eine Vielzahl an komischen Elementen steckt, bleibt dem Leser auf der Ebene der Handlung trotz des karnevalesken Rahmens das Lachen im Halse stecken, so wie es für den weiteren Verlauf des Romans typisch ist. So ließe sich, nähmen wir den Text beim Wort, zunächst sagen, dass Pablos’ infantile Aspirationen bereits früh befriedigt werden, da er auf ein Pferd steigen darf, mithin zum caballero wird. Doch bereits die Schilderung des caballo lässt nichts Gutes erahnen und erweist sich als erstes von zahlreichen noch folgenden grotesken Bravourstücken Quevedos: Llegó el día, y salí en un caballo ético y mustio, el cual, más de manco que de bien criado, iba haciendo reverencias. Las ancas eran de mona, muy sin cola; el pescuezo, de camello y más largo; tuerto de un ojo y ciego del otro; en cuanto a edad, no le faltaba para cerrar sino los ojos; al fin, él más parecía caballete de tejado que caballo, pues, a tener una guadaña, pareciera la muerte de los rocines. Demostraba abstinencia en su aspecto y echábansele de ver las penitencias y ayunos: sin duda ninguna, no había llegado a su noticia la cebada ni la paja. Lo que más le hacía digno de risa eran las muchas calvas que tenía en el pellejo, pues, a tener una cerradura, pareciera un cofre vivo (B 110).

Dieses Porträt des Kleppers, das vielleicht nicht zufällig an Cervantes’ Beschreibung von Don Quijotes Ross Rocinante erinnert, stellt Iffland zufolge ein Musterbeispiel an „comic monstrosity“135 dar und tatsächlich handelt es sich hier auf

134 James Iffland: Quevedo and the Grotesque II, London 1982, S. 85; ähnlich argumentiert Edmond Cros: L’aristocrate et le Carnaval des gueux. Étude sur le ‚Buscón‘ de Quevedo, Montpellier 1975, S. 44f. 135 Iffland: Quevedo and the Grotesque, S. 85.

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gewisse Weise um das komische Gegenstück zum Monster von Ravenna, wie es uns zu Beginn des Guzmán begegnet. Nichts passt zusammen in diesem grotesken Porträt: halb Affe, halb Kamel, halb Dachfirst, halb Koffer, ohne einen Schwanz, alt und dem Tode nah und dennoch lebendig. Die schiere Abundanz karnevalesker ars combinatoria, in der sich Lebenskraft, Verfall und Tod in einer „archetypal fusion of incompatibles“136 vereinigen, weisen sowohl thematisch auf den weiteren Verlauf des Romans voraus, in dem es von Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten nur so wimmelt, als auch auf die groteske Ästhetik, derer sich Quevedo, wie bereits angedeutet, in vielen der Schlüsselszenen des Romans bedient. Zugleich handelt es sich bei diesem grotesken Porträt – ähnlich wie der anschließenden Schilderung von Pablos’ Entthronung – um den ersten Teil einer Doppelszene, da der Held am Ende des Romans erneut ein Ross besteigt, von dem er anschließend gewaltsam wieder herunter gestürzt wird. Ynduráin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Roman weniger durch narrative oder erzähllogische Kohärenz seine Geschlossenheit erhält als durch stilistische Einheit, motivische Variation und Verfahren der Verdopplung und Inversion.137 Die eigentliche spektakuläre Marktplatz-Episode, auch batalla nabal genannt, spielt sich wie folgt ab: Yendo, pues, en él, dando vuelcos a un lado y otro como fariseo en paso, y los demás niños todos aderezados tras mí – que, con suma majestad, iba a la jineta sobre el dicho pasadizo con pies –, pasamos por la plaza (aún de acordarme tengo miedo), y llegando cerca de las mesas de las verduras (Dios nos libre), agarró mi caballo un repollo a una, y ni fue visto ni oído cuando lo despachó a las tripas, a las cuales, como iba rodando por el gaznate, no llegó en mucho tiempo. La bercera – que siempre son desvergonzadas – empezó a dar voces, llegáronse otras y, con ellas, pícaros, y alzando zanorias garrofales, nabos frisones, berenjenas y otras legumbres, empiezan a dar tras el pobre rey. Yo viendo que era batalla nabal y que no se había de hacer a caballo, comencé a apearme; mas tal golpe me le dieron al caballo en la cara, que, yendo a empinarse, cayó conmigo en una – hablando con perdón – privada. […] Yo, a todo esto, después que caí en la privada, era la persona más necesaria de la riña. Vino la justicia, comenzó a hacer información, prendió a berceras y muchachos, mi-

136 Ebd., S. 86. 137 Vgl. Ynduráin: „Introducción“, S. 21-24. Vgl. dazu auch die Pionierstudie von Spitzer („Zur Kunst Quevedos“), der auf die hohe Frequenz symmetrischer Konstruktionen im Buscón aufmerksam macht, die dem Werk Geschlossenheit verleiht.

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rando a todos qué armas tenían y quitándoselas, porque habían sacado algunos dagas de las que traían por gala, y otros espadas pequeñas. Llegó a mí, y viendo que no tenía ningunas, porque me las habían quitado y metídolas en una casa a secar con la capa y sombrero, pidióme como digo las armas, al cual respondí, todo sucio, que si no eran ofensivas contra las narices, que yo no tenía otras. Y de paso quiero confesar a v. m. que, cuando me empezaron a tirar las berenjenas, nabos, etcétera, que, como yo llevaba plumas en el sombrero, entendí que me habían tenido por mi madre y que la tiraban, como habían hecho otras veces; a así, como necio y muchacho, empecé a decir: – ,Hermanas, aunque llevo plumas, no soy Aldonza de San Pedro, mi madre‘, como si ellas no lo echaran de ver por el talle y rostro. El miedo me disculpa la ignorancia, y el sucederme la desgracia tan de repente. Pero, volviendo al alguacil, quísome llevar a la cárcel, y no me llevó porque no hallaba por dónde asirme: tal me había puesto del lodo (B 111f, Herv. G. S.).

Dieses traumatische Miniatur-Drama stellt den Ausgangspunkt der vida picaresca des Titelhelden dar, manifestiert gleichzeitig die Ur-Szene abjekter Männlichkeit und dient darüber hinaus als narratives Modell für viele weitere Stationen des Romans. Mit dem Vergleich „como un fariseo“ wird zunächst auf eindeutig pejorative Weise auf das jüdische Stigma des Protagonisten angespielt, das von der mütterlichen Seite stammt, um die es hier ohnehin durchweg geht. Auch wenn der Begriff des Pharisäers hier vermutlich im Wesentlichen auf die biblische Figur des jüdischen Schriftgelehrten Bezug nimmt, die im Neuen Testament mit Hochmut und Heuchelei in Verbindung gebracht wird, ist doch zudem für den gegebenen Kontext aufschlussreich, dass der aus dem Hebräischen stammende Begriff ursprünglich das ‚Abgesonderte‘ bezeichnet. Wenn Pablos zu Beginn lediglich wie ein Pharisäer auftritt, verkörpert er das Abgesonderte am Ende mit seiner ganzen Erscheinung: „tal me había puesto del lodo“. Wichtig ist zudem der bühnengleiche Ort des Geschehens: Die Szene spielt sich auf dem Marktplatz ab, in dem Bachtin den typischen Chronotopos des Schelms sieht: Was diese Figuren in die Literatur einbringen, ist [...], daß sie auf ganz essentielle Weise mit den Theatergerüsten und Bühnenmasken der öffentlichen Plätze verknüpft sind, daß sie mit einem spezifischen, doch sehr wesentlichen Abschnitt des Volksplatzes verbunden sind.138

138 Bachtin: Chronotopos, S. 87f.

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Hier liegt ein zentraler Unterschied zum Lazarillo, in dem das Entlarvungspotenzial hinsichtlich der Schlechtigkeit der Gesellschaft eher in Form von kammerspielartigen Kabinettstücken zum Vorschein gebracht wird, d. h. anhand von Szenen, die sich backstage abspielen und die der pícaro durch seinen voyeuristischen Blick öffentlich macht. Bei Quevedo, in Teilen auch schon bei Alemán, verlagert sich das Schelmenleben im Sinne der karnevalesken Volkskultur zunehmend in die Öffentlichkeit und flößt dem pícaro angesichts der Menge an Menschen nachhaltige Angst ein: „la plaza (aún de acordarme tengo miedo)“. Die Fassade der „suma majestad“, mithin die „Ehre, [...] die für Pablos’ schüchternes und gehemmtes Gemüt [zunächst] eine gewaltige Befriedigung“139 darstellt, erweist sich alsbald als karnevaleskes Requisit: Der stolze Hahnenkönig wird zum „pobre rey“. Auffällig ist ohnehin die affektive Dimension oder besser: die Stimmung dieser Szene, die von Angst und Ungnade („desgracia“) geprägt ist. Es ist diese Grundstimmung, die das traumatische Erlebnis des Falls in den Schmutz, das die Erbsünde, also den Fall aus dem Paradies, parodiert, affektiv dominiert und die sich im Wesentlichen der mütterlichen Schande verdankt bzw. der „Selbstidentifikation mit der Schuld seiner Mutter.“140 Dieses Gefühl der Schande wurde bereits vor dieser dramatischen Szene vorbereitet, als Pablos’ Mitschüler ihn als „hijo de una puta y hechicera“ (B 107) verunglimpfen und ihm daraufhin seine Mutter auf seine Frage, ob für ihn denn tatsächlich mehrere Väter in Frage kommen, lediglich antwortet: „[...] esas cosas, aunque sean verdad, no se han de decir“ (B 108). Diese Antwort erfüllt den Sohn mit unerträglicher „vergüenza“ (B 108) und lässt erstmalig in ihm den Wunsch aufkeimen, das elterliche Haus zu verlassen, was dann nach der öffentlichen Demütigung auf dem Marktplatz tatsächlich passieren wird. Die Stigmatisierung, die Pablos in dieser Szene erfährt, ist daher doppelt kodiert, wie Victorio G. Agüera postuliert: „Pablos, victima de una parodia burlesca se identifica en su vergüenza con la culpabilidad de su madre no sólo por su bajo origen social y moral, sino también y principalmente por ser ella cristiana nueva.“141 Tatsächlich jedoch verbirgt sich in dieser Szene noch eine dritte Form des Stigmas, die ebenfalls von der Identifikation mit der Mutter ausgeht, nämlich die Verweiblichung des Helden aufgrund der öffentlichen Gleichsetzung mit der Mutter. Pablos’ männliches Ideal-Ich des caballero, das er fälschlicherweise durch seine Position des rey de gallos realisiert sieht, wird durch drei Gefahren

139 Parker: „Zur Psychologie des Pikaro“, S. 223. 140 Ebd., S. 224. 141 Victorio G. Agüera: „Nueva interpretación del episodio ‚rey de gallos‘ del Buscón“, in: Hispanófila 49 (1973), S. 33-40, hier: S. 37.

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der sozialen Diskreditierung massiv bedroht und zwar durch die klassische Trias der Ungleichheitskategorien race, class und gender: jüdische Herkunft, niedriger Stand und drohende Entmännlichung. Bezeichnend ist, dass all diese Stigmata auf die Figur der Mutter zurückgehen, was die Abnabelung unausweichlich macht. Die Flucht aus der mütterliche Schande und das Empfinden sozialer Scham bilden daher, wie bereits angedeutet, den Ausgangspunkt der vida picaresca bei Quevedo: „determinéme de no volver más a la escuela ni a casa de mis padres“ (B 113). Bereits in dieser Ur-Szene, die einer pervertierten Form des Taufrituals gleichkommt, tauchen zwei weitere Kennzeichen auf, die Quevedos Verachtung für seinen Antihelden auf hyperbolische Weise zum Ausdruck bringt und auch die weiteren Etappen seiner Mannwerdung begleiten werden: exkrementale Phantasien und exzessive Gewalt. Pablos fällt nicht nur in den Schmutz des Marktplatzes, sondern es ist gleich zweifach davon die Rede, dass er in die „privada“ stürzt, was nichts anderes als Exkrement bedeutet und auch die Formulierung „era la persona más necesaria“ dient hier, Ynduráin zufolge, als Hinweis auf fäkale Wortspiele: „necesaria significa también ‚secretas, letrinas‘“ (B 112). Dass solche unappetitlichen Motive eine gewisse Tradition haben, erklärt noch nicht, warum man im Gesamtwerk Quevedos eine regelrechte „obsesión excremental“142 beobachten kann. Für Goytisolo verdankt sich die Abundanz fäkaler Motive einer grundsätzlichen literarischen Rebellion gegen die vorherrschende Körperfeindlichkeit, ja den Körperhass des Katholizismus, weshalb er in der ‚Obsession‘ Quevedos keineswegs einen „reflejo de una mente enferma“, sondern eher „un síntoma de buena salud“143 erkennt. Goytisolo sieht folglich in Quevedo „la apoteosis vengadora de lo fisiológico y visceral – la toma de conciencia del cuerpo negado con su mugre, deyecciones, saliva.“144 Dieser Lesart des Kreatürlichen von Goytisolo entspricht in gewisser Weise auch ein bekanntes Sonett Quevedos mit dem etwas umständlichen Titel „Pronuncia con sus nombres los trastos y miserias de la vida“: La vida empieza en lágrimas y caca, luego viene la mu, con mama y coco, síguense las viruelas, baba y moco, y luego llega el trompo y la matraca.

142 Vgl. Juan Goytisolo: „Quevedo: la obsesión excremental“, in: ders.: Disidencias, Barcelona 1978, S. 117-135. 143 Ebd., S. 120. 144 Ebd., S. 124.

402 | V IR INVERSUS En creciendo, la amiga y la sonsaca, con ella embiste el apetito loco, en subiendo a mancebo, todo es poco, y después la intención peca en bellaca. Llega a ser hombre, y todo lo trabuca, soltero sigue toda Perendeca, casado se convierte en mala cuca. Viejo encanece, arrúgase y se seca, llega la muerte, todo lo bazuca, y lo que deja paga, y lo que peca.145

Man könnte in dieser lyrischen Miniatur, die der Übersetzer Wilhelm Muster mit „Lebenslauf eines Mannes“146 überschrieben hat, den Kern quevedesker conditio humana sehen, eine negative Anthropologie, die auch dem Buscón zugrunde liegt. Insbesondere die erste Strophe des nicht datierten Gedichts liest sich wie ein Kommentar zur Hahnenkönig-Episode, in welcher der Titelheld im Rahmen einer zweiten Geburt aus Tränen und Kot hervorgeht, um schließlich als „bellaco“ sein Leben zu bestreiten. Es wäre jedoch hinsichtlich des Buscón zu kurz gegriffen, die exkrementale Bildsprache einzig dem insgesamt negativen Menschenbild Quevedos in Rechnung zu stellen. In anderen Gedichten, in denen eine ähnliche Metaphorik auftaucht, entlädt sich zum Beispiel sein Hass gegen den Konkurrenten Luis de Góngora, den er auch vermittels antisemitischer und homophober Hetzrede diffamiert, so etwa in „Yo te untaré mis obras con tocino“.147 Man kann daher beobachten, dass sich der exkrementale Diskurs dort auf besonders enthumanisierende Weise entlädt, wo es Quevedo um hate speech gegen bestimmte Individuen und Gruppen geht, gegen Verhaltensweisen und das Fremde, „lo inasimilable y ajeno“.148 Auch Molho sieht in der Bildsprache Quevedos vor allem den Wunsch nach Degradierung des Menschen zum Objekt bzw. zum Tier:

145 Francisco de Quevedo: Poemas escogidos, hrsg. von José Manuel Blecua, Madrid 1972, S. 199. 146 Francisco de Quevedo: Gedichte. Spanisch und deutsch, hrsg. und übers. von Wilhelm Muster, München 1986, S. 27. 147 Quevedo: Poemas escogidos, S. 340f. 148 Goytisolo: „Quevedo: la obsesión excremental“, S. 132.

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On y voit l’homme se dégrader au point d’apparaître sous la chosifiante image d’un organisme, ou plutôt d’un automate physiologique défécateur et sputateur, capable de sécréter sur commande la fiente et la morve qui l’emplissent. On observera qu’ici la dégradation consiste à faire descendre la personne physiologique au niveau de l’animal qui s’abreuve à l’auge, vautré sur le sol, comme si la station debout, attribut spécifique de l’homme, lui était interdite.149

Die Verdinglichung der Figur zu einer pikaresken Marionette ohne Ratio hat auch Rico dazu veranlasst, folgendes apodiktisches Urteil über Quevedos Titelhelden zu fällen: „Pablos apenas tiene otra vida interior que la estrictamente digestiva.“150 Dieses Urteil widerspricht auf den ersten Blick jeglicher Psychologisierung des Buscón, wie sie etwa Dwight K. Neumann vornimmt, der ebenfalls Scham und Schande an den Ursprung des Romans setzt.151 Rico sieht die fehlende psychologische Tiefe Pablos’ in seinem Mangel an moralischem Bewusstsein begründet und macht als Hauptmotivation all seiner Handlungen nur den „deseo de la honra y preeminencia social“152 verantwortlich. Dass jedoch die soziale Scham des Protagonisten, der „dégoût de son entourage familial“153 diesen Aufstiegsambitionen noch vorgelagert ist, verkennt er. Dass Quevedo aus Pablos tatsächlich ein Objekt macht, resultiert aus dem Umgang seines sozialen Umfeldes mit ihm und verdankt sich somit nicht einer intrinsischen Veranlagung. Dass überhaupt der Eindruck entsteht, Pablos könnte nur auf seine kreatürlichen Funktionen reduziert sein, liegt vielmehr an Quevedos Inszenierung seiner Figur in der direkten Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Somit entsteht auch sein Männlichkeitsentwurf innerhalb dieses Prozesses sozialer Interaktion. Bevor diese Interaktion – besser: der Kampf – mit dem rein homosozialmännlichen Umfeld genauer beleuchtet wird, soll neben den beiden Lesarten, die entweder in Pablos ein stigmatisiertes Subjekt oder ein fäkal kontaminiertes Objekt sehen, noch ein dritter Ansatz präsentiert werden, der sich auf die von Cavillac und Cavillac erstmals geäußerte, jedoch nicht näher ausgeführte Diagnose stützt, dass Pablos eine vollkommen abjekte Figur darstelle. Georges Bataille hat sich als einer der ersten 1930, d. h. am Vorabend des nationalsozialistischen Re-

149 Maurice Molho: „Introduction à la pensée picaresque“, in: ders. (Hrsg.): Romans picaresques espagnols, Paris 1968, S. XI-CXLII, hier: S. LXXXIX. 150 Francisco Rico: La novela picaresca y el punto de vista, Barcelona 1973, S. 124. 151 Dwight K. Neumann: „Excremental Fantasies and Shame in Quevedo’s Buscón“, in: Literature and Psychology 28 (1978), S. 186-191. 152 Rico: La novela picaresca, S. 124. 153 Cavillac/Cavillac: „A propos du Buscón“, S. 126.

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gimes, mit dem Begriff und dem Modell der Abjektion beschäftigt und sieht darin zunächst einen sozialen Mechanismus der Exklusion, konkret einen „acte impératif d’exclusion [...] strictement négatif“154, durch den sich die Souveränität der Gesellschaft konstituiert: L’abjection d’un être humain est même négative au sens formel du mot, puisqu’elle a une absence comme origine : elle est simplement l’incapacité d’assumer avec une force suffisante l’acte impératif d’exclusion des choses abjectes (qui constitue le fondement de l’existence collective). La crasse, la morve, la vermine suffisent à rendre ignoble un enfant en bas âge, alors que sa nature personnelle n’en est pas responsable, mais seulement l’incurie ou l’impuissance de ceux qui l’élèvent. L’abjection générale est de même nature que celle de l’enfant, étant subie par impuissance en raison de conditions sociales données […]. 155

Durch den Bezug des Begriffs zu den Ausscheidungsmechanismen des Körpers („crasse“, „morve“, „vermine“), macht Bataille deutlich, dass es beim Mechanismus der Abjektion darum geht, das Unreine gewaltvoll auszusondern: „la tendance générale à exclure l’impureté se manifeste alors sous forme de tendance à la cruauté s’exerçant sur une personne.“156 Bataille zufolge handelt es sich bei der Abjektion um einen Prozess der Verdinglichung, weshalb er primär von den „choses abjectes“ spricht. Kristeva hat, wie bereits dargestellt, den Begriff psychoanalytisch theoretisiert, aber durchaus auch an manchen Stellen auf das soziologische Potenzial aufmerksam gemacht. Darauf aufbauend hat sich der Begriff inzwischen längst als Beschreibungskategorie etabliert, so vor allem in der Prekariatsforschung, in der Abjektion tatsächlich nicht mit Exklusion gleichgesetzt wird, sondern aufgrund des liminalen Charakters als „inclusive exclusion“157 interpretiert wird, da das Abjekte an den Grenzen des Gesellschaftskörpers verharren muss:

154 Georges Bataille: „Les choses abjectes“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II: Écrits posthumes 1922-1940, hrsg. von Denis Hollier, Paris 1970, S. 220-221, hier: S. 220. 155 George Bataille: „Les misérables“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. II: Écrits posthumes 1922-1940, hrsg. von Denis Hollier, Paris 1970, S.217-219, hier: S. 219. 156 Bataille: „Les choses abjectes“, S. 221. 157 Vgl. Imogen Tyler: „What is social abjection?“, Online-Publikation, abrufbar unter: https://socialabjection.wordpress.com/what-is-social-abjection/ (Zugriff: 8.1.2018); vgl. dies.: Revolting Subjects: Social Abjection and Resistance in Neoliberal Britain, London 2013.

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[...] the disciplinary forces of sovereignty, its processes of inclusion and exclusion, produce waste populations: an excess which threatens from within, but which the system cannot fully expel as it requires this surplus to both constitute the boundaries of the state and to legitimate the prevailing order of power.158

Cruz sieht im Buscón, stärker als in den beiden Vorgängerromanen, eine düstere Parabel auf das Wirken gesellschaftlicher Abjektionsmechanismen, die sich gegen das Andere richten, d. h. vorwiegend gegen conversos, die nicht dem Ideal der limpieza de sangre entsprechen, und damit als ‚unrein‘ gelten. Quevedo zufolge stellen sie eine Gefahr für die Gesundheit des Staatskörpers dar. Dank dieses Verständnisses kommt dem pícaro bei Quevedo eine Stellvertreterfunktion zu: Er dient, wie im Lazarillo bereits angedeutet, als Sündenbock, wobei die Abundanz exkrementaler Bilder das Abjekte bzw. die Abjektion nicht nur als abstrakt-heuristische Kategorien bemühen, sondern entsprechend Quevedos Poetik der Eindeutigkeit signifiant und signifié zusammenführt. Cruz schreibt: „The text utilizes corporeal waste to create a permeable barrier, or skin-like film, that, just as it provisionally separates the pícaro’s outer self from his inner being, intends to isolate the marginalized from the centre.“159 Demzufolge ist es sicherlich von Belang, dass die Fäkalien, mit denen Pablos bis zur Nachricht vom Tod seiner Eltern, d. h. bis zur Mitte des Romans, wiederholt besudelt wird, immer vom Kollektiv stammen: der Kot des Marktplatzes in der Hahnenkönig-Episode, die Spucke der Studenten in Alcalá und schließlich die besonders ekelerregende Szene, als die studentischen Mitbewohner sein ganzes Bett einkoten, bevor er sich schlafen legt. Es handelt sich daher um keine Übergriffe einzelner Figuren, sondern um die Abwehr durch das – bis auf den Marktplatz – stets männliche Kollektiv. Cruz gibt zu bedenken, dass diese ausschließlich negative Kodierung exkrementaler Motive nichts mit Bachtins Rabelais-Analysen zu tun habe, wo das Skatologische für Fruchtbarkeit und Regeneration steht.160 Hier muss man einschränkend hinzufügen, dass die besagten Szenen allesamt Initiationscharakter haben und Pablos dazu bringen, das Alte hinter sich zu lassen und einen

158 Ebd. 159 Cruz: Discourses of Poverty, S. 125. 160 Ähnlich argumentiert auch Teuber: „Für sehr viel grundlegender halten wir jedoch das Voranschreiten des Zivilisationsprozesses selbst, der die geschichtliche Gestalt des Körpers zwischen dem Zeitalter des Rabelais und jenem des Quevedo nicht unerheblich verändert hatte und darum auch eine neuartige Behandlung von Motiven der karnevalesken Tradition erforderlich machte.“ In: Sprache – Körper – Traum, S. 184.

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neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass solche von Gewalt und Exkrementen begleiteten Rituale innerhalb von männerbündischen Kollektiven, etwa im Militär, durchaus keine Seltenheit sind, aber dort geht es – wie immer man dazu stehen mag – letztlich um die Inklusion in den Bund, während es im Buscón um Ausschluss bzw. Abjektion geht: „Once the students and townspeople eject their excretions onto the pícaro, he assumes and externalizes the negative values that remain, still, at their core.“161 Der Ekel der Gesellschaft gegenüber ihren abjekten Mitgliedern äußert sich bereits am Ende des episodio ‚rey de gallos‘, als der hinzugekommene Polizeidiener Pablos deshalb nicht verhaftet, da es an seinem Körper keine saubere Stelle mehr gibt: „Pero, volviendo al alguacil, quísome llevar a la cárcel, y no me llevó porque no hallaba por dónde asirme: tal me había puesto del lodo.“ Diese ambivalente Geste wiederholt sich, nachdem die Studenten von Alcalá Pablos so sehr bespucken, dass sein Körper „ya nevado de pies a cabeza“ (B 143) ist, was ihn immerhin vor einer weiteren Tracht Prügel bewahrt, da die Studenten sich vor seinem besudelten Äußeren ekeln. Bataille bemerkt dazu, dass dieser paradox anmutende Schutzmechanismus sich der „prohibition du contact par laquelle les nobles consacrent l’abjection des misérables“162 verdanke. So bleibt die Figur des abjekten pícaro letztlich ambivalent: Sie erregt einerseits Ekel und bleibt andererseits geschützt, da die Gesellschaft sich vor Kontamination mit ihren eigenen Exkrementen fürchtet. Diese Einschätzung wird auf brutale Weise bestätigt, als der Titelheld und Don Diego nach Pablos’ Flucht in das Internat für kleinadelige Jungen des Leiters Cabra gesteckt werden. Das Porträt des geizigen Internatsleiters, „ein aus einzelnen schauerlichen Zügen zusammengesetztes Allegoriebild“,163 stellt ein weiteres Paradebeispiel von Quevedos grotesker Sprachkunst dar, das Spitzer besonders ausführlich gewürdigt hat. Cabra, der diabolische ‚Ziegenbock‘ mit roten Haaren, ist die Inkarnation des Geizes, ein ausgesprochener Sadist avant la lettre und darüber hinaus converso (was ebenfalls dafür spricht, dass die Eltern Don Diegos ebenfalls jüdischer Abstammung sind). Er ist von allen düsteren Gestalten des Romans – zusammen mit Pablos’ Onkel, dem Henker seines Vaters – eine der Übelsten: „This miserly, emaciated figure assumes the most repugnant features of the stereotypical converso: slovenly dressed, frugal to excess, and,

161 Ebd. 162 Bataille: „Les misérables“, S. 219. 163 Vgl. Spitzer: „Zur Kunst Quevedos“, S. 74f.

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what is worse, a menace to the lives of innocent children.“164 Er enthält seinen Schülern das Essen vor, was tatsächlich zum Tod eines seiner Zöglinge führt. Quevedo konzentriert das aus dem Lazarillo übernommene Hunger-Motiv in einem einzigen Kapitel, das in der Logik der erzählten Zeit tatsächlich in die Fastenzeit fällt. Es verdankt sich auch den zynischen Vorgaben des Fastens, dass diese besonders grausame Episode nicht durch exkrementalen Exzesse bestimmt wird, wie die vorangegangene und auch die folgenden, sondern gerade durch deren Abwesenheit, wie Iffland kommentiert: „Whereas the scatological usually depends on the presence of excrement, here it depends upon its absence.“165 Das liegt daran, dass es im Reiche Cabras, dem „lacayuelo de la muerte“ (B 117) nichts zu verdauen gibt, wie uns Pablos wortreich darlegt und weshalb es auch keinen stillen Ort im Internat gibt. Diese groteske Schilderung, die mit Iffland als „inverted scatology“166 bezeichnet werden kann, führt uns den pícaro als Verkörperung des absoluten Mangels vor, der ihn und seinen Herren um ein Haar ebenfalls das Leben kostet. Es ist eben diese Szene, in der sogar das kontaminierende Element fehlt, das ihn am Ende immer noch vor dem Allerschlimmsten bewahrt hat – im Internat Cabras ist sein Körper reduziert auf das nackte Leben, wie es Folger im Anschluss an die Denkfigur des homo sacer von Agamben sieht: Der Pícaro ist die Manifestation des nackten Lebens in der kulturellen Imagination. Deshalb ist er das Opfer kollektiver Gewalt und extremer Leiden. Deshalb ist er Waise und Nomade, verlassen von den Gesetzen und der Gesellschaft: Kein Werk der Gattung zeigt besser als Quevedos Buscón, daß der Pícaro als homo sacer das Doppel des Souveräns ist.167

Die Identifikation von Quevedos Anti-Held mit dem homo sacer, die, wie noch zu zeigen ist, nur eine Seite der Medaille darstellt, hat unmittelbare Auswirkun-

164 Cruz: Discourses of Poverty, S. 129. 165 Iffland: Quevedo and the Grotesque, S. 93. 166 Ebd., S. 94. 167 Folger: „Quevedos Buscón“, S. 200. Vgl. zur Denkfigur des homo sacer folgende Definition: „An den beiden äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der homo sacer zwei symmetrische Figuren dar, die dieselbe Struktur haben und korreliert sind: Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln.“ In: Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, S. 94.

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gen auf das Männlichkeitsbild des pícaro: Man könnte sagen, dass hier der männliche Habitus – reduziert auf die nackte Existenz – am Nullpunkt angekommen ist, am degré zéro de la virilité sozusagen. Gemein ist der vorliegenden Internats- und der folgenden Universitätsszene, dass es sich bei beiden um grotesk überzeichnete Parodien erzieherischer, männerbündisch organisierter Institutionen handelt, um „Schulen der Männlichkeit“168, wie es Sebastian Zilles für die Zeit um 1900 formuliert. Angesichts dieser grotesken Überzeichnung muss man sich jedoch als Leser fragen, was Pablos dort lernt. Im Fall von Cabras Internat zeigt uns Quevedo einmal mehr seinen ausgeprägten Antisemitismus, indem er den jüdischen Internatsleiter als die sadistischste Figur von allen präsentiert, die selbst nicht davor zurückschreckt, Mitglieder derselben marginalisierten Gruppe noch weiter zu entmenschlichen, indem er ihnen die lebensnotwendigen, organischen Grundbedürfnisse verweigert. Die leidvollen Erfahrungen innerhalb des studentischen Kollektivs in Alcalá, die im Ausruf Pablos’ „Tened [...] que no soy Ecce-Homo“ (B 144)169 kulminieren, führen vor allem vor Augen, dass der ersehnte Wunsch, eines Tages den Habitus des caballero zu erlangen, nicht möglich ist, sondern dass dem Abjekten der Gesellschaft mit exkrementaler Wucht begegnet wird, was die Negation des Ecce-Homo ganz wörtlich nehmen lässt: Dies ist kein Mensch. Gleichwohl unterstreichen die zynischen Bezüge zur Passion Christi einmal mehr Pablos’ Funktion als Sündenbock der Gesellschaft, wie auch Cruz hervorhebt: „The scatological event imposes on Pablos the role of scapegoat: he at once represents and expiates, through his suffering, the iniquity brought on society by the ‚other‘.“170 Was folgt, ist eine letzte Metamorphose, sozusagen eine Wiederauferstehung mit dem Vorsatz, der größte Schurke von allen zu werden: „ser bellaco con los bellacos, y más, si pudiese que todos“ (B 149) – eine Karriere, die anfänglich durchaus von einigen Erfolgen gekrönt ist. Der karnevalesken Struktur des Buscón entsprechend können demnach die folgenden Stationen verzeichnet

168 Vgl. Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900, Köln/Weimar/Wien 2018. 169 Auch diese Anspielung an die Passion Christi und die Kreuzigung befindet sich in der Logik der Chronologie: Erst Karneval, dann die Fastenzeit und nun Ostern. Edmond Cros hat diese Abfolge der Episoden nach dem Muster der katholischen Liturgie als erster erkannt: Edmond Cros: „Lectura sacrificial de la muerte de Cristo y rivalidad mimética en el Buscón“, in: Víctor García de la Concha (Hrsg.): Homenaje a Quevedo. Actas de la II Academia Literaria Renacentista, Salamanca 1982, S. 339346. 170 Cruz: Discourses of Poverty, S. 131.

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werden: rey de gallos, pervertierter rey de los judios, und schließlich Principe de la Vida Buscona (B 92). Den entscheidenden Wendepunkt bringt ein Brief von Pablos’ Onkel Alonso Ramplón herbei, der ihn vom Tod seiner Eltern unterrichtet. Wie bereits gesagt, ist Pablos’ Vater von jenem Onkel gehenkt und sodann gevierteilt worden, während die Mutter als Hexe verbrannt wurde. Der Onkel lädt seinen Neffen nach Segovia ein, um dort sein Erbe von immerhin 300 Dukaten in Empfang zu nehmen. Der Beruf des Henkers steht in der Hierarchie der oficios reales noch unter Lazarillos Amt des pregonero und erfüllt Pablos einmal mehr mit Scham: „Penséme morir de vergüenza“ (B 197). In der Wohnung des Onkels – „junto al matadero“ (B 198) – spielt sich sogleich die nächste groteske Szene ab: Zum Henker gesellen sich noch ein falscher Bettler in Kardinalstracht, ein Schweinehirte und ein schielender Mulatte, die sich zum Abendmahl treffen und zwar zum letzten, zumindest für Pablos’ Vater: Onkel Alonso hat aus dessen sterblichen Überresten Pasteten hergestellt: Parecieron en la mesa cinco pasteles de a cuatro. Y tomando un hisopo, después de haber quitado las hojaldres, dijeron un responso todos, con su requiem eternam, por el ánima del difunto cuyas eran aquellas carnes. Dijo mi tío: –‚Ya os acordáis, sobrino, lo que os escribí de vuestro padre.‘ Vínoseme a la memoria; ellos comieron, pero yo pasé con los suelos solos, y quedéme con la costumbre; y así, siempre que como pasteles, rezo una avemaría por el que Dios haya. [...] Salíme de casa; entretúveme en ver mi tierra toda la tarde, pasé por la casa de Cabra, tuve nueva de que ya era muerto, y no cuidé de preguntar de qué, sabiendo que hay hambre en el mundo. [...] Con estas vilezas a infamias que veía yo, ya me crecía por puntos el deseo de verme entre gente principal y caballeros (B 201-204).

Diese Episode, die einen aberwitzigen Mix aus biblischen (Abendmahl) und mythologischen (Philomela)171 Intertexten beinhaltet und laut Iffland „the most powerfully grotesque moment of the entire novel“172 darstellt, markiert insofern

171 In Ovids Version des Philomela-Mythos servieren die Titelheldin und ihre Schwester Prokne ihrem Schänder Tereus Teile des gemeinsamen Sohnes Itys zum Abendessen. Auch Shakespeare verarbeitet den Stoff in seinem frühen Stück Titus Andronicus. Vgl. dazu Doerte Bischoff/Julie Freytag: „Philomela und Prokne“, in: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2008, S. 590–595. Im Gegensatz zu diesen Versionen verzehren Pablos’ Onkel und seine Kumpane den toten Vater willentlich. 172 Iffland: Quevedo and the Grotesque, S. 118.

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den Wendepunkt des Romans, als es hier nicht mehr um Digestion, sondern um Ingestion geht, die man als Patrophagie bezeichnen kann, auch wenn Pablos den Verzehr dezidiert verweigert. Bezeichnenderweise wird der Tod des Vaters in einem Atemzug mit dem Tode Cabras geschildert, der ja auch aufgrund seiner jüdischen Abstammung und der erzieherischen Funktion als Lehrer eine pervertierte Vaterfigur darstellt. Beide Vaterfiguren unterscheidet jedoch, dass der eine verschlungen wird, während der andere an seinem eigenen Geiz stirbt, d. h. der Abstinenz vom Verschlingen. Wenn man nun diese Szene nicht, wie es naheläge, psychoanalytisch deutet, so z. B. als ödipale Verweigerung der eigenen Ursprünge, sondern in das Modell des Staatskörpers, zu dem der königliche Henker ja gehört („el servir al Rey“, B 162), einpasst, dann bringt es die andere Seite der sozialen Abjektion auf makabre Weise zum Vorschein: Der Organismus braucht den Zyklus von Ingestion und Digestion als lebenserhaltende Maßnahmen. So erklärt sich einmal mehr der Unterschied von Abjektion und Exklusion, und nach diesem grotesken Höhepunkt des Romans wird zudem deutlich, dass skatologische und kreatürliche Motive von nun an kaum noch eine Rolle spielen. Wenn Donald W. Bleznick konstatiert, dass in Pablos’ weiterem Leben Geld zusehends das Exkrementale substituiert („as a weapon and the symbol of independence and the quest for power“173), scheint diese Feststellung zunächst rätselhaft, doch dürfte diese Beobachtung genau in dieser Episode des pervertierten Abendmahls begründet sein. Denn auch wenn der Protagonist den Verzehr der „pasteles de a cuatro“ verweigert, so ist er sich doch nicht zu schade, das väterliche Erbe von immerhin 300 Dukaten an sich zu nehmen, um seinem Onkel danach unverzüglich in einem Brief mitzuteilen, dass er von nun an keinen Vater und keine Mutter mehr habe und er auch nie wieder Kontakt zu seinem Onkel wünsche: „Yo pretendo ser uno de mi linaje, que dos es imposible, si no vengo a sus manos, y trichándome, como hace a otros. No pregunte por mí, ni me nombre, porque me importa negar la sangre que tenemos. Sirva al Rey, y adiós“ (B 206, Herv. G S.). Die von Bleznick postulierte Transsubstantation von Exkrementen zu Geld, die durchaus dem blasphemisch-perversen Charakter der gesamten Episode entspricht, wird demnach in diesem Kapitel des Romans verwirklicht. Das unreine converso-Blut wird zwar negiert, aber das materielle Familienerbe willig angenommen – in diesem rebellierenden Tausch des Sanguinen gegen das Pekuniäre verbirgt sich möglicherweise eine maliziöse Replik auf den hereditären Leitspruch des Guzmán: „La sangre se hereda y el vicio se apega.“ Pablos verkennt nämlich, dass das Geld des Vaters, wie wir vom Beginn des Romans wissen,

173 Donald W. Bleznick: Quevedo, New York 1972, S. 86.

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keineswegs unschuldig ist, sondern sich den Betrügereien des Barbiers von Segovia verdankt und damit als genauso moralisch vorbelastete Erbmasse zu betrachten ist wie das unreine Blut der Eltern. Quevedo, der leidenschaftliche Verfechter der altchristlichen pureza de sangre-Doktrin, wird seine Figur lehren, dass es nicht möglich ist, sein Blut zu verleugnen. Gleichwohl wird mit dem Wendepunkt auch ein vorläufiger Wandel des Männlichkeitsentwurfs herbeigeführt: und aus dem homo sacer von einst wird zunächst ein puer robustus und schließlich ein homo oeconomicus. Dieter Thomä hat den puer robustus – dessen Geburt er in Hobbes’ politischer Theorie verwirklicht sieht, also historisch gesehen kurz nach dem Erscheinen der drei Prototypen des spanischen Schelmenromans – als eine liminale Figur gesellschaftlichen Widerstands kategorisiert, als Störenfried, „der die Ordnung herausfordert und ihre Elastizität testet.“174 Er sieht in ihm das Gegenmodell zu Agambens Konzeption des homo sacer, die er als „ontologische Unmöglichkeit“175 kritisiert, und führt diese Differenzierung folgendermaßen aus:

174 Dieter Thomä: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Frankfurt/M. 2016, S. 18. Wenn man Thomäs Ausführungen folgt, fragt man sich als Literaturwissenschaftler, warum er die pícaros, die zu großen Teilen dieser Denkfigur entsprechen, nicht in seine Archäologie des puer robustus aufgenommen hat: „Der puer robustus – der kräftige Knabe, der starke Kerl – ist ein Störenfried. [...] Er ist also nicht gerne gesehen – es sei denn, er wendete sich gegen einen faulen, falschen Frieden. [...] Der Streit, der sich am puer robustus entzündet hat, betrifft nicht irgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie: die Frage, wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpassen oder quertreiben. Zum Thema der Ordnung gehört notwendigerweise das der Störung, also die Rolle von Außenseitern und Randfiguren, Querulanten und Quertreibern. [...] Mein Held – der puer robustus – ist unterwegs. Er weiß nicht, wo er morgen sein wird. [...] Wie auch immer der Störenfried sich verhält, er befindet sich am Rand, an einer Grenze oder eben, wie es besser heißen sollte, an einer Schwelle. [...] Der puer robustus, der sich an der Schwelle herumtreibt, steht nicht zwischen zwei Ordnungen, er bewegt sich vielmehr am Rand einer einzigen Welt, die durch die Reichweite ihrer Macht definiert ist. [...] Die Ordnung bringt also eigentlich den Störenfried hervor, den sie beobachtet und bekämpft. [...] Dieses Schema von Drinnen und Draußen ist gebunden an ein zentralistisches Modell von Politik, das als Gegner nur Außenseiter kennt. Historisch gesehen heißt das: Der puer robustus kann nur ein Kind der frühen Neuzeit sein“ (S. 11-17). 175 Ebd., S. 542.

412 | V IR INVERSUS Der puer robustus tritt als Schwellenwesen gegen den homo sacer an, jene Figur also, die Giorgio Agamben der Vergessenheit entrissen hat. Beide stehen für die Ausgeschlossenen, und wie der puer robustus von Hobbes ein vir malus genannt wird, so wird der homo sacer im römischen Recht als homo malus bezeichnet. Doch in Agambens Analyse sind ‚Ausschließung‘, ‚Absonderung‘, ‚Verlassenheit‘ definitiv. Der homo sacer befindet sich in einem absoluten Draußen, er ist das ganz Andere, gegen den sich die Ordnung definiert, und den sie, jedenfalls in der Antike, straflos töten darf. [...] Wenn man die Ausgrenzung absolut setzt, wird der Außenseiter – und mit ihm die Geschichte – lahmgelegt. Er kommt nicht als Akteur ins Spiel, sondern wird zum Opfer gemacht.176

Mit diesen Ausführungen lässt sich auch der Wandel im Buscón begründen: Wenn Folger gegen Thomäs Kritik die Figur des homo sacer für Quevedos Hauptfigur ins Feld führt, gilt dies tatsächlich nur für die erste Hälfte des Romans, in der Pablos vor allem aufgrund seines converso-Stigmas und der niedrigen sozialen Herkunft zum Opfer gemacht wird und mit fäkal dominierter Erbarmungslosigkeit als das Abjekte der feudalen Ordnung vorgeführt wird. Es wird auch später noch Episoden geben, in denen ihm mit aller Gewalt seine Grenzen aufgezeigt werden. Hier aber ist Pablos mithilfe des väterlichen Erbes aus der Passivität herausgetreten und wird zusehends zum Akteur und damit zum Störenfried für die Ordnung, da er sich in der zweiten Romanhälfte vornehmlich als Hochstapler und Heiratsschwindler betätigt. Bevor abschließend noch das Ende des Buscón näher in den Blick genommen wird, gilt es, noch ein paar Kommentare zur Funktion des Geldes zu machen, das in der zweiten Hälfte des Romans immer wichtiger wird.177 Das Geld bildet zunächst die Grundlage für Pablos’ Aufstieg zum Principe de la Vida buscona. So wie ihn zuvor sein besudelter Körper und damit die Exkremente des gesellschaftlichen Kollektivs vor dem Zugriff staatlicher Autoritäten geschützt hatten, lernt er nach einer Festnahme, sich mit dem väterlichen Geld freizukaufen, indem er die Staatsdiener besticht. Er kauft sich Kleider, nachdem er von eine Gruppe verarmter Hidalgos – den „chanflones“ (B 211), was soviel bedeutet wie Falschgeld – gelernt hat, auf seine äußere Erscheinung zu achten: Di traza, con los que me ayudaron, de mudar de hábito, y ponerme calza de obra y vestido al uso, cuellos grandes y un lacayo en menudos: dos lacayuelos, que entonces era uso.

176 Ebd., S. 18. 177 Zur Rolle des Geldes im Gesamtwerk Quevedos vgl. Eberhard Geisler: Geld bei Quevedo. Zur Identitätskrise der spanischen Feudalgesellschaft im frühen 17. Jahrhundert, Frankfurt/M./Bern/Cirencester 1981.

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Animáronme a ello, poniéndome por delante el provecho que se me seguiría de casarme con la ostentación, a título de rico, y que era cosa que sucedía muchas veces en la corte (B 257, Herv. G. S.).

Geld kann demzufolge dazu nutzbar gemacht werden, die feudale Hierarchie von innen heraus zu korrumpieren, was vor allem im Guzmán bereits durch die starke Rolle des Merkantilismus – dort ebenfalls inkorporiert durch die Vaterfigur – verhandelt wurde. So verwundert es kaum, dass Quevedo dem Siegeszug des Mammons über das Blut verächtlich gegenübersteht, was er nicht nur im Buscón zum Ausdruck bringt, sondern auch in seiner berühmten Letrilla satírica über den „don Dinero“, in der jede der zehn Strophen mit dem Doppelvers „poderoso caballero es don Dinero“178 endet. Besonders die vierte Strophe über die Väter ist aufschlussreich: Son sus padres principales, Y es de nobles descendiente, Porque en las venas de Oriente Todas las sangres son Reales. Y pues es quien hace iguales Al rico y al pordiosero, Poderoso caballero Es don Dinero.179

Durch den wiederkehrenden Reim von caballero und Dinero macht Quevedo die Bedrohung des Geldes aufmerksam, vor allem im Bezug auf parasitäre Durchsetzung der Aristokratie durch vornehmlich jüdische Emporkömmlinge („venas de Oriente“), was er auch in anderen Texten lautstark verurteilt, in denen er die präkapitalistischen Vorstellungen der sog. Arbitristas kritisiert.180 Auch Pablos steigt für kurze Zeit auf zum „don Dinero“ bzw. verwandelt sich vom puer robustus in eine Karikatur des homo oeconomicus, womit er seinen beiden Vorläufern Lázaro und Guzmán nacheifert. Anders jedoch als im Lazarillo und auch bei Alemán bezieht Quevedo deutlich Stellung gegen die zunehmende Macht der Geldwirtschaft, in deren Vertretern er das feindliche Andere fürchtet, das nicht nur den Adel zersetze, sondern auch die männliche Ord-

178 Quevedo: Poemas escogidos, S. 229-232. 179 Ebd., S. 230 (Herv. i. O.). 180 Vgl. dazu Roger Llopis-Fuentes: „El personaje del arbitrista según Cervantes y Quevedo“, Cincinnati Romance Review 10 (1991), S. 111-122.

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nung des Staates, wie Ehrlicher darstellt: „Als dieser feindliche ‚Andere‘ fungieren zum einen die Juden und protestantischen Häretiker, welche die männliche Geschlossenheit der spanischen Körperschaft von außen bedrohen“, aber eben auch „ausländische Händler und Bankiers jüdischer Herkunft, deren Komplottplänen Quevedo die größte Schuld am beginnenden Machtverfall der spanischen Monarchie zuschreibt.“181 Ehrlicher macht in diesem Zusammenhang auf eine Stelle aus Quevedos nationalistischer Streitschrift España defendida aus dem Jahr 1609 aufmerksam, in der Quevedo den Staat tatsächlich als männliches Gebilde versteht, das durch die Gefahren der Verweiblichung bedroht wird: Las mujeres inventaron excesivo gasto a su adorno, y así la hacienda de la república sirve a su vanidad. Y su hermosura es tan costosa y de tanto daño a España que sus galas nos han puesto necesidad de naciones extranjeras para comprar, a precio de oro y plata, galas y bujerías, a quien sola su locura y devaneo pone precio; de suerte que nos dejan los extranjeros el Reino lleno de sartas y invenciones de cambray y hilos y dijes, y se llevan el dinero todo, que es el niervo y sustancia del reino. Y lo más es de sentir es de la manera que los hombres las imitan en las galas y lo afeminado, pues es de suerte que no es un hombre ahora más apetecible a una mujer que una mujer a otra. Y esto de suerte que las galas en algunos parecen arrepentimiento de haber nacido hombres, y otros pretenden enseñar a la naturaleza cómo sepa hacer un hombre mujer.182

Dieser Ausschnitt erinnert im Kern an die Vorurteile des „vulgo“ gegenüber jüdischen Kaufleuten, wie sie zu Beginn des Guzmán aufgelistet werden. Die Sucht nach Reichtum, so Quevedo, entzündet im Mann die Flamme der Effeminierung und ein Staat, in dem der don Dinero an die Stelle des caballero tritt, verkommt zum „hombre mujer“. Henry Ettinghausen spricht hier von der „calidad de lastre económico que“ – so Quevedo – „revisten las mujeres“.183 Und weiter: „A España defendida le rezuma nostalgia por un pasado medio imaginario en el que los hombres eran hombres, y las mujeres eran matronas a la romana.“184 Ettinghausen weist darauf hin, dass Quevedo an dieser Einschätzung bezüglich der effeminierenden Wirkung der Sucht nach Reichtum bis zum Ende seiner Karriere festgehalten hat und führt als Beleg eine Stelle aus dem Spätwerk

181 Ehrlicher: Konversion und Karneval, S. 276f. 182 Francisco de Quevedo: España defendida, hrsg. von Victoriano Roncero, New York 2012, S. 55. 183 Henry Ettinghausen: „Austeridad viril vs. consumismo afeminado: Quevedo ante al final del reinado de Felipe II“, in: La Perinola 3 (1999), S. 143-155, hier: S. 147. 184 Ebd., S. 148.

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Vida de Marco Bruto (1644) an, wo Quevedo im Grunde noch einmal denselben Standpunkt vertritt.185 Insofern lässt sich Pablos’ letzte Rolle als hochstaplerischer Heiratsschwindler Don Felipe Tristán entsprechend dem quevedesken Geschlechterentwurf auch als unmännlich bewerten, da er genau jenen „excesivo gasto a su adorno“ verkörpert, den sein Schöpfer den Frauen zuschreibt, was im Rahmen der narrativen Logik des Romans den Verdacht der Effeminierung bestätigt, dem sich Pablos schon in der Ur-Szene mütterlicher Schande und sozialer Scham aussetzen musste. Überhaupt verfolgt Quevedo am Ende des Romans diese Struktur der wiederkehrenden Rahmung, indem er zunächst ausgerechnet Don Diego wieder auftreten lässt, der den Hochstapler kurz vor der Hochzeit mit der jungen Adeligen doña Ana enttarnt und ihm von seinen Freunden das Gesicht in zwei Teile schlagen lässt: „Así pagan los pícaros embustidores mal nacidos!“ (B 271) Die böse Ironie in dieser Pointe liegt darin, dass hier ein Mitglied aus einer marginalisierten Gruppe ein anderes verhöhnt: „Pablos’s wounds bleed Don Diego’s own tainted blood.“186 Dem voraus geht Pablos’ Sturz von einem Pferd, das er sich eigens für eine ritterliche Parade vor dem Fenster seiner Angebeteten geliehen hatte. So kehren Motive und Figuren des Romananfangs wieder, die unmissverständlich deutlich machen, dass dem Stigmatisierten trotz ausgefeilter Maskerade, trotz (zumindest temporärer) finanzieller Unabhängigkeit kein Aufstieg möglich ist. Der zweite Sturz vom Pferd ist daher auch der Sturz zurück in den Schmutz seiner Kindheit. Diese Art der Regression treibt Quevedo noch auf die Spitze, indem er seinen zerschlagenen Helden nach der brutalen Attacke in das Haus eines Barbiers („en casa de un barbero“, B 271) bringen lässt, in dem er von einer altern Kupplerin gesund gepflegt wird, die recht unverblümt als Hexe, Engelmacherin und Kosmetikerin dargestellt wird. Mit anderen Worten: Der Hochstapler landet kurz vor dem Ende des Romans wieder im mütterlichen Schoß der Schande und damit am Ausgangsort seiner Abjektion. Das zentrale Merkmal abjekter Männlichkeit bei Quevedo besteht demnach nicht nur in der Enthumanisierung durch exkrementale Kontamination, sondern auch in der Unentrinnbarkeit aus dem Stigma des Unreinen, Unmännlichen. Doch nicht nur Reminiszenzen an die Mutter des Protagonisten werden hier wachgerufen, sondern auch an die allmächtige, omnipräsente Madre Celestina, d. h. an die Mutter des género picaresco. Wenn Cruz also völlig zurecht konstatiert, dass Pablos am Ende auf gewaltsame Weise zu seinen „maternal begin-

185 Vgl. ebd., S. 154. 186 Cruz: Discourses of Poverty, S. 134.

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nings“ zurückgedrängt wird, zum „witch-womb from which he cannot escape“187, dann gilt das in gleichem Maße für Quevedo und seinen Buscón, der am Ende die novela picaresca zu ihren maternalen Ursprüngen zurückführt. Regressus ad uterum.

187 Ebd.

6. Prekäre Pikareske: Zusammenfassung und Ausblick

Die Reise von Quevedos Hauptfigur Pablos ist nach dem Erwachen in den Armen der Kupplerin, die das exakte Spiegelbild der eigenen schändlichen Mutter verkörpert, nicht ganz zu Ende erzählt. Die Metamorphosen des pícaro gehen noch etwas weiter: Er schließt sich einer Komödiantentruppe an, wo er sich eine Zeit lang als Dramaturg und Schauspieler verdingt, bevor ihn schließlich der Mord an zwei Polizisten zur Flucht in die Neue Welt, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, zwingt, wo sich sein Schicksal jedoch nicht zum Besseren wenden wird. Davon gedenkt der Erzähler im zweiten Teil seiner Memoiren zu berichten, doch wie im Fall des Guzmán – und auch des Felix Krull – ist uns der Autor diese versprochene Fortsetzung schuldig geblieben. Tatsächlich gehört die Unabgeschlossenheit fortan zu den Merkmalen des género picaresco und damit zu den Kennzeichen der narrativen Struktur pikaresker Männlichkeit.1 Das liegt zum einen natürlich an der autodiegetischen Erzählposition, die es unmöglich

1

Dieses Gattungsmerkmal hat, wie bereits geschildert, zu einer Reihe apokrypher Fortsetzungen geführt. Bereits 1555 wurde der Lazarillo anonym fortgeführt und die Titelfigur u. a. in einen Thunfisch verwandelt; 1620 erschien Juan de Lunas Segunda parte de Lazarillo de Tormes, in der der Autor vor allem die Ambivalenzen des Originals tilgt: Die Frau des Titelhelden ist tatsächlich so untreu, wie es der erste Teil nur andeutet; der Escudero betrügt ihn abermals, was seine Ehrhaftigkeit unmissverständlich ihrer Scheinhaftigkeit entlarvt, etc. Auf die Fortsetzung des Guzmán von Juan Martí wurde bereits eingegangen (vgl. dazu auch Rosmarie Tscheer: Guzmán de Alfarache bei Mateo Alemán und bei Juan Martí, Bern/Frankfurt/M. 1983). Der Buscón wurde zwar nicht direkt fortgesetzt, aber – wie bereits erwähnt – fügt ihm die französische Nachdichtung von Paul Scarron (1633) ein bürgerliches Ende hinzu, was mit dem Original nur schwer in Einklang zu bringen ist.

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macht, vom eigenen Tod zu erzählen. Es liegt aber vor allem auch an der narrativen Struktur pikaresker Männlichkeit, die man insgesamt als zirkulär und mithin ohne Telos beschreiben kann. Diese strukturelle Ausrichtung erklärt sich am besten, wenn man sie mit derjenigen im Bildungs- oder Entwicklungsroman vergleicht, wo das männliche Narrativ grosso modo linear und zielgerichtet organisiert ist. Auch in den drei novelas picarescas gibt es einen Fluchtpunkt, auf den die Narration zusteuert, aber dieser trägt bereits wieder das Moment des Unabgeschlossenen in sich: Lazarillo harrt des Urteils von Vuestra Merced, Guzmán hofft auf königliche Amnesie und Pablos auf ein besseres Leben in Amerika. Die Fluchtpunkte sind sowohl inhaltlich als auch erzähllogisch motiviert, zumindest in den Plots des Lazarillo und des Guzmán: im ersten läuft die Erzählung auf die Auflösung des caso zu, der auch gleichzeitig den Erzählanlass bildet und im zweiten auf die finale „conversión“, deren Glaubwürdigkeit der Roman vordergründig zu unterfüttern sucht, da diese über das Schicksal des Titelhelden entscheidet. Quevedo durchbricht zumindest die erzähllogische Zirkularität, da es keinen konkreten Erzählanlass gibt, was ihm schließlich die Möglichkeit eröffnet, seine ungeliebte Figur auch geografisch zu entgrenzen und sie aus dem imperialen Zentrum in die koloniale Peripherie zu verbannen. Wie für alle literarisch vermittelten Narrative von Männlichkeit gilt es demnach besonders für das género picaresco, nicht nur die inhaltliche Ebene mit in die Analyse zu integrieren, sondern ebenfalls – wie bereits von Erhart gefordert – die poetologische Dimension in den Fokus zu nehmen: „[E]ntscheidend sind vielmehr die unterschiedlichen Formen des Erzählens, damit zugleich auch die Notwendigkeit einer Analyse, die sich auf die narrative und rhetorische Verfasstheit insbesondere von geschlechtlich codierten Erfahrungen konzentriert.“2 Somit enden alle drei Lebensberichte im Ungewissen bzw. in schwellenhaften Räumen oder Situationen, die dem prekären Charakter pikaresker Männlichkeit entsprechen und auch den abjekten Status abschließend noch einmal betonen: die Richterbank, die Galeere sowie die Kolonie können jeweils als liminale, heterotopische oder periphere Orte charakterisiert werden, was dem gesellschaftlichen Status der Figuren entspricht und auch zu den festen Bestandteilen der zirkulären Struktur ihrer Männlichkeit gehört. Diese wiederum wird zusätzlich motivisch begründet und zwar durch die Fortuna-Thematik, die vor allem den Lazarillo expressis verbis bis zum letzten Wort prägt, aber auch in den beiden Nachfolgertexten eine wichtige Rolle spielt. Das sprichwörtliche Rad der Fortuna lässt die pícaros innerhalb ihrer männlichen Sozialisation einige Höhen und Tiefen durchlaufen und führt sie am Ende doch immer wieder zu ihren gesell-

2

Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 193 (Herv. G. S.).

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schaftlichen und familiären Wurzeln zurück: Der gesellschaftliche Aufstieg bzw. die Teilhabe an einem Leben im Zentrum wird ihnen verweigert, es geht immer wieder zurück zu den verhassten Wurzeln des eigenen Herkunftsmilieus. Im Lazarillo und im Buscón ist diese Form der gesellschaftlichen Regression maternalweiblich kodiert, was im Übrigen auch den eindeutig weiblichen Konnotationen der Fortuna-Figur entspricht. Lediglich im Guzmán steht die Mannwerdung nach außen hin im Namen des Vaters, wobei daran erinnert werden muss, dass das erneute Auftreten der Mutter am Ende des Romans sowie das letzte Anstellungsverhältnis bei einer reichen Dame den finalen Abstieg der Titelfigur besiegeln und auch eine Verweiblichung der Figur auslösen, wie Kehren herausgefunden hat.3 So wird der bedrohliche Charakter des Maternalen in der Gegenüberstellung mit der idealisierten Vater-Imago noch gesteigert, was insgesamt der von Robert postulierten Logik des Familienromans des Bastards sehr nahe kommt. Insofern verdankt sich das endgültige Scheitern der Figuren auch einer gescheiterten Abwehr maternal-weiblicher Determinismen, die aus psychoanalytischer Sicht für die Herausbildung eines erfolgreichen Männlichkeitsentwurfs als zentral gilt. Dieser zunächst familiär bedingte circulus vitiosus verweist zudem auf gleichsam konzentrische Weise auf den sozialen Determinismus der Ständegesellschaft, dem sich die pícaros mit all ihrer zur Verfügung stehenden List entgegenstemmen. Diese oft schmerzhaft und unter größten Mühen erworbene List stellt sich im Lazarillo als praxis- und wertebezogen dar, d. h. es geht um die Aneignung von Verhaltensidealen, die sowohl für einen offiziell gesellschaftlich anerkannten Männlichkeitsentwurf vonnöten sind (Anpassungsfähigkeit, adäquates öffentliches Auftreten, manipulative Rhetorik) als auch zu einem eher inoffiziellen Werte-Kanon gehören (Gewalt, Gier, Opportunismus, Dissimulation). Beide Seiten bedingen sich dabei wechselseitig: der souveräne Umgang mit dem Inoffiziellen gewährleistet die erfolgreiche öffentliche Performanz, wobei die Kategorien von Schein und Sein kaum noch auseinander dividiert werden können. Dies illustriert der pícaro sozusagen am eigenen Fall: Er verkörpert notwendigerweise engaño und desengaño zugleich, was wiederum durch die autodiegetische Kompositionsweise überhaupt erst ermöglicht wird.4 Die im Zeichen

3

Vgl. Kehren: „The Charms of Circe“.

4

Vgl. dazu Gumbrecht: „Die prekäre Existenz des Pícaro“, S. 51: „Konstitutiv für die Rolle des ‚pícaro‘ – und mehr als für irgendeinen anderen literarischen ‚pícaro‘ für Lazarillo de Tormes – ist die eisern durchgehaltene und verschwiegene Duplizität zwischen einer im Rahmen der Fiktion ‚wahren‘ und einer bloß ‚durch Anpassung entstandenen‘ Identität des Helden.“

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des Sichtbaren stehenden höfischen und christlichen Verhaltensideale werden unentwegt mit dem Blick in das der Öffentlichkeit verborgene Private der oberen Schichten konterkariert. Allein die Tatsache, dass im höfischen und urbanen Raum alles auf Sichtbarkeit angelegt ist, ermöglicht die Nachahmung solcher Praktiken und Ideale und lässt „Männlichkeit als ein sozial erlernbares Verhaltenssystem5 erscheinen. Damit erst wird der pícaro zur Denkfigur des vir inversus, und zwar, indem er Aufschluss gibt über das Zustandekommen eines männlichen Habitus, verstanden als „social fait corps“6, und zugleich immer wieder deutlich macht, dass das Sichtbare und Offizielle allein nicht genügen, um auch im Alltag zu reüssieren – vor allem bei Vertretern des niederen Volkes. Wenn Nietzsche konstatiert, dass der schauspielerische Instinkt sich besonders bei „Familien des niederen Volks ausgebildet habe“, die aufgrund ihres sozialen Stigmas dazu gezwungen sind, „sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen“7, mag er zwar auch den pícaro im Blick gehabt haben, da er als Beispiel den Gil Blas anführt. Allerdings macht er mit dem Zusatz, die pícaros seien dazu gezwungen, „den Mantel nach jedem Winde zu hängen“ und würden „dadurch fast zum Mantel“,8 auf ein generelles Verständnis von Identitätskonstruktion aufmerksam, das weit über bestimmte Schichten hinausgeht. Nietzsche nimmt die Abkömmlinge aus niedrigen Familien zum Anschauungsobjekt, um die Vorstellung eines stabilen, fest umrissenen Subjekts mit einem substanziellen Wesenskern in Frage zu stellen und stattdessen den Entwurf eines dezentrierten Subjekts zu postulieren. Tatsächlich legen die Lebensberichte der pícaros ein solches Identitätsmodell nahe, indem sie dank ihrer Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit das anthropologische Postulat eines homogenen subjektiven Kerns radikal in Frage stellen. Trotz der subversiven Kraft der Texte ist doch ihr eigener kreativer Umgang mit männlicher Identität niemals subversiv, da sie ihre Tricks und Maskeraden immer nach bereits gängigen Männlichkeitsentwürfen ausrichten, wodurch sie letztlich bestehende Habitusvorstellungen festigen und perpetuieren, wie es Schwanebeck im Hinblick auf moderne HochstaplerFiguren beobachtet: „Hochstapelei bedeutet[] demzufolge ihrem subversiven Po-

5

Vgl. Lyndal Roper: Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1995, S. 109.

6

Pierre Bourdieu/Loïc J.D. Wacquant: Réponses. Pour une anthropologie réflexive, Pa-

7

Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 608.

8

Ebd.

ris 1992, S. 103.

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tenzial zum Trotz also nur ein Ausagieren der herrschenden Normen unter Ausnutzung der dominanten Genderskripte.“9 Die nötige Grundvoraussetzung für diese performativen Techniken, die der pícaro im Laufe seiner Initiation erlernen muss, ist ihm jedoch nicht in die Wiege gelegt, wie es bei den weiblichen Vorläuferfiguren den Anschein hat, so vor allem bei der Lozana, der – wie der Text mehrfach bekräftigt – Intelligenz, Bauernschläue Anpassungsfähigkeit und vor allem List von Kindheit an, d. h. auf scheinbar natürliche Weise gegeben ist. Dass die pícaros sich diese Fähigkeiten im Laufe ihres Lebens erst aneignen müssen, bedeutet, dass sie das zeittypische binäre Geschlechtermodell mitsamt seinen naturalisierenden Zuschreibungen und Kodifizierungen in diesem speziellen Punkt überwinden müssen, um zumindest temporär zu reüssieren. Wenn der Nachfolger des Lazarillo, jener Felix Krull, dessen Schöpfer der Urvater des Schelmenromans so „primitiv“ erschien, sein eigenes Erfolgsrezept beschreibt, macht er u. a. seine geschlechtliche Unbestimmtheit dafür verantwortlich, ja er beschreibt sich selbst als weder männlich noch weiblich, sondern „als etwas Wunderbares dazwischen“.10 Nur so kann er jedem seiner Gegenüber das bieten, was es in ihn an Erwartungen, Wünschen und Begehren projiziert. Während im Lazarillo weibliche Anteile vornehmlich über das anzueignende Kapital der astucia thematisiert werden, geht Alemán bereits einen Schritt weiter, indem er den Vater Guzmáns als afeminado einführt, der mit Kosmetik seiner Schönheit nachhilft und dem die Frauen aufgrund dessen wie eine Gottheit huldigen („Las mujeres, que les parece los tales hombres pertenecer a la divinidad“, G I 144). Dieses Erscheinen wird zwar vom moralisierenden Erzähler verurteilt („Sea la mujer, mujer, y el hombre, hombre“, G II 293), aber dadurch, dass ein gewisses Maß an Androgynität eindeutig als erotisches Kapital dargestellt wird, das es ermöglicht, zumindest beim anderen, wenn nicht sogar beim eigenen Geschlecht zu reüssieren, macht deutlich, dass die auf größtmögliche Flexibilität ausgerichtete pikareske Männlichkeit die Grenzen des

9

Wieland Schwanebeck: Der flexible Mr. Ripley. Männlichkeit und Hochstapelei in Literatur und Film, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 99. Vgl. dazu auch Sonja Veelen: „Techniken zur Herstellung gefälschter Identität. Eine soziologische Analyse der Hochstapelei – in Auszügen“, in: Kultur und Gespenster 9 (2009), S. 131-140, bes.: S. 135: „Wer an einem fremden Tisch unauffällig mitspielen will, wie der Hochstapler im übertragenen Sinn, muss seine Regeln, die ihm wie ein immanentes Gesetz eingegeben sind, ablegen, sich die neuen Spielregeln, d. h. den neuen Habitus abschauen, anwenden und muss so routiniert mitspielen, dass niemand bemerkt, dass er ‚neu‘ ist und eigentlich nicht dazugehört.“

10 Mann: Felix Krull, S. 129.

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binären Geschlechtermodells zu nivellieren hat, um andere Defizite – vor allem das Stigma der Herkunft – zu verschleiern. Simulation und Dissimulation bedingen sich hier gegenseitig. Literarisch betrachtet lässt sich die strategisch eingesetzte geschlechtliche Hybridität, die letztlich die „Dynamik und Widersprüchlichkeit“ von Männlichkeit aufzeigt und „die sich aus der Existenz unterschiedlicher und regelrecht gespaltener Lebenswelten“11 ergibt, sicher auch anhand des Begriffs des Hermaphrodismus herleiten, der zumindest im Guzmán im Rahmen der Schilderung des Monsters von Ravenna wörtlich auftaucht: „Era hermafrodito y muy formados los dos naturales sexos“ (G I 141f). Hier muss daran erinnert werden, dass der Begriff selbst ein Hybrid darstellt, das bekanntlich auf den Gott Hermes und die Göttin Aphrodite zurückgeht, d. h. den Gott der Kaufleute, der Diebe und Betrüger sowie die Göttin der Liebe und sinnlichen Begierde. Dass Thomas Mann, der selbst zeitlebens eine kleine Hermes-Figur auf seinem Schreibtisch stehen hatte, von diesem Modell der Götter-Verschmelzung fasziniert war, bedarf kaum der weiteren Erläuterung. Dass jedoch schon im Guzmán darauf Bezug genommen wird und zwar indem das Bild des imitierten Vaters, der ja selbst Kaufmann, Dieb und erotischer Verführer war, mit dem hermaphroditischen Monster in Verbindung gebracht wird, zeigt zumindest die Ambivalenzen und Brüchigkeiten auf hinsichtlich des vorherrschenden binären Codes, die der Autor des Krull auf spielerische Weise zum Ideal des männlichen Künstlers ausformen wird. Alle drei hier untersuchten novelas picarescas zeigen jedoch auch deutlich die Grenzen dieser geschlechtlichen Flexibilität auf, da Weiblichkeit oder weibliche Anteile eben auch als bedrohlich dargestellt werden. Diese Bedrohung wird überwiegend über die Figur der Mutter narrativ vermittelt. Im speziellen Fall der novela picaresca ist es jedoch nicht nur die Kategorie Geschlecht, die sich gefährdend auf den männlichen Selbstentwurf des pícaro auswirkt, sondern ebenfalls die ethnisch-religiöse Herkunft und der niedrige soziale Stand der Mütter – alle drei Ungleichheitskategorien, die matrilinear weitergegeben werden, konstituieren das Stigma des abjekten Außenseiters, das im Spanien des Siglo de Oro noch so schwer wiegt, dass es den pícaros niemals gelingen wird, den Mechanismus der daraus resultierenden Abjektion zu durchbrechen. Insofern stellt der pikareske Identitätsentwurf nicht nur ein modernes – ja, wie Schöll meint, ein nachgerade postmodernes – Reflexionsmuster dar, das Identität „im narrativen Prozess erst konstruiert“12, sondern es handelt sich dezidiert um ein Reflexionsmuster, das die Konstruktionsarbeit männlicher Identität narrativ zur Diskussion

11 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 203. 12 Schöll: „‚Verkleidet war ich in jedem Fall‘“, S. 14.

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stellt. Dass hierbei ausgerechnet mit dem pícaro ein ‚halber Außenseiter‘ (Guillén) als Sprachrohr auftritt, erweist sich dabei als entscheidender narratologischer Clou, da ein Vertreter aus den oberen Ständen diesen langwierigen Lernund Konstruktionsprozess seines eigenen Männlichkeitsentwurfs nicht in diesem Maße durchlaufen müsste und ihn aufgrund seiner gesellschaftlichen Position schon gar nicht in Frage stellen muss, weil ihm die Macht qua Geburt sozusagen naturgegeben zukommt. Darüber hinaus erlaubt das autodiegetische Narrativ sowohl den introspektiven Blick auf die eigene Männlichkeitsgenese als auch im Kontakt mit Vertretern aus anderen Schichten und Milieus ein Panorama auf die in der Gesellschaft gültigen Vorstellungen, Normen und Ideale von Männlichkeit. Im Lazarillo wird durch den Existenzkampf besonders deutlich der Aspekt von Kampf und Wettbewerb betont, der jeglicher Konstitution eines männlichen Habitus zugrunde liegt, wie es auch Bourdieu und darauf aufbauend Meuser immer wieder betont haben. „Das Kämpfen war“, laut Lyndal Roper, „ein integraler Bestandteil männlicher Kultur.“13 „Dem einzelnen Mann“, so Roper weiter, „gereichte das Kämpfen zur Ehre. Es half ihm, mit körperlicher Kraft sein Ansehen wiederherzustellen, wobei sein Körper das Pfand seiner Männlichkeit war.“14 Roper spielt hier auf die Kampfeslust der oberen Schichten an, wo es in Turnieren oder Duellen eher um Rituale männlicher Resouveränisierung geht, während der Schelmenroman mit seiner Hauptfigur den Existenzkampf der unteren Schichten und damit die Souveränisierungsversuche des männlichen Prekariats in den Blick nimmt. Diese Grundvoraussetzung männlicher Identitätsbildung steigert Quevedo durch seine exkrementalen Exzesse ins Grotesk-Hyperbolische: Männlichkeit bedeutet Kampf und er ist dort besonders brutal, wo der Außenseiter versucht, ins Zentrum der Macht vorzudringen. Die adäquate Sprache dieses Kampfes, also das Kommunikationsmedium des Wettbewerbs, ist Gewalt – und das überwiegend in körperlicher Form, aber auch die Macht der „malas lenguas“, d. h. der Druck der öffentlichen Meinung in Form von Verleumdungen und Denunziationen, gehört zu den Strategien des Gesellschaftskörpers, sich von seinen als parasitär gefürchteten Eindringlingen zu befreien. Dass die Anpassungsfähigkeit des pícaro eben nicht an sich subversiv ist, sondern lediglich auf bereits bestehende Männlichkeitsskripte Bezug nimmt bzw. diese adaptiert, ist die eine Seite. Des Weiteren ermöglicht sein Status als halber Außenseiter Einblicke in den Bereich hinter der öffentlichen Fassade, was wiederum seine Funktion als desengañador unterstreicht. Hier sei mit Branden-

13 Roper: Ödipus und der Teufel, S. 117. 14 Ebd., S. 120.

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berger noch einmal daran erinnert, dass sich die ficción picaresca nicht zuletzt auch aufgrund ihres realistischen Anspruchs von vorhergehenden, eher idealistischen literarischen Moden, wie den libros de caballería oder der ficción sentimental, deutlich abgrenzt.15 Somit erlaubt der Schelmenroman – zumindest im Vergleich zu den anderen beliebten Gattungen der Zeit und trotz aller fabulierfreudigen Unwahrscheinlichkeiten – einen realistischeren Einblick in die offiziellen und inoffiziellen Männlichkeitsideale der spanischen Gesellschaft im Übergang zum 17. Jahrhundert. Hierbei spielt nicht zuletzt auch die durchgängige Mobilität der Figuren eine wichtige Rolle, die nicht nur horizontalgeografisch einen panoramatischen Überblick erzeugt, sondern auch durch den Kontakt mit unterschiedlichen Stände-Repräsentanten einen vertikalen Querschnitt vermittelt. Beschränkte sich dieses Panorama im Lazarillo noch auf männliche Sozialfiguren, die wiederum innerhalb ihrer jeweiligen Kaste (Klerus, Adel, Handwerk) am unteren Rand anzusiedeln sind, erweitert sich im Guzmán das Spektrum deutlich nach oben und reicht am Ende im Zusammenhang des Bittschreibens um Amnesie sogar bis zum König. Im Buscón findet die Entgrenzung eher durch die Flucht nach Amerika auf der horizontalen Ebene statt. Bezeichnenderweise nennt Alemán den zweiten Teil seines Romans Atalaya de la vida humana, was einige Forscher dazu ermuntert hat, in der finalen Bekehrung der Hauptfigur eine glaubwürdige Konversion des Delinquenten zu sehen. Das Bild des Wachturms entspricht durchaus jenem panoramatischen Blick des pícaro auf die – im Guzmán dezidiert als paternalistisch ausgestellte – Gesellschaft. Das Bild befördert zudem den universalistischen Anspruch der Romane, was die Kritik an der Gesellschaft angeht. Man darf aber nicht vergessen, dass der Begriff „atalaya“ in der zeitgenössischen Ganovensprache eben auch ‚Betrüger‘

15 Brandenberger: Muerte de la ficción sentimental, S. 290: „Los dos primeros grupos (celestinesca y picaresca) tienen en común con la ficción sentimental y sus hermanos su característica de prosa de ficción. No obstante, se distinguen de ellos por la actitud que los textos adoptan ante la materia narrada y, más aún, ante los valores de un mundo idealizado que evocan con enfoque desenmascarador. En los dominios de la literatura celestinesca y picaresca reinan puntos de vista que desconfían de lo sublime y que descubren el lado oculto de lo positivo, todo aquello que de bajuno, enviciado, tergiversado, ridículo, o simplemente ingenuo pueda esconderse detrás del bello ideal.“ Auch Gumbrecht argumentiert in dieselbe Richtung, wenn er etwa die Helden der Ritterromane eher „allegorisch“ deutet, während der pícaro „als für sich selbst sorgendes Subjekt aus den Erfahrungen des Alltags lernt, statt bloß eine komplexe Allegorie aristokratischer Werte zu sein.“ In: Gumbrecht: „Die prekäre Existenz des Pícaro“, S. 45, 47.

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bedeutet, was wiederum den inversiven und stets ironisch-doppeldeutigen Charakter der Schelmenfigur im Sinne eines beobachtenden Betrügers auf den Punkt bringt und einmal mehr die Differenz zwischen dem Signifikanten und Signifikat auf sprachlicher Ebene auflöst, die ebenfalls seiner männlichen mimikry (wie es Nietzsche nennt) zugrunde liegt. Hinter dem Bild des atalaya verbirgt sich mithin auch die Figur des vir inversus, die immer beides zugleich ist: Moralist und Betrüger, Erzähler-Ich und erzähltes Ich, Prophet und Parasit, Künstler und Dieb. Dass der pícaro sich auf der Textebene Identitäten bzw. identitätsstiftende Praktiken und Distinktionsmerkmale (wie etwa Kleidung) aneignet, die er zuvor durch genaue Beobachtung anderer männlicher Figuren studiert hat, korrespondiert einerseits mit seinen (klein)kriminellen Aktivitäten als Dieb oder gar „Meisterdieb“.16 Andererseits jedoch eignet er sich als Erzähler, d. h. als kreativer Baumeister seiner eigenen männlichen Identität, auch Narrative an, die vom zeitgenössischen Publikum leicht dechiffriert werden konnten, da sie zu großen Teilen aus dem kollektiven Historienschatz der Bibel schöpfen, wozu im Übrigen auch der atalaya-Begriff passt. Im Lazarillo de Tormes erweckt bereits der Name der Titelfigur Reminiszenzen an die beiden biblischen Lazarus-Figuren. Im Guzmán stehen sowohl das Gleichnis vom verlorenen Sohn als auch die Saulus-Paulus-Konversionsgeschichte Pate. Wenig überraschend stellt Quevedo gleich zu Beginn des Romans Bezüge zur biblischen Pontius-Pilatus-Figur her (B 108-109) und greift diesen Bezug auch später nochmal auf, wenn Pablos nach der Spuck-Szene ausruft: „No soy Ecce-homo“ (B 144). Damit spielt Quevedo recht unverblümt auf die insinuierte Schuld der Juden am Tode Christi an, was den antisemitischen Tendenzen seines Werks entspricht. Neben diesen Einzelanspielungen auf prominente männliche Figuren aus der Bibel weisen alle drei Romane zudem einen Bezug zur Passionsgeschichte auf. Hierin lässt sich durchaus eine Art master narrative der Pikaresken sehen, was sich sowohl in Form von narrativen Details äußert als auch was die narrative Struktur der Texte angeht. Darüber hinaus sei in diesem Kontext an die Funktionalisierung der Titelfiguren als Sündenböcke der Gesellschaft bzw. als abjekte Individuen erinnert, deren Ausschluss dem Erhalt des gesellschaftlichen Kollektivs dient und zugleich das „imaginaire spécifique des hommes en appétit de violence“,17 befriedigt. Durch diese Bezüge zum wohl bekanntesten aller Narrative des Selbstopfers in Form einer Travestie wird stilistisch der karnevaleske Charakter der Pikareske hervorgehoben und inhaltlich der Universalanspruch der Schelmenschelte,

16 Vgl. König: „Der Schelm als Meisterdieb“. 17 Girard: Le bouc émissaire, S. 14.

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die vor allem Männerschelte ist im Sinne von Kucklicks Konzeption einer negativen Andrologie, der zufolge die „Kritik an Männlichkeit [...] die Moderne nicht [schwächt] und [...] nicht zu deren Überwindung [dient], sondern [...] stabiler Dauervollzug einer ihrer reflexiven Selbstdistanzierungen [ist].“18 Kucklick sieht diese Art der Männlichkeitskritik bereits in der „Prämoderne“19 vorbereitet, und man könnte durchaus im vorangegangenen Zitat „Moderne“ durch „Gesellschaft“ ersetzen und sagen, dass die Gesellschaft in Männern die „Ressentiments gegen sich selbst“20 fixiert. Im Gegensatz zu den von Kucklick analysierten Texten aus der Zeit um 1800, in denen ein notwendiges weibliches Korrektiv gefordert wird, um die männliche Gefahr zu bannen („Am Mann zerfällt die Gesellschaft, am Weib heilt sie“21), gibt es diese Hoffnung auf Heilung bekanntermaßen in der novela picaresca nicht, da auch die weiblichen Figuren als Vertreterinnen eines unmoralischen Geschlechts präsentiert werden. Durch die Bezüge zur Passionsgeschichte ließe sich höchstens auf die Gesundung der Gesellschaft durch das Opfer des pícaro hoffen, was jedoch angesichts des Grades an Verkommenheit kaum realistisch erscheint. Es greifen hier – und zwar jeweils am Ende der Texte – im Motiv des Sündenbock-Opfers biblischer Intertext und Abjektionsdiskurs unmittelbar ineinander. Ein letzter Punkt, der im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Männlichkeitsvorstellungen in allen drei Romanen verhandelt wird, ist die Dimension ihres historischen Wandels, hier veranschaulicht am Übergang vom höfischen Ritter-Ideal zum neuen Männlichkeitsentwurf des Kaufmanns bzw. des homo oeconomicus. Dass die Pikareske eine besondere Blüte in gesellschaftlichen Umbruchsituationen erlebt,22 machen alle drei Romane vor allem auf der Basis veränderter Männlichkeitsideale offenkundig. Es geht letztlich um den Wandel vom

18 Kucklick: Das unmoralische Geschlecht, S. 13. 19 Ebd., S. 29. 20 Ebd., S 13. 21 Ebd., S. 9. 22 Vgl. u. a. Willy Schumann: „Die Wiederkehr der Schelme“, in: Publications of the Modern Language Association of America 81 (1966), S. 467-474, hier: S. 474: „Es gibt doch zu denken, daß am Vorabend des Untergangs des spanischen Weltreiches der literarische Picaro geboren wird und daß der deutsche Schelm in unserem Jahrhundert wiederkehrt, in den Jahrzehnten allgemeiner Richtungslosigkeit.“ Ähnlich argumentiert Klaus Hermsdorf: Thomas Manns Schelme. Figuren und Strukturen des Komischen, Berlin 1968, S. 10: „Damit wäre allerdings ein historischer Ort optimaler Produktivität des Schelms und der Schelmenkomik behauptet: ihre große Zeit sind die Vorabende gesellschaftlicher Umbrüche.“

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symbolischen Kapital der Ehre hin zum ökonomischen Kapital des Besitzes, von dem bereits der Lazarillo einiges zu erzählen weiß: Zunächst wird das Thema der Ökonomisierung der Gesellschaft durch die Figur des gierigen clérigo eingeführt, der das christliche Gebot der Caritas längst dem neuen präkapitalistischen Primat des Mammons geopfert hat, und unmittelbar darauf folgend anhand der Figur des Hidalgos, dessen Ehren-Kodex als überholt entlarvt wird und der aufgrund mangelnder Anpassungsfähigkeit an seinem höfischen Männlichkeitsideal scheitert. Am Ende hat Lazarillo seine Lektion gelernt, vor allem nach der Anstellung beim aus ökonomischer Sicht überaus erfolgreichen Ablasshändler, und eignet sich den Habitus des hombre de bien an. Im Guzmán nimmt sich der Titelheld von Anfang an als männliches Idealbild seinen Vater vor, der als Kaufmann bzw. Wucherer sein Glück versucht hat. Sein zweiter Vater verkörpert den verkrusteten Adel in seiner gesamten dekadenten Saturiertheit und wird als männliches Rollenvorbild von Vornherein verworfen. Im Buscón schließlich führt das pekuniäre Erbe des Vaters den vorläufigen Wandel im Leben des Protagonisten herbei und ermöglicht Pablos nach seinen zahlreichen erduldeten Leiden ein Dasein als Betrüger, Hochstapler und Heiratsschwindler. Insbesondere Quevedo sieht in der Durchsetzung des altchristlichen Blutadels durch – vornehmlich jüdische – Emporkömmlinge aus dem neuen Geldadel eine Gefahr für den Erhalt der Monarchie, die er dezidiert als männlich imaginiert, während er die neue Geldsucht als Symptom von Verweiblichung verurteilt, womit er sich auf ältere Kodierungen bezieht, die in der avaritia ein spezifisch weibliches Laster sehen. In den beiden anderen Romanen, die vermutlich aus der Feder von conversos stammen, werden der gesellschaftliche Wertewandel vom ritterlichen zum ökonomischen Ideal und das damit einhergehende veränderte Männlichkeitsbild keineswegs so scharf verurteilt. Die Gründe des Scheiterns der Figuren liegen eher in eigener Hybris und dem Druck der öffentlichen Meinung begründet. Dass der opinión pública trotz veränderter Wertevorstellungen immer noch eine derart große Macht eingeräumt wird, verdankt sich sowohl der vorherrschenden Doppelmoral, die schon im höfischen Wertekoordinatensystem der Ehre den Fokus nahezu ausschließlich auf Sichtbarkeit und damit oberflächliches impression management verlagert hatte, als auch der Tatsache, dass sich Männlichkeit auch nach der gesellschaftlichen Wende zu vermehrt kapitalistischen Strukturen und Normen immer noch vor den Augen des Anderen konstituiert und stark abhängig ist vom Urteil der Gesellschaft. Durch das Auftreten aller drei Hauptfiguren als beinahe perfekte Kopien des hombre de bien stellen die pícaros zweierlei unter Beweis: Einerseits begehren sie auf diese Weise gegen die starren Ständegrenzen auf und machen sich dabei sowohl ihr schauspielerisches Talent als auch die Aufstiegshilfe des Geldes

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zunutze. Sie streben damit gewissermaßen jenes Gesellschaftsmodell der durchlässigen Strukturen an, das Connell seiner Männlichkeitstheorie zugrunde gelegt hat und das den sozialen Aufstieg zumindest potentiell ermöglicht. Andererseits führen sie damit vor, dass es in der Frühen Neuzeit noch keine solche Pluralisierung von idealtypischen Männlichkeitsentwürfen gab, wie sie sich im Zuge der voranschreitenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der Moderne vollziehen wird. Mit Blick auf die jüngere Vergangenheit wirft die novela picaresca tatsächlich bemerkenswert moderne Fragen auf: Welche Rolle spielen Herkunft und Rang beim Erwerb eines gesellschaftlich anerkannten Männlichkeitsentwurfs? Was passiert mit hegemonialen Modellen, wenn sich ein historischer Wandel vollzieht? Inwieweit hängt die Kategorie des Geschlechts mit weiteren sozialen Ungleichheitskategorien zusammen? Welchen Skripten folgt das Narrativ der eigenen Geschlechterzugehörigkeit? Welche Rolle spielen story telling und impression management in Zusammenhang mit der narrativen Konstruktion einer geschlechtlichen Identität? Welche Distinktionsmerkmale sind entscheidend für einen inkorporierten männlichen Habitus? Es mag wohlfeil erscheinen, am Ende einer historischen Arbeit auf die ungebrochene Aktualität des untersuchten Gegenstands hinzuweisen. Im Fall des Schelmenromans erscheint es jedoch als beinahe fahrlässig, genau das nicht zu tun. Würde man beispielsweise heutzutage einen Workshop besuchen mit dem Ziel des sicheren Auftretens in Bewerbungssituationen, so könnte man möglicherweise auf der Auflistung der im Seminar zu erlangenden Kompetenzen folgende Punkte lesen: Anpassungsfähigkeit und Rollenflexibilität, Beobachtungsgabe, strategisches Verschweigen persönlicher Schwächen sowie ein möglichst kreativer Umgang mit dem eigenen Lebenslauf. Die Talente des pícaro sind tatsächlich gefragter denn je. Aber neben den männlichen Inszenierungsstrategien, von deren Aneignung der pikarische Erzähler auf teils burleske, teils tragikomische Weise erzählt, wirkt vor allem der gesellschaftskritische Impetus der Texte überaus tragfähig für heutige Problemlagen, so etwa soziale Scham, Mobilität und Migration, Scheinhaftigkeit von Identitäten, Prekarisierung und soziale Abjektion – letzteres vor allem in den Schwellenbereichen urbaner Ballungsräume oder ländlichen Randgebieten. Solche Themen werden heutzutage lebhaft verhandelt und zwar sowohl in den Hinterräumen der Berufspolitik als auch auf der Vorderbühne der Massenmedien. So verstanden ist die Pikareske eine, aus politischer Perspektive betrachtet, linke Gattung, was möglicherweise auch erklärt, warum die Blütezeit der Pikaresken-Forschung in den 1960er und 70er Jahren, d. h. im historischen Umfeld der 68er-Bewegung, stattgefunden hat.

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Wie bereits in der Einleitung dargestellt, lässt sich gegenwärtig in Literatur und Film nachgerade ein Boom neopikaresker Stoffe ausmachen.23 Die Gattungsgeschichte des Schelmenromans hat mit der Struktur ihres eigenen Narrativs also die Wellenbewegung gemein. Schien es im 19. Jahrhundert tatsächlich so, als ob die von Gumbrecht schon für das frühe 17. Jahrhundert beobachtete „Involution“24 der Gattung durch den Siegeszug des bürgerlichen Bildungs- und Entwicklungsromans endgültig realisiert worden sei, erwies sich dieser Tod der Gattung nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich als Dornröschenschlaf. In der Nachkriegszeit ließ sich eine erste pikareske Konjunktur beobachten, von der Thomas Manns Felix Krull nur ein Beispiel unter vielen darstellt, und die interessanterweise nahezu gleichzeitig mit dem verstärkten Interesse der Forschung an der klassischen novela picaresca einsetzt. Die dritte Welle des Schelmenromans ereignet sich um die Jahrtausendwende und hält immer noch an, was den Eindruck bestätigt, dass es sich bei der Pikaresken um ein Krisen-Narrativ handelt und dass deren Protagonisten den derzeit allfälligen Topos der Männlichkeitskrise verkörpern. Eines der interessantesten Beispiele dieses Revivals stellt der Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013) von Michael Köhlmeier dar, der die haarsträubende Geschichte eines ungarischen Flüchtlings der Nachkriegszeit erzählt, die Stationen in Wien, der DDR und Russland umfasst und den pícaro Spazierer als proteushaften Menschen ohne moralisches Bewusstsein und letztlich auch ohne individuelle Eigenschaften ausstellt. Dies wiederum macht aus ihm genau das, was auch schon die Schelmenromane der ersten Stunde aus ihren Titelfiguren machten: den perfekten Spiegel gesellschaftlicher Abgründe. Köhlmeier spielt auf ironische Weise mit der Gattung selbst, wenn er z. B. das vierte Kapitel seines Romans folgendermaßen überschreibt: VIERTES KAPITEL ...in dem vor anderem von der Freundschaft die Rede sein wird. (Sebastian hat mir vorgeschlagen, gelegentlich eine ‚barocke rhetorische Figur‘ in die Erzählung einzuflechten,

23 Vgl. dazu u. a. Maren Lickhardt/Niels Werber (Hrsg.): Transformationen des Pikarischen, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44, H. 175 (2014). 24 Gumbrecht begründet die Involutionsthese mit den ersten Parodien auf die pikareske Gattung, konkret mit dem Erscheinen der Pícara Justina (1605) und dem Buscón (1626), beobachtet dennoch verwundert die sich anschließende „ungewöhnliche rezeptionshistorische Energie“ der Pikaresken. Alle Zitate aus Gumbrecht: „Die prekäre Existenz des Pícaro“, S. 50.

430 | V IR INVERSUS auch damit der belesene Leser in seiner Vermutung bestärkt werde, es handle sich bei meinem Leben um einen ‚Schelmenroman‘.25

Nachdem der ehemalige Prostituierte und Mörder sich in der DDR erfolgreich als nichtehelicher Sohn des Nationalhelden Ernst Thälmann ausgegeben hat und daraufhin in Ostberlin sogar zum Professor für Philosophie berufen, schließlich vom russischen Geheimdienst entführt und in düsteren Gefängnissen Zeuge von kannibalistischen Exzessen wird, endet seine Lebensgeschichte mit der letzten Verwandlung zum Schriftsteller seiner eigenen Memoiren. Was den Roman eben nicht zum reinen Epigonen der Klassiker macht, ist seine ironische Distanz zu den Vorläufern, aber auch die Tatsache, dass das pikareske Narrativ trotz – oder vermutlich eher wegen – seiner auf den ersten Blick festen und daher leicht wiedererkennbaren Gattungsmerkmale eine inhaltlich-historische Variabilität ermöglicht, die exakt auf das unbestimmte proteushafte Wesen des pícaro zurückzuführen ist, das immer nur Zeitumstände widerspiegelt, und daher niemals nur individuell ist. Es ist im Sinne Bourdieus Habitus-Modell immer beides: L’existence humaine, l’habitus comme social fait corps, est cette chose du monde pour laquelle il y a un monde : « le monde me comprend, mais je le comprends », disait à peu près Pascal. La réalité sociale existe pour ainsi dire deux fois, dans les choses et dans les cerveaux, dans les champs et dans les habitus, à l’extérieur et à l’intérieur des agents. Et, quand l’habitus entre en relation avec un monde social dont il est le produit, il est comme un poisson dans l’eau et le monde lui apparaît comme allant de soi.26

Der flexible pícaro, der als Spiegel von Zeitumständen auftritt, müsste sich demnach nach Beendigung seiner Lehrjahre bewegen wie ein Fisch im Wasser oder – um es mit Hobbes zu bezeichnen – als Wolf unter Wölfen. Das wiederum sollte eigentlich zur Folge haben, dass der Schelm doch streng genommen die perfekte Verkörperung der hegemonialen Männlichkeit im Sinne Connells darstellen müsste, wäre da nicht das Stigma seiner Herkunft, das ihn trotz ausgeklügelter „Informationskontrolle“,27 wie es Goffman nennt, immer wieder in die existenzielle Prekarität zurückwirft. Daran hat sich auch bei Köhlmeier nicht viel geändert – der männliche Schein fliegt auf.

25 Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer, S. 191. 26 Bourdieu/Wacquant: Réponses, S. 103. 27 Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M. 1975, S. 116-128.

P REKÄRE P IKARESKE : Z USAMMENFASSUNG UND F AZIT

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Insofern stellt nicht nur Männlichkeit eine offenbar scheinhafte, narrativ hergestellte und damit leicht adaptierbare Größe dar, sondern auch das pikareske Narrativ hat sich im Laufe der Jahrhunderte durch ein Höchstmaß an Adaptierbarkeit und historischer Variabilität und Elastizität am Leben gehalten. Die Narrativierung des männlichen Scheins im género picaresco lässt sich abschließend also noch einmal auf doppelte Weise bewerten: Einerseits auf gesellschaftskritische Weise, um exemplarisch das Scheinhafte, das Heuchlerische und Oberflächliche der Gesamtgesellschaft vorzuführen. Andererseits jedoch – und darin liegt nicht zuletzt die Modernität der Gattung begründet – um den Nachweis zu erbringen, dass Männlichkeit keineswegs eine stabile, substanzielle Kategorie darstellt, sondern das Ergebnis einer performativen Leistung, ein phantasmagorisches Ideal, dem nur diejenigen besonders nahe kommen, die das immerwährende Maskenspiel und deren Strategien durchschauen. Durch das innovative Zusammenspiel von gesellschaftlicher Ebene, individueller männlicher Sozialisation und deutlichen – zumindest im Vergleich zu bisherigen Gattungen – realistisch anmutenden Bezügen zur Zeitgeschichte stellt das pikareske Narrativ, wie es der Lazarillo de Tormes inauguriert, erstmalig in der Literaturgeschichte ein Reflexionsmuster männlicher Identitätsbildung zur Verfügung, das nahezu frei ist von heroisierenden, idealistischen oder phantastischen Elementen und daher für sich beanspruchen kann, der Prototyp für künftige narrative Formate in der Gattung des realistischen Romans zu sein, in denen die literarische Konstruktion von Männlichkeit im Zentrum steht.

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Literaturwissenschaft Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

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Literaturwissenschaft Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

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Stefan Hajduk

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Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 1 August 2017, 208 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3817-2 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3817-6

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